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WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ BEMERKUNGEN ZUR KUNSTDIDAKTIK IN KIEL UND IHRER GESCHICHTE

KLAUS GEREON BEUCKERS

Didaktik und dem entsprechend auch Kunstdidaktik ist immer ein kommunikativer Prozess, da eine Vermittlung komplexer Inhalte die wechselseitige Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden voraussetzt. Jede Didaktik ist als Vermittlungs- form zudem genuin inhalts- und zielgruppenorientiert sowie dezidiert abhängig von der Person des Lehrenden und dessen inhaltlicher sowie kommunikativer Kom- petenz. Ändern sich die Inhalte, die Zielgruppen oder die Lehrenden, so müssen sich auch die Konzepte einer Didaktik methodisch und inhaltlich ändern. Deshalb sind didaktische Konzepte immer historisch gebunden, können immer nur für eine spezifische Vermittlung in einer bestimmten Zeit und mit einer bestimmten Inhalt- lichkeit für bestimmte beteiligte Personengruppen formuliert werden. Sie müssen sich bei ändernden Konstellationen jederzeit ob ihrer Passgenauigkeit hinterfragen lassen und entsprechend modifizieren. Jede statische Festlegung einer Didaktik, die sich dieser Änderungsprozesse entzieht, ist deshalb ideologisch und aufgrund ihrer fehlenden kommunikativen Flexibilität verfehlt. In der Kunstdidaktik stehen sich dabei zwei Grundansätze gegenüber: Auf der einen Seite steht der Ansatz, Kunst im Sinne einer Kenntnis über Kunst zu vermit- teln, auf der anderen Seite der Ansatz Kunst im Sinne einer Befähigung zur Kunst zu lehren. Die eine Richtung zielt auf Kennerschaft und Wissen, die andere auf Produktion und Fertigkeit. Trennscharf sind beide Ansätze nicht voneinander zu scheiden, denn Kennerschaft setzt die Kenntnis, wenn nicht sogar die persönli- che Erfahrung praktischer Grundlagen voraus, wie Produktion die Kenntnis bishe- rige Lösungen, wenn nicht alle Erfahrungen und Techniken basal neu entwickelt werden sollen, was jede höhere Qualität unerreichbar machen müsste. Dennoch unterscheiden sich hier zwei Ausrichtungen durch eine einerseits primär intel- lektuelle, wissensorientierte Form und eine andererseits primär praktische, erfah- rungsorientierte Form voneinander. Die eine Richtung bildet Kunstkenner aus, die andere Künstler; die eine zielt auf Kennerschaft, die andere auf Könnerschaft. Bevor eine Kunstdidaktik als Methode der Vermittlung entworfen wird, ist des- halb grundsätzlich zu klären, welches Ausbildungsziel sie – unabhängig von ihrer institutionellen Ausrichtung auf Schule, Universität, Museum oder allgemeine Bevölkerungsbildung – anstrebt. In den vergangenen gut einhundert Jahren

173 der Diskussion über die theoretische Begründung einer Kunstdidaktik bestand weitgehende Einigkeit, dass Kunstunterricht Kenntnisse über Kunst zu vermitteln habe und die praktischen Übungen beispielsweise des Zeichnens vornehmlich der Schulung eines analytischen Zugangs und analytischem Sehens dienen soll- te. Die heute gelegentlich erhobene Forderung nach einer praktischen Befähi- gung von Kunstlehrern zu eigener Kunstproduktion ist hingegen relativ jung. Da- hinter verbirgt sich nicht nur eine Frage kunstdidaktischer Schwerpunktbildung, sondern auch ein anderes Kunstverständnis und ein anderes Verständnis der Zie- le eines heutigen Anforderungen angemessenen Kunstunterrichts. Solche Aspek- te sind nur vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Kunstdidaktik verständlich, die hier am Beispiel Kiels in einigen Aspekten vorgestellt werden soll.

Adelbert Matthaei und eine erste Kieler Kunstdidaktik Die Anfänge einer intensiv diskutierten Theorie des Kunstunterrichts sind in Kiel und weiten Teilen Deutschlands insbesondere mit der preußischen Schulreform zu einem dreigliedrigen Schulsystem Ende des 19. Jahrhunderts fassbar.1 Hier wurden auch die Fragen des musischen Unterrichts, zu dem neben der Bilden- denden Kunst immer vor allem die Musik, gelegentlich aber auch das Theater- spiel zählten, in Reaktion auf das humboldtsche Bildungsideal und die Ideen der Kunsterziehungsbewegung diskutiert. In Preußen, zu dem Kiel seit 1867 gehörte, wurden 1893 in Leitlinien für den Kunstunterricht festgelegt. Dies fiel in Kiel auf das Jahr genau mit der Neueinrichtung einer damals seit gut zwei Jahren diskutierten kunsthistorischen Professur an der Christian-­Albrechts- Universität zusammen.2 Nachdem Kunstgeschichte seit dem 17. Jahrhundert mit wechselnden Anbindungen an andere Professuren eher nebenbei gelehrt wor-

1 Zur preußischen Schulreform vgl. u.a. Eckhard Glöckner: Zur Schulreform im preußischen Imperia- lismus. Preußische Schul- und Bildungspolitik im Spannungsfeld der Schulkonferenzen von 1890, 1900 und 1920, Glashütten 1976. – Dieter Dietrich: Friedrich Althoff und das Ende der preußischen Schulreform. Vorgeschichte und Inhalt der Schulreform des Jahres 1900, Norderstedt 2008. 2 Zur Geschichte des Instituts vgl. grundlegend Hans Tintelnot: Kunstgeschichte, in: Geschichte der Christian-Albrechts-Universität 1665–1965, Band 5, Teil 1: Geschichte der Philosophischen Fakultät, hg. v. Karl Jordan, Neumünster 1969, S. 163–187. – Kunstgeschichte in Kiel 1893–1993. 100 Jahre Kunsthistorisches Institut der Christian-Albrechts-Universität, red. Hans-Dieter Nägelke, Kiel 1994. – Ein Anhang mit einer Zusammenstellung der Lehrpersonen von 1893 bis heute bei Klaus Gereon Beuckers: Das Kunsthistorische Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zwischen Zweitem Weltkrieg und Neuausrichtung (1945–1974), in: Wissenschaft im Aufbruch. Beiträge zur Wiederbe- gründung der Kieler Universität nach 1945, hg. v. Christoph Cornelißen (Mitteilungen der Gesell- schaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 88), Essen 2014, S. 82–100, hier S. 99 f.

174 _ KLAUS GEREON BEUCKERS den war,3 entschloss man sich nach dem Vorbild der Universität Göttingen, wo 1813 erstmals eine temporäre Professur für Kunstgeschichte eingerichtet worden war, 1893 zur Einrichtung einer solchen Professur auch in Kiel. Die akademische Kunstgeschichte war in Deutschland an den Technischen Hochschulen wie Stutt- gart und Karlsruhe aus der Architektenausbildung heraus erwachsen, an anderen Orten wie Bonn oder der Humboldt-Universität in Berlin unter anderem aus der Klassischen Archäologie oder der Geschichte.4 Lehrstühle gab es zu dieser Zeit im deutschsprachigen Raum noch nicht sehr viele: Neben Göttingen sind vor allem Wien, Bonn, , Stuttgart, Karlsruhe, Zürich und Berlin zu nennen, während später wichtige Institute wie Heidelberg, Marburg oder Tübingen erst jünger sind. In Kiel verband man die Professur nicht zuletzt auf Betreiben der naturwissen- schaftlichen Fächer mit dem Amt des Universitätszeichners und berief hierfür aus Gießen den Historiker Adelbert Matthaei (1859–1924), der in Halle bei Ernst Ludwig Dümmler (1830–1902) mit einer Arbeit über die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser Otto II. und König Lothar von Frankreich im 10. Jahrhundert pro- moviert worden war und sich gerade in Gießen mit einer Schrift zur Zisterzien- ser-Architektur habilitiert hatte.5 Der Universitätszeichner hatte in Kiel seit den Anfängen der Universität im 17. Jahr- hundert die Aufgabe zur Dokumentation universitären Geschehens, aber vor allem der Erstellung von Abbildungen für wissenschaftliche Arbeiten und für die Lehre in den verschiedenen, insbesondere naturwissenschaftlichen Fächern. Hierfür bil- dete er auch Studierende aus, betrieb also einen dezidierten Zeichenunterricht.6 Vor der Erfindung beziehungsweise der breiten Durchsetzung der Fotografie war das Zeichnen das wichtigste Dokumentationsmedium, das jedoch insbesondere im wissenschaftlichen Bereich über eine analoge Wiedergabe hinaus eine oft spe- zialisierte Umsetzung spezifischer Aspekte beinhaltete. Die dafür notwendige Aus-

3 Vgl. Tintelnot 1969 (wie Anm. 2), S. 165–173. – Uwe Albrecht: Vom Universitätszeichenlehrer zum Lehrstuhl für Kunstgeschichte, in: Nägelke 1994 (wie Anm. 2), S. 9–24. 4 Vgl. immer noch grundlegend Heinrich Dilly: Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Ge- schichte einer Disziplin, Frankfurt am Main 1979. 5 Adelbert Matthaei: Die Haendel Ottos II. mit Lothar von Frankreich (978–980) nach den Quellen dargestellt mit besonderer Berücksichtigung Richers, Diss. Halle 1882. – Adelbert Matthaei: Bei- träge zur Baugeschichte der Cistercienser Frankreichs und Deutschlands mit besonderer Berück- sichtigung der Abteikirche zu Arnsburg in der Wetterau, Habil.schr. Gießen 1893. – Zur Person ohne Berücksichtigung seiner kunstdidaktischen Arbeiten vgl. Uwe Albrecht: Adelbert Matthaei (1859–1924). Vom Provisorium zum Institut, in: Nägelke 1994 (wie Anm. 2), S. 25–28. – Albrecht 1994 (wie Anm. 3), S. 21–23. 6 Zum Zeichenunterricht allgemein vgl. Wolfgang Kemp: ‚… einen wahrhaft bildenden Zeichen- unterricht überall einzuführen‘. Zeichnen und Zeichenunterricht der Laien 1500–1870. Ein Hand- buch, Frankfurt am Main 1979.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 175 einandersetzung mit verschiedenen bildnerischen Mitteln griff hierfür sehr stark auf künstlerische Techniken sowie Lösungen aus der Kunstgeschichte zurück und reflektierte dies auch. Insbesondere in dem auf historische Bildung Wert legenden Bürgertum des 19. Jahrhunderts war die Beschäftigung mit der Kunst vergangener Zeiten zum zentralen Thema geworden und hatte damit den Zeichenunterricht, der bereits seit Jahrhunderten zu einer intellektuellen Ausbildung hinzugehörte, zunehmend geprägt. Diese Verbindung zwischen Zeichenunterricht und Kunstge- schichte wurde in Kiel zur Grundlage der neu geschaffenen Professur. Adelbert Matthaei war jedoch nicht nur ein profilierter (Kunst-)Historiker, sondern er beteiligte sich aktiv an der in Preußen und darüber hinaus – er selbst verweist auf „Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden und Hessen, um nur die Hauptstaaten an- zuführen“ (S. 3) – geführten Diskussion um den Kunstunterricht. Hierzu legte er 1895, zwei Jahre nach der Einrichtung seines Lehrstuhls in Kiel, unter dem Titel „Didaktik und Methodik des Zeichen-Unterrichts und die künstlerische Erziehung an höheren Schulen“ ein eigenes Buch in der renommierten C. H. Beck’schen Verlags- buchhandlung vor, das als programmatisch für die Begründung einer Kunstdi- daktik in Kiel gelten kann.7 Noch in Gießen hatte er bereits mit zwei Schriften hierzu Stellung bezogen, die 1895 in das größere Werk einflossen.8 Der Beitrag erschien zugleich als Kapitel XV im vierten Band des von August Bau- meister herausgegebenen „Handbuchs der Erziehungs- und Unterrichtslehre für hö- here Schulen“, der den einzelnen Lehrfächern gewidmet war.9 In diesem für die Bildungsdebatte jener Zeit sehr zentralen und umfangreichen Werk hatte der ers- te Band die Geschichte der Pädagogik und die Schulorganisation behandelt, der zweite die Aspekte der theoretischen Pädagogik und Didaktik, die Vorbildung für Lehrer und der praktische Pädagogik. Im dritten und vierten Band wurden – mit einer gewissen Hierarchie in der Reihenfolge – die einzelnen Fachdisziplinen er- örtert, wobei im dritten Band die Religionslehren (ev. und kath.), die Geschichte sowie die alten (Latein, Griechisch) und modernen (Französisch, Englisch, Deutsch) Sprachen behandelt wurden. Der vierte Band galt zuerst den mathematisch-na-

7 Adelbert Matthaei: Didaktik und Methodik des Zeichen-Unterrichts und die künstlerische Erzie- hung an höheren Schulen, München 1895. 8 Adelbert Matthaei: Der Zeichenunterricht am humanistischen Gymnasium und sein Verhältnis zu den übrigen Unterrichtsfächern, in: Jahresbericht des Großherzoglichen Gymnasiums in Gießen 1889/90. – Adelbert Matthaei: Das bewußte Sehen in der Schule. Ein Lehrbuch des Zeichenunter- richts für Gymnasien unter Berücksichtigung der Beschlüsse der Berliner Schulconferenz vom De- zember 1890, Gießen 1891. – Auf beide verweist Konrad Lange auch in einem Empfehlungsschrei- ben für Matthaei vom August 1892, das offenbar im Zuge der Berufung erstellt wurde: Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 47, Nr. 1194, fol. 218 ff., zitiert auch bei Albrecht 1994 (wie Anm. 3), S. 21 f. 9 August Baumeister: Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre für höhere Schulen, Mün- chen 1895 ff.

176 _ KLAUS GEREON BEUCKERS turwissenschaftlichen Fächern, die am Ende mit der Trias Zeichnen, Gesang sowie Turnen und Spiele abgeschlossen wurden. Die Wahl von Matthaei als Autor in dem namhaften Kreis der Verfasser, deren Herkunft von Köln bis Prag und von Straßburg bis Kiel reichte, zeugt von seiner hohen Reputation in diesem Themenfeld. Matthaei gliederte seine insgesamt erstaunlich modern anmutende Untersuchung in drei Hauptabschnitte.10 Im ersten Teil erörterte er die Wichtigkeit des Zeichenun- terrichts in höheren Schulen („Berechtigung und Ziele des Zeichenunterrichts an hö- heren Schulen“, § 7–23, S. 8–35), die er in drei Abschnitten mit der Ausbildung eines Beobachtungsvermögens, ästhetischer Gefühle (gemeint ist hier ein ästhetisches Ur- teilsvermögen) und von Handfertigkeit begründete. Im zweiten, ausführlichsten Teil entwarf er sehr praxisorientiert Lehrpläne für den Zeichenunterricht („Der Lehrplan“, § 24–42, S. 35–84), wobei er einerseits einen umfassenden Lehrplan auf der Grund- lage Hessens und außerdem deutlich kürzer einen Lehrplan unter Berücksichtigung der jüngsten preußischen Maxime nach Erlass vom 6. Januar 1892 formulierte. Matthaei sah die akribisch aufgebaute praktische Heranführung an die zeich- nerische Wiedergabe technisch vor der Oberstufe abgeschlossen, in der dann ästhetische und kunsthistorische Aspekte die Vollendung der Ausbildung er- möglichen sollten: „Es ist schon oft, und ohne dass auf Widerspruch gestossen wäre, betont worden, dass die ästhetische Bildung des Schülers auf der Oberstufe in den Vordergrund zu treten hat. Ebenso oft ist anerkannt worden, dass Ästhetik in der Schule nicht anders zu lehren ist, als indem man in Verbindung mit dem Zeichnen Kunstgeschichte betreibt; und auch Lange [Konrad von Lange (1855–1921), Profes- sor für Kunstgeschichte in Königsberg, später Begründer des Instituts für Kunst- geschichte in Tübingen11] verlangt ausdrücklich, ‚eine kunsthistorische Belehrung, ohne akademischen Vortrag, der sich auf ganze Stunden erstreckt‘.“ Anhand einer

10 Die Diskussion um den Zeichenunterricht war zuvor vor allem für die Volks- und Mittelschule ge- führt worden, wo sie jedoch deutlich anwendungsorientierter ausgestaltet war. Vgl. beispielsweise Adolf Stuhlmann: Der Zeichenunterricht in der Volks- und Mittelschule. Ein methodisch geordneter Lehrgang, 5 Bde., Hamburg 1875. – Heinrich Weishaupt: Das Zeichnen nach dem wirklichen Gegen- stande in systematischem Lehrgange bis zur Stufe der Kunstschule, München 1877. 11 Konrad Lange: Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend, Darmstadt 1893, S. 165: „An das Architekturzeichnen hat sich von Zeit zu Zeit eine kunsthistorische Belehrung anzuschließen. Selbstverständlich muß ein Lehrer, der in den oberen Klassen des Gymnasiums den Kunstunterricht erteilen will, ein ästhetisch und kunsthistorisch gebildeter Mann sein. Er muß – mit Hilfe von Photogra- phien, die ihm die Anstalt natürlich zur Verfügung zu stellen hat – die verschiedenen Stilarten charakte- risieren können. Die heimischen Monumente muß er nach ihrer Geschichte kennen, in den Museen und Kirchen der Stadt bewandert sein. Einzelne Stunden können auf Ausflüge verwendet werden, bei denen er in seinen Primanern ein dankbares Publikum finden wird. Museumsvorstände werden dabei gern alle möglichen Erleichterungen gewähren, Professoren der Kunstgeschichte, wo sie vorhanden sind, mit Freuden behilflich sein. Das ist die richtige Art, Kunstgeschichte auf dem Gymnasium zu treiben, nicht der akademische Vortrag, der sich über ganze Stunden erstreckt.“

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 177 Architekturzeichnung nach dem Modell eines griechischen Tempels und einer romanischen Kirche zeigte er die Verzahnung des Zeichenunterrichts mit der Ver- mittlung kunsthistorischer Inhalte von Bautypen über die Grundriss- und Aufriss- bildung, die Gewölbeformen, das Strebewerk bis hin zu Einzelformen auf.12 Insgesamt zielte der Zeichenunterricht für Matthaei nicht primär auf die Vermitt- lung einer handwerklichen Fähigkeit der Wiedergabe, sondern vor allem auf die Fähigkeit eines analytischen Beobachtungs- und Sehvermögens sowie auf die Ausbildung eines ästhetischen Bewusstseins zur Urteilsfähigkeit.13 Für letztere war die Vermittlung einer Kunstkennerschaft Voraussetzung, die Matthaei unter dem Begriff der Kunstgeschichte fasste. Dies dürfte jedoch nicht nur die in dieser Zeit besonders geschätzte Historie, sondern ebenso die Aspekte einer Kunstphi- losophie umfasst haben. Der letzte Teil des Buches galt den Lehrverfahren, in denen Matthaei die Grund- lagen von Einzel- und Gruppenunterricht, die räumlichen Bedingungen und Lehrmittel bis hin zu außerschulischen Ergänzungen durch Ausflüge und Ausstel- lungen und die Verknüpfung mit anderen Fächern besprach. Bevor er an einem Beispiel – er wählte wiederum das idealisierte Modell „einer romanischen Kirche (etwa nach dem Muster von Andernach oder der Abteikirche Maria Laach ohne Vor- halle und zweite Apsis)“14 – die Vermittlung von Bauformen und der damit verbun- denen Ideengeschichte erläuterte, schloss er seine Erörterung des Lehrplans ab: „Alles hängt hier von der Persönlichkeit des Lehrers ab. Dass von dem Zeichenlehrer seine Kenntnis der Entwicklung der Kunst zu verlangen ist, darüber ist man, soweit ich sehe, überall einig. Es gehört das durchaus zum Wesen seines Unterrichtsfaches, so gut wie man von dem Sprachlehrer die Kenntnis der Literatur und der Geschichte des Volkes verlangen kann, dessen Sprache er lehren will. […] Der Lehrer muss sich nur immer klar vor Augen halten, dass die Erweiterung seiner Anschauung und nicht das Wiederkäuen populärer Schriften die Hauptsache ist. […] Auf seine persönliche Ge- schicklichkeit kommt dabei alles an. Von ihr wird es abhängen, ob die an der Hand des Zeichenunterrichts zu gebende elementare Einführung in die Kunstgeschichte zu einem öden, unverstandenen Wortgeklingel oder zu einer lebendigen Quelle künstle-

12 Matthaei 1895 (wie Anm. 7), S. 75 f. 13 Matthaei setzte mit seiner Gewichtung, die nicht zuletzt auch in Alfred Lichtwarks Ideen Paral- lelen besaß, einen Standard. Ihm folgten später etliche Autoren, von denen beispielsweise nur Wilhelm Peper: Über ästhetisches Sehen (Pädagogisches Magazin, Heft 174), Langensalza 1901 genannt sei. – Zum Zeichnen-Ansatz von Matthaei vgl. u.a. auch Rainer Grimm: Historische As- pekte des Prinzips „Sehen lernen“. Veränderungen eines entscheidenden Fachprinzips im Fach Kunst zwischen 1865 und 1905 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 11: Pädagogik, Bd. 237), Frankfurt am Main 1985, S. 144–147. 14 Matthaei 1895 (wie Anm. 7), S. 92–94.

178 _ KLAUS GEREON BEUCKERS rischen Nachempfindens, zu einer gesunden Belebung des ästhetischen Fühlens wird, ob sie zu einer Belastung des Schülers unserer höheren Lehranstalten oder im Gegen- teil zur Entlastung des durch abstrakte Kopfarbeit angespannten Schülers führt.“15 Matthaei reagierte mit seiner Betonung der Bedeutung der kunsthistorischen Lehre innerhalb des Zeichenunterrichts auf Einwände, die zwei Jahre zuvor Kon- rad Lange erhoben hatte. „Kunsthistorische Kenntnisse schüttelt man heutzutage nicht mehr wie früher aus dem Ärmel. Kunsthistorische Vorträge aber und die Praxis, beim Vortrag Wort und Anschauung zusammenwirken zu lassen, lernt man noch viel schwerer. Das will in Jahre langer Arbeit erworben sein, und mancher lernt es über- haupt nicht.“ hatte Lange ausgeführt und überspitzt gefordert: „Das was er [der Gymnasiast] braucht, ist nicht Kunstgeschichte, sondern Kunst. Nicht Namen und Zahlen, nicht äußere trockene Daten sind es, die für ihn Bedeutung haben, sondern eine Einführung in das Wesen des künstlerischen Schaffens. Sein künstlerischer Trieb soll weitergebildet, seine ästhetische Genußfähigkeit entwickelt werden.“16 Dann hatte er wieder relativiert: „Man verstehe mich nicht falsch. Ich will ja nicht sagen, daß der Schüler auf dem Gymnasium gar nichts von Kunstgeschichte erfahren solle. Man mag ihm immerhin die architektonischen Stilarten in ihrem historischen Verhältnis zu ein- ander charakterisieren, die bedeutendsten Künstler vergangener Zeiten nennen und ihre Kunstwerke beschreiben. […] diese Aufgabe soll dem Zeichenlehrer als dem ein- zigen Lehrer zufallen, der etwas von Kunst versteht oder wenigstens verstehen müßte.“ Matthaei und Lange kannten sich gut und arbeiteten beide an einem neuen Entwurf für den Kunstunterricht, den sie aus der positivistischen und trockenen Zeichenlehre zu einem lebendigen, ästhetischen Fach weiterentwickeln wollten. Seiner Wertschätzung hatte Lange 1893 durch ein Empfehlungsschreiben im Vorfeld von Matthaeis Berufung nach Kiel Ausdruck verliehen.17 Nach Matthaeis Auffassung ging Lange in seiner Kritik jedoch von einem falschen Bild des Lehrers aus, „der nicht zu unterrichten weiss und nur trockenen Zahlenkram gibt, der von der Sache nichts versteht, und dem die Lehrmittel fehlen.“ 18 Diese Einschätzung der Leh- rer teilte Matthaei so nicht. Vielmehr versuchte er, die äußeren Rahmenbedingun- gen in den Schulen wie beispielsweise der Lehrmittel durch den Lehrplan syste- matisch zu verbessern und die inneren Probleme durch eine gute Ausbildung

15 Matthaei 1895 (wie Anm. 7), S. 91 f. 16 Lange 1893 (wie Anm. 11), S. 80 u. 81. – Vgl. auch Konrad Lange: Der Zeichenunterricht auf unse- ren Gymnasien, in: Zeitschrift des Vereins deutscher Zeichenlehrer 19 (1892), S. 257–268. – Konrad Lange: Die Reform des Zeichenunterrichts, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst 48 (1896), S. 415–427. – Konrad Lange: Das Wesen der künstlerischen Erziehung, Ravens- burg 1902. 17 Vgl. Anm. 8. 18 Matthaei 1895 (wie Anm. 7), S. 91.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 179 der Lehrer zu lösen. Mit seiner Entgegnung benannte er die beiden Kernaspekte, die neben der handwerklichen Dimension des Zeichnens für ihn von Relevanz waren: Modern gesprochen forderte er eine gute Ausbildung der Lehrer durch (1) eine Befähigung zu didaktischem Unterricht und (2) inhaltliche Kenntnisse. Ziel war die Ausbildung einer ästhetischen Urteilsfähigkeit der Schüler. Man darf davon ausgehen, dass Matthaei seine Konzepte 1895 nicht mehr nur für den Schulunterricht entwarf, in dem er seit seiner Berufung nach Kiel nicht mehr tätig war, sondern dass er diese Ideen in der universitären Ausbildung fruchtbar machen wollte. Immerhin wurden die künftigen Kunsterzieher für die höheren Schulen durch die neu eingerichtete Professur für Kunstgeschichte ausgebildet. Deren Kieler Kombination aus Zeichenunterricht und kunsthistorischer Lehre ent- sprach den an der kunstdidaktischen Diskussion erarbeiteten Anforderungen und Zielvorstellungen Matthaeis ideal. Allerdings entwickelte sich die junge Kunstge- schichte um 1900 rasant und auch in Kiel verschoben sich die Schwerpunkte im Laufe der Jahre erheblich. Die praktische Zeichenlehre wurde immer weniger nachgefragt und auch Matthaei widmete sich zunehmend mehr der kunsthis- torischen Forschung. Hatte er 1901 auf dem ersten Kunsterziehertag in noch mehrfach das Wort erhoben, so nahm er am zweiten 1903 noch nicht ein- mal mehr teil.19 Als Matthaei dann 1904 dem Ruf auf die kunsthistorische Pro- fessur an der neu gegründeten königlich preußischen Technischen Hochschule Danzig folgte,20 wurde seine Nachfolge in Carl Neumann (1860–1934) mit einem Kunsthistoriker besetzt, der keinerlei Erfahrung in eigener Zeichenlehre hatte. Das Amt des Universitätszeichners wurde seither nicht wieder ausgeschrieben oder besetzt.21

19 Vgl. Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des Kunsterziehertages in Dresden am 28. und 29. September 1901, Leipzig 1902, insb. S. 111 f. u. 215–217. – Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des zweiten Kunsterziehertages in Weimar am 9., 10., 11. Oktober 1903, Leipzig 1904. 20 In Danzig war die Kunstgeschichte innerhalb der Architekturfakultät mit einem kunsthistorischen und einem bauhistorischen Lehrstuhl, den 1904 Friedrich Ostendorf übernahm, sehr viel breiter als in Kiel aufgestellt. Matthaei hatte mit dem Aufbau der Kieler Professur zudem Erfahrungen gesammelt, die er auf dem weiteren Feld der Danziger Neugründung umsetzen konnte. Dies lag seinem organisatorischen und auch politischen Naturell nahe, das ihn von 1909 bis 1912 in das Rektorenamt der Danziger Universität und von 1920 bis zu seinem Tod 1924 für die DNVP in den Danziger Volkstag führte. 21 Vgl. Albrecht 1994 (wie Anm. 3), S. 28 mit Verweis auf den Versuch des Universitätssenats, 1928/30 die Stelle wiederzubegründen und auf Vorschlag des Instituts mit dem Magistratsbaurat Karl Meyer zu besetzen. Nach drei Semestern wurde die Stelle mangels Interesses wieder gestrichen.

180 _ KLAUS GEREON BEUCKERS Die Pädagogische Hochschule und ihr Erweiterungsbau Die Bildungsdiskussion der Jahrhundertwende eröffnete einen weitgehenden Aufbruch im Sinne neuer Lehrstrukturen. Die Universitäten hatten vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine rasante Blüte und erheblich steigende Studierendenzahlen erlebt. In schneller Folge hatten sich Spezialisierungen ausge- bildet, von denen nur die nach dem Vorbild der Pariser École Polytechnique for- mierten Technischen Hochschulen sowie die Handels- und Wirtschaftshochschulen genannt seien.22 Während die vielerorts ebenfalls neu formierten Kunstschulen für die Ausbildung praktischer Künstler und die heute als Design zusammengefassten Berufszweige zuständig waren,23 entstand vor allem nach dem Ersten Weltkrieg der neue Typus der Pädagogischen Akademie, der auch die Ausbildung von Kunster- ziehern für die Volksschulen und die Mittleren Schulen übernahm. In Kiel wurde bereits 1926 – direkt nach der am 30. Juni 1925 vom Staatsministerium beschlos- senen und ab Ostern 1926 umgesetzten ‚Neuordnung der Volksschullehrerbildung in Preußen‘ – eine solche pädagogische Hochschule eingerichtet. Neben Bonn und Elbing sollte Kiel als Modell für die von Kultusminister Carl Heinrich Becker (1876– 1933) und seinem Mitarbeiter Johannes von den Driesch (1880–1967) konzipierte neue Form der Lehrerausbildung dienen. Auf die neue Konzeption der Pädagogi- schen Akademie reagierte in Kiel vor allem der 1930/32 errichtete Anbau program- matischer Qualität, an dem sich die Inhaltlichkeit der neuen Ausbildung ablesen lässt. Heute beherbergt das Gebäude an der Ecke Diesterwegstraße / Fröbelstraße in Gaarden-Süd unter anderem das Statistische Amt für Hamburg und Schles- wig-Holstein. Es ist das Verdienst von Julia Berger, in ihrer Bonner Dissertation die Geschichte und Baugeschichte auch der Kieler Pädagogischen Akademie erstmals zusammengestellt und untersucht zu haben.24 Die Einrichtung der Pädagogischen Akademie 1925/26 war Teil einer allgemeinen Aufwertung der Lehrerausbildung, in der man den Erkenntnissen der Diskussionen vor dem Ersten Weltkrieg Rechnung tragen wollte. Für den Bereich der Kunst war dies nicht zuletzt die Kunsterziehungsbewegung gewesen. Diese hatte 1925 die Aufwertung des Faches Kunst zum Kernfach an den Preußischen Gymnasien zur Folge gehabt, was zu einer Fülle neuer kunstdidaktischer Ansätze und zu einer ent-

22 Vgl. zusammenfassend Hans-Albrecht Koch: Die Universität. Geschichte einer europäischen Insti- tution, Darmstadt 2008, insb. S. 143–192. 23 Vgl. Nikolaus Pevsner: Die Geschichte der Kunstakademien, München 1986 (engl. OA London 1940). – Ekkehard Mai: Die deutschen Kunstakademien im 19. Jahrhundert. Künstlerausbildung zwischen Tradition und Avantgarde, Köln 2010. – Vgl. auch den Sammelband: Kunstschulreform 1900–1933, hg. v. Hans M. Wingler, Berlin 1977. 24 Julia Berger: Die Pädagogische Akademie. Eine Bauaufgabe der Weimarer Republik, Aachen 1999, S. 159–162, 447–466 und öfter.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 181 wicklungsgerechten Bewertung von Kinderzeichnungen führte, für die beispielhaft der süddeutsche Kunsttheoretiker Gustaf Britsch (1879–1923) genannt sei.25 Bauliche Hülle der Pädagogischen Akademie in Kiel wurde 1926 das 1912/14 unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg errichtete Gebäude des ein Jahr vorher geschlossenen Lehrerseminars. Über die Nutzung des leicht umgebauten drei- geschossigen Bauwerks berichtete 1926 ein Artikel in den Kieler Neuesten Nach- richten: „In der Nähe des Haupteingangs liegen im Erdgeschoß die Tagesräume für die Studie- renden. […] Außerdem ist im Erdgeschoß die Bücherei untergebracht; sie umfasst zwei Lese- und Arbeitsräume und den Büchereiraum. […] Auch die Musikübungszimmer, die zum Teil neu geschaffen sind, befinden sich im Erdgeschoß. Im anschließenden Sei- tenflügel gelangt man in die Turnhalle, während im Kellergeschoß die Werkstätten für Papp- und Holzarbeiten untergebracht sind, zu denen im nächsten Jahr noch Werk- stätten für Eisenarbeiten kommen sollen. Im ersten Stock liegen über der Turnhalle die schöne Aula und der mit ihr verbundene Musiksaal. […] Ferner befinden sich in diesem Stockwerk: das Amtszimmer für den Direktor, der Raum für die Dozentensitzungen, mehrere Arbeitsräume für Dozenten und einige Hörsäle, der psychologische und der biologische Arbeitsraum, der Physik- und Chemiesaal sowie Sammlungen. Im Dach- geschoß sind der lichte Zeichensaal und ein letzter Hörsaal untergebracht.“ 26 Die Pädagogische Akademie stellte demnach für einen Unterricht im Bereich Kunst einerseits Werkstätten zur Verfügung, in denen in erster Linie eine Materi- alkenntnis vermittelt wurde. Für die Kunstlehre wichtiger war der Zeichensaal im Dachgeschoss, in dem unter anderem Aktzeichnen stattfand. Die Akademie zielte dabei auf eine ganzheitliche Ausbildung in den durchaus hierarchisch gestuften drei Sparten der (1) verschiedenen geistesgeschichtlichen Disziplinen mit den theologischen und historischen Fächern sowie den Sprachen, (2) den mathema- tisch-naturwissenschaftlichen Fächern, die anhand von Fachräumen objektnah vermittelt wurden und (3) den körperlich-musischen Fächern mit Musik, Kunst und Sport. Dies entsprach weitgehend der Gliederung, die Baumeister in den 1890er Jahren in seinem grundlegenden Handbuch für das gymnasiale Lehramt entworfen hatte.27 Eine künstlerische Lehre im engeren Sinne fand nicht statt.

25 Gustaf Britsch: Theorie der bildenden Kunst, aus dem Nachlass hg. v. Egon Kornmann, München 1926. – Vgl. hierzu auch Konzeptionen der Kunstdidaktik. Dokumente eines komplexen Gefüges, hg. v. Cornelia u. Kunibert Bering (Artificium. Schriften zu Kunst und Kunstvermittlung, Bd. 12), Oberhausen 2011 (OA 1999), S. 28–31. 26 Die Pädagogische Akademie in Kiel, in: Kieler Neueste Nachrichten Nr. 103 vom 5. Mai 1926 (W. Bruhn). Zit. n. Berger 1999 (wie Anm. 24), S. 448 f. 27 Baumeister 1895 (wie Anm. 9).

182 _ KLAUS GEREON BEUCKERS Als aufgrund großer Raumprobleme schon seit der Gründung der Akademie ein Erweiterungsflügel geplant wurde, kam es zu langwierigen Diskussionen über die Raumnutzungen und die bauliche Form. Die Baugestalt des 1930/32 errichteten Gebäudes wurde letztlich am Neuen Bauen orientiert und weist nicht zuletzt in der Kubatur und den Ziegelfassaden zahlreiche Gemeinsamkeiten mit der wenig später erbauten Fabrik für Elektroakustik in Kiel auf, die nach dem Zweiten Welt- krieg als idealer Ort für die Neuerrichtung der Kieler Universität genutzt wurde.28 Die Raumdisposition des neuen Anbaus der Pädagogischen Akademie nahm 1932 im Untergeschoss wieder Werkstätten auf. Im Erdgeschoss sowie den bei- den Hochgeschossen bestimmte jeweils ein langer Flur das Bild, an dem nach Norden kleine Dozentenzimmer, nach Süden aber Seminarräume angeschlossen waren. Das Gelenk zum Altbau wurde im Erdgeschoss mit der Bibliothek und dem zugehörigen Lesesaal besetzt. Im Kopfbau wurden unten die nach Geschlechtern getrennten Tagesräume für die Studierenden aufgenommen sowie ein großer Hörsaal. Darüber befanden sich der große Festsaal und ein großer Musiksaal mit Vestibül, über denen im folgenden Geschoss wiederum die Musikzellen angeord- net wurden. Bildende Kunst spielte in diesem Raumkonzept – ganz im Gegensatz zur Musik – keine relevante Rolle, der Zeichensaal blieb im Obergeschoss des Alt- baus und nahm diese Funktion über die Existenz der Pädagogischen Akademie hinaus wahr. Die Einbindung der nicht näher spezifizierten Kunstlehrerausbildung in das auf zwei Jahre angelegte Lehrerstudium der Pädagogischen Akademie stärkte durch den Austausch der werdenden Lehrer aller Schulfächer vor allem die didaktische Ausbildung und die didaktische Reflexion. Hier lagen – vor allen Fachinhalten – die Schwerpunkte und hierauf war die Architektur der Kieler Akademie mit ihren zahlreichen Seminarräumen ausgerichtet. Didaktik bestimmte in diesen Jahren auch wesentlich die Diskussion der Schul- reformen. Es ist wenig verwunderlich, dass in den 1920/30er Jahren trotz der Wirtschaftskrisen etliche neue Bautypen für Schulgebäude entworfen wurden, die sich von der tradierten, weniger schülerorientierten Unterrichtsform jahr-

28 Vgl. Anna Minta, Jörg Matthies: Die architektonische Entwicklung der Universität Kiel nach 1945. Vom umgenutzten Industriequartier zum modernen Universitätsforum, in: Architektur für For- schung und Lehre. Universität als Bauaufgabe, hg. v. Klaus Gereon Beuckers (Kieler Kunsthistori- sche Schriften, N.F. Bd. 11), Kiel 2010, S. 353–386, insb. S. 361–365. – Torben Kiepke: Die ELAC-Bau- ten, in: Universität als Denkmal. Der Campus der Christan-Albrechts-Universität zu Kiel, hg. v. Astrid Hansen u. Nils Meyer (Beiträge zur Denkmalpflege in Schleswig-Holstein, Bd.1), Kiel 2011, S. 65–87. – Klaus Gereon Beuckers: Gebaute Bildungspolitik. Die architektonische Entwicklung der Christian-Albrechts-Universität, in: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 350 Jahre Wirken in Stadt, Land und Welt, hg. v. Oliver Auge, Kiel 2015, S. 175–215, insb. S. 186–190.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 183 gangsübergreifender Klassen, enger Klassenräume, geringer Raumbelichtungen und statischer Unterrichtsformen nahezu ohne Lehrmittel absetzten. Das Ideal wurden demgegenüber nun kleine, alterseinheitliche Klassen, umfangreiche Belichtung sowohl der sozialen als auch der Lehrräume, teilweise sogar Außen- unterricht sowie eine angemessene Ausstattung mit Lehrmitteln. Hier setzten sich die Reformideen des gestuften Schulsystems aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fort, das durch eine Differenzierung sowohl nach Altersklassen als auch Leistungsfähigkeit eine spezifischere Förderung der unterschiedlichen Be- gabungs- und Bildungsgruppen eingeführt hatte. Viele dieser architektonischen Ideen wurden erst in den 1950/60er Jahren baulich umgesetzt, bevor nach die- sem Individualisierungsschub mit den Massenschulen der 1970/80er Jahre die sozialistische Idee einer „Bildungsmaschine“ im Sinne Le Corbusiers zur Maxi- me wurde. In Kiel zeugen die von Rudolf Schroeder entworfenen Gebäude der ­Goetheschule (1948/51) oder der Max-Planck-Schule (1952/55) bis heute noch von den Reformideen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts.29 Die Pädagogische Akademie wurde bereits 1930 – Kultusminister Becker war im Januar 1930 zurückgetreten – einer Modifikation unterzogen, wobei im Vorgriff auf die Sparmaßnahmen von 1931 Zusammenlegungen stattfanden und etli- che Lehrende in den Schuldienst abgeschoben wurden. In Kiel betraf dies ins- besondere den Bereich Kunst, für dessen Aufbau 1926 aus Berlin Erich Parnitz- ke (1893–1974) abgeordnet worden war. Zum 1. April 1930 wurde er „anlässlich der Stilllegungen bzw. Zusammenlegungen der Pädagogischen Akademien“ in den einstweiligen Ruhestand versetzt und an das Staatliche Gymnasium Christiane- um in Altona versetzt, wo er mindestens bis 1932 tätig war. Offenbar als Ausgleich erfolgte am 14. Juli 1930 die Ernennung zum „Professor an einer pädagogischen Akademie“.30 Nachdem 1933 die Pädagogischen Akademien in ‚Hochschulen für Lehrerbildung‘ umgebildet wurden, kehrte Parnitzke, der im gleichen Jahre ein Handbuch für Kunsterziehung vorgelegt hatte, das sich mit nationalsozialisti- schen Ideologien gut vereinbaren ließ und bis heute seine Rezeption prägt, nach

29 Vgl. Rudolf Schroeder. Neues Bauen für Kiel 1930–1960, hg. v. Ulrich Höhns (Schriftenreihe des Schleswig-Holsteinischen Archivs für Architektur und Ingenieurbaukunst, Bd. 3), Hamburg 1998. – Vgl. auch Antonia Gruhn-Zimmermann: Schulbaureform der Weimarer Republik, München 1993. – Michael Luley: Eine kleine Geschichte des deutschen Schulbaus vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Erziehungskonzeptionen und Praxis, Bd. 47), Frankfurt am Main 2000. 30 Vgl. Personalblatt A für Direktoren, Wissenschaftliche Lehrer und Kandidaten des Höheren Lehr- amtes Erich Walter Hermann Parnitzke (Anlage 1930, letzter Nachtrag 1933): http://bbf.dipf.de/ kataloge/archivdatenbank/digiakt.pl?id=p63242&dok=PEB-0089&f=PEB-0089-0208-01&l=PEB- 0089-0208-04&c=PEB-0089-0208-01 [20. Dezember 2015], dort die Zitate S. 3.

184 _ KLAUS GEREON BEUCKERS Kiel zurück.31 In seinen Lebenserinnerungen stellt er seine Tätigkeit als Kontinu- um dar.32 Wie viele andere Wissenschaftler war Parnitzke 1933 der SA beigetreten, ohne hier sehr aktiv zu werden. Immerhin war er politisch so konform, dass man ihm 1934 nach der Entlassung von Georg Kolb, der dem Expressionismus und damit einer als ‚entartet‘ diffamierten Kunstrichtung nahestand, die Schriftleitung der Zeitschrift „Kunst und Jugend“ übertrug, die nicht nur das Zentralorgan der Zeichenlehrer war, sondern inzwischen als ‚Amtliches Organ des Nationalsozia- listischen Lehrerbundes‘ fungierte. Offizieller Herausgeber war der aus Husum stammende Henrich Hansen in Bayreuth. Als dieser 1938 in die Berliner Pres- sezentrale berufen wurde, geriet Parnitzke in die Schusslinie der ideologischen Scharfmacher und wurde durch Robert Böttcher, der 1933 die nationalsozialis- tische Basisschrift zur Kunsterziehung geschrieben hatte,33 ersetzt. Parnitzke trat aus der SA aus, war aber während des Krieges in der Truppenbetreuung tätig.34 Seine Bedeutung für die Kunstdidaktik erlangte Erich Parnitzke aber vor allem nach dem Krieg, als er von 1951 bis 1971 die Zeitschrift „Kunst und Jugend“ als Schrift- leiter fast im Alleingang prägte und zu einem wichtigen und breit aufgestellten Organ für Kunstdidaktik an Schulen machte.35 Inhaltlich vertrat Parnitzke eine alters- gerechte Förderung von Kindern, in deren zeichnerischen Äußerungen er – ganz in der Denktradition von Gustaf Britsch stehend – eine Spiegelung der jeweiligen Entwicklungsphasen des Kindes sah, auf die eine Schuldidaktik auszurichten sei. Schon 1933 hatte er geschrieben „Der natürliche Zugang zum Bildunterricht in der

31 Vgl. Erich Parnitzke: Bildhaftes Gestalten, in: Unterrichtslehre für das bildhafte Gestalten an der Volksschule (Handbuch der deutschen Lehrerbildung, Bd. III/0, Teil 1), München 1933, S. 1–55. – Eine zugespitzte Formulierung seiner Ideen folgte drei Jahre später: Erich Parnitzke: Von der stets gegenwärtigen Bedeutung des ursprungsnahen Bildschaffens, in: Unsterbliche Volkskunst, hg. v. Hans Egerland, München 1936, S. 38–41. – Die Rezeption Parnitzkes als nationalsozialistischem Ideologen und nicht als Mitläufer basiert nicht zuletzt auf Bering 2011 (wie Anm. 25), S. 42–44. 32 Vgl. Erich Parnitzke: Von mir aus gesehen. Beiträge zur Geschichte des Zeichen- und Kunstun- terrichts, in: Bild und Werk 5 (1969), Teil I S. 77–79, Teil II S. 124–125, Teil III S. 169–172, Teil IV S. 217–219, Teil V S. 260–263, hier S. 219, 260 u. 262. „Die erste eigne Arbeitswoche – zur Durchführung der Richtlinien – leitete ich, soeben mit der Professur bedacht, 1930 in Kiel mit 30 Fachkollegen(innen) der Oberschulen. […] Ich wurde gleichwohl in den sieben Jahren [1930–1938], bis mich ein ‚Parteige- nosse‘ ablöste, allen höheren Schulen, dazu Mittel- und großen Volksschulen mit eignen Fachkräften, zum erwünschten Mittler zur Regierung hierüber.“ Dies scheint im Widerspruch zur aktenkundigen Versetzung in den einstweiligen Ruhestand (s.o.) zu stehen. 33 Robert Böttcher: Kunst und Kunsterziehung im neuen Reich, Breslau 1933. 34 Vgl. die subjektive Darstellung Parnitzke 1969 (wie Anm. 32), S. 260–262. – Er verfasste hier zwei kleine Hefte zu handwerklichem Werken für Soldaten: Erich Parnitzke: Soldaten werken (Feldzei- tung von der Maas bis an die Memel, Feldpost Nr. 17007; Schriftenreihe zur Truppenbetreuung, Heft 4), o.O. 1942. – Erich Parnitzke: Freizeitschaffen. Weisungen zur volkstümlichen Holz-Werkar- beit (Tornisterschrift des Oberkommandos der , Heft 83), Kolmar im Elsaß 1943. 35 Würdigungen seiner Leistung als Schriftleiter durch Aloys Henn und Wilhelm Ebert in: Bild und Werk 6 (1970), S. 1.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 185 Volksschule ist durch die Tatsache der Kinderzeichnung gegeben. Indem wir ihre […] Bildungsverhalte seinem eigenen [des Kindes] Bildungsstand gegenüberstellen, kom- men wir zu einer fachkundlichen Einordnung, die zugleich jugend- und lehrerkundlich gegründet ist.“ 36 Kinderzeichnungen kam dementsprechend in der Zeitschrift ein sehr breiter Raum zu. Da die Redaktion in Kiel saß und zahlreiche Kieler Kollegen sowie Absolventen als Autoren einband, war Kiel in dieser Zeit ein zentraler Ort kunstdidaktischer Diskussionen, die vor allem an die Pädagogische Hochschule an- gebunden waren. Parnitzke sah weder in einem ausgebildeten Künstler noch in einem Kunstkenner den idealen Kunstlehrer, sondern betonte vor allem den päda- gogischen Lehrer, der mit der Kindheitsentwicklung vertraut sei.37 Die Pädagogische Akademie und die ihr ab 1933 nachfolgende Hochschule für Lehrerbildung waren schon 1939 zugrunde gegangen. Der für sie eigens errich- tete Kieler Anbau von 1930/32 wurde 1946 bis 1950 als Schleswig-Holsteinischer Landtag genutzt (in die von Martin Witte erbaute Pädagogische Akademie in Bonn zog 1948 der Parlamentarische Rat und dann der Bundestag ein38), während im Altbau 1946 in der Nachfolge der Pädagogischen Akademie die Pädagogische Hochschule gegründet und ihr die Lehramtsausbildung zugeordnet wurde.39 Zum Lehrprogramm gehörte von Anfang an die Ausbildung von Kunsterziehern für die Volks- und Mittelschulen, die sich später in dem Fachbereich ‚Kunst und ihre Didaktik‘ fortsetzte.40

36 Parnitzke 1933, S. 5. 37 Parnitzke 1933, S. 3 f.: „Als Mitgift der Vorbildung [des Volkschullehrers für Kunst beziehungsweise des Bildunterricht, wie Parnitzke den Kunstunterricht nannte] stehen mehr oder weniger eng neben- einander die Fähigkeit, selber zu bildnern, [also] die Vertrautheit mit Instrumentationsbedingungen, und die Fähigkeit des Bewertens und Beurteilens von Bildgebilden. Nun deckt sich das Können nicht mit dem Kennen […] Die beiden Pole wären: der Künstler, dem das Schaffen zum Beruf, und der Kunstken- ner, dem das Studium der Kunst zur Wissenschaft wird. Wir haben es in der Volkslehrerbildung weder mit der einen, noch mit der anderen Entschiedenheit zu tun, vielmehr mit der Lage des ‚durchschnittlich Gebildeten‘, der zwar nicht ‚Laie‘ ist, sofern er eine Werkgewöhnung, eine gewisse geschichtliche Kunst- kenntnis mitbringt, den aber die Aufgabe, selber zu lehren, vor eine pädagogische Besinnung stellt“. 38 Vgl. Berger 1999 (wie Anm. 24), S. 311. 39 Vgl. Berger 1999 (wie Anm. 24), S. 464. 40 Vgl. Helga Rieger: Der Fachbereich ‚Kunst und ihre Didaktik‘. Rückblick und Würdigung, in: Umge- drehter Heringsschwanz. Kieler Miniaturen, hg. v. Barbara Camilla Tucholski, Kiel 2011, S. 102–109. – Die Gegenstände der Ausbildung und ihr Verhältnis zu auch zeitgenössischen künstlerischen Positionen kann anhand der heute im Kunsthistorischen Institut der CAU aufbewahrten Ab- schlussarbeiten nachvollzogen werden, die bis in die 1940er Jahre zurückgehen.

186 _ KLAUS GEREON BEUCKERS Vom Zweiten Weltkrieg bis 1980 Die von der Universität entfernte Ausbildung von Kunsterziehern erschwerte bei aller möglichen Stärkung der Didaktik die Ausbildung in kunsthistorischen Inhalten. Sie konnte im Wesentlichen nur auf Handbüchern und allgemeineren Strukturen basieren – was 1893 schon Konrad Lange als Problem kritisiert hatte41 –, während die Modernisierungen der Methodik, wie sie durch die Forschung an der Universität stattfand, nur eingeschränkt nachvollzogen werden konnten. Ins- besondere die methodischen Neuerungen und Erweiterungen, die Kunst nicht mehr allein formal unter Epochen-, Stil- und Motivkriterien sowie Ikonographie zu fassen versuchten, sondern ausgehend von der Ikonologie-Debatte des frühen 20. Jahrhunderts zunehmend Fragen der Funktionsbindung, der sozialen Dimen- sion oder auch der Kunstrhetorik diskutierten, erreichten eine außerhalb der Uni- versitäten liegende Kunstlehrer-Ausbildung nur sporadisch. Sie waren und sind bis heute eng an kunsthistorische Forschung gekoppelt. Die einschneidenden Umbrüche in der Methodik des Faches Kunstgeschichte, die sich vor allem in den 1950/60er und erneut in den 1990er Jahren auch in der Breite der Universitäten durchsetzten, gingen zeitlich mit der Verschiebung des Fächerkanons durch die Hereinnahme der Klassischen Moderne und dann der Zeitgenössischen Kunst einher. Die ältere akademische Kunstgeschichte, deren ganz wesentlich auf Dar- stellungsinhalte und die Relation von Darstellungsformen zu diesen basierende Denkstruktur in Stil-, Motiv- und Ikonographie-Kategorien ausgestaltet war, erfuhr mit der Überwindung der Gegenständlichkeit und Abbildhaftigkeit der Kunst in der Moderne einschneidende Veränderungen. Die Kunstgeschichte der 1960er Jahre war nicht mehr die, die sie um 1900 während der Kunsterziehungs-Bewe- gung gewesen war. Außerhalb der Kunstwissenschaften, der Künstlerkreise und der besonders interessierten Laien blieben – insbesondere im damals eher kon- servativen Kiel – Kunstbegriff und Kunstkanon vorerst jedoch weitgehend den historistischen Sichtweisen des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Für eine Kunstlehrer-Ausbildung wurde angesichts der geänderten Vorzeichen seit den 1950er Jahren auch in Kiel nach neuen Wegen gesucht. Das Gros der gymnasia- len Kunstlehrer entstammte einer nicht näher spezifizierten Ausbildung im Rahmen des kunsthistorischen Studiums oder kam aus anderen Bundesländern. Einen eige- nen Studiengang für höhere Schulen, also das Gymnasium, gab es hingegen nicht. Ein wichtiger Vorstoß war deshalb das 1959 vorgelegte Gutachten von Gustav Has- senpflug (1907–1977), der wenige Jahre vorher die Landeskunstschule in Hamburg

41 Lange 1893 (wie Anm. 11), S. 80.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 187 zur Staatlichen Hochschule für Bildende Künste reformiert hatte.42 Er schlug in sei- nem „Gutachten über die Muthesius-Werkschule unter besonderer Berücksichtigung der Möglichkeit einer Ausbildung von Kunsterziehern und Architekten und der Umwandlung in eine Hochschule“ eine Neustrukturierung auch der ehemaligen Handwerkerschu- le Kiel vor.43 Diese war 1946 als städtische Muthesius-Werkschule im Nordflügel der 1934/35 erbauten, ehemaligen Marinefachschule in der Wik (Herthastraße) wieder- formiert worden.44 Inhaltlich hatte die Muthesius-Schule sich nicht zuletzt über ihren Architekturzweig weit von einer Handwerksschule zu einer Kunstschule entwickelt. Hassenpflug schlug deshalb eine Stärkung der Architekturspalte zu einem vollwerti- gen Architektenstudium vor. Ein zweites Standbein sollte in Zusammenarbeit mit der Kieler Universität die Ausbildung von Kunsterziehern für das Gymnasium bilden. Die Pläne verliefen jedoch im Sande, obwohl man 1965 im Zuge der Hochschulreformen einen erneuten Vorstoß durch einen „Diskussionsbeitrag der Muthesius-Werkschule zu Fragen der Ausbildung von Architekten und Kunsterziehern an Gymnasien und Realschu- len im Lande Schleswig-Holstein“ als eigene Schrift unternahm.45 Die Werkschule hatte inzwischen 1960 die Wik verlassen und war in ihren eigens für diesen Zweck entworfenen Neubau zwischen Lorentzendamm und Brunswiker Stra- ße gezogen, der neben dem Hauptgebäude etliche Anbauten in Pavillon-Bauweise enthielt. Hier waren Werkstätten untergebracht, die auch die Weiterentwicklung zu einer Kunstschule unterstreichen sollten. Bezeichnend für die methodisch immer noch dem tradierten Kunstverständnis verpflichtete Herangehensweise war – wie in der Pädagogischen Akademie eine Generation vorher – jedoch die Planung eines großen Aktsaales im Obergeschoss, der erst später als Aula umgenutzt wurde (und dafür architektonisch durch die Zwischenstützen kaum geeignet war).46 Einen Hörsaal und damit einen größeren Stellenwert von theoretischer Lehre sah man hingegen nicht vor. Auf eine Ausbildung von Kunsterziehern war man nicht eingestellt.

42 Vgl. Wolfgang Voigt: In der Nachfolge von Sezession und Bauhaus. Wiederaufbau und Erhebung zur Hochschule für bildende Künste, in: 222 Jahre Nordlicht. Die Hamburger Hochschule für bil- dende Künstle am Lerchenfeld und ihre Vorgeschichte, hg. v. Hartmut Frank, Hamburg 1989, S. 235–268, hier S. 244–260. 43 Zur Geschichte der Muthesius-Schule vgl. grundlegend Jan Siefke Kunstreich: 75 Jahre Kieler Kunst- schule. Ein historischer Rückblick, Kiel 1982, zum Hassenpflug-Gutachten S. 55 f. – Teilweise in wörtli- cher Übernahme von Kunstreich auch Silke Krohn: Tradition und Zukunft. Von der Handwerkerschu- le zur Muthesius Kunsthochschule, in: Erkenntnisform. 100 Jahre Muthesius Kunsthochschule, hg. v. Norbert M. Schmitz, Silke Krohn u. Ulla Schmitz-Bünder, Kiel 2007, S. 30–60 hier S. 49–52. 44 Vgl. Hans Günther Andresen: Häuser in denen ‚Muthesius‘ stattfand. Eine spezielle kleine Kieler Kunsttopographie, in: Schmitz u.a. 2007 (wie Anm. 43), S. 89–111, hier S. 103/105. 45 Vgl. Kunstreich 1982 (wie Anm. 43), hier S. 57. – Krohn 2007 (wie Anm. 43), S. 50/52. 46 Vgl. Andresen 2007 (wie Anm. 44), S. 106.

188 _ KLAUS GEREON BEUCKERS Immerhin erfolgte 1966 die Umbenennung zur Muthesius Werkkunstschule, wo- mit erstmals und durchaus programmatisch der Terminus ‚Kunst‘ im Namen einge- schrieben war. Man stellte sich jetzt auch kunsthistorisch etwas breiter auf, nachdem man 1964 dem ehemaligen Assistenten des Kunsthistorischen Instituts, Jan Siefke Kunstreich (1921–1991), die Lehre für Kunst- und Baugeschichte übertragen hatte. Kunstreich war 1956 von seinem Lehrer Richard Sedlmaier (1980–1963) – ein eher konservativer, in den 1930/40er Jahren explizit nationalistischer Kunstgeschichte verpflichtet gewesener und 1959 emeritierter Architekturhistoriker47 – als Assistent eingestellt worden und ist an der Christian-Albrechts-Universität bis 1963 geblie- ben. Er war Sedlmaier und seinem Kreis eng verbunden, zeichnete für das Schrif- tenverzeichnis seines Lehrers in dessen Festschrift verantwortlich.48 Kunstreichs selbstverständlich in Sedlmaiers Schriftenreihe publizierte, 1957 abgeschlossene Dissertation hatte sich mit dem Rotterdamer Maler Willem Buytewech (1591–1624) und der Entstehung der niederländischen Genre-Malerei beschäftigt.49 Metho- disch und in der Themenwahl zeigt die Arbeit deutliche Parallelen zu dem in die- ser Zeit am Kunsthistorischen Institut tätigen Wolfgang J. Müller (1913–1992), der ebenfalls zum Sedlmaier-Kreis gehörte und 1950 mit einer Arbeit zu Georg Flegel (1566–1638) und die Anfänge der deutschen Stillleben-Malerei habilitiert worden war.50 Müller hatte in den ersten Nachkriegsjahren von der Universität aus Kunstge- schichte auch an der Muthesius-Werkschule gelehrt,51 Kunstreich trat somit 1964 also gewissermaßen erneut in Müllers Fußstapfen, besaß jedoch nicht dessen um- fassendes Interesse und forscherische Energie. Vielmehr hatte Kunstreich schon in den letzten Jahren seiner Assistenz seine wenigen Publikationen in Kooperation mit dem Presseamt der Stadt Kiel dem Plakatdesign für die Kieler Woche oder Bild- bänden zu Kiel gewidmet. Es waren eher touristische als kunsthistorische Arbeiten.

47 Zu Sedlmaier vgl. Ulrich Kuder: Das Kunsthistorische Institut der Christian-Albrechts-Universität im Nationalsozialismus, in: Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, hg. v. Christoph Cornelißen u. Carsten Mish (Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 86), Essen 2009, S. 253–276. – Beuckers 2014 (wie Anm. 2), S. 84–90. – Vgl. zuletzt auch Karen Bruhn: Kunstgeschichte im Nationalsozialismus. Erkenntnisse über das Kunsthistorische Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Masterarbeit Universität Kiel 2016, insb. S. 31 ff. 48 Jan S. Kunstreich: Bibliographie der wissenschaftlichen Veröffentlichungen Prof. Dr. Richard Sed- lmaiers, in: Nordelbingen. Beiträge zur Heimatforschung in Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck 28/29 (1960), S. 15–19. 49 Jan S. Kunstreich: Der ‚geistreiche Willem‘. Studien zu Willem Buytewech (1591–1624) (Arbeiten des Kunsthistorischen Instituts der Universität Kiel, Bd. 3), Kiel 1959. 50 Wolfgang J. Müller: Der Maler Georg Flegel und die Anfänge des Stillebens (Schriften des Histori- schen Museums Frankfurt am Main, H. 8), Frankfurt am Main 1956. – Zur Person vgl. Frank Büttner: Wolfgang J. Müller (1913–1992), in: Nägelke 1994 (wie Anm. 2), S. 69–73. – Beuckers 2014 (wie Anm. 2), S. 88 f. – vgl. auch Klaus Gereon Beuckers: Vorwort, in: Architektur als Ort für Embleme, hg. v. Ingrid Höpel (Mundus Symbolicus, Bd. 2), Kiel 2014, S. 7–8. 51 Vgl. Kunstreich 1982 (wie Anm. 43), S. 54.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 189 In seiner langjährigen Tätigkeit an der Muthesius-Schule kam dann nur noch ein Bildband zur Fotografie in Schleswig-Holstein hinzu.52 Kunstreich hatte seine Tä- tigkeit als forschender Kunsthistoriker also schon vor seiner Beschäftigung an der Muthesius-Werkkunstschule weitgehend aufgegeben. Auch in der Lehre spielte ein zeitgenössischer Zugang zur Kunstgeschichte oder Kunsttheorie keine Rolle, wie er für eine Ausbildung von Kunsterziehern hätte fruchtbar sein können. Eine for- schungs- und methodenorientierte Vermittlung von Kunstgeschichte war an der Werkkunstschule in dieser Zeit auch nicht gefordert. Ganz anders ging man in der Pädagogischen Hochschule vor und erhob das Fach Kunst, das bisher immer nur als zweites Wahlfach studiert werden konnte, zum ersten Wahlfach. Hierfür richtete man 1962 eine planmäßige Professur ein, die mit Peter Heinig (1924–1994) besetzt wurde, der in der Reihe „Didaktische Grundrisse“ des Klinkhardt-Verlages ein bis heute in mehreren Ausgaben gedrucktes, um- fangreiches Werk zum Kunstunterricht vorlegte.53 Nach dem Ruf Heinigs an die Pädagogische Hochschule in Bonn übernahm 1970 Herbert Klettke (1923–1984) diese Professur und verstand es, den Bereich Kunst 1974 durch die Einrichtung ei- ner zweiten Professur weiter aufzuwerten, auf die man Fritz Menzer (1924–2012) berief.54 Die Pädagogische Hochschule wirkte so stark in die Stadt hinein und ver- trat die Ausbildung von Kunstlehrern mit großem Nachdruck. Währenddessen bemühte man sich an der Muthesius-Werkkunstschule aus der städtischen Trägerschaft in eine staatliche wechseln zu können. Dies gelang, als das Land Schleswig-Holstein 1969 etliche Bereiche unter dem Dach einer Fach- hochschule Kiel bündelte. Die Einbindung der Werkkunstschule wurde 1972 rückwirkend vollzogen. Die damit einhergehende Reform der Studiengänge bil- dete die drei Bereiche (1) Architektur, (2) Design und (3) Freie Kunst heraus.55 Ein Lehramt Kunst war weiterhin nicht vorgesehen, obwohl die Forderungen nach einem spezifischen Studiengang für Kunsterzieher immer wieder laut artikuliert wurden. Insbesondere die Christian-Albrechts-Universität nahm sich dessen an und veranstaltete im Mai 1969 in der Universitätsbibliothek an der Ecke Westring/

52 Jan S. Kunstreich: Farbenfrohes Kiel, Kiel 1962. – Jan S. Kunstreich: Lebendiges Kiel, Kiel 1963. – Jan S. Kunstreich: Kieler-Woche-Plakate 1948–1965, Kiel 1964. – Sowjetische Graphik: Kieler Woche 1971, Ausst. Kat. Soninhalle Kieler Schloss, bearb. v. Wassili Takitin u. Jan S. Kunstreich, Kiel 1971. – Jan S. Kunstreich: Frühe Photographen in Schleswig-Holstein (Kleine Schleswig-Holstein-Bücher, Bd. 36), Heide 1985. 53 Peter Heinig: Kunstunterricht (Didaktische Grundrisse), Bad Heilbrunn 1969, 4. Auflage 1994. 54 Auf Herbert Klettke folgte 1987 Manfred Korte, auf Fritz Menzer 1990 Barbara Camilla Tucholski, siehe unten. Der Fachbereich besaß im Laufe der Zeit verschiedene Bezeichnungen, firmierte seit 1983 bis zum Ende 2011 als ‚Kunst und ihre Didaktik‘. – Zur Geschichte vgl. Barbara Camilla Tuchol- ski: Kunst. Studium und Fluidum. Aus den Vorlesungsverzeichnissen 1948 bis 2011, in: Tucholski 2011 (wie Anm. 40), S. 110–116. 55 Vgl. Krohn 2007 (wie Anm. 43), S. 53.

190 _ KLAUS GEREON BEUCKERS Olshausenstraße eine öffentliche Podiumsdiskussion unter dem programmati- schen Titel „Schleswig-Holstein ohne Kunsterziehung?“, auf der die Einrichtung ei- nes solchen Studiengangs für das gymnasiale Lehramt gefordert wurde.56 Dem auch in anderen Fächern auftretendem Manko einer gewissen Entkopplung der Lehramtsausbildung von den Entwicklungen der Fachwissenschaften an den Universitäten trat man Anfang der 1970er Jahre bezeichnenderweise nicht für das gymnasiale Lehramt, sondern für die Ausbildung der Realschullehrer entge- gen. In der Pädagogischen Hochschule waren die Kunstlehrer für Grund- und Re- alschulen seit Jahrzehnten unter besonderer Fokussierung auf eine Schuldidaktik ausgebildet worden. In den letzten Jahren waren hierzu spieltheoretische Aspek- te hinzugekommen. Grundlage für eine Neuorientierung der gesamten Lehr- amtsausbildung in Kiel bildete der Neubau der Pädagogischen Hochschule, die 1970 aus dem alten Hauptgebäude der Pädagogischen Akademie in Gaarden, wo sie seit dem Krieg beheimatet geblieben war, in unmittelbare Nähe zu dem gera- de im Entstehen begriffenen neuen Kieler Universitätsviertel an der Leibnizstraße umzog. Dafür war an der Olshausenstraße 75 ein Neubau errichtet worden, der in seiner Architektursprache bis hin zum Rastersystem die Gemeinsamkeiten mit den benachbarten Universitätsbauten herausstellte.57 Die bauliche Nähe ermög- lichte es, die fachwissenschaftlichen Räume und Angebote der Universität für die Lehramtsstudierenden mitzunutzen und so wurden erhebliche Teile der Fachaus- bildung des Lehramtsstudiums durch Kooperation in die Universität ausgelagert. Mit der Neustrukturierung der Pädagogischen Hochschule wurde auch der dortige Fachbereich für Kunsterzieher unter dem neu aus Hannover berufenen Professor Herbert Klettke, der ein in Göttingen ausgebildeter Kunsthistoriker mit Schwerpunkt in der mittelalterlichen Architektur sowie ein profilierter Maler war,58 neu aufgestellt und bezog jetzt Lehrveranstaltungen am Kunsthistorischen Institut mit ein. Damit wurde die didaktische Ausbildung der Kunsterzieher im fachwissenschaftlichen Be-

56 Vgl. Kunstreich 1982 (wie Anm. 43), S. 62 gestützt auf einen Zeitungsbericht der Kieler Neuesten Nachrichten. – Krohn 2007 (wie Anm. 43), S. 53. 57 Vgl. Beuckers 2015 (wie Anm. 28), S. 200–205. 58 Zur früh verstorbenen Person Klettkes als Kunsthistoriker, Künstler und Kunstdidaktiker vgl. Her- bert Klettke (1923–1984). Kunst als Aktion. Dem Initiator der Spiellinie zum Gedächtnis, Ausst. Kat. Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek u. Schauenburgerhalle Kiel, hg. v. Renate Paczkowski, Kiel 1994. – Herbert Kettke: Mater ecclesia und capella. Die mittelalterliche Dorfkirche der Diözese Hildesheim. Material-, raum- und formgeschichtliche Untersuchungen, Diss. Göttingen 1953.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 191 reich deutlich aufgewertet. Die Kooperation mit dem Kunsthistorischen Institut war ein schlagender Erfolg und führte zu einer Vervielfachung der Studierenden dort.59 Eine solche Zusammenarbeit, die auch in anderen Fächern bestand, war von der Universitätsleitung für die Kunst besonders vorbereitet worden: So hatte man hier- für während der krankheitsbedingten Vakanz des kunsthistorischen Lehrstuhls, die sich unter Hans Tintelnot (1909–1970) 1967/69 ergeben hatte, eine weitgehende Neustrukturierung des Institutes in die Wege geleitet.60 Zuerst wurde es aus der Dä- nischen Straße, wohin es 1965 aus Platzmangel auf dem Campus gezogen war, wie- der auf das Universitätsareal verlegt. Damit war eine Verknüpfung mit dem Lehramt überhaupt erst verkehrstechnisch möglich. Zudem suchte man nach einer Lösung für die Kunsthalle, die bisher durch den Ordinarius für Kunstgeschichte geleitet worden war. Schon Tintelnot hatte sie nicht mehr mit der notwendigen Intensität führen können und das operative Geschäft an den Volkskundler und Melsdorfer Museumsleiter Alfred Kamphausen (1906–1982) abgegeben, der ebenfalls aus dem Sedlmaier-Kreis stammte und seitdem mit Müller die Arbeit der Kunsthalle bestimmte. Die Universitätsleitung durchschnitt diese Seilschaft (bemerkenswert ist es, dass man sogar die kommissarische Institutsleitung nicht Müller, sondern ei- nem Germanisten übertrug) und übergab die seitdem selbständige Leitung der Kunsthalle mit dem dezidierten Auftrag an den damaligen Leiter des Heidelberger Kunstvereins, Jens Christian Jenssen (1928–2013), um eine Orientierung der Kunst- halle an der Zeitgenössischen Kunst zu forcieren. Damit schuf man die Kapazitäten, mit denen sich der Ordinarius für Kunstgeschichte den neuen Studierendenzahlen und der durchaus heterogenen Gruppe von Studierenden beider Studienausrich- tungen angemessen widmen konnte. 1969 berief man auf den Lehrstuhl mit Erich Hubala (1920–1994) einen Münchener Gelehrten von außen, der das Institut auch inhaltlich in der Lehre und methodisch auf eine neue Grundlage stellte. Ihm kam neben der universitären, an der Forschung orientierten Lehre auch die Betreuung der werdenden Lehrer zu, deren Zahl weiter anstieg und die vor allem eine breite Kenntnis der Kunstepochen sowie eine Einführung in kunsthistorische Methoden vermittelt bekommen sollten. Parallel zu der Stärkung der Freien Kunst an der Muthesius-Werkkunstschule hatte die Universität so die Grundlagen für eine qualitativ hochwertige Ausbildung von

59 Vgl. Maike Behrendt, Inges Kunft: Geschichte und Geschichten. Das Kunsthistorische Institut 1945–1983, in: Nägelke 1994 (wie Anm. 2), S. 63–68, hier S. 67 f.: „Im selben Jahr [1970] war ein starker Anstieg der Studentenzahl zu verzeichnen, von ca. 35 auf 170 Studenten. Dieser Zuwachs wurde durch Studenten der Pädagogischen Hochschule verursacht, die als Kunsterzieher nun auch die Mög- lichkeit hatten, am Kunsthistorischen Institut Seminarscheine zu machen.“ 60 Vgl. Beuckers 2014 (wie Anm. 2), S. 93–97 auch zum Folgenden.

192 _ KLAUS GEREON BEUCKERS Kunsterziehern gelegt, was durch eine erhebliche Aufwertung der Pädagogik ergänzt wurde. Dies war auch dringend notwendig, denn die Vorzeichen für einen Kunstun- terricht hatten sich gegenüber den Zeiten von Adalbert Matthaei erheblich geän- dert. Dafür war nicht nur eine seit den 1960er Jahren intensiv geführte Debatte in der Kunstdidaktik verantwortlich, sondern die Veränderungen der Kunst selbst und nicht zuletzt auch die Durchsetzung der Fotografie. Längst war die Zeichnung nicht mehr das zeitgenössische Medium der Aneignung von Form und Struktur, vielmehr hatten die Diskurse der Klassischen Moderne die Gegenständlichkeit als Maß künstlerischer Formensprache zurückgedrängt. Der erweiterte Kunstbegriff der phänomenologi- schen und selbstreferentiellen Kunst insbesondere der 1950/60er Jahre ließ sich mit einer gegenstandsorientierten Zeichenlehre kaum mehr in Deckung bringen. Als Dokumentationsmedium hatte zudem vor allem die seit den späten 1960er Jahren zunehmend wichtiger werdende Fotografie die Zeichnung verdrängt und wurde ak- tuell gerade selbst zum etablierten Kunstmedium. Hier waren vollständig neue Anfor- derungen entstanden, die auch durch eine kunsthistorische bzw. kunsttheoretische Mit-Lehre im Kunsthistorischen Institut nur teilweise abgedeckt wurden. Ganz besonders galt dies angesichts der Erweiterung des Gegenstandes von Kunstunterricht­ auf alle Formen visueller Äußerungen. Der in dem Erweiterten Kunstbegriff in den 1950/60er Jahren mit seiner gattungsübergreifenden trans- medialen Ausrichtung entwickelte und propagierte Blick sah keinen kategorialen Unterschied mehr zwischen Gebrauchsgrafik, Design oder anderen ästhetischen Aspekten des Lebensumfeldes und tradierter Kunst vor. Symptomatisch dafür war das 1966 von dem Fluxus-Künstler Dick Higgins (1938–1998) propagierte Konzept ‚Intermedia‘,61 das jede sinnlich wahrnehmbare Äußerung als Kunst anerkannte. Sol- che kunsttheoretischen Äußerungen spiegelten ein verändertes Kunstverständnis und damit auch eine andere Anspruchshaltung im Umgang mit Kunst, die ihre eli- täre, außerhalb der Alltäglichkeit stehende Relevanz zugunsten einer Annäherung von ‚Kunst und Leben‘ verwandelt hatte. In Kiel hatte nicht zuletzt die Spieltheorie und die von dem Fachbereich Kunst betriebene Öffnung der Kunst in die Stadt, für die beispielhaft die Erfindung der Spiellinie zur Kieler Woche unter Herbert Kettke gehörte, längst einen erweiterten Kunstbegriff für sich adaptiert.62 Damit waren die Grundfragen jedes Kunstunterrichts tangiert, der nicht nur im Gegenstand erwei- tert worden war, sondern weniger durch ein deskriptives Herantreten an Kunst, als

61 Vgl. Dick Higgins: Intermedia, in: Something Else Newsletter 1 (1966). – Vgl. auch Dick Higgins: Statement on Intermedia, in: Something Else Newsletter 2 (1967), Erstdruck in: Wolf Vostell: Dé- coll-age, Bd. 6, Frankfurt 1967. 62 Schon im Jahr seiner Berufung nach Kiel erschien Herbert Kettke: Spiele / Aktionen, Ravenburg 1970. Wenig später veröffentlichte sein Kieler Vorgänger Peter Heinig: Spielobjekte im Kunstun- terricht, Ravensburg 1973.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 193 vielmehr durch einen wechselseitigen Austausch mit Kunst zu leisten war. Schlag- worte wie Hermann Ehmers ‚Visuelle Kommunikation‘ machten mit der Erweite- rung des Gegenstandes Kunst auf alle Erscheinungsformen ästhetischer Art und Medien die Runde63 und veränderten die Kunstdidaktik nachhaltig.64 Hatte die Verbindung der Pädagogischen Hochschule mit der Universität für die Kunstlehrer-Ausbildung in Kiel zwar gerade zu einer Reform geführt, die durch die Anlehnung an die Universität einen Wiederanschluss an aktuelle Theoriediskurse ermöglichte, so änderte sich der Fachgegenstand zu gleicher Zeit rasant. War in der Kooperation bei der Kunsterzieher-Ausbildung für die Grund- und Realschul- lehrer ein leistungsfähiges Modell auch für das gymnasiale Lehramt gefunden worden, so stand in Kiel ein spezifischer Lehramtsstudiengang für die Gymnasien im Fach Kunst immer noch aus.

Zwischen Christian-Albrechts-Universität und Muthesius Kunsthoch- schule Auf dieses Problem reagierte die Christian-Albrechts-Universität im Jahre 1979 durch die Einrichtung eines eigenen Lehrstuhls für einen neuen Studiengang gymnasialer Kunsterziehung am Kunsthistorischen Institut.65 So war eine Bewäl- tigung der Quantitäten und auch eine spezifischere Ausrichtung möglich. Auf den Lehrstuhl wurde 1980 mit Lars Olof Larsson (geb. 1938) ein schwedischer Kunsthistoriker berufen, der methodisch und inhaltlich für die Diskussionen Zeit- genössischer Kunst offen war.66 Den neuen Anforderungen mit der Ausrichtung auf die Kunsterzieher wurde 1982 vor allem durch die Berufung von Barbara Ca- milla Tucholski (geb. 1947) auf eine der damals drei Assistenzen am Kunsthistori- schen Institut Rechnung getragen. Tucholski war unter anderem bei Eduard Trier (1920–2009) – einem der Ausstellungskuratoren der documenta II (1959) und

63 Visuelle Kommunikation. Beiträge zur Kritik der Bewußtseinsindustrie, hg. v. Hermann K. Ehmer, Köln 1971. 64 Vgl. Heinz Vogeler: 50 Jahre Kunsterziehung in Schleswig-Holstein. Zur Geschichte des Faches unter dem Aspekt wechselnder Positionen in der Fachdidaktik, in: 1947–1997. 50 Jahre Kunster- ziehung in Schleswig-Holstein, Ausst. Kat. Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, red. v. Ingrid Höpel, Kiel 1997, S. 11–12. – Vgl. auch Wolf- gang Legler: Einführung in die Geschichte des Zeichen- und Kunstunterrichts von der Renaissan- ce bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Oberhausen 2011, S. 303–324. 65 Vgl. Kunstreich 1982 (wie Anm. 43), hier S. 65. – Krohn 2007 (wie Anm. 43), S. 55. 66 Zu Larsson vgl. Adrian von Buttlar u.a.: Vorwort, in: Lars Olof Larsson. Wege nach Süden – Wege nach Norden. Aufsätze zu Kunst und Architektur, hg. v. Adrian von Buttlar, Ulrich Kuder u. Hans-Dieter Nägelke, Kiel 1998, S. 7–12. – Uwe Albrecht: Prof. Dr. phil. Lars Olof Larsson [zum 70. Geburtstag], in: Christiana Albertina. Forschungen und Berichte aus der Christian-Albrechts-Uni- versität zu Kiel 67 (2008), S. 107.

194 _ KLAUS GEREON BEUCKERS wichtigsten Pionier der Gegenwartskunst in der akademischen Kunstgeschichte – in Bonn solide kunsthistorisch ausgebildet worden, hatte dort eine Dissertation zu Friedrich Wilhelm von Schadow, einem der Begründer der Düsseldorfer Maler- schule, verfasst.67 Vorher hatte sie an der Düsseldorfer Akademie bei Joseph Beuys studiert, arbeitete seitdem selbst als Künstlerin. Der Schwerpunkt ihrer künstleri- schen Arbeit lag – und liegt – in der Zeichnung, die aber nicht dokumentarisch vorgeht, sondern gegenstandsbezogen die Gesetzmäßigkeiten der Abbildhaftig- keit beispielsweise durch polyperspektivische Umsetzungen weiter entwickelt. Jens Christian Jensen sprach dafür von „eine[r] Synthese von Ausdruckslinie und gestischem Pathos, gleich weit entfernt von realistischer Wiedergabe wie von abstra- hierender Negation des Tatbestandes“.68 Mit dieser künstlerischen Position und ih- rer kunsthistorischen Bildung war Tucholski ideal für den Transfer des bisherigen Zeichnen-Unterrichts in die aktuellen Diskurse prädestiniert. Kernideen des neuen Studiengangs waren die Stärkung der kunsthistorischen Lehre durch die neue Professur auf der einen Seite und eine Zusammenarbeit mit dem inzwischen aufgewerteten Bereich der Freien Kunst an der weiterhin zur Fach- hochschule gehörenden Muthesius-Werkkunstschule auf der anderen. So sollte der Bezug zur Kunstpraxis erweitert werden. Organisatorisch entsandte man die am Kunsthistorischen Institut beheimateten Studierenden zum Einblick in künstle- rische Praxis für einen Teil ihres Studiums in die Freie Kunst, wo sie in der Basisklasse einen Einblick in künstlerische Herangehensweisen gewinnen und diese danach in einer der Fachklassen vertiefen konnten. Die enge Verzahnung sah vor, dass der Ver- treter der kunsthistorischen Professur die Studierenden auch in der Praxis begleitete und bei allen wichtigen Prüfungen beteiligt werden sollte.69 Inhaltlich ergab sich so die Möglichkeit, die durch ihre Ausbildung eng an ak- tueller Kunst gegebene Orientierung der Kunsthochschule als Erweiterung der kunsthistorischen Lehre für das Lehramt fruchtbar zu machen. Hatte die Kunst- geschichte an der Universität die ganze Breite der Epochen und Gattungen, eine

67 Barbara Camilla Tucholski: Friedrich Wilhelm von Schadow 1789–1862. Künstlerische Konzepte und poetische Malerei, Diss. Bonn 1980, gedr. 1984. 68 Jens Christian Jensen: Zwischen Nähe und Distanz. Anmerkungen zu den Kinderbildern von Bar- bara Camilla Tucholski, in: Barbara Camilla Tucholski. Lange Straße. Kinderbilder, Ausst. Kat. Pfalz- galerie Kaiserlautern u.a., hg. v. Britta E. Buhlmann u. Marlene Lauter, Ostfildern 1995, S. 8–9, hier S. 8. – Vgl. auch Vangerin-Zyklus. Zeichnungen von Barbara Camilla Tucholski, Ausst. Kat. Kunsthalle Kiel u.a., hg. v. Jens Christian Jensen, Stuttgart 1989. – Die kleinen Gärten des Glücks. Zeichnun- gen von Barbara Camilla Tucholski, Ausst. Kat. Kunsthalle zu Rostock u.a., hg. v. Anni Bardon, Kiel 1997. – Barbara Camilla Tucholski. Spiegel – Fläche – Spiegel – Räume, Ausst. Kat. Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof u.a., hg. v. Bettina Baumgärtel, Düsseldorf 2000. 69 Vgl. Ingrid Höpel, Ulrich Kuder: Ein kooperativer Studiengang zwischen Kunsthochschule und Universität, in: Schmitz u.a. 2007 (wie Anm. 43), S. 183–184.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 195 methodische Vielfalt sowie die aktuellen kunsttheoretischen Diskurse im Blick, so stärkte die Fokussierung der Kunsthochschule auf die Zeitgenössische Kunst und hier vor allem auf die Positionen der letzten Jahre die Aktualität für das Lehramt. Diese Aktualität war im Zuge der gattungsübergreifenden Kunstkonzepte der 1960/70er Jahre zunehmend auch für den Kunstunterricht wichtiger geworden, für den die kunstdidaktische Diskussion Adaptionen des Erweiterten Kunstbe- griffs und eine Umkehrung didaktischer Konzepte hin zu schüler-orientierten Konzepten propagierte. Die experimentelle Seite des Kunstunterrichts wurde ge- genüber der Wissens- und Könnensvermittlung vor allem seit den 1980er Jahren stärker propagiert. Darauf sollte die Kooperation zwischen der Universität und der Kunstschule für das gymnasiale Lehramt reagieren. Mit dieser Reform von 1980 hatte die Kunstlehrerausbildung ein ganz neues Gesicht erhalten. Für die Muthesius-Schule war die ihr neu zugewachsene Aufgabe in der Kunster- zieher-Ausbildung ein gewichtiges Argument zu ihrer seit Jahren betriebenen, 1994 vollzogenen Herauslösung aus der Fachhochschule und Erhebung zur Muthesius-Hochschule.70 Sie trug dem durch den Aufbau eines Theoriezentrums 1996 Rechnung, in dem der langjährigen Kunsthistorikerstelle, die seit 1986 von Theresa Georgen bekleidet und zwischenzeitlich um ‚Visual Studies‘ erweitert worden war, Professuren für Ästhetik (2001, Norbert M. Schmitz) und Medienwis- senschaften (2004, Petra Maria Meyer) an die Seite gestellt wurden.71 Eine formelle Einbindung in die Lehramts-Ausbildung fand jedoch nicht statt. Zeitlich parallel erfolgte die schrittweise Auflösung der Pädagogischen Hochschu- le und ihre weitgehende Integration in die Christian-Albrechts-Universität. Seit 1986 hatte Manfred Korte (geb. 1935), der dem früh verstorbenen Herbert Kettke in der Professur gefolgt war, die Lehre der Pädagogischen Hochschule wesentlich geprägt. In seiner Dissertation hatte er sich empirisch mit den Auswirkungen von Lese- und Bilderziehung auf die Kindesentwicklung auseinander gesetzt und seit- her von hier den Anschluss an die anthroposophische und soziale Lehre von Jo- seph Beuys hergestellt.72 Ein enger Praxisbezug zum Schulalltag, ein hoher Stellen-

70 Vgl. Krohn 2007 (wie Anm. 43), S. 55 f. 71 Vgl. Norbert M. Schmitz: Zentrum für Theorie. Reflexion als Selbstverständnis, in: Schmitz u.a. 2007 (wie Anm. 43), S. 145. 72 Manfred Korte: Vorschulisches Lesenlernen und bildnerisches Verhalten. Eine empirische Längs- schnittuntersuchung zur Frage nach dem Einfluß frühen Lesenlernens auf das kindliche Zeich- nen, Diss. Kiel 1973, gedr. 1974. – Vgl. auch Manfred Korte: Aufsätze zur Kunstdidaktik, Kiel 1988. – Zur Person vgl. Barbara Camilla Tucholski: Prof. Dr. phil. Manfred Korte zum 70. Geburtstag, in: Christiana Albertina. Forschungen und Berichte aus der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 61 (2005), S. 66–67. – Vgl. auch Manfred Korte: Ziele und Wege meiner Lehrtätigkeit in der Kunstpä- dagogik am Kunsthistorischen Institut der CAU in Kiel bis zum Jahr 2005, in: Tucholski 2011 (wie Anm. 40), S. 98–101.

196 _ KLAUS GEREON BEUCKERS wert der Kunstdidaktik und nicht zuletzt eine Lehre zu Kinderzeichnungen spielten dabei eine große Rolle. Korte, dessen Professur bei seiner Pensionierung im Jah- re 2000 nicht wieder besetzt wurde und der deshalb noch mehrere Jahre weiter lehrte, gestaltete den Übergang der Kunsterzieher-Ausbildung an die Universität in der ersten Phase wesentlich mit, als die Fächer der Pädagogischen Hochschule in eine 1994 eingerichtete Erziehungswissenschaftlichen Fakultät überführt wurden.73 Zunehmend verschmolzen die Abteilungen seither mit den Universitätsinstituten. Das galt auch für die Abteilung ‚Kunst und ihre Didaktik‘, die im Jahre 2001 kurz vor der Auflösung der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät (2002) in das Kunsthistori- sche Institut zog und dort aufwendig mit Werkstätten und Lehrmitteln ausgestattet wurde.74 Die Neuaufstellung erfolgte unter der Leitung der jetzt dem Studiengang allein verbliebenen Professur, die seit 1990 durch Barbara C. Tucholski und damit durch eine ehemalige Assistentin des Instituts besetzt war. Unter einem Dach ver- einigte der Studiengang so die Trias der kunstdidaktischen, kunstpraktischen und kunsthistorischen Lehre für das Lehramt an Realschulen. Die neue Konzeption wies etliche Parallelen zur Ausbildung des gymnasialen Lehr- amts auf, zumal dieses kunstdidaktisch seit 1999 erheblich aufgewertet worden war. Seit dieser Zeit wurde die didaktische Lehre nämlich nicht mehr im Gesamt- zusammenhang einer Schulpädagogik, sondern als eigenständiger Bereich durch eine abgeordnete Lehrkraft aus dem Schuldienst am Kunsthistorischen Institut ge- lehrt. Ingrid Höpel, die diese Aufgabe übernahm, erarbeitete ein spezifisch kunst- didaktisches Lehrprogramm, das sich eng sowohl mit der allgemeinen Schulpäda­ gogik, der kunsthistorischen Lehre und der Kunstpraxis an der Muthesius Schule verzahnte als auch mit der Betreuung der Lehrkräfte im Berufsalltag der Schulen. Unterstützung fand sie dabei in Ulrich Kuder (geb. 1943), der seit 1996 in Kiel den Lehrstuhl innehatte und nach der Pensionierung von Larsson 2003 dessen Aufga- ben für das Lehramt mit übernahm. Der 1980 für das Lehramt gegründete, zweite Lehrstuhl des Institutes wurde nämlich 2003 nicht mehr neu besetzt, da man durch die 2001 neu eingebundene Professur von Barbara Camilla Tucholski im Institut eine ausreichend breit aufgestellte Lehre gewährleistet sah. Die breite personelle Basis der Kooperationen, die schon mit der Streichung der Professur von Manfred Korte einen Aderlass erlebt hatte, bröckelte weiter. Und dies war noch nicht der Tiefpunkt, denn die Entscheidung für die Einsparung der Larsson-Professur fiel wenige Mona- te, bevor die Hochschulpolitik einen weiteren Strich durch die Rechnung machte:

73 Vgl. Tucholski 2011 (wie Anm. 54), S. 113. 74 Vgl. Rieger 2011 (wie Anm. 40), S. 102–109.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 197 Am 28. März 2003 legte die von dem Münsteraner Juristen und ehemaligen Prä- sidenten der Hochschulrektorenkonferenz Hans-Uwe Erichsen (geb. 1934) gelei- tete „Erichsen-Kommission“ im Auftrag der Landesregierung und der Landesrek- torenkonferenz Schleswig-Holstein ein Gutachten vor, wie ihrer Ansicht nach die Weichen der Hochschulpolitik im Bundesland zu stellen seien. Die Empfehlun- gen wurden in den folgenden Jahren weitgehend umgesetzt. Von besonderer Tragweite war die geschlossene Abkopplung aller Lehramtsstudiengänge für Realschulen von der Universität und ihre Verlegung nach Flensburg. Dies wurde trotz erheblicher sachlicher, praktischer und finanzieller Einwände der Kieler Uni- versität (so verwies der Hochschulbeirat am 9. April 2003 unter anderem auf die beinahe kostenneutralen Bedienung der Studiengänge in Kiel, während dafür in Flensburg erst teure Strukturen aufgebaut und fortan Personal unterhalten wer- den mussten75) umgesetzt. Damit war auch das Ende der im Kunsthistorischen Institut beheimateten, kürzlich erst neu aufgestellten Lehramts-Ausbildung ‚Kunst und ihre Didaktik‘ beschlos- sen. Die Abwicklung des Studiengangs, der in Flensburg mit wesentlich weniger sowohl Praxis- als auch kunsthistorischen und kunsttheoretischen Anteilen dem Grundschullehramt angeglichen fortgesetzt wurde, zog sich noch bis in das Win- tersemester 2012/13 hin. Mit dem Ende der Abteilung wurde auch die Professur von Barbara Camilla Tucholski am Institut gestrichen und – nach dem Wegfall der Korte-Professur und der Larsson-Professur sowie seiner Assistenz – die perso- nelle Ausstattung des Institutes trotz erheblich gestiegener Studierendenzahlen wieder auf die Zeit vor 1980 heruntergefahren. Für das gymnasiale Lehramt wa- ren damit weder eine spezifische Betreuung durch eine kunsthistorische, auf das Lehramt zugeschnittene Professur noch eine dezidiert auf die zeitgenössische Kunst ausgerichtete professorale Lehre in der ursprünglich angedachten Breite mehr möglich. Immerhin blieb die fachlich aufgestellte Kunstdidaktik uneinge- schränkt bestehen und wurde jetzt zum wichtigsten Ansprechpartner der Lehr- amtsstudierenden. Die Erichsen-Kommission befasste sich auch intensiv mit der Muthesius-Hoch- schule. Ein Ergebnis war 2005 die Aufwertung zur Muthesius Kunsthochschule (MKH), wobei dafür ein Drei-Säulen-Modell zugrunde gelegt wurde:76 Neben der jetzt zuerst genannten (1) Freien Kunst waren (2) Raum (später Raumstrategien) und (3) Design die tragenden Stützen. Die bisher immer als Vorzeigeprojekt ge- priesene Architektur-Ausbildung wurde hingegen 2002 überstürzt gekappt und

75 Pressemeldung der Christian-Albrechts-Universität Nr. 28/2003 vom 9. April 2003. http://www. uni-kiel.de/pressemeldungen/index.php?pmid=2003-028-hsbeirat [24. November 2015]. 76 Vgl. Krohn 2007 (wie Anm. 43), S. 56.

198 _ KLAUS GEREON BEUCKERS in Raumstrategien umgewandelt.77 Seitdem verfügt Kiel über keine Architekten- ausbildung mehr. Diese Konzeption griff letztlich auf die Ideen der Fachhochschu- le in den frühen 1970er Jahre zurück, während das Hassenflug-Gutachten schon 1959 dem Lehramt eine wesentlich stärkere Rolle zugedacht hatte. Die Chance für eine spezifische Ausbildung der Kunsterzieher in dem an die Muthesius-Kunst- hochschule delegierten Praxisanteil war damit vertan. Stattdessen wurden sie unspezifisch neben den ausschließlich Freie Kunst studierenden Studenten der Muthesius Kunsthochschule in die Basisklasse und danach die Fachklassen inte- griert, wodurch etliche Probleme der folgenden Jahre vorprogrammiert waren. Insgesamt bedeutete die Umsetzung der Empfehlungen der Erichsen-Kommis- sion für die Kunsterzieher-Ausbildung in Kiel in jeder Hinsicht einen Rückschritt. Seitdem galt es, die so entstandenen strukturellen Mängel auszuräumen und durch eine passendere Studienordnung festzuschreiben. Der Abstimmungspro- zess war durch die unterschiedlichen Entscheidungsebenen auf ministerialer, präsidialer und fachlicher Ebene schwierig und kam erst 2008 richtig in Gang, als Rainer W. Ernst (geb. 1943) das Präsidium der Muthesius Kunsthochschule und der Verfasser den Lehrstuhl des Kunsthistorischen Instituts an der Univer- sität übernahmen. Etliche Widrigkeiten haben aber bis heute eine substantiel- le Reform verhindert, obwohl es 2012 gelungen war, das Ministerium von der Einführung eines Einfachstudiums für Kunstlehrer nach dem Vorbild der Musik- lehrer zu überzeugen und diesen – maßgeblich entworfen durch Ingrid Höpel für die Universität, Friederike Rückert (geb. 1976) für die Kunsthochschule sowie Rainer W. Ernst und dem Verfasser – durch die Senate der beiden Hochschule bis in das Ministerium zu bringen. Das Ausscheiden von Präsident Ernst und die anschließenden Wechsel auch in den zuständigen Ministerien verhinderten eine Zulassung. Dabei ist die Notwendigkeit einer substantiellen Studienreform offen- kundig. Verschärft wurde die Problematik nämlich durch den Übergang aus den Staatsexamens-Studiengängen in die modularisierten Bachelor- und Masterstu- diengänge, da insbesondere die künstlerische Ausbildung in der bisherigen Form mit der Verschulung und den engeren Zeitfenstern der neuen Studiengänge un- vereinbar ist. Zudem wurde mit den modularisierten Studiengängen die institu- tionelle Verantwortlichkeit einer Professur am Kunsthistorischen Institut für das Lehramt aufgehoben und an die wechselnden Geschäftsführungen übergeben, was langfristige Abstimmungen zugunsten der Studierenden zwischen den Hochschulen erschwert.

77 Vgl. Hans Günther Andresen, Jürgen Christian Otterbein: Zum Studiengang Architektur. Ein auch persönlicher Rückblick, in: Schmitz u.a. 2007 (wie Anm. 43), S. 113–120, insb. S. 120.

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 199 Die konstruktive Aufbauperiode der 1970er und 1980er Jahre, die Blütezeit der 1990er und 2000er Jahre sind für die Kunstlehrer-Ausbildung in Schleswig-Hol- stein und Kiel offenbar vorbei, obwohl dem Fach durch den Pictural Turn und die bildgestützten digitalen Medien eine gewachsene Bedeutung nicht nur in den Schulen zukommt. Das Kunsthistorische Institut hat sich davon nicht entmutigen lassen und auf die strukturellen und inhaltlichen Probleme des gymnasialen Stu- diengangs Kunst 2015 durch eine Offensive geantwortet, die inzwischen auch das Präsidium der Christian-Albrechts-Universität im Rahmen des Projekts ‚Lehr- amt in Bewegung‘ (CAULiB) finanziell fördert: In einem ‚Kompetenzzentrum für Kunstpädagogik‘ wird die kunstdidaktische, kunsthistorische und kunsttheoreti- sche sowie die kunsttechnologische Lehre, soweit sie am Institut beheimatet ist, gebündelt und mit zahlreichen praxisnahen Projekten in Schulen und für die Be- gabtenförderung von Kindern sowie an Museen verknüpft.78 So soll den werden- den Kunsterziehern ein besonders passendes und zielgerichtetes Lehrprogramm angeboten und die Abstimmung mit der Muthesius Kunsthochschule erleichtert werden. Vor allem aber soll das ‚Kompetenzzentrum‘ der Ort sein, an dem eine Kunstdidaktik weiterentwickelt und auf die spezifischen Anforderungen des 21. Jahrhunderts hin formuliert wird.

Kunstdidaktik im 21. Jahrhundert Doch wie sollte eine Kunstdidaktik im 21. Jahrhundert aussehen? Die Vorstellun- gen dafür gehen weit auseinander und sind nicht selten ideologisch bestimmt. Radikalpositionen, nach denen beispielsweise nur ein Künstler, also ein Kunst-Pro- duzierender, als Kunstlehrer Kunst vermitteln könne, sind zwar griffig, aber inhalt- lich falsch und gehen an der Realität in den Schulen vorbei. Mit gleichem Recht müsste man von einem Deutschlehrer fordern, dass er ein Dichter, von einem Musiklehrer, dass er ein Komponist sein müsse. Kunstunterricht hat im Gymnasi- um vielmehr – wie alle anderen Fächer – Kompetenzen zu vermitteln, die nur auf der Grundlage von Kenntnissen möglich sind. Dafür muss ein Kunstlehrer durch die Vermittlung primär von Kenntnissen und nicht von künstlerischer Könner- schaft ausgebildet werden. Konsens aller seriösen Konzepte für eine Ausbildung von Kunstlehrern im gymna- sialen Lehramt (oder vergleichbaren Schultypen wie den Gemeinschaftsschulen mit Oberstufen) ist das Zusammenspiel von den drei Säulen Kunstgeschichte/ Kunsttheorie, Kunstpraxis und Kunstdidaktik. Fraglich ist aber die Gewichtung dieser drei Bereiche. Während eine angemessen umfangreiche und vor allem

78 Vgl. www.kunstgeschichte.uni-kiel.de/de/kompetenzzentrum-fuer-kunstpaedagogik [24.11.2015].

200 _ KLAUS GEREON BEUCKERS kunstspezifische Fachdidaktik, die sowohl die theoretischen und historischen Grundlagen der Kunstpädagogik als auch die praktische Einübung von Unter- richts- und Vermittlungsformen umfassen muss, unstrittig sein dürfte, so stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer umfassenden künstlerischen Ausbil- dung von Kunstlehrern. Die Erweiterung des Kunstbegriffs und damit die Erweiterung des Kunstunter- richts auf alle Formen ästhetischer Lebenswelt hat den Stellenwert der klassi- schen Gattungen der Kunst, wie sie das 19. Jahrhundert noch in der Architektur, der Skulptur und der Malerei mit ihren Nebengattungen gesehen und das frühe 20. Jahrhundert auf die neuen Medien wie Fotografie und Film erweitert hat, re- lativiert. Nicht mehr deren technischen und formalen Grundlagen stehen seit- dem im Mittelpunkt des analytischen Interesses, sondern übergeordnete Fragen ­ästhetischer Bildung und – vor allem seit den Diskurswechseln der Postmoderne – textliche und bildliche Strukturfragen. Selbst für die Kernbereiche etablierter Kunst haben sich seit der Klassischen Moderne die Relationen nahezu umgekehrt: Weder bei Piet Mondrian noch bei Barnett Newman, Lawrence Weiner, Martin Kip- penberger oder Jonathan Meese (um nur wenige exemplarisch zu nennen) steht handwerkliche Könnerschaft im Mittelpunkt, ist diese überhaupt noch eine be- stimmende Kategorie. Die Arbeiten besitzen ihren künstlerischen Wert vielmehr im Konzept, in der dahinter stehenden künstlerischen Idee. Die Konzepte sind aber nicht mehr durch kunstpraktische Erfahrung zu klären, sondern bedürfen einer hohen theoretischen Reflexion und Kenntnissen sowohl in historischer als auch in philosophischer Hinsicht. Eine kunstpraktische Herangehensweise, wie sie das 19. und frühe 20. Jahrhundert beispielsweise im Zeichenunterricht noch propagieren konnte, führt nicht mehr zum Kern von weiten Teilen der jüngeren Kunst. Kunstgeschichte, Kunsttheorie und Kunstphilosophie sind als Vermittler solcher Fragestellungen deutlich relevanter geworden. Zudem erfordert die digitale Revolution, die vor allem in den letzten zehn Jahren mit der Alltäglichkeit tragbarer Internetzugänge die Realität der Schüler grundsätz- lich schon seit dem Grundschulalter verändert hat, für eine kompetente Bewälti- gung der bildlich generierten Realität noch viel weniger praktische Fähigkeiten, als dies die Bewältigung des Erweiterten Kunstbegriffs seit den 1960/70er Jahren getan hat, auf den die meisten jüngeren Ansätze der Kunstdidaktik erst reagie- ren. Bildkompetenz entsteht nicht durch eine praktische Fähigkeit und auch nicht durch eine künstlerische Positionierung, sondern durch eine analytische Distanz. Diese wird wiederum vor allem durch die Kunsttheorie vermittelt. Wenn sich die Kunstlehrer-Ausbildung von diesen aktuellen Entwicklungen nicht abkoppeln und eine praktisch-künstlerische Gegenposition einnehmen will, so bedarf es einer brei-

WISSEN, KÖNNEN, KOMPETENZ _ 201 teren kunsttheoretischen Ausbildung der Lehrer. Durch diese kann das Fach Kunst auch wieder seinem schon seit dem 19. Jahrhundert formulierten Anspruch einer relevanten Rolle im gesamten schulischen Fächerkanon gerecht werden. Eine vollständige Abkopplung der Kunstlehrer-Ausbildung von der Kunstpraxis läuft jedoch Gefahr, die Tendenzen des Erweiterten Kunstbegriffs absolut zu setzen und vor lauter Kompetenzvermittlung die Inhalte zu verlieren. Damit ist keinem gedient und vor allem ist es keineswegs ausgemacht, dass diese Tendenzen der Klassischen Moderne, die sich bis in die Postmoderne fortgesetzt haben, nicht letztlich auch nur eine Facette und eine endliche Phase der Kunstentwicklung sind. Wenn der postmodernen Relativierung und Entpersonalisierung der Diskurse in den letzten Jahren eine neue Personalisierung entgegen zu stehen scheint, so ist – auch als Ge- genzug zur digitalen Entkörperlichung – schon seit einigen Jahren in der Bildenden Kunst eine Wiederfindung von Gegenständlichkeit und Könnerschaft zu erkennen. Ob dies – wiederum nur exemplarisch – die Feinmalerei in teilweise altmeisterlicher Manier der Jüngeren Leipziger Schule oder die neue Figürlichkeit der Skulptur bei Stephan Balkenhol oder Elisabeth Wagner sind, so gibt es Tendenzen, die den Ver- lust kunstpraktischer Könnerschaft in der Kunstlehrer-Ausbildung als vorschnellen Verlust analytischer Potenz ausweisen. Kunsterziehung braucht Kunstpraxis genau- so wie Kunsttheorie und Kunstdidaktik. Lediglich über ihre Gewichtung ist zu diskutieren und vor allem über die Wider- spiegelung solcher Inhalte in den betreffenden Studienordnungen. Die koopera- tive Zusammenarbeit der Kieler Universität mit der Muthesius Kunsthochschule ist eine gewachsene Chance für die werdenden Kunsterzieher, mehrere Facetten der Beschäftigung mit Kunst ausführlich kennenlernen zu können. Dies ist ein ho- hes und zu schützendes Gut. Dabei sind die Stärken der Universität mit ihrer brei- ten kunsthistorischen Kompetenz und Methodensicherheit sowie mit der eng an den Entwicklungen der allgemeinen Pädagogik orientierten und dabei ein spezi- fisch kunstdidaktisches Profil vertretenden Kunstpädagogik unstrittig und perso- nell breit aufgestellt. Ob die Stärken der Kunsthochschule für die Kunstlehrer-Aus- bildung jedoch nicht inzwischen eher in der Abteilung für Kunsttheorie mit ihrer in Kiel singulären Vertretung von Kunstphilosophie und Medienästhetik als in den künstlerischen Fachklassen liegen, ob nicht eine kunstpraktische Ausbildung in einer Basisklasse für das Lehramt genügen würde und so die Zeit bleiben könnte, mit der sich die werdenden Kunsterzieher stärker inhaltlichen und theoretischen Fragestellungen widmen könnten, das ist hier nicht zu verhandeln. Es wäre aber einen Gedanken wert.

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