Film Und Gesellschaft Denken Mit Siegfried Kracauer
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Film und Gesellschaft denken mit Siegfried Kracauer Herausgegeben von Bernhard Groß, Vrääth Öhner, Drehli Robnik VERLAG TURIA + KANT WIEN–BERLIN Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Bibliographic Information published by Die Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.ddb.de. ISBN 978-3-85132-924-7 Bildnachweise: S. 69: Fotos von Hertha Hurnaus S. 102: Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriftenabteilung. Nachl. Gerhart Hauptmann und Nachl. Margarete Hauptmann Cover: Bettina Kubanek, Visuelle Kommunikation, Berlin Lektorat: Bernhard Groß, Vrääth Öhner, Drehli Robnik Satz: Vrääth Öhner © Copyrights bei den Autor_innen © für diese Aisgabe: Verlag Turia + Kant, 2018 VERLAG TURIA + KANT A-1010 Wien, Schottengasse 3A/5/DG1 D-10827 Berlin, Crellestraße 14 / Remise [email protected] | www.turia.at INHALT Einleitung ................................................... 7 HEIDE SCHLÜPMANN Raum geben. Kracauer, Plessner und das Kino als bedeutender Ort . 10 KARIN HARRASSER Dokumente zu einer Kulturgeschichte der Saponier. Gegen den Tag mit Siegfried Kracauer . 23 ULRICH MEURER Ruggles, Rezitieren, Amerikaner-Werden . 33 DREHLI ROBNIK Burning through the causes: Kracauers Politik-Theorie der Paradoxie und maintenance (im Zeichen von Faschismus 2, Blair Witch 3 und Mad Max 4) ............................... 47 GABU HEINDL Zwischen Raum und Raum. Mit Siegfried Kracauer über gleichwertige Dinge, alltägliche Architektur und Kino als demokratische Öffentlichkeit . 62 BERNHARD GROSS Brutbürger? Zur Genealogie des Kracauerschen Begriffs »ausbrüten« .. 70 NIA PERIVOLAROPOULOU Passagen zwischen Kritik und Theorie, Roman und Film: Kracauers Tartarin sur les Alpes .............................. 85 LINDA WAACK Gerhart Hauptmann beim Golfspiel auf Hiddensee. Zu Kracauers Mikrohistorie . 99 MICHAEL WEDEL Grausame Geschichte. Kracauer, Visual History und Film . 107 LIA MUSITZ The detective’s brain is a hard drive, his senses are software: Der Detektiv in den Dingen als Idee und Praxis einer latent rechtssetzenden Umwelt . 120 MARC RIES Vorletzte Bilder .......................................... 132 Autor_innen ............................................... 143 Bibliografie ................................................ 147 Ruggles, Rezitieren, Amerikaner-Werden1 Ulrich Meurer 1. DULDUNG – Wie darf ich wagen, vor Ihnen von Siegfried Kracauer zu sprechen, die Sie sich alle des Einsatzes seines Denkens wohl bewusst sind? Wie kann ich vor Ihnen das Wort ergreifen als einer, der ihm bestenfalls sporadisch begegnet ist und von der gebotenen Umsicht einschlägiger Kra- cauer-Lektüren wenig weiß? Vor Ihnen, die meistenteils Kenner, Exegeten, Herausgeberinnen Kracauers sind, Einheimische eben (sofern gerade Kra- cauer so ein Wort zuließe), Zugehörige, Autochthone? Während Ihnen solche Selbsterniedrigung womöglich befremdlich schei- nen mag, greift sie einen Duktus auf, dem man in einigen Vortragstexten Der- ridas begegnet: Ein ums andere Mal der Hinweis, dass er sich etwas heraus- nehme, dass er am falschen Ort spreche und dem Wissen seines Publikums nicht gerecht werden könne. Derweil paraphrasiere ich Derrida nicht, um zu unterstreichen, dass ich mich gewöhnlich einer ganz anderen als der ›kriti- schen‹ Theorie widme. Statt dessen drei – hoffentlich gute – Gründe: Erstens der Sprechakt. Wann immer Jacques Derrida die Gemeinschaft sei- ner Zuhörerinnen so inständig um Nachsicht bittet, geht es ihm gleich darauf um die performative Rede. Seine Vorlesung etwa zum zweihundertsten Jah- restag der Declaration of Independence, gehalten 1976 an der University of Virginia, könne nur Oberflächliches über jene Erklärung, jenes Versprechen, jenen Vertrag sagen, »and even about what always presupposes them [...]: the presentation of excuses« (Derrida 1986, S. 7). Und nach diesem Ansu- chen um Vergebung, selbst gründlich performativ, beschreibt er die Dekla- ration als Sprechakt, der das amerikanische Volk, das sich da für unabhän- gig erklärt, zugleich erst erfinde. Oder der Vortrag, den Derrida 1998 auf einem Übersetzerkongress in Arles hält: »Comment oser parler de traduction devant vous?«, »Wie es wagen, vor Ihnen von Übersetzung zu sprechen?« (Derrida 1998, S. 21) Und dann befasst er sich mit dem Juden Shylock, der aufgefordert ist, zu vergeben und auf sein Pfund Fleisch zu verzichten. Die 1 Wie die übrigen Beiträge des Bandes geht dieser Text auf einen Vortrag zurück, der im November 2016 im Rahmen eines Symposiums zu Siegfried Kracauers 50. Todestag in Wien gehalten wurde. Da es ihm vor allem um Rede, Sprechakt und die Adressierung und Affek- tierung einer Zuhörerschaft geht, hält er sich möglichst nah an die ursprüngliche mündliche Form. 33 Vergebung aber vollziehe sich, ebenso wie Shylocks Weigerung, wiederum allein im Sprechakt, in der Rede, die den Menschen ›tatsächlich‹ ent- oder verschuldet, anerkannt oder ausgestoßen sein lässt … Darum also meine Bitte um Nachsicht. In ihr und der darin implizierten Gewährung ist der Sprech- akt aufgerufen, der in die Wirklichkeit sowohl des Sprechenden als auch der Hörenden eingreift. Eben das ist, was wir zu sehen und zu hören bekommen, wenn ich im weiteren auf jene besondere Rezitations- und Schlüsselszene aus Leo McCareys burlesker Westernkomödie Ruggles of Red Gap (1935) einge- hen werde, auf die Ansprache des Leibdieners Marmaduke Ruggles, die ihn, so Kracauer, zum Amerikaner macht. Zweitens die Assimilation. Mit Shylock bereits wird deutlich, wie Unter- würfigkeit oder Unterwerfung, Entschuldigung und Vergebung immer denje- nigen betreffen, der auf seine Weise unvertraut, unangemessen, ungeziemend, unzureichend, unzugehörig ist. Da wird eine Grenze markiert, die zwischen der Gemeinschaft, ihrem Wissen, ihren Regularien und dem Fremden oder Minderen, seinem Unwissen und seiner Regellosigkeit verläuft – zwischen akademischen Theoriefeldern, zwischen dem Juden und der venezianischen Stadtgesellschaft oder zwischen dem Europäer und der Neuen Welt. Wie kann ich wagen zu sprechen? – das ist stets ein Aufnahmegesuch, selbst in der stolzen Abgrenzung, eine Bitte um Einlass, Anerkennung oder Duldung (das Vokabular, mit dem man Migrantinnen begegnet). Neuerlich führt das zu Ruggles, dem englischen Diener, der spricht – der anfangs nur murmelt; nur nicht zu laut –, damit er in die Gemeinschaft der Amerikaner eintreten darf. Drittens der Affekt. Die Selbstherabsetzung des Redners mag zunächst wohl peinlich wirken. Der Affekt aber hat wesentlichen Anteil an solchem Sprechen, denn womöglich entscheidet gerade er über Zu- oder Absage durch das berührte Kollektiv. Wenn sich darum auch Kracauer der Ansprache Rug- gles’ zuwendet, wenn er die Bilder und Worte der Szene gewichtet und ins Verhältnis setzt, dann nicht zuletzt um darin Lage und Grad der Affizierung zu bestimmen – des Redners selbst, der ergriffenen Zuhörerschaft, des Film- publikums. Dabei ist ganz allgemein (und das heißt hier: im ›spinozistischen‹ Sinne) der Affekt nichts anderes als Einwirkung eines Körpers oder einer Idee, eines linguistischen Corpus, eines gesellschaftlichen Körpers, einer Kollektivi- tät auf eine andere, »die Fähigkeit des Körpers oder des Denkens, zu affizie- ren und affiziert zu werden« (Deleuze 2001, S. 126). Dieser Wirkzusammen- hang verändert unweigerlich die Kräfte und Position im Leben dessen, der spricht, und derer, die adressiert sind – eben als Funktion des Sprechakts. Alles weitere, mein gesamter Vortrag wird also diese drei Fragen entlang einer bestimmten politischen Rede im Film variieren: diejenige nach dem Per- formativen, nach der Fremdheit und ihrer Aufhebung, und nach der filmi- schen Verteilung von Affekten. 34 2. NATURALISATION – Nach der Abreise in Lissabon und zehntägiger Überfahrt auf dem Dampfschiff Nyassa trifft Siegfried Kracauer zusammen mit mehr als achthundert anderen Exilanten am 25. April 1941 in New York City ein (Moltke 2016, S. 1f): Neues Land, neue Sprache und eine neue Stadt, die ihm bisher nur als Filmkulisse bekannt war und die er darum mit seiner Kinoerfahrung abgleicht. Aber diese spezielle Empfänglichkeit für oberfläch- liche Eindrücke werde er bald einbüßen; »the newcomer establishes himself in America, and soon his contact with the customs of this country are too intimate [...], his reactions are no longer those of a spectator but of a parti- cipant« (Kracauer 1942, S. 39). Ohnehin ist er sich der Obliegenheit einer grundlegenden Verwandlung aufs schärfste bewusst, nicht erst jetzt, sondern bereits in Paris, von wo er 1935 an Walter Benjamin schreibt: »Man wird sich radikal umstellen müssen: auf die angelsächsischen Länder und Frankreich.« Allerdings sollte ihm, wie er findet, solche Assimilationsarbeit leichter fallen als anderen, da er immer schon dem, »was deutsche Mentalität heissen darf, fremd, ja feindlich gegenüber gestanden« habe (Benjamin 1987, S. 82). So lernt Kracauer Englisch aus dem Stand und veröffentlicht schon im November desselben Jahres seine erste Filmkritik im alten und ehrwürdigen Wochenma- gazin The Nation (Moltke 2016, S. 6). Dieser Umstand – »publishing almost exclusively in English within half a year of arriving in New York« (ebd., S. 10) – dient Johannes von Moltkes Darstellung des ›neugierigen Humanisten‹ Kracauer gleich mehrmals als Beleg gegen