Szene

LITERATUR Schmerz und Schweigen in Leben wie in Schockstarre. Vier EJahre sind seit dem gewaltsamen Tod von Sohn Jakob vergangen. Der Mörder sitzt lebenslang hinter Gittern, aber die Familie Wilber befreit das nicht. Separiert durch eine Mauer des Schweigens, führen die drei Hinterblie - benen getrennte Leben. Vater Lothar, ehemals Pilot, jetzt nur noch ein Sicherheitsrisiko, findet Trost in der Gartenarbeit. Seine Frau Ruth meidet er, zu bedrückend ist für ihn das Aus - maß ihrer Trauer. Lange Zeit hat sie Briefe an den verstorbenen Sohn ge - schrieben, Briefe, die sie vor ihrem Ladenregal mit „edition suhrkamp“-Bänden Mann versteckte. Sie ragten aus ihren Manteltaschen, als hätte sie lediglich VERLAGE vergessen, sie abzuschicken. Um ande - ren zu helfen, arbeitet sie ehrenamt - lich bei der Telefonseelsorge, bis sie ei - Unter dem Regenbogen nes Tages einfach auflegt. Sie selbst ist es, die Hilfe braucht. eliebt war der Suhrkamp Verlag noch temporären, sympathisch improvisierten In ihrer ruhelosen Bnie. Wichtig war er immer, revolutio - Laden für seine berühmte „edition suhr - Ratlosigkeit arran - när, bildungsbürgerlich, anmaßend, kul - kamp“ in der Linienstraße gegönnt. Der giert sie sogar ein turprägend. Nun ist er seit fast einem überraschende Nebeneffekt: Trotz der gro - heimliches Treffen halben Jahr in und hat sich einen ßen Ver lagsgeschichte, die als regenbo gen - mit dem Mörder ih - res Sohnes. Nur in der Phantasie be - richtet sie ihrem Mann davon, tat - ARCHITEKTUR sächlich wagt sie es nicht – sie glaubt nicht mehr daran, dass er Verständnis Ein Ufo für die Kunst für ihre Verzweiflung aufbringen er Architekt Renzo Piano hatte seine Kollegin Zaha Hadid gewarnt: „In Rom könnte. Jakobs Bruder Merten, nun Dzu bauen ist wie die Durchquerung des Wilden Westens im Planwagen.“ Mo - das einzige Kind des Ehepaars, wird derne Architektur für die Ewige Stadt zu entwerfen ist riskant, soll das heißen: wohl nie der Lieblingssohn seines Va - Schwer lastet das Erbe von Antike, Barock und Mussolini-Bauten. Wo immer man ters werden, aber er möchte zumin - gräbt, stößt man auf Überreste aus 3000 Jahren, Zukunftsweisendes ist kaum er - dest mehr sein als „der kleine Bruder wünscht, Rom hat genug mit der Instandhaltung seiner Vergangenheit zu tun. Ha - von dem, dessen blutüberströmter did hat es trotzdem gewagt, und endlich, nach über zehnjähriger Bauzeit, eröffne - Körper in allen Zeitungen zu sehen te am vergangenen Sonntag Italiens Nationalmuseum für die Künste des 21. Jahr - war“. Er glaubt zu wissen, was dazu hunderts, kurz „Maxxi“ genannt. Ein Bau wie ein Ufo aus weißen Kuben, das führte, dass der 18-jährige Jakob er - nahe der Villa Borghese im ehemaligen Kasernenareal Flaminio gelandet ist. An mordet wurde. Aber darüber kann er schrägen Betonwänden, über schwebenden Treppen werden 300 Werke von Andy mit seinen Eltern nicht sprechen: Ja - Warhol bis gezeigt. Die internationale Kunstkritik ist begeistert, kob ist nicht nur tot, er wird auch tot - die Italiener klagen über die Auswahl der Sammlung, die Kosten von 150 statt der geschwiegen. Wer hat „Anrecht auf geplanten 57 Millionen Euro und sprechen vom „Ma xxi-Scheitern“ des Museums. den tiefsten Schmerz“? Behutsam nä - hert sich der Autor Andreas Schäfer, Hadid-Bau „Maxxi“ in Rom 40, in seinem zweiten Roman dem Thema Familientrauma. Aus unter - schiedlichen Perspektiven – jeder der drei Protagonisten wird einzeln be - leuchtet – erzählt er vom Keil, der jäh in das Leben einer Familie getrieben wurde. Ohne künstliche Dramatik schildert der Autor die Geschichte de - rer, die zum Weitermachen verdammt,

dafür aber nicht gewappnet sind. E B L A H

D N

Andreas Schäfer: „Wir vier“. DuMont Buchverlag, A L O

Köln; 192 Seiten; 18,95 Euro. R

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KUNST „Viele, die mitreden, sind hirnlos“ Christoph Schlingensief, 49, über den hat, der seine Arbeit mit allem Mögli - Protest des Malers ge - chen vernetzt, der nicht nur Maler ist gen die Berufung des Theatermanns oder nur Bildhauer oder nur Filmer. zum offiziellen Vertreter Deutschlands Für mich ist Kunst eine Haltung, aber bei der Kunstbiennale 2011 in Venedig keine bestimmte Technik oder ein be - stimmtes Genre. Ich verkörpere gerade SPIEGEL: Herr Schlingensief, der be - nicht eine Kunst, die sich in den Elfen - rühmte Maler Gerhard Richter hat es beinturm verkriecht, sich aufbläht, „einen Skandal“ genannt, dass Sie 2011 auch geldmäßig, und zu wichtig nimmt. den deutschen Pavillon bei der Bien - SPIEGEL: Nehmen Sie sich in Ihren Auf -

N nale in Venedig bespielen dürfen, er tritten nicht wichtig? H Ö

H klagte: „Die nehmen einen Schlingensief: Ich trenne

S U

C Performer, dabei haben wir kaum noch zwischen der R A

M Tausende Künstler.“ Verste - Arbeit und mir und dem Le - hen Sie seine Empörung? ben. Und natürlich nehme Schlingensief : Nein. Ich mag ich mich wichtig. Aber noch farbene Sammlung aller 2500 „editions“- Richter, auch wenn ich die wichtiger nehme ich meine Bändchen von der Wand grüßt, schnurrt Rezeptionsblasen um seine Arbeit. In meiner jetzigen A hier die Aura des Verlags auf menschliches Arbeit nicht mag. Er ist ein P Arbeit „Via Intolleranza II“ D

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Maß herunter. An einem Samstagnachmit - Großkopf, er hat die Taschen E verbinde ich Kunst und T L U tag anwesend: fünf Suhrkamp-Autoren (da - voll bis zum Anschlag, und H Nicht-Kunst, um nicht in die C S runter ein Büchner-Preisträger), vier Tou - plötzlich schwingt er sich auf N Gefahr zu kommen, Folklore E T A R

risten, drei Buchhändler. Kinder spielen und sagt: Die Kunst besteht T und Kunstgewerbe zu ma - S

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zwischen den Buchtischen. Noch bis Ende nur aus Malerei. Als ob er A chen. Ich will auch kein I L U Juli hat der Laden geöffnet, regelmäßig nicht wüsste, dass es auch an - J Heilsbringer sein, das habe finden Veranstaltungen statt. dere Formen der Kunst gibt. Schlingensief ich vielleicht mit Gerhard Die Kunstszene ist vielseiti - Richter gemeinsam. ger, als es Richter wahrhaben will. Er SPIEGEL: 1997 sind Sie erstmals auf der ist in der Stille tätig. Soll er doch da aufgetreten, später haben bleiben. Ich gehe mit meinen Arbeiten Sie Teile Ihrer Installationen über eine FERNSEHEN eher hinaus aus der Stille und beschäf - Galerie verkauft. Warum sprechen Sie tige mich direkter mit den Menschen. jetzt so schlecht über den Kunstbetrieb? Das ist nicht weniger wichtig. Schlingensief: Weil im Kunstbetrieb Das Lachen der Loser SPIEGEL: Formuliert Richter mit seinem sehr oft ein System von Falschmeldun - m Ruhrpott liegt so mancher Fern - Zorn über Ihre Berufung nicht den gen vorherrscht, weil so viele, die mit - Isehfilm-Volltreffer. An diesem Mitt - Frust vieler Künstlerkollegen, die in reden, hirnlos sind, aber leider finanz - woch (20.15 Uhr, ARD) wird einer ge - Venedig nicht zum Zug kommen? kräftig. Diese Typen bringen die Kunst zogen: „Ein Schnitzel für drei“. Aus Schlingensief: Es haben sich auch viele heute ins Wanken. Aber ich kenne dem poetisch-optimistischen Geist des Kuratoren, Künstler und Kritiker ge - auch sehr kluge und gewissenhafte britischen Unterschichtskinos eines freut, dass es mit mir einen erwischt Sammler. Nur sind die sehr selten. Ken Loach zaubert Regisseur Manfred Stelzer eine TV-Komödie, die unange - strengt Ausweglosigkeit in melancholi - schen Humor verwandelt. Erzählt wird Kino in Kürze von zwei Arbeitslosen (Armin Rohde, Ludger Pistor), die an der Grenze zur „The Messenger“ ist ein Offizier der US- Verzweiflung angekommen sind – der Armee, der den Angehörigen im Irak eine erlebt als Hausmann die Auflö - gefallener Soldaten die Todesnachricht sung seiner sexuellen Attraktivität, der überbringen muss. Oren Movermans andere, ein gefeuerter Tierpfleger, das Oscar-nominiertes Drama erzählt un - Ende seiner beruflichen Berufung. aufgeregt, feinfühlig und packend von Doch es gibt jemanden, dem es noch den Kämpfen an der Heimatfront. Der schlechter geht: einen dementen Rent - grandiose Hauptdarsteller Ben Forster ner (Branko Samarovski). Da bedarf es sowie Woody Harrelson als rauer kleiner Wunder, damit alles gut wird. Partner des empfindsamen Helden las - Aber alle Drehbuchkunst wäre verge - sen den Zuschauer schmerzhaft spü - bens, gäbe es nicht das glänzende Män - ren, was es bedeutet, andere Men - nerensemble, ergänzt durch Caroline schen in Verzweiflung zu stürzen, H I E

Peters („Mord mit Aussicht“) und The - L ohne etwas dafür zu können. So auf - R E V

rese Hämer. Die Schauspieler machen wühlend wurde im Kino lange nicht M L I F

das „Schnitzel für drei“ zum saftigen mehr von Tod und Trauer erzählt. L A R

Spaß. Der Zuschauer schmeckt jeder - T N E

zeit soziale Schärfe. C Szene aus „The Messenger“

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