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Sendung vom 26.07.2002, 20.15 Uhr

Dr. Erhard Keller Eisschnelllauf-Olympiasieger 1968/1972 im Gespräch mit Christian Materna

Materna: Herzlich willkommen, liebe Zuschauer, zum Alpha-Forum. Mein heutiger Gesprächspartner hat früher reihenweise seinen Gegnern die Zähne gezogen, heute tut er das mit seinen Patienten. Herzlich willkommen, Dr. Erhard Keller. Herr Keller, was ist oder war schwieriger: früher die Gegner zu "verarzten" oder heute die Patienten? Keller: Sagen wir mal so: Das eine hing mehr vom Körper ab, während das andere mehr vom Geist, vom Wissen und von der Fingerfertigkeit abhängt. Ich würde aber schon sagen, dass der Beruf schwerer ist: Da muss man sich ein Leben lang weiterentwickeln, während die Zeit im Sport doch nicht so lang ist. Im Sport ist man vielleicht zehn Jahre lang in Hochform: So eine Zeitspanne kann man natürlich besser überblicken als ein berufliches Leben, das letztlich ja auch die eigene wirtschaftliche Existenz darstellt. Insofern muss man sich also in sein berufliches Leben schon mehr 'reinhängen als im Sport. Wenn man im Sport schlechter wird, dann hört man halt einfach damit. Den Beruf braucht man jedoch länger, schon alleine deshalb, um dann später auch mal eine Rente zu bekommen. Materna: Was werden Sie denn heutzutage mehr gefragt? Fragen nach dem Eisschnelllauf oder Fragen nach der Zahnhygiene? Keller: Das mischt sich. Wenn ich z. B. mit irgendwelchen fremden Leuten zusammen eine Golfrunde mache, dann reden die Leute mit mir natürlich zuerst einmal über den Sport, das ist klar. Danach kommen dann aber doch ihre eigenen Wehwehchen ins Spiel und sie frage mich dann: "Ich habe da dieses und jenes Problem. Können Sie mir da nicht vielleicht einen Rat geben?" Es ist also so, dass das Gespräch am Schluss dann doch immer wieder bei der Zahnmedizin landet. Materna: Früher standen Sie ja absolut in der Öffentlichkeit: Da wurden Sie immer erkannt, da konnten Sie nichts machen, ohne dass es am nächsten Tag in der Zeitung gestanden hätte. Stört es Sie, dass das heute nicht mehr so ist, dass Sie im Prinzip aus den Schlagzeilen raus sind? Oder genießen Sie das? Keller: Nun, ich hatte es ja eigentlich ganz bewusst so gesteuert, dass ich aus den Schlagzeilen herauskomme. Das war auch der Grund dafür, warum ich mich aus meinen Fernsehtätigkeiten zurückgezogen habe. Ich hatte damals beim WDR sogar so viele Sendungen gemacht, dass man mich eigentlich fest hätte anstellen müssen, weil es dabei ja gewisse gesetzliche Regelungen gab. Aber das war eigentlich nie mein wirkliches Ziel, ich wollte mich stattdessen ganz auf meinen Beruf zurückziehen, auf einen Beruf, den ich erlernt und studiert hatte. Ich wollte später einmal ganz normal als Bürger durch die Straßen gehen können, ohne dass man ununterbrochen in den Schlagzeilen vorkommt. Uschi Glas oder Boris Becker z. B. sind in der Hinsicht ja auch wirklich nicht zu beneiden. Ich hatte natürlich nie den Bekanntheitsgrad wie diese beiden, aber ich habe mich dann letztlich doch ganz elegant aus der Affäre ziehen können. Materna: Sie waren aber annähernd schon so bekannt wie diese beiden. Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre waren Sie schon annähernd so bekannt wie Boris Becker später. Sie hatten ja auch entsprechend gute sportliche Leistungen aufzuweisen. Keller: Wissen Sie, womit diese Bekanntheit zu tun hatte? Sie müssen sich vorstellen, dass es damals ja nur zwei Fernsehanstalten gegeben hat. Man hatte also auf jeden Fall die Chance, dass man von 50 Prozent der Zuschauer gesehen wird: Deswegen war man damals so bekannt. Heute gibt es hingegen unglaublich viele Programme und deswegen ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass man von demjenigen, der den Fernseher einschaltet, gesehen wird, viel geringer. Früher war das wirklich einfacher. Aber Sie haben schon Recht: Aus dem Grund hatte man damals einen unglaublich hohen Bekanntheitsgrad. Wer am Samstagabend z. B. "Spiel ohne Grenzen" angesehen hat, hat dann eben auch mich in dieser Sendung gesehen. Und so kannten mich dann halt schon mal 50 Prozent der Zuschauer. Materna: Wie sind Sie denn damals mit diesem Leben in der Öffentlichkeit umgegangen? Haben Sie das steuern können? Keller: Nicht bewusst, sondern indirekt. Man hat sich eben in der Öffentlichkeit genauso benommen, wie man sich auch zu Hause oder im Freundeskreis benommen hat. Wenn man im Freundeskreis mit diesem Benehmen ankommt, dann kommt man damit auch in der Öffentlichkeit an. Man darf jedenfalls auf keinen Fall schauspielern, denn so etwas hält man eh nur eine begrenzte Zeit durch und dann geht das nicht mehr. Weil ich mich in der Öffentlichkeit genauso benommen habe, genauso geredet und gelacht habe wie im Privatleben, kam das gut an: Aus dem Grund konnte ich mich dann eben auch längere Zeit halten. Materna: Diesen Fehler machen heutzutage aber einige: dass sie schauspielern und dann auch in der Pflicht sind, diese Rolle permanent vorführen zu müssen. Auch im Hinblick auf Ihr Privatleben stand viel in den Gazetten und in der Boulevardpresse. So etwas kann einem doch eigentlich nicht recht sein, denn privat sollte doch privat bleiben. Keller: Nun gut, das ist ganz einfach der Preis dafür, wenn man im Licht der Öffentlichkeit steht. In den letzten 20 Jahren gab es ja immer stärker den Trend, der Öffentlichkeit auch das Privatleben zu präsentieren. Da kommt man zwangsläufig rein: So etwas lässt sich nicht steuern. Man muss halt nur schauen, dass man das mit den Journalisten irgendwie fair über die Runden bringt. Bis auf ein paar kleine Ausrutscher kam ich eigentlich mit den ganzen Journalisten gut aus. Aus dem Grund liefen dann auch negative Dinge ganz glimpflich ab. Materna: Eine Schattenseite gab es aber im Hinblick auf Ihre Popularität doch: Ihnen drohte einst als Zahnarzt sogar Berufsverbot, weil man argumentierte, dass Sie für Ihre Praxis Werbung betreiben würden, was natürlich verboten ist. Das war also manchmal dann doch ein Problem. Keller: Das Wort "Berufsverbot" ist doch ein zu krasser Ausdruck, denn so leicht kann einem da nicht der Beruf verboten werden: Da würden doch zu viele gerichtliche Auseinandersetzungen folgen. Solche Prozesse würden sich dann über Jahre hinziehen. Aber ich habe in der Tat öfter mal Abmahnungen bekommen. Das läuft so ab, dass man da vom Berufsverband angeschrieben wird und einem mitgeteilt wird, dass man verbotenerweise Werbung betrieben hätte. Mit Werbung war gemeint, dass man gesagt hat, man sei Zahnarzt. Wenn man dann auch noch dazu gesagt hat, dass man seine Praxis in Grünwald hat, dann ist so etwas in der Hinsicht natürlich tödlich. Diese ganze Sache ging dann aber doch ganz gut aus, weil ich mich eines Tages mit diesen Verbandsfunktionären zusammengesetzt habe. Die "Welt am Sonntag" hatte nämlich einen Artikel geschrieben und dafür den Präsidenten der Zahnärztekammer angerufen: Man rief ganz normal bei ihm an und erklärte ihm nach dem Gespräch, dass man in der Zeitung nicht nur seinen Namen, sondern auch den Ort der Praxis und die Sprechstunden abdrucken werde. Daraufhin sagte dieser Präsident: "Das dürfen Sie aber nicht!" Deren Antwort war aber nur: "So, nun schauen Sie mal, ob Sie das verhindern können, dass wir dieses und jenes schreiben!" Der Journalist hat das dann auch genauso geschrieben. Dies hat dem Präsidenten doch zu denken gegeben. Deswegen hat er dann zu mir gesagt, dass sich so etwas in meinem Fall tatsächlich nicht steuern lässt, wenn man so populär ist wie ich. Deshalb haben wir uns so arrangiert: Ich sollte es halt möglichst vermeiden, zu viel zu machen, aber ich brauchte es auch nicht mehr ganz verhindern. Materna: Das heißt, ich dürfte es hier nun sagen. Aber Sie brauchen ja auch gar keine Werbung mehr. Wenn Patienten zum ersten Mal zu Ihnen kommen, wie ist das eigentlich? Kommen sie, um von einem Olympiasieger behandelt zu werden? Macht das etwas aus? Keller: Der Einstieg war so: Ich habe meine Praxis 1975 eröffnet und war ja davor im Jahr 1972 zum zweiten Mal Olympiasieger geworden. Da kamen natürlich schon sehr viele Leute aus Neugier zu mir. Das ist ja auch klar: Zu einem jungen Zahnarzt gehen die meisten Menschen ansonsten ja nur mit großer Vorsicht, weil sie sich fragen, ob der überhaupt schon sein Geschäft versteht. Es war also schon eine gewisse Neugier mit dabei: Diese Neugier hat mir geholfen, das stimmt, denn so hatte ich eben von Anfang an ein "volles Haus". Aber nach drei, vier Jahren kamen dann doch die "Wiederholungstäter" zu mir. Die Patienten kamen also wieder und hatten mich in der Zwischenzeit auch weiterempfohlen. Da hat dann also das Sportliche nicht mehr den Ausschlag gegeben. Im Gespräch mit dem Patienten habe ich aber schon auch immer ein bisschen vom Sport erzählt: Damit konnte ich den Patienten ablenken und ihm ein wenig die Angst nehmen, sodass er nicht permanent an den Bohrer denken musste. Materna: Sie haben Ihren Sport, das Eisschnelllaufen, auf Ihrem täglichen Schulweg entdeckt. Muss man sich das so vorstellen, dass da der kleine Erhard Keller dort am Zaun vom Eisstadion stand und die Schule schwänzte? Wie war das damals? Keller: Ich ging damals in Pasing ins Gymnasium. Dort in Pasing, genauer gesagt Am Knie, wurde zu der Zeit ein neues Eisstadion gebaut. Das war ungefähr doppelt so groß wie ein Eishockeyfeld. Damit war die Möglichkeit gegeben, dass die Eisschnellläufer wenigstens auf einer reduzierten Bahn trainieren konnten: so ähnlich wie heute bei diesem Indoor-Skating. Ich ging von der Schule nach Hause und erlebte dabei zufällig die Eröffnungsfeier dieses Stadions. Ich hatte keine Ahnung, dass da an dem Tag eröffnet werden sollte. Ich sah also jede Menge Lampen und hörte Musik von drinnen. Ich ging rein und sah dort, wie die Eisschnellläufer gerade ihre Demonstrationsläufe machten. Weil diese Bahn aber nicht die normale Größe hatte, konnten sie im Hinblick auf die Geschwindigkeit nicht voll laufen. Das habe ich damals aber gar nicht realisiert, denn ich dachte mir nur: "Na, so schnell wie die kannst du auch laufen!" Ich habe mich dann auch gleich mit ein paar Zuschauern und Eisschnellläufern ins Benehmen gesetzt und gefragt, wo man denn die passenden Schlittschuhe herbekommen könnte. Es hat mir dann auch gleich einer ein paar so alte Dinger verkauft: Die waren mir freilich viel zu groß. Am nächsten Tag habe ich jedenfalls schon beim Training mitgemacht. Materna: Sie haben, wenn das stimmt, was ich gelesen habe, damals einen Kredit von der Oma bekommen, um dieses erste paar Schlittschuhe kaufen zu können. Haben Sie diesen Kredit eigentlich je zurückbezahlt? Keller: Wenn ich damals zu meinen Eltern gesagt hätte, ich bräuchte schnell mal 30 Mark für Schlittschuhe, dann hätten die nur gesagt: "Was soll denn dieser Blödsinn. Das wirst du ja doch nicht machen!" Die Großmutter hatte jedoch Verständnis dafür: Sie gab mir diese 30 Mark und so konnte ich dem damaligen bayerischen Dobler seine alten Dinger abkaufen. Ich habe das aber insofern zurückgezahlt, weil meine Großmutter wirklich zum größten Fan von mir wurde. Sie hat alle Zeitungsartikel ausgeschnitten und archiviert. Auch das Buch, das ich mal geschrieben habe – "Mit 74 Schritten zum Ziel" –, hat sie wohl an die zehn Mal gelesen. Ich glaube, ich habe sie damit ganz gut beschäftigt. Materna: Haben Sie eigentlich dieses erste paar Schlittschuhe noch? Keller: Nein, die habe ich nicht mehr. Sie waren mir ja, wie gesagt, viel zu groß und deswegen habe ich sie dann wieder weiterverkauft, um mir passendere zu kaufen. Aber mit den Schuhen von meinen letzten olympischen Spielen 1972 laufe ich heute noch. Damals wurden außer meinem Paar Schuhe nur noch zwei weitere solcher Titanschlittschuhe gebaut: Das war damals das erste Mal, dass man im Eisschnelllaufen anstatt der Eisen- bzw. Stahlschienen diesen Werkstoff verwendet hat. Diese Schuhe sind mir so an den Fuß gewachsen und sind auch so bequem, dass ich nicht mehr wechseln will. Ich würde zwar liebend gerne diese modernen Klappschlittschuhe laufen wollen, aber das ist nicht so bequem. Ich habe diese Klappschlittschuhe nämlich schon ausprobiert: Ich bin auf Anhieb sehr gut mit ihnen zurechtgekommen. Aber Sie drücken einen halt. Sie brauchen oben einen stabilen Schuh, damit die wegen der klappenden Schienen genügend Stabilität vorhanden ist. Dieser Schuh ist z. T. aus Plastik und z. T. karbonverstärkt. Das heißt, diese Schuhe drücken. Also laufe ich weiterhin mit den alten, bequemen und schönen Lederschuhen von damals. Materna: Sie wollen also heute lieber bequem als unbequem laufen. Keller: Ganz so schnell bin ich ja nicht mehr, also tun es die Alten auch noch. Materna: Sie haben damals mit diesem ersten, zu großen Paar Schuhe ein halbes Jahr trainiert und sind dann gleich bayerischer Juniorenmeister geworden über 500 Meter. Waren Sie ein solches Naturtalent oder so besessen, diesen Sport zu erlernen? Was war damals Ihre Stärke? Keller: Man muss fairerweise sagen, dass ich schon mit fünf Jahren mit normalen Schlittschuhen das Eislaufen gelernt hatte. Sowohl im Prinzregentenstadion beim Schuleislauf wie dann auch in Laim in diesem Weststadion war ich dann fast jeden Tag beim Eislaufen. Ich bin dort mit Eishockeyschlittschuhen herumgerast: Als Kinder spielt man dann eben immer Fangen auf dem Eis und dabei war ich immer schon der Schnellste gewesen. Ich hatte mir also schon so eine gewisse Grundtechnik selbst beigebracht. Dadurch war ich natürlich besessen, das dann richtig zu lernen, da haben Sie recht. Ich habe also ganz konsequent angefangen zu trainieren. Schon nach vier Wochen bin ich damals Münchner Meister geworden. Im gleichen Jahr wurde ich dann, wie erwähnt, bayerischer Neulingsmeister: Das war so eine eigene Klasse. Diese Meisterschaft fand auf dem Frillensee statt, weil damals in Inzell noch auf diesem See gelaufen wurde. Ich wurde also über 500 Meter Neulingsmeister. Die 1000 Meter hätte ich eigentlich auch gewonnen, aber ich hatte dabei die Bahn falsch gewechselt. Man hatte mir das nämlich nicht richtig beigebracht: Es war das erste Mal, dass ich auf einer 400m-Bahn laufen durfte. Und man wechselt eben beim Eisschnelllaufen pro Runde einmal die Bahn. Ich habe jedoch schon auf jeder Geraden und damit nicht nur einmal, sondern gleich zweimal pro Runde gewechselt. Ich lief dabei an meinem Gegner vorbei und fragte ihn auch noch, warum er denn nicht seinerseits auch die Bahn wechseln würde. Er schaute mich aber nur ganz entsetzt an. Er war halt im Recht und ich nicht! Materna: Dieser Fehler ist Ihnen dann aber später nicht mehr passiert. Keller: Nein, nie wieder. Das hat damals nämlich zu einer Disqualifikation geführt: Das war auch das einzige Mal, dass ich bei einem offiziellen Rennen disqualifiziert worden bin. Materna: Sie haben sich damals schon recht früh auf die Sprintdistanzen festgelegt: Warum eigentlich, denn eigentlich war das ja die unpopulärere Distanz? Keller: Damals ja, heute ist das nicht mehr so. Es war einfach so, dass ich von Natur aus, vom Talent her, Sprinter war. Ich war auch bei den Schulmeisterschaften, die in Bayern immer im Dante-Stadion ausgetragen wurden, über den 100m-Sprint der Schnellste. Der zweite Grund war die Zeitfrage: Man muss nämlich für den Sprint zwar talentiert sein, muss aber nicht diesen enormen Zeitaufwand beim Training betreiben. Man kam damals am Tag mit drei, vier Stunden Training aus. Die Mittel- und Langstreckler haben jedoch auch damals schon zweimal am Tag trainieren müssen. So etwas wäre aber bei mir im Hinblick auf die Schule und später das Studium nicht gegangen. In diesem Fall waren natürlich diejenigen bevorzugt, die bei der Bundeswehr in der Sportkompanie für den Sport freigestellt waren. Deshalb war für mich der Sprint diejenige Strecke, die ich machen wollte und die ich in zeitlicher Hinsicht auch nur machen konnte. Materna: Sie sind dann später von München nach Inzell gegangen. Hat Ihnen Inzell viel gebracht, weil dort die Trainingsmöglichkeiten um so vieles besser waren? War das der Grund gewesen, dorthin zu gehen? Keller: Das Ganze ging nur dadurch. Einer der Gründe für meinen Umzug war, dass hier in München auf dem Gymnasium in Pasing die Lehrer und vor allem auch der Schuldirektor nicht sportbegeistert waren. Sie haben mir für Lehrgänge usw. nie frei gegeben. Meine schulischen Leistungen waren dann auch nicht mehr so gut: Sie haben mich schon auch noch ein bisschen gedrückt. Deswegen wollte ich nach Reichenhall gehen. Man hat mir dann auch angeboten, im Eisstadion in Inzell ein Zimmer zu bekommen. Ich fuhr also zu Beginn des neuen Schuljahres nach Reichenhall und ging schnurstracks ans dortige Gymnasium. Dort kam gleich auf den ersten Metern ein älterer Herr auf mich zu, den ich sofort gefragt habe, wo ich denn hier den Herrn Direktor finden könnte. Er fragte mich nur, was ich denn von ihm wolle. "Ich möchte mich anmelden, denn ich bin in Inzell Eisschnellläufer und will hier auf die Schule gehen." Er meinte daraufhin nur: "Der Direktor bin ich. Hast du deine Zeugnisse dabei?" Ich erzählte ihm alles, gab ihm meine Zeugnisse und er sagte zu mir: "Du kannst kommen und gehen, wann du willst. Ich bin ein Sportfan." Das war dann der absolute Startschuss für mich. Ich habe im Eisstadion gewohnt und hatte damit die Eisbahn fünf Meter vor der Nase. Ich ging darüber hinaus auf eine sehr gute Schule, die auch noch einen Direktor hatte, der wie ein Sportdirektor war und der mir immer frei gegeben hat, wenn es nötig war. Er hat auch darauf geschaut, dass ich in der Schule trotzdem noch mitkomme. In meinem ersten Jahr dort wurde ich dadurch dann auch gleich Deutscher Meister. Bei der anschließenden Weltmeisterschaft in Göteborg wurde ich auch noch Dritter über 500 Meter. So ging es dann mit meiner Läuferkarriere nach oben. Materna: Zu Beginn Ihrer Zeit war es im Hinblick auf dieses Zimmer wohl nicht sehr bequem. Denn damals befand sich ja alles noch im Rohbau. Keller: Bequem war das wirklich nicht. Es war auch erst ein Teil des Gebäudes fertig: Dort wohnten Gerd Zimmermann, der damalige Deutsche Meister im Vierkampf und heutige Stadiondirektor von Inzell – er hat sich also dort richtiggehend etabliert – und ich. Wir hatten zusammen ein kleines Zimmer: Mein heutiges Bad ist größer als dieses Zimmer damals. Ich weiß noch, dass ich, wenn ich die Hausaufgaben machen wollte, den kleinen Tisch zuerst einmal von der Kleidung meines Mitbewohners befreien musste. Das war also schon alles recht primitiv. Aber dafür war alles auch viel kumpelhafter: Man hatte einen viel besseren Zusammenhalt. Zum Essen ist man nach unten gegangen und hat mit den Handwerkern, die damals ja noch am Stadion gebaut haben, Brotzeit gemacht. Das waren dann auch die ersten Fans, die beim Rennen an der Bahn standen. Sie sind nämlich am Samstag und Sonntag nicht immer nach Hause gefahren, sondern haben einem zugeschaut und einen angefeuert. Das war schon ein sehr kumpelhaftes Umgehen miteinander, das mir gut gefallen hat und das mich auch in meiner Leistung befördert hat. Materna: Das scheint Ihnen im Hinblick auf die Vorbereitung der Winterolympiade in im Jahr 1968 tatsächlich nicht geschadet zu haben. Keller: Ja, ganz und gar nicht. Ich habe dort in Inzell beim Bau der Eisbahn sogar noch mitgearbeitet: Als die Rohre der Kunsteisbahn verlegt wurden, war ich Drahtflechter, denn diese Rohre werden ja untereinander mit Draht zusammengebunden. Das war mein Ferienjob, bei dem ich mir ein paar Mark nebenbei verdienen konnte. Das Zimmer im Eisstadion habe ich übrigens dadurch bezahlt, dass ich im Eisstadion unten im Restaurant nebenbei noch Schankkellner war. Dort musste ich lernen, aus drei Flaschen Weizenbier vier Gläser zu machen. Man musste also so einschenken, dass nach drei Weißbier immer eines übrig blieb. Denn das hat so ungefähr die eigene Gage dargestellt. Das ging also alles wunderbar. Als Grenoble kam, habe ich schon vier Jahre in diesem Stadion gewohnt. Der Bürgermeister von Inzell hat dann im Vorfeld der Olympischen Spiele gesagt: "Wer dort gewinnt, braucht es nicht zu bereuen!" Nach meinem Sieg in Grenoble habe ich in Inzell dann auch umsonst eine Gemeindewohnung bekommen. Von da an ging es mir dann richtig gut. Materna: Vor Grenoble hatten Sie noch ganz schnell mal den Weltrekord auf 39,2 Sekunden verbessert. Damit hatten Sie sich natürlich auch selbst unter Druck gesetzt. War Ihnen das eigentlich ganz recht? Konnten Sie mit dieser Favoritenrolle gut umgehen? Keller: Das war mir sogar lieber: Mir war viel lieber, dass ich der Favorit bin, anstatt jemand zu sein, der den Favoriten angreifen muss. Denn mir hat so etwas Selbstvertrauen gegeben. Ich habe gewusst: Wenn ich der Schnellste bin und ich meine Leistung bringe, dann kann ich diese olympischen Spiele auch gewinnen. Immer an Weihnachten waren damals ja in Inzell diese großen Rennen: Zu diesen Rennen kamen immer auch alle Schweden, Norweger und vor allem auch Russen. Und es kam auch der damalige Weltrekordhalter Eugen Grischin, der vor mir die Weltrekorde über 500 und 1000 Meter gehalten hat. Er war auch im Radrennfahren einer der Besten der Welt: Er war ein richtiger Universalsportler. Mein Wunsch war immer, diesen Grischin zu schlagen. Wenn man früher trainiert oder einen kleineren Wettkampf bestritten hat, dann hat man immer gesagt: "Heute laufe ich wie der Grischin!" Das ist so, wie man heute beim Golfspielen sagt: "Heute spiele ich wie Tiger Woods!" Er hatte wirklich einen Nimbus, dem man nacheifern wollte. Mein Wunsch war es also gewesen, diesen Grischin wenigstens einmal zu schlagen und ich konnte ihn im Vorfeld der Olympischen Spiele tatsächlich besiegen. Als sein Weltrekord futsch war, ist er sofort aus dem Stadion verschwunden. Er ging in sein Hotel, ließ sich zwei Bier servieren, stürzte diese Biere runter, kam dann wieder zurück, als wenn nichts gewesen wäre, und hat einen beglückwünscht. Er war wirklich ein toller Mann. Mit diesem Weltrekord in der Tasche dachte ich mir: "So, jetzt kannst du auch die Olympischen Spiele gewinnen!" Materna: Wenn so etwas heute passiert, dann schiebt man diesen Druck, der dabei entsteht und mit dem nicht jeder umgehen kann, schon auch mal ganz gerne als Alibi voraus, wenn es nicht klappen sollte. Ist es eigentlich eher eine Charaktersache, dass man mit so etwas umgehen kann? Oder ist das heute einfach nur eine beliebte Ausrede? Keller: Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, wenn ich heute diese ganzen Interviews mit den Sportlern höre, dann kommt es mir oft so vor, als wären das Gespräche mit Diplomaten oder Politikern: Man will niemandem weh tun, man will sich nicht bewusst in den Vordergrund spielen, man muss den Demütigen spielen und sagen, dass man halt nur sein Bestes geben wird usw. Aber innerlich denkt doch ein Sportler heute noch genauso wie früher, denn er sagt sich: "Ich gehe raus und will gewinnen. Meinetwegen haut es meinen Konkurrenten auf die Schnauze, Hauptsache ich gewinne!" Heute ist das also alles eine diplomatische Show und nicht mehr die Wahrheit, die man in den Interviews mit den Sportlern erfahren kann. Materna: Diese Wahrheit geschah dann ja beim olympischen Wettkampf in Grenoble im Jahr 1968. Sie waren bei Ihrem Lauf 1,1 Sekunden langsamer als beim Weltrekord zuvor. Hatte das vielleicht doch etwas mit diesem Druck zu tun? Was war in diesem Rennen los, denn gewonnen haben Sie ja trotzdem? Keller: Den Weltrekord hatte ich in Inzell auf einem sehr guten Eis laufen können. Inzell und Davos gehörten damals ja zu den schnellsten mitteleuropäischen Bahnen. Daneben gab es eigentlich nur noch die Bahn in Alma Ata in Russland. Ich wusste also, dass diese Zeit das Optimale darstellt, das man bei guten Eisverhältnissen erreichen kann. Grenoble hingegen war die schrecklichste Bahn, die ich je in meinem Leben kennen gelernt habe. In Frankreich bei den Olympischen Spielen in Grenoble – wie später auch in Albertville – war der Eisschnelllauf nur das fünfte Rad am Wagen: Für die Franzosen war nur der Alpinskilauf interessant, der Rest interessierte sie nicht. Das hieß, dass man in Grenoble nur eine ganz, ganz primitive Eisbahn hingestellt hatte. Vor dem Eisstadion war ein Sandplatz als Parkplatz angelegt worden. Kurz vor dem Rennen landete dort de Gaulle mit dem Hubschrauber und hat diesen ganzen Sand aufgewirbelt. Dieser Sand fiel dann auf die Eisbahn, die danach nicht mehr gewischt wurde. Deshalb war es nicht möglich, auf dieser Eisbahn schneller zu laufen: Sie war wie ein Reibeisen. Nach drei, vier Runden war dann auch immer schon der Schliff an den Schuhen weg. Gut, beim Sprint, bei dieser einen Runde, war das nicht das Problem, aber bei den Langstrecklern war es wirklich so, dass sie nach drei, vier Runden keinen Schliff mehr hatten. Normalerweise hätten sie wirklich nachschleifen müssen, was freilich unterwegs schlecht möglich ist. So primitiv und schmutzig war diese Eisbahn. Für diese Eisbahn war meine Zeit also ganz o. k. Materna: Sie sind ja relativ früh gestartet und nach Ihnen kamen dann ja noch ein paar Mitfavoriten: Als Sie ins Ziel kamen und Ihre Zeit erfahren haben, waren Sie da noch siegessicher? Welches Gefühl hatten Sie also zunächst einmal aufgrund Ihrer Zeit? Keller: Ich war fix und fertig von dieser Zeit, weil ich mir ja doch mehr erhofft hatte. Früher war es so: Jedes Land konnte frei wählen, welchen Läufer es in der ersten, in der zweiten oder in der dritten Gruppe laufen lassen möchte. Heute ist es generell so, dass die Schnellsten in der letzten Gruppe laufen, damit die Spannung erhalten bleibt. Früher war das jedoch anders gewesen. Weil diese Eisbahn eben, wie gesagt, sehr schlecht war, hatten wir uns ausgerechnet, dass sie gegen Mittag aufgrund der Sonneneinstrahlung immer noch schlechter, also langsamer werden würde, weil dabei das Eis immer noch weicher werden würde. Aus dem Grund hat man mich in die erste Gruppe gesteckt. Letztlich hat sich das dann auch bewährt. Die Amerikaner hingegen haben genau anders gedacht. Sie dachten: Wenn die Sonne kommt, wird das Eis etwas wässrig und damit etwas schneller. Das gilt aber nur für Eisbahnen, die ein ganz starkes Kühlsystem haben. In Innsbruck 1964 war das z. B. der Fall gewesen, denn McDermott, der in Grenoble hinter mir Zweiter wurde, war damals Olympiasieger geworden. Ich bin also gelaufen, sah meine Zeit, wusste, dass McDermott noch kommt und dachte mir: "Oh Gott, das reicht nicht!" Gott sei Dank kam dann aber tatsächlich ein bisschen die Sonne durch: Das Eis wurde weicher und McDermott ist die letzten 100 Meter, wie man sagt, "gestorben", denn er ist mehr oder weniger nur noch gegangen auf der Eisbahn und nicht mehr gefahren. Aus dem Grund hat er verloren, denn ansonsten hätte er in der Tat eine gute Chance gehabt gegen mich. Nach meinem Lauf dachte ich mir also tatsächlich, dass alles vorbei sei. Es gibt da ja auch ein paar Photos von mir, wie ich dasitze, der Grischin zu mir kommt und ich ihn ganz hilflos frage, ob diese Zeit wohl reichen wird. Er schüttelte nur den Kopf, denn er wollte mich nicht enttäuschen und mir sagen, dass es vermutlich nicht reicht. Er wollte mir aber natürlich auch nicht zustimmen. Nun gut, am Schluss hat es dann doch gereicht. Materna: Wie haben Sie denn diese Wartezeit für sich gestaltet? Es sind dann ja noch 30 weitere Läufer gekommen: Haben Sie sich die alle angesehen? Oder sind Sie raus aus dem Stadion und haben versucht abzuschalten? Keller: Ich hatte keine Wahl: Das ARD kam zu mir und ließ mir ausrichten, dass der Fritz Klein gesagt hätte, ich sollte jetzt moderieren. Man hat mich also hoch in die Moderatorenkabine geholt, von wo aus wir dann im Duett den weiteren Wettkampf moderiert haben. Das war tatsächlich meine erste Moderatorentätigkeit bei der ARD. Der Fritz Klein hatte diese Sache damals gestartet, nämlich die Tatsache, dass man zum professionellen Moderator noch einen Sportler hinzunimmt, dass man ihm also ein Mikrophon hinhält und ihn ebenfalls mit kommentieren lässt. Fritz Klein war derjenige gewesen, der das praktisch eingeführt hat. Heute ist das freilich gang und gäbe. Ich war aufgrund dieser Moderatorentätigkeit dann so abgelenkt, dass ich das alles gar nicht mehr mitbekommen habe. Ich konnte deshalb gar nicht nervös werden, weil es mich viel nervöser gemacht hat, nun plötzlich vor dem Fernsehmikrophon zu sitzen, als an die Zeiten oder an meinen Sieg zu denken. Materna: Das heißt, Sie haben Ihren Olympiasieg eigentlich als Fernsehkommentator erlebt. Keller: So ist es. Materna: Denn als die Entscheidung fiel, saßen Sie am Mikrophon. Keller: Ja, aber dann musste ich schnell wieder runter, als alle anderen auch im Ziel waren. Materna: Vier Jahre später bei den Olympischen Spielen 1972 von haben Sie hingegen Ihren zweiten Olympiasieg schon früh vorausgesagt, und dies obwohl die Konkurrenz 1972 sehr viel stärker war als 1968. Woher haben Sie dieses Selbstvertrauen genommen? Aus den Leistungen, die Sie vorher erbracht haben? Keller: 1968 war es in der Tat so gewesen, dass da bei den Sprintstrecken auch die ganzen Mittelstreckler noch mitgelaufen sind. In den darauffolgenden vier Jahren hat sich der Sprint dann aber so entwickelt, dass er zu einer eigenen Domäne wurde und wirklich nur noch reine 500m-Sprinter die Chance hatten, in ihren jeweiligen Ländern die Qualifikation für die Olympiade zu schaffen. Deshalb hat es dann anstatt zehn echter Gegner nun plötzlich deren 30 gegeben. Es waren 46 Läufer am Start und alle 46 waren ausgemachte Sprinter. In Grenoble waren es höchstens 15 Sprinter und dafür noch ungefähr 30 Mittelstreckler gewesen. Auf Sapporo hatte ich mich aber in der Zwischenzeit schon richtig professionell vorbereitet. Ich habe im Studium zwei Semester ausfallen lassen und wirklich ganztags trainiert. Ich habe mich auch körperlich viel besser entwickelt, weil ich viel mehr Krafttraining gemacht hatte. Vor den Olympischen Spielen habe ich alle Rennen gewonnen. Deshalb war ich mir auch sicher, die Goldmedaille zu holen. Es trat dann sogar das ein, was heute gang und gäbe ist: Man muss ein bisschen Show machen – nehmen Sie nur mal als Beispiel heute dieses so genannte "Zickenduell" zwischen Pechstein und Friesinger –, um für das Fernsehen und für die schreibende Zunft interessant zu sein. Ich habe also aus dem Grund heraus manchmal so Sprüche losgelassen wie, "Wer mich schlagen will, muss erst noch geboren werden" usw. Es war gar nicht so, dass ich mir das wirklich gedacht hatte, aber man musste eben das Interesse ein wenig anheizen. Das hat auch wunderbar geklappt: Die Presse stieg voll darauf ein. Egal wo ich hingekommen bin, ob ich nun im Taxi saß oder Leute auf der Straße getroffen habe, alle haben immer nur gesagt: "Ja, das habe ich auch gelesen, Sie müssen dieses Rennen unbedingt gewinnen!" Die Leute gingen also mit und haben tatsächlich darauf gewartet, ob ich wirklich gewinne. Materna: Man muss die Leistung dann aber auch bringen und darf nicht davor lediglich auf den Busch klopfen. Wenn wir das mal mit den vor einiger Zeit zu Ende gegangenen Olympischen Spielen in Salt Lake City vergleichen: Bei Anni Friesinger war die Situation fast ähnlich, denn sie hatte im Vorfeld jedes Weltcuprennen gewonnen. Sie hatte so ungefähr alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Im olympischen Wettkampf ist ihr dann aber bis auf die 1500m so gut wie alles daneben gegangen. Keller: Auf der Langstrecke ist das alles viel schwieriger. Bei der Langstrecke kann man die eigene Topform nur eine gewisse Zeit lang halten. Anni Friesinger hatte im letzten Winter ihre Form zu früh erreicht. Sie stagnierte dann und wurde bei den Olympischen Spielen sogar ein wenig schlechter. Claudia Pechstein hingegen hat am Anfang der Saison ihre Rennen eigentlich immer verloren: Sie hat den Aufbau ihrer Form ganz auf die olympischen Spiele hin ausgerichtet. Während des Januars hat sie z. B. noch hart weitertrainiert, während Anni Friesinger schon nur noch Rennen gelaufen ist und nicht mehr weitertrainierte. Claudia Pechstein hat dagegen immer noch weiter trainiert und erst kurz vor den Olympischen Spielen eine kleine Pause eingelegt, um dann die absolute Topform zu erreichen. Zurück zu mir und zum Sprint: Da kann man das leichter steuern. Im Springt macht man meinetwegen acht Tage Pause, geht in der Zeit nur spielerisch aufs Eis und nach acht Tagen kommt dennoch sofort wieder die Kraft. Bei der Langstrecke powert man hingegen zu viel Kraft hinaus in einem Wettkampf. Denken Sie nur mal an die Marathonläufer: So jemand kann in der Regel nur einmal im Jahr eine Weltklasseleistung vollbringen, so anstrengend ist so ein Lauf. Auch bei den Eisschnellläufern ist es so, dass sie pro Saison vielleicht drei Mal eine sehr, sehr gute 10000m-Zeit laufen können. Ein Sprinter hingegen kann die ganze Saison über Topleistungen bringen, wenn er nur zwischen den Läufen immer wieder eine Pause einlegt. Deshalb wusste ich: Ich will die und die Rennen alle gewinnen. Ich hatte ja in der Zeit auch den Weltrekord zwischendrin ein paar Mal verbessert. Mir war daher klar: Wenn ich vor den Olympischen Spielen acht Tage Pause mache, dann bin ich wieder voll da. Und genauso hat es dann ja auch geklappt. Materna: Die Vorbereitung war aber dennoch ein bisschen gestört: Sie hatten nämlich eine Grippe. Sie flogen sogar noch mit dieser Grippe nach Sapporo, wo dann zu allem Überfluss plötzlich auch noch die Koffer weg waren. Keller: Das war in der Tat ein Handicap. Man hatte mich vor den Spielen nach Davos geschickt zu den Europameisterschaften. Dort sollte ich beim Vierkampf mitlaufen. An sich war das also völlig unwichtig für mich, aber ich sollte dort eben einen neuen Weltrekord laufen. Denn Davos war und ist eben eine der schnellsten Bahnen. Dort oben habe ich mir dann aber eine starke Grippe eingefangen, wie das in der trockenen Höhenluft eben öfter mal vorkommen kann. Da ist eben der Virus schneller als unten auf Meereshöhe. Ich lag dann einige Tage und wurde auch entsprechend medikamentös behandelt. Auch beim Flug nach Sapporo hat man sich entsprechend um mich gekümmert. Man gab mir zwei Sitze, also auch noch den Sitz vor mir, damit ich in Ruhe liegen und mich ausruhen konnte. Die anderen haben deswegen schon ein bisschen gestänkert: "Was, der kriegt gleich zwei Sitze?" Weil ich aber Medaillenanwärter war, weil ich die Chance hatte, die Goldmedaille zu holen, hat man das halt so gemacht. Wir wollten dann in Sapporo landen, aber dort herrschte ein totaler Schneesturm. Die Maschine musste umdrehen und zurück nach Tokio fliegen. Wir wurden dann in Tokio eine Nacht lang in ein Hotel einquartiert. Sie können sich gar nicht vorstellen, was da alles los war, denn es kamen da ja alle Maschinen gleichzeitig an: Alles kam an diesem Tag angereist, die Maschinen landeten alle auf dem Flughafen von Tokio, weil keine einzige Maschine in Sapporo landen konnte. Dort wurden dann sämtliche Hotels beschlagnahmt. Wir kommen also in so eine Hotelhalle hinein und müssen feststellen, dass bereits 200 Norweger an der Rezeption anstehen, um sich einzuchecken. Nach so einem Flug ist man freilich todmüde: Damals ging der Flug noch über Anchorage und deswegen saß man auch an die 22 Stunden im Flugzeug. Ich dachte mir, dass ich da jetzt unbedingt einen Trick anwenden muss. Ich ging nach vorne an den Schalter und sagte, ich sei der Chef des olympischen Komitees aus : Der Portier meinte nur "hallo" und gab mir sofort einen Schlüssel für ein Zimmer, weil er dachte, ich wäre der große Präsident der Deutschen. Ich ging dann mit meinem Freund aufs Zimmer und habe geschlafen. Als die anderen Deutschen endlich auch eingecheckt hatten, haben sie bemerkt, dass ich fehle und mich die ganze Nacht lang gesucht. Sie wussten natürlich nicht, dass ich schon lange oben im Bett lag. Der Trick, hier quasi den Hauptmann von Köpenick zu spielen, hat also wunderbar funktioniert. Am nächsten Tag ging es dann endlich weiter nach Sapporo. Wir kamen an, alles klar, nur die Koffer waren nicht da. Ich hatte nichts zum Anziehen, obwohl es doch wirklich eiskalt war. Materna: Die Schlittschuhe hatten Sie aber im Handgepäck mit dabei. Keller: Ja, die Schlittschuhe schon, aber ich hatte keinen Trainingsanzug, keine Mütze, keine Handschuhe, nichts. Denn im Flugzeug drinnen ist man ja nur ungefähr so angezogen wie hier im Studio auch. Die Norweger haben mir dann einen Trainingsanzug und einen Rennanzug geliehen, damit ich an diesem Tag wenigstens noch ein bisschen trainieren konnte. Unser Trainer war Norweger, der hat das Gott sei Dank organisieren können. Nach ein paar Tagen kamen dann endlich tröpfchenweise unsere Koffer an: einmal dieser und beim nächsten Mal ein anderer. Das sind so die Highlights, wenn man eh schon nervös ist und die Koffer nicht da sind. Materna: Ein viel größeres Missgeschick ist Ihnen allerdings vier Jahre davor passiert. Nach den Olympischen Spielen von Grenoble erlitten Sie nämlich beim Skifahren einen schweren Trümmerbruch im Bein. Für viele andere hätte das damals das Karriereende bedeutet. Haben Sie denn auch besondere Fähigkeiten im Gesundwerden? Ging das bei Ihnen also schneller und besser als bei anderen? Keller: Nein, im Gegenteil. Bei den Olympischen Spielen in Grenoble fragte mich am Schluss ein Journalist, ob er das erste Interview von mir bekommen könnte. Dafür würde ich von ihm eine Skiausrüstung bekommen. Damals war man eben mit so etwas zufrieden, denn damals hat es noch nicht geheißen, dass man meinetwegen 100000 Mark für ein Interview bekommt. Ich bekam als eine Skiausrüstung, was aber eben leider ein Fehler war in diesem Fall. Ich durfte mit dieser neuen Skiausrüstung nach St. Moritz fahren – ich war dort eingeladen –, und bei einer Schussabfahrt ging mir dort dann der rechte Ski plötzlich weg. Ich habe mich ein paar Mal überschlagen und mir dabei den rechten Unterschenkel in 14 Teile gebrochen. Ich musste sogar mit dem Hubschrauber von der Piste geholt werden, weil ich so geblutet habe, dass ich nicht mit dem Akja, also mit dem Rettungsschlitten, abtransportiert werden konnte. Ich wurde dann gleich operiert: Man konnte den Fuß allerdings gar nicht mehr nageln. Man hat stattdessen nur noch die Knochenstücke zusammengesetzt und mit Drahtschlingen zusammengebunden. Normalerweise wäre so eine Sache nach zwölf Wochen wieder o. k. gewesen. Ich habe aber irgendeine Infektion in der Wunde bekommen: aufgrund der Skihose, die ich beim Sturz angehabt hatte und die damals noch richtige Plastikhosen gewesen sind. Aus dem Grund gab es zunächst einmal keine Heilung. Letztlich bin ich dann 20 Wochen lang, also fast fünf Monate, mit dem Gips herumgelaufen. Als der Gips dann endlich runterkam, hatte das ganze Bein nur noch Streichholzformat. Ich habe dann unter Schmerztabletten angefangen, Gewichttraining zu machen und mich aufzubauen. Erst im November konnte ich dann wieder mit dem Eistraining beginnen. Im Januar bei der Europameisterschaft war ich dann allerdings schon wieder Erster. Man hat dann meine Bahn abgefilmt, auf der ich gelaufen war: Da war auf der linken Seite immer ein Kratzer zu sehen und auf der rechten Seite nicht. Das hatte damit zu tun, dass ich mit dem rechten Fuß einfach noch gar nicht richtig abdrücken konnte. Aber wahrscheinlich hat halt dieser eine Fuß gereicht, um zu gewinnen. Die Heilung war also nicht besser als bei anderen, sondern eher schlechter. Materna: Hat Ihnen eigentlich Ihr Medizinstudium für den Sport irgendetwas gebracht wie z. B. Informationen auf dem Gebiet der Biomechanik und der Bewegungsabläufe? Keller: Das hat mir wahnsinnig viel gebracht. In der Schule war ich kein Freund von Chemie, aber im Studium habe ich dann im Fach Biochemie alles gelernt, was ich für den Sport gebraucht habe. Ich habe da z. B. zum ersten Mal kapiert, dass man nicht zwei Stunden vor dem Rennen noch ein blutiges Steak mit Salat essen soll. Denn so etwas kann der Körper gar nicht so schnell verwerten. Viel besser ist es, in so einem Moment ein Stück Kuchen oder eine Portion Spaghetti zu essen. Ich habe auch gelernt, wann eine aerobe Phase aufhört und die anaerobe Phase beginnt. Ich habe also gelernt, wie lange ich quasi ohne zu atmen laufen kann und ab wann die Atmung anfängt, wichtig zu werden: Wie lange kann also ein Sprinter auf seine körpereigenen Phosphate bauen? Ab wann braucht er dann über den Sauerstoff die Energie? Ich habe dann auch in dieser Sparte der Sportmedizin meine Doktorarbeit geschrieben: Ich habe also viele Sportler in einer Testreihe für die EKG-Werte mit Sendern laufen lassen. Ich habe ihnen vor dem Rennen und nach dem Rennen Blut abgenommen und es hinterher analysiert usw. Ich habe das also alles während meines Studiums gemacht. Diese ganzen Werte und dieses Wissen habe ich dann für mein eigenes Training und für meinen Aufbau verwendet. Damit war ich den anderen tatsächlich einen kleinen Schritt voraus. Materna: Sie haben dann ja auch Ihren rechten Schlittschuh verändert, um dem Umfall Rechnung tragen zu können. Wie sahen denn damals die Ideen rund um den Schuh aus, welche Versuche hat man da gemacht? Heute gibt es ja z. B. diesen Klappschlittschuh. Wie sahen denn damals die verrücktesten Ideen aus, von denen man sich noch das entscheidende Zehntel erhofft hat? Keller: Ich musste den Schuh wegen meines Beinbruchs verändern. Mein rechtes Bein war nämlich danach etwas kürzer als der linke. Ich habe also meinen Schuh ein Stück höher gemacht. Bei der Operation konnte mein rechtes Bein auch nicht mehr ganz gerade gestellt werden: Stattdessen hat er seitdem eine leichte X-Stellung. Daher musste ich den Schlittschuh auch ein bisschen nach innen rücken. Ich habe mir also von meinen Beinen Röntgenbilder machen lassen, danach ein Lineal genommen und das ausgemessen und dann diesen Schlittschuh genau nach diesen Maßen bauen lassen. Das ging auch ganz gut: Ich hatte keinerlei Handicap mehr, wie sich ja auch in meinen Zeiten gezeigt hat. Aber Sie haben recht: Man hat immer schon überlegt, was man am Schlittschuh noch verbessern kann. Man hat den Schuh leichter gemacht und einige haben auch gesagt, dass es vielleicht besser sein könnte, wenn man einen Wellenschliff draufmacht usw. Sie müssen nur mal daran denken, dass das Patent des Klappschlittschuhs aus dem Jahr 1915 stammt: Damals hat das ein Deutscher erfunden und sich diese Sache sogar patentieren lassen. Kein Mensch hat das dann aber gebaut oder diese Idee zumindest mal wieder ausgegraben. Erst die Holländer haben vor ungefähr acht Jahren diese Idee wieder aufgegriffen. Die Patentrechte waren in der Zwischenzeit natürlich verfallen. Dadurch konnten sie diese Idee also kostenlos übernehmen. Heute ist das wirklich zu einem Renner geworden, denn mit einem Klappschlittschuh ist der Läufer bei gleicher Leistung, also bei gleicher Anstrengung, pro Runde eine ganze Sekunde schneller. Das wäre natürlich für mich damals auch ganz gut gewesen: Da wären die Weltrekorde noch ein bisschen besser geworden. Materna: Könnte man Sie eigentlich heute noch zu so einer Wette überreden wie damals im Jahr 1983? Sie sind nämlich 1983 als 38-Jähriger die 500 Meter schneller gelaufen als bei ihrem ersten Weltrekord. Keller: Oh ja, daran wäre ich fast gescheitert. Ich habe damals an einem schönen Sommertag in einem Biergarten einen Zahnarztkollegen getroffen und wie man eben am Biertisch manchmal so redet, ging es halt hoch her. Plötzlich hieß es, man sei in dem Alter eben auch nicht mehr so beieinander wie früher. Da hat dann ein Wort das andere gegeben. Auf einmal sagte dieser Kollege: "Könntest du denn deinen ersten Weltrekord noch einmal laufen?" - Ich sagte daraufhin: "Ja, klar. Um was wetten wir?" - "Um Champagner für 20000 Mark!" Ich habe gesagt: "Wetten wir um 5000 Mark, denn du zahlst ja sowieso nicht!" Ich habe also im Herbst darauf wieder angefangen zu trainieren. Ich bin dann auch bei einigen Testrennen mitgelaufen. Ich kam einfach nicht annähernd unter die 40 Sekunden. Ich habe mir gedacht, dass das doch nicht sein kann. Ich habe dann das gemacht, was ich Ihnen vorhin schon erzählte und was so ein Sprinter eben machen kann: Ich habe noch einmal kurz mit Gewichten ganz hart trainiert. Danach habe ich acht Tage Pause gemacht. Anschließend bin ich nach Davos gefahren, auf eine Bahn, die damals eben zu den schnellsten Bahnen der Welt zählte. Dort hat es einen Länderkampf Schweiz gegen Russland gegeben und ich durfte dabei außer Konkurrenz mitlaufen. 39,5 Sekunden war die gesetzte Norm, das war mein erster Weltrekord gewesen. Bei diesem Lauf in Davos bin ich dann 39,14 Sekunden gelaufen. Harry Valerien übertrug genau zu dem Zeitpunkt gerade ein Skirennen. Er hat das aber mitbekommen und diese Sache auch gleich im Fernsehen berichtet. Ich rief also meinen Wettgegner an und sagte zu ihm: "Den Champagner kannst du schon mal kalt stellen, ich habe es geschafft!" Er sagte nur: "Ich habe noch nichts gehört davon!" Er hat es selbstverständlich schon gehört, aber er wollte es halt nicht wahrhaben. Er hat mir dann auch per Minicar einige Flaschen geschickt. Die volle Summe hat er jedoch nie beglichen. Ich habe ihn dann angerufen, was denn mit dem Rest los sei, und er meinte nur: "Diesen Rest versaufen wir bei mir!" Das habe ich dann aber nicht mehr wahrgenommen. Materna: Ich denke auch, dass der Schampus nicht alleine der Grund dafür gewesen sein wird, dass Sie diese Wette überhaupt eingegangen sind. Keller: Ich habe es zunächst einmal eigentlich schon so aus Jux gemacht: Ich wollte halt sehen, was ich noch zu leisten im Stande bin. Aber das Ganze hat sich dann zu einer riesigen PR-Aktion ausgeweitet. Alle Zeitungen haben so lange darüber geschrieben, dass mich selbst die Taxifahrer meinetwegen in Hamburg noch darauf angesprochen haben. Jeder von ihnen hat zu mir gesagt: "Passen Sie nur auf, dass Sie diese Wette auch ja gewinnen!" Die Leute waren also alle auf meiner Seite. Diese ganze Sache wurde also unglaublich publik, und das hat mich so hochgepuscht, dass ich tatsächlich noch diese Zeit laufen konnte: eine Zeit, die besser war, als mein erster eigener Weltrekord. Materna: Bei Ihrem Schritt ins Profilager haben Sie sich damals aber wohl schon von den Preisgeldern locken lassen. Das war ja auch die einzige richtige Möglichkeit, mit dem Laufen gutes Geld zu verdienen. Keller: Genau, aber das war letztlich dann doch ein Flop. Es war so gewesen: In Sapporo ist damals Karl Schranz, der österreichische Skifahrer, gesperrt worden, weil er irgendwann einmal eine kleine Werbung gemacht und sich damit ein paar Mark verdient hatte. Es gab damals natürlich Proteste dagegen und auch unser Trainer hat sich mit dem internationalen Komitee in Verbindung gesetzt. Dabei erfuhren wir, dass sowohl mein holländischer Eisschnelllaufkollege wie auch ich bereits auf der Liste standen. Wir hatten damals auch tatsächlich schon immer Geld bekommen. Beim Eisschnelllauf war es eben üblich gewesen, dass man z. B. bei Rennen in Holland unter der Hand immer ein paar Tausend Mark bekommen hat. Wir waren also beide stark gefährdet, gesperrt zu werden. Ich selbst hatte auch schon ein paar Werbeverträge für die Zeit nach der Olympiade in der Tasche. Ich hatte auch einen Vertrag für die ARD bereits in der Tasche. Ich wusste also, dass ich nach der Olympiade so und so gesperrt werden würde, wenn ich diese Verträge erfülle. Es kam dann dieses Angebot aus den USA, in eine dortige Profiliga zu wechseln. Ich sollte dort reine Profirennen um Geld laufen. Ich sagte zu, weil ich ziemlich sicher wusste, dass ich sowieso gesperrt worden wäre. Zwei Jahre lang lief diese Sache dann auch einigermaßen gut: Ich bekam auch tatsächlich mein Geld. Aber nach zwei Jahren war diese ISSL-Pleite. Denn die nationalen und internationalen Verbände hatten angedroht, alle Eisbahnen zu sperren, die ihre Eisbahn an Profis vermieten. Diese Stadien wären also für normale Rennen gesperrt worden. Dieses Risiko wollte natürlich keine einzige Eisbahn eingehen: Denn meistens werden ja solche Eisbahnen von den Kommunen und vom Land unterstützt. Aus dem Grund müssen sie eigentlich rein für den Amateursport freigehalten werden. Die Eisbahnen konnten diese Sperre natürlich nicht riskieren. Ohne Eisbahnen hat es aber auch keine Profirennen mehr gegeben. Materna: Sie hatten aber mittlerweile schon ein zweites, wenn nicht gar drittes Standbein. Sie haben es schon angesprochen: Sie hatten gute Verträge für das Fernsehen in der Tasche. War es denn, weil Sie in Ihrer Aktivenzeit sehr viel mit anderen Sportlern und auch mit vielen Journalisten zu tun gehabt hatten, naheliegend, dass Sie dann hinterher zum Fernsehen gingen? Keller: Nein, nein, das hat sich halt so ergeben. Wie gesagt, Fritz Klein hat eben 1968 als Erster gesagt, ich sollte zu ihm hoch kommen und ihm bei der Moderation helfen. Das Bayerische Fernsehen hat z. B. auch öfter mal gesagt: "Mensch, du sprichst doch recht gut Englisch, interviewe doch mal diesen amerikanischen Läufer." So kam das also ins Laufen. Ich wurde auch wahnsinnig oft ins "Aktuelle Sportstudio" eingeladen, im Winter nahezu jedes zweite Mal. Das hat auch jedes Mal ganz gut geklappt. Manche der Moderatoren kannten sich mit dem Eisschnelllauf nicht so gut aus und waren daher ganz froh, wenn ich bestimmte Szenen oder Parts alleine gemacht habe. So kam es dann eben dazu, dass ich diese Angebote erhalten habe. Das Angebot für die Unterhaltungssendung "Spiel ohne Grenzen" kam ebenfalls Hals über Kopf. Ich saß daheim, als plötzlich das Telefon läutete. Es war jemand vom WDR dran und sagte zu mir: "Kommen Sie doch schnell mal nach Köln, wir müssen mit Ihnen etwas besprechen. Nur für eine Stunde. Wir treffen Sie am Flugplatz." Mein Spruch lautete in solchen Momenten: "Hin- und Rückflug wird bezahlt?" - "Selbstverständlich, wieso fragen Sie?" - "Nun, das war beim Eislaufen immer wichtig. Da hat z. B. jemand aus Holland angerufen, ich sollte zu dem und dem Rennen kommen. Da wurde mir dann der Hinflug bezahlt und wenn sie bei diesem Rennen nicht genügend Einnahmen gemacht haben, dann haben sie einem den Rückflug nicht mehr bezahlt. Da musste ich dann immer streiten, dass ich das Geld für den Rückflug bekomme." Aus dem Grund hatte ich also damals immer diesen Spruch drauf. Ich flog nach Köln, wo man uns schnell mal einen Raum von der Lufthansa zur Verfügung stellte. Dort saßen dann ein paar Damen und Herren vom WDR und sagten zu mir: "Da gibt es doch diese Sendung 'Spiel ohne Grenzen'. Wir würden dabei gerne den Moderator wechseln. Wollen Sie das machen?" Ich sagte zu ihnen: "Ich habe keine Ahnung, ob ich das kann, aber ich werde es versuchen." So ging das los. Materna: Das klingt nach viel Spaß, diese Sendung "Spiel ohne Grenzen". Ich habe sie selbst als Kind auch immer gesehen. War es auch ein Spaß, diese Sendung zu moderieren? Keller: Ja, das war ein Riesenspaß. Das war ein fließender Übergang vom Sport in ein neues Metier. Denn da ging es ja immer noch um Sport, auch wenn die Leistungen der Teilnehmer dort eher mit Jux und Gaudi verbunden waren. Es musste jedenfalls jemand sehr fit sein, um das machen zu können. Die Mitspieler der einzelnen Teilnehmerstädte waren alle junge Leute zwischen 16 und 30 Jahren: Sie waren alle Sportler irgendeiner Sportart, die dann eben bei diesen Spielen mitmachten. Vor und während der Sendung hatte man immer guten Kontakt zu diesen Sportlern. Als ehemaliger Sportler habe ich mich dabei natürlich leicht getan. Der Moderator vor mir war dagegen ein Mann gewesen, der mehr oder weniger aus der Modebranche gekommen war: Er hatte mit diesen Sportlern nicht so per Du sprechen können. Ich hingegen bin da immer gleich losgegangen auf sie und habe sie ausgefragt. Ich hatte aus dem Grund auch immer viel mehr Hintergrundwissen, weil mir in diesen Gesprächen eben auch ein paar Details erzählt worden sind. Wenn die Sachen dann nicht so geklappt haben und ich mitgelacht habe mit ihnen, dann hat man mir das mehr abgenommen, als wenn das so ein künstliches Lachen eines Mannes gewesen wäre, der selbst nicht so ganz aus diesem Metier stammt. Das war eben der Bonus, den ich dabei hatte. Materna: Beim ZDF-Sportstudio hat es aber wohl nicht ganz so viel Spaß gemacht: Da haben Sie ziemlich starken Gegenwind verspüren müssen. Keller: Ja, das war eine unangenehme Sache. Das haben übrigens alle Gastmoderatoren so erfahren müssen. Es war so gewesen: Harry Valerien und Dieter Kürten hatten gesagt, dass ich die Vertretung für sie machen solle, wenn sie im Urlaub sind. Auch das hatte natürlich bereits einen bestimmten Hintergrund. Denn wenn sie dafür jemanden aus der eigenen Mannschaft genommen hätten, dann hätte sich diese Vertretung vielleicht profilieren können in dieser Zeit und damit jemand anderen verdrängt. Denn auch dort gibt es natürlich einen gewissen Verdrängungswettbewerb. Ich war jedoch keiner, der sich dort in dieser Sendung etablieren wollte, denn ich habe das wirklich nur aus Spaß gemacht. Aber diese Sache war deshalb recht unangenehm für mich, weil ich immer erst am Freitag zu den Sendungen angereist bin. Ich hatte also nie eine wirklich lange Vorbereitungszeit. Die hauptberuflichen Moderatoren hingegen konnten sich immer schon bereits am Dienstag auf die Sendung am Samstag vorbereiten. Dazu kam, dass ich auch am Montag in der Redaktionssitzung nie dabei gewesen bin, wo man dann vor der ganzen Redaktion kritisiert worden ist. Das heißt, ich konnte mich dort nicht rechtfertigen für bestimmte Sachen, weil ich meinetwegen diese und jene Unterlagen überhaupt nicht bekommen hatte. Auf diese Weise ist mir dann eben schon so ein bisschen ein Bein gestellt worden. Aber mein Gott, mich hat das nicht wirklich aufgeregt: Ich hatte ja zu jeder Zeit Angebote von anderen Sendern wie z. B. für die Sendung "Technik für Kinder" usw. Aus dem Grund war ich also eh nicht so scharf auf das "Sportstudio". Hinzu kam natürlich auch, dass es sich beim "Sportstudio" üblicherweise mindestens zu 90 Prozent um den Fußball dreht. Da muss man eben schon auch ein recht guter Fußballkenner sein. Wenn man aber die ganze Zeit im Eisschnelllauf aktiv ist, dann kennt man zwar den Wintersport, den Fußball im Detail jedoch nicht ganz so gut. Ich kannte mich im Fußball halt nur so gut aus wie ein ganz normaler Bürger. Das Hintergrundwissen fehlte mir jedoch. Um also ein "Sportstudio" gut machen zu können, muss man sich in den Fußball wirklich 'reinarbeiten. Materna: Das war aber bestimmt nicht der Grund dafür, warum Sie sich dann letztlich doch wieder auf Ihre Wurzeln besonnen haben und in die Zahnarztpraxis mit weißem Kittel zurückgekehrt sind. Keller: Nein, das war immer schon mein Schwerpunkt gewesen. Ich hatte das studiert und dieses Studium war auch nicht so ganz leicht gewesen. Das ist ein Beruf, der mir immer schon gefallen hat: sowohl vom Handwerklichen her wie auch von den geistigen Anforderungen her. Man hat dabei auch immer Menschen um sich herum und, das ist ganz wichtig, man ist dabei sein eigener Chef. Ich war ja bei der Sendung "Spiel ohne Grenzen" schon so etwas wie ein Chef, aber selbst dort gibt es immer noch jemanden, der über einem steht: Die letzte Instanz ist dort eben immer der Intendant. Und der Intendant hat mir eben ab und zu gesagt: "Ja, was haben Sie denn da wieder gemacht? Wir haben jede Menge Zuschriften bekommen, weil Sie dieses und jenes gesagt haben sollen." Als Zahnarzt in der eigenen Praxis haftet man hingegen nur für sich selbst: Nur man selbst bestimmt, wann man aufsteht, wann man mit der Arbeit beginnt usw. Das hat immer schon meiner Vorstellung entsprochen: Ich wollte lieber in Gallien der Erste als in Rom der Zweite sein. Deshalb habe ich mich dann auch ganz auf die Praxis konzentriert. Es war also immer klar, dass ich das Fernsehen nur als Hobby betreibe, aber nie als Hauptberuf. Materna: Und so ein Leben ohne den Wettbewerb, ohne den Wettkampf sowohl in sportlicher wie auch in Moderatoren-Hinsicht lässt sich ja auch ganz gut leben, oder? Keller: Nun gut, man nimmt schon immer noch so kleine sportliche Herausforderungen im Privatleben an. In der Zeit, als ich Tennis gespielt habe, hatte man eben so seine Konkurrenten, mit denen man im Wettkampf stand. Man hat immer um irgendetwas gespielt: um ein Abendessen, um ein Bier oder gar um eine kleine Reise da oder dort hin. Heutzutage bin ich ja dem Alter entsprechend zum Golfsport gewechselt, weil mich das eben nicht ganz so sehr anstrengt. Aber auch da geht es so weiter. Da spielt man eine Runde Golf und da wird immer auch ein bisschen was eingesetzt. Man will also durchaus gewinnen: Das ist so in einem drinnen. Beim Golf verliere ich natürlich zurzeit meistens, aber es hält mich nicht davon ab, auch dort immer wieder neue Wetten einzugehen. Materna: Oder eben auch mal zu sagen, man würde heute wie Tiger Woods spielen. Keller: So ist es. Materna: Herr Keller, darf ich Ihnen zum Schluss bitte noch eine Frage stellen, die meine Tochter sehr interessiert, seit sie mitbekommen hat, wann Sie Geburtstag haben. Sie hat zu mir gesagt: "Papa, frag ihn gleich, ob er sich da geärgert hat." Sie haben nämlich an Heiligabend Geburtstag. War das wirklich schwierig für Sie als Kind? Waren Sie traurig, dass Sie nur einmal Geschenke bekommen haben, dass es nur einmal in Jahr eine Feier gab? Keller: Als Kind war ich total traurig deswegen. Da kann ich Ihr Kind wirklich verstehen: Es ist furchtbar, wenn man an Weihnachten Geburtstag hat. Man kann erstens schon mal nie einen Kindergeburtstag feiern, weil an dem Tag natürlich alle Kinder zu Hause bleiben müssen. Zweitens war es so, dass einem da in der Früh ein paar Geschenke hingelegt worden sind und einem gesagt wurde: "Den Rest bekommst du dann am Abend!" Es war also so, dass das ein Weihnachtsgeschenk war, das ganz einfach aufgeteilt worden ist. Man hatte dadurch wirklich nur ein Highlight pro Jahr: Geburtstag und Weihnachten fielen eben immer zusammen, während die anderen Kinder neben Weihnachten auch noch jeweils ihren Geburtstag feiern konnten, bei dem sie ebenfalls Geschenke bekommen haben. Da war man wirklich echt benachteiligt. Heute finde ich das freilich nicht mehr so schlimm: Man schenkt sich ja auch nicht mehr so viel. Hinzu kommt, dass man auf diese Weise auch nicht mehr diese lästigen Geburtstagspartys machen muss. Denn an Weihnachten muss eben jeder daheim sein. Ich habe ja früher immer einen Frühschoppen ausgegeben für meine Freunde. Als meine Freunde dann aber alle verheiratet waren, musste dieser Frühschoppen eines Tages eingestellt werden, weil die Ehefrauen schlicht dagegen waren, dass ihre Männer an Heiligabend bereits nachmittags um vier betrunken nach Hause kamen, sodass sie den Weihnachtsabend mit der Familie nicht mehr richtig feiern konnten. So wurde dann eben auch noch dieser Frühschoppen gestrichen. Materna: Das kann ich verstehen. Herr Dr. Keller, vielen Dank für das Gespräch, das mir viel Spaß gemacht hat. Keller: Danke. Materna: Ich hoffe, Ihnen, liebe Zuschauer, ging es genauso. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihr Interesse, bis zur nächsten Sendung, Servus und auf Wiedersehen.

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