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❖ Es ist so weit: Deutschland rechnen haben. Der zurücklie- hat eine neue Regierung, die gende Bundestagswahlkampf eine größtmögliche Stabilität war auch der erste, den die Op- verspricht. Eine große Koalition position als Regierungspartei unter einer Kanzlerin Angela bestritt und in dem die Regie- Merkel und einem Vizekanzler rungsparteien den oppositionel- Franz Müntefering ist sicherlich das len Part spielten. Sein knappes Ergebnis Letzte, was sich die Wähler der Unions- hat die Illusion des mündigen Bürgers parteien oder der Sozialdemokratie ge- zerstäubt, der es zu honorieren vermag, wünscht hätten, aber gleichwohl haben schon vor der Wahl die politischen Ziel- die Bürger sie herbeigewählt. Und die setzungen für die Zeit nach der Wahl zu Politiker der beiden Volksparteien haben erfahren. nun die Pflicht, im Interesse unseres Lan- Gleichwohl scheint dieses Wahlergebnis des die Chancen dieses Superbündnisses einer List der Vernunft geschuldet zu für eine Politik der Stabilität und des sein. Es zwingt die beiden stärksten poli- Wachstums zu nutzen. An die informelle tischen Kräfte in unserem Land zu einer Zusammenarbeit zwischen der Schröder- Zusammenarbeit, um Wege zur Über- Regierung und den oppositionellen Uni- windung einer schweren Krise zu finden. onsparteien in den letzten Jahren bei den Und es führt ein weiteres Stück der inne- tief greifenden Reformen der Agenda ren Einheit herbei. Erstmals übernimmt 2010 und Hartz IV schließt nun eine for- eine Persönlichkeit aus der früheren melle Kooperation an. DDR den wichtigsten Posten, den die Für viele Unionsanhänger war es gewöh- deutsche Politik zu vergeben hat. Von nungsbedürftig, dass die CDU/CSU ihre nicht nur symbolischer Bedeutung ist, Blockademacht im Bundesrat nicht wie dass mit Angela Merkel erstmals eine zuvor die SPD während der Regierung Frau Bundeskanzlerin wird und so eine Kohl dazu benutzt hat, um rot-grüne Repräsentantin der Hälfte unseres Vol- Projekte zu stoppen. Und für die Sozial- kes den Weg an die Spitze gefunden hat. demokratie ist es nun gewöhnungsbe- Für den Politikstil in den kommenden dürftig, zusammen mit den erbitterten Jahren dürfte es von nicht geringer Be- Konkurrenten von gestern sich heute ei- deutung werden, dass erstmals seit 1949 nem Zwang von Harmonie ausgesetzt zu eine Naturwissenschaftlerin die Regie- sehen. rungsgeschäfte leitet. Das verspricht jene Wahrscheinlich war die Bundestagswahl Nüchternheit des Urteils, die in den letz- 2005 die letzte, in der wenigstens einer ten Jahren so schmerzhaft vermisst wur- der politischen Wettbewerber vor dem de. Wahltag offen gelegt hat, womit die Bür- Die neue Regierung kann sich im Deut- ger im Fall der Regierungsbildung zu schen auf siebzig Prozent der

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Mandate stützen. Und sie hat im Bundes- lor, trat in das Kabinett Kiesinger als rat keinen parteipolitisch motivierten Finanzminister ein, und sein damaliges Gegenwind zu erwarten. Alles, worüber Opfer, Conrad Ahlers, wurde stellvertre- die große Koalition Konsens zu erzielen tender Regierungssprecher. vermag, ist durchsetzbar. Das ist keine Obwohl das Bundestagswahlergebnis schlechte Ausgangslage für eine kraft- von 1965 der Union einen Vorsprung von volle Politik. mehr als acht Prozentpunkten vor der Auch die so rasch vergessene erste Regie- SPD beschert hatte, zogen zehn Unions- rung der Großen Koalition 1966 bis 1969 minister und neun SPD-Minister in das hat eine kraftvolle und nachhaltig wirk- Kabinett Kiesinger ein. Beide Parteien same Politik gestalten können. Niemals schickten ihre Schwergewichte. Die Uni- zuvor und auch nicht danach wurde in on betraute Hans Katzer mit dem Ar- so kurzer Zeit so viel bewegt: erfolg- beits- und Sozialministerium, CDU-Ge- reiche Anstrengungen zur Sanierung neralsekretär mit dem Fa- des Haushaltes, Finanzverfassungsre- milienministerium. Wissenschafts- und form, rechtspolitische Innovationen, Forschungsminister blieb Gerhard Stol- Notstandsgesetzgebung, eine vorsichtige tenberg, Innenminister wurde erneut Öffnung in der Außenpolitik. Nur die Paul Lücke. Für die Landwirtschaft ebenfalls in den Koalitionsvereinbarun- wurde der frühere Innenminister Her- gen beschlossene Wahlrechtsreform kam mann Höcherl (CSU) zuständig, Postmi- nicht zu Stande, die die Existenz der FDP nister wurde (CSU). gefährdet hätte. Das ist einer der Gründe, Mit dem Justizressort betraute die SPD warum diese erste Regierungszusam- den Widersacher Adenauers Gustav Hei- menarbeit zwischen den beiden Volks- nemann, der 1969 zum Bundespräsiden- parteien so rasch in Vergessenheit gera- ten gewählt wurde und so die rot-gelbe ten ist. Regierungszusammenarbeit antizipierte. Die der damaligen Großen Koalition vor- Verkehrsminister wurde Georg Leber, ei- ausgegangene Krise war ein Haushalts- ner der starken Gewerkschaftsführer. problem, dessen Dimensionen aus heuti- Carlo Schmid, einer der Väter des ger Sicht lächerlich gering waren. Die Grundgesetzes, wurde Minister für An- Heilung der Krise kam damals aus den gelegenheiten des Bundesrates, Lauritz Ländern. Der baden-württembergische Lauritzen übernahm den Wohnungsbau Ministerpräsident und Hans Jürgen Wischnewski das Res- wurde nach Adenauer und Erhard sort für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Bundeskanzler, der Regierende Bürger- Als einzige Frau wurde Käthe Strobel für meister von Berlin wurde das Gesundheitswesen zuständig. Vizekanzler, beide waren Außenseiter „In der Riege dieses ,Über-Kabinetts’, der Bonner Szene. Personell war die da- das an Fertigkeit und Talenten kaum zu malige Große Koalition ein Signal der übertreffen war“, so urteilt der Bonner Vergangenheitsbewältigung. Kiesinger Historiker Klaus Hildebrand, „fehlten war formelles NSDAP-Mitglied gewesen, nur zwei starke Männer der Bonner Willy Brandt Emigrant. , Szene: und Helmut ein ehemaliger Kommunist, wurde Mi- Schmidt.“ Sie übernahmen jeweils den nister für Gesamtdeutsche Fragen. Eine Vorsitz der Regierungsfraktionen und kleine bundesrepublikanische Vergan- sorgten mit ihrem fast reibungslosen Zu- genheitsbewältigung kam dazu. Franz- sammenwirken für die rasche und er- Josef Strauß, der durch die Spiegel-Krise folgreiche Umsetzung des Regierungs- sein Amt als Verteidigungsminister ver- programmes. Diese glänzende Zusam-

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menarbeit der beiden Fraktionsvorsit- phus-Arbeit auf sie zukommt, um der zenden erwies sich bald als eine der tra- großen Koalition zum Erfolg zu verhel- genden Säulen der Großen Koalition. fen. Beide sind auch eher pragmatisch Und auch das Zusammenspiel von Franz orientierte Politiker, die Belangvolles von Josef Strauß und ließ das Belanglosem zu unterscheiden wissen. zunächst ungeliebte Regierungsbündnis Keine Koalition ähnelt einer Liebesheirat. sehr rasch in der Wertschätzung der Be- Jede ist ein Zweckbündnis auf Zeit, an völkerung steigen. Fast liebevoll charak- dessen Beginn immer schon des Endes terisierten die Medien diese Zusammen- gedacht wird. arbeit von Wirtschafts- und Finanzminis- Welche Ironie der Geschichte: Vieles von ter als „Plisch und Plum“. dem, was die erste Große Koalition unter Mit zum Erfolg der Großen Koalition trug allgemeinem Beifall zu Stande brachte, auch der „Kressbonner Kreis“ bei, das war nämlich die Finanzverfassungsreform, eine nach dem Urlaubsort Kiesingers be- steht der jetzigen großen Koalition unter nannte informelle Runde, in der Kanzler, dem Stichwort Föderalismusreform als Vizekanzler, Wehner, Heck und andere Herausforderung ins Haus, allerdings außerhalb des Kabinettstisches für eine mit umgekehrten Vorzeichen. Damals positive Atmosphäre in der Koalition ging es um Verflechtung, heute ist Ent- sorgten und die gegenseitigen Zumutbar- flechtung angesagt. keiten ausloteten. Dort wurden keine Be- Und noch etwas hat seinerzeit die Große schlüsse gefasst, sondern Auswege aus Koalition bewirkt: Die Marginalisierung komplizierten Lagen gesucht. Bis zum der parlamentarischen Opposition hatte Beginn des Wahlkampfes im Frühjahr die außerparlamentarische Opposition 1969 gelang dies. Auch schon damals war beflügelt und zur „Revolte der 68er-Ge- die Richtlinienkompetenz des Bundes- neration“ geführt. Diese Generation ist kanzlers ein Thema. Kiesinger war klug dann 1998 mit Rot-Grün an die Macht ge- genug, seine Regierungsweise durch Dis- langt und wurde 2005 abgewählt, um von kussion zu prägen und sich nicht auf seine einer großen Koalition abgelöst zu wer- Richtlinienkompetenz zu berufen. Das ist den; und wer hätte am Wahlabend ge- der Grund dafür, dass – wie Conrad Ah- dacht, dass Gerhard Schröder wenige Wo- lers formulierte – Kiesinger als „wandeln- chen später Angela Merkel zur Kanzlerin der Vermittlungsausschuss“ auftrat. wählen würde? Politik ist ein ernstes Ge- Über die hierfür notwendige Nüchtern- schäft, das durch gelegentliches Schmun- heit und Selbstdisziplin verfügt auch die zeln besser zu ertragen ist. ❖ Kanzlerin Angela Merkel. Volker Kau- der und Peter Struck als Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion beziehungswei- se der SPD-Fraktion wissen, welche Sisy-

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