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SWR2 Musikstunde

Der Deutsche Orpheus (4) Heinrich Schütz zum 430. Geburtstag Schwanengesang in Weißenfels

Von Anette Sidhu-Ingenhoff

Sendung: Freitag, 10. April 2015 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau

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Freitag 10. April 2015 – 9.05-10.00 Uhr Musikstunde mit Anette Sidhu-Ingenhoff Der Deutsche Orpheus (4) Heinrich Schütz zum 430. Geburtstag Schwanengesang in Weißenfels

Signet…ANSAGE: mit Anette Sidhu-Ingenhoff. Das Thema heute: Der deutsche Orpheus: Heinrich Schütz zum 430. Geburtstag. 4. Teil – Schwanengesang in Weißenfels

Moderation 1

Am 22. Juli 1650 feiert man in ein Dankfest anlässlich des Westfälischen Friedens. Der schier endlose 30 Jahre währende Krieg ist zu Ende. Wenige Monate später gibt es eine Doppelhochzeit der beiden Söhne von Johann Georg I. nämlich Christian und Moritz mit Prinzessinnen von Holstein-Glücksburg. Mit großer Wahrscheinlichkeit erleben die Zeitgenossen den Dresdner Hofkapellmeister Heinrich Schütz dabei ganz anders, als wir ihn heute kennen, eben mal nicht geistlich! Da wird ein Gesangs- Ballett Paris und Helena nach einem Text von Ernst Geller aufgeführt und eine Ballett-Oper Der triumphierende Amor nach einem Libretto von David Schirmer. Nur hält die Feierlaune leider nicht lange an, im Gegenteil. Johann Georg I. zeigt seinen Musikern schon bald die kalte Schulter und stellt einfach alle Zahlungen ein. Die Folge: die Dresdner Hofkapelle verfällt immer mehr. Es ist zum Stein erweichen, zu lesen, wie drastisch Schütz das soziale Elend seiner Musiker schildert, die im „Saukoben“ liegen und hungern! Er hilft aus, wo er kann, mahnt den Fürsten gebetsmühlenhaft, legt ihm seine Schüler als Nachwuchs ans Herz. 3

Ja es kommt 1653 gar zu einer Art gemeinsamem Protest, der Meister weigert sich rigoros, einzelne Kollegen zu entlassen. „Hut ab“ würden heutige Gewerkschaftler sagen! Aber so etwas reibt auf. Trost findet Schütz in Leipzig. Hier hat er im Komponisten Johann Rosenmüller und dem Thomaskantor Tobias Michael einen Kreis neuer junger Freunde gefunden. Der Frieden nach dem Krieg ist deshalb für ihn konsequenterweise ein Anlass, seine nicht dem Fürsten, sondern Leipziger Bürgern zu widmen.

Musik 1 2:31 „Also hat Gott die Welt geliebt“ aus geistliche Chormusik SWV 380 CD 1 Take 12 Also hat Gott die Welt geliebt. Motette für Chor a cappella, SWV 380 Geistliche Chor-Music 1648 Dresdner Kammerchor; Cappella Sagittariana Dresden; Rademann, Hans-Christoph Schütz, Heinrich Bibel, NT

Moderation 2 Hans-Christoph Rademann und der der Dresdner Kammerchor. Der Schmerz über die Zustände in Dresden hat noch eine ganz andere Seite. Schon aus der Widmung zu den „Kleinen geistlichen Konzerten“ geht hervor, dass Schütz sein Talent nicht als etwas ihm Gehöriges betrachtet, mit dem er willkürlich umgehen, das er verschludern oder verkommen lassen dürfte. Nein, es ist für ihn ein „von Gott geliehenes Talent“, mit dem zu wuchern ihm aufgetragen ist. So verwundert es nicht, dass er beim Fürsten nicht nur die Not seiner Kapelle beklagt, sondern mit seinen inzwischen 68 Jahren immer wieder auch um seine Versetzung in den 4

Ruhestand bittet. Es zieht ihn nach Weißenfels in die Stadt seiner Kindheit. Hier ist er sicher, Zitat: „dass ich mit ausarbeitung meiner Musicalischen werke es viel weiter gewißlich bringen werde“. Schütz, der sein Werk selbstbewusst mit Opuszahlen herausgibt, ist ordentlich, was begonnen wurde, will er auch vollenden. Dass da eine Menge Material schlummert, zeigen die „Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“. Chronologisch schwer einzuordnen, erscheint die Komposition als Vorform der großen Passionen. Die Golgatha-Szene ist umhüllt von der 1. und 9. Strophe des vorrefomatorischen Liedes „Da Jesus an dem Kreuze stund“. Die Christusworte lässt Schütz von zwei Violinen begleiten, später wird noch Joh. Sebastian Bach genauso verfahren! Durch den Wechsel zwischen rhetorisch ausgefeilten Erzähl-Partien und mehrstimmigen Sätzen entsteht eine gedrängte Lebhaftigkeit und Ausdrucksdichte der Kreuzesszene, die damals neu und ungewohnt ist! Den Sinn dieser Meditation fasst Schütz auf dem Titelblatt in einer dialektischen und paradoxen Gedankenfigur derartig schön in Worte, dass hier auch einmal sein dichterisches Talent aufscheint: „Lebstu der Weltt, so bistu todt/ und kränckst Christum mit schmertzen / Stirbst‘ aber in seinen Wunden roth / So lebt er in deim Hertzen.“

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Musik 2 2:55 Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze Ausschnitt Sieben letzte Worte / SWV 478 „Mein Gott warum hast du mich verlassen – Es ist vollbracht – Und gab seinen Geist auf“ CD: Lukaspassion Take 3

Die Sieben Worte Jesu am Kreuz SWV 478 Lukaspassion & Die sieben Worte Kunath, Stefan; Kobow, Jan; Mäthger, Tobias; Rumpf, Felix; Schwandtke, Felix; Dresdner Kammerchor; Rademann, Hans- Dresdner Kammerchor; Hans-Christoph Rademann Schütz, Heinrich Bibel

Moderation 3 Ein Ausschnitt aus den „Sieben letzten Worten“ mit Stefan Kunath, Altus, Tobias Mäthger, Tenor und Felix Schwandte, Bassbariton. Ich würde Ihnen gerne möglichst chronologisch von Schütz‘ Werken erzählen, aber genau da liegt eine große Schwierigkeit. Wir kennen nicht einmal genau die sich überlappenden Entstehungszeiten der einzelnen großen Werkgruppen. Die siebenstimmige Rahelmotette „Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehöret“ aus der geistlichen Chormusik z.B., eine erschütternde Klage über sterbende Kinder, die die Grenze zw. gottesdienstlicher und konzertanter Musik vollkommen sprengt, könnte ebenso zum 2. oder 3. Teil der „Symphoniae Sacrae“ gehören. Autobiographisch spiegelt sich darin gewiss die Trauer um die vielen Kinder, die Schütz einzige überlebende Tochter Euphrosyne immer wieder zur Welt bringt und von denen nur eines 6

überlebt. Und das hat übrigens Folgen: als nämlich Euphrosyne 1655 im Kindbett stirbt und Schwiegersohn Pincker in Leipzig erneut heiratet, setzt in der Sippe die Vergesslichkeit ein. Das Erbe des musikalischen Großvaters findet kein Interesse! Der prall gefüllte Notenschrank aus der Komponierstube in Weißenfels geht verloren, mit ihm Noten und Handschriften, ein unersetzlicher Verlust! Doch zurück zur Musik. Es lohnt ein Blick auf die Symphoniae Sacrae. Der 2. Teil dieser deutschen Konzerte erscheint 1647, der 3. kommt 1650 heraus. In der vokalen Besetzung steigert Schütz die Mittel von der 2- bis zur 6-Stimmigekeit. beide Teile bieten hoch virtuose Gesangs-Partien und endlich tritt Schütz auch als Instrumentalkomponist deutlich hervor. Die Gewichtung verschiebt sich von alttestamentarischen auf neutestamentarische Texte. Lebhafte Stimmführung, tönendes Bild, symbolische Figur kommen viel häufiger vor, als in der streng kontrapunktischen geistlichen Chormusik. Im Konzert „, was verfolgst du mich?“ z.B. wird die die Bekehrung des Paulus wie im Brennglas geschildet. Die Rede Gottes wird nicht mit wuchtigen Akkorden, sondern in metrischen Verschiebungen und Staffelungen so in Szene gesetzt, dass ganz allmählich das Tutti anbrandet. Gottes Wort wird nicht als äußerlicher, donnernder Ruf verstanden, sondern als innerlich keimender Prozess, der unaufhörlich in der Seele wieder hallt. Und dann: dann wird man eben - wenn einen die Familie vergessen hat - viel später von anderen wieder entdeckt. Z.B. von , der diese Motette 1864 in Wien wieder aufführt.

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Musik 3 2‘43 „Saul, was verfolgst du mich“ aus: Symphoniae Sacrae III Saul, Saul, was verfolgst du mich? Geistliches Konzert für 6 Stimmen, 2 obligate Violinen, Instrumente und Basso continuo, SWV 415 (op. 12 Nr. 18) Symphoniae Sacrae III Cantus Cölln; Concerto Palatino; Junghänel, Konrad Schütz, Heinrich Bibel, NT

Moderation 4 Cantus Cölln und Concerto Palatino unter Konrad Junghänel. Wenn Schütz, wie sein Biograph Martin Gregor-Dellin meint, ein heiterer Mann von trockenem Humor war, so wurde er im Alter doch auch unbequem und bissig. Wen wundert’s bei einem so sturen Landesvater? Schütz ist eine Autorität in allen musikalischen Fragen. Aber eine Reform der maroden Hofkapelle in Dresden traut er sich mit 70 Jahren nicht mehr zu. Er bittet wieder und wieder um Entlassung und überträgt die Verantwortung anderen. Er kann 1655 auf ein reiches kompositorisches Oevre blicken und wird immer wieder von verschiedenen Höfen und Städten angefragt: man holt ihn für den Aufbau von Chören und Orchestern, bittet ihn um Gutachten und sucht seinen Rat bei Stellenbesetzungen. Doch diverse Intrigen und Eifersüchteleien am Hof in Dresden zwischen Musikern deutscher und italienischer Herkunft machen ihm das Leben schwer. Schmerzlich ist für ihn, dass der junge Kastrat Giovanni Andrea Angelini verpflichtet wird, der sich Bontempi nennt. Obgleich der von Schütz respektvoll als seinem „Herrn und Freund“ spricht, bahnt sich doch ein 8

Generationenkonflikt an. Dass sich der Alte am Sonntag beim Gottesdienst, wenn er die Kapelle und den Chor leitet, mit dem kaum dreißigjährigen Gesangvirtuosen und Kastraten alle 2 Wochen abwechseln soll, das verletzt seinen Stolz und sein künstlerisches Ethos zutiefst. Nur mit einem kann der älteste Hofkapellmeister seiner Herrschaft noch dienen: mit der Trauermotette, die zur Bestattung Johann Georgs I. am 8. Oktober 1656 erklingt: „Herr nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren“.

Musik 4 3’06 Nunc dimittis SWV 432 für Georg I Herr, nun lässest du deinen Diener im Friede fahren. Canticum Simonis, SWV 432, für 2 Zinken, 4 Posaunen und Basso continuo & Motetten Musica Fiata; Wilson, Roland Schütz, Heinrich

Moderation 5

Musica Fiata mit Roland Wilson. Der Nachfolger Kurfürst Johann Georg II ist gnädig und entlässt Schütz. Der verlässt den Dresdner Neumarkt und bezieht das Haus in Weißenfels gegenüber der Schütz-Gaststätte, das er schon 1651 gekauft hat. Hier ist es ruhiger, er lebt nun zusammen mit seiner verwitweten Schwester Justina. So vieles hat er noch zu beenden, darunter mehrchörige polyphone Großpsalmen und die rezitativischen Passionen, aber auch die Zwölf geistlichen Gesänge. Das Besondere daran: sie spiegeln ein Stück Alltagskultur im Hause Schütz. Sie bestehen aus Teilen der evangelischen Messe 9 und häufig verwendeten Dankpsalmen, Tischgebeten und einem . Man gewinnt Einblick in eine kleine, private Musikpflege, die auch in vielen Kantoreien und kleinen Kirchen z.B. mit zwei Knabengruppen und einem Sänger ausgeführt wird. Dass die Sammlung erhalten bleibt, verdanken wir Schütz‘ Schülern: Christoph Kittel und Christoph Bernhard. Sie erkennen deren Gebrauchswert und systematisieren und konservieren das Wissen später in ihren Kompositionslehren. Dabei bemühen sie sich intensiv darum, einen Stil zu überliefern, der als Gegenpol zur modernen italienischen Manier empfunden wird, indem die Prinzipien des kontrapunktischen Satzes hochgehalten werden. Wir hören „O süßer Jesu Christ, wer an dich recht gedenket“. Der Text von Johann Heerman orientiert sich an dem Bernhard von Clervaux zugeschriebenen Hymnus „Jesu, dulcis memoria“.

Musik 5 3’52 O süßer Jesu Christ, wer an dich recht gedenket Geistliche Gesänge für Kammerchor und Basso continuo, op. 13 Zwölf geistliche Gesänge Klein, Irene; Dresdner Kammerchor; Rademann, Hans- ChristophSchütz, Heinrich

Moderation 6

„O süßer Jesu Christ“ aus den geistlichen Gesängen mit dem Dresdner Kammerchor. Trotz seines Rückzugs von Dresden erklärt Schütz dem neuen Kurfüsten seine Bereitschaft, bei großen 10

Anlässen zur Verfügung zu stehen. Und die kommen: im September 1662 wird die renovierte Schlosskirche eingeweiht, wenige Wochen später heiratet Erdmuthe Sophia, die Tochter von Johann Georg II. Im Oktober 1665 gibt es ein großes Fest zum Geburtstag der Kurfürstin. Was im einzelnen der 80-jährige Schütz für diese Anlässe schreibt, ist heute nicht mehr bekannt. Doch eine der großen späten Kompositionen ist bekannt: die Weihnachtshistorie. Vermutlich schon um 1660 entstanden, kommt sie 1664 in Dresden im Druck heraus, sie wird eines seiner populärsten Werke. Überraschend dabei: er veröffentlicht nur die Partie des Evangelisten! Wegen mangelhafter Aufführungen seiner anspruchsvollen Musik hält er die konzertierenden Teile zurück! Der Evangelist erzählt in einem Parlando von so großer Natürlichkeit, dass Schütz mit Recht behaupten kann, derlei sei in Deutschland noch nie veröffentlicht worden. Thematisch wird ein großer Bogen geschlagen, von der Geburt Jesu in Bethlehem über die Ankunft der Sterndeuter, die Flucht nach Ägypten, den Kindermord des Herodes und die Rückkehr der Familie nach Nazareth. Die ein- bis sechstimmigen Konzerte haben es in sich: Die Besetzung hat immer symbolische Bedeutung: Flöten begleiten die Hirten, das exotische Dulzian die „fremden“ Sterndeuter, die scharfen Klänge des Zink den König Herodes, jubelnde Violinen die Engel. Die Warnung des Engels bildet mit lebhaften Melodiefloskeln die Bewegung des Fliehens nach Ägypten ab, scharfe chromatische, schmerzvolle Wendungen deuten das Grauenvolle des Kindermords in Betlehem an.

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Musik 6 4’25 Flucht nacht Ägypten Kindermord des Herodes Historia von der Geburt Jesu Christi für Soli, Chor, Instrumentalensemble und Basso continuo, SWV 435 Weihnachtshistorie Sämann, Gerlinde; Poplutz, Georg; Schwandtke, Felix; Dresdner Kammerchor; Dresdner Barockorchester; Rademann, Hans- Christoph Schütz, Heinrich

Moderation 7

Georg Poplutz als Evangelist, Gerlinde Sämann als Engel, der Dresdner Kammerchor und das Dresdner Barockorchester unter Hans-Christoph Rademann. Schütz späte Kompositionen entstehen im Dachgeschoß des Hauses in der berühmten Komponierstube mit Blick nach Norden auf den Kirchturm von Weißenfels. In seiner Zurückgezogenheit widmet sich der alternde Schütz auch intensiv der Schilderung des Kreuzestodes Jesu in den Evangelien. Offenbar aber nicht als Selbstzweck, sondern im Auftrag Johann Georg II. Einträge in Hoftagebüchern dokumentieren Aufführungen aller 3 Passionen: „Es ward die Passion aus dem Evangelisten Johannes nach der neuen Komposition des Kapellmeisters Heinrich Schütz gesungen.“ heißt es unter einer Rubrik an Karfreitag 1665; am Palmsonntag 1664 hörte man die Lukaspassion, am Sonntag Judica 1666 die Matthäuspassion. Möglich wurde dies mit der Einweihung der 12 neuen Schlosskapelle und dank einer Reform: Johann Georg dem II. lag sehr an einer prächtigen musikalischen Ausstattung der Hofgottesdienste. Der liturgischen Verwendung entsprechend vertont Schütz jede der Passionen ohne Instrumente und sogar ohne Generalbaß. Uns mag diese Kargheit irritieren: der Evangelist berichtet recht nüchtern. Einzelne Worte jedoch lässt Schütz immer wieder musikalisch besonders aufleuchten. Äußerst knapp, oft auf nur wenige Sekunden verdichtet, sind in allen vier Passionen die chorischen Einwürfe. Als Repräsentanten der verschiedenen Akteursgruppen ragen sie scharfkantig aus der Erzählung heraus. Das spitzt sich dramatisch zu im Pilatus-Drama der Lukaspassion. Schütz verfolgt in den Passionen gleich mehrere Ziele: er beachtet den strengen Satz, der Text wird intensiv ausgedeutet, indem bildhaft Affekte dargestellt werden, Harmonie und Tonalität handhabt er immer freier. Und immer wieder mag der Zuhörer überrascht worden sein von melodischen Elementen aus der italienischen Oper. Das moderne Konzertieren und die alte Motette so dicht zu verweben, das vermag keiner so perfekt. Und natürlich dürfen wir das alles nicht mit Bach vergleichen! Hier haben zwei Meister zu ihrer Zeit ganz unterschiedliche Entwicklungen zu ihrem Höhepunkt geführt.

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Musik 7 4’35 Lukaspassion ein Ausschnitt / Take 17 Jesu Verurteilung 4‘35 Nr. 11: Jesu Verurteilung Ab: "Pilatus aber rief die Hohenpriester" bis „Jesum übergab er ihrem Willen“ Solist Kobow, Jan Tenor - Evangelist Solist Schwandtke, Felix Bass - Pilatus Chor Dresdner Kammerchor Dirigent Rademann, Hans-Christoph

Moderation 8

Ein Ausschnitt aus der Lukas Passion mit Jan Kobow, Tenor und Felix Schwandtke Bass sowie dem Dresdner Kammerchor. In Gedichten beschreibt der Weißenfelser Pfarrer Georg Weiße Schütz‘ Dachkammer, die „Clause“: einen Renaissanceschrank hat er zum Notenarchiv umgebaut und bis oben mit Partituren, Stimmen, Drucken und Handschriften vollgestopft. Das Losungswort für sein Begräbnis - wir hören noch davon – hat er schon mal an die Wand geschrieben: „Gott, deine Rechte sind mein Lied in meinem Hause“. In der kleinen Stadt ist der 85-jährige eine Institution. Zahlreich sind die Schüler, die er zuhause am Clavichord unterrichtet. Immer wieder wird er um Zeugnisse für Musiker und Empfehlungen für die Besetzung von Stellen gebeten. Ob er den Sohn Johann Hermann Scheins nach Leipzig schickt, für Gera und Weißenfels Kantoren organisiert, Johann Jakob Loewe von Wien an den Wolfenbütteler Hof holt, überall zieht er die Fäden. Er prägt eine Kantoreikultur ganz eigener Art und hat damit 14 großen Einfluss auf das Musikleben im deutschsprachigen Raum. Von Kaspar Kittel über Matthias Weckmann, Constantin Dedekind und Andreas Hammerschmidt kann man ganze vier Generationen Schüler identifizieren, die überall seine Denkweise und Kompositionslehre vertreten. Zu den entschiedensten Bewahrern des Kontrapunkts gehören Christoph Bernhard, Johann Jakob Loewe und Johann Theile. Wobei man nicht von „konservativ“ oder „progressiv“ reden sollte, Schütz vertritt die „zwei Geiste“ der Zeit auf exemplarische Weise und versucht sie auf einen gemeinsamen formalen Nenner zu bringen. Wirkung jedenfalls hat er so weit über seinen Tod hinaus: Matthias Weckmann gibt die Erfahrungen der sächsisch-thüringischen Schule in Norddeutschland an Dietrich Buxtehude weiter, Johann Theile beeinflusst Johann Gottfried Walther, den Vetter von Johann Sebastian Bach. Und in Bachs „Musikalischem Opfer“ und der „Kunst der Fuge“ erfüllt sich schließlich auch etwas von dem, was Schütz einst vorschwebte.

Musik 8 2’06 Bach: Musikalisches Opfer Fuga canonica 2:06 Musikalisches Opfer, BWV 1079 Moroney, Davitt; Cook, Martha Bach, Johann Sebastian

Moderation 9

David Moroney und Martha Cook mit der „Fuga canonica in Epidiapente“ aus dem Musikalischen Opfer von J.S. Bach. Ein ungewöhnliches Geschick begleitet Schütz Opus Ultimum, den Schwanengesang: es handelt sich um die Vertonung des 119. 15

Psalms. Dieses Werk ist tatsächlich ohne Auftrag entstanden. Aber Constantin Christan Dedekind , der es als Schüler und Vertrauter mit einer Widmungsvorrede versehen hat, berichtet davon, dass Schütz an eine Aufführung auf den beiden 1662 neu errichteten Emporen über dem Altar der Schlosskirche gedacht hat. Ganz und gar verschwunden schien dieses berühmte letzte Werk bis 1981, da wurde es bei den Dresdner Musikfestspielen mit der Capella Saggittariana endlich uraufgeführt. Auf dem Umweg über Johann Georgs jüngeren Bruder Christian von Sachsen Merseburg, der es als Erinnerungsstück wohl mitgenommen hat, wandert das Werk über die Niederlausitz, die Preußische Staatsbibliothek Berlin nach Dresden und taucht dort erst 30 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs in der Sächsischen Landesbibliothek wieder auf. Wolfram Steude fand 1980 die nicht ganz vollständigen Stimmbücher, er hat sie rekonstruiert und herausgegeben. Nach Lutherscher Theologie stellt der Psalter, wenn man ihn neutestamentlich deutet, eigentlich die ganze Bibel dar, und das gilt im Besonderen für den 119. Psalm. Wenn Schütz also am Ende seines langen Lebens diesen Psalm vollständig vertont, dann tut er es in dem Bewußstein, die ganze Bibel in nuce in Musik zu setzen. Es geht ihm um das Enzyklopädische des Textes. Die Buchstaben des hebräischen Alphabets gliedern die Verse in 22 Gruppen, Schütz vertont sie in 11 doppelchörigen Motetten. Im Anhang fügt er den 100. Psalm und das deutsche Magnificat bei. Liturgisch bedingt ist die einstimmige Intonation zu Beginn, die in den Schlussformeln widerkehrt. Ob Schütz seinen Schwanengesang, den er selbst so nannte, noch hören konnte, weiß man nicht. Die säuberliche Reinschrift überreicht er 1671 Kurfürst Johann Georg II. Am 16. 16

November 1772 erliegt er im Alter von 87 Jahren in Dresden einem Schlaganfall. Die 4. Motette enthält jenes Wort, dass er sich für seine Leichenpredigt ausgesucht hat: „Gott, deine Rechte sind mein Lied in meinem Hause“. Übersetzen kann man das Hebräische auch mit: „Deine Ratschlüsse wurden mir Anlass zu Lobgesängen dort, wo ich als Fremdling pilgerte“. Das also ist der Sinn seines Musizierens: in dieser unwirtlichen Welt den Rat Gottes zu loben. (Übersetzung bei Gregor-Dellin S.384)

Musik 9 3’50 Königs und Propheten Davids 119. Psalm in elf Stücken nebenst dem Anhange des 100. Psalms und eines deutschen Magnificats für 2 vierstimmige Chöre und Basso continuo, SWV 482-494 Der Schwanengesang Dresdner Kammerchor; Ensemble Alte Musik Dresden; Rademann, Hans-Christoph Schütz, Heinrich Bibel, AT Nr. 1: Wohl denen, die ohne Wandel leben. Aleph und Beth, SWV 482

Moderation 10

„Wohl denen die ohne Wandel leben“ aus dem Schwanengesang mit dem Dresdner Kammerchor. Die Wiederentdeckung des Heinrich Schütz im 19. Jahrhundert ist ein eigenes Kapitel, dem ich noch weitere Sendungen widmen könnte. Gleiches gilt für seine Wiederbelebung in der deutschen Chormusik in den 1920er Jahren, die Gründung der Schützgesellschaft, die wissenschaftliche Aufarbeitung und die 17 neuen Gesamtausgaben. Hört man Schallplatten und CD’s der letzte 40 Jahre, kann man Überraschungen erleben: Veränderungen in der Aufführungspraxis gehen so weit, dass man z.T. einzelne Stücke kaum wieder zu erkennen glaubt, so unterschiedlich sind die Interpretationen. Aber: der Mensch Schütz stand jetzt mal im Vordergrund. Und es hat sich gezeigt: er ist einer, dessen Haltung zur Welt aus Zuwendung und Widerstreben besteht, und dass in einer ziemlich spannungsvollen Mischung. Kommt einem doch irgendwie bekannt vor und ist von heute gar nicht so weit weg. Der Mann und sein Werk jedenfalls haben, trotz vieler Missgeschicke in der Überlieferung, die Zeiten überstanden. Und seine Musik hört nicht auf, über die Epochen hinweg, Konzert- und Gottesdienstbesucher, Liebhaber und Spezialisten zu begeistern und zu faszinieren! Musik 10 2’35 Deutsches Magnificat Ausschnitt Nr. 13: Deutsches Magnificat: Meine Seele erhebet den Herren, SWV 494

ABSAGE:

Das war die Musikstunde mit Anette Sidhu-Ingenhoff. Morgen gibt es an dieser Stelle wieder das Musikstundenrätsel mit Katahrina Eickhoff.