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Film und Gesellschaft denken mit Siegfried Kracauer

Herausgegeben von Bernhard Groß, Vrääth Öhner, Drehli Robnik

VERLAG TURIA + KANT WIEN–BERLIN Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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ISBN 978-3-85132-924-7

Bildnachweise: S. 69: Fotos von Hertha Hurnaus S. 102: Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriftenabteilung. Nachl. . Gerhart Hauptmann und Nachl. Margarete Hauptmann

Cover: Bettina Kubanek, Visuelle Kommunikation, Berlin Lektorat: Bernhard Groß, Vrääth Öhner, Drehli Robnik Satz: Vrääth Öhner

© Copyrights bei den Autor_innen © für diese Aisgabe: Verlag Turia + Kant, 2018

VERLAG TURIA + KANT A-1010 Wien, Schottengasse 3A/5/DG1 D-10827 Berlin, Crellestraße 14 / Remise [email protected] | www.turia.at INHALT

Einleitung ...... 7

HEIDE SCHLÜPMANN Raum geben. Kracauer, Plessner und das Kino als bedeutender Ort . . 10

KARIN HARRASSER Dokumente zu einer Kulturgeschichte der Saponier. Gegen den Tag mit Siegfried Kracauer ...... 23

ULRICH MEURER Ruggles, Rezitieren, Amerikaner-Werden ...... 33

DREHLI ROBNIK Burning through the causes: Kracauers Politik-Theorie der Paradoxie und maintenance (im Zeichen von Faschismus 2, Blair Witch 3 und Mad Max 4) ...... 47

GABU HEINDL Zwischen Raum und Raum. Mit Siegfried Kracauer über gleichwertige Dinge, alltägliche Architektur und Kino als demokratische Öffentlichkeit ...... 62

BERNHARD GROSS Brutbürger? Zur Genealogie des Kracauerschen Begriffs »ausbrüten« . 70

NIA PERIVOLAROPOULOU Passagen zwischen Kritik und Theorie, Roman und Film: Kracauers Tartarin sur les Alpes ...... 85 LINDA WAACK Gerhart Hauptmann beim Golfspiel auf Hiddensee. Zu Kracauers Mikrohistorie ...... 99

MICHAEL WEDEL Grausame Geschichte. Kracauer, Visual History und Film . . . . . 107

LIA MUSITZ The detective’s brain is a hard drive, his senses are software: Der Detektiv in den Dingen als Idee und Praxis einer latent rechtssetzenden Umwelt ...... 120

MARC RIES Vorletzte Bilder ...... 132

Autor_innen ...... 143

Bibliografie ...... 147 Ruggles, Rezitieren,

Amerikaner-Werden1

Ulrich Meurer

1. DULDUNG – Wie darf ich wagen, vor Ihnen von Siegfried Kracauer zu sprechen, die Sie sich alle des Einsatzes seines Denkens wohl bewusst sind? Wie kann ich vor Ihnen das Wort ergreifen als einer, der ihm bestenfalls sporadisch begegnet ist und von der gebotenen Umsicht einschlägiger Kra- cauer-Lektüren wenig weiß? Vor Ihnen, die meistenteils Kenner, Exegeten, Herausgeberinnen Kracauers sind, Einheimische eben (sofern gerade Kra- cauer so ein Wort zuließe), Zugehörige, Autochthone? Während Ihnen solche Selbsterniedrigung womöglich befremdlich schei- nen mag, greift sie einen Duktus auf, dem man in einigen Vortragstexten Der- ridas begegnet: Ein ums andere Mal der Hinweis, dass er sich etwas heraus- nehme, dass er am falschen Ort spreche und dem Wissen seines Publikums nicht gerecht werden könne. Derweil paraphrasiere ich Derrida nicht, um zu unterstreichen, dass ich mich gewöhnlich einer ganz anderen als der ›kriti- schen‹ Theorie widme. Statt dessen drei – hoffentlich gute – Gründe: Erstens der Sprechakt. Wann immer Jacques Derrida die Gemeinschaft sei- ner Zuhörerinnen so inständig um Nachsicht bittet, geht es ihm gleich darauf um die performative Rede. Seine Vorlesung etwa zum zweihundertsten Jah- restag der Declaration of Independence, gehalten 1976 an der University of Virginia, könne nur Oberflächliches über jene Erklärung, jenes Versprechen, jenen Vertrag sagen, »and even about what always presupposes them [...]: the presentation of excuses« (Derrida 1986, S. 7). Und nach diesem Ansu- chen um Vergebung, selbst gründlich performativ, beschreibt er die Dekla- ration als Sprechakt, der das amerikanische Volk, das sich da für unabhän- gig erklärt, zugleich erst erfinde. Oder der Vortrag, den Derrida 1998 auf einem Übersetzerkongress in Arles hält: »Comment oser parler de traduction devant vous?«, »Wie es wagen, vor Ihnen von Übersetzung zu sprechen?« (Derrida 1998, S. 21) Und dann befasst er sich mit dem Juden Shylock, der aufgefordert ist, zu vergeben und auf sein Pfund Fleisch zu verzichten. Die

1 Wie die übrigen Beiträge des Bandes geht dieser Text auf einen Vortrag zurück, der im November 2016 im Rahmen eines Symposiums zu Siegfried Kracauers 50. Todestag in Wien gehalten wurde. Da es ihm vor allem um Rede, Sprechakt und die Adressierung und Affek- tierung einer Zuhörerschaft geht, hält er sich möglichst nah an die ursprüngliche mündliche Form.

33 Vergebung aber vollziehe sich, ebenso wie Shylocks Weigerung, wiederum allein im Sprechakt, in der Rede, die den Menschen ›tatsächlich‹ ent- oder verschuldet, anerkannt oder ausgestoßen sein lässt … Darum also meine Bitte um Nachsicht. In ihr und der darin implizierten Gewährung ist der Sprech- akt aufgerufen, der in die Wirklichkeit sowohl des Sprechenden als auch der Hörenden eingreift. Eben das ist, was wir zu sehen und zu hören bekommen, wenn ich im weiteren auf jene besondere Rezitations- und Schlüsselszene aus Leo McCareys burlesker Westernkomödie Ruggles of Red Gap (1935) einge- hen werde, auf die Ansprache des Leibdieners Marmaduke Ruggles, die ihn, so Kracauer, zum Amerikaner macht. Zweitens die Assimilation. Mit Shylock bereits wird deutlich, wie Unter- würfigkeit oder Unterwerfung, Entschuldigung und Vergebung immer denje- nigen betreffen, der auf seine Weise unvertraut, unangemessen, ungeziemend, unzureichend, unzugehörig ist. Da wird eine Grenze markiert, die zwischen der Gemeinschaft, ihrem Wissen, ihren Regularien und dem Fremden oder Minderen, seinem Unwissen und seiner Regellosigkeit verläuft – zwischen akademischen Theoriefeldern, zwischen dem Juden und der venezianischen Stadtgesellschaft oder zwischen dem Europäer und der Neuen Welt. Wie kann ich wagen zu sprechen? – das ist stets ein Aufnahmegesuch, selbst in der stolzen Abgrenzung, eine Bitte um Einlass, Anerkennung oder Duldung (das Vokabular, mit dem man Migrantinnen begegnet). Neuerlich führt das zu Ruggles, dem englischen Diener, der spricht – der anfangs nur murmelt; nur nicht zu laut –, damit er in die Gemeinschaft der Amerikaner eintreten darf. Drittens der Affekt. Die Selbstherabsetzung des Redners mag zunächst wohl peinlich wirken. Der Affekt aber hat wesentlichen Anteil an solchem Sprechen, denn womöglich entscheidet gerade er über Zu- oder Absage durch das berührte Kollektiv. Wenn sich darum auch Kracauer der Ansprache Rug- gles’ zuwendet, wenn er die Bilder und Worte der Szene gewichtet und ins Verhältnis setzt, dann nicht zuletzt um darin Lage und Grad der Affizierung zu bestimmen – des Redners selbst, der ergriffenen Zuhörerschaft, des Film- publikums. Dabei ist ganz allgemein (und das heißt hier: im ›spinozistischen‹ Sinne) der Affekt nichts anderes als Einwirkung eines Körpers oder einer Idee, eines linguistischen Corpus, eines gesellschaftlichen Körpers, einer Kollektivi- tät auf eine andere, »die Fähigkeit des Körpers oder des Denkens, zu affizie- ren und affiziert zu werden« (Deleuze 2001, S. 126). Dieser Wirkzusammen- hang verändert unweigerlich die Kräfte und Position im Leben dessen, der spricht, und derer, die adressiert sind – eben als Funktion des Sprechakts. Alles weitere, mein gesamter Vortrag wird also diese drei Fragen entlang einer bestimmten politischen Rede im Film variieren: diejenige nach dem Per- formativen, nach der Fremdheit und ihrer Aufhebung, und nach der filmi- schen Verteilung von Affekten.

34 2. NATURALISATION – Nach der Abreise in Lissabon und zehntägiger Überfahrt auf dem Dampfschiff Nyassa trifft Siegfried Kracauer zusammen mit mehr als achthundert anderen Exilanten am 25. April 1941 in New York City ein (Moltke 2016, S. 1f): Neues Land, neue Sprache und eine neue Stadt, die ihm bisher nur als Filmkulisse bekannt war und die er darum mit seiner Kinoerfahrung abgleicht. Aber diese spezielle Empfänglichkeit für oberfläch- liche Eindrücke werde er bald einbüßen; »the newcomer establishes himself in America, and soon his contact with the customs of this country are too intimate [...], his reactions are no longer those of a spectator but of a parti- cipant« (Kracauer 1942, S. 39). Ohnehin ist er sich der Obliegenheit einer grundlegenden Verwandlung aufs schärfste bewusst, nicht erst jetzt, sondern bereits in Paris, von wo er 1935 an Walter Benjamin schreibt: »Man wird sich radikal umstellen müssen: auf die angelsächsischen Länder und Frankreich.« Allerdings sollte ihm, wie er findet, solche Assimilationsarbeit leichter fallen als anderen, da er immer schon dem, »was deutsche Mentalität heissen darf, fremd, ja feindlich gegenüber gestanden« habe (Benjamin 1987, S. 82). So lernt Kracauer Englisch aus dem Stand und veröffentlicht schon im November desselben Jahres seine erste Filmkritik im alten und ehrwürdigen Wochenma- gazin The Nation (Moltke 2016, S. 6). Dieser Umstand – »publishing almost exclusively in English within half a year of arriving in New York« (ebd., S. 10) – dient Johannes von Moltkes Darstellung des ›neugierigen Humanisten‹ Kracauer gleich mehrmals als Beleg gegen das abgegriffene Bild vom Einsied- ler-Migranten, der versiegelt ist gegen das Gesellschafts- und Geistesleben der Stadt und sich in der Bibliothek des MoMA hinter einem Cordon aus Büchern verschanzt, um dort langsam und unter Schmerzen seine Filmtheorie zu gebären. Radikale Umstellung auf das angelsächsische Gastland, sicherer Ausdruck, publizierte Artikel (von den Büchern, die kommen werden, ganz zu schweigen): alles scheint hier dem Adorno-Wort zu widersprechen, »der Denkende in der Emigration sollte sich nicht vormachen, ein neues Leben zu beginnen« (Adorno 1986, S. 357). Alles mag stattdessen auf geglückte Natu- ralisation deuten, auf einen vollkommenen und vollkommen schmiegsamen Übergang vom Werden des Exilanten zum Amerikaner-Sein, so dass später Kracauers FBI-Akte seine Nachbarn zitieren kann, wie sie ihn als »loyal Ame- rican citizen« beschreiben (Kaes 2012, S. 266). Zugleich aber – darüber muss ich nicht viele Worte verlieren – sind Kra- cauer die Fremdheit und Entfremdung Grund aller kritischen Subjektivität. Überall finden sich Tropen des Exils, der Obdachlosigkeit und Außensicht in seinen Selbstbetrachtungen und als Bedingung allen geschichtlichen Wissens. Der Ort des Historikers, des Fotografen, Kracauers selbst liegt im »no-man’s land«, im »near vacuum of extra-territoriality« (H, S. 83). Von dort verfasst der distanzierte Beobachter sachliche Berichte seiner Exkursionen in das Ver- gangene, in die physische Realität und die in ihren Musterbildungen manife-

35 ste Kultur. Sie verlangen den Blick aus der Entfernung oder, eher noch, aus ganz unlokalisierbarer Position, die das Subjekt nach seiner Selbstlöschung einnimmt. Derweil ließe sich wohl fragen, ob das Exil sich immer zu entscheiden hat zwischen unsicherem Außen und fugenloser Assimilation, ob es nicht auch hybride oder Mischsubjekte herstellen könnte (Moltke 2016, S. 9) – den Fremden trotzdem in der Mitte der Anderen, den neutralen Chronisten, der dennoch verlockt ist von den Wonnen des Gewöhnlichen. Gertrud Koch etwa scheint solch ein beharrliches Zugleich oder unbestimmtes Schwanken nicht allein in Kracauers Stellung zwischen Phänomenologie und Metaphy- sik auszumachen oder in dem Umstand, dass sich die klarblickende Ideolo- giekritik des Extraterritorialen niemals recht versöhnen lasse mit Kracauers tiefem Verlangen nach einer suggestiven Beschwörungs- und Erlösungskraft des filmischen Materials (Koch 1991, S. 108, 102). Genauso sei die Hellsicht von außen immer ergänzt durch den Wunsch, sich dem trivialen und aurati- schen Leuchten einer geistigen Heimat oder Lebenswelt hingeben zu dürfen: »[If] one reads the writings of Siegfried Kracauer more closely, the disparity [...] between ›clear vision‹ and a longing for ›a magical, albeit empty glow‹ widens into a permanent rift that tears the entire fabric of Kracauer’s writings asunder« (ebd., S. 96). Darin deutet sich an, was als Ineinander von Beobach- tung und Begehren, Exterritorialität und Assimilation die besondere unruhige Bewegung in Kracauers Denken ausmacht: Statt Exilant-Werden oder aber Amerikaner-Sein, Exilant-Sein und dabei Amerikaner-Werden.

3. I DON’T KNOW, I WASN’T THERE – Weil der Earl of Burnstead sei- nen sehr britischen und standesbewussten Butler Ruggles () beim Pokerspiel an einen grobkarierten Millionär aus dem Wilden Westen verliert, reist der Leibdiener mit seinem neuen Herrn ins Städtchen Red Gap im Staate Washington, um dort erstmals den Wert egalitärer Gemeinschaft und unabhängiger Selbstverwirklichung zu erfahren. Sein Übertritt aus den trauten Hierarchien der Alten Welt in das soziable Gefüge Amerikas voll- zieht sich dabei in einer Art Initiationsritus: Nach einiger Zeit in der Fremde lässt Ruggles seinen wohlmeinenden Herrn beim gemeinsamen Saloon-Be- such wissen, er wolle nicht länger in Diensten, sondern von nun an auf den eigenen Füßen stehen in diesem »land of great opportunity where all are created equal«. Der Arbeitgeber zeigt sich freudig überrascht, zumal Rug- gles’ Worte so sehr dem Geist der Gettysburg Address Abraham Lincolns entsprächen. An deren genauen Wortlaut kann er sich freilich ebenso wenig erinnern wie alle übrigen Gäste, die der Wirt, einen nach dem anderen, um Auskunft bittet: Achselzucken, man wisse es nicht, man könne sich nicht entsinnen, man sei nicht dort gewesen … Während aber das Gedächtnis aller Amerikaner versagt, beginnt Ruggles die Rede zu rezitieren, zuerst

36 unvernehmbar und dann immer beherzter, genauso fehlerlos wie bewegt vom demokratischen Pathos, bis sich all die Cowboys wie in Trance um ihn geschart haben und seine letzten Worte von der Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk in andächtiges Schweigen gesprochen sind. Diese Szene aus dem zweifellos randständigen Kinolustspiel Ruggles of Red Gap geht daraufhin um in Kracauers amerikanischen Schriften. Sie insis- tiert – von den Aufsätzen »Those Movies with a Message« und »National Types as Hollywood Presents Them« bis zur Theory of Film –, wenn auch in immer neuem Kontext und als Träger eines eher changierenden Sinns… Was ich hier nicht will: den Film oder die Szene zur Projektionsfläche machen für einen womöglich klandestinen Wunsch des Exilanten Kracauer, sich dem Amerikaner-Sein hinzugeben. Was ich stattdessen will: die Szene als ›Kipp- bild‹ einer generellen Exterritorialität des Assimilierten betrachten, nach den Ausschließungen fragen, die der Inklusion eingeschrieben sind, und nach der daran beteiligten besonderen Art der Rede, der Adressierung und Affizierung.

4. KONTRAPUNKTISCHER SYNCHRONISMUS – Zweierlei weiß Kra- cauer; zum einen, dass Bild und Ton in dieser Szene ebenso natürlich zusam- mengehen wie in der Wirklichkeit, da wir durchwegs denjenigen hören, den wir sprechen sehen: Synchronismus. Zum anderen verrät uns das Bild den- noch etwas, was die Tonspur, was Lincolns Rede nicht enthält, Ruggles hof- fungsfrohe Aufnahme in die Gemeinschaft der Amerikaner: Kontrapunkt.

As the familiar Lincoln words drop in on us, we experience something intima- tely related to their flow but not implied by them – Ruggles’ happiness about his integration into the community and the customers’ recognition that he now »belongs«. This story is told by the pictures alone. To be sure, they cannot possibly tell it without the synchronized speech which touches off their contra- puntal suggestions, but the speech itself recedes, assuming the modest role of a catalytic accompaniment. (ToF, S. 121)

Ein solches synergetisches und genuin filmisches Verhältnis zwischen Bild und Ton komme ausschließlich zustande, wenn die fotografische Realität über dem gesprochenen Wort stehe. Andernfalls – wenn nämlich die unbe- lebte Natur in den Hintergrund verbannt, wenn sie durch die Rede exiliert sei –, bleibe nur »discursive reasoning, [...] all those rational and poetic com- munications which do not depend upon pictoralization« (ToF, S. 104). Was Kracauer also zuerst systematisch trennt, um es daraufhin miteinander in Beziehung setzen zu können, das sind einerseits Sprechsubjekt und Rede, die hier zusammenfinden, und andererseits die Bedeutungen von Bild und Diskurs, die hier auseinandertreten. Ihre Relationierung aber, die Kracauer darauf in ein binäres Kastendiagramm übersetzt, beruht auf der vorgängigen Spaltung: Jedem Sprecher müssen die Worte erst medial beigeordnet werden

37 (ihre Beziehung ist synthetisch und nicht natürlich); und genauso kontingent oder umstritten ist der Ort filmischer Bedeutung, einmal das Bild, ein ander- mal der Ton (auch sie gehören nicht einfach zusammen, um gemeinsamen Sinn herzustellen). In der Ansprache Ruggles’ folgen die Worte dem Fluss der Bilder aufgrund der Weise, »in which sound and image are synchronized« (ToF, S. 103). Zugleich ist ihre Botschaft dem Bild unterstellt – vor allem weil die Rede Rug- gles’ nichts weiter als Zitat und die Gettysburg Address gemeinhin bekannt ist. »Since the listeners need not really pay attention to it to recall what belongs among their cherished memories, they may take in the words and yet be free to concentrate on the accompanying pictures« (ebd., S. 107). Der resultierende »kontrapunktische Synchronismus« lässt sich – unter römisch Zwei – darum präzise in Kracauers Schema eintragen:

Dabei aber bringt jener Riss, die Trennung von Bild und Ton, die ihren fil- mischen (Re‑)Kombinationsmöglichkeiten vorausgeht, unleugbar eine Rang- ordnung hervor, die sich nicht nur Kracauers Credo ›fotografischer‹ und also visueller Realität verdankt. Sie zeigt sich zudem in einem merklich poli- tisierten Vokabular, das das gesprochene Wort als »human bondage«, als eine »alte Versklavung« beschreibt, an deren Stelle das Bild die »Führung zu übernehmen« habe. Denn während das Wort die Leinwand nur »annek- tieren« könne und so die Physis »ins Exil« treibe, verfüge das Sichtbare über eine »legitime Vorherrschaft« (ToF, S. 102-105). In der politischen Rheto- rik und politisierten Filmästhetik tritt zutage, wie die Errettung der äuße- ren Wirklichkeit (Wovon? Von Diskurs, Konzept, Ideologie, Faschismus), die Wiedereinsetzung visueller Erfahrung im Kino, die Ägide des Optischen eben nicht nur eine Sache filmischer Montageformen ist. Sie transportiert immer auch eine politische Überzeugung in Bezug auf Subjekt, Weltsicht,

38 Humanismus, Liberalismus, wie Johannes von Moltke das Argument der Theory of Film paraphrasiert: »[The] medium might bring the politics of representation into equilibrium with the representation of politics« (Moltke 2016, S. 18). Indem jedoch Kracauer die Konkurrenzen und Allianzen zwischen Bild und Ton in Begriffen des Politischen fasst, steht der Sinn zumindest dieser Szene fest: Die Rezitation des europäischen Ankömmlings, der Lincolns rest- los kanonisierte Gedenkrede aufsagt, ist dem ›eigentlichen‹ Geschehen nach- geordnet, der Transformation des Butlers Ruggles »from an English gentle- man’s gentleman into a self-reliant American« (ToF, S. 107). Es geht mithin nicht allein darum, ein treffendes Beispiel anzuführen für die legitime Vor- herrschaft des Sichtbaren im Film, sondern zugleich um den Einlass des Exi- lanten Ruggles in ein spezifisch amerikanisches Paradigma: Entgegen etwa der wortreichen Dominanz des Dialogs im französischen Kino, »devoted to delicacy of literary language [...] in which the flood of words submerged the pictures« (Kracauer 1942, S. 34), verwirklicht erst Amerika den »wahren Film« in der Bedeutung der Bilder. Die Szene ist wahres Kino, und sie ist ame- rikanisches Kino. Oder besser: sie macht die Relation von Rede und Bild als politischen Übergang von der Alten zur Neuen Welt kenntlich.

5. WAS SPRICHT ER? WER SPRICHT? – Wäre aber das nicht genau jene Hingabe an das auratische Leuchten einer geistigen Heimat? Ich war ein Fremder, und jetzt bin ich eingegangen in die Gemeinschaft – der Kino­ realismus, die Großaufnahme des beglückten Gesichts bestätigt, mehr noch, vollzieht die Metamorphose, bis sich der Film und Ruggles (und mit ihnen womöglich Kracauer) zutiefst und unbezweifelbar amerikanisch nennen dür- fen. Stünde da am Ende neue und heile Subjektivität? Und wäre »Ruggles of Red Gap« eben deren Eigenname? Obwohl es mit Kracauer gewöhnlich die Überlast theaterhaften Dialogs ist, die Schauspieler, Figur, Individuum als eine »insoluble entity« vorstellt (ToF, S. 104), scheint es hier doch beson- ders sein Realismusmodell, das der Subjektwerdung zuarbeitet. Gerade indem die Worte wenig bedeuten, ist an Ruggles Zügen umso klarer abzulesen, wie sein Innen sich froh verwandelt. Und der von Kracauer ins Feld geführte Syn- chronismus von Porträt und Stimme – »medium-shots of Laughton-Ruggles« (ebd., S. 121) »when he stands up and confidently raises his voice« (ebd., S. 107) – trägt als Absicherung unserer natürlichen Wahrnehmung nur zur Absi- cherung dieses neuen Subjekts bei. Ende des Exils und der Exterritorialität ... Da es indessen um den Exilanten als ein hybrides oder Mischsubjekt geht, um den Assimilierten als unentrinnbar Fremden, will in diesem Wirtshausbild voll der Wonnen des Gewöhnlichen das Unbestimmte und Instabile aufge- sucht sein. Dabei hilft möglicherweise, der Rede aufmerksamer zuzuhören. Was spricht er? Wer spricht? Zwar räumt Kracauer ein, der Wortlaut der

39 Gettysburg Address müsse vom Publikum zumindest so weit aufgefasst wer- den, dass er die kontrapunktischen Suggestionen der Bilder auslösen könne. Gleichwohl ist die Rezitation doch mehr als deren bloße ›katalytische Beglei- tung‹ (ToF, S. 121). Denn wenn sie irgend dazu beiträgt, Ruggles zum Ame- rikaner zu machen, dann als Sprechakt. Ruggles ruft Lincolns »new nation« auf, »dedicated to the proposition that all men are created equal«, nicht allein um vielleicht an jene Gleichheit zu erinnern, sondern um sie – und die eigene Teilhabe daran – allererst herzustellen. Er mahnt, die Herrschaft »of the peo- ple, by the people, for the people, shall not parish from the earth«, nicht um auf die vormalige Einsetzung des Souveräns oder auf eine andauernde poli- tische Verpflichtung zu verweisen, sondern um sie hier und jetzt einzulösen. Das heißt, es wäre eben die performative Rezitation, die das Sprechen (den Filmton) und das Ereignis (die in den Bildern verwirklichte Metamorphose zum Amerikaner) in eins setzte. Kracauer will darauf vertrauen, dass sich die Rede auf das Konstativum – eher noch: auf das Hersagen von Schulwissen – beschränkt, damit es dem Bildgeschehen nicht in die Quere kommt. Derweil hängt doch alle von ihm beschworene Freude der Initiation und Einbürgerung gerade vom performativen Charakter des Zitierens ab. Als bloßes Konstati- vum könnten die Worte noch hinter den Akt im Bild zurücktreten; ihr perfo- mativer Anteil aber macht sie jenem Akt gleich. An der Unabhängigkeitserklä- rung hat der eingangs bemühte Derrida dieses Changieren zwischen Aussage und Handlung vorgeführt: »This obscurity, this undecidability between, let’s say, a performative structure and a constative structure, is required in order to produce the sought-after effect. It is essentiaI to the very positing or posi- tion of a right as such« (Derrida 1986, S. 9f). Dass nun Ruggles einen geläufi- gen Text zitiert, macht das Sprechen nicht etwa schwächer oder nachgiebiger gegenüber dem Bild. Es ist vielmehr und vor allem das Zitat, das das Wesen des Perfomativen ausspricht. Denn um Recht zu beanspruchen, um sich ins Recht zu setzen, muss auf dieses Recht als bekannt, geteilt, vorgängig verwie- sen werden. Vom Zitieren und Rezitieren – selbst wenn damit ein Gesetz nur fingiert oder gerade erfunden würde – ließe sich darum genauso sagen: »It is essentiaI to the very positing or position of a right as such.« Wenn das also dem ›Kontrapunkt‹ in Kracauers Modell noch hinzuzuden- ken ist, dann mag man seinem ›Synchronismus‹ vielleicht auch dies beifügen: Dass der Ton vielleicht nicht restlos mit Aufnahmen seiner natürlichen Quelle einhergeht (ToF, S. 111), dass die Stimme nicht ganz Ruggles zu gehören scheint. Zuerst beginnt er unwillkürlich zu sprechen, das Gesicht verschat- tet und außerhalb des Schärfebereichs, ohne Vorsatz und Zuhörerschaft – ein Murmeln eher, als spräche es aus ihm. Nicht ganz bei sich, wird er da zu einem, den es gleichsam überkommt, den die historische Ansprache »of such [...] immediate urgency« einnimmt und zu ihrem Medium macht. Wie Ruggles und die ganze Szene vom präsidialen Wortlaut besetzt (oder beses-

40 sen) ist, das wird offenkundig, indem die Stimme tatsächlich ›über den Bil- dern‹ erklingt und kaum mehr der Figur anhaftet: Gleich ob Großaufnahme des Gesichts, Reaktions-Aufnahme der Umstehenden, Totale des Saloons in beträchtlichem Abstand – immer bleibt Lincolns Rede klar und in unverän- derter Lautstärke vernehmbar. Der Raum, der Körper können dieser schwe- benden Rede nichts anhaben; sie ist zu hören als Ereignis, das sich durch Rug- gles manifestiert, sich aber anscheinend aus einer anderen Instanz ergibt. Die taucht zwar nur flüchtig und geisterhaft im Hintergrund einer einzigen Ein- stellung auf, aber sie gehört doch unausweichlich zur Ikonographie filmischer Gettysburg-Rezitationen: Es muss dort stets Abraham Lincoln selbst sein, der in persona, als Konterfei, als Memorial nicht nur die Zitation beglaubigt, son- dern als ihr erster und eigentlicher Urheber auftritt.

Mindestens diesen Anteil hat Lincoln an der anwesenden Stimme und löst sie damit vom Sprecher (der als Zitierender ohnehin nie ganz Ursprung sei- ner Äußerung sein kann). Was Kracauer als ›synchron‹ und ›aktuell‹ sieht, ist unversehens durchzogen von Ton/Spuren des Asynchronen und des Kom- mentierenden – Reminiszenz an Laurence Oliviers Hamlet-Verfilmung, die Kracauer, im Gegensatz zum Ruggles’schen Realismus, wie eine ärgerliche tour de force vorkommt (ToF, S. 106). Der Monolog vermittle den Eindruck, »that it is not so much Hamlet as his incorporeal soul which does the tal- king. The Hamlet we see is, himself, a listener, not a speaker; he listens, and reacts, to his own ›inner‹ voice which rises from depths beyond the world presented« (ebd., S. 119).

6. RÜHRUNG – Währenddessen komme, so Kracauer, das Bild unserem Begehren weit mehr entgegen als die Deklamation eines kaum erheblichen Inhalts. Worauf sich nämlich unser Wunsch richte, das sei Ruggles’ Ameri-

41 kaner-Werden, »we want nothing more than to scan his every facial expres- sion and his whole demeanor for outward signs of that change« (ToF, S. 107). Die Kamera antizipiere diesen Wunsch, indem sie uns ausführlich die Erscheinung des Redners entdecke. Nachdem ich dem Realismus Kracauers mit ›Sprechakt‹ und ›Spektralität‹ des Filmtons begegnet bin, lässt sich hier auf Empirie zurückgreifen: In Rug- gles of Red Gap dauert die Deklamation der Gettysburg Address 2:20 Minu- ten und nimmt 11 Einstellungen ein. Ruggles ist in nur vier davon zu sehen, für insgesamt 54 Sekunden; allerdings zeigen ihn zwei dieser Einstellungen lediglich im Profil oder von hinten (und konzentrieren sich recht eigentlich auf sein Publikum), und nur die anderen beiden nehmen ihn – für circa 14 Sekunden – von vorn in den Blick, so dass seine Züge erkennbar sind. Der- weil sieht man in nicht weniger als 7 Einstellungen und für fast anderthalb Minuten ausschließlich (oder hauptsächlich) seine Zuhörerschaft, in toto, in kleinen Gruppen oder Paaren. Anders gesagt: 10% Ruggles’ »facial expres- sion«, 90% »reaction-shots«.

Offenbar wird unserem désir nur sehr halbherzig entsprochen; und offenbar ist es weniger Beobachtung als vor allem Kracauers Verlangen, das nun wie- derum das unsere durch den Kamerablick in Ruggles’ Gesicht erfüllt sieht. Abgesehen aber von Kracauers Wunsch oder getrübter Erinnerung, wenn er dem Bild von Ruggles’ bewegtem Gesicht alle Bedeutung überantwortet, stellt sich mit seinem Verweis auf die »facial expression« die Frage nach dem Empfinden politischer Wandlung, nach der Affizierung durch jene Wandlung. Angesichts der Anrufung und Gründung egalitärer Gemeinschaft durch die Gettysburg Address – ein Ereignis, das alle Anwesenden, den Rezitator wie die Saloon-Gäste, ergreift – richtet Kracauer sein ganzes Augenmerk auf den Exilanten und Ankömmling, der zugleich Überbringer der Botschaft, Initiator und Initiierter ist. Ihn berührt und in ihm wirkt das politische Geschehen der Szene: Affektbild. Derweil jedoch geht die Geschichte, dass es Leo McCarey anderthalb Tage kostet, die Szene zu drehen, und dass das Publikum der Pro- bevorführung die Großaufnahmen von Charles Laughton als peinlich empfin- det und zu kichern beginnt, weil Laughton so tief, zu tief gerührt erscheint.

42 Erst indem man sein Gesicht durch Aufnahmen der Zuhörer ersetzt, ist der Affekt filmisch wirksam aufgehoben.21 Das lässt vermuten – da Ergriffenheit nur unangemessen wirkt in Relation zu ihrem jeweils spezifischen Auslöser und Gegenstand –, dass es eben jener Gegenstand ist, die auswendige Rezitation der Ansprache, die sich mit so viel Affektion nicht verträgt. Tatsächlich geht Paul Ricoeur, der die einzige mir bekannte Theorie zum Auswendigen aufgestellt hat, auf das Verhältnis von Memoriertem und Affekt oder Passion ein: Seit je sind Auswendiglernen und Aufsagen Verfahren der paideia, bevorzugte Methoden zur Weitergabe kultureller Gründungstexte (Ricoeur 2000, S. 72). Das Lernen ist dabei Teil des aktiven Gedächtnisses; es wird mithilfe bestimmter Speichertechniken ins Werk gesetzt und folgt den Regeln der ars memoria, die vor allem exakte, lückenlose, insgesamt perfekte Reproduktion anstrebt. Was sie aber ignoriert, das ist zum einen das womöglich produktive Vergessen als Grenze jeden Erin- nerns, zum anderen die passive Erinnerung, die uns überkommt als unwillkür- liche Impression des Vergangenen. »Pour la mémoire artificielle, tout est action, rien n’est passion.« Solcherart gibt sich das künstliche Gedächtnis stets als dop- pelte Leugnung – »de l’oubli et de l’être-affecté« (ebd., S. 80); das Auswen- diglernen weiß nichts vom Vergessen und nichts vom Affektiert-Werden. Mit Ricoeur ist der Sachverhalt darum klar: Wenn Laughton/Ruggles die Rede »by heart« aufsagt, dann nimmt er sie sich zu sehr zu Herzen, um einen kulturel- len Bewahrungsanspruch mit der geforderten Präzision zu erfüllen. Der Eleve Ruggles mag wortgenau memoriert haben. Aber zuviel Passion, so scheint dem Einheimischen, wird da seinem Schulwissen angeheftet. Man kichert.

7. TOWNSPEOPLE – Worauf es deshalb ankommt: Entweder das Sprechen nicht als derart versiert, sondern als provisorisch und unfertig ausstellen, so dass – bevor der Unwissende, der Migrant, das Kind schließlich fehlerlos und ohne Zögern zu rezitieren imstande ist – die Rührung noch möglich wäre. Oder aber die Affekte anders verteilen, sie jemand anderem als dem Sprecher zuteilen. So betritt etwa der ebenso frisch gekürte wie unbedarfte Senator und Titelheld in Frank Capras Mr. Smith Goes to Washington (1939) nach seiner Ankunft in der Hauptstadt das Lincoln Memorial und findet sich in der Säulenhalle neben einem sommersprossigen Schuljungen, der unter dem gütigen Blick des Präsidentenstandbildes und mit der Hilfe seines Großvaters stockend die gemeißelte Rede von Gettysburg hersagt.

2 Vgl. den Eintrag zu Ruggles of Red Gap in der Internet Movie Database : »Charles Laughton referred to his reading of the ›Gettysburg Address‹ in the film as ›one of the most moving things that ever happened to me‹. Laughton recited the address to the cast and crew of Mutiny on the Bounty (1935) on the last day of shooting on Catalina Island and again on the set of The Hunchback of Notre Dame (1939).«

43 Über diese Rezitation lässt sich vieles sagen – über die Hierarchien, die jedem (Auswendig‑)Lernen eingeschrieben sind, oder über die Instanzen der Disziplinierung, als deren oberste neuerlich Lincoln selbst auftritt, über die Verfertigung eines horizontalen (sozialen) und eines vertikalen (histo- rischen) Bandes durch das Memorieren, vor allem aber über das Aufsplei- ßen von Deklamation und Rührung: Einerseits ist da das Kind, das seine demokratische Lektion einstudiert, wenn auch in mangelndem Wissen um die Textbedeutung und mit noch unzureichender Lektürefertigkeit. Anderer- seits ist es womöglich gerade das Zögern, die Unbeholfenheit des nicht voll- kommen Initiierten, die Raum schaffen für ein être-affecté. Das Kind ist auf dem Wege zu methodischer und fehlerfreier Reproduktion des kulturellen Kanons. Aber solange es noch übt, kann seine Rezitation gerührtes Wohl- wollen bei den Umstehenden und Zuschauerinnen auslösen. Mit Ricoeur: Unvollkommene Aktion erlaubt die Passion des Publikums. Kracauer übrigens wendet sich 1948 in »Those Movies with a Message« eben diesem Publikum zu. Während der amerikanische Nachkriegsfilm eine gewisse Ermüdung seiner progressiven Botschaft erkennen lasse, weil die libe- ralen Helden nun predigten, anstatt zu handeln, und weil sich das Volk in seiner intellektuellen Apathie nicht mehr recht begeistern lasse vom politi- schen Aufruf, zeige Ruggles of Red Gap 1935 ein noch waches und empfäng- liches amerikanisches Kollektiv: »When in the tavern episodes [...] Charles Laughton recited Lincoln’s Gettysburg Address, the townspeople one by one rose from their seats and gathered around him, moths irresistibly attracted to the flame. They communed in spirit, and in each of them an interpenetration of reason and emotion took place« (Kracauer 1948a, S. 77). Mit Kracau- ers Porträt dieser townspeople wird ersichtlich, wie sich besonders in ihnen die aufgeklärte Kritik am bloß Auswendiggelernten und Aufgesagten ver- körpert.32Ihre ›gefühlvolle Vernunft‹ vermag die ars memoria mit dem zuvor

3 Über Kracauers Bild von Motte und Flamme, das der Öffnung für ein demokratisches Ideal etwas Willenloses, Nächtliches und Fatales verleiht, gehe ich an dieser Stelle freilich hinweg.

44 Ausgeschlossenen endlich zu versöhnen – mit dem Vergessen und der Affek- tion. Sie können sich nicht erinnern, »what Lincoln said that day at Gettys- burg«, aber sie sind offenbar bewegt von einer Idee der Gleichheit, die in einer überpersönlichen und unmethodischen Erinnerung aufgehoben ist. Das wäre wohl Ricoeurs rémemoration, ein Gedächtnis, das nicht den Manipula- tionen der Ideologie ausgesetzt ist, sondern eine »mémoire naturelle« bar aller Mnemotechniken, eine »juste mémoire« verwirklichte (Ricoeur 2000, S. 82). Ruggles würde derweil das unmögliche Zugleich darstellen von perfek- ter Rezitation, die ihn einerseits als vollwertigen Angehörigen amerikanischer Gedächtniskultur kenntlich macht, und tiefer Affektion, die andererseits nun sein Wissen entautomatisiert und ihn damit als Aspiranten in den hoffnungs- vollen Vor-Raum jener Kultur versetzt. Fast scheinen sich Kracauers Kriterien umzukehren: Die Tonspur, die Ansprache ist es, die hier Ruggles Wandlung und Aufnahme bestätigt. Aber die Großaufnahmen seines Gesichts, die nas- sen Augen, die das autochthone Publikum kichern lassen, deuten auf unabge- schlossene, unabschließbare Assimilation. Der Amerikaner Ruggles kann die Gettysburg Address aufsagen; der Exilant Ruggles bleibt bewegt von ihrem Versprechen. Am Ende aber hat sich diese Kreuzung von endgültiger Einbürgerung und endloser Anwartschaft vielleicht schon in Kracauers euphorischer Schilderung der Metamorphose Ruggles’ angedeutet: Wenn da vom Glück der Integration die Rede ist und von der »recognition that he now ›belongs‹« (ToF, S. 121), dann ist das »belong« in Anführungszeichen gesetzt – eine Relativierung der Zugehörigkeit, die sich in Kracauers Geschichts-Buch wiederholen wird, wenn er vom Migranten und vom Historiker sagt, »that he will never fully belong to the community to which he now in a way belongs. [...] In fact, he has ceased to ›belong‹« (H, S. 83), neuerlich versehen mit dem signum citatio- nis, so dass jedes »belonging« nur unter Vorbehalt zu denken ist.

45 Was mithin die Rezitationsszene ins Werk setzt, das ist weniger eine »radi- kale Umstellung« und freudvolle Naturalisation des Fremden; sie ist kein Verwandlungstraum, in dem getrost von Wortlaut und Sinn der politischen Ansprache abgesehen werden dürfte, um sie – als bloß untermalende Bestä- tigungsformel – der eigentlichen Assimilierung im Filmbild unterzuordnen. Weit eher begegnet man dort einem Sprechakt, der Ton und Bild, Rede und Wandlungsereignis engführt (so dass sich der Eintrag in Kracauers Dia- gramm zuerst in Richtung ihres ›Parallelismus‹ verschiebt), und zugleich Anzeichen einer Auftrennung des Sprechsubjekts, die die aktuelle und dekla- rative Rede Ruggles’ mit der historischen und kommentierenden Anwesen- heit Lincolns unterlegt (so dass die Markierung außerdem nach rechts in den Bereich des ›Asynchronen‹ zu migrieren beginnt). Und schließlich sind es die Umschichtungen des Affekts, die Charles Laughton, weil er zuviel davon hat, noch im Moment seines Amerika - ner-Werdens als Exterritorialen und Migranten kennzeichnen (und James Stewart, der sich aufs gerührte Zuhören beschränkt, als Einheimischen und Amerikaner). Dem Volk spricht das Herz; es spricht nicht »by heart«.