Rundfunk und Geschichte

Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte Informationen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv

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28. Jahrgang Nr. 1 / 2 – Januar / April 2002

Martin Raschke und der Rundfunk

Dezentralisierung oder Regionalisierung des Fernsehens der DDR?

Konsequenzen der Digitalisierung für die europäische Fernsehkultur

Rundfunkanstalten auf dem Weg ins Multimedia-Zeitalter

Korruption im Rundfunk der NS-Zeit

Rezensionen

Bibliographie

Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte

Informationen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv

Zitierweise: RuG – ISSN 0175-4351 ______Redaktion: Ansgar Diller Edgar Lersch ______Redaktionsanschrift

Dr. Ansgar Diller, Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt am Main – Potsdam-Babelsberg, Bertramstraße 8, 60320 Frankfurt am Main, Tel. 069-15687212, Fax 069-15687200, Email: [email protected] Prof. Dr. Edgar Lersch, Südwestrundfunk, Historisches Archiv, 70150 Stuttgart, Tel. 0711-9293233, Fax 0711-9293345, Email: [email protected] Redaktionsassistenz: Dr. Stefan Niessen Herstellung: Michael Friebel Redaktionsschluss: 29. April 2002 Das Inhaltsverzeichnis von ›Rundfunk und Geschichte‹ wird ab Jg. 19 (1993), H. 1, im INTERNET (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/zeitschr/RuGe/rugindex.htm) angeboten. Texte von ›Rundfunk und Geschichte‹ werden ab Jg. 25 (1999), H. 4, online im INTERNET (http://www.medienrezeption.de) angeboten. Inhalt

28. Jahrgang Nr. 1 / 2 – Januar / April 2002

Aufsätze Hans-Ulrich Wagner Eine Karriere ohne Kompromiss Martin Raschke und der Rundfunk 1928 - 1940 5 Peter Hoff Dezentralisierung oder Regionalisierung des Fernsehens der DDR? Das Projekt eines Fernseh- und Rundfunkstudios in Leipzig 1958 22 Helmut Schanze »Schwarze Bildschirme«? Konsequenzen der Digitalisierung für die europäische Fernsehkultur 31 Georg Maas »Integrieren statt Versparten« Die Rundfunkanstalten auf dem Weg in das Multimedia-Zeitalter 36

Dokumentation »Es ging ja um nichts weniger als aus einer Ablehnung des Lebens, aus Lebenshass zur Lebensliebe zu kommen« Interview mit Georg Stefan Troller (Wolfgang Becker) 40

Miszellen Korruption im Rundfunk der NS-Zeit (Birgit Bernard) 60 Rundfunk nach 1945. Ein Workshop in (Ansgar Diller) 67 »Humor in den Medien. Angebot – Produktion – Nutzung« Sechstes Forum Medienrezeption (Edgar Lersch) 68 Missing Link? Ausstellung zu den alliierten Militärsendern in (Oliver Zöllner) 70 Auslandsrundfunk und Krisenpublika. Jahrestagung 2001 des Medienforscherverbandes »CIBAR« in Washington, D.C. (Oliver Zöllner) 71 Stasi-Aktivitäten im Rundfunk. Ein Forschungsprojekt der ARD 72 50 Jahre Nachkriegsfernsehen in Deutschland Ein Symposium der ARD in Hamburg 72 Lange Nacht der Fernsehkrimis. Veranstaltung im Berliner Filmmuseum 72 Deutschsprachiger Dienst der BBC. Eine Konferenz in London 73 Bildbox für Millionen. CD-Rom zur Mediengeschichte Deutschlands 73

Rezensionen Andreas Stuhlmann (Hrsg.): Radio-Kultur und Hör-Kunst. Zwischen Avantgarde und Popularkultur 1923 - 2001 (Wolfram Wessels) 74 1929 – Ein Jahr im Fokus der Zeit. Ausstellung des Literaturhauses Berlin (Ansgar Diller) 74 2 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Florian Cebulla: »Rundfunk-Revolutionen«. Freie und organisierte konservative und nationalsozialistische Agitation gegen den »System-Rundfunk« am Ende der Weimarer Republik (Ansgar Diller) 75 Rudolf Arnheim: Rundfunk als Hörkunst und weitere Aufsätze zum Hörfunk (Ansgar Diller) 75 Lu Seegers: Hör zu! Eduard Rhein und die Rundfunkprogrammzeitschriften (1931 - 1965) (Konrad Dussel) 76 Simone Höckele: August Hinderer: Weg und Wirken eines Pioniers evangelischer Publizistik (Ansgar Diller) 77 Wolfram Wette u.a. (Hrsg.): Das letzte halbe Jahr. Stimmungsberichte der Wehrmachtspropaganda 1944/45 (Ansgar Diller) 77 Friedrich-Ebert-Stiftung/Institut für Sozialgeschichte (Hrsg.): Archiv für Sozialgeschichte. Band 41 (2001) (Ansgar Diller) 78 William L. Shirer: This is Berlin. Rundfunkreportagen aus Deutschland 1939 - 1940 (Ansgar Diller) 79 Gunnar Roters u. a. (Hrsg.): Unterhaltung und Unterhaltungsrezeption (Oliver Zöllner) 79 Georg Stanitzek/Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Schnittstelle: Medien und kulturelle Kommunikation (Wolfgang Mühl-Benninghaus) 80 Gunda Stöber: Pressepolitik als Notwendigkeit. Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit im Wilhelminischen Deutschland 1890 - 1914 (Ansgar Diller) 81 Carsten Roschke: Der umworbene »Urfeind«. Polen in der nationalsozialistischen Propaganda 1934 - 1939 (Ansgar Diller) 82 Gesetz & Moral. Öffentlich-rechtliche Kommissare (Karin Wehn) 82 Das Schriftgut des DDR-Fernsehens. Eine Bestandsübersicht (Edgar Lersch) 83 Claudia Bullerjahn: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik (Thomas Münch) 84 Susanne Pütz: Theaterereignis – Fernsehereignis. Die Theaterberichterstattung im bundesdeutschen Fernsehen von 1952 bis 1995 (Wolfgang Mühl-Benninghaus) 85 Helmut G. Asper: »Etwas Besseres als den Tod ...«: Filmexil in Hollywood. Porträts, Filme, Dokumente (Ansgar Diller) 86 Ernest Prodolliet: Der NS-Film in der Schweiz im Urteil der Presse 1933-1945. Eine Dokumentation (Wolfgang Mühl-Benninghaus) 86 Klaus Oldenhage u.a. (Hrsg.): Archiv und Geschichte. Festschrift für Friedrich P. Kahlenberg (Edgar Lersch) 87 Johannes Bähr: Industrie im geteilten Berlin (1945 - 1990). Die elektrotechnische Industrie und der Maschinenbau im Ost-West-Vergleich: Branchenentwicklung, Technologien und Handlungsstrukturen (Ansgar Diller) 89 Inhalt 3

Gerd Klawitter (Hrsg.): 100 Jahre Funktechnik in Deutschland. Bd. 2: Funkstationen und Messplätze rund um Berlin Peter Müller: Symbol mit Aussicht. Die Geschichte des Berliner Fernsehturms (Ansgar Diller) 89 Frances Stonor Saunders: Wer die Zeche zahlt ... Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg (Petra Galle) 90 Alliiertenmuseum (Hrsg.): The Link with Home – und die Deutschen hörten zu. Die Rundfunksender der Westmächte von 1945 bis 1994 Trevor Hill/Gregor Prumbs: »Let´s Listen In«. To the Start of Western Forces Radio (1944 - 1949) (Oliver Zöllner) 92 Thomas Weber/Stefan Woltersdorff (Hrsg.): Wegweiser durch die französische Medienlandschaft (Muriel Favre) 93 Charles Stirnimann / Rolf Thalmann: Weltformat. Basler Zeitgeschichte im Plakat (Ansgar Diller) 94 »Niemand hat die Absicht ...«. Tondokumente zur Mauer (2 CDs) 94 Marianne Weil: DEM DEUTSCHEN VOLKE (1 Cassette) 94

Bibliographie Zeitschriftenlese 85 (1.7. - 31.12.2001) (Rudolf Lang) 95

Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte Jahrestagung 2002 des Studienkreises in Potsdam (Margarete Keilacker) 101

Informationen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv Neuerscheinung in der Veröffentlichungsreihe des DRA Konrad Dussel: Hörfunk in Deutschland. Politik, Programm, Publikum (1923 - 1960) 103 Neue CD von DRA und DHM Das Verbrechen hinter den Worten – Tondokumente zum NS-Völkermord 103 50 Jahre DRA. Ausstellung in Frankfurt am Main und Potsdam-Babelsberg 103 Tagungsunterlagen der CCIR (1950 - 1990) im DRA 104 Überlieferung der Programmdirektion Erstes Deutsches Fernsehen im DRA 104 4 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Autoren der längeren Beiträge

Prof. Dr. Wolfgang Becker, Universität Osnabrück, FB Sprach- und Literaturwissenschaft, Postfach 4969, 49069 Osnabrück

Dr. Birgit Bernard, Westdeutscher Rundfunk, Historisches Archiv, Appellhofplatz 1, 50600 Köln

Dr. Peter Hoff, Pekrunstraße 56, 12685 Berlin

Georg Maas, Mitteldeutscher Rundfunk, HA Neue Medien, Kantstraße 71-73, 04275 Leipzig

Prof. Dr. Helmut Schanze, Universität-GH Siegen, FB 3, Adolf-Reichwein-Straße 5, 57068 Siegen

Dr. Hans-Ulrich Wagner, Universität Hamburg, Institut für Germanistik II, FB 07, Von-Melle-Park 6, 20146 Hamburg Hans-Ulrich Wagner

Eine Karriere ohne Kompromiss Martin Raschke und der Rundfunk 1928 - 19401

Gibt es einen »Fall Raschke«? Rundfunk ein.5 Sein Rundfunkschaffen soll im folgenden untersucht werden. Rundfunk und Literatur im Dritten Reich, die Me- dien und die Schriftsteller während der Zeit des Die Analyse von Martin Raschkes Arbeiten geht Nationalsozialismus − diese Stichworte umrei- notwendigerweise von der Frage aus: Gibt es ßen eine Beziehung, die − spannungsreich und auch einen »Fall Raschke«? Müssen Urteile wie problematisch − immer wieder für Schlagzeilen »moralisch verwerflich«, kurz: »schuldig«, auch sorgt und Kontroversen auslöst. Das bewies der für den Dresdner Literaten gelten? Doch darüber 1993 lebhaft diskutierte »Fall Eich« in ganz be- hinaus soll Martin Raschke als »Fallbeispiel« im sonderer Weise. »Kniefall« oder »Fall-Beispiel«, Blickfeld des Interesses stehen. Welche Bezie- die Frage nach der Kompromittierung von Gün- hung zum Medium Rundfunk ergibt sich, wenn ter Eich durch die NS-Machthaber oder die Fra- man den Blick von der ausschließlichen Fixie- ge nach dem Rundfunkautor und seinem para- rung auf die in der Nachkriegszeit so renom- digmatischen Verhalten im Dritten Reich war mierten Autoren Günter Eich und Peter Huchel Gegenstand eines regelrechten Eich-Streites. löst und mit Martin Raschke einen eher verges- Günter Eich, der Freund und enge literarische senen Autor aus dem Umkreis der Zeitschrift Partner von Martin Raschke, wurde zum Prüf- »Kolonne« im Hinblick auf sein Rundfunkenga- stein für eine posthume Schuldzumessung. Axel gement betrachtet? Vieregg, einer der beiden Herausgeber der Eich- Die Untersuchung erfolgt in drei Ansätzen. Werkausgabe und Verfasser des Essays »Der Ein erster Überblick über das gesamte Schaffen eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs von Martin Raschke für den Rundfunk zeigt das Realitäten 1933-1945«, traf der Vorwurf des quantitative Ausmaß dieser medienliterarischen Nestbeschmutzers.2 Als im selben Jahr das Arbeit und ermöglicht erste chronologische Eich-Hörspiel »Rebellion in der Goldstadt«, das Strukturierungsversuche des umfangreichen im Rahmen einer anti-britischen Propaganda- Funkœuvres. In einem weiteren Abschnitt sollen kampagne 1940 gesendet worden war, wieder- zwei Hörspielarbeiten detaillierter vorgestellt und entdeckt und neu präsentiert wurde, erhitzten beurteilt werden. Ein dritter Teil schließlich kehrt sich um den rahmenden Essay von Karl Karst noch einmal zum Gesamtspektrum des Rund- noch einmal die Gemüter. Karl Karst, der zweite funkschaffens zurück, indem er ein charakteri- Herausgeber der Eich-Werkausgabe, wurde mit stisches Netz aus Motiven ans Licht bringt, das seinen Ausführungen nun umgekehrt als Apolo- für Raschkes Rundfunkarbeiten − und darüber get Eichs bezeichnet, der eine offenkundige hinaus auch für sein gesamtes literarisches Vereinnahmung zu retuschieren versuche.3 Ein Werk − aufschlussreich ist. ähnlicher, wenngleich erstaunlicherweise nicht so bekannt gewordener Streit entzündete sich auch an der Person Peter Huchels und dessen »Den Feldzug gegen rundfunkliterarischem Werk während des Dritten den Funk fortsetzen« Reiches.4 Überblick über das Rundfunkschaffen Die Rundfunktätigkeit weiterer Autoren aus dem engeren oder weiteren Umkreis der Dresd- Der junge angehende Schriftsteller aus Dresden, ner Zeitschrift »Kolonne« ist allerdings in der der während seiner Berliner Aufenthalte vielfälti- Programmgeschichtsforschung bislang gänzlich ge literarische Beziehungen knüpft, kommt 1928 unbeachtet geblieben. Dabei haben sie alle für mit dem Rundfunk in Berührung. Hermann Ka- den Rundfunk geschrieben: Neben Günter Eich sack, freier Mitarbeiter bei der Funk-Stunde Ber- und Peter Huchel sind Adolf Artur Kuhnert, der lin, stellt den 23-jährigen Raschke am 19. April Mitherausgeber der Zeitschrift, Eberhard Meckel 1928 zusammen mit Günter Eich und Georg und Georg von der Vring, Horst Lange und Oda Dobò in der fünften Ausgabe seiner Reihe Schaefer sowie schließlich Elisabeth Langgässer »Jüngste Dichter« vor. Obwohl Raschke im Ta- zu nennen. Martin Raschke reiht sich − freilich gebuch notiert: »Sehr enttäuscht, angeekelt von als der wahrscheinlich produktivste Autor dieser dem Literatenbetrieb, von der Rundfunkzensur«, so genannten »jungen Gruppe Dresden« − in folgen von 1929 an mehrere Lesungen bei ver- das sehr auffällige Engagement für das Medium schiedenen Rundfunkgesellschaften.6 Wie für 6 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

viele andere junge Schriftsteller in den letzten dium nicht zusammenfällt mit der Machtüber- Jahren der Weimarer Republik stellt das erst seit nahme der Nationalsozialisten. Gleichzeitig wird 1923/24 bestehende neue Medium des Rund- die wachsende Zahl von Aufträgen zum unver- funks eine Chance dar, eine breite Öffentlichkeit zichtbaren finanziellen Bestandteil des Einkom- anzusprechen. mens. Da in den Jahren 1932/33 noch häufig Aber es bleibt nicht nur bei der literaturver- von großen Geldsorgen der jungen Familie die mittelnden Funktion des Rundfunks. Am 19. Rede ist,12 kümmert sich Martin Raschke in die- Oktober 1929 erhält Raschke das Angebot, Be- ser Zeit um so intensiver um Aufträge. Am 26. rater von Edlef Koeppen (1893-1939) zu werden, Februar 1933 ist es soweit; die ebenso lakoni- der Leiter der literarischen Abteilung bei der Ber- sche wie befreiende Tagebucheintragung hält liner Funk-Stunde ist.7 Die Hoffnung auf eine fest: »In Berlin genügend Funkaufträge bekom- feste Anstellung am Rundfunk soll sich jedoch men, um bis April Schulden bezahlen und leben nicht erfüllen. Im November 1929 wird die Ein- zu können. Wenig Zeit«.13 stellung abgelehnt, Koeppen kann sich mit sei- Die eigentliche »Karriere« als Rundfunk- nem Wunsch nicht durchsetzen.8 Raschke wird schriftsteller beginnt. Sie wird in den nächsten die kommenden Jahre hindurch als freier sieben Jahren mehr als 120 Sendetermine um- Schriftsteller für den Rundfunk arbeiten. fassen. Doch die steile Rundfunkkarriere ist nun- So fungiert Raschke am 26. Februar 1930 als mehr untrennbar mit den Bedingungen des Me- Mitautor bei einem Funkporträt der ›Literarischen diums im nationalsozialistischen Staat verbun- Welt‹. Der junge Dichter ist seit 1929 regelmäßi- den. ger Mitarbeiter dieser Berliner Zeitschrift und Inwieweit dem 27-jährigen Martin Raschke verdankt ihr seinen publizistischen Durchbruch. 1933 diese Koinzidenz zu Bewusstsein kommt, Auf diese Sendung folgt ein Beitrag »Rilke sieht ist aus den Quellen nicht zu belegen. Aus dem Paris« (7.12.1930), der umfangreiche Rilke- Briefwechsel mit Günter Eich geht jedoch hervor, Texte über Paris durch kurze Überleitungen ei- dass die beiden Freunde versuchen, die Wirren nes als Reiseführer auftretenden Sprechers ver- der personellen Veränderungen im Berliner bindet.9 Zu Raschkes Projekt »Drei Menschen Funkhaus für sich gezielt zu nutzen. lügen«, das Ende 1931 für das »Studio und die »Und wann kommst Du nach Berlin? Wir müssen Hörspielbühne« in Danzig nachweisbar ist, feh- doch den Feldzug gegen den Funk fortsetzen. Mor- 10 len weitere Unterlagen. gen gehe ich zum Deutschlandsender (nicht zu Pleis- Viele dieser frühen Sendungen erweisen sich ter, der, wie man mir sagt, dort nur eine Nebenrolle als Rundfunkarbeiten, die sicherlich ohne gro- spielt, sondern zu Fricke). Ich werde dir darüber Be- ßen Aufwand vom Autor zusammengestellt wur- richt erstatten. Herzlichst Dein Günter«,14 den und keinen künstlerischen Anspruch erhe- schreibt Eich nach Dresden an Raschke und rät ben können. Ein solch kompilierender Beitrag ist ihm im selben Brief: auch das »Leben und Sterben des großen Sän- gers Enrico Caruso«. Bei der Berliner Funk- »Im Augenblick ist es wohl das Sicherste, mit Hoff- Stunde am 9. April 1931 urgesendet und am 11. mann zu arbeiten, der fest im Sattel sitzt. Außerdem Oktober 1931 bei der MIRAG Leipzig und am 27. wird jetzt der Deutschlandsender immer wichtiger, der Februar 1933 bei der ORAG Königsberg jeweils auf Kosten der Funkstunde vergrößert werden 15 neu produziert, gilt diese Sendung als das erste soll.« »Hörspiel« von Martin Raschke und Günter Eich. Dank Eichs geschicktem Taktieren vor Ort in Ein Lektoratsgutachten beschreibt den unprä- Berlin ergibt sich mit dem »Königswusterhäuser tentiösen Aufbau des nicht mehr erhaltenen Landboten« der größte Auftrag für die beiden Stückes: jungen Schriftsteller. Von Oktober 1933 an wer- − »An Hand von Caruso-Schallplatten gibt ein Sprecher den Günter Eich und Martin Raschke einander − mit wenigen Worten einen Überblick über Wende- abwechselnd oder gemeinsam jeden Monat punkte im Leben des Meisters. (...) Die Handlung ist eine einstündige Folge für den Deutschlandsen- eine ganz lose Aneinanderreihung von einzelnen Tat- der schreiben. Der »Königswusterhäuser Land- sachen. Die Persönlichkeit ist nicht gestaltet (...). Das bote« steht bis Mai 1940 auf dem Programm. Ganze eine Schallplatten-Montage«.11 Mit dem »Caruso«-Spiel startet die enge Zu- Nicht nur zusammen mit Eich hat Raschke beim sammenarbeit von Martin Raschke und Günter Rundfunk Erfolg. Die anfänglichen Schwierig- Eich für den Rundfunk. keiten mit seinem großen Hörspielmanuskript »Geister der Ahnen«, das Raschke schon Ende 1932 bei Koeppen eingereicht hat, werden im Die Lesungen und die ersten Rundfunkbeiträge 16 Raschkes seit 1928 zeigen zunächst einmal, Frühjahr 1933 erfolgreich überstanden. Am 29. dass der Beginn des Kontaktes zum neuen Me- Mai 1933 wird das Hörspiel unter dem Titel »Das Erbe der Väter« als Reichssendung ausge- Wagner: Martin Raschke und der Rundfunk 1928 - 1940 7

strahlt. Neben der publizistischen Wirkung bringt ternen Sohnes um Gertrud eingewoben ist (RS die Übertragung über alle deutschen Sender Leipzig, 3.2.1937). dem Autor ein fünffaches Honorar ein. »Das Er- In dieser »Blütezeit« von 1934 bis 1936 ver- be der Väter« wird zum fulminanten Auftakt für fasst Martin Raschke darüber hinaus mehrere eine umfangreiche rundfunkliterarische Tätigkeit. Hörspieladaptionen, z.B. »Der Deichgraf« nach Martin Raschke schreibt in den nächsten Jahren Storms Novelle (RS Leipzig, 3.7.1935) und »Die insgesamt etwa 50 Hörspiele, Hörfolgen, Sze- kluge Bauerntochter« als Funkmoritat nach dem nen, Jugendfunksendungen und unterhaltende gleichnamigen Grimmschen Märchen (RS Leip- Beiträge, außerdem die von ihm verfassten Fol- zig, 8.4.1935). Hinzu kommt die Jugendsendung gen des »Königswusterhäuser Landboten«. Die- »Steine reden« (RS Berlin, 6.1.1936).22 Schließ- ses quantitativ imposante Schaffen erstreckt lich schreibt er als Funkautor auch eine Vielzahl sich dabei vom Beginn des Dritten Reichs bis in so genannter »Hörfolgen« wie beispielsweise: den Juni 1940, als das Einheitsprogramm des »Ich bin dein, du bist mein. Verborgene und be- nationalsozialistischen Rundfunks begann und rühmte Liebesgespräche und Serenaden« (RS dem Hörspiel nahezu kein Programmplatz mehr Berlin, 4.6.1934) oder: »Die Heimkehr der Toten. eingeräumt wurde. Es stellt ein beachtliches Ein Wortfolge aus Dichtung und Brauchtum zum Funkœuvre dar und erlaubt, von Martin Raschke Allerseelentag« (RS Breslau, 2.11.1934). als einem der produktivsten Rundfunkautoren während des Dritten Reiches insgesamt zu Der durch die Neuordnung des Rundfunks seit sprechen. 1937 einsetzende Rückgang an Hörspielen und literarischen Sendungen in den Rundfunkpro- In der hörspielgeschichtlichen Literatur wurde grammen bedeutet für Raschke jedoch keinen diese Tatsache bislang vernachlässigt.17 Den Einschnitt. Er ist weiterhin äußerst produktiv: Zeitgenossen präsentierten die Nachschlage- »Johannistrieb« beispielsweise gilt als eines der werke Martin Raschke jedoch als »ein[en] jun- wenigen gelungenen heiteren Hörspiele in dieser ge[n], wegweisende[n] Funkdichter« − so der so Zeit; die Kritik bescheinigte ihm, »unter den allzu genannte »Lennartz« in seinen Auflagen von vielen bäuerlichen Lustspielen« herauszura- 1938 bis 194118 −; von einer »Liebe zur Funk- gen.23 »Die vierzehn Nothelfer von Gottleuba« dichtung, einsatzkräftig (...) begonnen und hin- (RS Leipzig, 23.6.1937) gestalten als Hörspiel gebend weitergepflegt« sprach Norbert Langer eine sächsische Sage aus der Zeit der Hussiten- 1941 in seiner Literaturgeschichte;19 und Gerd kriege, wonach der Bürgermeister und 13 Jüng- Eckert schrieb in Will Vespers Zeitschrift »Die linge die Stadt so lange verteidigten, bis sich die Neue Literatur« 1940: »als beispielhaft für eine Einwohner in Sicherheit gebracht hatten. Dieses starke Verbundenheit mit dem Rundfunk (...) »heldische Opfer für die Gemeinschaft« wurde kann Martin Raschke gelten«.20 Martin Raschke 1937 als das »beste sächsische Hörspiel ausge- war ein bekannter, renommierter und geschätz- zeichnet«.24 ter Funkautor in diesen Jahren. Folgt man der Periodisierung von Wolfram Martin Raschke wird 1938/39 vom Kritiker Gerd Wessels,21 so fallen viele der Arbeiten von Mar- Eckert in enge Verbindung mit einer speziellen tin Raschke in die so genannte »Blütezeit« des Form des Hörspiels gebracht: »Als neue Form Hörspiels von 1934 bis 1936. Es sind seine Ori- hat Raschke das Gespräch für den Rundfunk ginalhörspiele wie »Die toten Schiffe. Eine Funk- entdeckt«.25 Raschke hatte zwar bereits 1933 ballade«, beim Reichssender Leipzig vom dorti- den Dialog gewählt, im »Erbe der Väter« jedoch gen Regisseur Hans Zeise-Gött inszeniert war es die Situation eines Traumgesprächs, ei- (1.10.1934), später beim Reichssender München nes imaginären Dialogs. Ab 1938 »schenkte« von Alois Johannes Lippl neueinstudiert Raschke »dem Rundfunk eine ganze Anzahl (29.4.1935). Auch »Die lange Schicht von Eh- solcher Gespräche, die verschiedenen Themen renfriedersdorf« wird zweimal inszeniert, zu- galten: den Farben, den Blumen, den Sternen, nächst beim Reichssender Leipzig (29.10.1935), den Edelsteinen«.26 Hierbei handelt es sich um anschließend beim Reichssender Berlin die nachweisbaren Sendungen »Die Sterne, die (27.6.1936). Ein weiterer Titel beim Reichssen- begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht. der Leipzig ist »Der Wolf« (10.11.1936) und Ein Gespräch um Sternenwissen, Sternenglau- noch einmal wird am 1. Dezember 1935 ein Hör- ben, Sternenschicksal« (RS Leipzig, 14.11.1938), spiel von Martin Raschke als Reichssendung »Kristall und Edelstein« (RS Leipzig, 6.2.1939) übertragen: »Bäuerlicher Tag im Winter. Ein und »Von der Seele der Pflanzen« (RS Leipzig, Hörbild aus dem Erzgebirge«. Als Auftragsarbeit 23.4.1939).27 Nicht zufällig entstanden alle diese entsteht »Der Johannistrieb«, ein »Schwank« »Gespräche« in Zusammenarbeit mit dem diesmal, in den das gemeinsame Liebeswerben Reichssender Leipzig, denn dieser rühmte sich des lebenslustigen Vaters und seines schüch- 8 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

in einer Pressemeldung, diese »neue Form lite- Raschkes Rundfunkschaffen erstreckt sich, rarischer Gespräche« entwickelt zu haben: wie dieser Überblick zeigt, kontinuierlich bis zum Ende des Hörspielprogramms im Juni 1940. Er »Das Neue an diesen Gesprächen ist nun, daß sie − keine dialogisierten Abhandlungen bilden, d.h. daß verfasst kurze heitere Spiele, mit denen er ne- nicht nur einzelne Sprecher eingeführt werden, um in ben Eich, Kuhnert, Alfred Prugel, Georg von der Rede und Gegenrede den Stoff aufzugliedern und Vring und Eberhard Meckel − zu den Gemein- anstelle eines Vortrages oder einer Abhandlung den schaftssendungen »Im Rausch der schönen Dialog zu setzen. Mit der Darstellung der gegebenen Maiennacht« (RS Leipzig, 28.5.1939) und »Jetzt, Themen verbindet sich vielmehr ein Handlungskern, wo alle Rosen blüh‘n. Lustige Momentaufnah- der auf die Gesprächspartner einwirkt. Die Gesprä- men im Sonnenschein« (RS Leipzig, 28.6.1939) che sind also psychologisch gefaßt, (...) die Träger beiträgt. Am 4. Juli 1939 sendet Leipzig Rasch- des Gespräches sind (...) Träger einer inneren Span- kes »locker gereihte Szenen« einer »Erzge- 28 nung und Handlungsentwicklung«. birgsfahrt« im Rahmen der Sendereihe »Feri- Sieht man sich die Manuskripte dieser Sendun- enfahrten ins deutsche Land«;33 im November gen an, muss die Charakterisierung der Pres- 1939 überträgt der Reichssender Leipzig eine semeldung korrigiert werden: Die Szenenanord- Szene mit dem Titel »Die Prüfung«; für die Fei- nungen wirken äußerst konstruiert. Man merkt ertagstermine des ersten Kriegsjahres lassen ihnen den Zweck, einen bestimmten Dialog und sich ein »Weihnachtsspiel« (24.12.1939) und ein ein spezielles Thema in Gang zu bringen, an. In Kurzhörspiel nachweisen (25.12.1939). Weiter- »Von der Seele der Pflanzen« beispielsweise hin stand bis zum Mai 1940 der »Königswu- kommt Luise zu Besuch zu Erwin, einem »Son- sterhäuser Landbote« auf dem Programm des derling«, der ihr sogleich wie ein enthusiasmier- Deutschlandsenders. Da Günter Eich im August ter Biologielehrer die »Sprache der Natur« er- 1939 zur Luftwaffe eingezogen wurde, übernahm klärt und »die ganze Fülle der Welt aus einer der Freund die letzten Sendefolgen von Januar Blume herausbuchstabieren kann«.29 In »Kristall bis Mai 1940.34 und Edelstein« fällt die Ungleichgewichtigkeit der Gesprächspartner noch stärker auf, denn der Ein wichtiges Faktum ist in diesem Zusammen- Kunde im Juweliergeschäft ist auf den Part eines hang eigens festzuhalten: Martin Raschke war Fragenden beschränkt und fungiert als Stich- offensichtlich nicht an der im Januar 1940 von wortgeber.30 Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ini- Viele der Hörspielarbeiten von Martin Rasch- tiierten anti-britischen Kampagne beteiligt,35 zu ke entstanden, wie damals üblich, als Auftrags- der Günter Eich sein Hörspiel »Rebellion in der arbeiten der einzelnen Reichssender bzw. deren Goldstadt«, Adolf Artur Kuhnert die »Mission des Redaktionen. Auch eines seiner letzten Hör- Doktor Mackenzie« und »Erika ganz groß« so- spiele, »Die Bergherrin«, am 3. Mai 1939 gesen- wie Peter Huchel seine Shaw-Bearbeitung der det, entstand im Auftrag des Reichssenders »Greuel von Denshawai«36 beitrugen. Leipzig. Im Rahmen eines Wettbewerbs fragte Aus Dokumenten der Reichsschrifttums- die Leipziger Hörspielabteilung ihre Zuhörer »Er- kammer zum Jahreswechsel 1939/40 geht ledig- kennst du mich?«. Drei Kurzhörspiele von Adolf lich hervor, dass Martin Raschke vorgesehen Artur Kuhnert, Josef Martin Bauer und Martin war, Hans Friedrich Bluncks »Märchen von der Raschke wurden ausgestrahlt, ohne Namens- Niederelbe« für den Rundfunk zu bearbeiten. nennung: Die Rundfunkhörer mussten die drei Aber weder dieses Projekt noch die Idee, »das Verfasser zuordnen. Raschkes Spiel von »Der alte Volkstum« der »Landboten«-Sendereihe Bergherrin«, vom wankelmütigen Glück des »dem grösseren Publikum« in einem »Kultur- Menschen, die Schätze der Erde zu gewinnen − film« nahe zu bringen, wurden realisiert.37 Im hier in Form von Silberminen −, war der zweite Gegensatz zu vielen Kollegen wechselte Martin Beitrag an diesem Abend. Raschke hatte ganz Raschke 1940 nach der Einstellung der Regio- einfach eine kleine Geschichte des »Königswus- nalprogramme und der drastischen Reduzierung terhäuser Landboten« genommen und ausge- des Wortanteils im Einheitsprogramm der staltet; die Geschichte vom Hochmut der Berg- Kriegsjahre nicht in den Filmbereich über.38 herrin konnte man schon drei Jahre früher in der Gleichwohl war Martin Raschke in dieser Zeit Veröffentlichung »Das festliche Jahr« nachle- weder untätig noch war er politisch abstinent. sen.31 Aber auch die Hörspielautoren hatten an Schon bevor Raschke im Juli 1941 seinen diesem Abend etwas zu gewinnen. Dasjenige Dienst als Kriegsberichterstatter in einer Propa- Hörspiel nämlich, das von den Hörern als das ganda-Ersatz-Kompanie antreten sollte, ver- beste bewertet wurde, sollte die Preissumme knüpfte er seine literarische Tätigkeit mit dem von 700 RM erhalten. Martin Raschke gewann Kriegsgeschehen, wie die Novelle »Der Pome- den Wettbewerb nicht; Josef Martin Bauer hatte ranzenzweig« zeigt, die »nach Beendigung des fast 80 Prozent der Stimmen auf sich vereint.32 polnischen Feldzuges im Herbste 1939«39 an- Wagner: Martin Raschke und der Rundfunk 1928 - 1940 9

gesiedelt ist. Das Thema des »Pomeranzen- Auch als beispielsweise vom Deutschen zweiges«, der Kampf zwischen dem ungleichen Volksbildungswerk/Abteilung Vortragswesen − Brüderpaar Lorenz und Hubert um Gertrud, kehrt Dichterlesungen ein Gutachten angefordert wird, nahezu vollständig in einem bislang nicht zu da- kann über Martin Raschke im Juni 1939 im Auf- tierenden Hörspielmanuskript wieder. Unter dem trag des »Beauftragten des Führers für die Titel »Bruder Kamerad« schrieb Raschke paral- Überwachung der gesamten geistigen und welt- lel zur Novelle dieses Hörspiel, das nach dem anschaulichen Schulung und Erziehung der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die »Kame- NSDAP« festgestellt werden: radschaft« als obersten Wert feiert.40 Das expli- »Raschke wird von seiten des zuständigen Hoheits- zit propagandistische Hörspielmanuskript »Bru- trägers für politisch, weltanschaulich und charakter- der Kamerad« war eventuell die nicht mehr rea- lich einwandfrei erklärt. Als Dichter hat er es in ver- lisierte letzte Funkarbeit Raschkes, von der in hältnismäßig kurzer Zeit verstanden, in die ersten einem Brief des ehemaligen Leipziger Rund- Reihen der erzählenden deutschen Dichtung vorzu- funkmitarbeiters Veit Roßkopf im Mai 1941 die rücken. Er hatte zwar früher Beziehungen zum Kom- Rede ist.41 munismus, war jedoch bereits von 1930 bis 1933 Herausgeber der völkischen Zeitschrift ›Die Kolonne‹. Wie dieser Überblick zeigt, arbeitete der Dresd- Seine frühere politische Haltung dürfte daher auf die 48 ner Schriftsteller in den Jahren 1933 bis 1940/41 jugendliche Überspanntheit zurückzuführen sein.« − sieht man von gelegentlich verlangten Umar- Ein solches Urteil erlaubte es auch, Martin beitungen der eingereichten Manuskripte ab42 − Raschke in den Ausgaben der »Vorschlagslisten anscheinend nahezu ungehindert für den Rund- für Dichterlesungen« zu führen.49 Im Zusam- funk. Als formale Voraussetzung hierzu war menhang mit diesen Empfehlungen an den Martin Raschke im September 1933 in die deutschen Buchhandel dürften auch Dichterle- Reichsschrifttumskammer (RSK) eingetreten sungen oder Rezitationen im Rundfunk gehören. sowie in den Reichsverband Deutscher Schrift- Eugen Kurt Fischer, ehemals Literaturchef in steller (RDS).43 Ernste Schwierigkeiten gab es Leipzig und Sendeleiter in Köln, stand ab 1940 für Raschke während dieser Zeit offenbar nicht. der Abteilung Schrifttum bei der Reichssende- Nur einmal verbreitete am 28. Juli 1934 die leitung vor, zu der speziell die Koordination des Reichssendeleitung, dass »der Schriftsteller Einsatzes »Frontdichter im Rundfunk« gehör- Martin Raschke (...) für den deutschen Rundfunk te.50 nicht tragbar ist«.44 Anlass war sein 1930 er- Da ab Mitte 1941 keine Rundfunkzeitschriften schienener Roman »Fieber der Zeit«, der kon- mehr erschienen, lassen sich Beiträge von Mar- troverse politische Vorstellungen einer Gruppe tin Raschke nicht mehr nachweisen. Wahr- von Jugendlichen während der Inflationszeit scheinlich dürfte jedoch Raschke auch während zeigte. Raschke erfuhr vom Verbot der Reichs- seiner Zeit als »Kriegsberichter« im Rundfunk sendeleitung drei Wochen später: gelegentlich zu Wort gekommen sein.51 »18. August [1934] Ein bitterer Tag: zufällig erfahren, dass vor 14 Tagen die deutschen Sender angewie- sen wurden, mich wegen meines Romanes ›Fieber Der verlorene Sohn kehrt heim der Zeit‹ nicht mehr zu beschäftigen. Viele hoffentlich in die Volksgemeinschaft klärende Briefe geschrieben«, notierte Raschke.45 Der Vorgang erwies sich als »Das Erbe der Väter« wurde im Mai 1933 zum Schreckschuss, der bald vergessen werden fulminanten Auftakt für das umfangreiche Hör- konnte; nur wenig später kam die erlösende spielschaffen Martin Raschkes im Dritten Reich. Meldung: Mit großem propagandistischen Aufwand auf dem reichsweiten Sendeplatz »Stunde der Nati- »27. August [1934] (...) Nachricht von der Funklei- on« urgesendet, gehört »Das Erbe der Väter« tung, dass meine Mitarbeit wieder genehmigt ist. Entwölkung des Horizontes.«46 zum »Jahr der politischen Hörspiele«, als das 1933 gilt.52 Doch die großangelegte Rundfunk- Freilich konnte im konkurrierenden nationalso- dichtung war nicht für den nationalsozialistischen zialistischen Herrschaftsapparat ein solches Rundfunk geschrieben worden, sondern lag bei Verdikt auch hartnäckig überdauern. Als der der Machtergreifung Hitlers zu Beginn des Jah- Reichssender Frankfurt eine Lesung aus Rasch- res 1933 bereits vor. Raschke hatte sie 1932 kes neuem Roman »Der Wolkenheld« beab- geschrieben und bei Edlef Koeppen am Berliner sichtigt, fragt er zunächst bei der Reichssende- Funkhaus eingereicht. Nur wenig hätte gefehlt leitung nach. Es wird jedoch mitgeteilt, dass und das Manuskript wäre den personellen Ver- »gegen eine Besprechung des Buches (...) keine änderungen bei der Berliner Funk-Stunde zum Bedenken« bestehen.47 Opfer gefallen. Es ist den taktisch geschickt vor- 10 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

gebrachten Fürsprachen von Günter Eich vor Ort ausführlicher charakterisiert. In einem reimlosen, zu verdanken, dass die Dichtung des Dresdners rhythmisierten Vers-Monolog zum Auftakt der schließlich realisiert wurde. Dichtung werden die Stichworte »müde der un- Am 29. Mai 1933 wurde »Das Erbe der Vä- endlichen Zeit« (S. 2), »Leere meines Herzens« ter« ausgestrahlt. Tagebücher und Korrespon- (S. 3), Langeweile (S. 2) und »Nüchternheit mei- denz von Martin Raschke enthalten keinen Hin- nes Lebens« (S. 3) genannt; der Enkel »äng- weis darauf, dass das Manuskript umgearbeitet stigt« sich (S. 2), fühlt sich »wie auf einem werden musste. Die in der Mediengeschichte Schiff« (S. 4), sieht sich auf der Flucht (S. 5). Er bislang bekannt gewordenen Beispiele zeigen ist ein »Nomade (...), / der mit Koffern die Städte allerdings, dass die Hörspielverantwortlichen im durchwandert, / sein Zelt in Wohnungen auf- Berliner Funkhaus sehr häufig auch selbst Hand schlägt und weiterzieht« (S. 2). an die Texte legten.53 Es muss aufgrund fehlen- Der Gegensatz zu dieser Beschreibung sei- der Unterlagen offen bleiben, ob Raschkes Ma- ner Ausgangslage wird im Hörspiel sehr viel we- nuskript von 1932 trotz der neuen politischen niger eindeutig benannt. Eher indirekt erfährt Verhältnisse unverändert durch die Berliner man von den Hoffnungen des Protagonisten. Funk-Stunde inszeniert worden ist. Der Enkel will demnach »das immerhin Bleiben- Eine andere Frage jedoch drängt sich bei der dere (...) finden« (S. 5), er möchte »Pfähle« Lektüre des Hörspielmanuskriptes54 auf: Stellt schlagen »inmitten des strömenden Meeres« »Das Erbe der Väter« nicht einen weiteren para- (S. 5); die Hoffnung seines »sehnende[n] Her- digmatischen Fall dar, der demonstriert, wie be- z[ens]« (S. 4) zielt auf ein »Wunder«, das »alles stimmte thematische Vorstellungen junger kon- verwandelt« (S. 1). servativer Intellektueller am Ende der Weimarer Diese »Verwandlung« steht im Zentrum der Republik ohne größere Schwierigkeiten in das Dichtung, sie wird beispielhaft vorgeführt. Dem Ideenkonglomerat der nationalsozialistischen jungen Mann widerfährt sie in der mystischen Ideologie einmünden konnten? Der Inhalt von Begegnung mit den Ahnen bei Brot und Wein »Das Erbe der Väter« − der Traumdialog zwi- am Abendtisch. Die Dimension der christlichen schen einem jungen Mann und seinen Eltern, liturgischen Abendmahlsfeier wird dabei bewusst Großeltern und Ahnen sowie den Personifikatio- als Folie herangezogen: nen der Angst, des Unglaubens und der Sehn- − »Ahn: ›Du ißt von dem großen Leibe der Erde, was sucht wird in einer Hörspielankündigung wie du auch ißt.‹ folgt beschrieben: Ahne: ›Du trinkst von dem Blute der Erde, was du »Ein junger Mann aus der Stadt, von Ängsten erfüllt, auch trinkst.‹ doch voller Sehnsucht nach einem starken Leben, Ahn: ›Nimm hin und esse [!], das ist mein Leib!‹ wie es die Vorfahren hatten, ruft in der Geburtstags- sagt das Leben in jedem Brote für den, der es hört.« nacht hilfesuchend die toten Väter in sein Zimmer. (S. 31) (...) ›Aus welchen Quellen lebtet ihr?‹ fragt der Enkel In Martin Raschkes Funkdichtung kommt eine (...). ›Wo ist Gott?‹, fragt er, ›und wo ist das Leben in tiefe Verunsicherung zum Ausdruck. Der junge dieser Stadt aus Stein, die mir als Wüste erscheint?‹ Mann, nicht ohne Grund namenlos und vorge- Erst dem Ahnen gelingt es, dem Enkel die nie gemin- derte Nähe Gottes und das Verflochtensein jedes stellt als »einer von vielen« (S. 1), wird im Hör- einzelnen mit dem Volke zu zeigen (...). Wir finden spiel zum Typus einer ganzen Generation. Das den jungen Menschen, den wir zu Beginn allen Äng- Krisengefühl der frühen 30er Jahre wird zum sten ausgeliefert sehen, am Ende voller Freude. Das Ausgangspunkt für die Hörspieldichtung »Das Haus seines Lebens ist errichtet, der Boden heißt: Erbe der Väter«. So wie der »Erbe« leidet man Volk, die Decke: Gott. Er erkennt: die Väter leben in unter den »modernen« Phänomenen Anonymi- mir fort und verknüpfen mich mit allem Vergangenen, tät, Großstadt und industrielle Arbeit, sehnt sich − so zeigt das Gespräch den Weg eines entwurzelten nach einem neuen Glauben und einer ganzheitli- 55 Einzelnen zurück zu seinem Volke und zu Gott.« chen Erneuerung. Dieser Mythos von einer Das »Erbe der Väter« thematisiert eine für die grundlegenden Verwandlung wird bei Martin Jahre nach der großen Weltwirtschaftskrise so Raschke spektakulär und eindringlich umge- oft diagnostizierte Lebensstimmung.56 Raschkes setzt. »Erbe« spiegelt das »Krisengefühl« und die Den Nationalsozialisten kam eine derartige »Chaoszeit« am Ende der Weimarer Republik Rundfunkdichtung zu Beginn des Jahres 1933 wider. Im Bild vom »verlorenen Sohn« bringt der nicht ungelegen. Mit der Wahl Hitlers zum Autor Entwurzelung und Vereinzelung zum Aus- Reichskanzler im Januar und dem Sieg bei den druck. Das gesamte Hörspiel ist von Raschke März-Wahlen 1933 war für sie die Machtergrei- streng polar aufgebaut; zwei Zustandsbeschrei- fung indes noch nicht abgeschlossen. Ihr Ziel bungen werden einander gegenübergestellt. Der lautete, die »Volksgemeinschaft« hinter sich zu Ist-Zustand des Enkels wird dabei ungleich bringen. Wagner: Martin Raschke und der Rundfunk 1928 - 1940 11

»Wir haben Sie, meine Volksgenossen in ganz Eine regelrechte Ideologie der Generation Deutschland, (...) gerufen (...) Deutsche! Ihr seid ein bietet die Totenbegegnung im »Erbe der Väter«, Volk, das stark ist, wenn Ihr selbst stark sein wollt! wenn sie ein Fort- und Weiterleben in der Ah- Diese Millionen (...), sie werden heimkehren mit dem nenreihe aufzeigt. Der einzelne Mensch wird da- Gefühl einer neu gewonnenen inneren Kraft und Ein- bei aus seiner zeitgeschichtlichen Verantwortung heit.«57 entlassen, er wird in eine ahistorische Überzeit- Der »verlorene Sohn« in Raschkes Hörspiel lichkeit katapultiert. Er sehnt sich danach, sein »Das Erbe der Väter« konnte hervorragend in individuelles Leben in einer mystisch erfahrenen diese Propagierung einer großen Sammelbewe- Ewigkeit aufgehen zu lassen. »Das Erbe der gung eingepasst werden. Er, der Nachfahre, Väter« beschränkt sich nicht mehr darauf, eine kehrt − wie es am Schluss des Hörspiels heißt – »generationsbedingte Gespaltenheit« zu gestal- um zu einem neuen »Leben«, »zu dem Haus ten bzw. das »eigentümliche Schwanken zwi- meines Volkes« und zu »unserer unerschöpfba- schen tiefer Verzweiflung und dem Bedürfnis, ren Heimat« zurück (S. 40). Der gerade 27- sich in ein »Führungsfeld« einzuordnen«,59 son- jährige Literat Martin Raschke begab sich mit dern hier wird in einer religiösen Dimension das seinem »Erbe der Väter« ganz klar in das Fahr- ewige Leben in der ununterbrochenen Tradition wasser der explizit nationalsozialistischen Pro- der Ahnen gefeiert. paganda. Nirgends liest man von Einwänden Ähnlich ist von einer Ideologie des Volkes zu gegen die Vereinnahmung seiner Funkdichtung; sprechen, denn Martin Raschkes Spiel be- er ordnete in einer Hörspielankündigung aus schränkt sich nicht mehr auf das Lob des einfa- seiner Feder das »Erbe der Väter« sogar explizit chen Lebens auf dem Land. Sätze wie die Ver- in die Ereignisse der Machtergreifung ein. Von heißung des »Ahnen« an den »Enkel« gehen einem Bekenntnis zum »neuen Deutschland« ist weit darüber hinaus: »So bist du auch ein Teil die Rede und von einer grundlegenden Wende: deines Volkes und doch auch das ganze Volk. Du wirst auf Erden nicht sterben, solange dein »Ich habe den Weg dieses Menschen aus der Hülle des Unglaubens und der Entwurzelung in ein sinn- Volk lebt«. (S. 23) haftes, volkhaftes Leben niederzuschreiben versucht, Hier wird in eine andere Dimension als die so gut ich das vermochte. Vielleicht kann sein Bei- der Idyllik vorgestoßen. Die Realität des Sinn- spiel dem einen oder anderen ein wenig Hilfe oder verlustes, das Erlebnis einer Vermassung, wie gar Vorbild sein. Es ist ja heute nicht damit getan, viele Schriftsteller sie in den frühen 30er Jahren daß man sich politisch zum neuen Deutschland be- erfuhren, wird metaphysisch aufgelöst. In den kennt. Der Kampf, der gekämpft wurde, zielte weiter konkreten Kontext des Rundfunks im Dritten als auf die äußere Eroberung der Staatsgewalt: es gilt Reich eingebettet, kann eine solche verschlei- in diesen Jahren, daß wir alle aus uns einen neuen ernde Vorstellung dann nur allzu schnell genutzt Menschen machen, der in Einklang lebt mit den werden. Den NS-Machthabern kam es schließ- Stimmen seiner Väter und die Kräfte des Himmels lich darauf an, auf das praktische Ziel der Bil- und der Erde wieder zu binden versucht zum span- dung einer so genannten »Volksgemeinschaft« nungsreichen Bilde des deutschen Menschen.«58 hinzuwirken. An vielen Stellen der Funkdichtung erkennt man, Bleibt noch eng damit verknüpft die Ideologie wie einzelne Motive und Überlegungen aus den des Chthonischen. Raschke lässt bei seiner poetischen Vorstellungen des »Kolonne«- Verwendung der Begriffe von »Erde« und »Blut« Kreises weitergestaltet wurden. Manches könnte im Hörspiel arkadische Topoi oder ein Lob auf man noch verstehen als Bekenntnis eines eher das bäuerliche Leben weit hinter sich. Das stili- unpolitischen Dichters, vieles klingt als anti- sierte Abendmahl mit den Ahnen, das der Enkel zivilisatorisches und antimodernes »Zurück zu feiert, führt zur ›Gründung einer neuen Erde‹ den Vätern« an. Dieses »Zurück«, getaucht in (S. 32). Die Transsubstantiation von Brot und eine religiöse Bildersprache, wird zur Suche Wein − also der Gaben der Erde − zu Leib und nach dem Ausweg aus der allerorten konsta- Blut einer neuen Erlebniswelt, in die der Enkel tierten Entfremdung. Die Suche nach einem und mit ihm die Zuhörer der Dichtung am neuen Ganzen taucht zwar noch im Hoffen des Rundfunkgerät Eingang finden sollen, eine sol- »Erben« auf, aber schließlich geht das Hörspiel che Initiation bettet den Einzelnen in einen Le- weit darüber hinaus. Martin Raschke lässt ganz bensstrom ein.60 »Der Vater, die Mutter und offenkundig dieses Ideenkonglomerat einer kri- längst versunkene Völker (...) wollen (...) durch senhaften Situation von der nationalsozialisti- mich gehn in ein ewigeres Leben« (S. 40). schen Propaganda vereinnahmen. In seiner »Blut« und »Erde« − und letzteren Begriff kann Funkdichtung wird nunmehr eine dreifache man durch »Boden« ersetzen − bilden den Zu- Ideologie transportiert: eine Ideologie der Gene- gang zu einer problematischen Hinterlassen- ration, des Volkes und des Chthonischen. schaft, das im »Erbe der Väter« vermittelt wer- den sollte. 12 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Es verwundert nicht, dass der Programm- als Leiter des Jugendfunks im Mai 1935 aufge- kontext, in dem Raschkes Hörspiel gesendet ben, als er beschlossen hatte, die Schriftstellerin wurde, die Zielsetzungen der nationalsozialisti- Elisabeth Langgässer, eine »Halbjüdin« im da- schen Propaganda unterstreicht. Der Pro- maligen Sprachgebrauch, zu heiraten. Raschkes grammplatz, auf dem »Das Erbe der Väter« am Manuskript schien daraufhin schlechte Chancen 29. Mai 1933 ausgestrahlt wurde, war die in die- zu haben. Die inzwischen redaktionell eigen- ser Zeit täglich zwischen 19.00 und 20.00 Uhr ständige Abteilung »Hitlerjugendfunk« jedenfalls anberaumte »Stunde der Nation«. Das Hörspiel, lehnte ab: das von der Berliner Funk-Stunde produziert »Das Manuskript ist seiner eigenartigen Ausführung worden war, wurde dabei nicht nur gleichzeitig wegen vom Hitlerjugendfunk nicht verwendbar, es sei über alle Sender im Reichsgebiet ausgestrahlt, denn, es würde von Grund auf umgearbeitet. Die sondern stand auch für den Hörer durch das Umarbeitung durch Herrn Raschke würde aber si- einleitende Horst-Wessel-Lied erkennbar unter cherlich mehr kosten, als eine von mir bestellte Ar- einem propagandistischen Auftrag. Die »Stunde beit, die trotzdem die gleiche Güte besitzen wür- der Nation«, diese Programmstunde war am 1. de«.65 April 1933 von Propagandaminister Joseph Da Raschke aber bereits einen hohen Betrag für Goebbels mit einer klaren ideologischen Prämis- die Ausarbeitung erhalten hatte und sein An- se gestartet worden. Sie sollte, »sinnfällige[r] spruch auf das Ausfallhonorar der Sendegebühr Ausdruck des einigen Deutschlands« sein und bestätigt worden war,66 hätte das Absetzen des der »innerdeutschen, völkischen Verschwei- Manuskriptes einen weit größeren finanziellen ßung« dienen.61 Ideologische Zielsetzung des Verlust bedeutet. Im Referat »Sondersendun- Programmplatzes und künstlerische Intention gen« wurde die Hörfolge schließlich realisiert. des Autors konnten verschmelzen, wie die An- Martin Raschke scheint sein ursprüngliches kündigung von Martin Raschke zeigt. »Das Erbe Manuskript für die Sendung selbst bearbeitet zu der Väter« wurde zur radiofonen liturgischen haben.67 Wenn es sich bei dem im Nachlass er- Feier und diente somit einem weiteren überge- haltenen Typoskript »Deutsche Denkmäler spre- ordneten Ziel der nationalsozialistischen Rund- chen. Eine Jugendstunde. Hörfolge«68 um den funkpolitik in idealer Weise, wonach der neue ursprünglichen Text für Hoffmanns Jugendfunk Rundfunk eine »Kirche der Nation«62 werden handeln sollte, so fällt auf, dass das Manuskript sollte. Wie bei den kultischen Handlungen in den in erster Linie gekürzt wurde. Da der Hitlerju- Religionsgemeinschaften sollte durch den Nach- gendfunk abgelehnt hatte, fielen sämtliche Stel- und Mitvollzug des nationalsozialistischen len weg, die Bernhard als Hitlerjungen zeigen. In Rundfunkprogramms aus den Radiohörern eine Raschkes ursprünglicher Exposition lauscht eine neue »Volksgemeinschaft« konstituiert wer- HJ-Gruppe ihrem »Führer«, der von Antäus und den.63 seinen Berührungen mit der Mutter Erde erzählt. Dieser Entwurf einer nächtlichen Lagerfeuer- Romantik wurde gestrichen. Die Bearbeitung im Die deutsche Geschichte wird lebendig weiteren Textverlauf zeigt darüber hinaus keine nennenswerten Veränderungen, die in Kategori- Eine weitere Sendung, die näher betrachtet wer- en wie Verschärfung oder Entpolitisierung zu den soll, ist eine Arbeit für das Jugendprogramm werten wären. Die Intention dieser »Hörfolge«, im Dritten Reich. Um das Manuskript »Steine re- einen Parforceritt durch die deutsche National- den« von Martin Raschke gab es schwierige re- geschichte zu gestalten, hatte Martin Raschke 64 daktionelle Verhandlungen, bevor in der Sen- von Anfang an für den Rundfunk gestaltet. dung am 6. Januar 1936 der kleine Bernhard In »Steine reden« begegnet Bernhard des sein nächtliches Abenteuer mit dem »getreuen Nachts dem »getreuen Eckart«. Sehr geschickt Eckart« bestehen konnte. ermöglicht es die Hörspielform, diese Sagenfigur Raschke hatte den Auftrag zu einer Schul- lebendig werden zu lassen. Eckart startet mit funk-»Hörfolge« unter dem Titel »Steinerne dem Jungen eine Reise »zurück« in die Ge- Zeugen« bereits im Herbst 1933 erhalten. Der schichte.69 Abwechselnd referiert Eckart dabei Sendetermin wurde indes aus organisatorischen einzelne historische Zeiträume, dazwischen tre- Gründen mehrere Male verschoben. Als Rasch- ten die wichtigsten Protagonisten der deutschen ke daher im Herbst 1935 das 50-prozentige Geschichte selbst auf: der Cheruskerfürst Armi- Ausfallhonorar der Sendegebühr einforderte, nius, Karl der Große, Friedrich Barbarossa, Mar- wurde das Manuskript schließlich zum Zankapfel tin Luther, Friedrich der Große und Otto von redaktioneller Kompetenzen beim Reichssender Bismarck. Über den im Kyffhäuser schlafenden Berlin. Raschke hatte nämlich seinerzeit den Staufer-Kaiser heißt es: »Er wird wiederkom- Auftrag von Wilhelm Hoffmann (1899-1967) er- men, wenn wir einig sind« (S. 10); Luther wird halten. Doch Hoffmann musste seinen Posten vom Chorgesang »Wach auf, wach auf, Du Wagner: Martin Raschke und der Rundfunk 1928 - 1940 13

deutsches Land« begleitet (S. 11); der Preußen- Ein harmlos-biederes Motivfeld könig will sein Leben »gern für sein Vaterland wird vereinnahmt hingeben« (S. 12). Eine Geschichtsrevue ent- steht, die immer deutlicher nationalistische Ziel- Nach den beiden ausführlicher vorgestellten Ar- setzungen verfolgt. Sie kulminiert in der Schlacht beiten soll noch einmal zurückgeblickt werden bei Tannenberg. In einer hochdramatisch sich auf das gesamte Schaffen Martin Raschkes für steigernden Folge werden abwechselnd mit der den Rundfunk. Dabei fällt auf, dass die beein- Musik des Deutschlandliedes drei Soldatenbriefe druckende Produktivität des Dresdner Autors mit verlesen: Im ersten ist vom »Gefühl« die Rede, seinen zahlreichen Rundfunk- und Printveröf- »daß alles auf mich allein ankommt« (S. 17); im fentlichungen ermöglicht wird durch einen sehr zweiten davon, daß »die Mauern, die wir Einzel- haushälterischen Umgang mit Themen und Mo- nen voreinander aufgerichtet haben, (...) einge- tiven. Häufig tauchen bei Martin Raschke ganz stürzt« sind (S. 18); im dritten schließlich be- explizite Mehrfachverwertungen auf. Nicht nur richtet der Soldat: »Ich kann ja gar nicht sterben, arbeitsökonomische Gründe spielen dabei eine solange das Volk lebt, für das ich hier stehe« große Rolle; es kristallisiert sich bei der Über- (S. 18). Die bereits im vorangegangenen Hör- sicht auch ein einheitliches Motivfeld heraus, das spiel aufgezeigte Ideologie des Volkes kehrt in sich geradezu als konstitutiv für seine Arbeiten Raschkes Jugendsendung im heroischen Ges- erweist. Zwei der wichtigsten thematischen tus des sich opfernden Soldaten wieder. Punkte aus diesem poetischen Reservoir wer- »Alle Stimmen: Wir leben, solange dieses Volk lebt!! / den herausgegriffen. Musik. Und noch einmal, verwehend im Wind: / Wir leben, solange dieses Volk lebt !!! −« (18). »O wollt ihr Freude schauen, so ... 70 Martin Raschke erarbeitete in seiner Jugend- kommt zu uns aufs Land« sendung »Steine reden« also weit mehr als nur Ein solches Motivfeld ist der Stadt-Land- eine für die jugendlichen Hörer spannende Re- Gegensatz, das weitergefasst als Verhältnis von vue der deutschen Geschichte. Raschke inter- Ferne und Nähe, von Wandern und Rückkehr pretierte den Verlauf nationalistisch, vor allem, und schließlich von Fremde und Heimat im Werk wenn er ihn im »Tannenberg«-Mythos kulminie- Raschkes vorkommt. Die antagonistischen Be- ren lässt. »Tannenberg« nämlich steht bereits griffe beschreiben eine Grundkonstellation, die am Anfang, wenn die Geschichtsreise von be- Raschke zeitlebens beschäftigte. Zentral hierfür stimmten Denkmälern, von am Horizont auftau- steht die Heimkehrer-Geschichte, die Raschke chenden »Steinen« ihren Ausgang nimmt, und 1934 unter dem Titel »Der Erbe« veröffentlichte: »Tannenberg« steht am Ende, wenn die Flucht vor den »Russen« aufleuchtet, um schließlich im »An der Schwelle zum Mannsein fällt einem jungen unsteten Menschen der Großstadt das ländliche Ge- Sieg der historischen Schlacht zu münden. burtshaus des Vaters als Erbe zu. (...) Er verzichtet Raschke nutzte in seiner Anlage des Spiels auf den schweifenden Traum seiner Jugend und be- die medialen Möglichkeiten der Hörspielform, er grüßt freudig das sichere Glück am Anfang eines lässt im akustischen Medium die ›großen Deut- neuen, einfachen Lebens.«71 schen‹ lebendig werden. Bernhard meint zu »träumen«, wenn ihm so eindringlich die ge- Das jugendliche Ausfahren in die Welt und die schichtlichen Figuren gegenübertreten. Ebenso nach Jahren stattfindende Rückkehr in die Hei- wie Bernhard konnte der jugendliche Zuhörer zu mat ist ein weitverbreiteter Topos in der deut- Hause die imaginäre Geschichtsreise antreten. schen Literatur der 30er Jahre, der sich auch im Ein sehr suggestiver, nachfühlender und nach- Hörspielwerk von Raschke wiederholt. In der erlebender Umgang mit Geschichte wird er- Sendung »Bäuerlicher Tag im Winter« (1.12. reicht. Wind und Sturm als Szenentrenner wer- 1935) variiert er die Situation seines Romans 72 den dazu eingesetzt; von Wolken und Nebel, die »Der Erbe«. Die reumütige Rückkehr von Paul die Szenerie bestimmen, ist die Rede. Die Ju- stellt den einzigen Handlungsstrang dar in der gendsendung »Steine reden« wird zu einem ansonsten eher losen Szenenfolge über »erzge- ›nebulösen‹ Blick auf die nationale deutsche birgisches Brauchtum in der Vorweihnachts- 73 Geschichte. zeit«. Paul, der Sohn des Wirts, ist in der Stadt mit seinem Geschäft gescheitert und kommt in die erzgebirgische Heimat zurück. Zusammen mit den Szenen, in denen z.B. beim »Federn schleissen«, also dem Federbettmachen, ge- sungen wird, entwirft der Autor eine kitschig an- mutende Apotheose der ländlichen Idylle: 14 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

»Ja, do is en schönstn of dr Ufenbank, wenn es Pfeifl Doch die Annäherung von Städter und Bauer brennt, do werd de Zeit net lang, wenn es Feuer konnte schnell funktionalisiert werden. Hierzu brasselt, is in Stüwl warm, do kanns wattern, dass zählt beispielsweise der ganz gezielt propagierte Gott drbarm!« (S. 8). Einsatz von jugendlichen Erntearbeitern und Aber aus dem zusammengeflickten biederen landwirtschaftlichen Aushilfen aus der Stadt, Heimatlob wird durch die Programmplatzierung aber auch − entgegen der sonst zu beobachten- ein Beitrag zur propagandistischen Sendereihe den anti-modernen Ausrichtung − die Präsenta- »Deutsches Volk auf deutscher Erde«. Die Ziel- tion von neuen technischen Möglichkeiten in der setzung dieser neuen Reihe im Rundfunkpro- landwirtschaftlichen Produktion.78 Der »Land- gramm war es, bote«, der seit Oktober 1933 gestartet war, in regelmäßigen Monatssendungen durch das »den Städter mit künstlerisch suggestiven Mitteln hin- ländliche Brauchtum zu führen und regionale zuweisen auf die Mächte des organischen Werdens, Sagenstoffe, jahreszeitlich gebundene Gedichte, wie sie sich in der ewigen Wiederkehr der Jahres- zeiten offenbaren. Die Sendereihe soll ein Beitrag Lieder sowie Kalendersprüche und Wetterregeln sein, zur Erreichung des Ziels, den Menschen der zu präsentieren, kann 1940 auch die folgende Großstadt wenigstens seelisch auf das Land zurück- Vision verkünden: 74 zugliedern.« »Auf dem breiten Rücken des Pflügers − oh, traum- Raschkes »Bäuerlicher Tag im Winter« wird − seliges Auge! −, welche Stadt! (...) Was für eine gro- − stellvertretend für den Gau Sachsen − als zweite ße Welt hat doch Platz auf solch einem Rücken! Oh Sendung ausgestrahlt; sie folgte der Auftaktsen- weh! Er erhebt sich, um den Pflug zu wenden und sich umzublicken nach der Lerche, die irgendwo dung von Hermann Proebst, »Bauer und Soldat singt! Schon stürzt die Stadt zusammen (...), − weil im Kampf um die märkische Scholle« der Bauer, ohne den alle Städte und Schlösser und (3.11.1935). Kirchen nicht sind, sich aufrichtete.«79 Das Lob auf die Heimat, die idyllisierende Darstellung des dörflichen Lebens bei Martin Die Sendungen des Landboten sind ein Aushän- 80 Raschke schwankt sehr häufig zwischen solcher geschild des NS-Rundfunks; sie preisen »völ- Vereinnahmung und einem lediglich rührend kische« Ideologie: sentimentalen Kitsch. Mehrere Beispiele aus »So wandert der ›Landbote‹ auch im Krieg weiter dem Rundfunkschaffen, in denen der Protago- durchs Funkland und führt den Städter zur völkischen nist seine »Liebe zu dem engen Bezirk der Sei- Urheimat − zum Acker und zum Bauern«.81 nen« bekennt und die »Spitzwegwelt des Be- grenzt- und rührend Geordnetseins« feiert, lie- Die Liebe zu den Steinen ßen sich anführen.75 Die Konstellation des Ähnlich wie man in dieser Stadt und Land ver- Stadt-Land-Gegensatzes, die ihre Wurzeln in der bindenden Aufgabe die Sehnsucht nach einer Poetik der »Kolonne« hat, wird im Dritten Reich neuen Einheit und Harmonie zu erkennen ver- mühelos in die »Volksgemeinschaft«-Ideologie mag, so zeigt auch ein zweiter Punkt das Stre- transformiert. ben nach einer Ordnung und nach einem Ge- Am deutlichsten kann dies an den monatli- setz. Raschke selbst wies auf seine »Liebe zu chen Sendungen vom »Königswusterhäuser den Steinen« hin,82 auf das Sammeln von Mine- Landboten« illustriert werden. Der Stadt-Land- ralien, Kristallen und Versteinerungen. Sein lite- Gegensatz war von Anfang an konstitutiv für die rarisches Werk spiegelt dieses Thema wider, Sendereihe des Deutschlandsenders. Der jung- ergänzt um das gesamte Motivfeld Berg, Berg- konservative Werner Pleister (1904-1982)76 werk, Minen und Schürfen. hatte den »Königswusterhäuser Landboten« im Ein Hörspiel »Kristall und Edelstein« ist expli- Oktober 1933 initiiert. Pleister, der aus der zit diesem Thema gewidmet.83 Der Autor be- Volksbildungsarbeit, dem Laienspieltheater und handelt es in der von ihm des öfteren einge- der Literatengruppe um die Zeitschrift ›Deut- setzten Hörspielform des so genannten »Ge- sches Volkstum‹ kam und seit dem 1. Januar sprächs«. Er lässt einen jungen Mann einen 1933 die Literarische Abteilung des Deutsch- Schmuckladen betreten, um ein Geschenk für landsenders leitete, wird die antiurbane Zielset- seine Frau zu erwerben. Mit dieser Rahmensi- zung vorformuliert haben. Über lange Zeit hin- tuation entspinnt sich auch schon der Hörspiel- weg lauteten die abschließenden Verse der Fol- verlauf. In ausführlichen Erklärungen, Beispielen gen programmatisch: und Geschichten klärt der Händler den Kunden »Du zarter Städter, spotte nicht auf über die Steine, ihre Herkunft und ihre magi- der schwielenvollen Hand, schen Wirkungen. Im »Gespräch« »Kristall und sie nähret, was dein Stolz auch spricht, Edelsteine« werden so nacheinander Platin, 77 dich und das ganze Land.« Gold, Diamant, Bergkristall, Opal, Granat, Ame- thyst, Rubin, Saphir und Achat abgehandelt. Wagner: Martin Raschke und der Rundfunk 1928 - 1940 15

Die Steine »verlocken« bei Raschke »in den Es ist − vorausgesetzt der Mensch weiß rich- Bereich der Magie« (S. 1), sie bilden eine »ma- tig damit umzugehen − eine mehr als positive gische Heilkunde« (S. 4) mit ihrem Wissen aus Wertschätzung von allem, was das Erdinnere der Vorzeit. Steine stehen in einem Zusammen- und die Schätze der Berge betrifft. Raschke hang mit den Tierkreiszeichen bzw. den Plane- knüpft dabei unmittelbar an die Vorstellungen in ten. »Man fügt sich gehorsam in das Spiel zwi- der Romantik an, wenn »Steine dem Menschen schen Himmel und Erde« (S. 3), weiß der kauzi- Geheimnisse eines unbekannten Reiches offen- ge, seinen Steinen voll und ganz verschriebene baren«.86 Nicht nur die Steine als Symbol oder Händler zu berichten. Die recht einseitig geführte als Chiffre spielen bei Martin Raschke eine gro- Unterhaltung spitzt sich solchermaßen schließ- ße Rolle, sondern auch der gesamte unterirdi- lich zu, wenn am Schluss von »Kristall und Edel- sche Bereich des Anorganischen wird mehrfach stein« das »deutsche Wesen« charakterisiert thematisiert. Bergleute und Bergwerke geraten wird mit einer Synthese aus Bergkristall und daher nicht mit der sozialen Situation der erzge- Granat. Aus der »Steine«-Spekulation wird eine birgischen Kohle- und Erzindustrie in der Heimat fast arianisch anmutende Dichotomie abgeleitet. des sächsischen Schriftstellers ins Blickfeld, »Granat und Bergkristall, zwischen ihnen liegt sondern der Bergbau taucht bei Raschke aus- alles Leben: dunkler Lebensdrang und himmli- schließlich als romantischer Topos auf. So ge- sche Sehnsucht, Welt der Mutter und Welt des staltete er beispielsweise 1939 für das Preisaus- Gesetzes« (S. 8). Schließlich gratuliert der schreiben des Reichssenders Leipzig das Sa- Händler zur Wahl des Kunden, denn Granat und genspiel »Die Bergherrin«.87 Es kann zum Glück Bergkristall sind »deutsche Steine« (S. 7) und für den Menschen werden, die Schätze der Erde enthalten daher Geheimnisse, die »uns zugängi- zu gewinnen. Das Hörspiel benennt die Voraus- ger« sind als »fremdes Glaubensgut« (S. 7). setzung dafür: Der christliche Glaube, der gegen Der poetische Zusammenhang, der solche im die Gefahren im Berginnern wappnet, und eine Rundfunk gestalteten Überzeugungen mit dem demütige Haltung dieser eigenen anorganischen früheren Schaffen in der »Kolonne«-Zeit verbin- Welt gegenüber. Aber wie in vielen Sagen und det, wird in der symbolischen Überhöhung von Märchen wird die maßlose Begierde, die Reich- Bergkristall und Granat deutlich. Bergkristall wird tümer des Erdinnern zu besitzen, bestraft. Der vorgestellt als gleichsam unstofflich (S. 5); er sei Hochmut, der Frevel und die Hartherzigkeit der wie »aus gefrorener Luft« (S. 5) und stehe »so »Bergherrin« führen zu ihrem Tod. seltsam zwischen Stoff und Nichts« (S. 5). Der Unmittelbar auf eine romantische Vorlage Bergkristall wird zum entscheidenden Medium in greift das Hörspiel »Die lange Schicht von Eh- dieser ganz stark von romantischen Vorstellun- renfriedersdorf« zurück.88 Es knüpft an die be- gen geprägten Poetik, wenn der Träger eines kannte Geschichte von den »Bergwerken zu Kristalls somit einen »Schlüssel zu allen Fels- Falun« an, die u.a. Johann Peter Hebel und kammern der Welt« (S. 5) in den Händen hält E.T.A. Hoffmann gestaltet hatten. In der erzge- und sich ihm dadurch »die innere Welt« (S. 5) birgischen Variante gibt der Berg den Arbeitern der Natur öffnet.84 »der Erde innerste Frucht: das Metall« (S. 3). Dem gegenüber steht der Granat als eine Aber nicht nur ein wirtschaftlicher Wohlstand gefährliche Lockung. Er treibe »das Blut ra- wird dadurch erreicht. Ebenso kommt die Einheit scher« (S. 7), sei ein Liebessymbol. Aber mit mit der Natur zum Ausdruck. »Rein-hold«, der »Fröhlich leben, fröhlich zeugen« (S. 7) ist »Sohn des Berges« (S. 15), wird zwar beim gleichzeitig immer auch der Tod verbunden. Grubenunglück verschüttet, aber die als leben- »Wer zeugt − wozu ihn der Granatapfel lockt − dig erfahrenen Kräfte »Berg«, »Natur« und ruft seinen Erben und in ihm Tod und Dauer »Quelle« schicken sich an, ihn zu konservieren. über den Tod hinaus zugleich« (S. 6f.). Die Im akustischen Medium des Hörspiels spricht »Steine«-Spekulation mündet wiederum in die die »Quelle« als Personifikation selbst: »Schlafe Vorstellung der Generationenabfolge. sanft im Zeitenlosen. / In dem Wald von Bergkri- Solche Stein-Metaphorik durchzieht das ge- stallen« (S. 16). samte Rundfunkschaffen Raschkes. Selbst an So kann Reinhold nach 60 Jahren von seiner kleinen und eher unscheinbaren Stellen begeg- »langen Schicht« konserviert zu Klara, seiner net sie, wenn beispielsweise in der Bearbeitung inzwischen gealterten Braut zurückkehren. des »Rattenfänger von Hameln« das blinde Durch die konzertierte Aktion der Naturgewalten überlebende Mädchen über die Kinder im Berg kann die »klare« und »reine« Liebe in diesem spricht: »Du, die wandern sicher unter der Erde märchenhaften Gleichnis über »das Böse« sie- immer weiter, an den Quellen vorbei und an dem gen. Silber, und sicher stecken sie sich Gold ins Haar, richtiges Gold!«85 16 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Eine Karriere ohne Kompromiss Dramaturg, Geräuschemacher und Autor bei der Realisation eines Hörspiels. Der Rundfunkautor Martin Raschke ließ sich von Die Karriere fiel Raschke auch aus einem Beginn an ohne erkennbare Widerstände durch anderen Grund sehr leicht. Die Gründung einer den nationalsozialistischen Staat vereinnahmen: Existenz als freier Schriftsteller stützte sich zu- Eine Karriere ohne Kompromiss. Mehrere Fak- nehmend auf die Einkünfte aus der Arbeit für ten belegen dies. das Medium Rundfunk. Der bei Hitlers Machtan- Am Anfang von Raschkes Erfolg als einer der tritt 27 Jahre alte Schriftsteller konnte sehr bald produktivsten Hörspielautoren im Dritten Reich auf diese finanziellen Möglichkeiten nicht mehr stand mit dem »Erbe der Väter« eine Dichtung, verzichten. Er war − ebenso wie sein Freund und die exemplarisch demonstriert, wie junge Intel- literarischer Partner Günter Eich − auf die lektuelle um 1930 im NS-Staat einen Ausweg »Funkaufträge« angewiesen. Zahlreich sind in aus der krisenhaften Situation suchten. Das Er- Raschkes Tagebüchern die Eintragungen, die lebnis der Vereinzelung, der »Masse Mensch« die ständigen Geldsorgen widerspiegeln. Penibel und des weitgreifenden »Verlustes der Mitte« ist teilen sich die beiden Autoren Eich und Raschke in der Figur des »Erben« typenhaft festgemacht. bei allen gemeinsamen Arbeiten das Honorar. Hoffnungen setzt er auf die Ideologie eines anti- Gelegentlich bittet Eich zwar den Freund, ihm urbanen Volkstums sowie auf die Bildung der die andere Hälfte leihweise zu überlassen,93 Volksgemeinschaft und er glaubt an eine mys- aber auch Raschke scheint des öfteren in Geld- tisch erlebte Traditionsfolge. Aufgrund der tief- nöten gewesen zu sein. Dies belegen die zahl- greifenden Verunsicherung meinten viele, im reich vorgetragenen Bitten an die Sender, das ideologischen Überbau des Hitler-Staates zeich- Honorar »umgehend telegraphisch auf meine ne sich eine neue Harmonie ab. So wie der »Er- Kosten« zu überweisen.94 Die Grundlage dieser be« im Hörspiel, so beschreitet auch sein Autor permanenten finanziellen Abhängigkeit freilich als Vertreter einer ganz bestimmten jungen Au- war, dass beide Schriftsteller ganz selbstver- torengeneration seinen »Weg (...) aus der Hölle ständlich einen soliden bürgerlichen Wohlstand des Unglaubens und der Entwurzelung in ein für sich in Anspruch nahmen. Günter Eich kaufte sinnhaftes, volkhaftes Leben«.89 sich sehr bald schon ein Auto und das kleine Martin Raschke musste hierzu als freier Landhaus in Poberow an der Ostsee; Raschke Schriftsteller für den Rundfunk im Dritten Reich erwarb Jahre später ein idyllisch im Elbtal gele- keine erkennbaren Zugeständnisse machen. gene Anwesen in Dresden-Loschwitz.95 Weder in den Tagebüchern noch in seinem Diese Existenz musste erkauft und erhalten Funkœuvre finden sich Anzeichen für eine werden. Auftragsarbeiten wurden gesucht, an- grundlegende Infragestellung seiner Rolle als genommen und routiniert ausgeführt. Raschke Autor. Gelegentlich wird zwar Unwille formuliert, bediente das Medium mit dem, was es forderte. wenn anstehende Hörspielarbeiten erledigt wer- Die zunehmende Aufgabe des NS-Rundfunks, den.90 Seine Distanzierungen von den »schlecht ein rührselig-heiteres Programm zu liefern, das und recht« zu Ende gebrachten, »mittelmäßi- sich seit 1938 in einer Direktive Joseph Goeb- gen« Rundfunkmanuskripten gelten jedoch aus- bels niederschlug, wurde umgesetzt. Zahlreich schließlich der Abgrenzung gegenüber dem ei- sind im unterhaltenden Bereich seine lustspiel- genen Selbstverständnis von einem großen haften Szenen und immer neuen Variationen schöpferischen Dichter; sie stoßen an keiner des Themas Liebe. Der Autor lieferte überdies Stelle zu literarischen Reflexionen vor. Vergeb- auch auf ideologischem Gebiet genau die Ar- lich sucht man in Raschkes Werk Figuren, wie beiten, die das Medium wünschte. Er erfüllte ex- den Dichter Chabanais (chabanais = Bordell), plizit propagandistische Vorgaben in der Etablie- der in Günter Eichs Hörspiel »Radium« (1937) rung einer deutschen Volksgemeinschaft wie in erkennt, dass er Werbung für ein verbrecheri- den Reichssendungen »Erbe der Väter« und sches Regime schreibt, oder den des betrunke- »Bäuerlicher Tag im Winter«; er feierte die na- nen Poeten Patt in »Fährten in die Prärie« tionale Geschichte in »Steine reden« und (1936), der unter seinem ausweglosen Sich- schickte sich an, den neuen Weltkrieg zu unter- Prostituieren leidet.91 stützen. Seine aus Sagenstoffen und idyllisier- Nur ein einziges, nicht-datierbares Typoskript enden Vorstellungen von Freundschaft herge- findet sich in Raschkes Nachlass, das auf das leitete Opfer-Thematik wird im Zuge der Welt- Hörspielschaffen selbst eingeht: »Ein Hörspiel! kriegsvorbereitung zur heldischen Ideologie. Ein Hörspiel! Ein unterhaltsames Funkspiel mit »Die vierzehn Nothelfer von Gottleuba« begriff reichlich Musik«.92 Jedoch die turbulente Rund- man zeitgenössisch als »heldisches Opfer für funksatire äußert keine Zweifel an der Autoren- die Gemeinschaft«. Der Wert der soldatischen rolle, sondern amüsiert sich über die unter- Kameradschaft wird vor dem Hintergrund des schiedlichen Vorstellungen von Abteilungsleiter, Polenfeldzuges in »Bruder Kamerad« gefeiert. Wagner: Martin Raschke und der Rundfunk 1928 - 1940 17

Aus der jugendlichen Begeisterung für die Flie- Dokumentation. Potsdam 1999. Seither gab es gerei, die Raschke in einer Jugendsendung für immer wieder vereinzelte Hinweise auf Raschkes eine geographische Reise über ganz Deutsch- Rundfunkschaffen – eine Publikation, die sich 96 ausschließlich Martin Raschke widmet und hierzu land nutzt, wird beim »Königswusterhäuser den umfangreichen Nachlass in der Sächsischen Landboten« in der April-Folge des Jahres 1940 Landes- und Universitätsbibliothek Dresden schließlich die Meldung des Bauernsohnes zur (SLUB) auswertet, schien jedoch nicht. Luftwaffe. Der »Landbote«, der sonst das einfa- 2 che Leben auf dem Lande pries, konstatiert in Axel Vieregg: Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933-1945. Eggingen Zeiten des Krieges: Ich beneide 1993. − Sein Urteil »moralisch verwerflich« und »wie niemals sonst die Jugend dieser Zeit, die sich seine These von einer »Trauerarbeit« Eichs, der opfern darf. Oh mir zaubert das innere Auge große selbst sein eigenes »Fehlverhalten« erkannt und Bilder der Hingabe vor, und mein Herz ist gewillt, sich nach 1945 aufzuarbeiten versucht haben soll, er- regten großes Aufsehen. Das überrascht, da we- einem Dienst, und sei er tödlich, zu weihen.«97 nige Jahre zuvor eine Dissertation detailliert den Der Übergang von erbaulicher Idyllik zur explizi- Umfang und die Inhalte der Eichschen Rundfunk- ten Propagierung nationalistischer und national- arbeiten von 1933 bis 1945 aufgezeigt hatte. Ob- wohl bereits Glenn R. Cuomos Arbeit »Career at sozialistischer Werte ist fließend. Im gesamten the Cost of Compromise. Günter Eich's Life and Hörspielwerk von Raschke zeigt sich, wie immer Work in the Years 1933-1945«, Amster- wieder die ursprünglichen poetischen Grund- dam/Atlanta 1989, schonungslos urteilte: »a ca- überzeugungen aus der »Kolonne«-Zeit in das reer in an environment where compromise was nationalsozialistische Ideenkonglomerat einge- inevitable« (S. 139) und von »compromising expe- hen können. Die poetischen Charakteristika der riences of his involvement with the Nazi radio and − his accommodation of fascist ideology and other einstigen »jungen Gruppe Dresdens« bei- propagandistic aims« sprach (S. 138), wurde spielsweise der Stadt-Land-Gegensatz, das Lob diese Untersuchung kaum rezipiert. Vgl. die Re- des Landlebens, die Feier der organischen wie zension der beiden Arbeiten von Vieregg und der anorganischen Natur − münden bei ihm in Cuomo durch den Verfasser in: Mitteilungen zwei eng miteinander verflochtene schriftstelleri- StRuG Jg. 19 (1993), H. 2/3, S. 115-118. sche Produktionsweisen. Zum einen produziert 3 Karl Karst: Rundfunkessay zur Wiederausstrah- er für das Massenmedium Rundfunk rührselig- lung von »Rebellion in der Goldstadt« (Deutsch- kitschige Unterhaltungsware, indem er von ro- landsender, 8.5.1940). NDR, 28.10.1994. Frank mantischen Topoi ausgeht, sie jedoch simplifi- Olbert beispielsweise sprach von »apologetischen ziert und als oberflächliche Versatzstücke hand- Verrenkungen« Karsts (»Strammstehen für Goebbels, Geld und Urlaub«. In: FAZ, habt. In den Rundfunkarbeiten wird so aus der 30.10.1993, S. 27). Siehe daraufhin auch die naturmagischen Poesie nicht selten biedermei- Neuvergabe eines Günter-Eich-Rundfunkessays erliche Heimatkunst. Zum anderen aber kann die an Wolfram Wessels: Zum Beispiel: Günter Eich. für die »Kolonne«-Gruppe typische Suche nach Von der schuldlosen Schuld der Literatur. HR, einer neuen Harmonie und einer neuen Ordnung 2.3.1994. Zu diesem Hintergrund vgl. Wagner: Eich (wie Anm. 1), S. 44-66 und 207-212. problemlos aufgehen in der propagandistischen Vorstellung von der »Volksgemeinschaft« und 4 Besondere Aufmerksamkeit verdient Wolfram der Ideologie des Traditionszusammenhanges, Wessels: »Die tauben Ohren der Geschlechter. der sich über die Generationenabfolge (Blut) und Peter Huchel und der Rundfunk«. SWF, das Bauerntum (Boden) konstituiert. Aus dieser 16.1.1994; sein Feature analysiert zum ersten Mal inhaltlich alle Hörspiele Peter Huchels von 1933 generationstypischen paradigmatischen Situati- bis 1940. − Eine wissenschaftliche Kontroverse on heraus wurde Martin Raschke zu einem entstand zwischen Stephen Parker und Hub Nijs- »wegweisenden Funkautor« im Dritten Reich. sen über die Bewertung des 1940 im Rahmen der anti-britischen Kampagne entstandenen »Die Greuel von Denshawai« (Vgl. Stephen Parker: Peter Huchel als Propagandist. In: Rundfunk und Anmerkungen Fernsehen Jg. 39 (1991), S. 343-353; Hub Nijs- sen: Peter Huchel als Propagandist? In: Neophi- 1 Die vorliegende Studie basiert auf einem Referat, lologus Jg. 77 (1993), S. 625-635). das 1993 anlässlich des 50. Todestages von Mar- 5 tin Raschke auf einer in Dresden stattfindenden Das Rundfunkengagement der »Kolonne«- Tagung vorgetragen wurde. Danach konnte von Autoren und der Literaten im Umfeld dieser Zeit- 1996 bis 1998, finanziert durch ein DFG-Stipen- schrift zusammenfassend nachzuzeichnen und zu dium, am Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt bewerten, ist ein Desiderat der hörspielgeschicht- am Main eine umfassende Arbeit über Raschkes lichen Forschung. Ein vom Verfasser herausge- Freund Günter Eich erstellt werden. In diese Ver- gebener Aufsatzband zur »Kolonne«, der zwi- öffentlichung fanden mehrere Aspekte der ge- schen 1930 und 1932 in Dresden erschienenen, meinsamen Autorschaft von Günter Eich und im Rückblick bedeutenden literarischen Zeitschrift Martin Raschke Eingang. Vgl.: Hans-Ulrich Wag- der »jungen Generation«, ist in Vorbereitung. ner: Günter Eich und der Rundfunk. Essay und 18 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

6 Eintrag vom 21.4.1928. Staats- und Universitäts- deutschen Hörspiels in historischer Entwicklung. bibliothek (SLUB). Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. Diss. Erlangen-Nürnberg 1962; Wolfram Wessels: 75. − Weitere Lesungen erfolgten am 4.2.1929 Hörspiele im Dritten Reich. Zur Institutionen-, (Funk-Stunde Berlin), am 2.5.1929 (Schlesische Theorie- und Literaturgeschichte. Bonn 1985. Funkstunde Breslau), am 14.7.1929 (Mitteldeut- 18 Franz Lennartz: Die Dichter unserer Zeit. 275 Ein- sche Rundfunk AG Leipzig), am 3.12.1929 zeldarstellungen zur deutschen Dichtung der Ge- (Westdeutsche Rundfunk AG Köln), am 10.1.1930 genwart. Stuttgart 1938, S. 219. Vgl. auch 31940, (Funk-Stunde Berlin), am 4. oder 7.2.1930 (Funk- S. 258 / 41941, S. 306. Stunde Berlin), am 21.2.1930 (Mitteldeutsche Rundfunk AG Dresden), am 16.6.1930 (Südwest- 19 Norbert Langer: Die Deutsche Dichtung seit dem deutscher Rundfunk Frankfurt, übertragen auch Weltkrieg. Von Paul Ernst bis Hans Baumann. von Stuttgart) und am 22.9.1930 (Funk-Stunde Karlsbad/Leipzig 21941, S. 139. Berlin). 20 7 Gerd Eckert: Hörspieldichter. In: Die Neue Litera- »19. X. [1929] (...) Angebot vom Rundfunk: Litera- tur Jg. 41 (1940), S. 31. rischer Beirat für Koeppen. Lange Verhandlungen, aber vorläufig ohne Erfolg. Ich warte auf Nach- 21 Vgl. Wessels: Hörspiele (wie Anm. 17), S. 239- richt.« Tagebucheintrag. SLUB. Mscr. Dresd. App. 311. 2531, Nr. 75. 22 Vgl. die Einzelanalyse in Kap. »Die deutsche Ge- 8 Vgl. den Tagebucheintrag vom 12.11.1929. schichte wird lebendig«. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 75, sowie den Brief Edlef Koeppens an Martin Raschke vom 23 Gerd Eckert: Querschnitt des Hörspiels. In: Die 10.11.1929. Ebd. Nr. 729. Literatur Jg. 39 (1936/37), S. 495. − Vgl. Rasch- kes Tagebucheintrag vom 10.1.1937: »Einen al- 9 SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 1995. bernen Schwank ›Johannistrieb‹ auf Bestellung 10 für den Funk geschrieben.« SLUB. Mscr. Dresd. Karl Block macht am 17.12.1931 dem Künstleri- App. 2531, Nr. 80. schen Leiter der Ostdeutschen Rundfunk AG in Königsberg Vorschläge »betreffend Studio und 24 Gerd Eckert: Sommerliche Hörspiele. In: Die Lite- Hörspielbühne in Danzig«, darunter »Raschke, ratur Jg. 40 (1937/38), S. 47. Drei Menschen lügen«. Nachlass Block, ORAG 1930-1933, Programm-Korrespondenz. DRA 25 Eckert: Hörspieldichter (wie Anm. 20), S. 31. Frankfurt am Main. − Das Hörspielprojekt wird in 26 Raschkes Tagebuch am 29.8.1930 erwähnt: Gerd Eckert: Dichter des Rundfunks. III. Martin »Versuch eines Hörspiels: ›Drei Menschen lü- Raschke. In: Der Rundfunk Jg. 2 (1939), H. 10, S. gen‹«. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 75. 229. 27 11 Nachlass Block. ORAG 1930-1933, Kritiken zu Der Programmnachweis von »Wär nicht das Auge Hörspielmanuskripten. DRA Frankfurt am Main. − sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken!« Es handelt sich um ein Lektoratsgutachten, das Ein Farbengespräch nach Goethe und Ernst Jün- Karl Block als Leiter der Literarischen Abteilung ger« gelang bislang nicht, obwohl Eckert, 1939, bei der Ostdeutschen Rundfunk AG anfertigte. von der Sendung spricht (wie Anm. 20). Das im Kiepenheuer Verlag als Bühnenmanu- 28 Neue Gespräche. In: Pressedienst des RS Leip- skript gedruckte Spiel ist nicht erhalten. Vgl. die zig. Jg. 1939, Nr. 6, S. 4. Angabe in der Werkausgabe von Günter Eich. Bd. 2 II. Frankfurt am Main 1991, S. 780. 29 SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 2000. 12 Eberhard Meckel an Martin Raschke, 4.2.1933: 30 Vgl. die sprachlichen Wendungen »Bitte erzählen »Dein Brief klingt im Grund nicht gut. (...) wir sind Sie!« (S. 5) und abschließend »Ich danke Ihnen recht darüber bedrückt, dass Ihr jetzt und die auch noch für die vielen Ratschläge« (S. 15). letzte Zeit so unter äusseren Dingen zu leiden SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 1987. habt. Wir möchten gern helfen«. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 912. 31 Das festliche Jahr. Ein Lesebüchlein vom Kö- nigswusterhäuser Landboten. Oldenburg/Berlin 13 Ebd., Nr. 75. 1936, S. 46-49. 14 Günter Eich an Martin Raschke, 24.4.1933. 32 Vgl. die Artikel in: Der Deutsche Rundfunk Jg. 17 SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 601. (1939), H. 13 und H. 18; in: Hör mit mir Jg. 10 (1939), H. 14; sowie in: Pressedienst des RS 15 Ebd. Leipzig Jg. 1939, Nr. 13, S. 2-5; Nr. 14, S. 2f.; Nr. 16 Vgl. Kap. »Der verlorene Sohn kehrt heim in die 15, S. 4; Nr. 17, S. 4; Nr. 18, S. 2f. Volksgemeinschaft«. 33 Pressedienst des RS Leipzig Jg. 1939, Nr. 27, S. − 17 Martin Raschke wird − wenn überhaupt − oft nur 6. In dieser Sendereihe folgten z.B. die Beiträge im Zusammenhang mit der mit Eich verfassten von Fritz Gay: Reise nach Rügen (8.8.1939) und Reihe vom »Königswusterhäuser Landboten« er- von Adolf Artur Kuhnert: Donaufahrt (16.8.1939). wähnt. Lediglich Horst-Günter Funke und Wolfram 34 Die Manuskripte SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Wessels gehen näher auf Raschke ein. Vgl. Nr. 2049 bis 2052 können aufgrund thematischer Horst-Günter Funke: Die literarische Form des und stilistischer Kriterien eindeutig Raschke zu- Wagner: Martin Raschke und der Rundfunk 1928 - 1940 19

geschrieben werden. Vgl. hierzu auch Wagner: 43 Aufnahme-Erklärung vom 28.9.1933. Bundesar- Eich (wie Anm. 1), S. 205-212. chiv Berlin. Bestand: Document Center. − Rasch- ke führt als Bürgen Eberhard Meckel, Gottfried 35 Vgl. die Darstellung der antibritischen Kampagne Benn und Will Vesper an. bei Wessels: Hörspiele (wie Anm. 17), S. 294- 302. − In den Archivalien des Bundesarchivs Ber- 44 Reichssendeleitung A 2 b, gez. Mayer, an RS lin R 56 V / 23 sowie in Pressemeldungen zur Köln, 28.7.1934. WDR HA. 34,12x1. Kampagne wird der Name Martin Raschke nicht erwähnt. 45 SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 79.

36 Günter Eich: Rebellion in der Goldstadt. 46 Ebd. Deutschlandsender, 8.5.1940. Tonträger DRA 47 Frankfurt am Main; Adolf Artur Kuhnert: Mission Reichssendeleitung A 1 e, gez. Wißmann, an RS des Doktor Mackenzie. Deutschlandsender, Frankfurt, 19.10.1936. Bundesarchiv Berlin. R 78 / 2.4.1940; ders.: Erika ganz groß. Deutschland- 2302. sender, 14.2.1940; Peter Huchel: Die Greuel von 48 Denshawai. RS Danzig, 23.1.1940. Hauptstelle Kulturpolitisches Archiv an Amt Deut- sches Volksbildungswerk Abteilung II / Vortrags- 37 Bundesarchiv Berlin. R 56 V/23. wesen Dichterlesungen, 2.6.1939. Bundesarchiv Berlin. NS 15/28. 38 Lediglich eine weitere geplante Mitarbeit an einem 49 Filmprojekt ist bekannt: Am 17.6.1943 bietet die Vorschlagsliste für Dichterlesungen 1938/39. Universum-Film AG im Rahmen einer »Sonder- Reichsschrifttumsstelle beim Reichsministerium produktion« Martin Raschke einen Dramaturgen- für Volksaufklärung und Propaganda. Vortrags- Vertrag als Drehbuchautor für die Filmserie »Dar- amt, o.O. o.J., S. 26.; Vorschlagsliste für Dichter- um kämpfen wir« an. Angebotsschreiben Univer- lesungen 1940/41. Hrsg. vom Werbe- und Bera- sum-Film AG an Martin Raschke, 17.6.1943. tungsamt für das deutsche Schrifttum beim Bundesarchiv Berlin. Bestand: Document Center. Reichsministerium für Volksaufklärung und Pro- paganda. Berlin 1940, S. 86; Vorschlagsliste für 39 So die gedruckte Angabe in: Martin Raschke: Der Dichterlesungen 1941/42. Hrsg. vom Werbe- und Pomeranzenzweig. Erzählung. Leipzig 1940. Beratungsamt für das deutsche Schrifttum beim Reichsministerium für Volksaufklärung und Pro- 40 Vgl. das Typoskript SLUB. Mscr. Dresd. App. paganda. Referat Vortragswesen. o.O. o.J., S. 75. 2531, Nr. 1959, wo Hubert über ein Erlebnis als Pilot resümiert: »Diese Kameradschaft war ei- 50 Vgl. Frontdichter im Rundfunk. In: Hör mit mir Jg. gentlich das einzige, an das ich in meinem Spöt- 11 (1940), H. 14, S. 5. terleben glauben gelernt habe« (S. 38). 51 Vgl. das fünfseitige Typoskript »Ein aus Sowjet- 41 Vgl. Veit Roßkopf an Martin Raschke, 8.5.1941: russland Geretteter erzählt. (Unterhaltung mit Ltn. »Sollte es Ihnen noch nicht zu Ohren gekommen Karl Oenge)« im Nachlass Raschkes. SLUB. sein, dass der R.S. Leipzig am 1. April 1941 selig Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 2190. − Das angeb- entschlafen ist? Ich bin seit diesem Termin ab- lich spontane Interview mit Datum vom 23.2.1943, kommandierterweise in Berlin. Ihre Angelegenheit das »R.« mit Oengo führt, hebt an: »Hier bei uns schmort bei unserer Abteilung Wirtschaft. Ich am Mikrofon − im Senderaum des Revaler Rund- hoffe, dass Sie von dort alles Nötige erfahren und funks − befindet sich«. Bei den Greuelberichten erhalten. Es gibt in Zukunft höchstens noch halb- des von den Bolschewisten in die Armee gezwun- stündige Hörspiele, im kommenden Frieden, laut genen estnischen Offiziers, der jetzt befreit wurde, einem Ausspruch unseres Grossmoguls. Leider könnte es sich um eine Propagandasendung von wird es nötig sein, dass Sie das Ms. ›sendereif‹ Raschke als Kriegsberichterstatter handeln. machen, d.h. für eine halbe Stunde spielbar. So wurde mir gesagt.« SLUB. Mscr. Dresd. App. 52 Vgl. Gert Eckert: Der Rundfunk als Führungsmit- 2531, Nr. 1402. tel. Heidelberg u.a. 1941, S. 130.

42 Zu den Schwierigkeiten mit der Jugendfunksen- 53 Arnolt Bronnen, 1933 kommissarischer Nachfol- dung »Steine reden« vgl. Kap. »Die Deutsche ger von Edlef Koeppen als Redakteur und Leiter Geschichte wird lebendig«. − In seinem Tagebuch der Literarischen Abteilung bei der Funk-Stunde (SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 80) vermerkt Berlin, bearbeitete beispielsweise Fred von Hoer- Raschke darüber hinaus Umarbeitungen für die schelmanns Hörspiel »Flucht vor der Freiheit« Hörspiele »Der Rattenfänger von Hameln« (20.2. (Januar 1933). − Hermann Kasacks Arbeitslosen- [1935]) »für Berliner Funk wunschgemäss umge- hörspiel »Der Ruf« erlebte bei der Funk-Stunde arbeitet« (diese Sendung ist bislang nicht nach- Berlin gleich zweimal eine Bearbeitung. Der (na- zuweisen), für »Die kluge Bauerntochter« (12.3. tionalsozialistische) Sendeleiter Richard Kolb [1935]) »auftragsgemäss einen neuen Schluss machte aus dem »sozialkritisch-utopischen« In- geschrieben« (Sendung am 8.4.1935) sowie für halt ein »mystisch-religiöses« Spiel (12.12.1932); »Der Deichgraf« (14.6. [1935]) »Den ›Schimmel- der Dramaturg Ottoheinz Jahn verschärfte wenig reiter‹ in den letzten Tagen zum vierten Male um- später am 20.3.1933 Kasacks »Ruf« für die Aus- gearbeitet (für Leipzig)« (Sendung am 3.7.1935). strahlung am Vorabend des »Tags von Potsdam« Welcher Art die Veränderungen waren, lässt sich zu einem »demagogisch-faschistischen« Beitrag. jedoch aufgrund fehlender Unterlagen nicht mehr Vgl. Heribert Besch: Dichtung zwischen Vision feststellen. und Wirklichkeit. Eine Analyse des Werkes von 20 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Hermann Kasack mit Tagebuchedition (1930- der Literat Werner Brink als möglicher Bearbeiter 1943). St. Ingbert 1992, S. 96-115. ins Spiel gebracht, aber obwohl Brink ein geringes Bearbeitungshonorar erhalten hat, taucht sein 54 Zit. wird im folgenden nach dem Typoskript von Name nicht mehr auf. Raschke hatte die Nennung Martin Raschke: Erbe der Väter. Eine Funkdich- des Bearbeiters ausdrücklich gefordert: »Es wäre tung. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 1967. mir lieb, zu wissen, wer die Änderungen vor- Vgl. die nahezu gleichlautende Druckfassung un- nimmt. Vielleicht dürfte ich auch das Manuskript ter dem Titel »Gespräch mit den Vätern« in: Das nach erfolgter Umarbeitung noch einmal sehen. Innere Reich Jg. 2 (1935/36), H. 7, S. 834-856. − Auch liegt mir daran, daß der Name des Das ›Innere Reich‹ setzte »damit die Veröffentli- ev[en]t[uel]len Bearbeiters als Bearbeiter genannt chung von dichterisch wertvollen Arbeiten für den wird.« Martin Raschke, 30.10.1935, Bundesarchiv deutschen Rundfunk fort« (Ebd., S. 912). Berlin R 78 / 2218.

55 Südwestdeutsche Rundfunk Zeitung Jg. 9 (1933), 68 SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 1963. H. 22, S. 5. 69 Zit. wird nach dem Typoskript »Steine reden«. 56 Immer noch grundlegend ist die Darstellung von SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 1999, S. 3. Hans Dieter Schäfer: Die nichtnationalsozialisti- sche Literatur der jungen Generation im Dritten 70 Folge des »Königswusterhäuser Landboten« vom Reich. In: Ders.: Das gespaltene Bewußtsein. Mai 1934. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 2017, S. 26. 1933-1945. Frankfurt am Main 1984, S. 7-68. 71 Im Klappentext zu: Martin Raschke: Der Erbe. Ei- 57 : Rede am 1. Mai 1933. Zit. nach: Max ne Erzählung. 6.-10. Aufl. Leipzig 1941. [Erstver- Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen öffentlichung 1934]. 1932-1945. Bd. 1. Würzburg 1962, S. 262. 72 SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 1964. 58 Martin Raschke: Du bist nicht allein. In: Funk 73 Stunde Jg. 10 (1933), H. 22. »Bäuerlicher Tag im Winter«. In: Der Deutsche Rundfunk Jg. 13 (1935), H. 49. 59 Hans Dieter Schäfer: Nichtnationalsozialistische 74 Literatur (wie Anm. 56), S. 8. Was will die Sendereihe »Deutsches Volk auf deutscher Erde«. In: Südwestdeutsche Rundfunk- 60 »Seitdem das Leben so machtvoll in mir rauscht, zeitung Jg. 11 (1935), Nr. 49, S. 6. als entspränge sein Strom in mir« (S. 39). 75 Hier und dort. Ein Gespräch von Fritz Gay und 61 Herbert Füldner: Zur Stunde der Nation. In: Rufer Martin Raschke. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, und Hörer Jg. 3 (1933/34), S. 198-202. Nr. 1976, Zitate, S. 12 und S. 4. − Vgl. Die Ju- gendsendung »Balthasar sucht das Glück. Ein 62 »Was das Gebäude der Kirche für die Religion, Spiel von der Fremde und Heimat« (2.11.1933), das wird der Rundfunk für den Kult des neuen wo der arme Korbflechter Balthasar aus der Lau- Staates sein.« Ferdinand Eckhardt: Im Rundfunk. sitz weder Gold noch Glück auf seinem Weg fin- Kult des neuen Staates. In: Rufer und Hörer Jg. 3 det. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 1957. − (1933/34), S. 504. Im »Gespräch« »Von der Seele der Pflanzen« (Ebd., Nr. 2008) lässt Raschke »die ganze Fülle 63 Vgl. hierzu die exemplarische Analyse der Pro- der Welt aus einer Blume herausbuchstabieren« grammzusammenstellung am Gedenktag der No- (S. 3). vember-Gefallenen im Jahr 1933 bei Wolfram Wessels: Der 9. November. »Weihevollster Tag« 76 Arnulf Kutsch: Werner Pleister (1904-1982). In: im »Dritten Reich«. Ein Versuch zur Programm- Mitteilungen StRuG Jg. 9 (1983), H. 1, S. 16-20. geschichte. In: Mitteilungen StRuG Jg. 10 (1984), S. 82-100. 77 ›Königswusterhäuser Landboten‹-Folge vom De- zember 1933, S. 36. SLUB. Mscr. Dresd. App. 64 Vgl. Bundesarchiv Berlin R 78 / 2218. 2531, Nr. 2016. 65 Reichssendeleitung A 1 c [Unterschrift unleser- 78 Vgl. die eindeutig von Raschke verfassten Folgen lich] an Intendant, RS Berlin, 27.9.1935. Bundes- ›Königswusterhäuser Landboten‹-Folgen vom Juli archiv Berlin R 78 / 2218. 1939 und Februar 1940. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 2046 und 2050. 66 Im Juli 1934 hatte Raschke mit 250 Mark Ausar- beitungsgebühr ein besonders großzügig bemes- 79 ›Königswusterhäuser Landboten‹-Folge vom April senes Honorar bekommen, da das Manuskript 1940. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 2051. »besondere Vorarbeiten« verlangt habe, so die Programmverwaltung RS Berlin, 24.7.1934. Bun- 80 Vgl. Cuomos zutreffende Charakterisierung: »the desarchiv Berlin R 78 / 2218. KWL was singled out as the model radio program in the Third Reich« (Cuomo: Career (wie Anm. 2), 67 Dafür sprechen die Angaben auf dem vom RS S. 80). Im ›Völkischen Beobachter‹ wird der Berlin vervielfältigten Typoskript im Nachlass »Landbote« beispielsweise als »Volkstumsge- Raschke. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. stalt« charakterisiert. Leisegang: Deutscher Ka- 1999: »Steine reden. Bearbeitung Martin Raschke lender im Rundfunk. Eineinhalb Jahre Königswus- ›Deutsche Denkmäler sprechen‹« (1). − In den terhäuser Landbote. In: Völkischen Beobachter, Unterlagen des Bundesarchivs Berlin wird zwar 23.2.1935, S. 5. – Unter dem Aspekt »Völkischer Wagner: Martin Raschke und der Rundfunk 1928 - 1940 21

Beobachter« kommt Monika Pater mit einer stark Bl. 2, oder an die Schauspieler mit dem Wunsch: feministischen Detailanalyse zu ähnlichen Ergeb- »Bitte überspielen Sie nicht die angemerkten nissen. Vgl. Monika Pater: »Völkischer Beobach- Pausen.« Dämmerstunde. Ebd., Nr. 1960. ter«. Die Monatsbilder des Königswusterhäuser 93 Landboten. In: Inge Marßolek/Adelheid von Sal- Vgl. Eich an Raschke, 24.7.1937. SLUB. Mscr. dern (Hrsg.): Zuhören und Gehörtwerden I. Radio Dresd. App. 2531, Nr. 636). – Zur Rolle des Gel- im Nationalsozialismus. Zwischen Lenkung und des für Eichs Arbeiten im Dritten Reich, vgl. Vie- Ablenkung. Tübingen 1998, S. 172-187. regg: Fehlbarkeit (wie Anm. 2), S. 24 passim so- wie Cuomo: Career (wie Anm. 2), S. 23. 81 SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 2409. 94 So beispielsweise Raschke an Deutschlandsen- 82 Martin Raschke: Heimat und Herkunft. In: Die der, Honorarabteilung, 26.9.1935. Bundesarchiv Neue Literatur Jg. 41 (1940), H. 3, S. 60. Berlin R 78/2218.

83 NDR Hörspielabteilung, Mskr. Nr. 212. – Mehrere 95 Vgl. Tagebucheintrag, 29.1.1938: »für 16000 hektographierte Hörspieltyposkripte Martin Rasch- Mark nach langer Mühe erworben«; sowie kes finden sich im sogenannten »Braunschen Ar- 20.4.1939: »Ehrengabe des Reichsstatthalters − chiv« der Hörspielabteilung des NDR . gross genug, um die letzten Bauschulden bezah- len zu können.« SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, 84 Vgl. Raschke: Heimat (wie Anm. 82), S. 60. Nr. 80. Raschke schreibt im Zusammenhang mit Goethes naturwissenschaftlichen Schriften: »die Kristalle 96 Der Atlas. Eine Jugendstunde. Undatiertes Ty- erwiesen sich auch für mich als Zauberschlüs- poskript. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. sel«. 1956.

85 SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 1996, S. 17. 97 ›Königswusterhäuser Landboten‹-Folge vom April 1940 (wie Anm. 79). 86 Klaus Weber: Das Reich der Steine und Metalle in der Dichtung deutscher Romantiker. Ein Beitrag zur Deutung des romantischen Symbolismus. Diss. Phil. Köln 1953, S. 69. − Vgl. das Typoskript »Lob der Steine«, in dem der Junge im mineralo- gischen Museum versucht, einen »Eingang in das Zauberreich der Steine« zu finden. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 1991, S. 2.

87 NDR Hörspielabteilung Mskr. Nr. 112 (vgl. Anm. 83). − Zu diesem Hörspiel »Die Bergherrin« vgl. auch Kap. »Den Feldzug gegen den Funk fortset- zen«.

88 NDR Hörspielabteilung Mskr. Nr. 114 (vgl. Anm. 83).

89 Raschke: Du bist nict allein (wie Anm. 58).

90 Vgl. u.a. die Eintragungen in den Tagebüchern: 5.3.1935: »›Kluge Bauerntochter‹ schlecht und recht fertig gemacht.« − 27.4.1935: »Schimmel- reiter fertig geschrieben. − Mittelmässige Arbeit.« − 15.5.1935: »Funkarbeit, die mich gänzlich frisst.« − 10.1.1937: »Einen albernen Schwank ›Johannistrieb‹ auf Bestellung für den Funk ge- schrieben.« SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 80.

91 Vgl. den Abschnitt über eine »permanente Cha- banais-Situation« bei Günter Eich. Wagner: Eich (wie Anm. 1), S. 58-61; sowie von den beiden er- wähnten Eich-Hörspielen ausgehend die Diskus- sion um eine eventuelle Krise bei Eich im Jahr 1936: Vieregg: Fehlbarkeit (wie Anm. 2), S. 47ff., bzw. Cuomo: Career (wie Anm. 2), S. 107ff.

92 SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 1965. − Gele- gentlich finden sich »Vorbemerkungen für eine Sendung«, die ausschließlich formale Dinge be- treffen und in denen sich Raschke an die Adresse der Regie gegen »aussergewöhnliche Lärmer- zeugung« wendet. Deutsche Denkmäler spre- chen. SLUB. Mscr. Dresd. App. 2531, Nr. 1963, Peter Hoff

Dezentralisierung oder Regionalisierung des Fernsehens der DDR? Das Projekt eines Fernseh- und Rundfunkstudios in Leipzig 1958

Im Oktober 1955 legte die Leitung des Fernseh- Bundesrepublik bei, wenn auch nicht im politisch zentrums Berlin – so der Name der Fernsehein- gewünschten Maße. Während die Bundesrepu- richtung in Berlin-Adlershof während der drei blik durch einen in (West-)Berlin stationierten Jahre des »offiziellen Versuchsprogramms« zwi- Sender mit einem Radius von mehr als 80 km schen Dezember 1952 und dem Jahresende immerhin rund 60 Prozent des Staatsgebietes 1955 – einen Erfahrungsbericht »Über die Pro- der DDR mit dem Gemeinschaftsprogramm der grammtätigkeit des Fernsehens in der Deut- ARD versorgen konnte, erreichte das DDR- schen Demokratischen Republik« vor. Die Dar- Fernsehen auf Grund technischer und geogra- stellung war durchaus selbstkritisch gehalten. phischer Beschränkungen großzügig geschätzt Vor allem anderen wurde in den zusammenfas- nur knapp 20 Prozent der Bundesrepublik.3 Der senden Schlussbemerkungen festgestellt, »dass weitere Ausbau des Sender- und Verteilnetzes sich die ursprünglich beabsichtigte und dann und die Verbesserung der Empfangsqualität wa- auch eingeleitete Zentralisierung des Fernse- ren ständig Bestandteile der staatlichen Plan- hens in der DDR nicht bewährt hat«.1 Das mag werke. den mit der strukturellen Entwicklung der DDR- Ein Engpass war allerdings die Gerätepro- Medien vertrauten Leser einigermaßen verblüf- duktion in der DDR, die dem Bedarf nicht nach- fen, blieb doch das Fernsehen in der DDR bis zu kam und an deren Steigerung sich alle staatli- seiner »Abwicklung« 1990/91 eine zentralistisch chen Planvorgaben orientierten. Über Nachfrage organisierte Einrichtung. Dass dieser Aufbau zu nach Fernsehempfängern brauchte man sich in einer bestimmten Zeit infrage gestellt wurde, be- der DDR keine Gedanken zu machen, war das darf einer genaueren Betrachtung und Untersu- Fernsehen für die ostdeutschen Bürger doch chung vor dem damaligen zeitgeschichtlichen nicht nur eine technische Attraktion als neues Hintergrund. Im Bericht jedenfalls wird als Fazit Unterhaltungsmedium, sondern auch ein »Fens- der Analyse des »offiziellen Versuchsprogramms« ter in die (westliche) Welt«, das nur zu gern all- ausgeführt: abendlich in den Wohnstuben der DDR geöffnet wurde. Erst drei Prozent der DDR-Haushalte wa- »Politische, künstlerische, technische und Produkti- onsgesichtspunkte veranlassten die Leitung des ren Mitte der 50er Jahre mit einem Fernsehgerät Fernsehzentrums bereits seit Monaten Pläne zu ent- ausgerüstet, jeder hundertste Bürger der DDR wickeln und zentralen Stellen Vorschläge zu unter- besaß einen Empfänger, die Zahl der Emp- breiten, die vorsehen, das Fernsehen in der DDR zu- fangslizenzen betrug am Jahresende 1957 künftig dezentralisiert zumindest in der Programm- 159 500. Das DDR-Fernsehen sendete in die- herstellung zu betreiben. sem Jahr 1 448 Stunden, das entsprach 28 An eine Kapazitätserweiterung in Berlin ist danach Stunden Programm wöchentlich. nicht gedacht. Lediglich eine teilweise Modernisie- rung und Vervollkommnung des Fernsehkomplexes ist erforderlich. Studios sollen nach den Planvor- Gesteigerte Attraktivität schlägen beginnend in Leipzig in den verschiedens- ten Gebieten der Republik entstehen. Damit würde erreicht, dass die politische, künstlerische und tech- Mit den aus Großbritannien importierten ersten nische Kapazität der Republik wirkungsvoll für das beiden Übertragungswagen und dem Beginn von Fernsehprogramm Verwendung finden würden.«2 Direktübertragungen aus allen Gegenden der DDR endete im Herbst 1955 die Studiophase Um die Mitte der 50er Jahre war die Fernseh- des DDR-Fernsehens.4 Mit diesen Übertragun- versorgung in der DDR, zumindest was die tech- gen von Originalschauplätzen, aus Theatern und nischen Bedingungen des Empfangs betraf – Varietés und aus den zahlreichen Kulturhäusern ausgenommen die schwer zugänglichen südli- des Landes, steigerte der Deutsche Fernsehfunk chen Bezirke –, flächendeckend gesichert, bei mit seinem offiziellen Programm seit Januar allerdings erheblichen Unterschieden in der 1956 seine Attraktivität. Das Fernsehen wurde technischen Qualität des Empfangs in einzelnen mobil, die Bemühungen der Programmarbeit Gebieten. Ein relativ enges Netz von Sendern unter dem Slogan »Fernsehen heißt dabei sein« und Relaisstationen sicherte die grundsätzliche galten ab jetzt der quantitativen Erweiterung des Empfangsmöglichkeit in der DDR und trug über Programms und der Frage, wie dieses Pro- starke Sender an der Grenze zur Verbreitung gramm an die Zuschauer im Lande, aber auch des DDR-Programms auch in die nordöstliche Hoff: Dezentralisierung oder Regionalisierung des Fernsehens der DDR? 23

jenseits der Grenze in der Bundesrepublik, ge- 1958« zu Grunde liegt, das »unter § 15 Kultur bracht werden könne. (3)« besagte, Der Deutsche Fernsehfunk war ein Inten- »daß in Leipzig mit dem Aufbau eines Fernsehstudi- danzbereich und unterstand dem durch eine os zu beginnen ist. Verordnung vom 14. August 1952 eingerichteten Es ist sicherzustellen, daß der Bauumfang, der Staatlichen Rundfunkkomitee beim Ministerrat Baubeginn, die gesamte Bauzeit, die Geländeaus- der DDR als dem zentralen Leitungsorgan.5 dehnung und die Investitionsmittel für das Fernseh- Während der Hörfunk sich in Sendeeinrichtun- studio nicht beeinträchtigt werden durch die Absicht, gen mit eigenen Intendanzen und mit jeweils später in Leipzig ein neues Rundfunkstudio zu bau- spezifischen Aufgabenbereichen gliederte und en.«7 sich bei aller generellen Zentralisierung der Dieser zweite Fünfjahrplan – der erste lief von Rundfunkarbeit doch auch eine gewisse Regio- 1950 bis 1955 – hatte seine eigene, in der Par- nalisierung erlaubte, war das Fernsehen in den teigeschichte der SED später verschwiegene drei Jahren des Versuchsprogramms streng Geschichte. Das »Gesetz über den zweiten zentralisiert. Fünfjahrplan« war erst am 9. Januar 1958 durch Gerade die Zentralisierung der Fernseharbeit von der Volkskammer verabschiedet worden. stellte das Bilanzpapier zum Versuchsprogramm Dieses Datum ist jedoch aus den offiziellen Ge- kritisch infrage. Einer schnellen Korrektur des schichtsdokumenten der SED getilgt worden, Ist-Zustandes stand jedoch die Trägheit der wie der zweite Fünfjahrplan später generell keine DDR-Planwirtschaft entgegen. Jede Verände- Erwähnung mehr fand, so wenig wie der nach- rung eines einzelnen Postens in den staatlichen folgende Siebenjahrplan,8 der ebenfalls nicht Planwerken zog Modifikationen des Gesamtsy- erfüllt wurde. Die Gründe dafür sind in erster Li- stems nach sich. So vergingen zwei Jahre, bis nie in der Entwicklung der Beziehungen zwi- ein diskutables Projekt zur Dezentralisierung der schen den sozialistischen Ländern seit dem XX. Fernseharbeit vorlag. Es handelte sich um die Parteitag der KPdSU 1956 zu suchen. »Aufgabenstellung für das Fernseh- und Rund- Vom 14. bis 16. November 1957 fand in funkstudio in Leipzig, Standart III (sic!), erarbei- Moskau eine »Beratung von Vertretern der tet in einer Konferenz vom 28. bis 30. Januar kommunistischen und Arbeiterparteien der so- 6 1958«. Teilnehmer der Konferenz und somit zialistischen Länder« statt, auf der die Führung Autoren dieser 34-seitigen Projektstudie waren der Sowjetunion die Satellitenparteien nach dem 21 leitende Mitarbeiter des Ministeriums für Post Aufstand in Ungarn und den Unruhen in Polen und Fernmeldewesen der DDR und der Studio- stärker zusammenzuschließen und auf die technik von Rundfunk und Fernsehen sowie Ar- KPdSU als das Zentrum einzuschwören sich chitekten und Ökonomen. Darunter befand sich bemühte. Diese strenge Integration der Parteien der Technische Direktor des Fernsehens, Ernst und Völker der sozialistischen Staaten als »so- Augustin, der bereits in den 30er Jahren die zialistisches Lager« zog ökonomische Folgerun- rundfunktechnische Projektierung des Hauses gen nach sich, die auch eine Novellierung der des Rundfunks in der Berliner Maurenallee ge- staatlichen Plandokumente in diesen Ländern leitet und das Fernsehstudio des Reichsrund- einschlossen. funks im Deutschlandhaus konzipiert sowie das Die Vorgaben des zweiten Fünfjahrplanes (Ost-)Berliner Funkhaus in der Nalepastraße und muten aus der distanzierten gegenwärtigen Sicht das Fernsehzentrum in Berlin-Adlerhof technisch ebenso utopisch an wie die ökonomischen Plan- geplant hatte. Dazu kamen der Verwaltungsleiter aufgaben, die die KPdSU auf ihrem XX. Partei- des Deutschen Fernsehfunks, Arthur Nehmzow, tages beschloss. Es ging der Führung der sowie die Architekten Richard Paulick, der spä- KPdSU darum, die sozialistischen Volkswirt- tere Direktor der Bauakademie der DDR, und schaften in kürzester Zeit so zu entwickeln, dass Franz Ehrlich, nach dessen Entwürfen zwischen sie denen der kapitalistischen Staaten Konkur- 1949 und 1956 das Fernsehzentrum Berlin- renz machen konnten. Die Pläne in der DDR Adlershof errichtet worden war. Die Namensliste folgten dieser vorgegebenen Linie. Der DDR- belegt, dass dieses Projekt in der Hierarchie Plan sah z.B. die Steigerung der Arbeitsproduk- hoch angesiedelt war, dass also der Einrichtung tivität und der Industrieproduktion durch »Mo- dieses Fernseh- und Rundfunkstudios in Leipzig dernisierung, Mechanisierung und Automatisie- seitens der staatlichen Leitungsgremien große rung« um 50 Prozent vor. Es sollte eine »neue politische Bedeutung beigemessen wurde. Die industrielle Umwälzung« auf der Grundlage der Präambel des Planungsdokuments verwies dar- »sozialistischen Produktionsverhältnisse« be- auf, dass der »Aufgabe« das »Gesetz über den wirkt werden. Vor dem Hintergrund dieser ganz zweiten Fünfjahrplan zur Entwicklung der Volks- offensichtlich unrealistischen Zielsetzung ist wirtschaft in der deutschen Demokratischen Re- auch das Projekt des »Fernsehstudios Leipzig« publik für die Jahre 1956-1960 vom 9. Januar zu betrachten. 24 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Politische Hintergründe Turn- und Sportfeste. Vor allem betraf dies aber internationale Veranstaltungen wie die Leipziger Das Projekt ist aber auch im Kontext der Messe. Leipzig war somit generell das Tor zur deutschlandpolitischen Aktivitäten der UdSSR Welt für die um Anerkennung ringende DDR. wie auch der DDR-Regierung zu sehen, vor al- Unabhängig von politischen Vorbedingungen lem im Zusammenhang mit den Vorschlägen der konnte sich die DDR hier der Weltöffentlichkeit sowjetischen und der ostdeutschen Staatsfüh- präsentieren. Das galt auch für das DDR- rung zur Veränderung des Status quo in Fernsehen, das sich im Rahmen eines alljährli- Deutschland. Am 30. Januar 1957 hatte Walter chen Messe-Sonderprogramms seit 1953 hier Ulbricht auf dem 30. ZK-Plenum der SED eine einem internationalen Publikum vorstellte. Auf deutsch-deutsche Konföderation vorgeschlagen, der Leipziger Messe demonstrierte die DDR als deren Kernstück ein paritätisch besetzter nicht allein technische und ökonomische, son- Gesamtdeutscher Rat fungieren sollte. Am 27. dern auch kulturelle Leistungskraft. Juli des gleichen Jahres unterbreitete die DDR- Regierung der Bundesregierung offiziell dieses politische Projekt. Auf dem V. Parteitag der SED Programmplanung vom 10. bis 16. Juli 1958 erneuerte Ulbricht die- sen Vorschlag. Am 27. November 1958 kündigte Angesichts dieser vielfältigen Initiativen war für die Sowjetunion in Noten an die drei West- alle konkreten Handlungsschritte in Richtung mächte, die Bundesrepublik und die DDR die »Fernsehstudio Leipzig« Eile angesagt. In wenig Viermächteverantwortung für Deutschland und mehr als zwei Wochen seit der Annahme des für Berlin auf. (West-)Berlin sollte entmilitarisiert Gesetzes über den zweiten Fünfjahrplan waren und innerhalb eines halben Jahres in eine »selb- offenbar die Vorarbeiten zum Projekt des neuen ständige politische Einheit« umgewandelt wer- Fernseh- und Rundfunkstudios in Leipzig in kon- den. Am 31. Dezember erklärten die West- krete Formen gegossen worden. Dem Leipziger mächte sich zu Verhandlungen bereit, lehnten Fernsehstudio sollte ein nicht unbeträchtlicher aber die Aufgabe ihrer Verantwortung für Berlin Teil des Programms übertragen werden, zwei und Deutschland ab. Daraufhin forderte die so- Tagesprogramme in der Woche zu je sieben wjetische Regierung am 10. Januar 1959 eine Stunden, wobei damit schon der realen Pro- Friedenskonferenz und legte einseitig den Ent- grammplanung des DDR-Fernsehens vorgegrif- wurf für einen Friedensvertrag vor. fen wurde, das zum Zeitpunkt der Beratung im Es lag nahe, dass als Voraussetzung für das Januar 1958 täglich nur vier Stunden sendete. Zustandekommen einer deutsch-deutschen Einen sieben Stunden umfassenden täglichen Konföderation Berlin in seine auf der Potsdamer Sendeplan realisierte der Deutsche Fernsehfunk Konferenz vereinbarte alte Position des Vier- erst ab 1959. Auch die Planung eines täglichen mächtestatus (der von der Sowjetunion einseitig Mittags- und Nachmittagsprogramms und bereits aufgekündigt worden war) hätte zurückversetzt eines halbstündigen Nachtprogramms griff den werden müssen. Zudem wäre für längere Zeit aktuellen Gegebenheiten vor. eine Interimslösung notwendig gewesen, die, Im einzelnen waren für die zweimal sieben unter den Bedingungen der ursprünglichen Tei- Programmstunden pro Woche aus Leipzig ge- lung Deutschlands auf der Potsdamer Konfe- plant: renz, Berlin als ostdeutsches Regierungs- und »a) Vormittagsprogramm: Verwaltungszentrum ausgeschlossen hätte. Für 1 Stunde die ostdeutsche Administration wäre eine Aus- Schul- und Hochschulfunk u.ä. weichlösung zu finden gewesen, auch für den b) Mittagsprogramm: DDR-Rundfunk und das ostdeutsche Fernsehen. 1 ½ Stunde Leipzig, in den Nachkriegsjahren auch als ost- für Schichtarbeiter. deutsche Hauptstadt schon im Gespräch gewe- Es werden hier im wesentlichen sen, hätte sich angeboten. Aufzeichnungen zur Sendung kommen. Noch aus einem anderen Grund wäre Leipzig c) Nachmittagsprogramm: als Sitz für die Rundfunkmedien in Ostdeutsch- 1 ½ Stunde land als geeignet befunden worden. Das geteilte Kinder- und Frauensendungen u.a. d) Abendprogramm: Berlin mit seinen noch ungesicherten Sektoren- 2 ½ Stunden grenzen, das offiziell noch immer dem Vier- e) Nachtprogramm: mächtestatus unterlag, konnte im Sinne des ½ Stunde (z.B. Westdeutschland)«9 Staats- und Völkerrechtes nur bedingt den neu- en Staat DDR repräsentieren. Deshalb wurden Während das vormittägliche Wiederholungspro- zahlreiche Großveranstaltungen in die traditio- gramm »für Schichtarbeiter« am 8. Oktober nelle Messestadt verlegt, beispielsweise die 1958, also ein Dreivierteljahr nach der Konfe- Hoff: Dezentralisierung oder Regionalisierung des Fernsehens der DDR? 25

renz, begann, war an ein regelmäßiges Pro- unterschiedlichen Beiträgen auch Zuschauer in gramm des »Schul- und Hochschulfunks« noch der Bundesrepublik.12 lange nicht zu denken.10 Zwar gab es schon seit Wenn in der Planung für das Leipziger Fern- Beginn des Versuchsprogramms ein umfangrei- sehstudio Sendungen für »z.B. Westdeutsch- ches Angebot an Kindersendungen; 1955 wur- land« im Nachtprogramm vorgesehen waren, so den 47 Stunden für Kinder gesendet bzw. sechs darf angenommen werden, dass auch hier eine Prozent des Gesamtangebotes, 1960 waren es neue Zeitschiene erschlossen werden sollte, um 267 Stunden, entsprechend 8,9 Prozent. Das in die Bundesrepublik einwirken zu können.13 Jugendprogramm war jedoch bis dahin nur we- Aus diesem Gesichtswinkel betrachtet, bekommt nig entwickelt. Die »Frauensendungen« führten auch die Planung des Frauenprogramms einen im Programm des DDR-Fernsehens eine Rand- erweiterten Inhalt. Denn die in ihrer Mehrzahl be- existenz. Lediglich am frühen Montagabend (von rufstätigen Frauen der DDR kamen als Zielgrup- 19.00 bis 19.30 Uhr) waren im Sendeschema für pe eines solchen Nachmittagsprogramms nur das Jahr 1958 »Sendungen für Frauen« einge- bedingt infrage, wohl aber die Frauen in der plant, wahrscheinlich dem Umstand geschuldet, Bundesrepublik, die im Zuge des »Wirtschafts- dass der Montag der »Tag der gesellschaftlichen wunders« wieder in die traditionelle Hausfrauen- Arbeit« war, an dem die Partei- und Gewerk- rolle zurückgekehrt waren. Sie konnten sich ihre schaftsveranstaltungen stattfanden. Da die Zeit so einteilen, dass sie dieses Programm an- Funktionäre in der Mehrzahl männlich waren, schauen konnten. Zudem waren sie im Sinne konnte zu diesem Zeitpunkt den Frauen eine Ni- der sozialistischen Ideologie auf Grund der sche im Fernsehprogramm eingeräumt werden. »doppelten Unterdrückung und Ausbeutung« in Dieses Programm für die Frauen unterschied der Gesellschaft und in der Familie »Bündnis- sich jedoch erheblich von ähnlichen Pro- partner« der machtausübenden Arbeiterklasse in grammsparten im bundesdeutschen Fernsehen. der DDR, denen das Fernsehen bei ihrer Eman- Im »Perspektivplan« des Deutschen Fernseh- zipation helfen wollte. funks für die Jahre 1959 bis 1965 wird dies er- Das für das Studio Leipzig vorgesehene Pro- läutert: gramm war also durchaus zukunftsweisend und von der politischen Strategie her als durchdacht. »Das Frauenfernsehen konzentriert sich in seiner Aufgabenstellung auf die Einbeziehung ständig grö- Deshalb kann auch der Aufwand kaum verwun- ßerer Schichten der Frauen in den sozialistischen dern, mit dem dieses Programm verwirklicht Produktionsprozeß in Industrie und Landwirtschaft werden sollte. Immerhin wurden nach der Pla- der allseitigen Hilfe und Unterstützung (sic!) für die nung vom Januar 1958 für seine Realisierung werktätigen Frauen und Mütter und der Veröffentli- nicht weniger als 865 Mitarbeiter benötigt, ein- chung der besten Beispiele der Erziehung der Kinder schließlich »Feuerwehr, Betriebsschutz- und der berufstätigen Frauen in Tagesheimschulen, Reinigungskräften«, doch ohne das Personal für Schularbeitszimmern, Kinderhorten und Kindergär- die sozialen und kulturellen Einrichtungen wie 11 ten.« Verkäuferinnen der betrieblichen Handelsein- Der Erklärung bedarf auch der Umstand, dass richtungen usw.. Von diesen 865 Mitarbeitern im Projekt des Leipziger Fernsehzentrums an waren 765 festangestellte Kräfte und »100 Freie zwei Tagen in der Woche ein »Nachtprogramm« Mitarbeiter für Programm und Redaktion«. Die geplant wurde, das zudem mit dem Zusatz »z.B. Festangestellten gliederten sich folgendermaßen Westdeutschland« versehen wurde. Am 11. auf: September 1957 hatte das DDR-Fernsehen eine »250 Mitarbeiter techn. Personal Programmstrecke aufgegriffen, die sich im Sinne 150 Mitarbeiter redakt. Personal des gesamtdeutschen Wirkungsauftrages, den 150 Mitarbeiter Produktionspersonal sich beide deutsche Nachkriegs-Fernsehinstitu- (...) tionen erteilt hatte, von (Ost-)Berlin aus an die 215 Mitarbeiter als Verwaltungspersonal«.14 Zuschauer in der Bundesrepublik wandte. Das Die geplanten »6 selbständige[n] Redaktionen« »Tele-Studio West« war geschickt im Programm umfassten das gesamte Spektrum eines dama- positioniert worden, am späten Samstagnach- ligen Rundfunk- oder Fernsehprogramms, aus- mittag (von 18.00 bis 18.50 Uhr, eingebettet zwi- genommen – und das muss verwundern – Sport schen einer Unterhaltungssendung und dem (er wurde in einer »Nebenstelle Berliner Redak- »Abendgruß des Sandmännchens«, also popu- tionen« mit zehn Mitarbeitern der »aktuellen Po- lären Sendungen), der von der Programmpla- litik« zugeordnet) und Unterhaltung (auch sie ei- nung der ARD bis dahin wenig beachtet worden ne »Nebenstelle« für »unterhaltende und musi- war. Zudem interessierte diese Reihe des DDR- kalische Sendungen (Unterhaltung, Feuilleton Fernsehens durch die noch ungewohnte und und öffentliche Veranstaltungen und Musik))«, folglich attraktive offene Form des Magazins mit ebenfalls mit zehn Mitarbeitern.15 Im einzelnen 26 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

waren an selbständigen, also nicht dem Berliner des Fernsehstudios die Rede ist, d. h. offenbar Zentrum unterstellten Redaktionen, geplant: an eine selbstständige und vom Berliner Fern- sehzentrum in bestimmtem Maße unabhängige Redaktion »Dramatische Kunst« mit 15 Mitarbeitern; Redaktion »Wissenschaft und Technik« mit 15 Mitar- Leitung für die Leipziger Einrichtung gedacht beitern; worden war, also eine gewisse Eigenständigkeit Redaktion »Kulturpolitik« mit 15 Mitarbeitern; vergleichbar mit den Rundfunkanstalten der »Frauenredaktion« mit 15 Mitarbeitern; ARD ins Auge gefasst wurde. Zumindest lassen Redaktion »Landwirtschaft« mit 15 Mitarbeitern; die Planungen diesen Schluss zu, denn die Pro- Redaktion »Kinderfernsehen« mit 30 Mitarbeitern. jektierung des Leipziger Studios umfasst alle technischen Bereiche, die für einen aktuellen (Live-)Programmbetrieb notwendig sind. Auch Dezentralisierung gleich die Aufgabenteilung zwischen Zuarbeit zum Regionalisierung? Gemeinschaftsprogramm bei gleichzeitiger re- gionaler Ausrichtung des Studios entspricht dem Die Projektierung des Leipziger Studios war ARD-Modell. durchaus auf die Zukunft ausgerichtet, so dass der vorliegende Plan als ein wichtiges Dokument zu betrachten ist, das Rückschlüsse auf die Vor- Architektur und Technik stellungen erlaubt, die Ende der 50er Jahre sei- tens des DFF von der weiteren Entwicklung des Die Arbeit mit dem Film, wie sie in den Pla- Programms generell bestanden. Die im Plan ge- nungsunterlagen vorgesehen war, entsprach der nannten Sendezeiten beispielsweise seien damaligen Bewertung des Films als Ergänzung zur dominierenden Live-Arbeit mit elektronischer »als ca. 75 % der Programmerfordernisse zu be- Produktionstechnik. Drei Schneideräume für trachten. 25 % Programmerfordernisse (d.h. Sende- reihen, die heute noch nicht zu übersehen sind oder 35 mm und 16 mm Film waren eingeplant, der ein Regionalprogramm) die evtl. auch weitere Redak- Personalbestand sah vier bis fünf Schnittkräfte tionen nach sich ziehen, müssen der Kapazität auch vor. Ein Filmvorführraum mit »vorschriftsmäßiger vom Büroraum zugeschlagen werden.«16 Vorführkabine für 35 mm und 16 mm Film« war für die Abnahmen vorgesehen. Auf die Domi- Da von einem »Regionalprogramm« in Planpa- nanz des mit elektronischer Technik zu realisie- pieren des DDR-Fernsehens bis dahin niemals renden Live-Sendebetriebes verwies auch der und nirgendwo die Rede war, kommt dieser Umstand, dass immerhin 15 »Fernsehkamera- Mitteilung quasi am Rande durchaus Bedeutung führer« vorgesehen waren. Den Regieräumen zu. Der DDR-Rundfunk, das gemeinsame Dach, für die Studios waren Film- und Diageber für den unter dem sich auch das Fernsehen zu diesem aktuelle Sendebetrieb »schichtmäßig und räum- Zeitpunkt noch befand, hatte die Regionalstruk- lich getrennt« zugeordnet. Eine Gruppe techni- tur der frühen Nachkriegszeit, die der Struktur scher Gerätschaften – »Kamerazugpult und Re- der Regionalgesellschaften des deutschen Vor- gieanlage, ein zentraler Trickraum soll in der kriegsrundfunks folgte, zugunsten des zentrali- Nähe der Filmgeber angeordnet werden« – war stischen Prinzips, das den einzelnen Sendern projektiert. In allen Gewerken wie Beleuchtung, eine besondere politische Funktion zumaß, auf- Studiotechnik, Maske, Kostüm und Ausstattung gegeben. bis hin zu den Dekorationswerkstätten und zum Wenn die Regionalstruktur hier für die Zu- Fundus für Kostüme und Requisiten und einem kunft ins Auge gefasst wurde, muss bei allen in- Archiv für die Produktionsunterlagen sollte das nenpolitischen Überlegungen hinsichtlich einer Leipziger Studio autonom sein, die Raumpla- stärkeren Berücksichtigung der regionalen In- nung dafür war großzügig.17 formationsbedürfnisse der DDR-Bevölkerung Architektur und Technik der Studios berück- auch bedacht werden, ob in diesem Zusammen- sichtigten Berliner Erfahrungen und entwickelten hang eventuell die Hoffnung auf eine mittelfristi- sie weiter. Drei Studios waren geplant: ein Studio ge Wiedervereinigung eine Rolle gespielt haben für die Ansage und für kleinere publizistische mag, durch die eine Wiederherstellung der Re- Sendungen wie Gesprächsrunden etc. mit einer gionalstruktur notwendig geworden wäre, wobei Grundfläche von 180 bis 200 qm, »welches nach der Plan für das Fernsehstudio Leipzig, so be- Möglichkeit teilbar sein soll«. Eine variable trachtet, einer Angleichung des DDR-Rundfunks Raumgröße war auch für die beiden »Sendestu- an das föderative Rundfunksystem der Bundes- dios mit einer Spielhöhe von 8 m und vollkom- republik schon gedanklich zugearbeitet hätte. men gleicher technischer Ausstattung und Ein- Einer solchen Überlegung arbeitet auch der richtung von 900 qm« vorgesehen. Diese beiden Umstand zu, dass in dem Planpapier bei der Studios sollten einerseits durch ein schalldicht Raumplanung auch von einem »Intendanten« gesichertes Tor akustisch voneinander getrennt, Hoff: Dezentralisierung oder Regionalisierung des Fernsehens der DDR? 27

bei Bedarf aber auch durch Öffnung dieses Tors den evtl. gemeinsamen Bau eines solchen Saales zu einem Studio vereint werden können. Solche (wohl gemeinsam mit den kommunalen Gremien der Variabilität fehlte den damals vier Studios in Ber- Stadt Leipzig, P.H.) sind zu gegebener Zeit zu führen lin-Adlershof noch. Neu ist am Leipziger Projekt, – im Moment steht er nicht im Mittelpunkt des Inter- 20 verglichen mit dem Berliner Fernsehzentrum, esses.« dass diese Studios publikumsoffen angelegt Neben der stationären Technik war auch an eine wurden. Damit wurde die publikumsnahe Kon- für die damalige Zeit sehr umfangreiche mobile zeption des frühen deutschen Rundfunks auch Technik gedacht. Drei Fernseh-Übertragungs- im Leipziger Studio wieder aufgegriffen, zumal wagen und ebenfalls drei Filmreportagewagen, auch der obligatorische »Große Sendesaal« – zwei Tonübertragungswagen (nur für den Fern- hier »Öffentlicher Saal« genannt – wieder aufge- sehbetrieb) und ein Filmabtastwagen für das nommen wurde, diesmal als gemeinsamer Saal Live-Einspiel von vorbereiteten Filmteilen vom für Rundfunk und Fernsehen. Er sollte reprä- originalen Übertragungsort sowie weitere Tech- sentativen Zwecken dienen, indem er die »Aura« nikfahrzeuge für die Live-Übertragung waren von Hörfunk und Fernsehen als Kulturinstitutio- vorgesehen, insgesamt 30 Technikfahrzeuge so- nen demonstrierte: wie weitere 40 Produktionsfahrzeuge für den »Die Fernseh- und Rundfunkveranstaltungen bedeu- Dekorations- und Beleuchtungstransport wurden ten für den Besucher einen festlichen Abend. Er will in den Planungspapieren für erforderlich gehal- für sein Geld einen guten Platz mit allseitiger Sicht. ten – ein großer Fahrzeugpark also. Daraus Da(s) ergibt die Forderung für die Technik, dass sie lässt sich schließen, dass das Leipziger Studio so gelöst sein muss, dass sie in keinem Falle im Ge- auch in dieser Hinsicht vom Berliner Zentrum gensatz zu den Bedürfnissen des Zuschauers unabhängig werden sollte, dass also ein eigen- steht.«18 ständiger Sendebetrieb auch bezüglich der Ori- Gegenüber dem in seiner Funktion als Großer ginalübertragungen beabsichtigt war. Sendesaal nie wirklich genutzten und schon bald Schließlich wurde für das Studio noch ein ei- zum »Studio V« umgewidmeten Theatersaal des gener Richtfunkturm von 150 m erlaubter Höhe Berliner Fernsehzentrums war der »Öffentliche projektiert, der das räumlich nicht weiter aus- Saal« des Leipziger Fernseh- und Rundfunkstu- baubare Provisorium im Hochhaus am Ring ab- dios von vornherein großzügiger geplant und als lösen und »die in Leipzig endenden bzw. durch- öffentliche Einrichtung vorgesehen: laufenden Richtfunkverbindungen mit diesem Komplex zusammenfassen« sollte.21 Der Richt- »Die Größe des Saals muss der Bedeutung der Stadt funkturm sollte sich »in unmittelbarer Nähe des Leipzig als Messestadt entsprechen. Dabei soll davon Fernsehstudiogeländes befinden«. ausgegangen werden, dass Rundfunk und Fernsehen Ein solcher Richtfunkturm findet sich auch in nicht die alleinigen Benutzer sind. Er soll, soweit es den architektonischen Planungsunterlagen von die Veranstaltungen von Rundfunk und Fernsehen zulassen, auch anderen Institutionen zur Verfügung Franz Ehrlich für den später nicht realisierten stehen.«19 DFF-Komplex in Berlin-Adlershof von Ende der 60er Jahre. Mit Hilfe des Leipziger Richtfunktur- Auf die Multifunktionalität verweist eine Anmer- mes sollten vor allem die Richtfunkstrecken im kung zur möglichen Nutzung dieses Saals: »In Süden der DDR koordiniert werden, die »Verbin- diesem Saal müssen Konzertveranstaltungen, dung Bezirksstädte – Berlin« und »Bezirksstädte dramatische Kunst, artistische Darbietungen, untereinander« sowie »Modulationsversorgung Zirkus (im Typoskript gestrichen: und Sportver- der Fernsehsender der DDR mit Programm aus anstaltungen) geboten werden können.« – Bei der Messestadt Leipzig und Umgebung«; er solchen Gelegenheiten begegneten sich Fern- sollte als »mögliche Relaisknotenstelle innerhalb sehspiel und Theater. Es war zu dieser Zeit noch des Fernseh-Richtfunknetzes zur Modulations- üblich, einzelne erfolgreiche Fernsehspiele vor versorgung der Fernsehsender Leipzig, Brocken einem Livepublikum im Fernseh-Theatersaal als und Inselsberg«, also des alten Sendegebietes normale Bühnenstücke aufzuführen, um so auch des früheren Mitteldeutschen Rundfunks dienen bei den vom Fernsehen noch nicht überzeugten und ferner die Richtfunkverbindung von Übertra- Bürgern für das neue Medium zu werben. gungswagen bei der Übernahme von Fernseh- War der Theatersaal in Berlin noch eines der Livesendungen aus Leipzig und Umgebung Kernstücke des geplanten Studiokomplexes ge- übernehmen. wesen, so war er in Leipzig eher von nachge- Für die Fernsehtechnik waren vier Stockwer- ordneter Bedeutung: ke des Turms vorgesehen, während im fünften »Er braucht nicht (im Typoskript handschriftlich nach- Geschoss ein »Kleinstrestaurant« für die Öffent- getragen: räumlich) mit dem Schaltzentrum des Fern- lichkeit geplant war. Also wurde auch hier der sehstudios (handschriftlich: u. d. Funkhauses) in Ver- Gedanke einer Öffnung für das Publikum, ähn- bindung stehen. Entsprechende Verhandlungen über lich wie bei den Studios, verfolgt. 28 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Über die Vorstellungen vom Programm für im SED-Zentralkomitee, Heinz Geggel, auch die den Fernsehsender Leipzig ist dem vorliegen- leitenden Rundfunk- bzw. Fernsehmitarbeiter den, in erster Linie von Technikern und Archi- Gerhard Probst, Wolfgang Kleinert und Heinz tekten ausgearbeiteten Papier über die eingangs Adameck teilnahmen, festgelegt, am vorhande- zitierten kargen Mitteilungen hinaus nur wenig zu nen Projekt für den Aufbau eines Rundfunk- und entnehmen. Bemerkenswert ist allerdings, dass, Fernsehstudios in Leipzig festzuhalten, weitere wie beim Adlershofer Sendezentrum, auch in Studios aber für Dresden und Rostock vorzuse- Leipzig die »Dramatische Kunst« eine exponierte hen (in Rostock war bereits ein »Provisorium« Stellung zugebilligt wurde. Wöchentlich wurde »1 für die Produktion der Programme zur »Ostsee- Sendung mit einer durchschnittlichen Sendezeit woche«, einer alljährlich stattfindenden politisch- von 120 Minuten« geplant. kulturellen Veranstaltung der östlichen Ostsee- Anrainerstaaten, in Betrieb): »Zugrunde gelegt wird, daß innerhalb von 2 Monaten 6 Fernsehspiele original aus dem Studio, »Es sind die Voraussetzungen zu schaffen, dass 1 Theatergastspiel aus dem Studio und 1963 [in Rostock] mit dem Bau eines neuen Fernseh- 1 Direktübertragung aus einem Theater oder einem studios begonnen wird. Die Aufgabenstellung ist vom Ort außerhalb des Studios gesendet werden. Deutschen Fernsehfunk gemeinsam mit der Leitung Es ist vorgesehen, im Zeitraum eines Vierteljah- der Studiotechnik Fernsehen auszuarbeiten.« res auch ein Fernsehspiel als Aufzeichnung zu sen- den. Für Dresden sollte der Deutsche Fernsehfunk Die Fernsehspiele, die aus dem Studio gesendet »die Aufgabenstellung für den Fernsehteil des werden, werden etwa im Durchschnitt Rundfunk- und Fernsehstudios gemeinsam mit 95 % original und der Leitung der Studiotechnik Fernsehen ausar- 5 % mit Filmeinblendungen beiten«.24 Für beide Projekte wurden Fernseh- gesendet.«22 intendant Adameck und der Leiter der Studio- Die Anzahl der geplanten »Aufzeichnungen« – technik, Günther, verantwortlich benannt. zu diesem Zeitpunkt noch auf Film – entsprach Von den drei Fernsehstudios Leipzig, Ros- jener, die auch in Berlin produziert wurden. Auch tock und Dresden sowie vom Berliner Fernseh- im Berliner Studiobetrieb wurden zu diesem zentrum sollten die einzelnen Bezirke mit ver- Zeitpunkt (bis Anfang der 60er Jahre) nur durch- sorgt werden, und zwar in folgender Aufschlüs- schnittlich vier Fernsehfilme jährlich produziert. selung: Auch das Verhältnis von Elektronik (»original«) Berlin: Potsdam, Frankfurt/O., Neubrandenburg (ge- und Film, wie es hier festgelegt wurde, ent- meinsam mit Rostock) sprach der damaligen Norm. Erst in den 60er Leipzig: Halle, Gera, Suhl, Weimar Jahren setzte sich die Norm von 1:4 (Film zu Rostock: Schwerin, Neubrandenburg (gemeinsam mit Elektronik) durch, vor allem durch die damals an Berlin) Bedeutung gewinnenden Fälle der Krimireihen Dresden: Cottbus »Pitaval« und »Blaulicht«. Während Erfurt »nach 1965« einen »Neubau« Die für Leipzig geplante Gesamtkapazität der erhalten sollte, sollte Magdeburg hingegen leer »Dramatischen Kunst« entsprach in etwa der ausgehen. Die geplanten Studios entsprachen Hälfte der Produktionskapazität des Fernseh- im wesentlichen der alten Struktur der Landes- zentrums Berlin-Adlershof. Im Studio IV in Ad- funkhäuser bis 1952. lershof, dem Studio, das bislang ausschließlich Diese Beschlüsse zur Regionalisierung der dem Fernsehspiel vorbehalten war, entstanden Fernseharbeit überschnitten sich mit einer ande- wöchentlich zwei fernsehdramatische Erstsen- ren Planung, die etwa zur gleichen Zeit in Bera- dungen, die jeweils am Sonntag und am Don- tungs- und Beschlussprotokollen des Staatlichen nerstag ausgestrahlt wurden.23 An einem dritten Rundfunkkomitees z.T. gemeinsam mit den Sendetermin, am Dienstag, wurden Übertragun- Gremien der SED-Führung erwähnt wurde: die gen von Theateraufführungen gesendet. Ob mit Einführung eines Zweiten Fernsehprogramms der Leipziger Fernsehspielproduktion eine Ent- »auf der Neubau-Perspektive mit einem Sender lastung des Berliner Studios beabsichtigt war in Berlin und einem vollkommen neuen Studien- oder ob auf diesem Wege eine Erhöhung der komplex (sic!) Schwerin – Dequede – Insels- Anzahl von Fernsehspielen erreicht werden berg«. Abhängig sei das davon, »was wir von sollte, ist bis jetzt nicht schlüssig zu entscheiden. der Industrie bekommen«.25 Über den Charakter des Zweiten Programms Das Fernsehstudio Leipzig sollte nur der Aus- äußerte Adameck sich eindeutig. Das Telestudio gangspunkt für eine Dezentralisierung und Re- West, also der auf die Westpropganda gerich- gionalisierung des DDR-Fernsehens sein. So tete Programmkomplex »müßte möglichst bald wurde in einer Besprechung am 22. April 1959, ausgebaut werden und den Kern des zweiten an der neben dem Leiter der Abteilung Agitation Programms langsam heranbilden.« Der frühere Hoff: Dezentralisierung oder Regionalisierung des Fernsehens der DDR? 29

Personalchef des DDR-Fernsehens dachte auch schnellen Einführung eines 2. Fernsehpro- an die Kaderperspektive für dieses Programm: gramms in der DDR bestand bei allen Beteiligten »Wenn wir einen Genossen hätten, der später volle Übereinstimmung, um der Absicht des Ge- Programmleiter oder Chefredakteur sein soll, so gners, das Band IV zu belegen, zuvorzukom- müsste er so bald wie möglich eingesetzt wer- men.« Gleichzeitig wurde jedoch auch offenbar, den.« Das zweite Fernsehprogramm sollte in der dass hinter diesem zum vorrangigen Projekt er- Perspektive das Telestudio ersetzen.26 klärten Unternehmen alle anderen Planungen Auch in diesem Zusammenhang wurde wie- zurückstehen mussten: »Angesichts der Lage der die Frage nach lokalen Angeboten des Fern- bestand auch darüber Klarheit, dass die Bereit- sehens aufgeworfen, die, so Gerhart Eisler, stellung von zusätzlichen Investitionen, Import- mitteln, Arbeitskräften usw. insbesondere bis »von uns unterschätzt worden [ist], genau so wie die Bedeutung der Kreis- und Stadtzeitungen, die alte 1962 nur im Zuge einer Umverteilung möglich 30 Tradition, dass jede Kleinstadt zwei-drei Zeitungen ist.« gehabt hat. Der lokale Sender muß die Aufgabe ha- Im »Perspektivplan bis 1965 (Siebenjahr- ben, Nachrichten aus Stadt und Land seines Kreises plan)« des Staatlichen Rundfunkkomitees vom zu bringen.«27 27. Juni 1959 wurde unter der »Entwicklung der Sendekapazität« neben der Erweiterung des Auch der ZK-Abteilungsleiter Geggel sprach sich Programmangebotes des »Fernsehprogramms I« für die Erweiterung der regionalen Sendungen auf 81,5 Stunden (1965) wöchentlich auch ein aus: »Fernsehprogramm II« mit zunächst 18 Sende- »Was die Bezirksstudios anbelangt, so glaube ich stunden (1960), kontinuierlich gesteigert auf 38 auch, dass es notwendig ist, die lokale Seite stärker Sendestunden wöchentlich (1965) »mit Deutsch- hervorzuheben. Ich habe den Eindruck, dass wir von landsender-Charakter«31 aufgeführt, also ein unserer ursprünglichen Linie etwas abgehen. Wir Fernsehprogramm vor allem für die Bundesre- wollten doch, dass die Bezirkssender im Programm publik, das seine Botschaften allerdings in kultu- mehr Sendezeit bekommen.«28 reller Verpackung und über Erfolgsmeldungen Der Realisierung dieser Pläne waren jedoch aus der DDR anbieten sollte. Vom Neubau de- durch die Ökonomie und durch die technischen zentraler Fernsehstudios außerhalb war Gegebenheiten Grenzen gesetzt. Adameck äu- im Siebenjahrplan keine Rede mehr. ßerte in diesem Zusammenhang auf die Frage, Adameck versuchte hingegen, »die Einfüh- ob er glaube, »dass im Fernsehen das Lokale rung eines 2. Fernsehprogramms in der Deut- keine Rolle« spiele, Zweifel an der Realisierbar- schen Demokratischen Republik«, die »eine po- keit der Dezentralisierungs- und Regionalisie- litisch, personell, technisch und ökonomisch völ- rungspläne: lig selbständige Angelegenheit ist«, vom Ausbau des 1. Programms abzukoppeln. Es sei »zu er- »Es ist von der technischen Seite her unmöglich, ört- warten, dass das 2. Fernsehprogramm von liche Fernsehstudios zu errichten. Wir sind froh, wenn wir 1980 drei Fernsehprogramme haben.« Partei und Regierung als Sondermaßnahme in absehbarer Zeit auf Grund gesonderter Doku- Die Frage von Geggel, ob das Studio Rostock in mente beschlossen wird.«32 Vergeblich, wie den nächsten Jahren neben dem zentralen Pro- heute klar ist: Wegen mangelnder Mittel wurde gramm eine Stunde eigenes Programm haben nicht nur der Aufbau von Regionalstudios ad werde, beantwortete Adameck abschlägig. Auch acta gelegt, sondern auch die Vorbereitungen zu für Leipzig sah er diesbezüglich frühestens für einem zweiten Fernsehprogramm abgebrochen, 1975 eine Perspektive, zog er doch den Ausbau weil es spätestens seit dem Mauerbau mit sei- des ersten und zweiten Programms vor.29 Den nem vorgesehenen »Deutschlandsender-Cha- hochfliegenden Plänen standen also ernsthafte rakter« seine Funktion als Propagandakanal für Schwierigkeiten entgegen, die der Pragmatiker Kultur und Lebensweise der DDR verloren hatte. Adameck offenbar klar erkannt hatte. Mit anderer Konzeption ging das 2. Fernsehpro- Am 15. Juni 1959 fand in der Staatlichen gramm erst zum 20. Jahrestag der DDR 1969 Plankommission, Abteilung Transport- und auf Sendung Nachrichtenwesen, eine zweistündige »Bespre- Das Projekt eines Leipziger Fernseh- und chung betr. Einführung eines 2. Fernsehpro- Rundfunkstudios wurde mit dem Abbruch des gramms« unter Beteiligung hochrangiger Funk- zweiten Fünfjahrplanes durch den Beschluss der tionäre aus dem ZK der SED, den Ministerien, Volkskammer über den Siebenjahrplan 1959- dem Staatlichen Rundfunkkomitee und dem 1965 aufgegeben. Es ging, wesentlich reduziert Deutschen Fernsehfunk statt. Es ging wieder, und unter Beibehaltung des zentralistischen wie schon zu Beginn der Fernseharbeit in der Charakters des DDR-Fernsehens mit Standort in DDR, um die Sicherung der dafür vorgesehenen der DDR-Hauptstadt Berlin, in der in den 60er Frequenzen: »Über die Notwendigkeit einer Jahren geschaffenen Regionaleinrichtung des 30 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

DFF-Studio Halle auf. Das Ostseestudio Rostock BRD, vor allem nach der Großen Koalition zwi- blieb ein Provisorium, die Studios Dresden und schen CDU und SPD, durch die die Sozialdemo- Karl-Marx-Stadt blieben im Embryonalstadium kratie als »potentieller Bündnispartner« der SED ausfiel, im Zuge einer grundsätzlichen Revision stecken und steuerten lediglich einzelne Sen- der Deutschlandpoltik der SED-Führung aufgege- dungen aus öffentlichen Veranstaltungssälen für ben. die republikweiten Programme bei. 14 BA Berlin DR 6/655, S. 2.

15 »Diese Nebenstelle wird die Übertragung einzel- Anmerkungen ner Musik- und Unterhaltungsprogramme und ei- nige Filmproduktionen (angenommen werden vier 45-Minutenproduktionen im Jahr), die mit künstle- 1 Bundesarchiv (BA) Berlin DR 8-3, S. 42. rischen Kräften aus dem Leipziger Bereich ge- 2 Ebd., S. 42f. staltet werden, betreuen. Stärke dieser Redaktion: 10 Mitarbeiter.« Ebd., S. 3. 3 In den beginnenden 60er Jahren sowohl durch die 16 DDR als auch von bundesdeutschen Stellen ver- Ebd., S. 5. breitete graphische Darstellungen, die eine 17 Ebd. S. 12f. Reichweite der DDR-Sendeanlagen bis in den Raum um Frankfurt am Main oder bis tief nach 18 Ebd., S. 33. Niedersachsen hinein behaupten, sind der Propa- ganda des Kalten Krieges geschuldet: einerseits 19 Ebd., S. 33. als Erfolgsbericht, anderseits als Warnung vor der Gefahr »kommunistischer Infiltration«. Mit der 20 Ebd., S. 33. zeitgenössischen Realität haben sie nichts zu tun. 21 Ebd., S. 16. 4 Vgl. Knut Hickethier (unter Mitarbeit von Peter 22 Hoff): Geschichte des deutschen Fernsehens. Ebd., S. 3. Stuttgart/Weimar 1998, S. 183ff. 23 Am Donnerstag wurden auch publizistisch- 5 Vgl. Heide Riedel: Hörfunk und Fernsehen in der dramatische Mischformen wie die »Szenischen DDR. Funktion, Struktur und Programm des Fragestellungen« gesendet, in denen gesell- Rundfunks in der DDR. Berlin/Köln 1977, S. 38. schaftliche Problemfälle szenisch dargestellt und im Anschluss an die Ausstrahlung dieser szeni- 6 BA Berlin DR 6/655. schen Darstellung von Experten live im Studio diskutiert wurden. 7 Ebd., S. III. 24 Protokoll über die Besprechung betr. Perspektiven 8 Vgl. Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei der Rundfunk- und Fernsehstudios in der DDR bis Deutschlands 1978, Kapitel 7 und 8, S. 325-419. 1965, 22.4.1959. BA Berlin DR 6/655, S. 2.

9 BA Berlin DR 6/655, S. 2. 25 Ebd.

10 Erst im »Perspektivplan des Deutschen Fernseh- 26 Vgl. ebd. funks« für die Jahre von 1959 bis 1965 werden dieser Programmsparte ab 1960 zwei wöchentli- 27 Ebd. che Sendestunden eingeräumt, die dann aller- 28 dings bis 1965 auf zehn Wochenstunden einer Ebd. »Fernsehvolkshochschule« einschließlich eines 29 Vgl. ebd., S. 20f. »Schulfernsehens« gesteigert werden sollten. Bis 1965 sollte »geprüft« werden, »ob ein eigenes 30 Besprechung betr. Einführung eines 2. Fernseh- Fernsehstudio in einer vorbildlichen Schule einzu- programms, 15.6.1959. BA Berlin DR 6/655, S. 1. richten ist, in der die Sendetätigkeit auf dem Ge- biet der Volksbildung mit der Praxis der Schule 31 Ebd., S. 3. selbst verbunden werden kann«. Ebd., S. 7. 32 Ebd., S. 8. 11 Ebd., S. 10.

12 Siehe Hickethier: Geschichte (wie Anm. 4), S. 282f.

13 Das Sendeschema des DFF von 1959 räumte dem »Telestudio West« am späten Samstag- abend nach 22.00 Uhr bei offenem Ende eine zweite Sendezeit ein. Nur wenig später begannen die Planungsarbeiten für ein 2. Programm des DDR-Fernsehens als »Deutschlandfernsehen« (in Analogie zum Hörfunksender »Deutschlandfunk«) mit dem Ziel, vornehmlich für Zuschauer in der Bundesrepublik zu senden. Der damalige Plan wurde nach politischen Veränderungen in der Helmut Schanze

»Schwarze Bildschirme«? Konsequenzen der Digitalisierung für die Europäische Fernsehkultur*

Diesen Titel meine ich, in allen seinen Teilen, rechtliche, und damit verbunden, ökonomische sehr konkret. Vielleicht ist er sogar provozierend. Gründe. Die Logik, die im Jahr 2000 auf den Ich beginne mit einem kleinen Experiment. Ge- Münchner Medientagen von Martin Dummer- setzt den Fall, Sie sind im Besitz einer Satelli- muth – er ist Vizedirektor des schweizerischen tenanlage mit Digitaldekoder. Zur Zeit verfügen Bundesamtes für Kommunikation – vorgetragen darüber etwa 4 Prozent der Fernsehzuschauer. wurde, und der der österreichische Staatsse- 2010 wird dies der Normalfall sein. Aus den im kretär Franz Morak, damals noch voller Hoff- Elektronischen Programmführer, dem »EPG«, nung auf künftige Änderungen, zustimmen den man auch »EPF« nennen könnte, angebo- musste, ist die Folgende: Da es nunmehr tech- tenen Sendungen, die derzeit laufen, wählen Sie nisch möglich sei, das Territorialprinzip des Li- eine Ihnen besonders interessant erscheinende zenz- und Urheberrechts durchzusetzen, müsse aus. Nicht selten werden Sie dann auf die Mel- man sich wohl oder übel zur Maßnahme der Ab- dung stoßen: »Programm nicht verfügbar«. schaltung für fremde Ohren und Augen ent- Nach wenigen Augenblicken erscheint der schließen. Schließlich sei man ein kleines Land, »Schwarze Bildschirm«. Gleichwohl wird Ihnen, nicht so reich wie die Deutschen, die Rechte für auf entsprechende Anforderung hin, in Form ei- Europa erwerben könnten, sondern eben nur für ner Schrifttafel, ein Text zur Sendung mitgeteilt. die kleine Schweiz, für das kleine Österreich, für »Programm nicht verfügbar« – Diese Mel- die kleinen Niederlande. Deshalb müsse man dung haben Sie beim Kauf Ihres »freien« Deko- die Smart Card und den Conditional Access ders bzw. Ihrer Set Top Box für »Free TV« einführen. Die Nutzer hätten die entsprechenden durchaus in Rechnung gestellt. Von den etwa CA-Module – auf ihre Kosten – ja bereits einge- 1 000 Fernsehangeboten, die heute über Satellit baut in ihren Dekodern. Mehrkosten entstünden verbreitet werden, sind mehr als die Hälfte ver- nur durch die Ausgabe der Smart Cards an die schlüsselt. Sie sind nur von den Abonnenten der »Landeskinder«. entsprechenden Buketts, also als »Bezahlfern- Diese kleine Geschichte, die wie eine Kari- sehen« zu empfangen. Wer nicht den Dekoder, katur auf europäische Verhältnisse wirken muss, den Schlüssel oder die Karte von »Premiere« ist keine Fiktion. Was technisch möglich ist, oder »Canal Plus« in allen Sprachvarianten muss auch in der Praxis angewandt werden. So kauft, der sollte sich auch nicht darüber be- könnte die Maxime lauten. Niemand wird be- schweren, dass er die nicht bezahlten Sendun- zweifeln, dass es mit der Sache seine Richtigkeit gen auch nicht empfangen kann. Das alte hat und dass alles mit rechten Dingen zugeht. Schwarzsehen ist nur für Hacker möglich. Und Ich gestatte mir, mit Lessing, dem Hamburgi- ich gehe davon aus, dass Sie mir diese Absicht schen Dramaturgen, zu sagen: Ich bin dieser nicht unterstellen. Sie sehen in mir einen beken- Niemand. nenden Free-TV-Nutzer. Mein Petitum ist es, die mögliche und, wie ich Was aber, wenn, wie seit dem 1. Oktober meine, auch durch alle höchsten europäischen 2000, auch ein unverschlüsselter Kanal, ORF 1 Werte geforderte mediale Vielfalt, im Sinne ei- nämlich, auf Schwarz bzw. »Nicht verfügbar« nes europäischen Kulturfernsehens als reale schaltet, wenn man die Sendungen der SRG nur Utopie zu erhalten. Man kann sich nicht auf der in der Schweiz, die der Niederlande nur in den einen Seite für ein »Fernsehen als Kulturgut« Niederlanden empfangen kann, andere nur im einsetzen und auf der anderen Seite aus Grün- Vereinigten Königreich und Irland oder nur in den, die man dem Kommissar (nicht dem von Frankreich, nur in Spanien – abgesehen davon, nebenan oder im Fernsehen, sondern dem aus dass im früheren Ostblock überwiegend auf Brüssel) unterstellt, nur die Landeskinder mit der »Bezahlfernsehen« umgestellt worden ist. Euro- eigenen Musik und den eigenen Bildern versor- pa spaltet sich gegenwärtig fernsehtechnisch gen. auf. Dies ist eine Feststellung. Wo es noch so- Um die medialen Möglichkeiten der gegen- genannte Überreichweiten gab, werden diese wärtigen europäischen Fernsehvielfalt auch nur nun mit Hilfe der Digitaltechnik konsequent ab- am Rande anzudeuten, möchte ich im ersten gestellt. Teil meines Vortrags kurz eine Übersicht über Was ist der Grund für diese ärgerliche und die europäischen digitalen Programmangebote unvorhersehbare Konsequenz der Digitalisie- geben, im zweiten möchte ich auf die für die rung? Die Antwort ist einfach: Das alles hat »Schwarzen Bildschirme« verantwortlichen »Zu- 32 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

gangssysteme« und deren Möglichkeiten – und aus dem Urlaubsausland kommt ein deutsch- deren Grenzen – eingehen. Zum Schluss wer- sprachiges Fernsehen der Kanarischen Inseln den einige Folgerungen stehen. hinzu. Die europäischen Nachbarn dagegen sind vergleichsweise »ausgedünnt«. Die Niederlande Statusbericht haben einen Kanal, die Belgier ebenfalls einen frei zugänglichen. Die Franzosen bieten ihren Was ist also der »Status« (vielleicht auch schon Parlamentskanal, LCP-AN, an, daneben La Cinq der status quo ante)? Die folgende Übersicht – und ARTE. geht auf Erhebungen zurück, die das Projekt Großbritannien ist mit Sky, aber nicht mit »Interaktive Mediennutzung« im Siegener Son- BBC vertreten. Die nordischen Länder fallen aus; derforschungsbereichs »Bildschirmmedien« vor- Polen hat einen Kanal auf ASTRA, Tschechien genommen hat. Kai Peter Keusen hatte zusam- und die Slowakei sind nicht vertreten, Österreich men mit Zypora Kupferberg vor zwei Jahren eine ist mit TV1 und den Ablegern von RTL, Sat1, Pro Übersicht über die europäische Fernsehland- Sieben und Kabel 1, aber nicht ORF 1 und 2 , schaft für den dritten Band der Projektpublikation präsent. Für die Schweiz senden RTL, SAT.1 mit dem Sammeltitel »Interaktive Medien und und Pro Sieben, SF1 ist Pay TV, Italien ist mit ihre Nutzer« erstellt. Als der Band endlich in den RAI Uno und ALICE, Spanien mit einem Kanal Druck gehen sollte, stellte sich heraus, dass die- für Andalusien vertreten. Unter einen erweiterten se Übersicht, wegen der allbekannten Dynamik Kulturbegriff wird man die Shopping-Känale oder des Medienmarkts, gründlich veraltet war. Ich die »Motors«/»Moteurs«-Kanäle fassen können. hoffe nun, dass die »Letztfassung«, die, nicht Eine entsprechende Übersicht ließe sich übri- zuletzt wegen des Rückwärtsgangs in 2000 auch gens auch für EUTELSAT erstellen; sie ergibt nicht die letzte sein wird, in diesen Tagen fertig- den schon genannten zusätzlichen Schwerpunkt gestellt werden kann. Vorderhand beziehe ich auf Nahost. Ich möchte Sie nicht mit weiteren mich auf Daten zum »Digitalen Fernsehen«, auf Zahlen, überwiegend eine technische Verdopp- die Angebote bei ASTRA und bei EUTELSAT lung des Angebots, langweilen. und auf die täglichen Informationen durch die Das Angebot an »Europäischem Fernsehen« entsprechende Elektronischen Programmführer. für ganz Europa ist reich wie nie zuvor. Es gibt Aufstellungen sind für alle im Internet verfügbar. »Generelle Unterhaltung« oder »Vollprogram- Ich muss Sie in der Folge mit einigen Zahlen me«, Nachrichtenkanäle, Sportkanäle, Kinder- belästigen. ASTRA bietet 620 Digitalkanäle, da- kanäle, Automobilkanäle, Promotionskanäle, von 148 im sogenannten Free-TV, d. h. ohne Shoppingkanäle, Religiöse Kanäle, Kulturkanäle, Verschlüsselung. Davon sind 93 in der gesam- Musikkanäle usw., usf., alles das, was der un- ten Ausleuchtzone der ASTRA-Satelliten frei scharfe Begriff des »Spartenkanals« fassen empfangbar, 55 dagegen nur in bestimmten kann. Die europäische Sprachenvielfalt ist weit- Ländern Europas nach der erwähnten Regionali- gehend abgebildet, mit Schwerpunkt Deutsch sierungstechnik. Zwei sind nur in Österreich, 20 (aus Deutschland), Englisch, mit Abstand Fran- nur in der Tschechischen Republik mit deut- zösisch. Die Tendenz aber ist, was Free-TV an- schen, italienischen und letzeburgischen Ange- betrifft, abnehmend. boten, 33 in Frankreich, mit polnischen, portu- giesischen, spanischen, walisischen, niederlän- dischen und englischen Angeboten empfangbar. Metamedien Dazu kommen die etwa 500 »Plattformen« auf Eutelsat, mit Schwerpunkt auf Nahost, darunter Vielfalt erfordert Orientierung. Das böse Wort ca. 50 im Free-TV. Fernsehen ist heute nicht von der Informationsflut geht um. Fernsehen ist mehr nur das Fenster zur Welt, sondern für vie- nicht mehr das »Forum«, auf dem sich alle tref- le, was sie an den großen Schüsseln sehen fen, sondern eine große Bibliothek. Horace können, das Fenster zur Heimat. Newcomb, der amerikanische Fernsehhistoriker Im Rahmen dieser Angebote fällt zunächst, und Kommunikationswissenschaftler, hat im was positiv zu vermerken ist, die »deutsche« September 2000 auf der Abschlusstagung des Vielfalt an Free-TV auf. Empfangbar ist nicht nur sfb 240 »Bildschirmmedien« dieses Bild als das gesamte Angebot der ersten, zweiten und Leitmetapher des »Neuen Fernsehens« vorge- dritten Programme, die »Bouquets« von ARD schlagen. »Post-Television. From Forum to Li- und ZDF mit Zusatzprogrammen (die EPGs sind brary« hieß der Titel seines Vortrags. Die Bi- übrigens nicht mit allen Dekodern zu empfan- bliothek hat ihre klassischen Orientierungsmittel: gen), sondern auch alle werbefinanzierten Pro- die Kataloge, die Literatur über die Literatur, das gramme und deren jeweilige »Familien«. Fern- Genrewissen der Leser. Die entscheidende Fra- sehen für das Ausland (Deutsche Welle) und ge ist: Wie wird der Nutzer über das Angebot an Schanze: »Schwarze Bildschirme«? 33

»European Media Content« informiert? Ent- verpflichtet. Ihm wird eine persönliche Rechnung scheidend aus Sicht des Nutzers sind die jewei- ausgestellt, auch wenn dies ein massenhaft vor- ligen Oberflächen. Sie fungieren als die differen- kommender Vorgang ist. Fernsehen wird indivi- zierten Zugangssysteme zum neukonfigurierten dualisiert. Das klassische Fernsehen als Mas- Medienensemble. Hier hatte die Technik das er- senmedium, an alle, für alle, muss neu erfunden ste Wort. Trotz aller Versprechungen in Bezug werden, auch wenn dabei auf vertraute Formen auf Nutzerfreundlichkeit: man muss schon einen der Nutzung von Massenmedien, wie auf den Kurs in Digitalfernsehen nehmen. Eine Fülle Kauf am Kiosk oder auf die Atmosphäre von neuer Fachausdrücke, möglichst in Abkürzung Programmfamilien zurückgegriffen wird. (Universal-LNB, CA, EPG usw.), sind erst einmal Zur Lösung des Problems »Qualitative Diffe- zu lernen. Vielleicht soll man sie gar nicht ver- renzierung versus technische Konvergenz« wer- stehen. den Hard- wie Softwareprodukte, von Satelliten- Die »Konvergenz« lässt den Fernseher zum und Kabelsystemen bis zu Navigatoren und »Multimedia-Terminal« werden. Fernsehen und eben die »Electronic Program Guides« (EPGs) Internet sollen verschmelzen und möglichst noch angeboten. Über das primäre Fernsehangebot mobil werden. Ob dabei aber die für das Internet legen sich mit einer gewissen Selbstverständ- entworfenen Zugangssysteme im Sinne von Uni- lichkeit die schnellen digitalen Orientierungssys- versalwerkzeugen technisch so aufgerüstet wer- teme. Information und Wahl erfolgen unmittelbar den sollten, wie dies in manchen Visionen vor- zeitlich aufeinander. Die Unübersichtlichkeit des getragen wird, steht in Frage. Es dürfte in der Digitalen Fernsehens soll digital aufgelöst wer- Tat nebensächlich sein, ob der Rechner als den. Es entstehen »Metamedien«, die im Blick »desk top computer« unter oder als »set top auf ihre Nutzerorientierung zu prüfen und zu be- box« auf dem Bildschirmgerät zu stehen kommt werten sind. oder ob ein integriertes Gerät vor uns steht. Ob Aus den bisherigen nutzungsbegleitenden der Ausbau der Fernbedienung genüge oder ei- Orientierungsmedien wie den Programmzeit- ne Tastatur zur Verfügung gestellt werden müs- schriften werden Zugangssysteme, die das digi- se, ist mit großem Aufwand als ergonomische tale Fernsehen als strukturiertes Angebot mit Frage diskutiert, aber bisher noch nicht gelöst selektiver Interaktivität vermitteln. Damit sind er- worden. Offen ist auch, ob die EPGs in der hebliche rechtliche wie ökonomische Problem- Technik der Menüführung der Computer der stellungen verbunden. Ich frage: Wer darf digi- 80er Jahre letztlich zu einer befriedigenden Lö- tale Zugangssysteme zur Verfügung stellen, sung für den Nutzer führen können. welche Kosten entstehen dem Nutzer daraus? Die technische und ökonomische Machbar- Über die Qualität der Zugangssysteme ist die keit und die Ergonomie sind nur Voraussetzun- Debatte noch zu führen. Sie bedarf anthropolo- gen für die Akzeptanz der »Neuen Medien«. Of- gischer, psychologischer, sozialwissenschaftli- fen ist die Frage, ob die Verfügung über Tele- cher und ästhetischer Reflexion. Gezielte Aus- kommunikationssysteme als Netze, um die ge- wahl durch den Nutzer erfordert Informationen genwärtig mit hohem finanziellen Aufwand ge- im Rahmen des Kurzzeitgedächtnisses. Dieses kämpft wird, gegenüber der Verfügung über die wiederum ist fundiert im Langzeitgedächtnis, in Inhalte der Netze nach- oder vorrangig sei. Der- seinen Erfahrungen mit Inhalten, Themen, Gen- zeit stehen ökonomische und rechtliche Debat- res, Präsentationsformen usw. Ein Zugriffssys- ten so sehr im Vordergrund des Interesses, dass tem der spontanen Entscheidungen ist immer der »Käufer« oder Nutzer fast in Vergessenheit nur so gut wie das »kulturelle Gedächtnis«, das gerät. Nicht nur in der eingesetzten Metaphorik in es »eingeschrieben« ist. Gibt es, was die des Kampfes und in den mythischen Rückbezü- Kommissare verhüten möchten, im Zugangssys- gen der Auseinandersetzungen deutet sich ein tem keine Rubrik »Krimi«, gibt es auch keinen ästhetisch-pragmatischer Hintergrund der Ent- Krimi mehr. wicklung an, der in der Tat doch einer genauen Digitale Zugangssysteme sind, und hier liegt und kritischen Bearbeitung bedarf. meines Erachtens das gegenwärtige Problem, Werden die Zahl der Kanäle und die interak- im höchsten Maße sensibel. Schlecht konzipierte tiven Möglichkeiten erweitert, im Sinn etwa einer Zugangssysteme sind Informations- und Kom- Entwicklung zum »Near Video On Demand« munikationsverhinderer. Offen ist, ob eine grobe (NVOD) oder zum »Video On Demand« (VOD), Rubrikenbildung, wie sie in den gegenwärtigen zu einem Bestell- oder Kioskfernsehen, zu einer EPGs angeboten wird, wirklich eine gezielte Nut- Bibliothek, so wird daraus der Sprung von einer zung ermöglicht. Oft hat man den Eindruck, dass quantitativen zu einer qualitativen Unübersicht- der Weg der ersten Kuh weitergegangen wird. lichkeit. Nun ist der Nutzer nicht mehr anonym, Die Frage nach einem konditionierten bzw. sondern mit seiner Adresse, wie im Internet, be- proprietären Zugang zu Medien im allgemeinen, kannt. Wer einen Film bestellt, ist zur Zahlung zum interaktiven Fernsehen im besonderen, ist 34 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

eine in keiner Hinsicht nebensächliche. Zu fra- die europäische Vielfalt garantieren und erhal- gen ist nach dem Leistungsumfang der Zu- ten, die als hoher Wert einer europäischen Kom- gangssysteme im Blick auf ihren Informations- munikationsgemeinschaft gelten kann, auf der gehalt, ihre Navigationsmöglichkeiten und die anderen Seite aber auch die Rede von der »In- Form, in der sie Selektionen durch den Nutzer formationsflut« begrenzen. Metamedien, ver- unterstützen. Gibt es eingebaute Zugangskon- standen als Zugangs- und Orientierungsmittel, trollen, werden mögliche Inhalte ausgeblendet, erfüllen nicht nur eine ökonomische und techni- werden durch Bouquetbildung bereits Bewertun- sche Funktion, sie haben – nicht zuletzt in einem gen vorgenommen und liegen diese im Interesse zunehmend auf Information und Kommunikation des Nutzers? Soll es, angesichts der techni- angewiesenen Europa der Multikulturalität – eine schen Konvergenz, nur ein standardisiertes Zu- integrierende kulturelle Funktion. Das, was mit gangssystem geben, mit diskriminierungsfreiem der Vokabel des »konditionierten Zugangs« (CA) Zugang für alle Anbieter? Kann es hier nur um als rein ökonomische und rechtliche Frage an- die Interessen der Anbieter gehen? Wird bei ei- gesprochen ist, erweist sich für alle öffentlich- nem solchen Quasi-Monopol das Nutzerinteres- rechtlichen Anbieter als Herausforderung. Im se angemessen berücksichtigt, das ja im Vor- magischen Pentagramm, den fünf Dimensionen dergrund der Funktion, die das »Neue Medium« des Handelns in den Medien – Politik, Recht, hat, stehen soll? Ökonomie, Ethik und Kultur – darf die definie- Die Suchmaschinen für das Internet haben rende Dimension des Fernsehens als Kulturgut sich längst ausdifferenziert und erfüllen nur in kaum vernachlässigt werden. ihrer Summe den gewünschten Zweck. Dass der (nur dem Anschein nach) hart verdrahtete Zu- gang über eine Box das letzte Wort sein sollte, Folgerungen und Schluss ist noch keineswegs ausgemacht. Warum, so kann man technisch fragen, lässt sich auf einer Welche Folgerungen sind zu ziehen? Drei soge- »set top box« (dem dedizierten Zugangsgerät) nannten Szenarien sind nach meiner Ansicht nicht mehr als ein Zugriffssystem laden? Ich se- denkbar. Das erste Szenario ist nur scheinbar he dafür keinen technischen Grund. Wer aber das konsequenteste. Der Tendenz nach wird es hat ein Interesse an einer Monopolisierung? Ist von der Kommission der Europäischen Union die Installation eines zuverlässigen und einheitli- vertreten. In ihm hört das öffentlich-rechtliche chen Abrechnungssystems für den Nutzer wirk- Fernsehen endlich auf, ein solches zu sein. Der lich die zentrale Frage? Umgekehrt, gerade weil freie Markt der Medienanbieter wird, wie andern- die Zugangssysteme sensible Ware sind: Wer orts auch, installiert. Fernsehen wird zum Gut verantwortet und finanziert ihre Programmie- wie jedes andere auch. Ob damit die Fernseh- rung? Kann man auch hier auf Wettbewerb und kultur stirbt, steht auf einem anderen Blatt. Bannerfinanzierung analog zur Praxis der Theodor W. Adorno, der mit seinem »Prolog Suchmaschinen und Portale im Internet setzen? zum Fernsehen« von 1954 seine Verdienste Aus den Konzepten und Erfahrungen mit den nicht zuletzt im Feld einer in Erfahrung begrün- Zugangssystemen zum Internet und den Grund- deten Theorie eines Fernsehens als Public Ser- prinzipien der »Digitalen Plattform«, auf denen vice hat, würde sagen: »Und das könnte den die »Neuen Medien« basieren, lassen sich Ein- Herren so passen.« sichten in deren Struktur ableiten, die auch in Szenario zwei, das ich selber für den »worst technischer, ökonomischer und rechtlicher Hin- case« halte: Alle Landes- und Staatssender sicht wiederum zu Konsequenzen führen müs- senden nur noch – weil das ja jetzt technisch sen. möglich ist – nur noch für ihre »Landeskinder«. Was ergibt sich als Resümee aus diesen Bei der fortschreitenden Regionalisierung – ich Überlegungen? Die Statistik hat gezeigt: Die möchte ausdrücklich kein anderes Wort gebrau- »Digitalisierung«, schon jene mit analogen Mittel chen – wird es auch eine durchgehende Regio- der Satellitentechnik der 80er Jahre, nun mit der nalisierung des Fernsehens geben. Es wird, in Digitaltechnik, ist mit der Folge einer immer un- einem strikten Sinn, zum Nahsehen. Beispiele übersichtlicher werdenden Angebotsvielfalt weit fallen Ihnen sicher sofort ein. Jedes Beispiel, fortgeschritten. 38 empfangbare Kanäle schie- welches ich nenne, wird ein falsches sein. Sage nen unübersichtlich genug. Die Zahl von 500, ja ich also: Anhaltiner erhalten nur noch anhaltini- 1 000 Kanälen aber ist nicht mehr utopisch, son- sches Fernsehen. Europa und europäische dern Realität. Auch wenn man nur in sprachlich Identität sind passé. bestimmten Teilmärkten das Fernsehangebot Szenario drei, für das ich hier werben möch- verfolgen will, ist ein Orientierungsmittel nötig. te: Eine neue EBU, die Europäische Fernseh- Die EPGs bieten sich als Lösung an. Deren in- union oder ihre digitale Nachfolgeorganisation, telligente Konstruktion kann auf der einen Seite erklärt nicht nur das Fernsehen zur europäi- Schanze: »Schwarze Bildschirme«? 35

schen Angelegenheit und tauscht gelegentlich Europa angesehen werden. Eine bloße Vermeh- Großveranstaltungen aus, sondern sie macht rung der Titel ohne Bilder, der schwarzen Bild- aus dem Fernsehen eine Veranstaltung der eu- schirme, allerdings trägt zu Bildung, Information ropäischen Vielfalt und einen Motor der europäi- und Unterhaltung in Europa kaum bei. schen Identität. Sie garantiert, in Form eines Schengener Abkommens für die Fernsehkultur, die Freizügigkeit der europäischen Mediennut- Anmerkungen zer. Rechtliche und ökonomische Fragen sollten, bei aller Bedeutung, dabei nicht letztentschei- * Vortrag auf der Jahrestagung des Studienkreises dend sein. Die Gebühren müssen nicht unbe- Rundfunk und Geschichte am 31.3.2001 in Hal- dingt steigen, wenn die mit der Digitalisierung le/Saale. verbundenen erheblichen Rationalisierungsge- winne, die sinkenden Distributionskosten, den Inhalten zugute kämen. Da mit Sicherheit das Letzeburgische Fernsehen, das RTL und ASTRA aus Betzdorf bei Luxemburg in seinem Promotionskanal anbieten, nur von wenigen Mo- sel- und Rheinländern, also von Angehörigen des einstigen (revolutionären) Departements Fo- réts, vielleicht noch von einigen aus den Depar- tements Rhin et Moselle, Mont Tonnère und Roer gesehen wird, dürften die Rechteinhaber hier einem geringeren Satz bei den zu führenden Verhandlungen über Fußballrechte zustimmen, besonders dann, wenn die Verhandlungen von Mainz (Departement Donnersberg) aus geführt werden. Unterstützung vom Mainzer Lerchen- berg, aus Straßburg, aus Baden-Baden, aus Köln und aus Düsseldorf sollte sicher sein.

Was sollen diese unwissenschaftlichen Anmer- kungen und die im ehemals preußischen Sach- sen-Anhalt unverständlichen Anspielungen auf die französische Vergangenheit der ehemals preußischen Rheinlande? Europa existiert bei den kommerziellen Vertreibern der Smart cards offensichtlich nur solange, wie ganz Europa die gleiche Hardware benutzt. Dann aber regiert der Conditional Access, die Individualisierung des Fernsehens bis hin zur Selbstdarstellung im ei- genen »Me Channel«. Wohin dies auf Dauer führt, können wir bereits täglich sehen und hö- ren. Ich fasse zusammen. Zwar wird es auch in Zukunft »schwarze Bildschirme« geben – sonst hätte das Bezahlfernsehen keine Chance auf ein Return of Investment. Auf der anderen Seite sollte das sogenannte »Free-TV« als eine An- gelegenheit der europäischen kulturellen Vielfalt und damit der europäischen Identität betrachtet werden. Zwischen beiden können die Zugangs- systeme, die digitalen Orientierungssysteme, die »Metamedien« vermitteln. Wie auch gelegentlich das »Bezahlfernsehen« unverschlüsselt sendet, als Promotion für die eigene »Welt«, so können auch die künftig sicher noch deutlich weiterent- wickelten Hinweise der elektronischen Pro- grammführer als Appetitanreger, »Teaser« oder Appetizer für eine differenzierte Medienkultur in Georg Maas

»Integrieren statt Versparten« Die Rundfunkanstalten auf dem Weg in das Multimedia-Zeitalter*

Wir Medienschaffende sind in unserer täglichen neue TV-Programme zu liefern, sondern auch Arbeit stets Teil von Geschichte, gestalten und »Video on demand«, schnelle Internetzugänge konstruieren sie bisweilen sogar – allzu häufig, und Telefonie anzubieten. In Japan und Groß- ohne uns dessen bewusst zu sein. Als Chroni- britannien hat der Konzern das bereits vorge- sten der drei Zeiten erstatten wir jeden Tag Be- macht. In den Regionen, in denen Liberty Media richt über Vergangenheit und Gegenwart sowie die Kabelgesellschaften übernommen hat, sind über unsere Ideen von Zukunft. Meist belassen zehn Millionen Hauhalte an die Leitungen ange- wir es dabei, uns mit inhaltlichen Anforderungen schlossen. Das entspricht einem bundesweiten und Entwicklungen zu befassen und lassen da- Marktanteil von etwa 60 Prozent. bei außer Acht, dass wir strukturellen Verände- rungen relativ wenig Aufmerksamkeit schenken. Das ist insofern erstaunlich, als wir mittendrin Reaktionen auf die stecken und ganz unmittelbar Teil eines grund- veränderte Medienwelt legenden Veränderungsprozesses sind. Ohne dass wir uns tatsächlich darüber im Klaren sind, Rundfunkanstalten wie der Mitteldeutsche schreiben wir Angehörige der Medienbranche Rundfunk (MDR) sind also gezwungen, sich auf gerade selbst Geschichte, denn das, was sich die Veränderungen der Medienwelt einzustellen derzeit an strukturellen Veränderungen abzeich- und zu lernen, wie sie vor dem Hintergrund von net, passiert nur ein einziges Mal für den Zeit- zuweilen bedrohlich empfunden Begriffe wie Di- raum einer Journalistengeneration. gitalisierung, Interaktivität und Konvergenz mit Wir berichten darüber, ohne zu merken, dass ihren althergebrachten Programmen umgehen. wir es ja sind, über deren Wandlungsprozess wir Allzu häufig beschränken wir uns in unseren reportieren. Digitale Welt, Interaktivität, Konver- Überlegungen darauf, wie inhaltlichen Anforde- genz – das sind die Zauberwörter, mit denen wir rungen zu begegnen ist. Das ist zwar ebenfalls die Medienwelt der Zukunft skizzieren und erklä- von sehr großer Bedeutung, aber dennoch zu- ren. Viele Start-up-Firmen haben sich nicht ohne nächst zweitrangig. Inhalt, Content, wie es heute Grund auf die Ausarbeitung und Entwicklung in der Fachsprache heißt, wird immer massen- dessen gestürzt, was jene verheißungsvollen haft zur Verfügung stehen. Begrifflichkeiten an neuen Möglichkeiten ver- Wenn wir effektive Voraussetzungen schaf- sprachen. Sie mussten schmerzhaft feststellen, fen wollen, müssen wir uns zunächst auf Orga- dass ihre Begeisterung und ihr Engagement in- nisationsstrukturen konzentrieren sowie auf die sofern verfrüht waren, als dass die Märkte ein- Aus- und Weiterbildung unserer Mitarbeiter. An- fach noch nicht geschaffen waren und die Be- schließend kümmern wir uns mit derselben Auf- gehrlichkeiten auf Rezipientenseite sich noch merksamkeit um die Gestaltung unserer künfti- nicht ausreichend hatten entwickeln können. gen Inhalte und die Besonderheiten einzelner Aber die vorübergehend in Konkurs gegangenen Angebote. Da öffentlich-rechtliche Sendeanstal- Ideen sind noch immer frisch und haben an At- ten ihre Produkte bislang noch über verschiede- traktivität nichts eingebüßt. Die Konzepte von ne Wege verbreiten, eines vorneweg: Der MDR damals dürfen also nicht auf Eis gelegt werden, setzt bei diesem Entwicklungsprozess auf Inte- sie bedürfen bloß einer besonneneren Umset- gration statt auf Verspartung. Schließlich stehen zung. alle Redaktionen, ob für Hörfunk, Fernsehen Und was hat das Ganze mit dem öffentlich- oder Internet, vor der gleichen Herausforderung. rechtlichen Rundfunk in Deutschland zu tun? Die Die Ursache für den Wandel ist die Digitali- Antwort darauf ist ebenso simpel wie alarmie- sierung. Nunmehr treten Bits als kleinste rele- rend: Mit unserer Wachsamkeit und Reaktion vante Einheit an die Stelle von Atomen. Sie sind auf die digitalen Entwicklungen um uns herum keine solide, stabile Materie, sondern begegnen steht und fällt die Legitimität unseres öffentlich- uns als bewegliche, veränderliche Einheiten: in rechtlichen Medienschaffens. Form von Musik, Bild, Film oder Text – auf jeden Spätestens durch den Erwerb von TV- Fall stets als Information. Das hat zur Folge, Kabelnetzen durch Liberty Media ist allerhöchste dass sich die Rolle des Empfängers wandelt. Aufmerksamkeit geboten. Die US-Firma hat die Seine Rezeption muss nicht mehr durch passive, Absicht, die Netze auf Breitbandniveau auszu- anteilslose Hinnahme von Programminhalten bauen, was ihr erlaubte, ihren Kunden nicht nur Maas: »Integrieren statt Versparten« 37

gekennzeichnet sein. Er übernimmt eigenständig Die für die Verbreitung nötigen Übertra- die Kontrolle über jene Informationen, die ihm gungsnetze müssen nicht im Besitz der Produ- geliefert werden bzw. die er geliefert haben zenten sein. Die öffentlich-rechtlichen Anbieter möchte. konzentrieren sich auf das, was sie am besten Heutige Fernsehgeräte erlauben ihrem Nut- können: Inhalte, die der Information, der Bildung, zer die Kontrolle über Helligkeit, Lautstärke, Ka- der Unterhaltung dienen. Sie müssen aber dafür nal. Die Geräte von morgen geben ihm die Mög- sorgen, dass sie jederzeit Zugriff auf die Ver- lichkeit, über den Umfang von Comedy oder triebswege haben, um ihre Inhalte verbreiten zu Kultur, Bildung oder Boulevard, Sex oder Soap können. Hierfür sind frühzeitige Allianzen not- zu entscheiden, weg von der synchronisierten wendig: Inhalte im Austausch gegen Übertra- Teilnahme, hin zur individuell vom Nutzer defi- gungskapazitäten. Anders ist der Wettbewerb zu nierten Rezeption. Die Entscheidung, was Infor- Konkurrenten, die sowohl als Inhalte-Anbieter mationsgehalt hat und sehenswert sein könnte, wie auch als Netzbetreiber zu agieren beabsich- liegt nicht länger bei der Redaktion. Der Emp- tigen, nicht zu bestehen. fänger bestimmt den Nachrichtenwert und wird Wir werden in Zukunft eine größere Zahl von zu seinem eigenen Gatekeeper. digitalen Endgeräten bedienen müssen. Die zu Damit ändert sich auch die Rolle einer erwartende Vielfalt wird sich vorrangig im Be- Rundfunkanstalt. Im analogen Zeitalter trennten reich mobiler Geräte wiederfinden. Eine Rund- wir strikt zwischen den verschiedenen Medien, funkanstalt muss in der Lage sein, alle Geräte bedingt durch Inhalt, Vertrieb und Endgerät: bedienen zu können, mit ihren Inhalten in allen Fernsehbilder wurden über Kabel oder Satellit in Zielmedien vertreten zu sein. Der kommerzielle ein Fernsehgerät übertragen, Radiosignale über Erfolg einzelner Standards ist dabei zunächst Antennen in ein Radiogerät – jedes Medium zweitrangig. Wichtig ist es zunächst, Erfahrun- hatte seinen eigenen Formenkanon. Danach gen zu sammeln, um möglichst flexibel auf die richtete sich auch die Einteilung der einzelnen Entwicklungen der Märkte reagieren zu können. Redaktionen, eine wechselseitige, inhaltliche Das ist von strategischer Bedeutung, um den Beeinflussung gab es kaum. Diese Verspartung Fortbestand öffentlich-rechtlicher Versorgung zu setzte sich fort bis hinauf in die Leitungsebenen. gewährleisten – über die Vertriebswege von ges- Direktionen, Hauptabteilungen, Abteilungen glie- tern hinaus. derten sich eindimensional und waren dafür Was bedeutet die Auflösung der Bedie- perfekt. nungskette Inhalteseite – Vertrieb – Abbildungs- Mit der wachsenden Bedeutung der digitalen seite bereits heute für uns? Texte, Videos, Audi- Verbreitung sind solche Strukturen auf Dauer os, Animationen werden miteinander kombiniert. nicht aufrecht zu erhalten. Das Internet mit sei- Über das gesamte Angebot einer Website – von nem Übertragungsprotokoll und seinen vielfälti- der Homepage über Indexseiten bis hinunter auf gen Möglichkeiten, Inhalte verschiedener Art zu Artikelebene und Hintergründe – lösen einzelne transportieren, hat es uns vorgemacht. Mittels Applikationen wie Text oder Grafik-Animation Datenkompression gab es mit dem Web nämlich wiederum andere Applikationen wie Video oder eine weitere Darstellungsform von Audios und Audio aus. Auf der Basis einer zunächst leeren Videos. Plötzlich trat ein Medium hinzu, dass in HTML-Seite komponieren wir völlig neue An- der Lage war, Teile von Inhalten, die für konven- wendungen in beliebig vielen Kombinationen. tionelle Formate produziert worden waren, zu- Für eine Rundfunkgesellschaft wie den MDR, sätzlich – zeitautonom(!) – abzubilden. Diese der massenhaft über Bewegtbilder und hoch- automatische Integration führt zu einem Para- wertige Ton-Produktionen verfügt, ist dies eine digmenwechsel: Die zu produzierenden Inhalte wunderbare Chance, einmal erworbenen Con- müssen nicht länger für die beabsichtigten End- tent mehrfach zu verwerten, jederzeit verfügbar geräte zurecht gelegt werden, sondern thema- zu machen und eines Tages virtuelle Spartenka- tisch geordnet. Das hat weit reichende Auswir- näle zu entwickeln und zu etablieren. kungen auf Organisationsstrukturen, denn digi- Ein Fernsehabend wird in Zukunft anders tale Medien heben bisherige Grenzen auf. An die aussehen als heute. Wir werden die Wahl haben Stelle von Direktionen, die einzelne Bereiche zwischen Dutzenden von Spartenkanälen für verantworten, treten Inhalteverantwortungen. An Opernliebhaber, Formel-1-Fans oder Hobby- die Stelle von Redaktionen, die bislang aus- gärtner. Die Fernbedienung holt uns dazu ver- schließlich einzelne festgelegte Formate produ- tiefende Zusatzinformationen auf den Bildschirm. ziert haben, treten thematisch gegliederte Re- Literatur, Eintrittskarten, Merchandising-Artikel dakteurspools für Nachrichten, Sport, Unterhal- können noch im gleichen Augenblick online ge- tung usw., die jederzeit jedes beliebige Format ordert werden während man einen Talkshow- bedienen können. Dies gestattet der nunmehr Ausschnitt live per E-Mail kommentiert. Die End- ausschließlich digital erfolgende Vertrieb. geräte der Zukunft – egal ob Fernseher oder an- 38 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

dere Abspielgeräte – sind kleine Alleskönner mit dung der Beschäftigten von digitalen Medien un- Webzugang. verzichtbar. Das Internet ist zu einem gewissen Teil Vor- Damit einher gehen auch konzeptionelle läufer des digitalen Fernsehens. Darauf bereitet Wandlungen. Beispiel Nachrichten: Zunächst sich der MDR bereits heute durch spezifische hatte MDR ONLINE damit begonnen, Schlag- Webproduktionen vor; dazu braucht man Web- zeilen aneinander zu reihen. Heute finden beim redakteure. Ein Hörfunk- oder Fernsehjournalist MDR quantitativ weniger Themen Berücksichti- kann im täglichen Geschäft keinen qualitativ gung – dafür gehen die Meldungen in die Tiefe, hochwertigen Net-Content nebenher produzie- bieten Hintergründe und einen Mehrwert, die ren. dem User ganz zielgerichtet und zweckgebun- Daher hat der MDR sich am Anfang seiner den nutzen. Die Ergebnisse der jüngsten Web-Aktivitäten dafür entschieden, beim Auf- ARD/ZDF-Onlinestudie 2001 beschreiben ein und Ausbau seiner Internetredaktion auf die be- Nutzerverhalten, das die Richtigkeit des Kon- reits bestehende Videotextredaktion aufzuset- zepts bestätigt. zen, da dort Redakteure beschäftigt sind, die als Die Websites der Rundfunkanstalten werden Mitarbeiter eines elektronisch analogen Senders insbesondere dort genutzt, wo speziell aufberei- bereits »Printjournalismus« machen und ihre tete Nachrichten, aktuelle Informationen sowie Erfahrungen entsprechend einbringen können. Ratgeber- und Serviceangebote offeriert werden. Das zeigt, dass strukturelle Anpassungen, die Zudem gibt die Mehrheit der Online-Nutzer an, Neuentwicklungen mit sich bringen, eigentlich sie habe mehr von einer Fernsehsendung, wenn schon seit Jahren im Fluss sind und lediglich sie die Möglichkeit habe, sich im Internet zusätz- konsequent weitergeführt werden müssen. lich vertiefend zu informieren. In Zukunft werden wir in unserer Produktion sukzessive eine weite- re Wandlung vollziehen und uns noch stärker Kreativität der Redakteure Themen zuwenden, die von regionaler Bedeu- tung sind. Online-Journalismus zeichnet sich durch den Die Region, die das für Radio und Fernsehen geschickten Einsatz des Zusammenspiels von angestammte Sendegebiet beschreibt, umfasst Bild, Grafik, Text, Ton, Video und weitere Stil- die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und mittel wie Chats, Foren, Gewinnspiele, Votings Thüringen. Wie der MDR ist auch die Internetre- etc. aus. Obwohl der Redakteur dafür theore- daktion der Rundfunkanstalt auf fünf verschie- tisch unendlich viel Raum zur Verfügung stehen dene Standorte verteilt. Das erfordert ein gut hat – er kennt keine zeitliche Begrenzung für funktionierendes Content-Management. Die seinen Beitrag, auch keinen klassischen Redak- Neuen Medien der Dreiländeranstalt beschäfti- tionsschluss –, so muss er doch das Kunststück gen Mitarbeiter in den Landesfunkhäusern in vollbringen, sich trotz der diversen zur Verfügung Dresden, Erfurt und Magdeburg, wo zuvor aus- stehenden Gestaltungselemente auf das We- schließlich Regionalfernsehen und -hörfunk pro- sentliche zu konzentrieren. Er darf den Nutzer duziert wurden. Hinzu kommen Mitarbeiter in nicht überfordern, muss dessen Blick – das Halle, wo der MDR seine Hörfunkzentrale hat. menschliche Auge scannt am Bildschirm auf ei- Mittendrin sitzt in Leipzig die Kernredaktion, von ner Breite von ca. acht Zentimetern – die Mög- der aus sämtliche Online-Aktivitäten koordiniert lichkeit zur Erfassung und Einordnung geben. werden. Hier werden die Finanzen verwaltet, hier Dazu gehört nicht zuletzt auch ein vernünftiger wird das Umfeld beobachtet und hier werden alle Umgang mit Design und technischer Funktiona- strategischen Entscheidungen getroffen. Dass lität. Sie runden das Angebot ab und haben ei- dezentral produziert wird, ist kein Problem – so- nen großen Anteil am Gelingen eines Webauf- lange ein starkes Kommunikationsnetz vorhan- tritts. den ist. Die Kreativität der Redakteure ist das Kapital Ein solches Netzwerk garantiert, dass die unserer digitalen Medien, deren Halbwertzeit Online-Redakteure unabhängig vom Standort verdammt kurz ist. Online-Journalisten sind jederzeit Zugriff auf verschiedenste Quellen ha- mehr noch als andere Kollegen darin gefordert, ben: Agenturen, Bildarchive, Audiodatenbanken, immer auf der Höhe der Zeit zu sein, damit die Textverzeichnisse, Planungstools, Programm- Entwicklung nicht an ihnen vorbeizieht. Daher ist vorschauen, die schließlich alle im selben Re- eine Website nie ein fertiges, abgeschlossenes daktionssystem verarbeitet werden. Dort werden Produkt. Sie unterliegt ständigen Anpassungen sie je nach Anforderung zusammengesetzt, be- und Verbesserungen, sowohl im Detail als auch arbeitet und in die weite Welt gespielt. Und zwar im Gesamtbild, was durch regelmäßige soge- in jedes mögliche Zielmedium. nannte Relaunches zum Ausdruck kommt. Dies Das Redaktionssystem vereinfacht die Pro- macht übrigens auch eine ständige Weiterbil- duktion auch dadurch, dass es aufwändige Pro- Maas: »Integrieren statt Versparten« 39

grammiertätigkeiten überflüssig macht. So muss beispielsweise kein Redakteur Eingabebefehle in HTML beherrschen, was die Produktion be- schleunigt und kostbare Reaktionszeiten auf aktuelle Ereignisse verkürzt. Entstehung, Bear- beitung und Verbreitung einzelner Inhalte kön- nen räumlich voneinander getrennt sein – es spielt absolut keine Rolle. Wichtig ist nur, dass die Verantwortung an einem Ort zusammenläuft und dort wahrgenommen wird, denn Multimedia berücksichtigt alle Bereiche einer Rundfunkan- stalt und muss strukturübergreifend agieren können. Das ist die Voraussetzung für den ge- meinsamen Erfolg aller Bereiche in der digitalen Medienwelt. Die Digitalisierung der heute bekannten Me- dien vereinheitlicht ihre technischen Formate und führt sie so zusammen. Die einst erzwunge- ne Verspartung verliert ihren Sinn, und an ihre Stelle tritt nicht nur die Integration von Inhalten und Themen – sie geht einher mit der Schaffung neuer Anwendungen, Formate und Dienste. Damit treten Themen in den Vordergrund, die in einem in sich abgestimmten Medienbouquet an den Nutzer transportiert werden. Das ist der ei- gentliche Paradigmenwechel. Der Inhalt be- stimmt künftig den Produktionsprozess, und nicht länger das eindimensionale Endgerät, wel- ches schon bald ausgedient haben wird. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten tuen gut daran, sich auf diese Entwicklung ein- zulassen und sie mitzugestalten. Von der Ent- schlossenheit, mit der sich die Rundfunkanstal- ten diesen Herausforderungen der digitalen Evolution stellen, hängt am Ende ihre Daseins- berechtigung ab. Denn der Auftrag, für Informa- tion, Bildung und Unterhaltung zu sorgen, darf nicht mit dem Auslaufen des analogen Zeitalters enden.

Anmerkungen

* Vortrag auf der Jahrestagung des Studienkreises Rundfunk und Geschichte am 31.3.2001 in Hal- le/Saale. »Es ging ja um nichts weniger als aus einer Ablehnung des Lebens, aus Lebenshass zur Lebensliebe zu kommen«* Interview mit Georg-Stefan Troller

Im Rahmen des Forschungsprojekts »Zeitzeu- schichtlichen Erfahrungen geprägt, wobei in ers- gen-Erinnerungen«1 an der Universität Osna- ter Linie Verfolgung und Exil stets mit hinein- brück fand am 24. Februar 1995 im ZDF-Studio spielen in seine berufliche Existenz. So kommt in Paris ein ungefähr fünfstündiges Interview mit er auch in seinen schriftlichen Erinnerungen im- dem Journalisten Georg-Stefan Troller statt. Es mer wieder auf die Grunderfahrung von Diskri- war wie die meisten der Zeitzeugeninterviews in minierung und Diffamierung zurück, wie er sie seinen Verlaufslinien biographisch angelegt – bei aufgrund seiner jüdischen Herkunft während des Troller liegt dies allerdings besonders nahe. Da- Nationalsozialismus, aber auch in den Jahren bei war von vornherein klar, dass eine auch nur davor in Wien erlebt hat. Troller bringt seine de- annähernd auf Vollständigkeit zielende Rekons- primierenden Jugenderinnerungen mit den spä- truktion seines Lebenslaufs nicht erreichbar sein teren beruflichen (und privaten) Erfahrungen der würde. So wurde versucht, ein Gleichgewicht Nachkriegszeit selbst- und gesellschaftsanaly- herzustellen zwischen seinem journalistischen tisch zusammen. Seine Biographie und seine Werdegang, seinen Ausführungen zur Zeitge- journalistische Arbeit, geprägt von einer dezi- schichte, zur Spezifik der amerikanischen Kultur dierten gradlinigen Haltung und einem erfah- und deren Einfluss auf die alltagskulturelle und rungsbegründeten Skeptizismus, sind Zeugnisse geistige Entwicklung der Bundesrepublik und eines Abschnitts deutscher (und österreichi- eben jenen biographischen Prägungen. Ohne scher) Geschichte im 20. Jahrhundert, die den deren Kenntnis können weder seine Weltan- millionenfachen Mord am europäischen Juden- schauung noch sein journalistisches Selbstver- tum zu verantworten hat. ständnis noch der individualtypische Stil seiner Wolfgang Becker, Osnabrück dokumentarischen Fernseharbeit nachvollzogen werden. Dokument Georg-Stefan Troller wurde 1921 in Wien als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie gebo- Wolfgang Becker (B): Die obligatorische Einstiegsfra- ren. Er emigrierte mit 16 Jahren über Jugoslawi- ge bei uns ist immer eine sehr weitgespannte, die en und Italien nach Paris, verließ Frankreich auch schon so eine Art Resumee verlangt. Wir wür- 1941 und ging in die USA. Im Jahre 1945 kam er den gerne wissen, wie Sie heute aus der Erinnerung als Soldat mit amerikanischem Pass nach Euro- heraus Ihre Prägung durch Kindheit, Jugend, Eltern- pa zurück. Seit 1949 lebt Troller in Paris. Ab haus sehen: In welchem Maße hat Ihre Familie Ihr privates und berufliches Leben, auch Ihr Selbstver- 1952 arbeitete er zunächst als Radioreporter und ständnis, beeinflusst, vorgeprägt? Welchen Stellen- Korrespondent für amerikanische und kanadi- wert hatte die familiäre Sozialisation oder welchen sche Sender, später als Fernsehreporter für würden Sie ihr heute zuschreiben? österreichische und deutsche Programme. Mit Georg-Stefan Troller (T): Ich glaube, dass man den Sendereihen »Pariser Journal« (1962 bis zunächst alles Familiäre ablehnt, um dann nachher 1971 für den WDR) und »Personenbeschrei- herauszufinden, dass man doch sehr viel übernom- bungen« (1972 bis 1984 für das ZDF) hat Troller men hat und geerbt hat von den Eltern und von der Fernsehgeschichte geschrieben. Familie. Ich würde sagen, dass für meine ganze Die Themen seiner Fernsehdokumentationen Kindheit und Jugend die Ablehnung bezeichnend ist. konzentrieren sich auf Personenporträts, die ei- Wir wollten nicht das sein, was die Eltern waren, wir nerseits in ihrer Gesamtheit eine unendliche wollten auch nicht das sein, was die Rolle der Juden Vielfalt individueller Charaktere und Geschichten in Österreich ganz allgemein darstellte. Wir wollten etwas anderes sein. Ich kann mich erinnern an ein widerspiegeln, andererseits geprägt sind von ganz frühes Gedicht, in dem ich schrieb: »Ich bin ein Toleranz und Offenheit gegenüber Minderheiten neuer Mensch, der war noch nie!« Das war für mich und Außenseitern – egal ob es sich dabei um ungeheuer wichtig, nicht in das vorgeprägte Muster das ethnisch oder kulturell, sozial, politisch oder des Vorhandenen zu fallen, diese Revolte gegen die intellektuell Andere handelt. Dieser Vielfalt ent- Umwelt, also gegen die christliche Umwelt und gegen spricht auch – bei aller stilistisch Eigenart – die die jüdische Umwelt, diese doppelte Revolte, war unterschiedliche Art und Weise, in der er sich sehr stark in uns, meinem Bruder und mir, als frühes seinen Themen und Menschen nähert. Erlebnis vorhanden. Wir fühlten uns nicht daheim, wir Trollers berufliches Selbstverständnis ist in wären gerne daheim gewesen. Diese Entfremdung besonderer Weise von lebens- und zeitge- von Umwelt und von Familie, so dass man – auf sich selber gestellt – als Individuum seine eigene Haltung Interview mit Georg-Stefan Troller 41

entwickeln musste, seine eigene Weltanschauung seiner Mitjuden auch ab. Es gab also kein Gefühl des und seine eigene Daseinsberechtigung, das ist ganz eigenen Wertes in uns, des selbständigen Wertes kennzeichnend für diese Jugend. Üblich und beinahe unabhängig von der Zugehörigkeit. Das ist ein furcht- normal wäre gewesen, sich entweder dem Sozialis- barer Zustand! Man kann nicht selbständig handeln mus oder dem Zionismus anzuschließen, was ich ohne Bezug darauf, dass, egal, was immer man tut, beides nicht getan habe, sondern auf mich selber ge- einen die anderen dafür hassen oder verachten wer- stellt blieb, mit Ausnahme einer gewissen Jugendbe- den. wegungszugehörigkeit. Die ist, glaube ich, Vorbedin- B: War das denn auch in Ihrer Kindheit schon so? gung gewesen für meine nachmalige Rolle als Jour- T: Ja. Das war eine meiner allerersten Erfahrun- nalist, als Journalist, der beobachtet, interessiert ist, gen. In meinem Buch [»Personenbeschreibung«] be- sich anderer Leute Lebensanschauungen, Daseins- schrieb ich es nicht, aber es gab ein Kostümfest in berechtigung und so weiter zu assimilieren versucht, unserer Gegend, und unsere Eltern hatten die aber selbst zu nichts eigentlich hingehört, weil er da- Schnapsidee, uns als Schotten zu verkleiden, mit mit kein Journalist mehr sein könnte. Das ist etwas, Schottenröckchen, und natürlich liefen die Jungen was ich sehr spät begriffen habe und in meiner Ju- hinter uns her und schrieen: »Schauts die zwei Juden gend und viele Jahre hindurch bestimmt abgelehnt an, die tragen Röcke, das sind doch eigentlich Wei- hätte, aber so war es, glaube ich. Insofern kommt ber!« Und ich habe seitdem Schottenmuster gehasst! das, was ich jetzt bin, von meiner Jugend her. B: Welchen Stellenwert hatte das Deutsche Reich B: Ihr Vater war aber, wenn ich das richtig in Erin- damals für Ihre Familie, speziell für Ihren Vater? Sie nerung habe, kein Anhänger der Donaumonarchie? werden sich vielleicht nicht mehr daran erinnern kön- T: Vater war Anhänger von Masarek, hat sich sehr nen, aber war das irgendwann in der Familie Thema: stark als Deutsch-Tscheche – also das Deutschtum Deutsches Reich, Ende des Ersten Weltkrieges, in Böhmen-Mähren – gefühlt. Vor allem Prag war ja Weimarer Zeit? sehr stark jüdisch bestimmt, und dieses Mährische, T: Vater hat mir erzählt, er hat einmal vor dem Er- Jüdisch-Demokratische fand sein Epitome in Präsi- sten Weltkrieg eine Bismarck-Brandrede gehalten in dent Masarek, dem Präsidenten der Tschechischen Mähren, in Brünn, glaube ich, und hat sich – er war ja Republik, der der erste Demokrat im mitteleuropäi- nie Student, aber es gab so jüdische Vereine, wo die schen Raum war, wenn man es genau betrachtet. Jungs sich als Studenten ausgaben – er hat sich als Und das ›Prager Tagblatt‹ war das Blatt, das Vater deutschnational bekannt. Darauf allgemeiner Protest las. Dieser Bezug auf seine Herkunft, die bei ihm der tschechischen Pelzhändler und Kürschner in eben in dieser Richtung lag, und ein lebenslanges Brünn, »Mit den Trollers wollen wir nichts mehr zu tun Ressentiment gegen das Wienertum, gegen das haben, von denen wollen wir nichts mehr kaufen!« schlampige, lätschige, auch antisemitische Wiener- und so weiter, und er musste sich entschuldigen, und tum, war sehr stark in ihm ausgeprägt. Uns hat es es war eine furchtbare Situation. Es gab immer den nicht viel bedeutet. Bezug auf das Reich, und das Zentrum seines Ge- B: Wie war in Ihrer Kindheit der Kontakt zur werbes, des Pelzhandels, war Leipzig. Und die Fahr- christlichen Umwelt? ten nach Leipzig, einmal jährlich oder zweimal jähr- T: Die christliche Umwelt war wie die heutige, teils lich, sowie die Fahrten nach St. Petersburg und nach noch in Österreich und sehr stark in Polen und in an- London waren natürlich Teil seines Lebens. Für Vater deren Ost-Ländern, instinktiv antisemitisch. Das war das, wie für viele Österreicher natürlich, doch heißt, es ist so, dass der Antisemitismus jederzeit immer ein Bezugspunkt – das Deutsche Reich als ausbrechen, losbrechen konnte, auch bei Leuten, die etwas, das die gleiche Sprache sprach, das aber in sich nicht für Antisemiten hielten, wie jetzt bei Präsi- jeder Beziehung erfolgreicher war als Österreich, und dent Walensa in Polen. Es war dermaßen eingefres- zukunftsgläubiger, zukunftsorientierter. sen in diese Leute, dass bei ihnen trotz aller Beteue- B: Sprechen wir mal über den sogenannten »An- rungen, »Meine besten Freunde sind Juden« und so schluss« Österreichs. Wie hat das Ihr Vater erlebt? weiter, im Moment, wo es darauf ankam, der Hass Gab es da einen möglichen Zwiespalt mit der Begrü- losbrach, und aus diesem Gefühl, unaufhörlich ge- ßung »Heim ins Reich«. hasst und verachtet zu werden, was immer man tat – T: Nein, natürlich nicht, das Reich war ja damals gab man Kontra, war man frech, gab man nicht Kon- seit fünf Jahren von Hitler regiert und war überhaupt tra, war man feig, beides »typisch jüdische Eigen- nur ein furchtbarer Drache, der uns feuerspeiend be- schaften«. Es war eine Falle, die jederzeit zuspringen drohte in Österreich. Und die österreichische Demo- konnte, und aus der es kein Entrinnen gab. Man war kratie war ja dahingegangen um diese Zeit, es gab ja immer im Unrecht, und man war immer zweitrangig. schon eine österreichische Diktatur, einen österrei- Man konnte Einstein sein, man war als Jude immer chischen Faschismus, der von vielen Juden unter- irgendwo eine lächerliche, verachtenswerte Figur. stützt wurde als das »kleinere Übel«, und das hat Das ist ganz bestimmt eine der prägenden Erschei- auch mein Vater getan, während wir auch dagegen nungen meiner Kindheit! Was übrigens auch die an- waren als Sozialisten. Der Anschluss war natürlich deren Juden betraf: Schnitzler spricht in seinem Ta- ein entsetzlicher Schreck, und gerade das Einsteigen gebuch – hochinteressant! – von den sogenanten »A der übrigen Österreicher, die ja gestern noch angeb- soj«-Juden; das heißt, wenn Sie von jemandem er- lich Schuschnigg-Anhänger oder Sozialisten gewesen fahren, den sie bewundert haben, als Autor oder so, waren, in die Nazi-Ideologie, war für uns natürlich ein dass er auch nur Jude ist, dann sagen sie: »A soj, ganz, ganz prägender Augenblick. auch nur e Jud'!« Und damit sinkt er in der Achtung 42 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

B: Sie haben ja ein sehr gutes Gedächtnis. Was was glaubte, und es glaubten ja tatsächlich 90 Pro- meinen Sie, wann haben Sie sich selbst ein politi- zent aller Leute daran, in Österreich noch mehr als im sches Urteil über den Nationalsozialismus gebildet? Deutschen Reich, obwohl sie auch das nicht gelesen T: Ungefähr 1935/36. Ich kann mich erinnern, hatten; aber sie glaubten daran. Es gab ja unaufhör- 1933 war ich zwölf Jahre alt oder so, dass ich ein lich Nazi-Gauredner, es gab ja Göring selber, der in ganz dummes Wort aussprach: »Jetzt haben die Wien reden durfte, es gab Nazis, die ganz offiziell im schon so ein Zeichen wie das Hakenkreuz«, was mir Hotel »Auge Gottes«, das war ein Nazi-Saal, ganz natürlich zusagte, weil das ein ästhetisches Ding ist, offizielle Reden halten [durften], da gab es Riesen- das ist ja eine aufgehende Sonne, kommt aus Indien, plakate, auf denen natürlich unten stand: »Nur für das fand ich schön, und ich sagte ganz laut: »Jetzt Arier, Juden Eintritt verboten!«, und das seit 1935 haben die ein Zeichen, und jetzt glauben die auch oder so! Diese Leute kamen ja rüber, und da stand schon, sie sind eine Weltanschauung.« So kann man das Parteiprogramm: Arbeit und Brot, Ausmerzung sich irren! Das war das erste Mal, an das ich mich der Zinsknechtschaft und solche Dinge, das stand ja erinnern kann, dass ich mich mit dem Nazismus be- alles da... Übrigens bezeichnend, was den Historiker- fasste, und dann natürlich lasen wir, las ich ja eine streit betrifft, ich könnte das nachweisen, ich habe sozialistische Zeitung, das ›Kleine Blatt‹, und war al- Bücher über diese Plakate der Zeit – der Bolsche- so informiert über das, was in Deutschland vorging, wismus wurde vielleicht ein Zehntel so oft erwähnt 1934 die »Nacht der langen Messer«, alle diese Din- wie der Antisemitismus, wie die Juden, nicht wahr. ge haben uns schon ganz schwer beeindruckt, und Als wenn das angeblich nur die Reaktion auf den wir wussten natürlich von KZs und solchen Dingen, Bolschewismus gewesen wäre. jeder wusste das. Natürlich gab es Angst vor dem Bolschewismus, B: War denn diese Koalitionsregierung, und was auch in bürgerlichen Kreisen und so weiter, es gab dann ab 1933 folgte, für Sie nur eine vorübergehende gewisse Kenntnisse über das, was in Sowjetrussland Erscheinung, oder ahnte man möglicherweise... vor sich ging, wir waren informiert über die Schaupro- T: Man ahnte es, weil diese ganz Breite, von al- zesse, die haben mich persönlich bereits von Bol- lerprimitivsten bis in die höchsten kirchlichen und Re- schewisten und Kommunisten weggezogen, wir gierungskreise sich erstreckenden Antisemitismus ja wussten Bescheid über die ersten Schauprozesse, von Deutschland aus vom ersten Moment der Macht- aber der Nazismus war nicht die Reaktion auf den ergreifung an geschürt wurde. Alle diese Leute, die Bolschewismus. Beide waren natürlich Reaktionen wir bloß als Lokal-Antisemiten kannten, bezogen sich auf den ersten Weltkrieg, das ist aber etwas anderes. auf einmal auf das, was im Deutschen Reich vorging, B: Sagen Sie doch ein Wort zum »Historiker- und bezogen wahrscheinlich auch Gelder von dort. streit«, wie Sie ihn wahrgenommen haben. Ihre Posi- Und diese Statthalter, die Statthalter der Nazis in tion ist ja jetzt deutlich geworden. Österreich, Frauenfeld, Habicht und wie sie alle hie- T: Der Nolte ist einfach ein Lügner, aber worauf ßen, waren ja, wie jeder wusste, von drüben bezahlt, läuft das Ganze hinaus? Das Ganze ist wieder einmal um die Propaganda zu schüren. Wir wussten also der Versuch, den Nazismus als ein normales politi- ganz genau, dass die große Bedrohung von dort sches Element einzuordnen, genauso wie es die kam, auch dass in Österreich selber genügend Nazis Kommunisten versucht haben mit dem Nachweis, vorhanden waren, um diese Übernahme Österreichs dass das eigentlich nur Auswüchse des Kapitalismus zu gewährleisten. Daran dachten wir die ganze Zeit: wären. So war es nicht! Das war tatsächlich eine bei- »Bloß kein Anschluss!« Das war das, was wir fürch- nahe mythische Erneuerungsbewegung, die aber teten, so lange ich zurückdenken kann, fast vom ers- nachher als eine ursprünglich antimoderne, antigeisti- ten Moment an. Und natürlich kamen ja jüdische ge, antimaschinelle, Anti-20.-Jahrhundert-Bewegung Flüchtlinge nach Österreich herein, unter Künstlern, – dank Hitlers geistigem Verständnis für die Dinge – Theaterschaupielern, Filmmenschen und so weiter sich modernisiert hat und nachher natürlich fähig war, waren dort sehr viel jüdische Flüchtlinge aus dem die neuen Errungenschaften bis ins letzte für sich Reich, von denen man dann wusste, was sich dort auszunutzen. draußen abspielt. Wir wussten natürlich von Dachau, B: Modernisierung? und wir wussten natürlich von den ganzen Verfolgun- T: Absolut. Ursprünglich war das aber eine anti- gen; das war doch überhaupt keinerlei Geheimnis. moderne Bewegung und wurde vor allem in Öster- Vom ersten Moment an, glaube ich, nur gehen meine reich als solche empfunden, weil in Österreich die Erinnerungen nicht so weit zurück. Nachher habe ich Sehnsucht nach dem Biedermeier immer sehr stark mich darüber kundig gemacht. Ich war mit zwölf Jah- gewesen ist. Österreich, ein zurückgebliebenes Land, ren noch nicht so klar im Kopfe, aber so ab 1935/36 ein Wäldler-Land, mit Ausnahme von Wien, aber wusste ich ganz bewusst, dass die Bedrohung von Wien und das übrige Österreich sind ja wie Schwarz dort kam. und Weiß – oder wie Rot und Schwarz, wenn Sie so B: Eine Zwischenfrage: Haben Sie »Mein Kampf« wollen – zwei total getrennte Welten. In Wien hat gelesen? man das 20. Jahrhundert sozusagen erfunden, im T: Nein. Das Deutsch war mir zu schlecht! Ich bin übrigen Österreich wollte man möglichst schnell zu- da sehr empfindlich, was Sprache betrifft, und dass rück ins 19. oder ins 18. Jahrhundert. Aus dieser an- sich für so etwas Primitives – ich hab nur mal reinge- timodernen Bewegung kommt Hitler selber. Aber das, schaut – irgendjemand begeistern konnte, war mir ein was der Herr Nolte und seine Anhänger jetzt machen, totales Rätsel und bewies nur, dass man mit diesen den Nationalsozialismus irgendwie einzuordnen, so- Leuten nicht vernünftig reden konnte. Wer an so et- zusagen als eine normale Entwicklung, eine normale Interview mit Georg-Stefan Troller 43

Reaktion auf die Bedrohungen des Bolschewismus, Antinazisache nahmen sie in Kauf, um endlich wieder das ist nicht so! Ich will das nicht 100-prozentig ab- mal sich zu fühlen, und selbstverständlich hatten im lehnen, es gab natürlich ein Grauen vor dem Bol- Film, im Kino und auch in vielen anderen Dingen die schewismus, das war ganz stark verbreitet. Das hat Nazis eine kleine Clique zu sein, während das Volk, Hitler ausgenutzt, aber seine eigene Bewegung war das arme Volk, selber nur ausgebeutet wurde von nicht ursprünglich eine antibolschewistische Bewe- ihnen. Dieser Schwindel ... Darf ich eine Sache ein- gung. Während, wie man aus seinem letzten Testa- werfen? Der berühmte Streit in Amerika zwischen ment Hitlers weiß, der Antisemitismus, wenn man das und Thomas Mann, und Brecht verkün- so nennen will, eine der Hauptquellen seines Den- dete: »Es braucht 30 SS-Divisionen, um den deut- kens war. Das scheint mir wichtig, weil – wenn ich schen Arbeiter nieder zu reiten, sonst würde er revol- das noch hinzusetzen darf – es wird immer wieder tieren gegen Hitler!« Worauf ich geantwortet habe, eine Unterscheidung getroffen zwischen den Nazis hier bei einer Diskussion: »Diese 30 SS-Divisionen und der übrigen Bevölkerung, vertreten durch die eh- waren ja der deutsche Arbeiter!« Und da wurde ich renvolle deutsche Truppe im Krieg, die einen total angegriffen! Hier, ich weiß nicht mehr, um welchen getrennt von den anderen. Es war nicht so! Und die Film es ging, wo ich an einer Diskussion teilnahm. Truppe wusste Bescheid, die Truppe hat ungeheuer Das war von Brechts Seite eine pure Illusion, die Vor- gut gekämpft, weil sie durch und durch nationalsozia- stellung, dass das brave deutsche Volk jeden Mo- listisch erzogen war, vom grünen Pimpf bis ins hohe ment ausbrechen würde in eine Revolte gegen Hitler, Alter. Der Nationalsozialismus durchdrang alle Berei- wenn es nicht niedergehalten würde von diesen che der Bevölkerung und war nicht eine Antibewe- Scheißnazis. gung, sondern wurde von der Bevölkerung als eine B: Bleiben wir mal einen kleinen Augenblick beim positive Bewegung empfunden, sonst hätte er nicht Film: Haben Sie die amerikanische Fernsehserie diese ganzen Leute kriegen können. Und nach dem »Holocaust« gesehen? Krieg waren so und soviel Leute erstaunt, als die Al- T: Ich sehe solche Filme nie. Ich habe »Schind- liierten immer wieder auf die KZs und so weiter hin- lers Liste« gesehen, aber ich schau mir solche Filme wiesen, denn das war gar nicht der Nationalsozialis- eigentlich nicht an. Meine Frau schaut sie sich an. mus für breite Teile der Bevölkerung. Das hat sie ja Das ist zu hart, das ist zu hart, das muss ich mir nicht nicht interessiert! Und wenn dann ein paar Juden anschauen. Warum habe ich »Schindlers Liste« ge- verschwanden, das war eben in Gottes Namen hin- sehen? Alle Leute haben davon gesprochen. Viel- zunehmen, die Österreicher liebten es, dass die Ju- leicht ist das nur eine Ausrede, vielleicht will ich damit den verschwanden, die Deutschen waren nicht ganz nicht belästigt werden, wie andere Leute auch, so interessiert daran – glaube ich. Aber die Bevölke- schwer zu sagen. Aber normalerweise tue ich mir das rung sah den Nazismus nicht im Kern als eine anti- nie an. semitische Bewegung, sondern als eine »moderne« B: Haben Sie ein Urteil über »Schindlers Liste«? Aufbaubewegung. Hitler selbst hat den Antisemitis- T: Das ist schon richtig und gut, dass die Leute mus als Kern seiner Bewegung empfunden, siehe aus diesem und jenem Grund sagen, das durfte man sein letztes Testament. Die Ausrottung der Juden nicht machen, einschließlich unserem Freund Georg ging noch vonstatten, als Deutschland zusammen- Landsmann, ich bin da nicht der Auffassung, das ist brach. Das war das letzte, was sie taten. Warum? absolut richtig. So, wie die erste »Holocaust«-Serie Weil es ihnen am meisten Spaß machte. Das wollten war, soll das ja doch ziemlicher Kitsch gewesen sein, sie doch noch hinkriegen. ich hab' keine Ahnung. Dass die Leute in Deutsch- B: Was das Militär anbelangt, frage ich mich, ob land damals behauptet haben, zum ersten Mal hätten das Kino in Deutschland nach 1945 da nicht eine sie davon erfahren sozusagen, ist doch der größte große Rolle gespielt hat. Das Kino der 50er Jahre hat Schwindel des Jahrhunderts! Ich hatte ja auch selber ja zumindest bei meiner Generation versucht, das schon ein paar Antinazifilme gemacht, und Leiser, deutsche Militär sozusagen »reinzuwaschen«. und ich weiß nicht, wieviele andere Leute. Es wurde T: Absolut richtig. Curd Jürgens in »Des Teufels ja in Deutschland ungeheuer aufgearbeitet. Man kann General« immer wieder schick mit roten Aufschlägen ja nicht sagen, dass nicht aufgearbeitet wurde, im und was weiß ich, man merkt so richtig, das kann ja Gegensatz zu Österreich. Das stimmt ja alles nicht! kein Nazi sein, und dergleichen, die Wehrmacht ist Aber in Gottes Namen, zum ersten Mal kam da eine gegen die Nazis, im Boot in der ersten Szene, ganz gängige Fiktion, die man sich zu Gemüte führen deutlich: »Wir ziehen halt in den Krieg, weil wir müs- konnte und dabei genießen, statt sich betroffen zu sen, und diese Scheißnazis, aber in Wirklichkeit geht fühlen, und sagen »O Gott, wie war das damals es doch um Heimat und Volk« und so weiter. Sie ha- furchtbar! Was gibt es heute zum Abendessen?« ben vollkommen recht, das Kino ist da sehr wichtig, B: Noch mal ganz kurz zum Historikerstreit: War und die anderen Medien auch. Ich würde da ganz dieser »Streit«, der ja eine große Öffentlichkeit ge- schnell – aber sogar in den DDR-Filmen, »Affäre funden hatte, notwendiges Resultat der Entwicklung Blum«, der erste Antinazifilm, in dem die SS schick, der Bundesrepublik? schick – aber wie schick! – auftrat. Und als »Des T: Ich habe eben einen Deutschlandfilm [»Unter Teufels General« gespielt wurde im Kino, mit Curd Deutschen«] gedreht, der hier im Nebenraum ge- Jürgens, sagte mir mein Antinazifreund in München, schnitten wird, wo wir sechs Wochen in ganz einer meiner ältesten Freunde: »Die Leute gehen nur Deutschland gedreht haben und dieser aufkommen- hin, um endlich wieder schicke Uniformen und Zack- de Nationalismus, von dem Sie sprechen, eigentlich Zack zu sehen!« Das übrige nahmen sie in Kauf. Die nicht sichtbar war. So, wie viele andere Dinge, von 44 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

denen man redet und jeden Moment im ›Spiegel‹ und T: Das Präsens bezieht sich auf die Zeit damals. so weiter liest, nicht sichtbar waren. Es herrscht kein Ich beschreibe mich in dem Moment, wie ich bin, als ansteigender Nationalismus in Deutschland, soviel kleines Jungchen. ich sehen kann, es besteht kein großdeutsches Ge- B: Also kann ich jetzt die Frage nach dem Stel- fühl in Deutschland, es besteht kein anwachsender lenwert der Familie für Sie in der Gegenwart stellen? Rasssenhass oder Ausländerhass in Deutschland. T: Ja, das ist natürlich etwas anderes, ich habe Gut, es gibt eine Neonazibewegung, das ist vollkom- meine eigenen Kinder. Aber ich bin nach wie vor kein men klar. Aber ich halte das nicht für eine Gefahr für Familienmensch. Ich finde es wunderbar, Kinder zu die deutsche Demokratie, ich glaube auch nicht, dass haben, ich bin gerne mit meinen Kindern zusammen, in irgendeiner Beziehung eine neue Nazigefahr in aber im Sinne, wie mein Vater Familienmensch war, Deutschland da ist. Aber es ist, was den Historiker- dass er sich zerrissen hat für die Familie, dass er nur streit betrifft, wie immer der Versuch da, in Gottes da war für die Familie, dass er das unaufhörlich Namen eine neue Methode zu finden, um das Uner- empfand: »Ich muss für meinen Sohn etwas tun, ich trägliche einzuordnen. Der Deutsche muss einord- muss ihm etwas beibringen, ich muss ihn ins Muse- nen, systematisieren. um schleifen, und während der Ausflüge muss ich B: Wir sind sehr gesprungen. Kommen wir noch ihm unaufhörlich irgendwelche Weisheiten verzap- mal zurück zu Ihrer Familie. Ich hätte gerne, dass Sie fen« – so sehe ich das nicht. In dem Sinne von Fami- ein Wort zu Ihrer Mutter sagen, und zwar mehr, als lie als Fortsetzung von mir, der ich meine ganze das, was in Ihrem Buch steht, dass sie sehr still und Weisheit eintrichtern muss, diese Art von Familien- ruhig war. Wie meinen Sie, sind Sie von Ihrer Mutter empfinden, ich habe auch dieses Sippengefühl nicht, geprägt? Können Sie versuchen, das zu bestimmen? das mein Vater hatte. Er hatte keine Freunde, er hat T: Natürlich, das Aussehen und die Figur ent- sich nur für die Familie interessiert. Wer mit ihm ver- spricht durchaus meiner Mutter, eine gewisse Weich- wandt war, um den hat er sich gekümmert, das war heit, eine gewisse Sentimentalität oder Gefühlsselig- selbstverständlich. Wer nicht mit ihm verwandt war, keit kommt von meiner Mutter, Nachgiebigkeit und war irgendwie fremd, den brauchte er nicht eigentlich. Unfähigkeit zur Vergeistigung. Liebe zu den Dingen, So kann ich überhaupt nicht sein, bei mir sind die zu den konkreten Dingen, zu den Genüssen, zum Freunde Teil der Familie, vielleicht mehr als die Fa- täglichen Leben, zum Sinnlichen, zum Sinnfälligen, milie. Insofern eine total andere Generation. alle diese Dinge, die, glaube ich, in diesem Beruf B: Sie sagten vorhin, dass Ihr Vater sehr früh in meine Stärke ausmachen, aber eben nicht die Ver- den USA war, vor Ihrer Zeit, dass er dann auch sehr geistigung, nichts Metaphysisches, nichts Transzen- viel beruflich in Europa herumgekommen ist. Wie sa- dentales und so weiter. Das sehr Irdische meiner hen Sie das damals und was bedeutete für Sie das Mutter ist sehr stark in mir lebendig geworden, ja. Ausland? Gab es da schon für Sie anglophile Ten- Von meinem Vater der Ehrgeiz, der Perfektionismus, denzen oder auch schon sehr früh eine Beziehung zu die Pedanterie, die Arbeitsamkeit, Fleiß, und Über- Frankreich, oder war Ausland für Sie etwas Fernes? zeugung, dass seine Pflicht zu tun oder das Notwen- T: Also: Der Österreicher hat ja natürlich gewisse dige zu tun, eigentlich schon das Höchste ist, das Beziehungen zum Ausland, alle Leute fuhren nach man erreichen kann. Italien, von uns aus gesprochen. Frankreich war ganz B: Eben das, was dem Deutschen zugeschrieben weit weg. Wir hatten einen Franzosen bei uns bei der wird. Jugendbewegung, das war irrsinnig exotisch. Es gab T: Ja, mein Vater war sehr deutsch, in jeder Be- neben diesem italienischen Bezug, den ich nicht ziehung. Das ewige in Museen laufen, das ewige wahrgenommen habe, zwei große Bezüge, nämlich Kunst betrachten, und zwar die realeren Aspekte der die zwei Sprachen, die man privat gelernt hat neben Kunst, und das Realistische der Kunst – bei ihm en- dem humanistischen Gymnasium, wo Latein und dete die Kunst beim Impressionisten, und alles übrige Griechisch war: Englisch und Französisch. Unsere danach ist ja eigentlich keine Kunst, sondern nur Engländerin, ich beschrieb das, war schick, sexy, und Schmiererei. Da habe ich schon sehr viel von ihm hat mich ungeheuer angezogen, die französische übernommen, aber vor allem Pflichtbewusstsein, Madame war abstoßend, alt und unangenehm und nicht so stark ausgeprägt wie bei ihm, denn er kam ja war wahrscheinlich eine Türkin – ich habe von dem noch aus der wilhelminischen Ära, aber doch die Moment an das Angelsächsische dem Französischen Überzeugung, wenn du hier sitzt und dein Zeug vorgezogen und bin dabei geblieben bis heute. machst, dich Gott dafür belohnen wird. Schon dafür, B: Ich will noch ein Stichwort aufgreifen, das auch dass du eigentlich nicht ausersehen bist für Juden- wichtig ist. Ich zitiere Sie: »Sobald mein Vater verreist tum oder so etwas. war, stürzte ich mich auf die verbotene Bibliothek im B: Ich will mal versuchen, den Komplex abzu- Herrenzimmer.« Was stand in der häuslichen Biblio- schließen mit zwei Zitaten: Sie haben in einem Inter- thek, welchen Stellenwert hatte sie? view gesagt: »Jeder Literat, jeder Künstler, jeder T: Das stimmt. Dieser verschlossene Bücher- Journalist arbeitet seine Jugend auf, kehrt zu seiner schrank, in den man eben, indem man ein Zwi- Jugend zurück«, und dann kommt noch der Nachsatz schenteil herausnahm, hereingreifen und so eigen- »und zu seinen Eltern«. Und dann haben Sie in Ihren tümlich geformte Bücher, wie eben die roten Hefte Selbstbeschreibungen geschrieben: »Familie, Vaters von Karl Kraus' ›Fackel‹ herausfischen konnte, aber Lieblingswort, erfüllt mich mit Abscheu.« natürlich auch solche Sachen wie »Die vollkommene Ehe« von Vanderfelde oder Muders »Geschichte der Kunst« mit Nackedeibildern aus der Renaissance, Interview mit Georg-Stefan Troller 45

das war natürlich etwas. Ganz allgemein liebte ich es T: Ich sehe es an meinen Töchtern, die haben es von früh auf, mich über Bücher zu informieren und zu nicht. Ich hab's! Heimat, Herkunft, Zugehörigkeit, ein bilden, ich bin nach wie vor ein Büchersammler, habe ganz spezifisches, ganz tief reichendes Interesse an eine riesige Bibliothek. Und Juden sind eh' das Volk dem Land, an seiner Literatur, an seiner Art zu sein, des Buches, mein Vater hatte auch eine große Bi- bei allem Wissen um seine Unzulänglichkeit und so bliothek, aber er las selten Bücher, er las das ›Prager weiter, aber das ist da. Da ist eine Verwurzelung, Tagblatt‹. Aber ich las Bücher und habe immer Bü- man kann ja gegen seine Wurzeln ankämpfen, das cher geliebt, und da man nie genug hatte und sich ist sogar fruchtbar, aber man kann nicht gegen nichts keine kaufen konnte aus Mangel an Geld und zum ankämpfen, und bei meinen Töchtern ist das so, es Geburtstag doch nur drei oder vier bekam, und mei- ist keine Verwurzelung da. Wogegen sollten sie re- stens die, die man nicht wollte, so fischte man eben voltieren, geistig gesprochen? Natürlich wird gegen in Vaters Bibliothek herum, und erwartete dann im- die Eltern revoltiert, aber womit sollten sie sich aus- mer, total verbotene Dinge zu finden. Was nicht der einandersetzen? Sie haben kein Judentum, sie ha- Fall war. Vater war ja Puritaner ... – Einmal las ich als ben keine geistige Zugehörigkeit, und sie haben kei- Jugendlicher mit 16 Jahren »Der Witz« von Freud. ne Nationalität und keine Herkunft. Und das sind Vater riss mir das aus der Hand, das sei doch ein doch ungeheure Reichtümer, die ich in mir trage, le- Schweinkram, Freud! Ich sagte nein, dies bezöge benslange Reichtümer, dafür bin ich unendlich dank- sich gar nicht auf Sexuelles, aber da war nichts zu bar. Und wenn ich drüben bin und gefragt werde, so wollen, Freud las man nicht, durfte man nicht lesen. versuche ich das auch immer auszudrücken. Man Dieses Verbogene, das eben über Sexualität in der kommt ja nie dazu, weil alle Leute immer nur den Zeit lag, war in unserem Haus sehr stark vertreten. Hass von dir haben wollen, aber da ist auch sehr viel Wir waren eine neue Generation, die Generation von Liebe! Und für die bin ich unendlich dankbar, für die- 1920 war eine ganz andere als die von 1880, da lag se Zugehörigkeit zu Wien, und dass ich hundertmal ja der Weltkrieg dazwischen. Wir waren die neue Ge- den »Armen Spielmann« lesen kann von Grillparzer neration der 20er Jahre, und wir wollten Bescheid und hundertmal weine, das ist doch was! wissen und anders sein und aufgeschlossen sein, B: Erkennen Sie dieses Wien heute auch noch? offen sein, und über diese Dinge quatschen dürfen. T: Ich sehe es ja gar nicht, wie es ist. Ich sehe es Einmal sagte ein Freund von mir: »Folge deinen In- ja nur, wie es war, und das ist dann wahr. Aber das stinkten«, und ich schrieb das ins Tagebuch, und geht ja sehr weit. Was bedeutet Wiederkehr in seine Vater fand das, also ein Riesenskandal! »Folge dei- Jugend? Dass man zu seiner Kindheit zurückkehren nen Instinkten« war Anathema, Sakrileg! kann, weil eben noch etwas da ist und nicht alles aus- B: Erinnern Sie sich an Ihre erste Lektüre von radiert durch Bombennächte und so weiter, das ist ja Kraus? auch ungeheuer viel. Die Gassen sind ja da, die Häu- T: An die allererste nicht. Ich bin auch, glaube ich, ser sind ja da, da sind ja tausendfältige Beziehungen, nie bei einem Kraus-Vortrag gewesen, weil Vater und die sind ein Reichtum sondergleichen! sagte, zu so etwas geht man nicht. Das war ja ganz B: Das bedeutet aber für Sie nicht, irgendwann spät, Kraus starb 1936. Ich wollte noch gehen, da wa- einmal zu den Wurzeln tatsächlich materiell, also le- ren noch die Plakate, aber Vater wollte das nicht, also bensmäßig, zurückzukehren? Sonst würde ja die ist man nicht hingegangen. Groß war sein Einfluss Enttäuschung kommen. vor allem durch »Die letzten Tage der Menschheit«, T: Das habe ich mir abgeschminkt. Waldheim war das wurde sehr schnell mein Leib- und Magenbuch, dann der entscheidende Moment. Aber eigentlich das lernte ich fast auswendig. Und das beeinflusst hatte ich das schon lange, auch wegen meiner Frau, mich nach wie vor. Mein Witz, mein beißender, bissi- aber ich dachte einen Moment lang an ein Landhaus ger, verallgemeinender Witz, ist sehr stark von Kraus oder so etwas, aber wissen Sie, die Angst, dass das vorgeprägt, auch meine Menschenverachtung, das einen Moment losbricht, ich lass mich nicht mehr be- heißt auch das Nachahmen, das Tierstimmen- leidigen! Dann schieß ich oder stech ich! Ich lasse Imitatorische von Karl Kraus, das habe ich auch. Al- das nicht mehr passieren, und da habe ich dann so, nicht mündlich, aber wenn ich schreibe, das kann Angst. Ich habe Angst, weil dieser – ich merke das in in den verschiedensten Dialekten witzig sein. Polen – dieser instinktive Antisemitismus da aus den B: Ein anderer Österreichischer Autor, Thomas Leuten rauskommt, auch wenn sie gar keine Ahnung Bernhard? Darüber habe ich von Ihnen noch keine haben, sich gar nicht für Antisemiten halten, und da Stellungnahme gelesen. ist es auf einmal! Das vertrage ich nicht mehr. Dass T: Der ist natürlich auch von Kraus beeinflusst das auf einmal rausbricht aus den Leuten, das will ich und erliegt nachher demselben Wahn wie Kraus. Er mir nicht mehr zumuten. Natürlich, ist es auch in kann dann schon gar nichts mehr sehen außer sei- Frankreich möglich, aber die Franzosen haben nicht nem Hass und verbohrt sich in seinen Hass und ge- sechs Millionen umgebracht, und die Österreicher nießt seinen Hass, und das ist dann irgendwie uner- sind ja überproportioniert gewesen im Stab Eichmann träglich. Der kann einem nur mehr leid tun, leider. bei der Gestapo, in den KZs und so weiter. Das mute Aber das ist toll geschrieben. Aufführbar ist es auch ich mir jetzt nicht mehr zu. nicht! B: Wieder zu Ihrer Kindheit. Da sind zwei Sätze, B: Ist das auch Wien, Thomas Bernhard? Sie ha- die mir in Erinnerung geblieben sind, die dann auch ben sich ja zu Wien immer wieder geäußert. In wel- häufig vorkommen: »Ich litt stumm«, und das: »Wir cher Weise meinen Sie, dass Wien für Sie identitäts- ließen uns schikanieren«. Die Frage ist: Können Sie stiftend war oder ist? 46 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

beurteilen, wann dieser Umschwung war, an dem für Film machte. Juden... B: Wieder zum Nationalsozialismus und Öster- T: Das war am 12. März 1938, als wir durch die reich. Mir fällt auf, ich provoziere das mal etwas, dass Straßen gingen und von überall her diese ungeheu- Sie doch sehr häufig über Hitler als Person sprechen. ren Sprechchöre »Ein Volk, ein Heil, ein Führer!« Karl Kraus hat sinngemäß gesagt: »Zu Hitler fällt mir hörsten. Wohin man ging, rotteten sich die Leute zu- nichts mehr ein.« Der Kontext meiner Frage ist: Für sammen, wie bei Karl Kraus »Serbien muss sterbi- mich besteht eine Gefahr darin, den Nationalsozia- en«, rotteten sie sich genauso zusammen, scheint lismus als Hitlerismus zu begreifen. eine Wiener Spezialität zu sein! Jemand beginnt zu T: Ja. Eben jetzt erschien wieder von Augstein im schreien, eine Fahne zu schwenken, schon sind ›Spiegel‹, etwas, das ich höchst zweifelhaft fand: Er Hundert und Tausend da und brüllen. Und dieses sagte »ohne Hitler kein Nazismus«. In Österreich war Gemeinschaftsgebrülle übers Radio, diese vollkom- es nicht so, wir brauchten keinen Hitler. Es war alles mene Hingabe an dieses Schwein! Wie bekannt, da. Es fehlte nur die eine Person, die es zusammen- hatte Hitler sich Österreich nur einverleibt, als er in fasst, aber diese Person wäre auf jeden Fall aufge- Linz merkte, dass die ganzen Leute zu ihm überlie- taucht. Das ist sehr gefährlich, das unter Hitler zu- fen. Er hatte ja gedacht, Österreich würde vielleicht sammenzufassen, und ich habe es ja gesehen in ei- eine verbündete Provinz werden oder so etwas, aber nem Film über die Nürnberger Prozesse, sogar Strei- keineswegs den Anschluss geplant. Göring hatte den cher stand auf und sagte, als er gefragt wurde, ob er Anschluss geplant, nicht Hitler. Aber erst dieser sich schuldig empfände: »Einzig und allein schuldig Wahnwitz, mit dem die Österreicher zu ihm überliefen ist der Führer und Reichskanzler des deutschen Vol- und ihm zugejubelt haben, und diesen Jubel habe ich kes!« Das ist dann doch erstaunlich. Also, ohne den mitgemacht, wann war das – 12. März oder so. Die- – das ist sehr gefährlich – hätte es das alles nicht ge- ser Moment, das war für mich der Umschwung. An geben. Von wegen! Also, in Österreich war alles vor- den kann ich mich noch gut erinnern. Diese Welt von gebildet, es war alles da, es brauchte nur – in Idioten, mit denen man sich da gegenüberstand, und Deutschland, glaube ich, weniger – der Zusammen- dann natürlich die Reichskristallnacht, und dieses fassung, des Zusammenschließens der verschiede- Sich-total-Gehenlassen, wie die Leute zu uns in die nen Strömungen, damit der Nazismus in Österreich Wohnung kamen und einfach das Radio mitnahmen, genauso virulent wurde, wie er in Deutschland war. das Klavier mitnahmen und so weiter und uns beer- B: Was verbinden Sie mit Aufarbeitung der Ver- ben wollten noch zu Lebzeiten, diese ganze Hinter- gangenheit, und wie beurteilen Sie, wie in Deutsch- fotzigkeit, nicht offen, sondern so verborgen, nein, land und Österreich unter diesem Stichwort die Ver- das ist das falsche Wort, so verlogen, verstellt, die gangenheit aufgearbeitet wurde? Verstellung, und die Scheißfreundlichkeit, hinter der T: Ich beziehe mich in meinem ganzen Leben un- dieser ganze Hass sichtbar wurde, das kam dann aufhörlich auf Deutschland. Die Aufarbeitung der beim Anschluss alles herauf. Vergangenheit heißt ja nichts anderes als Reue. Fin- B: Was bedeutet Judentum, jüdische Religion für det Reue statt, dann ist die Vergangenheit aufgear- Sie heute? beitet. Findet das Bewusstsein der eigenen Schuld T: Darauf gibt es überhaupt keine Antwort. Ich statt, dann ist es aufgearbeitet. Solange es nicht hab‘ keine Antwort darauf, was ein Jude ist, ich weiß stattfindet, ist nichts aufgearbeitet, sondern es wird es nicht, ich weiß nicht, was ich als Jude bin, und ich nur bequatscht. Und ich finde, dass in Deutschland, glaube, dass es niemand weiß. In Israel sind es ja im Gegensatz zu Österreich, tatsächlich sehr viel Israelis und keine Juden, das ist ganz was anderes. Reue da war, obwohl es die Leute so nicht genannt Und ich glaube, kein Jude in der Diaspora kann es haben. Es fand nicht statt, was ich in meinem Buch Ihnen definieren. Und letzten Endes habe ich es auf- oder meinem Film nenne »in Sack und Asche auf den gegeben und bin auch nicht mehr so daran interes- Kirchenstufen beten«, das fand so nicht statt, aber es siert. Die lebenslange Beschäftigung damit schien mir fand tatsächlich Reue statt, man hat es nur anders denn doch – das ist schon lange her – als eine Intro- genannt. In Österreich fand verdammt wenig Reue version und eine Art Onanie, die ich mir abge- statt. Die suchten nur die Schuld bei anderen. Man schminkt habe. Ich bin heute eigentlich nicht mehr so hat ja die Leute physisch über die Grenze gescho- daran interessiert. Ich kann es nicht beantworten und ben, die Deutschen. Axel Cortis Mutter wurde über befass mich eigentlich nicht mehr damit. die Grenze nach Deutschland verschoben, wo sie B: Es gab in Ihrer Biographie – von Ihrer Familie doch immer in Österreich gelebt hatte. Damit ist man wahrscheinlich nicht – die Idee, nach Israel zu gehen. den Nazismus losgeworden. Man wurde ihn auf viele T: Darf ich kurz was dazu sagen? Als ich dann in Arten los. Sehr bezeichnend zum Beispiel, dass die Israel war, mehrere Male, auch dort gedreht habe, ganzen Nachkriegsautos weiß waren. Sehr viel weiße habe ich mich immer als besonders deutsch empfun- Mäntel wurden getragen, Staubmäntel, die weißen den. Küchenmöbel – damit wurde innerlich bereinigt. B: Was bedeutete das in dem Augenblick? In- B: Jaspers war sicher auch eine moralische Ins- wiefern deutsch? tanz, wie auch immer man ihn bewerten mag. Er T: Ich empfand mich als ein Vertreter des deut- prägte sehr früh das Wort von der Kollektivschuld. schen Fernsehens, der über ein exotisches Volk ei- Sie versuchen ja, das etwas zu differenzieren. Kol- nen Film macht. So sehr mir die Leute lagen – phan- lektivschuld: nein, Kollektivverantwortung: ja. Können tastische Leute findet man dort –, aber es war nicht Sie dazu vielleicht noch etwas erläutern? mein Land, sondern ein Land, über das ich einen Interview mit Georg-Stefan Troller 47

T: Ich finde das absolut richtig. Und es scheint mir schon ganz gerne mit Ihnen reden. Ich habe eben sehr wichtig, dass die Kinder für die Eltern verant- einen Film gemacht, der hieß »Marthas Liebe«, mit wortlich sind. Man kann nicht einfach von der Gnade acht Mördern, die ihre Lebensgefährten ermordet ha- der späten Geburt sprechen, umso weniger, als ja ben. Die Unfähigkeit dieser Leute, die den ganzen auch die Juden für die Sünden ihrer Väter verant- psychoanalytischen Jargon beherrschten, zu Reue, wortlich gemacht werden. Ihr wart ja nie Bauern, ihr Selbsterkenntnis und Selbstvergebung durchzusto- habt ja immer nur von Geld gelebt und so weiter. Uns ßen, hat mich schon erschüttert. Da war irgendwo hat man ja immer für unsere Väter und Großväter etwas Obskures, etwas Undurchdringliches, etwas, verantwortlich gemacht, für diese angeblichen Sün- wo sie nicht zu sich selber kamen, was bei Juden den und Laster und so weiter, obwohl wir doch weiß dann doch selten ist. Die Selbstauseinandersetzung Gott unfähig waren, bis heute, mit Finanzen umzuge- – Selbstanalyse, wenn Sie so wollen – der Juden ist hen. ja ein laufender Prozess. Und da fand ich dann häufig B: Aber gemeint ist doch jetzt Verantwortung im bei den Deutschen, dass das nicht der Fall war. Und Sinne von Schuld. Kann man verantwortlich sein für das wurde mir eben von der Doris Dörrie bestätigt, etwas, das zeitlich vorbei ist und an dem man nicht mit der ich über diese Dinge gesprochen habe für un- beteiligt war? seren Film, für unseren Deutschlandfilm, den ich T: Ich bin da nicht so sicher, aber ich will mich da eben machte. Sie sagte, ja, da fehlt ihnen etwas, die nicht auf Metaphysisches einlassen. Aber ich glaube Fähigkeit, sich in andere einzufühlen. Das sind Din- schon, dass da ein Zusammenhalt zwischen den Ge- ge, die für mich zurückreichen bis zur Zwangsbekeh- nerationen besteht, und die jüngere Generation je- rung der Sachsen durch Karl den Großen, die zeigen, denfalls dafür verantwortlich ist, was die Alten ihnen dass das Christentum eigentlich nicht eine zutiefst beizubringen versuchten. Nicht wahr, die 68er Gene- deutsche Angelegenheit war, sondern bereits als ein ration hat dann ganz deutlich gespürt, dass hier ein ausländischer Zwang empfunden wurde. Damit ma- Bruch endlich fällig ist, und die haben das ja auch che ich mich immer lächerlich, wenn ich darüber dis- getan. Aber es gibt so etwas wie Gesamtverantwor- kutiere, aber jeder fragt sich, ich habe auch mit Ralf tung eines Volkes über Generationen hinweg, wie sie Giordano darüber diskutiert, wann begann dasjenige schon in der Bibel steht. Insofern sind auch Leute, die welches. Begann es mit Luther? Wann begann es, damit persönlich überhaupt nichts zu tun hatten, mit dass die Deutschen innerlich bereit waren, sich über verantwortlich. Sie stehen ja zu ihrem Volk. Sie sagen moralische Vorschriften oder Gefühle hinwegzuset- ja »Ich bin Deutscher« oder sogar »Ich bin stolz, zen, um Glanz, Größe, Disziplin, Macht und so weiter Deutscher zu sein«. Damit übernimmt man ja auch zu erreichen, die etwas Höheres wären? Wann be- die Verantwortung für das, was da passiert ist, wenn gann die Ablehnung des Urchristentums als etwas man sagt, »Ich bin stolz, Deutscher zu sein, ich bin ihnen nicht eigentlich Zugehöriges? Was dann unter stolz auf die lange Geschichte meines Landes, die ja Wilhelm II. ganz stark in den Vordergrund drang, da nur ganz kurz, zwölf Jahre lang, unterbrochen wurde gab es den deutschen »Krist«, mit »K« geschrieben, durch einen Betriebsunfall«. und das deutsche Christentum war der Meinung, B: Nicht nur für meine Generation [Jahrgang dass Jesus Christus eben kein Jude, sondern letztlich 1943] stellt sich zunehmend die Frage, was man ei- ein Deutscher gewesen wäre. Da begann dann die- gentlich selbst gewesen wäre, Opfer oder Täter. ses Heidnische im Christentum Fuß zu fassen, das T: Für mich auch. wiederum dem Nationalismus ganz stark den geisti- B: Was schützt mich eigentlich davor? Ich erinne- gen Weg bereitet hat. Da ist irgendetwas, das die re mich in diesem Zusammenhang an den Satz von Deutschen – ich rede nicht von den letzten 50 Jahren Andersch aus »Der Vater des Mörders«, wo er sagt: – immer besonders eilfertig überlaufen ließ zu jeder »Schützt Humanismus denn vor gar nichts?« Die Ersatzreligion, die ihnen einen Machtzuwachs ver- Frage, was schützt uns eigentlich, ist ja auch eine sprochen hat. Frage der Verantwortung. B: Diese Unfähigkeit, über sich selbst zu reflektie- T: Natürlich hätte ich bei mir bis vor einiger Zeit ren, ist das etwas typisch Deutsches? Wie erleben gesagt, das jüdische Gewissen. Aber da die Israelis Franzosen oder Engländer oder Amerikaner das? anscheinend – die sind halt keine Juden mehr – auch T: Die haben eben die historische Identität in- fähig sind, Arabern die Arme und Beine zu brechen, stinktiv da, der Franzose weiß es einfach. Mein gan- das hätte ich nicht für möglich gehalten. Am Ende zer Film [»Unter Deutschen«, 1995] befasst sich mit schützt uns gar nichts davor als die unaufhörliche Ar- der Frage: Wissen die Deutschen, wer sie sind? – beit an uns selber. Und so, wie die Demokratie un- Nichts wissen sie, nach wie vor wissen sie es nicht. aufhörlich neu definiert, neu verteidigt werden muss, Jetzt wird Demokratie gleichgesetzt mit McDonald‘s. und wer glaubt, Demokratie schützt ihn, ohne dass er Demokratie, das ist Amerikanismus. Das ist doch die Demokratie schützen muss, der irrt sich. Ebenso auch nicht so! Dieses Nichtwissen, wer sie eigentlich ist es mit unserem Gewissen, unserem Inneren und sind, glaube ich, ist die eigentliche deutsche Gefahr. so weiter. Denn ich selber war zu verschiedenen Und in meinem Film, wo ich lauter gutmütige Leute Zeiten durchaus fähig zu schießen, zu prügeln, Leu- fand, lauter Leute, die keine Ausländerhasser waren, ten den Tod zu wünschen, ich weiß das. Und das ist zu meinem Erstaunen, nur ganz wenige Neonazis, ein unerfreulicher Bewusstseinsprozess, den jeder aber dieses Nichtwissen, wer man eigentlich ist, wäh- selbst mit sich abmachen muss. Und dass in rend der Franzose, Engländer, Amerikaner so selbst- Deutschland dieser Bewusstseinsprozess jetzt nicht verständlich in seiner Nationalität ruht, in seiner Nati- stattfindet, ist das Erschreckende. Darüber will ich on ruht, da ist nach wie vor irgendwo die Gefahr. Und 48 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

dieses Wissen um die Identität hat dann auch damit tete Dinge. Wir sind ja die Leute unvorbereitet ange- zu tun, dass gewisse Dinge so selbstverständlich gangen. Eigentlich läuft das. Es läuft Wiedervereini- sind, dass man sie nicht von sich abstoßen kann. gung ohne blutige Wunden, es läuft kein neuer groß- Und in diesen großen Demokratien lebt eben das Jü- deutscher Nationalismus, es läuft keine tiefe Angst, disch-Christliche, das Demokratische, die Menschen- das alles entsteht ja aus Angst, sondern man hat das achtung, die ja mit Selbstachtung sehr stark ver- Gefühl eines Wiederaufbaus á la 1945, einer Be- schwistert ist, die liegt da tief drin. Und der Deutsche wegtheit, eines Optimismus, eines Gefühls, dass et- schwankt immer zwischen totaler Selbstverachtung was passiert, das im Gegensatz zu Frankreich oder und totaler Ausländerverachtung hin und her. England oder sogar Amerika steht. Man hat das Ge- B: Man sagt ja, dass die Deutschen ihre eigene fühl, von heute auf morgen ändert sich alles zum Identität nicht annehmen können oder ein gebroche- Besseren, das gibt es sonst nirgendwo auf der Welt. nes Verhältnis zu ihrer Vergangenheit haben, mit der Und das hat mich doch sehr beeindruckt. fragwürdigen Begründung: Da gab es ja die NS-Zeit, B: »Beeindruckt«, aber das kann ja auch ein ne- und das macht es den Deutschen so schwer. gatives Gefühl sein. T: Das stimmt auch, aber das geht noch weiter T: Ich sehe keine großdeutsche Gefahr im Mo- zurück. ment. B: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagen B: Und wo ist das alles geblieben? Der Nationa- Sie, dass das auch schon vor der NS-Zeit so war. lismus, der Judenhass? Das ist nichts, was sich aus dieser NS-Zeit heraus T: Vielleicht verdrängt, und davor habe ich Angst. ergeben hat für die nachfolgenden Generationen, B: Genau das meine ich. sondern es ist etwas, was dem Deutschen ureigen T: Davor habe ich Angst. Aber den Judenhass in ist. dem Sinne, den wird es nicht mehr geben. Die Neo- T: Schon, aber natürlich war die wilhelminische nazis haben mich nicht beeindruckt. Ausländerhass Zeit und der Erste Weltkrieg noch verdaubar von al- ja, aber ich denke eben, der neue Messias wird viel- len Leuten, also auch von den Deutschen. Man leicht aus der New-Age-Bewegung kommen und mit musste noch nicht sich selber hassen in Bezug auf den Grünen etwas zu tun haben. Die Angst vor dem Wilhelm oder den Ersten Weltkrieg, das war noch Waldsterben ist ja durchaus eine nationalsozialisti- einzubauen. Der Nationalsozialismus ist dann nicht sche Angelegenheit. Und das kommt ganz woanders mehr verdaubar, dieser grobe Brocken lässt sich her und wird völlig gefahrlos wirken, und man wird nicht schlucken. Aber lesen Sie doch, was Wilhelm II. sogar denken, es wäre eine linke Sache, aber es wird über die Juden gesagt hat, der, glaube ich, kein Anti- sich nachher als rechte Sache herausstellen. Solche semit war, der aber doch gesagt hat: »Man müsste Dinge können kommen. Aber im Moment hat sich sie eigentlich vergasen!« Das stand ja vor zwei Wo- diese alte Nazisache, dieses alte Gespenst gelegt, chen in der ›Zeit‹, ein riesiger neuer Forschungsbe- scheint mir. Das ist so nicht da, obwohl es immer richt über Wilhelm II. Dieser Antisemitismus war in- herauskonstruiert wird. stinktiv, Wilhelm brauchte nicht Antisemit zu sein, um B: Wir könnten vielleicht mal einen Blick auf die Antisemit zu sein, wenn Sie verstehen, was ich mei- Nachkriegsentwicklung werfen. Meine Generation as- ne. Er konnte es so tief drinnen instinktiv sein, dass soziiert ja sehr schnell amerikanische Wertvorstel- er nach außen hin den Antisemitismus ablehnen lungen – oder hat zumindest assoziiert – mit Freiheit, durfte. Das ist ja durchaus drin in uns allen. Man Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, wenn man konnte Nazi sein und Hitler ablehnen. Und jetzt auch von der Demokratisierung unserer Gesellschaft wieder. Aber da ist ja wirklich die Frage, auch Her- spricht. Wie sehen Sie den Einfluss Amerikas bei mann Hesse und andere Leute haben sich damit im- uns? Sie haben vorhin selbst von »McDonald« ge- mer wieder auseinandergesetzt: Was ist das nun ei- sprochen. gentlich, was da immer wieder den Deutschen ab- T: Ja. Es geht ja letztlich um Aufarbeitung der geht? Und da empfinde ich nach wie vor, bei aller Vergangenheit. Und die läuft darauf hinaus: Je mehr Gutwilligkeit, einen Mangel an Integration christlicher McDonalds ich esse, desto demokratischer bin ich. oder jüdisch-christlicher Wertvorstellungen, nach wie Und damit habe ich es abgebüßt. Das ist eine ganz vor in Deutschland vertreten. Nach außen hin unge- deutliche Richtung, in der das läuft. Man hat den heuer tolerant und alles das, man findet ja gar keine amerikanischen Realismus, oder sagen wir Materia- Leute, die bereit sind, Vorurteile auszudrücken. Aber lismus, dem sogenannten deutschen Idealismus ge- was ist dahinter? Stößt du nach, so merkst du, dass genübergestellt und gesagt: Ihr habt gewonnen, weil es auf nichts beruht! Dass die Toleranz, die Auslän- ihr die materiell Stärkeren wart. Wir haben verloren, derfreundlichkeit und alle diese Dinge, eigentlich auf weil der Hitler, der Döskopp, nicht wusste, dass es nichts beruhen, auf Sentimentalität oder... Da ist noch allein mit dem Idealismus nicht zu schaffen ist. Das irgendetwas da, das mich verstört. war das große Missverständnis der Nachkriegszeit. B: Welche Generation war das, die Sie in Ihrem Wir waren die Materialisten, die Deutschen waren die Film »Unter Deutschen« gefragt haben? Idealisten, und Hitler war doof, weil er glaubte, er T: Alle. Und ich kam aus diesem Film eigentlich schafft es mit dem Idealismus. Dieses ungeheure sehr optimistisch heraus. Das sind Zufallstreffer, wir Missverständnis führte dann dazu, dass man die haben da Leute wild befragt. Da war eine Hochzeit, ganzen materialistischen Werte der Amerikaner als ein Schwarzer mit einer Weißen in Bayern, und der Ganzes übernommen und mit der Demokratie identi- Schwiegervater sagte: »Hauptsach' ka Preiß!« Aber fiziert hat, die aber etwas anderes darstellt. Und da das sind ja total spontane Dinge, und völlig unerwar- war eine ganz große Gefahr. Und dieses Lucky Stri- Interview mit Georg-Stefan Troller 49

ke-Rauchen und Swing und Twist, diese ganzen Din- entwickeln können, die natürlich, je weiter ich von ge, die die deutsche Jugend sofort übernommen hat, Amerika weg bin, um so stärker ist – das ist ja klar. wurden als demokratische Werte ausgegeben, wobei Je weiter und je länger man von Amerika weg ist, man eben die Tatsache, dass Demokratie etwas an- desto mehr liebt man es. Jedesmal, wenn ich nach deres ist, eben wieder verdrängt hat. Das musste Amerika komme – ich habe dort rund 25 Filme ge- dann der 68er Generation, den Leuten auch wieder dreht – ist es im ersten Moment so: »I don't want to klargemacht werden. be here!« Ich möchte nicht hier auf dem Kennedy B: Meinen Sie, dass zum Beispiel der Vietnam- oder in Los Angeles landen, bitte dreht um und fliegt krieg da entscheidend war? zurück! Ich möchte nicht hier sein. Du siehst diese T: Zum Beispiel, sehr entscheidend. So ist es. gigantischen, zersiedelten Landschaften, da dreht Aber man hat ja auch in Gottes Namen sehr viel zu sich mir der Magen um, ich möchte da nicht sein. Und begreifen gelernt, die Leute sind ja nicht blöd. Sie dann sind die Leute nett und sind achtungsvoll und haben dann begriffen, dass Demokratie etwas ande- haben einen Respekt vor Menschenwürde, und du res ist. Wenn du dir heute die deutschen politischen wirst als Individuum behandelt und nicht wie in Frank- Fernsehsendungen ansiehst, »Heute-Journal« und reich beim Zoll als Fußabstreifer. OK, fine, dieses so, so etwas gibt es ja nirgendwo mehr auf der Welt! Positive des Amerikanertums, dieses »Warum nicht? Die diskutieren ja echt und stundenlang und bis zum Es geht doch! Ja! Let's do it!« Da bist du natürlich Gähnkrampf echte politische Anliegen, und die Leute sofort hingerissen. Und das klappt, das Land klappt. schauen zu! Das ist doch toll! In Frankreich gibt es Aber vor allem das Positive, Frankreich ist ein unge- nichts Vergleichbares. In Frankreich kann man sich heuer negatives Land, das Positive des Amerikaner- über ›Le Monde‹ und ›Liberation‹ informieren, und tums ist dann doch wieder sehr verführerisch. Und selbst die gehen alle drauf, aber im Fernsehen findet amerikanische Kultur: Sie bringen die besten Filme, das alles nicht mehr statt. Und die Deutschen haben sie schreiben einige der besten Romane, die heut- tatsächlich angefangen, sich politisch zu interessie- zutage geschrieben werden, und dann ihre Filme mit ren, und haben eines begriffen von dem, was Demo- einem Harold Butke. Wo gibt es sonst noch so einen kratie ist, und dass man sie verteidigen und wachsam Harold Butke auf der Welt? Diese Mischung von sein muss. Da ist ungeheuer viel gelaufen! Aber das Amerikanertum und Judentum und New Yorkertum, war nicht von Anfang an so. ist doch toll! Und schwul darf man auch sein, wenn B: Sie haben von der politischen Entwicklung ge- man will, und niemand nimmt dir das übel, niemand sprochen und von der materiellen – Coca Cola, nimmt dir dein So-Sein übel! Das ist es. Du wirst res- Jeans, McDonald‘s, Chewinggum. Wie sieht es mit pektiert: Krawatte, keine Krawatte; Bart, kein Bart – der Kultur aus? wurscht. Du wirst erstmal respektiert als das, was du T: Na ja, es gab Thornton Wilder, gleich als er- bist. Auch eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte, stes, das war ja alles sowohl Teil der Aufarbeitung als war ja früher nicht so, früher hat man mich ange- auch des sich Entschuldens. Man weinte, während pflaumt mit meinem Bart. »Warum siehst du so Thornton Wilders »Unsere kleine Stadt« gespielt aus?« Natürlich gab es einen amerikanischen Anti- wurde, und hat damit auch irgendwie sich selbst be- semitismus! Aber die Entwicklung dieses Landes im weint und entschuldet. Man muss ja schuldlos wer- letzten Jahrzehnt ist ja ungeheuer! Der Respekt den. Ja, schon. Und man begann, Hemingway zu le- heute voreinander, wie man miteinander umgeht – sen, man begann Faulkner zu lesen, ich kann mich zum Teil auch in Deutschland, ich sehe es ja auch sehr gut an diese Zeiten erinnern, rororo mit den er- da. Ich bin beeindruckt, und das ist amerikanische sten amerikanischen Romanen, da gab es ja eine Kultur. Wenn ich den Simpson-Case da verfolge, die- ungeheure Hinwendung zu Amerika, die aber natür- ser amerikanische Richter und die Ankläger und die lich auch damit zu tun hat, dass man ja nur von den Verteidiger, das sind alles Schwarze, und die werden Stärkeren besiegt werden wollte und nicht von mit »Sir« tituliert, und während meines Amerika- Schwächeren. Also, dass die gesiegt haben, musste Aufenthalts stand an den Restaurants: »Schwarzen irgendwie gerechtfertigt werden, sonst hätte man ja ist der Eintritt verboten!« In New York! Und jetzt wird selber gesiegt. Und damit mussten also den Ameri- der Herr Verteidiger mit »Sir« tituliert, von einem kanern alle Tugenden in die Schuhe geschoben wer- Weißen, und niemand denkt sich etwas dabei! Das den, alle Tugenden, sowohl die geistigen als auch die ist Kultur! Toll. materiellen. Man wurde von den Amerikanern be- B: Aber das meinen Sie nicht, wenn Sie in einem siegt, also musste das gerechtfertigt werden, dass Interview sagen: »Heutzutage ist die ganze Welt man von ihnen besiegt wurde. Und damit wurden die amerikanisch«? Amerikaner vergötzt. Und der Vietnamkrieg hat dann T: Nein. Das, was ich meine, ist, dass es nurmehr natürlich damit aufgeräumt, das ist klar. dekadente Städterkultur gibt, keine Landkultur mehr B: Aber wenn ich Sie jetzt danach fragen würde, und keine Bauernkultur mehr und keine Indiokultur wie Sie für sich den Begriff amerikanische Kultur mehr – das ist ja zum Weinen. Aber ich habe das ge- bestimmen würden... rade noch erleben dürfen und Filme darüber machen T: Das ist wie mit der jüdischen Kultur. Natürlich dürfen, und wenn ich jetzt dahin zurückkomme, ist kann ich Ihnen darüber viel erzählen, ich bin ja eben alles weg! Das meine ich. Diese Art von Instinktiv- sozusagen Amerikaner geworden. kultur, die ist heute nicht mehr da. Heute sind alle Ju- B: Ja, Sie haben einen amerikanischen Pass. den, heute sind alle amerikanische Juden, wohin im- T: Ich bin Amerikaner geworden und habe aus mer du kommst. Es sind alles gefinkelte Großstädter, ursprünglichem Amerikahass doch eine Amerikaliebe die sind alle viel mehr gefinkelt als ich, und ich bin 50 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

primitiv und blöd und bäuerisch, verglichen mit dem, sprechen«, aber er hat das immer gekappt. Und mit was die Leute sind! Ich mag keine Mobiltelefone, ich Recht, weil ich nicht wusste, wie ich es schreiben soll. habe keinen Computer, ich habe keinen Taschen- Jetzt weiß ich, wie ich es schreiben soll, aber das wa- rechner, ich mag diese Dinge nicht. Aber ich bin ja ren mehr oder weniger meine allerersten Drehbücher, unmöglich altmodisch jetzt schon, ich bin ja ein Bau- und ich wusste noch gar nicht, wie man Drehbücher er, verglichen mit dem, was ihr heute seid! schreibt, und er musste mir das überhaupt erst bei- B: Sie haben das Kino erwähnt. Ist Hollywood für bringen. Und insofern stimmt das dann schon alles Sie auch etwas Bewundernswertes? so. Aber das, was ich sagen wollte, ist da nicht so T: Natürlich. Die Franzosen mit der Nouvelle va- sehr drin. gue meinten ja, es gebe überhaupt nur mehr Hitch- B: Das kommt dann erst in dem Buch. Es ist auch cock, das fand ich nun ein bisschen übertrieben, die- schwierig, es pendelt ja bei Ihnen auch oft zwischen se Liebe der Franzosen zum amerikanischen Kino. Vorlieben fürs Wort und fürs Bild, und ich glaube, ir- Die Deutschen haben das von den Franzosen über- gendwo gibt es Grenzen für eine erlebte Biographie nommen. beim visuellen Medium. Sie sind für mich mehr prä- B: Gerade beim Kino und Film fällt mir auf, dass sent in den Filmen, die Sie selber machen, selbst Sie sich immer wieder zu Vorbildern äußern, aber wenn Sie sich mit anderen Personen beschäftigen, dann betonen, dass Sie Ihre Filme sehr autodidak- als in dem Corti-Film. Das muss entweder am Medi- tisch machen. Haben Sie persönliche Vorlieben, etwa um oder an den Bildern liegen, dass vieles eben – aus dem französischen Kino, oder ist es wirklich für z.B. Feinheiten der Sprache, mal ironisch, mal sar- Sie sehr viel, was da zusammenkommt, so dass Sie kastisch – sich im Bild nicht so deutlich vermittelt. Es dann doch eher individuell arbeiten? Ich erinnere zum ist überhaupt eine Frage für mich, wie jemand wie Sie Beispiel an das Cinema Vérité. zum Fernsehen kommt, der sehr viel mit Sprache ge- T: Ja, ich fand das sehr gut, aber ich habe über- arbeitet hat. haupt sehr wenig Filme gesehen, und sehe auch jetzt T: Über das Radio. Ich habe Theaterwissenschaft noch wenig Filme, inzwischen wegen schlechter Au- studiert, ich war begeisterter Fotograf, ich war an Li- gen. Ich hatte nie Filme gesehen, hatte nie Kinokul- teratur interessiert, war an Gedichten interessiert, am tur, das, was ihr alle so toll draufhabt, hatte ich ja nie. Wort interessiert, ich war Satiriker wie Karl Kraus, Ich habe diese meine Form, die empfand ich als so und es kamen so und soviel Dinge zusammen, die normal, dass man so Filme macht, wie ich sie mache, dann beim Fernsehen zusammenschossen. Aber ich das erschien mir nie etwas Besonderes. Und nachher hatte zu der Zeit bereits ein Dutzend Radiojahre hin- bin ich halt dabei geblieben. Natürlich sind da be- ter mir und das Bestreben, im Hörfunk so bildhaft wie stimmte Einflüsse der Nouvelle vague und des Cine- möglich zu sein, also der Versuch, keine leeren ma Vérité, aber nur, weil ich hier und da mal etwas Worthülsen zu verwenden, sondern alles, was ich gesehen habe, aber ich empfand nicht unbedingt das sagte, so konkret und vorstellbar wie möglich zu ma- Bedürfnis, das alles zu studieren. Das ist komisch. chen. Ich habe ja sehr früh, als erster geradezu, mit Ich habe mich geärgert darüber, dass ich so bin, aber einem Tonbandgerät Originalreportagen gemacht, ab so war es nun einmal. Und dann hatte ich auch viel 1953 oder 1952. Die ersten, allerersten Tonbandge- zu viele Filme zu machen, als dass ich viel Zeit ge- räte habe ich gehabt und damit gelernt, wie man die habt hätte, mir andere Filme anzuschauen. Wir ha- Geräusche, die Umgebung, die Leute und so weiter ben ja 13 Pariser Journale im Jahr gemacht, also alle einbaut in die Reportage, damit die Reportagen visi- vier Wochen eine 45-Minuten-Sendung, einschließ- bel werden, damit sie sichtbar, vorstellbar werden. lich Schnitt, das müssen Sie sich mal vorstellen. Und als dann endlich das Fernsehen kam, das Bild B: Eine Frage noch, die ich vorhin vergessen ha- kam, habe ich instinktiv gewusst, was ich machen be bei Axel Corti und Ihrer Verfilmung »Selbstbe- soll, und liebte das sofort. Das war genau mein Medi- schreibung« – nein, das ist ja eine »Verbuchung« des um! Da hinein wollte ich. Bildsprache, Reportageele- Films, der Film war ja zuerst da, das Drehbuch, und mente, philosophische Elemente, Nachdenkliches, dann haben Sie das Buch geschrieben. Können Sie Erlebtes, alles kam da zusammen. Das Theatralische sich vorstellen, dass für mich der Film nicht diese und der Aufbau dieser Reportagen: auch wenn Sie Substanz hat wie das Buch? Das heißt konkret ge- am Anfang nur Drei-Minuten-Reportagen machen, die sagt, ich finde Sie in dem Film weniger wieder als im haben auch ihren eigenen Aufbau. Alle diese Dinge Buch. hatte ich in der Theaterwissenschaft gelernt und im T: Ich wollte, Sie hätten das meiner Frau gesagt. Theater. Und im Kino. Ich wollte immer schon Re- Meine Frau fand diese Bücher unnötig: »Du hast ja portagen und Dokumentationen machen, die kino- eh schon alles im Film gesagt!«. Die Tatsache ist, mäßig sind. Das alles kam dann zusammen und war dass ich noch immer nicht alles gesagt habe, ich ha- für mich der Eintritt in mein Eigentliches, in etwas, be schon seit Jahren ein Filmdrehbuch geschrieben, das mir selbstverständlich war. Dass Bild und Wort indem ich es dann so sage, wie ich es eigentlich und so weiter zusammen da sind. empfinde. Axel Corti hat mich nicht so gelassen, wie B: Gibt es eigentlich aus Ihrer Hörfunkzeit noch ich wollte, aber er hat wahrscheinlich recht gehabt. Material? Kassetten- und Tonbandmaterial, oder wis- So ist es nun, ich konnte das, was ich instinktiv hätte sen Sie das gar nicht? sagen wollen, bei Axel nicht ausleben. Und er hat T: Ich glaube, ich habe ein, zwei Dinge hier auf mich auf das zurückgebracht, was diese Filme ent- Tonband. Ich habe die aufgehoben in irgendwelchen halten, das heißt mehr Äußerlichkeit in der Emigrati- Kartons, aber ich habe bestimmt drei-, viertausend on. Ich sagte immer: »Ich möchte von etwas anderem solche Dinger gemacht. Ich war bekannt als Radiore- Interview mit Georg-Stefan Troller 51

porter, habe sehr gut verdient und war ein Meister »Holocaust« im Fernsehen. Auf einmal haben die des Hörfunkfachs, bevor ich zum Fernsehen kam. Leute gesagt: »Nein, gibt es denn so etwas?« Aber Das war für mich sehr wichtig, vor allem die Frech- wir wussten es doch, wir haben Flugzettel verteilt mit heit, an Leute heranzutreten und zu erwarten, dass allen Lagern in Sibirien und so weiter bei Brecht, bei sie einem Antwort geben. Das habe ich natürlich im Bertolt Brechts Vorführungen des Berliner Ensembles Hörfunk gelernt, weil ich von Natur aus schüchtern in Paris – die toll waren, á propos –, wir haben Flug- bin. zettel verteilt, und da waren die ganzen Gulags drauf, B: Auch als Mittel dagegen. und die Leute haben gesagt »Lüge, amerikanische T: Ja, man musste ja nun rumgehen und den Propaganda« und so weiter. Aber es stimmte, und ich Ruck muss ich mir jetzt immer noch geben, so wie wusste, dass es stimmte! Ich bin gegen Lager, wer wenn wir auf eine Party kommen, wo wir die Leute immer sie aufrichtet. Und dass die Gulag-Lager so nicht kennen. Ein Ruck, und anfangen, mit Leuten zu gut waren wie die der Nazis, das war mir auch klar. reden, witzig zu sein, trinken, »Hallo, wie geht's?«, Und da haben wir also Propaganda gemacht, aber und schon hat man Kontakt. Aber das ist jedesmal für die Propaganda wurde immer dünner und dünner. mich eine Überwindung und eine wahnsinnige An- Und die Amerikaner waren ja »Radio free Europa«, strengung. »Radio Liberty« in München, das waren solche Sen- B: Anfang der 50er Jahre haben Sie ja zunächst der, aber das, was wir machten, war ja schwach. Ich für österreichische und dann für deutsche Sender kann mich nicht als amerikanischer Agent empfehlen. gearbeitet. B: Sie haben dann ja auch die Entwicklung in der T: 1951 habe ich angefangen. Dann gab es das Bundesrepublik in der Zeit des Kalten Krieges beob- Programm »The Answer Man«, ein amerikanisches achtet. Wie haben Sie die Wiederbewaffnung wahr- Programm für den Marshall-Plan. Das wurde in allen genommen? Ländern ausgestrahlt, und wir hatten unser Büro in T: Das fand ich furchtbar. Wir wussten natürlich, Paris, da war die Zentrale, Sprecher in allen Spra- dass damit die Entnazifizierung zu Ende war, genau- chen Europas, die zu Europa gehören sollten, zum so, wie auch mit dem Mauerfall wieder etwas zu Ende Marshall-Plan. Da war Österreich, ich vertrat Öster- war. Aber ich meine, das war ja schon lange vorher, reich, wir hatten auch einen Deutschen. Dieses Pro- wir wussten ja, dass das schon begann, als wir noch gramm war sehr beliebt, der österreichische Sender Besatzungsmacht waren 1946, da begann das schon. hieß Rot-Weiß-Rot, und der Mann, der meine Texte Die Deutschen wurden hofiert gegen die Sowjets sprach, die ich in Paris notdürftig zusammenstückelte 1946. Ich hatte das alles schon gespürt und wusste aus uralten Brockhaus-Enzyklopädien, der wurde mal dann Bescheid. Die deutsche Wiederbewaffnung war gefragt, woher er so weise wäre, warum er alles das letzte, was unsereins wollte. Aber andererseits wüsste, und er sagte: »Zwar weiß ich viel, doch die Einbindung in ein kommendes Europa war ja wie- möchte ich alles wissen«. Dabei wusste der gar der sehr schön, und Deutsche und Franzosen zu- nichts und hat nur meinen Text verlesen, was auch sammen, das war wieder etwas Tolles! Man war na- lustig war. Dann löste sich das auf, und daraus ent- türlich innerlich zerrissen, aber wann war man nicht wickelten sich stufenweise immer andere amerikani- innerlich zerrissen? Ich war eben kein Kommunist. sche Vereine, einer hieß »Mutual Security Agency«, Die Kommunisten waren gegen die deutsche Wie- ich habe die Namen alle vergessen, und daraus ent- derbewaffnung. Punkt. Und da ich kein Kommunist wickelte sich am Ende die »Stimme Amerikas«. Das war, sondern sozusagen Europäer, konnte ich das verwandelte sich immer, Bürokratien sterben nicht, nicht so hundertprozentig ablehnen. Aber die Vor- sondern verwandeln sich, unter anderem Namen, es stellung, dass es jetzt wieder deutsche Soldaten gab, waren immer dieselben Leute, aber sie taten immer war natürlich höchst unangenehm. Aber was Sie nicht etwas anderes. Einen Moment lang hatten wir »Re- erwähnt haben, was man vielleicht erwähnen sollte, port from Europe«, das war für Amerika bestimmt. nämlich den deutschen Tourismus nach Paris, die B: Die Anfänge, das Reportieren, würden Sie das deutsche Vergötterung von Paris, die ungefähr der auch unter dem Begriff Journalismus als Aufklärung Italienschwärmerei zur Goethe-Zeit entsprach. Rom- verstehen? Schwärmerei zur Goethe-Zeit, so war diese Paris- T: Das alles sah ich in dem Moment nicht. Jour- Schwärmerei in den 60er Jahren. Und mein »Pariser nalismus, um mein Leben zu verdienen, war alles, Journal« war, ohne dass ich die geringste Ahnung was ich in dem Moment sah. Die amerikanische Poli- davon hatte, Ausdruck dieser Schwärmerei. Und die tik, die hatten ja den Antikommunismus auf dem Pa- Liebe zu mir, die Begeisterung für das »Pariser Jour- nier, es musste die überwältigende Macht der franzö- nal«, die ich ja sehr stark zu spüren bekam. Und da sischen Gewerkschaften, die ja rein kommunistisch kamen diese Deutschen zurück nach Paris, das sie ja waren, der französische Gewerkschaftsbund musste erst vor ganz wenigen Jahren besetzt hatten, und das doch irgendwie bekämpft werden. Es wurde von den waren zum Teil dieselben Leute, und sie waren sen- Amerikanern ein antikommunistischer Gewerk- timental und haben ihre alten Dienststellen gesucht. schaftsbund in Paris gegründet, FO, gibt es heute Das war ja natürlich arg komisch, und die Franzosen noch, von der CIA bezahlt, war aber wichtig, denn der empfanden es auch als komisch. Da kamen die Deut- Kommunismus bedeutete in Frankreich wie in Ameri- schen und schwärmten für Montmartre und ka eine ganz große Gefahr! Und ich war Antikommu- schwärmten für Sartre und liefen an den Seine-Quais nist, nicht im Sinne eines Fanatismus, sondern einer herum, und es waren ja dieselben! Das war ja auch Ablehnung der Gefährdung Europas durch Stalin. Wir igitt! Sehr komisch. Aber Frankreich war nicht eine wussten Bescheid über Gulag, Solschenizyn war wie geistige Macht, sondern etwas Sentimentales. So 52 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

muss man diese Begeisterung für Sartre und Camus nachher Bildjournalismus war mein persönliches Un- einordnen. Man durfte verzweifelt sein, Stichwort Exi- terfangen, wieder Mensch zu werden! stentialismus, nicht wahr, aber dazu gehörte ja eine B: Gehört dazu auch dieses Sich-Selbst-Finden, Art Uniform, schwarz, und ein Café, in dem man sit- aber an die Deutschen gerichtet? Es fällt ja schon zen durfte. Und man durfte also verzweifelt sein auf auf, dass Sie es immer an die Deutschen gerichtet theatralisch, auf die moderne Tour. Und da kam diese haben. Sie könnten es ja auch an die Österreicher ganze Jugend anmarschiert und war verzweifelt im richten. Café Les Deux Magots. T: So ist es. Ja, ja. Aber es war ja noch viel mehr. B: Aber nach dem Hintergrund gefragt: War Exis- Der Wunsch, geliebt zu werden. Bevor ich ihnen das tentialismus oder Existenzphilosophie für Sie eine sagen kann, was ich sagen will, und wo sie es dann Moderscheinung? nicht mehr ablehnen können, die Bücher und die Fil- T: Eine Modeerscheinung und sonst gar nichts. me, weil sie mich ja jetzt schon lieben – das habe ich B: Sie äußern sich ja sehr wenig dazu. schon gespürt. Und das ist der Entwicklungsgang der T: Ich habe mich damit nicht intensiv befasst, ob- ganzen Sache. wohl ich habe natürlich Sartre gelesen habe. B: Aber es sollten die Deutschen sein, nicht die B: Sie beschreiben ja sehr schön in Ihrem Buch: Österreicher? »Ich habe ihn mal von ferne gesehen«. Übrigens: T: Ja, ich hätte es auch gerne an die Österreicher Haben Sie sich jemals als deutscher Auslandskorre- gerichtet, aber es hat sich halt nicht ergeben. Natür- spondent in Paris gefühlt? lich, die Emigranten-Trilogie war ja dann von Öster- T: Nein. reich produziert, das war für mich ungeheuer wichtig, B: Gab es denn überhaupt für Sie diese Vorstel- dass ich mich an Österreich wende, und ich dachte, lung, dass Sie, wie das ja hierzulande hieß, »Unser es wird sich doch ein Mensch in meiner Vergangen- Mann in Paris« waren? heit melden, auch nach den Büchern, aber es hat T: So nannte man mich manchmal, ich war total sich ja keiner gemeldet! verblüfft. Oder einmal sagten sie, ich hätte mehr ge- B: War die Reaktion aus Deutschland größer als tan für die deutsch-französische Freundschaft als je- aus Österreich? der Botschafter. So etwas hat mich total verblüfft! Ich T: Sie war hundertmal größer. hatte damit überhaupt nichts zu tun! B: Haben Sie das als nachträgliche Rehabilitation B: Sie haben ja immerhin berichtet. empfunden? T: Ja, aber das war etwas völlig anderes. Das war T: Nein. ja für mich der Versuch – es waren ja nicht nur Fran- B: Nach dem Motto: Früher verstoßen und jetzt zosen, ich hatte ja viele Amerikaner da drin –, der anerkannt! Versuch, mit dem Gespenst »Paris«, mit dem T: Anerkannt werden müssen. Ihr könnt gar nicht Schrecken von Paris fertigzuwerden, aber auch mit mehr anders, als mich anzuerkennen, darauf läuft es dem romantischen Paris, das in den Griff zu kriegen. hinaus. Das rüberzubringen, das war irgendwie persönlich- B: Darf ich mal nach Bekanntschaften oder ster Ausdruck von mir, das war meine Selbstdarstel- Freundschaften im Kollegenkreis fragen? lung auf dem Umweg über Paris an die Deutschen T: Kaum, nur zu Kameramännern, zum Team, die gerichtet. Es war der Versuch, mich in den Griff zu Liebe zum Team, das Solidaritätsgefühl zum Team, kriegen, mich zu realisieren, zu einem Zeitpunkt, wo die Tatsache, dass jemand, der unsere Kamera an- ich ja verflucht verloren war und überhaupt nicht mehr rührte, von mir mit der Faust ins Gesicht geschlagen wusste, wer ich bin. Ich war in einem psychologisch wurde, das ist für mich wichtig gewesen. Das ist für angeschlagenen Zustand, das kann man ja den mich wichtig gewesen, dass ich zum Team gehörte Leuten heutzutage nur schwer begreiflich machen: und es zu mir, und dass ich nicht mehr allein stand, Ich war ja total isoliert durch diese Emigration, total sondern dass da eine Gruppe von Leuten war, deren kontaktlos, kannte niemanden, ich war ohne jede Chef ich war, deren Häuptling ich war, und dass dann menschliche Verbindung. Und diese Rundfunkrepor- das, was ich sagte, galt, und dass die das, was ich tagen und nachher noch viel mehr die Fernsehrepor- tat, als etwas Künstlerisches empfunden haben und tagen waren ja meine Möglichkeit, mit dem Leben sich dem unterordneten, das waren alles ungeheuer überhaupt Kontakt aufzunehmen, und sind es bis wichtige Erfahrungen für mich! Und die Sprache, heute geblieben! Diese innere Notwendigkeit ist mög- dass ich meine Sprache mehr und mehr durchsetzen licherweise der Grund dafür, dass das auch irgendwo durfte, die mir persönliche Sprache, nachdem ich künstlerische Gebilde sind; aber das kann man ja natürlich angefangen hatte mit einer Verlegenheits- niemandem begreiflich machen. Die Leute wollen alle sprache, mit einer angelesenen Sprache, denn die- intellektuelle Gründe dafür finden. Waren sie aber ses Deutsch war ja schon zum Teil verschwunden, nicht, es waren allein existentielle Gründe für mich. und dass ich dann zu meiner Sprache kam, zu mei- Wem kann man das erzählen? Die Leute glauben es ner Bildsprache und zu meiner Wortsprache, und einfach nicht, die können ja auch nicht glauben, dass dass die Leute dann sagten, das sei also witzig oder ich in New York verloren war, wo doch New York so brilliant oder unterhaltsam – dass das Echo kam, das interessant war, dieser ganze Jazz in Harlem, von Feedback, das waren alles ungeheuer wichtige Ereig- dem man überhaupt nichts wusste! Die können es nisse für mich! Aber die Leute in den Sendern, die nicht verstehen, was es bedeutet, isoliert zu sein, waren immer erschreckend für mich, die hatten ja kein menschliches Zusammengehörigkeitsgefühl zu Macht über mich. Und bei allem guten Willen hatten empfinden und so. Und dieser ganze Radio- und die ja keine Ahnung von mir! Ja, ich habe zehn Jahre Interview mit Georg-Stefan Troller 53

lang für Herrn Wördemann und für Herrn Hübner T: Nein, nichts dergleichen, überhaupt nichts. beim WDR gearbeitet, sehr anständige, hoch achtba- Null. Ich galt als Franzose, die haben mich ja alle für re Leute, oder von Bismarck, oder nachher Stolte, einen Franzosen gehalten. alles Leute, die mich respektierten. Aber ich hatte B: Von Ihnen bewusst verschwiegen? niemals das Gefühl hatte, die begreifen, worauf ich T: Ja, bis 1968 hat man ja überhaupt nicht von hinaus will. Ich musste es ihnen unterjubeln, und es Judentum, Emigration und so weiter geredet. Und funktionierte ja nur, weil es solche Einschaltquoten dann entstand der erste Film der Trilogie, sehr spät. hatte, denn sonst hätten sie mir einen Tritt in den B: 40 Jahre später. Hintern gegeben. Ich habe ja genau das Gegenteil T: Vorher bestand ja auch kein Interesse daran. von dem gemacht, ich war ja kein objektiver Reporter. Auch Giordano hat nichts dergleichen getan. Seine Die haben mir ja so eingeschärft – von der BBC her, Karriere begann, nachdem er beim WDR mit dem der Wördemann hatte ja jahrelang bei der BBC gear- Fernsehen zu Ende war, mit 65 Jahren, und die beitet –, die hatten mir eingeschärft: Objektiv! Kühl! »Bertinis« geschrieben hat! Es war niemand interes- Und ich war ja das Gegenteil, ich war subjektiv und siert, und darum habe ich auch nichts darüber ge- teilweise verlogen, und brachte kleine Kunstwerke sagt. Die Emigration hatte gar nicht stattgefunden, oder kleine Machwerke oder was immer zustande, die das war ja das Eigentümliche, und daher ja auch die- von mir sprachen, auch wenn sie so taten, als wenn se ganz, ganz komische Beziehung, die ich zu den sie von de Gaulle redeten! Ich habe es denen unter- Sendern hatte, die ja doch keine Ahnung hatten, die gejubelt, die wussten ja nicht eigentlich, was das war, ja nichts wussten, und wie sollte ich mit denen reden? und das Lustige: Jedesmal, wenn die mit Ideen ka- Die hatten so eine vage Vorstellung, aber die wuss- men, die Sender, »Machen Sie doch diesen be- ten nichts von Wien, die wussten nichts von Juden- rühmten Kräutersammler, Meshege, ein Kräuterheili- tum, die wussten nichts von Emigration – ich habe ger, ganz Deutschland kennt den und liebt den, und das nicht verheimlicht, aber es kam nicht zur Spra- die bekannte, berühmte singende Nonne in Frank- che! Die Leute erröteten ja vor Verlegenheit, wenn reich und das singende Wunderkind oder dichtende man so etwas brachte, das war ja das richtige Leben! Wunderkind«, und diese ganzen Dinge, von denen B: Als was galten Sie denn dann? Deutschland schwärmte, oder der Winnetou- T: Als Franzose. Vielleicht Elsässer, und die sag- Darsteller, wie hieß der nur? ten, ich sähe so französisch aus, und die entdeckten B: Pierre Brice. einen französischen Akzent bei mir, und selbst der T: »Machen Sie Pierre Brice oder Louis Maria- Jens, der doch irgendwie hätte Bescheid wissen neau, der berühmte Operetten-Tenor« – jedesmal, müssen, hat mich so nicht wahrgenommen. wenn ich so etwas machte, bin ich damit eingesaust! B: Auch bei allen Recherchen, die ich gemacht Komischerweise ging das nicht. Wenn ich die Dinge habe oder habe machen lassen, war bis Anfang der machte, die mich persönlich angingen, betroffen 80er Jahre hinein Ihr Weg von Wien über Frankreich, machten, die ich liebte und so weiter, dann haben die USA und wieder nach Frankreich kaum oder auch gar Leute das mitgekriegt und mich daraufhin angespro- nicht bekannt. chen. Da gibt es ja Erlebnisse noch und noch. Die T: Überhaupt nicht. Die Leute haben mich gefragt: haben mich ja auf Dinge angesprochen, die ich nie »Wie kommen Sie denn nach Paris?«, und ich habe gemacht habe! Die dachten ja, sie hätten es gese- gesagt, »Das ist halt so ein Stipendium«. Dass es ein hen, aber sie haben es nicht gesehen, das war alles amerikanisches Fulbright-Stipendium war, hätte ich in ihrer Liebe drin, in ihrer Illusion, in ihrer Vorstellung schon niemandem erklären können, und dass ich von dem, was ich will! Damals haben die mich alle amerikanischer Soldat gewesen bin, Besatzung und auf der Straße angequatscht, und heute sagen die so weiter, kein Aas hat sich dafür interessiert! Das alle: »Meine Mutter hat Sie immer so geliebt!« Und gab es ja gar nicht, fand ja nicht statt. Und da, wo ich hatte ja keine Ahnung, ich lebte ja nicht in kein Publikum ist, gibt es auch kein Produkt, das sich Deutschland, das waren ja nur solche Zufallstreffer. dem Publikum anbietet. Erst muss das Publikum da Ich habe mich ja immer gedrückt davor, wollte bloß sein, dann kommt das Produkt. Und das Produkt nicht angequatscht werden, war immer verlegen, kam, als das Publikumsinteresse kam, es konnte wenn die Leute mich anquatschten. Das war schon vorher gar nicht kommen. Hat vielleicht auch sein ein ganz eigentümliches Verhältnis, aber das war in Gutes. Denken Sie nur an die ersten KZ-Bücher, mit denen drin, nicht in mir! Und das, was ich machte, Ausnahme vielleicht von dem Kogon-Buch, das ja nur waren ganz subjektive, persönliche Sachen, und die SS betraf, die sind gar nicht wahrgenommen wor- Formgebung finden, eine Form finden, für die Fern- den! Wieviel Memoiren gab es aus dem KZ? War ja sehdokumentarfilme, eine Dokumentarfilmform fin- alles da, wurde nur nicht wahrgenommen. den, die mir lag. Mit Text – man kann es ja auch ohne B: Aber es gab ja auch bei Ihnen, so haben Sie –, aber meistens mit Text. Die Leute wollten Sprache, sich wenigstens manchmal vorsichtig geäußert, eine meine Sprache hören, und wollten meine Bilder se- Zurückhaltung, sich selbst damit zu befassen. hen, und da war eine Wechselbeziehung, die sehr T: Nur im engen Familienkreis. Mit wem reden? rührend war. Und das ist vielleicht einer der Gründe, warum Sie B: War eigentlich den zuständigen Programmver- mich nach Kollegen gar nicht ausfragen dürfen. Die antwortlichen der verschiedenen Sendeanstalten Ihr wussten ja gar nichts von mir! Troller, das ist doch Lebensweg bewusst? der... Sie sprechen ja sehr gut Deutsch! Und einmal, kann ich mich erinnern, der Schulze vom RIAS, ich glaube, den gibt es sogar noch,... 54 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

B: Ja, der ist pensioniert, aber es gibt ihn noch. B: Wussten die von Ihrer Vergangenheit? T: ... riet mir ganz wütend zu einer Art »Sprach- T: Ja, das fing dann an. Wir haben über Israel ge- unterricht«. Natürlich machte ich die typischen Emi- dreht oder wir haben sehr viel mit Juden gedreht, in grantenfehler, sagte Brieftasche zur Aktenmappe, Amerika und so, nicht wahr, und ich sagte dann weil es eben auf amerikanisch »briefcase« heißt, »meine Leute«, und das war dann immer ein Witz, sagte »Tenór« statt »Ténor«, weil ich das Wort nicht »Troller dreht seine Leut'!« Und das war dann akzep- kannte, ich kannte es nur vom Lesen, nicht vom Aus- tiert, und die fanden das auch wieder toll! Und da- sprechen, und ich habe also falsch gesprochen in durch kam dann über die Teams, die Cutterinnen und den Texten, und Schulze war wütend und konnte gar so ein warmes Verhältnis zustande, aber sehr spät. nicht begreifen, wieso ich das eigentlich gar nicht Eigentlich erst mit der »Personenbeschreibung«. Mit weiß, was jeder Deutsche doch weiß! Und ich habe der Elfi Pfeiffer, der Cutterin zu Beipiel, mit der ich auch nicht gesagt: »Entschuldigung, aber ich war ja jetzt 18 Jahre arbeite, denen gegenüber konnte ich schließlich jahrelang emigriert!« Das gab es ja alles dann sein, wie ich war, das war für mich ungeheuer nicht. Und deswegen dieser mangelnde Kontakt. Ich wichtig. habe ja nie in Deutschland gelebt, kannte Deutsch- B: Es überrascht ja gerade nach Ihrer Erfahrung land nicht, kannte Köln und wo ich eben zu tun hatte in Frankreich, dass Sie dann in Paris sozusagen bei den Sendern, aber ich bin in meinem Leben nicht »hängen geblieben« sind. Ihre Zeit während der Emi- in Hannover gewesen und war nie in Bremen oder in gration in Frankreich war ja nicht sehr positiv. Emden, war nie in Augsburg und so weiter, und habe T: Nein. Und ich habe über Jahre hinweg immer auch jetzt bei meiner Reise durch Deutschland für einen unausgepackten Koffer gehabt. Nun kam mei- meinen Film viele Orte überhaupt zum ersten Mal ge- ne erste Ehe hier, ein Kind, langsam hat man sich – sehen! Ich kannte Deutcshland nicht, und sprach hier ich will nicht sagen »verwurzelt«, denn ich bin hier mit Deutschen, von denen ich finanziell abhängig nicht verwurzelt – »gewöhnt«. Und dann wusste man war, karrieremäßig abhängig war, und habe mich ja nicht, wohin gehen. Wohin sollte ich denn gehen? natürlich wahnsinnig zurückgenommen und kontrol- Nach Wien? Nach Deutschland – warum und wohin? liert, um nur ja keinen falschen Zungenschlag und so, Und dann stellte sich heraus, dass die Tatsache, aber wie hätte ich mit diesen Leuten ein Vertrauens- dass ich in Paris wohnte, natürlich einerseits sehr er- verhältnis herstellen sollen? Ich kann mich erinnern, giebig war, weil ich Unmengen Artikel und Sendun- dass der Hans-Joachim Lange, ich weiß nicht, ob Sie gen über Paris machen konnte. Die Leute wollten noch den Namen kennen, vom WDR, der mir unge- über Paris etwas wissen, das war natürlich sehr nütz- heuer gut gesonnen war und auch ein Buch über Ju- lich, dass ich hier war und mich hier auskannte. Und den geschrieben hat, mit dem er seine literarische auch finanziell war es wichtig für mich. Und dann Karriere kaputt machte, die Bilder des alten KZ, nicht eben das »Pariser Journal«, das konnte ich nicht von zu mir durchdrang, weil meine Angst vor deutschen Deutschland aus machen, das musste von hier ge- Autoritäten auch in den Sendern zu groß war, als macht werden, über zehn Jahre hinweg, und nachher dass ich mich hätte einlassen können auf Freund- saß man in Gottes Namen hier fest. Aber ich bin schaft. Und er war schockiert, dass ich mich nicht auf heute dem angelsächsischen Kulturkreis enger ver- eine Freundschaft mit ihm – er war Programmdirektor bunden als dem französischen – das ist sicher. Ich – einlassen konnte. Ich konnte ihn nie anders sehen habe ja in Amerika studiert, mein Bruder lebt in Lon- denn als Programmdirektor. Furchtbar, diese Autori- don, ich fühle mich, wenn ich nach Amerika komme, tätsangst, die Angst vor Leuten, auch dass sie mich eigentlich daheim. ertappen, dass sie darauf kommen, dass ich von B: Sie formulieren immer, wenn Sie über Sprache Deutschland nichts weiß, dass ich von der deutschen sprechen, über Mutter- oder Fremdsprache, dass Sie Politik nichts weiß und so weiter. Englisch so gut wie Deutsch sprechen oder umge- B: Die Angst hatten Sie aber nicht vor Franzosen kehrt, und dann setzen Sie das Französische etwas oder Amerikanern? ab und sagen, ich spreche sehr gut Französisch. T: Denen war es ja egal. Da hatte ich ja nichts zu Jetzt frage ich Sie doch mal nach Ihrer Mutterspra- verlieren. Natürlich hatte ich Angst vor französischen che. Behörden, ist ja klar. Ich hatte ja Frankreich erlebt T: Meine Muttersprache ist das Wienerische. 1939 bis 1941! Klar, das ist bestimmt noch jetzt in Vielleicht versetzt mit Jiddisch, ganz wenig. Das ist meinen Knochen. Aber die Angst, gefeuert zu wer- meine Muttersprache, Mamelosch, das ist das, wo den, was mir passiert ist im deutschen Rundfunk, die man sich am Intimsten ausdrücken kann. Am meisten Angst, dass man mir sagt, »Wir brauchen Sie jetzt »relaxed« bin ich auf Englisch, oder soll ich sagen nicht mehr, werden Sie mal freier Mitarbeiter!«, und am hemmungslosesten bin ich auf Englisch, am »Wir wollen jetzt dieses »Pariser Journal« nicht mehr selbstverständlichsten bin ich auf Englisch, »easy- machen!«, das wurde mir x-mal angedroht! »Das ist going«. Deutsch immer etwas geschraubt, etwas zu jetzt schon zu lange gelaufen« und so. Diese Angst, literarisch, im Englischen am umgänglichsten, am das war es! Und mit lauter Leuten zu reden, die keine gemütlichsten, am unbefangensten auf Amerikanisch. Ahnung von mir hatten! Das ist wunderbar, ohne Anspruch, ohne suchen zu B: Haben Sie diese Angst vor den Deutschen ir- müssen, ohne Wortverpflichtungen. Im Deutschen gendwann verloren? habe ich die Wortverpflichtungen. Ich glaube, der Be- T: Hauptsächlich über die deutschen Fernsehteams, griff ist von Peter Handke. Es ist anstrengend – wirk- mit denen ich arbeitete, und die mich dann als Kolle- lich wie bei Handke jetzt. Im Englischen bin ich ver- gen ernst nahmen. antwortungslos, toll, kann mich gehen lassen, völlig Interview mit Georg-Stefan Troller 55

wurscht, wie ich da rede. Im Deutschen habe ich eine auf die andere. Gott behüte, ich muss es jetzt noch gewisse Verpflichtung, mich richtig, mich gut auszu- ins Französische übersetzen und muss im Französi- drücken, eine Wortwahl, und dadurch kommt dann schen witzig sein! Wahnsinnig schwer, aber ich habe öfters etwas Künstliches in meine Sprache, wenn ich das hingekriegt. Deutsche Witze ins Amerikanische Deutsch rede. Aber nicht, wenn ich Amerikanisch re- übersetzen, dass sie auf Amerikanisch witzig wirken, de. ist schon ganz schön hart. B: Es sind aber auch unterschiedliche Lebensge- B: Identität als individuelle Identität ist für Sie fühle, die Sie da ansprechen. dann auch plural? T: Absolut. Im Amerikanischen bin ich weniger T: Da sind wir jetzt wirklich im Metaphysischen. verpflichtet, weniger angestrengt, weniger – ich habe B: Nein, ich meine in der Sprache. der deutschen Sprache gegenüber eine Verpflich- T: Ist man aber nur seine Sprache? Man ist doch tung. Ja, welche? Ihr gehorsam zu sein oder so et- noch viel mehr. was. B: Sie haben ja vorhin nicht nur über Sprache ge- B: Sie benutzen die Worte »Pflicht« und »Gehor- sprochen, Sie haben ja auch Lebensgefühle und sam«... Mentalitäten zum Ausdruck gebracht. T: ... gut Deutsch zu sprechen, weil die deutsche T: Ich kann mich verwandeln, ja. Ich verwandle Sprache immer bedroht ist, wahnsinnig bedroht. Von mich. Ist dahinter eine einheitliche Person, oder ist da Nachlässigkeit, von ausländischem Vokabular – gar keine, oder sind da viele? kaum jemand kann mehr die deutsche Sprache poe- B: Eine sehr vielschichtige Person. tisch benutzen. Sie ist bedroht von Vergegenständli- T: Aber eigentlich müsste es ja eine sein. chung oder Entpoetisierung oder so. Wenn Sie es B: Warum? aufnehmen, bin ich froh, dass es gesagt ist, weil ich T: Ich lese eben »Stiller« von Max Frisch, der be- das sonst so nicht sage. Sie ist bedroht davon, dass fasst sich genau mit diesem Problem. Es kann ja nur sie überhaupt nicht mehr, kaum mehr als künstleri- die eine, einzige, sich selbst realisiert habende Per- sche Sprache einzusetzen ist, außer von ganz weni- son in den Himmel oder in die Unsterblichkeit einge- gen literaturmächtigen Autoren. Ansonsten verkommt hen, ansonsten hast du ja vergeblich gelebt. Aber ich sie wahnsinnig, und das tut mir tief im Herzen weh. weiß es ja gar nicht, ich nehme an, dahinter ist schon Das ist beim Amerikanischen gar nicht der Fall, diese irgendwo die eine Person. Aber die Verwandlung in Sprache ist springlebendig, diese unauffällige Zel- die verschiedenen Personen, die ich so mache, finde lenteilung, diese Sprache wird immer mächtiger und ich natürlich auch sehr lustig. breitet sich immer mehr aus, hat immer mehr Begriffe B: Es gibt ja nicht nur die Menschen, die glücklich, und immer mehr originelle Redewendungen, dieses und die, die traurig sind, sondern auch die, die beides Amerikanisch ist ungeheuer lebendig, wie sich eben sind, eine Vielschichtigkeit in der Normalität. diese Tiere im Meer wahnsinnig schnell vermehren. T: Vielleicht ist das auch für einen Drehbuchautor Und die große Gefahr der deutschen Sprache ist, sehr wichtig, die verschiedensten Personen darzu- dass sie an sich selber zugrunde geht, sich einengt, stellen. Das ist doch schon sehr schön. Den Film, an ihrer Wortohnmacht zugrunde geht. Ich fühle mich den wir in Tirol gemacht haben – da wurde ich ja in- dieser Sprache verpflichtet. Sie hat nur wenig Kreati- nerhalb von einer Woche absolut tirolerisch. Und in vität. Das tut mir weh, weil ich die deutsche Poesie Schottland schottisch und sprach dann auch mit dem tief empfinde. lokalen Dialekt, das kann ich dann sehr schnell. Das B: Das Angelsächsische, vielleicht auch das finde ich wieder sehr lustig und sehr positiv, was mei- Französische ist für Sie das Lebendige? ne Arbeit betrifft. Aber ob da die Gefahr besteht, dass T: Das Französische weniger. Das erstarrt auch, man am Ende gar nichts ist, darüber müsste ich dann ist sehr gefährdet. schärfer nachdenken. B: Wenn ich Sie so beobachte, werden Sie ja B: Das Theater ist für Sie ja auch sehr wichtig. auch lebendiger, wenn Sie über die Lebendigkeit der T: Das Wiener. amerikanischen Sprache sprechen, und Sie ziehen B: Es könnte natürlich auch sein, dass Ihr Leben sich zurück und werden tiefgründelnder, wenn Sie dann eben das Theater ist. über die deutsche Sprache reden. T: So ist es. Ja, klar. T: Man ist in jeder Sprache eine andere Persön- B: Dann müsste doch für Sie das »wahre Leben« lichkeit. Ich bin auf Englisch, auf Französisch, auf dann doch woanders sein. Amerikanisch, auf Wienerisch und auf Deutsch ein T: Ja, aber die Gefahr ist, dass man nie dahin- anderer Mensch, ist ja klar. kommt vor lauter Verkleidung. Und dass man das zu- B: Das heißt: Sie schlüpfen da ganz rein, denken sammensetzen muss aus dem Vorhandenen, also auch in der jeweiligen Sprache? aus dem Geschriebenen und Gesprochenen und da- T: So ist es. Ich denke dann in der Sprache oder von ableiten, dass irgendwo dahinter dann eine kon- die Sprache denkt für mich, und ich bin dann eben sistente Persönlichkeit gewesen sein muss. Aber gibt dementsprechend so. Ich bin auf Französisch grober, es das Lebensgefühl von sich selbst als konsistente unfreundlicher, aggressiver, bin auf Amerikanisch al- Person? Das weiß ich gar nicht mehr so. Das ist eine lermeistens umgänglicher, witziger, und habe eben der Gefahren der Emigration, das wissen wir ja. Ich das Vergnügen gehabt, ein Drehbuch auf Deutsch zu hab das ja hundertmnal gesehen, die Leute wussten schreiben und das dann auf Englisch zu übersetzen, ja am Ende nicht mehr, wer sie waren. Und daher es ist ein witziges Drehbuch, und musste im Deut- auch die vielen Selbstmorde, Verlust der Identität, schen auf die eine Art witzig sein und im Englischen das ist ja ganz schön hart. 56 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

B: Ist das eigentlich bei den Emigranten wie Tho- hat. Das fand ich dann toll. Die Ältere hat es nur in mas Mann oder Bert Brecht nach Ihrer Einschätzung der Schule gelernt und im Studium. Hat auch nie ein auch so wahrgenommen worden? besonderes Interesse dafür gehabt, auch wenn ich T: Thomas Mann hat ja wahnsinnig gelitten unter sie ein paarmal nach Wien gebracht habe. Aber ich der ganzen Sache. Ich habe eben einen Vortrag kann mich erinnern, einmal war ich mit ihr in Wien, gehalten über Sprache in der Emigration – sehr inter- und sie konnte ein bisschen Deutsch verstehen und essant. Brecht konnte ja kaum mehr anständig fragte mich: »Was redest du denn da?« Und ich er- deutsch sprechen oder schreiben. Das ist ja furcht- wischte mich dabei, dass ich zum letzten Mal in mei- bar, wenn man sein Arbeitsjournal liest, das Kauder- nem Leben Wienerisch sprach, und für sie war das welsch, in dem er das zusammenschreibt, ist entsetz- eine totale Verblüffung. Sie kannte mich nur mit mei- lich. nem Deutsch. Ich hab dann nie wieder Wienerisch B: Auch als »Verfremdungseffekt«? geredet, nur geschrieben. T: Sprachverlust. Die ganzen Autoren haben B: Inwiefern ist Ihre Lebensgeschichte Bestandteil wahnsinnig gelitten, sogar Thomas Mann – ich und von besonderer Bedeutung für Ihre Kinder? wusste nicht, dass er sich dazu geäußert hat, aber T: Ja, das ist schon wieder diese Sache mit den ich wusste, dass er darunter gelitten hat. Und im Holocaust-Überlebenden. Die wollen ja, dass die Kin- »Doktor Faustus« spürt man das: Die Souveränität der leicht sind und nicht schwer werden. Ich war nicht der früheren Romane ist da nicht mehr drin. Der im KZ, also kann ich das nicht vergleichen, aber es »Doktor Faustus« ist bemühter und deshalb so hu- ist ein bisschen etwas davon. Ich will, dass meine morlos, denn solange man die Souveränität der Kinder leicht sind und nicht damit belastet. Also habe Sprache hat, kann man ja von oben herab humorvoll ich das, bis sie diese Filme sahen, nicht zur Sprache sein. Wenn man sie auf einmal nicht mehr hat, muss gebracht. man ihr hinterhersprinten, hinterherhecheln, und das B: Gar nicht? ist ja wahnsinnig anstrengend, dabei verliert man den T: Meine erste Frau sagte mir nach unserer Humor. Und das ist beim »Doktor Faustus« leider Scheidung: »Ich habe einen Amerikaner geheiratet drin. Er selber sagte »Ein Fehlschlag«, und in seinem und fühle mich auf einmal einem deutschen Juden Sinne war er auch ein Fehlschlag, der Roman. Der gegenüber!« Sie war Engländerin. Das war für sie ein Sprachverlust ist der Alptraum aller Autoren, fast al- Schock, dass ich mich immer mehr der deutschen ler, mit Ausnahme von Mösch, Arthur Koestler, Hans Kultur zuwendete mit diesem »Pariser Journal« und Habe, und wer noch? Da stocke ich schon. Wer so war für sie – sie sprach kein Deutsch – das natür- konnte es noch? Wegsberg. Wer konnte sich noch lich völlig entfremdet. Es ist mir da erst begreiflich sprachverwandeln? Das ist ja doch nicht das gleiche. geworden, dass es stimmt: Ich habe geheiratet als Klaus Mann. Aber sonst weiß ich schon nicht mehr. Amerikaner, sprach nur Englisch, unsere erste Das ist der Albtraum überhaupt. Und niemandem be- Tochter wurde Englisch erzogen, und Deutsch war greiflich zu machen. Man kann nicht darüber reden, eben die Sprache, mit der ich meine Brötchen ver- weil niemand das geringste Verständnis dafür hat. diente. Und dann mehr und mehr wurde es die Spra- Und der Schulze in Berlin wusste das ja auch nicht, che meiner Filme, meiner Bücher, meiner Seele. was für ein Alptraum das für mich war, wenn ich »Te- B: Wie haben Ihre Kinder das aufgenommen? Ih- nor« falsch betont hatte. Er wusste es ja nicht, er re Lebensgeschichte? Was bedeutet das für Ihre hatte ja keine Ahnung, der Gute, und ich konnte es Kinder heute? ihm auch nicht sagen. Das versteckt man im stillen T: Die Kinder sind ein Teil von mir, aber auch das Herzen. Sprachverlust ist wie Potenzverlust – das werden Sie in sehr vielen Emigrantenfamilien sehen: letzte, wovon man reden kann. Das ist ja das Ende! Es kommt dann die Rückkehr der Kinder, die auf B: Darf ich in dem Zusammenhang noch eine einmal alles über die Eltern herausfinden wollen, aber persönliche Frage stellen? Sie haben ja auch in man- die Eltern reden mit den Kindern nicht darüber. Ich chen Interviews betont, dass Ihre Kinder nicht habe ja keine Schuld, ich bin kein Nazi. Ich habe deutsch sprechen. Warum? nichts aufzuarbeiten. Dass in der Emigration auch viel T: Na ja, so stimmt es nicht. Sie haben beide Positives war, ist nicht etwas, worüber ich mit ihnen deutsch gelernt, und unsere Kleine spricht, wenn sie unbedingt reden muss, um ihnen das Leben zu er- in Deutschland ist, mit einem entzückenden französi- leichtern. Ich rede schon über diese Dinge, aber ich schen Akzent deutsch – das hat ja mit so viel zu tun. höre in Israel genau dasselbe. Junge Israelis müssen Ich habe sie einmal »Welcome in Vienna« ansehen über den Holocaust informiert werden, weil sie nichts lassen. Ich weiß nicht, sie sagte nachher kein Wort. davon wissen. Die Ollen schweigen. Aber es ist ja bei Meine Frau sagte, es hätte sie stark beeindruckt, mir kein verbissenes Schweigen, wie es bei den KZ- auch meine Ältere hat die ganze Trilogie gesehen, Überlebenden der Fall war, obwohl ich ja selber wel- ohne, glaube ich, sehr viel davon mitzukriegen, aber che in der Familie habe. dass ich mit der einen Englisch spreche, mit der an- B: Sie haben auch von einem Onkel geschrieben, deren Französisch spreche... was soll das? Dass ich der Tagebuch geführt hat und der in Auschwitz war. hier sitze und Deutsch spreche, ist doch ohne jeden T: Die Wahrheit ist, dass ich mit den Verwandten Belang. Warum sollen die Kinder dann nicht in ihrer nicht über das KZ gesprochen habe. Einerseits aus Sprache glücklich sein. Die Ältere hat es in der Angst vor der eigenen Verantwortung, man hat sich ja Schule gelernt, und bei der Jüngeren hat meine Frau, gerettet und hat die zurückgelassen, und dann aus die ja Deutsche ist, immer wieder dafür gesorgt, dass Angst, bei ihnen Erschütterungen auszulösen, die sie nach Deutschland kam und dort Deutsch geredet man nicht unbedingt wollte. Dass die doch oft davon Interview mit Georg-Stefan Troller 57

reden wollten, hat man nicht wahrgenommen. Man gespielt, auf drei Zeitebenen, und am Ende stellt sich dachte sich, wenn die darüber reden wollen, werden heraus, dass alles, was dargestellt wurde, auch nur sie schon von selbst anfangen. Aber das ist ein ein Film ist, den ich selber schreibe. Das gefällt mir. schweres Problem in allen jüdischen Familien, das ist Dieses ist mein Lebensgefühl. Schichten und mir erst später klargeworden. Mein Onkel wurde zu- Schichten von Spiel, auch sehr wienerisch, hinter de- letzt von meiner Frau darauf angesprochen. Meine nen möglicherweise das eigentliche Individuum sicht- Kusine, die noch lebt, wurde von meiner Frau darauf bar wird, aber eben immer verkleidet, immer verstellt angesprochen, und die haben dann doch darüber ge- und immer wieder in anderen Phasen seiner selbst. redet. Ich habe es nicht gemacht. Aber wen zum Das gefällt mir. Teufel geht das etwas an? Das sind keine deutschen B: Spiel, um Distanz herzustellen? Probleme. Ich weiß ja auch nicht, was man da tun T: Ja, Distanz und gleichzeitig Intimität. Wenn das soll. Man versucht ja einerseits selber zu überleben, gut gebracht wird, ist schon sehr viel von mir drin, und andererseits den Kindern das Leben leichter zu aber eben auch auf Distanz. Ich halte ja sehr viel von machen. Was soll man denn sonst? Warum soll ich Distanz. Ich glaube schon, dass alle Kunstausübung irgendjemanden damit belasten? Und ich glaube, gleichzeitig Selbstenthüllung und Selbstverhüllung ist, auch unsere Überlebenden haben oft gespürt: War- das kann gar nichts anderes sein. »Auschwitz« ist um soll ich jemanden damit belasten? Das sind doch nicht darstellbar, und deswegen hat Landsmann ge- unerträgliche Belastungen. Wie kann man für sagt, es muss auch nicht, es ist unnötig, es darzu- Deutschland arbeiten, wenn man sich das so zu Ge- stellen, und es ist eine Sünde, ein Verbrechen, es müte führt? Das weiß ich alles nicht. Jeder lebt von darzustellen. Das finde ich nicht. Ich finde, dass es der Verdrängung, irgendwo, da gibt es doch so ge- überhaupt nur möglich ist, das in einem Spielfilm dar- wisse Dinge, die gar nicht aufzuarbeiten sind. zustellen, wenn ein positives Element drin ist. Auch B: Das ist wahrscheinlich zum Überleben notwen- die meisten KZ-Bücher haben die Kraft zum Überle- dig. ben oder etwas dergleichen zum Inhalt. Ich lese eben T: So ist es. den »Großen Gesang«, von Biermann übersetzt, da B: Ich darf Sie noch nach Ihrer gegenwärtigen Ar- ist es ja auch so: Ein Autor schreibt über Auschwitz, beit fragen. ein Autor schreibt über den Holocaust, er dichtet, er T: Ich habe jetzt im Moment vier Drehbücher ge- reimt, also ist das eine Art, künstlerisch damit fertig- schrieben. Ich habe jetzt große Lust, Drehbücher zu zuwerden. Man kann ebensogut sagen, man darf schreiben. Und ich habe tatsächlich eines geschrie- Auschwitz nicht reimen. Man darf nicht »Umschlag- ben, in dem ich die Dinge brachte, die ich in der Axel- platz« mit »Hatz« oder so reimen im Jiddischen, aber Corti-Trilogie nicht bringen konnte, wo drei Lebens- er tat es, er schrieb schöne Reime, das ist auch wie- alter meiner selbst, wo ich in drei Lebensaltern mei- der ein solches Verbrechen, das vergleichbar ist mit ner selbst montiert auftauche und das sage, wie ich »Schindlers Liste«. Man kann über Auschwitz keine es wirklich empfinde. Man hat ja verschiedene total Filme machen und keine Gedichte, aber sie werden unterschiedliche Leben gelebt, aber die sind ja alle in trotzdem gemacht, und sie müssen gemacht werden, einem präsent und wirken aufeinander ein, und das weil der Mensch darüber informiert werden muss. Es wollte ich doch einmal schreiben. Aber das, was mei- gab auch über einen anderen Sündenfall, den Ersten ne Freunde von mir verlangen, ich soll einmal das Weltkrieg, der erste große Sündenfall der modernen Buch schreiben, in dem ich die ganze Wahrheit sage Menschheit, auch eine Unmenge Filme, Bücher und – das kann ich nicht, eben weil da noch zu viel Ver- so weiter, obwohl der – ich will das nicht mit Au- drängtes da ist. Wie zum Teufel soll ich das heraus- schwitz vergleichen – auch nicht darstellbar ist. Dass bringen? Und wen geht das was an? Für wen soll ich in einer einzigen Schlacht mehrere hunderttausend das schreiben? Für ein deutsches Publikum, das eh Leute krepieren, ist nicht darstellbar. Und es wurde nichts davon begreift? Das sehe ich nicht unbedingt gemacht. Spielberg hat die pseudodokumentarischen ein. Für wen? Die Leute, die das verstehen, gibt es Szenen so hervorragend gedreht, also so virtuos ge- doch kaum mehr. Das sind ja Generationen, die dreht, dass man sich sagen muss, ich hätte es nicht schon wieder vergangen sind. Aber als Spielerei, als für möglich gehalten, dass das drin ist. Und er hat Film, ist das möglich. Ich kann spielerisch Dinge sa- andererseits das sogenannte Menschliche zum Teil gen, die ich ernst nicht sagen könnte. Auch dieses so sentimental dargestellt und gegen Ende so uner- Buch ist ja irgendwo Fiktion und nicht die ganze träglich kitschig dargestellt, dass man sich sagt: »Ist Wahrheit, sondern auch Spiel. Und ich kann ja über- denn das nötig? Darf man denn über diese Dinge nur haupt nur spielerisch den Ernst bringen, und ich so reden, indem man diesen ganzen Kitsch herein- glaube, alle Autoren haben es nur so gekonnt. Des- bringt?« Aber allein schon das Dokumentarische und wegen müssen solche Interviews irgendwo abge- die Tatsache, dass meine kleine Tochter, mit der ich blockt werden. nie über diese Dinge reden konnte, es mit ihrer B: Wer soll das Projekt realisieren? Schule gesehen hat hier in Frankreich, wie überhaupt T: Ich habe einen Produzenten dafür, und wir die ganzen Schulklassen reingegangen sind, auch in sprechen mit einem Regisseur, den das eventuell in- Deutschland, ist doch ungeheuer wichtig. Ob das nun teressieren würde und dem ich das zugeschickt habe, künstlerisch hochstehend ist oder nicht, ist doch, ver- aber es ist ein Spielfilm, der am 1. Mai 1945 spielt, glichen damit, total gleichgültig, verglichen mit der ich glaube, am Tag vor Hitlers Selbstmord. Und der Tatsache, dass zehntausende oder hunderttausende zeigt mich so, wie ich heute bin: als Amerikaner 1945 Kinder zum ersten Mal so etwas gesehen haben, und und als kleinen Jungen 1936, von drei Schauspielern zwar von ihrem Lieblingsregisseur hervorragend ge- 58 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

macht. Na, das ist doch etwas, Kinder! Und da hat eh' nichts machen« ist ja zu stark. Aber ich will dar- die Linke zu kuschen und nicht zu sagen »Man darf über nicht reden, weil ich nicht weiß, was ich gemacht nicht!« und so weiter und so weiter. Es ist gebracht hätte. Keine Ahnung! worden und anscheinend, so wie beim ersten Holo- B: Hätte auch ein deutscher Nicht-Jude den Film caust-Film vor 20 Jahren, auch wieder ein Ereignis in machen können? Überhaupt ein deutscher Regis- Deutschland. Und darauf kommt es ja an. seur? B: Was halten Sie davon, dass an »Schindlers T: Ein deutscher Nicht-Jude wäre wahrscheinlich Liste« unter anderem kritisiert wurde, der Film argu- dazu nicht fähig gewesen, aber da setzt die Fragerei mentiere nicht politisch sondern personifiziere einzig überhaupt ein, mit der wir uns zu befassen haben: den Nationalsozialismus in der Figur des Göth? Warum eigentlich nicht? Warum hätte jeder Amerika- T: Warum soll er nicht personifiziert werden? Das ner, jeder Franzose so etwas machen können? Hun- absolut Böse drückt sich ja im Menschlichen aus. dert Hollywood-Regisseure hätten den Film, vielleicht Mörder sind ja auch Menschen und sind absolut bö- nicht so gut, machen können. Und wo ist denn das se. Massenmörder. Der Göth, das war ja so toll ge- Jüdische an Spielberg? Der hat sich ja erst zum Ju- spielt, und der hat das so rübergebracht, nur leider dentum bekannt bei diesem Film. Vorher war da wurde es auf Deutsch nicht so synchronisiert, dass überhaupt nichts Jüdisches. Wo ist das Jüdische bei man auch die deutsche Sprache, die dazugehört, Dinosauriern? Das ist doch alles läppisch, so etwas. dringehabt hätte, wie sie damals stattfand. Es wurde Nein, die amerikanische Kultur setzt voraus, dass schlecht nachsynchronisiert. Aber diese Figur des man so etwas machen kann. Und in Frankreich hat KZ-Kommandanten war in sich schlüssig und absolut ein Regisseur wie Resnais, der – glaube ich – kein überzeugend. Die Mischung von Sentimentalität, Jude ist, »Nacht und Nebel« machen können. Was Gutmütigkeit und Mordlust, purer Mordlust, das hat heißt denn das? Dazu gehört eine zutiefst demokrati- der ja wunderbar gebracht. Schindler war leider weni- sche Kultur und eine Menschenachtung und ein Men- ger überzeugend. Aber er ist als lebendige Figur schenverständnis und das Gefühl, dass unser Leben schon kaum mehr begreifbar. Also wie dann im Kino? davon abhängt, dass die Menschen so werden. Wo Das konnte man nicht mehr so gut mitkriegen, und ist denn dieses Gefühl in Deutschland? Wo ist denn deshalb ist man nicht mehr so mitgegangen, aber das? Deutschland, diese ungeheure materielle Kultur was die KZ-Aufnahmen und die KZ-Kommandanten und diese intellektuelle Kultur und diese politische betraf, finde ich das so gut gemacht und so nah dran, Kultur, das ist ja alles da, aber wo ist die eigentlich wie so etwas überhaupt nur darstellbar ist. Und ich menschliche Kultur in Deutschland! Komischerweise verstehe nicht, warum man nicht den Versuch ma- eher in der DDR als in Westdeutschland! Ich habe da chen, es irgendwann darstellen soll. Jeder Film ver- eine gemütvolle, altdeutsche Biedermeierkultur der fälscht die Realität. Jedes Kunstwerk verfälscht die DDR gefunden, die es ja im Westen gar nicht mehr Realität, um in einem tieferen Sinne dann wieder da- gibt! Und davor habe ich Angst, diese kalte, effiziente zuzustoßen. Wie nenne ich das so gerne: Über die Humanität in Westdeutschland. Da wird ungeheuer Künstlichkeit zur Kunst, über die Unnatur zur Natur. viel gespendet, für »Caritas«, »Brot für die Welt« und Nur so geht es überhaupt. Das geht gar nicht anders. so weiter, ungeheuer viel. Mehr in Deutschland pro Leider hat er den Stil nicht durchgehalten und musste Kopf der Bevölkerung als irgendwo sonst! Aber wo ist gleichzeitig »Jurassic Park« schneiden, in Auschwitz, das Erbarmen, wo ist das Gefühl der Wärme, der das muss man sich mal vorstellen, aber das gehört Geborgenheit in den Leuten? für mich doch auch wieder alles dazu. Und wenn eine B: Herzlichkeit. Frau einem SS-Mann zugeschrien hat: »Ihr seid doch T: Freundlichkeit, ja, aber wirkliche Herzlichkeit? das Volk Goethes«, als sie ins Gas geschickt wurde, Man kann den Leuten nicht sagen, dass sie böse so gehört das irgendwie auch dazu. oder schlecht sind, aber da ist eine Kälte, das ist bei B: Was ist für Sie das Thema des Films? aller Freundlichkeit ein Gefühl, dass der Mann mich T: Im Gegensatz zu dem, was Brecht sagt, ist es eigentlich nicht versteht, es auch nicht als nötig emp- anstrengender, gut zu sein als böse zu sein. Nicht findet, mich zu verstehen, denn er steht eh' intellek- wahr, er sagt, böse zu sein sei anstrengend. Nein, tuell und weltanschaulich auf meiner Seite, aber er böse zu sein ist anscheinend sehr einfach, und zum braucht mich nicht zu verstehen. Und das jüdische Gutsein gehört so ungeheuer viel, sich zusammen- Ding war schon immer – schon aus der Notwendig- reißen, tagtäglich sich zusammenreißen, um seinen keit heraus, sich jederzeit zur Wehr setzen zu können Instinkten nicht nachzugeben, und irgendwie hat die- – war immer, die Andersartigen auch verstehen zu ser Schindler es aus irgendeinem Grunde geschafft. können. Und diese Einfühlung in andere Menschen Und natürlich zeigt das ja, dass es Unmengen von war eigentlich immer das A und O meiner Filme. Das anderen Menschen auch möglich gewesen wäre, die habe ich immer angestrebt, anfangs total unbewusst, jetzt nackt und bloß dastehen, nachdem ihre Ausrede später dann bewusster. Und jetzt vielleicht allzu be- seit 50 Jahren ist: »Man konnte ja nichts machen!« wusst, und dann muss man aufhören, Filme zu ma- Und man konnte, und das zeigt der Film. Man konnte chen. im ganz Kleinen, auch im Großen. Wieviele Leute, B: Das kann natürlich sein, ja. Aber darf ich Sie auch in Polen, wieviele katholische Pfarrer und ande- zum Ende mal als Reporter fragen: Es ist bei Ihrer re haben Leuten das Leben gerettet, aber der Ro- Vorliebe für Karl Kraus verwunderlich, dass Sie die- senthal wurde in einer Laube versteckt gehalten über sen Weg des Zeitungsjournalisten und Rundfunk- Monate von einem ganz nichtssagenden Weiberle! journalisten... Es gab Möglichkeiten, aber die Ausrede »Man kann Interview mit Georg-Stefan Troller 59

T: Ja, das habe ich, glaube ich, geschrieben. Ir- gendwo gibt es ja in einem Koffer ein Blatt Papier von mir: »Ich schwöre hiermit, nie Journalist zu werden!« Ich konnte mich auch nie als Journalist sehen, und wenn mich jemand als Journalisten anspricht, bin ich immer sehr verlegen, und wenn ich vorgestellt werde als Journalist, der keine Ahnung hat, der seit Tagen keine Zeitung gelesen hat, dem auf Anhieb der Name des französischen Außenministers nicht einfällt – mich als Journalisten zu bezeichnen, ist schon gro- tesk! Ich bin ja nichts dergleichen. Aber ich weiß dann auch nicht genau, was ich bin. Ich bin ja kein Filmemacher in dem Sinne. Ich weiß es nicht! B: Ein Suchender? T: Ja, aber Suchender klingt immer so nach Indi- enfahrt und so, das ist doch nicht mein Bier. Ich weiß es nicht, ist auch völlig wurscht, kommt mir auch nicht so darauf an. Ich suche ja auch Form, Filmform, das ist für mich sehr wichtig, nicht nur Menschen. Verar- beitung, und, wie ich ja auch in meinem Buch ge- schrieben habe, Filme bedeuten ja einerseits, sich andere Menschen einzuverleiben, aber andererseits auch wieder, sie von sich zu stoßen! Und gleichzeitig auf Distanz halten, das sind ja alles psychologische Mechanismen. Ich habe beim Grimme-Preis einen Vortrag gehalten: »Wir sind alle Menschenfresser« oder so.

Anmerkungen

* Georg-Stephan Troller in einem Brief vom 27.2. 1995 an Wolfgang Becker.

1 Vgl. Wolfgang Becker: Zeitzeugen-Erinnerungen. Der Beitrag der Medien zur Westorientierung der Bundesrepublik Deutschland in den 50er und 60er Jahren. In: RuG Jg. 23 (1997), H. 1, S. 41-44. Miszellen

Korruption im Rundfunk der NS-Zeit gebracht, indem er von der NSDAP als »Partei des organisierten Selbstmitleids« spricht (S. 19). Korruption ist ein »ubiquitäres Phänomen«. Sie In dem Maße, in dem chiliastische Erwar- kommt zu allen Zeiten, in allen politischen Syste- tungshaltungen für die Zeit nach der Machtüber- men vor und ist unabhängig vom Amt oder vom nahme geschürt wurden, wuchs auch die re- Geschlecht derjenigen, die zu ihren Nutznießern kompensatorische Anspruchshaltung der Partei- zählten – die »ganz normale Geldgier« eben. genossen. Nach 1933 führte dies bis hin zu For- Auch und gerade in der NS-Zeit blühte die derungen, Ämter samt und sonders vom Ein- Korruption, wie der Hamburger Zeithistoriker trittsdatum in die Partei abhängig zu machen, da Frank Bajohr herausgeabeitet hat.1 Interessant »der alte Kämpfer für jedes Amt geeignet« und ist das Thema nicht nur deshalb, weil die Natio- »daß insbesondere für leitende Beamtenstellen nalsozialisten mit einem hohen moralischen An- Fachwissen kein Erfordernis sei.« (S. 33). Ver- spruch angetreten waren und sich vor der günstigungen jedweder Art wurden von Partei- Machtergreifung geradezu als »Inkarnation der genossen nicht nur als selbstverständliche politischen Sauberkeit« (S. 137) inszenierten, als »Wiedergutmachung« entgegen genommen, eine Partei, die Korruption innerhalb des Weima- sondern sogar offensiv reklamiert: »So kam es rer »Systems« schonungslos offen zu legen ge- durchaus vor, daß NSDAP-Führer wegen Nicht- dachte. Wie die Realität innerhalb der national- einhaltung von Berufs- und Karriereversprechen sozialistischen Polykratie aussah, die sich weit- vor dem Obersten Parteigericht der NSDAP an- gehend auf personale Gefolgschaftsstrukturen gezeigt wurden.« (S. 33) stützte und dabei nicht zuletzt die Erwartungs- Nach der Machtübernahme wurden daher be- haltungen der »Alten Kämpfer« zu bedienen reits im Frühjahr 1933 die ersten Verfügungen hatte, zeigt Bajohrs Studie anhand einer Fülle an zur vorrangigen Einstellung arbeitsloser »Alt- Beispielen. parteigenossen« mit Eintrittsdatum vor dem 30. Dabei zeigt sich, dass es gerade der Natio- Januar 1933 erlassen. Sie wurden insbesondere nalsozialismus war, der einen »organisierten im öffentlichen Dienst eingestellt, der zum jeden Nepotismus« hervorbrachte, wie er nach Bajohrs Parteienfilz übersteigenden »organisierten Ne- Befund »in der deutschen Geschichte bis dahin potismus« entartete. (S. 24) So wurden allein im ohne Beispiel war« (S. 23). Er gilt für die ge- Reichskriegsministerium bis zum Jahre 1936 samte Zeitspanne von 1933 bis 1945 und unter- 3 023 Parteigenossen eingestellt, von denen je- liegt keiner territorialen Beschränkung – wobei doch nur 20 Prozent zum Zeitpunkt ihrer Ein- besonders üble Auswüchse in den besetzten stellung arbeitslos waren. Fehlende Laufbahn- Ostgebieten, insbesondere im Generalgouvern- voraussetzungen konnten durch spezielle »Pri- ment Polen, bzw. im »Mikrokosmos« Konzentra- vatdienstverträge« unterlaufen werden. Dienst- tionslager zu konstatieren sind. zeiten in der SA oder SS wurden auf Besol- Die Gründe für die Auswüchse an Korruption dungsdienstalter angerechnet, und es versteht im Nationalsozialismus waren systemimmanent: sich von selbst, dass Mitglieder der Partei bei Sie lagen zum einen in der Desintegration der Beförderungen vorrangig behandelt wurden. Partei durch die »Agglomeration von Cliquen Ein noch desolateres Bild zeigt sich in Bezug und Seilschaften«, die eine »klientelorientierte auf gemischtwirtschaftliche Unternehmen und Substruktur« (S. 21) hervorbrachte, in der Kame- Staatsunternehmen wie z.B. kommunale Ver- radschaft zur Kameraderie mutierte und jeder sorgungsbetriebe. Sie wurden u.a. zum Sam- Machthaber darauf bedacht sein musste, die ei- melbecken abgehalfterter Funktionäre, die mit gene Gefolgschaft durch diverse Vergünstigun- gut dotierten »Beraterverträgen« ruhig gestellt gen bei Laune zu halten. wurden. In der Konsequenz entwickelten sie sich Und diese pochte nach der Machtergreifung »zu regelrechten nationalsozialistischen Be- auf die Zuweisung von Privilegien – schließlich schäftigungsgesellschaften« (S. 27) und gerieten war die Stilisierung einer Opferhaltung innerhalb durch die personelle Überbesetzung nicht selten der »Bewegung« einer der wesentlichen sozial- an den Rand des wirtschaftlichen Ruins. Ein be- psychologischen Integrationsfaktoren des Natio- sonders krudes Beispiel bietet die Karriere des nalsozialismus. Gerade die »Alten Kämpfer« er- Hamburger Gauinspekteurs Max Lahts, eines lebten sich selbst als »Opfer einer feindlichen gelernten Klempners, der sich in den Jahren von Umwelt« (S. 20), in der ihnen durch ihre Partei- 1925 bis 1933 als Hausierer durchgeschlagen zugehörigkeiten reale oder vermeintliche Be- hatte und im April 1933 zum kommissarischen nachteiligungen erwuchsen. Christoph Schmidt Leiter, im März 1934 zum Präsidenten des Straf- hat diesen Sachverhalt pointiert zum Ausdruck vollzugsamtes in Hamburg avancierte. 1938 Miszellen 61

wurde er schließlich Direktor der Wasserwerke Villa auf Schwanenwerder bzw. dem Landhaus der Hansestadt. in Lanke: Am Ende hatte er Auch die Verbände und Organisationen der »Baulichkeiten, die ihm gar nicht gehörten, an ein NSDAP vermochten ihre Klientel durch Ferien- Unternehmen verkauft, das ihm qua Amtsstellung fahrten, Zuschüsse und zinslose Darlehen zu unterstand. So konnte er zwei luxuriöse Anwesen (...) begünstigen, während sich die Privatwirtschaft kosten- und entgeltfrei nutzen und hatte gleichzeitig am resistentesten gegenüber der NS-Personal- durch den Verkauf erhebliche Gewinne erzielt, die politik zeigte. Hier waren weiterhin Gewinnorien- eigentlich als Spekulationsgewinn zur Einkommen- tierung und Professionalisierung die entschei- steuer hätten herangezogen werden müssen, was denden Kriterien, so dass Pressionen vor allem jedoch unterblieb.« (S. 66) bei der Auftragsvergabe durch die öffentliche Dass Goebbels sich seine Protektion gegenüber Hand ausgeübt wurden. attraktiven weiblichen Filmschaffenden mit se- Flankiert wurden diese Maßnahmen – bei xuellem Entgegenkommen abgelten ließ, war im gleichzeitiger Ausschaltung demokratischer NS-Staat ein offenes Geheimnis. checks and balances sowie aller Foren öffentli- Besonders üble Ausmaße erreichten die Zu- cher Kritik – durch eine willfährige Gesetzge- stände darüber hinaus in der SA, der NSV oder bung, die z.B. durch das »Gesetz über den Aus- etwa der DAF, die allein im Jahre 1942 als Mas- gleich bürgerlich-rechtlicher Ansprüche« vom 13. senorganisation über 677 Millionen RM an Mit- Dezember 1934 die persönliche Haftung für gliedsbeiträgen verfügte. Schäden und mutwillige Zerstörungen aus der »Systemzeit« suspendierte. Korruption im NS-Staat hatte jedoch nicht nur Korruption bewegte sich im Dritten Reich eine systemstabilisierende Funktion. Durch die zwischen den Polen einer offiziell ausgeübten Schädigung der öffentlichen Finanzhaushalte, und instrumentalisierten Korruption über eine die schleichende Deprofessionalisierung, die stillschweigend tolerierte Praxis bis hin zur Kor- Unfähigkeit von Parteigenossen in leitenden Po- ruptionsbekämpfung. sitionen, allgemeine Misswirtschaft, die Etablie- Dabei verstand es vor allem Hitler, getreu rung einer Schattenwirtschaft in den besetzten dem Leitspruch: »Wes' Brot ich ess, des' Lied Ostgebieten usw. erwies sich die Korruption ich sing«, Dotationen und Privilegien als mora- letztendlich als dysfunktionales Moment sowohl lisch korrumpierendes Herrschaftsinstrument für den Staat als auch für die Partei. Nachrichten einzusetzen, eine Methode, die von praktisch über Missstände schlugen sich unmittelbar als allen höherrangigen Funktionären wie z.B. den partielle Regimekritik oder allgemeine Unzufrie- Gauleitern ebenfalls geschickt gehandhabt wur- denheit nieder und führten so z.B. zu einem de. Nachlassen der Spendenfreudigkeit innerhalb Stillschweigend hingenommen wurde die der »Volksgemeinschaft«. gängige Praxis der Einrichtung von Sonderfonds Korruptionsbekämpfung war daher durchaus und obskuren Stiftungen, die sich parallel zu den ein Thema, das die NSDAP nicht ignorieren schlechter manipulierbaren öffentlichen Haus- konnte. Vom 1. Januar 1934 bis zum 31. De- haltsstrukturen etablierten. Keiner Finanzkon- zember 1941 leitete der Reichsschatzmeister trolle unterliegend und den einzelnen Funktionä- der Partei knapp 11 000 Strafverfahren gegen ren direkt unterstellt, bildeten sie die Hauptquelle Parteimitglieder wegen Vergehen »zum Schaden der Korruption im NS-Staat. Einige dieser Stif- des Parteivermögens« ein. (S. 49) tungen (, Erich Koch) entwik- Allerdings lassen sich nach Bajohr drei Pha- kelten sich in der Folge zu »regelrechten Indu- sen in der Handhabung der Korruptionsbekämp- striekonzernen«. (S. 43) fung ausmachen. Die Palette des korrupten Verhaltens in der In einer ersten Phase, die bis zum Herbst tolerierten Grauzone reichte dabei von der Un- 1933 dauerte, wurden großangelegte Maßnah- terschlagung, Veruntreuung von Spenden, Ver- men konzipiert – in Preußen wurden sogar Son- sicherungsgeldern oder Büroeinrichtungen in derdezernate eingerichtet –, um mit der ver- Betrieben und Parteikassen bis hin zum Kunst- meintlich so korrupten Weimarer Republik »ab- raub, zur »Arisierung« von Betrieben, Wohnei- zurechnen«. Diese Maßnahmen erwiesen sich gentum und Mobiliar und zur offenkundigen Be- jedoch als »politischer Bumerang«, wo National- reicherung im Amt sowie zur Steuerhinterzie- sozialisten involviert waren oder Hitler das hung. So wurde z.B. das zuständige Berliner Fi- Bündnis mit den konservativen Eliten nicht ge- nanzamt angewiesen, keine weiteren Fragen in fährden wollte. Er gab daher schon Ende Mai Bezug auf die Steuererklärungen von Hermann das Fanal zur Einstellung der Nachforschungen. Göring zu stellen (S. 69). In überaus »virtuoser« Nach 1933 geriet die Frage, nicht zuletzt auf- Weise handhabte Propagandaminister Joseph grund der Degradierung der Justiz und der Goebbels Transaktionen mit seiner »arisierten« Rechnungshöfe zu abhängigen Organen sowie 62 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

aufgrund der wirtschaftlichen Konsolidierung, bis Quellen zum Reichssender Köln im Bestand des in die ersten Kriegsjahre hinein aus dem Blick- Historischen Archivs des Westdeutschen Rund- feld. Verfahren wurden in der Regel nur dann er- funks zeigen, dass nahezu sämtliche von Bajohr öffnet, wenn es sich um Eigentumsdelikte ge- beschriebenen Spielarten der Korruption – Un- genüber der Partei handelte und die Angeklag- terschlagung, Nepotismus, Patronage, Begün- ten über keine effektive Protektion verfügten. stigung im Amt, Vermischung von Amts- und Ab 1942 entwickelte sich die Korruption im Privatgeschäften, sexuelle Nötigung usw. – auch Zuge der Flächenbombardements, der Lebens- auf den NS-Rundfunkbetrieb und seine vorge- mittelbewirtschaftung und der Lage an der Ost- setzte Behörde zutrafen. front zu einem regelrechten Reizthema, wie aus Andererseits waren die Nationalsozialisten den Lagebrichten der Gestapo und des Sicher- auch in Bezug auf ihre Rundfunkkritik mit einem heitsdienstes ersichtlich wird. hohen moralischen Anspruch angetreten – der Im Bemühen um die Stabilisierung der »Hei- »Rundfunkprozess« des Jahres 1934/35 wurde matfront« sah sich die Partei nun gezwungen, geradezu unter dem Signum der Korruptionsbe- auf den informellen Druck seitens der Bevölke- kämpfung und der Abrechnung mit einem per- rung zu reagieren. In welcher Weise sie dies tat, vertierten System geführt. Die Stichproben zei- geht eindrucksvoll aus dem »Fall Janowsky« gen darüber hinaus, in welchem Maße die hervor. Nach den Luftangriffen der Briten auf klientelorientierten Substrukturen die Realität Lübeck und Rostock im Frühjahr 1942 waren zur des Rundfunkbetriebs mitbestimmten, Karrieren Beruhigung der Bevölkerung zentrale Lebens- beeinflussten oder Handlungsspielräume inner- mittellager geöffnet worden, wobei der Gau- halb der polykratischen Diktatur eröffneten. Auf amtsleiter der Nationalsozialistischen Volks- diesem Hintergrund erlauben gerade biografi- wohlfahrt (NSV) in Schleswig-Holstein, Wilhelm sche Studien tiefere Einsichten in die Funktions- Janowsky, kräftigst in seine eigene Tasche ge- weise des NS-Rundfunks. wirtschaftet hatte. Als die Vorgänge ruchbar Dass Korruptionsforschung durchaus ein wurden, bemühten sich die Partei und die NSV Thema der NS-Rundfunkgeschichte ist, soll ex- zunächst um Vertuschung. Aufgrund der aufge- emplarisch am folgenden Beispiel dahergestellt heizten Stimmung beschloss man in Berlin, ein werden. Exempel an dem Funktionär der zweiten Garde zu statuieren. Von einem Sondergericht in Kiel Am 1. September 1930 war das parteiamtliche wurde Janowsky daher im August 1942 zum To- Blatt der NSDAP im Gau Köln-Aachen, der de verurteilt. Obwohl unveröffentlicht, sickerte ›Westdeutsche Beobachter‹ (WB) aufgrund des das Urteil durch und wurde in der Bevölkerung deutlichen Mitgliederzuwachses im Gau zu tägli- höhnisch quittiert, es sei eine »Komödie« und chem Erscheinen übergegangen. Wenige Mo- stehe »lediglich auf dem Papier«. (S. 169) Ju- nate später führte er eine kontinuierliche Rund- stizminister Otto Georg Thierack unterbreitete funkkritik ein. Hauptkritikpunkte am Westdeut- daraufhin Hitler den Fall mit dem Plädoyer, das schen Rundfunk waren die Programmgestal- Urteil zu vollstrecken. Auf eine Weisung Hitlers tung, die Personalpolitik – kritisiert wurden jüdi- hin wurde Janowsky schließlich am 15. Dezem- sche Mitarbeiter, Anhänger des Zentrums und ber 1942 in Hamburg hingerichtet. des linken Parteienspektrums sowie »Doppel- »Die Kleinen hängt man, die Großen läßt verdiener« – sowie die überdurchschnittlich ho- man laufen«, war die Quintessenz der öffentli- hen Rundfunkgehälter, die zu Lasten der Allge- chen Meinung im Fall Janowsky, die deutlich meinheit gingen. zeigt, dass es hier lediglich um ein Exempel und Am 21. Februar 1931 warf der WB dem nicht um eine Maßnahme ging, die auf struktu- Westdeutschen Rundfunk Verantwortungslosig- relle Veränderung zielte. An den Verhaltenswei- keit in der Verwendung öffentlicher Gelder vor: sen der Parteiprominenz, allen voran Hermann »Das Gewinnstreben kann also in Fortfall kommen, Göring, änderte sich nicht das Mindeste. denn mit den Geldern der Allgemeinheit braucht man im heutigen System nicht besonders sorgfältig zu Bajohrs überaus anregende, empfehlenswerte sein, da kommt es nicht so genau darauf an. We- Studie zeigt Korruption als systemimmanenten sentlich ist in vielen Fällen, daß man zunächst sich Mechanismus des NS-Staates und beweist da- selbst mit den Geldern der Allgemeinheit gut versorgt, mit, dass Korruptionsforschung, wissenschaftlich sich ein hohes Gehalt gewährt oder sich bewilligen fundiert, mehr ist als das Zusammentragen von läßt. (...) Ob man mit den eingehenden Rundfunkge- Fakten zu einer »chronique scandaleuse«. bühren neue Großsender baut, um mit dem Wettrü- Stichproben im überlieferten Aktenbestand sten der Nachbarvölker gleichen Schritt halten zu des Reichsministeriums für Volksaufklärung und können – das ist nebensächlich.« Propaganda und der Reichs-Rundfunk-Gesell- In einer regelrechten Kampagne gegen den schaft im Bundesarchiv in Berlin sowie diverser Rundfunk wurden in den folgenden beiden Jah- Miszellen 63

ren kontinuierlich Instinkte eines niedersten So- Eugen Hadamovsky zur propagandistischen Ab- zialneides geschürt, z.B. wenn im selben Artikel rechnung mit dem »Systemrundfunk« betrieb.3 suggeriert wurde, Wilhelm Buschkötter, der Lei- Am 19. September berichtete der WB unter ter des Werag-Sinfonieorchesters, arbeite »im der Schlagzeile »Korruption beim Westdeut- Monat vielleicht sechs- bis zehnmal je etwa eine schen Rundfunk. Die früheren Leiter, Intendant Stunde« und erhalte hierfür 2 000 RM Gehalt. Hardt und Direktor Korte, verhaftet« über den »Im weiteren Abstande folgen dann die Herren, Einsatz der Sonderkommission in Berlin, Leipzig die ›nur‹ 1 000-1 500 Mark im Monat ›verdie- und Köln und die Inhaftierung Hardts und Kortes nen‹...« Verschwiegen wurde allerdings die Tat- im Kölner Klingelpütz: sache, dass Josef Grohé, zu diesem Zeitpunkt »Seit Monaten sind Untersuchungen gegen die frühe- Hauptschriftleiter des WB und stellvertretender ren Machthaber der deutschen Rundfunksender we- Gauleiter, monatlich ebenfalls stolze 1 450 RM gen begangener schwerer Verfehlungen im Gange, auf seinem Konto verbuchen konnte, ein Um- um sie nunmehr zur Rechenschaft für ihre verant- stand, der den Kölner Polizeipräsidenten Otto wortungslosen Amtsverfehlungen zu ziehen und ver- Bauknecht zu dem Kommentar veranlasste, diente Sühne für ihr schweres Unrecht zu erwirken. dass die »Führer und Funktionäre der national (...) Soweit wir dazu erfahren, und was Gerüchte ›sozialistischen‹ deutschen Arbeiterpartei für ihre schon längst wissen wollen, sollen sich diese beiden Person die soziale Frage restlos gelöst« hätten.2 Festgenommenen der Verfehlung schwerer Untreue Gleichzeitig setzte der WB seine Attacken in ihrer amtlichen Stellung beim Rundfunk schuldig fort und bediente populistische Forderungen zur gemacht haben. Es wird dabei behauptet, daß beide sehr häufig und über jede Notwendigkeit hinaus im- Senkung der Rundfunkgebühren von zwei RM mer wieder angeblich im Interesse ihrer beruflichen monatlich auf eine RM. In der Ausgabe vom 13. Tätigkeit und stets unter Benutzung der Kraftwagen Januar 1932 ließ die Redaktion »Volkes Stim- des Westdeutschen Rundfunks, deren Betriebsstoffe me« in Gestalt eines »Wohlfahrtsempfängers« auch vom Westdeutschen Rundfunk gestellt wurden, in einem (fiktiven?) Leserbrief zu Wort kommen: nach Berlin gefahren sind. Diese Fahrten auf Ge- »Den Ausführungen Ihres Artikels ›Rundfunkgebüh- schäftskosten sollen jedoch den Intendanten Hardt ren eine Mark!‹ kann ich in allen Teilen nur voll und und den kaufmännischen Direktor Korte nicht ab- ganz zustimmen. (...) Der Rundfunk scheint (...) den gehalten haben, Bahnfahrt erster Klasse zu berech- Standpunkt zu vertreten, daß Wohlfahrtsempfänger nen, so daß sie sich also, wenn dies zutrifft, eines entweder geistig und seelisch ganz verkommen kön- ganz gemeinen Betrugs schuldig gemacht haben.« nen, oder noch in der Lage sind, von der kärglichen Im August desselben Jahres waren bereits Kurt Unterstützung 2 Mark zu erübrigen, damit die hohen Magnus und Heinrich Giesecke, die Direktoren Gehälter von mehreren tausend Mark monatlich wei- der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft, Alfred Braun, tergezahlt werden können. Zur Aufbringung dieser Sprecher bei der Berliner Funkstunde, und Ernst Phantasie-Gehälter schämt man sich also garnicht, Heilmann, Rundfunkpolitiker der SPD, verhaftet von den Aermsten der Armen noch 24 Mark jährlich anzunehmen!« und ins Konzentrationslager Oranienburg einge- liefert worden. Ludwig Neubeck vom Mitteldeut- Am 27. März 1931 machte sich der WB zum schen Rundfunk und Friedrich G. Knöpfke von Anwalt der schweigenden Mehrheit der Rund- der Berliner Funkstunde entzogen sich der Ver- funkhörer, indem er die Einrichtung eines Hörer- haftung bzw. dem Prozess durch Freitod, wäh- parlamentes forderte: »Von einem Hörerparla- rend weitere leitende Rundfunkmitarbeiter in U- ment ist trotz der demokratischen Zeit keine Re- Haft genommen wurden, u.a. der Rundfunk- de, die Volksbeglücker lassen sich nicht gern in kommissar des Reichspostministers, Hans Bre- die Karten schauen.« – Immerhin diente die – dow, in Moabit. Auch Hardts Amtskollege Fritz auch nach 1933 – unerfüllte Forderung dazu, Bischoff aus Breslau wurde inhaftiert. einmal mehr nach einem »eisernen Besen« zu Goebbels schürte die Stimmung gegen die rufen, der das Funkhaus in der Dagobertstraße Rundfunkpioniere, indem er sie anlässlich seiner gründlich ausfegen werde. Rede bei der Eröffnung der 10. Funkausstellung Nach der Machtübernahme der Nationalso- in Berlin im August 1933 als »Glücksritter von zialisten setzte im März und April eine »Säube- weitem Portemonnaie und noch weiterem Ge- rungswelle« innerhalb der Sendegesellschaften wissen« diskreditierte: und der RRG ein. Bereits am 20. März wurde der missliebige Kölner Intendant Ernst Hardt sus- »Wenn die Beteiligten sich heute als die Väter des deutschen Rudfunks bezeichnen, so kann man ihnen pendiert. »Kommissare zur besonderen Ver- nur entgegenhalten, dass sie es nicht gewesen sind, wendung«, die in den Funkhäusern eingesetzt die den Rundfunk geschaffen haben, dass sie es wurden, beschlagnahmten Akten, die das Mate- aber waren, die ihm bei Zeiten schon eine mit der Not rial zu einem großangelegten »Rundfunkpro- der Zeit in keinerlei Verhältnis stehende Verdienst- zess« abgeben sollten, den Reichssendeleiter möglichkeit witterten und sie auf das skrupelloseste auszunützen wussten.«4 64 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Das Hauptverfahren wurde am 5. November In einem Gespräch zwischen Emmy Sonnemann und 1934 vor dem Landgericht in Berlin-Moabit eröff- Ernst Hardt in der Dienstwohnung Görings in Berlin net und trug deutliche Züge eines politischen bat Frau Sonnemann, die Hardt unbedingt helfen Schauprozesses. Es zog sich bis zum Juni 1935 wollte, ihr ein 1 1/2 Seiten langes Exposé – mehr liest hin und endete mit einem »Fiasko«: Hermann Göring nicht, begründete sie das – über seine Entlassung zu geben. Sie wollte dann versu- »Trotz angeblich ständig neuer Enthüllungen festigte chen, ihren Mann für eine Hilfe zu gewinnen. Das sich das unsichere Fundament des Anklagegebäudes wurde möglich, als während des Einmarsches in nicht, bis es schließlich in sich zusammenfiel; von 53 Österreich durch ›Führerbefehl‹ Hermann Göring die Anklagen konnten nur vier wegen finanzieller Ver- Stellvertretung übertragen wurde. Das benutzte Gö- fehlungen überhaupt aufrecht erhalten werden. Das ring auf Veranlassung seiner Frau dazu, eine ensi- Gericht sprach gegen Bredow, Magnus und Flesch onszahlung an Hardt zu verfügen, die er auch laufend Gefängnis- und Geldstrafen aus, die aber wegen der erhielt. Das Rechtfertigungsexpose – ein dialekti- Untersuchungshaft bereits als verbüßt galten. Von sches Meisterwerk – habe ich gelesen und auch den den zügellosen Tiraden des Reichssendeleiters hatte Brief, den Emmy Sonnemann in herzlichster Form an sich das Gericht also nicht beeindrucken lassen, eine Hardt geschrieben hat. Goebbels hat damals getobt, Erkenntnis, die die RRG noch vor dem Plädoyer der als er von der Anordnung Görings hörte, aber ändern Verteidiger veranlaßt hatte, die Rundfunkmikrophone konnte er daran nichts.”7 im Gerichtssaal ostentativ abzumontieren.«5 Pikanterweise waren just zur selben Zeit, in der Darüber hinaus hob das Reichsgericht im Jahre in Berlin der Rundfunkprozess mit großem Ge- 1937 in einem Revisionsprozess Teile des Ur- töse eingeleitet wurde, Ermittlungen bei der teils auf – und ein Jahr später wurde das Verfah- Staatsanwaltschaft Köln gegen einen Mitarbeiter ren vollends eingestellt. Bredow erhielt ab 1939 des Reichssenders im Gange, die im Frühjahr eine reguläre Pension. Das propagandistische 1935 in ein Gerichtsverfahren mündeten. Dieses Kartenhaus war damit in sich selbst zusammen- Verfahren wurde von der deutschen Presse nun gefallen. Auch Ernst Hardt konnte nicht weiter eilends als zweiter »Rundfunkprozess« aufge- belangt werden. In seinem Fall kam es zwar zu griffen und sollte weitere Kreise ziehen als dem einer Voruntersuchung und zu einer Untersu- Regime recht sein konnte. chungshaft vom 10.-16. September 1933 im Bei der Prüfung der Abrechnungen zu »Bun- Kölner Klingelpütz,6 doch leitete die Kölner ten Abenden«, die der Reichssender in diversen Staatsanwaltschaft kein Verfahren gegen ihn Orten der Region zugunsten des Winterhilfswer- ein. Bei Goebbels persona non grata, fristete er kes (WHW) veranstaltete, war im Frühjahr 1934 nach der Entlassung aus dem Gefängnis seine aufgefallen, dass z.T. nur ein Zehntel der Ein- Existenz in Berlin mit Übersetzungen aus dem nahmen abgeführt worden waren. Von einem Französischen. Auf Intervention von Emmy Son- »Bunten Abend« in Emmerich am 2. Dezember nemann, die während Hardts Intendanz am Na- 1933 waren von 2 244 RM lediglich 235 RM an tionaltheater in Weimar zu seinem Ensemble das WHW überwiesen worden. Der für die Or- gehört hatte, schaltete sich ihr nunmehriger gansisation der »Bunten Abende« zuständige Ehemann, Hermann Göring, in den Fall Hardt Musiker Hermann Keiper, ein erst 1933 einge- ein und hielt im folgenden seine schützende stellter arbeitsloser Cellist, wurde daraufhin im Hand über ihn. Im übrigen war der Fall Hardt Juni 1934 in Untersuchungshaft genommen. Die nicht der einzige Punkt, an dem Göring und gerichtlichen Ermittlungen ergaben, dass Keiper Goebbels eine diametral entgegengesetzte Linie sich nicht nur des Abrechnungsbetruges und der vertraten – für Hardt zahlte sich der Wechsel von Untreue zulasten des WHW und der RRG der Unperson bei Goebbels zum Protégé bei schuldig gemacht hatte – die unterschlagene Göring durch persönliche Sicherheit und die Summe wurde für einen Zeitraum von Septem- Gewährung einer Pension aus. ber 1933 bis April 1934 auf 4 600 RM beziffert –, Über den Vorgang berichtet der ehemalige sondern durch die »Korrektur« von Belegen Prokurist des Westdeutschen Rundfunks, Wil- auch der Urkundenfälschung in mehreren Fällen. helm Tigges: Es stellte sich dabei heraus, dass die verun- »Hardt war wohl sehr bedrückt durch seine finanzielle treuten Beträge nicht allein in die Taschen Kei- Misere, nachdem er nach seiner fristlosen Entlassung pers geflossen waren, sondern dass er sich bei plötzlich ohne Geld war, was ihn, der wie ein Grand- den feuchtfröhlichen »Nachsitzungen« spenda- seigneur zu leben gewohnt war, besonders schwer bel gezeigt und in Hamm/Westfalen auch die traf. Eine Wende trat erst in seiner finanziellen Situa- Standartenkapelle freigehalten hatte. tion ein, als er durch Intervention von Käthe Dorsch Mit der Frage nach der Übernahme der Ver- und Emmy Sonnemann, Hermann Görings Frau, die antwortung für die offenkundigen Missstände früher bei Hardt in Weimar gespielt hatte, zusam- gewann der Vorgang eine politische Dimension menkam und Frau Göring ihm eine Einladung in ein und weitete sich zu einem kaum mehr zu steu- Sanatorium am Bodensee verschaffte, wo er sich mit ernden Skandal aus. In einem Schreiben der seiner Frau ... von allen Aufregungen erholen konnte. Miszellen 65

Staatsanwaltschaft Köln an das Reichs- und gnalisierten Verzichts auf die Einleitung eines Preußische Justizministerium vom 12. Novem- Verfahrens gegen den Intendanten die Stellung- ber 1934 wurde thematisiert, inwieweit der – in- nahme der Gauleiter im Sendegebiet des zwischen suspendierte – Kölner Intendant, Hein- Reichssenders Köln einzuholen. Gleichzeitig rich Glasmeier, Verantwortung zu übernehmen wurde die Möglichkeit einer Versetzung Glas- habe bzw. juristisch belangt werden könne. Da- meiers zu einem anderen Sender geprüft, die ein bei vertrat die Staatsanwaltschaft die Meinung, gedankliches Personalkarrussell in der Rund- dass es zwar legitim sei, dass sich der Intendant funkspitze in Gang setzte. Bei diesen Planspie- bei der Delegation von allgemeinen Dienstge- len sprach sich insbesondere der Gauleiter von schäften auf leitende Mitarbeiter verlasse, doch Westfalen-Süd, Wagner, der auch den Gau erfordere Schlesien in Personalunion versah, gegen eine Versetzung Glasmeiers nach Breslau aus. »es das Interesse, welches Führer und Volk an dem Gelingen der gemeinsamen Kraftentfaltungen zur Inzwischen hatte sich die Affäre Keiper zu ei- Überwindung des Notwinters 1933/34 nahmen, daß nem Skandal ausgeweitet, für den sich nun auch der Intendant die Überwachung der entstehenden die Öffentlichkeit zu interessieren begann. Aus Unkosten selbst in die Hand nahm und schärfstens einem persönlichen Schreiben Glasmeiers an nachprüfte, umsomehr, als ihm bekannt war, daß alle Goebbels vom Heiligabend 1934 geht hervor, Kosten von der NSV getragen wurden. Er hätte zum dass nicht nur die tollsten Gerüchte über die mindesten, da zu den einzelnen Veranstaltungen 60- Suspendierung Glasmeiers kursierten, sondern 100 Menschen hinfuhren, einen Angestellten der dass sich mittlerweile – im Zuge des Berliner Kaufmännischen Abteilung betrauen müssen, kei- »Schauprozesses« gegen den »Systemrund- 8 neswegs aber den Beschuldigten Keiper.« funk« und im Vorfeld der Saarabstimmung von Dieser sei mit Abrechnungen nicht vertraut ge- 1935 – auch die internationalen Medien für den wesen; im übrigen liefen Gehaltspfändungen aus Vorfall zu interessieren begannen. Zur Nieder- früheren Mietschulden gegen ihn. Glasmeier ha- schlagung der Affäre und zu seiner persönlichen be sich im Gegenteil nur mit sehr oberflächlichen Rehabilitierung und der des Reichssenders Köln Erkundigungen begnügt, ob »alles in Ordnung« forderte Glasmeier nun von Goebbels seine sei. »Zusammenfassend muss gesagt werden, Wiedereinsetzung: dass den Intendanten Dr. Glasmeier restlos die »Erst wenn die Hörerschaft mich selbst durch das Verantwortung dafür trifft, dass Keiper einen Mikrophon in alter Frische sprechen hört, wird sie nachweisbaren Betrag von etwa 5 000,- RM zum glauben, daß ich lebe und nicht im Verfolg des Nachteil des Winterhilfswerks veruntreuen Röhmputsches erschossen bin oder mich erschossen konnte.«9 habe. Diese Meinung, von ausländischen Sendern In jedem Fall habe er »moralisch schwer ge- und Separatistenzeitungen gebracht, sitzt heute noch fehlt« – gerügt wurde in diesem Zusammenhang fest in den Köpfen der Menschen und treibt für mich auch, er habe sich an einigen Orten mit Böller- die peinlichsten Blüten. Das umsomehr als meine schüssen empfangen lassen –, doch sei zum vorgesetzte Behörde während des ganzen halben gegebenen Zeitpunkt noch nicht klar, ob die Jahres nichts getan hat, um die Hörerschaft aufzuklä- ren. Auch bei den mir Gutgesinnten musste deshalb weiteren Ermittlungen zu einer Anklage nach die Meinung aufkommen, es sei doch ›etwas dran‹.« § 266, Abs. 3 und 2 StGB ausreichten. Dies hänge nicht zuletzt von der Übergabe angefor- Dass Goebbels bis Mitte Januar eine Versetzung derter Akten, von der Revision, der obersten Glasmeiers präferierte – mittlerweile war der Leitung der Parteiorganisation sowie der Gau- Tausch der Intendantenposten zwischen Köln leitung ab. und Leipzig im Gespräch –, geht aus der Akte Damit hatte der Vorgang eine politische Di- klar hervor. Dem gegenüber stand die Sicht der mension gewonnen. Als sich im Zuge von Ver- Gauleiter Grohé und Terboven, die aus politi- nehmungen innerhalb des Reichssenders zu- schen Gründen für die Wiedereinsetzung Glas- dem herausstellte, dass Glasmeier meiers in Köln plädierten. In den ersten Januar- wochen 1935 verhandelte Reichssendeleiter »für ausgedehnte Privatfahrten sowohl Dienstwagen Hadamovsky nicht nur in Köln mit der Staatsan- des Rundfunks unentgeltlich in Anspruch nahm, als auch für diese Privatfahrten sich Tage- und Über- waltschaft, mit den beiden Gauleitern Grohé und nachtungsgelder sowie Spesen aus den Mitteln des Terboven, sondern auch mit dem Präsidenten Rundfunks hat bezahlen lassen« der Reichsrundfunkkammer, Horst Dreßler- Andress, in Oberbayern sowie – so steht zumin- und er im übrigen »Runenabgüsse von den Ex- dest zu vermuten – mit weiteren Parteidienst- ternsteinen angekauft und diese in seinem Na- stellen in München. men an den Reichsführer der SS München ge- Von Goebbels' Emissär Hadamovsky und sandt habe«, schien es Goebbels geraten, trotz Dreßler-Andress wurde in einem Schreiben an des von der Staatsanwaltschaft inzwischen si- den Auftraggeber insinuiert, dass die Affäre bei- 66 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

gelegt werden könne, wenn die Staatsanwalt- Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte gegen schaft feststelle, dass das Verfahren gegen Hermann Keiper. Die Schuld an den Veruntreu- Glasmeier »wegen erwiesener Unschuld« ein- ungen wurde Keiper zugewiesen, gleichwohl gestellt werde. Glasmeier könne auf diese Wei- »anerkannt«, er sei auch »ein Opfer der ande- se in Köln ohne Gesichtsverlust wieder einge- ren« geworden, d.h. von Kollegen, die ihn setzt werden. »durch ihr Verhalten verleitet« hätten. Hier boten sich vor allem zwei Kollegen an, die zu Beginn »Da durch die im Westen viel gehörten ausländi- schen Sender, insbesondere Luxemburg, der bisher des Prozesses nicht mehr im Dienst des über dreimal so stark ist wie Köln, und Strassburg in Reichssenders standen wie der ehemalige Refe- der Bevölkerung die ungeheuerlichsten Lügenmel- rent des Intendanz Otto Barlage, der bereits auf- dungen über phantastische Unterschlagungen Glas- grund einer früheren Affäre gekündigt worden meyers und Korruption im Nationalsozialismus ver- war und sich deshalb als Sündenbock eignete. breitet wurden, halten wir ebenso wie die Gauleiter In der Ausgabe vom 1. Mai 1935 zitierte die eine vollkommen klare politische Entscheidung für ›Kölnische Zeitung‹ aus der Urteilsbegründung das Zweckmässigste und empfehlen nach Vorliegen des Landgerichtsdirektors. Demnach habe der des in der nächsten Woche zu erwartenden Schluss- Prozess erwiesen, berichtes der Staatsanwaltschaft die Wiedersetzung in Köln.«10 «... daß der Rundfunk überhaupt nichts mit dem Pro- zeß zu tun hatte. Es wird gesagt, daß dieser Strafpro- Im Februar 1935 stellte die Staatsanwaltschaft zeß ... nach den Ergebnissen der Hauptverhandlung das Verfahren gegen Glasmeier in vollem Um- nur nach sehr erheblichen Einschränkungen als fang ein, da eine aktive »strafbare« Teilnahme ›Rundfunkprozeß‹, wie es von seiten der Presse ge- nicht nachgewiesen werden könne. Die Gauleiter schehen sei, bezeichnet werden könnte. ... Denn von Grohé, Terboven und Meyer verbreiteten dar- Mißständen und Korruption etwa innerhalb des aufhin, dass das Verfahren »wegen erwiesener Rundfunks könne in keiner Weise die Rede sein, und Unschuld« eingestellt worden sei.11 es sei ganz klar, daß der Rundfunk als solcher und Unterdessen blieb Glasmeier vom Dienst seine Mitglieder nichts mit den Dingen zu tun gehabt suspendiert. In einer Verschlusssache vom 3. hätten, die hier in dem Prozeß verhandelt worden seien. (...) Zum Strafmaß führte der Vorsitzende aus, April 1935 erklärte Ministerialrat Rüdiger vom es habe sich dabei um Gelder des Winterhilfswerks RMVP gegenüber Goebbels, dass die Feststel- gehandelt, der Angeklagte habe also ein volksschä- lung der strafrechtlichen Unschuld erst durch digendes Verhalten an den Tag gelegt, das an sich den Keiper-Prozess erfolgen könne; die Beur- schon die Annahme mildernder Umstände ausschlie- teilung der Frage der »moralischen Schuld« al- ßen müsse. (...) Durch die Art des Angeklagten sei lerdings hänge »in erster Linie von der Auffas- das sehr empfindliche Instrument des Vertrauens, auf sung der Rundfunkleitung über die Pflichten ei- das sich gerade das Winterhilfswerk aufbaut, und die nes Intendanten ab.«12 Opferbereitschaft der Bevölkerung und der sittliche Das Verfahren gegen Keiper wurde am 15. Wert der Idee schwer beeinträchtigt worden. (...) Zum April vor der 3. Großen Strafkammer des Land- Schluß seiner Ausführungen hob Landgerichtsdirek- gerichtes Köln unter dem Vorsitz des Landge- tor Dr. Fehr hervor, daß auch im Dritten Reich nichts verheimlicht werden solle. Deshalb habe das Gericht richtsdirektors Fehr eröffnet. Sowohl das RMVP in aller Öffentlichkeit verhandelt.« als auch die RRG hatten Prozessbeobachter nach Köln entsandt. Das bis zum 30. April dau- Der ›Westdeutsche Beobachter‹ interpretierte ernde Verfahren war aus Gründen der »Trans- das Urteil als »glänzende und klare Widerle- parenz« öffentlich, doch wurde im Reichssender gung« eines Versagens der nationalsozialisti- gemunkelt, die Kölner Richter hätten einen schen Führung, insbesondere der Leitung des »Hinweis von höherer Stelle« bekommen, in Reichssenders Köln. Es sei »Unfug«, die straf- welcher Form der Prozess zu führen sei. Die baren Handlungen einer Einzelperson mit der Frage nach der »moralischen Schuld«, d.h. der ganzen Einrichtung gleich zu setzen. Das Exem- Übernahme der politischen Verantwortung durch pel wurde in diesem Fall also an Hermann Kei- den Intendanten, wurde dann erst gar nicht auf- per statuiert, der sich keiner mächtigen Protekti- geworfen.13 on erfreute, während die Verantwortung des In- In ihrem Bericht über den Prozess meldete tendanten für die Vorgänge und damit die struk- die Rechtsabteilung der RRG am 8. Mai an turellen Mängel seiner Amtsführung nicht ge- Goebbels: »Inwieweit Herrn Dr. Glasmeier etwa sprochen wurde. Auch in der Affäre Keiper- eine moralische Schuld treffen könnte, wurde in Glasmeier ging es nicht um grundsätzliche Ver- dem Prozess nicht erörtert und wird daher wohl änderung, sondern um politische Schadensbe- auch nie aufzuklären sein.«14 grenzung und ihre propagandistische Auslegung. Die Hauptverhandlung endete mit der Ver- In diesem Sinne stellte der WB fest, dass hängung einer zweijährigen Zuchthausstrafe und »die strafbaren Handlungen des Angeklagten mit der 500 RM Geldbuße sowie einem dreijährigen Einrichtung des Senders als solchem mit etwa vor- Miszellen 67

handenen organisatorischen Mängeln oder persönli- aber noch nicht publizierte sowie entstehende chen Unzulänglichkeiten in keinem Zusammenhang Forschungsarbeiten vorzustellen. Die beiden In- stehen. Die Sensation, auf die man wartete, blieb itiatoren des Workshops, die wissenschaftlichen aus. Nein, es gab hier nichts zu verbergen und zu Mitarbeiter des Forschungsprojekts und Mode- verheimlichen. Auch nicht der Schatten eines Vor- ratoren der Veranstaltung, Peter von Rüden und wurfs blieb an dem Intendanten haften.« Hans-Ulrich Wagner, erwarteten sich natürlich Am 10. Mai 1935 meldete Glasmeier telegrafisch auch Impulse für ihren Auftrag, die Geschichte die Wiederaufnahme seiner Amtsgeschäfte an des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), Goebbels. Nach seiner Ernennung zum Abtei- jener Fünf-Länderanstalt für Nordrhein- lungsleiter im Gauschulungsamt Köln-Aachen Westfalen, Niedersachsen, (West-)Berlin, durch Grohé im März 1935 war Glasmeier damit Schleswig-Holstein und Hamburg, von 1945 bis doppelt rehabilitiert. Im März 1937 stieg er zum 1955, zu erforschen, weswegen viele der vorge- Reichsintendanten und Generaldirektor der tragenen Statements auf die NWDR-Geschichte Reichs-Rundfunk-Gesellschaft auf. fokussiert waren. Birgit Bernard, Köln Das begann sofort in der ersten von fünf Sektionen, die die Tagungsdramaturgie vorge- 1 Vgl. Frank Bajohr: Parvenüs und Profiteure. Kor- sehen hatte, mit zwei Berichten über die Über- ruption in der NS-Zeit. Frankfurt am Main 2001. lieferung der NWDR-Akten und darüber hinaus 2 Rolf Zerlett: Josef Grohé (1902-1987). In: Franz- auch der NDR-Akten im Staatsarchiv Hamburg Josef Heyen (Hrsg.): Rheinische Lebensbilder. sowie einer Übersicht über die NWDR-Bestände Köln 1987, S. 247-276, hier S. 260. im Historischen Archiv des WDR. Dabei stellte 3 Vgl. Ansgar Diller: Rundfunkpolitik im Dritten sich heraus, dass die Archivalien des WDR, zu- Reich. München 1980, S. 128ff. mindest was die Registratur des langjährigen Fi- 4 Zit. nach Hans Bredow: Im Banne der Ätherwel- nanz-, Verwaltungsdirektors und Justitiars zu- len. 2 Bde. Stuttgart 1954-1956, Bd. 1, S. 337. nächst des NWDR, später des WDR, Hans Brack, angeht, für die NWDR-Geschichte unbe- 5 Diller: Rundfunkpolitik (wie Anm. 3), S. 132f. dingt herangezogen werden müssen, da sie 6 HA WDR, D141. Hamburger Aktenverluste auszugleichen in der 7 Wilhelm Tigges an Josef Hüsch, 13.12.1961. Hi- Lage sind. In der zweiten Sektion, die sich mit storisches Archiv der Stadt Köln, Best. 1315, Ka- der Institutions- und Organisationsgeschichte sten 8, Nachlass Josef Hüsch. Freundlicher Hin- befasste, wurde das allgemeine Desiderat be- weis von Dr. Eberhard Illner, Köln. klagt, dass es so gut wie keine Forschungen zur 8 Affäre Glasmeier-Keiper am Reichssender Köln; Wirtschaftsgeschichte des Rundfunks gibt mit Schreiben Staatsanwaltschaft Köln, S. 4. Bundes- der rühmlichen Ausnahme einer Monographie archiv Berlin, R55/1022. über die Weimarer Republik. Sodann kam das 9 Ebd., S. 5. spannungsreiche Verhältnis zwischen dem NWDR und Radio Bremen zur Sprache, dessen 10 Dreßler-Andress und Hadamovsky an RMVP, Existenzberechtigung schon damals andauernd 18.1.1935. Ebd. in Zweifel gezogen wurde; selbst in den Turbu- 11 Ebd., S. 61. lenzen bei der Aufteilung des NWDR in Sender 12 Ebd., S. 128. Freies Berlin, WDR und NDR gelang keine Kon- solidierung, da das Projekt einer bremisch- 13 Kölnische Zeitung, 1.5.1935. niedersächsischen Rundfunkanstalt nicht zum 14 Bundesarchiv Berlin, R55/1022, S. 153. Tragen kam und damit Radio Bremen weiterhin auf den Finanzausgleich der anderen (ARD-) Rundfunkanstalten angewiesen blieb. Die Rundfunkschule des NWDR – ein weiteres Rundfunk nach 1945 Thema – sorgte für Rundfunknachwuchs – un- Ein Workshop in Hamburg klar ist, weil die Akten darüber keine Auskunft geben, auf wessen Initiative diese Einrichtung Die Ende 2000 gegründete Forschungsstelle zur entstanden ist und warum sie später geschlos- Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland – sen wurde. Ein weiteres Statement erinnerte an ein Kooperationsprojekt von Norddeutschem die Aussage des Hamburger Bürgermeisters Rundfunk (NDR), Westdeutschem Rundfunk Max Brauer, wonach es nicht gelingen werde, (WDR), Universität Hamburg und Hans Bredow den Einfluss von Politikern auf den Rundfunk in Institut – veranstaltete am 23. und 24. November Schach zu halten. in den Räumlichkeiten des Hans-Bredow-Insti- Kommunikatorgeschichte, Fernsehgeschich- tuts in Hamburg einen (ersten) Workshop, um te sowie Programmgeschichte waren die folgen- Gelegenheit zu geben, gerade abgeschlossene, den drei Sektionen überschrieben. Ein Beitrag 68 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

befasste sich mit den durch eine Vielzahl von bots nicht so hektisch war wie heute. Das liegt Archivalien zu belegenden Aktivitäten der Ar- sicher auch daran, dass die öffentlich-rechtlichen beitsgemeinschaft früherer Rundfunkangestell- Anbieter angesichts fehlender Konkurrenz es ten, die erfolgreich dafür stritten, auch im Nach- sich leisten konnten, auf den gesellschaftlichen kriegsrundfunk wieder beschäftigt zu werden. Wandel verzögert zu reagieren, weil sie ihren Dieser gruppenbiographischen Betrachtung »volkserzieherischen« Auftrag wahrnahmen. Hat schloss sich eine über den noch nicht abschlie- sich der gesellschaftliche Wandel wirklich so be- ßend zu bewertenden Einfluss der Remigranten schleunigt, dass der Medienwandel mit diesem auf den NWDR an sowie eine biographische Tempo Schritt halten muss? Allerdings mag sich Skizze des Remigranten Alexander Maass, der hinter dem hektischen Verschleiß der Pro- schon vor 1933 im Rundfunk tätig gewesen war. grammformate und Programmtrends seit dem Die Seite der professionellen Rezeption wurde in Aufkommen der privatkommerziellen Anbieter der Person von Eduard Rhein, dem langjährigen weniger an echten neuen Bedürfnissen und ver- Chefredakteur der HÖR ZU!, ausgemacht, der änderten kollektiven Stimmungslagen verbergen. durch inszenierte Kampagnen dem NWDR sei- Wie dem auch sei: Der Beobachter fragt sich, nen Geschmack aufzuoktroyieren versuchte. warum bestimmte Genres und Subgenres wie Außerdem kamen Desiderate der Fernsehge- Kometen am Himmel erstrahlen und dann rasch schichte zur Sprache und das Mitte 2001 ange- verglühen, andere dagegen sich länger halten laufene, von der Deutschen Forschungsgemein- können, und dies nicht nur bei den öffentlich- schaft finanziell geförderte Projekt zur Ge- rechtlichen Anbietern, die diesbezüglich entwe- schichte des Fernsehens der DDR, das sich in der mehr Geduld aufbringen oder langsamer einer zweiten Phase auch dem deutsch-deut- reagieren. Aber man ist auch irritiert ob der Tat- schen Vergleich widmen will. Heterogener hätte sache, dass immer wieder Uralt-Konzepte wie der Abschluss nicht sein können: Es wurde refe- das Fernsehquiz – zwar mit elektronischen Ef- riert über »Mediengeschichtsforschung als inte- fekten und sonstigem Schnickschnack »aufge- graler Bestandteil der Zeitgeschichtsforschung«, peppt« – oder die »Fernsehgerichte« plötzlich »Programmgeschichte – Ein Problemaufriss«, fröhliche Urständ feiern. Auf solche Fragen bleibt »Hafenkonzert und Funklotterie« als Teil des uns vorerst die Medienwissenschaft, die Pro- NWDR-Unterhaltungsangebots, die »Umerzie- grammforschung und Nutzerforschung die Ant- hungspolitik der Briten am Beispiel des NWDR«, wort schuldig, bewegt sich mit Aussagen dar- über Oper und Operette als »Beitrag des NWDR über, für wie viele Hörer oder Fernsehzuschauer zum Musiktheater der Nachkriegszeit« sowie »Humor« und »Comedy« – das war das Gene- über Werner Fincks kabarettistische Arbeit, vor ralthema des 6. »Forums Medienrezeption« am allem seine »Rundfinck«-Kommentare, die unter 8. und 9. November 2001 in Mainz – im Pro- (politischen) Beschuss gerieten und die Frage gramm wichtig ist, und wie viele Programmplätze aufwerfen, was Satire im Rundfunk darf. es dafür gibt, eher an der Oberfläche. Der Workshop zur Geschichte des Rund- Gewiss, wie bei einigen der vergangenen Fo- funks bot ein Forum zur Präsentation von Frage- ren1 gab es auch dieses Mal einen Rückblick auf stellungen, theoretischen Überlegungen und die Geschichte der »Comedy« im deutschen praktischen Lösungsmöglichkeiten. Es zeichnet Fernsehen – auch wenn sie seinerzeit nicht so sich ein Netzwerk zur Erforschung der Ge- genannt wurde. Zweifellos war das Genre da- schichte des Rundfunks für die Nachkriegszeit mals nicht so inflationär vertreten wie heute, ob- ab, das weiterhin gepflegt werden sollte. Weitere wohl es bei den Zuschauern und Hörern nicht Workshops wären angebracht! den Stellenwert hat, wie man angesichts der Ansgar Diller, Frankfurt am Main Fülle der angebotenen Sendungen vermuten könnte. Dies war der Tenor der Erläuterungen der beiden Medienforscher Maria Gerhards und Walter Klingler, Baden-Baden, zur aktuellen Nut- »Humor in den Medien. zungssituation. Humor hatte von Anfang an ei- Angebot – Produktion – Nutzung« nen festen Platz im Programm auch deshalb, Sechstes Forum Medienrezeption weil dieser eine »Aufmerksamkeitssymbiose« – wie Joan Kristin Bleicher, Hamburg, ausführte – Wenn es richtig ist, dass Medienangebot und mit dem Boulevardtheater, dem Kabarett, der Medienrezeption in einem Wechselverhältnis vertrauten Hörfunkunterhaltung herstellte, die zueinander stehen, dann könnten die medialen dem auf Anerkennung und rasch steigende Teil- Angebote Indikatoren für gesellschaftliche Zu- nehmerzahlen angewiesenen Fernsehen aus stände bzw. ihren Wandel sein. Wenn man zu- den anfänglichen Akzeptanzproblemen helfen rückblickt, so stellt man rasch fest, dass in ver- sollte. Bleicher gliederte die fast 50 Jahre »Fern- gangenen Zeiten der Wechsel des Medienange- sehhumor« in mehrere Phasen, verwies auf den Miszellen 69

Einfluss ausländischer Vorbilder und Einflüsse punkten und ihren Veränderungen über allge- (so war das bis heute in den Dritten Fernsehpro- meine Feststellungen hinaus auf die Spur kom- grammen Traumquoten erzielende »Ekel Alfred« men. der 70er Jahre mit Heinz Schubert US-amerika- Leider war eine sich diesen Ausführungen nischen Familien-Sitcoms nachgebildet), auf direkt anschließende Diskussion mit den »Hu- mentalitätsgeschichtliche Zusammenhänge und morproduzenten« weitgehend unergiebig. Nicht auf die in den 90er Jahren stark zunehmende nur dass Moderator Ulrich Kamp die Diskussion Selbstreferentialität des Fernsehhumors – man allzu rasch auf die Fragen der »political correct- denke nur an »TV Total«. Dies alles konsistent ness« und der Grenzen des Humors zu spre- und begründend darzustellen, war weder ange- chen kam, verständlicherweise aus aktuellem sichts der unterschiedlich dichten Forschung zur Anlass. Für die als Ersatz für den Unterhal- Gattung noch angesichts der zur Verfügung ste- tungschef von SAT.1 eingesprungene, frischge- henden Zeit möglich, zumal die Referentin auch backene Leiterin der Abteilung »Development« zahlreiche Programmausschnitte vorführte. beim ZDF, Bettina Brinkmann, Mainz, war das Eines der Ziele der Veranstalter des Forums eine gute Gelegenheit, allzu brisanten Themen war es in den vergangenen Jahren, durch spezi- mit Hinweis auf ein tapferes wie letztlich nichts- fische Tagungsmodule die Wechselwirkung von sagendes »Auf jeden Fall Humor ja, aber...« Rezeptionserwartungen und »Herstellungskon- auszuweichen. Es hätte fast noch gefehlt, dass zepten« im weiteren Sinne des Wortes aufzuzei- sie hier die berühmt-berüchtigten »Richtlinien für gen. Häufig brachten die zu diesem Zweck plat- das ZDF-Programm« von 1963 vorgelesen hät- zierten Podiumsrunden zur aktuellen Produkti- te. Konkreteres über die künftigen Humorpro- onsszene, die auch Einblicke in die Ideen- duktionen des ZDF vorausgehenden oder sie Werkstätten der Macher gewährten, wenig Er- begleitenden Überlegungen war jedenfalls nicht giebiges zu Tage. Weder die beteiligten Akteure zu erfahren. (Moderatoren und Präsentatoren) noch die in Wenig glaubhaft wirkten die flapsig vorgetra- öffentlichen Auftritten geübten Unternehmens- genen und als reichlich improvisiert daher kom- vertreter, Programmchefs und Redakteure lie- menden »Methoden« der Entscheidungsfindung ßen sich über gekonnte Selbstdarstellung hi- des für den Bereich Humor zuständigen Verant- nausgehende Informationen entlocken. Hinter- wortlichen beim Eichborn-Verlag, Matthias Bi- gründe und Zusammenhänge wurden zu wenig schoff, Frankfurt am Main. Verwertbare Informa- ausgeleuchtet, das analysierende Gespräch und tionen darüber, wie im Verlag programmliche kritische Nachfragen kamen häufig zu kurz. Entscheidungsprozesse laufen, wurden nicht Auch dieses Mal bot sich zumindest die gegeben: oder soll man die geschilderten (»Ich Chance, den eingangs beschriebenen Zusam- frage meine Sekretärin«, oder die eher diffuse menhängen gleich mit den beiden ersten Pro- »Zustimmung im Verlag zu einem neuen Trend grammpunkten auf die Spur zu kommen. Der ist ein wichtiges Kriterium«) wirklich für bare Vortrag von Helga Kotthoff, Konstanz, über die Münze nehmen? Auch die Einlassungen des interpersonale Scherzkommunikation, die Lach- langjährigen SWF 3-Moderators, Stimmenimita- kultur unterschiedlicher sozialer Gruppen (sie ist tors und Comedy-Spezialisten, Andreas Müller, im übrigen nach den Langzeitbeobachtungen der Baden-Baden, trugen nicht viel zur Aufklärung Sprachwissenschaftlerin ebenfalls im raschen bei. Ähnlich unverbindlich waren die Beiträge Wandel begriffen) hätte u.a. Rezeptionserwar- des »Brainpool«-Vorstandsvorsitzenden, Jörg tungen präsentieren können. Jedenfalls bot er Grabosch, Köln, und seine Erfahrungen in der genügend Anhaltspunkte nachzufragen, wie »Humor-Produktion« und eine letzte Talkrunde nichtmediale – wenn inzwischen auch durch die zum Ende der Tagung. Mediennutzung nicht unerheblich beeinflusste – Unübersichtlich in seiner Vielfalt ist das Netz. Kommunikation sich in ihr offenbarende Bedürf- Außerdem fehlt dort jede Form von Qualitäts- nisse von Hörfunk und Fernsehen aufgegriffen, kontrolle – die klassischen Gatekeeper- in parasoziale mediale Kommunikation umge- Funktionen nimmt dort niemand wahr. So nimmt setzt und den medialen Bedingungen entspre- es nicht wunder, dass Karin Wehn, Leipzig, in chend auch umgewandelt wird. Zu fragen wäre ihrem Vortrag »Humor im Internet« vor allem gewesen, ob und wie die in der direkten Kom- über »Incorrectness« und Respektlosigkeit be- munikation beobachtbaren spezifischen sozialen richtete und einige ganz aktuelle Beispiele vor- Funktionen der Humorkommunikation (Festle- führte, wie einzelne Belege dafür, welche Rolle gungen, wer zur Gruppe gehört, aggressive und im Internet das interaktive Element spielt. Das sexuelle Komponenten usw.) auch im Hörfunk vorgeführte Beispiel des »Froschs im Mixer« – und vor allem in der Comedy des Fernsehens mit einer sadistischen Schlusskomponente – anzutreffen sind. Vielleicht ließe sich so bei- belegte dies auf drastische Weise. Die Ästhetik spielsweise spezifischen thematischen Schwer- der Beiträge ist den technischen Bedingungen 70 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

entsprechend minimalistisch, die Aussagen sind wie man so sagt. Der Kurator der Schau, Bernd kurz und pointiert zugespitzt. Nutzer dürften eher von Kostka, hat intensiv recherchiert und ging jüngere Menschen sein, denen das Internet bei Leihgebern in mehreren Ländern sammeln.2 Spaß und Unterhaltung bietet. Für die älteren Dieser quantitative Mangel fasst indes den Internetnutzer, die das Netz vor allem als Infor- Reiz der Ausstellung sinnbildlich zusammen. Er mationsmedium gebrauchen, sind sie wohl we- lässt sich nicht fassen, dieser (zumindest in Ber- niger gedacht. lin) nicht mehr existente Militärrundfunk und sei- Bei allen interessanten Einblicken in die ak- ne in der Tat beinahe absurde Besonderheit. tuelle Medienszene: Etwas mehr Abstand zum Vielleicht sollte man daher gar nicht von Expo- aktuellen Geschehen (sowohl chronologisch naten reden, sondern von Souvenirs – denn das oder auch, was die Referenten angeht) und eini- eigentliche Thema der Ausstellung war Hörfunk, ge stärker analytische bzw. interpretative Ele- der nur noch in der Erinnerung existiert und den- mente könnten das »Forum Medienrezeption« noch bleibende kulturelle Verbindungen ge- zu einer noch bemerkenswerteren Veranstaltung schaffen hat. Die westalliierten Militärsender in der teilweise inflationären Tagungs- und Talk- hatten in und für Berlin eine Bedeutung, die sich szene zu Medienfragen machen. heute kaum noch vermitteln lässt. Kommt das Edgar Lersch, Stuttgart Gespräch auf AFN und BFN, die beiden promi- nentesten Vertreter ihrer Liga, haben Zeitzeugen 1 Vgl. »Medienrezeption seit 1945«. Tagungsdoku- sowohl auf der Produzenten- wie auf der Rezi- mentation erschienen. In: RuG Jg. 24 (1998), H. pientenseite heute noch eine Begeisterung im 1, S. 77; Zweites »Forum Medienrezeption« am Gesicht, die nicht einfach mit Nostalgiestimmung 23./24. Oktober 1998 in Stuttgart. In: RuG Jg. 24 (1998), H. 4, 259ff.; Drittes Forum Medienrezepti- abzutun ist. Was haben die Truppenprogramme on »Information und Informationsnutzung«. In: mit den deutschen Hörern angestellt, für die sie RuG Jg. 25 (1999), H. 2/3, S. 156ff.; Medienre- nicht einmal gedacht waren? Die Bedeutung lag zeption IV: Unterhaltung. Tagung in Düsseldorf. jenseits der Programminhalte: jenseits der In: RuG Jg. 25 (1999), H. 4, S. 261ff.; Fünftes Fo- Swing-, Jazz-, Blues-, Rock-'n'-Roll- und Pop- rum Medienrezeption. Sport und Sportrezeption. In: RuG Jg. 27 (2001), H. 1, S. 69ff. musik im weitesten Sinne, die keine Sender den Deutschen so erfolgreich vermiteln konnten wie AFN und BFN. Denn sie waren selber Popkultur. Erfolgreicher und glaubwürdiger (wenn auch nur Missing Link? als Nebenprodukt) ließ sich Reeducation-Politik nicht vermitteln. Das Medium war die Botschaft Ausstellung zu den alliierten selbst. Dies auch noch auf einer weiteren Ebene: Militärsendern in Berlin Ganz egal, was etwa AFN sendete: die Tatsa- che, dass AFN sendete, gab den West-Berlinern Manche Dinge landen eher im Museum, als man das beruhigende Gefühl, die Rückversicherung, Atem holen kann. Zumal in Berlin, wenn es dar- weiterhin unter alliiertem Schutz zu stehen, wei- um geht, den Hinterlassenschaften der Besatzer terhin eben West-Berliner zu sein. und späteren Freunde nachzuspüren. Vom 30. Die Ausstellung bot zu diesem für Berlin (und September 2001 bis 13. Mai 2002 zeigte das analog auch für andere deutsche AFN- und Berliner Alliiertenmuseum die Sonderausstellung BFN/BFBS-Empfangsgebiete) bedeutenden kul- »The Link With Home – und die Deutschen hör- turgeschichtlichen Zusammenhang denn auch ten zu. Die Rundfunksender der Westmächte konsequent eher Erinnerungsanstöße, als dass 1945 bis 1994«. In dieser Zeit waren viele Berli- sie viel Materielles hätte zeigen können oder ner begeisterte Zaungäste von American Forces sollen. Der Begleitband bringt dies in seiner Network (AFN), British Forces Network (BFN) – Textorientiertheit zum Ausdruck.3 Ein ergänzen- später in British Forces Broadcasting Service der Show- und Diskussionsabend im organisato- (BFBS) umbenannt – und Radio Forces Françai- rischen Rahmen der »Langen Nacht der Berliner ses de Berlin (FFB). Museen« am 2. Februar 2002 vertiefte dies. Die In der ohnehin kleinen Ausstellungsfläche Berliner und Ex-Berliner, die angereist waren, des Museums nehmen sich die Exponate, mit ließen in ihrer andauernden Begeisterung für die ein wenig Distanz betrachtet, nicht sonderlich Truppensender keinen Zweifel daran, dass diese beeindruckend aus: Fotografien, Regimentsab- Sender für sie nicht bloß Teil des individuellen zeichen, Aschenbecher mit Emblem, Urkunden, Rückblicks auf die eigene Jugend sind, sondern Schallplattenhüllen, einige Tondokumente zum Manifestationen eines kulturellen Umbruchs 1 Anhören, einige V-discs samt Abspielgerät. Viel nach der geistigen Beengtheit der Hitlerbarbarei geblieben zum sinnlichen Erleben von fast 50 waren. AFN, BFN/BFBS und FFB sind der Jahren alliierter Rundfunkpräsenz in Berlin ist Schlüssel zur »Verwestlichung« Deutschlands nicht, aber die Zusammenstellung ist liebevoll, nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Truppensen- Miszellen 71

der können im doppelten Sinne als ein »missing China. Die aktuelle Nachrichtenlage aus Zentral- link« identifiziert werden. Die ohnehin rhetori- asien ließ auch Afghanistan zum Thema werden. sche Leitfrage, die das Alliiertenmuseum einem Ted Kaufman, Vorsitzender des amerikanischen Diskussionsblock mit Buchautoren zum Thema Broadcasting Board of Governors, hatte zu Be- vorangestellt hatte: »War es mehr als nur Mu- ginn der Konferenz bereits darauf hingewiesen, sik?«, lässt sich daher doppelt bejahen. Wun- dass das Interesse an Medienforschungsstudien derlich ist bloß, dass der alliierte Militärrundfunk in der Zukunft weiter wachsen werde. Im weite- in Darstellungen der deutschen Rundfunkge- ren Verlauf stellten die Vertreter der drei gastge- schichte immer noch lediglich als Marginalie vor- benden US-Sender denn auch ihren For- kommt. schungsplan für die nächsten Jahre vor – eine Oliver Zöllner, Köln stark ausgeweitete Großinvestition. Die übrigen Sender wurden ausdrücklich zur Teilnahme ein- 1 »V« steht gemeinhin für »Victory« (Sieg); evtl. geladen. sind diese speziellen Transkriptions-Schallplatten Einen von Jahr zu Jahr umfangreicheren Teil aber nach Captain George Vincent benannt wor- der CIBAR nimmt, neben transnationalem Fern- den (von ihm selbst?), dem Projektleiter der V- disc-Organisation innerhalb des amerikanischen sehen, der Meinungsaustausch zur Nutzung von Kriegsministeriums (vgl. Patrick Morley: »This Is Online-Angeboten und ihrer Messung ein. The American Forces Network«. The Anglo- Ebenfalls nicht vernachlässigt wurde die Frage, American Battle of the Air Waves in World War II. wie kleinere Sender mit geringem oder ohne Westport, London 2001, S. 75). Budget begleitende Publikums- und Programm- 2 Einen Überblick bietet Christine Vieweg: ...und die forschung betreiben können. Die CIBAR – das Deutschen hörten zu. Berliner Ausstellung zu ist ihr großes Verdienst – ist keine Vereinigung Truppensendern der Alliierten. In: Fernseh-Infor- nur der großen, gut alimentierten Sender. Einige mationen Jg. 53 (2002), H. 1, S. 14-17. kostengünstige Zielgruppenanalysen etwa las- 3 Vgl. die Rezension in diesem Heft, S. 92f. sen sich mit frei zugänglichem Datenmaterial er- stellen. Ein Vortragsblock mit methodologischen Hinweisen und Forschungsbefunden zur Nut- zung von »public radio« und »public TV« in den Auslandsrundfunk und Krisenpublika USA wiesen darauf hin. Der »öffentliche« Rund- Jahrestagung 2001 des funk im Gastgeberland hat ja in etwa denselben Medienforscherverbandes »CIBAR« in Stellenwert wie Auslandsrundfunk in den mei- Washington, D.C. sten Staaten: als Nischenangebot für Minder- heiten. Vom 7. bis 9. November 2001 fand in Washing- Ein wichtiger Programmpunkt der diesjähri- ton, D.C./USA, die 17. Jahrestagung des Medi- gen CIBAR war in diesem Zusammenhang die enforscherverbandes Conference of Internatio- Vorstellung der dritten Auflage der zuvor ge- nal Broadcasters‘ Audience Research Services meinsam erarbeiteten Forschungsrichtlinien für (CIBAR) statt. Gastgeber waren gemeinsam das Auslandsrundfunk. Sie berücksichtigen erstmals für die Voice of America zuständige International internationales Fernsehen gleichberechtigt ne- Broadcasting Bureau sowie Radio Free Asia und ben dem Hörfunk und enthalten grundlegende Radio Free Europe/Radio Liberty. Schon Monate Ansätze zur Ermittlung von online-basierten Pu- 1 vor den Attentaten vom 11. September hatten blika. der Tagungsort und die Räumlichkeiten festge- Ihre organisatorische Konsolidierung ver- standen – das »Carnegie Endowment for Inter- folgte die CIBAR, die sich informell bereits in den national Peace«. Ein gutes Vorzeichen. 80er Jahren zusammenschloss, auf der diesjäh- Mediennutzung in Krisenzeiten, speziell von rigen Tagung mit der offiziellen Gründung eines Auslandsrundfunk, und die Begleitforschung »in Verbandes – übrigens nach deutschem Vereins- schwierigen Gebieten« waren Schwerpunktthe- recht. Zum neuen Vorsitzenden des Verbandes men der Tagung. Transnationale Medienange- wurde Bill Bell vom International Broadcasting bote werden in unruhigen Zeiten bekanntlich Bureau gewählt, zu seinem Stellvertreter Daniel verstärkt nachgefragt, wobei eine exakte Defini- Nobi von Radio France Internationale. Dem ge- tion von »Krise« durchaus schwierig erscheine, schäftsführenden Vorstand gehören satzungs- wie ein Vertreter des BBC World Service hervor- gemäß außerdem je ein Vertreter von BBC hob: Nach wie vielen Jahren ist die Krise Nor- World Service, Canal France International, malzustand? Die angereisten Forscher von ver- Deutscher Welle, Radio Australia, Radio Free schiedenen Auslandssendern und Instituten prä- Europe/Radio Liberty und Sveriges Radio/Radio sentierten sowohl historische Rückblicke als Sweden an. auch sehr frische Vorabergebnisse aktueller Oliver Zöllner, Köln Studien: aus Südosteuropa, Afrika, Iran, Kuba, 72 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

1 Conference of International Broadcasters’ Audi- bzw. dokumentarischen Sendungen des ARD- ence Research Services (CIBAR): Harmonized und des DDR-Fernsehens, die anhand von aus- Audience Measurement For International Broad- gewählten Beispielen behandelt werden sollen. casting. Genève 32001; auch abgedruckt in: Deut- sche Welle (Hrsg.): An Essential Link With Au- Am 21. Dezember 1952 begann der Rund- diences Worldwide. Research For International funk der DDR in Berlin mit regelmäßigen Ver- Broadcasting (= DW-Schriftenreihe, Bd. 5). Berlin suchssendungen, am 25. Dezember 1952 starte- 2002, S. 203-232. te der Nordwestdeutsche Rundfunk in Hamburg mit einem regulären Fernsehprogramm und die DDR am 3. Januar 1956. Dem Zweiten Deut- Stasi-Aktivitäten im Rundfunk schen Fernsehen, dessen Sendungen am 1. Ein Forschungsprojekt der ARD April 1963 begannen, folgten – bis zum Frühjahr 1969 – die Dritten Fernsehprogramme der ARD- Am 1. Februar 2002 hat der renommierte For- Landesrundfunkanstalten für die Bundesrepublik schungsverbund SED-Staat an der Freien Uni- und ab 3. Oktober 1969 das zweite Fernsehpro- versität Berlin im Auftrag der ARD mit dem für gramm der DDR. Am Neujahrstag 1984 fiel in zwei Jahre geplanten Projekt »Erforschung der Ludwigshafen der Startschuss für das Duale Sy- rundfunkbezogenen Aktivitäten des Staatssi- stem – dem Nebeneinander von öffentlich-recht- cherheitsdienstes (Stasi) der DDR in der Bun- lichen und privat-kommerziellen Angeboten –, desrepublik Deutschland und in der DDR« be- das sich seitdem in der Bundesrepublik etabliert gonnen. Die Untersuchung geht zurück auf ei- hat. nen Vorschlag von Udo Reiter, Intendant des RuG Mitteldeutschen Rundfunks. In dieser Rundfunk- anstalt waren im Frühjahr 2001 etliche Stasi- belastete (informelle) Mitarbeiter unter den Fest- Lange Nacht der Fernsehkrimis angestellten und Freien entdeckt worden waren. Veranstaltung im Berliner Filmmuseum Daraufhin entschloss sich die ARD abseits der Diskussion in der Öffentlichkeit um spektakuläre »Auftrag Mord« heißt eine Veranstaltung der Einzelfälle, das Problem in einem Forschungs- Deutschen Kinemathek / des Filmmuseums Ber- projekt aufarbeiten zu lassen. Dabei soll heraus- lin in Kooperation mit der Stiftung Deutsches gefunden werden, was der Staatssicherheits- Rundfunkarchiv Frankfurt am Main – Potsdam- dienst einerseits unternommen hat, um auf den Babelsberg und dem Norddeutschen Rundfunk Rundfunk in der DDR einzuwirken, andererseits, Hamburg am 8. Juni 2002 im Berliner Kino Ar- welche Strategien er gegen den Rundfunk in der senal (Potsdamer Straße 2) während der Lan- Bundesrepublik verfolgt hat. Die Untersuchung gen Nacht der Fernsehkrimis. Gezeigt werden wird sich im wesentlichen auf die 70er und 80er u.a. aus der 22-teiligen, vom NDR produzierten Jahre beschränken, dafür die Akten des Ministe- Reihe »Stahlnetz« unter der Regie von Jürgen riums für Staatssicherheit und in anderen Archi- Roland, die von 1958 bis 1968 im ARD-Gemein- ven in Ost und West auswerten sowie Zeitzeu- schaftsprogramm Deutsches Fernsehen lief, die gen befragen. Folge »Strandkorb 421« (1964) sowie von den RuG 29 Filmen aus der Serie »Blaulicht. Aus der Ar- beit unserer Kriminalpolizei« mit wechselnden Regisseuren, die von 1959 bis 1969 vom Deut- 50 Jahre Nachkriegsfernsehen schen Fernsehfunk (der DDR) ausgestrahlt wur- in Deutschland de, die Folgen »Antiquitäten« (1961) und »Auf- Ein Symposium der ARD in Hamburg trag Mord« (1965). Beide Krimiserien zählen zu den größten Fernseherfolgen der 50er und 60er Anlässlich des Sendebeginns des Fernsehens Jahre und lassen durch die vergleichende Per- im Nachkriegsdeutschland vor 50 Jahren findet spektive Einblicke in die kriminellen Energien beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg am und die kriminalistischen Finessen im aufstre- 5. und 6. Dezember 2002 ein Symposium statt, benden Wirtschaftswunder-Deutschland (West) das von der Historischer Kommission der ARD und in der jungen sozialistischen Republik (Ost) vorbereitet und organisiert wird. Die Fernsehge- zu. Die Besucher werden vom Berliner Kulturse- schichte soll dabei anhand politischer Ereignisse nator Thomas Flierl und dem Direktor der Kine- – 17. Juni 1953, 13. August 1961 und 9. Novem- mathek Helmut Prinzler begrüßt; als Gäste wer- ber 1989 – in Referaten, Filmbeispielen sowie den u.a. Jürgen Roland und Hellmut Lange er- Zeugenbefragungen jeweils aus der Perspektive wartet. des ARD- und des DDR-Fernsehens dargestellt RuG werden. Hinzu kommen die Themen deutsche Teilung und Wiedervereinigung in fiktionalen Miszellen 73

Deutschsprachiger Dienst der BBC file aufbereitet. Texte der Rundfunkentscheidun- Eine Konferenz in London gen des Bundesverfassungsgerichts befinden sich – über Links abrufbar – ebenso darunter wie Vom 25. bis 27. September 2002 findet in Lon- Interviews mit den Medienmachern, Erläuterun- don eine internationale Konferenz über den gen zur komplexen Technik, aufschlussreiches deutschsprachigen Dienst der BBC von 1938 bis Zahlenmaterial und Literaturhinweise. Eine Zeit- 1999 statt. Knapp 20 Referentinnen und Refe- leiste dokumentiert mehr als 600 medienge- renten befassen sich mit den vielfältigen Aspek- schichtliche Daten und Fakten. ten der mehr als 60-jährigen Geschichte der Die CD-Rom ist gegen eine Schutzgebühr deutschsprachigen Sendungen aus Großbritan- von € 15,-- beim Adolf-Grimme-Institut erhältlich nien, die mit der Übertragung einer Rede von (Eduard-Weitsch-Weg 25, 45768 Marl; Telefon: Premierminister Neville Chamberlain, die ins 02365 / 91 890; Fax: 02365 / 91 89 89; e-Mail: Deutsche übersetzt wurde, am 27. September [email protected]). 1938 begann und am 26. März 1999 endete. RuG So stehen Referate über die Beziehungen des deutschsprachigen Dienstes der BBC zur britischen Regierung und über Thomas Manns Ansprachen an die deutschen Hörer, über die BBC als Teil des deutschen Netzwerkes in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs ebenso auf dem Programm wie Beiträge, die sich mit den eigens für Österreich ausgestrahl- ten Sendungen in diesen Jahren befassen. Für die Nachkriegsjahre werden der Einfluss der BBC auf den Rundfunk in Deutschland im All- gemeinen und derjenigen der Remigranten aus London im Besonderen behandelt. Über die im Vordergrund der Tagung stehenden deutsch-bri- tischen (Rundfunk-)Beziehungen weist ein Bei- trag hinaus: »Der bewunderte Rivale. Zur Wahr- nehmung der deutschsprachigen Sendungen der BBC im Team des deutschsprachigen Dienstes von Radio Moskau«. Anmeldungen nimmt entgegen: Institute of Germanic Studies – Research Centre for Ger- man and Austrian Exile Studies –, University of London, 29, Russel Square, London WC1B 5DP, e-Mail: [email protected]. RuG

Bildbox für Millionen CD-Rom zur Mediengeschichte Deutschlands

Das renommierte Adolf-Grimme-Institut in Marl in Westfalen und das Medieninstitut des Deut- schen Volkshochschulverbandes, hat in Koope- ration mit der Bundeszentrale für politische Bil- dung in Bonn und der für die technische Umset- zung verantwortlichen learn online Scio GmbH in Aachen die CD-Rom »Bildbox für Millionen. Fernseh- und Mediengeschichte der Bundesre- publik Deutschland. Dokumente, Materialien Analysen« vorgelegt. In 17 Themenräumen – jeweils durch eine Videosequenz eröffnet – wer- den mehr als 350 Fotos, 124 Biographien, 200 vertiefende Texte, Tabellen und Programmpro- Rezensionen

Andreas Stuhlmann (Hrsg.) beliebigen Ausführungen über Biographisches im Radio-Kultur und Hör-Kunst. Rundfunk. Zwischen Avantgarde und Popularkultur 1923 - 2001. Es schließt sich ein Kapitel mit vier Texten über Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, Ars Acustica an, eine Hommage zum 65. Geburtstag 346 Seiten. von Klaus Schöning, der selbst einen Aufsatz über seine Arbeit beisteuert. Alle Autoren werfen einen Am Schluss wird es dann doch noch spannend, wenn Blick zurück auf die sicherlich verdienstvolle Arbeit Velimir Chlebnikov die Zukunft des Radios beschreibt Schönings im WDR, klopfen sich auf die Schulter in und Hans J. Kleinsteuber die Frage stellt, die an den seliger Erinnerung an große Radiozeiten. Leider wird Anfang gehört hätte: »Wer die Frage nach der Zu- im Kapitel »Werkstatt Radio« fortgesetzt, dass jeder kunft des Radios stellt, impliziert, dass es diese Zu- über sich schreiben darf, Franz Mon, Jens Sparschuh kunft gibt.« (S. 319) Das Radio hätte keine Zukunft? und Ronald Steckel interpretieren sich selbst, die Die anderen 26 Beiträger dieses Sammelbandes zie- Gruppe Level Ltd. verzichtet ganz auf vordergründige hen das erst gar nicht in Betracht, fragen lediglich, Information. Dann endlich kommen ein paar Gedan- wie sie denn aussähe oder aussehen sollte, die Zu- ken, an denen zu arbeiten sich lohnt: Zina Kaye, eine kunft, oder wie sie aussah in der Vergangenheit, als australische Medienkünstlerin, berichtet im Gespräch sie noch keine Gegenwart war. »Zukunft hat eine mit Geert Lovink über interessante, z.T. multimediale lange Vergangenheit«, philosophiert Horst Ohde in Projekte. »Sound Art« ist für sie »a large set of para- seinen Erinnerungen an seine ganz persönlichen meters, but not a genre in itself« (S. 305), was den »Radio Days«, die dann aber nicht mehr bieten als Horizont und die Möglichkeiten ungeheuer erweitert. einen recht oberflächlichen Blick auf die Geschichte Heiner Goebbels gibt seine nicht mehr ganz taufri- prinzipieller Gedanken über das Medium seit der sche Rede zur Eröffnung der Woche des Hörspiels Weimarer Republik. 1997 zum Abdruck frei, in der er begründet, warum Dann beginnt das Kapitel »Radio-Apparat: Strate- er, der fürs Radio arbeitet, im bestehenden Radio gien für Sender und Empfänger« mit Dagmar Reim, nicht so hören und nicht das hören kann, was und wie die eine Lanze bricht für die Radiokultur, die es noch er möchte. immer gebe, entgegen der landläufigen Klage über Schließlich darf in dem abschließenden Kapitel ihren Verlust. Der werde nur von denen beklagt, die Herbert Kapfer seine Veranstaltung Intermedium vor- nicht Radio hörten. Den Ratschlag hätten auch man- stellen, Kleinsteuber auf das Digital Audio Broadca- che der Beiträger besser beherzigen sollen, ehe sie sting (DAB)-Projekt schimpfen, das zu Tode subven- sich ans Schreiben machten. Gleich beim nächsten tioniert wohl eine Totgeburt bleibt, überflüssig und Aufsatz wird dies deutlich. Vier Frauen stellen die in- von neueren Techniken überholt, weil keiner ernsthaft teressante Frage nach der Bedeutung des Ge- nach der Zukunft des Radios gefragt hat, warum es schlechts der Sprechenden für das Gesprochene. das Medium überhaupt gibt, wie und wofür es genutzt Wobei sie nach einem eher zähen Rückblick auf die werden soll. Visionen werden eingefordert, wie die Frauen- und Gender-Forschung der letzten 30 Jahre von Chlebnikov, die nur leider weit über 70 Jahre alt bei der erwarteten, aber empirisch nicht belegten sind, aber nicht geliefert in diesem Buch. Feststellung landen, die weibliche Stimme sei entwe- Wolfram Wessels, Mannheim der »ohnmächtig und sprachlos wie die Echos oder bedrohlich und tötlich wie die der Sirenen«, die männliche dagegen »sprechend, logisch, machtvoll 1929 – Ein Jahr im Fokus der Zeit. oder rettend wie Orpheus« (S. 29) Und natürlich for- Ausstellung des Literaturhauses Berlin. dern sie, dass mehr Frauen mehr Frauenthemen im Berlin: Literaturhaus 2001, 281 Seiten. Radio platzieren müssten. Danach wird es etwas allgemeiner, die auf Brecht 1929 ist in der Erinnerung der Zeitgenossen und in zurückgehende Vision des Radios als Kommunikati- der historischen Aufarbeitung der Nachgeborenen onsapparat wird als Mythos entlarvt, es gelte den das kulturell, politisch und wirtschaftlich aufregend- Distributionsapparat nur entsprechend zu nutzen, wie ste, weil ereignisreichste Jahr der Weimarer Republik es die unabhängigen freien Radios praktizierten. gewesen. Spontan fallen dazu ein: der große Börsen- Überhaupt scheint es auf einmal um die nicht- krach, die Verleihung des Literaturnobelpreises an kommerziellen, nicht öffentlich-rechtlichen Radios zu Thomas Mann, die Uraufführung des »Blauen En- gehen und ihre theoretische Basis. Neue Gedanken gels« mit Marlene Dietrich, mit dem die Ära des Ton- sind allerdings kaum zu finden. Auch das Kapitel Ra- films begann, oder das Erscheinen der Bücher von dio-Geschichte(n) bleibt so vage wie das »n« in Alfred Döblin ›Berlin Alexanderplatz‹ und von Erich Klammern. Rückblicke auf die Hörspiel-Geschichte, Maria Remarque ›Im Westen nichts Neues‹. In einer Benjamins Radio-Überlegungen und das nicht-kom- Ausstellung und dem dazu gehörenden Begleitband merzielle amerikanische Radio sind verbunden mit werden – gut begründet – weitere Ereignisse präsen- durchaus interessanten Überlegungen über die äs- tiert, die in diesen Zusammenhang gehören, wenn sie thetische Bedeutung mobilen Hörens (mittels Walk- auch schon vor 1929 ihren Anfang nahmen und auch men z.B.) und deren produktive Nutzung sowie recht noch 1930 und 1931 Auswirkungen zeitigten. Rezensionen 75

So wird darauf aufmerksam gemacht, dass Döblin sich 1929 in der Harzburger Front und 1930 im natürlich bereits vor dem Erscheinungsjahr seines Reichsverband Deutscher Rundfunkteilnehmer (RDR) Großstadtromans mit dem Schreiben begonnen hat- – bei Gründung durchaus noch unter maßgeblichem te, und die Umstände der Edition seines Buches Einfluss der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) – durch einen begleitenden, teilweisen Vorabdruck in zusammengeschlossen hatten, gegen den Rundfunk. der ›Frankfurter Zeitung‹ 1929 dokumentiert sowie Bald aber setzte ein erbitterter Machtkampf und Ver- Alfred Brauns und Hans Fleschs Bemühungen, dar- drängungswettbewerb ein, bei dem die NSDAP im aus eine Hörspielfassung herzustellen, die aber aus RDR obsiegte und im vereinseigenen Rundfunkblatt politischen Gründen am 30. September 1930 doch ›Der Deutsche Sender‹ hinfort den Ton angab. Die nicht gesendet wurde – zwei Wochen zuvor hatten Hinausgedrängten von DNVP und Stahlhelm suchten die Nazis 107 Reichstagsmandate errungen. Nichts- sich neu zu formieren, gründeten eigene Funkhörer- destotrotz (warum, bleibt leider unbeantwortet) fand vereinigungen und eine Zeitschrift. die Premiere des Films ›Berlin Alexanderplatz‹ am 8. Cebulla arbeitet heraus, dass die rechten Parteien Oktober 1931 im Capitol-Theater am Zoo statt. teilweise übereinstimmende Ziele verfolgten, sie letzt- Der Ausstellungsband wird nahezu durchgehend lich aber konträre Vorstellungen hegten, was deren jeweils auf den linken Seite mit zeitgenössischen Ab- Umsetzung betraf. bildungen – Fotos und Faksimiles von Buchumschlä- Ansgar Diller, Frankfurt am Main gen und Schriftdokumenten – bestritten und ist auf den rechten Seiten mit in der Regel längeren Zitaten und erklärenden Erläuterungen versehen. Er führt Rudolf Arnheim von Bert Brechts und Kurt Weills gemeinsamen Rundfunk als Hörkunst. Theater- und Rundfunkarbeiten dieser(s) Jahre(s) – und weitere Aufsätze zum Hörfunk. Mit einem erinnert sei nur an den ›Lindberghflug‹ und seine Nachwort von Helmut H. Diederichs. Aufführung bei den Baden-Badener Festwochen und Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001, den Übertragungen von verschiedenen Sendegesell- 237 Seiten. schaften – bis zu gelungenen und abgewehrten Zen- sureingriffen bei Theater- und Filmaufführungen. In seinem Nachwort bedauert Helmut H. Diederichs, Ein zeitgenössisches Panorama wird vorgeführt, dass Rudolf Arnheims Rundfunkbuch in Deutschland wie man es sich nicht dichter am Beispiel eines ex- – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kaum rezi- emplarischen Jahres denken kann. piert worden ist. Dabei hat Arnheim noch zu seiner Ansgar Diller, Frankfurt am Main Zeit – bis 1933 – in Deutschland mit der Sammlung von Material begonnen, die Niederschrift des Textes abgeschlossen und ihm den Titel »Der Rundfunk Florian Cebulla sucht seine Form« gegeben. Aber erst während sei- »Rundfunk-Revolutionen«. ner Zeit als jüdischer Emigrant und Mitarbeiter am Freie und organisierte konservative und Filminstitut des Völkerbunds in Rom konnte das Buch nationalsozialistische Agitation gegen den »System- erscheinen – zunächst 1936 in englischer Sprache Rundfunk« am Ende der Weimarer Republik unter dem schlichten Titel »Radio«, dann 1937 in ita- (= Massenmedien und Kommunikation, H. 139/140). lienischer Sprache unter dem übersetzten Originaltitel Siegen: o.V. 2001, 145 Seiten. »La radio cerca la sua forma«. Erst 1979 fand sich ein deutscher Verlag, der in Anlehnung an Arnheims Florian Cebullas Schrift, eine gekürzte und überar- viel bekanntere Publikation »Film als Kunst«, die be- beitete Fassung seiner 1998 am Fachbereich Gesell- reits 1932 im Rowohlt Verlag in Berlin erschienen schaftswissenschaften der Universität-Gesamthoch- war, das Hörfunkbuch unter dem Titel »Rundfunk als schule vorgelegten Magisterarbeit, befasst Hörkunst« herausbrachte. Dieser Ausgabe setzte der sich mit der gegen den Rundfunk der Weimarer Re- nunmehr in den Vereinigten Staaten lebende Autor publik gerichteten Agitation von rechts, die gleichzei- ein neues Vorwort voran, mit dem der vorliegende tig auch das politische System der Republik treffen Nachdruck, ergänzt um Arnheims Quasi-Vorarbeiten, sollte. Mehrere Ansatzpunkte hat der Autor ausge- beginnt. macht: die Privatfehde des Ende der 20er Jahre noch Noch vor Ende seines Studiums der Psychologie nicht einmal 30 Jahre alten Journalisten Reinhold und Philosophie ab 1924 an der heutigen Humboldt- Scharnke, Herausgeber der wie ein Boulevardblatt Universität zu Berlin veröffentlichte der damals 20- aufgemachten ›Funk-Woche‹, gegen die Berliner Jährige einen ersten Artikel in der ›Weltbühne‹, der er Funkstunde und deren Intendanten Hans Flesch, die auch in den Jahren danach als Autor und ab Ende 1932 bei einem Prozess vor dem Schöffengericht in 1928 – nach seiner Promotion – als Kulturredakteur Berlin-Mitte beim Streit um den sogenannten verbunden blieb, wenn er auch gelegentlich für ande- »Schlüsselroman« »Wir schalten um« ihren Höhe- re Blätter wie ›Filmtechnik‹, ›Der Querschnitt‹, ›Vos- punkt fand. Scharnke, zwar nicht der NSDAP angehö- sische Zeitung‹, ›Berliner Tageblatt‹ oder die ›Neue rend, nutzte aber deren antidemokratische und anti- Zürcher Zeitung‹ schrieb – meistens über den Film, semitische Terminologie, um den von ihm verachte- aber auch über den Rundfunk, in dessen Programm ten, nicht am allgemeinen Massengeschmack orien- er als Essayist und Gesprächsteilnehmer zu hören tierten Intendanten zu Fall zu bringen, der sich aller- war. Während Bertolt Brechts »Vorschläge für den dings in finanziellen Dingen eine vermeidbare Blöße Intendanten des Rundfunks« von 1927 und »Der gegeben hatte. Sodann die Agitation der Parteien, die Rundfunk als Kommunikationsapparat« von 1932 von 76 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

einer späteren Generation zur »Radiotheorie« stili- teur schon seit 1931 Erfahrungen gesammelt und siert worden ist, waren Kritiker wie Harry Pross und sich in Demokratie wie Diktatur bewährt. Werner Faulstich der Meinung, eher verdienten die Aus dieser Skizze ergibt sich zwanglos die Glie- (nahezu unbekannten) Reflexionen und Kriterien derung von Lu Seegers Darstellung: Das erste Kapi- Arnheims in den Rang einer Radiotheorie erhoben zu tel ist der Berufsbiographie Rheins (1900-1993) ge- werden. Arnheim sah im Rundfunk ein Medium, das, widmet und untersucht vor allem die Kontexte der weil es die Trennung der Publikumsschichten aufhe- publizistischen Erfolge des studierten Ingenieurs. Das be, dazu beitragen könne, den »für uns[e]re Zeit so zweite Kapitel behandelt die Frühgeschichte der Pro- blamablen« Gegensatz von Kulturmenschen und Un- grammzeitschriften (1931-1941) anhand der Blätter, kulturmenschen zu überbrücken, indem er Musiker, an denen Rhein beteiligt war, und das dritte die »Er- Dichter und Redner darin schule, »auf gehaltvolle folgsgeschichte von ›Hör zu!‹ (1946-1965)«. Wäh- Weise einfach zu sein.« Arnheim befasst sich aber rend es in diesen beiden Kapiteln um Rahmenbedin- auch mit technischen Fragen, mit der Psycholgie des gungen und allgemeine Strukturen geht – Personal- Rundfunkhörens, dem Verhältnis von Autor und Re- politik, Redaktionsalltag, Auflagenzahlen –, stehen in gisseur und zum Schluss mit dem Aufkommen des den folgenden Kapiteln die Inhalte auf dem Prüf- Fernsehens, von dem er befürchtet, dass es »von stand. Lu Seegers konzentriert sich auf drei zentrale den besonderen, neuen Ausdrucksmitteln, die uns Bereiche: die Präsentation der Radio- und Fernseh- der Rundfunk beschert hat, wohl wenig übrig lassen« technik (die jedoch im Laufe der Zeit merklich an Be- wird. deutung verlor und in den 1960er Jahren völlig aus Der Rundfunktheoretiker, aber auch -praktiker dem Blatt verschwand); die (unterschiedlich erfolg- Rudolf Arnheim ist in der Vielzahl seiner Einsichten reich versuchte) Einflussnahme besonders auf die und daraus abgeleiteten Konsequenzen (erst) noch Programmgestaltung der Sendegesellschaften und zu entdecken. Anstalten; sowie die Ratgeberfunktion für die – vor Ansgar Diller, Frankfurt am Main allem weibliche – Leserschaft. In allen Fällen geht es darum, nicht nur die Gege- benheiten der ›Hör zu!‹ zu beschreiben, sondern Lu Seegers auch die Kontinuitäten seit den 1930er Jahren zu Hör zu! beleuchten. Oberflächlich betrachtet, hat Lu Seegers Eduard Rhein und die Rundfunkprogrammzeitschriften dabei kaum etwas mitzuteilen, was nicht schon in der (1931 - 1965) (= Veröffentlichungen des Deutschen einschlägigen Literatur berichtet worden wäre: dass Rundfunkarchivs, Bd. 34). die technischen Ratschläge für die Laien in der Früh- Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 2001, zeit der Radiotechnik von eminenter Bedeutung wa- 486 Seiten, 11 Abbildungen. ren; dass volkstümliche Unterhaltung immer gefragt und Jazzmusik von den meisten abgelehnt wurde; 486 Druckseiten über irgendwelche Rundfunkpro- dass Ehe- und Familienprobleme den meisten Stoff grammzeitschriften – im heutigen Wissenschaftsbe- für Ratgeberrubriken lieferten. trieb scheint alles möglich zu sein, wird sich so man- Die Stärke ihrer Arbeit liegt vielmehr im Detail. cher denken und es für ausgeschlossen halten, dass Überzeugend kann sie nicht nur nachweisen, wie in dies doch sinnvoll sein kann. Zugegeben: Die Dis- der Weimarer Republik Personengeflechte entstan- sertation, die Lu Seegers bei Adelheid von Saldern in den, die sich als »Seilschaften« bis in die ›Hör zu!‹ Hannover vorlegte, hätte dann und wann – vor allem weiterhangelten; sie lotet auch am Einzelfall die Am- im vierten und fünften Kapitel – etwas knapper bivalenzen der quasi unpolitischen, auf Technisches gehalten werden können. Aber viel wäre nicht einzu- (oder Unterhaltendes) beschränkten Tätigkeiten wäh- sparen gewesen, vielleicht zehn Prozent des Um- rend der nationalsozialistischen Diktatur aus. fangs. Das weitaus Meiste dagegen ist interessante, Dass massenhaft verbreitete Literatur nicht weiterführende Information, gut gegliedert präsentiert zwangsläufig von simplifizierender Konservativität und flüssig zu lesen. sein muss, ist schließlich das Ergebnis ihrer Untersu- Lu Seegers hat sich einem von der Historiker- chung der Ratgeberspalte »Fragen Sie Frau Irene« schaft ziemlich vernachlässigten Thema zugewandt, (ein Pseudonym Walther von Hollanders). Im Detail der Analyse massenhaft verbreiteter Zeitschriften und kann sie zeigen, dass Spielräume für differenziertes, ihrer Produzenten. Mit der ›Hör zu!‹ hat sie dabei alte Schablonen sprengendes Argumentieren vor- gleich eine der wichtigsten deutschen Publikationen handen waren und tatsächlich genutzt wurden, ›Hör überhaupt ausgewählt: 1956 etwa besaß das Sprin- zu!‹ also »durchaus eine progressive und dynami- ger-Blatt eine größere Auflage als die drei führenden sche Funktion bei der Entfaltung pluraler Lebenswei- Illustrierten ›Quick‹, ›Stern‹ und ›Neue Illustrierte‹ zu- sen und -stile zuzuschreiben« ist (S. 410). Schade, sammen (S. 209) und beherrschte mehr als die Hälfte dass in diesem Zusammenhang nicht auch noch die des Marktes der Programmzeitschriften. Inhalte der vielgelesenen (und zum Teil verfilmten) Der Erfolg der ›Hör zu!‹ besaß einen Vater in der ›Hör zu!‹-Romane analysiert wurden. Aber dann wäre Gestalt ihres Gründungschefredakteurs Eduard die ganze Arbeit ja noch umfangreicher geworden. Rhein, der die Zeitschrift von 1946 bis zu seiner Ent- Konrad Dussel, Forst lassung 1965 – ziemlich autoritär – leitete. Rhein war nach 1945 kein Neuling im Geschäft. In einschlägi- gen Zeitschriften (›Sieben Tage‹, ›Hier Berlin und alle deutschen Sender‹) hatte er als technischer Redak- Rezensionen 77

Simone Höckele liner Funkstunde zu belegen ist. Bald schon gründete August Hinderer. sich durch die Initiative mehrerer kirchlicher Verbän- Weg und Wirken eines Pioniers evangelischer de die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Rund- Publizistik (= Studien zur Christlichen funk, dessen Vorsitz – wie selbstverständlich – Hin- Publizistik, Bd. 3). derer übernahm, bevor die regelmäßigen evangeli- Erlangen: Christliche Publizistik Verlag 2001, schen Sendungen in den Äther gingen. Dass sie au- 573 Seiten. ßer in Berlin bis zum Ende der Weimarer Republik auch bei den anderen acht regionalen Sendegesell- August Hinderer sei einer der Ersten gewesen, so die schaften (nicht »Sendeanstalten«, S. 185) etabliert Verfasserin in ihrem Vorwort, der die Bedeutung von wurden, geht auch, aber nicht allein auf August Hin- Öffentlichkeitsarbeit auch für die (evangelische) Kir- derer zurück. Nicht durchsetzen konnten sich die che(n) erkannt, in der Praxis umgesetzt und wissen- Protagonisten bei dem Plan einer eigenen kirchlichen schaftlich aufgegriffen habe. Seinem Wirken als Di- Welle, so dass sich die Vertreter der evangelischen rektor des Evangelischen Pressverbands für Kirche auf die Mitarbeit bei den bestehenden Gremi- Deutschland (EPD) von 1918 bis 1945 widmet Simo- en zurückzogen, um dort ihren Einfluss geltend zu ne Höckele ihre von der evangelisch-theologischen machen. Ausgeblendet bleibt in diesem Zusammen- Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlan- hang, dass schon deswegen keine Ausnahme ge- gen-Nürnberg im Wintersemester 1999/2000 ange- macht werden konnte, um Begehrlichkeiten weiterer nommene Dissertation. Interessengruppen wie der politischen Parteien, der Die Autorin zeigt den Lebensweg eines Öffent- Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretungen und ande- lichkeitsarbeiters der evangelischen Kirche in der ers- rer religiösen Gruppierungen gar nicht erst zu wek- ten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach, der seinesglei- ken. Die konfessionelle Rundfunkarbeit stand wäh- chen sucht. 1877 in Weilheim an der Teck geboren, rend des Dritten Reichs ständig unter Druck und stand Hinderer – nach seinem Studium der evangeli- musste in der zweiten Hälfte der 30er Jahre ganz schen Theologie an den Universitäten von Tübingen, eingestellt werden. Greifswald und Halle sowie kurzfristiger Tätigkeit als August Hinderer hat Wege eingeschlagen, die Pfarrer – in Stuttgart von 1908 bis 1918 in den Dien- von seinen Nachfolgern in der evangelischen Publizi- sten der publizistischen Aktivitäten der evangelischen stik nach dem Zweiten Weltkrieg weiter beschritten Kirche von Württemberg: zunächst als Chef von de- worden sind. Ob sie dies aus eigenem Antrieb taten ren Gemeindeblatt, danach als Direktor des Evange- oder in Kenntnis von Hinderers Vorarbeiten, sei da- lischen Pressverbands für Süddeutschland. Die in hingestellt. Jedenfalls erinnert Simone Höckeles dieser Zeit von ihm entwickelte Idee einer gesamt- Buch an einen Pionier der Massenmedien in der er- kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit konnte er ab 1918 in sten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in Deutschland der Reichshauptstadt Berlin als Direktor des von ihm durch Demokratie und Diktatur gekennzeichnet war. gegründeten evangelischen Pressverbandes für Es gibt zwar ein sogenanntes »Literaturverzeichnis«, Deutschland umsetzen. Er blieb auch nach der natio- in dem auch aus den Archiven gehobene unge- nalsozialistischen Machtübernahme 1933 in seinem druckte Quellen summarisch erwähnt werden, Aufli- Amt und verstarb wenige Monate nach Ende des stungen in jeweils chronologischer Reihenfolge von Zweiten Weltkriegs 1945 in Kirchheim unter Teck. Hinderers Veröffentlichungen (nicht »Werke«, S. 518) Den beiden wichtigsten Abschnitten von August und unveröffentlichter Quellen, womit vor allem in den Hinderers Leben widmet die Autorin gleich lange, je- Archiven entdeckte Briefe und Protokolle gemeint weils rund 200 Seiten umfassende und nahezu iden- sind, aber – bedauerlicherweise – kein Personenregi- tisch aufgebaute Kapitel: den Jahren während der ster. Weimarer Republik folgt die Zeit des Dritten Reiches Ansgar Diller, Frankfurt am Main – einmal überschrieben mit »Der evangelische Pressverband für Deutschland« (1918-1932), danach mit der Überschrift »Der evangelische Pressverband« Wolfram Wette u.a. (Hrsg.) (1933-1945) versehen. Allgemein gehaltenen Ab- Das letzte halbe Jahr. schnitten über die Gründung des Pressverbandes, Stimmungsberichte der Wehrmachtpropaganda die konkrete Pressearbeit des EPD mit den Periodika 1944/45 (= Schriften der Bibliothek für ›Das Evangelische Deutschland‹ und ›Bilderbote für Zeitgeschichte – Neue Folge, Bd. 13). das evangelische Haus‹ sowie Hinderers persönlicher Essen: Klartext Verlag 2001, 448 Seiten. Einstellung zur evangelischen Pressearbeit folgen solche über die Film-, Rundfunk- und Bildungsarbeit »Das letzte halbe Jahr des Zweiten Weltkrieges war sowie seine Tätigkeit an der Universität und – auf in- für die Deutschen keine Etappe des Krieges wie jede ternationaler Ebene – für die Ökumene. andere. Sie war die mörderischste und zerstörerisch- Auf jeweils rund 30 Seiten geht die Autorin auf die ste überhaupt«. (S. 9) Mit diesen Sätzen leitet Wolf- evangelische Rundfunkarbeit in der Weimarer Repu- ram Wette die von ihm und zwei weiteren Wissen- blik und im Dritten Reich ein. Im Vergleich zum Film schaftlern herausgegebene Edition mit Stimmungsbe- hätten evangelische Kreise (und auch im Vergleich zu richten von etwa Herbst 1944 bis Frühjahr 1945 ein. katholischen Milieus) sofort auf das neue Medium Die Fakten, die aufgezählt werden, sprechen für sich: Rundfunk reagiert, was durch den ersten Auftritt ei- Nach der Landung der Alliierten in der Normandie im nes evangelischen Pfarrers am 25. November 1923 – Sommer 1944 wurde der Bombenkrieg nicht nur ge- kaum vier Wochen nach Sendebeginn – bei der Ber- gen militärische, sondern auch gegen zivile Ziele ver- 78 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

schärft, wobei eine Stadt nach der anderen in Schutt dem Hinweis, wenn jemandem die Musik Mozarts und Asche fiel, 600 000 Zivilisten starben, fast acht nicht behage, könne er möglicherweise beim Drehen Millionen in den Städten obdachlos wurden, 2,6 Mil- auf der Radioskala »ungewollt plötzlich auch feindli- lionen Soldaten den Tod fanden. Die Luftangriffe che Sender höre[n]«. (S. 224) Immer wieder wurde sollten die Kampfmoral auf deutscher Seite brechen auch von der Bevölkerung eine strikte Trennung zwi- und die Kapitulation erzwingen. schen dem Programm der Reichssender und demje- Was hatte das nationalsozialistische Regime dem nigen des Deutschlandsenders eingefordert, um auf noch entgegenzusetzen, nachdem offenbar gewor- eine Alternative zurückgreifen zu können. den war, dass mangels materieller Möglichkeiten eine Die Edition, die zu Anfang ihres Dokumententeils Kriegswende nicht in Aussicht stand? Es blieb nur Schriftstücke zur Organisation der Mundpropaganda- noch die Propaganda, um den deutschen Soldaten Aktion der Wehrmacht abdruckt, enthält auch Fotos, und der Zivilbevölkerung einzuhämmern, sie müssten die Durchhalteparolen zeigen, beispielsweise an ei- bis zum Endsieg zum fanatischen Durchhalten bereit nem zerstörten Geschäft im April 1944 (»Unsere sein, andernfalls dem deutschen Volk die Ausrottung Mauern brachen, aber unsere Herzen nicht«) oder durch seine Feinde drohe. An die Spitze der in dieser Wehrmachthelferinnen, die, wie es die propagandis- Situation ins Leben gerufenen Mundpropaganda- tisch angehauchte Bildlegende formuliert, im Januar Aktion setzte sich offiziell das Oberkommando der 1945 »in ihrer Freizeit am ›Volksempfänger‹ Radio Wehrmacht – als sozusagen vertrauensbildende hören«. (S. 255) Weitere, teilweise bereits bekannte Maßnahme der Bevölkerung gegenüber – in Zusam- Fotos sowie eine Grafik, aus der das Zusammenspiel menarbeit mit der Amtsgruppe Wehrmachtpropagan- zwischen Wehrmacht-, Staats- und Parteipropaganda da, den Wehrkreiskommandos und dem jeweiligen hervorgehen, reichern die Dokumentation an. Sie regionalen Propagandaoffizier. In Wirklichkeit aber wird abgeschlossen durch ein »Literaturverzeichnis«, steuerten, was die Themensetzung und die Methoden in dem merkwürdigerweise »Archivquellen«, »Veröf- anging, die bei der Bevölkerung restlos diskreditierten fentlichte Quellen« und »Literatur« subsumiert wer- staatlichen und parteiamtlichen Propagandastellen den, obwohl üblicherweise diese Materialien getrennt die Aktion: das Reichsministerium für Volksaufklä- aufgeführt werden, sowie ein Personen-, ein Orts- rung und Propaganda sowie die NSDAP-Reichspro- und ein Sachregister, so dass die Texte sich präzise pagandaleitung mit ihren regionalen Untergliederun- unter bestimmten Fragestellungen nutzen lassen. gen wie Reichs- bzw. Gaupropagandaämter, die in Ansgar Diller, Frankfurt am Main Personalunion miteinander verbunden waren. Aus den Kontakten mit der Bevölkerung, die meist kriegsversehrte Soldaten unterer Ränge aufrechter- Friedrich-Ebert-Stiftung/Institut für hielten, gingen Stimmungsberichte – verfasst von den Sozialgeschichte (Hrsg.) Propagandaoffizieren – hervor, von denen sich eine Archiv für Sozialgeschichte. Band 41 (2001) lückenhafte, dennoch umfangreiche Sammlung für (= Beiträge zum Rahmenthema »Geschichte der Berlin, aber jeweils nur wenige Berichte für Nürnberg, Massenmedien und der Massenkommunikation Wien und Hamburg erhalten haben. Sie schließen in Deutschland«). sich nahezu nahtlos an die Berichterstattung des Si- Bonn: J. H. W. Dietz Nachf. 2001, XIV u. 754 Seiten. cherheitsdienstes (SD) der SS – ›Meldungen aus dem Reich‹ bzw. ›SD-Berichte zu Inlandsfragen‹ – Den Aufbruch der Geschichtswissenschaft hin zu den an, die im Sommer 1944 eingestellt worden waren, Massenmedien und Massenkommunikation in Deutsch- weil maßgebliche NS-Führer deren ungeschminkte land demonstriert in eindrucksvoller Weise die neue- Berichterstattung nicht weiter ertragen konnten. An ste Ausgabe des »Archivs für Sozialgeschichte«. In deren Stelle traten nunmehr die Stimmungsberichte ihrer einleitenden Übersicht »Öffentlichkeit – Medien der Wehrmachtpropaganda, die – wie die SD- – Geschichte. Konzepte der modernen Öffentlichkeit Berichte – sich auf alle Lebensbereiche der Bevölke- und Zugänge zu ihrer Erforschung« loben Karl Chri- rung erstreckten: Einschränkung bei Gebrauchsgü- stian Führer, Knut Hickethier und Axel Schildt, dass tern, Kohlennot, Gaseinsparungen, Stromsperren, Mediengeschichte »bereits seit einigen Jahren ein Behinderungen bei den Verkehrsverbindungen, die besonders florierendes Forschungsfeld« ist, tadeln Situation in Bunkern und Luftschutzräumen als Folge andererseits aber, dass der Boom der entsprechen- der Angst einflößenden ständigen Luftangriffe. den Studien »eher zur Etablierung einer neuen Bin- Auch der Rundfunk ist gelegentlich Thema der destrich- oder Subdisziplin im Rahmen der ohnehin Berichterstattung – wenig gelobt, umso mehr geta- bereits überaus stark fraktionierten Geschichtswis- delt. So heißt es Anfang November 1944 in einem senschaft führt, als dass der Anstoß zum Überdenken Bericht für Berlin: »Es wird allgemein darüber geklagt, traditioneller Deutungen gerade der Geschichte des dass das Programm des Rundfunks in den Abend- 20. Jahrhunderts genutzt würde, den solche For- stunden wenig zur Entspannung beitrage. Es werde schungen enthalten können.« (S. 1) Sie schlagen zu wenig leichte und unterhaltende Musik gesendet. deswegen vor, »Öffentlichkeit« als zentralen Bezugs- Statt dessen höre man irgendein ›Opus 296‹ oder punkt der Medien- und Kommunikationsgeschichte ähnliches, das besser anstelle der bisherigen Nacht- anzusehen, darin die Entwicklung der Massenmedien musik, die wirklich schön sei, gelegt werden könnte.« – Presse, Film und Rundfunk – einzubinden und de- (S. 145) Die Klagen scheinen nicht wahrgenommen ren Beitrag zur Entwicklung der modernen Gesell- worden zu sein, denn sie setzten sich in den folgen- schaft zu erkennen. den Wochen und Monaten fort, verbunden sogar mit Rezensionen 79

Spätere Forschergenerationen werden aus diesen seine Zuhörer in den Vereinigten Staaten mit dem Überlegungen ihren Nutzen ziehen können und einen vertraut machte, was er durch unermüdliche Recher- Paradigmenwechsel zu vernetzten Darstellungen chen zusammenzutragen in der Lage war. Einge- herbeiführen, die 14 Beiträge des Bandes bewegen schränkt nicht nur durch die politische Zensur des sich hingegen vor allem auf ausgetretenen, d.h. für Propagandaministeriums, ab September 1939 auch die Mediengeschichte traditionellen Pfaden: Presse, durch die militärische Zensur und die täglichen Pres- Film und Rundfunk sind ausgewogen vertreten. So sekonferenzen des Auswärtigen Amtes suchte sich gibt es Beiträge zur »Regulierung von Film und Kino Shirer durch die Lektüre der reichsdeutschen Presse im deutschen Kaiserreich«, zur »deutschen Tonfilm- und durch Gespräche mit dem »Mann auf der Stra- entwicklung im Kontext medialer Verflechtungen« und ße« ein Bild von der Lage zu machen. Doch schließ- zur Darstellung der alliierten Sieger in deutschen lich resignierte er und verließ im Dezember 1940 das Spielfilmen der 1970er und 1980er Jahre. Die Presse Deutsche Reich. wird – unter dem Titel »Medienmacht und Politik« – Shirer, der scharfe Beobachter der Entwicklung in durch eine international vergleichende Untersuchung Deutschland und Europa, veröffentlichte schon 1941 von vier großen Zeitungsunternehmen thematisiert, in New York das »Tagebuch eines Auslandskorre- durch eine Abhandlung über den »Aufstieg der Kon- spondenten« (später machte er sich auch als Histori- sumkultur in Presse und Werbung Deutschlands bis ker mit seinem Buch »Aufstieg und Fall des Dritten 1933« und einen Beitrag über amerikanische Maga- Reiches«, das 1960 erschien, einen Namen). Dass zine von 1880 bis 1940. Der Rundfunk wird behandelt jetzt auch seine tagesaktuellen Beobachtungen, die u.a. in einer Darstellung der »Hörfunkprogramme als er Ende 1940 zusammen mit anderen Manuskripten Indikatoren kulturellen Wandels« und Beiträgen über aus Deutschland herausbringen konnte, in gedruckter das Abhörverbot von Auslandssendern im Dritten Form – wenn auch nur in einer repräsentativen Aus- Reich sowie über »Intendant Klaus von Bismarck und wahl – publiziert worden sind, ist als Referenz an ei- die Kampagne gegen den ›Rotfunk‹ WDR«. Zu den nen großen Journalisten anzusehen. Am 2. Septem- einzelnen Medien übergreifend gibt es aber auch ber 1939 ließ er beispielsweise seine amerikanischen Beiträge wie »Die Medienpolitik von Konrad Adenau- Hörer wissen: »Die Anordnung vom vergangenen er und Willy Brandt« sowie »1968 und [die] Massen- Abend betreffs Abhören ausländischer Sender wurde medien«. heute von der Presse als etwas selbstverständliches Auch die Forschungsberichte und Rezensionen begrüßt, angesichts der Lügen, die von ausländi- befassen sich, wenn auch nicht ausschließlich mit schen Radiosprechern über Deutschland verbreitet dem Schwerpunktthema des ›Archivs für Sozialge- werden.« (S. 55) schichte‹. Wer hier liest, bekommt einen eindrucks- Ansgar Diller, Frankfurt am Main vollen Einblick in die gegeißelte Fraktionierung der Geschichtswissenschaft. Aber Besserung ist ja ange- dacht. Gunnar Roters u.a. (Hrsg.) Ansgar Diller, Frankfurt am Main Unterhaltung und Unterhaltungsrezeption. (= Forum Medienrezeption, Bd. 4). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2000, William L. Shirer 230 Seiten. This is Berlin. Rundfunkreportagen aus Deutschland 1939 - 1940. Unterhaltung ist, wenn sich Rezipienten unterhalten Herausgegebenen von Clemens Vollnhals. fühlen. Dazu bedarf es der Kreativität der Kommuni- Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag 1999, katoren – und vieler anderer Faktoren. So banal das 416 Seiten. auf den ersten Blick klingt, ganz so einfach ist dem komplexen Phänomen Unterhaltung nicht beizukom- William L. Shirer, ab 1934 Korrespondent einer ame- men. Schon bei der Definition des Begriffs verhält rikanischen Presseagentur in Berlin und – nach deren sich Unterhaltung geradezu widerborstig. Pleite – seit 1. Oktober 1937 Mitteleuropakorrespon- Der vorliegende Sammelband der Südwestrund- dent von Columbia Broadcasting Systems (CBS), ei- funk-Medienforschung, die Dokumentation einer Ta- nes der drei US-amerikanischen Radio-Networks, mit gung von 1999,1 trägt zusammen, was es zum Ein- Sitz in Wien, erlebte den Einmarsch der deutschen stieg ins Thema zu sagen gibt. Faktoren, wie sich das Truppen in Österreich und den Anschluss des Landes Publikum wann und warum zerstreut, amüsiert oder als Ostmark an das Dritte Reich. In diesen Tagen um sonstwie unterhält, werden aus unterschiedlichen den 12. März 1938 begann Shirers Karriere als Perspektiven erhellt: aus soziologischer und psycho- Rundfunkreporter, war die Geburtsstunde der aktuel- logischer, historischer und aus Sicht von Praktikern len Berichterstattung mit Konferenzschaltung und und Strategen des Unterhaltungsbetriebes. Letztere mehrmals täglichen Berichten zu erleben. Obwohl ihn überwiegen – wissenschaftlich in engerem Sinne sind die Zensur nicht unbehelligt ließ, habe, laut Heraus- maximal vier der insgesamt 18 Buchbeiträge (die in geber Vollnhals, Shirer im Juni 1937 (gemeint ist si- Seitenzahlen allerdings mehr als ein Drittel des Bu- cher 1938) sein Büro in die Schweiz verlegt, was ihn ches ausmachen); die überarbeitete Verschriftlichung aber nicht davon abhielt, sich ab August 1939 als einer Podiumsdiskussion bildet den Abschluss des CBS-Korrespondent in Berlin niederzulassen. Von Bandes. Er versammelt nahezu alles, was zur seiner- hier meldete er sich nahezu täglich mit der Ansage zeitigen Fachtagung gehörte. Aus dokumentarischer »This is Berlin« und seinen Berichten, in denen er Sicht ist dies lobenswert; Leser mögen sich bei dem 80 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

einen oder anderen Artikel fragen, ob denn wirklich Georg Stanitzek/Wilhelm Voßkamp (Hrsg.) immer alles zwischen zwei Buchdeckeln konserviert Schnittstelle: Medien und kulturelle werden muss, was jemand einmal auf einer Konfe- Kommunikation. renz gesagt hat – und meist auch schon anderswo. (= Mediologie, Bd. 1). Zumal im Annex auf die Website verwiesen wird, auf Köln: DuMont Buchverlag 2001, 282 Seiten. der alles Wesentliche abrufbar ist – mit Bewegtbild und Originaltönen, kostenlos. Der Rezension ist die Feststellung voranzustellen, Schön ist, dass das Buch sich bei den Praktikern dass der vorliegende Sammelband nicht an den aus und Hierarchen der Unterhaltungsbranche nicht auf Frankreich stammenden Begriff Mediologie anknüpft, Protagonisten des öffentlich-rechtlichen Bereichs be- der vor allem mit den Namen Roger Debrey oder Da- schränkt, sondern auch den privat-kommerziellen niel Bougnoux verbunden ist. Stattdessen beruft sich Rundfunk einbezieht (z.B. Jürgen Doetz, SAT.1/VPRT die Mehrzahl der Autoren in ihren theoretischen oder Axel Beyer, seinerzeit bei Endemol). Sehr zu Ausführungen auf Niklas Luhmann und Vertreter der begrüßen ist ebenfalls, dass keineswegs nur die französischen Postmoderne, die sich inhaltlich deut- elektronischen Medien berücksichtigt werden, son- lich von den Mediologen unterscheiden, die bisher in dern auch das Medium Buch und die mediale Umwelt Deutschland kaum rezipiert wurden. Freizeitpark. Die Tagung hatte einen weiten Blickwin- Über die Klärung der Begriffe Kommunikation, kel, wenn auch die Fernsehshow inhaltlich einen ge- Medien, Repräsentation und Archive diskutieren Lite- wissen Schwerpunkt des Buches einnimmt. ratur-, Kunst- und Kulturwissenschaftler auch unter Unentschieden mag bleiben, an wen sich der Bezugnahme auf historische Modelle und ausge- Sammelband wendet. Das akademische Publikum wählte Phänomene der gegenwärtigen Mediengesell- wird u.a. mit den Beiträgen von Peter Winterhoff- schaft. Das dem Buch zugrunde liegende Medienver- Spurk, Roland Mangold und dem Team Maria Ger- ständnis beschränkt sich nicht nur auf die techni- hards/Andreas Grajczyk/Walter Klingler gut bedient. schen Medien, sondern schließt auch die Rede, die Speziell Winterhoff-Spurks fundierter medienpsycho- Schrift und den Körper mit ein, so in dem erhellenden logisch orientierter Beitrag zum »Ekel vor dem Aufsatz von Horst Wenzel über mittelalterliche Herr- Leichten« bietet eine exzellente Einführung in die schaftsdarstellungen. Vergleichbar weit wird Kommu- Geistesgeschichte und die Faktoren der Unterhal- nikation als disziplinübergreifender Begriff verstan- tungsrezeption. den, der differenzierte Techniken und Kompetenzen Das »allgemeine Publikum« (falls es so etwas gibt bündelt. Im Sinne der gesellschaftlichen Selbstrefle- und falls dieses dem Band jemals im Regal einer xion umfasst er sowohl die kommunikativen Prozesse nicht spezialisierten Buchhandlung begegnen sollte) als auch deren Beobachterperspektive. Dem Ver- wird möglicherweise den Blick hinter die Kulissen der ständnis der Repräsentation liegt das Wirklichkeits- Unterhaltungsindustrie besonders interessant finden, verständnis von Odo Marquard zugrunde, der sie als den das Buch bietet. Einige Reflexionen von Prakti- Bestandteil eines Ensembles von Fiktionen begreift. kern der Branche sind zudem durchaus unterhaltsam Dementsprechend wird hier Repräsentation des zu lesen. Immerhin ist auch Altmeister Kurt Felix mit Wirklichen als zentrales Problem zeichen- und medi- »Anmerkungen zur Showunterhaltung« vertreten. Von entheoretischer Diskussionen gefasst. Kultur der Günther Jauchs inzwischen von mancher Seite sogar Kommunikation wird von den Herausgebern schließ- zum Bildungsfernsehen erhobenen Erfolg »Wer wird lich auch an Archive als Speicher von sozialem und Millionär?« ist im Buch bereits die Rede, doch hatte Herrschaftswissen gebunden. Sie werden hier einer- die RTL-Show 1999 noch nicht ihren beinahe hysteri- seits in ihrer klassischen Funktion dargestellt und im schen Kultstatus. Sonst hätte Jauch sicher einen Kontext der sich ausbreitenden Digitalisierung be- Beitrag beigesteuert (wäre als Tagungsgast wohl fragt. aber unbezahlbar gewesen). Die 18 Beiträge sind in fünf Abschnitte unterteilt: Auch am Ende der Lektüre bleibt das Unterhal- Zunächst werden Aspekte der Rahmenbedingungen tungsphänomen indes ein partielles Rätsel. Unter- der sich im Zuge der Digitalisierung verändernden haltung ist, wenn sich Rezipienten unterhalten fühlen Medien unter der Überschrift »Theorie und Lektüre« – in unterschiedlichen Formulierungen referiert das behandelt. Im Zentrum der Beiträge steht die Frage Buch dies immer wieder. Wer sich über Positionen nach dem Verhältnis von Sprache und Medien. In zum medialen Unterhaltungsbetrieb informieren möch- diesem Kontext werden primär Probleme von Spra- te, wird im Sammelband fündig. Wer Patentrezepte che als Voraussetzung für die Medienentwicklungen für erfolgreiche Unterhaltungskommunikation sucht, erörtert und speziell auch die Rolle der Lektüre in wird sich anderweitig bemühen müssen. diesem Kontext befragt. Für die Weite des Ansatzes Oliver Zöllner, Köln stehen an dieser Stelle die Ausführungen von Am- selm Haverkamp, der den historischen Bogen bis zur 1 Vgl. Medienrezeption IV: Unterhaltung. Tagung in antiken Rhetorik schlägt, um herauszuarbeiten, dass Düsseldorf. In: RuG Jg. 25 (1999), H. 4, S. 261ff. hier Grundlagen des Repräsentationsbegriffes ge- schaffen wurden, die über Jahrtausende verschüttet, sich im aktuellen Medienbegriff aber erneut nachwei- sen lassen. Im zweiten Abschnitt »Wahrnehmung« beschäftigt sich Elena Esposito mit dem gegenwärtig unter ver- schiedenen Aspekten diskutierten Problem der Rezensionen 81

»Wahrnehmung der Virtualität«. Sie selbst stellt Arten Gunda Stöber und Formen ihres kommunikativen Gebrauchs in das Pressepolitik als Notwendigkeit. Zentrum der Aufmerksamkeit. Ihrem sehr anregenden Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit Beitrag liegt die folgende These zugrunde: »Je ›reali- im Wilhelminischen Deutschland 1890 - 1914 stischer‹ die Formen der Darstellung sind, je zuge- (= Historische Mitteilungen, Beiheft 38). spitzter die Selbstreferenz der Kommunikation und Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2000, 304 Seiten. ihre Autonomie gegenüber Umwelt-Daten und -Phä- nomenen, umso ›kolonisierter‹ ist die Wahrneh- Im Zeitalter der immer schneller zu übermittelnden mung« (S. 116). Diese mit Hilfe der Empirie zu über- Nachrichten, aber auch Kommentaren staatlicher In- prüfende These fordert zugleich dazu heraus, nach stanzen und gesellschaftlicher Gruppierungen, die den Gegentendenzen einer solchen Entwicklung zu sich Depeschendiensten massenhaft und täglich er- fragen. scheinender Publikationsorganen bedienten, ist es Dem Problemfeld der Kommunikation sind zwei kein Wunder, dass der Staat versuchte, diesen Nach- Abschnitte gewidmet mit Beispielen aus dem histori- richtenfluss zu steuern. Damit, wie das geschah und schen Kontext sowie der »Telekommunikation«. Dirk welche Mittel die privat organisierte Presse den Be- Baecker verdeutlicht in seinem Beitrag »Nach der einflussungsversuchen in der Zeitspanne vom Rück- Rhetorik«, dass das systemtheoretische Konzept der tritt Otto von Bismarcks als Reichskanzler 1890 bis Beobachtung von Beobachtetem einen integralen zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914, also der Pe- Bestandteil antiker Rhetorik bildete, der im Zuge der riode des persönlichen Regiments Kaiser Wil- Christianisierung aufgegeben wurde. Erst die moder- helms II., entgegenzusetzen versuchte, befasst sich ne Sozialwissenschaft hat unter dem Druck der Öko- das Buch. nomisierung der Medienproduktion sich diesem Die Autorin führt zunächst in ihr Thema sowie die grundlegenden Aspekt von Kommunikation wieder Forschungs- und Quellenlage ein und benennt in zugewandt. Wenzel legte seinen Ausführungen die dem mit »Staat, Medien, Gesellschaft« überschriebe- 1215 von Thomasin von Zerclaere verfasste Schrift nen Kapitel als den Grundlagen der öffentlichen »Wälschen Gast« zugrunde. Mit Hilfe ausgewählter Kommunikation die Medienverantwortlichen. Dazu Passagen verdeutlicht er überzeugend, dass der ge- zählt sie Agenturen, Journalisten und Verleger, aber genwärtige Zusammenhang von permanenter me- auch die Entscheidungsträger in Reich, Preußen und dialer körperlicher Präsenz und Macht seine Analogi- anderen Bundesstaaten Deutschlands. Den Hauptteil en bereits im Mittelalter hatte. Den Aspekt histori- bildet das Kapitel »Aktionen, Reaktionen, Konzeptio- scher Analogien greift im Abschnitt »Telekommunika- nen. Zur Notwendigkeit, presse- und öffentlichkeits- tion« Horst Bredekamp mit seinem leider nicht ganz orientiert zu reagieren«, woraus sich auch der Titel aktuellen Beitrag »Leviathan und Internet« noch ein- des Buches ableitet. Hier geht es darum, den Gedan- mal auf. Der Kunsthistoriker schlägt in seinem Beitrag ken des einheitlichen Reichs auch im süddeutschen einen akzentuierten Bogen von der Utopie des von Raum zu verankern, wofür eine politisch-publizisti- Thomas Hobbes entwickelten Staatsmonstrums zur sche Achse zwischen Berlin und Karlsruhe, also zwi- gegenwärtigen Medientechnologie. Zu diskutieren schen Preußen und Baden, geschmiedet wurde. Mit wäre hier, inwieweit die New Economy – also Kom- dabei als Finanzier vor allem der ›Süddeutschen munikation und/ durch Bereitstellung von Wissen – Reichs-Korrespondenz‹ war Friedrich Alfred Krupp. durch ihre inhaltlich zunehmend an Einzelinteressen An Beispielen wie der Heeresvorlage von 1892/93, ausgerichteten Bedürfnisse dieses von Hobbes ent- der (gescheiterten) Umsturzvorlage 1894/95, dem wickelte Monstrum von innen her aushöhlt. Reichstagswahlkampf 1906/07 und der Flottennovelle Im letzten Abschnitt »Speicher« stehen Probleme 1911/12 wird deutlich, welche Bedeutung der Pres- der Medienarchäologie als Gedächtnisgegenstand sepolitik zukam. Thematisiert werden aber auch von und der Mediengeschichte als Gegenstand von Erin- der Presse aufgegriffene Affären der obersten nerung im Zentrum der Betrachtung. Bernhard J. Reichsleitung, die Kaiser Wilhelm II. wegen seines Dotzler zeigt in seinem Beitrag, dass sowohl die Dif- »Cäsarenwahnsinns« oder despektierlicher Inter- ferenz und Verbindung von »Wort, Sprache und Bild« views beispielsweise mit dem ›Daily Telegraph‹ zu als auch von »Zeichen und Zahlen« auf aktuelle Pro- seiner Haltung gegenüber England kräftigem Gegen- bleme von Repräsentation verweisen. wind aussetzte. Die teilweise interessanten theoretischen und mit Gunda Stöber sieht in den Regierungsjahrzehnten viel historischem Material untermauerten Zugriffe auf Wilhelms II. das Zeitalter der Massenkommunikation aktuelle Fragestellungen stehen leider völlig unver- – noch ohne Radio und Fernsehen – anbrechen, da bunden nebeneinander. Ihr jeweiliger Wert wird zu- sich das Medienangebot in einem nie zuvor bekann- sätzlich dadurch geschmälert, dass sie mit zum Teil ten Maße vermehrte und auch qualitativ verbesserte. bereits mehrfach an anderer Stelle veröffentlichten Viele Organisationen begannen auf die Medien ein- Beiträgen publiziert wurden, ohne dass systemati- zuwirken und veranlassten den Staat, sich gegenüber sche oder inhaltliche Gründe hierfür erkennbar sind. konkurrierenden Öffentlichkeiten zu behaupten. Wie Diese Sammlung verschiedenster theoretischer An- staatliche Presse- und Informationspolitik Ende des sätze unter dem wissenschaftlich relativ fest defi- 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts funktioniert hat, nierten Begriff »Mediologie« zusammenzufassen, hat das Buch mit generellen Beschreibungen und aus scheint mir ausgesprochen fragwürdig zu sein. den Quellen minutiös rekonstruierten Beispielen ein- Wolfgang Mühl-Benninghaus, Berlin drucksvoll nachgewiesen. Ansgar Diller, Frankfurt am Main 82 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Carsten Roschke Als Hitlers Werben um Polen als Bündnispartner Der umworbene »Urfeind«. des Deutschen Reiches im Frühjahr 1939 endgültig Polen in der nationalsozialistischen Propaganda gescheitert war, weil der östliche Nachbar sich für ei- 1934 - 1939. ne Allianz mit Großbritannien entschieden hatte, gab Marburg: Tectum Verlag 2000, 512 Seiten. es in der nationalsozialistischen Politik gegenüber Polen und natürlich in der Propaganda eine radikale Nach Beginn seiner Kanzlerschaft hielt Adolf Hitler Wende. Der deutsche Diktator, vom »umworbenen« zunächst an der traditionellen revisionistischen Politik ›Urfeind‹« verschmäht, schaltete auf Kriegskurs, dem und Propaganda der Weimarer Republik gegenüber sich auch »sein« Rundfunk mit einer Hetzkampagne Polen fest, um dann im Sommer 1933 auf einen aus- anschloss. Der (Neben-)Sender Gleiwitz brachte bei- gleichenden Kurs gegenüber dem östlichen Nach- spielsweise Sondersendungen unter dem Titel barland einzuschwenken. Die Bemühungen, die im »Schlesische Stunde«, denen die polnische Vertre- September des gleichen Jahres zur Beendigung der tung in Oppeln einen antipolnischen Kurs attestierte. von beiden Ländern geführten publizistischen Kam- Aufgrund der Fülle der von ihm ausgebreiteten pagnen führten, gipfelten am 26. Januar 1934 im Quellen weist der Autor zu Recht darauf hin, dass – deutsch-polnischen Nichtangriffspakt und Freund- wie früher üblich – von einer bloßen »Kulisse« des schaftsvertrag. Damit leiteten beide Seiten, die sich bilateralen Medienabkommens keine Rede sein kann. außenpolitisch isoliert hatten – Deutschland durch Vielmehr »offenbart sich die Zeit von 1934 bis 1939 den Austritt aus dem Völkerbund, Polen durch seine als eine Periode, in der die Nationalsozialisten den bei den Westmächten abgeblitzte Idee eines Präven- ernsthaften Versuch unternahmen, das ihren Wunsch- tivkrieges gegen Deutschland – eine neue Phase ih- vorstellungen entsprechende Bild eines ›Idealpolen‹ rer Beziehungen ein. Unterstrichen wurde das neue im kollektiven deutschen Bewusstsein zu verankern.« entspannte Verhältnis durch eine wenige Wochen (S. 468) später am 23. und 24. Februar ausgehandelte Pres- Ansgar Diller, Frankfurt am Main severeinbarungen, mit der die Regierungen beider Staaten ihre Massenmedien (Presse, Rundfunk, Theater, Kino, Bücher und Zeitschriften) dazu anhal- Gesetz & Moral. ten wollten, Freundschaft und gute Nachbarschaft zu Öffentlich-rechtliche Kommissare fördern. (= Augenblick, H. 30). Diese Wende in den deutsch-polnischen, vor al- Marburg: Schüren Presseverlag 1999, 117 Seiten. lem Medienbeziehungen nimmt Carsten Roschke zum Ausgangspunkt seiner Monographie, in deren Das Heft widmet sich den öffentlich-rechtlichen Mittelpunkt das ambivalente Verhältnis zwischen dem Kommissaren der 70er Jahre, einer Zeit, in der Fern- Deutschen Reich und Polen von der nationalsoziali- sehkrimis noch »einen Beitrag zur Stabilität des bun- stischen Machtergreifung bis zum Beginn des Zwei- desrepublikanischen Gesellschaftssystems« (S. 6) ten Weltkriegs steht. Entsprechend kurz fällt das Ka- leisteten, bevor Schimanski Anfang der 80er Jahre pitel aus, das sich mit der Darstellung Polens in den das Krimi-Genre revolutionierte und mit dem Bild des Medien des Dritten Reichs bis Januar 1934 befasst. väterlichen Kommissars radikal brach. Die Publikati- Es folgen Kapitel über Entstehung, Hintergründe und on beinhaltet drei Aufsätze. Auswirkungen des deutsch-polnischen Medienab- Markus Burbach diskutiert in seinem Beitrag so- kommens, zur polonophilen Pressepropaganda, zur wohl Vorabendserien der 60er Jahre wie »Kommissar »nationalsozialistischen Polonophilie in Buchformat« Freytag« und »Kommissar Brahms«, bevor er sich und zur Filmpropaganda; thematisiert wird außerdem eingehender mit den Freitagabendkrimis »Der Kom- »der« Pole auf den Theaterbühnen. missar«, »Derrick«, »Der Alte« und »Ein Fall für Eines der umfangreicheren Kapitel ist der Rund- zwei« beschäftigt. Die schrittweise Öffnung des Gen- funkpropaganda (S. 239-313) vorbehalten. Dem Au- res setzt er in Bezug zur gesellschaftspolitischen tor gelingt es, minutiös anhand der Zeitschrift ›Der Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. An Deutsche Rundfunk‹ nachzuweisen, in welchem Ma- mehreren Beispielen zeigt er zudem auf, dass konse- ße sich das Auf und Ab der bilateralen Beziehungen quente konzeptionelle Innovationen, die bei neuen zwischen Deutschland und Polen in diesem Medium Serien ausprobiert wurden, ihrer Zeit voraus waren, widerspiegelte. Unter der Überschrift »Die Rezeption z.B. die »inverted story« bei »Derrick«, bei der der des polnischen Rundfunks im ›Dritten Reich‹« fasst Täter dem Zuschauer bereits früh präsentiert wurde, er zusammen: »Analog zur Ausstrahlung polonophiler so dass die Geschichte auch aus der Perspektive des Sportreportagen, Vorträge, Hörspiele, Gedenkbeiträ- Täters verfolgt werden kann. Diese Dramaturgie wur- ge und Musiksendungen ermutigten die ansonsten de von den Zuschauern wenig geliebt, und so kehrte xenophoben Nationalsozialisten im Sinne der Au- »Derrick« nach wenigen Folgen zum klassischen thentizitäts-Propaganda den deutschen Hörer sogar Who-Dunnit-Schema zurück. »Der Alte« operierte in ausdrücklich zum Empfang des polnischen Rund- den frühen Folgen mit semilegalen Strategien, etwa funks«. (S. 305) Das war umso erstaunlicher, als we- vorgetäuschten Geständnissen. Nach Protesten von nige Jahre zuvor – noch zu Zeiten der Weimarer Re- Polizei und Justiz wurden auch diese zurückgenom- publik – zwischen Deutschland und Polen ein ausge- men. Burbach sieht den Grund dafür, dass »Derrick« sprochen gehässiger Ätherkrieg die Schlagzeilen als Relikt so lange unverändert überlebt hat, gerade nicht nur der Rundfunkprogrammpresse beherrscht darin, dass »die bundesdeutsche Gesellschaft, auf hatte. die sich die Serie vordergründig bezieht, in der Seri- Rezensionen 83

enwelt eigentlich gar nicht mehr wiederzuerkennen Das Schriftgut des DDR-Fernsehens. ist« (S. 21). Weitere Gründe für die Oberflächlichkeit Eine Bestandsübersicht. Zusammengestellt und der ZDF-Krimis gegenüber dem »Tatort« werden in bearb. Von Sabine Salhoff. Mit einer Einführung dem größeren politischen Druck und der stärkeren von Jörg-Uwe Fischer. Abhängigkeit des ZDFs von ökonomischen Zwängen Frankfurt am Main – Potsdam: Deutsches vermutet. Rundfunkarchiv 2001, 478 Seiten. Andreas Quetsch befasst sich mit der morali- schen Aussage der Serie »Derrick« und untersucht in Dank der dem Deutschen Rundfunkarchiv zugeflos- diesem Zusammenhang die Figurenkonstellation, die senen Fördermittel der Deutschen Forschungsge- Morde und ihre Motive. Leider versucht er zu sehr, meinschaft, die z.B. die Historischen Archive der die Inhalte der Serie mit Auffassungen von Dreh- Landesrundfunkanstalten nicht in Anspruch nehmen buchautor Herbert Reinecker oder Hauptdarsteller können, ist die Überlieferung des Hörfunks und des Horst Tappert gleichzusetzen. Der Beitrag leidet wei- Fernsehens der DDR gut erschlossen. Nun liegt eine ter unter der Gleichsetzung von Filminhalten und ihrer Bestandsübersicht des Schriftguts des DDR-Fernse- (behaupteten) Wirkung auf die Zuschauer: Behaup- hens vor, das 1952 mit einem Versuchsprogramm tungen wie »Er [Derrick] wird vom Publikum zwar un- und seit 1956 mit einem regelmäßigen Programm die angefochten positiv bewertet« (S. 48) sind aus me- DDR-Bevölkerung versorgte. 1969 kam das zweite thodischen Gründen nicht haltbar. Ein biographischer Programm eines Fernsehsystems hinzu, das perma- Analyseansatz bietet in der Regel – und so auch hier nent in Auseinandersetzung mit dem ungehindert in – wenig interessante Erkenntnisse. Eine Beobach- das Land einstrahlenden Angebot des bundesrepu- tung wie »Zum einen gibt es (fast) nie einen zufälli- blikanischen »Klassenfeinds« zu stehen hatte. Die gen Mord« (S. 44) ist absurd, denn ein Mord definiert Übersicht enthält eine institutionengeschichtliche sich ja gerade als die Tötung eines Menschen aus Einführung von Jörg-Uwe Fischer (S. 13-22), eine niederen Beweggründen und festen Absichten. Die kurze generelle Bestandsbeschreibung (S. 23) und überwiegend deskriptive und mitunter weitschweifige Hinweise für die Benutzung des Bestandskatalogs (S. und naive Analyse, die mit zahlreichen Stilblüten aus 24). Es folgen die Bestandsübersicht und ein Regi- der Serie und Zitaten von Reinecker oder Tappert ster der Betriebseinheiten (S. 381- 478). angereichert ist, bietet so auch wenig, was nicht in Das Bestandsverzeichnis führt unter der aktuellen früheren Publikationen zu »Derrick« bereits pointier- (?, darüber wird keine präzise Auskunft gegeben) Be- ter gesagt worden ist. zeichnung der Provenienzstelle die überwiegend vor- Doris Rosenstein widmet ihren Beitrag der ersten kommenden Dokumentarten auf, eine Beschreibung »Tatort«-Kommissarin Marianne Buchmüller. Wäh- der Inhalte und nennt vor allem die Sendetitel, die rend es noch in den 60er Jahren weder in deutschen von Programmredaktionen verantwortet wurden, noch US-amerikanischen Serien weibliche Protago- Laufzeit der Überlieferung und Angaben über den nisten gab, allenfalls in britischen Serien (»Miss Mar- Umfang. ple«, »Mit Schirm, Charme und Melone«) Vorstöße Die Bestandsübersicht ist unterteilt in sechs gewagt wurden, sieht sie 1978 einen deutlichen Ein- »Hauptzeiträume«, die sich an der formalen Nomen- schnitt, da sowohl in einem Fernsehfilm eine weibli- klatur und obersten organisatorischen Aufhängung che Kommissarin agierte und im 84. »Tatort« Marian- der Rundfunkeinrichtungen orientiert. Nun wird es ne Buchmüller (Nicole Heesters) ihren Einstand als vermutlich richtig sein, die Nachwendezeit (1989- weibliche Kommissarin feierte und in »Kottan ermit- 1991) von den Unterlagen der Zeit vor dem Herbst telt« und »SOKO 5113« Frauen in Nebenrollen einen 1989 zu trennen, ansonsten wird aber nicht verdeut- festen Platz erhielten. Bei ihrer Analyse der drei licht, ob und welche organisatorischen Veränderun- »Tatort«-Folgen mit Kommissarin Buchmüller kommt gen beispielsweise mit dem Wechsel der Bezeich- Rosenstein zu dem Schluss, dass speziell die erste nung Deutscher Fernsehfunk in Fernsehen der DDR Folge in Bezug auf die Darstellung weiblicher Cha- einhergehen (1973). Und selbst wenn Unterschiede raktere ihrer Zeit voraus war. Buchmüller wurde als in der Zuordnung und Bezeichnung entstanden sind, selbständige, engagierte und tatkräftige Frau mit so sind sicher auch beim DDR-Fernsehen langan- Teamgeist gezeichnet. Das traditionelle Frauenbild dauernde redaktionelle Kontinuitäten vorhanden ge- wurde ironisiert und es wurde stattdessen ein ambi- wesen, deren Zusammenhang dem unkundigen Re- valentes Bild einer Frau zwischen Karriere und chercheur aufgehellt werden müsste. Wozu diese Hausfrau gezeichnet. Diese Merkmale sieht Rosen- Handhabung führt, lässt sich am Beispiel des stein allerdings in den zwei späteren »Tatorten« mit »Schwarzen Kanal« verdeutlichen, den Karl Eduard Marianne Buchmüller nicht länger bestätigt. von Schnitzler kontinuierlich von 1960 bis zum 31. Karin Wehn, Leipzig Oktober 1989 moderierte. Im Verzeichnis taucht »Der Schwarze Kanal« an vier Stellen auf (S. 35, 71, 167, 212). Meiner persönlichen Erinnerung nach sind je- doch Redaktionsakten kontinuierlich überliefert ; sie sind im Verzeichnis auch ausgewiesen als Kommen- tatoren-(Arbeits-)Gruppe Schnitzler. Bei der Suche versagt auch das Verzeichnis der Betriebseinheiten, das schematisch alphabetisch aufgebaut nur in ei- nem Fall zum »Schwarzen Kanal« führt, wo er zum Titel der Organisationseinheit gehört (S. 71). Da ein 84 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Namensverzeichnis und ein Sendetitelregister fehlen senschaft sowie solche der Film- und Medienwissen- (sie hätten allerdings auch das Verzeichnis vermut- schaften und pädagogische, psychologische und me- lich bis zur Unhandlichkeit aufgebläht), ist die Über- dizinische Publikationen. lieferung des »Schwarzen Kanals« nur auf der Basis Das Buch beginnt mit der Kategorisierung von eines konzentrierten Durchblätterns des gesamten akustischen Ereignissen im Film, Überlegungen zu Verzeichnisses auffindbar. Beziehungen zwischen Filmmusik und Bildinhalten, Angesichts eines gegenwärtig immer diskutablen wie sie etwa von Hansjörg Pauli entwickelt wurden Gebrauchswerts gedruckter Verzeichnisse bei den und einigen Ausführungen zu Filmmusiktechniken vorhandenen elektronischen Verbreitungswegen (deskriptive Technik, Mood-Technik, Leitmotivtechnik, halten sich somit die Hilfestellungen des Bestands- Baukastentechnik). Ergänzend werden physiologi- verzeichnisses in sehr engen Grenzen, sofern sie für sche Grundlagen der audiovisuellen Wahrnehmung den Nutzer eine Orientierung in der Überlieferung dargelegt. ermöglichen sollen, die nicht abhängig ist von der In dem sich anschließenden Schema zur Wirkung Sichtweise der Archivare. Provenienzorientiert aufge- von Filmmusik wird zwischen drei Ebenen unter- baute Bestandsverzeichnisse haben ja gerade auch schieden: (1) Die Filmmusikebene diskutiert den Ein- den Zweck, Nutzern sowohl unabhängig von der Hil- fluss von Ausprägungen der Musik selbst auf die festellung der Archivare wie auch unabhängig von Wahrnehmung und die Relationen zwischen Musik Registern mit Namens- und Stich- bzw. Schlagwort- einerseits und Sprache und Bild andererseits; (2) die verzeichnissen (so wichtig sie wiederum sind, wie Wirkungsebene systematisiert den Einfluss von Mu- oben verdeutlicht) auch Funktionen und Funktionszu- sik auf die Wahrnehmung des Films (z.B. strukturelle sammenhänge transparent zu machen, die es ihm Wahrnehmung, die Aneignung von Wissen und In- ermöglichen, für seine Fragestellungen weitere Über- formationsspeicherung); (3) auf der Rezipientenebe- lieferungen hinzuzuziehen. Hierzu bieten aber weder ne geht es um den Einfluss soziodemographischer die Einführung Hinweise, noch lässt der für Zwecke Variablen sowie um Persönlichkeitsmerkmale, Vor- der Datenverarbeitung verwandte Code für die Be- erfahrungen, Vorurteile und Einstellungen sowie Prä- triebseinheiten diese Zusammenhänge erkennen. dispositionen wie Stimmung und Motivation auf die Mehr als eine ziemlich oberflächliche Erstorientie- Wahrnehmung von Filmmusik. Zur ausführlichen Er- rung kann das Bestandsverzeichnis leider nicht bie- läuterung der im Schema angesprochenen Ebenen ten. mit ihren zahlreichen Einzelaspekten wird anschlie- Edgar Lersch, Stuttgart ßend die diesbezügliche Literatur in ihren zentralen Aussagen – auch für Filmmusiklaien gut verständlich – referiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Da- Claudia Bullerjahn bei werden einige theoretische Annahmen und film- Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. analytische Erkenntnisse durch Ergebnisse aus der Augsburg: Wißner 2001, 362 Seiten. Wirkungsforschung bestätigt oder auch widerlegt. Am Ende ihres Buches merkt die Autorin kritisch Auch wenn Filmmusik in der musik- und medienwis- an, dass zahlreiche Untersuchungen methodische senschaftlichen Forschung kein unbeachtetes Rand- Schwächen aufweisen und sie deshalb keine eindeu- gebiet ist, fehlte es bislang doch an einem grundle- tigen Aussagen oder weiterreichende Schlussfolge- genden Werk zur Rezeption der Filmmusik. Das im rungen zulassen. So finden sich z.B. kaum Studien, Rahmen eines Promotionsvorhabens entstandene die in natürlichen Kontexten (Kinobesuch, Fernseh- Buch von Claudia Bullerjahn (derzeit wissenschaftli- abend im Kreis der Familie) durchgeführt wurden. che Assistentin im Fach Musik an der Universität Hil- Insgesamt kann jedoch gezeigt werden, dass der desheim) füllt diese wichtige Lücke. Musik eine große Bedeutung für die Rezeption des Im Gegensatz zu den bislang vorliegenden Stu- Films zukommt. Dies sollte Anlass genug sein, mehr dien werden nicht allein prominente Filmmusiktheori- als bisher unter Berücksichtigung schon vorliegender en referiert, exemplarisch Filme im Hinblick auf den theoretischer Ansätze interdisziplinär zur Wirkung Einsatz von Musik und Geräusch analysiert oder ex- von Filmmusik zu forschen. Claudia Bullerjahn hat perimentelle Studien zur Rezeption von Filmmusik hierfür gute Vorarbeiten geleistet. vorgestellt. Stattdessen wird ein eigenes Schema zur Die Abbildungs-, Tabellen- und Filmverzeichnisse Wirkung von Filmmusik vorgestellt, das die vorlie- im Anhang sowie das Sach- und Personenregister genden theoretischen Überlegungen sowie die analy- sind eine willkommene Hilfe, um sich optimal im Text tisch und experimentell gewonnenen Erkenntnisse in zu orientieren. einem übersichtlichen Schema integriert. Die Autorin Thomas Münch, Würzburg selbst spricht von einem übergreifenden Modell zur Wirkung von Filmmusik. Der Begriff »Modell« er- scheint jedoch wenig angemessen, da keine theoreti- schen Annahmen zur Wirkung von Filmmusik postu- liert und überprüft werden. Die eigentliche Leistung der Autorin liegt in der sehr gründlichen Recherche häufig nicht einfach zugänglicher deutsch- und eng- lischsprachiger Literatur. Das umfängliche Literatur- verzeichnis macht dies deutlich. Einbezogen werden Veröffentlichungen aus dem Bereich der Musikwis- Rezensionen 85

Susanne Pütz dene Techniken, Formen und soziale Bedeutungen Theaterereignis – Fernsehereignis. aneignet, sie umfunktioniert, neu formiert, revidiert Die Theaterberichterstattung im bundesdeutschen und zwar ebenso auf der Ebene der Zeichen als auch Fernsehen von 1952 bis 1995 (= Medien und der realen effektiven Präsenz. Remediation impliziert, Fiktionen, Bd. 1). sich Konventionen anderer Medien zu bedienen und Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang, Europäischer sie im neuen Kontext zu reformulieren. Da Theater Verlag der Wissenschaften 2001, 329 Seiten. ein Live-Medium war und ist, mussten die Anfänge live sein, weil das Bestreben der Macher darin be- Nachdem kürzlich in der Schriftenreihe des Deut- stand, wie die zeitgenössischen Quellen diesen As- schen Rundfunkarchivs die Ergebnisse des Sonder- pekt immer wieder verdeutlichen, möglichst authen- forschungsbereichs Siegen über Kunstsendungen im tisch das jeweilige Theaterereignis wiederzugeben. Fernsehen der Bundesrepublik1 erschienen sind, legt Ein kurzer Blick in die Geschichte des Weimarer nun Susanne Pütz ihre Forschungsergebnisse zur Rundfunks zeigt, dass wir hier fasst die gleichen Dis- Theaterberichterstattung vor. Sie rundet damit die kussionen und technischen Umsetzungen im Kontext Forschungsergebnisse über die Reflexionen der Kün- des Hörspiels und der Opernübertragungen finden. ste im Fernsehen ab. Bereits 1996 wurde im Rahmen Auch aus systemtheoretischer Sicht ist der Begriff der Arbeit des Sonderforschungsbereichs eine eigen- »Live-Ideologie« nicht haltbar. Wenn nach Luhmann ständige Publikation zum Verhältnis von Theater und das »laufende Unterscheiden von Selbstreferenz und Fernsehen veröffentlicht, die sich mit der Problematik Fremdreferenz in allen Operationen des Bewusst- unter dem Blickwinkel des dualen Rundfunksystems seinssystems (...) eine Zeichenstruktur voraus- beschäftigte.2 In der vorliegenden an der Universität [setzt]«, ist festzuhalten, dass das frühe Fernsehen Siegen entstandenen Dissertation beginnt der Unter- kaum über Selbstreferenzen verfügen konnte, son- suchungszeitraum mit der Frühzeit des bundesdeut- dern es sich zunächst anderer Zeichenstrukturen be- schen Fernsehens und wird bis in die Gegenwart dienen musste. Hier boten sich Theaterübertragun- fortgesetzt. gen und Eigeninszenierungen der Sender geradezu Die Publikation ist in zwei Teile gegliedert: Der an, weil in der Frühzeit des Mediums u.a. die noch erste theoretische Teil setzt sich unter der Überschrift relativ hohen Anschaffungspreise der Geräte vor al- »Theaterereignis – Fernsehereignis« zunächst mit lem von höheren Einkommensgruppen aufgebracht dem Ereignisbegriff im Allgemeinen auseinander. werden konnten, aus denen sich wiederum die Masse Sodann werden die Ergebnisse im Kontext der Pro- der Theaterbesucher rekrutierte. grammkonzeptionen in Fernsehen und Theater dis- Das fehlende Verständnis der Autorin von Reme- kutiert und mit einer ausführlichen Untersuchung über diatisierungsierungsprozessen wirft ein zweites Pro- Theaterkritik und Theaterberichterstattung als Wer- blem auf, dass in diesem Fall die gesamte Arbeit tungskategorien von Ereignissen beendet. Der zwei- durchzieht. Die gelegentlichen Wiederholungen histo- te, historisch angelegte Teil »Theatergeschichte im rischer Theateraufzeichnungen auf 3sat oder andere Spiegel des Fernsehens am Beispiel der Theaterbe- audio-visuelle Quellen lassen deutlich erkennen, richterstattung« folgt in der Darstellung weitgehend dass die technische Umsetzung und damit die Ästhe- der allgemeinen rundfunkhistorischen Gliederung. tik der Theaterübertragungen sich im Laufe der letz- Die Abweichung betrifft lediglich den Einschnitt im ten 50 Jahre grundlegend geändert hat. So verzich- Jahr 1973. Die Autorin begründet stringent, weshalb tete man etwa in der Frühzeit des Fernsehens weit- sie hier von einer wichtigen Zäsur für die von ihr un- gehend auf die Totale, weil die kleine Bildröhre kaum tersuchten Gegenstände ausgeht. Die sehr material- den Eindruck von Raumtiefe vermitteln konnte, bzw. reiche Arbeit erlaubt einen guten und schnellen die Zuschauer im Hintergrund spielende Akteure Überblick über die vielfältigen inhaltlichen und for- nicht erkennen konnten. Dafür finden sich in dieser malen Darstellungen von Theateraufführungen im Zeit viele Einstellungen, die einzelne signifikante kör- bundesdeutschen Fernsehen. Dieser Gesamtein- perliche Bewegungen der Protagonisten hervorhe- druck wird durch die ausführliche Bibliographie eben- ben. Beide Charakteristika sind heute verschwunden so verstärkt wie durch das Personen- und Sendungs- und durch andere Mittel ersetzt worden; letztere wer- register. den aber ebenfalls nicht beschrieben. Problematisch erscheinen dagegen eine Reihe Ein weiteres Problem stellt das mangelnde allge- von Wertungen und Einordnungen der Autorin, von meine historische Verständnis der Autorin dar. Die- denen einige im Folgenden genannt seien. Für die ses schränkt den Aussagewert der Arbeit erheblich Charakterisierung der 50er Jahre verwendet die Auto- ein. Zum einen finden sich immer wieder undefinierte rin immer wieder den Begriff der »Live-Ideologie« (S. Begriffe wie »fortschrittlich gesinnter Journalismus« 38, 112). Sie beschreibt zwar, dass es zu diesem (S. 122) oder das »weitgehend moderate und gesell- Zeitpunkt keine Aufzeichnungsmöglichkeiten außer schaftskonforme Medium Fernsehen« (ebd.). Könnte dem Film gab, diskutiert aber an keiner Stelle an den man dies noch als Lapsus hinnehmen, der zum Teil historischen Quellen die Implikationen dieser Pro- den Quellen geschuldet ist, so ist nicht zu akzeptie- blematik. Von daher wird – um nur einen Aspekt zu ren, wenn mit Bezug auf zeitgenössische Quellen benennen – nicht deutlich, dass die Ausstrahlung von einseitig unterstellt wird, dass vor allem das Fernse- kompletten Theateraufführungen durch das Fernse- hen am Rückgang der Theaterbesucher ab Mitte der hen eine Form der Remediatisierung darstellt. Das 60er Jahre schuld sei (S. 99 f.). Völlig unberücksich- heißt, das Fernsehen arbeitet von Anfang an, wie alle tig bleibt hier, dass die von der Autorin beschriebe- Medien vorher und nachher, indem es sich vorhan- nen Veränderungen im Theater in Bezug auf die 86 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Stoffauswahl, die leider nur erwähnten, aber nicht be- die Emigranten sich oftmals in bestimmte Klischees schriebenen Veränderungen in den Inszenierungen pressen lassen mussten, illustriert ihre Zwangssitua- und die Öffnung des Theaters zu neuen Räumen tion: So wurden Schauspieler in Rollen gezwungen, viele traditionelle Theaterbesucher verschreckt hat in denen sie ihre Erzfeinde, die Nazis, in Antinazifil- und sie deshalb zu Hause geblieben sind. Demge- men darstellen mussten. Gefragt waren die Filmexil- genüber zeigen etwa die klassischen Volkstheater, anten aber auch beim aktiven (Propaganda-)Kampf deren Stücke auch in den folgenden Jahren im Fern- gegen das nationalsozialistische Deutschland: in der sehen gelaufen sind, dass sich diese sowohl in den Armee, im Office of War Information und in Sendun- eigenen Häusern als auch im Fernsehen eines gro- gen des Rundfunks. ßen Zuspruchs erfreuten. Diesen Aspekt unterstreicht Asper, der Erfolge und Misserfolge des Filmexils in den 90er Jahren die Tatsache, dass mit SAT.1 bis in die 50er Jahre verfolgt, kombiniert geschickt auch ein großer privater Sender versuchte, mit Auf- Porträts seiner Protagonisten mit Text- und Bilddo- zeichnungen von Volkstheaterstücken die Quote zu kumenten sowie Faksimiles, die er aus zahlreichen erhöhen. Das Experiment scheiterte nicht an der Ein- privaten und öffentlichen Archiven zusammengetra- schaltquote, sondern an den anvisierten Marktantei- gen hat. Wichtige Informationen erhielt Asper auch len in der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen. Ihr An- durch Interviews mit Emigranten, die er von 1985 bis teil war zu gering, so dass die Sendungen abge- 1987 in Los Angeles führte. Es ist zu hoffen, dass schafft wurden. des Autors Wunsch in Erfüllung geht, »Schicksal und Insgesamt liegt der Publikation ein völlig asym- Leistung der Filmemigration einem möglichst großen metrischer Kommunikationsbegriff zu Grunde. Er be- Publikum zu vermitteln« (S. 658). Insiderstudien gibt schreibt zwar die Programmangebote, aber nicht de- es schon zu Genüge! ren Umsetzung entsprechend der Entwicklung des Ansgar Diller, Frankfurt am Main Mediums. Die Rolle der Rezipienten als Adressaten der Fernsehprogramme bleibt völlig unterbelichtet, weswegen die beschriebenen Veränderungen in den Ernest Prodolliet Programmen auch nur bedingt deutlich werden. Der NS-Film in der Schweiz im Urteil Wolfgang Mühl-Benninghaus, Berlin der Presse 1933 - 1945. Eine Dokumentation. 1 Gundolf Winter u.a.: Die Kunstsendung im Fern- Zürich: Chronos-Verlag 1999, 231 Seiten. sehen der Bundesrepublik Deutschland (1953- 1985). Teil I: Geschichte – Typologie – Ästhetik; Vor dem Zweiten Weltkrieg spielte der Schweizer Teil II: Chronologisches Verzeichnis und Register. Filmmarkt für den deutschen Film mehrfach eine be- Potsdam 2000. Vgl. die Rezension in RuG Jg. 27 deutende Rolle. Im Ersten Weltkrieg versuchten die (2001), H. 1/2, S. 93f. Militärführer des Reiches und Preußens über Schwei- 2 Rolf Bolwin, Peter Seibert (Hrsg.) und Mitarbeit zer Kinos die Eidgenossen vom deutschen Kriegs- von Sandra Nuy: Theater und Fernsehen. Bilanz standpunkt zu überzeugen. Zugleich strebte Deutsch- einer Beziehung. Opladen 1996. Vgl. die Rezen- land danach, mit eigenen Produktionen die Abspiel- sion in RuG Jg. 22 (1996), H. 4, S. 280f. möglichkeiten von Filmen der Entente einzuschrän- ken. In der Inflationszeit 1923 bedeutete der Verkauf einer Lizenz an einen Schweizer Filmverleiher große Helmut G. Asper Gewinne über die gesamte Refinanzierung des Pro- »Etwas Besseres als den Tod ...«. jektes hinaus. In den späteren Jahren der Weimarer Filmexil in Hollywood. Porträts, Filme, Dokumente. Republik hatte der kleine Filmmarkt der Eidgenossen Marburg: Schüren Verlag 2002, 679 Seiten. nur eine untergeordnete Bedeutung für die deutsche Filmindustrie. Die Einnahmen aus der Schweiz fielen Etwa 2 000 Personen aus der Filmbranche verließen für die Filmfinanzierung kaum ins Gewicht. In den in den Jahren des Dritten Reiches aus politischen Jahren der Weltwirtschaftskrise fanden sie wieder und rassischen Gründen Deutschland – von ihnen mehr Beachtung, da die Schweiz zu jenen Ländern kamen etwa 800 in die Vereinigten Staaten, nach gehörte, aus denen die Filmexporteure noch Einnah- Hollywood, dem Mekka der Filmindustrie: Drehbuch- men nach Deutschland transferieren konnten und schreiber und Regisseure, Produzenten und Agenten, nicht auf Sperrkonten einzahlen mussten, um sie ir- Schauspielerinnen und Schauspieler, Techniker und gendwann in dem Land auszugeben, wo sie erwor- Architekten, Kameraleute und Cutter, Choreographen ben wurden. und Komponisten. Wegen des hohen Anteils von Ju- Nach dem 1. April 1933 gewann der Schweizer den sieht Helmut G. Asper die Filmemigration als Teil Filmmarkt für das Dritte Reich wieder hohe Priorität. der jüdischen Emigration. 230 sogenannte »Exilfil- Nach dem ersten antijüdischen Pogrom und der im- me«, wobei zwei der wesentlichen Schlüsselpositio- mer deutlicher werdenden Ausgrenzung bzw. Verfol- nen wie Produktion, Regie und Drehbuch von Emi- gung Andersdenkender hatte eine Reihe von Ländern granten besetzt sein mussten, hat der Autor ermittelt. und Verleihern beschlossen, alle Filmbeziehungen Exemplarisch wird das Auf und Ab von Karrieren in- mit Deutschland sofort zu beenden bzw. stark einzu- nerhalb der einzelnen Berufssparten geschildert und schränken. Die deutsche Filmherstellung geriet infol- die Bedeutung der Filmexilanten aus dem deutsch- gedessen zunehmend in die Krise, weil der eigene sprachigen Raum Europas für die amerikanische Markt zur Amortisation der immer aufwändiger ge- Filmindustrie gewürdigt und der Aderlass für die ent- stalteten Spielfilme zu klein war. Unabhängig von den sprechende Sparte in Deutschland aufgezeigt. Dass Rezensionen 87

Filmboykottbestrebungen schwand in den folgenden rassigkeit, wie sie bereits 1935 in den Filmen »Frie- Jahren zunehmend das ausländische Interesse an sennot« artikuliert wurde, oder später die antisemiti- Produktionen aus deutschen Ateliers wegen ihrer schen Tendenzen in »Togger« werden generell ab- zum Teil stark vom nationalsozialistischen Gedan- gelehnt. Vielfach überwiegt jedoch die positive Be- kengut durchdrungenen Inhalte. Umgekehrt propor- wertung der Regie, der schauspielerischen Leistun- tional zu dieser generellen Entwicklung stieg im Zuge gen oder der Kamera. der militärischen Aufrüstung der Devisenhunger der Auffallend für die Bewertung der Filme ist, dass nationalsozialistischen Machthaber. Insofern waren die linksorientierte Presse insgesamt politisch sensib- sie auch an geringen Deviseneinnahmen interessiert, ler reagierte als bürgerliche Zeitungen. So wirft das wie sie sich etwa auf dem Schweizer Filmmarkt aus ›Volksrecht‹ im Rahmen der Besprechung des Terra- kleinen Rechteverkäufen realisieren ließen. Films »Wunder des Fliegens« Ernst Udet vor, zu den Vor diesem ökonomischen und politischen Hinter- Massenmorden der Nazis zu schweigen. Die Passa- grund entstanden die in der Publikation auszugswei- ge endet mit der Feststellung: »Der Udet-Motor mag se wiedergegebenen Filmkritiken aus renommierten noch so stark surren, wir hören doch die Schreie der deutschsprachigen Schweizer Zeitungen. Systema- Gemarterten.« (S. 52) Die übrigen Zeitungen lassen tisch erschlossen wurden vom Herausgeber die Züri- nach den aufgeführten Zitaten eine vergleichbare cher Periodika ›Neue Züricher Zeitung‹, ›Tages- Konsequenz vermissen. Eine ähnliche Zweiteilung Anzeiger‹, ›Neue Züricher Nachrichten‹, ›Volksrecht‹, lässt sich auch in anderen Filmkritiken erkennen, so ›Die Tat‹ sowie die Filmpresse. Im Sinne von Quer- etwa im »Herrscher«, der von den bürgerlichen Zei- vergleichen wurden auch Baseler und Berner Blätter tungen vor allem wegen der schauspielerischen Leis- mit herangezogen. Die Beschränkung ist insofern ge- tung Emil Jannings und den imposanten Industriebil- rechtfertigt, als die Züricher Lichtspieltheater traditio- dern positiv bewertet wird. Die Linkspresse etikettiert nell deutsche Filme innerhalb der Eidgenossenschaft ihn wie auch etwa »Pour le mérite« lediglich als zuerst aufführten und hier alle politischen, ökonomi- »Goebbels-Film« und verzichtet auf jede weitere Kri- schen, sozialen und kulturellen Vorgänge in Deutsch- tik. land besonders intensiv reflektiert wurden. Wolfgang Mühl-Benninghaus, Berlin Die Filmanordnung im Buch erfolgte nach dem Produktionszeitpunkt. Die Auswahl der Kritiken be- schränkt sich auf jene zwischen 1933 und 1945 ent- Klaus Oldenhage u.a. (Hrsg.) standenen 58 Filme, die in Deutschland mit den Prä- Archiv und Geschichte. dikaten »staatspolitisch besonders wertvoll« und Festschrift für Friedrich P. Kahlenberg »staatspolitisch wertvoll« versehen worden waren. (= Schriften des Bundesarchiv, Bd. 57). Jeder von ihnen ist mit einer kurzen prägnanten In- Düsseldorf: Droste 2000, 998 Seiten. haltsangabe versehen. Bei in der Schweiz verbote- nen Filmen gibt der Autor sinngemäß die Entschei- Friedrich P. Kahlenberg, langjähriges Vorstandsmit- dungsgründe der Zensurbehörden wieder. glied des »Studienkreises Rundfunk und Geschich- Die Filmkritiken selbst verdeutlichen die differen- te«, von 1983 bis 1991 dessen Vorsitzender und viele zierte Wertung, mit der überwiegende Teile der Pres- Jahre Mitglied der Redaktion der ›Mitteilungen‹ – die se die einzelnen Produktionen beurteilten. Eine Aus- Gründung der Zeitschrift geht auf seine Anregung zu- nahme bildete offensichtlich die linke Presse, die die rück, 1996 wurde sie in ›Rundfunk und Geschichte‹ hochdekorierten deutschen Filme fast ausschließlich umbenannt –, war im Hauptberuf Archivar am Bun- ablehnte. Die deutschen Bewertungen selbst waren desarchiv, an dem er von 1964 bis Ende 1999 in für das Schweizer Feuilleton partiell nicht nachvoll- zahlreichen Funktionen Dienst tat und an dessen ziehbar. So war die Reaktion auf den Film »Hermine Spitze er die letzten zehn Jahre seines Berufslebens und die sieben Aufrechten«, der später in der als Präsident stand. Es war eine Dekade, in der diese Schweiz unter dem Originaltitel der dem Drehbuch Einrichtung, der einerseits die archivalische Siche- zugrundeliegenden Erzählung von Gottfried Keller rung der zentralen Einrichtungen des westdeutschen »Das Fähnlein der sieben Aufrechten« lief, überwie- Teilstaates anvertraut war und das andererseits we- gend positiv. An der Uraufführung im Berliner Capitol sentliche, aber bei weitem nicht die Mehrzahl an Be- nahmen auch Angehörige der Schweizer Gesandt- ständen des deutschen Zentralstaates seit 1867 auf- schaft in Berlin teil. Anlässlich dieses Ereignisses bewahrte, sich überraschend mit der Aufgabe kon- schrieb die ›Neue Züricher Zeitung‹: »Dass der Film frontiert sah, das fast 50 Jahre geteilte Erbe nach aber vom deutschen Propagandaministerium ein vol- dem Untergang der DDR wieder zusammenzuführen. les Lob erfahren hat, gibt uns ein Rätsel auf. In Vielfältige archivorganisatorische Aufgaben waren zu Deutschland beklatscht ihn das Publikum wohl gera- bewältigen und vor allem auch das Personal aus dem de deshalb, weil die Bilder eines demokratischen sogenannten »Beitrittsgebiet« zu integrieren. Volksfestes, in dem das Fähnlein mit der Aufschrift »Deutsche Archive in Ost und West. Zur Ent- ›Freundschaft in der Freiheit‹ so lebendig flattert, ne- wicklung des staatlichen Archivwesens seit 1945« ben den Aufnahmen eines Nürnberger Parteitages hatte Kahlenberg 1972 einen Überblick über das aus- wohl bestehen können.« (S. 43) Die zitierte Stelle einandergerissene archivalische Erbe Deutschlands verdeutlicht ein Bewertungskriterium für die Schwei- bzw. die dieses betreuenden staatlichen Institutionen zer Presse. Es betrifft die Darstellung bzw. Interpre- überschrieben, damals nicht ahnend, dass es ihm tation der Stellung des Individuums in der Gesell- vergönnt sein werde, beim Wieder-Zusammenfügen schaft. Die Forderung nach der sogenannten Rein- der Teile einen wesentlichen Beitrag leisten zu dür- 88 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

fen, einen Beitrag also, der den Titel der Veröffentli- hatten, und mahnt – im Ton weniger verbindlich und chung von 1972 überflüssig machen würde. Mehrere nun ungeduldiger, als Kahlenberg dies all’ die Jahre Beiträge des hier anzuzeigenden Bandes vermitteln immer getan hatte – archivrechtliche Regelungen an: anschauliche Einblicke in die gerade vom Bundesar- Im Vergleich auch zu anderen nichtstaatlichen Über- chiv unter Führung seines Präsidenten zu leistende lieferungen bezeichnet er es als nicht hinnehmbar, Arbeit (vgl. die Aufsätze von Becker-Schierz, S. dass sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstal- 291ff., Dillgard, S. 314ff., Hackspiel, S. 325ff.). ten einer befriedigenden archivischen Lösungen ent- Am 29. Oktober 2000 beging Kahlenberg seinen ziehen, es sich bei ihnen – wie er seinen Beitrag 65. Geburtstag. Wenige Monate vorher aus dem Amt überschreibt –, um »Fernseharchive ohne Benutzer« geschieden, wurde er aus diesem Anlass und mit handele, oder wenn eine Nutzung doch zustande Blick auf sein Lebenswerk mit einer fast tausendseiti- komme, es sich dabei um einen Gnadenakt handele. gen Festschrift gewürdigt. In einigen abgedruckten Die mit der Unterzeile seines Beitrags zum Ausdruck Reden zu seiner Verabschiedung wie auch zahlrei- kommende Emotion, die er mit »zur öffentlichen chen Beiträgen wird immer wieder nicht nur der Ohnmacht gegenüber der ›vierten Gewalt‹ in größten Herausforderung in der Berufsbiographie Deutschland« umschreibt, drückt sein Missfallen ge- Friedrich Kahlenbergs gedacht. In zahlreichen Auf- genüber allen fehlgeschlagenen, auch von Kahlen- sätzen seiner Kollegen – in ihrer Mehrzahl am Bun- berg unterstützen Bemühungen aus, für die immerhin desarchiv tätige Archivare – und von Zeithistorikern veröffentlichten Programmbeiträge der Rundfunkan- wird sowohl auf die weitgespannten archivischen Tä- stalten verbindliche Archivierungs- und Zugangsre- tigkeitsfelder und Interessen wie auch auf die zahlrei- gelungen zu finden. Auch sie sollten doch in Analogie chen Verbindungen von Kahlenbergs Aktivitäten zur zu anderen Hinterlassenschaften öffentlicher Kom- zeitgeschichtlichen Forschung hingewiesen – eine munikation (Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, nicht zu trennende Mischung von engagiert über- Schallplatten und CDs) regulär endarchiviert und da- nommenen dienstlichen Verpflichtungen und den weit mit unter Wahrung aller möglichen – auch urheber- ausgreifenden historiographischen und kulturellen rechtlichen und wirtschaftlichen Belange – durch die Interessen des Jubilars. Ob es sich um die archivi- interessierte Öffentlichkeit auch genutzt werden kön- sche Überlieferungen der bundesrepublikanischen nen. Es gehe nicht länger an, dass die »vierte Gewalt Marine (Borgert, S. 922), die Stiftung Konrad- in Deutschland im Archiv keine wie immer geartete Adenauer-Haus (Morsey, S. 832ff.), die Wirkung und gesellschaftliche Teilhabe zulässt.« (S. 191). Bedeutung der Weißen Rose (Henke, S. 739ff.) han- Hans-Martin Schwarzmaier (S. 560ff.) setzt sich in delt – Kahlenbergs Aktivitäten hinterließen Spuren, er einem – in seinen Schlussfolgerungen unentschlos- vermittelte Anregungen, derer sich die Autoren dank- senen – Beitrag mit den Feldpostkarten des Ersten bar erinnern. Weltkriegs auseinander, einem Medium an der Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Bespre- Schnittstelle zwischen öffentlicher und privater Kom- chung auf die über 50 Beiträge im einzelnen einzu- munikation. Wenn auch zahlreiche Motive dem Arse- gehen, die sich in der Hauptsache mit archivtheoreti- nal der kollektiven Phantasien und bildlich konkreti- schen und archivgeschichtlichen Themen bzw. in sierten Ideen der Zeit entnommen sind und – zudem Miszellen mit Aspekten der Geschichte des 19. und mehrfach gebrochen oder propagandistisch ausge- vor allem 20. Jahrhunderts befassen. Ein Beitrag sei beutet – in anderen kommunikativen Zusammenhän- aber besonders hervorgehoben: Lange Jahre war gen auftauchen, so übermitteln die knappen Mittei- Kahlenberg Leiter der Abteilung Film des Bundesar- lungen der Absender doch etwas von deren persönli- chivs und von daher engagiert in medienarchivischen chen Einsichten und Einstellungen. Dabei ist und mediengeschichtlichen Aufgaben- bzw. Frage- Schwarzmaier sich unsicher, ob angesichts der Ste- stellungen. Deren archivtheoretischer Durchdringung reotypisierung der Mitteilungen der Gattung »sich die verdankt die Zunft eine Reihe von wegweisenden Mühe des Historikers lohnt«, den im Krieg eingetrete- Veröffentlichungen. So ist es ein wenig zu bedauern, nen Mentalitätswandel gerade anhand von Feldpost- dass lediglich vier Beiträge der Festschrift im weite- karten genauer zu verifizieren. Zuvor hatte der Ver- ren Sinne im Zusammenhang mit dieser Facette sei- fasser, ausgehend von Familienüberlieferungen, eine ner Tätigkeit stehen. umfassende Beschreibung darüber geliefert, wo sich Unmittelbar aus dem filmarchivischen Umfeld das Material in öffentlichem und privatem Besitz be- stammen Überlegungen von Helmut Morsbach (S. findet, sowie die vorhandene in- und ausländische 421ff.) zu den Schwierigkeiten bei der Erstellung ei- Spezialliteratur zum Thema vorgestellt. ner deutschen Filmografie, der große Überlieferungs- Neben einem Beitrag von Hans Schenk über die probleme entgegenstehen. Klaus Oldenhage thema- Berichterstattung der ›Frankfurter Rundschau‹ über tisiert ein weiteres ungelöstes medienarchivisches die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945/46 unter Kapitel, dem auch Kahlenberg bereits große Auf- den Bedingungen der alliierten Informationskontrolle merksamkeit geschenkt hatte: die Archivierung der (S. 754ff.) hellt sich für »Kenner« der Rundfunkge- Programmbestände der Rundfunkanbieter. Von fach- schichte mit einer Skizze von Hans-Dieter Loose (S. archivarischer Seite für die Bundesrepublik Deutsch- 657ff.) das biographische Umfeld von Alexander Zinn land an der Erarbeitung einer Europaratskonvention (1880-1941) auf. Loose beschreibt den Kontext zu für den Erhalt des audiovisuellen Erbes beteiligt, wirft einem der interessantesten Dokumente über Kon- Oldenhage noch einmal alle ungelösten Fragen auf, zeption und Konstruktion von Rundfunkprogrammen die sich bereits aus der UNESCO-Empfehlung zum aus der Weimarer Republik. Der Autor der Denk- Schutz und Erhalt bewegter Bilder von 1980 ergeben schrift »Hörerkreis und Programmgestaltung« war Rezensionen 89

Chef der Pressestelle beim Hamburger Senat und als und den Innovationsprozessen, mit Handlungsmu- Vertreter der Hansestadt im Politischen Überwa- stern und Entscheidungskriterien. Dabei erlebte die chungsausschuss der Nordischen Rundfunk AG auch elektrotechnische Industrie einen Aufschwung, aller- dessen Vorsitzender. Zinn muss als einer der weni- dings nie im selben Ausmaß wie die entsprechenden gen kreativen Köpfe in den Überwachungsgremien Industriezweige in West- und in Ostdeutschland. des Weimarer Rundfunks angesehen werden, denen Große Unterschiede waren zu konstatieren: Während in erster Linie die Aufgabe übertragen war, das Politi- die in (West-)Berlin ansässigen Großunternehmen sche aus dem Programm zu verbannen. Während ihre Zentralen schrittweise nach Westdeutschland andere über die volkserzieherischen Aufgaben des verlegten, blieb (Ost-)Berlin das administrative Zen- Radios schwadronierten, stellte sich Zinn den Reali- trum für die elektrotechnische Industrie der DDR. täten, d.h. er machte sich keine Illusionen über die Im Bereich der Rundfunk-, Fernseh- und Phono- soziale Zusammensetzung der Hörerschaft und ihre geräteindustrie verlief – im Zeichen von UKW-, Fern- wahren Interessen. Daraus zog er dann entspre- seh- und Transistortechnik – die Entwicklung etwas chende wegweisende Schlußfolgerungen, die teilwei- anders: Weder West- noch Ost-Berlin konnten ihren se erst in späteren Jahren voll in der Programmpla- vormals überragenden Anteil – rund 60 Prozent aller nung zu Geltung kamen. in der deutschen Rundfunkgeräteindustrie Beschäf- Zum Schluss sei kritisch und mit Bedauern noch tigten lebten Mitte der 30er Jahre in Berlin – behaup- angemerkt, dass in der Auswahlbibliographie der ten. Detailliert werden die Namen der Firmen ge- Veröffentlichungen von Kahlenberg (S. 973ff.) nicht nannt, die einen Neuanfang wagten, durchhielten eine einzige seiner zahlreichen kleineren wie größe- oder dann doch in Berlin zugunsten anderer Stand- ren Aufsätze in den ›Mitteilungen des Studienkreises orte kapitulierten. Jeweils wird die Situation in Berlin Rundfunk und Geschichte‹ nachgewiesen ist. mit der in der Bundesrepublik und in der DDR vergli- Edgar Lersch, Stuttgart chen, beispielweise was den Export produzierter Empfangsgeräte in andere Länder anging und wel- chen Stellenwert dabei die Volkswirtschaften der bei- Johannes Bähr den deutschen Staaten einnahmen. Industrie im geteilten Berlin (1945 - 1990). Für den Berliner Raum liegt für die Jahre der Tei- Die elektrotechnische Industrie und der lung der Stadt eine Studie vor, die sich zwar vorder- Maschinenbau im Ost-West-Vergleich: gründig mit der Industrie befasst, die aber ebenso Branchenentwicklung, Technologien und allgemeine Erkenntnisse für andere Politikbereiche Handlungsstrukturen. bietet. Ein mehr als 40-seitiges Quellenverzeichnis München: K. G. Saur 2001, 567 Seiten. zeugt von der ungeheuren Materialfülle, die dem Au- tor zur Verfügung stand. Personenregister, Orts-, Re- Vor dem Zweiten Weltkrieg besaß Berlin nicht nur als gionen- und Länderregister, Firmen- und Betriebsre- Dienstleistungs- und Verwaltungszentrum eine her- gister sowie ein Sachregister machen das Buch dar- ausragende Bedeutung. Noch wichtiger waren mit über hinaus zu einem Nachschlagewerk. Auch Rund- einem mehr als 54-prozentigen Anteil der Beschäf- funkhistoriker werden durch Stichworte wie Farbfern- tigten Industrie und Handwerk. Damit übertraf die sehgeräte, Fernsehen, Fernsehgeräteindustrie, Funk- Stadtregion Berlin – prozentual gesehen – den Anteil ausstellung, Funktechnik, Rundfunk, Rundfunkgerä- der Beschäftigten in Industrie und Handwerk in Ham- teindustrie und Sendertechnik bestens bedient. burg, München und Frankfurt am Main. Die Gesamt- Ansgar Diller, Frankfurt am Main zahl der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe lag über derjenigen der Flächenländer Württemberg, Baden und Thüringen. Mit weitem Abstand führte die Gerd Klawitter (Hrsg.) elektrotechnische Industrie die Rangliste an, gefolgt 100 Jahre Funktechnik in Deutschland. von Maschinenbau und Bekleidungsindustrie. Bd. 2: Funkstationen und Messplätze rund um Berlin. Ausgehend von diesem Befund, ergänzt um Da- Berlin: Wissenschaft und Technik Verlag 2002, ten, die die Entwicklung der Aufrüstung während des 183 Seiten. Zweiten Weltkriegs mit einbezieht, zeichnet der Autor die strukturellen Unterschiede zwischen Ost- und Peter Müller West-Berlin schon für die Zeit vor 1945 nach. Diese Symbol mit Aussicht. Basis benötigt er natürlich, um die eigenständigen Die Geschichte des Berliner Fernsehturms. Entwicklungen der jeweiligen Stadthälften nachzu- Berlin: Verlag Bauwesen 2. durchgesehene vollziehen, die durch 71 Tabellen und 13 Grafiken Auflage 2000, 176 Seiten. belegt werden. Die einzelnen Kapitel befassen sich – in gleitendem Übergang – mit den durch die Demon- Nach dem (ersten) Band zur »Funktechnik in tagen hervorgerufenen Substanzverlusten von 1945 Deutschland«, der sich mit den »Funksendestellen bis 1948/49 und untersuchen die Teilung Berlins so- rund um Berlin«, aber auch darüber hinaus befasst wie die Integration der beiden Stadthälften in unter- hat, wobei die Sendeanlage im Vox-Haus und in ei- schiedliche Wirtschaftssysteme von 1945 bis 1952. nem der Berliner Wahrzeichen, dem Funkturm in Es folgen Abschnitte, die sich mit der Branchenent- Witzleben, glatt vergessen wurden,1 liefert der zweite wicklung in den beiden Stadthälften sowie ihren Band nun diese Ergänzungen und vieles mehr nach Strukturen und Strukturveränderungen von 1950 bis und greift – geographisch – auch wieder weit über 1990 befassen, mit dem technologischen Wandel Berlin und sein Umland hinaus. So werden beispiels- 90 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

weise nicht nur Informationen zu den Stationen Nau- 1949 die Weichen für ein neues Rundfunkwesen in en, Geltow und Belitz sowie zum Funkwerk Köpenick Deutschland gestellt« (S. 18) – da war dieses Gremi- gegeben, sondern auch zu den Funkanlagen auf dem um schon längst nicht mehr handlungsfähig. Brocken und zu den MW- und UKW-Sendern des Ansgar Diller, Frankfurt am Main RIAS Berlin in Hof, die während der deutsch- 1 Vgl. Rezension in RuG Jg. 24 (1998), H. 2/3, deutschen Teilung eine wichtige Rolle bei dessen S. 196ff. Einwirkungsmöglichkeit in die DDR spielten. Ein Ab- schnitt am Schluss befasst sich mit dem »Fernseh- turm am Alexanderplatz«. Frances Stonor Saunders Wie beim ersten Band – neben dem Herausgeber Wer die Zeche zahlt... schrieben fünf weitere Autoren – galt es »unverzüg- Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg. lich alle bis dahin nicht frei zugänglichen funkhistori- Berlin: Siedler Verlag 2001, 477 Seiten. schen Stätten auf dem ehemaligen DDR-Territorium aufzusuchen und zu dokumentieren.« Es sei große Wie »Schachfiguren in einem groß angelegten Tur- Eile geboten gewesen, da im Zuge der »Wiederver- nier« habe das amerikanische Spionagenetz die einigung sehr schnell mit der Montage (gemeint ist westeuropäischen Intellektuellen »nach Belieben hin wahrscheinlich: »De-Montage«) der Anlagen begon- und her« geschoben – so die zentrale Aussage der nen wurde.« (S. 9) Reichhaltig bebildert und mit vie- britischen Literaturwissenschaftlerin und Dokumentar- len Faksimiles von Lageplänen, Schriftdokumenten filmerin Frances Stonor Saunders in ihrer Studie über und Grafiken ausgestattet, gibt die Dokumentation die verdeckte Kulturpolitik des CIA. (S. 15) Im Zen- einen facettenreichen Überblick. Die ganz von der trum der Untersuchung steht der 1950 gegründete Technik geprägte Publikation erlaubt sich im Glossar »Kongreß für Kulturelle Freiheit« und dessen lange einen Ausreißer: Nach dem Kürzel »DVB-T« (erläu- Zeit geheimgehaltene Finanzierung durch den ameri- tert als »Kurzform für ›Digital Video Broadcasting- kanischen Geheimdienst. Sie wurde erst Mitte der Terrestrial‹«) und vor der Erklärung einer weiteren 60er Jahre durch US-amerikanische journalistische Abkürzung, der »HAPUK-Schaltung«, wird die Recherchen aufgedeckt und führte in der Folge zu »Gruppe Ulbricht« behandelt, bei der es allerdings einem radikalen Prestigeverlust der bis dahin in links- mehr um Ulbricht als um seine Gruppe geht. Wün- liberalen europäischen Intellektuellenkreisen sehr schenswert gewesen wären an dieser Stelle unter angesehenen, weltweit operierenden Kulturorganisa- anderem auch Erläuterungen zu »Deutschlandsen- tion. Bis dahin hatten die Ausstrahlungskraft der der« und »RIAS Berlin« nachlesen zu können. Kongress-Zeitschriften (wie dem britischen ›Encoun- Den in Klawitters Dokumentation nur kurz ge- ter‹, dem französischen ›Preuves‹ und dem anfangs streiften (Ost-)Berliner Fernsehturm widmet Peter nur lose assoziierten, deutschen ›Monat‹) und der Müller ein ganzes Buch. Die Publikation befasst sich Ruf der internationalen Tagungen auf der unabhängi- mit dem in der Mitte des historischen Zentrums gen Meinungsbildung der angeschlossenen Künstler, (Ost)Berlins, am Alexanderplatz, 1969, mit Beginn Wissenschaftler und Journalisten beruht. In der Re- des zweiten Fernseh- und damit auch Farbfernseh- gel im guten Glauben an die eigene Unabhängigkeit programms der DDR und zeitgleich mit dem 20. und größtenteils offenbar ohne konkretes Wissen Gründungstag der DDR eröffneten Bauwerk. Der über den CIA-Hintergrund hatten sie sich im Kontext Turm war – nach Ansicht des Autors – ein »Kind des des Kalten Krieges für eine dezidiert politische Stoß- Kalten Krieges«: Der »Stahlbetonriese wuchs zwi- richtung der eigenen Arbeit entschieden – ein Behar- schen 1965 und 1969 als ›sozialistische Höhendomi- ren auf den schöpferischen Möglichkeiten innerhalb nante‹ in den Himmel über der Hauptstadt der DDR pluralistisch definierter, demokratischer Staatsfor- und demonstrierte dort mit seiner markanten Edel- men. Die westliche Hemisphäre mit der Führungs- stahlkugel weithin sichtbar das architektonische macht USA schien diese »Freiheit der Kultur« trotz Selbstbewusstsein des noch jungen Arbeiter- und Rassendiskriminierung und sozialer Ungleichheit in Bauern-Staates« (S. 13). Die SED ließ es sich nicht den Vereinigten Staaten zu verkörpern und gegen- nehmen, mit dem Turm Propaganda zu treiben, ihn über der kommunistischen Bedrohung zu sichern. als »unübersehbares Symbol des ersten sozialisti- Erklärtes Ziel des »Kongresses« war die Förderung schen Staates deutscher Nation« und »alles überra- der transatlantischen kulturellen Beziehungen im gendes Wahrzeichen« der Hauptstadt ihrer Republik Dienste einer linksliberalen, antikommunistischen und zu preisen. antineutralistischen – de facto einer proamerikani- Nicht Propaganda, sondern Fakten will der Autor schen – Politik. Aus Sicht der Kongress-Organisato- sprechen lassen – in seinem Text und in den zahlrei- ren sollte dem stalinistischen Kommunismus das Feld chen hervorragenden Schwarz-Weiß- und Farbabbil- der Kultur, auf die die Komintern in der Zwischen- dungen, in denen auch immer wieder andere Fern- kriegszeit eine so starke Anziehungskraft ausgeübt sehturmbauten zum Vergleich präsentiert werden. So hatte, nicht erneut überlassen bleiben. Die Initiative wird beispielweise darauf verwiesen, dass der erste für eine kulturelle Gegenorganisation zur 1947 ge- Fernsehturm der DDR in der Nähe Magdeburgs gründeten Kominform ging Ende der 40er Jahre dann »nach Stuttgarter Vorbild entstand« (S. 24). Bauhisto- auch wesentlich von ehemaligen US-amerikanischen riker kommen ebenso auf ihre Kosten wie die an Trotzkisten und von früheren Mitarbeitern Willi Mün- Technik Interessierten. Ein Korrekturhinweis für die zenbergs aus. Arthur Koestler gehörte anfangs zu nächste, dann dritte durchgesehene Auflage sei er- dieser Gruppe, ebenso wie Manès Sperber und Igna- laubt: Der Alliierte Kontrollrat hat keineswegs »bereits zio Silone. So entstand – nach dem Rückzug einiger Rezensionen 91

radikal antikommunistischer Gründungsmitglieder wie Studie nicht ein. Das ist bedauerlich, weil dadurch der insbesondere Koestler – in der Öffentlichkeit das Bild Blick auf die Bedeutung nationaler politischer wie einer dezidiert antikommunistischen, aber linkslibe- ideengeschichtlicher Traditionen für die Entwicklung ralen Kulturorganisation, deren lose miteinander ver- der Kongressarbeit geschärft worden wäre. Michael bundenen nationalen Sektionen sich der nordameri- Hochgeschwender hat dies mit seiner Dissertation kanischen Kultur aus Anerkennung ihrer künstleri- über den Kongress für kulturelle Freiheit, die im glei- schen und ethischen Leistungen verbunden fühlten. chen Jahr wie Saunders englischsprachiges Buch Dies alles wurde in der zweiten Hälfte der 60er erschien, in beispielhafter Form nachgewiesen.1 Jahre mit dem Bekanntwerden der CIA-Verbindungen Aufschlussreich vor allem für die mit der amerika- und dem veränderten öffentlichen Blick auf den Ge- nischen Innenpolitik weniger vertrauten Leser dürfte heimdienst in Frage gestellt. Zu Recht, so Saunders, auch die Schilderung des Konflikts zwischen dem CIA deren Anliegen es ist, das Bild einer selbstbestimm- und dem McCarthy-Untersuchungsausschuss für ten kulturellen Entwicklung im Europa des Kalten »unamerikanische Aktivitäten« sein: An einem Bei- Krieges als Mythos zu entlarven. Sie fragt nach der spiel aus der Bildenden Kunst, dem Abstrakten Ex- Legitimität der amerikanischen Vorgehensweise, pressionismus, werden die ideologischen Differenzen »durch heimliche Aktivitäten von außen in die grund- zwischen den CIA-Vertretern, die sich häufig aus dem legenden organischen Prozesse der intellektuellen linksliberalen, ehemaligen New-Deal-Milieu rekru- Entfaltung und freien Meinungsbildung einzugreifen« tierten, und den republikanisch gesinnten, wertkon- und findet letztlich nur eine Doppelmoral, die vorgibt, servativen Kreisen um den Senator Joseph McCarthy im Namen der Freiheit zu handeln, tatsächlich aber aufgezeigt. Während McCarthy die Maler des Ab- Menschen manipuliert. (S. 17) In Stil und Tradition strakten Expressionismus als ehemalige Kommuni- des investigativen Journalismus deckt Saunders die sten verfolgte, förderte der CIA diese Kunstrichtung, personellen Verflechtungen, die Netzwerke von ame- um damit einen Gegenpol zum im Ostblock zur Dok- rikanischen Regierungsstellen, Geheimdienst, Hoch- trin erhobenen Sozialistischen Realismus zu bilden. schulen und privaten Stiftungen auf. Sie wertet dafür Siegreich in diesem Konflikt blieb, mit Präsident Ei- – in Ermanglung aussagekräftiger CIA-Dokumente, senhowers Unterstützung, der CIA. die trotz des Freedom of Information Act bis heute Wie ein Fisch im Wasser scheint sich Saunders nur in einzelnen Fällen freigegeben sind – vor allem im Meer der Namen, Funktionen, persönlichen Be- die privaten Nachlässe in Presidential Libraries und ziehungen, Antipathien und Sympathien zu bewegen. Universitätsbibliotheken aus. Angereichert wird die so Eine polemische Streitschrift ist so entstanden, eine gewonnene erstaunliche Faktenfülle durch Interviews zugespitzte und dadurch tendenziell aber auch zu mit u.a. der Witwe des Kongress-Gründers, CIA- enge Sichtweise auf den Kongress. Die Fixierung auf Agenten und zentralen Koordinators Michael Jossel- den CIA und die weitgehende Vernachlässigung an- sons sowie mit dem ihm eng befreundeten ehemali- derer entwicklungsbestimmender Faktoren wie regio- gen Herausgeber des ›Monat‹, Melvin J. Lasky, über nale und nationale Sonderwege, kunst- und kulturge- dessen CIA-Mitgliedschaft es bis heute keine gesi- schichtliche Entwicklungen, ideengeschichtliche Tra- cherten Erkenntnisse gibt. ditionen oder die Wechselwirkung mit politischen Saunders kann damit belegen, dass es sich bei Strömungen führen zwangsläufig zu dem die Realität der Kongressgründung mit hoher Wahrscheinlichkeit verzerrenden Bild der Schachfiguren oder Marionet- tatsächlich um eine CIA-Planung gehandelt hat und ten an den Fäden des CIA. So verdienstvoll die um- die Verbindung zum CIA nicht erst durch die spätere fassende und quellengesättigte Darstellung des CIA- Finanzierung zustande kam. Sie »enttarnt« eine Rei- Kulturnetzwerkes im Kalten Krieg ist – die Arbeit hätte he privater Stiftungen in den USA, über die die CIA- weiter gewonnen, wenn die Fakten in einen größeren Gelder gewaschen wurden. Sie legt die Mehrfach- Zusammenhang gestellt und weitere Wirkungsfakto- funktionen von Mitgliedern des amerikanischen Kul- ren hinzugezogen worden wären. Deutlich wird dies turestablishments offen und zitiert Dokumente, die besonders zum Ende des Buches, wo Saunders sich die CIA-Finanzierung von Tourneen, Konzerten, Aus- in einer fast beliebig wirkenden Aufzählung immer stellungen, Buchveröffentlichungen, Zeitschriften und weiterer CIA-Verbindungen verliert. Dem Kongress Filmen belegen. Nur der Rundfunk bleibt bei Saun- für Kulturelle Freiheit und seiner Bedeutung für die ders, bis auf gelegentliche Erwähnungen von Radio europäische Kulturgeschichte kann Saunders damit Free Europe, außen vor. nicht gerecht werden, sie liefert aber einen wichtigen Zu Beginn der 50er Jahre entstand somit ein gi- Baustein für eben diese Geschichte. gantisches Kulturkonsortium zum Export amerikani- Petra Galle, Berlin scher Hochkultur, das von einem weitgehend öffentli- chen Konsens in den USA über die Superiorität des 1 Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offen- amerikanischen Modells getragen wurde. Dass dies sive? Der Kongress für kulturelle Freiheit und die im westlichen Europa nicht durchgängig auf Zustim- Deutschen. München 1998. mung stieß, wird deutlich, wenn Saunders die Oppo- sition der Kreise um Jean Paul Sartre und die Zeit- schrift ›Les Temps Modernes‹ erwähnt oder wenn sie die Differenzen der britischen Kongress-Sektion mit der amerikanischen Sektion beschreibt. Auf die Ent- wicklung der deutschen Sektion und die spezifischen Rezeptionsbedingungen dort geht Saunders in ihrer 92 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

Alliiertenmuseum (Hrsg.) nagh, ein ehemaliger Direktor des Senders, erzählt The Link with Home – und die Deutschen ergänzend seine persönliche »Reise in die glamourö- hörten zu. se Welt des Rundfunks«. »Von Spandau nach Char- Die Rundfunksender der Westmächte lottenburg und zurück«: McDonagh wurde in Berlin von 1945 bis 1994. geboren und wuchs mit »seinem« Sender gewisser- Berlin: Alliertenmuseum 2001, 89 Seiten. maßen von klein an auf. Auch beim BFN wird die deutsche Hörerperspektive nicht ausgespart; der aus Trevor Hill/Gregor Prumbs der Anekdotenliteratur zum Thema bekannte Ham- »Let's Listen In«. burger Gunnar Oldag erzählt, wie er nach dem Krieg To The Start Of Western Forces Radio (1944 - 1949). Bürobote im Funkhaus des britischen Senders wurde. Berlin: BOS. REC. Enterprises 2001, CD, Laufzeit Erstmals dokumentiert werden die beinahe wie ein 73'34''. Krimi zu lesenden eindrucksvollen Erinnerungen von Heidemarie Brauer aus Ost-Berlin, die mit viel Mühen »The Link with Home – und die Deutschen hörten zu« und Angst in den 70er Jahren regelmäßig über Deck- ist der Begleitband zur gleichnamigen Sonderaus- adressen brieflich und telefonisch Kontakt mit dem stellung des Berliner Alliiertenmuseums.1 Hätten BFBS aufnahm, wodurch sich ein wechselseitiger Truppensender wie American Forces Network (AFN) Ätherkontakt zwischen der Hörerin in der DDR und und British Forces Network (BFN; später BFBS) nach den BFBS-Moderatoren entwickelte. Die Cassetten dem Zweiten Weltkrieg nicht frühzeitig die Vorbilder mit ihren Mitschnitten von Sendungen vergrub Frau für eine ganz neue Art der Programmpräsentation Brauer sicherheitshalber im Garten, damit sie dem und neuartige Musik geliefert, würde sich Radio in Staatssicherheitsdienst nicht in die Hände fielen. Deutschland heute wahrscheinlich anders anhören. Im Vergleich zu den obigen Artikeln ist die Dar- Und dies, obwohl der Militärrundfunk der Westalliier- stellung des französischen Truppensenders Radio ten nur für die eigenen Soldaten produziert wurde. FFB mit nur einem längeren Beitrag von Frank Hei- Die Deutschen hörten eben bloß »auch« zu, als mehr denreich, »›Ici Paris‹. Radio FFB – eine Stimme oder weniger beachtete Zaungäste. Frankreichs im Äther«, eher karg. Allerdings hatte Der Begleitband bietet eine gute Übersicht über FFB auch niemals die Popularität und Bedeutung die Historie der Truppensender, nicht nur der zumeist seiner Pendants aus den anderen beiden Westsekto- erinnerten und populären amerikanischen und briti- ren und war zu weiten Teilen faktisch auch »nur« ei- schen, sondern auch von Radio Forces Françaises ne Relaisstation von Radio France Internationale. de Berlin (FFB). Die besondere Attraktivität der Sen- Der Band ist reich und trefflich bebildert und – das der für deutsche (genauer: vor allem Berliner) Hörer ist sein großes Plus – konsequent dreisprachig auf- der 40er bis 90er Jahre des 20. Jahrhunderts wird gemacht. Alle Beiträge sind in Parallelspalten sehr anschaulich nachgezeichnet. Dass zumindest deutsch/englisch/französisch gesetzt – in leicht un- AFN und BFBS in Westdeutschland keineswegs nur terschiedlichen Schrifttypen, sodass für den Leser noch historisch sind, sondern in großen Teilen der dennoch die Übersichtlichkeit gewährleistet ist. Ins- ehemaligen Besatzungszonen nach wie vor zu emp- gesamt eine lesenswerte Publikation zu einer in der fangen sind, erwähnt die Publikation nur unzurei- Erinnerung vieler Hörer noch immer höchst lebendi- chend. gen Phase des Rundfunks in Deutschland. Nicht die Exponate stehen im Band im Vorder- grund, vielmehr befassen sich mehrere Experten in Eine weitere Begleitpublikation zur Berliner Ausstel- lebendig geschriebenen, gut recherchierten Artikeln lung ist die CD »Let's Listen In«, die der BFN-Veteran mit der Geschichte der westalliierten Truppensender und langjährige BBC-Mitarbeiter Trevor Hill gemein- aus unterschiedlichen Perspektiven. So schreibt etwa sam mit dem Rundfunkforscher Gregor Prumbs von John Provan über AFN als »militärische Anomalie«. der Fachhochschule Krefeld zusammengestellt hat. Sicher, so locker wie im Umfeld der Studios geht es Zahlreiche historische Tondokumente, von den bei- bei den US-Streitkräften sonst nicht zu. Andererseits den Kompilatoren – zum Teil auch von Gästen – mo- ist Militärrundfunk keineswegs eine »Anomalie«, son- deriert und erläutert, sowie Interviews mit Zeitzeugen dern war auch bereits bei Gründung des AFN als in- und Experten ergeben ein Potpourri von Klängen aus tegraler Teil der Truppenbetreuung erkannt worden. dem Zeitraum von 1944 bis 1949, der Frühphase des Mark White, der frühere Direktor von AFN Berlin, legt britischen Militärrundfunks. Die Wahl des Jahres in einem Interview Prinzipien der Programmgestal- 1944 ist gut begründbar: Im vorletzten Kriegsjahr tung dar: zu informieren, zu unterhalten und damit die hatten der Erfolg des AFN in Großbritannien und des Kampfkraft der Soldaten zu fördern. Die deutsche Hö- Allied Expeditionary Forces Programme (AEFP) an rerseite wird exemplarisch mit den Reminiszenzen der westeuropäischen Front zur Errichtung des späte- zweier »AFN-Freaks«, wie der Begleitband sie nennt, ren BFN geführt, nicht zuletzt auf Animositäten und an den früheren Jazz-Club des Senders abgedeckt, Zuständigkeitsgerangel zwischen Amerikanern und dessen enthusiastische Mitglieder sie waren. Briten fußend. Das Jahr 1949 dagegen in einer histo- Die Gruppierung der einzelnen Artikel erfolgt of- rischen Darstellung des britischen Truppenradios als fenbar alphabetisch, sodass sich die Darstellung des Zäsur anzusetzen, erscheint fragwürdig, bleibt je- britischen Militärrundfunks an die des amerikanischen denfalls unbegründet. anschließt. Alan Grace fasst eingangs die Geschichte Die für die CD verwendeten Dokumente sind in des BFN/BFBS zusammen, von seinen Anfängen ihrer Widerspiegelung der historischen Ereignisse 1945 bis in die jüngere Vergangenheit. Peter McDo- bzw. des Programmalltags äußerst reizvoll: die ersten Rezensionen 93

Ansagen des BFN überhaupt, eine Ansprache der Auf 20 bis 40 Seiten legen die Autoren eine um- Militärführung zum »D-Day«, deutsche Feindpropa- fassende Darstellung der jeweiligen Bereiche vor – ganda (auch sie spielte ja eine wichtige Rolle bei der eine Ausnahme bildet einzig der Beitrag über den Etablierung der alliierten Truppensender), Moderatio- Hörfunk, der aus allgemeinen, beliebig aneinanderge- nen und Programmausschnitte mit Musik, all dies in reihten und zum Teil falschen Aussagen besteht und kurzen Ausschnitten. Erstaunlich, was sich noch in wegen des von Ursula E. Koch herausgegebenen Archiven und wohl auch Privatbesitz finden ließ. Dies Bandes »Hörfunk in Deutschland und Frankreich«1 stellt eine beachtliche Rechercheleistung von Hill und entbehrlich gewesen wäre. So werden zum Buchwe- Prumbs dar. Leider fehlt jedoch jeglicher Fundhinweis sen die wichtigsten Verlagshäuser, der Buchhandel, – das Einlegeblatt des Tonträgers ist in dieser Hin- das Vertriebssystem, die Lesegewohnheiten, die Lite- sicht nicht sehr informativ und für Historiker kaum zu raturpreise geschildert, zum Film die Beziehungen gebrauchen. zum Fernsehen (der heute wichtigsten Finanzie- Alles in allem scheint die Dramaturgie der szeni- rungsquelle), die Stellung der französischen Produk- schen Darstellung der eher zufälligen und überdies ja tionen im Vergleich zu den amerikanischen, die durch stark lückenhaften Überlieferung der historischen eine nationale »exception culturelle« begründeten Tondokumente zu folgen. Trotz aller Faszination der Förder- und Schutzmaßnahmen der nationalen Film- alten Aufnahmen bietet sich dem Hörer insgesamt wirtschaft sowie schließlich die verschiedenen Gen- kein roter Faden zum besseren Verständnis des Ge- res und die bedeutendsten Filmemacher. hörten. Zu viele Soundclips lassen sich kaum einord- Dabei ist die vollbrachte Transferleistung beson- nen – sicher erst recht, wenn man sich mit dem The- ders hervorzuheben. Alle Autoren haben in Deutsch- ma und seinen Hintergründen zuvor nicht systema- land und Frankreich eine berufliche Tätigkeit ausge- tisch beschäftigt hat, was für die Mehrheit der Aus- übt bzw. sich wissenschaftlich mit den Medien beider stellungsbesucher zutreffen dürfte. Insofern bleibt die Länder befasst, so dass es ihnen gelingt, das Beson- CD ein Liebhaberstück für Eingeweihte. dere der französischen Medienlandschaft einer deut- Oliver Zöllner, Köln schen Leserschaft verständlich zu machen. Die Rolle des Fernsehens bei der Vermarktung von Büchern 1 Vgl. RuG Jg. 27 (2001), H. 1/2, S. 78; siehe auch wird etwa dadurch verdeutlicht, dass die einst erfolg- den Bericht in diesem Heft, S. 70f. reichste Literatursendung Frankreichs, »Apostro- phes«, dem »Literarischen Quartett« gegenüber und ihr Moderator, Bernard Pivot, als der französische Thomas Weber/Stefan Woltersdorff (Hrsg.) Reich-Ranicki vorgestellt wird. Wegweiser durch die französische Die strukturellen Unterschiede zu Deutschland Medienlandschaft. (Reglementierung des französischen öffentlich-recht- Marburg: Schüren 2001, 183 Seiten lichen Fernsehens durch das Parlament vs. Staats- ferne des deutschen Fernsehens) werden deutlich Einzelne, aktualitätsbezogene Berichte über Medien herausgearbeitet, ebenso wie die Gemeinsamkeiten in Frankreich sind regelmäßig auf den Medienseiten (die Abhängigkeit der Programmanbieter von der der großen deutschen Tageszeitungen zu finden und Werbeindustrie seit der Liberalisierung des Fernse- erlauben es den interessierten, nicht französisch- hens Anfang der 80er Jahre). Es ist weiterhin das sprachigen Lesern, sich auf dem Laufenden zu hal- Verdienst des Buches, kulturelle Unterschiede, die ten. Der vorliegende Sammelband wendet sich an einen Deutschen überraschen, ja irritieren können, alle, die darüber hinausgehende Hintergrundinforma- herauszustellen: Der Umstand, dass die Fernseh- tionen bzw. einen Überblick über die französische nachrichten nicht schlicht durch einen Nachrichten- Medienlandschaft im allgemeinen wünschen. sprecher vorgetragen, sondern wie ein Magazin kon- Das Buch ist in sieben Abschnitte gegliedert: zipiert werden, bei dem der Sprecher im Vordergrund Buchwesen (Beate Payen de la Garanderie), Presse steht, oder auch die Tatsache, dass morgens nicht (Stefan Woltersdorff), Hörfunk (Frédérique Veith), Zeitung gelesen, sondern Radio gehört wird, gehören Fernsehen (Jean-Michel Utard), Film (Thomas We- dazu. Letzteres liegt allerdings teilweise daran, dass ber) und neue Medien (Hans Brodersen). Zusätzlich in Frankreich die Zustellung von Tageszeitungen wurde ein Exkurs über die Gesetzgebung am Beispiel durch Zeitungsträger wenig verbreitet ist. des Mediengesetzes vom Juni 2000 aufgenommen Umso bedauernswerter sind die vielen Unge- (Rudolph Meyer). Die Kapitel sind analog aufgebaut: reimtheiten, die sich eingeschlichen haben: falsch Der Haupttext wird durch Tabellen oder graphische geschriebene Namen (Mitterand für Mitterrand!), feh- Darstellungen veranschaulicht sowie am Schluss lendes Satzende (S.139), abgeschnittene Textkörper durch Literaturhinweise und gegebenenfalls einschlä- (S.134), uneinheitliche Angaben (heißt die eine Auto- gige Internet-Adressen ergänzt. Im ganzen Band sind rin Frédérique oder Véronique Veith?). Sie zeugen darüber hinaus 19 kürzere Texte eingestreut, die von einer entweder lieblosen oder hastigen Herstel- entweder eigenständige Themen (die journalistische lung des Bandes und stehen im Widerspruch zu des- Ausbildung, die »Médiologie« als neue wissenschaft- sen inhaltlicher Qualität. Unter der Voraussetzung, liche Disziplin) behandeln oder ein bestimmtes The- dass solche Fehler künftig vermieden werden, wäre ma (die Parodiesendung mit Gummipuppen »Les eine Fortsetzung des Konzeptes mit Wegweisern Guignols de l’info«, das zweitgrößte Medienunterneh- durch die Medienlandschaft Großbritanniens, Italiens, men weltweit, Universal-Vivendi) näher beleuchten. Spaniens usw. sehr zu begrüßen. Muriel Favre, Frankfurt am Main / Paris 94 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

1 Ursula E. Koch u.a. (Hrsg.): Hörfunk in Deutsch- äußerten. Deutsch-deutsche Geschichte wird hier in land und Frankreich / La radio en France et en Tondokumenten so dicht präsentiert, wie man sie sich Allemagne. München 1996. Vgl. die Rezension in: auch für andere Ereignisse wünscht. RuG Jg. 23 (1997), H. 2/3, S.163f. AD

Charles Stirnimann/Rolf Thalmann Marianne Weil Weltformat. DEM DEUTSCHEN VOLKE. Basler Zeitgeschichte im Plakat. München: HörVerlag 1997, 1 Cassette. Basel: Christoph MERIAN Verlag 2001, 237 Seiten. Von Saarländischem Rundfunk und Sender Freies Die Indienstnahme des Plakats für Werbung und Öf- Berlin produziert, von ihnen und anderen Rundfunk- fentlichkeit, aber auch für Agitation und Propaganda, anstalten ab 1995 ausgestrahlt, lässt die Edition noch wird von der Kommunikationsgeschichte eher am einmal die Intention der Autorin Revue passieren. Es Rande behandelt. Verdienstvoll ist deswegen das geht Marianne Weil darum zu zeigen, »wie war das vom Historiker Stirnimann und dem Kurator der Bas- noch, als Deutschland aus zwei gegnerischen Syste- ler Plakatsammlung, Thalmann, herausgegebene men bestand«. Dokumentiert werden in dieser Origi- Buch. Und noch verdienstvoller ist es, dass die bei- nal-Ton-Collage Schauplätze in der Bundesrepublik den Autoren es nicht dabei beließen, das Plakat als und der DDR, die Zonengrenze zwischen West- und zeitgeschichtliches Dokument in den Vordergrund zu Ostdeutschland, die Sektorengrenze zwischen West- stellen, sondern es unternahmen, diese Ausdrucks- und Ost-Berlin. Es kommen zu Wort Konrad Adenau- form der öffentlichen Meinung in den Kontext der po- er, Erich Honecker, Karl Eduard von Schnitzler, Kurt litischen, Wirtschafts- und Sozialgeschichte eines Schumacher, Franz-Joseph Strauß, Walter Ulbricht Schweizer Kantons zu stellen. Das Buch vermittelt in und viele andere, die stellvertretend für die beiden ausführlichen Textpassagen und mehreren hundert Systeme täglich Kleinkrieg über den Rundfunk führ- faksimilierten Plakatnachdrucken, was die Schweizer ten. und insbesondere die der Basler Stadtregion bewegte Marianne Weil über ihre Erfahrungen: »Material – vom politischen Kampf um die 48- und dann 40- sind Töne, die aus dem Radio gekommen sind. Ost- Stunden-Woche bis zur Gleichheit von Mann und radio und Westradio. Von öden Stunden mit öden Frau – und später bewegen sollte – nämlich den »Ti- Reden abgesehen habe ich wunderbare Stimmen, ger in den Tank [zu] tun« oder dem Projekt zum Aus- Szenen, Reportagen gefunden. In Berlin gab es da- bau der Nationalstraßen zuzustimmen. Auch ein Ra- von die meisten. In Berlin stand auch der Titelgeber. dioplakat ist vertreten: das zur »Basler Radio Wo- Der Reichstag mit der Inschrift ›Dem ...eutschen che« vom 4. bis zum 12. Oktober 1930. Im erklären- ...olke‹ der nach 1945 lange so beschädigt dastand.« den Text dazu heißt es: »Die Basler Radiowoche RuG sollte für das neue Medium werben und es populär machen. Das Plakat in streng geometrischem Stil kann und will den Einfluss des Bauhauses nicht ver- leugnen.« Ansgar Diller, Frankfurt am Main

»Niemand hat die Absicht ...« Tondokumente zur Mauer. Köln: DeutschlandRadio Marketing 2001, 2 CDs.

Die vielzitierte Antwort von Walter Ulbricht, dem 1961 seit einem Jahr amtierenden Vorsitzenden des Staatsrats der DDR, auf eine ihm gar nicht gestellte Frage ziert das Booklett der beiden CDs, das gleich- sam mit dem Untertitel zu vervollständigen ist »... ei- ne Mauer zu errichten«. Auf diese Weise sind sowohl Ulbricht als auch die Fragestellerin, die Berlin-Korres- pondentin der ›Frankfurter Rundschau‹, Annemarie Doherr, für ewig in die Geschichtsbücher eingegan- gen. Ulbrichts Antwort steht am Anfang der mehr als 50 Tondokumente mit Interviews, Verlautbarungen, Reportagen und Kommentaren – aus Ost wie West – von 1961 bis zum Fall des aus DDR-Sicht »antifa- schistischen Schutzwalls« 1989. Bundeskanzler Kon- rad Adenauer kommt ebenso zu Wort wie der Regie- rende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, aber auch der DDR-Chefpropagandist Karl Eduard von Schnitzler und viele Unbekannte, die während des Mauerbaus und in den 28 Jahren danach sich zu ihr Bibliographie

Zeitschriftenlese 85 Bonfadelli, Heinz: Fortgeschriebene Bibliographie Ul- rich Saxer (1996 - 2000). In: Publizistik. Jg. 46. 2001. (1.7. – 31.12.2001) H. 2. S. 212-214.

Achelis, Thomas: Albert Oeckl verstorben. In: Publi- Brunst, Klaudia: Ein Haus mit Garten wäre schön: zistik. Jg. 46. 2001. H. 3. S. 321-322. Tiere im Fernsehen. In: Neue Rundschau. Jg. 112. Albert Oeckl (1909 - 2001) Pionier der Öffentlich- 2001. H. 2. S. 52-56. keitsarbeit und ihrer wissenschaftlichen Erforschung Über die Darstellung von Tieren im Fernsehen in Deutschland, Herausgeber des »Taschenbuchs unter dem Aspekt der medialen Realität. Zugleich des öffentlichen Lebens« (»Oeckl«). Rückblick auf die Entwicklung der Tiersendungen im (west)deutschen Fernsehen. Aufenanger, Stefan: 25 Jahre medien praktisch: zu- gleich eine kurze Geschichte der neueren Medien- Caven, Hannah: Horror in our time: images of the pädagogik [1970er bis 1990er Jahre]. In: Medien concentration camps in the British media, 1945. In: praktisch. Jg. 25. 2001. H. 4 (100). S. 5-7. Historical journal of film, radio and television. Vol. 21. 2001. Nr. 3. S. 205-253. 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Jahrestagung 2002 des »zuwenig unverwechselbar« dargestellt wurde, Studienkreises in Potsdam das Rentnerehepaar (mit den prominenten Schauspielern Helga Göring und Herbert Köfer Der Studienkreis Rundfunk und Geschichte tagte besetzt) sei nur harmoniebedürftig und hilfsbereit in diesem Jahr am 14./15. März in der Hoch- dargestellt. Da dürfte noch manches nachzule- schule für Film und Fernsehen Konrad Wolf sen oder auch in intensiven Gesprächen zu er- (HFF) in Potsdam – ein geeigneter Ort, um erste fahren sein. Für eine ausführlichere Diskussion Ergebnisse der seit einigen Monaten tätigen waren allerdings der Tagungszeitdruck (Warum Forschergruppe »Programmgeschichte DDR- können »gestandene« Wissenschaftler und Leh- Fernsehen – komperativ« vorzustellen. rende eigentlich nicht einschätzen, was in 20 Mi- Einen Schwerpunkt hatten die Veranstalter nuten gesagt werden kann?) und die lehnenlo- mit »Kinderfernsehen in Ost und West« gesetzt. sen Holzbänke im Kinosaal des (neuen) HFF- Dieter Erlinger (Siegen) informierte über seine Gebäudes wenig förderlich. jahrzehntelangen Forschungen, vor allem im Am Vortag, den traditionell die Fachgruppen Siegener Sonderforschungsbereich, die mit zahl- des Studienkreises bestreiten, war die Polemik reichen Publikationen belegt sind. Seine metho- zwar noch extremer, die Diskussionsbereitschaft dische Haupterkenntnis: Die Historiografie des allerdings dafür ausgeprägter. Das bekam vor Kinderfernsehens ist ohne Insiderwissen nicht allem Ingrid Scheffler (Universität Halle/Universi- möglich. Deshalb sei ein Vertrauensverhältnis tät Mannheim) zu spüren. Sie referierte in der zwischen den Wissenschaftlern und den betei- Fachgruppe Literatur zum Thema »Sendemanu- ligten Redakteuren entscheidend für die For- skripte als Grundlage historischer Medienfor- schungsergebnisse gewesen: »Ohne Verbin- schung – Erfahrungen mit der Archivarbeit zum dungen in Redaktionen hinein hätte das Unter- DFG-Projekt ›Direktive Kulturpolitik und literari- nehmen nicht gelingen können.« sche Praxis im DDR-Hörfunk: Der Bitterfelder Dieter Wiedemann (Potsdam), in der DDR Weg (1958/59 – 1964)‹«. Ihre gründliche, mit mit Jugendforschung befasst, gab in seinem zahlreichen Tonbeispielen unterlegte Analyse Referat einen Überblick über Ausgangspunkte der Literatur im DDR-Hörfunk machte einmal und Probleme zur Erforschung einer Geschichte mehr deutlich, wie kompliziert es ist, sich in die des DDR-Kinderfernsehens. Wiedemann geht Vergangenheit generell, die der DDR speziell, davon aus, dass Kinderfernsehen sowohl Be- hineinzuversetzen und dies auch noch wissen- standteil des staatsbürgerlichen Erziehungspro- schaftlich vorurteilsfrei darzustellen. zesses als auch Teil des Kunstmediums Fern- Weitere »Fenster« in die DDR-Programmge- sehen war. Die Mitarbeiter befanden sich ständig schichte öffneten Thomas Beutelschmidt und in einem Spagat zwischen dem staatlich Ge- Henning Wrage (Humboldt-Universität Berlin) wünschten (den planerischen, ideologischen mit »Zwischen ›klassischem Erbe‹ und ›An- Leitlinien) und den individuell gewollten ästheti- kommen im Alltag‹ – Die Fernsehdramatik im schen Ansprüchen. Sie wussten natürlich, wie DDR-Fernsehen«, Michael Meyen (Universität man einen »richtigen« thematischen Plan macht. Leipzig/Universität München) mit »Kollektive In den Sendungen hatte jedoch die kreative äs- Ausreise? Die Reichweite ost- und westdeut- thetische Umsetzung oft mehr Gewicht. Ob und scher Fernsehprogramme in der DDR«, Rüdiger warum 1980/81 »vergessen« wurde, planmäßig Steinmetz und Tilo Prase (Universität Leipzig) vorgesehene Sendungen mit »platter Ideologie« mit »Grenzgänger: Heynowski & Scheumann umzusetzen, muss noch untersucht werden. und Gruppe Katins. Dokumentarfilm im Fernse- Welche Schwierigkeiten es bereiten kann, hen« und Günter Helmes (Universität Halle) mit vorwiegend von einem (zugegeben ersten) Ak- »Themen und Tendenzen der ›Heiteren Drama- tenstudium auszugehen, zeigte der Beitrag von tik‹ aus dem Fernsehtheater Moritzburg«. Sebastian Pfau (Universität Halle). Er analysierte Meyen hat – angesichts magerer Ergebnisse die erfolgreiche Serie »Rentner haben niemals der Zuschauerforschung – von 1999 bis 2002 Zeit«, die ab 2. Dezember 1978 während über insgesamt 70 Leitfadeninterviews führen lassen, 20 Wochen lief, und versuchte, alle erdenklichen die belegen, dass die DDR-Bürger nicht – wie oft politisch-ideologischen Inhalts- bzw. Absichtser- behauptet – abendlich fernsehend »in den We- klärungen hineinzulegen. Manche Zuschauer- sten ausgewandert« sind, sondern mehrheitlich briefe – schon das sollte stutzig machen – be- das eigene Fernsehen konsumiert haben. Die klagten hingegen, dass der sozialistische Alltag meisten Zuschauer suchten Unterhaltung und 102 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

schalteten dafür einfach »hin und her«. Dabei abends länger zuschauen. Zwischen 18.00 und erwies sich das DDR-Fernsehen »keinesfalls 21.30 Uhr liegt neuerdings ihre Hauptsehzeit. Da langweiliger als das im Westen«. Im Ostpro- der Kinderkanal – bedingt durch seine Fre- gramm konnten auch die eigenen Schauplätze quenzteilung mit ARTE – aber um 19.00 Uhr ab- wiedererkannt werden, zudem war es technisch schaltet, soll er nun durch eine Ausweitung der besser zu empfangen. Auch die »Aktuelle Kame- Sendezeit über andere Verbreitungswege neue ra« diente teils dazu, sich besser in der DDR zu- Chancen bekommen. rechtfinden zu können. Die meisten Zuschauer Die Archivare tauschten sich über die Situati- hätten aber auch den Informationen von ARD on der Historischen Archive der Rundfunkan- und ZDF nicht geglaubt. Meyens Schlussfolge- stalten aus: ein düsteres, deprimierendes Bild. rung: Die Bedeutung der Alltagsstruktur und des Petra Witting-Nöthen (WDR Köln) beklagte, Wunsches nach Unterhaltung wurde in den bis- dass mit der Umwandlung des Historischen Ar- herigen Untersuchungen unterschätzt. chivs des WDR in ein Unternehmensarchiv und Steinmetz und Prase befassen sich innerhalb der Veränderung des Aufgaben- und Anforde- des DDR-Projekts mit dem Dokumentarfilm. Sie rungsprofils (z.B. die Anfertigung des täglichen stellten erste Ergebnisse zum Wirken der Grup- Pressespiegels und vermehrt Projektarbeiten) pen Scheumann/Heynowski bzw. Katins vor. Ei- die eigentliche Kernaufgabe (Bewerten, Über- ne sehr diffizile Geschichte, denn in beiden nehmen, Verzeichnen, Erschließen, dauerhaft Fernsehteams waren die Grenzen zwischen Ost Sichern) zu kurz kommt. Damit ergibt sich ein und West durchlässiger als bei sonstigen DDR- größerer Rechercheaufwand und ein Verlust von Fernsehproduktionen. In verschiedenen Produkti- Informationen für die nächste Archivargenerati- onsgemeinschaften (Gruppe im DEFA-Studio, on. Hinzu kommen Probleme durch die Digitali- Werkstatt etc.) gelang es Heynowski und Scheu- sierung des Verwaltungsgeschäfts (Workflow), mann zwischen 1966 und 1991, insgesamt 68 und schließlich seien Archive auch »Geldfres- Filme zu produzieren, mehrheitlich über die Aus- ser«. einandersetzung mit dem »internationalen Impe- Auch Edgar Lersch (SWR Stuttgart) machte rialismus«. Die Reihe »Alltag im Westen« hatte auf die mangelhafte Ausstattung für Auswahl- – zunächst unter der Leitung von Sabine Katins, und Kassationsaufgaben aufmerksam, wies je- dann von Günter Herlt – einen Kameramann in doch auch darauf hin, dass die historischen Westdeutschland und damit einen völlig anderen Materialien zuwenig genutzt werden. Christoph Zugang zu den Geschehnissen in der Bundesre- Classen, Potsdam, betonte aus Forschersicht, publik. Das West-Bild konnte so reicher sein, als dass die Fragestellungen der Historiker sich der sonst im DDR-Fernsehen übliche ABC- schnell verändern, die Archive sich also nicht Journalismus (A wie Arbeitslosigkeit, B wie Be- ohne weiteres an den heutigen Nutzern orientie- rufsverbot, C wie Chaos) es vermittelte. Die Rei- ren können, und kritisierte die mangelnde Sorg- he richtete – so Prase – ihren Blick vorwiegend falt bei der Kassation (»Rasenmäherprinzip«). auf den »kleinen Mann«, sparte aber Probleme Beim NDR, darauf machte Hans-Ulrich Wagner aus, die dem System der BRD immanent waren. (Hamburg) aufmerksam, existiert weder ein his- Wie bereits erwähnt, hatten die Fachgruppen torisches Archiv noch eine Abgabeordnung. Auf- des Studienkreises den ersten Konferenztag zu grund des bei der Archivierung waltenden Zu- bestreiten: Die Fachgruppe Technik besuchte fallsprinzips hätten die Archäologen, »wenn die das ARD-Play-Out-Center im Ostdeutschen den NDR nach 2000 Jahren ausgraben, den Ein- Rundfunk Brandenburg (ORB), wenige Schritte druck, er wäre ein Schulfunksender gewesen«. von der HFF entfernt, und wunderte sich vor al- Veit Scheller (ZDF Mainz) ist optimistischer. Sei- lem darüber, was mit dem digitalen Fernsehen ne Ratschläge: den Erschließungszustand ver- an Kompetenz vom Zuschauer erwartet wird bessern (Wieso verzeichnen ungeschulte Hilfs- (wer im immer älter werdenden Deutschland soll kräfte Akten, während der Leiter Briefe schreibt?), das effektiv nutzen können?). In der Fachgruppe Partner suchen, sich mit den Forschern verbün- Rezeption referierte Gerlinde Frey-Vor (MDR den, Findbücher ins Internet stellen. Leipzig) detailliert über die Begleitforschung zum Nebenbei: Die diesjährige Tagung des Stu- öffentlich-rechtlichen Kinderkanal und anderen dienkreises hat zwar bewiesen, dass Interessier- Kinderfernsehsendungen. Sie informierte u.a. te auch dann kommen, wenn nur teil- und stück- darüber, dass generell die Sehdauer der Drei- chenweise oder auch unterschiedliche Einladun- bis Dreizehnjährigen zwischen 1992 und 2001 gen bzw. Programme verschickt werden und die nur geringfügig zugenommen hat (von 93 auf 98 meisten Teilnehmer miteinander ohne Namens- Minuten täglich), die Kleinen (drei bis fünf Jahre) schildchen und Teilnehmerliste klarkommen. So aber deutlich mehr fernsehen (1992: 63 Minuten; etwas sollte trotzdem nicht zur Gewohnheit wer- 2001: 76 Minuten). Das Hauptproblem des Kin- den. derkanals besteht aber darin, dass Kinder Margarete Keilacker, Leipzig Informationen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv

Neuerscheinung in der Neue CD von DRA und DHM Veröffentlichungsreihe des DRA Das Verbrechen hinter den Worten – Hörfunk in Deutschland (1923 - 1960) Tondokumente zum NS-Völkermord

Im Mittelpunkt des Buches stehen die Hörfunk- In der Editionsreihe mit Tondokumenten »Stim- programme des Rundfunks in Deutschland vom men des 20. Jahrhunderts«, herausgegeben von Beginn des Radiozeitalters Anfang der 20er Jah- der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt re des 20. Jahrhunderts bis zu Beginn der 60er am Main – Potsdam-Babelsberg und vom Deut- Jahre. Damals begann das Fernsehen den Hör- schem Historischen Museum Berlin, ist die CD funk als beherrschendes Freizeit- und damit »Das Verbrechen hinter den Worten – Tondoku- auch als Massenmedium abzulösen. Die Unter- mente zum nationalsozialistischen Völkermord« suchung setzt sich zum Ziel, nicht nur die wich- erschienen. 15 Tondokumente aus der Zeit von tigsten Fakten der Hörfunkentwicklung zu be- 1930 bis 1964 spiegeln eine Entwicklung wider, schreiben, sondern vor allem die grundlegenden die am 30. Januar 1939, dem sechsten Jahres- Determinanten ihrer Veränderungen – in Weima- tag der nationalsozialistischen Machtübernahme, rer Republik, Drittem Reich und in den Jahren einen vorläufigen Höhepunkt fand: Adolf Hitler nach dem Zweiten Weltkrieg, zunächst für die kündigte unverhohlen in aller Öffentlichkeit die Besatzungszeit und anschließend in den beiden »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa deutschen Staaten. Im Vordergrund der Darstel- an«, die in den Jahren nach 1941 unerbittliche lung steht die Entwicklung der Programme im Wirklichkeit für Millionen Menschen wurde. Zu Spannungsverhältnis von Politik, Produzenten hören ist aber auch ein Vertreter des Central- und Publikum, während Wirtschaft und Technik Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glau- wie auch die ausländischen Einwirkungen nur bens, der 1930 vergeblich vor dem aufkommen- am Rande gestreift werden können. Einen ei- den Nationalsozialismus warnte, Joseph Goeb- genständigen Stellenwert erhält vor allem der bels mit einer Rede nach dem Erlass der Nürn- Einfluss der Hörerinteressen, da die medien- berger Rassegesetze 1935 und eine Reportage und kommunikationswissenschaftliche Forschung nach der Reichspogromnacht 1938. Ihre Verbre- nicht nur die Kommunikatoren, also die Journali- chen brachten die nationalsozialistischen Anfüh- sten, sondern auch die Rezipienten, also das rer selbst zur Sprache, beispielsweise Heinrich Publikum der Massenmedienprodukte, als mit- Himmler, aber nicht öffentlich, sondern in soge- bestimmenden Faktor des Kommunikationspro- nannten »Geheimreden« 1943 und 1944. Trotz zesses betrachtet. So ist ein Buch zur Hörfunk- anklagender, aber wirkungslos bleibender Sen- geschichte insgesamt entstanden. dungen des Deutschen Dienstes der BBC, wur- Mit dem Band werden die Ergebnisse eines den die Verbrechen in ihrem vollen Ausmaß erst von der Stiftung Volkswagenwerk im Rahmen nach der Eroberung der Konzentrations- und ihres Programms »Diktaturen des 20. Jahrhun- Vernichtungslager durch die alliierten Armeen derts im Vergleich« vier Jahre geförderten und sowie in den Prozessen in Nürnberg 1945/46 bei der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv in gegen die Hauptkriegsverbrecher, in Jerusalem Frankfurt am Main angesiedelten Forschungs- 1960/61 gegen Adolf Eichmann und in Frankfurt projekts vorgelegt. Der Projektbearbeiter, Dr. am Main von 1963 bis 1965 gegen Robert Mulka Konrad Dussel, Privatdozent für Neuere Ge- u.a. (Auschwitz-Prozess), bekannt. schichte an der Universität Mannheim, hat dazu DRA in umfassender Weise Quellenmaterial in ein- schlägigen Archiven ausgewertet, darunter erstmals auch Berichte zur Erkundung der Hö- 50 Jahre DRA rermeinung, auf die die Macher mit veränderten Ausstellung in Frankfurt am Main Programmstrategien reagierten. und Potsdam-Babelsberg Konrad Dussel: Hörfunk in Deutschland. Poli- tik, Programm, Publikum (1923 - 960) (= Veröf- Die Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv (DRA) fentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs, Frankfurt am Main – Potsdam-Babelsberg kann Bd. 33). Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 2002 auf ihr 50-jähriges Bestehen zurückblicken. 2002, 451 Seiten. ISBN: 3-935035-33-0. Aus diesem Anlass wird das DRA in einer Aus- DRA stellung vom 13. bis 23. August in Frankfurt am Main beim Hessischen Rundfunk sowie vom 3. 104 Rundfunk und Geschichte 28 (2002)

bis 13. September in Potsdam-Babelsberg im allem für die frühe Nachkriegszeit noch ergän- dortigen DRA-Gebäude beim Ostdeutschen zende Unterlagen in den Landesrundfunkan- Rundfunk Brandenburg seine Arbeit vorstellen. stalten vorhanden sind. In Texten, Fotos und Faksimiles, Ton- und Film- DRA aufnahmen, Abspielgeräten, Radios und Fern- sehempfänger will das DRA eine breitere Öffent- lichkeit mit seinen Archivschätzen, Dokumenta- Überlieferung der Programmdirektion tionen und Dienstleistungen für Hörfunk- und Erstes Deutsches Fernsehen im DRA Fernsehprogramme, aber auch für Forschung. Bildung und Unterricht bekannt machen. Von der Programmdirektion Erstes Deutsches Das DRA begann am 1. Januar 1952 als Fernsehen in München konnte das DRA erneut »Lautarchiv des Deutschen Rundfunks« mit der nicht mehr benötigte Akten und Unterlagen »Erfassung von Tonträgern aller Art, deren ge- übernehmen. Dabei handelt es sich zum einen schichtlicher, künstlerischer oder wissenschaftli- um Protokolle der ARD-koordinierenden Gremi- cher Wert ihre Aufbewahrung (...) rechtfertigt«, en und Kommissionen von Beginn der 60er bis wie es Paragraf 1 der am 2. Dezember 1952 Ende der 80er Jahre, die frühere Übernahmen unterschriebenen Satzung der Stiftung und Ge- und die Protokollsammlung des DRA ergänzen. meinschaftseinrichtung der ARD festhält. Am 14. Einen zweiten Block bildet die allgemeine ARD- Dezember 1962 erhielt das Archiv zusätzlich den Korrespondenz von 1969 bis 1991, einen dritten Auftrag, das Fernsehen (»Erfassung von Bildträ- Sachakten mit den Schwerpunkten Allgemeine gern«) zu dokumentieren und sich der Rund- Programmplanung und Koordination (auch mit funkgeschichte (»Erfassung von Tatsachen und dem ZDF), Internationale Zusammenarbeit, Fi- Dokumenten«) zu widmen, und am 28. Januar nanzierung, Öffentlichkeitsarbeit und kirchliche 1963 seinen Namen »Deutsches Rundfunkar- Sendungen aus den 80er und 90er Jahren. Die chiv«. Am 1. August 1978 wurde dem DRA die Übernahmen beschränken sich bisher auf das Zentrale Schallplattenkatalogisierung, die für die Büro des Programmdirektors. Abgaben aus den ARD-Rundfunkanstalten und das ZDF alle in der Bereichen der Programmkoordinatoren sind in Bundesrepublik erscheinenden Industrietonträ- Vorbereitung. ger mit Unterhaltungs-Musik per EDV erfasst, DRA übertragen, erweitert – seit Ende der 90er Jahre – durch die Erfassung der Produktionen der Ern- sten Musik. Nach einer zweijährigen treuhände- rischen Verwaltung gingen am 1. Januar 1994 die Rundfunkarchive der DDR als Standort Ber- lin (ab 2000: Standort Potsdam-Babelsberg) in die Obhut des DRA über. 1999 erwarb die Stif- tung die Gerätebestände des Vereins Deutsches Rundfunkmuseum. DRA

Tagungsunterlagen der CCIR (1950 - 1990) im DRA

Vom Institut für Rundfunktechnik (IRT) in Mün- chen hat das DRA einen Bestand mit Unterlagen der CCIR (Comité Consultativ International des Radiocommunications) aus den Jahren von 1950 bis 1990 übernommen. Der Bestand um- fasst vor allem die überwiegend in Englisch und Französisch abgefassten technischen Tagungs- unterlagen der Vollversammlungen und der ein- zelnen Studiengruppen dieser internationalen beratenden Organisation sowie die deutschen Zulieferungen. Das IRT nimmt die Vertretung ih- rer Gesellschafter in dieser Organisation wahr, so dass dieser Bestand vermutlich einzigartig im deutschsprachigen Bereich ist. Es kann aller- dings nicht ausgeschlossen werden, dass vor