Think:Act #23 10 | 2017 KOMPLEXITÄT navigating complexity

K REDEN OMPLEXI

ÜBER WI

TÄT R 2 Think:Act 23

"Konsumenten wollten schon immer eine große Auswahl. Das ist nichts Neues. Neu ist, dass wir durch das Internet auf ihren Wunsch eingehen können."

CHRIS ANDERSON

Ehemaliger Chefredakteur des Magazins Wired michel christopher foto: und Autor von The Long Tail lesen sie mehr ab seite 58 In dieser Ausgabe Think:Act 23 3

"Ich ermutige Forscher dazu, das menschliche Gehirn nicht als einzige Vorlage zu nutzen – nicht einmal als primäre."

ERIK BRYNJOLFSSON Professor für Informationstechnologie an der MIT Sloan School of Management und Co-Autor von The Second Machine Age lesen sie mehr ab seite 26 foto: getty images getty foto: 4 Think:Act 23 In dieser Ausgabe

"Innovation ist harte Arbeit. Man kann niemand dazu zwingen, innovativ zu sein; die Mitarbeiter müssen von selbst dazu bereit sein."

LINDA HILL Professorin für Business Administration an der Harvard Business School und Co-Autorin von Collective Genius lesen sie mehr ab seite 70 foto: alastair fyfe alastair foto: Think:Act 23 5

"Kunden sind häufig abgelenkt, träge und laif

/ verwirrt. Sie lassen sich verblüffend oft zu redux

/ der Option hinreißen, die man ihnen als Standardentscheidung präsentiert." foto: foto: matt furman RICHARD THALER Verhaltensökonom und Co-Autor von Nudge lesen sie mehr auf seite 45 6 Think:Act 23

"Die Natur ­ liefert ein Vorbild für Überlebens­ strategien in ­einer immer unüber­ sichtlicheren Welt. Sie ­versucht gar nicht erst, ­komplexe ­Veränderungen zu ­steuern, sondern­ passt sich durch ­Evolution ­bestmöglich an diese Verände- rungen an."

CHARLES-EDOUARD BOUÉE CEO von foto: jan voth jan foto: titelbild: mrzyk & moriceau | fotos: hari adivarekar; pr 3d robotics | illustration: mark von ulrich sache KOMPLEXE EINE 46 42 nteressante Dinge,

28 26 20 8 50 uf einenBlick uf h einkaufen ch Maschine oder eicht gelöst! e man das das e man ernen Sie Sie ernen

"einfach genial". Jonathan Whitlock und und Jonathan Whitlock Einfac L die Siek I Keep itsimpl L A Wi Mens von Ihr Sc Syst Wer weiß, wie dasGehirnden Sie sindnicht der Erste, der von "dumm-einfach" und U Körper steuert,kann sein Dueck über denUnterschied Der Beststeller-Autor Gunter Komplexität kann bedrohlich K Diese Unternehmen beweisen, Fragen andie nachbilden?Hirn wirklich Kann mandasmenschliche Erik Brynjolfsson. tegien habensichbewährt. schlagen muss.Diese Stra- sich mitKomplexität herum sein, sagtDirk Helbing – dass dieGewinnung neuer aber er hatkühneLösungen. als Sie vielleicht annehmen. unden viel "schlichter" ist, nternehmen bessernternehmen führen. hlauberger em entwirrt em entwirrt ennen sollten. em Gehirn em Gehirn

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12 Ansätzen macht 34 Der König Chirurg Devi Shetty Mit innovativen der Herzen hochkomplexeOPs für jedermann bezahlbar. Die ListemitDingen, Fakten, umTrends Sie sich zurechtfinden? hier.Sie sind Und es ist immer länger. Wir reagieren. können, wird und darauf zu und liefern Ihnen untersuchen, wie Sie Komplexität die schiefgehen die notwendigen die notwendigen zu auflösen können, auflösen höllisch komplex. Wie sollenkomplex. Wie höllisch

erkennen –

Im GesprächIm mit einem Maker Anderson. 58 verändert die Art, wie wie die Art, verändert O wir Unternehmen gründen, sagt Chris gründen, sagtChris pen Source Think:Act

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7 8 Think:Act 23

In Zahlen Stoff zum denken Nachdenken

Sind moralische Entscheidungen im Geschäft 19 genauso wichtig wie finanzielle? g20-regierungschefs, von David Jones verpflichteten sich im Juli dieses Jahres beim Gipfel in Deutschland, auch für mich sind das keine gemacht. Teil der Strategie sind die nach dem Ausstieg der gegensätze. Wenn wir aus der "Sustainable Living Brands". Alle USA am Pariser Klima- Finanzkrise 2008 eines gelernt haben, dazugehörigen Marken wuchsen im Abkommen festzuhalten. dann ist es, dass reines Streben nach vergangenen Jahr um mehr als 50% Gewinn nichts Gutes bringt. Der schneller als die übrigen Bereiche und Kollaps hat die Wirtschaft in eine machten mehr als 60% von Unilevers 100 sozial verantwortlichere Richtung Gesamtwachstum aus. Finanzieller tage braucht es gelenkt. Clevere CEOs wissen nun, Erfolg geht also Hand in Hand mit laut Tesla-Chef Elon dass moralisch gute Entscheidungen sozialer Verantwortung. Gutes Musk, um in Australien automatisch finanziell wertvoll sind. zu tun, tut auch dem Unternehmen die weltgrößte Lithium- Das ist auch zum großen Teil den gut. Die sozialen Medien haben die Ionen-Batterie zu bauen. sogenannten Millenials zu verdanken. soziale Verantwortung zum Teil Sie soll Energienetze Wir sehen sie als junge Führungs- der Gewinn-und-Verlust-Rechnung stabilisieren und vor kräfte bei One Young World: Sie sind gemacht. Ausfällen schützen. viel besser informiert als irgendeine Generation vor ihnen und sozial verantwortungsbewusster. Und sie nutzen die sozialen Medien, um Unternehmen abzustrafen, die ihre Erwartungen nicht erfüllen. , Gleichzeitig profitieren sozial milliarden3 us-dollar2 war 2014 die Technologie- verantwortliche Unternehmen, weil firma Jawbone wert. ihre Fürsprecher dort ihre Marken david jones ist ehemaliger CEO Nun wird sie aufgelöst. Es und Geschäftsideen anpreisen und der Agentur Havas, Gründer der welt- ist die zweitgrößte Pleite bekannt machen. Führende Unterneh- weit ersten Brandtech-Gruppe eines Wagniskapital- mensleiter, wie der CEO von Unilever, You & Mr Jones und Mitgründer von finanzierten Unter­ Paul Polman, wissen um die Bedeu- One Young World. Er ist der Autor des nehmens und ein Beispiel tung sozialer Verantwortung – und Bestsellers für das Silicon-Valley- Who Cares Wins: Why

Phänomen "Zerstörung haben sie zum Kern ihrer Strategie Good Business is Better Business. international quellen: bbc; reuters; euromonitor pr oneyoungworld. images; getty fotos: durch Überfinanzierung". 1 million Plastikflaschen werden weltweit jede Minute gekauft und verursachen ein riesiges Abfall- und Umweltproblem. Die Zahl soll sich bis 2021 noch um 20% erhöhen – eine Umweltbedrohung, die Naturschützer für ebenso gefährlich halten wie den Klimawandel. AUF EINEN BLICK auf einen blick Think:Act 23 9

Gedanken, Buzz- die Wörter inspirieren überdenken

Halten Sie mit beim "Wir überschätzen Business-Talk. Wir erklären die Trendwörter, immer, was sich mit denen gerade alle in den nächsten um sich werfen "Katalytische zwei Jahren Fragen" Hal Gregersens Alternative zum verändern wird, Brainstorming: ein fünfstufiges Verfahren, das Ihnen dabei hilft, die richtigen Fragen zu stellen, um und unterschätzen, Problemen auf den Grund zu gehen. Gruppen können sich so auf ein Problem konzentrieren, Irrelevan­ was sich in den tes beiseite schieben und ordentlich nächsten zehn ihre "Fragemuskeln" spielen lassen. Jahren verändern wird. Lassen

Sie sich nicht freizulegen." liche Fähigkeit, um Lösungen Lösungen um Fähigkeit, liche

Gregersen nennt es eine "wesent­ eine es nennt Gregersen

zur Trägheit dahinter. mehr ja steckt Fragen stellen", aber vielleicht vielleicht aber stellen", Fragen

Klingt ein bisschen wie "einfach "einfach wie bisschen ein Klingt

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— Bill Gates Sie Befragen 3: aus, Problem ein Sie

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Investor und Philanthrop sich Sie Versammeln 1: Was sind diese fünf Schritte? Schritte? fünf diese sind Was 10 Think:Act 23 auf einen blick

Die Konzentriert arbeiten: Regeln Tatsächliche vereinfachte für eine Welt voller Ablenkungen Kosten Fassung von Cal Newport. 272 Seiten. Redline Verlag. 19,99 Euro.

Arbeiten, einfach 3. keine sozialen medien. der erste kaffee des tages, Soziale Medien lenken ab und der erste Schluck. Haben Sie nur stur arbeiten schwächen Ihre Konzentration. Halten Sie sich von Netzwerken dabei schon einmal darüber Keine Zeit, um Strategiebü- fern, außer wenn es Ihnen nachgedacht, dass Kaffee einen der cher zu lesen? Kein Problem: beruflich nutzen könnte. kleinsten Posten bei der Kalkulation Hier sind die wesentlichen Punkte aus Cal Newports 4. keine halben sachen. für Ihren morgendlichen Buch im Stil des Originals Schluss mit Überstunden. Cappuccino / fettfreien Latte / Verpflichten Sie sich selbst auf den Punkt gebracht. Milchkaffee / neuesten Coffee-to-go- dazu, zeitig nach Hause zu warum schaffen sie nicht gehen. Dann haben Sie weniger Trend ausmacht? Bei sortenreinen mehr im büro? Vielleicht Gelegenheit, den Tag mit Kaffees verhält es sich liegt es an zu wenig "Deep unkonzentrierten Tätigkeiten etwas anders, aber generell gilt: Work" – das sind berufliche zu vergeuden. Wenn Sie Tätigkeiten in einem völlig oberflächliches Arbeiten durch Das Teuerste ist und bleibt konzentrierten Zustand ohne "Deep Work" ersetzen, sind Sie der lächelnde Barista. Denken Sie Ablenkungen, die Ihre geistigen vielleicht sogar erfolgreicher. daran, bevor Sie entscheiden, Fähigkeiten an die Grenze bringen. Mehr "Deep Work" wie hoch Ihr Trinkgeld ausfällt.

hilft Ihnen, Ihren Intellekt voll business systems intelligent adside retail; auszuschöpfen, Ihre mentalen us; ro

/ Fähigkeiten zu verbessern, 3,44 € Kompliziertes zu erlernen (zum Mitnehmen) und zu Höchstleistungen aufzulaufen. KOSTEN 0,52 € pro 470 ml Cappuccino* Weil Geschäftigkeit häufig Gewinn mit Produktivität verwechselt 0,72 € wird, finden Sie "Deep Work" Gehälter nur selten am Arbeitsplatz. Das bedeutet: Wenn Sie trainieren, bei der Arbeit wirklich in die 0,62 € Betriebskosten Tiefe zu gehen, können Sie Café große Erfolge einstreichen. 0,62 € Dafür müssen Sie diesen vier Miete Regeln folgen: 0,28 € 1. tauchen sie tief ein. Steuern für vorbereitete Speisen Erfolgreiches "Deep Work" bedeutet: Konzentrieren Sie 0,34 € foundation tax the coffeed.com; makers usa; quellen: coffee ject. Becher, Deckel, sich auf die Aufgaben, die Rührstäbchen am wichigsten sind, um ihr the noun pro

wichtigstes Ziels zu erreichen. / 0,17 € Milch 2. langeweile ist okay. Das Internet lenkt uns leicht 0,17 € Kaffee ab. Versuchen Sie, das Netz *Die Preise beziehen sich auf einen Becher Kaffee in den USA. (1 $ = 1,17 €. Der Währungs- weniger zu nutzen, zu Hause wechselkurs ist ein Näherungswert und zum Zeitpunkt der Recherchen gültig.) Die Steuern für vorbereitete Speisen fallen nur in bestimmten Staaten an. Diese Illustration

ebenso wie im Büro. wurde auf Basis eines Bechers Kaffee aus Bohnen zum Standardpreis berechnet. latysheva oksana icon: Think:Act 23 11

Wirtschaftliche Wirkung Best Practice

Wer hat das Sagen beim Sake?

sie sind auf einem Pittsburgh statt Paris geschäftses­sen in tokio. Der Sake kommt und bevor Sie geht trumps rechnung auf? Donald Trump es sich versehen, schenkt eine schockierte seine Wähler in Staaten wie Pennsylvania, der Frauen am Tisch das Getränk als er ankündigte, das Abkommen von Paris in diese kleinen Becher ein. aufzukündigen und dafür zu sorgen, dass Amerikas Wenn Sie versuchen, die Flasche Kumpel wieder Jobs in den Kohleminen finden. zu nehmen und sich selbst Am 12. Juni 2017 twitterte er dann stolz über die etwas einzugießen, starten Sie Eröffnung der Acosta-Mine. Rund 100 Kilometer eine Art Wrestling-Match. südlich von Pittsburgh gelegen, ist es die erste Ihre japanischen Gastgeber tauschen Blicke aus, die klar Kohlemine in den USA, die seit Trumps Amtseinführung machen: Die Situation ist ihnen den Betrieb aufnahm. Geplant wurde die Eröffnung peinlich. Nach langer Stille jedoch schon vor der Wahl; und Statistiker sagen, erklärt Ihnen, dem Gaijin (Aus- die positiven Wachstumszahlen, die die Regierung länder), schließlich vielleicht herausgab, seien im besten Fall "vorläufig", im jemand, dass das Ausschenken schlechtesten Fall "irreführend". von Sake Frauensac­ he ist. Nicht immer, aber in aller Regel. Manchen von Ihnen mag es unangenehm sein, so von Frauen bedient zu werden, aber viele Japaner sehen dies anders. Wenn Sie genug Zeit in Japan ver- bringen, werden Sie sehen, dass manchmal just die stärksten, un­ abhängigsten und erfolgreich­ sten Frauen gern einem Mann einen Becher Sake einschenken. Befindet sich nur eine Frau am Tisch, schenkt sie sogar allen Männern den ganzen Abend lang ein. – Kanpai (Prost)! fotos: getty images getty fotos: AUF EINEN BLICK 12 Think:Act 23 KOMPLEXITÄT TiTItelstoryTELSTORY Think:Act 23 13

UND ES IST HÖLLISCH KOMPLEX. WIE FINDEN SIE DA BLOSS HERAUS ? 14 Think:Act 23 Titelstory

Fake News, Ransomware, Konkurrenz, die den Markt aufmischt – in Unternehmen kann so viel schiefgehen, und die Liste wird immer länger! Erfreulicherweise aber gibt es in der weltweiten Wirtschaft auch immer mehr Dinge, die gut laufen. Erkennen Sie wichtige Trends früh genug, um reagieren zu können? Was die Zukunft bringt, ist schwer vorherzusehen. Wie holen Sie sich Informationen, die Ihnen zeigen, worauf es ankommt?

von Bennett Voyles illustrationen von Mark Von Ulrich KOMPLEXITÄT MARVEL HEISST WUNDER, und Mar­ vel Entertainment, eine Tochter der Walt Disney Company, ist heute selbst ein Wunder der Publikums­unterhaltung. Ihm gehören einige der weltweit wert­ vollsten Franchises, darunter ­Spider-Man und X-Men. Als der CEO Peter Cuneo 1999 zu dem BRAUCHEN HILFE BRAUCHEN SELBST SUPERHELDEN SUPERHELDEN SELBST strauchelnden Comic­verlag kam, hatte dieser gerade einen Konkurs hinter sich. Wäre Cuneo Wonder Woman, hätte er sein Team wohl mit dem magi­ schen Lasso eingefangen, damit es die Wahrheit spricht. Als Hulk hätte er den Konferenztisch ent­ zweigehauen und sogleich Mitstreiter gefunden. Doch ganz ohne Superkräfte, so erkannte der Vorstandsvorsit­ zende, hatte er nur ein Ass im Ärmel: Er wusste, wie er Hilfe holen konnte. "Wenn ich als Führungskraft neues Territo­ rium betrete – eine unbekannte Branche oder eine neue Technologie, mit der ich mich nicht aus­ kenne –, engagiere ich sofort Experten", sagt Cuneo. "Ob Militär oder Wirtschaft, in meiner Kar­ riere hatte ich das Glück, vielen groß­artigen Titelstory Think:Act 23 15

Mentoren zu begegnen, die sich bei Bedarf immer Unterstützung von Weltrang holten." Nach seiner ersten Karriere bei der US-Marine im Vietnamkrieg ging Cuneo in die Wirtschaft. Dort führte er unter anderem sieben Unternehmen aus der Krise, dar­ unter so bekannte wie Remington oder Bereiche von Clairol und Black + Decker. Und natürlich Mar­ vel Entertainment. Eigentlich erscheint es nur vernünftig, Wis­ senslücken zuzugeben, doch laut Cuneo ist das längst nicht immer der Fall. "Es gibt unsichere Führungskräfte", sagt er. "Die können sich und anderen nicht eingestehen, dass ihnen für eine bestimmte Aufgabe fundierte Kenntnisse fehlen." Heute ist er Vorsitzender von Cuneo & Co LLC, einer Firma, die in Wagniskapital-Projekte in der Verbraucher-, Medien- und Unterhaltungs­industrie investiert. Nichtwissen – intelligent eingesetzt – kann in seinen Augen sogar ein Vorteil sein. Cuneo erinnert sich: "Als ich bei Marvel anfing, wusste ich nichts über Spielfilme. Klar ging ich gern ins Kino, doch wie man Filme dreht oder Comics veröffent­ licht, davon hatte ich keine Ahnung. Ich bin über­ zeugt, dass das im Grunde ein Vorteil war … ­Marvel brauchte Leute, die das Geschäft mit frischem Blick betrachteten und simple Fragen stellten: 'Warum machen wir dies so und das anders?'" KOMPLEXITÄT

SUCHEN SIE, rät Cuneo, möglichst

, Menschen, die Klartext reden: "Stellen Sie Leute ein, die Sie für geradlinig und direkt halten. Schwierig wird es für einen CEO, wenn die wichtigsten Mitarbeiter ihre Meinung vor lauter Angst nicht sagen." Um Menschen zu ermutigen, die sich schwertun mit offenen, aufrichtigen Gesprächen, geht er mit gutem Beispiel voran "Wenn ich als und ist selbst sehr ehrlich mit

KLARTEXT GESCHWÄTZ KEIN jedem. "Direkt ist gut – lassen Sie Ihre Leute wissen, was Sie für die Führungskraft neues größten Herausforderungen und laif

/

Probleme halten", sagt er. "Jeder Mitarbeiter muss Territorium betrete, wissen, dass Sie von Andeutungen nichts ­halten. redux

/ Kommunizieren Sie konsequent und regelmäßig, engagiere ich sonst verwirren Sie den gesamten Betrieb." Die Überbringer schlechter Nachrichten lässt er stets sofort Experten." am Leben: "Ich sage den Leuten, dass mich Prob­ leme nicht beunruhigen – was mich beunruhigt, Peter Cuneo, sind Sachlagen, die ich nicht kenne. Ermutigen Sie foto: foto: the new york times ehemaliger CEO von Marvel Entertainment immer alle Mitarbeiter, ihre Probleme offen 16 Think:Act 23 Titelstory

darzulegen. Und machen Sie es zur Unternehmens­ kultur, um Hilfe zu bitten." Auch Paul J. Siegenthaler, ein Londoner M&A-Spezialist, beginnt seine Projekte, indem er mit den Leuten spricht. "Es geht darum, gut zuzu­ hören. Ich stelle offene Fragen und muss dann nicht nur die Antwort meines Gesprächspartners verstehen, sondern auch die versteckten Botschaf­ ten erkennen", erklärt er. "Anschließend arbeite ich mich durch die Hierarchieebenen des Unter­ nehmens, von oben nach unten. Dabei offenbart sich schnell die Diskrepanz zwischen dem, was die Leute in der Führungsetage denken, und dem, was bei den Untergebenen ankommt." Offen reden, den Leuten zuhören, das ist nicht allein Aufgabe des mittleren Managements: "Der CEO von Coca-Cola, der CEO von PepsiCo, all diese Führungskräfte haben regelmäßig Kontakt zu den Kunden und Mitarbeitern an vorderster Front. So erhalten sie neben den Daten aus den Informati­ onssystemen ein gutes Bild über das tatsächliche Geschehen", sagt Ram Charan, ein berühmter Unternehmensberater, der vielen Fortune-500-­ Unternehmen und CEOs geholfen und zudem noch 25 Fachbücher geschrieben hat. Carol Kivler, erfolgreicher Coach für viele Führungskräfte, rät jedoch, nicht jedes Gerücht ernst zu nehmen:

KOMPLEXITÄT "Informationen über eine andere Person müssen Sie von vornherein unterbinden … Klatsch über Dritte macht nur Ärger." DIE ZWEITE HERAUSFORDERUNG liegt darin, das Gehörte zu verste­ hen. Laut Siegenthaler fällt das selbst Menschen schwer, die die­ selbe Muttersprache sprechen: "Während der eine glaubt, er fasse

LOST IN seine Meinung in klare, deutliche TRANSLATION Worte, können genau diese Worte für einen Gesprächspartner mit anderen Wurzeln etwas ganz anderes bedeuten. In den USA zum Beispiel kursieren viele Witze über das, was die Briten sagen und was sie meinen." Sie­ genthaler löst das Problem, indem er nachfragt: "In den verschiedenen "Die eigentliche Absicht hinter den Worten erkenne ich oft erst, wenn ich den anderen bitte, seine Aus­ sage zu illustrieren und sein Statement­ so zu kon­ Kulturen werden kretisieren. Eine kurze Geschichte oder ein Fall­ beispiel erläutert und definiert viel genauer, was er Gedanken oft unter- mit seiner Darstellung sagen will." Charan stimmt dem zu: "In verschiedenen Kul­ schiedlich vermittelt." turen werden Gedanken oft auf unterschiedliche Weise vermittelt. Da heißt es Vertrauen aufbauen,

Ram Charan, Firmen-Coach aufmerksam zuhören und jede Idee des Gesprächs­ images getty foto: Titelstory Think:Act 23 17

partners noch einmal prüfen. Gehen Sie langsam IN ANDEREN SITUATIONEN kann vor – nicht schnell – und bauen Sie eine Verbin­ dieses Unterbewusstsein uns dung auf." Charan empfiehlt eine Technik, die er effektiv helfen, Entscheidungen "Kristallisieren" nennt, die präzise Zusammenfas­ zu fällen. 2008 bewies ein hollän­ sung der soeben gehörten Aussage: "Das kann disch-amerikanisches Forscher­ wirklich jeder lernen. Wer im Unternehmen mit team im Experiment, dass wir einem Chef oder Kollegen zusammenarbeitet, die komplexe Probleme besser lösen, diese Methode nutzen, lernt sie selbst auch sehr wenn wir nicht lange über Details schnell … Länger als vier oder fünf Wochen brau­ nachdenken können. Loran Nord­ chen Sie dafür nicht." gren, einer der Wissenschaftler, Natürlich sollte Ihnen bewusst sein, dass nicht ist Associate Professor für immer der andere schuld ist, wenn eine Beziehung Management und Organisatio­ nicht funktioniert: Von den elf Millionen Informa­ nen an der Kellogg School of Busi­ tionen, die unser Gehirn pro Sekunde aufnimmt, ness der Northwestern University

verarbeiten wir nur etwa 40 bewusst. Sara Taylor, IHRER INTUITION (Illinois, USA). Er hält bewusste VERTRAUEN SIE SIE VERTRAUEN Autorin von Filter Shift: How Effective People See the Gedankengänge für eine Art Spot­ World, sagt: "Wir stecken Menschen gern nach light, das nur einen Teil des Prob­ ihrer gesellschaftlichen und ethnischen Herkunft lems beleuchtet. Das Unterbewusstsein hingegen in Schubladen. Diese Eindrücke beeinflussen "ist eher wie das Nachtlicht im Kinderzimmer, das unsere Reaktion, wir können gar nicht anders." sich nicht auf einen Punkt konzentriert, sondern Dennoch sind wir nicht zum Missverstehen ver­ den ganzen Entscheidungsraum in gedimmtes dammt. Laut Taylor dauert es acht, neun Stunden­ Licht taucht". bis zum sogenannten Filter Shift. Dann haben wir Gerd Gigerenzer rät ebenfalls zum Bauch­ gelernt, die unbewussten Filter zu umgehen, die gefühl – sofern sich der Entscheider auf dem Gebiet uns hindern, Menschen mit anderen Wurzeln zu gut auskennt. Gigerenzer ist Direktor für Adaptives verstehen. Und uns wird bewusst, dass auch wir Verhalten und Kognition am Max-Planck-Institut, gerade falsch verst­ anden werden. Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompe­

tenz in Berlin und Autor von Risiko: Wie man die KOMPLEXITÄT richtigen Entscheidungen trifft. Nicht der Intuition zu folgen könne teuer werden, meint er. Bei seinen Studien gaben Manager zu, zwei von drei Entschei­ dungen defensiv zu fällen. Das heißt, sie gehen den Weg des geringsten persönlichen Risikos und ent­ scheiden nicht zum Besten des Unternehmens. Laut Gigerenzer ist dieses Verhalten vor allem in Organisationen mit einer negativen Fehlerkultur verbreitet. In einer positiven Fehlerkultur geben Menschen Irrtümer offen zu und verändern das System so, dass sie nie wieder auftreten. In einer negativen dagegen dürfen Fehler gar nicht erst ­auftreten. Passieren sie doch, werden sie versteckt und die Probleme bleiben. Woher aber soll der Mensch wissen, ob er in einer positiven oder neg­ a­ tiven Fehlerkultur arbeitet? Wer das Thema anspricht und als Antwort nichts als ohrenbe­ täubendes Schweigen hört, so Gigerenzer, arbeite wohl in einem negativen Umfeld. Manche verstecken sich vor der Realität auch hinter Komplexität. "In vielen insolventen oder strauchelnden Unternehmen gibt es Posten, deren Funktion allein darin besteht, Daten in eine Tabelle zu übertragen, diese in eine weitere Tabelle zu übertragen und dann zu verteilen. Zur 18 Think:Act 23 Titelstory

Entscheidungsfindung trägt das gar nicht bei", sagt entwickelte seine Ideen in den 1950er-Jahren an der Marvel-Chef Cuneo. "Häufig schaden derart kom­ London School of Economics, wo er bei dem Wie­ plexe und nutzlose Daten mehr, als dass sie helfen. ner Philosophen Karl Popper studierte. Laut Popper Beim Turnaround eines Unternehmens fand ich sind empirische Wahrheiten nie absolut sicher und einen langen Bericht, den die IT-Abteilung jede Ideologien, die sich im Besitz der ultimativen Wahr­ Woche schrieb und an rund 50 Mitarbeiter schickte. heit wähnen, können diese nur mit Gewalt durch­ Ich fand, dass dieser Bericht nur Zeit und Energie setzen. Soros entwickelte aus diesen Ideen eine raubte und überhaupt keinen Zweck erfüllte. Des­ gewinnbringende Wirtschaftstheorie der Moderne. halb bat ich die IT-Leute: 'Versendet den Bericht in Die daraus abgeleitete Philosophie der Reflexi­ dieser Woche einmal nicht. Mal sehen, wer danach vität prägte seine gesamte Karriere. Sie beruht auf fragt, denn diese Mitarbeiter brauchen ihn wirk­ 11 zwei Erkenntnissen: 1. Das Weltbild der Beteilig­ lich.' Tatsächlich fragten nur drei Kollegen! Manch­ Millionen ten ist immer ausschnitthaft und verzerrt. 2. Ver­ mal hilft eben der gesunde Menschenverstand!" Informationen zerrte Ansichten wirken sich auf eine Situation aus, Ab und zu ist es trotzdem gut, den gesunden nimmt unser Gehirn denn sie führen zu falschen Reaktionen. Marx und Menschenverstand zu hinterfragen. Der Investor pro Sekunde auf. Freud suchten nach einer konstanten Beziehung George Soros behauptet, er verdanke sein Leben Bewusst zwischen der Vorstellung des Menschen und der und seinen Reichtum einem familiären Riecher. Der verarbeiten wir tatsächlichen Lage. Vergeblich, sagt Soros. Auch erkenne die Diskrepanz zwischen dem allgemeinen nur etwa 40. die Wirtschaftswissenschaften "setzten zu Beginn Bild von der Realität und der tatsächlichen Wahr­ das perfekte Wissen voraus und mussten sich heit. Den Zweiten Weltkrieg erlebte Soros als jüdi­ immer mehr verbiegen, um die Fiktion rationalen scher Teenager in Budapest, wo sein Vater früh Verhaltens aufrechtzuerhalten, als sich diese Hypo­ durchschaute, zu welchen Mordtaten die Nazis these als unhaltbar erwies", sagt er. "Wir dürfen fähig waren. Später brachte ihm seine gute Nase für von der Wirtschaftstheorie keine Universalgeset­ ze Arbitrage bei einer Wette gegen das britische Pfund erwarten, mit denen sich historische Ereignisse 1992 wohl einen Milliardengewinn ein. Soros erklären oder voraussagen ließen." KOMPLEXITÄT

Vorsicht, Zahlen! – Ann Rutledge verrät ihre Lektüreregeln

Eines sollten Investoren im der Daten zum Berechnen des Wenn jemand eine 'brandneue' Know-how. Ich muss ja nicht Laufe der vergangenen 30 Jahre Kreditausfallrisikos aus den Methode präsentiert, die so viel wissen, wie ein Smartphone gelernt haben: Zahlen können 1980er- und 1990er-Jahren. mehr Informationen aus­spuckt, funktioniert, um die Stimme fast genauso irreführen wie Damals war aber nicht nur die etwa Bonitätsbewertung per meines Gesprächspartners zu Worte. Gesunde Skepsis ist Volatilität geringer, sondern Big Data, dann ist das oft nur erkennen. Oder die Funktions­ also angebracht. Ann Rutledge auch die Bonität höher (Prime Schall und Rauch." weise einer Uhr verstehen, um analysiert in New York Kredite Kredite). Für die Zeit der Sub- die Zeit abzulesen. Wellen und folgt diesen Lektüreregeln prime-Kredite galt das natürlich Achtung: Ordinaldaten. funktionieren wie Wellen und für quantitative Daten: nicht mehr. Fragen zu den Daten "Das sind oft Zahlen, die Getriebe wie Getriebe. Wenn sind daher gerechtfertigt: Sind D nichts besagen. Ein aber das menschliche Verhalten Lassen Sie sich nicht sie sauber? Sind sie repräsenta- Beispiel: Wir bewerten einen eine der Variablen ist, müssen von komplexer Logik tiv? Stellen Sie diese beiden Fra- telefonischen Kundendienst Sie die Ergebnisse im Kontext A beeindrucken: "Gute gen mehrmals auf verschiedene auf einer Skala von 1 bis 5. Sie betrachten. Je mehr Kontext Modelle sind oft sehr einfach", Weise. Bekommen Sie immer sagen 5, ich sage 3. Dann ist für das Resultat, desto leichter sagt Rutledge. "Beeindrucken die gleichen Antworten?" der Durchschnitt aber nicht lässt sich bestimmen, ob dieses sollten eher der Ansatz und die unbedingt 4, denn wir beide Resultat für Ihre Entscheidung plausiblen Ergebnisse." Achtung: falsche Logik. haben verschiedene Skalen im relevant und nützlich ist." "Damit lässt sich leicht Kopf, deren Intervalle kaum Rohdaten sagen nicht C schummeln, denn sie übereinstimmen. Lassen Sie Ihr Hirn nicht unbedingt etwas über ist schwer zu erkennen", sagt an der Haustür zurück. B die aktuellen Leistungen die Finanzexpertin. "Doch In- "Informatikkenntnisse sind E "Das beste Instrument aus. "Vor der Finanzkrise formationssysteme lassen sich schon wichtig, und zwar wich- ist immer noch ein erfahrener, stammten mehr als 99 Prozent nicht einfach hervorzaubern. tiger als etwa physikalisches aufgeschlossener Kopf." Titelstory Think:Act 23 19

Steven Bosworth, Wissenschaftler am Institut für Weltwirtschaft in Kiel, erklärt es so: "Im Grunde beinhalten alle wirtschaftlichen Entscheidungen eine soziale Komponente. In der gängigen Wirt­ schaftstheorie etwa verdichten sich individuelle ­Entscheidungen zu sozialen Strömungen. Die Reflexivität erkennt, dass auch jede individuelle Entscheidung auf diesem Gesamteindruck beruht. Für die Finanzmärkte bedeutet dies: Gekauft wird, was die anderen wohl kaufen werden. Verkauft wird, was die anderen wohl verkaufen. So entstehen Fee­ dbackschleifen, die Boom- und Bust-Zyklen voran­ treiben." Vom Börsencrash 1987 bis zur Finanzkrise 2007 raubten die Zusammenbrüche den Anlegern ANDERE RISIKOEXPERTEN halten Billionen US-Dollar, gerade weil sie Zusammen­ radikale Vereinfachung für das hänge sahen, wo Soros nur Rauschen wahrnahm. beste Mittel gegen die Unsicher­ Glücklicherweise, sagt die Kreditanalystin Ann heiten in unserer Welt. Richard Rutledge, können wir Zahlen kritischer betrachten Bookstaber hat früher mehrere (siehe Kasten S. 18). Auch ohne Doktortitel. große Hedgefonds geleitet und unter Präsident Barak Obama für RADIKAL

VEREINFACHEN das US-Finanzministerium gear­ beitet. Heute, als Risikomanager an der University of California, verwaltet er ein Investment-Portfolio von 100 Mil­ liarden US-Dollar. Es zahle sich nicht aus, meint er, potenzielle Probleme zu eng zu fassen. Führungs­ kräfte sollten sich fragen, "ob sie ihr Umfeld zu dif­

ferenziert gestalten, ob sie zu viele Details optimie­ KOMPLEXITÄT ren und sich dabei auf zu viele Ist-Daten verlassen. Vielleicht funktioniert das heute, aber was ist, wenn sich die Welt unverhofft verändert? Mecha­ nische Systeme – Industrieroboter, selbstfahrende Autos – können Big Data nutzen. Das langfristig angelegte System unseres Miteinanders und unse­ rer Erfahrungen kann das nicht. Wer langfristig überleben will, muss Generalist sein." In seinem Buch The End of Theory: Financial Crises, the Failure of Economics, and the Sweep of Human Interaction rät Bookstaber: "Machen Sie es wie die Kakerlake!" Seit 300 Millionen Jahren, so der Autor, habe die einfache Schabe Dschungel, Wüste, Ebenen und Städte, aber auch viele Fress­ feinde überlebt. Alles dank "eines echt einfachen und anscheinend suboptimalen Mechanismus: Die Kakerlake flieht, wenn ein Lufthauch ihre behaarten Beine erreicht und damit einen Feind ankündigen könnte." Diese Behaarung macht’s. Die Kakerlake kann weder hören noch sehen oder riechen. Sie ignoriert also viele Umweltdaten, die ein optimales System einkalkulieren würde. Den "Preis für das beste Ungeziefer-Design" würde sie nie gewinnen, und doch ist sie "gut genug", um in jedem Habitat zu überleben. ■ 2020 Think:Act 23 Brainomics 1.1 KOMPLEXITÄT Brainomics 1.1 Think:Act 23 21

LERNEN SIE VON IHREM GEHIRN* *UND WERDEN SIE CEREBRAL EXECUTIVE OFFICER

Keins unserer Instrumente durchdringt Komplexität besser als das Gehirn. Doch wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie komplex seine eigenen Prozesse ablaufen. Können wir davon lernen, wie das Gehirn den Körper steuert? Finden wir dabei Wege, Unternehmen besser zu führen? Wie würde ein solches "neurowissenschaftliches Managementsystem" aussehen?

von Detlef Gürtler illustrationen von Martin Nicolausson

IE HALTEN DIESES MAGAZIN in Ihren KOMPLEXITÄT Händen. Jetzt gerade in diesem Mo­ ment lesen Sie diese Wörter und ver­ S arbeiten sie. Bevor Sie sich für diesen Artikel entschieden haben, blätterten Sie vermutlich durch das Heft, Ihr Blick flog über die gedruckten Wörter, scannte schnell Überschriften und Bilder. Wenn ein Artikel Ihr Interesse weckte – so wie dieser hier –, hielten Sie inne und entschieden, genau­ er hinzusehen. Sie ließen Text und Bilder weiter auf sich wirken, Sie wurden neugierig. Treten Sie jetzt ei­ nen Schritt zurück. Wie genau verlief dieser Prozess? Haben Sie Ihren Fingern bewusst befohlen, die Seiten "Das Gehirn trifft umzublättern? Haben Sie Ihren Händen und Fingern einzelne Anweisungen gegeben? Haben Sie jedes Wort, jede Illustration registriert? Annahmen, die Wer simple Routinetätigkeiten – wie das Lesen ei­ nes Magazins – aufschlüsselt, begreift, dass es sich um auf rudimentären höchst komplexe Vorgänge handelt. Das Gehirn emp­ fängt und sendet unablässig Signale: Es verrichtet eine Informationen riesige Menge von Prozessen, ohne dass Sie es mitbe­ kommen. Würden Sie jedes Signal bewusst wahrneh­ beruhen." men oder müssten Sie jede einzelne Bewegung oder Kleinigkeit absorbieren und verarbeiten, die Ihr Hirn Moshe Bar,

: alon korngreen alon : aufnimmt, jedes Wort, jedes Bild, jede Farbe oder Sei­ Leiter des Cognitive Neuroscience Lab am Brain foto tenstruktur – Sie würden nicht weit kommen. Research Center der Bar-Ilan University, Israel 22 Think:Act 23 Brainomics 1.1

Die gute Nachricht: Sie und Ihr Gehirn müssen Lars Muckli, Neuropsychologe an der University zwar nicht allzu hart, aber dafür zusammen ­arbeiten. of Glasgow, bringt es auf den Punkt: Er bezeichnet das Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie harmonisch Gehirn als "Vorhersagemaschine". Es empfange nicht komplexe kognitive Prozesse und Entscheidungen zu­ nur Informationen von den Sensoren und Organen, es sammenlaufen. Sie können sie übertragen auf die Art sende ihnen auch kontinuierlich Prognosen. Was wer­ und Weise, wie Sie Ihr Unternehmen führen. den Ihre Sinnes­organe, also Augen, Ohren oder Fin­ gerspitzen, im nächsten Moment wahrnehmen? Wel­ KEIN UNTERNEHMEN WURDE JEMALS so GEFÜHRT, wie che Leistung sollten sie jetzt erbringen? Stimmen das Gehirn uns steuert. Machen wir uns kurz das au­ Prognose und Ergebnis überein, ist alles in Ordnung, ßergewöhnliche Talent bewusst, mit dem es Komple­ es gibt keinen Grund, weiter darüber nachzudenken. xität reduziert. Ein Beispiel: Pro Sekunde erreichen "Informationen werden nur bei unvorhergesehenen etwa 11 Millionen einzelne Informationen das Gehirn, ­Ereignissem verarbeitet", sagt Muckli, "also bei Über­ jedoch nur 40 bis 50 davon sind es wert, dass wir sie raschungen." bewusst verarbeiten. Was wir als "Denken" bezeichnen, beginnt erst, nachdem das Datenvolumen reduziert Dsa Gehirn kennt drei Wege, mit der Verarbeitung wurde, und zwar im Verhältnis von 1 : 250.000. fortzufahren. Welchen es wählt, hängt natürlich vom Einige der verbleibenden Informationen verarbeiten Ausmaß der "Überraschung" ab. wir unbewusst – danken Sie Ihren Instinkten dafür. Es →→ Kleine Abweichungen überwindet es durch mini­ handelt sich um einen simplen Prozess: wenn (Reiz), male, meist unbewusste Anpassungen. dann (Reaktion). Nehmen wir uns einen Moment, um da­ →→ Größere Abweichungen oder fehlgeschlagene An­ rüber nachzudenken – und ja, wir tun dies, während wir passungen aktivieren das Gedächtnis. Das Gehirn von anderen Informationen überflutet werden. Einen prüft, ob wir Muster, Reaktionen oder Prozesse großen Teil dieser ankommenden Eindrücke müssen wir kennen, die besser zu diesen Ergebnissen passen. gar nicht analysieren. Das Gehirn weiß genau, was es tut Ist dies der Fall, wird das Muster für die nächsten und worüber es sich keine Gedanken machen muss. Es Vorhersagen benutzt. Falls nein, setzt der Prozess nutzt eine Technik, die dem Vorhersagen der Zukunft ein, den wir "Denken" nennen. Das Gehirn erdenkt ­ähnelt: Das ­Gehirn stellt bestimmte Prognosen auf und ein neues Muster, das möglichst gut zur Realität

KOMPLEXITÄT reagiert entsprechend darauf. Es greift nur ein, wenn passt, und bringt den Körper dazu, entsprechend ­etwas nicht stimmt. zu reagieren.

Denken oder nicht denken: der Datenstrom

des Gehirns JA PROGNOSE WIE ÜBLICH TREFFEN Der Vorgang, den wir als "Denken" kennen, beginnt

erst, nachdem das Gehirn KLEIN Reize erfasst hat, die von den üblichen abweichen. Und wenn es über kein bekanntes Muster verfügt, mit dem es kommende INFORMATION Ereignisse vorhersagen und = INFORMATIONSPROGNOSE? GROSS entsprechend reagieren kann. ABWEICHUNG Hat sich das Gehirn ein neues MESSEN Muster "ausgedacht", wird es NEIN dieses künftig als Grundlage für

seine Prognosen nutzen. Den E SCHMERZ N Denkvorgang umgeht es dabei O womöglich vollständig. R M Brainomics 1.1 Think:Act 23 23

→→ Enorme Abweichungen oder große Überraschun­ gen bedeuten in der Regel Gefahr. Die Evolution hat sie mit einem starken Signal verknüpft: Schmerz. Und gleichzeitig einer besonderen Reak­ tion: Stress. Gemeinsam schließen sie den Prozess der Mustervorhersage kurz und veranlassen eine sofortige Handlung, beispielsweise Weglaufen, Kämpfen, Verstecken oder was immer als pas­ sendste Reaktion erscheint.

MOSHE BAR nennt dies eine Feed-Forward-Methode für Top-down-Vorhersagen. Der Neuropsychologe leitet "Das Gehirn das Cognitive Neuroscience Lab am Brain Research Center der Bar-Ilan University im israelischen Ramat empfängt nicht Gan, daneben lehrt er als außerordentlicher Professor der Psychiatrie an der Harvard Medical School. Bar be­ nur Informationen tont den Unterschied zwischen dieser Methode und je­ ner, die normalerweise dem Gehirn zugeschrieben wird: eine Entscheidungsfindung, die dem Rechenweg eines von Sinnesorganen, Computers ähnelt. Statt unsere Welt lediglich anhand ankommender Informationen zu interpretieren, nut­ es sendet ihnen ze das Gehirn Top-down-Vermutungen, die auf rudi­ mentärem Input beruhen. Dies ist Teil eines endlosen auch kontinuierlich Prozesses, angefangen bei Analogien über Assoziatio­ nen bis hin zu Vorhersagen und so weiter. Prognosen." Das Gehirn ist mit dieser Feed-forward-Technik of­ fenbar äußerst erfolgreich. Interessanterweise gibt es

Lars Muckli, nichts sonst auf der Welt, das diese Methode nutzt. KOMPLEXITÄT foto: university of glasgow of university foto: Neuropsychologe an der University of Glasgow Kein Objekt, weder Einrichtungen noch Systeme,

PROGNOSE ANPASSEN MUSTER FÜR NEUE PROGNOSE VERWENDEN

BEKANNTE MUSTER DURCHSUCHEN DENKEN

NEUES JA MUSTER AUSDENKEN BEKANNTES MUSTER KANN ABWEICHUNG HANDELN ERKLÄREN? NEIN 24 Think:Act 23 Brainomics 1.1

die der Mensch baut, imitieren diese eigentümliche →→ Die Vorhersagen würden in Echtzeit mit all den Da­ Funktionsweise. Die Top-down-Kanäle in Unterneh­ ten abgeglichen, die von den Niederlassungen und men dienen nicht dazu, die Ergebnisse von Teams Abteilungen (analog zu den Organen) zur Zentrale oder Mitarbeitern über die nächsten Sekunden oder (analog zum Gehirn) fließen. Die neuen Daten wür­ Minuten vorherzusagen. Wir nutzen sie eher dazu, An­ den in die Wissensbasis einfließen und dazu ver­ weisungen zu übermitteln und/oder Ziele zu setzen. wendet, die nächste Mikroprognose zu stellen. Zudem ist der Zeithorizont sehr viel größer, beispiels­ →→ Jede Abweichung von der Prognose erregt Auf­ weise das nächste Quartal oder Finanzjahr. Die militä­ merksamkeit in der Zentrale und startet eine An­ rischen und bürokratischen Wurzeln des Manage­ passung mit mehreren Eskalationsstufen. Die un­ ments sind in Theorie und Praxis sehr eindeutig, doch teren Stufen bedeuten eine moderate Anpassung keineswegs neurowissenschaftlicher Natur. Man könn­ der Vorhersage oder des Ergebnisses. Auf den hö­ te sagen, sie nutzen kein intelligentes Modell. heren würde das für die Prognose genutzte Muster durch ein anderes bekanntes Muster ersetzt. Nur MAchen wir ein KLEINES GEDANKENExperiment. Wie bei der höchste Stufe würde die Unternehmens­ würde ein Gehirn ein Unternehmen führen, wenn es führung das Problem in Angriff nehmen. dieselben Techniken und Prozesse anwendet, mit de­ →→ Während Führungsposten noch existieren, kom­ nen es den Körper steuert? Es könnte Folgendes tun: men Unternehmen heute meist ohne mittleres Ma­ →→ Mikroprognose ist das wichtigste Management-­ nagement aus: Mitarbeiter müssen nicht mehr mo­ Tool des Gehirns: Was wird auf Grundlage unserer tiviert werden, es braucht niemanden mehr, der Kenntnisse als Nächstes passieren? Und "als die Botschaften der Zentrale für jeden Einzelnen Nächstes" heißt nicht nächsten Monat oder nächs­ in Anweisungen übersetzt. Gesucht werden Leute, tes Quartal. Es bedeutet, was wird am nächsten die schnell eingreifen, um große Abweichungen Tag, in einer Stunde oder einer Minute passieren? und plötzliche Bedrohungen zu bewältigen – ge­ nau wie die Leukozyten oder Stresshormone es tun, wenn das Gehirn sie aktiviert. INFORM VO AT M S IO EN N R E N / S S E DIESES NEUROWISSENSCHAFTLICHE SZENARIO mit seinen S O I N O N N N R KOMPLEXITÄT E E allwissenden und allmächtigen Chefs, die das Tempo S S O INFOR MA R T vorgeben und sich direkt an die Mitarbeiter wenden, PRO IO G GN N

O S A S

E - wenn etwas nicht läuft, erinnert zunächst vielleicht an N

E eine Diktatur. Doch das Gehirn ist nicht der Diktator unseres Körpers. Im Gegenteil! Herz, Augen, Hände – G oder in unserem Experiment die Organe des Unterneh­ E mens – arbeiten, ohne vom Gehirn gestört zu werden. H Nur wenn Organe ihre Probleme nicht allein lösen KÖRPER/ I ORGANE können, schaltet sich die Zentrale ein. Die Beziehung R zwischen bewusst verarbeiteten und empfangenen In­ N formationen zeigt das Maß der Unabhängigkeit, die in einem neurowissenschaftlich geführten Unterneh­

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S men herrschen könnte.

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I R Zu welcher Art von Unternehmen passt dies wohl

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am besten? Der knappe Zeithorizont der Mikroprog­

N nose spricht für komplexe Branchen mit hohem Da­ E N

IO AT ORM ER INF P tenaufkommen, die Logistik etwa. Es könnte sich KÖR VOM auch lohnen darüber nachzudenken, wie ein Unter­ nehmen die Prognosefähigkeit des Gehirns imitieren könnte. Dabei müsste man sich anschauen, welche Selbst kleine Dinge Daten erforderlich sind und wie es auf diese zugreifen brauchen Brainpower kann. Auch wenn es jede Menge Brainpower kosten Wenn Sie ein Magazin durchblättern und sich für einen würde, ein Unternehmen so effizient zu führen wie das Artikel entscheiden, läuft eine komplexe Reihe von Gehirn – es könnte die Rolle des CEO neu definieren Prozessen ab. Dank Ihres Gehirns müssen Sie sich um und aus dem "Chief" einen "Cerebral Executive Officer" die meisten Vorgänge nicht bewusst kümmern. machen. Denken Sie mal darüber nach. ■ Brainomics 1.1 Think:Act 23 25

Wie Sie hochtourig denken und rasant entscheiden

Ein Zuviel an Informationen ­belastet jede Führungskraft. Nicolas Bissantz, deutscher ­Pionier auf dem Gebiet Big Data und CEO von Bissantz & Company, hat riesige Fort- schritte bei der Lösung dieses Problems erzielt – dabei halfen ihm ein Neurowissenschaftler und ein gefeierter Rennfahrer.

Wenn es um Daten geht, schaut Nicolas Bissantz sehr genau hin. Ihm fiel auf, dass Geschäfts­ berichte vor Daten bersten, die ideallinie fest im blick sodass die wirklich wichtigen Der Big-Data-Pionier Nicolas Bissantz (r.) KOMPLEXITÄT Fakten in den Tabellen und Gra­ brachte den Rennfahrer Hans-Joachim fiken untergehen. Er fragte: Wie "Strietzel" Stuck (l.) mit dem Neurowissen- lassen sich relevante Informati- schaftlerG erhardt Roth zusammen. onen auf einen Blick erkennen? Gemeinsam bewiesen sie, dass wir mit Wie lässt sich das Signal aus unserem Gehirn kooperieren können, dem Rauschen herausfiltern? um Ablenkungen abzuwehren und Seine Lösung: Er veränderte die Entscheidungen schneller zu treffen. Art, wie Daten aussehen und wie wir sie betrachten. 130 Ex- perten unterstützten ihn, als er eine Software entwickelte, die rend eines Rennens auf dem eine Menge an Zahlen. Können zum Beispiel stehe für eine große Datenmengen visuali- Nürburgring entwickelt wurde. Sie Ihre Wahrnehmung ändern, entspannte Liquiditätsposition, siert und Führungskräften hilft, Nachdem sie etwa 20.000 um besser zu entscheiden? während Verkaufszahlen, mar- schnell zu entscheiden. Einzelbilder analysiert hatten, ­Dafür seien nur zwei Farben kiert in einem mittleren Rot, ein stellten sie fest, dass ein Renn- notwendig, sagen Bissantz mögliches Problem anzeigen, ) Seine Forschung auf dem wagenfahrer seine Augen trotz und Roth: Blau für steht für das Aufmerksamkeit verlangt. Gebiet der Wahrnehmung ablenkender Eindrücke stets "alles okay" und Rot für "Maß- führte ihn zu Gerhard Roth, auf seine Ideallinie richten kann. nahmen erforderlich". Wie die "Das Wichtigste zuerst", einem der führenden Neuro- "Ablenkung kostet das Gehirn Forschung der beiden ergab, lautet Bissantz’ Motto. "Am wissenschaftler Deutschlands eine Menge", erklärt Roth. Oder beschleunigt es den Prozess Steuer und am Managemen­ t- frank kretschmann

( von der Universität Bremen. um es mit Stucks Worten aus- der Entscheidungsfindung Dashboard gilt: Lassen Sie Gemeinsam untersuchten sie zudrücken: "Auf einer Strecke erheblich, mit maximal zwei sich nicht ablenken. Verlieren die Fähig­keiten des legendären lernt man, alles auszublenden, Farben die Zahlen und Indi- Sie nicht Ihren Fokus und Renn­fahrers Hans-Joachim was einen ausbremsen könnte." katoren zu kennzeichnen. Der ignorieren Sie all die unnötigen "Strietzel" Stuck. Sie setzen Grad der Wichtigkeit deute die Informationen. Die richtige Stuck eine Hightech-Brille Was können Sie davon lernen? Schattierung an: Je dunkler das Software übernimmt dies für : bissantz & company & company : bissantz auf, die für das neurowissen- Als Firmenchef sehen Sie keine Rot oder Blau, desto wichtiger einen Unternehmensführer."

fotos schaftliche Eye-Tracking wäh- Rennstrecke vor sich, sondern sei die Information. Dunkelblau Alexander Ross 26 Think:Act 23 intelligenz im fokus

Als Neurowissenschaftler erforschen Sie das menschliche Gehirn. Meinen Sie, es lässt sich künstlich nachbilden? Je mehr ich über das unglaublich sogar übertreffen. Sollte es gelingen, komplexe Gehirn einer Ratte ein künstliches neuronales Netzwerk herausfinde, desto weniger glaube (KNN) zu entwickeln, das Probleme ich an eine Hardware, die dem eigenständig löst, wäre dies ein riesiger nahekommen könnte. Allerdings sind Schritt für die Entwicklung eines die Rechenleistungen der einzelnen menschenähnlichen Gehirns. Doch zu Gehirnnetzwerke keineswegs meinen Lebzeiten werde ich mich schon Beeinflussen unerreichbar. KI kann sie sicherlich glücklich schätzen, die Entwicklung Gefühle, wie unser ebenso durchführen, wenn nicht einer KI-Maus mitzuerleben. Gehirn funktioniert? Ob sie es tun oder nicht – wir wissen,­ dass Gehirn und Emo­ tionen sich über MENSCH ODER ­Jahrtausende hinweg ­gemeinsam entwickelt haben. Sicherlich gibt es etliche neuronale Berechnungen, die unabhängig von unseren G­ efühlen verlaufen. Zum Beispiel das Lösen von Rechenaufgaben. Doch grundsätz­ lich erfasst das Gehirn tagtäglich unseren emotionalen Zustand, und un­ sere Stimmung kann sich durchaus auf die Art und Weise auswirken, wie wir gerade denken. Womöglich haben sich Emotionen als Erweiterungen von Motivationszuständen wie Angst oder Vergnügen entwickelt. Dies sind die primären Kräfte, die das Verhalten aller lebenden Tiere antreiben.

KOMPLEXITÄT Gibt es Entwicklungen beim Thema KI, die Sie anders über das Gehirn und seine Funktionsweise denken lassen? Mich beeindruckt vor allem die Arbeit zusammenliefen. Der unüberwachte von Olshausen und Field aus dem Lernansatz kann also biologische Kodie- Jahr 1996. Sie haben gezeigt, dass die rungen rekapitulieren. Dies könnte auch Eigenschaften des rezeptiven Feldes bei anderen Verfahren funktionieren in der Sehrinde von unüberwachten und bei höher dimensionierten Reprä­ Lern­algorithmen mit sehr einfachen sentationen. Die einzigen Hürden sind Kodierungs­strategien wiederholt wer­ die Programmierer und die Grenzen der den könnten. Ich dachte da an konver­ heutigen Computer. Meine Forschungs­ gente Evolution – es war ein Moment, arbeit zum Thema Verhaltensplanung in dem das visuelle System und ein und Handlungswahrnehmung wurde Computeralgorithmus zur Kodierung noch nicht berücksichtigt; es wäre natürlicher Szenen auf den gleichen jedoch ein Erfolg, wenn KI diese Hirn- (oder sehr ähnlichen) Prinzipien funktionen imitieren könnte.

Jonathan Whitlock leitet die Whitlock Forschungsgruppe am Kavli Institute for Systems Neuroscience der Yale University, USA. Dort entwirrt er zum Beispiel den neuronalen Schaltkreis, der regelt, wie wir unsere Handlungen planen und das Verhalten der anderen verstehen. intelligenz im fokus Think:Act 23 27

Haben neurowissenschaftliche Erkenntnisse Ihr Denken über das Gehirn und seine Funktionsweise verändert? Wie könnten diese ­Erkenntnisse die Entwicklung von KI vorantreiben? Wenn wir uns mit ethischen Fragen wie es um Zweckmäßigkeit, erfordert un­ dem Trolley-Problem* beschäftigen, ser Urteil eher logisches Denken. Wenn nutzen wir verschiedene Bereiche un­ Roboter künftig ethische Entscheidun­ seres Gehirns. Bei Entscheidungen, die gen treffen sollen, müssen wir gründ­ wir aus Pflichtbewusstsein fällen, wir­ lich erwägen, wie wir diese verschie­ ken in der Regel Emotionen mit. Geht denen Systeme in einer KI anwenden.

Wird künstliche Intelli- genz (KI) eines Tages unser Gehirn nachahmen? Ein Neurowissenschaftler MASCHINE und ein KI-Forscher geben Antworten.

Gibt es Entwicklungen im Feld der künstlichen Intelligenz, die dafür sprechen, dass diese eines KOMPLEXITÄT Tages in der Lage sein wird, grundlegende Merkmale des mensch­lichen Gehirns zu imitieren? Wer KI erforscht, versucht meist, einzige Vorlage zu nutzen – nicht das menschliche Gehirn zu einmal als primäre. Computer imitieren. Damit könnte er über­ ­haben so viele ­Stärken und zeugend beweisen, dass zumin­ Schwächen, dass wir zumindest dest bestimmte Aufgaben lösbar auf einer Ebene­ übermenschli­ wären. Ich zweifle nicht daran, che Intelligenz ­schaffen können, dass es irgendwann klappt. Das selbst wenn wir auf ­anderer Gehirn ist ein physikalisches Ebene hinterherhinken. Die System aus Atomen und folgt Tatsache, dass ­Computer ­andere den Gesetzen der Physik, Stärken und ­Schwächen haben wie jedes materielle Objekt. als wir, spricht dafür, dass Wie wichtig sind Emotionen Ich ermutige Forscher dazu, das Menschen und ­Maschinen in der KI-Forschung? menschliche Gehirn nicht als einander optimal ergänzen. Das hängt davon ab, was Sie unter Emotio­ nen verstehen. Beim Reinforcement-Learning versuchen KI-Systeme, möglichst viele Be­ lohnungen zu sammeln und Bestrafungen zu vermeiden. Eventuell kann dies als primi­ Erik Brynjolfsson tive Emotion gelten. Die Sentiment-­Analyse ist Direktor der Initiative zur Digitalen Ökonomie am nutzen Computer, die natürliche Sprache Massachusetts Institute of Technology (MIT), Professor verarbeiten und Emotionen in Gesichts­ an der MIT Sloan School und Co-Autor des Buchs ausdrücken lesen. Maschinen können so The Second Machine Age. Brynjolfsson erforscht, wie viel effektiver arbeiten, wenn sie die Gefühle IT auf Geschäftsstrategien und digitalen Handel wirkt. : privat; pr : privat; der Menschen verstehen – zum Beispiel fotos in Callcentern, bei Textanalysen, Sprach­

erkennung oder medizinischen Diagnosen. * Gedankenexperiment zu einem moralischen Dilemma: Darf ich eine Straßenbahn umleiten, um den Tod mehrerer Menschen zu vermeiden, wenn durch mein Handeln ebenfalls ein Mensch zu Tode kommt? 28 Think:Act 23 Jenseits der Komplexität

LEICHT

von Detlef Gürtler GELÖST!

SORG FÜR VERWIRRUNG – WIE SCHUBERT

→ nutzen sie ihren vorteil Wenn Ihnen Komplexität zu schaf- fen macht, kann es sein, dass ande- re die Situation als noch schwieriger empfinden als Sie. In Fällen, die Sie besser handhaben können als Ihre Konkurrenz, sollten Sie Ihren Vorteil nutzen. Nehmen Sie sich ein ­Vorbild an dem Fischer aus Franz Schuberts Lied Die Forelle und fügen Sie noch Treibt Komplexität Sie in die Enge? Sitzen Sie fest? ein wenig Komplexität hinzu: Nur keine Panik! Ein paar einfache Strategien helfen "So lang dem Wasser Helle, so dacht’ ich, nicht gebricht, so fängt er die Ihnen dabei, selbst komplizierteste Probleme zu lösen. Forelle mit seiner Angel nicht." Er mischt das Wasser auf, verringert Lassen Sie sich inspirieren – von Helden, historischen die Sichtbarkeit, macht damit die Persönlichkeiten und Zeitgenossen. ­Situation "komplexer" für die F­ orelle – und fängt sie. Das ist vielleicht nicht fair, dafür aber sehr effektiv. 29 KOMPLEXITÄT

VERTRAU DEINEM BAUCH – WIE GIGERENZER

→vertrauen sie ihrer erfahrung Der deutsche Psychologe Gerd Gigerenzer hat beobachtet, dass wir häufig simple Verhaltensweisen nutzen, um komplexe Situationen zu bewältigen: Wenn Sie die Situation nicht überblicken und verstehen, tun Sie einfach das, was Ihnen als Erstes einfällt. Diese Strategie führt zu überwältigend guten Ergebnissen, weil Sie sich auf Ihre Erfahrung und Ihr Unterbewusstsein verlassen. : julie cherki; plainpicture : fotos 30 Think:Act 23 Jenseits der Komplexität

STEIG NACH OBEN – WIE APOLLO

→finde einen neuen blickwinkel Astronauten mögen zu den här- testen Kerlen auf Erden gehören, aber alle an Bord der Apollo waren bewegt, ja überwältigt, als sie die Erde hinter sich ließ und unseren Planeten von oben sahen: ein einzelner zwischen Milliarden von Planeten, klein und verletzlich, und der einzige, den wir haben. Auch wenn Sie nicht planen, demnächst unsere Umlaufbahn zu verlassen, denken Sie daran: Die Vogelperspektive (oder Satellitenperspektive) verändert definitiv den Blick auf die Probleme, die vor Ihnen liegen. Jenseits der Komplexität Think:Act 23 31

BANANISIER ES – WIE GOOGLE

→denk auf lange sicht Es mag abwertend klingen, wenn Softwareentwickler ihr Produkt "Bananenware" nennen: Software, die auf dem Weg vom Produzenten zum Verbraucher heranreift, so wie Bananen auf dem Weg von der Plantage zum Supermarkt. In unserer heutigen Welt ist das kein Fehler, sondern ein Feature: Eine "ständige Betaversion" macht Nutzer zu Mitentwicklern, die stetig Funktionen hinzufügen oder entfernen. Eine der erfolgreichen "Bananen" ist Gmail: Als Google die Betaphase des E-Mail-Dienstes fünf Jahre nach seinem Start im Juli 2009 beendete, besaß der Service bereits 30 Millionen Nutzer. KOMPLEXITÄT : prashil parekh; getty images getty parekh; : prashil fotos 32 KOMPLEXITÄT

TRENN ES DURCH – WIE ALEXANDER

→ such nach der einfachsten antwort Es galt als eines der komplexesten Probleme der Antike: Wie löst man den gordischen Knoten? Wer diese scheinbar unlösbare Aufgabe bewältigte, würde zum Herrscher über ganz Asien werden, so die Legende. Hunderte versuchten ihn zu lösen, aber niemand schaffte es – bis Alexander der Große kam. Der benutzte sein Schwert: So fand er definitiv den kürzesten Weg zur Lösung komplexer Probleme. : plain picture, alvaro sanchez-montanes alvaro : plain picture, fotos JENSEITS DER KOMPLEXITÄT Think:Act 23 33

SPRING DRÜBER – WIE DIE IM SILICON VALLEY

→akzeptiere deine unvollkommenheit Wenn Sie Probleme auf die Art des Silicon Valley lösen wollen, vergessen Sie nicht: Niemand ist perfekt. Auch der Versuch, es zu sein, ist der falsche Ansatz, um Komplexität aufzulösen. Die Inter- net Task Force fasst diese Strategie zusammen als "grobe Übereinstimmung und lau- fender Code". Denn es läuft nie alles wie geplant. Wer zu präzise plant, läuft Gefahr, dass das Pro- jekt scheitert. Was einst als Hürde erschien, kann von der Entwick- lung der Märkte, Technologien und Verbraucher überholt werden. Ein bisschen operative ­Unklarheit hilft, sich dem anzupassen. KOMPLEXITÄT 34 Think:Act 23 Devi Shetty KOMPLEXITÄT Devi Shetty Think:Act 23 35 KONIG DER HERZEN Devi Shetty krempelt das indische Gesundheitswesen um. Seine Krankenhäuser kaufen Produkte en gros ein, haben Kosten reduziert und die Vorgehensweise bei Herzoperationen radikal verändert. Seine Ideen zeigen, wie aus komplexen Eingriffen überschaubare und bezahlbare Aufgaben werden.

von Rohini Mohan fotos von Hari Adivarekar KOMPLEXITÄT

INSPIRIERENDE EINFACHHEIT Seine ehemalige Patientin Mutter Teresa inspiriert Shetty auch weiterhin, einfache Lösungen für komplexe Probleme zu finden. 36 Think:Act 23 Devi Shetty

"Was bringen hochklassig ausgeführte Operationen, wenn mehr als die Hälfte der Patienten sie sich nicht leisten kann?" Devi Shetty

iel entspaNNTER geht es nicht: Leise summt die Anästhesistin in Operations­ saal 1 den Madonna-Song mit, der über V Lautsprecher läuft, während sie die ­Werte eines 50-jährigen Patienten über­ wacht. Wortlos reichen zwei Krankenschwestern ein paar Assistenzärzten Skalpelle und Nahtfäden. Eine Kardiotechnikerin und ihr Assistent beob­ achten die Blutzirkulation auf der Herz-Lungen-­ Maschine. Zwei technische Mitarbeiter zeichnen auf, wie viel Material verwendet wurde. Mit siche­ rer Hand trennt das Team in den folgenden vier Stunden Sahas Hautgewebe auf, öffnet das Brust­ bein und legt das pinkfarbene, schlagende Herz

KOMPLEXITÄT frei. Erst dann kommt der kritische Teil: das "Ab­ decken" einer anomalen rechten Koronararterie: die fehlgeleitete Arterie wird von den linken an die rechten Venen versetzt.

A uftritt DEVI SHETTY, Herzchirurg, Pionier der kos­ tengünstigen Gesundheitsfürsorge und für viele schlicht: ein Messias. Unaufgefordert wechselt die Auf Shetty wartet derweil schon eine der Besu­ Anästhesistin die Musik. Shetty hört am liebsten chergruppen, die den ganzen Tag über hineinströ­ Bollywood-Balladen. Der 64-Jährige trägt blaue men. Regierungsvertreter, Technik-Experten aus OP-Kleidung und -Haube. Fast nie trägt er etwas den USA, Forscher und lokale Lieferanten, medi­ anderes, auch nicht in den Hunderten Porträts, die zinische Partner aus Japan, Afrika, Dubai und in Fernsehen, Zeitungen und Magazinen erschie­ Bangladesch. Die wichtigsten jedoch sind arme Pa­ nen, seit er 2001 im indischen Bengaluru NH grün­ tienten, einige von ihnen sind besorgt, einige ha­ dete, das Narayana-Health-Krankenhaus, in dem ben Fragen, einige sind schlichtweg nur dankbar. er in diesem Moment operiert. Seine Gesichtszüge "Im OP bin ich am glücklichsten, wenn ich ein­ sind entspannt, seine Hände ruhig. Einer der As­ fach nur Herzchirurg bin", sagt Shetty. Trotz des sistenzärzte ist Shettys jüngster Sohn Varun. Er hemdsärmeligen Führungsstils, in dem er 24 Kran­ weist seinen Vater schnell ein. Die Anästhesistin kenhäuser managt, legt er Wert darauf, mindestens liest die Vitalwerte vor, die OP-Schwester reicht einmal am Tag zu operieren, wenn er im Mutter­ ihm ein Skalpell. Still arbeiten sie, während Shet­ krankenhaus NH ist. "Aber was bringen hochklas­ ty hin und wieder einen Witz reißt oder eine erns­ sig ausgeführte Operationen, wenn mehr als die te Frage stellt. Nach einer Stunde hat er seine Auf­ Hälfte der Patienten sie sich nicht leisten kann? In gabe erfolgreich erledigt. Die Assistenzärzte nähen den meisten Ländern tun Ärzte das, was für den Pa­ den Patienten zu: Er muss nicht mehr mit der tienten am besten ist. In Indien müssen wir ein Ge­ Angst vor einem plötzlichen Herzstillstand leben. spür dafür haben, ob ein Behandlungsplan oder Think:Act 23 37

hemdsärmelig Shetty kümmert sich um Patienten und operiert mindestens einmal pro Tag.

herzen heilen Die Kinderkardiologie des Narayana Health ist eine der am stärksten ausgelasteten Kranken- hausstationen der Welt. KOMPLEXITÄT

eine OP die Familie des Patienten in die Armut kostete damals rund 150.000 Indische Rupien oder treibt." Trotz des stabilen Wirtschaftswachstums 7.500 US-Dollar. Shetty wurde bewusst, dass die der vergangenen zwei Jahrzehnte liegt das Versorgungskosten reduziert werden müssten. Da­ Pro-Kopf-Einkommen bei gerade mal 1.500 US-­ mals beobachtete er zudem, wie Mutter Teresa mit Dollar pro Jahr. Und 60% der Behandlungskosten ihrem Orden Armen und Kranken half, obwohl ihr müssen Patienten in der Regel aus eigener Tasche so gut wie keine finanziellen Mittel zur Verfügung zahlen. Inder sind genetisch dreimal anfälliger für 60 standen. Nachdem Shetty Mutter Teresa nach ei­ einen Herzinfarkt als Europäer, dennoch werden aller Gesundheits- nem Herzinfarkt operiert hatte, wurde er während von den zwei Millionen Indern, die eine Herz-OP be­ ausgaben müssen ihrer letzten fünf Lebensjahre ihr persönlicher nötigen, wegen der hohen Kosten tatsächlich weni­ Inder aus eigener Arzt – und ließt sich von ihren einfachen Lösungen ger als 5% operiert. Die Kindersterblichkeit auf dem Tasche, zahlen – für komplexe Probleme inspirieren. "Wahre Ge­ Subkontinent ist dreimal höher als in China und trotz eines durch- sundheitversorgung hat nichts mit Herz-Opera­ siebenmal so hoch wie in den USA. schnittlichen tionen zu tun, sondern mit Herz", sagt er und er­ Jahreseinkommens klärt: "Man muss niemals ein todkrankes Kind von gerade mal Dsssa Ausma des problems wurde Shetty klar, als nach Hause schicken, nur weil seine Mutter sich 1.500 US-Dollar. er in Kolkata arbeitete, wohin er nach seinem Stu­ [die OP] nicht leisten kann. Aber Herz zu zeigen, dium in England 1989 zurückkehrte. Täglich un­ darf nicht Wohltätigkeit bedeuten – das ist nicht tersuchte er mehr als 100 Patienten, aber kaum ei­ skalierbar. Es bedeutet Sparsamkeit, Datenmanage­ ner davon erschien zur OP. Eine Bypass-Operation ment und innovative Verfahren." 38 38

Bekleidunng, Verbrauchsartikel Chefchirurg Patienten + durchorganisierte Viele Operationen =Behandlung günstige 60 30

Operationenwerden von gehen dieChirurgen von sanken dieKosten für einem Operationstisch einer Fließbandproduktion zum nächsten. die Kosten für OP-Bekleidung die Zusammenarbeit mit durch einehauseigene wie inanderen indischen wöchentlich durchgeführt. Krankenhäusern.in Wie Das sinddoppelt so viele Produktion. Standards und Nahtmaterialien undKatheter jedem NH-Chirurgen und andere Materialien. indischen Herstellern senkte

"Medizinische Neuerungen Patient % 44 sie 14Herzen. durch. Im selbenZeit- zwischen 2016und2017 aller NH-Krankenhäuser Herzoperationen proHerzoperationen Tag führten dieChirurgen raum transplantierten

können sichnicht nur auf sondern Geräte beziehen, sondern auch auf Prozesse." Anästhesist 1.016

Anästhesisten. Belegärzte, einschließlich

Assistenzarzt 356 Ärzte beschäftigtNH, angehende Ärzte. hinzu kommen 469 Devi Shetty

Krankenschwestern, Sanitäter

11.316 Verwaltungsmitarbeiter arbeiten für NH. Zusätzliche "care companions" miteinem Krankenschwestern beiRoutineaufgaben – Basistraining inKrankenpflege entlasten die Krankenschwestern, Rettungssanitäter und und sparen soZeit undKosten. Qualitätsindikator: Sterblichkeitsrate 30 Tage nacheiner OP 1,3 50.000 USD rund ein Viertel aller Patienten NH Kosten einer Herzoperation:

einen Nachlass auf dieOP. % wird kostenlos behandelt. Laut Devi Shetty erhält Chirurgische Instrumente und Medikamente USA Ein weiteresEin Viertel 80

Ausgaben fürmedizi- 23,2% der Kosten aus. chirurgischer Instrumente. ein, einschließlicheiniger zentrale Abteilung eine aller Anschaffungen allerkauft Anschaffungen Insgesamt machendie Das senktedieKosten und chirurgische Geräte um biszu40%. material, Medikamente Verbrauchs ­nisches von Krankenhäusern vergleichbar mitder oder zumindest NH führt an,dass seine Quote geringer in denUSA ist. 5.500 USD NH % - ­

quellen: nh annual report 2016-17; devi shetty; hbr paper (govindarajan); knowledge at wharton, jama Devi Shetty Think:Act 23 39

2001 gründete er NH, das anfangs Narayana leister in Indien am meisten abschreckt: Masse. In Hrudayalaya hieß. Es bietet ausgezeichnete Be­ nur 16 Jahren hat sich NH von einem Krankenhaus handlungen in einem kostengünstigen Rahmen. mit 280 Betten zu einer Kette mit 24 Krankenhäu­ Während eine koronare Bypass-Operation in den sern und sieben Herzzentren in 31 indischen Städ­ USA heute rund 106.385 US-Dollar kostet, sind es ten mit insgesamt 5.600 Betten entwickelt. Heute im NH rund 5.500 US-Dollar. Inzwsichen hat NH arbeiten allein am NH in Bengaluru gut 180 Ärzte landesweit expandiert, auf Grundlage klar definier­ aus mehr als 40 Fachrichtungen sowie 238 ange­ ter Prozesse, mit dem obersten Ziel: erschwingli­ hende Ärzte und zwölf Belegärzte. NH untersucht che Gesundheitsfürsorge für alle. Das Modell hat mit einer Klinik auf Rädern Menschen in ländli­ viele beeindruckt. Management-Guru C.K. Praha­ lad chen Gebieten und bringt sie zu Operationen in verwendete als Fallstudie für sein Buch The ­Fortune Krankenhäuser. Es hat in kleinen Städten Herz­ at the Bottom of the Pyramid ebenso wie die ­Harvard zentren eingerichtet, die mit Basisausstattung wie Business School. Nach 15 Geschäftsjahren ging NH Diagnostik­zentren und EKG-Geräten ausgerüstet im Dezember 2015 an die Börse und sammelte sind. Es bietet medizinische Grundversorgung in 952 Millionen US-Dollar ein. Regierungskrankenhäusern. Und es hat mit den Vijay Govindarajan, renommierter Manage­ Regierungen von drei indischen Bundesstaaten mentexperte, Professor an der Tuck School of Busi­ vereinbart, verarmte Patienten zu behandeln, die ness in Hanover, USA, und Erfinder des Konzepts NH kauft stets in über eine staatliche Versicherung verfügen: Die "Reverse Innovation",­ attestiert dem Krankenhaus großen Mengen Bundesstaaten übernehmen dabei den Großteil radikales Handeln, weil es viele etablierte industri­ ein, bevorzugt der Kosten. elle Konzepte in die Gesundheitsfürsorge übertra­ lokal hergestellte Nur Menschen, die operiert werden müssen, Produkte wie dieses gen hat: Standardisierung, Arbeitsteilung, Skalen­ werden ins Krankenhaus in Bengaluru eingewie­ Desinfektionsmittel. effekte oder Fließbandabfertigung. "Da es um sen. "Wir rationalisieren Fixkosten, wie Gehälter, So konnte das Menschen geht, ist Qualität aber genauso wichtig", Krankenhaus seine Ausstattung oder Miete, indem wir sie nur dort er­ sagt Govindarajan, "und NH hat gezeigt, dass es mit Ausgaben senken. zeugen, wo sie am effizientesten eingesetzt werden den renommiertesten Krankenhäusern der Welt können", sagt Viren Shetty, Senior Vice President mithalten kann". Eine Zahl, mit der man diese Qua­ of Strategy and Planning bei NH. "Es ist nicht un­

lität messen kann, ist die Sterblichkeitsrate 30 Tage ser Ziel, überall teure, große Krankenhäuser für KOMPLEXITÄT nach einer Operation. Im NH liegt diese trotz tropi­ 22 verschiedene Fachgebiete zu gründen." Govinda­ scher Luft, Umweltverschmutzung und allgemein rajan nennt dies das "Nabe-Speiche-Modell" – Hun­ seiner Einnahmen schwieriger hygienischer Verhältnisse im Land bei derttausende lokale Einrichtungen (Speichen) be­ wendet NH für 1,3% – und damit niedriger als die durchschnittli­ Gehälter auf. handeln Patienten vor Ort, während NH nur in che Rate von Krankenhäusern in Texas. Krankenhäuser einer Handvoll "Hubs" (Naben) Hightech-Ausrüs­ NH versucht unermüdlich, die Behandlungs­ in westlichen tung und teure erfahrene Spezialisten konzentriert. kosten weiter zu senken, damit es niemals einen Ländern geben im Im Geschäftsjahr 2016 hat NH 14.700 Operationen bedürftigen Patienten abweisen muss. Mehr als Durchschnitt das und 54.000 kardiologische Eingriffe durchführen die Hälfte von ihnen stammt aus wirtschaftlich Dreifache dafür aus. lassen und ist damit einer der bedeutendsten schwachen Verhältnissen. Wegen seines Rufs zieht ­Akteure bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-­ NH aber auch viele wohlhabende Patienten an; Erkrankungen. und es nutzt die Gewinne, die es durch sie erzielt, um einen Teil der Kosten von ärmeren Patienten In BENGALURU ist DER ERFOLG SICHTBAR. In der Kin­ zu übernehmen. Mit einem bemerkenswerten derkardiologie spielt der sechsjährige Chandru ne­ ­Ergebnis: Der Druck, globale Standards bei allen ben seinem Bett. Er stammt aus einem Dorf im Patienten zu erfüllen und gleichzeitig die Kosten Bundesstaat Karnataka. Vor einem Monat erhielt er für die Armen drastisch zu reduzieren, hat dazu einen ASD-Verschluss gelegt (das heißt, ein Loch ­geführt, dass die Gesamkosten reduziert wurden. im Herzen wurde repariert). Heute wird der Draht Und das Geschäftsmodell ist skalierbar, sagt Go­ in seinem Brustbein entfernt. Die Eingriffe hätten vindarajan, weil es dem Gesamtunternehmen er­ 3.500 US-Dollar gekostet, doch außer der Busfahrt möglichte, profitabel zu sein. zum Krankenhaus hat seine Großmutter keinen Cent gezahlt. Die gesetzliche Krankenversicherung D rei FaktOREN halten DIE AUSGABEn niedrig und von Karnataka, die Shetty 2002 mitentwickelte, hat die Qualität auf einem hohen Niveau. Der erste ist die OP-Kosten übernommen, den Draht entfernt genau das, was alle anderen Gesundheitsdienst­ NH kostenlos. Etwas weiter den Flur entlang, 40 Think:Act 23 Devi Shetty

Die Ärzte im NH führen rund 30 OPs pro Woche durch – im Schnitt doppelt so viele wie Ärzte anderer großer indischer Krankenhäuser.

unterschreibt der Investmentbanker Farooq Mustafa aus Dubai die Entlassungspapiere für sei­ ne fünfjährige Tochter Noor, bei der derselbe Ein­ griff wie bei Chandru vorgenommen wurde. Jetzt sitzt sie mit ihrer Mutter in einem exklusiv ausge­ statteten Zimmer und malt bestgelaunt ein Bild für eine hocherfreute Krankenschwester. Mustafa zahlt den vollen Preis. "Mindestens fünf Freunde naben und speichen haben mir NH empfohlen", sagt er. "Und ich habe Wenn möglich, werden Patienten vor gesehen, wie viele Patienten die Ärzte behandelten, Ort (Speichen) diagnostiziert und wie erfahren und motiviert sie sind." behandelt. Nur wenn nötig, ­werden sie an zentralisierte Kranken­ Aufgabenteilung ist der zweite entscheidende haus-Hubs (Naben) überwiesen. Faktor zur Reduzierung der Kosten. NH habe das KOMPLEXITÄT Fließbandsystem in der Gesundheitsbranche ein­ nur das nötigste geführt, sagt Tarun Khanna, Professor an der Har­ Selbst an den Warteräumen wird vard Business School und Co-Autor von Winning in gespart: Dekorationen gibt es nicht. Emerging Markets: "Sie optimieren Systeme, Abläu­ fe und Prozesse und reduzieren so sowohl Kosten als auch Fehler." Eine Operation am offenen Her­ sondern auch auf Prozesse", sagt Shetty, und öffnet zen umfasst sechs Schritte: Patient vorbereiten, die von NH kreierte Testversion der App ­HealthFile. Brustbein spalten, Vene von Arm oder Bein zum Darin gespeichert: EKGs, Röntgenaufzeichnungen Herzen verlegen, Blut zum Transplantat umleiten, und weitere Unterlagen seiner Patienten. "Warum Brustkorb schließen und Patienten vom OP-Saal sollte jemand den langen Weg hierher auf sich neh­ zur Intensivstation bringen. "In den USA und Eu­ men, wenn er die Tests in einer lokalen Praxis ropa übernimmt all diese Schritte der Chirurg", durchführen und mir die Scans schicken kann? Je sagt Govindarajan. "Im NH führt der leitende Chi­ weniger Kunden hierher kommen, die nicht hier­ rurg nur den vierten Schritt durch. So schafft er her kommen müssen, umso mehr Zeit habe ich für mehrere Operationen am Tag." mich und die Patienten." Nur das Gateway, mit dem Die Abläufe beziehen sich nicht nur auf klini­ der Patient den Arzt für Online-Konsultation bezah­ sche Prozedere, sondern auch darauf, wie NH Pati­ len kann, fehlt noch. enten empfängt und überweist, wie es Rechnungen erstellt, Medikamente, chirurgische Instrumente Der Dritte Faktor, DER KOSTEN reduziert ist zum und Geräte kauft, verwendet und entsorgt. Werden einen die gute alte Sparsamkeit. Das Foyer in Ben­ die Richtlinien eingehalten, kann es Patienten galuru ist minimalistisch eingerichtet, Stationen schneller entlassen und verbraucht weniger Mate­ und Wartezimmer sind nicht dekoriert. Und in rial. Zusammen mit amerikanischen Universitäten Räumen, in denen keine medizinischen Geräte ver­ und Softwareentwicklern entwickelt das Kranken­ wendet werden, ersetzt natürliche Belüftung die haus zudem technische Innovationen. "Innovatio­ Klimaanlage. NH überprüft regelmäßig die Kosten, nen können sich nicht nur auf Geräte beziehen, die Ressourcenplanung ist in der Cloud gespei­ Think:Act 23 41

rund 60% ihrer Einnahmen für Gehälter ausgeben, sind es bei NH laut Shetty nur 22%. "Das heißt nicht, dass wir unsere Ärzte und Mitarbeiter schlecht bezahlen. Aber sie arbeiten 12 bis 16 Stun­ den, mehr als die meisten anderen, und sie führen mehr Eingriffe durch." Ärzte im NH führen rund 30 Operationen pro Woche durch – im Schnitt dop­ pelt so viele wie die Ärzte anderer großer indischer Krankenhäuser. Sie werden nicht pro Operation be­ zahlt, sondern erhalten ein festes Gehalt, um ihre Produktivität zu maximieren. Khanna schreibt in der Fallstudie der Harvard Business School zu NH, dass Röntgenaufnahmen des Brustkorbs fast von Anfang an nicht mehr mit Film gemacht wurden, der entwickelt werden müsste, sondern digital, wodurch es wiederkeh­ rende Kosten senkte. "Krankenhäuser in Amerika, ­Singapur, Malaysia und Thailand haben Intensiv­ stationen für einzelne Patienten, die von bis zu drei Oberschwestern betreut werden", stellt Viren ­Shetty fest. "Im NH betreuen erfahrene Kranken­ schwestern dort meist mehrere Patienten. Durch Supervision, Protokolle und Inspektionen vermei­ den wir dabei Fehler." NH kauft viele Geräte nicht, sondern least einige auf Pay-per-Use-Basis und wartet sie gut, um ihre Lebensdauer zu verlängern. So zum Beispiel die Ultraschallgeräte, die zwischen

20.000 und 75.000 US-Dollar kosten. NH scannt da­ KOMPLEXITÄT mit im Durchschnitt 200-mal so viel wie Kranken­ häuser in den USA und 100-mal so viel wie andere indische Krankenhäuser und reduziert so die Stückkosten pro Scan. chert. Auch die Kleinstadt-Praxen haben Zugriff Zugegeben, einige Sparsamkeitsideen erwie­ auf die Echtzeit-Informationen. Chefärzte und Ärz­ sen sich als nicht umsetzbar. So versuchte NH, voll­ te erhalten jeden Tag um 12 Uhr eine E-Mail und ständig auf Inventar zu verzichten: Statt Ver­ eine SMS mit den Einnahmen, Ausgaben und den brauchsmaterialien zu lagern, ließ es sich die geschätzten EBITDA-Margen vom Vortag. Das Materialien just in time liefern. Darunter litt je­ bringt nicht nur alle Mitarbeiter auf den gleichen doch die Qualität. Stattdessen gründete NH eine Stand, sondern hilft Ärzten dabei, bei der Planung zentrale Einkaufsabteilung und standardisierte von Operationen auch Kosten zu berücksichtigen. Einkaufsprozesse. "Innovativ sein heißt auch Fehl­ "Als Ärzte treffen wir unsere Entscheidungen nach Auch Prozesse schläge zu akzeptieren und zu korrigieren", sagt können innovativ medizinischen Parametern", sagt Shalini Rajesh, Viren Shetty. Die zentrale Abteilung kauft 80% al­ sein. NH entwickelt eine Diabetologin, die bereits seit seiner Gründung die App HealthFile, ler Waren, wodurch die Lagerkosten zwischen 15% im NH arbeitet, "doch die SMS ruft uns dazu auf, um alle Unterlagen und 40% gesenkt wurden. eine Balance zu finden zwischen kostenlosen und von Patienten Zurück in seinem Büro zeigt Devi Shetty nach kostenpflichtigen Operationen. Sie erinnert uns an einem Ort zu draußen. Dorthin, wo seine Nachbarn sitzen, die daran, dass jeder einen Beitrag leisten kann." speichern, die Scans Unternehmen der "Electronic City", dem indischen Sparsamkeit sei keine Seltenheit in indischen aus Dörfern in Silicon Valley. "Alle sagen, dass dort Indiens Poten­ Krankenhäuser zu Krankenhäusern, sagt Tarun Khanna, "aber NH hat zial liegt, sagt er: "Aber es liegt hier: im Gesund­ versenden und so mehr Erfahrung darin und vereinfacht Komplexi­ die Betriebskosten heitswesen. Die weltweit besten Neuerungen der tät, indem es neue Dinge ausprobiert." Es setzt bei­ weiter zu senken. Gesundheitsfürsorge werden aus Indien kommen. spielsweise Personal und Geräte wesentlich effizi­ Nicht aus den USA oder Europa. Was ich gestartet enter ein. Während Krankenhäuser im Westen habe, ist nur der Anfang." ■ 42 Think:Act 23 Einfachheit verkauft sich gut

EINFACH EINKAUFEN KOMPLEXITÄT Zu viel Auswahl verwirrt den Verbraucher, sie kann ihm sogar Angst machen. Viele Kunden sehnen sich heute nach überschaubaren Angeboten und fordern sogar von den Marken selbst, ihnen Entscheidungen abzunehmen. Einige Händler haben schon entdeckt, dass sich Einfachheit nicht nur gut verkauft – sie wird in unserer komplexen Welt sogar immer attraktiver.

von Anja Dilk illustrationen von Vanessa Kinoshita Einfachheit verkauft sich gut Think:Act 23 43

Flughafen Miami. Ein Mann mit Anspruch nimmt. Bei solch über­ Dgeie Fol : Konsumenten ändern Aktenkoffer läuft die Rolltreppe wältigender Bandbreite wünscht ihr Verhalten. Die Feldstudie herunter, an der Mietwagen­ sich mancher eine einfache beweist, dass Kunden ungern mit schlange vorbei und liest auf Lösung oder, so der Verhaltens­ Alternativen überladen werden seinem Smartphone die Nach­ ökonom Richard Thaler, eine und eine kleine Auswahl vorzie­ richt: "Fred, Ihr Auto wartet gute, gradlinige Standardent­ hen. Herausgefunden haben das gleich rechts neben dem Aus­ scheidung (siehe Kasten S. 45). die Wirtschaftspsychologen gang." Ein silberner Audi A4 Der amerikanische Psycho­ Sheena Iyengar von der Colum­ glänzt in der Morgensonne. Der loge Barry Schwartz bringt das bia Business School in New York Tank ist voll; Navi, WLAN und Dilemma des Verbrauchers auf und Mark Lepper von der Stan­ Satellitenradio sind bereit. Fred den Punkt: "das Paradox der ford University in Kalifornien. öffnet das Auto mit dem Handy, Wahl". Je größer die Auswahl, Bei sechs verschiedenen Marme­ springt hinein und fährt los. desto größer ist der Druck, die laden kauften 12% der Proban- Klingt einfach? Ist es auch. perfekte Entscheidung zu treffen. den ein Glas, bei 24 verschiede­ Der Autoverleiher Silvercar kon­ Das Ergebnis? Überforderung, nen Sorten nur 2%. Doch nicht zentriert sich aufs Wesentlic­ he, Lähmung, wachsender Frust. allein die Fülle an Produkten in doch das bietet er in cleverer Wer wählen kann, der zweifelt: der globalisierten Wirtschafts­ Hightech -Ausführung – das Auto Hätte ich eine bessere Entschei­ welt belastet die Verbraucher. ist immer ein silberner Audi A4. dung treffen können? Komplexität wächst auch auf Das Mietverfahren wurde deut­ andere Weise. Nehmen Sie die lich gestrafft: kein Warten, kein TV-Fernbedienung – ein Ding, Papierkram, keine verwirrenden unternehmen das eigentlich Zeit sparen soll. Extras. Luke Schneider, CEO von Silvercar Kombiniert mit der Gebrauchs- ­ Silvercar, sieht in dieser Schlicht­ anleitung auf dem Bildschirm heit den Schlüssel zum Erfolg. erfordert sie jedoch fast einen geschäftsmodell "Für unsere Kunden ist Einfach­ branche gegründet Doktortitel. Mietwagen 2012 heit der neue Luxus", sagt er in Mietwagen per Das beste Mittel gegen Kom­

App. Kein Papier­ KOMPLEXITÄT einem stilvoll-puristischen Wer­ plexität ist Vereinfachung. Eine hauptsitz kram, kein Warten bevideo. "Sie mögen es schlicht Studie des Gottlieb Duttweiler Austin, USA und gute Qualität. und simpel. [Unser Angebot] Instituts (GDI) in Zürich fand richtet sich an Menschen, die eigenkapital reichweite heraus, dass die Sehnsucht nach drei Dinge wollen: nur das wirk­ 59,53 Mio. USD 15 Städte Einfachheit wächst. "Im 'Age of lich Nötige kaufen, nur für den Less' wünschen sich die Verbrau­ tatsächlichen Gebrauch zahlen cher einfache Produkte – simple und das alles mobil abwickeln." "Für unsere Kunden ist Handhabung, klare Anwendung, Nach der Gründung im Jahr 2012 Einfachheit der neue Luxus." schlichtes Design", sagt David expandierte das Unternehmen luke schneider, ceo Bosshard, CEO von GDI. "Sie schnell in 15 Städten der USA. wollen klare, orientierende Und nicht nur die Kunden sind Angebote." Manche wollen sogar begeistert: Im April dieses Jahres weniger besitzen und Dinge lie­ verkündete Audi die Übernahme ber mit anderen teilen. Vielleicht von Silvercar. sind die Tage – und die Last – des In einer zunehmend kom­ Eigentums gezählt. plexen Welt wird Einfachheit Ulf -Brün Drechsel, Geschäfts­ immer attraktiver. Die Auswahl führer von BrandMerchand und in Geschäften hat schwindel­ zuvor bei der New Yorker Branding- erregende Ausmaße erreicht, ob Agentur Siegel+Gale tätig, stellt Kunden nun im Supermarkt vor fest: "Wir wissen schon aus der 170 verschiedenen Marmelade­ Hirnforschung, dass einfache sorten stehen oder sich für eine Lösungen zu unseren Grund­ Jeans entscheiden sollen. Im Jahr die auswahl: übersichtlich bedürfnissen gehören." 2017 2017 ist Einkaufen ein Vollzeitjob, Bei Silvercar gibt es nur ein Modell, einen silbernen befragte das Branding-Team von der schon mal ganze Tage in Audi A4 mit Navi, WLAN und Satellitenradio. Siegel+Gale zum siebten 44 Think:Act 23 Einfachheit verkauft sich gut

Mal 14.000 Verbraucher in neun Prinzip heißt "trial and error". Toilettenpapier zum Niedrig­ Ländern zum Thema Einfach­ Marktforschung braucht Aldi preis, braucht er kein zweites heit. Das Ergebnis? Kunden nicht, denn das dezentrale Orga­ Produkt." Für diese Strategie, das bevor­zugen Unternehmen, die nisationsteam diskutiert diese gibt er offen zu, braucht es Mut. sie als geradlinig wahrnehmen Entschlüsse intensiv mit den ein­ Schließlich riskieren Unterneh­ und deren Service- und Waren­ zelnen Filialen. Weg mit all den men, auch Kunden zu verlieren. angebote leicht verständlich überflüssigen, teuren Managern! "Angst aber ist der stärkste sind. Rund 61% hätten lieber Brandes sagt es so: "Wenn das Antrieb für Komplexität", sagt er. unkomplizierte Produkte, 64% Grundprinzip dieses Geschäfts­ "Fragen Sie, was der Kunde will. würden dafür sogar mehr be- modells nach dem Gesetz der Nicht, was Sie ihm zusätzlich zahlen. Das Fazit: "Einfachheit Zellteilung weitergetragen wer­ anbieten können!" verkauft sich gut." den kann, funktioniert es auch in Günter Faltin sieht das einem Weltkonzern." genauso. Er hat vor 30 Jahren die WIE ABER LÄSST SICH EINFACHHEIT Der Grundsatz des kleinen Teekampagne gegründet und in einer komplexen Wirtschaft Angebots gilt bei dem Discounter bietet nur eines: reinen Darjee­ realisieren? Dieter Brandes weiß bis heute. Hauptsache, sagt Bran­ ling. Nicht mehr, nicht weniger. Rat. Er saß beim Discount-Riesen des, "dass der Kunde mit der Dennoch steigen die Gewinne. Aldi im Verwaltungsrat und kleineren Auswahl sehr zufrie­ "Letztendlich wollen [die Kun­ gestaltete dessen Ausrichtung in den ist […]. Gibt es hochwertiges den] höchste Qualität zu einem den 1970er- und 80er-Jahren mit. fairen Preis, und zwar so unkom­ "Wer Übersichtlichkeit will, muss pliziert wie möglich", sagt Faltin. zuerst die Komplexität verste­ unternehmen Verbraucher möchten gut behan­ hen", sagt er. Bei Lebensmitteln Teekampagne delt werden, doch sie müssen muss der Einzelhändler zunächst beim Unternehmen nicht immer die komplexen Prozesse hinter an erster Stelle stehen. Oder, wie geschäftsmodell jedem Artikel und jedem Organi­ branche gegründet Faltin es formuliert: "Für sie sind Tee-Import 1985 sationsbereich durchschauen: Großpackungen, Unternehmen eher beratende

KOMPLEXITÄT keine Zwischen­ Logistik, Vertrieb, Lieferanten. Experten, die ihnen helfen, aus hauptsitz händler und nur "Alle Artikel sind tausendfach dem komplexen Angebot das Potsdam, Deutschland eine Sorte Tee – so miteinander verbunden. Je mehr Wesentliche herauszufiltern." sind Niedrigpreise Produkte das Angebot umfasst, importvolumen kunden möglich. desto enger sind sie miteinander 420 Tonnen 200.000 1985 war Faltin Professor für verzahnt und umso komplexer Entrepreneurship an der Freien sind die Prozesse. Die Lösung ist Universität Berlin und wollte sein einfach: weniger Artikel, weniger "Die Kunden wollen höchste eigenes Unternehmen gründen. Organisation." Qualität zu einem fairen Preis." Wie sollte er seine Studenten Das "Aldi-Prinzip", das Bran­ günter faltin, gründer auch ganz ohne Erfahrung unter­ des in seinem gleichnamigen richten? Eines war ihm klar: Es Buch erklärt, bedeutet konse­ musste ein Produkt sein, das er quente Einschränkung. Die neben seiner akademischen meisten Supermärkte pferchen Arbeit vertreiben konnte. Also 40.000 bis 90.000 Artikel in ihre irgendetwas Einfaches, Über­ Regale, zu Brandes Zeiten führte schaubares – Tee! Er besuchte Aldi nur 600. Und das bringt Plantagen und Auktionen, be­- klare Vorteile. Erstens macht es wertete Vertriebe, Im- und Expor­ den Einkauf billiger. Zweitens teure und sprach mit Logistikern. zwingt es zum Ausgleich: Fügt Schon bald begriff er, dass viele das Aldi-Management dem Sorti­ Zwischenhändler und kleine ment einen neuen Ar­tikel hinzu, Packungen Tee gewöhnlich so muss ein anderer gehen. Jedes teuer machen. Also vergrößerte neue Produkt wird drei Monate nicht mehr, nicht weniger er die Packungen und schüttelte lang in drei Filialen getestet, Teekampagne bietet seinen Kunden hochwertigen die Mittelsmänner ab. "Damit dann fällt die Entscheidung. Das Darjeeling für ein Drittel weniger als die Konkurrenz. spare ich so viel Geld, dass ich Einfachheit verkauft sich gut Think:Act 23 45

den weltbesten Tee ein Drittel Ist wirklich jedes Produkt so ­billiger verkaufen kann als die schmucklos wie möglich und Konkurrenz." Heute ist das dabei voll funktionsfähig? Oku­ Unternehmen der weltweit shita spricht von der "versteck­ größte Darjeeling-Importeur mit ten Intelligenz der Einfachheit". einem Jahresumsatz von rund Einfachheit besticht, lautet das Richard Thaler 10 Millionen Euro. Credo. Weil sie den Menschen, Die Simplicity-Experten der sie im Sinn hat, auf noch Der Verhaltensökonom Chris Brügger und Michael schlichtere, klarere und bessere über die Macht der Hartschen erleben immer wie­ Lösungen bringt. "Genau diese Entscheidung und wie der, wie schwer sich Unter- Einfachheit ist eines der wich­ man sie nutzt. nehmen mit diesem Konzept tigsten Konzepte, mit denen wir tun. "Die alte Maxime 'mehr ist uns von der Konkurrenz abhe­ besser' wirkt immer noch", sagt ben", sagt Okushita. Für seine Eine Ihrer wichtigsten Brügger. Gemeinsam mit Hart­ Kunden ist Muji heute eine Therorien basiert auf der schen und dem Kollegen Jiri Lebenseinstellung. Und ein Weg, "Entscheidungsarchi­tektur". Scherer hat er ein Buch zur Ein­ ihre Sehnsucht nach Klarheit in Was verstehen Sie darunter? fachheit als Geschäftsstrategie einer komplexen Welt auszudrü­ Was bedeutet "verantwor- geschrieben. Es trägt den cken. Einfacher geht’s nicht. tungsvolle Führung mit Entscheidungsarchitektur" schlichten Titel Simplicity. für Manager? "Natürlich ist es riskant, sich gerade dann von Althergebrach­ unternehmen In dem Buch Nudge definieren tem zu verabschieden oder es zu Muji Cass Sunstein und ich den reduzieren, wenn andere diver­ Begriff als das Umfeld, in dem sifizieren." Vor allem, da Menschen eine Entscheidung geschäftsmodell Unternehmen mit breit gefä­ branche gegründet fällen. Es enthält alle Faktoren, Einzelhandel 1980 die den Entschluss beeinflus- chertem Sortiment oft sehr Schlichte Kleidung sen – egal, ob Ökonomen diese

und Wohnacces­ KOMPLEXITÄT erfolgreich sind. Doch Brügger hauptsitz soires mit mini­ Einflüsse bei einer "rationalen" sieht das anders: "Mit Einfach­ Tokio, Japan malem Branding Entscheidung einbeziehen heit als strategischer Grund- und wenig Ver­ würden oder nicht. Ein klassi- haltung kann man Schritt für umsatz gewinn packungsmüll zum sches Beispiel sind sogenannte Schritt herausfinden, was gut für 2,77 Mrd. USD 310 Mio. USD vernünftigen Preis. Standard­entscheidungen. das Unternehmen ist, wo die Kunden sind häufig abgelenkt, eigenen Stärken und die Anfor­ träge und verwirrt. Sie lassen derungen der Kunden liegen." "Einfachheit ist fest verwurzelt sich verblüffend oft zu der Für Keisuke Okushita klingt in der japanischen Kultur." Entscheidung hinreißen, die das nur logisch. "Einfachheit und keisuke okushita, manager man ihnen als Standard­ Transparenz sind fest in der japa­ ­ entscheidung präsentiert. "Verantwortungsvolle Führung" nischen Kultur verwurzelt", sagt umreißt, wie Entscheidungs- der Geschäftsführer der japani­ architekten ihren Einfluss auf schen Lifestyle-Kette Muji in diese Entscheidungen nutzen Deutschland. "Wir finden das sollten. Geben sie, wie wir Konzept clever und zeitgemäß, fordern, einen "gut gemeinten weil es Abfall vermeidet, Kosten Schubser" (engl. nudge) und reduziert und unsere Waren zu helfen sie den Menschen einem attraktiven Preis auf den so, ihre persönlichen­ Ziele zu Markt bringt." Muji verzichtet erreichen? Oder dienen ihre konsequent auf jeglichen Anstöße dem eigenen Vorteil? Schnickschnack. Ob Kosmetik­ Richard Thaler ist (Co-)Autor box, Hemd oder Bleistiftspitzer, von Nudge: Wie man kluge Sinn und Stil aller Muji-Produkte einfacher, klarer, besser Entscheidungen anstößt und offenbaren sich auch ohne Mujis klare Warenpräsentation vermittelt den Misbehaving: The Making of zusätzliches Etikett. Kunden die Werte des Unternehmens. Behavioral Economics. 46 Think:Act 23 Dirk Helbing

KOMPLEXITÄT WIE MAN DAS SYSTEM ENTWIRRt Dirk Helbing Think:Act 23 47

Dirk Helbing, so scheint es, hat auf alles eine Antwort. Der Computerforscher entwickelt weitreichende freigeistige Ideen, um den Komplexitäten zu begegnen, die unseren Lebensstil bedrohen. Seine Vorschläge sind kühn: Weniger Verknüpfungen und Investmentfonds für alle. interview von Detlef Gürtler fotos von Norman Konrad

Wir haben hervorragende Technologien und Zugriff reich. Wenn es eine Steuer für Verknüpfungen auf mehr Daten als je zuvor, aber dennoch scheint gäbe, insbesondere für langfristige, würde man es, als ob wir zunehmend die Kontrolle über unsere sich vorher fragen: Ist diese neuen Verbindung Welt verlieren. Passiert das trotz des technologi- wirklich wichtig? schen Fortschritts? Oder genau deswegen? Oder man lagert den Server mit den Verknüpfungen Das Problem ist nicht die Technologie selbst, son­ in eine Steueroase in der Karibik aus? dern wie wir sie nutzen. Die Rechenleistung der Das klingt für mich nach Science-Fiction. Die Eli­ Computer wächst drastisch, doch die Menge der ten fürchtet sich davor, die Kontrolle zu verlie­ Daten ­wächst noch schneller und die Komplexi­ ren. Es ist also in ihrem Interesse, übermäßige tät der weltweiten Systeme ist endlos. Durch die Komplexität zu korrigieren. Letztlich glaube Globalisierung schaffen wir immer mehr Ver­ ich, dass wir ein neues Kontrollparadigma knüpfungen von allem mit allem innerhalb ei­ Dirk brauchen. nes einzigen Systems. Dies führt zu unendlich Ein riesiges, weltweites Kontroll-Dashboard, vielen Kombinationsmöglichkeiten und so zu ei­ Helbing das von einem deutschen Professor aufgebaut

ner immer komplexer werdenden Situation. und betrieben wird? KOMPLEXITÄT Im Laufe der Geschichte gab es viele Situationen, Dirk Helbing ist Nein, ganz im Gegenteil! Die neuen Paradigmen in denen Komplexität zunahm, oft in rasantem Professor für sollten lokalen Kulturen, lokalen Innovationen Tempo. Meist war die Lösung Technologie. Die Computational und lokaler Zusammenarbeit Freiräume zuge­ Erfindung des Computers war die Antwort auf die Social Science an stehen, statt ihnen standardisierte Lösungen komplexen Probleme seiner Zeit. der ETH Zürich anzubieten, so wie es das aktuelle Globalisie­ Und was ist das komplexe Problem von heute? Es ist und einer der rungsparadigma tut. Wir brauchen Paragdig­ Gründer von das übermäßige Miteinander-Verknüpftsein. men für "Glokalisierung": Global denken, lokal Futur­ICT Know­ Technologie kann Teil der Lösung werden – handeln. ledge Accelerator, Das neue Kontrollparadigma ist also weniger zu wenn wir sie anders benutzen. einem Informations- Es liegt also am Internet? und Kommuni- kontrollieren? Nein, an der Globalisierung. Das heutige Globali­ kationssystem, Bis zu einem gewissen Punkt. Ich erkläre es an­ sierungsmuster hat zu Systemen geführt, die das Innovationen hand eines simplen Beispiels: Ampeln. Ein Sys­ zu stark miteinander verknüpft sind. Das ha­ vorantreiben tem, das weltweit benutzt wird, um Verkehrs­ ben wir vor zehn Jahren in der Finanzkrise er­ und weltweite ströme zu kontrollieren. Um sie optimal zu lebt: Systeme mit vielen Verknüpfungen kön­ Bedrohungen kontrollieren, muss man eine Menge an Para­ nen noch so oft praktisch und profitabel sein, bekämpfen soll. meterkombinationen durchspielen. Es gibt so aber das bedeutet nicht, dass sie auf Nachhal­ viele Möglichkeiten, dass das Optimierungspro­ tigkeit beruhen. Ohne ein nachhaltiges System blem nicht in Echtzeit gelöst werden kann, nicht werden früher oder später Menschen sterben. einmal mithilfe von Supercomputern. Aus die­ Ein Gesetz einzuführen, das die Anzahl an sem Grund vereinfachen Behörden, in diesem erlaubten Verknüpfungen beschränkt, Fall die Verkehrsleitzentrale, das Problem. Bei­ könnte schwer werden … spielsweise, indem sie Rot- und Grünphasen in Eine Steuer auf Verknüpfungen wäre besser. Wei­ einem gewissen Zyklus schalten, auf Basis typi­ tere Verbindungen zu bereits übermäßig ver­ scher Verkehrsdaten, die miteinander synchro­ knüpften Systemen hinzuzufügen, ist risiko­ nisiert werden. Dadurch verhindert man 48 Think:Act 23 Dirk Helbing

die besten Lösungen: die nicht-regelmäßigen. höhere Flexibilität mit besserer Leistung ver­ Bedenken Sie, dass die Schwankungen im Ver­ knüpfen. Beeindruckend, oder? kehrsaufkommen enorm sind. Wie viele Men­ Theoretisch oder auch im echten Leben? schen an einer roten Ampel ankommen oder an Im echten Leben. Der dezentrale Kontrollansatz einer bestimmten Kreuzung rechts abbiegen, übertrifft das klassische Top-down-Prinzip der kann sich von einem Moment zum nächsten Verkehrsleitzentrale. Außerdem sind die Zent­ beträchtlich unterscheiden. Es gibt also keinen ralen anfällig, wenn der Strom oder die Kom­ "typischen" Verkehr – das scheinbar optimale munikation ausfällt. Betriebsweisen, die auf Kontrollmuster wurde also für eine Situation selbstorganisierten Systemen basieren, passen erstellt, die so niemals eintritt. sich an und sind dadurch störungsresistent Aber es ist trotzdem besser, als gar keine Kon­ und nicht von einem einzigen Knotenpunkt trolle zu haben. ­abhängig. Das ist nicht die einzige Alternative. Wir haben Lö­ Das klingt ein bisschen nach dem Prinzip "Die sungen gefunden, mit denen Ampeln flexibel Rückkehr zum menschlichen Maß": Wir brauchen darauf reagieren, wie der Verkehr tatsächlich keine großen Systeme. Wir lösen das Problem fließt. So kontrolliert der Verkehr die Ampeln, Komplexität im kleinen Maßstab, eine Ampel nach nicht andersherum. Das ist eine flexible Reak­ der anderen. So geht es von tion auf tatsächlichen Bedarf. Außerdem haben Das ist keine Frage der Größe – viele dieser Prinzi­ A NACH B : Wenn Ampeln wir einen zweiten Mechanismus entwickelt, um pien sind skalierbar. Das macht sie perfekt für und Ameisen sich Kreuzungen in der Nähe mit einzubeziehen. sehr große und globale Systeme. Nehmen Sie anpassen können, Wenn nahe beieinander stehende Ampeln auf­ beispielsweise einen Ameisenhügel. Dort kön­ um flexibler zu einander abgestimmt werden können, kann nen Hunderttausende von Ameisen leben, es reagieren, können dieses Zusammenspiel selbstorganisiert auf die ist also kein kleines System. Ameisen sind als wir das auch. ganze Stadt ausgeweitet werden. So kann man Spezies genauso erfolgreich wie Menschen (nach Biomasse berechnet). Außerdem sind beide soziale Spezies. Aber Ameisen sind nicht sehr intelligent. Sie agieren auf Basis simpler

KOMPLEXITÄT und dezentraler Prinzipien. Allerdings haben Ameisen Königinnen – so wie Bienen. Aber diese Königinnen erteilen keine Befehle an die Arbeiter, sie legen Eier. Der Arbeitsablauf basiert auf einfachen Interaktionsmechanismen, die durch die Evolution über Millionen Jahre hin­ weg optimiert wurden. Im Prinzip kann man solche Evolutionsprozesse in Supercomputer einspeisen, um sie zu beschleunigen – und ge­ nau das tun wir. Think:Act-Leser regieren keine Ameisenhügel. Sie managen große, hochkomplexe Systeme von globaler Reichweite. Laufen sie also Gefahr, die Kontrolle zu verlieren? Ihnen steht eine noch größere Gefahr bevor: dass "Sie müssen sich trauen, diese Kontrollsysteme nutzlos werden. Wer erst mal eine globale Lieferkette aufgebaut hat, mit neuen Lösungen zu möchte die dann auch gern 30 Jahre nutzen. Doch Informationstechnologie ändert sich viel schneller. Und auch demografische und Um­ experimentieren, selbst weltbedingungen ändern sich. Plötzlich ist es möglich, Dinge viel billiger herzustellen, mit­ wenn diese den Goldesel hilfe von 3D-Druckern, die sogar Tabletten oder ganze Häuser drucken können. Plötzlich gibt ins Wanken bringen." es eine neue Fertigungstechnologien, für die Dirk Helbing Think:Act 23 49

man keine lange, globale Lieferkette braucht. Es tut mir sehr leid, das zu sagen, aber viele die­ ser globalen Systeme werden von Grund auf … … zerstört werden? Sagen wir lieber: "neu erfunden". Denken Sie nur an die Energiebranche, die sich gerade drama­ tisch verändert: von einigen großen, zentralen Kraftwerken zu einem dichten Netz aus unab­ hängigen, winzigen Anbietern. Vor einigen Jah­ ren war die Energieerzeugung wie ein verlässli­ cher Goldesel. Wie dramatisch sich das geändert hat! Es ist enorm wichtig, dass wir anpassbarer, flexibler und belastbarer werden. Dazu braucht man verschiedene Typen von Systemen. Sie müssen sich trauen, mit neuen Lösungen zu ex­ perimentieren, selbst wenn diese den Goldesel ins Wanken bringen. Wenn Sie sich nicht trau­ en, wird es jemand anders geben, der sich traut. Jein. Nein, weil er die Rolle der Ameisenkönigin ein­ Verlassen Sie sich drauf. nehmen würde. Er befiehlt nicht, er legt Eier. Ja, 5-10% Für so etwas braucht man echten Heldenmut. weil er immer noch weit von einem idealen Sys­ der derzeitigen F&E- Mut, das eigene Geschäftsmodell zu zerschlagen, tem entfernt wäre, wo Geld dorthin fließt, wo die Budgets könnten bevor es jemand anderes tut … besten Ideen stecken. In unserem aktuellen Sys­ zusammengelegt Wenigstens sollten Sie vorbereitet sein. Denken Sie tem haben einige Leute Geld und einige Ideen. werden, um ein beispielsweise einmal an Kodak. Kodak hatte Am Ende werden nur ein paar Ideen finanziert, "europäisches sich intensiv mit Digitalkameras beschäftigt während alle anderen untergehen. Medienlabor" zu finanzieren und hielt viele Patente in diesem Bereich. Trotz­ Sie möchten also, dass wir alle die Chance haben, und gängige dem schaffte man es nicht, sich selbst schnell "Eier zu legen"? Denkweisen zu KOMPLEXITÄT genug umzuwandeln, aus Angst, das alte Ge­ Genau. Die Lösung nenne ich eine "Investitions­ hinterfragen. schäftsmodell zu zerstören – und so tat es je­ zulage". Das ähnelt einem Grundeinkommen, mand anderes. Etwas Ähnliches könnte jetzt im das jedermann erhält. Sie dürften das Geld je­ Transportbereich passieren. Außenseiter und doch nicht für sich selbst ausgeben, sondern Newcomer wie Google, Tesla und Uber mischen müssten es jemand anders geben. Jemand mit die Branche auf. Alle Traditionsunternehmen, tollen Ideen oder jemand, der sich in der Gesell­ die von dieser drastischen Änderung bedroht schaft engagiert. Eine Art Crowdfunding für alle werden, sollten Folgendes tun: Nehmt 5–10% oder eine demokratische (Wagnis-)Kapital-­ des F&E-Budgets, legt sie mit Geldern anderer Gesellschaft. Jeder würde versuchen, Investiti­ Unternehmen zusammen und finanziert damit onszulagen zu erhalten, indem er andere von etwas wie ein"europäisches Medienlabor" – ein seinen Ideen überzeugt. Manche Leute würden europäisches Netzwerk digitaler Labors, gelei­ ihre Zulage vielleicht in neue Technologien in­ tet von einer Gruppe visionärer Denker, die den vestieren, andere in Nachbarschaftsprojekte: Mut haben, etablierte Denkweisen und Institu­ Bäume pflanzen, Straßen reparieren, Kindergär­ tionen zu hinterfragen und in die Zukunft hin­ ten oder Kreativräume anbieten. Die Menschen ein zu denken: 10, 20, 30 Jahre voraus – soweit hätten mehr Möglichkeiten, über die Dinge zu sie nur können. Ganz ohne Tabus. Lasst sie ma­ entscheiden, die ihr eigenes Leben betreffen. Es chen, gebt ihnen Freiraum. Lasst sie Spaß ha­ könnte Wettbewerbe von Städten geben, um die ben. Versucht nicht, sie zu beeinflussen. Dann besten Lösungen für Energie-, Umwelt-, Nach­ werden wundervolle Dinge geschehen. Lernen haltigkeits- und Klimaprobleme zu finden. Die­ Sie von ihnen. Seien Sie die Ersten, die Ergeb­ se Maßnahmen würden zu einer wahren Viel­ nisse in neue Produkte, Dienste und Geschäfts­ falt an Innovation führen und unsere Wirtschaft modelle umwandeln. grundlegend verändern. Wir würden alle gegen­ Wäre dieser Thinktank nicht eine weitere große, seitig von unseren Ideen profitieren, alle vonei­ zentrale Organisation von globaler Reichweite – nander lernen. So schaffen wir ein Paradies auf wie die, von denen Sie uns befreien sollen? Erden, soweit das eben möglich ist. 50 Think:Act 23 Essay keep it Einfachheit und das gutgläubige Vertrauen auf tri­ viale Konzepte tatsächlich sind. Die Idee dazu kam mir bei der Lektüre des Online-Artikels How to sim­ plify your presentation without dumbing it down von SimplE, Olivia Mitchell. Es gibt zwei Arten der Einfachheit: Entweder SCHLAUBERGER reduzieren wir komplexe Konstrukte auf das Ni­ veau reiner Dummheit oder wir schälen Geniales heraus. Verdummung ist anziehender als die Ver­ Machen Sie es sich nicht zu leicht. wandlung einfacher Sachlagen in wahres Genie. Einfache Lösungen erfordern viel Arbeit Ausgelöst wird Erstere von Gedanken wie: "Das muss jetzt schnell gehen, der Chef will es so." Ge­ und einen Blick für das große Ganze. niale Einfachheit hingegen entsteht immer aus der harten Arbeit von Menschen, die holistisch denken und handeln. Und davon gibt es nicht so viele. Wie gesagt: Die Aldi-Brüder sind so ein Beispiel, Steve von Gunter Dueck Jobs und auch die Google-Gründer. Ihre Genialität illustrationen von Mark Von Ulrich lässt sich aber nicht mal eben billig kopieren. Selbst wenn so ein Genie in einer Firma säße, wür­ de es wahrscheinlich den ganzen Tag mit Meetings verbringen, in denen alle fieberhaft nach einfachen Auswegen suchen. Die Sitzungskollegen sind zwar keine Idioten, sie möchten nur die Komplexität ih­ nsere Welt wird scheinbar immer rer eigenen kleinen Welt vereinfachen und haben komplexer. Und wer hat Schuld? Natür­ das große Ganze nicht im Blick. Sie vereinfachen lich die Digitalisierung, die Kontroll­ komplexe Realitäten schlicht auf das, was für sie freaks und besessenen Managern Tür hier und jetzt möglichst überschaubar ist.

KOMPLEXITÄT U und Tor geöffnet hat. Oder doch nicht? Daraus entsteht bestenfalls fahrlässige oder Halten Sie einmal inne und verlassen Sie Ihre Kom­ eben dumme Einfachheit. Ein Beispiel: "Wir brau­ fortzone. Komplexität kann auch als mangelnder chen mehr IT-Experten! Wir haben zu viele Leute Überblick über das System interpretiert werden. An im Vertrieb. Prima, die schulen wir schnell um." Un­ das wirkliche Problem oder die Ursachen kommt ter Zeitdruck macht diese "Lieber irgendetwas als niemand heran und so wird eben auch keine Lö­ sung gefunden. Stattdessen heißt es: Bloß nichts überdenken, sondern die Lage vereinfachen. Und sieht gut aus ­ zwar schnell. Diese Vorstellung von der Einfachheit Es braucht Genie ist aber nicht immer clever. Wir suchen nämlich und jahrelange Übung, gar nicht nach einfachen Lösungen, sondern wen­ damit Einfachheit den uns an Experten, mathematische Modelle und mühelos wirkt. Big Data, die wir selbst kaum verstehen. Vielleicht helfen ja auch künstliche Intelligenz, Psychologie

oder die Natur und Evolution? Alles, nur uns selbst KOMPLEXITÄT fragen wir nicht. Ersatzweise lassen wir uns von Menschen blenden, die uns in langen Präsentatio­ FAHRLÄSSIG nen "konkrete und einfache" Lösungen vorstellen. EINFACH Gibt es eine Zauberformel? In all den Jahr­ zehnten großen Unsinns präsentiert uns die Ge­ schichte sporadisch einfache und zugleich super­ erfolgreiche Beispiele. Unternehmen wie Aldi (Logistik), Apple (Ästhetik) oder Google (Kunden­ EINFACH nutzen) sind auf ihre Weise alle einfache Erfolgs­ DUMM- modelle. Im Folgenden möchte ich jedoch dar­ stellen, welch Drama die naive Hoffnung auf Essay Think:Act 23 51

nichts tun"-Philosophie aus den Mitarbeitern litischen Einfluss und Macht, legen persönliche In­ ­Narren. Fast jede Führungskraft kennt das KISS-­ teressen und gegenseitige Abneigungen an den Tag Prinzip: "Keep it simple, stupid". Dabei sollte das und kommen erst nach langem Ringen zu einer letzte "S" eigentlich für etwas ganz anderes stehen, Patchwork-Lösung. Am Rande des Zusammen­ nämlich "Keep it simple, Schlauberger". bruchs und mit Dreitagebart verkünden wir dann Wir lassen uns von der Weisheit der Natur fas­ heroisch einen schmerzlichen Kompromiss, mit zinieren, von der Funktionsweise des Gehirns, dem jeder ab sofort leben muss. Alles, was wir über dem harmonischen Zusammenspiel eines Orches­ die Schönheit der Natur, gemeinschaftliches Han­ ters, Olympiasiegern und anderen Helden der deln und vieles mehr gesagt, gehört und verstanden Menschheitsgeschichte. Immer geht es um Intelli­ haben, fällt dieser Schwarmdummheit zum Opfer. genz oder Genie, nie um ein gefertigtes Produkt. Gunter Es ist schlicht nicht möglich, viele verschiede­ Hinter diesem scheinbar so mühelos erreichten Dueck ne Ansichten zu genialer Einfachheit zu verdichten. "Geniestreich", diesem "guten Design" verbergen Eine Person kann allein denken und handeln. "Ge­ sich Übung und Lernen, immer wieder, über Jahre meinsam denken und handeln" aber führt unwei­ hinweg. Am Arbeitsplatz aber streben wir diese ge­ Gunter Dueck ist gerlich in die Tragödie. Eine meiner Lieblingskari­ Mathematiker, war niale Einfachheit nicht an, sondern bekämpfen katuren zeigt eine Gruppe älterer Männer im Chief Technology uns genau in jenen Meetings, die zur Einfachheit Anzug an einem Konferenztisch. Der Text darunter Officer von IBM beitragen könnten. Deutschland und lautet: "Leicht amüsiert und resigniert setzen sie Das Ergebnis? Eine fürchterliche Kombination ist als Redner und Dinge um, von denen sie jetzt schon wissen, dass aus verschiedenen einfachen Ideen, die dann als Autor für seine sie scheitern werden." Kompromisse und "das Beste aus zwei Welten" ver­ unkonventionelle Geht es auch anders? Vereinfachen ohne zu packt werden. Für mich ist dies "schwarmdumm". Management- verdummen? Einfach und intelligent? Aber wie? In Besprechungen kämpfen wir um Territorien, po­ Philosophie Sie dürfen eben nicht nur geniale Einfachheit bekannt. Zu seinen entwickeln, sondern müssen zugleich den üblen Bestsellern ge- Folgen der Schwarmdummheit entgegenwirken. In hört die Trilogie festgefahrenen Großunternehmen mit Führungs­ Omnisophie – kräften, die sich gegenüber Ideen, Innovationen Supramanie – oder Kundenbeschwerden immun zeigen, ist das KOMPLEXITÄT Topothesie. fast unmöglich. Und dann sind da noch jene Mitar­ beiter, die sich fast am Tisch verbeißen, um die hei­ ligen Prozesse ihrer Abteilung und ihre ureigenen Interessen zu schützen. Ein echter Austausch, ein HDAC RC HT produktives Gespräch ist kaum möglich – schließ­ U D lich zählt nur das Ergebnis. Da kann ich nur seuf­ D UN zen: "Der Prozess ist der Tod der Innovation." PERFEKT, C ER ABER LEV In großen Unternehmen geht geniale Einfach­ HOCHKOMPLEX heit meist unter. Eine Einzelperson, ein Start-up kann sie umsetzen und bis zum Ziel verfolgen. Bei Großunternehmen ist das anders – und manchmal hilft da nur ein neuer, genialer Chef, der ab und zu Geniale Einfachheit dazwischenfunkt, um die Sache zu retten. ■ entfaltet sich aus der harten Arbeit dpa

/ von Menschen, die holistisch denken GENIAL und handeln. EINFACH : picture alliance foto ELEGANTE LÖSUNG 52 Think:Act 23

AUS WATTENMEER WIRD HIGHTECH-STADT 1 → songdo, südkorea Unweit des Inter- meisten­ Gebäude abfall direkt zu nationalen Flug- sind LEED-zertifi- einer Anlage, die hafens Incheon in ziert (­Leadership ihn trennt und Südkorea entsteht in Energy and recycelt. Sensoren der Songdo Inter- Environmental überwachen den national Business Design); 40% der Verkehr, schalten District. Er steckt Fläche bestehen die Ampeln, um voll modernster aus Grünanlagen. Stau zu ­vermeiden, Technik und nach- Ein Rohr­system und regulieren haltiger Erfindun- transportiert das öffentliche gen. Die Haushalts­ Verkehrs­system.

VERNETZTES LEBEN

SMARTES WOHNEN Smart Citys Think:Act 23 53

Wie smart kann eine City sein? Wie fühlt es sich an, in einer Smart City zu leben, die am Reißbrett konstruiert wurde? Wir werfen einen Blick in das Leben von Chantal F. im südkoreanischen Songdo – und reisen dann um die halbe Welt, um zu sehen, wie schlau das alte Wien die neue Technik nutzt. DIGITALE INNOVATION von Janet Anderson fotos von Jun Michael Park

er Bildschirm in Ihrer Wohnung verrät Chantal F., dass der Tag bewölkt sein wird, der Verkehr in der Stadt ruhig fließt, die Umweltbelastung gering ist, der Fahrstuhl funktioniert und dass der Energiever­ brauch der Familie normal ist. Bei Bedarf verbindet Der sie direkt mit dem Hausmeister, dem ärztlichen Dienst vor Ort oder den Behörden. Sie kann Kochrezepte nachschlagen oder ei­ ner Sportgruppe beitreten – und das alles in ihrem Wohnzimmer. ject Chantal wohnt im Songdo International Business District (IBD) in Südkorea, einer Stadt, die in wenigen Jahren aus dem Nichts entstand und heute zu den intelligentesten Städten der Welt the noun pro

/ zählt. Jedes Haus, jede Wohnung ist mit einer Telepräsenz-­

Einheit ausgerüstet, so heißen diese Bildschirme. Sie sollen das Bildungs- und Gesundheitswesen revolutionieren und den Be­ wohnern Behördendienste in den eigenen vier Wänden anbieten. In Songdo ist fast jeder Lebensbereich digital vernetzt (siehe Kasten S. 52). Derzeit leben etwa 36.000 Menschen in der Planstadt. icon: chameleon design chameleon icon: Ihr Entwickler, die Firma Gale International, betrachtet sie 54 Think:Act 23 Smart Citys

LEBENSHALTUNGSKOSTEN REDUZIEREN 2 → smartes wohnen Über die Homenet­ - Das System über- verfolgt, entwickelt Automatisierungs- wacht den Energie­ mehr Umweltbe- anlage steuern alle verbrauch und wusstsein, ändert Bewohner Songdos vergleicht ihn mit sein Verhalten und die Beleuchtung, anderen Haushal- senkt schließlich Klimaanlage und ten im Stromnetz. Energieverbrauch Belüftung in ihren Wer seinen eigenen und Lebens- Wohnungen. Verbrauch­ nach- haltungskosten.

als "das Modell für Städte der nächsten Generation". Chantal kam vor zwei Jahren aus Deutschland hierher. Die Familie be­ zog eine Wohnung in einem glasverkleideten Gebäude mit 47 Stockwerken. Auf der einen Seite überblicken sie die Stadt mit ihren Grünflächen, auf der anderen sehen sie unbebau­ tes Land, wo bald die Bauarbeiten beginnen. "Songdo verän­ ten Schritt, den Ansatz zu implementieren", erklärt Thilo Zelt, dert sich rasant, selbst in der kurzen Zeit", sagt sie. "Ich war Partner bei Roland Berger und Verfasser von Smart City, Smart an das alte Europa gewöhnt und musste mich anpassen an Strategy. In dieser Studie über intelligente Städte auf der gan­ das Leben an einem so neuen Ort. In weniger als elf Jahren ist zen Welt steht Wien an erster Stelle. eine ganze funktionierende Stadt entstanden." Bildschirme spielen eine wichtige Rolle im Leben der Be­ VIELE DER GETESTETEN SMART-CITY-INSTRUMENTE sollen die üb­ wohner. Sie sind in den Häusern und Wohnungen, draußen lichen Probleme lösen: Stau, Luftverschmutzung, Verbrechen, auf der Straße, an Gebäuden und natürlich in den Smart­ hohe Lebenshaltungskosten. Allerdings stehen Städte heute phones. "Hilfe ist immer nur einen Knopfdruck entfernt", auch vor neuen Herausforderungen. Mehr als die Hälfte der sagt Chantal. "Allein fühlt man sich nie, es gibt immer jeman­ Weltbevölkerung lebt bereits in Ballungsgebieten, die Zahl den, mit dem man sprechen kann." Im U-Life Center – dem wird bis zum Jahr 2050 auf 70% steigen. Nervenzentrum der Stadt – laufen auf einer Bildschirmwand "Um die heutigen Herausforderungen zu meistern, müs­ die Echtzeit-Aufnahmen der Überwachungskameras zusam­ sen Städte effizienter mit Ressourcen umgehen, sie müssen men, die überall in Songdo stehen und alles filmen, vom Stra­ anpassungs- und widerstandsfähiger werden. Intelligente Lö­ ßenverkehr bis hin zu Verbrechen. "Geht ein Kind verloren, sungen können sie effizienter machen", sagt Léan Doody, vergeht wenig Zeit, bis es gefunden wird", sagt Chantal. Smart Cities Lead bei dem Ingenieurbüro Arup mit Hauptsitz Städte auf der ganzen Welt führen intelligente Instrumen­ in London. Die Globalisierung übt weiteren Druck aus; Städ­ te wie diese ein. "Wir sprechen schon lange über Smart Citys. te stehen im Wettbewerb um Talente und Investitionen. "Auch Jetzt können wir beobachten, wie das Smart-City-Konzept all­ hier kann Technologie eine Rolle spielen", sagt Doody. "Bei der mählich Realität wird. Städte unternehmen endlich den ers­ wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung und ­da bei, den Städten zu helfen, sich von anderen zu unterscheiden." Zum Beispiel Barcelona. Die Stadt beschloss, sich zur "Durch Daten erfahren wir Plattform für Unternehmen zu entwickeln, um urbane Tech­ nologien zu erforschen. Worldsensing etwa hat dort seinen Sitz. Das Hightech-Unternehmen nutzte als Erstes das Inter­ mehr über unsere Umwelt net der Dinge, um ein Parkplatzmanagement zu entwickeln und die Verkehrsüberwachung zu organisieren. In Rio de Ja­ und die Konsequenzen neiro ist ein kommunales Warnsystem Teil der smarten Stra­ tegie. Das neue Rio Operations Center überwacht die Lage in unseres Handelns." der Stadt in Echtzeit. So können die Behörden effizienter auf Naturkatastrophen reagieren und Kriminalitätsraten senken.

Carlo Ratti, Leiter des MIT Senseable City Lab All das macht Rio attraktiver für Touristen und Investoren. the noun project for all / maxim basinski schmitzer, pictohaven, ralf icons: Smart Citys Think:Act 23 55

STADT "Jede Stadt interpretiert das Smart-City-Konzept auf ihre OHNE STRESS Weise, die Ansätze unterscheiden sich erheblich", sagt Zelt. → vernetztes leben ­"Einige interpretieren es als nachhaltige Entwicklung, andere 3 Kosten­loses WLAN Vernetzt sind auch definieren es enger, als intelligente Lösung für Energie und in der gesamten Maschinen. Kühl- Mobilität. Es ist wichtig, das Konzept als umfassende Strategie Stadt vernetzt die schränke kommu- zu sehen – nicht nur als isolierte digitale Lösung." Bürger Songdos un- nizieren mit Super- Carlo Ratti leitet das MIT Senseable City Lab in Boston, unterbrochen – ganz märkten und sorgen USA, und hat das Büro für Design und Innovation Carlo Ratti gleich, ob sie ein- dafür, dass der Ein- Associati in Turin, Italien, gegründet. In seinen Augen bringt kaufen oder sich mit kauf innerhalb von es viele Vorteile, die erfassten Echtzeit-Daten einer Stadt zu nut­ anderen an öffent- Stunden bis vor die zen: "Durch Daten erfahren wir mehr über unsere Umwelt und lichen Orten treffen. Tür geliefert wird. über die Konsequenzen unseres Handelns." In Seattle führte sein Team ein Projekt namens Trash Track durch, bei dem es einzelne Gegenstände des Haushaltsmülls markierte und ih­ ren Weg durch das Sanitärsystem verfolgte. "Wir sahen, dass das Teilen von Informationen – einfach indem man etwas zeigt – Verhalten verändern kann", so Ratti. "Die Leute, die am Projekt teilnahmen, konnten den Weg ihres Mülls nachverfol­ gen. Am Ende kauften einige von ihnen umweltbewusster ein." Nicht jede Stadt genießt den Vorteil, bei Null anzufangen. Deshalb geht es meist darum, wie sich neue Technologie in die bestehende Infrastruktur integrieren lässt. Laut Doody erfor­ dert dies eine gute Führung auf politischer und behördlicher Ebene. "Viele haben noch nicht richtig verstanden, wie das geht. Im Gegensatz zu Raumplanung, die wir seit über 100 Jah­ ren betreiben, hat sich hier noch kein Verfahren etabliert, wir stehen noch am Anfang dieser Entwicklung." Eines ist jedoch sicher: Alle Beteiligten müssen an einem Strang ziehen und scheidend für den Erfolg ist die Zusammenarbeit mit den Bür­ ihren Beitrag leisten, um eine Strategie für eine Smart City zu gern. Wien zum Beispiel hat seine Einwohner von Anfang an entwickeln und erfolgreich zu implementieren. "Bürger einbe­ einbezogen und kann so auf deren politische Unterstützung ziehen, mit den Interessengruppen sprechen, ­öffentlich-private­ zählen, wenn es darum geht, tief greifende Veränderungen Partnerschaften gründen, all das ist wichtig", sagt Zelt. "Der durchzusetzen. (Siehe Interview S. 56) größte Fehler, den Stadtverwaltungen machen können, ist, das Was passiert, wenn Städte diesen Rat ignorieren, verdeut­ Projekt allein stemmen zu wollen. Sie sollten vor allem die lo­ licht Chantals Beispiel: "Anfangs fanden wir den Bildschirm kale Industrie von Anfang an ins Boot holen." Genauso ent­ ganz unterhaltsam, doch alles ist auf Koreanisch, und wir wussten oft nicht, was wir taten. Um vier Uhr morgens gingen alle Lichter an." Die Familie verabschiedete sich nach und nach von der Technik, die sie nicht braucht. "Einiges ist INNOVATIVER ganz praktisch, doch wir möchten uns nicht abhängig von der Technik fühlen." Den intel­ UND ATTRAKTIVER ligenten Kühlschrank verschmäht sie, weil sie → digitale innovation 4 lieber selbst einkaufen geht. Ciscos Global Center of und Start-up-Unternehmen Ein noch größeres Problem für Chantal ist Excellence treibt die Digi- zusammen, um gemeinsam die Präsenz der vielen Bildschirme. "Dass sich talisierung voran. Es bringt Lösungen für jeden Bereich der Monitor in der Wohnung nicht ausschal­ Partner, Kunden, Regierung des Lebens zu entwickeln. ten lässt, finde ich unangenehm. Durch die ­vielen Kameras fühle ich mich ständig über­ wacht." Doch sie sieht auch eine positive Seite: "Man kann seine Handtasche auf einer Bank liegen lassen, sich Kaffee holen, und wenn man zurückkommt, ist sie immer noch da. Ich denke, wenn Technik genutzt wird, um die Stadt besser zu machen, ist sie ein Gewinn." ■ 56 Think:Act 23 Smart Citys

"Jede Stadt definiert Smart City anders."

Was war Ihre Vision, als Sie 2011 den Startschuss Eine gewachsene Metropole für das Projekt "Smart City Wien" gaben? intelligent zu machen birgt eine Noch bevor es den Begriff "Smart City" überhaupt Michael Menge Probleme, doch Wien gab, hatten wir viel erreicht in der städtischen Häupl Entwicklung, im Wohnungs- und Häuserbau, in nimmt die Herausforderung an. im Verkehrssystem und Umweltschutz, in der Bürgermeister Michael Häupl Seit 1994 ist er Versorgung und Entsorgung. Das war unser Aus­ Wiener Bürger- gangspunkt. Doch wir mussten in vielen Berei­ erklärt, wie die österreichische meister, schon chen noch besser und ambitionierter werden. seit den 1980er-­ Außerdem mussten wir flexibel vorgehen, ohne da­ Hauptstadt Akteure aus allen Jahren engagiert bei ­unser Ziel aus den Augen zu verlieren. "Smart Bereichen vereint – mit dem er sich in der City Wien" ist eine langfristige Dachstrategie für Stadtpolitik. 2050. In unserer Vision wird Wien die Ressour­ ganzheitlichen Ansatz "Smart Häupl studierte cen, die die Stadt verbraucht, drastisch reduzie­ Biologie und ren, den sozialen Zusammenhalt fördern und City Wien". Das Ziel? Durch Zoologie an der weiterhin eine hohe Lebensqualität bieten. Universität Wien nachhaltige und innovative Wie hat der Wandel zur intelligenten Stadt das und arbeitete Leben der Wiener Bürger verändert? Ideen die Lebensqualität für als Forschungs­ alle Bürger zu verbessern. stipendiat Die Wiener können darauf zählen, dass die Stadt­ im Naturhistori- verwaltung sich auf soziale Aspekte konzentriert schen Museum und die Bevölkerung einbezieht. Wir arbeiten der Stadt. zusammen mit allen Interessengruppen, um die interview von Janet Anderson ausgezeichnete Lebensqualität für alle aufrecht­ Smart Citys Think:Act 23 57

zuerhalten – niemand wird zurückgelassen. Wir ­senden, ohne sich registrieren zu müssen. Die wollen eine sanfte, aber effektive Umstellung App wurde durch einen offenen Online- und auf erneuerbare Energien fördern, den öffentli­ ­Offline-Prozess mit der Bevölkerung entwickelt. chen Nahverkehr verbessern und ausreichend Städte produzieren riesige Datenmengen. Wer Grün fläc­ hen in der Stadt erhalten, damit sich intelligente Anwendungen entwickelt, erfasst und jeder, der hier lebt, weiterhin wohlfühlt. nutzt diese Informationen. Wie gehen Sie mit Sie mussten smarte Technik in die bestehende Bedenken zum Thema Datenschutz um? Infrastruktur integrieren. Wo lagen da die Der spielt bei all unseren Projekten eine wichtige größten Herausforderungen? Und wie haben Sie SMARTES Rolle. Datenschutz und -sicherheit gewinnen in diese gemeistert? unserer Informationsgesellschaft immer mehr

Wir leben im Zeitalter der vierten industriellen Re­ WIEN an Bedeutung, insbesondere für die Verwal­ → auf einen volution. Fast täglich werden neue Innovatio­ blick tung und das öffentliche Vertrauen in unsere nen eingeführt, um das Leben in der Stadt zu "Smart City Dienste. Jeder Mensch hat das Recht, seine per­ vereinfachen. Wien besitzt eine höchst zuver­ Wien" umfasst sönlichen Daten geheim zu halten. Darüber lässige ­Infrastruktur, doch wir wollen sie ver­ viele verschie- ­hinaus dürfen Daten ohne ausreichende bessern. Dabei müssen wir sicherstellen, dass dene Initia­tiven. Rechtsgrundlage nicht erhoben oder an Dritte wir ihre heutige Qualität erhalten und zugleich Zum Beispiel weitergegeben werden. Wir nehmen dieses mit der Zeit gehen und die bestmögliche Le­ das ­Projekt Bür- Thema sehr ernst bei der Entwicklung all bensqualität für die Zukunft ermöglichen. Da­ gerInnen Kraft- unserer Dienste und Projekte, wenn wir neue rin steckt natürlich ein enormer Aufwand. werke: Der kom- Möglichkeiten und Technologien einsetzen. Wie wichtig ist es, beim Einrichten intelligenter munale Energie- Welchen Rat geben Sie einer Stadt, die einen Services mit Partnern aus dem privaten Sektor versorger Wien ähnlichen Wandel anstrebt? Energie betreibt zusammenzuarbeiten? Wie sollten diese Bezie- Jede Stadt definiert den Begriff "Smart City" anders die Solarkraft- hungen gepflegt werden? und setzt ihre eigenen Prioritäten, wenn sie Pro­ werke, Einwoh- Eine enge Kooperation ist entscheidend für den ner können in bleme löst. Die Diversität und Einzigartigkeit ­Erfolg des "Smart City Wien"-Projekts. Gemein­ die grüne Ener- ­einer Stadt sind große Vorteile, sie können zu sam planen wir noch ambitionierter und inspi­ gie investieren. sehr verschiedenen Ansätzen führen. Wer Erfolg ject rierter. Die Rahmenstrategie läuft bis zum Jahr Oder Aspern mit seiner Strategie haben möchte, sollte mei­ 2050, denn die Veränderungen im Energie-, Seestadt: Am ner Meinung nach alle Interessengruppen ein­ Mobilitäts- und Gebäudesektor lassen sich Rande Wiens­ binden und eng zusammenarbeiten. Dies mag wächst ein neu- the noun pro nicht über Nacht umsetzen. Wir achten sehr anfangs mehr Aufwand und Zeit kosten, doch /

­bewusst darauf, mit Wiener ­Unternehmen und er Stadtteil mit später bei der Umsetzung zahlt es sich aus. ■ Firmen zusammenzuarbeiten, aber auch mit Wohnhäusern, Büros und Geschäftspartnern, Forschungseinrichtungen, Geschäften. Er der Wissenschaft und anderen Disziplinen. Wir verbindet intel- folgen einer umfassenden Strategie unter dem ligentes Design on: chameleon design on: chameleon Motto: "smarte Lösungen für komplizierte Pro­ mit Nachhaltig- bleme finden". keit und ermu- Wie haben Sie die Bürger bei der Auswahl und tigt Entwickler, Entwicklung smarter Angebote einbezogen? Architekten und hans ringhofer; ic

Eine intelligente Stadt gibt ihren Bewohnern die Ingenieure, /

Möglichkeit, an Planungen und Verbesserungen neue Wege zu mitzuwirken. Dies kann natürlich nicht für alle beschreiten. alliance Projekte gelten; deshalb bemühen wir uns, bei Planungen sämtliche Interessen zu berücksich­ tigen. Unser Hauptaugenmerk liegt ­darauf, nie­ manden zu vergessen. Es besteht das Risiko, ian ehm; picture

/ ­benachteiligte Gruppen aus den Prozessen aus­ pid

/ zuschließen. Um das zu verhindern, bieten wir eine Online- und eine Offline-Beteiligung an. Über die neue App "Sag’s Wien" zum Beispiel können Bürger Beschwerden oder Anfragen fotos: stadt wien stadt fotos: schnell und einfach an die Stadtverwaltung 58 Think:Act 23 Chris Anderson

die zukunft ist schon da Chris Anderson ist überzeugt: Mit den richtigen L euten nehmen gute Ideen ganz von allein Gestalt an. Chris Anderson Think:Act 23 59

Voll im Trend: Im Gespräch mit einem Maker

Chris Anderson hat nicht nur ein Gespür für neue Trends, er kann sie auch umsetzen. Schließlich erklärte er als Redakteur des US-Magazins Wired 12 Jahre lang seinen Lesern, wie neue Technologien funktionieren. In diesem Interview erläutert der Autor von The Long Tail und Makers, welche Gedanken ihn zur jüngsten Unternehmung führten: Drohnen für alle.

interview: Ben Knight : pr 3d robotics foto 60 Think:Act 23 Chris Anderson

ournalist, Unternehmer, Visionär. Nach einem Abstecher bei The Economist folgten ein Posten als Chefredakteur des bahnbre­ chenden Magazins Wired sowie drei rich­ tungsweisende Bücher, darunter The Long JTail: Nischenprodukte statt Massenmarkt, in dem Chris Anderson zeigte, welche Geschäftsmodelle im Internet funktionieren. Heute gestaltet er die Tech­ nologie der Zukunft mit: Als CEO von 3D Robotics (3DR) ist sein Thema die kommerzielle Nutzung von Drohnen. Hier erläutert er, warum niedrige 500 Zugangsschranken und Open-Source-Tools essen­ USD ziell für die Verbreitung neuer Ideen sind. Der Betrag auf Man nennt Sie oft einen Visionär, Utopist oder gar dem Scheck, den einen Guru. Was halten Sie davon? Chris Anderson Fürchterlich! Es ist doch ganz einfach: Ich habe das 2007 für Jordi Glück, zu interessanten Zeiten an einem inter­ Muñoz, den damals frisch aus Mexiko essanten Ort zu leben und mit interessanten­ eingewanderten Leuten zu arbeiten. Und unternehme lieber Mitgründer von etwas als zuzuschauen. Und wenn man mit 3D Robotics, zu interessanten Menschen etwas unternimmt, Beginn ihrer erkennt man Trends. Ich suche nicht nach Zusammenarbeit ausstellte. Trends. Sie springen mir einfach ins Auge und ich kann sie nicht ignorieren. In Rezensionen Ihrer Bücher schwingt oft die Kritik mit, dass Sie die Zukunft rosarot sehen. Zu viel Optimismus – das ist seit 50 Jahren der Mio.53 USD Vor mehr als zehn Jahren veröffentlichten SieThe ­Standard -Vorwurf bei allem, was mit Informatik Long Tail – die starke These, dass Einzelhändler im zu tun hat. Für die Menschen aus meinem Internet neue Märkte finden, wenn sie sich auf Der Betrag, den die Umfeld ist alles, was ich schreibe, völlig offen­ den "Schwanz" von Nischen konzentrieren, statt Firma 2017 sichtlich. Für die, die nicht in der Technologie­ von Investoren zur auf die Masse zu setzen. Hat sich diese Voraus- branche zu Hause sind, ist es falsch, ungeheuer­ Finanzierung sage bestätigt? lich oder zu optimistisch. Ich glaube, es war der ihrer D-Serie erhielt. Genau wie erwartet. Ich habe dieses Konzept nicht Scifi -Autor William Gibson, der sagte: "Die erfunden, ich habe dem Kind nur einen Namen Zukunft ist schon da, sie ist nur ungleich verteilt." gegeben. Das ist, als würde man fragen: "Wie klappt’s mit der Schwerkraft?" Es klappt ein­ fach! The Long Tail ist eher eine statistische Beobachtung der Menschheit. Menschen woll­ "Wenn man mit interessanten ten schon immer eine große Auswahl. Das ist nichts Neues, es ist ein uraltes Phänomen. Neu ist, dass wir durch das Internet auf ihren Menschen zusammenarbeitet, Wunsch eingehen können. Denn wir können ihn auf mehr Bereiche und Märkte übertragen, erkennt man Trends. Sie und besser messen. Warren Buffett prophezeite vor Kurzem, dass springen einfach ins Auge." künstliche Intelligenz und der damit verbundene Chris Anderson Think:Act 23 61

2012 veröffentlichten Sie ein sehr optimistisches Bild vom heutigen Unternehmer, der einen Großteil seiner Infrastruktur online abwickeln kann, darunter den Vertrieb und das Beschaffen von Geld. Denken Sie 2017 noch genauso? Oder hat sich etwas verändert? Lassen Sie uns genau hinsehen. Sinken die Zugangs­ schranken für Unternehmer? Ja. Werden Sie wei­ ter sinken? Ja. Es sind gesetzliche, technische, personelle und finanzielle Schranken. Sie alle sinken dank Open-Source-­Software, globalen Märkten, Crowdfunding und so weiter. Sehen wir uns aber an, welche Anreize für Unterneh­ mergeist es gibt, stellt sich eine andere Frage: Lassen sie sich mit einem sicheren Job in einem guten Unternehmen bei Hochkonjunktur ver­ gleichen? Die Barrieren für neue Unternehmen sinken also kontinuierlich, aber die Anreize, Unternehmer zu werden, schwanken, abhängig soloflug von den Alternativen. Es gibt sicher Kreisläufe, ­Anderson mit aber derzeit weisen alle Zahlen darauf hin, dass der weltweit niemals zuvor mehr Start-ups gegründet und ersten Smart finanziert wurden. Die Investitionen von Wagnis­ D­ rone 3DR Solo. finanzierern stehen kurz vor einem Allzeithoch. Besteht die Gefahr, dass digitale Unternehmer, die maker, Sie im Buch Makers – Das Internet der Dinge: die vereinigt euch! nächste industrielle Revolution beschreiben, kaum Verlust von Arbeitsplätzen die Wirtschaft "enorm Die Maker Faire noch Notwendiges, sondern nur Luxusartikel nennt sich die durchrütteln" würde. Sehen Sie jemals Gefahren herstellen? Dass Gebrauchsgegenstände weiterhin "größte Aus- und in neuen Technologien? Vorstellung der aus China kommen, während amerikanische Tüftler So wie Sie es formulieren, klingt es, als handele es Welt". Zu den Luxus für Nischenmärkte erfinden? sich dabei um eine absolute Wahrheit – und die weltweiten Da ist wohl etwas dran, aber ich glaube nicht, dass einzige absolute Wahrheit ist, dass es keine Ablegern gehört das ein wirtschaftlicher Trend ist. Maker wird absolute Wahrheit gibt. Werden neue Techno­ auch diese es immer geben, vom Amateur bis zum Exper­

; getty images ; getty logien Arbeitsplätze vernichten? Natürlich. Messe in New ten, vom Dilettanten bis zum Perfektionisten. Werden neue Technologien Arbeitsplätze schaf­ York (2013). Hier in der Bay Area von San Francisco findet alamy

/ fen? Mit Sicherheit. Werden mehr geschaffen die Maker Faire statt. Gut 120.000 Teilnehmer, als vernichtet? Im Laufe der Zeit ist das meis­ der beweis die alle ihr eigenes Ding durchziehen. Aber alle tens so gewesen. Das erleben wir seit 300 Jah­ Amazon machte Aktivitäten lassen sich in drei Kategorien ein­ ren, seit dem Beginn der industriellen Revolu­ die Long-Tail- teilen: Erstens: Produkte, die sie selbst herge­ Geschäftsstrategie tion. Und ich sehe nicht, warum es dieses Mal stellt haben. Zweitens: Produkte, die es so vor­ zur Grundlage anders sein sollte. her wohl noch nicht gab. Und drittens: seines Erfolgs. Aber das Tempo des Umbruchs beschleunigt sich. Produkte, die von so geringem Interesse sind, Der Mensch muss sich immer schneller anpassen. dass sie nur aus einem Grund existieren: "Weil Das stimmt. Bedeutet dies jedoch, dass unser ich es kann." randy michel; randy : christopher duchaine Stoffwechsel den Wandel irgendwann nicht Nur ein Bruchteil dieser Maker mag Ambitionen

fotos mehr verträgt? Vielleicht. Ich glaube es nicht. darauf haben, Unternehmer zu werden. 62 Think:Act 23 Chris Anderson

AUS REDAKTEUR WIRD UNTERNEHMER ­­Die Idee für 3D Robotics kam Chris Anderson am Wohnzimmertisch, als er noch Chefredakteur des Magazins Wired war.

Und die müssen sich harte Fragen gefallen las­ sen: Wer will so etwas? Wo lässt es sich verkau­ fen? Wie setzt du dich gegen China durch? Das eigentlich Befreiende an der Maker-Bewegung Chris Anderson ist, dass man keinen richtigen Grund mehr braucht, um etwas zu tun. Sind die Fertigungs­ kosten niedrig, muss man Sachen nicht über­ Innnerhalb von 10 Jahren ger Nischenprodukte den Ver- mäßig durchdenken. Man kann loslegen und baute Chris Anderson gleich kauf von Bestsellern schlagen sehen, was daraus wird. Lass dich vom Markt zwei Karrieren auf. 2006 kann. Es folgten zwei weitere ins Unternehmertum hineinziehen, statt jahre­ zeigte der frühere Redakteur Bücher. Das letztere, Makers: von Wired 2006 mit dem viel- Das Internet der Dinge, war die lang einsam einem Traum hinterherzulaufen – diskutierten Best­seller The Basis für seine zweite Kar- und am Boden zerstört zu werden, wenn die Long Tail: Nischen­produkte riere als Produzent im auf- Welt darauf mit Gleichgültigkeit reagiert. statt Massenmarkt, wie die keimenden kommerziellen Haben Sie Ihre eigenen Unternehmen auch neuen Vertriebs­modelle des Drohnen-Markt. ­Anderson so gestartet? digitalen Zeitalters die alten wandelte sich vom "Maker" Immer. Ich ließ mich schlicht hineinziehen. Ich Maximen des Einzelhandels zum Mitgründer und CEO von

habe irgendetwas gemacht und meistens um eine Variante erweiterten – 3DR, einem führenden Ent- : peter dasilva

haben die Menschen es ignoriert. Ab und zu dass nämlich der Verkauf weni- wickler von Drohnen-Software. foto Chris Anderson Think:Act 23 63

"Das Befreiende an der Maker-Bewegung ist, dass man keinen richtigen Grund aber mochten sie es, und dann habe ich eben mehr produziert. Jedes Wochenende setze ich ein Projekt an – manchmal ein Puppenhaus mit braucht, um etwas zu tun." meinen Töchtern, dann wieder Software, Elek­ tronik oder etwas Mechanisches. Jedes Wochenende quäle ich mich, um etwas zu voll­ gleichen zu können und so ein Android-ähnli­ bringen – oder auch nicht. Dann frage ich mich: ches Ökosystem zu schaffen. Theoretisch ist "Will ich mehr davon?" Und manchmal sage ich: das vielleicht immer noch möglich, in der Pra­ "Das war hart. Und es macht keinen Spaß. Ich xis hat es sich aber bisher nicht bewährt. höre auf." Oder eben auch: "Hei, das war cool! Welche zukünftigen Technologie-Trends können Ich hätte nie gedacht, dass ich so weit kommen Sie bereits heute erkennen? würde – nächstes Wochenende mache ich wei­ Vor zehn Jahren startete ich die Website DIY Dro­ ter." Das Ganze ist wie Kinder großziehen: Es nes, mit der alles begann, was ich heute tue. Da gibt eine Menge Kämpfe und Niederlagen, aber gab es bereits seit 50 Jahren Drohnen, die von die vereinzelten Erfolge sind so inspirierend, großen Luftfahrt­unternehmen verkauft und dass sie all diese Anstrengung wert sind. vom Militär genutzt wurden. Wieso nahm ich Haben Sie in der Führung von 3DR Erfahrungen 3D Robotics an, dass ein Haufen Amateure mit einer Web­ gemacht, die Sie dazu gebracht haben, Dinge zu site Innovationen anschieben könnte? Ganz hinterfragen, die Sie als Autor geschrieben haben? einfach: Sensoren, Smartphone-Innereien, GPS, Selbstverständlich. Das Buch, an dem ich meine Der Name bezieht Kameras, kurzum: die gesamte Technologie um sich auf die Erfahrungen teste, ist Makers, das ich schrieb, die Drohnen herum war inzwischen so gut und dritte Achse, die bevor ich ganz zu 3DR wechselte. Damals (2011) billig, dass man kein traditionelles Luftfahrt­ Hobby-Roboter war ich noch Redakteur bei Wired. Ich konnte noch nicht erreicht unternehmen mehr gründen musste, sondern mich noch gut daran erinnern, wie ich das hatten, als Chris auch von unten in die Branche eindringen Unternehmen am Wohnzimmertisch startete Anderson und Jordi konnte. Heute fliegen Millionen Drohnen am und mit einem Fuß noch in der Garagen- und Muñoz ihr Unter- Himmel, die von Unternehmen wie unserem Maker-Mentalität verankert war. Ich wusste, nehmen 2009 produziert werden. wie ich starten konnte. Weniger klar war, wie gründeten. Das Jetzt, zehn Jahre später, ist das Auto dran. DIY wir dieses Unternehmen von fünf auf 50 oder wollten sie ändern. Robocars ist eine Schwester-Site von DIY Dro­ 100 Mitarbeiter vergrößern – die Skalierung. Solo, die erste nes, ein Ideenforum für den Bau selbstfahren­ Ich war überzeugt, dass wir problemlos von Makern Smart Drone, kam der Autos. Wieder stellt sich die Frage: Können zu einem traditionellen Großunternehmen 2015 auf den Amateure das wirklich besser als Google, Tesla Markt. 2016 anwachsen würden. Diese These hat sich als oder Uber? Und die Antwort lautet wieder: Wir folgte Site Scan, falsch herausgestellt. Ich wusste zwar, dass dringen von unten in den Markt ein. Billig, eine umfassende man in der Fertigung nicht einfach so wachsen Erfassungs- und offen, unkompliziert und unzuverlässig. Unzu­ kann. Man kann ja, wenn man so will, nicht ein­ Analysesoftware verlässig ist gut, denn man muss sich nicht die fach immer größere Garagen bauen. Aber es für Luftdaten. ganze Zeit mit Vorschriften herumschlagen, gab viele andere Diskrepanzen, beispielsweise schließlich sind die Kosten eines Misserfolgs ja den Unterschied zwischen Online- und traditi­ sehr gering. Sie mögen denken: "Das sind Spiel­ onellem Einzelhandel – mit Vertriebspartnern, zeuge." Aber bei näherer Betrachtung stellen Preisschutz, Marketing und Beständen in frem­ Sie fest, dass genau diese Software auch in gro­ den Lagerhäusern. Das ist ein ganz anderes ßen Autos verwendet wird. Dank Open Source Geschäftsmodell, auf das einen die Garage kann man das für ein paar Hundert Dollar an nicht vorbereitet. Unvorbereitet waren wir auch einem Wochenende hinbekommen. Das ist die­ darauf: Wir wussten, dass China stark ist, selbe Form von Demokratisierung – man kann aber wir hofften, die chinesischen Hardware-­ traditionelle Branchen wandeln, indem man Ressourcen durch Open-Source-Software aus­ sie einfach öffnet. ■ 64 Think:ActThink:Act 23 China

bereit für die zukunft Mit mehr Hochschulabsolventen denn je sorgt Chinas nächste Generation für Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt – und für eine globale Ausrichtung. China Think:ActThink:Act 23 65

Wird China die *?

Der Brexit und die US-Wahl haben viele Menschen verunsichert – 新超级大国mancher sieht bereits eine neue Weltordnung kommen. Kann China die Globalisierung retten? ] von Henrik Bork *neue *neue Supermacht

[ : reuters foto 66 Think:Act 23 China

IM MAI DIESES JAHRES stand ganz Peking plötzlich still. Massive Beschränkungen für Verkehr und Fabriken hielten alle Räder an. Der Grund? Die chinesische Hauptstadt brauchte einen blauen Himmel als perfek­ te Kulisse für ihren internationalen Wirtschaftsgipfel. Die Mühe lohnte sich. Auf dem Teilnehmerfoto mit rund 30 Staats- und Regierungschefs ist vom üblichen Smog nichts zu sehen. Der chinesische Präsident Xi Jinping versucht alles, um die Staatsoberhäupter der Welt zu beeindrucken – ein sauberer Himmel ist nur ein kleiner Teil seiner ak­ ribischen Planung. Ziel der jüngsten Charme-­Offensive – der One Belt, One Road (OBOR)-Initiative – ist ein rie­ siges Investitionsprogramm für den Aufbau einer inter­ kontinentalen Infrastruktur, das zunehmend Freunde gewinnt. Das beweisen allein die hohen Teilnehmer­ zahlen am OBOR-Gipfel, der am Yanqi-See vor den ­Toren Pekings stattfand. Bei Erfolg könnte OBOR (auch bekannt als Neue Seidenstraße) selbst den ­Marshall-Plan in den Schatten stellen und China an die 中Spitze der Globalisierung katapultieren. Xi Jinpings Werbeversuche zeigen erste Wirkung und die Zurück­ haltung der Gipfelbesucher scheint zu sinken. Wie eine (ge)wichtige frage beim russischen Präsidenten Wladimir Putin, der sei­ Politische Reformen und die ne musikalische Begabung unter Beweis stellte und Globalisierungsstrategie schaffen eine neue Schicht an Konsumenten sich das Warten auf Xi Jinping mit Klavierspielen ver­ in China, dennoch können sich trieb. Aber auch wenn er die Musik spielte, tanzt Putin viele die Produkte der globalen doch wohl eher nach Xis Pfeife. Wirtschaft nicht leisten. Die Tektonik der Geopolitik verschiebt sich. Die US-Regierung droht mit Mauern, kündigt Handels­ abkommen und hinterfragt den Wert von Globalisie­ rung und Klimaabkommen. Xi Jinping hingegen gilt 国auf einmal als "der neue globale Erwachsene" (The Kollaps. "In einer komplexen Welt voller Ungewiss­ Economist). Diesen Titel erhielt er nach einem weite­ heiten sehnen sich die Menschen nach Wegweisern", ren Überraschungsmoment für auslandspolitische sagte Klaus Schwab, Gründer des Weltwirtschafts­ Analysten: Beim Weltwirtschaftsforum in Davos warb forums, der britischen Tageszeitung The Guardian. Und er im Januar konsequent für Globalisierung und einige Menschen, so deutete er an, glauben, dass sie Freihandel. Ob gut oder schlecht, sei die Weltwirt­ diese Wegweiser in Peking gefunden haben. Plötzlich schaft nun einmal "ein großer Ozean, in dem wir alle sieht es so aus, als ob ausgerechnet China Retter einer schwimmen müssen", so Xi. Mit seinem entschiede­ Wirtschaftsordnung ist, die seit mehr als 70 Jahren von nen "Nein zum Protektionismus" und klaren Ja zum den USA und seinen westlichen Verbündeten angeführt Pariser Klimaabkommen klang er wie ein willkomme­ wurde. Xi Jinping versprach 78 Milliarden US-Dollar für nes Gegenmittel zur lauthals verkündeten Abschot­ den Bau von Kraftwerken, Straßen, Schienen, Brücken tung von Donald Trump. und Häfen in Asien und Europa. Er überzeugte Banken, Nimmt man zum US-Protektionismus den Brexit 44 Milliarden US-Dollar zum "Projekt des Jahrhunderts" und den aufstrebenden Populismus in Europa hinzu, beizusteuern, wie er die Neuauflage der antiken Sei­ scheint es, als stünde die Globalisierung kurz vor dem denstraße zwischen Europa und Fernost nennt.

1978 Im Dezember verkündet 1990 Im November wird 2001 China tritt der WHO bei. Deng Xiaoping Wirtschaftsrefor- die Börse in Shanghai wieder Teil der Vereinbarungen ist, men, die das Land für ausländi- eröffnet. Im Dezember beginnt dass Beschränkungen für aus- sche Investoren öffnen, anfangs nach 41 Jahren Unterbrechung ländische Investitionen in Globalisierung in vier Sonderverwaltungszonen. wieder der Geschäftsbetrieb. mehreren Bereichen wegfallen. in China 1978 1990 1995 2000 Think:Act 23 67

"Auf eine derartige Rolle sind wir weder finanziell noch psychologisch vorbereitet." Jin Canrong, Direktor der School of International Studies, Renmin Universität

Btei derar weltumspannenden Ambitionen kehrt Trotzdem klingt sein "Nein" eher wie ein "noch nicht" eine Frage zurück, die erstmals nach der Finanzkrise von und den Chinesen scheint bewusst, dass die USA ih­ 2007 auftauchte: Kann China die USA als Weltmacht rem Präsidenten die perfekte Gelegenheit bieten, die ablösen? Damit löst man bei Professor Jin Canrong schal­ Rolle ihres Landes auszubauen. lendes Gelächter aus. "Nein", sagt der Direktor der China gibt gern zu, dass es neben Deutschland School of International Studies an der renommierten und Japan zu den großen Gewinnern der Globalisie­ Renmin University in Peking. Seine Antwort hat Ge­ rung gehört. Seit der pragmatische Deng Xiaoping wicht, schließlich tritt Jin als Berater der kommunis­ 1978 die Volksrepublik für die Außenwelt öffnete, hat tischen Machthaber auf. Er verweist auf die wirtschaft­ sich das Land in kürzester Zeit zu einem bedeutenden , picture alliance ) 4

( liche Größe der beiden Länder: Das BIP der USA liegt Teil der Weltwirtschaft entwickelt. Zu den großen bei 18,6 Milliarden US-Dollar, das von China bei Meilen ­steinen auf dem Weg dorthin gehören neben 11,4 Milliarden US-Dollar. Er glaubt, dass China erst Chinas Beitritt zur WTO im Jahr 2001 auch die Olym­ noch weitere Erfahrungen auf der weltpolitischen pischen Spiele in Peking 2008. : getty images images : getty Bühne sammeln muss. "Auf eine derartige Rolle sind "China ist heute eine der am schnellsten wach­

fotos wir weder finanziell noch psychologisch vorbereitet." senden Volkswirtschaften und wichtigsten

2005 China wird nach den USA, 2008 Peking ist Gastgeber "Die Weltwirtschaft ist 2017 Xi Jinping verteidigt Japan und Deutschland viert- der Olympischen Sommerspiele. auf dem Weltwirtschaftsforum größte Wirtschaftsmacht und Der Erfolg der Spiele sichert ein großer Ozean, in dem die Globalisierung und unter- übertrumpft Großbritannien um China einen Platz auf der wir alle schwimmen streicht Chinas Engagement für 94 Millionen US-Dollar. Weltbühne. müssen." die Weltwirtschaft.

2005 2010 2015 2020 68 Think:Act 23 China

­Handelsnationen der Erde. Es gehört zu den größten deckt, in dem die restliche Welt sich abzuwenden Profiteuren der Globalisierung", sagt Wang Huiyao, scheint. Auch wenn das Land nicht gewillt oder bereit Direktor des Center for China and Globalization (CCG) ist, den USA in politischer oder militärischer Hinsicht in Peking. Die Denkfabrik, zu deren Beratergremium auf Augenhöhe zu begegnen, will es doch die Weltord­ auch frühere chinesische Handelsfunktionäre und Di­ nung nach seinen Vorstellungen neu formen. OBOR plomaten zählen, organisiert Diskussionsforen zur ist Chinas Art, dieses neue Selbstvertrauen zu verkün­ Rolle Chinas als globalen Akteurs. "Globalisierung ist den. Peking möchte ernst genommen werden und un­ zu einem der Topthemen in der politischen Debatte ternimmt erste Schritte, die Weltwährungsordnung geworden", erklärt Wang. Noch vor nicht allzu langer aufzumischen, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch Zeit sprachen chinesische Politiker bei Besuchen im die Konferenz von Bretton Woods geschaffen worden Ausland ausschließlich über ihr eigenes Land. Das ist war. "Globalisierung 1.0, also die UN, die Weltbank, der vorbei. "Inzwischen akzeptiert die Führungselite das Internationale Währungsfonds, all das war lange von Konzept der Globalisierung. Das ist ein sehr weitrei­ Nutzen", sagt der CCG-Direktor Wang Huiyao. "Aber chender Schritt für unser Land", sagt Wang. Mit ande­ jetzt brauchen wir neue Akteure, neue Ideen." Kein ren Worten: China ist nicht nur neues Mitglied und Zweifel, von wem hier die Rede ist. Gewinner des Globalisierungsclubs, sondern auch be­ Die größte Errungenschaft auf diesem Weg ist die reit, eine Führungsrolle zu übernehmen. Asiatische Infrastruktur-Investment-Bank (AIIB), die 2016 in der chinesischen Hauptstadt als Antwort auf WELCH IRONIE DES SCHICKSALS, dass China seine Liebe die Weltbank gegründet wurde. Nachdem die Führer für die Globalisierung genau zu jenem Zeitpunkt ent­ der Welt Chinas Bitten um mehr Einfluss in internati­

harter wettbewerb Chinesische Upstart- Unternehmen wie OnePlus vernichten die Gewinne etablierter Anbieter.

"China muss zunächst für Ordnung im eigenen Hause sorgen, bevor es sich zum Herren des Welthandels aufschwingen kann." Michael Pettis, Finanzprofessor, Universität Peking China Think:Act 23 69

onalen Institutionen immer wieder zurückwiesen, ERSTE WARNZEICHEN weisen darauf hin, dass sich Peking gründet Peking nun parallele Strukturen, die es auch mit milliardenschweren Investitionen in Bahn-, Energie- beherrschen möchte, wie Kritiker befürchten. Chinas und Hafenprojekte von Sri Lanka bis Griechenland Präsident bestreitet dies, aber er benutzt den Begriff übernimmt. Die langjährigen zweistelligen Wachs­ Globalisierung eindeutig für "Globalisierung 2.0" – tumsraten sind vor Kurzem auf 6,5% gesunken. Das eine neue Weltordnung, die stark nach chinesischen Wirtschaftswunder ist vorbei und auch das aktuelle Interessen geformt ist. Viele Beobachter weisen aller­ Wachstum wird in alarmierendem Maße von Krediten dings darauf hin, dass Chinas Fähigkeiten seinen Am­ getragen. China braucht die Globalisierung mehr als bitionen hinterherhinken. "Eine simple Rede reicht die Globalisierung China. Die Staatsschulden sind nicht aus, um den Welthandel zu dominieren", sagt Mi­ zweieinhalbmal so hoch wie das BIP des Landes. "Die chael Pettis, Professor für Finanzen an der renommier­ Verschuldung schreitet schneller voran als Chinas Fä­ ten Guanghua School of Management , die zur Peking 增higkeit, die Schulden zu tilgen", warnt Pettis. Schon University gehört, und Autor des Buches The Great Re­ jetzt bräuchte das Land mehr als 2 Billionen US-Dollar, balancing: Trade, Conflict, and the Perilous Road Ahead um sein Schuldenproblem zu lösen. Um zu nachhalti­ for the World Economy. China müsse zunächst für Ord­ gem Wachstum zurückzukehren, müssten die chinesi­ nung im eigenen Hause sorgen, bevor es sich zum Her­ schen Wirtschaftsplaner ernsthafte Reformen einfüh­ ren des Welthandels aufschwingen könne, sagt er: ren, die das Haushaltseinkommen steigern und den "China müsste riesige Handelsdefizite vorweisen, um Binnenkonsum ankurbeln. Solche Reformen sind aber der Welt entsprechende Überschüsse zu ermöglichen – nicht in Sicht. Chinas Ambitionen in Richtung Welt­ wie es die USA derzeit tun." 长macht werden derzeit von einem Land vereitelt – China. US-amerikanische und europäische Unternehmen in China sehen die Freihandels- und Globalisierungs­ erklärungen der Regierung zunehmend skeptisch. "Die Stimmung hier ist derzeit nicht positiv, wenn die Spra­ One Belt, che auf China kommt", sagt James McGregor, früherer One Road Korrespondent der US-Tageszeitung Wall Street Journal und Autor des Bestsellers One Billion Customers: Lessons OBOR, der Versuch, die glänzenden Zeiten der Seidenstraße wieder­ from the Front Lines of Doing Business in China. Wie viele zubeleben, ist der ambitionierteste ausländische Geschäftsleute betrachtet McGregor, heu­ Diplomatie- und Handelsplan te Vorsitzender der internationalen Kommunikations­ in der Geschichte der Volksrepublik. beratung APCO in Peking, die Strategie "Made in Chi­ na 2025" mit Misstrauen. Ihnen missfällt, dass China begonnen hat, immer mehr Hightech-Unternehmen im Ausland zu erwerben, während Investitionen von euro­ Landweg Seeweg päischen und US-Unternehmen in China weiterhin star­ ken Einschränkungen unterliegen. Moskau Rotterdam DER BEGRIFF "GEGENSEITIGKEIT" DuisburgDuisburg Almaty ÜrümqiÜrümqi steht nun auch in Veröf­ SamarkandSamarkand fentlichungen der EU-Handelskammer in Peking. "Chi­ Venedig Athen BischkekBischkek Xi'an na investiert heute viermal so viel in Europa wie Euro­ DuschanbeDuschanbe CHINA TeheranTeheran Fuzhou pa in China", sagt der frühere Kammerpräsident Jörg GuangzhouGuangzhou Kolkota Hanoi Wuttke. Peking hat seine riesigen Staatsbetriebe mit bil­ ligen Krediten ausgestattet und angewiesen, in Europa Kuala ColomboColombo Lumpur in großem Umfang in strategisch wichtige Bereiche wie

Nairobi IT, Cloud Computing, Halbleiter- oder Robotertechnik Jakarta zu investieren. Europäische Unternehmen hingegen dürfen in vielen Bereichen nach wie vor nicht investie­ ren, namentlich Versicherungsdienstleiser und Banken. 65% China darf Häfen in Griechenland, Flughäfen in Frank­ reich und Roboterhersteller in Deutschland kaufen, der Weltbevölkerung werden während ähnliche Geschäfte in die Gegenrichtung nach

foto: getty images. quelle: bloomberg images. getty foto: an die Land- oder Seewege von wie vor undenkbar sind. Das werfe Fragen in Europa OBOR angeschlossen sein. auf, sagt Wuttke: "Und … was ist mit uns?" ■ 70 Think:Act 23 LiLIndNDaA HiHIllLL

VORDENKER Heureka? Ganz falsch! Vergessen Sie "Aha-Erlebnisse", sagt linda hill. Wer sein Unternehmen in eine Innovationsmaschine verwandeln will, sollte sich auf etwas anderes konzentrieren: die Genialität des Kollektivs.

von Bennett Voyles illustrationen von Mario Wagner

ehr als 30 Führungskräfte von Was ist das Besondere an Führungskräften innovativen Unternehmen ha­ innovativer Unternehmen? ben Linda Hill und ihr Team über Alle, mit denen wir uns beschäftigt haben, waren die Jahre begleitet. Daraus haben Visionäre. Und tatsächlich war eine ihrer größ­ sie einen Schluss gezogen: Unse­ ten Herausforderungen, anderen Raum zu ge­ Mre herkömmliche Vorstellungen davon, was man ben. Ihre Aufgabe als Führungskraft bestand braucht, um ein innovatives Unternehmen zu füh­ darin, für eine Umgebung zu sorgen, die die In­ ren, sind falsch. "Vergessen Sie Charisma und novationskraft der Mitarbeiter fördert. Aha-Erlebnisse", sagen Hill und ihre Co-Autoren in Diese Führungskräfte hatten etwas Grundlegendes ihrem Buch Collective Genius: The Art and Practice verstanden: Innovation ist meist ein Bottom- of Leading Innovation. Die wichtigste Aufgabe von up-Prozess und nur selten das Ergebnis des Führungskräften außergewöhnlich innovativer Un­ "Aha-Erlebnisses" eines Einzelnen. Sie ist eine ternehmen wie Pixar oder Google bestehe darin, Aktivität, die kollaborativ, von Entdeckungen eine Umgebung zu schaffen, in der Mitarbeiter sich getrieben und sich wiederholend ist. Als Füh­ trauen, Vorschläge zu machen. rungskraft schaffe ich einen sicheren Raum und Hill gewann 2015 den Thinkers50 Innovation fördere, dass Mitarbeiter Ideen miteinander Award, gemeinsam mit den Co-Autoren von Collec­ austauschen, aber ich sorge auch dafür, dass tive Genius den Warren Bennis Prize for Excellence diese Ideen auf unsere Ziele abgestimmt wer­ in Leadership sowie die Goldmedaille des Axiom den. Klar, wir müssen Dinge lernen und experi­ Busi ­ness Book Award für das beste Buch zum The­ mentieren können, aber am Ende müssen wir ma Führung. Sie vertritt die These, dass Führungs­ etwas produzieren. Wir improvisieren, aber wir kräfte innovativer Unternehmen sich vor allem da­ kennen auch die Strukturen, Verantwortlich­ rum kümmern, eine innovative Kultur zu schaffen, keiten oder auch Beschränkungen unseres Un­ statt eine bestimmte Vision zu verfolgen. ternehmens, die wir beachten müssen. Linda Hill Think:Act 23 71 72 Think:Act 23 Linda Hill

erheben noch weitere Daten. Bisher "Es reicht nicht, ein scheint es, als wäre diese Annahme richtig, da es Privatunternehmen sogenannter 'Wertschöpfer' scheinbar leichter fällt, auf lange Sicht zu planen. Das Kapital scheint zu sein, man muss auch geduldiger zu sein. Tatsächlich formte ein CEO seine Organisation ein Revolutionär sein." zu einem Privatunternehmen um, damit es innovativer wird. Definieren innovative Unternehmen ihre Unternehmensleitbilder anders? Innovation ist harte Arbeit. Man kann niemand dazu zwingen, innovativ zu sein; die Mitarbeiter müssen von selbst dazu bereit sein. Gerade des­ wegen müssen Sie eine Umgebung schaffen, die sie dazu bringt. Wir ha­ ben festgestellt, dass der Kern dieser Bereitschaft das Gefühl ist, ein ge­ meinschaftliches Ziel zu verfolgen, das zur Arbeit motiviert und dabei hilft, mit Fehlentscheidungen oder sogar Scheitern umzugehen. Für un­ sere Studie haben wir mit der Ge­ schäftsführerin eines Unternehmens für Luxusprodukte gesprochen Sie glaubt, dass Luxus beeinflusst, wie Menschen definieren, wer sie sind Woran erkenne ich, dass ich kommen wir richtig Ärger." Das Ei­ und was ihnen wichtig ist. Sie wollte Erfolg habe? gentum am Unternehmen kann die darum eine Luxusmarke schaffen, Die Frage, woran man Innovation mes­ Einstellung gegenüber Innovation mit der Frauen sich machtvoll fühlen sen kann, kann bis heute niemand ebenfalls beeinflussen. Ein CEO ei­ und nicht – in ihren Worten – "wie schlüssig beantworten. Über dieses nes börsennotierten Unternehmens Konkubinen". Das war das Ziel ihrer Thema haben viele Vorstände mit sprach neulich mit mir über passive Arbeit. Es diente gleichzeitig als eine mir gesprochen, aber es wurde nicht und aktive Investitionen und ihre Art Kompass, wenn es darum ging, klar, was das richtige Messsystem ist. Auswirkung auf Innovationen. Seiner Geschäftsentscheidungen zu treffen, Einige Unternehmen verlassen sich Meinung nach führten passive Inde­ und half den Mitarbeitern, einen auf Vitalitätsindizes: Welcher Anteil xe dazu, dass CEOs und Vorstände so­ Sinn in ihrer Arbeit zu finden. unseres Umsatzes stammt aus neu­ gar noch kurzsichtiger agieren und Wenn jeder im Unternehmen innovativ en Dienstleistungen? Aber viele ori­ sie davon abhalten, in bahnbrechen­ ist, wie erhält man das aufrecht, was entieren sich an den erreichten Mei­ de Innovationen zu investieren, die die Marke ausmacht? lensteinen oder an nicht-finanziellen sich vielleicht erst in einigen Jahren Innovation war ein wichtiger Bestand­ Indikatoren (wie zum Beispiel tiefen auszahlen. Wenn Sie ihren ganz eige­ teil der Markenidentität eines Unter­ Einblicken in verbesserte Kunden­ nen Warren Buffett besitzen oder ei­ nehmens in unserer Studie. Und bindung), weil sie wissen, dass viele nen Aktionär, der plant, Ihre Aktien wenn es bei der Marke um Innovati­ andere Parameter nur kurzfristige auf lange Zeit zu halten, haben Sie je­ on geht, dann muss auch alles an Aussagekraft haben. manden, mit dem Sie Ihre Strategie der Marke selbst innovativ sein, Alle reden von Innovationen, aber besprechen können und seine Erwar­ nicht nur das Produktdesign. Doch fördern Investoren sie tatsächlich? tungen besprechen können. auch innovative Unternehmen set­ Jein. In Gesprächen mit CEOs höre ich Inhabergeführten Unternehmen fällt es zen Grenzen, die die Mitarbeiter be­ oft: "Der Vorstand möchte, dass wir also leichter, innovativ zu agieren? achten müssen. Es kommt daher vor, innovativer werden, aber wenn wir Wir haben mit einigen CEOs und Ge­ dass jemand eine spannende, neue unsere Quartalsziele verfehlen, be­ schäftsführern gesprochen, aber wir Idee hat, aber sie nicht umgesetzt Linda Hill Think:Act 23 73

wird, weil sie nicht zur Positionie­ So schaffen Sie Leben wir gerade in einer Zeit, in der rung der Marke passt. Eine Innova­ eine Kultur Kreativität besonders wichtig ist, oder tion muss beides sein: kreativ und ist das die Richtung, in die sich die nützlich. der Innovation Geschäftswelt entwickeln wird? Ist Innovation etwas, das innerhalb des Die Weltwirtschaft ist gnadenlos. Ohne Unternehmens passieren muss? 1 Innovation ist es schwer, zu wachsen Nein. Etwas zusammen mit dem Kun­ Unterstützen Sie: Bieten und sich weiterzuentwickeln. Techno­ den zu erschaffen, kann für Unter­ Sie eine Umgebung men- logie befeuert die Notwendigkeit, In­ nehmen unglaublich produktiv sein, taler Sicherheit. Ermuti- novationen voranzutreiben, ebenso da es so wesentlich wahrscheinlicher gen Sie Ihre Mitarbeiter, wie die Erwartungen der Mitarbeiter. ist, dass die Wünsche der Kunden er­ Ideen zu teilen. Stellen Ich werde ständig eingeladen, über füllt werden; zudem erleichtert es Sie Grundstrukturen und Collective Genius zu reden. Nicht nur die Umsetzung. Ein Versicherungs­ Leitplanken bereit. weil Unternehmen innovativer werden unternehmen, das an unserer Studie wollen, sondern auch weil sie begie­ 2 teilnimmt, hat beispielsweise begon­ rig sind, Kulturen zu schaffen, die ih­ nen, seine Kunden zu Design- und Formulieren Sie Ziele: nen helfen, ihre Talente zu managen. ­Ideen-Workshops einzuladen, um Pro­bleme innovativ zu Wer Innovation gut managt, managt neue Online-Angebote zu entwickeln. lösen, ist harte Arbeit also auch sein Unternehmen gut? Dabei erfuhren sie genau, was die und lässt sich nicht Viele meiner Reden halte ich vor Men­ Kunden (Babyboomer im Gegensatz erzwingen. Durch ge- schen, die wissen möchten, wie sie es meinsame Ziele erkennen zur Generation X) sich wünschen, schaffen, dass sie die Talente, die be­ Mitarbeiter Sinn in ihren wie viel sie zu zahlen bereit sind und reits zu ihnen gehören, an sich bin­ Aufgaben und engagie- wie sie ihre Angebote am besten auf ren sich bereitwillig. den und dazu bringen, sich zu entfal­ die unterschiedlichen Kundenseg­ ten. Ein CEO sagte mir: "Meine mente ausrichten können. 3 Mitarbeiter wollen mir nicht in die Welche Rolle spielen Zulieferer beim Zukunft folgen, sie wollen sie mit mir Beziehen Sie ein: Ohne Thema Innovation? gemeinsam erschaffen." Obwohl er Diversität gibt es selten Aus demselben Grund, den ich gerade von Innovation sprach, ist das etwas, Innovation. Erschaffen beschrieben habe, tun sich viele Un­ Sie eine Kultur, in der das wir aus anderen Studien über die ternehmen mit ihren Lieferanten zu­ sich Menschen unter- Generation Y kennen. Viele Studien sammen: um neue Prozesse zu ent­ schiedlicher Denkweisen zeigen, dass ein Ziel und die Möglich­ wickeln, die Verbesserungen für und Generationen keit, Dinge zu beeinflussen, gerade beiden Seiten bringen. Eine Füh­ entfalten können. für sie sehr wichtig ist. Aber dasselbe rungskraft, die für die Lieferkette ei­ gilt für die Toptalente jeder Genera­ nes großen Unternehmens verant­ tion. Ohne Diversität gibt es selten wortlich ist, hat etwas erschaffen, Innovation. Viele Unternehmen bit­ was sie das "Ökosystem der Innova­ ten uns, ihnen unsere Erkenntnisse tion" nennt. Gemeinsam mit den darüber zu vermitteln, wie man Kul­ Lieferanten verändert sie die Liefer­ turen schafft, die jeden mit einbezie­ kette von Grund auf, um sie noch Das Prinzip hen und in denen sich Menschen mit mehr auf den Kunden auszurichten. des kollektiven verschiedenen Denkweisen und aus Die neue offene Architektur sorgt un­ Genies: unterschiedlichen Generationen ent­ ter anderem für erhöhte Transpa­ falten können. Ich denke, dass Inno­

renz bei der Qualitätssicherung und Um wirklich innovativ vation heutzutage wichtiger ist – um verbesserte Effizienz für alle durch zu sein, müssen Sie zu sich von der Konkurrenz abzusetzen ein "Plug-and-play-Design". Außer­ Innovationen hinführen. und zu wachsen. Es reicht nicht, ein dem arbeitet sie mit Wettbewerbern Schaffen Sie nicht eine sogenannter "Wertschöpfer" zu sein, aus der Branche zusammen, um ge­ Vision und versuchen man muss auch ein Revolutionär meinsam Standards zu schaffen, die dann selbst innovativ zu sein. Wem es nicht darum geht, was es für alle leichter machen, bessere sein. Sorgen Sie statt- erreicht werden muss, sondern dar­ Lösungen für die Endkunden zu ent­ dessen für eine Kultur um, was erreicht werden kann, muss wickeln – so wie es vor Jahrzehnten der Bereitwilligkeit, in bereit sein, Veränderung und Innova­ die Stromanbietern taten. der Innovationen immer tion Raum zu geben. und immer wieder ent- stehen können. 74 Think:Act 23 DAS NEUE DIGITALE ZEITALTER

Der Sprung ins Digitale

Wenn Sie langfristig erfolgreich sein möchten, ist Digitalisierung längst keine Option mehr, sondern Notwendigkeit. Der Graben zwischen digitalisierten und nicht-digitalisierten Unternehmen wird tiefer. Drei Unternehmen haben uns erzählt, wie sie ihn überwunden haben. (PS: Es war harte Arbeit.) radikale transformation Die New York Times kämpft mit digitalen Strategien gegen das von Jessica Twentyman Aussterben von Printprodukten.

der richtige riecher für neues Wer selbstzufrieden ist, geht unter. Befragten gaben an, dass digitale Ver­ Die "Beta Group" der renom- Ehemalige Chefs der einst erfolgreichen besserungen sich auf ihre Gewinne aus­ mierten Zeitung erforscht Videothekenkette Blockbuster können gewirkt hätten. Und sollte dies nicht neue Anwendungen und neue das bestätigen. Als 1997 der DVD-Ver­ ausreichen, um Unternehmensführer Wege der Berichterstattung. sand Netflix gegründet wurde, der spä­ aufhorchen zu lassen: 47% gaben an, ter ein Online-Streaming-Dienst wurde, dass sie nun von ihrem Vorstand dazu übersah Blockbuster alle Warnzeichen. aufgefordert würden, weitere Fort­ Es dauerte sechs Jahre, bis Blockbuster schritte im Bereich Digital Business zu seinen eigenen DVD-Versandservice erzielen. Jeder Fünfte der Befragten lancierte, doch da war es bereits zu spät. macht "digital zuerst" zur Maxime bei Am 23. September 2010 beantragte dem Versuch, sein Unternehmen zu ver­ Blockbuster Gläubigerschutz nach ändern. Chapter 11 des amerikanischen Insol­ Kluge Führungskräfte erkennen, venzrechtes – mit einer Schuldenlast in dass es für das Überleben riskanter ist, Höhe von 900 Millionen US-Dollar. in der Bedeutungslosigkeit zu versin­ Digitale Transformation ist weder ken, weil etablierte Konkurrenten und Modeerscheinung noch Marketing­ Start-ups im Digitalen voranpreschen, motto: Sie ist eine Frage des Überlebens. als ihr Glück mit neuen Apps und digi­ Das ist das Ergebnis einer Umfrage des talen Diensten zu versuchen. Drei von IT-Forschungsunternehmens Gartner, ihnen teilen uns ihre Strategien mit an der 388 CEOs und hochrangige Wirt­ und verraten, welche Erkenntnisse sie schaftsführer teilnahmen. 56% der gewonnen haben. Think:Act 23 75

beispiel #1

Die New York Times

Name: Kinsey Wilson, Executive Vice President für Produkt und Technologie Unternehmen: New York Times Company Digitaler Fokus: Verschiedene Innovationsbereiche

ie new York Times, eine Tageszeitung, die erstmals am 18. September 1851 in New York City erschienen ist, durchläuft eine radikale Ddigitale Transformation. Anders als vie­ le Medienhäuser, die damit zu kämpfen haben, dass traditionelle Einnahmen aus Einzelverkauf und Print­ werbung durch die Digitalisie­ Innovation auf Erfolgreiche rung dramatisch einbrechen, dem Vormarsch Strategie hat die New York Times nicht einfach das Ziel, die Umsätze Seit 2015/ Anzahl neu gewonnener → virtual reality durch Online-Werbung zu 2016 bietet die New York Times digitaler Abonnenten maximieren, sondern will di­ VR-Inhalte für eine Million Leser pro Quartal (in Tausend): gitale Abonnements mittels an, die diese mit einem Card- einer Paywall zur Hauptein­ board Viewer sehen können. 67 51 116 nahmequelle machen. Mit zu­ → 360 videos pro tag, die mit 2016 / Q1 Q2 Q3 sätzlichen Online-Diensten Samsung-Technologie produziert und Features will sie neue werden, bringen den Lesern sowohl Abonnenten anziehen und be­ ernste Nachrichten als auch heitere stehende halten. Storys aus aller Welt näher. 276Q4 308 Die Strategie scheint auf­ → ein täglicher news zugehen. Mark Thompson, podcast The Daily wurde in den 2017 / Q1 Q4 CEO von The New York Times ersten drei Monaten etwa Company, sagte zum Ende des 27 Millionen Mal heruntergeladen. quelle: www.nytimes.com Geschäftsjahrs 2016 Finanz­ analysten, dass die Zeitung im vierten Quartal des Jahres 276.000 digitale Abonennten hinzuge­ wonnen habe. "Zum Vergleich: Das sind mehr Abos in einem Quartal als in den Jahren 2013 und 2014 zusammen." Damit der Erfolg jedoch von Dauer ist, muss die New York Times weiterhin neue ­Online-Dienste und Features auf den Markt bringen. Zuständig dafür ist Kinsey Wilson, Executive Vice President : james day james : für Produkt und Technologie. Für ihn be­ fotos steht das Erfolgsgeheimnis darin, meh­ rere Abteilungen für Forschung 76 Think:Act 23 DAS NEUE DIGITALE ZEITALTER

und Entwicklung aufzubauen, die an dungen, wie der neuen Koch-Webseite, unterschiedlichen Zielen mit unter­ für die das Team aus rund 170.000 Re­ schiedlichen Zeitvorgaben arbeiten. zepten, die sich bereits im Archiv der Eine Abteilung ist das Story X F&E-Team, New York Times befinden, stets welche das im Newsroom sitzt und seiner Kre­ heraussucht, um für New Yorker, die we­ ativität freien Lauf lässt. nig Zeit haben, aber dennoch gutes Es­ "Angesichts des raschen Wandels sen und saisonale Zutaten lieben, ein halten wir es für wichtig, ein Team zu "Rezept des Tages" anzubieten. Die Auf­ haben, das nicht Innovation für den gaben der "Core Group" wiederum sind nächsten Tag, die nächste Woche oder der Aufbau, die Wartung und fortlau­ gar die nächsten sechs Monate voran­ fende Entwicklung der Hauptwebsite treibt, sondern zu verstehen versucht, der New York Times sowie von mobilen wie sich das Verhalten der Verbraucher Anwendungen. mit der Zeit verändern wird und wie "Das sind die drei Bereiche. Jeder ar­ Technologie die Art und Weise, wie wir beitet an einem anderen Ort, in einem berichten und Geschichten erzählen, leicht veränderten Tempo an anderen verändern wird", so Wilson. "Die Aufga­ Zielen – parallel zu der Arbeit an einer be besteht also darin, in die ferne Zu­ Story", erklärt Wilson. "So können wir kunft zu blicken, kleine Experimente die verschiedenen Bedürfnisse unserer durchzuführen, Dinge zu hinterfragen Leser erfüllen: jene, die neu sind, jene, und auszutesten, in welche Richtung die sich gerade entwickeln, und jene, der Markt sich bewegen könnte." von denen wir glauben, dass sie sich im Ebenso wichtige Arbeit leisten drei Laufe der Zeit entwickeln werden." andere digitale Gruppen. Die erste sitzt Das Management der New York ebenfalls im Newsroom, besteht aus Times unterstütze und fördere diese Ar­ Softwareentwicklern, Designern, Daten­ beit sehr, fügt er hinzu. "Der Fokus des journalisten sowie Spezialisten für Führungsteams ist hauptsächlich auf interaktive Grafiken und arbeitet mit den digitalen Bereich gerichtet. Dadurch Journalisten in der täglichen Bericht- wurden ideale Bedingungen dafür ge­ erstattung zusammen. schaffen, dass sich auch der Rest des Un­ Die zweite und dritte Gruppe gehö­ ternehmens hinter die Vision stellt, ein ren zum Produktteam von Wilson. Eine robustes, lebendiges und überzeugendes wird die "Beta Group" genannt und Nachrichten-Unternehmen im digitalen sucht nach neuen Themen und Anwen­ Zeitalter zu werden." ■

beispiel #2 er Gründer von trAVELEX, Seit 2014 bemüht sich Travelex um Lloyd Dorfman, eröffnete eine ernsthafte digitale Transformation 1976 seine erste Wechsel­ und konnte nun erste Erfolge einfahren: Travelex stube auf der Londoner Sein Online-Geschäft weist in "ziemlich South­ampton Row. Vier allen" Märkten, in denen das Unterneh­ Name: Anthony Wagerman, CEO DJahrzehnte später betreibt Travelex nicht men aktiv ist, ein zweistelliges Umsatz­ Unternehmen: Travelex nur 1.500 Stores weltweit, sondern auch wachstum auf. "In Großbritannien liegt Digitaler Fokus: Kundenverhalten ein florierendes Digitalgeschäft. es während der Hauptsaison in den Die meisten von uns assoziieren Tra­ Sommermonaten bei etwa 30% bis 40% velex wohl noch immer mit Wechselstu­ des Umsatzes", stellt CEO Anthony ben. Seine Präsenz in Shoppingmeilen, Wagerman fest. Bahnhöfen und Flughäfen zeigt, dass es Dank neuer Online-Dienste haben noch immer ein "echtes" Unternehmen Reisende nun mehr Möglichkeiten, um ist, mit echten Geschäftsräumen. die Währung zu erhalten, die sie benöti­ 77

signale erkannt Travelex stellte fest, dass Kunden heute erwarten, dass alle Dienstleistungen so flexibel sind wie im Internet – und führte Online-Dienste und Prepaid-Karten ein. "Wir müssen In Großbritannien führte Travelex uns an die elektronische Belege ein und fügte so seiner Bedürfnisse Kundendatenbank gen. Sie können sie online bestellen und sich nach Hause liefern lassen oder sie der Kunden an einem Travelex-Schalter oder -Store 290.000 ihrer Wahl abholen. Alternativ dazu kön­ anpassen. Und E-Mail-Adressen nen sie sich für die Selfservice-Option hinzu. Zudem erweiterte entscheiden und das Geld an einem der die Kunden sagen das Unternehmen Travelex -Geld­automaten für Fremd­ uns, dass sie sein Marketing-Netzwerk bis währungen abheben, die es in rund Ende 2016 um rund 14 Ländern gibt. Oder sie verzichten digital­ wollen." komplett auf Bargeld und nehmen eine ­Travelex-Prepaid-Geldkarte mit auf Rei­ Anthony Wagerman, 60.000 sen. All dies sind neue Produkte, die das CEO von Travelex Kunden. : shutterstock Unternehmen im Laufe der vergangenen foto Jahre eingeführt hat. 78 Think:Act 23

Laut Wagerman beruhen seine Ent­ scheidungen in diesem Bereich auf Beob­ achtungen von Verbrauchertrends. "In Bezug auf digitale Transformation lautet unsere wichtigste Maxime, unseren Kun­ den zu folgen und mit ihnen auf die Weise zu interagieren, die ihnen am bes­ ten passt. Ich sage meinen Mitarbeitern oft: 'Denkt darüber nach, was ihr als Kunden mögt.'" Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müsse Travelex seinen Kun­ den das gleiche reibungslose Kunden­ erlebnis bieten, das sie von Apple oder Amazon erwarten, glaubt er. Bei anderen Geschäftsführern beob­ achtet Wagerman oft fasziniert deren Unverständnis, wenn es um Kunden­ erlebnis geht. "Sie tun digitale Transfor­ mation gänzlich als Marketingjargon ab, gleichzeitig tippen sie sogar während Unterhaltungen auf ihren iPhones herum und kaufen Zugtickets oder Bücher." Mit anderen Worten: Sie erken­ nen nicht einmal die Signale, die ihr eigenes Verhalten aussendet, geschweige denn die ihrer Kunden. In seinem Führungsstil legt Wager­ man den Fokus darauf, die Denkweise seiner Mitarbeiter auf dieses Kunden­ erlebnis auszurichten, vor allem bei den IT -Teams, die neue digitale Kanäle für die Interaktion mit den Kunden entwi­ ckeln. "Technologie ist äußerst wichtig – durch sie werden wir für unsere Kunden zugänglich. Sie bestimmt, wie wir unsere Kunden bedienen. Aber wir sollten nicht Zukunftstraining Technologie selbst in den Mittelpunkt "Ich will nicht, Mitarbeiterentwicklung stellen, denn was wirklich zählt, ist, ist Kern der Strategie unseren Kunden ein besseres Erlebnis dass sich nur von . Jährliche bei Travelex zu bieten." Schulungsstunden einer meiner Die digitale Transformation hat Tra­ (in Tausend): velex ein hartes Stück Arbeit abverlangt. Mitarbeiter Doch die Bemühungen scheinen sich 2014 110 bezahlt zu machen. "Es ergibt keinen langweilt. Ich Sinn, die Augen zu verschließen und so zu tun, als würde es den digitalen Wan­ will, dass ihre 2015 112 del nicht geben", sagt Wagerman. "Wir Arbeit sie müssen uns an die Bedürfnisse unserer Kunden anpassen. Und die Kunden 2016 127 begeistert." sagen uns, dass sie digital wollen." ■ Malika Mir, Chief Information quelle: www.ipsen.com and Digital Officer bei Ipsen DAS NEUE DIGITALE ZEITALTER Think:Act 23 79

beispiel #3

Ipsen

Name: Malika Mir, Chief Information and Digital Officer Unternehmen: Ipsen Digitaler Fokus: Intelligente Personalpolitik

N diesen ZEITEN, IN DENEN DIGITALE den Markt und die Patienten." Mir ist KENNTNISSE Mangelware sind (und überzeugt davon, dass Ipsen durch die die verfügbaren einen hohen Preis Einstellung dieser digitalen Manager sei­ haben), ist eine intelligente Perso­ nen Vierjahresplan für die digitale Trans­ nalpolitik wesentlich für jedes formation schneller umsetzen kann, der IUnternehmen, das die digitale Transfor­ sich momentan von 2016 bis 2020 mation anstrebt, sagt Malika Mir, Chief erstreckt. Zu den ersten Ergebnissen die­ Information and Digital Officer bei ser Strategie zählt die Webseite "Living Ipsen, einem 1,67 Milliarden US-Dollar with NETs" für Patienten mit neuroendo­ schweren Pharmaunternehmen mit Sitz krinen Tumoren (NET). Ipsen füllt damit in Frankreich. Junge Hochschulabsol­ eine Lücke: Weil diese Tumore selten venten hoffen häufig darauf, einen Job sind, fehlt es Patienten an Informatio­ bei einem Internetgiganten wie Google nen. Ipsen aber ist auf Medikamente für oder Facebook oder einem schnell diesen Markt spezialisiert. wachsenden Start-up zu finden. Etab­ Eines der jüngsten digitalen Pro­ lierte Unternehmen können da nur mit­ dukte ist eine App, die Patienten In­- halten, wenn sie ihnen spannende Pro­ formationen und Beratung zu Rehabili­ jekte anbieten können. tationsübungen bietet, die gegen Spas­ Allerdings reichen in der Pharma­ tizität der oberen Gliedmaßen helfen. industrie digitale Kenntnisse allein oft Zukünftig könnte Ipsen sich sogar wei­ nicht aus. "Bevor wir eine App oder ter vorwagen – in das Territorium der : pr ipsen einen Online-Dienst einführen können, vernetzten Gesundheitsgeräte, weiterer foto müssen wir eine Menge Leute zufrieden­ Online-Dienste für Gesundheitsdienst­ stellen: Rechtsabteilungen, Experten leister und vielleicht sogar in den Ver­ für Arzneimittelzulassung, Mediziner, kauf von Daten, wie sie in klinischen Experten für Ethik und Compliance." Studien gewonnenen werden. "Hier Mir will darum zusätzlich zu ihrem wird sich die digitale Disruption in Team digitaler "Generalisten" drei neue unserem Markt bemerkbar machen. Experten einstellen, die mindestens Unser Top-Management weiß, dass wir fünf Jahre Erfahrung im Bereich digi­ uns daran beteiligen müssen oder ein tale Transformation bei anderen Phar­ anderer es tun wird – ein etablierter maunternehmen vorweisen können. Wettbewerber oder ein neues Start-up." "Digitale Experten mit Erfahrung im Das erhöht den Druck, nicht nur Pharmabereich haben in der Regel ein neue Mitarbeiter mit digitaler Expertise besseres Verständnis davon, wie Men­ anzulocken, sondern sie auch langfristig schen mit Erkrankungen zurechtkom­ zu motivieren, indem sie sich bei unter­ lasst die ideen ranrollen men und was nützlich für sie sein könnte. schiedlichen spannenden Projekten ein­ Ipsen setzt neue Mitarbeiter Darüber hinaus haben sie zumeist eine bringen können. "Ich will nicht, dass in vielen verschiedenen Pro- klarere Vorstellung von Verfahren, Vor­ sich nur einer meiner Mitarbeiter lang­ jekten ein und fördert so die schriften und Einschränkungen, die für weilt. Ich will, dass ihre Arbeit sie begeis­ Motivation und Begeisterung Kommunikation über Erkrankungen tert und sie sich freuen, wie Digitalisie­ für digitale Innovationen. und Produkte existieren. Sie verstehen rung unsere Branche voranbringt." ■ 80 Think:Act 23 Service

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KONSUMGÜTER Surfen Sie auf der Marketingwelle Digitale Umwälzungen, Hyperwettbewerb, geänderte Verbraucherwünsche – über den Herstellern von Konsumgütern schlagen immer neue Wellen zusammen. Wie kön- nen Sie elegant auf diesen Wellen surfen – oder wenigstens den Kopf über Wasser halten? Roland Berger taucht in die Turbu- lenzen der Konsumgüterbranche ein und zeigt mit einer Studie, wie Sie vermeiden, unterzugehen. Wie Sie gegen den Strom schwimmen und Ihre Kunden begeistern. Lesen Sie, wie Sie "Wahrnehmungslücken" 83% 54% 5 bei kritischen Punkten schließen können, und erhalten Sie Profi-Tipps mit wasser- dichten Strategien für eine noch bessere der Marketing- der Hersteller von effektive Performance. Auf in die Fluten! Entscheider Konsumgütern Taktiken glauben, dass ihre glauben nicht, dass ihre helfen, Lücken in Ihrer Strategien nicht Vertriebsmannschaft Strategie zu schließen →→ gegen den strom ausreichen, um die 2017 die gesetzten Ziele und Ihr Unternehmen Raus aus dem Nichtschwimmerbecken. So steigt Ihr Konkurrenz zu schlagen. erreichen wird. voranzutreiben. ­Unternehmern auf: http://rb.digital/2rh7nJK

VERSORGUNGSBRANCHE SACHANLAGEN Geschäftsmodelle So funktioniert für Energiespeicher Asset Efficiecy Energiespeicher gibt es schon länger. Mit dem Ausbau regene- Asset Efficieny ist ein entscheidender Faktor in rativer, dezentraler Energiesysteme aber werden sie unumgäng- ­anlagenintensiven Branchen. Aber nur ein Viertel lich, um das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage aller Firmen hat seine Vermögenswerte erfolgreich auszubalancieren. Daraus ergeben sich neue Geschäftschancen. dem veränderten Markt angepasst. Roland Berger Mit Erkenntnissen aus Fallstudien verschafft Roland Berger ­präsentiert die wichtigsten deutschen Player und neue Einblicke in die Zukunft dieses Marktes und gibt Empfeh- bewährte Lösungen, passend für Ihre Branche lungen, was zu tun ist. und ­Situation.

→→ neue chancen ergreifen →→ sieg auf der ganzen linie Energiespeicher können Geschäftsmodelle ins Wanken bringen. Die Studie stellt vier Bereiche vor, die sich im Wandel befinden. Sind Sie für die Zukunft gewappnet? http://rb.digital/2swAclt Hier sollten Sie aktiv werden: http://rb.digital/2uOF5I7 Service Think:Act 23 81

GLOBALE MEGATRENDS

Mobilität AutomatischesDigitale Fahren VernetzungElektrifizierung MEGATRENDS 1 Demografischer Mehr Überblick, Wandel bessere Strategie 2 Globalisierung und AUTOMOBILBRANCHE Wir leben in einer flüchtigen, ungewissen, komplexen Zukunftsmärkte und mehrdeutigen Welt – oder, nach den englischen Begriffen dafür: in einer VUCA-Welt. Wer die wich- 3 Ressourcenknappheit Den Wandel auf tigsten Megatrends erkennt, kann diesen Überblick zum Vorteil seines Unternehmens nutzen, vor allem bei 4 Klimawandel und dem Radar haben strategischen Planungen. In der dritten, überarbeiteten bedrohtes Ökosystem Die Automobilbranche hat sich immer Auflage des Trend Compendium 2030 von Roland Berger, basierend auf einem Jahrzehnt kollektiver 5 linear entwickelt. Das heißt: bis jetzt. In Dynamische Einblicke und der erfolgreichen Zusammenarbeit den vergangenen zwei Jahren traten gleich Technologien mit dem Weltwirtschaftsforum, präsentiert es tief­ vier disruptive Megatrends parallel auf, und Innovation greifende Analysen zu sieben Megatrends, die die die die Kfz-Branche in den kommenden 6 Welt verändern werden, darunter der demografische Globale 10 bis 15 Jahren völlig neu gestalten Wandel, Ressourcenknappheit, Nachhaltigkeit, Inno- Wissensgesellschaft können: (M)obilität, (A)utomatisiertes vation und globale Verantwortung. Zahlreiche Projekte 7 Fahren, (D)igitale Vernetzung und konnten die reichhaltigen Informationen des Trend Nachhaltigkeit Compendiums bereits für sich nutzen. (E)lektrofizierung (MADE). Aber Entschei- und globale Verantwortung der müssen langfristige Investitions­ →→ megatrends verstehen entscheidungen treffen. Darum brauchen Ein einzigartiger Einblick in die Megatrends, die die Wirtschaft sie stetige Analysen des Marktes. Der verändern werden: http://rb.digital/2sWII9O bahnbrechende Automotive Disruption Radar von Roland Berger erfasst systema- tisch 25 Transformationsindikatoren in ASSET MANAGEMENT den weltweit wichtigsten Märkten. Gerade Ameise oder Grille? in unsicheren Zeiten ist er darum ein wertvolles Tool mit zuverlässigen Daten, Günstige Marktkurven führen gern dazu, Strategie­ unabhängig von Zeitfenstern und nationa- prüfung und Umstrukturierung aufzuschieben. une & hardwig Leider schützen sie Asset Manager nicht vor ka

/ len Grenzen. Entscheider können mit ihm Herausforderungen, die weiterhin vor ihnen besser drohenden komplexen Veränderun- liegen – und stetig mehr werden. Roland Berger gen begegnen. Zugleich beobachtet der wirft ein Schlaglicht auf das zunehmende Auf und Radar die mit der Automobilbranche Ab im Asset Management. Die Studie empfiehlt vier verknüpften Branchen und liefert entscheidende Maßnahmen, um dem zu begegnen. Die Frage, wer Wettbewerbsvorteile nutzt, Kostenzyklen durchbricht, Führungsk­ räften die Expertise, die sie gezieltes Marketing betreibt und die Digitalisierung brauchen, um in stürmischen Zeiten als Chance versteht, wird Grillen von Ameisen trennen, effektiv handeln zu können. wenn der Winter kommt.

→→ navigation im turbulenten markt →→ bereit für zukünftige erfolge : getty images; illustrationen: malte kaune malte illustrationen: images; : getty Die Automobilbranche verlässt ihren Kurs. Holen Sie sich Nutzen Sie den Rückenwind von heute für zukünftige

fotos die neue Roadmap: http://rb.digital/2pcDnge Flauten: http://rb.digital/2r41tdp 82 Think:Act 23 Itay Talgam

DREI FRAGEN: ITAY TALGAM

Der Dirigent itay talgam glaubt, dass Sie Ihr Unternehmen so führen können, dass alle Bereiche so harmonisch zusammenspielen wie in einem Orchester. Hier beantwortet er drei Fragen zum Thema Komplexität.

Was kann ein Unternehmer von der Schönheit und Vielschichtigkeit einer Orchesterpartitur über die "Ein Orchester braucht einen wachsende Komplexität der heuti- Führungsstil, der dem Künstler gen Geschäftswelt lernen? Eine Partitur ist nur ein fantastischer Plan, im Musiker freien Lauf lässt." um Musik zu machen, aber noch keine Musik. Wenn Ihre Produktskizzen oder Ihr Marketingkonzept so gut sind wie die Partitur für eine Mozart-Symphonie, Welche Komponenten benötigt befinden Sie sich in einer guten Start­ ein Orchester, um sein volles position. Ihre erste Aufgabe als dirigie­ Potenzial auszuschöpfen? render Chef ist, sich in diesen Plan zu Ein Orchester braucht einen Füh­ vertiefen und mit der Zeit Muster, wie­ rungsstil, der dem Künstler im derkehrende Ereignisse und Verknüp­ Musiker freien Lauf lässt und gleichzei­

KOMPLEXITÄT fungen zu erkennen. So wird "Ihr" Mo­ tig ermöglicht, die Musiker zu koordi­ zart etwas Besonderes sein: Ihre nieren. Das Potenzial für Spitzenleis­ einzigartige Interpretation der tungen ist endlos, weil es nicht nur Fakten, die Sie als Künstler glän­ vom eigenen Können und gemeinsa­ zen lässt – oder als meisterhaf­ men Üben abhängt, sondern von den ten Geschäftsmann. unberechenbaren Einflüssen aller Teil­ Wenn sie beginnen, nehmer. Es ist Aufgabe der Führungs­ den von Ihnen kraft, diese zuzulassen und zu fördern. interpre­tierten Wie hilft Zuhören Unternehmern Plan mit Ihren dabei, erfolgreich zu sein? Partnern – Musi­ Zuhören ist das Wichtigste, um et­ kern, Mitarbei­ was Neues in Ihr Leben zu bringen. tern – umzusetzen, denken Sie, daran, Ein "Keynote Listener" geht über dass Sie ihnen etwas voraushaben, da die rein passive Rolle hinaus; er schafft Sie sich schon seit Tagen oder gar Wo­ eine Kultur des Zuhörens. So ändert sich chen mit dem Plan beschäftigen. Und auch die Art, wie Menschen miteinander denken Sie daran, dass auch Ihre Part­ reden: Es gibt mehr Vertrauen, Hem­ ner Ihnen etwas voraushaben: Wenn mungen verschwinden und eine Ge­ diese das erste Mal in ihre Rollen hin­ meinschaft von Zuhörern entsteht. Ihre einschlüpfen, führt das zu Einblicken, Aufgabe ist es, die Eigenschaften dieses die weit über Ihre vorherigen Erwartun­ "Hallraums" zu erschaffen und zu erhal­ gen hinausgehen werden. ten: Sie erlauben, dass manche Stimmen den Ton angeben, sorgen dafür, dass an­ Itay Talgam ist ein Schüler von dere sich bis zum passenden Moment Leonard Bernstein und zurückhalten, und verstärken die Stim­

Autor von The Ignorant Maestro: men, die sonst vielleicht untergingen. saidi sasan opperskalski; illustration: jonas foto: How Great Leaders Inspire Unpredictable Brilliance. IMPRESSUM

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Alan Perlis, Informatiker (1922–1990)

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