AKADEMIE -REPORT 4 / 2014 AKADEMIE FÜR POLITISCHE BILDUNG TUTZING

Buchensee 1 82327 Tutzing Telefon 08158/2 56-0 Fax 08158/2 56-14+51 Internet:http://www.apb-tutzing.de E-mail:[email protected]

1989 – Aufbruch in die Freiheit

Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 und der Weg zur deutschen Einheit jähren sich in diesem Herbst zum 25. Mal. Das Jahr 1989 markiert einen tiefen Einschnitt in der Geschichte Europas und der Welt: Es brachte neue Freiheiten und Demokratie für die Länder hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang. Gleich zwei Tagungen beleuchteten die Welt im Wandel seit dem globalen Epo- chenjahr 1989. Sie ordneten die Entwicklung in den beiden deutschen Staaten, aber auch die Demokratiebewegung in Ostmitteleuropa be- wusst in einen weltweiten Rahmen ein. Siehe Seite 3 Die Alexanderplatz-Demonstration in Ost-Berlin am 4. November 1989 Foto: Bernd Settnik / Bundesarchiv Bild 183-1989-1104-437

Digitalisierung und Grundrechte Weitere Themen im Heft: Aktuelle verfassungspolitische Fragen zu erörtern und dabei Gelegenheit zur Grund- Medien im Krieg – satzdiskussion zu geben: Dies ist das Ziel der Krieg in den Medien S. 13 neuen Veranstaltungsreihe „Forum Verfas- sungspolitik“, die die Akademie in Koopera- Bilder der Gesellschaft S. 17 tion mit dem ehemaligen Präsidenten des Filmgespräch mit Tom Tykwer Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen und Edgar Reitz S. 19 Papier begründet hat. Die Premiere des Fo- rums war prominent besetzt (u.a. mit Gene- Was Macht mit uns macht S. 20 ralbundesanwalt Range und Verfassungs- schutzpräsident Maaßen). Die Konferenz Demografischer Wandel S. 22 widmete sich dem Verhältnis von Freiheit Hans-Jürgen Papier ist Mit- und Sicherheit – ein drängendes Thema, begründer unseres Forums Ehrbarer Kaufmann S. 26 schaut man nur auf die bekannt gewordenen Verfassungspolitik Marktwirtschaft weltweiten Abhöraktionen und Spähpro- Foto: Haas in der Globalisierung S. 27 gramme ausländischer Geheimdienste. Siehe Seite 11 Akademiedirektorin: Inhaltsverzeichnis Prof. Dr. Ursula Münch Vorsitzender des Kuratoriums: Seite Dr. Friedrich Wilhelm Rothenpieler Welt im Wandel – das globale Epochenjahr 1989 3 Vorsitzender des Beirats: Prof. Dr. Klaus Meisel 1989 – Aufbruch in die Freiheit 6

25 Jahre Friedliche Revolution 9 Kollegium: Digitalisierung bringt Grundrechte in Gefahr 11 Volker Benkert (Vertretung Dr. Michael Mayer) Zeitgeschichte Krieg in den Medien – Medien im Krieg 13 Dr. Saskia Hieber Internationale Politik Fotos vom vergessenen Leid nach dem Krieg 16 Dr. Andreas Kalina Gesellschaftlicher und politischer Wandel Bilder einer Gesellschaft 17 Dr. Gero Kellermann Staats- und Verfassungsrecht, Rechtspolitik Internet essen Kino auf? 19 Dr. Michael Mayer (beurlaubt) Was Macht mit uns macht 20 Zeitgeschichte Dr. Anja Opitz Chancen und Probleme Internationale Politik des demografischen Wandels 22 Dr. Wolfgang Quaisser Wirtschafts- und Sozialpolitik Gute Bildung – gute Arbeit 24 Dr. Michael Schröder Medien, Kommunikationspolitik, Wiederbelebung eines alten Ideals 26 Öffentlichkeitsarbeit Fundamente sozialer Marktwirtschaft Dr. Manfred Schwarzmeier Organisationsreferent in der Globalisierung 27 Parlamentarismus- und Parteienforschung Jörg Siegmund M.A. „Die Krise ist noch nicht vorbei“ 29 Pers. Referent der Direktorin Demokratie- und Wahlforschung, Politikevaluation China – die gebremste Supermacht? 32 Dr. Michael Spieker Neue Konjunktur alter Werte 34 Ethische und theoretische Grundlagen der Politik StRin Barbara Weishaupt Umdenken bei der Schulbezogene Projekte und Bildungspolitik transatlantischen Sicherheitspolitik 36 Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sebastian Haas Polarisierung im Kongress führt zur Funktionsunfähigkeit 38 Holocaust und DDR-Geschichte als Schwerpunkte 39 Akademie-Report Fundierte Beiträge und Berichte (Leserbrief) 40 Herausgeber: Akademie für Politische Bildung Intensivierung der Politischen Bildung Buchensee 1 82327 Tutzing im Vordergrund 41 Tel. 08158/256-0 Fax 08158/256-14 Internet: http://www.apb-tutzing.de Ende der Dienstfahrten / Tag der Offenen Türen 42 E-Mail: [email protected] Redaktion: Abschied von der Redaktion / Landkreislauf 43 Prof. Dr. Ursula Münch (verantw.) Dr. Michael Schröder (Redaktion und Gestaltung) Weihnachtswunsch der Akademie Mitarbeit / Layout: Antonia Kreitner / Karin Sittkus im Jahr 1982 bleibt unerfüllt 44 Druck: Satz & Druck Peter Molnar Sommer, Sonne und politische Bildung 45 Greinwaldstr. 11 82327 Tutzing Logo: KR-Team Karin Rappenglück, Pöcking Rezensionen – Neuerscheinungen – Publikationen 46 Der Akademie-Report wird kostenlos abgegeben Pressespiegel 48 ISSN 1864-5488 Namen und Nachrichten 52

2 Akademie-Report 4/2014 Welt im Wandel – das globale Epochenjahr 1989

er Mauerfall 1989 und der Weg zur deutschen Einheit jäh- noch auf die Haltung anderer asiati- ren sich in diesem Herbst zum 25. Mal. Welche Bilder scher Staaten zur Wiedervereinigung. gehen uns durch den Kopf, wenn wir an das Jahr 1989 Japan hatte zum Beispiel ein großes D Interesse an einem wiedervereinten denken? Sofort erscheinen die DDR-Flüchtlinge an der westdeut- Deutschland, da sich dies positiv auf schen Botschaft in Prag vor unserem geistigen Auge, gefolgt von seinen Handel mit der EU auswirken den Montagsdemonstrationen in Leipzig oder den anrührenden würde. Szenen am Grenzübergang an der Bornholmer Straße in Berlin am 9. November 1989. Die Welt erscheint 1989 schwarz-rot-gold Keine Intervention eingefärbt; ja selbst George Bush, Michail Gorbatschow, Fran- provozieren cois Mitterrand und Margaret Thatcher werden vermeintlich zu Der Leiter der National Security Ar- Statisten des Wiedervereinigungsprozesses. chives in Washington D.C., Thomas Blanton, untersuchte die Interaktion zwischen den USA und der Sowjet- Die Tagung „Welt im Wandel: 1989 Lage befunden. Das Schlagwort der union im Kontext des Wandels 1989. als globales Epochenjahr“ ordnete „chinesischen Lösung“ habe nicht die Entwicklung in den beiden deut- ohne Grund seit längerem in der DDR schen Staaten, aber auch die Demo- kursiert. Andererseits jedoch, so Ma- kratiebewegung in Ostmitteleuropa yer, habe die massive negative Reakti- bewusst in einen weltweiten Rahmen on der westlichen Welt auf die Nieder- ein. Am ehesten im Bewusstsein ist schlagung der chinesischen Demokra- sicher noch die gewaltsame Nieder- tiebewegung, aber auch die sehr kriti- schlagung der Protestbewegung in sche Haltung der sozialistischen Staa- China im Juni 1989. Gerade diese eig- ten, die DDR-Führung dazu veranlasst, net sich in besonderem Maße als Bei- einem gewaltsamen Vorgehen im eige- spiel dafür, wie sehr die Entwicklung nen Land vorsichtiger gegenüber zu in Asien mit den Veränderungen in stehen. Das „Njet“ der Sowjetunion ge- Europa verknüpft ist. genüber einer militärischen Interven- tion in der DDR habe letztlich das Ende Thomas Blanton: Zurückhaltung DDR in prekärer Lage des SED-Regimes eingeläutet. der USA gegenüber der Reform- politik Gorbatschows Michael Mayer, Zeithistoriker an der Akademie, betonte dabei den Zusam- Washington zeigte größte Zurückhal- menhang zwischen der gewaltsamen tung in Hinblick auf die Reformpolitik Räumung des Tiananmen-Platzes in Gorbatschows, aber auch bezüglich Peking und der Transformation in der der Demokratiebewegung in Ostmit- DDR. So sei die SED-Führung einer- teleuropa. Man traute der ganzen Ent- seits interessiert gewesen, aus den wicklung nicht so recht, war man doch Erfahrungen der Volksrepublik China 40 Jahre lang durch den Kalten Krieg zu „lernen“. Aus diesem Grunde habe geprägt worden. Vielleicht würde Gor- eine Delegation unter der Leitung des batschow ja einer Palastrevolution im stellvertretenden Vorsitzenden des Gerhard A. Ritter zählt zu den be- Kreml zum Opfer fallen. Die USA woll- Staatsrats der DDR, Egon Krenz, En- deutendsten Historikern in Deutsch- ten die Reformer in Ostmitteleuropa de September/Anfang Oktober 1989 land Fotos: Prume nicht zu sehr unterstützen, um keine China besucht. In seinen Gesprächen sowjetische Militärintervention zu mit führenden chinesischen Politikern Der Berliner Historiker Gerhard A. Rit- provozieren. Letztendlich sollte sich sei es ganz gezielt um die Frage gegan- ter ergänzte, dass die Volksrepublik diese amerikanische Vorsicht als se- gen, in welcher Weise Oppositionsbe- China die DDR seit Frühjahr 1990 als gensreich für die Region erweisen: wegungen unterdrückt werden könn- einen in Abwicklung befindlichen Staat Denn auf diese Weise entstand ein ten. Die DDR-Führung habe sich zu angesehen hätte, weshalb man eine geopolitisches Machtvakuum, das jener Zeit bereits durch die Ausreise- Normalisierung der angeschlagenen von der antikommunistischen Oppo- bewegung, aber auch die anschwellen- Beziehungen zur Bundesrepublik an- sitionsbewegung erfolgreich für sich den Proteste im Land in einer prekären gestrebt habe. Ritter verwies zudem genutzt werden konnte.

Akademie-Report 4/2014 3 Dies war jedoch im Westen nicht im- „Straße“ ein informelles Bündnis mit den zum Transfer der staatlichen Ord- mer ausreichend bekannt. Horst Telt- dem westdeutschen Kanzler Kohl ein- nung gekommen. Die globale Perspek- schik, ehemaliger Leiter der außenpoli- gegangen. Die Entscheidung hierzu tive der deutschen Entwicklung sieht tischen Abteilung des Bundeskanzler- sei sehr riskant gewesen, da man zu Rödder in ihren Auswirkungen auf amts und enger Vertrauter von Helmut diesem Zeitpunkt, im Winter 1989, die europäische Integration, die sich Kohl betonte, wie unsicher man sich noch nicht hätte absehen können, danach deutlich vertiefte (Maastricht- lange über das Verhalten der Sowjet- Vertrag 1992). Zudem bestehe für wei- union im Wiedervereinigungsprozess terhin geteilte Staaten, wie etwa Ko- war. Eine Intervention der Roten Ar- rea, nun ein friedliches Modell der mee in der DDR habe man im Herbst Wiedervereinigung. 1989 jedoch nicht befürchtet, schließ- lich hätte Moskau auch die Transfor- Gegen Triumphalismus mation in Polen in den Monaten zuvor hingenommen. Dennoch sei direkt Mary Sarotte von der Harvard Uni- nach dem Mauerfall die Sorge groß versity zeigte auf, wie wenig sich gewesen, dass Schüsse fallen könn- nach 1989 die globale Sicherheitsar- ten, insbesondere als DDR-Bürger die Zäune der sowjetischen Kasernen zu überklettern begonnen hätten. Für Teltschik ist es deshalb „eines der größten Wunder, dass kein Schuss ge- fallen ist“. Horst Teltschik war im Herbst 1989 enger Vertrauter Helmut Kohls im Einbindung der Kanzleramt Opposition wie die ersten freien DDR-Volkskam- Andreas Rödder von der Universität merwahlen im März 1990 ausgehen Mainz untersuchte den Souveränitäts- würden. Erst als deutlich geworden transfer von Ost nach West. Während sei, dass die Massenbewegung tat- die sich im Sommer 1989 formierende sächlich auch die Stimmung der Oppositionsbewegung in der DDR Mehrheit der Bevölkerung repräsen- Mary Sarotte: „1989 eine wichtige letztlich an politischen Prozessen be- tiert habe, sei das zuvor geschlosse- Chance vertan, Russland besser in teiligt worden sei (z.B. dem Runden ne informelle Bündnis auch demokra- Europa zu integrieren“ Tisch), hätte die Massenbewegung tisch legitimiert worden. auf den Straßen nicht politisch par- Nach diesem Souveränitätstransfer tizipieren können. Letztlich sei die von Ost nach West sei es im Folgen- chitektur änderte. Insbesondere die USA hätten Wert darauf gelegt, keine neuen Strukturen zu schaffen, sondern die bekannten und scheinbar erfolg- reichen Institutionen einfach auf Ostmitteleuropa zu übertragen. Man sei also von einem „Prefab-Modell“ ausgegangen, bei dem wie bei einem Fertighaus bereits vorgefertigte („pre- fabricated“) Teile für die gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur verwendet wurden. Sarotte wandte sich dabei gegen den in den USA vor- herrschenden Triumphalismus, wo- nach das Land der Sieger des Kalten Krieges sei. Vielmehr sei 1989 eine wichtige Chance vertan worden, Russ- land besser in Europa zu integrieren.

Frédéric Bozo von der Pariser Univer- sität Sorbonne schilderte die französi- Der Fall der Berliner Mauer am 9. November wurde zum Symbol des sche Sicht auf die Entwicklung von Epochenjahres 1989 Foto: wikimedia commons 1989. So habe Frankreich in jenem Jahr

4 Akademie-Report 4/2014 mit großem Aufwand den 200. Jahres- Tim Geiger bearbeitet am Institut für überwinden und einer Vereinigung tag der Französischen Revolution ge- Zeitgeschichte München-Berlin eine Deutschlands zuzustimmen – sogar feiert und damit seinen Anspruch auf Aktenedition zur Rolle beider deut- als Mitglied in einer gewandelten Weltgeltung untermauert. scher Außenministerien im Prozess NATO. der deutschen Einigung. Er verwies auf Skeptischer Mitterrand Veronika Heyde von der Universität das Vertragsgeflecht zur Wiederverei- München konzentrierte sich auf die Zugleich habe Staatspräsident Mit- nigung, das sehr viel mehr umfasst als Frage, welchen Anteil die von der For- terrand in den Jahren vor dem Mauer- den „2+4-Vertrag“ vom 12. September schung lange Zeit vernachlässigte fall eine intensive Ostpolitik betrieben 1990 „über die Abschließende Rege- KSZE (Konferenz für Sicherheit und und beinahe alle Staaten der Region lung in Bezug auf Deutschland“. Zusammenarbeit in Europa) und der besucht. Ihm sei klar gewesen, dass es daraus entstandene KSZE-Prozess an zu einer Demokratisierung der Staaten Sicherheitstrauma den Umbrüchen des Epochenjahres in Ostmitteleuropa kommen werde. der UdSSR 1989 hatten. Anhand der Beispiele Auch habe er sich auf ein Ende der in DDR und Sowjetunion verwies sie der Nachkriegszeit geschaffenen In unmittelbarem Zusammenhang da- auf die unterschiedliche Entwicklung Strukturen vorbereitet, die ihren An- mit standen vielmehr bilaterale Verträ- der Opposition in Reaktion auf die fang in der Konferenz von Jalta 1945 ge des vereinigten Deutschland mit Schlussakte. Während in der Sowjet- gehabt hätten. Ihm sei es dabei vor der UdSSR und Polen, aber auch Neu- union vornehmlich die stärkere Ein- allem darum gegangen, den abzuse- regelungen im Verhältnis zu den ver- haltung der Prinzipien über Menschen- rechte und Grundfreiheiten ein- gefordert wurde, pochten An- dersdenkende in der DDR zu- dem auf die Ausreise und de- monstrierten so der SED die mangelnde Legitimität und At- traktivität des Landes.

Rolle der KSZE

Die repressiven Maßnahmen durch den Staatsapparat pro- vozierten einen Zuwachs der Ausreiseanträge. Sie gipfelten im Sommer 1989 in eine durch die SED nicht mehr zu kontrol- lierende Situation. Auch in der Sowjetunion konnten die staat- lichen Repressionen den durch die Folgekonferenzen entstan- denen Demokratisierungsdruck Zeichnung: Mester nicht aufhalten. henden Wandel zu begleiten und zu- bündeten drei Westmächten. Geiger Doch als Gorbatschow ab 1985 seine gleich Stabilität zu wahren. Der Fall erörterte den engen Zusammenhang dringend benötigten innenpolitischen der Mauer habe vor allem deshalb Be- zwischen der Wiedervereinigung und Reformen einleitete, erkannte er in der fürchtungen bei Mitterrand ausgelöst, internationalen Abrüstungsverhand- KSZE die Möglichkeit, den produkti- da die rasche Abfolge von Ereignis- lungen, insbesondere den Wiener Ver- ven Dialog zwischen West und Ost sen in der DDR nicht mit seinen Wün- handlungen über konventionelle Streit- derart zu gestalten, dass sich der Wes- schen nach Bewahrung von Stabilität kräfte in Europa (KSE). Erst die durch ten wieder zur Kooperation in sicher- vereinbar gewesen sei. Erst als Helmut diese Verhandlungen erzielte effektive heitspolitischen und wirtschaftlichen Kohl der Vertiefung der europäischen Begrenzung der Offensivfähigkeit der Bereichen bereit erklärte. Im Gegenzug Integration zugestimmt und zugleich Militärbündnisse Warschauer Pakt akzeptierte er die vom Westen gefor- versichert habe, dass auch ein wieder- und NATO sowie vor allem die ver- derte Einhaltung der Menschenrechte vereinigtes Deutschland dem Frieden tragliche Fixierung der Höchststärke und Grundfreiheiten.  und der Stabilität in Europa dienen künftiger gesamtdeutscher Streitkräf- Michael Mayer werde, habe Mitterrand seine Beden- te auf maximal 370.000 Mann hätten ken gegen die Überwindung der deut- der UdSSR ermöglicht, ihr historisch schen Teilung zurückgestellt. verständliches Sicherheitstrauma zu

Akademie-Report 4/2014 5 1989 – Aufbruch in die Freiheit Einblicke in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Ostmitteleuropa

as Jahr 1989 markiert einen tiefen Einschnitt in der in die kommunistische Tschechoslo- Geschichte Europas: Es brachte neue Freiheiten und wakei und diente auch als Sprachrohr DDemokratie für die Länder hinter dem ehemaligen Eiser- der Dissidenten um Václav Havel. Sie nen Vorhang. Doch was hat sich seither dort verändert? Ist Frei- schilderte ihre Erlebnisse rund um heit noch immer ein Leitmotiv im politischen Diskurs? Welche die Wende sowie die anschließende Bilanz kann man nach 25 Jahren mit Blick auf den Zustand von Zeit in Tschechien, die sie bis heute als politische Kommentatorin kritisch Demokratie, Wirtschaft und Gesellschaft ziehen? Diese und an- begleitet. dere Fragen zur Entwicklung, zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Länder des ehemaligen Ostblocks standen im Fokus der Tagung „1989 – Aufbruch in Freiheit“.

Werner Weidenfeld, Direktor des ligen Entscheidungsträgern in den Centrums für angewandte Politikfor- westlichen Ländern der Zusammen- schung in München, setzte sich in bruch des Ostblocks, als dass sie dar- seinem Eröffnungsvortrag mit der auf vorbereitet gewesen wären. Zu Frage „Der Fall des Eisernen Vor- wenig waren auch die dortigen Oppo- hangs: Geburtsstunde des modernen sitionellen auf die Frage, was nach dem Untergang der alten Ord- nung folgen sollte, eingestellt. Er resümierte, dass der Fall des Eisernen Vorhangs nicht zu einem Kontinent der Uniformität, son- dern zu sehr unterschiedlichen Lída Rakušan: Sprachrohr der Dis- Ausprägungen von Demokratie sidenten um Václav Havel aus dem und Bürgerrechten, gesellschaft- Exil lichem Wohlstand und außen- Auf den 9. November angesprochen, politischen Orientierungen ge- schilderte sie die damalige „Friedhofs- führt habe. ruhe“ in der Tschechoslowakei. Das dortige Schlüsseldatum war erst der „Samtene 17. November, wonach sich die Ereig- Werner Weidenfeld: „Politiker im Wes- Revolution“ nisse derart überschlugen, dass bereits ten waren auf den Zusammenbruch nicht Einen anderen Blick auf die Er- am 29. Dezember der vormalige Staats- vorbereitet“ Fotos: Freymüller eignisse von 1989/90 und ihre feind Václav Havel zum Staatspräsi- Nachwirkungen vermittelte das denten gewählt wurde. Europas?“ auseinander. Dabei konnte Zeitzeugengespräch mit der Publizis- er als damaliger Koordinator der Bun- tin und Journalistin Lída Rakušan (Ra- Land des Lächelns desregierung für die deutsch-amerika- dio Free Europe, Tschechisches Fern- nische Zusammenarbeit nicht nur sehen und Tschechischer Rundfunk). In der Zeit der „Samtenen Revolution“ die Expertise des Politikwissenschaft- empfand sie die Tschechoslowakei lers, sondern auch die Erfahrungen des Rakušan berichtete von ihrer bewe- als ein „Land des Lächelns“, zumal der Zeitzeugen mit interessanten Anek- genden Zeit, die sie nach der Emigra- Kommunismus von einer wahren Eu- doten zu Hintergründen und Prota- tion aus der Tschechoslowakei nach phorie vertrieben schien. Auch wenn gonisten einbringen. Weidenfeld be- Deutschland infolge des Einmarsches die Euphorie sich so nicht bis heute schrieb den Mauerfall als kontextge- der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 hielt, könne der tschechischen Gesell- bundenen, mehrdimensionalen Pro- erlebte. Aus ihrem deutschen Exil schaft, aber auch dem politischen Sys- zess, dessen weiterer Verlauf keiner übermittelte sie als Radioredakteurin tem in den nachfolgenden 25 Jahren ausgearbeiteten Strategie folgte. Zu des amerikanischen Senders Radio insgesamt eine positive Entwicklung unwahrscheinlich schien den dama- Free Europe unzensierte Nachrichten bescheinigt werden.

6 Akademie-Report 4/2014 Über „Freiheitserwartungen – Trieb- Anton Sterbling von der Hochschule und gesellschaftlichen Aufarbeitungs- kräfte des Umbruchs 1989?“ referierte der Sächsischen Polizei zeichnete ein strukturen in den postsozialistischen Angela Siebold von der Universität eher pessimistisches Bild von der ak- Staaten auseinander. Heidelberg. Sie wies dabei auf die viel- tuellen Situation in vielen ostmittel- schichtigen Dimensionen und Bedeu- europäischen Ländern, wobei der Fo- Euphorie und tungen des Freiheitsbegriffs hin, der kus seiner Analyse auf Rumänien, Ernüchterung aufgrund spezifischer Erfahrungen Bulgarien und Ungarn lag. und Erwartungen offen und wandel- Mit Blick auf die politische Dimension bar sei. Schwache verwies Aron Buzogány auf das „Di- Zivilgesellschaft lemma der Gleichzeitigkeit“, worunter Aufbruch in welche er die parallele Verwirklichung von Freiheit? Zu den Ursachen der demokratischen Demokratie, Marktwirtschaft und oft Konsolidierungsprobleme und Kri- auch nationaler Einheit verstand. Ob- So habe sich Freiheit als Widerstands- senerscheinungen zählte er unter an- wohl dies tendenziell zu einer Über- motiv gegen die kommunistischen Re- derem den unvermindert großen Ein- forderung einzelner Länder geführt gime bis 1989 an den wirtschaftlichen fluss der traditionellen Eliten und die habe, zog er mit Blick auf die Etablie- und politischen Freiheiten des Wes- instabilen, oft auf einzelne Personen rung demokratischer Strukturen eine tens in Form von Reisefreiheit, Mei- ausgerichteten Parteiensysteme, die überwiegend positive Bilanz – aner- nungsfreiheit oder auch der Freiheit eine populistische Politik begünstig- kennend, dass für viele Menschen in von Bevormundung bei der Besetzung ten. Hinzu kämen die schwachen zi- dieser Region wirtschaftlicher Wohl- öffentlicher Ämter orientiert. vilgesellschaftlichen Strukturen in die- stand eine größere Bedeutung genie- ße als demokratische Errungen- schaften. Auch unter ökono- mischen Gesichtspunkten kam Joachim Ahrens von der Priva- ten Hochschule Göttingen zu einem insgesamt positiven Fa- zit. Nach einer Transformations- rezession zu Beginn der 1990er Jahre hätte sich die Wirtschafts- lage in allen Ländern erholt und der Übergang zur Marktwirt- schaft sei gelungen. Gleichwohl sei die Entwicklung in den ein- zelnen Staaten sehr unter- schiedlich verlaufen, so dass sich divergierende Wirtschafts- modelle, Wachstumspotentiale und Lebensstandards heraus- gebildet hätten.

Angelika Barbe, Fachreferentin Der spätere Staatspräsident Václav Havel bei einer friedlichen Demonstration in zur Aufarbeitung der SED-Dik- Prag im November 1989 Foto: wikimedia commons tatur bei der sächsischen Lan- deszentrale für politische Bil- Mit dem Umbruch seien neue Erfah- sen Staaten. Innergesellschaftliche dung, wünschte sich eine stärkere Sen- rungen verbunden gewesen und da- Spannungen seien zudem durch die sibilisierung der Gesellschaften für den mit auch neue Freiheitserwartungen enttäuschten Erwartungen im Kontext Umgang mit den Opfern diktatorischer gewachsen, etwa die Freiheit der na- des Beitritts zur EU verschärft wor- Regime. Durch Anwendung der Drei- tionalen Selbstbestimmung oder Ein- den. Sterbling meinte, dass die Völker V-Strategie (Verschweigen, Verharmlo- heit von Volksgruppen. Siebold fasste Ostmitteleuropas 25 Jahre nach dem sen und Verleumden) gelänge es frü- ihre Überlegungen dahingehend zu- Umbruch weniger um Freiheit rängen, heren Eliten immer noch, die Aufar- sammen, dass bis 1989 ein negativer sondern vor allem nach einer gerech- beitung trotz Öffnung der Geheim- Freiheitsbegriff im Sinne einer Ab- teren Verteilung des gesellschaftlichen dienstakten zu behindern. Mit Blick wehr von Zwängen vorgeherrscht ha- Wohlstands verlangten. auf einige Entwicklungen in Ostmitte- be, während nach 1989 positive Frei- leuropa, vor allem aber auch in China heitsdefinitionen als „Freiheit zu etwas“ Drei Beiträge setzten sich mit der Ent- warnte sie vor Naivität und Verharm- minierten, die es auszugestalten gelte. wicklung von Demokratie, Wirtschaft losung, denn „Diktaturen sind Dikta-

Akademie-Report 4/2014 7 turen, auch wenn sie nicht im gleichen Gewand auftreten.“

Wie wird sozialer Zusammenhalt in den neuen Demokratien hergestellt? Was sind prägende sinnstiftende Ideen, die in der Zeit der Transformation, aber auch der zunehmenden Globalisie- rung Orientierung bieten? Und wel- che Positionierungsstrategien ver- folgen die jungen Demokratien nach Überwindung der Bipolarität des Kal- ten Krieges? Diesen Fragen widmete sich die Schlussrunde.

Stotternder Reformmotor

Sabine Riedel von der Stiftung Wis- senschaft und Politik in Berlin argu- Nationalistische Parteien wie die Ataka in Bulgarien stellen die EU vor mentierte, dass der in Ostmitteleuropa große Herausforderungen Foto: HomoByzantinus immer mehr aufscheinende Nationa- lismus schon im Kommunismus ange- rungen gestellt: Zum einen gelte es, Selbstverständnis als Akteure inner- legt war. Angesichts der die Gegenwart mögliche Fragmentierungen und Se- halb der neuen Weltordnung – wobei prägenden Ungewissheiten nähmen zessionstendenzen ihrer Mitgliedstaa- durchaus zwischen einzelnen Staaten nationalistische Tendenzen zu. Dabei ten zu verhindern. Zum anderen werde unterschieden werden müsse. gehe es um das Verhältnis zwischen die Union selbst durch die Zunahme den jeweiligen ethnischen Mehrhei- nationalistisch-populistischer Akteu- Kein monolithischer re, etwa durch ihre Wahl Block ins Europaparlament, herausgefordert. Zwar Die Staaten Ostmitteleuropas bildeten seien nationalistische nicht (mehr) einen monolithischen Parteien nicht grund- Block, als der sie oft gesehen werden. sätzlich anti-europä- Gemein ist ihnen, dass sie als Antwort isch, doch verfolgten sie auf die neue Weltordnung einen neu- in der Regel ein anderes en Regionalismus, verwirklicht in dem Europamodell, welches Projekt der europäischen Integration, mit den gegenwärtigen sehen. Dies entspreche der grundsätz- Strukturen unvereinbar lichen weltpolitischen Entwicklung, sei und diese destabili- in der das System der Vereinten Natio- siere. nen durch neue globale Zentren und andere zwischenstaatliche Akteure Matthias Middell, Direk- Sezessionstendenzen in Osteuropa: Aufruf zur mit größerer regionaler Verankerung tor des Global and Eu- Beteiligung am Referendum über die Unabhän- ersetzt werde. ropean Studies Insti- gigkeit Transnistriens von Moldawien und den tute an der Universität Geeint wird die ostmitteleuropäische Beitritt zur Russischen Föderation im Jahr 2006 Leipzig, spürte der geo- Region zudem durch die spezifischen Foto: wikimedia commons politischen und -strate- Herausforderungen, die aus ihrer Rand- gischen Positionierung lage an der Außengrenze der Union ten und den Minderheiten und eben- der Staaten in Ostmitteleuropa in der erwachsen. Wie aber die konkrete Po- so um Fragen der Staatsbürgerschaft multipolaren Weltordnung nach 1989 litik aussehen und wie die Union im für exterritoriale Bevölkerungsgrup- nach. Trotz Globalisierung und Ent- Detail ausgestaltet sein müsse, darü- pen. Als Folge werden die Grenzen grenzung als übergreifende Entwick- ber bestünde keine einheitliche Vor- zwischen den Nationen, aber auch lungen verlören die Staaten als verfas- stellung. Auch Ostmitteleuropa ist in (potenzielle) Grenzziehungen zwischen sungsrechtliche Gebilde nicht an Be- der multipolaren Weltordnung ange- den unterschiedlichen Ethnien akzen- deutung. Vielmehr vervielfältigte das kommen.  tuiert. Die EU zeigt sich als stotternder Jahr 1989 ihre geostrategischen Op- Reformmotor vor große Herausforde- tionen und steigerte teils auch ihr Jörg Siegmund / Andreas Kalina

8 Akademie-Report 4/2014 25 Jahre Friedliche Revolution Mauerfall und Deutsche Einheit als Kernthemen unserer politischen Bildungsarbeit

ar im April 1989 in einer wissenschaftlichen Studien- der mit Blick auf den Höhepunkt der konferenz der Akademie gemeinsam mit dem Colle- Fluchtwelle aus der DDR und die be- Wgium Carolinum München gerade noch Rückschau auf ginnenden Montagsdemonstrationen die kommunistischen Machtübernahmen in Mittel- und Osteu- die bange Frage stellte: „Genossen, ropa nach dem Zweiten Weltkrieg gehalten worden, da wurden steht uns ein neuer 17. Juni bevor?“ die Regime wenig später eines nach dem anderen in weitgehend friedlichen Revolutionen quasi hinweggefegt. Und das 36 Jahre Druck der Straße nach dem blutig niedergeschlagenen Arbeiteraufstand vom 17. Juni Vor nunmehr 25 Jahren geschah dann, 1953 in der DDR sowie 21 Jahre nach dem „Prager Frühling“ womit nur die Wenigsten gerechnet von 1968 in der damaligen Tschechoslowakei. hatten: Die versteinerten Verhältnisse in der DDR kamen in Bewegung, und unter dem Druck ihrer Bürger auf den Straßen („Wir sind das Volk!“) musste Millionen von Menschen hatten die 1956) Stück für Stück und Jahrzehnt sich die kommunistische Staatsmacht über halb Europa ausgebreitete kom- um Jahrzehnt an Selbstbewusstsein geschlagen geben. Dem Rücktritt der munistische Macht nach der Barbarei gewannen und sich zu neuen sozialen SED-Führung unter Honecker folgte des Nationalsozialismus und den und politischen Bewegungen formier- die Öffnung der Mauer am 9. Novem- Schrecken des Zweiten Weltkriegs ten, sind letzten Endes der Grund für ber 1989. Ein Jahr später war die DDR (zunächst) begrüßt und als Verhei- die Sensation von 1989. bereits Geschichte und Deutschland ßung empfunden. Viele andere hatten vereinigt. Seit dem Beitritt der DDR zur sich der neu etablierten Gewaltherr- Welch tiefen Eindruck der Arbeiter- Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 schaft nur widerstrebend gebeugt. aufstand von 1953 etwa im Bewusst- gilt die Deutsche Frage als gelöst. Diese Menschen, die seit den Auf- sein der DDR-Machthaber hinterlas- ständen der fünfziger Jahre (nicht zu sen hatte, wurde im Sommer 1989 deut- Die Ereignisse von 1989/1990 sind vergessen der Ungarnaufstand von lich. Es war -Chef Erich Mielke, von größter historischer Bedeutung für Deutschland und ganz Europa. Unsere Akademie be- schäftigt sich seit jenen epo- chalen Tagen ausgiebig und intensiv mit der Zäsur von 1989 und den daraus entstan- denen Folgen.

Thematisiert wird eine breite Fülle von Fragestellungen, die die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 bis heute und sicher auch noch in der Zukunft auf- werfen. Untersucht werden in- nere und äußere Faktoren und die Hintergründe des Um- bruchs in der DDR vom Herbst 1989, wie auch die Wege zur Demokratie über „singende“, „friedliche“ und „samtene“ Revolutionen in den einzelnen In der Nacht des 9. November 1989 fällt die Berliner Mauer mittel- und osteuropäischen Foto: Andreas Krüger Ländern.

Akademie-Report 4/2014 9 Aus den vielfältigen Aktivitäten der chen Einheit und der Einführung der politische Bildung beispielsweise das Akademie in der frühen Umbruchpha- D-Mark im Osten Deutschlands unter- Kuratorium Unteilbares Deutschland, se wären beispielsweise die Informati- schätzten nicht nur die meisten Politi- die Vereinigung „Gegen Vergessen – onsveranstaltungen für Übersiedler ker, sondern auch die Bürger die Für Demokratie“, das Hannah-Arendt- aus der DDR über die Staats- und Ge- Schwierigkeiten, die es auf dem Weg Institut für Totalitarismusforschung sellschaftsordnung der Bundesrepu- zur Herstellung der inneren Einheit an der TU Dresden, das schon genann- blik Deutschland von Anfang 1990 zu in Deutschland zu bewältigen galt. te Collegium Carolinum München, nennen. der Forschungsverbund SED-Staat an Experten und der FU Berlin, der Bundesbeauftragte Seminare für Zeitzeugen für die Unterlagen des Staatssicher- Übersiedler heitsdienstes der ehemaligen DDR Darüber darf die konkrete Lebenswirk- (vormalige „Gauck-Behörde“), das Dabei ging es nicht um praktische Ein- lichkeit in den ehemaligen realsozia- Institut für Zeitgeschichte München, gliederungshilfen, sondern vielmehr listischen Regimen nicht in Vergessen- der „Bürgerbüro e.V. – Verein zur Auf- um Fragen der politischen und gesell- heit geraten. Neben ausgewiesenen arbeitung der SED-Diktatur Berlin“ schaftlichen Integration in eine plura- Experten kommen in den einschlägigen oder etwa auch der Bund Widerstand listische Demokratie. Ebenso widmete Akademieveranstaltungen insofern und Verfolgung (BWV-Bayern) e.V. sich die Akademie in spezifischen Ta- auch immer wieder Zeitzeugen zu gungen Fragen der Integration von Wort. Unter ihnen sind zu nennen: Eines ist dabei ganz klar: Für die Aka- Aussiedlern aus Siebenbürgen (Rumä- , , Rai- demie bleiben die vergangenen kom- nien) sowie von Spätaussiedlern aus ner Eppelmann, Bärbel Bohley, Ehr- munistischen Regime sowie die 1989 der ehemaligen Sowjetunion. hart Neubert, Lutz Rathenow und einsetzenden Umbrüche nie versie- Freya Klier. gender Quell und elementarer Bezugs- Regelmäßig wurde und wird, in teils punkt innerhalb des ihr vorgegebe- hochkarätig besetzten Fachkongres- Wichtige Kooperationspartner der nen Auftrags grundlegender Demokra- sen, der Verlauf des bundesdeutschen Akademie in diesem Themenbereich tieerziehung.  Vereinigungsprozesses analysiert und waren bzw. sind neben den Landes- Steffen H. Elsner diskutiert. In der Euphorie der staatli- zentralen und der Bundeszentrale für

Auf der Bösebrücke am Grenzübergang Bornholmer Straße werden DDR-Bürger am 10. November 1989 von Westberliner Schülern begrüßt Bundesarchiv Bild 183-1989-1118-028 Hans-Peter Lochmann

10 Akademie-Report 4/2014 Digitalisierung bringt Grundrechte in Gefahr Forum Verfassungspolitik mit prominenter Besetzung

ktuelle verfassungspolitische Fragen zu erörtern und dabei werde als den Behörden, deren Beam- Gelegenheit zur Grundsatzdiskussion zu geben: Dies ist te einen Amtseid abgelegt haben. Adas Ziel der neuen Veranstaltungsreihe „Forum Verfas- „Sicherheit ist keine Selbstverständ- sungspolitik“, die die Akademie in Kooperation mit dem ehema- lichkeit“, so Maaßen. In Deutschland ligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen würden wir sicher leben, die Gefähr- Papier begründet hat. dungslage sei jedoch durchaus ange- spannt. Sicherheit müsse hart erarbei-

Die Premiere des Forums widmete sönlichkeit und in seiner Ausübung sich dem Verhältnis von Freiheit und von Freiheitsrechten gefährdet. Sicherheit – ein drängendes Thema, schaut man nur auf die bekannt ge- Gefahr durch wordenen weltweiten Abhöraktionen „Vermachtung“ und Spähprogramme ausländischer Geheimdienste. „Was sind unsere aus In Zusammenhang mit der Digitalisie- dem Grundgesetz folgenden, vom Bun- rung der Gesellschaft ist nicht nur der desverfassungsgericht in mehreren Individualrechtsschutz wichtig, son- Grundsatzentscheidungen konkreti- dern auch der Schutz der Funktionsfä- sierten verfassungsrechtlichen Frei- higkeit der Kommunikationsordnung heitsrechte noch wert?“, fragte Papier Hans-Georg Maaßen: „Sicherheit angesichts der jüngsten Entwicklun- ist eine gesamtgesellschaftliche gen. Wenn Rechtsgarantien wie der Aufgabe“ Fotos: Haas Schutz der personenbezogenen Daten in der Praxis gefährdet sind, heißt es, tet werden – nicht nur durch die Si- Wege zu finden, diese Garantien effizi- cherheitsbehörden, dies sei auch eine enter durchzusetzen, so Papier. gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Islamistischer Terrorismus

Generalbundesanwalt Harald Range Wolfgang Hoffmann-Riem: „Funkti- hob hervor, dass die schrecklichen onsfähigkeit der Kommunikations- Straftaten des sogenannten NSU ge- ordnung schützen“ zeigt hätten, dass man jederzeit alle Formen des gewaltorientierten politi- insgesamt, so der Hamburger Verfas- schen Extremismus sorgfältig und in- sungsrechtler und ehemalige Richter tensiv im Auge behalten und verfol- des Bundesverfassungsgerichts Wolf- gen müsse. Derzeit ginge eine beson- gang Hoffmann-Riem. Spezifische Ge- ders große Gefahr vom islamistisch fährdungen entstehen durch die glo- orientierten Terrorismus aus. Dies zei- Hans-Jürgen Papier: „Rechtsgaran- bale Dimension der Informations- und ge sich nicht nur an der hohen Zahl tien effizienter durchsetzen“ Kommunikationsstrukturen sowie die der Anschläge und Opfer, sondern „Vermachtung“, insbesondere durch auch der Anzahl der verhinderten Nach wie vor gelte die vom Bundes- die auf diesem Sektor weltweit tätigen Anschläge. Das hohe Gefährdungs- verfassungsgericht in mehreren Ent- Unternehmen. potenzial dieser Form des Terrorismus scheidungen hervorgehobene Fest- Der Präsident des Bundesamtes für läge insbesondere in seiner Internati- stellung: Wer nicht mehr überschauen Verfassungsschutz Hans-Georg Maa- onalisierung, seiner Vielfältigkeit und kann, wer in einer Gesellschaft was, ßen hat oftmals den Eindruck, dass Wandlungsfähigkeit sowie seiner Fä- wann und bei welcher Gelegenheit etwa beim Umgang mit Daten Wirt- higkeit zur dauerhaften Ausbreitung über einen weiß, der wird in seiner Per- schaftsunternehmen mehr vertraut von Angst und Schrecken. 

Akademie-Report 4/2014 11 Der Verfassungsrechtler Heinrich Peter Schaar, ehemaliger Bundesda- fährdungen der Privatsphäre als sol- Amadeus Wolff von der Universität tenschutzbeauftragter und jetziger che oftmals nicht unmittelbar erkenn- Bayreuth machte verschiedene ge- Vorsitzender der Europäischen Akade- bar sind. meinsame Tendenzen der modernen mie für Informationsfreiheit und Da- Sicherheitsgesetze aus. Dazu zählten tenschutz, rückte bestimmte, neuere Kontrollverlust über unter anderem die standardmäßige technologische Entwicklungen in den Daten Evaluationspflicht, die Stärkung der Fokus, die hinsichtlich der Privat- parlamentarischen Kontrolle, die sphäre besonders sensibel sind. Die häppchenweise Preisgabe von „Hochzonung“ von Sicherheitsaufga- Informationen führe dazu, dass ich ben, die intensivierte Zusammenarbeit Das „Cloud-Computing“ bedeute eine nicht erfassen kann, ob dies zu einer der einzelnen Sicherheitsbehörden und wesentliche Änderung der Vernetzung Gefährdung des Persönlichkeitsbildes die Vergrößerung der Schnittstellen und Informationsverarbeitung und reicht. Nach außen wirke der Vorgang und Doppelzuständigkeiten. habe zur Folge, dass ein oder mehrere der Informationspreisgabe relativ Dritte Kenntnis- und Kontrollmöglich- harmlos. Jedoch sei damit verbunden, Auch im Bereich der Si- cherheit gäbe die Verfas- sung einen Rahmen, in denen der Gesetzgeber ei- nen Gestaltungsspielraum besitzt. Er dürfe aber nicht alles: Spezifische Anfor- derungen bestünden ins- besondere bei geheimen Informationseingriffsbe- fugnissen. Dazu gehören allerhöchste Anforderun- gen an Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit, spe- zielle Meldepflichten und angemessene Kontroll- standards. Ob diese stren- gen Anforderungen bei allen Neuerungen einge- halten werden, sei oftmals stark umstritten, so Wolff. Eingriffe beschränken Zeichnung: Tomaschoff

Thomas von Danwitz, Kammerpräsi- keiten über die Informationen besit- dass der Einzelne die Kontrolle darü- dent am Gerichtshof der Europäischen zen. Beim „Ubiquitous-Computing“ ber verliert, was mit den Daten wirk- Union, war maßgeblich an dem Urteil würden Daten nicht nur dann gesam- lich geschieht. Beachten müsse man aus dem April 2014 zur Ungültigkeit melt, wenn wir uns dessen bewusst auch, dass es mittlerweile soziale Rea- der Richtlinie über die sogenannte sind. Durch „Big Data“, ebenfalls ein lität ist, sich etwa an sozialen Netzwer- Vorratsdatenspeicherung beteiligt. Er Paradigmenwechsel in der Informati- ken zu beteiligen. „Heutzutage kommt hob hervor, dass der Gerichtshof den onsverarbeitung, würde die verfas- man nicht umhin, E-Mail nicht zu nut- besonderen Stellenwert von Maßnah- sungsrechtlich gebotene Zweckbin- zen“, sagte Rossi. men zur Gewährleistung der öffentli- dung und Erforderlichkeit der Daten- chen Sicherheit ausdrücklich aner- erhebung in Frage gestellt. Einen wei- Hinsichtlich der Entwicklung eines an- kannt hat. Auch wenn diese Zielset- teren Gefährdungsbereich sieht Schaar gemessenen rechtlichen Instrumenta- zung dem Allgemeinwohl dient, könne in den neuen, „datengetriebenen“ Ge- riums sieht Rossi die grundrechtliche sie für sich genommen Eingriffe in die schäftsmodellen, die riesige Daten- Abdeckung des Infrastrukturrechts Privatsphäre noch nicht rechtfertigen. mengen sammeln und ausnutzen kön- und die Infrastrukturverantwortung Um den hochwertigen Schutz der Pri- nen. des Staates als zukünftige Akzentset- vatsphäre zu gewährleisten, ließen sich zungen, die gewisse Schutzlücken aus- keine Zugeständnisse machen: Eingrif- Matthias Rossi, Verfassungsrechtler füllen können.  fe in die Privatsphäre seien auf das ab- an der Universität Augsburg, sieht Gero Kellermann solut Notwendige zu beschränken. eine besondere Gefahr darin, dass Ge- (siehe Presseschau, S. 49)

12 Akademie-Report 4/2014 Krieg in den Medien – Medien im Krieg

rieg ist alltäglich – irgendwo auf der Welt gibt es immer aufnehmen“, sagt Durm. Wenn man Krieg. Tag für Tag und Sendung für Sendung erreichen Empathie mit den Opfern empfinde Kuns im Fernsehen, im Radio, im Internet und in der Zei- und sich auf deren Leid einlasse und tung Schreckensnachrichten und -bilder aus allen Winkeln der dieses dem Publikum vermitteln kön- Erde. Doch von den meisten Kriegen erfahren wir nichts: Weil ne, mache Kriegsberichterstattung die Konflikte für die Großmächte zu unbedeutend sind und weil Sinn: „Es lohnt sich, wenn sich Nähe einstellt.“ Um Gefährdungen zu mini- keine Reporter und Kameraleute am Ort des Geschehens sind – mieren, sei man gelegentlich auf Mili- oder nicht sein dürfen. zen und deren Schutz angewiesen. Gleichzeitig begibt sich der Reporter in eine Abhängigkeit („Eine ekelhafte Das Internet und die digitalen Medien seinem Kollegen Jörg Armbruster, als Verbrüderung und Kollaboration“). haben auch den Journalismus aus dieser in Aleppo angeschossen und Durm lobte die im Hintergrund arbei- Kriegs- und Krisengebieten verändert. schwer verletzt wurde. Er sagt heute: tenden „Stringer“. Das sind sprach- Mit kleinen mobilen Geräten können „Wir sind als Reporter verdammt un- und ortskundige Mitarbeiter aus dem Berichte, Filme und Fotos in Echtzeit wissend. Wir stehen hochprofessio- Land, die unentbehrlich sind. „Ohne rund um den Globus verschickt wer- nellen Teams von Nachrichtenfäl- sie sind wir wie ein aus dem Nest ge- den. Soziale Netzwerke und Blogs ha- schern gegenüber.“ Nach seiner An- fallener Vogel“, sagte Durm. Aber aus ben die gewohnte Monopolstellung sicht trägt das Internet eher zur Ver- Sicherheitsgründen müssen ihre Na- der Korrespondenten und Agenturen wirrung als zur Aufklärung bei: „Das men verschwiegen werden, auch wenn aufgeweicht. An ihre Seite sind viele Netz ist voller spekulativem Material ihre Arbeit so wichtig sei. In Bezug auf professionelle und semi-professio- ohne Quellen.“ den Terror des sogenannten „Islami- nelle Journalisten, Bürgerreporter und schen Staats“ fürchtet Durm ein Be- Amateure getreten. Für die Nachrich- richterstattungsmonopol der Terroris- tenredaktionen bedeuten dieser Wan- ten. „Wenn sich aus dem Westen kein del und die immer stärker und schnel- Journalist mehr dort hintraut, haben ler anwachsende Flut von Informatio- sie die Macht über die Bilder und nen eine enorme Herausforderung. Nachrichten. Dann haben wir nur Die rasant gestiegene Schlagzahl der noch die pure Propaganda des IS“, sagt Nachrichtenverbreitung erhöht gleich- der erfahrene Auslandsreporter Durm. zeitig das Fehlerrisiko. Denn häufig gibt es nur subjektive Berichte und Stefan Klein, Chefkorrespondent der Bilder von Beteiligten, Tätern, Opfern „Süddeutschen Zeitung“, ergänzt: oder Augenzeugen. Auf der Tagung „Der IS sieht Journalisten als Feinde. „Krieg in den Medien – Medien im Er treibt die Medien vor sich her. Das Krieg“* trafen sich Wissenschaftler ist eine neue Qualität. Wir wissen und Journalisten zur Diskussion die- kaum noch etwas aus diesem Gebiet.“ ser Fragen. In mehr als 40 Berufsjahren im Jour- Martin Durm: „Das Internet trägt nalismus – davon 17 Jahre als Korres- eher zur Verwirrung als zur Aufklä- „Drohnen- pondent in Afrika und Asien – hat rung bei“ Fotos: Freymüller Journalismus“ Klein viele Kriege, Krisen und Kata- strophen gesehen und erlebt. Er sagt: Martin Durm kam unmittelbar vor der Wenn viele Journalisten Kriege nur „Es geht nicht um Abenteuer. Es geht Tagung zurück aus dem umkämpften noch virtuell wahrnehmen und nicht um die Annäherung an Tatsachen und Nord-Irak. Erfahrung in Kriegs- und mehr an die Front gehen („Drohnen- die Wahrheit. Das ist im Krieg noch Krisengebieten hat er reichlich. Von Journalismus“), beschädige das die schwieriger als im Frieden.“ Klein be- 1996 bis 2001 war er ARD-Korrespon- Glaubwürdigkeit und sei eine Abwer- richtete von Aufpassern der jeweili- dent im Studio Kairo. 2011 war er an tung derjenigen, die noch hingehen gen Kriegsparteien und Regierungen, der Berichterstattung über die Revol- und Gefahren auf sich nehmen. Das sogenannten „mindern“. Diese „Be- ten in Ägypten, Libyen, Jemen und Hinfahren lohne sich immer. „Man gleitung“ sei oft der Versuch der Be- Syrien beteiligt. 2013 stand er neben muss die Ängste und Spannungen vormundung und Zensur gewesen.

* In Zusammenarbeit mit dem Münchner Arbeitskreis Öffentlicher Rundfunk (MAR) 

Akademie-Report 4/2014 13 Der Auslandskorrespondent lebe – ge- und Abgleich mit Experten sei von Mit den ethischen Problemen der rade in Afrika – ständig mit Unzuläng- enormer Bedeutung. So sollen den Zu- Kriegs- und Krisenberichterstattung lichkeiten und Beschränkungen. In die- schauern möglichst sorgfältig geprüf- beschäftigte sich Markus Behmer, sem riesigen Kontinent sei die Sprache te Bilder im Fernsehen und Netz prä- Medienprofessor an der Universität oft ein Problem: „Auf dem Land kommt sentiert werden. Denn Vertrauen und Bamberg. man mit den Kolonialsprachen nicht Glaubwürdigkeit seien schnell und sehr weit.“ Sicherheitsfragen und lo- leicht verspielt, sagte Wegener. Abstumpfung gistische Probleme ließen dem Repor- vermeiden ter oft keine Wahl, als sich einer Grup- Nadine Bilke ist die stellvertretende pe von „embedded journalists“ anzu- Leiterin der Online-Redaktion des An erster Stelle nannte er den zuneh- schließen. So bestehe die Gefahr, ein- ZDF. Außerdem hat sie über die Quali- menden Konkurrenzkampf und den seitig Sichtweisen einer Kriegspartei zu tät der Kriegs- und Krisenberichter- Wettbewerb um Einschaltquoten und übernehmen. Klein empfahl seinen stattung promoviert. So hat sie zwei Auflagenzahlen, den wachsenden Ak- Kollegen, öfter mal das Fragezeichen Sichtweisen auf das Tagungsthema: tualitätsdruck, die Abhängigkeit von zu benutzen. „Es ist die ehrlichste Form. Anzeigenkunden, den Verlust an Dis- Wir nähern uns der Wirklichkeit an, tanz zu Themen und Personen sowie aber wir kennen sie nicht immer. Die die mangelhafte Ausbildung der Jour- ständige Frage muss lauten: Bin ich nalisten. Der Zwang zur Bebilderung nah genug dran? Die Wirklichkeit ist nehme zu. Dadurch würde gelegent- nicht schwarz-weiß – sie besteht aus lich die Würde der Opfer verletzt. Es Grautönen.“ sei aber auch keine Lösung, die Bruta- lität des Krieges auszublenden. Die Weitab der Fronten und Krisenherde Gratwanderung zwischen Authentizi- arbeitet Michael Wegener als Leiter des tät und gleichzeitiger Sensibilität sei Content Centers bei ARD aktuell in eine tägliche Herausforderung für alle Hamburg. Dort werden Bilder, Filme Journalisten. Eine Abstumpfung des Publikums müsse auf jeden Fall ver- Nadine Bilke plädiert für einen mieden werden. „konfliktsensitiven Journalismus“ Die internationale Hilfsorganisation Wissenschaft und Praxis. Sie beobach- „Reporter ohne Grenzen“ kümmert sich tet eine „Medialisierung des Krieges“. um in Not geratene Journalisten und Die soziale und die Medienrealität ver- versteht sich als Kämpfer für eine glo- schwimmen. Medien seien längst zu bale Informationsfreiheit. Recherchie- einem Faktor des Geschehens gewor- ren, anklagen, unterstützen – so fass- den. Zwischen dem ersten und zwei- te ihr Geschäftsführer Christian Mihr ten Irak-Krieg habe sich die Zahl der Berichterstatter vervielfacht. Ein Sen- der in den USA habe 2003 in vier Ta- gen 50 Live-Schaltungen mit seinen Michael Wegener ist der Leiter des Reportern gesendet. Content Centers bei ARD aktuell in Hamburg „Konfliktsensitiver Journalismus“ und Texte aus dem Internet gesichtet und auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft. Die Frage des Kriegsreporters, der die Das umfasst die Bild- und Themenre- Welt um sich herum sehr verengt aus cherche in klassischen Quellen wie dem Sehschlitz des Panzers betrach- Agenturen, aber auch das Durchsu- tet, dürfe nicht lauten: „Was ist chen der sozialen Netzwerke. Wegener wahr?“, sondern: „Was ist richtig?“ Christian Mihr: „Die Informationsfrei- sagt: „Die Verifikation der Quellen ist Bilke plädierte für einen „konfliktsen- heit ist weltweit gefährdeter denn je“ ein Indizienprozess.“ Es gebe viele sitiven Journalismus“ über Kriege. Der Beobachter, die Fehler in der Bericht- lege Wert auf Wahrhaftigkeit, Richtig- die Aufgaben zusammen. Die Organi- erstattung erkennen und danach oft keit, Relevanz sowie Einordnung in sation setzt sich weltweit für den schadenfroh ins Netz stellen. Trotz in- den Zusammenhang. So könne dem Schutz und die Sicherheit von Medi- tensiver Prüfungen seien Fehler nicht „Information overflow“ begegnet wer- enschaffenden und für Informations- ganz auszuschließen. Die Verifikation den. An die Stelle von Propaganda freiheit ein. Mit Kampagnen und Lob- des Bild- und Videomaterials, die Prü- trete damit Orientierung in einer kom- byarbeit kämpft sie gegen Zensur und fung der Quellen und der Austausch plizierter werdenden Welt. Verfolgung von Journalisten. Die

14 Akademie-Report 4/2014 Arbeit wird nicht leichter. Immer mehr wahren Propagandaschlacht, in der alle leons. 200 Jahre später wurde dieses Journalisten kommen bei ihrer Arbeit verfügbaren Medien – jetzt auch der historische Kriegsereignis vom Mittel- ums Leben – 2013 waren es weltweit Film – eingesetzt werden. Es ist Propa- deutschen Rundfunk (MDR) mit den 71. Und immer mehr werden entführt ganda nach innen und außen mit An- modernen Mitteln der Medientechnik oder inhaftiert. ins Fernsehen transportiert. Katja Wil- dermuth leitet die Redaktion „Ge- „Medialer schichte und Gesellschaft“ beim MDR Dauerbrenner“ und ist verantwortlich für dieses cross- mediale Experiment. Der Mainzer Publizistikprofessor Jür- gen Wilke hat in seinen vielen For- Völkerschlacht schungen herausgefunden: „Kriege crossmedial waren in den Medien schon immer ein Aus einer Mischung von alten Spiel- Dauerbrenner.“ Das beginnt in den filmen, neu gedrehten Schlachtszenen, Bauernkriegen, als erste gedruckte einem „Brennpunkt“-Moderator im Flugschriften – auch schon mit Bil- Studio, Schaltungen zu Korresponden- dern – von den Kämpfen berichteten. ten am Ort des Geschehens und in den Von Anfang an waren diese Texte Pro- Katja Wildermuth transportierte die europäischen Hauptstädten sowie an paganda mit einer sehr subjektiven Völkerschlacht von 1813 in die mo- der Frankfurter Börse entsteht eine Sicht. Friedrich der Große war selbst derne Medienwelt sehr lebendige und anschauliche Ge- als Kriegsberichterstatter tätig und schichtsstunde. Ausgestrahlt wurde hat so Öffentlichkeitsarbeit gezielt be- das Ganze in vier Folgen vom 14. bis trieben. Napoleon kannte bereits die weisungen, Zensur und Publikations- zum 17. Oktober – fast genau auf den Macht der öffentlichen Meinung und verboten. Im Zweiten Weltkrieg wird Tag 200 Jahre nach den Ereignissen – wollte sie beherrschen. Er produzierte Kriegsberichterstattung von den Na- jeweils zur besten Sendezeit zwischen auf seinen Feldzügen eigene Zeitun- zis systematisch perfektioniert. Ganze 19.50 und 20.15 Uhr. Das zunächst gen auf mitgeführten Druckereien. Propagandakompagnien werden aus Irritierende: Es sind die bekannten Der Krim-Krieg von 1853 bis 1856 war ehemaligen Journalisten rekrutiert. Gesichter aus der ARD, die das Gesche- der erste, aus dem Fotos überliefert Zensur ist nicht mehr nötig, denn die hen von damals kommentieren: Tages- sind. Sie sind allesamt inszeniert; der Medien sind von Propagandaminister themen-Moderator Ingo Zamperoni, Krieg wird ästhetisiert. Im deutsch- Goebbels bereits gleichgeschaltet. Udo Lielischkies in Moskau, Rolf Seel- französischen Krieg 1870/71 kam zum mann-Eggebert in Paris und Anja Kohl ersten Mal die neue Telegrafie zum Die Völkerschlacht bei Leipzig im Ok- von der Börse in Frankfurt. Einsatz, mit deren Hilfe auch Fotos tober 1813 war die Entscheidungs- übermittelt werden konnten. schlacht der Befreiungskriege. Dabei Die Resonanz des Publikums war ein- Im 20. Jahrhundert bekommt die Kriegs- kämpften die Truppen der Verbünde- deutig: Mit einem Marktanteil von berichterstattung ungeahnte Ausma- ten Russland, Preußen, Österreich und 10 bis 14 Prozent lag die Sehbetei- ße. Der Erste Weltkrieg wird zu einer Schweden gegen die Truppen Napo- ligung höher als der MDR-Durch- schnitt an normalen Tagen zu dieser Zeit (acht Prozent). Das heißt, dass zwischen 400 000 und 530 000 Zu- schauer täglich die Sendungen ein- schalteten. Die zum crossmedialen Projekt gehörende Internetseite ver- zeichnete 750 000 Besucher. Katja Wil- dermuth sieht die Grenzen solcher Experimente: „Je näher wir mit Ereig- nissen an die Gegenwart herankom- men, umso schwieriger wird die Um- setzung. Ereignisse aus einer Zeit ohne Fotos und Filme sind sicher besser geeignet als neuere, von denen wir schon Bildmaterial haben und ken- nen.“ So ist derzeit noch offen, ob es eine veränderte Neuauflage des „Völ- kerschlacht“-Experiments geben wird. Durch Luftangriffe zerstörtes Ölvorratslager nahe der kuwaitischen Grenze  im ersten Irak-Krieg 1991 Foto: wikimedia commons Michael Schröder

(siehe Presseschau, S. 51)

Akademie-Report 4/2014 15 Fotos vom vergessenen Leid nach dem Krieg Elf Portraits vom Leben und Überleben mit Behinderung

ill Mayer versteht sich ganz ausdrücklich nicht als klas- bensbereiche sind Zonen voller Bar- sischer Kriegsfotoreporter. Seine Bilder sind keine rieren. So manche konnten sie schon TSchlachtengemälde. Er geht an die Orte des Geschehens, überwinden. Andere werden noch viel wenn die Meute der Weltpresse schon weitergezogen ist. Er Kraft fordern. Die Portraits geben schildert mit seinen Fotos die vergessene Not und das Leid nach Mut, andere stimmen traurig. den Kriegen, das die Überlebenden oft ein Leben lang begleitet. Mayer ist bei seiner Arbeit nie reiße- „Er hat die Gabe, mit seiner Kamera die Tragik des Augenblicks risch, nie spektakulär. Er lenkt den zu erspüren und einzufangen – und zugleich auch das letzte biss- Blick weg von den Schlachtfeldern chen Hoffnung, das in ihm wohnt“, sagte Michael Schröder bei mit den anonymen Toten hin auf in- der Vernissage der Ausstellung* mit Fotos von Till Mayer dividuelles Leid. Er hebt die elf Op- „Barriere:Zonen“. fer aus der Anonymität. Mayer zeigt uns, was der Krieg hinterlässt, wenn die Waffen schweigen: Menschen Mayer arbeitet seit vielen Jahren als Dem allgegenwärtigen Voyeurismus ohne Perspektive, geschundenes Journalist und Fotograf eng mit Hilfs- in der Kriegsberichterstattung setzt Land, Hunger und Leid. organisationen in Kriegs- und Kri- Mayer zurückhaltende, schlichte und sengebieten zusammen. Oft richtet er umso eindringlichere Portraits ent- Die Fotos gehen unter die Haut. Es dabei den Fokus seiner Arbeit auf den gegen. sind keine Bilder, die man schnell Überlebenskampf von Menschen mit wieder vergisst. Sie schockieren dabei Behinderung. Bei der Tageszeitung Zonen voller Barrieren aber nicht. Die Aufnahmen rühren an, „Obermain-Tagblatt“ in Lichtenfels gerade weil sie so zurückhaltend und ist er als Redakteur angestellt. Als frei- Die Ausstellung zeigt elf Menschen, wenig aufdringlich sind. er Fotograf und Journalist fotogra- deren Schicksal ein Konflikt prägt fiert und schreibt er für zahlreiche oder bestimmt hat. Die Portraitierten Eva-Maria Fischer erläuterte die Ar- Zeitungen, Magazine und für Spie- kämpfen als Menschen mit Behinde- beit des Kooperationspartners, der gel-Online. rung um ein würdiges Leben. Ihre Le- Hilfsorganisation Handicap Interna- tional. Sie wurde 1982 von zwei fran- zösischen Ärzten gegründet. Ihr Ziel: 6000 kambodschanischen Flüchtlin- gen mit Amputationen in Camps in Thailand durch die Versorgung mit Prothesen und durch Rehabilitation eine langfristige Perspektive zu er- möglichen. Heute ist die internatio- nale Hilfsorganisation in rund 60 Ländern mit etwa 300 Projekten der Prävention, Rehabilitation und Inklu- sion sowie in der Kampfmittelräu- mung und Risikoaufklärung im Ein- satz. Außerdem setzt sich Handicap International für die Rechte von Men- schen mit Behinderung ein.  Michael Schröder

Till Mayer richtet den Fokus seiner Arbeit auf den Überlebenskampf von Menschen mit Behinderung Fotos: Freymüller Linktipps:

* Die Ausstellung wurde bis Ende Oktober in der Akademie gezeigt und fand www.tillmayer.de statt in Zusammenarbeit und mit Unterstützung von Handicap International und www.barriere-zonen.org der finanziellen Förderung durch das Bundesministerium für Wirtschaftliche www.handicap-international.de Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie kann über Handicap International in Mün- chen kostenlos (gegen Erstattung der Transportkosten) ausgeliehen werden.

16 Akademie-Report 4/2014 Bilder einer Gesellschaft Formeln der Selbstbeschreibung in der Mediendemokratie

o liegen die Schwierigkeiten der gesellschaftlichen fen, wohin unsere heutige Demokratie (Selbst-)Verortung zu Beginn des 21. Jahrhunderts und tendiert. So führten nach Hansen die Wwelche Herausforderungen ergeben sich daraus für das neuen Medien im politischen Prozess soziale, politische und kulturelle Zusammenleben? Dieser Frage durchaus zu negativen Erscheinun- hat sich die Akademie bei der interdisziplinären Fachtagung „Bil- gen, wie es sie bereits in der Anti- der einer Gesellschaft“ gestellt. Gesellschaften brauchen griffige ke gab: Trotz der unterschiedlichen Formeln der Selbstbeschreibung – um der Selbstvergewisserung, technologischen Rahmenbedingun- gen seien die Grundprobleme doch der Identitätsfindung, also um der Integration willen. sehr ähnlich.

Der Soziologe Joost van Loon (Katho- Gerhard Vowe (Heinrich-Heine-Uni- Angelpunkt war die bewusst plakative lische Universität Eichstätt-Ingol- versität Düsseldorf) kategorisierte die und polarisierende These, dass das stadt) argumentierte in seinem sozial- verschiedenen Gesellschaftskonzepte, Bild der Antike falsch ist. Denn auch kritischen Vortrag, dass der Begriff die in der Wissenschaft, in den Feuil- in diesem Bezug müsse unbedingt „Gesellschaft“ heute als Container für letons, aber auch in der öffentlichen zwischen Ideal- und Realtypen unter- alle Begriffe diene, die man nicht nä- Debatte kursieren. So liest man ver- schieden werden. Das antike Bild, das her definieren möchte. Er hätte keinen mehrt u.a. von Wissens-, Informati- gemeinhin ausschließlich tugend- und analytischen Wert. Die Herabsetzung ons-, Leistungs-, Risiko- oder auch damit auch vorbildhafte Demokraten des Terminus verdeutlichte van Loon von Event- und Spaßge- mit der Aussage: „Man sellschaften. Diese kon- braucht keine Gesell- zeptionelle Vielfalt sei schaft mehr, man braucht Ausdruck eines pluralen nur noch Suchmaschi- Selbstbildes der Gesell- nen.“ Er arbeitete die Fa- schaft. Sie sei zugleich cetten der Begriffe Sozia- Angebot der Wissen- les und Mediatisierung schaft an die Gesellschaft, heraus – und verdeutlich- sich selbst zu reflektieren. te die Bedeutung des Die Dominanz der un- „sich Verbindens“ als des terschiedlichen Gesell- zentralen sozialen Kriteri- schaftsbilder wechsle je ums in der heutigen, me- nach der Perspektive, aus dial durchsetzten Welt. der man auf die Gesell- Hendrik Hansen: Aktuelle Joost van Loon: „Gesell- Die allgegenwärtige Me- schaft blicke. Ihr gemein- Probleme ähnlich schon in schaft und Vergesellschaf- diatisierung könne so- samer Nenner, ihr verbin- der Antike Fotos: Prume tung vollends obsolet ge- wohl zur Erneuerung wie dendes Glied, sei die zu- worden“ zur Zerstörung des Sozi- nehmende Mediatisierung. alen führen. Das Kritische Was das gegenwärtig vorherrschende darstelle, sei heute allzu oft überzeich- an der aktuellen Entwicklung sei die soziale Selbstbildnis anbelangt, liege net und verklärt. Ein negativeres, dif- erstaunliche Erhöhung der Zahl der sowohl in der Fachliteratur als auch in ferenzierteres Bild wäre zutreffender. Mediatoren, zumal mit ihr Manipulier- der breiten Öffentlichkeit das Attribut Vieles, was heute als Entartung und barkeit omnipräsent ist. Zugleich müs- der Informationsgesellschaft vorne. Verfall diagnostiziert werde, habe man se man sich in der mediatisiert-atomi- ebenso in der Antike beobachten kön- sierten Welt nicht mehr rechtfertigen. Verklärtes Bild nen. Hierzu bemühte Hansen die Schöp- Gesellschaft und Vergesellschaftung fungsgeschichte des antiken Griechen- seien vollends obsolet geworden. Hendrik Hansen (Andrássy Universi- lands und vor allem die Lehren Perik- tät Budapest) verglich das Bild des les‘. Die Befassung mit der antiken Cordula Nitsch (Heinrich-Heine-Uni- Bürgers in der Antike und heute. Sein Demokratie könne bei der Frage hel- versität Düsseldorf) sprach über Poli- tikvermittlung in Zeiten von Politain- ment. Sie unterschied Fernsehforma- Im Rahmen dieser Tagung fand auch das Filmgespräch am See statt (siehe dazu te gemäß ihrer unterschiedlichen Ab- den nachfolgenden Bericht) stufungssphären der Politikvermitt- 

Akademie-Report 4/2014 17 lung – von der Widerspiegelung tat- Auf Basis empirischer Studien zeigte sellschaft böte Charisma einen beson- sächlicher politischer Prozesse und Pickel, dass wir in den Grundfesten deren Nährboden. Zugleich machte Akteure bis hin zu fiktionalen Darstel- unserer Demokratie ein gutes Funda- er deutlich, dass es schon immer den lungen. ment haben. Sie forderte dazu auf, Darstellungspolitiker, der seine Legi- Kritiker der demokratischen Ordnung timation durch die mediale Öffentlich- Entpolitisierung durch in den Fokus zu nehmen, sie über die keit erhält, gegeben habe – als Gegen- Politainment Demokratie aufzuklären und in den pol zum Entscheidungspolitiker, der demokratischen Prozess einzubinden. vorrangig nach den sachorientierten Grundsätzlich wiese Politainment zwei Nicht zuletzt hänge politisches Inter- Kriterien der Verhandlungsdemokratie gegenläufige Potenziale auf: Zum einen esse stark mit der Mediennutzung und handele. An Beispielen der bundesre- ist von einer Demokratisierung der Re- den medialen Darstellungen zusam- publikanischen Geschichte illustrierte Sarcinelli, wie Politiker mit unterschiedlichem Erfolg als Markenprodukte eingeführt werden. Er zeigte, dass letzt- endlich die Ämter auf die Amtsträger wirken, obgleich die Amtsinhaber wiederum dem Amt bis zu einem gewis- sen Grad ihren Stempel auf- drücken.

Sein Fazit: Charisma und Cordula Nitsch: „Durch gu- Susanne Pickel: Medien- Ulrich Sarcinelli: Poli- Charismatiker sind durch- tes Politainment politische nutzung beeinflusst poli- tisches Charisma als aus eine Chance, da sie die Bildung ergänzen“ tisches Interesse Chance und Heraus- Wahrnehmbarkeit von Poli- forderung tik und Politikern fördern. Damit sie aber nicht zugleich zipienten auszugehen, da Politik in un- men: Für den Erhalt demokratischer zu einer demokratiegefährdenden terhaltenden Formaten die Basis poli- politischer Einstellungen sei eine in- Herausforderung werden, müsse die tisch Interessierter verbreitere. Ander- tensive und korrekte Vermittlung poli- politische Ordnung insgesamt auf erseits führe Politainment zu einer tischen Wissens unabdingbar. mündigen Bürgern und verantwortli- Entpolitisierung, weil es in der öffen- chen Führungseliten fußen. Insofern tlichen Wahrnehmung politische In- Charisma in der sei politische Bildung gerade in der halte und Prozesse verflache und trivi- Mediendemokratie heutigen mediatisierten Gesellschaft alisiere. Insgesamt überwögen nach vorrangige Aufgabe.  Nitsch die Chancen des Politainment – Ulrich Sarcinelli stellte sich der Frage, Dan Prume / Andreas Kalina wenn entsprechende Formate durch wieviel Charisma die Demokratie ver- weitere, qualitative Informationsange- trage. Denn gerade unsere Medienge- bote ergänzt werden: Dann nämlich könne Politik als Unterhaltung eine gu- te Ergänzung zur politischen Bildung und Demokratisierung darstellen. Kritiker einbinden

Die Politikwissenschaftlerin Susanne Pickel (Universität Duisburg-Essen) referierte über politische Kultur, poli- tisches Wissen und politische Partizi- pation. Sie stellte die These auf, dass wir als Zoon politikon geboren werden, jedoch nicht als Demokraten. Die vor- herrschende politische Kultur, also die in der Gesellschaft verankerten politi- schen Einstellungen und Wertvorstel- lungen der Bürger, bedinge Art und Silvio Berlusconi: problematisches Charisma in der Demokratie Intensität der politischen Partizipation. Foto: alessio85 / wikimedia commons

18 Akademie-Report 4/2014 Internet essen Kino auf? Keine Angst vor der Zukunft des Films beim Akademiegespräch am See

m vergangenen Jahr hatte die Akademie das Starnberger Fünf- sumieren heute Serien am Stück auf Seen-Film-Festival (fsff) „nur“ mit der finanziellen Förderung kleinen Smartphone-Bildschirmen. der Wolfgang-Kohlhaase-Retrospektive unterstützt (siehe Aka- Sie hätten eine neue Bildkultur und I -sprache. Wohin das führe, wisse man demie-Report 3-2013). In diesem Sommer waren das Festival und sein Leiter Matthias Helwig Kooperationspartner beim „Akade- noch nicht. Aber es gebe eine große Vielfalt des Erzählens. Und: „Wir dür- miegespräch am See“ zum Thema: „Der Autorenfilm und die Kraft fen nicht nachlassen beim Bemühen der Illusion – Das Kino im gesellschaftlichen Wandel“. um die Komplexität des Erzählens“, sagte die Filmfachfrau Reitz. Es diskutierten die Fernsehdirektorin Heute zu tun haben, ist das Kino sei- „Widerstand gegen des Bayerischen Rundfunks (BR), ner Meinung nach nicht totzukriegen. Dekonzentration“ Bettina Reitz, der Filmemacher Edgar Im Übrigen sei die Frage nach dem En- Reitz („Heimat“) und der Regisseur de des Kinos „eine olle Kamelle“. Sie Ihr Namensvetter Edgar Reitz („nicht Tom Tykwer („Lola rennt“). Moderiert werde seit der Erfindung des Tonfilms verwandt und nicht verschwägert“) wurde das Filmgespräch vom Münch- immer wieder gestellt. Weder Fernse- hat Erfahrungen mit komplexen und ner Filmpublizisten Robert Fischer. hen, noch Video und DVD hätten das komplizierten Erzählungen und Fil- men. Der 82-Jährige Regisseur und Autor, der 1962 das Oberhausener Manifest mit unterschrieben hatte („Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen“), hat die 11-teilige Serie „Heimat“ (fast 16 Stunden) geschaf- fen. Sein neuester Film „Die andere Heimat“ dauert fast vier Stunden und stellt höchste Ansprüche an den Zu- schauer. Deswegen braucht Reitz für seine Filme auch „ein Kino, einen besonderen Saal mit einer besonderen Atmosphäre, ein Gemeinschaftserleb- nis im Dunkeln mit höchster Konzen- tration auf die Leinwand.“ Und da ist er mit der gegenwärtigen Situation nicht zufrieden: „Was wir heute Kino nennen, ist ein Saustall!“ Er will sich Keine Angst vor der Zukunft des anspruchsvollen Kinofilms: Tom Tykwer, mit Filmen im Handy-Format nicht Robert Fischer, Bettina Reitz und Edgar Reitz beim Filmgespräch am See abfinden. Die „Dekonzentration“ der im Rahmen des Fünf-Seen-Film-Festivals Foto: Prume jüngeren Leute dürfe man nicht hin- nehmen: „Man muss diesen Entwick- Selbst unter den Profis gab es keine Kino kaputtgekriegt. Tykwer ist über- lungen gegenüber Widerstand leis- einhellige Meinung über den Begriff zeugt: „Und das werden auch das In- ten“, findet der große alte Mann des „Autorenfilm“. So wurde er denn auch ternet und die neueren Medien und deutschen Autorenfilms. gleich in Frage gestellt. Der alte Auto- Technologien nicht schaffen.“ Trotzdem war den drei Filmleuten renfilm, bei dem der Autor Buch, Re- nicht bange um die Zukunft des Ki- gie, Kamera und Schnitt übernimmt und Bettina Reitz hat früher als Leiterin des nos. Wenn es genügend „Event-Cha- prägend beeinflusst, kann laut Tykwer BR-Programmbereichs Spiel-Film-Serie rakter“ habe – wie auf Festivals – heute nicht mehr funktionieren: „Ich preisgekrönte Produktionen verant- dann habe Kino auch weiterhin Erfolg. arbeite mit einem Team von Kreativen wortet („Marias letzte Reise“, „Sophie Und Tykwer meinte, wenn immer mehr und Spezialisten. Ich selbst kann gar Scholl – Die letzten Tage“ und „Das Leute gute Beamer daheim haben, nichts. Ich sage nur, was ich gerne hät- weiße Band“). Heute ist sie der Mei- könnten sie sich Kinofilme auch zu- te.“ Für ihn ist wichtig, dass sich Kino nung, dass die Veränderung von Film- hause per Blue-Ray-Player oder onli- nicht aus gesellschaftlichen Fragen formaten und Konsumgewohnheiten ne-Stream in bester Kinoqualität auf heraushält. Wenn Filme etwas mit dem unaufhaltsam sei. Junge Leute kon- der Wohnzimmerwand anschauen.  Michael Schröder Die Diskussion wurde von ARD alpha aufgezeichnet und am 2. August ausgestrahlt (siehe Presseschau, S. 48)

Akademie-Report 4/2014 19 Was Macht mit uns macht

acht – wer will sie nicht? Was Macht ist, wer sie woher und Rainer Karlitschek, Dramaturg an der Mwozu hat, was alles Macht über uns gewinnen kann, war The- Bayerischen Staatsoper, erläuterte die ma einer Kooperationstagung mit der Evangelischen Akademie. Macht der Gefühle in der Oper.

Musik besitze eine charismatische Macht, eine affektive Kraft, die den Der Tübinger Philosoph Otfried Politische Denker haben sich seit Worten Elemente des Gefühls hinzu- Höffe thematisierte die „Macht des Jahrhunderten mit den Formen der füge – bereits Orpheus betörte mit der Verborgenen – das Geheimnis in der Macht im Staat auseinandergesetzt. Musik die Götter der Unterwelt. Häu- Demokratie“. Geheimhaltung wider- Dirk Lüddecke, Professor an der Uni- fig greife die Oper das Thema Macht spricht seiner Meinung nach der versität der Bundeswehr München, oder Machtmissbrauch (La Traviata) offen konstituierten Demokratie. In erklärte deren Sicht auf die staatliche selbst auf, bei Verdi beispielsweise Bezug auf die aktive Politik seien Ka- Gewalt. So ist vom geradezu allmächti- werden auch die Rezipienten zu einem tegorien wie Vertraulichkeit und Ehr- gen Staat der frühen Neuzeit, dem bestimmten Handeln verführt. „Die Leviathan, der Militär, Recht, Wirt- Emotion ist ein Killerinstrument“, resü- schaft und öffentliche Meinung be- mierte Karlitschek. stimmte, nicht mehr viel geblieben. Heute bestimmen die Verwicklungen Macht der Wirtschaft der internationalen Politik und die globalisierte Weltwirtschaft, wo die „Die Wirtschaft diskutiert gerne zur Grenzen staatlichen Handelns liegen. Ethik, mit Reflexionen zur Macht tut sie sich dagegen schwer“, so Mein- Andere Perspektiven auf den Macht- hard Miegel vom „Denkwerk Zukunft begriff bieten Niklas Luhmann und Michel Foucault, frei nach dem Motto: „Wenn Macht immer nur unterdrü- ckend wäre, würde ihr dann gehorcht werden?“. Macht ist demnach eine soziale Konstruktion, auf die wir uns selbst einlassen und die nicht ausge- Otfried Höffe über das Geheimnis übt werden muss – wie Karsten Fi- in der Demokratie scher vom Geschwister-Scholl-Insti- tut der Universität München erklärte. lichkeit zentral. Sobald ein Politiker – aufgrund privater oder beruflicher Macht des Sports Unehrlichkeit – seine Glaubwürdigkeit verloren hat, erleide er einen Vertrau- Auf die meisten Menschen übt Sport ensverlust und die Wiederwahl steht eine große Faszination aus – und da- auf dem Spiel. mit auch Macht. Denn die Massen- Meinhard Miegel warnte vor dem medien haben in diesem Bereich ihre Zerstörungspotenzial von Wirt- Macht-Theoretiker Wächterfunktion freiwillig aufge- schaftsmacht Fotos: Haas geben. Der kommerzialisierte Sport Eine weitere Kernfrage Höffes lau- ist abgekoppelt von der kritischen tete: Wie viel Transparenz verlangt Betrachtung. Es dominieren Heroen, – Stiftung kulturelle Erneuerung“. und wie viel Diskretion benötigt die Hymnen und Fankultur. „In diese per- Selbst entfalte sie ihre Macht eher Demokratie? Einerseits setzt Demo- fekte Medienwelt passt nur eines auf subtile Weise, etwa in der zu- kratie ein gewisses Maß an Offenheit nicht hinein: die Realität“, meinte nehmenden Kommerzialisierung al- und Wahrheit voraus, andererseits Thomas Kistner, bei der Süddeutschen ler Lebensbereiche. Miegel warnte sei Transparenz kein Selbstzweck, Zeitung zuständig für Sportpolitik. vor dem Zerstörungspotenzial für sondern müsse dem Gemeinwohl Er erinnerte an Doping und Doping- unsere Lebensgrundlagen, welches dienlich sein. Macht in der Politik verdacht bekannter Sportler und Trai- in der auf Wachstum und Wohl- liege demnach in strategischem Han- ner, an Wettbetrug, Spielmanipulatio- standsmehrung gerichteten Art des deln und auch in der Geheimhaltung. nen und verdeckte Absprachen. Wirtschaftens liegt.

20 Akademie-Report 4/2014 Die Beraterinnen Dorothea Assig und Dorothee Echter beschäftigen sich seit Jahren mit Codes, Ritualen und Me- chanismen im internationalen Topma- nagement. Dort sei Macht von außen undurchschaubar, weil die Strukturen und Regeln undurchschaubar sind. Ein Aufstieg sei immer begründet in der inneren Ambition, nicht in über- triebenem Ehrgeiz. Nicht unbedingt die beste Leistung entscheide über das Ansehen, sondern die Art und Weise, wie darüber gesprochen wird – und wie man sich selbst darstellt und prä- sentiert. Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun von der Berliner Humboldt- Universität beschrieb, dass die Ent- wicklung des Alphabets und des Gel- des dafür sorgte, den sexuell potenten Mann zu zähmen und ihm über Jahr- tausende die Rolle des geistig Mächti- gen zuzuweisen. Heute sei die männli- che Dominanz eigentlich nur noch in der Weltwirtschaft ungebrochen. Die Macht des schönen Scheins

Glamour, Luxus und Schönheit ziehen uns an – darüber referierte die Life- style-Beraterin Katrin Riebartsch. Menschen sind fasziniert von Schön-

Der Kampf um das Frauenwahlrecht war auch ein Kampf um politische Macht

gleich der Ausgrenzung. Kleidung, schen Rationalem und Irrationalen Schmuck und Frisur gelten als Mittel beschäftigte. Das Ich gewinne mehr zur Selbstdarstellung sowie non- Macht und Kontrolle über das Unbe- verbalen Kommunikation. Medien wusste. Es herrsche ein Zusammen- navigieren uns durch den „Lifestyle- spiel zwischen Bewusstem und Unbe- Dschungel“ und Luxusprodukte stel- wusstem, bei dem die Fähigkeit, sich Katrin Riebartsch: „Schöner Schein len dabei die Speerspitze des schönen zu disziplinieren, immer wichtiger verführt“ Scheins dar. Nach Ansicht von Rie- wird und die schnellen Affekte im Un- bartsch besitzt der schöne Schein je- terschied zur kritischen Prüfung der heit und Vollkommenheit (bei Platon: doch keine Macht, er verführt lediglich. Affekte gezügelt werden sollen. Die das Wahre und Gute). In der westli- größte politische Gefahr bestehe in der chen Gesellschaft besitzen sowohl Die Macht des Möglichkeit der Medien, an schnelle Schönheit (Ebenmäßigkeit, Schlank- Unbewussten Affekte zu appellieren sowie in der heit, Jugendlichkeit, Vitalität), Mode Steuerungsmacht des Unbewussten, und Stil einen hohen Stellenwert, Der Psychoanalytiker Wolfgang die von der politischen Führung zum äußere Merkmale sind ein Symbol für Schmidbauer verwies auf Sigmund Machterhalt genutzt werden könne, soziale Zugehörigkeit und dienen zu- Freud, der sich mit dem Konflikt zwi- sagte Schmidbauer.  Barbara Freymüller / Sebastian Haas

Akademie-Report 4/2014 21 Chancen und Probleme des demografischen Wandels

ie Bevölkerungsentwicklung hat erheblichen Einfluss auf Bauernschuster die Wirkungszusam- die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage menhänge zwischen einzelnen politi- Din unserem Land. Deshalb hat die Akademie in einer Ko- schen Maßnahmen und der ange- operationstagung mit der Studienstiftung des deutschen Volkes strebten Steigerung der Geburtenrate. die vielfältigen Wirkungszusammenhänge sowie Herausforderun- Im Falle der auszubauenden Kinder- gen und Chancen des demografischen Wandels unter die Lupe betreuung seien durchaus positive Ef- genommen. Im Fokus standen dabei die Handlungsspielräume und fekte vernehmbar, das Betreuungsgeld -notwendigkeiten für Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. sowie eine Erhöhung des Kindergel- des verhielten sich bestenfalls neutral. Bauernschusters Fazit: Vor allem Maß- Zum Auftakt zeigte Stephan Sievert Stefan Bauernschuster (ifo-Institut, nahmen, die sich unmittelbar auf die vom Berlin-Institut für Bevölkerung München und Universität Passau) Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Entwicklung Tendenzen und Pro- wertete die zentralen Ergebnisse der richteten, zeigten positive Effekte auf gnosen für die Bevölkerungsentwick- ehe- und familienpolitischen Leistun- die Erfüllung von Kinderwünschen. lung in Deutschland und Europa auf. gen in den letzten Legislaturperioden Finanzielle Anreize kommen in der Be- Die Lebenserwartung werde weiterhin aus. Mit Blick auf die im internationa- völkerung zwar gut an, ihre Wirkung stetig ansteigen, die Bevölkerung in len Vergleich stark unterdurchschnitt- sei aber begrenzt. Deutschland bis 2050 auf rund 75 Mil- liche Geburtenrate träfe durchaus die lionen schrumpfen und Zuwanderungs- die Migration zuneh- magneten men. Zur Mitte unseres Jahrhunderts ist zu er- Carola Burkert vom Nürn- warten, dass jeder Drit- berger Institut für Ar- te älter als 65 Jahre sein beitsmarkt- und Berufs- wird. Diese Überalte- forschung (IAB) widmete rung der Gesellschaft ist sich dem Thema Arbeits- aus ökonomischer Sicht migration in Europa. Der die größte Herausforde- demografische Wandel rung für die sozialen Si- führe zu einem Fachkräf- cherungssysteme. Un- temangel und somit einer gleichheiten zwischen Stefan Bauernschuster: „Fa- Stephan Sievert: „2050 jeder gesteigerten Nachfrage Regionen und Kommu- milienpolitische Leistungen Dritte älter als 65 Jahre“ am Arbeitsmarkt. Zuwan- nen verschärfen sich: erzielen nicht den gewünsch- Fotos: Freymüller derung leiste deshalb ei- Einerseits profitieren ten Effekt“ nen Beitrag zur Fachkräf- vor allem Metropolen tesicherung. Die Mobili- wie Berlin, München oder Hamburg, Aussage zu „Deutschland – ein Land tät innerhalb der EU nimmt zu, da es andererseits kann der ländliche Raum ohne Kinder“. Dies sei bemerkenswert, ein deutliches Arbeitslosen-, Lohn- die Abwanderung nicht mehr durch da die Bundesrepublik überdurch- und Wohlstandsgefälle zwischen den höhere Geburtenraten ausgleichen. schnittlich viel – insgesamt rund 200 einzelnen Mitgliedstaaten gibt. Gera- Milliarden Euro jährlich – für ehe- und de Deutschland profitiere in den letz- Große Unterschiede familienpolitische Leistungen ausgibt. ten Jahren von der Arbeitsmigration, wobei sich insbesondere Großstädte In seinem Überblick zur Bevölkerungs- Begrenzte Wirkungen als Zuwanderungsmagnet herausstell- entwicklung im internationalen Ver- ten. gleich zeigte Sievert die großen Unter- Diese Leistungen zielen auf die Verbes- schiede zwischen den Ländern auf. serung der Vereinbarkeit von Familie Die EU-Zuwanderer werden in der Frankreich und Spanien verzeichnen und Beruf, die wirtschaftliche Stabili- Regel schnell vom deutschen Arbeits- auch weiterhin Bevölkerungswachs- tät von Familien, die Realisierung von markt absorbiert und auch die Be- tum. Deutschland hingegen gelte ge- Kinderwünschen sowie das Wohlerge- schäftigungsquoten stiegen, aller- meinsam mit Japan als das „älteste“ hen von Kindern. Den erhofften Effekt dings sei künftig auch mit einem er- Land. Der Handlungsdruck sei un- lieferten sie aber nicht. Mit aktuellen höhten Leistungsbezug zu rechnen. gleich höher. Forschungsergebnissen beleuchtete Die Herausforderungen seien regions- 

22 Akademie-Report 4/2014 spezifisch unterschiedlich: So konzen- weshalb und wohin? Es wurde deut- Unter der Mitarbeit eines Teams der trierten sich etwa Migranten aus Bul- lich, dass das Wanderungsverhalten Boston Consulting Group wurden garien und Rumänien auf wenige, teil- sowohl nach Alter als auch nach Ge- Herausforderungen für wirtschaftliche weise strukturschwache Kommunen. schlecht selektiv ist, sich eher auf Subjekte und entsprechende unter- Zudem seien sie oft unter dem Quali- fikations- und Lohnniveau angestellt, sodass der Staat mit Sozialleistungen aushelfen müsse. Trotz der vielen Her- ausforderungen und Probleme, die es in nächster Zeit zu lösen gilt, brächte die EU-Zuwanderung unter dem Strich positive Effekte – auch in monetärer Hinsicht. Die Wanderschaft in Europa sei daher eher Chance denn Bedro- hung. Nur dürfe Migration nie ohne Integration stattfinden – und diese fan- ge bei einer bislang vernachlässigten Willkommensstruktur und -kultur an. Arbeitsgruppen vertieften Schwerpunkte der Tagung Wirkungen der Binnenwanderung kurze Distanzen beschränkt und nehmerische Antworten untersucht. hauptsächlich auf prosperierende Re- So sei etwa die Personalplanung von Unter der Leitung der Bamberger Pro- gionen gerichtet ist. Eindeutige Ver- Unternehmen angehalten, Strategien fessorin Cornelia Kristen wurden die lierer sind periphere ländliche Regio- und Reaktionen auf die neuen gesamt- selektive Migration und ihre Folgen nen. Das bislang kennzeichnende Ost- wirtschaftlichen Entwicklungen zu für die Integration von Zuwanderern West- Gefälle werde immer mehr von finden – der demografische Wandel und ihren Nachkommen untersucht. einer Nord-Süd-Migration überlagert. müsse mehr denn je bei der Personal- Als relevante Einflussfaktoren, die Un- entwicklung berücksichtigt werden. terschiede zwischen einzelnen Migran- Reform statt Neubau Was den Absatzmarkt anbelange, er- ten(gruppen) ausmachen, wurden die öffne sich ein neues Potenzial: die so- Bildung der Eltern sowie generell Er- Holger Bonin vom Zentrum für Eu- genannten Golden Agers mit ihren wartungshaltungen innerhalb der Fa- ropäische Wirtschaftsforschung in spezifischen Bedürfnissen. milien identifiziert. Ein weiterer As- Mannheim behandelte mit seiner Ar- beitsgruppe die Fol- Die Stadtplanerin Ruth Rohr-Zänker gen der Alterung der rückte mit ihrer Arbeitsgruppe die Rol- Gesellschaft für die le der Kommunen und Regionen in sozialen Sicherungs- den Mittelpunkt. Sie stünden neuen systeme und analy- Herausforderungen in Bezug auf die sierte den entspre- räumliche Ungleichheit, die Ortspla- chenden Reformbe- nung sowie die Erhaltung der Infra- darf. Er plädierte da- struktur in den schrumpfenden länd- für, die bestehenden lichen Regionen gegenüber. Instrumente zu opti- mieren und zu refor- Deutschland ist wieder Einwande- mieren statt das Sys- rungsland. Das stellte die Arbeits- tem komplett umzu- gruppe um Dietrich Thränhardt von bauen. Der demogra- der Universität Münster fest. Trotz aller berechtigten Debatten um die Karikatur: Tomaschoff fische Wandel sei ein langfristiger Prozess, Chancen und Probleme dürfe hier die auf den man sich ein- notwendige soziale Integration nicht pekt war die Binnenwanderung in stellen und ihn aktiv gestalten könne: zu kurz kommen. Hier sei Deutschland Deutschland und ihre Auswirkungen Er erfordere keinen Aktionismus, son- in Bringschuld – so bei der Schaf- auf die regionale Sozialstruktur, Alte- dern vielmehr bedachtes Handeln. fung einer ausgeprägten Willkom- rung und Wirtschaftskraft. menskultur.  Der zweite Teil der Tagung wendete Barbara Freymüller Klaus Friedrich von der Universität sich den durch den demografischen Andreas Kalina Halle-Wittenberg debattierte in seiner Wandel veränderten Handlungsspiel- Arbeitsgruppe die Frage: Wer wandert, räumen, -strategien und -optionen zu.

Akademie-Report 4/2014 23 Gute Bildung – gute Arbeit Innovationen für ein gelungenes Leben

ie gute Bildung die Schaffung qualifizierter Arbeits- Peter Mosch, Gesamtbetriebsratsvor- plätze begünstigt und so als Voraussetzung für ein ge- sitzender der AUDI AG, stellte in sei- Wlungenes Leben anzusehen ist, war die Kernfrage einer nem Vortrag eindrucksvoll dar, dass Tagung, zu der sich Meinungsbildner und Multiplikatoren aus aufgrund der zunehmenden Automa- Betrieben, Gewerkschaften, Politik und Publizistik trafen.* tisierung der Produktionsprozesse und der vielfältigen Angebotspalette die Anforderungen an die Mitarbeiter des Unternehmens deutlich gestiegen seien. International vergleichende Studien Eine qualifizierte Berufsausbildung zeigen, dass Deutschland bezüglich sei aber auch wichtig für die gesell- Gestiegene des Bildungssystems nur mittelmäßig schaftliche Integration von Jugendli- abschneidet, obwohl das duale Aus- chen. Umso bedauerlicher sei es, dass Anforderungen bildungssystem vielfach als Vorbild sie vielfach im Vergleich zur akademi- dient. schen Ausbildung nicht die entspre- Aus diesem Grunde unternehme die chende Wertschätzung genieße. Audi AG große Anstrengungen, um Ob wir unseren Wohlstand auch entsprechendes Personal frühzeitig zu künftig halten können, hänge auch rekrutieren und dann auch betriebsin- von verstärkten Bildungsanstrengun- Die Berufsausbildung müsse aber tern aus- und weiterzubilden. gen ab, so Sabine Pfeiffer, Soziologie- künftig auch ein attraktives Angebot professorin an der Universität Hohen- für junge Menschen bereitstellen, so heim. Die duale Ausbildung betrach- Pfeiffer. Nur so könnten junge Men- tete die Wissenschaftlerin als wesent- schen neben den anderen Ausbil- liches Element des Geschäftsmodells dungswegen die entsprechenden Deutschland, denn es sorge für quali- Kompetenzen entwickeln, um sich in fizierte Arbeitskräfte und fördere die der sich wandelnden Arbeitswelt zu Innovationskraft der Unternehmen. behaupten.

Peter Mosch: „Große Anstrengun- gen bei Aus- und Weiterbildung“ Fotos: Endres

Joachim Möller, Professor an der Uni- versität Regensburg und Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, bezeichnete die Ex- pansion des Dienstleistungssektors auf Kosten der Industrie insbeson- dere bei den Beschäftigten weltweit als einen „Megatrend“. Während eini- ge Ökonomen Deutschland zunächst Weitgehende Automatisierung prägt die Fertigungsstraßen moderner vorgehalten hätten, den Weg zur post- Autofabriken Foto: Taneli Rajala / wikimedia commons industriellen Wirtschaft verpasst zu

*In Kooperation mit der IG Metall und dem Bildungswerk der Katholischen Arbeitnehmerbewegung 

24 Akademie-Report 4/2014 haben, bewerte man die Lage nach der kräften im mittleren Qualifikations- destlohn beigetragen. Dies sei eine Finanzkrise 2008 deutlich anders. bereich prognostiziert würde. Gleich- Forderung gewesen, für die die Ge- Deutschland könne sich nunmehr zeitig veränderten sich auch die Bil- werkschaften seit vielen Jahren ein- glücklich schätzen, einen erfolgreichen dungsanforderungen vor dem Hinter- getreten seien. Industriesektor zu haben und werde grund des Wandels der industriellen vielfach als Vorbild für andere Länder Produktion (Stichwort Industrie 4.0) angesehen. in Richtung höher qualifizierter Fä- higkeiten. So habe beispielsweise in den USA eine Re-Industrialisierungs-Debatte Obwohl eine hohe Unsicherheit über begonnen. Sie beruhe auf der Erkennt- die Entwicklung der zukünftigen Qua- nis, dass der Beschäftigungsanteil lifikationsanforderungen bestehe, sei des verarbeitenden Gewerbes dessen doch klar, dass man beides benötige: volkswirtschaftliche Bedeutung erheb- akademische Qualifikationen und lich unterschätze, denn die Industrie Fachkräfte mit anspruchsvoller dua- habe große Bedeutung für Exporte, ler Ausbildung. Deshalb müsse das Hochlohnjobs sowie vor- und nach- Potenzial von Jugendlichen und jun- gelagerte Dienstleistungen. Sie spiele gen Erwachsenen für die duale Aus- Wolfgang Schröder: „Annäherung auch eine Schlüsselrolle bei Innova- bildung noch besser erschlossen und der Großen Koalition an gewerk- tionen und habe positive externe Ef- die Durchlässigkeit der Systeme der schaftliche Positionen“ fekte in der Region. Deutschland habe beruflichen und akademischen Aus- nunmehr nicht zuletzt aufgrund des bildung gefördert werden. dualen Ausbildungssystems und der Aber auch in der Rentenpolitik sei eine entwickelten Infrastruktur im weltwei- Wolfgang Schröder, Bereichsleiter für Annäherung an gewerkschaftliche ten Wettbewerb Vorteile. Diese müss- Grundsatzfragen und Gesellschafts- Positionen erkennbar. Wollten aber die ten auch künftig gepflegt werden. politik bei der IG Metall, setzte sich Gewerkschaften und insbesondere die mit den großen Linien der Gewerk- IG Metall ihren politischen Einfluss Fachkräftemangel schaftsarbeit auseinander. Kernthese behalten bzw. ausbauen, so müsste war, dass sich die Beziehungen zwi- der negative Trend bei den Mitglieder- Möller machte auch deutlich, dass zwar schen Gewerkschaften und Politik zahlen gestoppt werden.  ein Trend zur „Akademisierung“ der seit Beginn der Großen Koalition Wolfgang Quaisser Arbeitswelt zu beobachten sei, aber deutlich verbessert hätten. Hierzu gleichzeitig eine Knappheit an Fach- hätte vor allem der gesetzliche Min-

Zeichnung: Tomaschoff

Akademie-Report 4/2014 25 Wiederbelebung eines alten Ideals Der Ehrbare Kaufmann zwischen Bescheidenheit und Risiko

as Ideal des Ehrbaren Kaufmanns hat eine lange Tradition. Einklang zu bringen. Deirdre McClos- DBei einer Fachtagung der Akademie* diskutierten Wissen- key, eine der international bekanntes- schaftler verschiedener Disziplinen Geschichte und Konzept ten Wirtschaftshistorikerinnen aus den dieses Typs. USA, machte deutlich, dass es die ver- änderte Wirtschaftsethik des aufkom- menden Bürgertums in Nordwesteu- In Europa wurden die Tugenden Ehr- des 19. Jahrhunderts und den Finanz- ropa des 16. und 17. Jahrhundert ge- lichkeit und Verlässlichkeit nachweis- krisen der Gegenwart, da sich beides wesen sei, die dem Kapitalismus in lich seit dem Mittelalter in Handbü- sowohl durch die Klage über unersätt- Europa zum Durchbruch verhalf. chern für Kaufleute gelehrt. Dieses liche Gier als auch durch kaum mehr Leitbild, das das Vertrauen in die In- kontrollierbare Mechanismen aus- Einen Kontrast bildete der Referent tegrität des Handelspartners ins Zen- zeichne. Shan Chun aus Peking, der „Business trum rückte, entstand zu einer Zeit, Ethics in Honesty as Social Assets in der Kaufleute Reisende waren, de- Bei einem historischen Streifzug in Confucianism“ beleuchtete. Die nen man überwiegend mit Skepsis be- wurde das Bild des Kaufmanns vom westliche Sicht übernahm Jacob Dahl gegnete. Im 15. Jahrhundert gelang- 15. Jahrhundert bis zur aktuellen Rendtorff aus Kopenhagen, indem er ten die Kaufleute zu mehr Einfluss Globalisierung skizziert. Detlef Aufder- skandinavische Perspektiven des Ehr- und es bildeten sich Handelsmono- pole. Die Kaufleute hatten nicht nur bei ihren Geschäftsabschlüssen klare Prinzipien, sondern übernahmen auch Verantwortung für ihre Heimat. Im Zuge der Aufklärung trat die Religion als Grundlage kaufmännischen Ehr- verständnisses zugunsten von Ver- nunft und Moral in den Hintergrund. Mit dem Einsetzen der Industrialisie- rung wurden jedoch die Tugenden des ehrbaren Kaufmannes relativiert.

Diese langen historischen Linien gilt es zu verstehen, um in einer von Fi- nanz- und Wirtschaftskrise geprägten Zeit sich auf das Leitbild des Ehrba- Inbegriff hanseatischer Kaufmannstradition: die Hamburger Speicherstadt ren Kaufmanns wieder intensiver zu Foto: Thomas Wolf, www.foto-tw.de besinnen. Schwerpunkte der interdis- ziplinär und international angelegten Tagung waren Kulturvergleiche unter- heide (Hamburg School of Business baren Kaufmanns vorstellte; der „busi- schiedlicher Konzeptionen des Ehrba- Administration) sprach über die han- nessman“ steht demzufolge eng mit ren Kaufmanns zunächst in Literatur seatische Tradition, und die Historike- dem Konzept der Integrität in Verbin- und Theater. So porträtierte Christian rin Mechthild Isenmann (Universität dung. In Skandinavien spielen dabei von Tschilschke (Universität Siegen) Leipzig) griff beispielhaft die ober- Transparenz, Solidarität, Nachhaltig- den Kaufmann in Gogols Roman „Die deutschen Städte Nürnberg und Augs- keit sowie die protestantische Ethik toten Seelen“ von 1842 als dubiosen burg heraus. Im 15. und 16. Jahrhun- eine wichtige Rolle. Verhandlungen, Geschäftsmann mit ausgeprägtem dert versuchten Kaufleute, das Stre- Selbstregulierung und Zurückhaltung Geschäftssinn und amoralischen, un- ben nach ökonomischem Erfolg und bei der Verkündung von Erfolgen sei- heimlichen Eigenschaften. Dabei zog Idealvorstellungen wie Ehre, Freund- en wichtige Schlagworte dieser Auf- er eine Parallele zwischen dem Roman schaft und Frieden mit der Realität in fassung. Rendtorff betonte, dass sich ein ehrbarer „businessman“ heutzuta- ge durch eine „unternehmerische Ge- * In Kooperation mit dem Lehrstuhl für Wirtschaftsethik der TU München sellschaftsverantwortung“ definiere.  . (Christoph Lütge) und dem Romanischen Seminar der Universität Münster Barbara Freymüller (Christoph Strosetzki) Wolfgang Quaisser

26 Akademie-Report 4/2014 Fundamente sozialer Marktwirtschaft in der Globalisierung

ie Soziale Marktwirtschaft gilt seit dem Ende des Zweiten unumgänglich. Der „Homo oeconomi- Weltkriegs als Garant für Demokratie und Wohlstand in cus“ diene bei den entsprechenden DDeutschland. Ein in Stein gemeißeltes ordnungspolitisches Rahmenbedingungen nicht nur sei- Modell ist sie jedoch nicht. Immer wieder waren Anpassungen – nem Eigeninteresse, sondern diene zuletzt durch die Agenda 2010 – nötig, damit möglichst jeder sei- nes Glückes Schmied bleiben kann. Diese Reformfähigkeit ist ein wichtiger Grund dafür, warum Deutschland auch die aktuelle Wirt- schafts- und Finanzkrise beinahe unbeschadet überstanden hat und sich als Stabilitätsanker in Europa erweist. Beim „9. Forum Men- schenwürdige Wirtschaftsordnung: Fundamente der Sozialen Marktwirtschaft“ debattierten die Gäste einer Tagung der Aka- demie in Würzburg ethische und geschichtliche Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft.

Nils Goldschmidt (Universität Siegen) ableiten, als möglichst eine frühe För- und der Wirtschaftsethiker Christoph derung der individuellen Fähigkeiten Lütge (Inhaber des Peter-Löscher-Stif- erfolgen solle. Zudem sollte vermittelt tungslehrstuhls an der TU München) werden, dass breite Bildungschancen beschäftigten sich mit der Ethik der vom sozialen Umfeld als realistisch Christoph Lütge: „Eine Individual- und erstrebenswert angesehen wer- ethik reicht angesichts unserer den. Segregation einzelner sozialer dynamischen arbeitsteiligen Welt Gruppen (u.a. von Einwanderern) soll- nicht mehr aus“ ten in der Stadtentwicklungspolitik auch dem Gemeinwohl. Der Wettbe- vermieden werden. Zudem gelte es in werb führe auch zu Kreativität, Dis- Deutschland eine Kultur des Schei- ziplin, Selbstverwirklichung und der terns mit der Chance eines Neube- Zerstörung von Machtzentren. Was ginns zu entwickeln. aber ist mit der Moral? „Sie wird in Veraltete Kategorien die Regeln der Wirtschaft eingebaut. Der Wettbewerb findet in Spielzügen Lütge stellte das Modell des ehrbaren, statt“, meinte Lütge: „Der ehrbare nach wirtschaftsethischen Prinzipien Kaufmann hat nicht ausgedient. handelnden Kaufmanns vor. Unsere Aber er wird in der globalisierten Wirt- ethischen Kategorien, mit der wir die- schaft vor allem durch strukturelle Nils Goldschmidt: „Es geht nicht nur sen Kaufmann aber beurteilen, hinken Maßnahmen und weniger durch per- um die Milderung sozialer Ungleich- der modernen Wirtschaftswelt hinter- sönliche Tugenden umgesetzt.“ heit, sondern auch um soziale Be- her und müssen grundlegend anders teiligung“ Fotos: Haas konzipiert werden. Eine Individual- „Produktive ethik, die auf das moralische Verhalten Ordnungspolitik“ Sozialen Marktwirtschaft – die letztlich des Einzelnen ziele, reiche angesichts dafür sorgen soll, möglichst alle Mit- unserer dynamischen arbeitsteiligen Der Wirtschaftshistoriker Werner glieder einer Gesellschaft am Wirt- Welt nicht mehr aus. Gefragt ist viel- Abelshauser von der Universität Bie- schaftsleben zu beteiligen und sozial mehr eine Ordnungsethik, die Rahmen- lefeld erläuterte, dass das erste Mo- abzusichern. Es gehe allerdings – so bedingungen und Regeln so setzt, dass dell der Sozialen Marktwirtschaft be- Goldschmidt – nicht nur um die Milde- die einzelnen Akteure ein gesellschaft- reits um 1930 entstanden sei, damals rung sozialer Ungleichheit und materi- lich akzeptiertes faires Verhalten an den noch mit dem Etikett „Reformliberalis- eller Armut, sondern auch um soziale Tag legten. In der modernen Welt, ist mus“ und immer unter dem Verdacht, Beteiligung oder Inklusion. Politische der Wettbewerb um Geld, Arbeitskräf- sich dem nationalsozialistischen Wirt- Konzepte ließen sich daraus insofern te und Marktführerschaft nun einmal schafts- und Herrschaftssystem anzu-

Akademie-Report 4/2014 27 biedern. Was dann nach dem Zweiten agiert nicht marktwirtschaftlich.“ Im auch die Einkommensungleichvertei- Weltkrieg unter Ludwig Erhard ge- Sinne Ludwig Erhards, der nach dem lung vergrößert, aber Deutschland schah, bezeichnet Abelshauser als Zweiten Weltkrieg vor allem die Eigen- bewege sich im europäischen Ver- „produktive Ordnungspolitik“: Der initiative der Menschen im Blick hat- gleich eher im mittleren Bereich. Die Staat schaffte es, gleichzeitig einen te, sei das nicht. Abelshauser ergänz- teilweise negative Perzeption des Rahmen für ein soziales System der te dies mit Überlegungen, eine solche deutschen Modells als unzureichend Produktion zu entwickeln und die deut- „produktive Ordnungspolitik“ im eu- sozial basiere vor allem auf der stei- sche Wirtschaft international wettbe- ropäischen Rahmen zu verwirklichen. genden Arbeitslosigkeit. Seit den 70er werbsfähig zu machen. Die Vorstellung, die anderen EU-Mit- Jahren habe die strukturelle Arbeitslo- Dass infolge des Korea-Kriegs Verbän- gliedsstaaten müssten dem deut- sigkeit zu- und das Wirtschaftswachs- de und Gewerkschaften mehr Macht schen Modell folgen, um erfolgreich tum abgenommen. Es sei – auch we- entwickelten und ein aufgeblähter zu sein, sei abwegig und würde auch gen dramatischer demographischer Sozialstaat nach Adenauers Willen abgelehnt werden. Da unterschiedli- Tendenzen – ein erheblicher Reform- entstand, hatte aber zur Folge, dass che Wirtschaftskulturen (nicht mit bedarf, insbesondere am Arbeitsmarkt sich auch die Vorstellungen von einer Mentalitätsunterschieden zu ver- und bei den sozialen Sicherungssys- Sozialen Marktwirtschaft weiter ent- wechseln) in Europa vorzufinden sei- temen, entstanden. Nur langsam seien wickeln mussten. en, müsse sich die Ordnungspolitik Reformmaßnahmen in Gang gekom- darauf einstellen, jene komparativen menen, doch hätten sie die deutsche Abschied von Erhard Vorteile zu unterstützen, mit denen die Wirtschaftsordnung erneut verändert. einzelnen Länder weltweit erfolgreich Dies gelte vor allem für die Renten- Doch welche Bedeutung hat das Den- den Wettbewerb bestehen könnten. reformen und Hartz-Gesetze. Während ken Erhards heute tatsächlich noch? Wer eine solche Politik umsetzen kurz nach Einführung der Reformen Dies thematisierte könne, also EU-Kommission oder die das Vertrauen in die Soziale Marktwirt- Wünsche, der selbst fünf Jahre lang Nationalstaaten, blieb ungeklärt. schaft zurückging, sei es mit deren Er- folgen und der relativ guten Wirt- schaftsentwicklung nach der Finanz- krise 2008 wieder gestiegen. Radikale Reformer

Ob und wie die Ideen der Sozialen Marktwirtschaft in Osteuropa vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs rezipiert wurden, erklärte Piotr Pysz (Hochschule für Finanzen und Ma- nagement Bialystok). Deutlich wurde, dass insbesondere für die radika- Ludwig Erhard entwickelte seine soziale len Reformer in Polen und Ungarn Marktwirtschaft vor der Globalisierung mehr das angelsächsische Modell der Horst Friedrich Wünsche: „Die Foto: Nationaal Archief (NL) freien Marktwirtschaft „ohne Adjek- heutige Politik agiert nicht tiv“ (Vaclav Klaus) als Orientierung marktwirtschaftlich“ Eine intensive Diskussion darüber, ob diente. Erst langsam entwickelt sich die Soziale Marktwirtschaft ausrei- das Interesse an dem deutschen Mo- für Erhard gearbeitet hat und zwi- chend sozial ist, entwickelte sich nach dell. Pysz stellte Ergebnisse einer schenzeitlich die Ludwig-Erhard-Stif- dem Vortrag des früheren Akademie- aktuellen Studie vor; demnach sei der tung leitete. „Die Wirtschaftspolitik seit dozenten Peter Hampe. Transformationsprozess hin zur freien Erhards Rücktritt als Bundeskanzler Wirtschaft in Polen trotz unruhigerer zielt nicht mehr auf Wohlstand für alle, Hohe Ansprüche politischer Bedingungen (deutlich sondern auf Wirtschaftswachstum“, mehr Wechsel von Regierungen, Re- meinte Wünsche. Um die versproche- Er meinte, dass gerade die Deutschen gierungschefs und Finanzminister als nen „blühenden Landschaften“ zu rea- besonders hohe Ansprüche stellen – in Deutschland) besser verlaufen als lisieren, war zunehmend eine staatliche und daher soziale Faktoren der eige- in der ehemaligen DDR. Kritisch ange- Interventionspolitik nötig, die aber in nen Wirtschaftsordnung gerne unter- merkt wurde, ob nicht die Rahmenbe- der weltweit vernetzten Wirtschaft we- schätzen. So sind in der Nachkriegs- dingungen für solche Vergleiche zu nig Wirkung zeigte und bei der immer geschichte Deutschlands die Sozial- unterschiedlich seien und es sich hier weniger Beitragszahler mit ihren Abga- ausgaben ständig gestiegen und sie um einen Äpfel-und-Birnen-Vergleich ben immer mehr Personen absichern betragen nunmehr über 30 Prozent handele.  mussten. Kurz: „Die heutige Politik des Sozialprodukts. Zwar habe sich Sebastian Haas / Wolfgang Quaisser

28 Akademie-Report 4/2014 „Die Krise ist noch nicht vorbei“ Alois Müller, Präsident der Hauptverwaltung der Bundesbank in Bayern, sieht aber keine Gefahr der Deflation

Akademie-Report: Um die Europä- ische Staatsschuldenkrise ist es merk- Zur Person: 1953 geboren in Legau. 1974 Abitur. 1974 – 1976 Ausbil- lich ruhiger geworden. Ist sie bereits dung zum Bankkaufmann bei der Sparkasse Memmingen mit Abschluss überwunden, und welche Rolle spielt Bankkaufmann. 1976 – 1981 Studium der Volkswirtschaftslehre an der Uni- hierbei die europäische Geldpolitik? versität Konstanz mit Abschluss Diplom-Volkswirt. 1981 – 1983 Referen- dariat bei der Deutschen Bundesbank mit Prüfung für den höheren Bank- Müller: Auf den ersten Blick könnte dienst. 1984 – 1985 Gruppenleiter „Kooperation von Zentralbanken der man tatsächlich den Eindruck gewin- Europäischen Gemeinschaft“ des Zentralbereichs „Internationale Bezie- nen, die Krise sei bereits vorüber. So hungen“ bei der Deutschen Bundesbank. 1985 Stellvertretender Direktor sind die Risikoaufschläge auf Staats- bei der Landeszentralbank in Hessen. 1986 – 1999 Verschiedene Funktio- anleihen der Problemländer gegenüber nen als Hauptgruppenleiter bzw. Referent im Zentralbereich „Internatio- deutschen Bundesanleihen beträcht- nale Beziehungen“ bei der Deutschen Bundesbank. 1999 – 2009 Leiter des lich zurückgegangen, mittlerweile sind Europa-Sekretariats bei der Deutschen Bundesbank. Seit 2009 Präsident Zinsaufschläge erreicht, die zum Teil der Hauptverwaltung in Bayern. sogar niedriger sind als vor Ausbruch der Staatsschuldenkrise. Wir sollten uns aber nichts vormachen: Die Krise ist noch nicht vorbei. Es liegt noch fristige Refinanzierungsgeschäfte eine beträchtliche Wegstrecke vor uns, oder ein Ankaufsprogramm für Kre- damit der Euroraum dauerhaft stabiler ditverbriefungen. Diese sind als Re- wird. aktion auf die derzeit zweifellos sehr schwierige Lage zu verstehen. Die Dass sich die Situation vordergrün- Wirtschaftsaktivität im Euroraum ist dig beruhigt hat, liegt sicher nicht un- infolge der Finanz- und Staatsschul- wesentlich daran, dass die Geldpolitik denkrise stark eingebrochen und er- „geliefert“ hat. So hat das Eurosystem holt sich nur schleppend. Die schwa- in den vergangenen Jahren mit ver- che Wirtschaftsentwicklung ist außer- schiedenen Maßnahmen, etwa Leit- dem mit einem sehr geringen Preis- zinssenkungen und großzügiger Liqui- druck verbunden. Allerdings – und ditätsversorgung des Bankensystems, das möchte ich betonen – besteht seinen Teil zur Beruhigung beigetra- derzeit keine signifikante Deflations- gen. Dass in Krisenphasen auch die gefahr. Vor diesem Hintergrund hät- Zentralbanken gefordert sind, ist un- te der EZB-Rat auch zu der Einschät- bestritten, daher waren und sind diese zung gelangen können, dass der geld- „unkonventionellen“ Maßnahmen ge- politische Handlungsdruck nicht so rechtfertigt. Wir sehen es aber kritisch, stark ist, nach den Juni-Beschlüssen Alois Müller: „Eine flexiblere Ausle- schon im September eine neue Runde wenn die Geldpolitik bei ihrem Stabili- gung der gerade erst gehärteten sierungsbemühen ins Schlepptau der weitgehender Lockerungsmaßnahmen fiskalpolitischen Regeln ist sicher einleiten zu müssen. Finanzpolitik gerät und mit ihrem Tun keine Lösung“ Foto: Bundesbank die Anreize zu solidem Wirtschaften untergräbt. Schließlich darf bei geldpolitischen Wie schätzen Sie die Konjunkturlage Überlegungen nicht ausgeblendet Letztlich – ich denke, das ist allen Be- in Europa ein und hat die Geldpolitik werden, dass von einer lang anhalten- teiligten klar – liegt der Schlüssel zur angemessen hierauf reagiert? den, sehr expansiven Geldpolitik auch nachhaltigen Überwindung der Krise Gefahren ausgehen. Dazu zählen die nicht beim Eurosystem, sondern bei der Sie spielen vermutlich auf die jüngsten Gefahr, dass die Politik in ihren Re- Politik. Lassen Sie es mich mit einem Beschlüsse des EZB-Rats vom Juni formanstrengungen nachlässt, und Vergleich ausdrücken: Mit der Geldpo- und September an, bei denen der Leit- die Gefahr, dass die Anleger auf der litik ist es ein bisschen wie mit einem zins erneut gesenkt wurde und weitere Suche nach Rendite übermäßige Risi- Schmerzmittel – es nimmt die Sympto- unkonventionelle Maßnahmen be- ken eingehen. Beide könnten die Fi- me, ist aber keine Ursachentherapie. schlossen wurden, etwa gezielte lang- nanzstabilität erneut gefährden. 

Akademie-Report 4/2014 29 Würde eine Lockerung des Stabilitäts- lange Zeit aufgebaut haben. Diese Ich kann den Ärger der Sparer durch- und Wachstumspaktes der Konjunktur Ungleichgewichte abzubauen, wird aus verstehen. Es ist nicht schön, wenn in Südeuropa helfen? einen längeren Zeitraum in Anspruch die Verzinsung auf die Geldanlage nehmen. Wenn Sie das mit einem Ma- niedrig ist und mitunter sogar die – Eine flexiblere Auslegung der gerade rathon vergleichen wollen, dann be- gegenwärtig allerdings sehr geringe – erst gehärteten fiskalpolitischen Re- finden wir uns irgendwo in der Halb- Inflation nicht mehr ausgleicht. Man geln, wie mancherorts vorgeschlagen, zeit. Die Ziellinie ist noch nicht über- darf aber nicht vergessen, dass die ist sicher keine Lösung. Die Krise hat schritten. Nach wie vor ist in vielen Geldpolitik derzeit auf eine außerge- doch gerade gezeigt was passiert, wenn Ländern die Staatsverschuldung und wöhnliche Situation reagiert und in- Regeln zu locker interpretiert bzw. so- mitunter auch die private Verschul- sofern in ihrer expansiven Ausrich- gar missachtet werden. Wünsche nach dung zu hoch, und einige Staaten lei- tung angemessen ist. Im Übrigen ist einer Aufweichung des Stabilitäts- und den noch immer unter hoher Arbeits- es ja auch so, dass wir Bürger nicht Wachstumspakts oder – wenn ich nur Sparer sind. Wir sind auch das hinzufügen darf – nach einem Häuslebauer und als solche profi- schwächeren Euro-Wechselkurs „Die derzeitige Phase der tieren wir derzeit von den sehr sind Scheinlösungen, die nicht tra- ultralockeren Geldpolitik günstigen Finanzierungsbedin- gen. Um die Wachstumskräfte in den gungen. Und wir sind auch Ar- Problemländern nachhaltig zu stär- darf nicht länger dauern beitnehmer und profitieren davon, ken, führt kein Weg an Strukturre- als unbedingt nötig.“ dass Unternehmen sich momentan formen und der Konsolidierung der sehr günstig finanzieren können. Staatshaushalte vorbei. losigkeit. Und: Es gibt Länder wie Man muss also mehrere Aspekte im Wie schätzen Sie die bisherigen Re- Frankreich und Italien, die in der Krise Blick haben. Entscheidend ist aber formerfolge in den europäischen Pro- nicht so stark im Fokus standen und natürlich, dass eine Phase sehr expan- blemländern ein? die daher den Reformbedarf eher spä- siver Geldpolitik, wie wir sie im Mo- ter erkannt haben. Hier zeichnen sich ment erleben, nicht länger andauert als In den Ländern, die stark im Fokus der erst seit kurzem Schritte in die richtige unbedingt notwendig, um Geldwert- Krise gestanden haben, ist bereits sehr Richtung ab. Es ist wichtig, dass die stabilität zu sichern. viel passiert. Dort zeigen sich zum dortigen Regierungen diesen Weg Teil deutliche Erfolge, zum Beispiel in weitergehen. Aktien- und Immobilienpreise sind der Verbesserung der Wettbewerbs- dagegen stark gestiegen. Handelt es fähigkeit oder in der Rückführung der Die deutschen Sparer sind mit den sich um Blasen oder eine nachhaltige Haushaltsdefizite. Es darf aber nicht niedrigen Zinsen unzufrieden. Wer- Entwicklung? vergessen werden, dass hinter der Kri- den in absehbarer Zukunft die Zin- se sehr tiefgreifende, strukturelle Un- sen wieder steigen? Die Aktien- und Immobilienpreise ha- gleichgewichte stehen, die sich über ben in der jüngeren Vergangenheit in der Tat merklich zugelegt. Ich sehe aber noch keine ungesunde Entwicklung im Sinne einer „Blase“, die zu platzen droht. Wenn wir beispielsweise den Immobilienmarkt in Deutschland be- trachten, so zeigen unsere Analysen zwar in einigen Großstädten durchaus Überbewertungen um 20 bis 25 Pro- zent. Aber wir haben eben keine flä- chendeckenden Preissteigerungen, und – was ebenfalls Kennzeichen einer Blase wäre – wir sehen keine ungesunde Entwicklung der Immobili- enkredit-Vergabe der Banken. Aber natürlich gilt es, die Situation weiter aufmerksam zu verfolgen. Wie uns die Vergangenheit gelehrt hat, kann eine über längere Zeit sehr ex- pansive Geldpolitik – also niedrige Zinsen und reichlich Liquidität – zu Die Europäische Zentralbank wacht über die Stabilität der europäischen gefährlichen Übertreibungen an den Gemeinschaftswährung Foto: wikimedia commons Finanz- und Assetmärkten führen. 

30 Akademie-Report 4/2014 Daher kann ich nur wiederholen: Die derzeitige Phase der ultralockeren Geld- politik darf nicht länger dauern als unbedingt nötig.

Ist das deutsche und europäische Finanzsystem stabilisiert und welche Rolle spielt dabei die gerade be- schlossene europäische Banken- union?

Wir sind heute deutlich weiter als noch vor fünf, sechs Jahren. Die Banken in Europa sind besser kapitalisiert und auch in regulatorischer Hinsicht hat sich seit der Finanzkrise vieles getan, global wie auch in Europa. Ich verrate aber sicher kein Geheimnis, wenn ich feststelle, dass es in einigen Bankbi- lanzen immer noch Risiken gibt, die den Aufsehern Sorgen machen. Des- halb glaube ich, dass wir in Europa dringend einheitliche hohe Standards in der Bankenaufsicht benötigen. Und genau das ist ja das Ziel der Ban- kenunion. Die gemeinsame Bankenauf- sicht als erste Säule der Bankenunion wird Anfang November auf die EZB übergehen. Ab dann wird die EZB für 120 große, systemrelevante Banken in Europa direkt die Beaufsichtigung übernehmen, für die übrigen rund 3.500 europäischen Institute wird sie einheitliche Standards vorgeben, die die nationalen Aufsichtsbehörden zu Die Zentrale der europäischen Währungshüter: der Euro-Tower in Frankfurt beachten haben. am Main Foto: Dirk Schneider / wikimedia commons Die Bankenunion sieht aber nicht nur eine einheitliche Bankenaufsicht vor, Wird der Einfluss der Bundesbank auf Auch wenn ein bestimmter nationaler sondern auch einen gemeinsamen Ab- die Entscheidungen der EZB zurück- Notenbankgouverneur gerade kein wicklungsmechanismus, der gewähr- gehen, wenn der Bundesbankpräsi- Stimmrecht ausübt, kann er sich an der leisten soll, dass künftig nicht mehr die dent Jens Weidmann wegen des Euro- Aussprache im EZB-Rat beteiligen. Steuerzahler in Europa für Bankschief- beitritts Litauens künftig nicht mehr Dadurch können weiterhin Sachargu- lagen haften. Die Strukturen hierzu bei jeder Sitzung des EZB-Rats stimm- mente in die Diskussion eingebracht sind im Grundsatz beschlossen, die Ent- berechtigt ist? werden. scheidungsmechanismen sollen ab 2016 einsatzfähig sein. Die Bankenuni- Sie zielen auf das sog. Rotationsver- Die allermeisten Entscheidungen im on kann also ein wichtiges Instrument fahren ab, das mit dem Beitritt Litau- EZB-Rat werden ohnehin nach dem sein, den Bankenmarkt in Europa si- ens im nächsten Jahr in Kraft tritt und Konsensprinzip getroffen, d.h. man cherer und stabiler zu machen. Aller- das vorsieht, dass nicht mehr jeder tauscht sich aus und einigt sich, ohne dings mache ich keinen Hehl daraus, Notenbankpräsident zu jeder Zeit im dass es zu einer formalen Abstimmung dass die Ansiedelung der europäischen EZB-Rat stimmberechtigt sein wird. So kommt. Die Diskussion ist also ent- Aufsicht bei der EZB nicht optimal ist. wird beispielsweise der Präsident der scheidender als die formale Abstim- Wenn geldpolitische Entscheidungen Deutschen Bundesbank nur mehr bei mung. Die Stimme des Bundesbank- von aufsichtlichen Erwägungen be- vier von fünf Sitzungen sein formales präsidenten wird weiterhin ein großes einflusst würden, wäre das sicher eine Stimmrecht ausüben dürfen. Den von Gewicht haben.  erhebliche Belastung für die Glaubwür- Ihnen befürchteten Einflussverlust der digkeit der Geldpolitik. Bundesbank sehe ich aber nicht. Die Fragen stellte Wolfgang Quaisser

Akademie-Report 4/2014 31 China – die gebremste Supermacht?

ie Volksrepublik China steht vor gewaltigen außen- und nen eine geordnete Freiheit unmög- wirtschaftspolitischen Herausforderungen: Territorialdis- lich machen. Die Parteikongresse vor Dpute mit Nachbarstaaten, Abhängigkeit von Rohstoffim- einem Regierungswechsel bestimmen porten, innere Unruhen, Arbeitslosigkeit, Inflation und Umwelt- die Politik der folgenden beiden Re- zerstörung. Kann der „chinesische Traum“ die Bevölkerung über- gierungsperioden maßgeblich. Die zeugen? Bleibt China regionale Großmacht oder ist es auf dem Weg zur neuen Supermacht?

Hans van Ess, Sinologe an der Uni- und soziale Ungleichgewichte abzu- versität München, erläuterte Konti- fangen. Van Ess betonte, dass diese nuitäten in der chinesischen Macht- Identitätskonstruktion an Konfuzia- kultur. Die Tradition chinesischer Kai- nische Tradition anknüpft. ser, Regierungsdevisen auszurufen, wurde von Staats- und Regierungs- Im Gegensatz zu früheren Regierungs- chefs der Volksrepublik fortgeführt devisen, die den erfolgreichen sozia- listischen Vielvölkerstaat propagier- ten, schließen Rückgriffe auf Konfu- zius allerdings chinesische Minderhei- ten (Mongolen, Mandschus, Tibeter) Nele Noesselt: relativ freie Diskus- aus. „Der chinesische Traum“ des neu- sion über wirtschafts- und gesell- en chinesischen Präsidenten Xi Jinping schaftspolitische Themen erlaubt ebenfalls den Rückblick auf historische Vorbilder und lässt bemer- unausgewogene Entwicklung, die so- kenswert großen Interpretationsspiel- zialen Ungleichgewichte und die Ent- raum. Im Zentrum der Aufmerksamkeit fremdung zwischen Partei und Bevöl- der politischen Führung steht im Chi- kerung zwingen die Führung der Kom- na des 21. Jahrhunderts eine „neue“ munistischen Partei in China, sich Kri- Klasse: Chinas Mittelschicht. tik zu stellen. Hans van Ess: Mittelschicht im Zentrum der politischen Aufmerk- Reformen zur Die neue Führungsgeneration in Chi- samkeit na nimmt Reformen als notwendiges Systemstabilisierung Element der Systemstabilisierung ernst und findet sich auch im heutigen Chi- und erlaubt eine relativ freie Diskus- na. Nach Deng Xiaopings „Vier Mo- Nele Noesselt vom Institut für Asien- sion über wirtschafts- und gesell- dernisierungen“ (der Landwirtschaft, kunde des Global Institute of Global schaftspolitische Themen. Zentralre- der Industrie, der Wissenschaft und and Area Studies (GIGA) in Hamburg gierung und Parteiführung sind in des Militärs) in den 1980er Jahren ent- erläuterte gesellschaftspolitische De- (Internet-)Debatten über die Korrup- wickelte Präsident Jiang Zemin (1993 batten in China. tionsbekämpfung allerdings tabu: bis 2003) die „Drei Repräsentativen“: Korruption darf nur auf lokaler und Die Kommunistische Partei Chinas Die chinesische Gesellschaft ist frag- Provinzebene diskutiert werden. Das vertritt die fortschrittlichen Produktiv- mentiert, gilt als hybride Gesellschaft Politbüro der KP bleibt über und au- kräfte (einschl. Unternehmer), die fort- mit vielen und neuen Akteursgruppen. ßerhalb des Rechtssystems. schrittliche Kultur und die Interessen Die Beobachtung der Internetaktivität der Mehrheit der chinesischen Bevöl- ist eine Methode, um die Vielschich- Chinas Zukunftsfähigkeit, so Noes- kerung. tigkeit der Gesellschaft abzubilden. Die selt, würde durch Maßnahmen wie Gestaltung der Politik wird durch Dis- eine Reform der Bodennutzungsrech- Unter Präsident Hu Jintao (2003 bis kussionen in der politischen Führung te, die Korruptionsbekämpfung und 2013) lautete das Regierungsmotto geprägt. Hier, so Noesselt, ist der Um- eine Stärkung des Rechtsystems ge- „Harmonische Gesellschaft“. Im Hin- gang mit Freiheits- und Revolutions- stärkt. Kosten und Aufgaben dürften tergrund stand die Notwendigkeit theorien entscheidend, wonach meh- allerdings nicht an Kommunen und wachsende gesellschaftliche Risse rere aufeinander folgende Revolutio- Städte abgewälzt werden. 

32 Akademie-Report 4/2014 Nicht-Intervention und lich verwendet. Außenpolitisch spielt Wachstum? Ist eine Umstrukturierung Multipolarität der Sozialismus keine Rolle, es werden nicht notwendiger, fragte Taube. Chi- konfuzianische Elemente kommuni- nas demographische Dividende wird Die Entwicklung konkurrierender Ord- ziert. China sieht sich als neuer Typ zur Bürde: Die erwerbsfähige Bevölke- nungsvorstellungen hat in der Volks- von Großstaats-Akteur, der auf Nicht- rung sinkt, die Arbeitskosten steigen. republik China Tradition. Auf die Über- Intervention und Multipolarität be- China sei nicht mehr die „Werkbank nahme sowjetischer Modelle folgte die steht. der Welt“, das Wirtschaftsmodell müs- „Sinisierung“ verschiedener sozialisti- se geändert werden. Der Abbau von scher Theorien durch Mao. Nach 1978 Markus Taube (Universität Duisburg- Überkapazitäten und von fehlgeleite- stellte sich die Notwendigkeit, „China Essen) betrachtet die Wachstums- ten Neuinvestitionen ist eine notwen- in der Welt zu verorten“ so Noesselt. schwelle in China kritisch: „Die Welt dige Maßnahme. Allerdings funktio- Die Beschäftigung mit westlichen geht nicht unter, wenn Chinas Wirt- niere es nicht, Druck auf lokale Ver- Konzepten der internationalen Politik schaftswachstum unter sieben oder waltungen und Provinzregierungen führte zu Identitätsfragen und der Not- sechs Prozent sinkt, auch nicht, wenn auszuüben. Die Angst um Arbeits- wendigkeit, ein eigenes chinesisches die USA nicht mehr die größte Volks- plätze sei zu groß. Die Zentralregie- Theoriesystem zu entwickeln. Beispie- wirtschaft sind.“ Ein Grund sei die rung müsste Milliardensummen in die le sind der „Friedliche Aufstieg“ eines Bevölkerungsentwicklung: Bald brau- Provinzen pumpen. sozialistischen Staats in einer globalen che China kein zusätzliches Wachs- Es sei nicht zu verhindern, dass China Welt und die konfuzianisch inspirier- tum, um zusätzliche Arbeitsplätze zu langsamer wächst, so Taube. Die Ent- ten Handlungskonzepte der „Harmo- schaffen. Nach der internationalen wicklung neuer und eigener Modelle nischen Gesellschaft“. Verschiedene Wirtschaftskrise brachte die Erholung und Institutionen sei notwendig, aber Rollen und Identitätsebenen werden 2010 eine reduzierte Wachstumsdyna- mit hohen ökonomischen und gesell- nach außen und innen unterschied- mik. Braucht China aber dieses hohe schaftlichen Kosten verbunden.  Saskia Hieber

Die Gewichte in der Weltwirtschaft werden sich in den kommenden fünfzig Jahren drastisch verschieben. China und Indien werden den Rest der Welt abhängen, die derzeitigen Wirtschaftsriesen wie die USA und Deutschland werden auf hintere Plätze verwiesen

Akademie-Report 4/2014 33 Neue Konjunktur alter Werte Michael Spieker war auf dem Konfuzius-Kongress in Peking

onfuzius ist im Kommen. Stand er im kommunistischen sprach mit Xi Jinping ein Staatsprä- China zunächst als Chiffre für feudale Traditionen und ver- sident zu solch einem Ereignis. Auf- Kknöcherte Verhältnisse, die überwunden werden sollten, merksame Beobachter registrierten so wird der „Konfuzianismus“ seit nun schon 30 Jahren zuneh- sogleich, dass er seine Rede strecken- mend als Topos für die kulturelle Eigenart und Größe Chinas weise sogar frei hielt, woraus sie auf propagiert. Ein Zeugnis dessen sind die in der ganzen Welt durch die Ernsthaftigkeit des Bezugs auf Konfuzius schlossen. die chinesische Regierung geförderten Konfuzius-Institute. In Deutschland als sogenannte „An-Institute“ an Universitäten an- „Wegweisende Worte“ gegliedert dienen sie dem Erlernen der chinesischen Sprache und der Vermittlung chinesischer Kultur. Sie erfüllen aber auch ein Sämtliche chinesischen Medien be- eindeutiges machtpolitisches Interesse der chinesischen Regie- richteten ausführlich über die „weg- rung, denn sie sollen China zum Wachstum seiner „soft power“ weisenden Worte des Führers“ und verhelfen. Als „soft power“ beschrieb der amerikanische Politik- in den Abendnachrichten war die Re- wissenschaftler Joseph Nye die Fähigkeit, den eigenen Willen statt de die erste Nachricht. Auch in den durch Zwang oder Bezahlung durch Attraktivität durchzusetzen. Beiträgen der chinesischen Teilneh- mer des Kongresses waren in den kommenden Tagen die Bezugnahmen auf die „wahren und tiefen Worte“ Auch auf wissenschaftlichem Niveau sophie statt. In diesem Zusammen- des „klugen Führers“ zahlreich. Ein wird die Auseinandersetzung mit der hang reiste Michael Spieker nach Pe- seit vielen Jahren überall in China pro- konfuzianischen Tradition wieder ge- king und Qufu, den Geburtsort des pagiertes Leitwort spielte darin eine fördert. Die Kulturrevolution hatte Konfuzius. tragende Rolle: die Harmonie, welche nahezu die gesamte Gelehr- freilich in der Realität oft samkeit ausgelöscht, offi- eher erzwungen als gefördert zielle Staats- und Parteiver- wird. öffentlichungen nennen dies inzwischen einen Fehler. Im In Xi Jinpings Rede wurde sie Zuge der wirtschaftlichen in der Form der universellen Erstarkung und der offen- Verwandtschaft aller Men- sichtlich werdenden sozialen schen und als Recht eines Probleme Chinas gibt es nun jeden Volkes auf eine selbst- eine neue Aufmerksamkeit bestimmte kulturelle Entwick- auf vergessene oder lange lung angesprochen. Zugleich Zeit bekämpfte Traditionen – stellte er klar, dass „die Werte beziehungsweise auf aktua- des chinesischen Volkes, die lisierungsfähige Ausschnit- tief im fruchtbaren Boden der te daraus. traditionellen Kultur Chinas wurzeln“, nun ihren Aus- Präsidiale druck in der Chinesischen Aufmerksamkeit Kommunistischen Partei fän- den. So konstruierte er einer- Ende September fand in Pe- seits eine ungebrochene Tra- king die 5. internationale Ta- ditionskette und zugleich den gung zum Gedenken an den Der chinesische Traum extraterrestrisch: Jang Zemin Alleinvertretungsanspruch Geburtstag Konfuzius’ statt, beim Gruß in Richtung Weltraum der Kommunistischen Partei. die zugleich der 5. Kongress Das erscheint nötig, da die der International Confucian Associa- Die herausragende Bedeutung der kon- konfuzianische Tradition sich durch- tion war. Seit drei Jahren findet in Tut- fuzianischen Tradition für die offizielle aus auch als Reservoir für Kritik am zing ein regelmäßiger Austausch über Identität Chinas wurde bereits am An- gegenwärtigen Zustand des chinesi- die deutsche und chinesische Philo- fang des Kongresses deutlich. Erstmals schen Staates eignet. Zudem wird die

34 Akademie-Report 4/2014 konfuzianische Moralphilosophie als nächst unverstanden Erlernte erin- Seiten respektierter Wissenschaftler, Mittel gegen eine weithin wahrgenom- nern. Als private Institutionen firmie- die offenbar allesamt ohne eigene mene moralische Leere empfohlen. Im rend, sind derartige Einrichtungen Kenntnis der Vielfältigkeit der abend- rasanten Wandel der chinesischen gleichsam Experimentierfelder der ländischen Tradition sprachen. Denn Gesellschaft haben sich auch die Wer- staatlichen Erziehungspolitik, in de- so sehr es solche Reduktionismen im te deutlich verändert. nen erkundet wird, was sich auch für Westen immer gab, so war auch immer Wo man noch vor 30 Jahren in nach- die breite Masse eignet. So sind mitt- die Kritik daran lebendig. Wie auch der barschaftlich eng eingebundenen fa- lerweile auch wieder Texte aus den Konfuzianismus keineswegs monoli- miliären Zusammenhängen lebte, da Klassikern in die chinesischen Schul- thisch verfasst ist und beispielsweise sind die jungen Menschen nun fort- bücher eingezogen. Während man die Rede von der Harmonie nur ein gezogen und besuchen ihre Eltern nur noch vor 30 Jahren das Lesen anhand Ausschnitt einer Lehre ist, die ebenso noch einmal im Jahr. In Peking ist die- von Sätzen wie „Ich liebe den Tianan- den Streit und die Notwendigkeit kann- ser Wandel schon an der veränderten men-Platz“ erlernte. te, an Prinzipien der Gerechtigkeit auch Siedlungsform augenfällig. Statt klein- gegen alle Widerstände festzuhalten. teilig strukturierter Hutongs prägen Östlicher Hochhäuser das Stadtbild. Auf dem Reduktionismus Das macht umso deutlicher, wie wich- Land bleiben in den Dörfern oft nur tig der Austausch zwischen chinesi- noch die Alten zurück. Die Fachkonferenz in Peking, zu der schen Philosophen und solchen, die auch eine Reise zur Verehrung des im Reichtum der westlichen Tradition Wertewandel – Konfuzius in dessen Heimatort Qufu verwurzelt sind, ist. So konnte einige Werteverfall? gehörte, zeigte freilich auch die an- Monate zuvor auf der Tutzinger Ta-

Auch das wirtschaftliche Wachstum und die Anziehungskraft westlicher Konsum- und Lebensmuster tragen ihren Teil zum Wandel bei. Innerhalb des politischen Systems ist schließlich die weitverbreitete und teils extreme Korruption ein Ausdruck der prekären Situation. Gegen all das sollen nun „konfuzianische Werte“ helfen.

Jenseits der Sonntagsreden gibt es aber auch eine kleine, doch nicht we- nig einflussreiche Bewegung der prak- tischen Rückbesinnung auf Werte und Praktiken des Konfuzianismus. Ein Beispiel dafür ist die Sihai Confu- cius Academy im Nordosten Pekings. Sie war im Juli auch der Kooperations- partner der Tutzinger Tagung über Im Konfuzius-Tempel von Qufu wurde der 2665. Geburtstag mit einer gro- „Methoden in der deutschen und chi- ßen Zeremonie begangen Fotos: Spieker nesischen Philosophie“.

Diese Akademie bietet eine sehr tradi- dere Seite der Suche nach einer neu- gung in wesentlich differenzierterer tionelle konfuzianische Erziehung für alten kulturellen Identität Chinas: Weise über die Verwandtschaft westli- 3- bis 14-jährige Kinder an und fördert nämlich den Versuch der deutlichen chen und östlichen Denkens gespro- die Erforschung des Konfuzianismus. Abgrenzung. So war in vielen Vorträ- chen werden. Als besonders fruchtbar Im Mittelpunkt der schulischen Erzie- gen von dem Unterschied der harmo- erwies sich dazu die Tradition einer hung steht das Erlernen des klassi- nischen chinesischen zu einer zerstrit- dialektisch verstandenen Vernunft, die schen Kanons. Schon die Kleinsten tenen westlichen Kultur die Rede. sich dadurch auszeichnet, dass sie lernen Stück für Stück auswendig, auch im Unterschied die Einheitlich- was vom Meister Konfuzius überliefert Östliche Ganzheitlichkeit wurde dem keit zu erkennen vermag.  ist. Daneben werden Kalligraphie und westlichen Reduktionismus und der Michael Spieker auch praktische Tätigkeiten wie der dortigen Trennung von Geist und (ökologische) Landbau erlernt. Man Materie entgegengestellt und die kon- hofft dadurch Charaktere zu bilden, fuzianischen Klassiker wurden als die sich im späteren Leben an das zu- Heilmittel empfohlen. Dies alles von

Akademie-Report 4/2014 35 Umdenken bei der transatlantischen Sicherheitspolitik Anja Opitz bei einem internationalen Besuchsprogramm in den USA

twa 4500 internationale Führungskräfte aus dem Bereich sere Akademie – die Wissenschaft. Sicherheit und Verteidigung werden jährlich von den Dadurch entstanden nicht nur leb- EDiplomatischen Vertretungen der USA zu einer mehrwö- hafte und tiefgründige Gespräche chigen Reise über die zentralen sicherheitspolitischen Heraus- und Diskussionen, sondern auch ein forderungen der Gegenwart eingeladen. Mehr als 320 aktuelle Netzwerk für künftige internationale Projekte. und ehemalige Staats- und Regierungschefs sowie Spitzenper- sonal des öffentlichen und privaten Sektors nahmen bereits an Weckruf für Europa diesem Programm (International Visitor Leadership Program (IVLP)) teil. Im Juni 2014 war unsere wissenschaftliche Mitarbei- Die wohl spannendste Frage während terin Anja Opitz, die in der Akademie das Themenfeld Internatio- der beiden ersten Etappen der Reise nale Politik betreut, dabei. in Washington D.C. und New York war jene nach der Beschaffenheit des transatlantischen Verhältnisses Das Programm wurde 1940 gegründet ischen Teilnehmer durch insgesamt und den Konsequenzen der Neuaus- und zielt auf ein wechselseitiges Ver- sechs Städte: Washington D.C. (Dis- richtung U.S.-amerikanischer Außen- ständnis zwischen den USA und ihren trict of Columbia), New York (New politik für die Europäische Union. Partnern über gemeinsame Themen York), Norfolk (Virginia), San Diego wie Energiesicherheit, Terrorismusbe- (California), Atlanta (Georgia) und In Gesprächen mit Vertretern des kämpfung, Konflikte und Demokrati- Tampa Bay (Florida). Die Gruppe reprä- Außen- und des Verteidigungsmi- sierungswellen im Nahen und Mittle- sentierte die Europäische Union in nisteriums wurde schnell deutlich, ren Osten, die Beziehungen zu Russ- ihrer Vielfalt, denn die Teilnehmer dass es sich bei dem von Obama ver- land und China oder die transatlanti- kamen aus den Ländern Bosnien-Her- kündeten „pivot to Asia“ um eine ge- sche Sicherheitsarchitektur. zegowina, Bulgarien, Kroatien, Finn- meinsame, von den USA und Europa land, Malta, Norwegen, Polen, Slowe- getragene Verlagerung außenpoliti- In diesem Juni führte das IVLP-Pro- nien, Spanien, Schweden, Großbritan- scher Schwerpunkte in den asiatisch- gramm mit dem Schwerpunkt „U.S.- nien sowie aus Deutschland und deck- pazifischen Raum handeln solle. Die European Security Issues. A Regional ten ein breites Expertenspektrum ab: Obama-Administration sieht in der Project for Europe“ die zwölf europä- Politik, Diplomatie und – durch un- transatlantischen Gemeinschaft das Zentrum im Umgang mit den heutigen globalen sicherheitspolitischen He- rausforderungen. Einen wichtigen Grund dafür stellen die massiven Kürzungen im U.S.-Verteidigungs- haushalt dar, die Obama durch den Senat auferlegt bekam. Sie erfordern ein Umdenken hin zu gemeinsam ge- tragenen und finanzierten Projekten in der Sicherheitspolitik. Aus dieser Perspektive heraus wird nicht nur der NATO wieder mehr Gewicht zugesprochen, sondern auch der Europäischen Union und hier im Besonderen der Gemeinsamen Sicher- heits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP). Denn diese zeichnet sich gegenüber dem Militärbündnis NATO Die Teilnehmer des IVLP Programms bei ihrer Home Hospitality durch eine weltweit einzigartige Beson- Foto: privat derheit aus: Die Europäische Union

36 Akademie-Report 4/2014 verfügt sowohl über ein militärisches, Norfolk, einem der beiden strategi- satzkräfte mit besonderen Fähigkei- als auch über ein zivil-polizeiliches schen Hauptquartiere der NATO, be- ten aufzubauen, die in jeder Phase Instrumentarium gemeinsam unter ei- stätigte dieses Bild und zeigte Ge- eines Konfliktes einsatzbar wären und nem Dach. Die USA zeigen großes In- meinsamkeiten im Planungsprozess damit ein ziviles und militärisches teresse an den Missionen und Opera- zwischen EU und NATO sowie Raum Spektrum abdecken könnten. tionen der EU, denn ihre spezifische für funktionale Kooperationen auf. zivil-militärische Schnittstelle gibt es Ein Vorbild wolle man sich hier an der in dieser Form in den USA nicht. Synergien schaffen EU nehmen und zugleich eng mit den europäischen Staaten zusammenar- Auf Stärken besinnen So wie die Europäische Union in ih- beiten. Das Ziel müsse es sein, ineffi- rer Sicherheitsstrategie ein Handeln ziente Strukturen und Duplikationen Ein derartiger umfassender Ansatz für in einem multilateralen Rahmen for- zugunsten notwendiger Elemente – die Konfliktbearbeitung könnte aber dert, unterstützt auch die NATO den wie zum Beispiel Programme zum zu einem neuen außenpolitischen Pro- Aufbau gemeinsamer Fähigkeiten Aufbau von rechtsstaatlichen Struk- fil der USA heranwachsen. Hier kön- zwischen der NATO, der EU und den turen in einem Krisenland – abzu- nen sich für die Zukunft nachhaltige Vereinten Nationen. Im Vorfeld des bauen. Da die internationale Sicher- Synergien ergeben, und zwar genau dann, wenn beide Institutionen, NATO und GSVP, zu einem ge- meinsamen Planungspro- zess gelangen. Vor allem die verschiedenen Instru- mentarien der EU-Außen- beziehungen werden in den USA als starke Fä- higkeit betrachtet. So ent- deckte Washington im Zuge der Ukraine-Krise in der Sanktionspolitik ein neues Instrument für die eigenen externen Be- ziehungen. Die EU nahm hier eine Vorbildfunktion ein, die zu einem verstärk- ten Interesse der USA an der europäischen Außen- Das Pentagon: Sitz des US-Verteidigungsministeriums politik führte. Foto: David B. Gleason / wikimedia commons

Einem zentralen Wunsch an den Part- NATO-Gipfels 2014 in Wales wurde heitslage jedoch immer diffuser und ner Europa wurde in Washington daher ein Lessons-Learnt-Prozess auf dynamischer wird, könne sich die und New York daher mehr als deut- den Weg gebracht, der die letzten EU nicht länger ausschließlich auf lich Nachdruck verliehen: Die Euro- zwanzig Jahre evaluieren und aus die- die USA oder die NATO verlassen. päer sollten aufhören, allzu oft das sen Ergebnissen gemeinsame strate- Sie ist einmal mehr gefordert, das Negative an Europa und der EU her- gische Handlungsfelder ableiten soll- Konzept des Multilateralismus effek- vorzuheben. Vielmehr sei es an der te, für die man entsprechende Syner- tiv umzusetzen und gleichwohl die Zeit, sich auf seine Stärken zu konzen- gien aufbauen und nutzen könnte. Unterstützung von internationalen trieren und diese auszubauen. Das Partnern zuzulassen. Insofern kann gestärkte außenpolitische Profil der Globales Netzwerk der U.S.-amerikanische „pivot to Asia“ EU, welches sie sich global vor allem von den Europäern auch als Auffor- durch ihr Handeln in der Ukraine- Welche Kooperationsfelder sind denk- derung verstanden werden: als Ruf Krise erarbeitete, wird sehr wohl wahr- bar? Diese Frage konnte bei einem nach einem „pivot to reality“ für die genommen und respektiert. Besuch des United States Special Europäische Union.  Operations Command in Tampa Bay Anja Opitz Damit wird die EU immer mehr auch zu diskutiert werden. Ebenso wie die einem strategischen Partner für die Europäische Union im Rahmen ihrer NATO. Ein Besuch im NATO-Allied GSVP arbeiten auch die USA daran, Command Transformation (ATC) in ein Netzwerk für kombinierte Ein-

Akademie-Report 4/2014 37 Polarisierung im Kongress führt zur Funktionsunfähigkeit Können die USA noch ein Vorbild sein?

uch wenn das Verhältnis zwischen den USA und der Bun- verkommen sei. Obama bedauerte, desrepublik schon einmal besser war als unter den gegen- dass Demokraten und Republikaner Awärtigen Bedingungen der verschiedenen Ausspähaffären: keine gemeinsamen Entscheidungen Die Vereinigten Staaten von Amerika faszinieren Politikwissen- mehr bei der Lösung zentraler Pro- schaftler wegen ihrer politischen Stabilität, des ökonomischen bleme finden. Bei allen wichtigen Themen – Haushalt, Verschuldung, Erfolgs und der kulturellen Anziehungskraft. Auch wenn sich das Einwanderung und Sozialpolitik – Land gegenwärtig verstärkt mit innenpolitischen Problemen kon- werden gegensätzliche Positionen frontiert sieht, gelten die USA als modernstes Land der Welt, das eingenommen. Keine Seite ist zu Zu- enorme Selbstheilungskräfte besitzt. Der Weg der USA aus der geständnissen bereit. Politikwissen- Finanzkrise von 2008 und die mittlerweile einsetzende Erholung schaftler sprechen inzwischen von der Konjunktur zeigen das eindrucksvoll. einem „political gridlock“ (Stillstand, Kollaps).

Deswegen trug das Symposium zu rungsreform und das Verhältnis zwi- Die Anzahl der verabschiedeten Ge- Ehren des scheidenden Direktors der schen den USA als Supermacht und setze durch den Kongress ist so ge- Atlantischen Akademie Rheinland- dem Aufsteigerland China. ring wie nie zuvor in der US-amerika- Pfalz e.V., Wolfgang Tönnesmann, den Titel „Lessons from America. Was wir politikwissenschaftlich von den USA lernen können“. Es ging um die Frage, inwieweit die USA aus politikwissen- schaftlicher Perspektive noch eine Vorbildfunktion für Deutschland ein- nehmen. Nicht nur im Hinblick auf die aktuellen Spionageskandale durch US-amerikanische Geheimdienste er- scheint diese Frage interessant. Auch im Kontext der internationalen Bezie- hungen erscheint es zunehmend frag- lich, ob der globale Führungsanspruch der USA noch gerechtfertigt ist und welche Folgen die innenpolitischen Entwicklungen in den USA für die transatlantische Partnerschaft mit der Bundesrepublik haben. Präsident Obamas Vermittlungskompetenz wird eher schlecht beurteilt Kompromiss ein Foto: White House/Wikimedia commons „dirty word“ Schwerpunkt der Analyse war die Su- nischen Geschichte. Der zweiwöchige USA-Experten aus ganz Deutschland che nach den Ursachen der steigen- „government-shutdown“ im Oktober versammelten sich an der Akademie, den Polarisierung der US-amerikani- 2013 veranschaulichte das Problem um über Einzelaspekte des Themas zu schen Parteien und deren Auswirkung eindrucksvoll. Da sich die beiden Par- sprechen. So ging es um die zuneh- auf die Funktionsfähigkeit des politi- teien nicht auf die Verabschiedung mende Polarisierung der Republikaner schen Systems. Bezeichnend ist eine eines neuen Haushaltsplanes und die und Demokraten im Kongress, den Rede des US-Präsidenten Obama aus Erhöhung der Schuldenobergrenze Kampf der USA gegen den internatio- dem Jahr 2011. Darin beklagte er, dass einigen konnten, mussten die meisten nalen Terrorismus, die US-amerikani- der Kompromiss unter Politikern in Bundesbehörden für über zwei Wo- sche Wohlfahrtspolitik, die Einwande- Washington zu einem „dirty word“ chen ihre Arbeit einstellen. Ein Grund

38 Akademie-Report 4/2014 für solche Blockaden des politischen en steigt. Das Abstimmungsverhalten zwischen den Parteien gegenüber, die Systems ist in der strikten Gewalten- der Kongressmitglieder orientiert sich durch die Überrepräsentation einzel- teilung („checks and balances“) zu neuerdings viel stärker entlang der ner politischer Aktivisten oder Grup- sehen. Dies trifft besonders auf die Parteilinien als in der Vergangenheit. pierungen innerhalb der Parteien be- aktuelle parteipolitische Konstellation Eine Mehrheitsfindung durch den Prä- dingt ist. zu („divided government“): Obamas sidenten wird durch die fehlende Be- Demokraten stellen nicht die Mehrheit reitschaft von einzelnen Abgeordne- Daneben gibt es weitere Gründe für im Repräsentantenhaus. ten der Republikaner, über Parteigren- die Erklärung der aktuellen Situation. zen hinweg Gesetzesvorhaben zu un- So die als schlecht beurteilte Vermitt- Kollaps und Blockade terstützen, massiv erschwert. lungskompetenz des Präsidenten. Er kann die streitenden Parteien nicht an Normalerweise lässt sich diese partei- Unter Politikwissenschaftlern ist die- den Verhandlungstisch bringen und politische Teilung der Exekutive und ses Konzept der Polarisierung umstrit- vom beiderseitigen Gewinn der Zu- Legislative durch parteiübergreifende ten. Der empirische Nachweis der be- sammenarbeit überzeugen. Oder die Zusammenarbeit überwinden. Die Par- schriebenen Entwicklung fehlt noch. Blockadehaltung einzelner Senato- teien in den USA sind – anders als in In der Bevölkerung lassen sich kaum ren, die ein Scheitern des Präsidenten Deutschland – mehr lose Wahlver- Polarisierungstendenzen feststellen, ohne Rücksichtnahme auf die Folgen eine als straffe Zusammenschlüsse. die nicht bereits vor dem „gridlock“ in Kauf nehmen. Auch der Einfluss Es gibt keine Fraktionsdisziplin. Jün- bestanden. Studien lassen zudem ver- der Wahlkampfkomitees (Super- gere politikwissenschaftliche Unter- muten, dass die Polarisierung inner- PACs), die durch finanzstarke Spen- suchungen zeigen allerdings, dass die halb von Parteien zurückgeht. Dem der unterstützt werden, darf nicht Geschlossenheit innerhalb der Partei- steht die ideologische Polarisierung vernachlässigt werden.  Anja Opitz/Christoph Scholl

Holocaust und DDR-Geschichte als Schwerpunkte Volker Benkert kommt für ein halbes Jahr an die Akademie

nser Zeithistoriker Michael Mayer wird das erste Halb- habe ich meine Frau kennengelernt. jahr 2015 auf Einladung der Arizona State University als Sie ist Amerikanerin und Chemikerin UVisiting Fellow in Phoenix (USA) verbringen. Dort wird er und wir sind beide in die USA gegan- an seinem Forschungsprojekt „Democratization and Emotionali- gen. Dort konnte ich Prof. Konrad Ja- zation of Democracy in West- and the USA from 1949 rausch als Doktorvater gewinnen. Er until 1990“ arbeiten. Daneben wird er ein Seminar mit dem Titel arbeitet an der Universität von Chapel Hill (North Carolina) und an der Uni- „Total War and the Crisis of Modernity“ halten. Von Januar bis versität . An der Arizona Sta- Juli 2015 wird Mayer von Volker Benkert (43) vertreten, der in te University sind meine Frau und ich Frankfurt am Main geboren wurde und zuletzt acht Jahre an der seit sieben Jahren. Arizona State University als Lecturer gearbeitet hat. Wir stellen den neuen Kollegen im Interview vor. Gab es im Studium schon Schwer- punkte? Auf jeden Fall die DDR-Geschichte. Akademie-Report: Wo haben Sie Ihre Haus der Geschichte in Bonn und Darüber habe ich auch meine Exa- Ausbildung begonnen? im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig mensarbeit geschrieben. Über das gearbeitet. Benkert: Ich bin in Darmstadt zur Haus der Geschichte hatte ich die Möglichkeit, am Zeitgeschichtlichen Schule gegangen. Danach habe ich in Wie ging es dann weiter? Marburg und Bonn Zeitgeschichte Forum in Leipzig zu arbeiten. Von dort und Englisch studiert. Zwischendurch Ich hatte eine Stelle an der Universität konnte ich immer rüber zur „Runden war ich immer wieder zum Studium im Bonn, um an der Promotion zu arbei- Ecke“ gehen. Das war das ehemali- Ausland – in Russland, in Schottland ten. Mein Doktorvater Uwe Arnold ge Stasi-Hauptquartier und ist heute und in der Schweiz. Insgesamt zwei ging dann aber früher in Pension als eine Gedenkstätte. Während dieser Jahre. Nach dem Examen habe ich am erwartet. Über die Humboldt-Stiftung Zeit entstand auch mein Dissertations- 

Akademie-Report 4/2014 39 thema: Wie haben Leute, die um 1970 Ihre jetzige Tätigkeit passt ja auch Was reizt Sie an der Arbeit in Tutzing? in der DDR geboren wurden, die Jahre gut zur Arbeit, die Sie hier in der Aka- Die Tagungen und Konferenzen sind nach 1989 und den Transformations- demie erwartet. toll. Für mich ist es eine Riesenmög- prozess erlebt? Ich finde die besonders Ja, ich mache gerne Holocaust-For- lichkeit, wieder mit deutschen Kolle- interessant, weil sie ihre Sozialisation schung, bin aber auch in der DDR- gen in Kontakt zu kommen. noch in der DDR bekommen haben und Geschichte zuhause. dann mit dem Sprung ins neue System Geht die Familie mit nach Deutsch- konfrontiert wurden. Gibt es noch ein anderes Lieblings- land? thema? Wie sieht Ihre jetzige Tätigkeit aus? Meine Frau kommt zusammen mit In den USA nennen wir das Memory unseren zwei Kindern – zwei Jungs, Als Lecturer muss ich viel unterrich- Studies. Das ist die Beschäftigung mit 8 und 6 Jahre alt. Die gehen dann hier ten. Daneben habe ich die Möglich- Gedenkkultur; nicht nur, aber auch in in die Grundschule in Starnberg. Der- keit ein neues Holocaust-Museum, den Medien. zeit ist meine Frau noch in Marseille. das gerade gebaut wird, zu beraten. Und ich arbeite an der Schlussphase Wie kam es zu der Bekanntschaft mit Gibt es für die Kinder ein Sprach- meiner Dissertation an der Universität unserem Kollegen Michael Mayer? problem? Potsdam. Sie wird wohl zum 25. Jahr Er hatte mich im letzten Jahr zu einer Nein, die sind zweisprachig aufge- der Deutschen Einheit erscheinen. Tagung nach Tutzing als Referenten wachsen. Mein Ältester war schon ein eingeladen. Vorher kannten wir uns halbes Jahr in Hessen auf der Schule. nicht. Er war danach zu einem Vortrag Kennen Sie sich schon ein bisschen auf der German Studies Conference in aus in Tutzing und Umgebung? Denver. Damals entstand die Idee des Jobtauschs. Wir waren schon in Andechs und ha- ben die Romantische Straße und Neu- Ist Bayern Neuland für Sie? schwanstein besichtigt.  Ich muss gestehen: Bayern ist Neu- land. Ich war vorher noch nie hier. Das Gespräch führte Michael Schröder

Volker Benkert ersetzt im ersten Halbjahr 2015 unseren Zeithistori- Fundierte Beiträge und Berichte ker Michael Mayer, der für ein hal- bes Jahr in die USA geht Immer wieder lese ich mit großem nur begrüßenswert, sondern auch Foto: Prume Interesse Ihren Akademie-Report. durchaus plausibel, denn immerhin Nicht nur die spannenden und in- können sich die Uni-Kollegen dort Was unterscheidet den Wissenschafts- haltlich fundierten Beiträge bzw. an einschlägigen US-amerikani- betrieb in den USA vom deutschen? Tagungsberichte sind es, die ich schen Diskurs- und Praxisvorbil- würdigen möchte, sondern auch dern orientieren, nämlich an den Der Markt ist viel größer. Das ist ein die eine und andere Karikatur: Bei- civic-education-Diskursen und Riesenunterschied. Es ist viel leichter, spielhaft finde ich die gelungene -Praxen, die experiential learning eine Stelle zu bekommen. satirische Kommentierung des öf- seit den 1980er Jahren insbeson- Unbegrenzte Möglichkeiten? fentlichen Diskurses zur sog. Infor- dere mit Bezugnahme auf die „Ur- mationsgesellschaft (Tomaschoff- väter“ dieser Lernstrategie, John Manchmal. An guten Tagen. Zeichnung, Report 3-14, S. 3). Dewey und David A. Kolb etc., Was fasziniert Sie dort noch? thematisiert bzw. praktiziert haben. Mit besonderem Interesse habe Die Flexibilität der Lehrenden hat mich ich zudem den Hinweis von Herrn Bleibt zu hoffen, dass, nachdem beeindruckt. Manche sind sehr breit Curren in dem von Herrn Spieker auch hierzulande die Strategie des aufgestellt. Das wäre in Deutschland verfassten Tagungsbericht „Welche erfahrungsorientierten Politik- bzw. so nicht möglich. Hier ist alles spezia- Bildung wollen wir?“ (S. 25 f.) zur Partizipationslernens – wenn auch lisierter und enger. Kenntnis genommen, dass die Uni- sehr zögerlich und kleinschrittig – versität Rochester, NY beabsichti- immerhin Eingang in die schulbe- Sind die US-Professoren mehr Gene- ge, künftig verstärkt „das Erlernen zogenen Politikdidaktik-Diskurse ralisten? der für weltweite Verantwortungs- findet, irgendwann einmal auch die Genau. Sie müssen sehr breit unter- übernahme notwendigen Kompe- Universitäten, zumindest deren Leh- richten und sie publizieren auch so. tenzen auf dem Wege des ‚Experi- rerausbildungsgänge, erreicht.  Ich finde das Review-System sehr gut. ential Learning‘ zu ermöglichen“. Dr. F. Klaus Koopmann Das ist oft hilfreiche Kritik an geplan- Diese Intention erscheint mir nicht Universität Bremen ten Publikationen.

40 Akademie-Report 4/2014 Intensivierung der Politischen Bildung im Vordergrund

eit September 2014 arbeitet die Studienrätin Barbara Weis- Ich unterrichte ja nach wie vor auch haupt (33) als abgeordnete Lehrkraft zunächst befristet für noch an der Schule. Sein Jahr an der Akademie. Sie betreut schulbezogene Pro- Vermissen Sie die Schule? jekte und kümmert sich um das Themenfeld Bildungspolitik. Wir sprachen mit der neuen Kollegin, die in Regensburg Englisch und Ich vermisse den Kontakt mit meinen Sozialkunde studiert hat. Schülern über den Unterricht hinaus. Ich bin jetzt leider nicht mehr Verbin- dungslehrerin und habe mein Begab- tenförderprogramm abgegeben. Akademie-Report: Wo sind sie aufge- Was waren in der Schule Ihre Lieb- wachsen und zur Schule gegangen? lingsfächer? Was ist an der Arbeit hier besonders reizvoll? Weishaupt: Aufgewachsen bin ich auf Deutsch und Englisch. Wir hatten gar einem Pferdehof in Jettingen, zwischen keine Sozialkunde. Nur Geschichte, weil Die Freiheit an der Akademie finde ich Augsburg und Ulm. Und Abitur habe es keine Lehrer gab. Ich stamme aus super. Ich bekomme keine fertigen Pro- ich an einer kleinen Klosterschule ge- einem sehr politischen Elternhaus, da- jekte vorgesetzt, ich kann meine Ideen macht. Danach habe ich erstmal gear- heim wurde viel diskutiert. Für Politik einbringen. beitet, um mir das nötige Geld für eine habe ich mich immer sehr interessiert. Weltreise zu verdienen. Ich war ein Ich wollte auf jeden Fall etwas mit Poli- Was muss sich bei der Politischen Bil- Jahr mit dem Rucksack unterwegs. tik studieren. dung am Gymnasium in Bayern än- dern? An welchen Schulen waren Sie nach dem Studium? Wir brauchen mehr Stunden und müs- sen früher damit anfangen. Um In- Mein Referendariat habe ich am Gise- teresse für Politik zu wecken, ist die la-Gymnasium und am Pestalozzi-Gym- 10. Klasse viel zu spät. Der Lehrplan nasium in München gemacht. Im Ein- ist ja grundsätzlich in Ordnung. Aber satzjahr war ich am Annette-Kolb-Gym- es fehlt die Zeit, sich mit aktuellen nasium, einem Sozialwissenschaftli- Themen zu beschäftigen. chen Gymnasium in Traunstein, wo es Gibt es ein Lieblingsprojekt für die ja viel mehr Sozialkundestunden gibt nächsten Monate? als bei anderen Ausbildungsrichtun- gen. Es ist mir sehr schwer gefallen, da Ich möchte ein Seminar anbieten, bei Barbara Weishaupt möchte Jugend- wieder weg zu müssen. dem die Ausweitung der Politischen liche für Politik begeistern Bildung unter den gegebenen Rah- Foto: Schröder Für Sozialkundelehrer ein Traumjob. menbedingungen im Vordergrund Wo waren Sie überall? Ja, aber leider gibt es davon viel zu steht. Die Politische Bildung muss wenige. Am Max-Born-Gymnasium in über den eigentlichen Unterricht hin- Hauptsächlich in Australien und Neu- Germering habe ich dann meine erste aus an der Schule institutionalisiert seeland. Dort habe ich Äpfel gepflückt Anstellung bekommen. werden. Am liebsten wäre es mir, wenn oder in Hostels mitgeholfen, um kos- wir dafür auch die Direktoren und tenlos wohnen zu können. Sechs Wo- Was hat Sie motiviert, sich an unserer die Schulentwicklungsteams ins Boot chen war ich auf einer Pferdefarm und Akademie zu bewerben? holen könnten. Wir müssen weg vom habe für Touristen Ausritte in einem Politische Bildung in der Schule findet Engagement Einzelner. Die Verbesse- Naturschutzgebiet organisiert. Das war in einem sehr begrenzten Rahmen statt. rung der Politischen Bildung muss traumhaft. Ich suche hier für mich neue intellek- eine Aufgabe der ganzen Schule, des gesamten Kollegiums werden. Mög- Hatten Sie Lust in Australien zu blei- tuelle Anregungen und möchte von Politik noch mehr mitbekommen, als es lichkeiten dafür aufzuzeigen, wäre ben, statt zum Studium nach Deutsch- mein Traum.  land zurückzukehren? an der Schule möglich ist. Und ich möchte andere Lehrer unterstützen, um Ich wollte unbedingt dableiben. Aber die politische Bildung an Schulen zu Das Gespräch führte meine Mutter war so schockiert, dass intensivieren. Die Kombination aus Michael Schröder ich es ihr zuliebe gelassen habe. Schule und Akademie ist sehr reizvoll.

Akademie-Report 4/2014 41 Ende der Dienstfahrten Fahrer Konrad Lutzke nach vielen tausend Kilometern verabschiedet

achdem ich Ende Juni 2014 erst Renate Heinz, die mir Herrn Lutzke ihren nicht nur in Tut- in den letzten Jahren als Sekretärin zur Seite gestanden zing bestens vernetzten „Außenpos- Nhatte, in den Ruhestand verabschieden musste, stand we- ten“. Aber viel wichtiger als dies war nige Wochen später leider schon wieder die Verabschiedung aus für die Akademie und für mich seine einer Vertrauensstellung an: Konrad Lutzke ging nach mehr als große Verlässlichkeit und seine Um- 16 Jahren Zugehörigkeit zur Akademie Ende August 2014 in den sicht – nicht nur beim Fahren. Ruhestand. Ich bedanke mich bei Herrn Lutzke für viele gemeinsame Fahrten und Wie viele zigtausend Kilometer Herr Parkplatz, wer außer dem oder der vor allem dafür, dass man sich bei Lutzke in seiner Funktion als Fahrer Akademiedirektor/-in noch anwesend ihm im Auto immer ausgesprochen der Akademie und vor allem als Fah- sein würde. Die Akademie verliert mit sicher fühlen konnte.  rer zunächst von Direktor Heinrich Ursula Münch Oberreuter und seit November 2011 als mein Fahrer zurückgelegt hat, ließe sich nur durch das Studium der zahlreichen von ihm immer sorg- fältig geführten Fahrtenbücher nach- vollziehen. Fest steht aber: Es waren viele.

Und fest steht auch: Herr Lutzke fand immer den Weg, kannte bei Staus die entscheidenden Schleichwege und wusste bei manchem offiziellen An- Die Nachfolge von Konrad Lutzke (links) trat am 1. September 2014 lass schon bei der Einfahrt in den Steffen Lehmann an Fotos: Haas

Tag der Offenen Türen

ei strahlendem Sonnenschein Bund spätsommerlichen Tempe- raturen fanden sich mehr als 250 Gäste ein zum Tag der Offenen Türen in unserer Akademie. Zum zweiten Mal nach der Premi- ere im eiskalten Februar 2012 (mit Schäfflertanz) stellten alle Abtei- lungen des Hauses ihre Arbeit vor. Zum Tag der Deutschen Einheit spielte im Garten die Unterbiberger Hofmusik (Foto) auf. Virtuos ser- vierten die Musiker einen gekonn- ten und temperamentvollen Mix aus bayerischer und türkischer Musik. Die Tagungsleiter führten durch die arbeiter der Akademie ihre Arbeit ge- Kinder konnten sich die jungen Akademie und unser Gärtner durch nauer vorgestellt, von der Bibliothek Gäste außerdem wie richtige Nach- den Park am See; an verschiedenen über den Förderkreis bis hin zum Kü- richtensprecher fühlen.  Themenstationen haben die Mit- chenteam. Bei der Tagesschau für Sebastian Haas

42 Akademie-Report 4/2014 Abschied von der Redaktion Karin Sittkus geht nach 33 Jahren in der Akademie in den Ruhestand

ffentliche Auftritte in der Akademie sind nicht ihre Sache. verborgen. Mit viel Kreativität und Karin Sittkus arbeitet lieber still und für sich im Büro und großem Engagement hat Karin Sittkus am Computer. Aber das tut sie sehr effektiv und präzise in den vergangenen 17 Jahren dem Ö „Akademie-Report“ ihren ganz per- seit nunmehr fast 33 Jahren in der Akademie. Seit 1982 war sie als Sekretärin in der Akademie beschäftigt und damit eine der sönlichen Stempel aufgedrückt. wenigen im Haus, die von sich sagen können, unter drei verschie- Neben der redaktionellen Arbeit an denen Direktoren gearbeitet zu haben. der Gestaltung des „Akademie-Re- ports“ war Frau Sittkus auch für Gast- tagungen der Akademie zuständig. Ihre eher zurückhaltende und ruhige tos, die nicht immer im druckreifen Ihre Kooperationspartner wussten Art steht im Gegensatz zu der sehr öf- Zustand in die Redaktion gelangten, stets ihre Umsichtigkeit, Sorgfalt und fentlichkeitswirksamen Aufgabe, die „aufgehübscht“ und für die Druckerei Zuverlässigkeit zu schätzen. Nach sie seit 1997 mit Begeisterung ausfüll- optimiert. Mit großer Gewissenhaftig- nunmehr 33 Dienstjahren folgt der te: Seit damals ist sie als Redaktions- keit und Sorgfalt wurden alle Texte von wohlverdiente Ruhestand. Allerdings assistentin ganz wesentlich mitver- ihr Korrektur gelesen. So blieb man- hat sie vor, nach einer langjährigen antwortlich für das Erscheinungsbild cher Fehler, den der Redakteur noch Ausbildung zur zertifizierten Tai Chi / des „Akademie-Reports“. übersehen hatte, der Öffentlichkeit Qigong-Lehrerin die neu gewonnene Zeit zu nutzen, um ihren Sie hatte sich sehr schnell bereits begonnenen „zwei- in die neuen Aufgaben ten Berufsweg“ in Form und die Handhabung der von Kursen fortzusetzen. Layout- und Fotoprogram- me eingearbeitet. Sofort Wir wünschen ihr alles entwickelte sie eine Lei- erdenklich Gute und viel denschaft für den kreati- Erfolg für den neuen Le- ven Umgang mit Texten bensabschnitt. und Fotos. Und bevor die Die Nachfolge als Redak- Seite ihr optisch nicht ge- tionsassistentin des „Aka- fiel und der letzte Zeilen- demie-Reports“ wird ab abstand korrigiert war, der Ausgabe 1-2015 un- gab es für sie keinen Feier- Antonia Kreitner (rechts) wird Nachfolgerin von Karin Sittkus, sere Auszubildende Anto- abend. Eifrig wurden Fo- die zum Jahresende in den Ruhestand geht nia Kreitner antreten.  Fotos: Weber / Haas Michael Schröder Spitzenleistung auch im Sport ute Laune vom Startschuss Gbis zum Zielsprint: Bereits zum fünften Mal in Folge nahm die Akademie mit einem Team am Starnberger Landkreislauf teil. Bei der diesjährigen Veranstaltung in Krailling schaffte die Mann- schaft (vier Damen, sechs Herren, im Bild mit Unterstützern und Fans) unter 167 Teams, darunter viele Sportvereine, wieder den Sprung in die obere Hälfte. Der Starnberger Landkreislauf ist das größte Breitensportereignis des Landkreises.  Kel/Foto: Lehmann

Akademie-Report 4/2014 43 Weihnachtswunsch der Akademie im Jahr 1982 bleibt unerfüllt Im Archiv gestöbert: Franz Josef Strauß erteilt Absage

icht alle Wünsche gehen in Erfüllung. Dieses Schicksal war auch dem Wunsch Nnach finanzieller Aufbesserung der Aka- demiearbeit beschieden, den der frühere Akade- miedirektor Manfred Hättich in Gestalt eines lau- nigen Bittbriefes im Dezember 1982 an den da- maligen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß gerichtet hatte. Erst kurz zuvor war Hättich von diesem für weitere sechs Jahre als Direktor wie- derberufen worden. Nicht zuletzt dieser Umstand war von Akademieangehörigen aufgegriffen, in Verse gekleidet und auf der Weihnachtsfeier 1982 vom „Kleinen Akademiechor“ erstmals zum Vor- trag gebracht worden. Die beiden letzten Lied- strophen lauten:

„Männer und Frau’n in der Akademie heut’ können wir wohl fröhlich sein. Sechs Jahre noch leitet Herr Hättich dies Haus, so hat’s bestätigt Franz Josef Strauß. Wir haben dabei nur ein Ziel, dass ihm sein alter Führungsstil auch in Zukunft richtig scheine: in fester Hand die lange Leine.

Männer und Frau’n in der Akademie wir folgen jetzt alter Sitte. Am Ende des Jahres dem Landesherrn tun laut wir kund die Neujahrsbitte. Lieber Franz Josef, hör’ uns an, du bist doch ein gerechter Mann, ein Bayernhäuptling von Geist und Welt: Gibst du uns Hättich, so gib uns auch Geld!“

Doch leider ist daraus nichts geworden. Die Ab- durchgehaltenen Versmaß. So jedenfalls blieb der Akademie nichts sage von FJS ließ jedenfalls nicht lange auf sich übrig, als ihrem gesetzlichen Auftrag weiterhin mit recht knapp be- warten. Darin werden massive Einnahmeausfälle messenem Budget nachzukommen. des Freistaats ins Feld geführt, die auf die „ver- antwortungslose Schuldenpolitik der früheren Strauß selbst war, den Akademieaufzeichnungen zufolge, zumindest Bundesregierungen Brandt und Schmidt“ zurück- zweimal persönlich in Tutzing: In seiner Zeit als Bundesverteidigungs- gingen. In „einer Zeit leerer Kassen“ könne auch minister nahm er 1961 einen halben Tag lang „mit aktivem Interesse“ die Akademie nicht von negativen Einschnitten an einem der ersten Akademieseminare für Angehörige der Bundes- verschont bleiben. wehr teil. Im Mai 1976, eröffnete Strauß mit einer Grußadresse die Akademieveranstaltung „200 Jahre geistige Interdependenz. Stimu- Es lag also nicht daran, dass im ursprünglichen lierende Wechselbeziehungen zwischen USA und Deutschland“.  Original Franz Josef fälschlicherweise mit „ph“ Steffen H. Elsner geschrieben wurde; oder am nicht stringent

44 Akademie-Report 4/2014 Sommer, Sonne und politische Bildung 500 Gäste beim Gartenfest der Akademie

trahlender Sonnenschein, hochsommerliche Temperatu- Darüber hinaus wird das „Parlament ren bis in den späten Abend hinein und mehr als 500 gut der Generationen“ – das die Akademie Sgelaunte Gäste – das alljährliche Gartenfest unserer Aka- im November 2013 zum Abschluss des demie war auch im Juli 2014 wieder ein Höhepunkt im Veran- Wissenschaftsjahres im ehemaligen staltungskalender. Bundestagsgebäude in Bonn veran- staltet hat – in veränderter Form mit dem Bayerischen Landtag weiterge- Akademiedirektorin Ursula Münch Ute Eiling-Hütig (CSU, zugleich Kura- führt werden. konnte Vertreter aus Hochschulen und toriumsmitglied der Akademie), Mi- Zudem beschäftigt sich die Akademie Wissenschaft, aus Akademien und chael Piazolo (Freie Wähler, ebenfalls vielfach mit den Folgen des demogra- Ministerien, aus politischen Bildungs- Kuratoriumsmitglied), und Georg Ro- fischen Wandels. Denn mit ihm ändert einrichtungen und Schulen, aus Justiz senthal (SPD) sowie die beiden ehe- sich auch das politische Partizipations- und Verwaltung, von regionalen und maligen FDP-Staatsminister Wolfgang verhalten der Bevölkerung. „Die Par- überregionalen Medien, aus dem dip- Heubisch und Martin Zeil sowie der teibindung lässt ebenso nach wie die lomatischen Korps und aus der Ge- Präsident der Thomas-Dehler-Stiftung Bereitschaft, sich dauerhaft einer Or- meinde Tutzing begrüßen. Thomas Hacker. ganisation, einer Partei anzuschließen. Mit dabei waren auch die stellvertre- Bei ihrem Grußwort erläuterte Ursula Auch die Parteipräferenzen unter- tende Vorsitzende unseres Kuratori- Münch die Schwerpunkte der aktuel- scheiden sich zwischen den Generati- ums Ursula Männle (Vorsitzende der len Arbeit. So hat die Akademie in onen – und zwar zum Nachteil der Volksparteien“, sagte Münch. Bei den vergangenen Bundestagswahlen hät- te bei den 18- bis 29-Jährigen immer- hin jeder Fünfte seine Stimme einer der Kleinstparteien gegeben – im Ver- gleich zu 11 Prozent der Gesamtwäh- lerschaft.

Was das für Politik, Gesellschaft und politische Bildung bedeutet, erklärte die Akademiedirektorin ebenfalls: „Zur Wahl zu gehen ist schon lange keine als selbstverständlich angese- hene Bürgerpflicht mehr. Dass Regie- rungen mit einer Mehrheit ausgestat- tet werden, die sie tatsächlich hand- lungsfähig macht, wird auch in der Bundesrepublik keine Selbstverständ- Fototermin für die Presse während unseres Gartenfests mit (v.l.) Georg lichkeit mehr sein. Politik wird damit Rosenthal und Ute Eiling-Hütig, Reinhold Bocklet, Ursula Münch, Alexan- anstrengender werden – für Wähler der Radwan, Ursula Männle, der frühere Direktor Heinrich Oberreuter und und Politiker. Politisches Orientie- Michael Piazolo Foto: Haas rungswissen und politische Urteils- kraft werden künftig noch wichtiger sein als bislang.“ Hanns-Seidel-Stiftung) und aus der Zusammenarbeit mit dem früheren Prä- Politik unter anderem: Landtagsvize- sidenten des Bundesverfassungsge- Dass es dafür kaum einen besseren Ort präsident Reinhold Bocklet, die örtli- richts Hans-Jürgen Papier das „Forum geben kann als unsere Akademie, ist chen Bundestagsabgeordneten Ale- Verfassungspolitik“ begründet. Es wird den Gästen unseres Gartenfestes ein- xander Radwan (CSU) und Klaus Bar- sich von nun an jährlich mit zentralen mal mehr deutlich geworden.  thel (SPD), die Landtagsabgeordneten rechtspolitischen Fragen befassen. Sebastian Haas

Rund 200 Fotos von unserem Gartenfest können Sie in einem Flickr-Album betrachten und auch herunterladen: https://www.flickr.com/photos/123841618@N06/sets/72157645774430565/

Akademie-Report 4/2014 45 Michael Mayer, Oxana Nagornaja u.a. (Hrsg.) Arbeit an der Vergangenheit: Das 20. Jahrhundert in Kommunikation und Gedächtnis von Nach- kriegsgenerationen in Deutschland und Russland Tscheljabinsk: Kamennyj pojas, 2014, 295 S.

ergangenheit macht Arbeit, Erinnerung ist Arbeit. VDies zeigt sich vor allem, wenn deutlich wird, dass sich die Vergangenheit nicht einfach bewältigen oder so- gar überwältigen lässt. Der vorliegende Sammelband un- tersucht in vergleichender Perspektive, wie die „Arbeit an der Vergangenheit“ in Deutschland und Russland im 20. Jahrhundert verlief. Welche Probleme ergab bspw. das

Publikationen langjährige Verschweigen der unbequemen Aspekte der eigenen Vergangenheit? Wie entwickelte sich die öffent- liche Auseinandersetzung mit Vergangenheit in beiden Ländern? Welche Rolle spielte das „geteilte Gedächtnis“ in Deutschland, wobei der Umgang der DDR mit der Ge- schichte eher dem sowjetischen als dem westdeutschen Modell entsprach? Insgesamt wird die Frage der Erinne- rungskultur mit der Generationengeschichte verwoben und nicht nur in methodischer Hinsicht diskutiert. Auch gene- rationelle Erinnerungsorte wie der Zweite Weltkrieg wer- den untersucht. Weitere Abschnitte befassen sich mit der Generation als privatem Deutungsmuster, mit der gene- rationellen Fiktionalisierung der Vergangenheit oder dem Themenbereich Erinnerungsorte und generationelle Iden- tität. Eine gemeinsame Publikation der Akademie für Politische Bildung Tutzing, der Bundesstiftung zur Auf- arbeitung der SED-Diktatur, der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst.

Michael Schröder (Hrsg.) Politik und politische Bildung in der digitalen Welt Chancen und Herausforderungen

Neuerscheinungen Reinbek bei Hamburg/München: Lau/Edition Olzog 2014, 214 S., 19,80 Euro ISBN 978-3-95768-118-8

as Digitale führt zu einem tiefgreifenden gesell- Dschaftlichen Wandel. Betroffen sind das politische System unserer parlamentarischen Parteiendemokratie, die Medien sowie das Lernen in seinen unterschied- lichen Ausprägungen. Diese revolutionären Umwäl- zungen bleiben nicht ohne Folgen. Denn: Über soziale Netzwerke und Blogs können große demokratische Potenziale mobilisiert werden. Die neuen Partizipa- tionsmöglichkeiten des Web 2.0 haben aber auch Kon- sequenzen für Inhalte und Formate der politischen Bil- dung. Doch was folgt aus der täglichen Beschäftigung mit virtuellen Welten? Droht die „digitale Demenz“, wie ein Hirnforscher behauptet? Klicken wir uns das Hirn weg? Untersuchungen über digitale Spielwelten und Rezensionen medienpädagogische Empfehlungen runden den vor- liegenden Band ab.

46 Akademie-Report 4/2014 Ursula Münch, Uwe Kranenpohl, Henrik Gast (Hrsg.) Parteien und Demokratie Innerparteiliche Demokratie im Wandel Tutzinger Studien zur Politik Band 6 Nomos, Baden-Baden 2014, 203 S. ISBN 978-3-8487-1202-1

arteien stehen im 21. Jahrhundert vor erheblichen He- Prausforderungen: Sinkende Mitgliederzahlen und schwin- dendes öffentliches Vertrauen verweisen auf die gesellschaft- lichen Legitimationsprobleme westlicher Parteien. Dies wirft die Frage auf, mit welchen innerparteilichen Reformen Par- teien hierauf reagieren können. Der Tagungsband vereint Bei- träge, die unterschiedliche Probleme, Entwicklungen und Publikationen Lösungsansätze in zumeist vergleichender Perspektive dis- kutieren. Im Fokus stehen u.a. innerparteiliche Urwahlen,

Reformen der Kandidatenrekrutierung und „Liquid Demo- cracy“.

m Grundgesetz sind allgemein geteilte Werte Kellermann im zweiten Teil die Notwendigkeit der Ides gesellschaftlichen und politischen Umgangs Verfassungsinterpretation. In Form von Entschei- festgehalten. Sie beziehen sich auf Regelungen dungen des Verfassungsgerichts sei die Interpre- zur Legitimität von Herrschaft, zum Schutz vor tation maßgeblicher als der Verfassungstext willkürlichen Staatseingriffen und zur Organisati- selbst. Hiernach geht der Autor auf staatsrechtli- on sowie zur Zuständigkeit von Regierungsauf- che Prinzipien der Verfassungsinterpretation ein gaben. Damit geben sie „der politischen Lösungs- und zeigt anhand ausgewählter Spannungsge- findung zumindest eine Richtung vor und bieten biete (Menschenwürde/wissenschaftlicher Fort- gesellschaftlicher Wertbildung und Verhaltenswei- schritt, Freiheit/Sicherheit sowie Wandel von Ehe sen einen Orientierungsrahmen“ (21). Mit seiner und Feiertagsschutz als kulturprägende Instituti- Arbeit, die sich vor- onen) Anwendungen der nehmlich an die Didak- Verfassungsinterpreta- Gero Kellermann tik der Politik richtet, tion. Diese Beispiele be- Verfassungsinterpretation. stellt Gero Keller- kräftigen Kellermann in Das Grundgesetz als normative mann, Dozent für das der Annahme, „dass es Neuerscheinungen Ressource im gesellschaftlichen Wandel Themengebiet „Recht- angesichts des Wandels Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag 2011 liche Grundlagen der in Technik und Gesell- (Tutzinger Schriften zur Politischen Bildung); Politik“ an der Akade- schaft darum geht, den

109 S., 12,80 Euro, ISBN 978-3-89974695-2 mie für Politische Bil- ethisch-sittlichen Gehalt dung Tutzing, diesen der Rechtsordnung zu Orientierungsrahmen in den Kontext gesellschaft- konkretisieren und gegebenenfalls zu aktualisie- lichen Wandels und technologischen Fortschritts. ren“ (72). Im dritten Teil weist der Autor auf Ver- Mit einigen Hinweisen auf Merkmale und Proble- mittlungsaufgabe und Möglichkeiten der Politi- me des Wandels wird im ersten Teil der Arbeit für schen Bildung hin und nennt Tagungsbeispiele. die Problematik der Verfassungsinterpretation sen- Auch für Politologen ist das Buch anregend. In- sibilisiert: Im Kern gehe es darum, einen politi- dem Kellermann etwa den vagen und interpreta- schen Raum zu eröffnen, in dem gesellschaftli- tionsbedürftigen Charakter des Grundgesetzes che Veränderungen im Sinne der wertgebundenen regelmäßig hervorhebt, deutet er an, dass dieses Ordnung des Grundgesetzes gestaltet werden eine im politischen Wettbewerb für widerstrei- können. Da die Werte der Verfassung lediglich tende politische Akteure wichtige normative auf einem Minimalkonsens beruhten, die als sol- Ressource ist.  che nicht überdehnt werden sollten, unterstreicht

Rezensionen Hendrik Claas Meyer M. A., Politikwissenschaftler und Soziologe, Universität Bayreuth, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36468-verfassungsinterpretation_40430

Akademie-Report 4/2014 47 zeitungsecho+medienstimmen+pressesplitter Akademie-Arbeit und Veranstaltungen im Spiegel der Medien

Katja Sebald berichtet in der STARNBERGER SZ vom 28. Juli 2014: wicklung gebe, dürfe man „nicht nach- lassen im Bemühen um die Komple- Erlebnis Film xität des Erzählens“. …Nicht nur das Kino ist im Wandel, seit der Erfindung des Tonfilms im- Für Edgar Reitz, den mit Abstand äl- auch der Autorenfilm: Selbst unter die- mer wieder diskutiert worden ist. Aber testen in der Runde, kann das alles nur sen vier „Eingeweihten“ musste man weder Fernsehen noch Video noch die eine „momentane Entwicklungskrise“ sich zunächst auf den Begriff verstän- neuen Medien hätten dem Kino den sein: „Kino ist da, wo die Menschen digen, um ihn dann aber gleich ganz in Garaus gemacht, im Gegenteil: „Alle zum Film gehen und nicht umgekehrt.“ Frage zu stellen. An die Stelle eines Menschen sind zu Filmspezialisten Das gemeinsame Erleben von Filmen „Autors“, der als Regisseur sämtliche geworden.“ in einer aus dem Alltag herausgehobe- künstlerischen Aspekte des Films wie Auch Bettina Reitz ist der Meinung, nen Situation ermögliche „eine Tiefen- Drehbuch oder Schnitt wesentlich mit- dass die Veränderung von Filmforma- auslotung der menschlichen Seele bestimmt, tritt heute in zunehmendem ten und Konsumgewohnheiten unauf- statt oberflächlicher Betrachtung“. Maß ein Team von Kreativen: „Ich sel- haltsam sei. Aber: „Die erzählerische Kino, so sein leidenschaftliches Plä- ber kann gar nichts, ich sage nur, was Vielfalt ist so groß wie nie zuvor.“ Jun- doyer, sei „das erste weltweite kultu- ich gern hätte“, so Tykwer. Für ihn ge Leute sehen Serien statt Kinofilme, relle Ereignis“. Mehr noch: „Das Kino geht es darum, dass Kino gesellschaft- sie schicken sich gegenseitig Film- hat eine eigene Sprache für die ganze liche Fragen verhandeln muss: „Meine chen, sie haben eine ganz andere Bild- Menschheit gefunden.“ Die „Dekon- Filme sollen etwas mit dem Heute zu sprache, eine neue Bildkultur und zentration“ der jüngeren Generation tun haben.“ damit auch eine neue Art von Humor sei ein Produkt der Zerstreuung und Ob sie im Kinosaal angeschaut wer- entwickelt. Wo auch immer sie sind, ein Problem, das man nicht einfach den oder zuhause mit einem Klick ge- schauen sie auf ihre Handys, auch hinnehmen könne: „Man muss den streamt werden, ist für ihn nebensäch- große Kinofilme sehen sie oftmals Dingen auch Widerstand leisten, der lich und die Frage nach dem Ende des auf winzigen Bildschirmen. Obwohl inneren Wahrheit zuliebe.“… Kinos ohnehin eine „olle Kamelle“, die es noch keine Antwort auf diese Ent- (siehe Bericht Seite 19)

David Steinitz in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom 7. August 2014: dere Heimat“ nach vielen Jahren beim Fernsehen fulminant ins Kino zurück- Homo cinematicus gekehrt ist, betonte im Rahmen der Po- diumsdiskussion ein Problem, das …Ein Thema, das auch unter deut- als auch in Hollywood gesammelt hat, mindestens genauso bedeutend für die schen Filmemachern heiß diskutiert plädierte wie Nolan dringend dafür, Zuschauer der Kinos sein wird wie die wird. Ob, und wenn ja, welche Filme dass das Kino sich auch inhaltlich mit Filme, die dort gespielt werden – er Zuschauer künftig noch ins Kino lo- der digitalen Welt auseinandersetzt. spricht damit vermutlich vielen Kino- cken werden, darüber debattierten zum Weil Digitalisierung eben nicht nur besuchern aus der genervten Seele. Beispiel die Regisseure Edgar Reitz bedeute, dass Filme auch auf neuen und Tom Tykwer sowie die Fernsehdi- Endgeräten konsumiert würden, son- Laut Reitz, durch und durch ein Homo rektorin des Bayerischen Rundfunks, dern eben jene Endgeräte auch den cinematicus, ist die Erfahrung, einen Bettina Reitz, im Rahmen des soeben Konsumenten so veränderten, dass Film im Kino zu sehen, mit jeder ande- zu Ende gegangenen bayerischen man in Filmen davon erzählen müsse. ren Alternative unvergleichbar. Das Fünf-Seen-Filmfestivals in der Akade- Wie das aussehen könnte, hat Tykwer Kino neu zu erfinden hieße deshalb mie für Politische Bildung in Tutzing. bereits in seinem letzten Film „Cloud auch, das Kuratieren von Filmen neu Die Debatte, die sich glücklicherweise Atlas“ vorgeführt, den er gemeinsam zu erfinden – und vor allem die Spiel- von der etwas proseminarischen Leit- mit den Wachowski-Geschwistern in- stätten selbst. Viele Kinobetreiber frage der Veranstaltung löst – „Der szenierte, mit Tom Hanks in der Haupt- hätten es verlernt, den Zuschauern Autorenfilm und die Kraft der Illusion. rolle. Der Episodenfilm, der formal aus jenseits der Popcorntheke einen wirk- Das Kino im gesellschaftlichen Wan- wilden Sprüngen zwischen Erzähl- lichen Anreiz zu bieten, das Haus zu del“ – kam zu einem ähnlichen Ergeb- strängen und Zeitebenen besteht, hat- verlassen – weder architektonisch nis wie Nolan in seinem Essay: Das te zum Ansatz, die immer sprunghafte- noch programmatisch. Das aber sei Kino ist nicht tot – es muss aber etwas re Smartphone-Wischtechnik unseres für die Zukunft unabdingbar: Weil das passieren, damit das auch so bleibt. Alltags aufs Geschichtenerzählen im Kino bis heute der einzige Ort ist, bei Tom Tykwer, der als Filmemacher so- Kino zu übertragen. Edgar Reitz wie- dem die Menschen zum Film kommen wohl Erfahrung im Arthouse-Bereich derum, der im vorigen Jahr mit „Die an- müssen und nicht umgekehrt.

48 Akademie-Report 4/2014 zeitungsecho+medienstimmen+pressesplitter Akademie-Arbeit und Veranstaltungen im Spiegel der Medien

Dietmar Ostermann in der BADISCHEN ZEITUNG vom 3. Juni 2014: Kommt die EU-Erweiterung von innen?

Mit welcher Wucht lange schwelende verschoben. Schon die Frage, ob die …Was tatsächlich passieren würde, Separationsbestrebungen plötzlich Menschen in einem neu entstehenden wenn Belgiens Wallonen und Flamen eskalieren können, bekommt Europa Staat überhaupt EU-Bürger bleiben eigene Wege gehen, wenn Schottland gerade in der Ukraine vorgeführt. Zwar würden oder ob ihr junges Land in oder Katalonien unabhängig werden gilt ein bewaffneter Aufstand wie der Brüssel einen neuen Aufnahmeantrag oder in Norditalien ein Zwergstaat ent- prorussischer Milizen im Donbass in stellen müsste (worauf die EU-Kom- steht, lässt sich schwer abschätzen. einem Mitgliedsland der Europäischen mission bislang beharrt), ist letztlich Der EU-Experte Peter Schmidt-Egner Union als undenkbar. Doch auch in ungeklärt. Wie wenig die EU, die noch von der Universität Siegen hält einen der EU gibt es Dutzende Regionen, schwer an der Schuldenkrise laboriert, Schneeballeffekt für unwahrschein- die nach mehr Autonomie streben oder auf eine solch neue Herausforderung lich: Die Regionalkammer des Euro- sich ganz aus ihren jeweiligen Staaten vorbereitet ist, hat jetzt eine Tagung parates habe 318 Mitglieder – separa- lösen möchten. Und der Ruf nach Un- der Akademie für Politische Bildung in tistische Bestrebungen aber gebe es abhängigkeit wird vielerorts lauter – Tutzing gezeigt. nur „in einem kleinen Teil davon“. von Schottland bis Venetien, von Ka- „Die EU hat bisher keine Strategie Auch der belgische Politikwissen- talonien bis Flandern. für den Umgang mit separatistischen schaftler Dirk Rochtus rät zur Gelas- Auch wenn die Separatisten in der Bestrebungen“, erklärte Franz Schaus- senheit: „Die USA haben mehr als EU heute meist friedlich und freund- berger, ehemaliger Landeshauptmann 50 Mitgliedsstaaten. Es ist alles eine lich daherkommen, wenn sie keine von Salzburg, Mitglied im Ausschuss Frage der Organisation.“ Die heutigen Masken und Kalaschnikows tragen der Regionen der EU und Gründer EU-Mitglieder Tschechien und Slowa- und lieber Menschenketten bilden des Instituts der Regionen Europas. kei haben 1993 überdies vorgemacht, statt zu schießen: Ihr Anliegen ist „Die Haltung, dies sei schlicht eine dass eine friedliche Scheidung mög- politisch ebenfalls höchst brisant. innere Angelegenheit der Mitglieds- lich ist. Die EU würde auf diese Erfah- Käme es in einem Mitgliedsstaat zur staaten, muss aufgegeben werden. rung bei einem Mitgliedsstaat gewiss Abspaltung, würden erstmals im Inne- Die EU braucht ein Konzept für eine gern verzichten. Gut möglich aber, ren der Europäischen Union Grenzen innere Erweiterung.“… dass es irgendwann dazu kommt. (siehe Akademie-Report 3/14, S. 8)

Reinhold Michels in der RHEINISCHEN POST vom 7. Juli 2014: Sicherheit gibt es nur mit den USA

…Bei einer Tagung zum Thema Frei- Man könnte es einen Klacks nennen, lance zwischen Freiheit und Sicherheit heit und Sicherheit der Akademie für was der angebliche CIA-Zuträger aus vom Kopf auf die Füße zu stellen. Si- Politische Bildung in Tutzing warnten dem BND angerichtet hat, wenn man cherheit sei keine Selbstverständlich- die ehemaligen Bundesverfassungs- Hoffmann-Riems Szenario folgt: dass keit; und für ausreichende Sicherheit richter Hans-Jürgen Papier und Wolf- nämlich Google & Co. nationales Recht im Kampf gegen brandgefährlichen gang Hoffmann-Riem vor den Macht- als Hindernis betrachten und den islamistischen Terrorismus brauche verschiebungen durch den nicht ein- deutschen Datenschutz konterkarie- man die Kooperation mit den verbün- gehegten, US-dominierten Cyber- ren. Das Machtproblem verschärfe deten Geheimdiensten der USA. Gene- Raum. Der Staat habe die Pflicht, sei- sich zusätzlich, wenn solche Unter- ralbundesanwalt Georg Range malte ne Bürger vor dem Zugriff ausländi- nehmen mit staatlichen Stellen, etwa den Teufel an die Wand: Wenn mor- scher Mächte und international ope- der NSA kooperieren. Hoffmann-Riem: gen bei einem „Public-Viewing“-Mas- rierender Unternehmen wie Google „Europa muss aufpassen, dass es nicht senevent zur WM etwas passieren & Co. zu schützen, andernfalls drohe digital kolonisiert wird.“ sollte, man Hinweise von der NSA die internationale Überwachungsge- Verfassungsschutz-Präsident Hans- bekommen habe, denen jedoch nicht sellschaft und ein Super-GAU für den Georg Maaßen bemühte sich, die ge- nachgegangen sei, weil sie als zu vage Datenschutz. lehrte Diskussion über die rechte Ba- erschienen – „dann sind wir dran“… (siehe Bericht Seite 11)

Akademie-Report 4/2014 49 zeitungsecho+medienstimmen+pressesplitter Akademie-Arbeit und Veranstaltungen im Spiegel der Medien

Werner vom Busch in der NÜRNBERGER ZEITUNG vom 29. Juli 2014: Die Bürger identifizieren sich mehr mit dem Staat als gedacht

…Die Identifizierung der Bürger mit Dass sie vor allem von den Medien mit dem Charisma und seiner Bedeu- ihrem Land ist höher, als es gelegent- vermittelt werden, legte sie in ihrem tung für die Mediendemokratie. Zwar lich den Eindruck macht. Susanne Referat dar – und gab gleich noch sind Charismatiker wie der frühere Pickel, Medienwissenschaftlerin mit die Glaubhaftigkeitsskala dazu: Im- Verteidigungsminister Karl-Theodor Lehrstuhl an der Uni Duisburg-Essen, mer noch glauben Bürger der Zeitung zu Guttenberg Publikumslieblinge, zeigte das anhand statistischen Mate- und den öffentlich-rechtlichen Rund- doch ihr Ruhm nutzt sich ab, wie eben rials: Zwar trauen die Bürger den Par- funk- und Fernsehanstalten mit einer bei Guttenberg. teien eher nicht über den Weg, die In- Zustimmung von weit über 70 Prozent. Eines aber zeichnet sich laut Sarcinelli stitutionen unseres Landes aber, allen All das spielt sich in unserer mediati- seit Jahren ab: Wegen der zunehmen- voran das Verfassungsgericht, wie sierten Gesellschaft ab, also in einem den Kompliziertheit politischer und auch die Regierungen in Land und Gemeinwesen, das zunehmend vom gesellschaftlicher Fragen geht es mehr Bund erfreuen sich einer Zustimmung Einfluss der Medien bestimmt wird, und mehr um die Darstellung von weit jenseits 50 Prozent. konstatierte Nitzsch. Ein Ende dieser „Köpfen“ anstelle komplizierter Sach- Die Zustimmung beruht auf einer Entwicklung lässt sich nicht absehen. verhalte. Dies ist ebenfalls Zeichen Übereinstimmung der Bürger, soweit Dennoch hat sie schon heute eine einer medienbasierten Gesellschaft, es die Werte und Normen angeht, auf enorme Bedeutung für die Einschät- die sich immer weniger mit Sach- als denen diese Gesellschaft gründet, zung von der Politik und ihren Per- mit Personalfragen befasst… meinte Cordula Nitzsch, Medienwis- sönlichkeiten. Ulrich Sarcinelli von senschaftlerin an der Heinrich-Heine- der Uni Koblenz-Landau befasste sich (siehe Bericht Seite 17) Universität in Düsseldorf.

Thomas Mrazek im BJV-REPORT 3/2014: Islamhasser: Gefahr von Rechts Tutzinger Journalisten-Tagung zum Umgang mit Rechtspopulisten

„Islamhasser und Neo-Nazis: Recher- nalistisches Patentrezept, stets sei ab- den Kölner Moscheebau seien die che am rechten Rand“ lautet der Titel zuwägen, ob und wie man berichte… Medien zu spät eingestiegen. Ein Jour- einer Tagung der Akademie für Politi- In Arbeitsgruppen diskutierten die nalist erwähnte eine „ungeschriebene sche Bildung Tutzing und des Netz- Journalisten über den Umgang mit Political Correctness-Richtlinie“ bei werks Recherche. Ein Thema, das gro- Islamhassern und Rechtsradikalen. einem öffentlich-rechtlichen Sender. ßes Interesse bei Journalisten erzeugt, Die Strategie, Rechte möglichst totzu- Über unangenehme Fakten nicht oder denn die Veranstaltung war mit 30 Teil- schweigen, wurde abgelehnt, sonst nur zurückhaltend zu berichten, wie nehmern ausgebucht... werde der Märtyrereffekt verstärkt. etwa beim Thema Scheinehe, hätte der Berichten oder über extreme An- Wortlaut-Interviews mit Rechten sei- journalistischen Sache dort gescha- sichten so weit wie möglich einfach en keine geeignete Stilform, weil sie det. Ebenso selbstkritisch stellten die schweigen? „Stürzenberger ist nicht in der Regel unergiebig seien. Man Teilnehmer fest, dass zu wenig Wis- nur der Kopf der Islamfeinde, son- müsse die Irritationen benennen, die sen über den Koran bei Journalisten dern auch Anführer der Moschee- Rechtsextreme hervorrufen, das Publi- vorhanden sei... Gegner“, schildert Peter Fahrenholz, kum müsse sich ein Bild machen kön- Diskussionsrunden mit Opfern rech- stellvertretender Ressortleiter Mün- nen. Andererseits müsse aber auch ter Gewalt und dem Münchner Nazi- chen, Region und Bayern der Süddeut- kritisch über Muslime berichtet wer- Aussteiger Felix Benneckenstein, der schen Zeitung, die Situation in Mün- den. Man könne auf ein Thema nicht sich in der Aussteigerhilfe Bayern chen. Er sei kein Anhänger davon, erst aufspringen, wenn die Rechten engagiert, rundeten eine gelungene rechte Parteien mit „Totschweigen“ zu es bereits für sich besetzt haben, be- Tagung ab. behandeln. Freilich gebe es kein jour- richtete ein Teilnehmer. Beim Streit um (siehe Akademie-Report 2/14, S. 13)

50 Akademie-Report 4/2014 zeitungsecho+medienstimmen+pressesplitter Akademie-Arbeit und Veranstaltungen im Spiegel der Medien

Jessica Deringer im Medienmagazin auf BAYERN5 am 5. Oktober 2014: ter Szenen von einem Fluss, in dem IS-Anhänger fröhlich mit ihren Kin- Medien im Krieg dern herumplantschen. Ganz nah ist er dran an den IS-Leuten. Zu nah?

Kürzlich veröffentlichte der US-Nach- fen, die meinem Kollegen den Kopf Stefan Klein: „Ich finde es nicht von richtenkanal VICE im Internet einen abschneiden. Hätte ich einfach nicht Haus aus schlecht, wenn einer ver- Film direkt aus dem Innern der Terror- gemacht. Ich weiß nicht, welchen sucht, an diese IS-Leute heranzukom- gruppe IS, unter dem Titel „The Isla- Erkenntniswert letztlich so ein Film men und mit denen ins Gespräch zu mic State“. Der Film zeigt, was Zu- bringt. Ich weiß nicht, warum man kommen. Daran ist nichts auszusetzen. schauer im Westen normalerweise sich als Instrument letztendlich be- Es ist ja keine Haltung zu sagen: ‚Um nicht zu sehen bekommen: Alltags- nutzen lässt. Denn darauf läuft es Gottes Willen! Das sind Mörder und szenen, Interviews mit fanatischen hinaus.“ Martin Durm ist für den Verbrecher. Mit denen will ich nichts IS-Kämpfern, indoktrinierten Kindern SWR in Kriegsgebieten unterwegs zu tun haben.‘ Im Gegenteil. Gerade und reumütigen Häftlingen. Ein The- und kehrte erst vor kurzem aus dem weil die so sind, wie sie sind, würden ma auf der Tutzinger Tagung „Medien Irak zurück. Sie natürlich mit denen reden wollen im Krieg“. und würden ihnen gerne Fragen stel- len wollen.“ Stefan Klein ist Chefkor- respondent der Süddeutschen Zei- tung. Wichtig ist ihm dabei, den Zu- schauer oder Zuhörer immer wieder an den Kontext zu erinnern: Dass man eben „eingebettet“ ist und sich nicht frei bewegen kann. Ob das „Eingebet- tetsein“ nun ein legitimes Mittel ist, um alle Seiten zu Wort kommen zu las- sen? Das wird unter Journalisten kon- trovers diskutiert.

Bei unberechenbaren Truppen wie dem IS zählt am Ende auch noch ein anderer Faktor: die eigene Sicherheit, sagt Till Mayer, der die Opfer von Kriegen fotografiert: „Ich will da na- türlich lebendig wieder zurück kom- men. Ich will aber auch nicht zusehen, wie extra Verbrechen begangen wer- den, weil ich als Journalist dabei bin. Ein polnisches Fernsehteam im Irak-Krieg Foto: wikimedia commons Da würde ich wahnsinnig werden, wenn das der Fall ist. Deswegen wür- Drei Wochen hielt sich VICE-Reporter Der Journalist als bloßes Instrument de ich bei der IS nein sagen, weil ich Medyan Dairieh für den Film im Isla- einer Kriegspartei? Egal welcher Sei- denke, dass das durchaus möglich ist, mischen Staat auf. Als sogenannter te? Davor warnten die Gegner des dass das passiert.“ „eingebetteter Journalist“ mit der Er- „embeddings“ bereits im Irak-Krieg laubnis, aber auch unter der totalen 2003, als Journalisten in US-Panzern VICE-Reporter Dairieh ist heil wieder Kontrolle der IS-Führer. Der Männer, mitfuhren und berichteten. Auch der heraus gekommen aus dem Islami- die nur kurze Zeit später die Journalis- VICE-Reporter sitzt mit in den Jeeps schen Staat. Garantieren konnte ihm ten James Fowley und Steven Sotloff des IS, fährt mit auf den Patrouillen das vorher niemand. töteten. der Schariah-Polizei. Einmal zeigt er einen 14-jährigen Jungen, der davon (siehe Bericht Seite 13) Martin Durm: „Ich hätte mich nicht schwärmt, im Heiligen Krieg Ungläu- den Spielregeln von Leuten unterwor- bige zu töten. Ein paar Sekunden spä-

Akademie-Report 4/2014 51 Namen und Nachrichten aus der Akademie

D I R E K T O R I N B E I R A T

Prof. Dr. Ursula Münch referierte anlässlich der Verabschiedung der bisheri- Katrin Albsteiger MdB (CSU) ist als gen Landrätin des Landkreises München, Johanna Rumschöttel (SPD), zum Mitglied des Beirats der Akademie aus- Thema „Politik vor Ort – widersprüchliche Befunde und künftige Herausforde- geschieden. Wir bedanken uns für ihr rungen“, und sie sprach vor der Frauenunion Tutzing über „Politische Reprä- Engagement. Ihr Nachfolger ist Dr. sentation und Beteiligung von Frauen“. Vor der Management-Konferenz der Hans Reichhart. Er gehört dem Beirat Arbeitsgemeinschaft betriebliche Altersversorgung hielt sie einen Vortrag zum als Vertreter des Rings politischer Ju- Thema „Demographischer Wandel und Europäisierung: Diversität als Chance gend an. Reichhart ist seit 2013 Landes- für Unternehmen und Gesellschaft?“. Sie moderierte die Podiumsdiskussion vorsitzender der Jungen Union Bayern „Die Wiederentdeckung der europäischen Idee“, die aus Anlass der italieni- und Mitglied des Bayerischen Land- schen EU-Ratspräsidentschaft stattfand. Die Direktorin wurde neu als externes tags. Mitglied in den Hochschulrat der Ludwig-Maximilians-Universität München berufen.

K O L L E G I U M

Dr. Saskia Hieber diskutierte am Heidelberg Center for Dr. Michael Mayer sprach im Rahmen der Konferenz „Neu- American Studies der Ruprecht-Karls-Universität die chi- ordnung in Europa. Der Erste Weltkrieg und die lange Nach- nesische Sicherheitsstrategie im Zuge der Veranstaltung kriegszeit in Deutschland und Russland“ und im russischen „USA, China und Europa im 21. Jahrhundert“. An der Bayer- Woronesh zum Thema „Heiliger Krieg im Kampf gegen das ischen EliteAkademie erläuterte sie die Beziehungen zwi- Zarenreich? Die deutschen Geheimdienstoperationen im schen Vietnam und China. Im Auftrag des Auswärtigen Kaukasus, Persien und Afghanistan während des Ersten Amtes hielt sie an der Stiftung Genshagen einen Vortrag Weltkrieges“. Im Wintersemester 2014/15 hält er an der Uni- über „China and the European Union“. Auf einer Tagung versität Augsburg ein Seminar mit dem Titel „Spontis, Ökos des Lehrstuhls Regionalentwicklung und Raumordnung und neue kalte Krieger. Die siebziger Jahre zwischen der Technischen Universität Kaiserslautern und des Pestel- Woodstock und NATO-Doppelbeschluss“. Instituts, Hannover, sprach Saskia Hieber über die Glo- Dr. Anja Opitz referierte an der Führungsakademie der balisierung in Asien und die Zukunftsfähigkeit chinesi- Bundeswehr in Hamburg zum Thema „Sicherheitssektor- scher Regionen. reform im Rahmen von UN-Missionen“. Für die Karl-Theo- Dr. Andreas Kalina sprach anlässlich des zehnten Jahres- dor-Molinari-Stiftung e.V. sprach sie in Kochel am See zum tags der EU-Osterweiterung im Rahmen der Konferenz des Thema „No, we won´t. Konsequenzen der Neuausrichtung Bayerischen Hochschulzentrums für Mittel-, Ost- und Süd- der U.S.-Außenpolitik für Akteure in der MENA- Region“. osteuropa Regensburg über „Reformbedarf und -konzepte Auf dem EU Security and Defence Policy Orientation für die Europäische Union“. Im Wintersemester 2014/15 gibt Course in Brüssel, der durch die Europäische Kommission er am Jean-Monnet-Lehrstuhl der Universität Passau ein und den Europäischen Auswärtigen Dienst ausgerichtet Oberseminar zum Thema „Europäisches Regieren: Neue wurde, leitete sie einen Workshop über „Future Develop- Kommission – alte Herausforderungen?“. ments for CSDP – Challenges and Risks“. Dr. Gero Kellermann hielt im Rahmen der „Münchener Dr. Michael Spieker referierte in Peking zu der Frage „How Rechtstheorie-Gespräche – Dynamik und Statik des Rechts“ to educate man in order to become human?“ (siehe Bericht an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Uni- S. 34). Im Wintersemester hält er Lehraufträge an der Ka- versität München einen Vortrag zum Thema „Ist die Vermitt- tholischen Stiftungsfachhochschule München zur moder- lung von Ungerechtigkeit leichter als die Vermittlung von nen Sozialstaatsentwicklung und an der Universität Frei- Gerechtigkeit?“ und moderierte einen Teil der Veranstaltung. burg i.Br. zur Bildungsphilosophie Platons.

52 ISSN 1864-5488 Akademie-Report 4/2014