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H. WEYER auf Ross-Island: Mit acht Stücken Zucker und einem Keks pro Tag durch 500 Kilometer eisige Ödnis

EXPEDITIONEN Marsch der Verdammten Der britische Antarktis-Abenteurer wurde berühmt als Retter seiner Mannschaft. Doch nun erzählen zwei neue Bücher eine vergessene Geschichte, die am Image des Polar-Helden kratzt: Shackleton schickte eine Versorgungsexpedition, die „“, auf tödliche Mission.

m Vorgarten des geschichtsträchtigen die Nation fast ebenso verehrt wie Scott: kind in England kennt den Antarktis-Fahrer, Hauses steht eine bronzene Statue: eine „Shackleton Memorial Museum“ steht in der vor knapp 90 Jahren seiner Mannschaft IWeltkugel, auf der ein nackter Jüng- goldenen Lettern über dem Eingang, dar- den Weg durch das Packeis wies, nachdem ling zum Sprung ansetzt. Die Plastik, frei- unter hängt wie eine sakrale Reliquie ein die „“ vom Packeis zermalmt zügig modelliert von der Witwe des Süd- altes Stück Holz. „Die Mastspitze von und im Weddellmeer versunken war. pol-Fahrers , wird seit Shackletons Schiff, der ,Endurance‘“, er- So sehr verehren die Briten den Polar- über 80 Jahren schamhaft von einer hohen klärt Headland, „genau genommen das Helden, dass ein angebissener Keks des Hecke verdeckt. „Gegenüber betreibt die Einzige, was davon übrig geblieben ist.“ knorrigen Halb-Iren bei einer Auktion den Kirche ein Mädcheninternat“, erklärt Wer Sir Ernest Shackleton war, braucht Preis von 5063 Pfund erzielte. Und Mana- Robert Headland schmunzelnd. Headland nicht zu erklären: Jedes Schul- ger büffeln auf Führungsseminaren die Der bärtige Mann mit dem Weisheiten, die der Südpol-Pionier einst eigenartig ausschreitenden in seinen Tagebüchern hinterlassen hat. Gang ist Kurator im Scott Po- Doch in den klimatisierten, von Pan- lar Research Institute, gebaut zertüren gesicherten Archiven des Scott- zu Ehren des großen, tragisch Instituts lagert, weitgehend vergessen, am Südpol gescheiterten Bri- noch eine ganz andere Heldengeschichte – ten. „In diesen Gemäuern eine Geschichte, an die sich niemand spuken viele Geister“, raunt so recht erinnern mag. Sie erzählt das Headland, der hier das Ver- Schicksal von neun jungen Männern, die mächtnis der alten Polar-For- mehr als zwei Tonnen Proviant 4000 Kilo- scher hütet. meter durch eine Hölle aus Eis zogen; drei Dann wendet er sich dem von ihnen bezahlten dafür mit dem Leben. modernen Anbau des Insti- Vor allem aber wirft diese Geschichte tutsgebäudes zu. Er ist ei- einen Schatten auf ihren Chef: Sir Ernest nem Mann gewidmet, den Shackleton, allgemein bewundert als jener,

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN der all seine Männer lebendig nach Hau- * Shackleton 2. v. l. Shackleton-Team*: Das Ziel heißt „ehrenhaft siegen“ se brachte.

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So spektakulär schien Shackletons Rück- aus Cambridge, eine kleine Sensation in dichten Haaren fing sich Schnee, der wäh- zug aus dem Eis, dass darüber das ur- die Hände gefallen: ein knapp 15-minütiger rend der anstrengenden Märsche schmolz sprüngliche Ziel seiner Fahrt ins Südpolar- Film der Ross Sea Party, der fast ein ganzes und dann in der Nacht fror. „Schon bald meer fast in Vergessenheit geriet: Shackle- Jahrhundert unbemerkt in einem Film- waren die meisten der Huskys verendet“, er- ton hatte den sechsten Kontinent vom archiv überdauert hat. zählt Headland. „Dabei sind sie die Lebens- Weddell- zum Rossmeer durchqueren wol- Im Lichte der neuen Veröffentlichungen versicherung eines jeden Polar-Fahrers.“ len. „Imperiale Transantarktische Expedi- wird offenbar, mit welch tödlicher Hypo- Ein eigenwilliges Team hatte Shackleton tion“ nannte er sein wahnwitziges Projekt, thek die Ross Sea Party im Dezember 1914 da in aller Eile zusammengestellt: Zum An- über 3000 Kilometer Luftlinie quer durch aus dem tasmanischen aufgebro- führer hatte er auser- das weiße Nichts zu stapfen. chen war. Die Londoner Expeditionszen- koren, einen wuchtigen Mann mit nur ei- Shackleton war dabei klar gewesen: Nie trale hatte zum Teil nur die Hälfte der ver- nem Auge. , ein Weggefährte könnte sein sechs Mann starkes Schlitten- sprochenen Ausrüstungsgegenstände ge- von Robert Scott, war ein weiterer Mann team ausreichend Proviant für diese ge- liefert. „Die Aufgaben, die Shackleton der mit Antarktis-Erfahrung. Dazu gesellten waltige Strecke ziehen. Deshalb hatte er Ross Sea Party gestellt hatte, waren fast sich Polar-Neulinge wie der 21 Jahre alte eine zweite Mannschaft auf die andere unmöglich zu erfüllen“, kritisiert David Dick Richards, ein australischer Techniker, Seite der Antarktis gesandt. Ihre Aufgabe: Harrowfield, einer der Autoren. und der 31-jährige Arnold Spencer-Smith. Vorratslager anzulegen, die seine, Shackle- „Außerdem war das Fell der Schlitten- Der gelehrte Geistliche aus Cambridge soll- tons, triumphale Querung erst möglich ma- hunde zu lang“, fügt Kurator Headland te die Expedition dokumentieren. chen würden. „Ross Sea Party“ hieß die trocken hinzu. Das mag belanglos klingen, „Die Antarktis war zu dieser Zeit weit- wenig beachtete Mission, benannt nach doch es erwies sich als fataler Fehler: In den gehend Terra incognita“, erklärt Headland dem Meer, durch das sie für ihre Expedi- und zeigt auf eine alte Leinenkarte aus tion segeln mussten (siehe Grafik). * Josef Hoflehner: „Frozen History – The Legacy of Scott Mackintoshs Besitz. Die Küstenlinie ist nur Gleich zwei neue Bücher erzählen nun and Shackleton“. Hoflehner, Wels; 288 Seiten; 75 Euro. als lückenhafte Linie von Hand eingetragen. Richard McElrea, David Harrowfield: „Polar Castaways“. vom Schicksal dieses Trupps*. Zudem ist Canterbury University Press, Christchurch; 320 Seiten; Kurz vor dem östlichen Ende des gewal- Kelly Tyler, einer Wissenschaftsjournalistin circa 31 Euro (erscheint voraussichtlich im April). tigen Rossmeers ist eine Insel verzeichnet: Drama im ewigen Eis 100 km Ernest Shackleton und das Schicksal der Ross Sea Party Auf zwei qualvollen Touren mit zahlreichen Einzelmärschen legen

Beardmore- die Männer eine Kette von Versor- Gletscher Shackletons ehrgeizige Expediti- 26. Januar 1916 83˚ gungsdepots an. Entlang dieser on quer durch die Antarktis schei- Letztes Versorgungsdepot wird Proviantroute sollte die Shackleton- tert schon bei der Anfahrt, als sein am Mt. Hope angelegt. Rück- Mt. Hope Expedition, vom Südpol kommend, Schiff „Endurance“ im Weddellmeer marsch am nächsten Tag. marschieren. einfriert. 82˚ Vor Kap Evans reißt sich im Mai 0˚ 1915 die „“ während eines Südgeorgien Start am 5. Dez. 1914 Sturms los. Versorgungsdepots Rettung am 7. Mai 1916 81˚ Weddell- Indischer 2. Tour: meer Ozean Oktober 1915 4. Januar 1916 bis März 1916 ARGEN- Ein Kocher fällt Rückkehr zum Lager Hut Point TINIEN aus. Drei Mann 80˚ und später zur Ausgangsbasis Kap „Endurance“ CHILE geplante Route der müssen zurück. Evans. Hierbei finden insgesamt versinkt drei Männer den Tod. 21. Nov. 1915 Transantarktis-Expedition von Ernest Shackleton 1. Tour: 90˚ 90˚ Januar bis 9. März 1916 S März 1915 ü ANTARKTIS Ross-Schelfeis Ross- Spencer-Smith stirbt d l 80˚ Schelfeis i c h Hut Point e r P Anfang Mai 1916 o McMurMcMurdo-do- l Ross- Ankunft in Hut Mackintosh und Pazifischer ar SSundund kr meer Point 7. Jan. 1915 Hayward sterben Ozean eis 60˚ Route des Versor- 9. Oktober 1915 auf dem Treibeis gungsschiffes Neun Mann Kap Evans gehen in Dreier- Kap Mt. Erebus „Aurora“ mit gruppen los. der Ross Evans 3794 m Rettungs- schiff 40˚ Sea Party Mt. Terror ROSS-INSEL Rossmeer ROSS-INSEL 3262 m Abfahrt am 180˚ Hobart 1000 km 15. Dez. 1914 NEUSEELAND 20 km AUSTRALIEN Route des Ver- Rossmeer sorgungsschif- Ohne von Shackletons HAUPTTEILNEHMER stirbt überlebt fes „Aurora“ Unglück zu wissen, landet Aeneas Mackintosh (Leiter) Ein Rettungsschiff mit Shackle- die Ross Sea Party, eine Arnold Spencer-Smith John Cope ton an Bord fährt von Neuseeland Versorgungsexpedition, an Andrew Jack aus zur Ross-Insel und nimmt am der gegenüberliegenden Richard „Dick“ Richards Irvine Gaze 10. Januar 1917 die Überlebenden Antarktisküste. Ernest Joyce der Ross Sea Party auf.

der spiegel 2/2004 115 Ross-Island. Dominiert von „Die Schlitten kamen nur zwei Vulkanen, stemmt sie wenige Kilometer am Tag sich dem Schelfeis entgegen. voran“, sagt Headland und Am Fuße des über 3700 Me- tippt mit seinen weißen ter hohen Mount Erebus Baumwollhandschuhen auf machte die Ross Sea Party eine Karte aus gewachstem mit ihrem Schiff „Aurora“ Papier. Nur wenige Zenti- fest. Dort bezogen sie Quar- meter reicht die dünne Blei- tier in Scotts alter Hütte am stiftlinie zwischen zwei Kreu- Kap Evans. zen, die Übernachtungspau- Vor ihnen dehnte sich nun sen markieren. die Endlosigkeit des Schelfs Häufig sind die Tagesmär- aus: eine ebene, weiße Öd- sche nur mit einer gestri- nis, groß wie Frankreich, aus chelten Linie eingezeich- mehreren hundert Meter net, daneben steht schlicht: dickem Eis. Zwei Tonnen „Blizzard“. Im Geheule des Proviant, so ihr Auftrag, soll- Sturms versagte das Rad am ten sie auf insgesamt fünf Schlitten, das die zurück- Depots inmitten dieser Eis- gelegte Entfernung messen wüste verteilen. Da sie das sollte. „Die Männer hatten gewaltige Gewicht samt ih- nur eine ungefähre Ahnung, rer eigenen Verpflegung nie- wo sie sich in diesen Stunden mals auf einmal hätten zie- befanden“, erklärt Head- hen können, stand ihnen ein land. kräftezehrendes Hin und Her Neben dem Kampf gegen zwischen den einzelnen De- die Elemente entwickelte sich pots bevor – alles in allem ein Kampf um die Macht: Im- fast 4000 Kilometer. mer lauter begehrte Joyce ge- Zur ersten Tour brachen gen den von Shackleton in- die Männer gleich nach ih- thronisierten Anführer auf: rer Ankunft im Januar 1915 „Mack, du verlangst deinen auf, um noch die Zeit zu Männern physisch Unmögli- nutzen, bis der Winter her- ches ab.“ Doch der Heiß- einbrach. „Die zweite, sporn Mackintosh weigerte größere Tour war dann für sich, die Last der Schlitten den Polarsommer 1915/16 ge- zu verringern.

plant“, sagt Headland und / INTERFOTO KARGER-DECKER Auch Richards, dem an- blättert durch die Listen, auf Shackletons zerstörte „Endurance“: Ende eines imperialen Traums gehenden Techniklehrer, denen Mackintosh den Pro- dämmerte nun, dass dem viant für die Depots kalkuliert hat. „Aber dert hatten. „Sie froren wie Holzbretter an von ihm so tief verehrten Shackleton bei dann sollte ja alles ganz anders kommen.“ uns fest“, erinnerte sich Joyce später. seinen Personalentscheidungen ein fataler Denn bei ihrer Rückkehr vom Schelfeis Jeweils drei Mann spannten sich das Fehler unterlaufen war. Mackintosh war erwartete die erschöpften Männer ein Zuggeschirr für einen Schlitten um, bela- zu ungestüm, zu hitzig, seine Entschei- Schock: Die „Aurora“, ihr Schiff, hatte den mit 300 Kilogramm Proviant. Jeder dungen waren zu unbedacht. sich, von Sturm und Eis gepackt, aus den Einzelne zog also 100 Kilogramm Gewicht So zerfiel langsam die Führungsstruktur Verankerungen am Strand gerissen und hinter sich her – zu viel für das launen- der Schicksalsgemeinschaft, aber auch war abgetrieben. „Die beiden Anker mit hafte Frühlingswetter: Mal verwandelten Kraft und Gesundheit schwanden dahin. den durchtrennten Stahltrossen liegen heu- laue Winde vom Meer den Untergrund in An den Beinen der Männer sprangen te noch dort“, berichtet Headland. zähen Matsch. Dann wieder überzog ein Frostbeulen auf. Das Team lief in den gro- Jeder Kontakt zur Außenwelt war da- Sturm die Landschaft mit Neuschnee, auf ben Fellschuhen auf rohem Fleisch. mit abgebrochen. Die Männer der Ross Sea dem die Kufen schabten wie auf Schmirgel- Vor allem auf dem Körper von Spencer- Party hatten weder Strom noch Funkgerät. papier. Smith, dem Priester, waren die Anzeichen Und schlimmer noch: Auch der Großteil von Proviant und Ausrüstung war im Frachtraum der „Aurora“ geblieben. So mussten sich die Gestrandeten mit dem durchschlagen, was die Scott-Expedition in den Hütten zurückgelassen hatte. Aus den Überresten kratzten sie sogar noch das Material für die Vorratsdepots zusammen. Vor allem dem erfahrenen Joyce war klar, dass ihnen nun ein Himmelfahrtskomman- do bevorstand: „Niemand würde, nicht mal eine Sekunde lang, erwägen, mit einer der- art ärmlichen Ausrüstung so eine Tour zu unternehmen“, notierte er. Voller Sorge dachte er an die Schuhe, die sie sich aus al-

ten Fellschlafsäcken geschustert, und die GRAY CHARLIE Hosen, die sie aus Scotts Zelten geschnei- Kurator Headland, Hütte am Kap Evans, Etappenplan der Ross Sea Party: „Sie sparten sich das

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unübersehbar. Seine Beine waren von den Ohnmächtig oder aus Todeswillen fiel Hüften hinab schwarz angelaufen, ebenso Mackintosh vom Schlitten, ohne dass die das Zahnfleisch – typische Symptome von anderen es in ihrem Zustand noch bemerkt Skorbut, der Vitaminmangel-Krankheit, hätten. Kilometer stapften sie zurück und die so viele Entdecker dahinraffte. Und hievten ihren Anführer wieder auf den dann versagte auch noch der Primus-Ko- Schlitten. cher des einen Teams, das deshalb um- Spencer-Smith schrie und stöhnte un- kehren musste. terdessen, selbst Opium half kaum. Aus Jetzt waren nur noch die beiden Schlit- den Eingeweiden lief ihm Blut. Kurz vor ten von Mackintosh und Joyce im Ren- seinem Tod, am 7. März 1916, schrieb der nen: sechs Männer im Wettlauf gegen Padre, wie sie ihn alle nannten, in sein in Zeit und Natur. „Sie mussten die Essens- schwarzes Leder gebundenes Tagebuch: rationen ständig weiter kürzen“, berich- „Eine bitterkalte Nacht. Der Schlafsack ist tet Headland. Dennoch legten sie am steif gefroren.“ 81. und am 82. Breitengrad wie verabredet Nur die fünf anderen erreichten Hut die Proviantdepots für die Transantarkti- Point – ihre Rettung, wie es schien. Endlich

sche Expedition an. „Sie sparten sich das DUCKWORTH konnten sie sich mit saftigem Seehund- Essen vom Mund ab für Kameraden, die Teilnehmer der Ross Sea Party* fleisch stärken. Der Tod war ihnen nun niemals kommen würden“, konstatiert der Schuhe aus Schlafsäcken, Hosen aus Zelten nicht mehr auf den Fersen. Kurator. Und doch sollten der Seele des Kir- Denn während die sechs Unverdrosse- Schließlich, am 26. Januar, erreichen chenmannes noch zwei weitere folgen. nen auf dem Ross-Schelfeis gegen den die Männer 83 Grad 37 Minuten: Dort Denn schon bald hielt es Mackintosh nicht Hungertod kämpften, war auf der ande- türmen sie mit gut sichtbaren Markierun- mehr in der primitiven Schutzhütte am Hut ren Seite des Kontinents der imperiale gen den letzten Stapel mit Lebensmitteln Point aus. Er wollte die gut 20 Kilometer Traum Shackletons längst ausgeträumt. und Brennstoff auf – das erste Proviant- übers Meereis zur komfortableren Behau- Schon am 27. Oktober 1915 musste, mehr depot, das Shackleton in Empfang neh- sung am Kap Evans marschieren. Dort gab als 3000 Kilometer entfernt, die Mann- men sollte. es besseres Essen, Wärme und möglicher- schaft der „Endurance“ ihr eingefrorenes Sie lassen damit zurück, was sie selbst weise Nachricht über das Schicksal der Schiff verlassen, ehe der mächtige Eisstrom bitter benötigt hätten. „Aber die schrift- Shackleton-Expedition. es zermalmte. lich hinterlegten Anweisungen Shackletons Doch im beginnenden antarktischen Erst 14 Monate später werden die Über- waren ihnen heilig“, erzählt Headland und Winter ist das Meereis dünn. Joyce ver- lebenden der Ross Sea Party erfahren, dass blättert dabei in einem Haufen von Zetteln suchte noch, Mackintosh davon zu über- ihr Opfermut sinnlos geworden war. Vor- mit der Handschrift vom „Boss“, wie er zeugen, dass es für eine Passage zu früh sei: erst schleppten sie sich nichts ahnend wei- von den Männern genannt wurde. „Für allen Tee Chinas würde ich heute ter den Bergen entgegen, die ihnen in der Noch lagen über 500 unheilvolle Kilo- nicht nach Kap Evans gehen.“ Richards klaren Luft zum Greifen nahe schienen. meter zurück zur rettenden Hütte am Meer gegenüber offenbarte Joyce seine Verbit- Doch der Beardmore-Gletscher, an dem vor ihnen. Zudem konnten nur noch vier terung noch deutlicher: „Erst zerren wir sie Shackleton vom Eisplateau hinabzusteigen der Männer laufen. Den restlos erschöpf- vom Tode weg, jetzt wollen sie ihn gleich geplant hatte, wollte und wollte nicht näher ten Spencer-Smith luden sie auf den Schlit- noch mal herausfordern. Mit was für Nar- kommen. „In der Ebene lässt sich die Dis- ten. Und auch Mackintosh machte schlapp ren haben wir es hier zu tun!“ tanz einfach nicht abschätzen, weil es kei- und musste delirierend auf das Kufenge- Das Abenteuer des störrischen Mackin- ne Anhaltspunkte in der Landschaft gibt“, fährt geschnallt werden. tosh stand unter einem schlechten Stern: berichtet Headland, der die Ödnis des Eis- Ein Blizzard nach dem anderen brach- Eine Stunde nachdem er gemeinsam mit ei- schelfs aus eigener Anschauung kennt. te sie in Zeitverzug, und ihr Proviant ging nem Gefährten aufgebrochen war, heulte Als wären die Männer in der Sahara, zur Neige. Die Tagesration war zusam- ein Unwetter heran. Die Böen trieben das tauchen Fata Morganen auf. Die Luft spie- mengeschmolzen auf acht Stücke Zucker brüchige Meereis aus der Bucht und nah- gelt Geländelinien jenseits des Horizonts und einen Keks. Dennoch widerstanden men die beiden Hasardeure wie auf einem wider. Die von Schneeblindheit schmer- sie der Versuchung, die Proviantlager zu Floß mit in den Hades. zenden Augen werden getäuscht von fun- plündern, die sie auf dem Hinweg ange- Erst zwei Monate später wagten sich die kelnden Nebensonnen, die sich durch legt hatten. drei Überlebenden über das Eis nach Kap Reflexionen winziger Eiskristalle in der Evans. Dort trafen sie auf die Kameraden, Atmosphäre bilden. * Ernest Wild und Ernest Joyce in der Hütte am Kap Evans. die seit über einem halben Jahr ausgeharrt CHARLIE GRAY CHARLIE H. WEYER Essen vom Mund ab für Kameraden, die niemals kommen würden“

der spiegel 2/2004 117 Wissenschaft hatten und auf das Schiff warteten, das sie zurück in die Zivilisation bringen sollte. Doch je weniger sich die Sonne über den Horizont quälte, desto klarer wurde ihnen die Vergeblichkeit ihres Wartens. Die Dun- kelheit des zweiten Polarwinters brach an, die Verdammten beerdigten ihre Hoffnung, bald gerettet zu werden. Die Aufzeichnungen in den Tagebüchern der Männer reduzierten sich nun auf knap- pe Notizen über Routinearbeiten: Robben jagen, Pinguinfett in die Lampen nachfül- len, Schnee in Blöcke schneiden. „Das kündet von einer schweren Depression“, vermutet Headland. In der Monate währenden Nacht reden die Männer kaum mehr miteinander. Auch von Shackleton fühlen sie sich in ihrer ver- fahrenen Situation verraten. „Für mich ist das Leben das größte Spiel von allen“, hat- te sich der „Boss“ einmal gebrüstet. Das eigentliche Ziel bestehe darin, „ehrenhaft und hervorragend zu siegen“. Dazu be- dürfe es neben Optimismus und Treue vor allem „Ritterlichkeit“. Solch Pathos ver- fing nicht mehr bei den Männern in ihren mit Robbenblut voll gesogenen Lumpen, deren verfilztes Haar der ätzende Ruß aus dem Fettofen tiefschwarz gefärbt hatte. Shackleton, der sich mit seiner Mann- schaft in der Zwischenzeit aus dem Eis hat- te retten können, ließ sich derweil vom Volk für seine Heldentat feiern. Doch bei den Po- litikern hatte er seinen Kredit verspielt. Nur widerwillig ließ man den Abenteu- rer mit an Bord des Schiffs, das die Leute von der Ross Sea Party bergen sollte. Die neuseeländische Regierung sandte ihm eine Depesche, die – „um keinerlei Miss- verständnisse aufkommen zu lassen“ – fest- stellte, „wer die oberste Führung und Au- torität“ über die Rettungsexpedition besit- ze: der britische Kapitän , und keinesfalls Shackleton. Headland hält das Schreiben vom 15. November 1916 in der Hand. „Confidential“ ist darauf mit blau- er Tinte gestempelt. Am Mittwoch, dem 10. Januar 1917, taucht schließlich eine Rauchfahne im McMurdo-Sund auf. Überschwänglich stür- men die Überlebenden dem Schiff über das Meereis entgegen. Joyce war es, der den „Boss“ durch das Fernglas an seinem Gang als Erster erkannte. Doch die Freu- de über die Rettung wog stärker als die deprimierende Erkenntnis von der Sinn- losigkeit des eigenen Tuns. „Joyce, alter Kumpel, ich bin mehr als erfreut, dich zu sehen“, sagte Shackleton bei ihrer ersten Umarmung, ohne sein britisches Under- statement abzulegen. Dann speisten die stinkenden Gestalten gemeinsam mit ihrem Boss in der Messe. Davis, dem Kapitän, fiel ihr „gequälter Blick“ auf und die „ruckartige, manchmal fast hysterische und kaum zu verstehende Sprache“. „Keine Frage“, bemerkte er, „die Antarktis hat ihnen eine volle Abrei- bung verpasst.“ Gerald Traufetter

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