Ausgabe 8 | 2020 | Schutzgebühr 2,50 €

Orte Verlassenes Land: Die deutsche Sprachinsel in der Menschen Zwischen Bauhaus und Hollywood: Lucie und Franz Schulz aus Prag Werke Geheilte Wunden: Brygida Helbigs polnischer, deutscher Vater Szene Die Bernheim-Petition: Erinnerungsarbeit in Gleiwitz/Gliwice Extra Kirchenburg zum Selberbauen

BLICK

Magazin für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa

Deutschsprachige Minderheiten im östlichen Europa  

 Ausgabe 8 • 2020 EDITORIAL 3

Liebe Leserinnen, liebe Leser, als unsere Autorin Magdalena Sturm eine Verkäuferin im westsibirischen Dorf Alexandrowka fragte, in welcher Spra- che sie sich unterhalten will, erhielt sie eine frappierende Antwort: »Na, kånn mer uff Russisch, kånn mer uff Deitsch. Åwa Hochdeitsch vasteh i nur, wenn Se långsåm verzähle!« Diese kleine Episode verrät bereits viel über die Stellung der deutschen und deutschsprachigen Minderheiten im östlichen Europa: Sie sind »mittendrin« – nicht nur örtlich, sondern auch, was die Umgangssprache betrifft; sie sind »anders« als die Mehrheitsbevölkerung ihrer Heimat und auch ein wenig anders als die Menschen in dem Land, aus dem ihre Vorfahren kamen. Die Fotos für Titel und Rücktitel entstanden im Sommer 2019 in In diesem BLICKWECHSEL können Sie nachlesen, welche der »Kinderspielstadt Raschau/Raszowa«. Das Projekt des Vereins Pro Liberis Silesiae für Kinder aus Polen, Deutschland, Rumänien Gefahren dieses »Mittendrin und anders« in der Vergan- und der will das Demokratieverständnis, die Unabhängig- genheit mit sich brachte – etwa für die Schwarzmeerdeut- keit und die Kreativität der Kinder fördern. Wir danken den Eltern schen während des Zweiten Weltkriegs oder für Menschen des »Covergirls« Marlena für die Abdruckgenehmung. Mehr über den Verein lesen Sie auf Seite 52. Beide Bilder: © Pro Liberis Silesiae in der Gottschee, einer inzwischen fast völlig entvölkerten deutschen Sprachinsel im heutigen Slowenien. Sie kön- nen auch auf deutschen Spuren durch die Prachtstraße der Brașov, das Simon-Dach-Haus in Memel/Klaipėda oder der georgischen Hauptstadt Tiflis/Tbilissi wandeln und erfah- in Oppeln/Opole beheimatete Verein Pro Liberis Silesiae, ren, wie junge Leute aus Kaliningrad heute über das alte gehören zu den engagiertesten Trägern der modernen euro- Königsberg denken. Für einen Perspektivenwechsel sorgt päischen Idee. der tschechische Schriftsteller und Politiker Milan Uhde mit Noch eine Bemerkung in eigener Sache: Unser Stammpu- einer Reminiszenz an die »unvergesslichen Deutschen« aus blikum wird bemerken, dass sich der BLICKWECHSEL gewan- seiner Heimatstadt Brünn/Brno. Und in der Mitte dieses Hef- delt hat. Die aktuellen Kurzmeldungen sind längeren essayis- tes wartet ein besonderes Extra: Erfassen Sie die Baukunst tischen Formen und einer üppigeren Bebilderung gewichen. der Siebenbürger Sachsen, indem Sie selbst ein Modell der Auch die Zahl der literarischen Texte ist gestiegen: Neben Basilika von Michelsberg/Cisnădioara errichten. Milan Uhde kommen auch Wenzel Jaksch, Brygida Helbig Natürlich wenden wir den Blick auch nach vorn und finden und Tone Partljič zu Wort. Möglich wurde diese Schärfung zahlreiche Beispiele für die Rolle, die den Sprach- und Kul- des Profils durch eine Novität in unserer Publikationspalette: turminderheiten für ein funktionierendes Europa zukommt, Das Kulturforum gibt seit Mai 2019 auch die Kulturkorres- für gegenseitiges Verstehen und für den Austausch über pondenz östliches Europa heraus, die monatlich über Neu- Grenzen hinweg. Das findet breite Anerkennung und För- igkeiten aus unserem Themengebiet berichtet und die wir derung – auch auf höchster Ebene, wie Bernd Fabritius, der Ihnen als stets aktuelle ergänzende Lektüre ans Herz legen. Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und Entdecken Sie im neuen BLICKWECHSEL die Vielfalt des nationale Minderheiten, in seinem Beitrag schildert. Die »Mittendrin und anders«! im Heft vorgestellten Institutionen und Akteure, etwa das Mit herzlichen Grüßen aus Potsdam Kinder- und Jugendensemble »Canzonetta« aus Kronstadt/ Ihr Team des Deutschen Kulturforums östliches Europa

Impressionen aus dem Freiluftmuseum Klucken/Kluki in der Woi-  Die während der Präsentation dörflichen Alltags und Brauch- wodschaft Pommern. Es gehört zum Museum des Slowinzischen tums getragene historische Kleidung vervollständigt das Bild des Dorfes in Klucken (Muzeum Wsi Słowińskiej w Klukach). Mehr dazu bäuerlichen Lebens. erfahren Sie im Beitrag Wer waren die Slowinzen? auf Seite 53.  Das Volksfest »Schwarze Hochzeit« (Czarne Wesele) rund um das Eine Gänseherde auf dem Gelände des Museums soll daran erin- Thema Torfstechen findet immer Anfang Mai statt. nern, dass früher diese Tiere auf jedem pommerschen Bauernhof gehalten wurden. Alle Fotos: © Muzeum Pomorza Środkowego w Słupsku 15

Orte

6 Erinnern ist kein Luxus Mit der Mikwe der jüdischen Gemeinde Breslau/Wrocław wurde eine einzigartige Kulturerbestätte restauriert Bente Kahan im Gespräch mit Maria Luft 8 Königsberg – Kaliningrad – Kjonig Persönliche Erkundungen und Gespräche Von Anne Mareike Schönle 17 10 Ein Besuch in »Neu-Tiflis« Auf den Spuren der deutschen Minderheit in der georgischen Hauptstadt Von Matthias Weber 12 Bahnhof Europas Wie Frankfurt (Oder) 1945 zum Transitort für Millionen wurde Von Magdalena Gebala, unter Mitarbeit von Magdalena Abraham-Diefenbach und Karl-Konrad Tschäpe 14 Den Horizont erweitern Mit Abstand sieht man mehr: Schlesien aus der Luft betrachtet Von Dietmar Popp 17 Unter den Gipfeln des Ratitovec 12 Die Geschichte der Tiroler Siedlungen von Zarz/Sorica und Umgebung Von Miha Markelj 18 Verlassenes Land TITEL Die ehemalige deutsche Sprachinsel in der Gottschee Von Mitja Ferenc

Menschen

20 Von Prag in die Welt TITEL Wie Lucie und Franz Schulz auf zwei Kontinenten Kulturgeschichte schrieben Von G. G. von Bülow 35 23 Jung und plurikulturell Seit über 25 Jahren bereichert »Canzonetta« das Musikleben im siebenbürgischen Kronstadt/Brașov Von Elise Wilk 24 Geschichte definieren, nicht deformieren Ein Gespräch mit dem Breslauer Museumsdirektor Maciej Łagiewski Interview: Roswitha Schieb 26 Volksgenosse oder Feind des Volkes? Die doppelte Diktaturerfahrung der Schwarzmeerdeutschen Von Nico Wiethof 28 Tschechische Perspektiven 42 Zehn Blicke auf die Sudetendeutschen in einer neuen Publikation Von Wolfgang Schwarz 29 Meine unvergesslichen Deutschen Von Milan Uhde Bastelbogen aus Siebenbürgen EXTRA Szene Kirchenburgen zum Selberbauen Von Radu Nebert 46 Ambitionierte Brückenbauer Michelsberg Die Bundesregierung unterstützt und fördert deutsche Minderheiten im östlichen Europa Von Harald Roth Von Bernd Fabritius Kirchenburgenlandschaft Siebenbürgen TITEL Von Philipp Harfmann 48 Eine unerhörte Geschichte Die Bernheim-Petition schützte bis 1937 die Juden in 31 Auch ein rastloser Reporter Oberschlesien – ein Museum erinnert daran Der sozialdemokratische Politiker Wenzel Jaksch schrieb Von Jan Opielka eindrückliche Sozialreportagen 50 Drei Cousins Von Ulrich Miksch Wie sich eine russlanddeutsche Familie zwischen 32 Böhmisch-sächsische Grenzwanderung Ludwigsburg und Omsk wiederfand Bilder vom Existenzkampf des armen Erzgebirgsvolkes Von Magdalena Sturm und Karoline Gil Von Wenzel Jaksch 52 Schulen ohne Pausenklingel 34 Der kroatische Odysseus Die Angebote von Pro Liberis Silesiae richten sich nicht nur an die deutsche Minderheit Eine Begegnung mit dem Schriftsteller und Theatermacher Slobodan Šnajder Von Margarethe Wysdak unter Mitarbeit von Nicola Remig Von Achim Engelberg 53 Wer waren die Slowinzen? 36 Eine neue Regionalität Der Museumshof in Klucken/Kluki beantwortet diese Frage heute ideologiefrei Der Schriftsteller Siegfried Lenz und seine masurische Heimat Von Violetta Tkacz-Laskowska Von Rafał Żytyniec 54 Europäische Vielfalt auf dem Schirm Minet-TV bringt Minderheiten-Geschichten ins Fernsehen und ins Internet Werke Von Martin Hanni

38 Wunde am Fuß TITEL »In Between?« Mein polnischer, deutscher Vater Studierende erforschen Grenzregionen und begegnen Minderheiten Von Brygida Helbig Von Annemarie Franke 40 Cremig, schokoladig, himmlisch! 55 Für die Interessen der Minderheiten Die Dobosch-Torte begeistert seit 135 Jahren nicht nur Kaiser und Genies Der Dachverband FUEN und die AGDM stehen für Austausch und Zusammenarbeit Von Éva Hübsch Von Renata Trischler 42 Schwiegermutter Kulturarbeit seit 1989 Von Tone Partljič Das Simon-Dach-Haus ist das Zentrum des deutschen Ver- 45 Zeugnisse des Terrors einslebens in Memel/Klaipėda Eine Sammlung bisher geheimer Akten dokumentiert die Von Markus Nowak »deutsche Operation« in der Sowjetukraine 56 Ein Thema mit vielen Facetten Von Dmytro Myeshkov Bund und Länder fördern Institutionen, die sich der deutschen Kultur und Geschichte im östlichen Europa widmen

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➀ Hauptraum des Ritualbads nach der Restaurierung. Alle Fotos: Maria Luft ➁ Aushang der alten Badeordnung von 1902 im Ausstellungsraum. Die Mikwe war vor allem Frauen zur rituellen Reinigung nach der Monatsblutung vorbehalten. ➂ Sonderausstellung zur Geschichte der Familie Troplowitz und ihrer Breslauer Bezüge. Oscar Troplowitz war 1911 als Besitzer der Firma Beiersdorf maßgeblich an der Entwick- lung der NIVEA-Creme beteiligt. Logo: © Beiersdorf AG ➃ Vom Innenhof der Synagoge aus sieht man nur drei Fenster im Souterrain, hinter denen die Mikwe liegt. ④ Hintergrund: Der restaurierte Boden im Vorraum der Mikwe Ausgabe 8 • 2020 ORTE 7

NDRIN E U T N T

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ERINNERN IST KEIN LUXUS D

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Mit der Mikwe der jüdischen Gemeinde Breslau/Wrocław wurde eine N D S

E einzigartige Kulturerbestätte restauriert R

In Breslau/Wrocław wurde 2018 die Restaurierung der Mikwe, Sprache der europäischen jüdischen Minderheit ganz anders des Ritualbads der jüdischen Gemeinde, abgeschlossen. Im begreifen und ganz anders von ihnen sprechen, wenn dies Interview vom Oktober 2019 blickt die norwegisch-jüdische in ihren eigenen Orten, den ehemaligen Synagogen und Schauspielerin und Musikerin Bente Kahan, Leiterin der Mikwen, geschieht. Damit erreichen wir viele verschiedene Bente-Kahan-Stiftung, im Gespräch mit Maria Luft auf das Menschen, wie mit der Synagoge: einheimische und auslän- erste Jahr zurück. dische Besucher, auch Touristen aus Deutschland.

Warum ist Ihnen die Mikwe-Restaurierung so wichtig? Wurde die Mikwe auch wieder für rituelle Zwecke genutzt? Die Mikwe gehört zum Komplex der Synagoge »Zum Wei- Ja, vor ein paar Wochen, kurz vor dem jüdischen Neujahrsfest ßen Storch« mit einem Hauptraum und zwei Emporen für – und so wird es auch künftig sein. Wir haben eine Kulturer- Ausstellungen, einer kleinen Alltagssynagoge, in der Gottes- bestätte restauriert, die zugleich ihre ursprüngliche Funktion dienste stattfinden, und einem Untergeschoss, das durch die als Ritualbad erfüllt. Das war kein einfaches Unterfangen, Restaurierung in ein modernes Bildungs- und Ausstellungs- weil die religiösen Gesetze zum Bau eines solchen Beckens zentrum verwandelt wurde. Der Umgang mit dem jüdischen sehr kompliziert sind. Projektmanager Marek Mielczarek und Erbe ist immer noch ein heikles Thema, nicht nur in Breslau, ich hatten das von Anfang an vor, und wir können heute sondern in ganz Europa. Meist sind die Menschen, denen sagen, dass es mit viel Verstand und positiver Einstellung dieses Erbe gehörte, ermordet worden oder in Verzweiflung aller an der Restaurierung Beteiligten geschehen ist. geflohen – ob es in der Zeit der spanischen Inquisition oder während des Holocaust war. Diese Tatsache macht es den Welche Pläne gibt es für die Zukunft? heute für dieses Erbe Verantwortlichen schwer, seien es Die Mikwe zeigt auch eine Multimedia-Dauerausstellung lokale Behörden oder neugegründete jüdische Gemeinden. über den »Jüdischen Lebenszyklus«. Der Ausstellungs- Unsere Mikwe ist sehr groß, hat zwei beeindruckende raum ist offen für Besucher. Im Sommer 2019 hatten wir Becken – ein wunderbares Monument zur Erinnerung an zusätzlich noch eine Ausstellung über NIVEA und die die Breslauer jüdische Gemeinde, deren Bedeutung für diese Beziehungen der Familie Troplowitz zu Breslau, die sehr Stadt sie uns deutlich macht. Die deutschen Juden von Bres- gut angenommen wurde. Wir werden sicher mehr solche lau waren ein integraler Teil der Stadt, keine Besucher. Es war Ausstellungen zeigen. Der jiddische Sänger Karsten Troyke ihre Stadt – wie Breslau auch die Stadt anderer dort vor dem aus Berlin eröffnete das Bad als Konzertraum. Es gibt eine Krieg lebender Menschen war. Das Ritualbad soll noch bis besondere mobile Bühne über dem Wasser und ein Klavier 1968 in Betrieb gewesen sein, als die antisemitische Kam- im Raum. Im November werden wir im Rahmen der »Tage pagne in Polen die meisten Juden zum Verlassen des Lan- des gegenseitigen Respekts« beim Gedenken an die Po- des zwang. Mit der Restaurierung hat die Stadt verlorene gromnacht am 9. November zwei kleine Konzerte und meh- Geschichte zurückgeholt. rere Vorträge in der Mikwe erleben.

Maria Luft ist Mitarbeiterin des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte Hat das Mikwe-Projekt Ihre Erwartungen erfüllt? der Deutschen im östlichen Europa in Oldenburg (ž S. 56–57). Es hörte sich nach einem Luxusprojekt an – so ein großes Ritualbad für eine Gemeinde von nur 300 Seelen! Im Nach- hinein ist mir aber klar geworden, wie wichtig diese Res- taurierung tatsächlich ist, wenn man weiß, wie wenig nach Mikwe der Synagoge »Zum Weißen Storch« ul. Pawła Włodkowica 5a, 50-072 Breslau/Wrocław der Tragödie übriggeblieben ist, die die Juden im Zweiten Weltkrieg getroffen hat. Es reicht nicht, Konzentrationsla- Förderer: Stadt Breslau/Wrocław, Deutsch-Polnische ger und Friedhöfe zu erhalten. Die wenigen Synagogen Stiftung Kulturpflege und Denkmalschutz mit Mit- und die wenigen Ritualbäder spielen eine wichtige Rolle teln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur für künftige Generationen, um die enormen Ausmaße des und Medien (BKM), EU im ERDF-Programm, Jüdische Gemeinde Wrocław, Bente Kahan Stiftung Massakers, der Tragödie zu verstehen. Diese Orte werden gebraucht, müssen für pädagogische und kulturelle Zwecke : Bente Kahan Stiftung: www.fbk.org.pl genutzt werden. Wir können Kultur, Traditionen, Religion und Zur Mikwe: http://bit.ly/fbk_mykwa KÖNIGSBERG – KALININGRAD – KJONIG Persönliche Erkundungen und Gespräche

Ende August 2015 brach ich von Hamburg nach Kaliningrad »Mir gefällt die Tatsache, dass meine Stadt reich an auf. Meine Dissertation zur Geschichte Königsbergs begin- Geschichte ist. Das macht mich stolz. Ich würde gerne die nend, hoffte ich, in fünf Monaten ein Gefühl für die Stadt Stadt restaurieren und eine Zusammenarbeit mit Deutsch- zu bekommen. Ausgerüstet mit Visum, Migrationskarte und land entwickeln«, wünschte sich eine 22 Jahre alte Kaliningra- Registrierung, die man immer mit sich zu führen hat, bezog derin. Der »deutsche Geist« Kaliningrads komme ihr immer ich eine Ecke in einem Dreierzimmer im Studentenheim. in den Sinn, wenn junge Menschen ihre Stadt »Kjonig« nen- nen. Deutsche Berühmtheiten, wie E. T. A. Hoffmann, Käthe Erst einmal einkaufen. Die Einheimischen gingen dafür Kollwitz und insbesondere Immanuel Kant, sind auch heute meist auf den großen überdachten Markt mit Fisch- und noch in der Stadt präsent. Milchhalle. Waren für alle Lebenslagen wurden dort feilge- boten – vom Kopfkissen über Obst, Gemüse und Nüsse bis Es sei ihm »angenehm, auf deutschem Boden zu leben«, hin zum Angelköder. Ganze Tierhälften konnte man erstehen fand ein 21-jähriger Nachfahre von Wolgadeutschen. »Mein und fand bessere Qualität als in den Supermärkten. Auch Urgroßvater ist in Preußen geboren. Ich wohne auf dem Land meine Bekannten kauften hier das Fleisch für die »Schasch- meiner Vorfahren.« Er verbinde mit Königsberg »enge Sträß- liki«, zu denen sie mich bald nach meiner Ankunft einluden. chen mit Pflastersteinen, preußisches Leben und Kämpfe« und sei sehr interessiert »an der Entwicklung der Agrarkul- Es wurde ein typischer Datscha-Tag, wie die Russen ihn tur, Landwirtschaft, Urbarmachung des Landes«. Im Oblast zwischen Frühling und Herbst gern genießen. Um das Haus: Kaliningrad liegen heute die meisten Felder brach, weil Himbeeren, Nüsse, Obstbäume und Sommerblumen. Die Drainagen nach dem Krieg nicht instand gehalten wurden. Großmutter hatte Knoblauch-Hühnchen im Ofen für uns geschmort, draußen brutzelten die Schaschlikspieße auf dem Das Gefühl, auf deutschen Pflastersteinen zu laufen, Grill. Dazu gab es selbstgemachten Sirup und Tee – Alters- beschlich auch mich mitunter: Auf der Uliza Telmana, im Nor- genossen habe ich sehr selten Wodka trinken gesehen. Viele den der Stadt, sah ich einen Kanaldeckel mit der Aufschrift junge Frauen lehnen Alkohol kategorisch ab. Was mich an »Feuerwehr«. Dort erinnerte mich vieles an Norddeutsch- Russland interessiere, fragte man mich. »Die Nationalhymne«, land: Alleen, Kopfsteinpflaster, Straßenbahnschienen. Die erwiderte ich. Spontan wurde sie mir vorgesungen. Zwei Villen im Süden Kaliningrads, im ehemaligen Stadtteil Ama- junge Frauen waren irritiert: Wird es der Hymne gerecht, wenn lienau, sind von Gärten umgeben – mit zum Teil sehr alten man sie im Sitzen an einem Küchentisch zum Besten gibt? Bäumen, die sicher einiges gesehen haben. So hatte ich das Gefühl, bald in Kaliningrad zu sein, bald in Königsberg – je Während der Monate in Kaliningrad fragte ich zahlreiche nach Architektur und Flora. junge Menschen, wie sie die Stadt und deren Geschichte erleben. Viele von ihnen betrachten Kaliningrad als genuines Bei den Teilnehmern des Deutschkurses in der Stadtbi- Gebilde – mit allen Aspekten seiner Genese, die wie eine che- bliothek, den ich leitete, verspürte ich großes Interesse an mische Reaktion etwas Neues hervorgebracht hat. Manche deutscher Sprache und Kultur, wie auch bei so manchem drücken das durch den inoffiziellen Stadtnamen »Kjonig« anderen Kaliningrader, mit dem ich ins Gespräch kam. So aus. Ihr Heimatgefühl führt sie zu einem Geschichtsinter- eines Oktoberabends mit einem älteren Herrn an der Bus- esse, das sie mit der Verbundenheit zum aktuellen Wesen haltestelle auf dem belebten Siegesplatz: Er hatte mich mit der Stadt verknüpfen. Neben dem Bezug zur russischen meinen Eltern Deutsch sprechen hören und bat uns, das Kultur existiert eine regionale Identität. auf Deutsch verfasste Vorwort seines Buches über das 1894 erbaute Königsberger Wasserwerk zu korrigieren. »Ich habe in einem Haus gelebt, das von Deutschen gebaut wurde. Beim Renovieren fanden wir ein Zigaret- In meine Heimat zurückgekehrt, entledigte ich mich mei- tenetui und einen Zeitungsausschnitt«, erinnerte sich ein ner »Registration« und fühlte mich frei – und dankbar für eine 22 Jahre alter Kaliningrader. »Ich würde gern mehr über das Zeit voller bleibender Eindrücke, bewegender Erfahrungen deutsche Leben erfahren.« In Museen ist das möglich: in der und horizonterweiternder, herzerwärmender Begegnungen. alltagsgeschichtlichen Sammlung im Friedländer Tor und in Anne Mareike Schönle der Ausstellung zur preußischen Dynastie im Königstor, wo Anne Mareike Schönle ist Doktorandin am Lehrstuhl für Osteuropäische sonntags ein Chor Ännchen von Tharau in deutscher und Geschichte in Greifswald zum Thema Königsberg im Kaiserreich. Alltags- russischer Fassung singt. kultur einer Großstadt um 1900. 9

27.09.15, 23:02: Endlich weiß ich, wie die Kuchen bei Unterhitze im Gasofen von unten trotzdem nicht schwarz werden: Ich stelle ein zweites Blech unten rein, das ich alle 10 Mi- nuten mit kaltem Wasser abkühle (Tipp einer jungen Russin). Alles geht hier etwas langsa- mer. Aber irgendwie ist das auch mal gut.

19.01.16, 10:29: Beim Spaziergang auf der Kantinsel fand ich einen Stein mit russischer Inschrift: »An diesem Ort wird ein Denkmal errichtet werden. Frieden für alle.«

21.01.16, 18:29: Neulich hörte ich ein Orgel- konzert im Dom. […] Dom und Orgel sind der Früher dichtbesiedelte Kneiphofinsel – ganze Stolz vieler Kaliningrader. Wie oft hörte heute Kantinsel (im Hintergrund) ich: »Sie waren noch nicht in der Kathedralkir- Alle Fotos und WhatsApp-Nachrichten: © Anne Mareike Schönle che??? Da müssen Sie hin – es gibt eine or- thodoxe und eine lutherische Kapelle und die Orgel!!! Gehen Sie zum Orgelkonzert!!!!« ➁

⑤ Ausgabe 8 • 2020 ORTE 11

NDRIN E U T N T

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EIN BESUCH IN »NEU-TIFLIS« M A

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D Auf den Spuren der deutschen Minderheit in der georgischen Hauptstadt S E R

Georgien ist klein. Es besitzt ungefähr die Fläche Bayerns Haus 1893/94 für sich selbst gebaut hatte. Stern gehört zu und ist auch fast genauso gebirgig. Weil das Land aber nur den namhaftesten Architekten von Tiflis. Aus seiner Hand knapp vier Millionen Einwohner hat, trifft man – anders als stammen auch die Pläne für das Rathaus am heutigen im Freistaat – in der dortigen Bergwelt im Großen Kaukasus Freiheitsplatz. (an der Grenze zu Russland) oder im Kleinen Kaukasus (an Wenige Schritte vorher (Hausnummer 115) steht das der Grenze zur Türkei) nur auf wenige Wanderer, obwohl der gewaltige, 1872 errichtete Wohnhaus von Albert Salzmann Tourismus etwas zugenommen hat, seit das »Paradies am (1833–1897), der in Tiflis geboren wurde und in St. Peters- Rande Europas« Gastland der Frankfurter Buchmesse war. burg studiert hatte. Er wurde für seine Bauwerke vielfach Tiflis/Tbilissi hat immerhin die Millionenmarke hinter sich ausgezeichnet und war eine Größe der Kulturszene in Tiflis gelassen – und die georgische Metropole ist von einer mit- – durch einen Sturz vom Baugerüst starb er den klassischen reißenden Vitalität, die keinen Vergleich zu scheuen braucht. Architektentod. Ein einziges Gebäude (Hausnummer 109) passt überhaupt Zum »Pflichtprogramm« für Besucher gehört neuerdings nicht in die von Neobarock, Neoklassizismus und Jugendstil der etwas ungewohnt auszusprechende Davit-Aghmashe- geprägte Gegend: zu klein, zu bescheiden, einstöckig mit nebeli-Boulevard, der früher, als die Deutschen noch dort einem Giebelaufbau und Holzbalkon im landesüblichen Stil. wohnten, über viele Jahre Michaelstraße hieß. Doch das ist Irgendwie anders. Schon deshalb sieht man hin, eigentlich lange her. nur deshalb. Eine Tafel in deutscher Sprache hilft weiter: Das Man erreicht die heutige Prachtstraße am besten über Gebäude zeichne sich durch seinen »topologischen und his- den Saarbrücken Square (in Saarbrücken gibt es dafür einen torischen Wert aus und ist mit der Tätigkeit der deutschen Tbilisser Platz) und bummelt dann stadtauswärts in Richtung Kolonisten verbunden«. des Stadtteils Didube, der früher Alexandersdorf hieß, nach dem russischen Kaiser, der die dortigen schwäbischen Ein- Wir stehen in »Neu-Tiflis«, das 1818 von ungefähr sechzig wanderer einst aufgenommen hatte. Handwerkerfamilien aus allen deutschen Kolonien gegrün- Die ersten etwa zweieinhalb Kilometer vom Saarbrücken det wurde, etwa zwei Kilometer vom damaligen Stadtkern Square aus sind eine Flaniermeile, die keine (touristischen) entfernt, und 1861 eingemeindet wurde; heute ist »Neu-Tiflis« Wünsche offenlässt, auch wenn gestrenge Denkmalpfleger Teil des Stadtbezirks Tschughureti. Das kleine Haus stammt mit der schmucken Restaurierung der Gebäude zuweilen gar noch aus der »alten Zeit« vor den Prachtbauten seit dem nicht einverstanden sind und den Verantwortlichen sogar letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und regt die Fantasie »unsensiblen Umgang« mit historischer Bausubstanz, wenn an, so dass man sich die eher beschauliche Bebauung in nicht deutlich Schlimmeres, vorwerfen. Jedenfalls lassen der ersten Nach-Kolonisten-Zeit ganz gut vorstellen kann. die prächtigen Gebäude und das ganze Ambiente erahnen, dass hier schon früher eine bessere Gegend gewesen sein Georgien ist das Land des goldenen Königreichs Kolchis, muss. Schilder weisen auf die Architekten aus ganz Europa der Medea und der Argonauten, in dem Prometheus an den hin, die sich hier verwirklicht haben. Felsen geschmiedet wurde, das Land, das Gott für sich selbst als Wohnung aufgehoben hatte, bevor er es dann doch den An der Ecke zur Jansughi-Kakhidze-Straße fällt ein Ge- freundlichen Georgiern überließ, so erzählt die Legende. bäude auf, dessen Fenster als Davidstern gefasst sind, Es ist auch das Land, in dem einst mehrere Zehntausend Erkennungszeichen des Architekten Paul Stern, der das Menschen, vor allem aus dem Süden Deutschlands, für sich eine neue Zukunft eröffnen wollten. Wer heute mit offenen ➀ Der Davit-Aghmashenebeli-Boulevard führt vom Sinnen nach Georgien und Tbilissi fährt, taucht nicht nur in Saarbrücken Square zur Giorgi-Tsabadze-Straße. die klassische Sagenwelt Europas ein. Er findet faszinierende Alle Bilder: © Matthias Weber (BKGE), 2019 Spuren zahlreicher Völker, darunter auch der Deutschen. ➁ Wohnhaus des Architekten Paul Stern Etwas genauer hinsehen muss man dafür allerdings schon. ➂ Wohnhaus des Architekten Albert Salzmann Matthias Weber

➃ Deutsches Kolonistenhaus Prof. Dr. Matthias Weber ist Direktor des Bundesinstituts für Kultur und ➄ Aktueller Zustand des Hauses Usnadse-Straße 54, in dem Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) in Oldenburg von 1882 bis 1884 Bertha und Arthur von Suttner lebten. (ž S. 56–58). BAHNHOF EUROPAS Wie Frankfurt (Oder) 1945 zum Transitort für Millionen wurde

Die zunächst weitestgehend von Bombenangriffen und schlecht bewaffnete junge Männer aus Süddeutschland und Kriegshandlungen verschonte Stadt Frankfurt (Oder) wurde Thüringen, zur Verteidigung im ohnehin schon verlorenen 1945 massiv von den Folgen des Zweiten Weltkriegs getrof- Krieg an der Oder an. fen. Sie sollten das Bild der Stadt und der Region nachhaltig prägen. Erste Zerstörungen Frankfurts gehen unmittelbar auf Infolge der Weichsel-Oder-Operation der Roten Armee Kriegshandlungen zurück, die sich von Ende Januar bis zur setzte Mitte Januar 1945 eine gewaltige Fluchtbewegung ein. Einnahme durch die Rote Armee am 23. April 1945 hinzogen. In den nächsten Monaten wurde Frankfurt zum Umschlag- Die dadurch verursachten Brände konnten immer schwe- platz für Millionen Menschen aus ganz Europa, die über die rer gelöscht werden, da Feuerwehr und Wasserversorgung Oder in Richtung West oder Ost flohen. Für einige von ihnen fehlten. Nach dem Rückzug der Wehrmacht wurde die Stadt wurde der Frankfurter Bahnhof zum Symbol der Freiheit, für durch die neuen Besatzer sowie durch durchziehende ehe- andere zur Endstation, für die meisten bedeutete er jedoch malige Zwangsarbeiter geplündert, wobei weitere Häuser nur einen Transitort auf dem Weg in eine meist ungewisse angezündet wurden. Die massiven Zerstörungen vor 75 Zukunft. Flüchtlinge und Vertriebene, Häftlinge und Zwangs- Jahren, aber auch die Folgen der sozialistischen Planun- arbeiter, Soldaten und Heimkehrer trafen hier aufeinander gen zum Wiederaufbau prägen das Bild bis heute, vor allem und wechselten sich im Stadtbild ab. im Stadtzentrum, wo ein über Jahrhunderte gewachsenes Kulturerbe in wenigen Tagen und Wochen weitestgehend Zu den ersten Ankömmlingen gehörten deutsche Flücht- verloren ging. linge aus dem Osten. Völlig verzweifelt erreichten sie die Oderstadt, nachdem ihre Evakuierung zuvor von den zustän- Mit dem Ende des Krieges kam Frankfurt (Oder) und damit digen NSDAP-Gau- und Kreisleitungen lange hinausgezögert einer der wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte unter sowje- oder gar verhindert worden war. Unter den ersten Geflo- tische Kontrolle. Der Transitcharakter der Stadt blieb weiter- henen befand sich der Reichsstatthalter und Gauleiter der hin bestehen: Tag für Tag kehrten nun die zuvor evakuierten NSDAP im annektierten Großpolen, Arthur Greiser (1897– Frankfurter Einwohner in ihre Stadt zurück. Nachdem die 1946), dessen Ankunft am 20. Januar 1945 in der Frankfurter wichtigsten Brücken und Bahnverbindungen provisorisch Stadtchronik vermerkt ist. Fast zeitgleich gelangten noch oder dauerhaft instand gesetzt worden waren, entwickelte die durch Bombenangriffe obdachlos gewordenen Berliner sich Frankfurt (Oder) zur Drehscheibe für deutsche Kriegs- nach Frankfurt (Oder). gefangene, die man von hier zur Zwangsarbeit in die So- Die ohnehin schwierige Versorgungslage wurde durch die wjetunion abtransportierte. Sie sollten die deutsche Kriegs- Erklärung der Stadt zur Festung am 26. Januar 1945 zusätz- schuld kompensieren. lich verschärft. Während viele Zivilisten angesichts der dro- Als Reparation erhielt die Sowjetunion außerdem Indus- henden Kampfhandlungen die Stadt verließen und dabei trie- und Bahnanlagen. Da man für deren Bedienung quali- ihr Hab und Gut oft unwiederbringlich zurücklassen muss- fizierte Arbeiter, Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler ten, kamen nun vermehrt Soldaten, meist ungeschulte und benötigte, wurden auch sie mit ihren Familien parallel zu 13 den Gütertransporten mit den demontierten Anlagen in aber die besonders scharfen Kontrollen des Grenzgebietes Richtung Osten geschickt. durch die Sowjets.

Aus der entgegengesetzten Richtung kamen Vertriebene Lange war das Verhältnis zwischen den Bewohnern von aus den abgetrennten deutschen Ostgebieten und den vom Frankfurt (Oder) und Słubice trotz der im Geiste des Sozia- NS-Deutschland besetzten polnischen Gebieten in Frank- lismus postulierten Völkerfreundschaft angespannt. Heute furt (Oder) an. Für sie war der Aufenthalt hier lediglich eine sind sie, ihre Kinder und Enkelkinder gute Nachbarn. Zwischenstation auf dem Weg nach Berlin oder über das Die Geschichten vom schwierigen Neuanfang in der niedersächsische Lager Friedland in den Westen. neuen Heimat östlich und westlich der Oder interessierten Mit diesen Menschen kamen auch erste deutsche und dennoch lange nur wenige. Insbesondere die Schicksale von westeuropäische Kriegsgefangene sowie Internierte aus Frauen sind häufig vergessen, ihre Erinnerungen marginali- der Sowjetunion über den Frankfurter Bahnhof zurück. Ihre siert worden. Dabei sind diese Erfahrungen angesichts der Entlassung erfolgte zunächst an verschiedenen Orten in der weltweit stattfindenden Migrationsbewegungen und des Stadt. Erst ab Juli 1946 gab es feste Strukturen für diese Frei- vielerorts wiedererstarkenden Nationalismus heute aktu- lassungen, die über die sowjetisch verwaltete Hornkaserne eller denn je. und das deutsche Heimkehrerlager Gronenfelde organisiert Magdalena Gebala, unter Mitarbeit von wurden. Insgesamt erhielten mindestens 1,5 Millionen deut- Magdalena Abraham-Diefenbach und Karl-Konrad Tschäpe sche Kriegsgefangene und Zivilinternierte in Frankfurt (Oder) Dr. Magdalena Gebala ist beim Deutschen Kulturforum östliches Europa ihre Freiheit zurück. als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig, Dr. Magdalena Abraham-Diefen- bach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Denkmalkunde Laut den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), Dr. des. Karl-Konrad Tschäpe arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum Viadrina sollte Frankfurt (Oder) zu einer Grenzstadt, der dortige Bahn- in Frankfurt (Oder). hof somit zu einem Grenzbahnhof werden. Der östlich der Oder liegende Stadtteil Dammvorstadt wurde abgetrennt Diesem komplizierten Kapitel der euro- und zum Ziel von Zwangsmigration und Deportation. In der päischen Geschichte im 20. Jahrhun- dadurch neu entstandenen, nun Słubice genannten Stadt dert ist die 2020 in Frankfurt (Oder) wie in der gesamten Grenzregion wurden folglich Millio- und Potsdam geplante Veran- nen Menschen aus Zentral- und Ostpolen, aber auch viele staltungsreihe Bahnhof Europas. von den Sowjets zuvor nach Sibirien deportierte Polen bzw. Frankfurt (Oder) 1945 gewidmet. ehemalige Gulag-Häftlinge angesiedelt. Die wenigsten von Das Projekt wird vom Deutschen Kul- ihnen kamen freiwillig in die von den Deutschen verlasse- turforum östliches Europa in Koopera- nen Häuser. Laut der Historikerin Beata Halicka erfolgte die tion mit dem Institut für angewandte Besiedlung des Oderraums sehr langsam, besonders in Städ- Geschichte – Gesellschaft und Wissen- schaft im Dialog e. V. und dem Museum Viadrina in ten wie Słubice. Als Hindernis dafür erwies sich zum einen Frankfurt (Oder) realisiert. Gefördert wird es von Kulturland Bran- die geografische Nähe zur deutschen Grenze, die einen denburg im Rahmen des Projektes Krieg und Frieden. 1945 und die Neuanfang unmittelbar nach den Erfahrungen des Zwei- Folgen in Brandenburg und der Beauftragten der Bundesregierung ten Weltkriegs für Polen schwierig machte, zum anderen für Kultur und Medien.

Panorama mit Blick auf die gesprengte Brücke nach Osten, Frankfurt (Oder) 1945, © Stadtarchiv Frankfurt (Oder), Foto: Walter Fricke 14

DEN HORIZONT ERWEITERN Mit Abstand sieht man mehr: Schlesien aus der Luft betrachtet

Standortwechsel führt zu neuen Perspektiven – eine Binsen- gemeinsamen Kulturerbes von Deutschen und ihren östli- weisheit. Besonders deutlich wird das aber, wenn man grö- chen Nachbarn. Die Bilder aus den 1920er/30er Jahren zei- ßeren Abstand nimmt und sich zudem in die Luft erhebt. Der gen Stadt und Land vor den umfangreichen Zerstörungen weiträumige Überblick führt zu Horizonterweiterung und im Zweiten Weltkrieg. neuen Einblicken. In Bezug auf Kulturlandschaften ermög- Diese Fotografien stehen im Kontrast zu unseren heutigen licht dies par excellence eine Bildgattung mit großer Tradi- Wahrnehmungen der im Laufe eines Jahrhunderts stark ver- tion: die Ansichten von Stadt und Land »aus der Vogelschau«. änderten Kulturlandschaft. Ihre Gegenüberstellung mit aktu- Sie erfüllen den uralten Menschheitstraum, die Erde aus der ellen Luftaufnahmen vermittelt spannungsreiche Eindrücke Luft zu sehen. Im technologischen Zeitalter wurde mit der und wesentliche Erkenntnisse: Phänomene des Wandels wie Entwicklung der Fotografie und der Luftfahrt die Möglich- des Überdauerns von Landschaft und materieller Kultur, ins- keit dazu geschaffen: Die systematische Luftbildfotografie besondere in Städten und Siedlungen, werden wahrnehm- kam in Mode und wurde nach überwiegend militärischer bar. Verluste werden ebenso schonungslos offengelegt wie Nutzung im Ersten Weltkrieg auch für zivile und private oder bedeutende neue Entwicklungen. Aber auch Konstanten kommerzielle Zwecke eingesetzt. in der Kulturlandschaft über sich ändernde politische und Aus dieser Zeit überlieferte Ergebnisse sind Bilder mit gesellschaftliche Kontexte hinweg werden aufgezeigt. heute raren Blicken auf eine vergangene Welt. So bietet etwa die im Bildarchiv des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg bewahrte Sammlung Hansa-Luftbild Aufnahmen aus den historischen deutschen Der Landschaft von Menschenhand eingeschriebene Strukturen im Hintergrund – Strohballen auf weiter Flur im Oppelner Schle- Ostgebieten, vor allem aus Schlesien, Pommern, Ostpreu- sien bei Pawlowitzke/Pawłowicki, Foto: Thomas Voßbeck 2016 ßen und der Freien Stadt Danzig, also aus Regionen des (HI Bildarchiv Nr. 261479)

Zoom in die Vergangenheit: Der historische Stadtkern von Reichenbach/Dzierżoniów in Niederschlesien. Collage von Stanisław Klimek aus Hansa-Luftbild 1930 (HI Bildarchiv Nr. 59417) und Foto von Stanisław Klimek 2017 (HI Bildarchiv Nr. 252926) Ausgabe 8 • 2020 ORTE 15

Große Unterschiede? Schrägluftaufnahmen damals … … und Luftbildfotografie heute. Der Fotograf Thomas Voßbeck Aus der A 35. (Junkers Luftbildzentrale/Hansa Luftbild AG, (links) mit dem Piloten Krystian Felix im Ultraleichtflugzeug, Fotos: LAV NRW R RW 0229 45781) Thomas Voßbeck (HI Bildarchiv Nr. 261500 und privat)

Schlesien in den 1920er Jahren Vorhaben erbrachten Beiträge zur visuellen Geschichte die- und in den 2010er Jahren – ein Vergleich ser faszinierenden Kultur- und Industrielandschaft, dieser Die verschiedenen Sichtweisen und Blickwinkel auf die sowohl sprachlich-kulturell als auch sozioökonomisch viel- Region Schlesien waren Gegenstand zweier transnationa- fältigen Region, in der sich nicht nur deutsche, polnische und ler Buch- und Ausstellungsprojekte, an denen das Herder- tschechische Kulturschichten überlagern. Da insbesondere Institut – teilweise in Zusammenarbeit mit Partnerinstituti- das multikulturelle Schlesien in der Betrachtung Multiper- onen (Universität Siegen, Schlesisches Museum zu Görlitz, spektivität und Mehrsprachigkeit erfordert, wurden diese LWL-Industriemuseum Dortmund) – beteiligt war. Beide Projekte in Kooperation mit Partnern in Breslau/Wrocław

Mit dem Strukturwandel in Oberschlesien verändert sich auch das Bild der Industrieanlagen: Das Heizkraftwerk in Rybnik – eines der größten in Polen. Foto: Thomas Voßbeck 2016 (HI Bildarchiv Nr. 261459) 16

Architektonisches Erbe Schlesiens in seiner historischen Dimension: Das malerisch gestaltete Schloss Koppitz/Kopice (Kreis Grottkau/ Grodków), 1868/69 für die Familie Schaffgotsch erbaut, seit 1958 Ruine. Gegenüberstellung von Hansa-Luftbild 1928 (HI Bildarchiv Nr. 61338) und Foto von Thomas Voßbeck 2016 (HI Bildarchiv Nr. 261458)

(Städtisches Museum, Verlag Via Nova), in Kattowitz/Kato- haben neben ihrem dokumentarischen Wert auch künstle- wice (Schlesisches Museum) und Troppau/Opava (Schlesi- risch-interpretierende Qualität. Von den erfahrenen Foto- sches Landesmuseum) durchgeführt. grafen auf detailliert geplanten Routen aus Flugzeugen auf- Während für die Städte Niederschlesiens eine direkte genommen, sind es keine rein technischen Bilder wie etwa Gegenüberstellung der aktuellen mit den historischen Satelliten- oder Drohnenfotos. Die von ihnen geschaffenen Ansichten umfassend möglich war und das auch für die Lichtbilder sind zugleich abbildend und abstrahierend. Sie westlichen Teile Oberschlesiens weitgehend gelang, konnte nehmen die historische Dimension auf und schaffen ein für die ab 1921 zur Zweiten Polnischen Republik gehören- neues, suggestives Bild des kulturell reichen Schlesien mit den östlichen Teile – aus naheliegenden Gründen – keine visueller Faszinationskraft. Bilddokumentation des preußischen Luftbildunternehmens Dietmar Popp aus der Zwischenkriegszeit für Vergleiche herangezogen Dr. Dietmar Popp ist Leiter der Abteilung Wissenschaftliche Sammlungen werden. am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Die auf die historischen Schrägluftbilder rekurrierenden Leibniz-Gemeinschaft Marburg (ž S. 56–58). aktuellen Fotografien von Stanisław Klimek (Niederschlesien, 2000–2016) und Thomas Voßbeck (Oberschlesien, 2016–2018) : www.herder-institut.de/bildkatalog

Górny Śląsk z powietrza – dzisiaj / Oberschlesien aus der Luft – heute Horní Slezsko ze vzduchu – dnes. Hg. von Claudia Kraft und Dietmar Popp, Katowice und Marburg 2019 ISBN 978-3-87969-451-8, 25 € [D]

Górny Śląsk z powietrza – przed stu lat Oberschlesien aus der Luft – vor 100 Jahren Horní Slezsko ze vzduchu – před sto lety. Hg. von Claudia Kraft und Dietmar Popp, Katowice und Marburg 2019, ISBN 978-3-87969-452-5, 25 € [D]

Städte Niederschlesiens im Luftbild. Aus den Sammlungen des Herder-Instituts. Text und Konzept: Rafał Eysymontt, Co-Autor: Sławomir Brzezicki, Marburg und Wrocław 2018, ISBN 978-3-87969-439-6, 32 € [D] Miasta Dolnego Śląska na fotografii lotniczej. Ze zbiorów Instytutu Herdera w Marburgu. Tekst i koncepcja: Rafał Eysymontt, Co-Autor: Sławomir Brzezicki, Marburg i Wrocław 2018, ISBN 978-3-87969-440-2, www. vianova.com.pl Blick auf Zarz/Sorica, 2009, © Johann Jaritz via Wikimedia Commons

NDRIN UNTER DEN GIPFELN DES RATITOVEC E U T N T

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Die Geschichte der Tiroler Siedlungen von Zarz/Sorica und Umgebung D

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D Das deutsche Gebiet von Zarz/Sorica in der ehemaligen Krain Kofler, Gaiger, Trojer, Gasser, Merkel/Märktel S E

ist fast vergessen. Es befindet sich im Nordwesten des heuti- oder Pfeifer. Generell lässt sich der Schluss R gen Slowenien, im oberen Teil des Hochselzacher/Selščica- ziehen, dass die Bevölkerung in den Dörfern unterhalb des Tals, zwischen dem alpinen und dem voralpinen Raum. Ratitovec während der gesamten Siedlungsgeschichte rela- Auf terrassierten Hängen, unter den Gipfeln des Ratitovec- tiv homogen blieb. Gebirges liegen die Dörfer Ober Zarz/Zgornja Sorica, Unter Zarz/Spodnja Sorica, Im Eibendtlein/Ravne, Am Thoregkh/ Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die deutschsprachi- Torka, Za Werdam/Zabrdo, Pertovseh/Prtovč, Salimlog/Zali gen Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlungen stigma- Log, Ober Daine/Zgornje Danje und Unter Daine/Spodnje tisiert. Dennoch hat in den letzten Jahren die Wiederbele- Danje. Ihre fast 800-jährige Geschichte nahm im Hochpus- bung der lokalen Traditionen, Bräuche und Gewohnheiten tertal/Alta Pusteria in Südtirol ihren Anfang. der Vorfahren begonnen. Einige von ihnen waren auch beibehalten worden. Jedes Jahr übergibt beispielsweise Bereits im frühen und hohen Mittelalter begann sich das eine Delegation aus Zarz der Klosterkirche in Innichen eine Gebiet von Zarz unter bairischer Herrschaft zu entwickeln. Geldspende und bittet im Gegenzug um den Schutz ihres Tassilo III., Herzog von Baiern, überließ dem späteren Bischof Grund und Bodens. Zudem wird in der Gegend ein speziel- Atto von Freising (damals noch Atto von Scharnitz) 769 ein ler Dialekt gesprochen – heute zwar nur noch von wenigen, Gebiet im oberen Teil des Hochpustertals zur Errichtung eines aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von fast der Benediktinerklosters in dem Ort Innichen/San Candido. In der gesamten Bevölkerung. Er ähnelt den Hochpustertaler und zu dieser Zeit noch weitgehend unbewohnten Gegend waren bairischen Dialekten. Die Menschen, die heute in Zarz und die Freisinger Bischöfe die Ersten, die eine Ansiedlung syste- Umgebung leben, sind sich der alten Traditionen bewusst matisch förderten. Im Jahr 973 übertrug der römisch-deutsche und stolz auf ihre Geschichte. Kaiser Otto II. dem Bischof Abraham von Freising dann einen Miha Markelj großen Teil des Territoriums in der Krain – das gesamte Sel- Dr. Miha Markelj ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Postdoc an der zacher Tal bis hin zur heutigen Stadt Bischoflack/Škofja Loka. Primorska-Universität (Univerza na Primorskem) in Koper, Slowenien. Er Wegen des Bevölkerungswachstums schenkte Bischof Emi- publizierte u. a. zur Bedeutung traditioneller Kulturlandschaften für eine cho von Freising im Jahr 1283 den Siedlern von Innichen Land nachhaltige Tourismusentwicklung. auf dem Gebiet von Zarz. Eine Zeichnung in den Urbarien von Bischoflack aus dem Jahr 1291 zeigt die Errichtung von zwanzig Bauernhof Zgornji Trojar im Dorf Trojar, 2018, © Miha Markelj neuen Bauernhöfen in Zarz und im Dorf Niderhueben/Danje. Urbarien aus den Jahren 1318, 1492 und 1501 dokumentieren die Besiedlung weiterer Dörfer in der Region Zarz.

Auf den Bauernhöfen herrschte offenbar eine hohe fami- liäre Kontinuität. Das lässt sich unter anderem aus den Geburtsregistern ableiten. Zudem finden sich im gesam- ten Gebiet um Zarz – ähnlich wie im Hochpustertal oder in Baiern – immer wieder Familiennamen wie Egart/Egort, NDRIN E U T N T

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VERLASSENES LAND A

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D S E Die ehemalige deutsche Sprachinsel in der Gottschee R

Auf dem Gebiet des heutigen Slowenien lebten vor dem Verantwortung der Deutschen in Slowenien zur Folge. Die Zweiten Weltkrieg (um 1931) rund 29 000 Personen mit Abrechnung mit der deutschsprachigen Minderheit nach Deutsch als Muttersprache, vor allem in Laibach/Ljubljana, dem Ende des Krieges war radikal. Diejenigen, die nicht in der Gottschee/Kočevska, in diversen untersteirischen gemeinsam mit der deutschen Armee das Land verlassen Städten und Märkten, im Abstaller Feld und in vier Dörfern hatten, wurden von der neuen jugoslawischen Regierung in des Übermurgebiets. Die deutsche Sprachinsel in der Gott- Lager gesperrt oder ausgewiesen, ihnen wurde die Staats- schee war etwa 800 Quadratkilometer groß. angehörigkeit aberkannt und ihr Vermögen wurde konfis- Während des Krieges wurde das slowenische Gebiet ziert. Insgesamt registrierte der Staatssicherheitsdienst 9 474 zwischen Deutschland, Italien, Ungarn und Kroatien auf- ausgesiedelte Personen. Aufgrund dieser Maßnahmen gab geteilt. Dies führte im Jahr 1941 zur Umsiedlung von etwa es schließlich nur noch wenige Deutschsprachige in Slo- 12 000 Gottscheer Deutschen und zirka 1 600 Laibacher wenien. Die letzte Volkszählung im Jahr 2002 verzeichnete Deutschen aus dem italienischen Besatzungsgebiet. Die 1 628 Personen mit deutscher Muttersprache, 680 darunter Nationalsozialisten, die deutschsprachige Bürgerinnen und bezeichneten sich als »Deutsche« (davon 181 österreichi- Bürger aus allen europäischen Ländern ins Deutsche Reich sche und 499 deutsche Staatsbürger). Sie lebten über das holten, regten auch die Umsiedlung der Gottscheer Deut- gesamte slowenische Gebiet verteilt. schen an. Man wies ihnen ein von den Deutschen okkupier- tes Gebiet an der Grenze zum Königreich Italien und zum Die Entvölkerung der Gottschee Unabhängigen Staat Kroatien zu, aus dem die Mehrheit der Nachdem die Deutschen ihre Häuser in der Gottschee ver- slowenischen Bevölkerung vorher vertrieben worden war. lassen hatten, blieben ihre Dörfer und Siedlungen meist Die rigide Besatzungspolitik der Nationalsozialisten und unbewohnt. Ein Teil wurde niedergebrannt, vieles nicht wie- deren Unterstützung durch einen Teil der deutschsprachi- deraufgebaut oder renoviert. Die nach dem Krieg konfis- gen Minderheit hatten später die Forderung nach kollektiver zierten deutschen Grundstücke wurden zu sozialistischen staatlichen Landwirtschaftsgütern umfunktioniert. Die ambi- tionierten Pläne trugen jedoch keine Früchte. Aufgrund schlechter Besiedlungs- und Personalentscheidungen, aber auch wegen der Wirtschafts- und Kulturpolitik blieben weite Landstriche unbesiedelt. Ein Großteil des Gebietes im Gott- scheer Land wurde zur militärischen Sperrzone erklärt. Zudem hatte man aus ideologischen und nationalen Grün- den alles beseitigt, was kirchliche oder deutsche Züge trug. Das Schicksal der deutschsprachigen Minderheit kann mit einigen Zahlen dargestellt werden: Zu Beginn des 20. Jahr- hunderts lebten in der Gottschee rund 20 000 Deutsche, heute sind es nur noch ein paar wenige. Mehr als neunzig Prozent des Gebietes sind von Wald bedeckt, die einstige Siedlungskultur ist fast vollständig verschwunden. Die Dör- fer sind größtenteils verfallen oder wurden abgerissen, über Reproduktion zweier Ansichtskarten von Unterwarmberg/ 100 von insgesamt 176 wurden zerstört. Von 123 Kirchen Dolnja Topla Reber aus dem Jahr 1913, © Pokrajinski muzej Kočevje sind nur noch 28 erhalten. Ein ähnliches Schicksal ereilte Kapellen und Bildstöcke: Von etwa 400 ist heute nur noch ein Zehntel vorhanden. Auch die Mehrheit der 38 Friedhöfe, der bedeutendsten materiellen Zeugen der 600-jährigen Anwesenheit der Gottscheer Deutschen auf slowenischem Gebiet, wurde vernichtet. Grabsteine mit deutschen Namen sind inzwischen sehr selten.

Neue Entwicklungen – Grund zur Hoffnung? Noch vor dreißig Jahren war das Gottscheer Land ein ver- gessenes Land. Doch nach den demokratischen Verände- rungen in Slowenien im Jahr 1990 wurde das Gebiet auch für Forscherinnen und Forscher interessant, die sich mit 19

Unterwarmberg im Jahr 2002, © Mitja Ferenc dem Kulturerbe der einstigen deutschsprachigen Bevölke- Vereinigungen setzen sich zudem dafür ein, dass die deut- rung auseinandersetzen. In den folgenden Jahren wurden sche Minderheit in Slowenien ebenso anerkannt wird wie die im Gottscheer Land diverse Vereine gegründet, etwa der italienische und die ungarische. Nach der Unabhängigkeit Gottscheer Altsiedler Verein (Društvo Kočevarjev starosel- Sloweniens wurde die Forderung nach der Anerkennung cev). Mit Ausstellungen, topografischen Studien, Filmen, der deutschsprachigen Minderheit zu einem Dauerthema Tafeln, Büchern und Vorträgen wird versucht, das tragische in den slowenisch-österreichischen Beziehungen. Die bei- Schicksal der Gottscheer Deutschen erlebbar zu machen. den Staaten regelten diese Angelegenheit im Jahr 2001 mit Auch in anderen Regionen Sloweniens sind in den letzten dem sogenannten Kulturabkommen. Jahren mehrere deutsche Vereinigungen entstanden. Ihre Mitja Ferenc Programme zielen vor allem auf die Erhaltung des deut- Der slowenische Historiker Dr. Mitja Ferenc ist Professor an der Philosophi- schen Kulturerbes. So sollen Menschen angeregt werden, schen Fakultät der Universität Laibach/Ljubljana und Mitherausgeber des die deutsche Kunst und Literatur zu entdecken, Deutsch zu 2011 beim Deutschen Kulturforum östliches Europa erschienenen Buches lernen oder ihre Sprachkenntnisse zu vervollkommnen. Die Spurensuche in der Gottschee. Deutschsprachige Siedler in Slowenien.

Die Filialkirche Hl. Kreuz in Grodetz/Gradec) im Jahr 1992, © Mitja Ferenc 20

VON PRAG IN DIE WELT Wie Lucie und Franz Schulz auf zwei Kontinenten Kulturgeschichte schrieben

Schönes ernstes Rätsel, Prag, Sie wuchsen als Kinder des Landesadvokaten Dr. jur. Gott- wer sänge deines Lebens Tiefen … lieb (Bohumil) Schulz und seiner Frau Valeska in einem intel- Friedrich de la Motte Fouqué, Reise-Erinnerungen, 1823 lektuell-musisch geprägten Zuhause in Prag auf. Die Familie, zu der auch die Schwester Gisa gehörte, war mosaischen Glaubens; die Kinder wurden »eher atheistisch erzogen« Sie waren Kinder Prags, die auszogen, die Welt zu erobern – (Lucie). Muttersprachen: Deutsch und Tschechisch, dazu mit die Geschwister Lucie und Franz Schulz. Es war das Prag auf den Lebensweg: Englisch und Französisch. Seiner Majestät des Kaisers Franz Joseph I., der das Zepter der k. u. k. Habsburgermonarchie in Wien nimmermüde Prag, ade schwang. Es war auch das österreichische Prag der Tsche- Als Lucie Schulz 1915 aufbricht, hat sie ihre Lehramtsbefä- chen, Deutschen und Juden, die die »dreifache Seele« (Franz higung für Deutsch und Englisch + Büroerfahrung in der Werfel) bildeten. Bis 1918. Bis »der Zerfall Österreich-Ungarns Kanzlei ihres Vaters + Verbindungen zur damals aufkom- […] die Kakanier auf die Wanderschaft in eine mürrische menden Jugendbewegung im Gepäck. Ihr Weg führt sie ins Zukunft trieb« (Franz Schulz). deutsche Kaiserreich – in die Verlagswelten von Wiesbaden Als Lucie Schulz ist sie am 18. Januar 1894 in Prags ältester (1915), Leipzig (1916–18), Hamburg (1919). Sie profiliert sich in Vorstadt Karolinenthal/Karlín geboren – am 17. Mai 1989 in Redaktion und Lektorat. Ihre Fotografie ist zu der Zeit noch Zollikon bei Zürich als Lucia Moholy gestorben. Dazwischen amateurhaft. So gerüstet geht Lucie 1920 nach Berlin. In die- liegt ihre Bauhaus-Geschichte … liegt Exil-Geschichte. ser Weltstadt, Medienstadt, Filmmetropole, wo die Bilder 1895 Als Franz Georg Schulz ist er am 22. März 1897 in Karo- laufen lernten, ist Franz Schulz bereits 1918 angekommen. linenthal geboren – am 4. Mai 1971 in Muralto (Tessin) als Francis George Spencer, genannt Franz Spencer, gestor- Berlin, welcome ben. Dazwischen liegt Film-Geschichte … liegt seine In Berlin ankommen heißt: in der Avantgarde ankommen. Exil-Geschichte. Ein junger Künstler, der ungegenständlich-konstruktivistisch

Historische Postkarte mit der Prager Karlsbrücke und deutscher Aufschrift, um 1904, © akg-images, und Porträt von Franz und Lucie Schulz um 1909, Bauhaus-Archiv Berlin Ausgabe 8 • 2020 MENSCHEN 21

Dialogwitz vor allem ab 1930 den Ton- Wien, Paris kommt sie 1934 in London film befördert. an. Im Exil …

Weimar – Dessau – Berlin – Exil Let’s go to Hollywood, New York … Nein, Lucia Moholy war keine »Bau- Nach dem Ufa-Protokoll über die Auf- häuslerin«. Sie war »nur« als Fotogra- lösung der Verträge muss auch Franz fin professionell ausgebildet (Atelier Schulz wie alle »jüdischen Mitarbeiter« Eckner, Weimar 1923/24), mit foto- und 1933 in Berlin die Koffer packen. Zu sei- drucktechnischen Kenntnissen (Akade- nen großen Kassenschlagern zählen mie Leipzig 1925/26). Ihre Porträtreihe 1930 Zwei Herzen im 3/4-Takt und Die beeindruckt. Als Bauhaus-Fotografin Drei von der Tankstelle sowie 1931 Bom- großer Bildserien der Produkt-, spezi- ben auf Monte Carlo. Anfang 1934 mit ell der Architekturfotografie, etwa von dem Linienschiff Georgic, von England den Meisterhäusern in Dessau (1926), kommend, im US-Exil gelandet, kann als Lektorin/Redakteurin der Bauhaus- er als einer der gefragtesten Drehbuch- Franz Spencer alias Schulz (1946), © Bauhaus-Archiv Berlin Bücher, die von Walter Gropius und autoren auf 30 Stumm- und 37 Tonfilme aus der Zeit zwischen 1920 und 1933 auf dem Gebiet der Malerei und Foto- zurückblicken. Erfolge, die er als US- grafie experimentiert, ist der Ungar Bürger Franz Spencer in der Filmmetro- László Moholy-Nagy. Im April 1920 lernt pole Hollywood – etwa bei Paramount Lucie ihn kennen; im Januar 1921 hei- unter Vertrag – so nicht wiederholen raten sie. Aus Lucie Schulz wird Lucia kann. Sein englischsprachiges Prosa- Moholy, die kongeniale Partnerin. Es werk Battles of a Bystander (New York beginnen gemeinsame Experimente 1941) erscheint zur falschen Zeit: Ame- mit Fotogrammen, bei denen licht- rika tritt 1941 gerade in den Krieg ein. empfindliche Materialien ohne Kamera Anfang 1950 geht er nach New York, belichtet werden. Noch verdient sie das schreibt für Fernsehen und Bühne. Da, Geld beim Rowohlt-Verlag, bis 1923 ihr wie er selbst feststellt, »die Freiheitssta- Mann als Meister von Walter Gropius tue nicht immer lächelt«, kehrt er Mitte ans Bauhaus Weimar berufen wird. Der- der 1950er Jahre nach Europa zurück – weil hat Franz Schulz den Film längst als Lucia Moholy, Selbstporträt (1930), Bau- im Gepäck sein Drama A Window Facing neue Kunstgattung für sich entdeckt. haus-Archiv Berlin, © VG Bild-Kunst, Bonn East. Der dritte Prager Fenstersturz, Jan 1920 wird sein erstes Drehbuch Die Masaryk, 1948 … das Werk ist ein Tribut rote Redoute verfilmt. 1918 von Wien László Moholy-Nagy herausgegeben Filmplakat Die Drei von der Tankstelle (1930) gekommen, wohin ihn 1916 noch Seine wurden, hatte Lucia Moholy unschätz- Majestät von der Prager Karlsuniversi- baren Anteil an der weltweiten Verbrei- tät weg zu den Fahnen gerufen hatte, tung der Bauhaus-Idee. Ihr Name blieb arbeitet Schulz zunächst als Journalist. dabei meist ungenannt. Nach der Tren- Das tat er bereits für das Prager Tagblatt nung vom Bauhaus im Jahr 1928 folgt – wie alle, die dem Prager Sammelbe- die Trennung der Moholys 1929 in Berlin. cken deutscher Literatur entstammten, Ende einer »Art symbiotischer Arbeits- als es noch in seinen »Bildungsstätten gemeinschaft«, von Lucia Moholy auch Café Arco und Café Continental« (Franz so interpretiert: »Er hat nie eine Dunkel- Schulz) nur so »werfelt und brodelt, kaf- kammer betreten – der Künstler war er.« kat und kischt« (Karl Kraus). Lucia wird Fachlehrerin für Fotografie an Als Filmpublizist bereist Franz Schulz der Itten-Schule Berlin. Im August 1933 auch Moskau, Paris, London. 1929 faszi- wird ihr Lebensgefährte, der kommunis- niert ihn die neue Technik: der Film mit tische Reichstagsabgeordnete Dr. Theo- »Sound«. Mit dem StummfilmDie Hose dor Neubauer, in ihrer Wohnung ver- nach dem Lustspiel von Carl Sternheim haftet. Sie muss überstürzt fliehen, ihr begründet »der Hosen-Schulz« 1927 sei- Bauhaus-Fotoarchiv (500 Glasnegative) nen Erfolg als Komödienautor, dessen bei Freunden zurücklassend. Über Prag, Meisterhäuser in Dessau von Walter Gropius, Foto: Lucia Moholy 1926, Bauhaus-Archiv Berlin, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 des Prager Homme de lettres an seine Theodor Neubauers – zunächst erfolg- jahrelangem Rechtsstreit mit keinem Stadt. Als »Gentleman-Nomade« zieht reich. Doch ihr Lebensgefährte wird Geringeren als Walter Gropius (USA), der Hagestolz durch Europa, rastet wieder verhaftet und Anfang 1945 hin- erfolgt 1957 die (Teil-)Rückgabe ihrer mal auf Ibiza, mal in Ascona, schreibt gerichtet. Beherzt ringt Lucia auch um Bauhaus-Negative, die von fotohisto- für die Bühne – wieder deutsch. Sein die eigene Existenz, um ihr Negativ- rischer Bedeutung sind. Den Vertrau- erfolgreiches Prosawerk Candide 19.. archiv, das angeblich verschollen ist. ensbruch durch den Bauhaus-Gründer oder das miese Jahrhundert als Vari- Trotz Krieg und Verlust gelingt es ihr, wird sie nie überwinden. 1959 über- ante zu Voltaire erscheint 1966. Spen- sich in London zu etablieren: als Por- siedelt Lucia Moholy in die Schweiz, cer at his best … einst als Franz Schulz trätfotografin der High Society (»ich widmet sich publizistischer Tätigkeit »einer der Großen des Kinos der spä- habe Menschen fotografiert wie Häu- und ihrem Fotoarchiv, nimmt an Aus- ten Weimarer Republik – heute von der ser«); als Publizistin (A Hundred Years stellungen teil. Filmgeschichte vernachlässigt«, so der of Photography, 1939); ab 1940 mit bri- Hin und wieder treffen sich die Filmhistoriker Jan-Christopher Horak tischem Pass: als Beauftragte für Mik- Geschwister Lucie und Franz. Fern von anlässlich der großen Retrospektive roverfilmung an der Cambridge Uni- Prag – auf den Balearen, in der Schweiz. 1994 in München. versity; als Verfilmungsbeauftragte der Ausschließlich jeweils ihrem Werk ver- UNESCO 1946 im Nahen und Mittleren pflichtet, pflegen sie ansonsten ihren Es wär’ so schön gewesen … Osten. Zuletzt leitet sie 1952/53 in Istan- Grundsatz: »Vom übrigen wollen wir Seit 1934 im Londoner Exil, kämpft bul und Ankara den Aufbau kulturhis- nicht sprechen.« Lucia Moholy um die Freilassung torischer Archive. Und endlich, nach G. G. von Bülow

G. G. von Bülow, geboren 1934 in Haldensleben (Sachsen-Anhalt), mit wechselnden Lebensstationen von Kopenhagen bis Ibiza, lebt in Berlin. Sie engagierte sich im Verlags- und Kommunikationsbe- reich, arbeitete als PR-Beraterin, Herausgeberin und ghost writer. Seit 1994 verfasst sie als freie Autorin Belletristik, Sachliteratur und Biografien. : www.ggvbuelow.de

& Franz Spencer: Candide 19.. oder das miese Jahrhundert, München 1966. Neu hg. und mit einem Nachwort v. G. G. von Bülow, Berlin 1994

G. G. von Bülow: Franz Schulz. Ein Autor zwischen Prag und Hollywood. Eine Biographie, Prag 1997 G. G. von Bülow: Candide in einem miesen Jahrhundert, in: FlLMEXIL 21/2005: Battles of a Bystander – Franz Spencer, S. 10–51

Der Nachlass von Lucia Moholy befindet sich im Bauhaus-Archiv Berlin. 23 JUNG UND PLURIKULTURELL Seit über 25 Jahren bereichert »Canzonetta« das Musikleben im siebenbürgischen Kronstadt/Brașov

In Siebenbürgen/Transsylvanien hat Blockflötenquartett und von Rhyth- entdeckten Hunder- Kulturpreis fast jeder Ort mehrere Namen – so mus-Instrumenten. Später kamen te von Kindern und 2019 GEORG wie Kronstadt (deutsch) auch Brașov Metallophone, Xylophone, Glocken- Jugendlichen ihre (rumänisch) und Brassó (ungarisch) spiele hinzu. Seit 1999 heißt das Ensem- Liebe zur Musik. DEHIO heißt. Die Gesellschaft ist multieth- ble »Canzonetta«. Mehrere ehemalige Das Ensemble nisch und multikonfessionell. Neben Mitglieder sind heute erfolgreiche erfindet sich immer wieder neu – Rumänen, Ungarn, Juden und Roma Musiker. Doch das Hauptziel ist nicht Zusammensetzung und Repertoire leben seit dem 12. Jahrhundert auch die Vorbereitung auf eine musikalische ändern sich ständig. Doch eines ist Deutsche hier – die Siebenbürger Sach- Karriere, sondern die Förderung von nach über 25 Jahren gleichgeblieben: sen. Obwohl ihre Zahl inzwischen stark Teamgeist, Kollegialität und Gemein- die Freude am Musizieren. geschrumpft ist, sind ihre Kultur- schaftssinn mit Hilfe der Musik. Elise Wilk NDRIN einflüsse noch sehr präsent. E U »Auf menschlicher Ebene T Die rumäniendeutsche Journalistin und Thea- N In großen Städten existiert ein T bringt das gemeinsame Musi-

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D terautorin Elise Wilk leitet die Lokalredaktion der

intaktes deutsches Schulwesen M zieren den Kindern eine Stär-

A Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien

N in Kronstadt/Braşov und erhielt 2019 die D (ADZ) und ein kirchliches Gemeinde- S kung des Selbstbewusstseins, E

leben. Zudem gibt es eine R der Kommunikationsfähig- Auszeichnung »Auslandsdeutsche des Jahres«. lange Musiktradition. Jeden Sommer keit, mehr Freude an den Klängen werden in den mittelalterlichen Wehr- und Rhythmen ohne Jagd nach guten Ingeborg Acker, geboren 1957 als Ingeborg kirchen in der Umgebung Kronstadts Noten und schließlich auch ohne iPho- Gagesch in Rosenau/Râşnov, Siebenbür- Konzerte organisiert, in der Schwarzen nes, Computerspiele und Facebook. gen, Rumänien, ist seit 1980 Organistin Kirche, dem größten gotischen Bau- Außerdem vermittelt man der jungen der Evangelischen Kirche A. B. (Honte- werk Südosteuropas, finden Orgelkon- Generation ein Stück Kultur, das sich rus-Gemeinde) in Kronstadt/Brașov. 1994 gründete sie das Vokal- und Instrumental- zerte statt, der Bach-Chor der evangeli- die Kinder zu eigen machen und nicht Ensemble »Canzonetta«, in dem Kinder und schen Honterus-Gemeinde ist über die nur passiv zur Kenntnis nehmen. Des- Jugendliche unterschiedlichen Alters und Grenzen Rumäniens hinaus bekannt. halb versuche ich das Repertoire so zu verschiedener Ethnien gemeinsam musi- Seit über 25 Jahren gibt es auch gestalten, dass die ›Canzonettisten‹ zieren. Das schon mehrfach preisgekrönte »Canzonetta«, das Vokal- und Instru- in alle musikgeschichtlichen Stilrich- Ensemble gab Konzerte in Rumänien, mental-Ensemble der Evangelischen tungen ›hineinschnuppern‹ können Österreich, Deutschland und der Schweiz, Kirchengemeinde A. B. Kronstadt – 25 und sich begeistern lassen. Allein mit war im TV zu sehen und nahm CDs auf. Im bis dreißig Personen zwischen 9 und Klassik wäre diese Resonanz schwer September 2019 wurden Ingeborg Acker 18 Jahren, die gemeinsam musizieren. zu erreichen«, meint Ingeborg Acker. und »Canzonetta« mit dem Förderpreis des Georg Dehio-Kulturpreises ausgezeichnet. Ihr Repertoire reicht von Instrumen- Seit der Gründung von »Canzonetta« tal- und Chormusik aus Renaissance, Barock oder Klassik über internatio- »Canzonetta«-Konzert am 27. September 2019 in der Heilige-Geist-Kirche Berlin, nale Evergreens des 20. Jahrhunderts Foto: Helge Theil/DKF bis hin zu Volksmusik aus der rumäni- schen, ungarischen, deutschen, jüdi- schen Tradition Siebenbürgens. Das bewirkt bei den jungen Menschen noch mehr Toleranz anderen Natio- nalitäten gegenüber. Plurikulturalität gilt auch für die Zusammensetzung der Gruppe: Unterschiedliche Ethnien sind vertreten, bei Proben und Konzerten wird aber Deutsch gesprochen. 1994 gründete Ingeborg Acker zunächst eine Blockflötengruppe mit Schülern des deutschsprachigen Johannes-Honterus-Lyzeums. Immer häufiger wurde Chorgesang instru- mental begleitet, vornehmlich vom 24

GESCHICHTE DEFINIEREN, NICHT DEFORMIEREN Ein Gespräch mit dem Breslauer Historiker und Museumsdirektor Maciej Łagiewski

Im September 2019 wurde der Hauptpreis mehrere Friedhöfe aus der deutschen Zeit. Nach polnischen Kulturpreis des Georg Dehio-Kulturpreises an den Friedhofsbestimmungen durfte man Bestattungsplätze für 2019 polnischen Historiker Maciej Łagiewski andere Zwecke vor dem Ablauf von vierzig Jahren nur in GEORG verliehen. Aus diesem Anlass führte Ros- Ausnahmefällen im Einvernehmen mit den Zentralbehör- DEHIO witha Schieb mit ihm ein Interview, das den verwenden. Wenn eine Grabstätte 25 Jahre lang nicht wir hier in Auszügen wiedergeben. mehr gepflegt wird, kann sie eingeebnet werden. Daraufhin wurden die alten deutschen Friedhöfe, diese großen Parks Während der Zeit des Sozialismus war Breslau/Wrocław, mit umgestürzten Grabsteinen, liquidiert, mit Ausnahme wie der Essayist Andrzej Zawada geschrieben hat, eine des jüdischen Friedhofs. Und zwar einmal, weil es zwischen »Stadt ohne Gedächtnis« und »mit amputierter Erinne- Polen und Juden eine gemeinsame Martyrologie gibt, sowohl rung«. Die deutsche Vergangenheit war offiziell tabui- Juden als auch Polen waren deportiert und ermordet wor- siert. Sie haben sich sehr früh dafür eingesetzt, die kom- den, und zum zweiten, weil sich auf dem jüdischen Friedhof plexe Geschichte Breslaus sichtbar zu machen. Wie sind das Grab von Ferdinand Lassalle (1825–1864) befindet. Bereits Sie dazu gekommen, sich weit über dreißig Jahre lang 1975 wurde dieser Friedhof unter Denkmalschutz gestellt. Als derart unverkrampft mit der Stadtgeschichte Breslaus ich als Mitglied der Arbeitergewerkschaft Solidarność nach zu beschäftigen? Wie kamen Sie zum Beispiel auf die dem Kriegsrecht 1982 meine akademische Lehrtätigkeit ver- Idee, den jüdischen Friedhof zu retten? lor, eröffnete ich dem Landeskonservator und dem Leiter des Architekturmuseums die Idee, den alten jüdischen Friedhof Ich kannte den jüdischen Friedhof seit meiner Kindheit, weil vor dem Verfall zu retten. Der Direktor war zuerst skeptisch, wir nicht weit entfernt von ihm wohnten. Mein Vater war aber bereits einige Jahre später wurde die Bewahrung des Architekt und er wollte mir schon früh die verschiedenen jüdischen Friedhofs vom Architekturmuseum unterstützt. Architekturstile beibringen: »Weißt Du, wo du all das findest? Immer wieder kamen Journalisten aus Deutschland und Auf dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Friedhof!« suchten nicht nur Kontakt zu Oppositionellen, sondern auch Bis 1970 gab es in der Umgebung des jüdischen Friedhofs nach alten Kulturspuren. So wollte 1984 eine Delegation von

Maciej Łagiewski auf dem Alten Jüdischen Friedhof, 1980er Jahre, © Danuta Szatkowska Ausgabe 8 • 2020 MENSCHEN 25

der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Heinz Kühn am Lassalle-Grab Welche Bedeutung hat die deutsche Sprache für Sie? zu dessen 120. Todestag einen Kranz niederlegen. Die Popu- larität dieses Grabes war neu für mich. Daraufhin haben wir In meiner Kinderzeit war ich umgeben von deutscher Schrift, nicht nur das Grab von Lassalle restauriert, sondern auch die von deutschen Aufschriften. Sie waren überall auf den Fassa- Gräber der Eltern von Edith Stein (1891–1942, 1987 selig-, 1998 den. Das war das tägliche Brot für uns. Auch ausgemeißelte heiliggesprochen) und das Grab des Sozialdemokraten Max Worte oder Wortteile sahen wir täglich. Vom Neuen Rathaus Kayser (1853–1888), der Reichstagsabgeordneter während blieben das Baujahr »1863« und die schön verzierte Initiale der Sozialistengesetze war. Ich habe diese Gräber Helmut eines »E« erhalten, das »rbaut« wurde entfernt. Bis heute und Loki Schmidt, Johannes Rau und Uta Ranke-Heinemann kann man hier und da Spuren der deutschen Vergangen- und immer wieder Fritz Stern (1926–2016) gezeigt. 1988 hat heit der Stadt in Form von Kanaldeckeln, Hydranten oder der Friedhof den Status eines Museums bekommen. Ab 1993 Leitungsschildern finden. unterstützte ich auch polnisch-deutsche Schülerbegegnun- gen zwischen einem Breslauer Privatgymnasium und der Haben Sie Wünsche für die Zukunft? Thomas-Mann-Oberschule in Berlin. Die Schüler helfen bei den Grünanlagen, vor allem aber geht es um die Jugendbe- Ich würde gerne wieder die Holtei-Büste auf der ehemaligen gegnungen und die Gespräche. Holtei-Höhe (heute Polnische Höhe) aufstellen, denn Holtei war der einzige Enthusiast im 19. Jahrhundert, der sich für die Sie schreiben in Ihrem Vorwort zum Museumsführer polnische Kultur und Geschichte begeisterte. Die Gedenkta- 1 000 Jahre Breslau, dass Sie Geschichte definieren, aber fel an seinem Haus bzw. dem Nachfolgebau in der Breslauer nicht deformieren wollen. Diesem Anliegen dient auch Altstadt geht auch auf meine Initiative zurück. Als ich meinen Ihre eindrucksvolle Publikationstätigkeit. Sie veröf- 50. Geburtstag feierte, bereiteten meine Museumsmitarbei- fentlichten etliche Bücher, unter anderem über Juden ter einen Sonderdruck über mich vor und fragten mich, ob in Breslau, über das Stadtwappen, über Breslauer Brü- ich eine Idee für den Titel hätte. Da schlug ich ein Zitat von cken und über den jüdischen Friedhof. Welche Facetten Karl von Holtei vor, das in schlesischem Dialekt auch auf Breslaus interessieren Sie noch? seiner Grabmalgedenktafel zu lesen ist: »Suste nischt ack heem«, was frei übersetzt heißt: »Überall ist es gut, aber zu In den 1980er Jahren schrieb ich für die Abendzeitung Hause ist es am besten.« Und das ist meine universelle Bot- Wieczór Wrocławia ganze Feuilleton-Serien über die deut- schaft für das ganze Leben. sche und die polnische Vergangenheit der Stadt, und seit Die Germanistin und Kunstwissenschaftlerin Dr. Roswitha Schieb veröffent- etwa 2006 schreibe ich regelmäßig einmal in der Woche, lichte neben Theaterbüchern zahlreiche kulturgeschichtliche Titel über das jetzt für die Gazeta Wrocławska. Mittlerweile sind drei Sam- östliche Europa, vor allem über Schlesien. melbände mit fast 400 Feuilletons erschienen. Immer wie- der geht es darin um Persönlichkeiten, die mit Breslau ver- bunden waren. Auch Feuilletons über Breslauer Orte und Der Jurist, Historiker und Museologe wichtige Ereignisse sind in den Sammelbänden vereint. Dr. Maciej Łagiewski wurde 1955 in Mein Anliegen ist es immer gewesen, das echte Gesicht Breslau/Wrocław geboren. Seit von Breslau zu zeigen. Da ich Deutsches und Polnisches 1991 ist er Direktor des Histori-

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mische, habe ich keine Probleme mit der Akzeptanz. Diese e schen Museums und seit 2000 des l

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multikulturelle Grundlage unterscheidet Breslau von ande- s Stadtmuseums Breslau. Er ist Ini-

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t r o suchen, wie ich es mache, man kann auch norwegische P Wurzeln suchen, man kann hier alles suchen. Aber ich wehre Publikationen, die zum Teil in deutscher Sprache erschienen sind, gründete die Gale- mich gegen die Tabuisierung des Deutschen während des rie der berühmten Breslauerinnen und Breslauer im Alten Rat- Sozialismus, als die deutsche Zeit nur als Epoche der Ger- haus und ist Mitglied in verschiedenen Ausschüssen, Komitees manisierung angesehen wurde. Wir müssen der Geschichte und Jurys. Für seine Verdienste erhielt er unzählige Auszeichnun- gegenüber ehrlich sein. Ich kämpfe jedenfalls um das uni- gen, unter anderem als erster Pole den Kulturpreis Schlesien des versale Gedächtnis der Stadt. Landes Niedersachsen. 26

VOLKSGENOSSE ODER FEIND DES VOLKES? Die doppelte Diktaturerfahrung der Schwarzmeerdeutschen

Die deutschsprachige Bevölkerung am Nordufer des Schwar- 15 000 polnische und deutsche Haushalte nach Kasachstan zen Meeres erfährt während des Zweiten Weltkriegs zwei zwangsumgesiedelt. Diktaturen. Zu Kriegsbeginn lebt sie in der stalinistischen Diktatur der Sowjetunion. Das ändert sich nach dem Über- Am 22. Juni 1941 beginnt auf Befehl Hitlers der Krieg gegen fall der deutschen Wehrmacht am 22. Juni 1941 schlagartig. die Sowjetunion. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in der Die Wehrmacht bewegt sich so schnell vorwärts, dass die Ukraine kehrt sich die gesellschaftliche Stellung der etwa deutschen Dörfer rund um Odessa schon am 1. September 320 000 Schwarzmeerdeutschen vollständig um. Gemäß der desselben Jahres unter der Herrschaft der Nationalsozialis- nationalsozialistischen Ideologie überwiegend als Volks- ten stehen. genossen anerkannt, gehören sie nun zur vermeintlichen »Herrenrasse«. Die Besatzer bemühen sich um den Schutz Seit der Machtergreifung Hitlers 1933 werden Deutsche ihres Eigentums und ihrer Person, erlauben die Ausübung in der Sowjetunion überdurchschnittlich oft als sogenannte ihrer Religion und den deutschen Schulunterricht. Feinde des Volkes verfolgt. Die nationalsozialistische Ideo- Nach der Besetzung der Ukraine ziehen Tötungskom- logie einer vermeintlich überlegenen germanischen Rasse mandos der Einsatzgruppe D der Wehrmacht durch das führt dazu, dass die sowjetische Regierung Deutsche im Schwarzmeergebiet und ermorden Zehntausende Juden, In- und Ausland als Gefahr wahrnimmt. Am 5. November Roma und sowjetische Kriegsgefangene. Im Oktober 1941 1934 beginnt mit dem Beschluss des Zentralkomitees »Über schreibt Dr. Karl Stumpp als Leiter eines Sonderkomman- den Kampf gegen die konterrevolutionären faschistischen dos zur Erfassung der Schwarzmeerdeutschen nach einem Elemente in den deutschen Kolonien« eine systematisch zweiten Besuch in Friesendorf im Gebiet Dnjepropetrowsk: antideutsche Politik. Deutsche Sowjetbürger werden erst »Es fiel uns auf, daß die Deutschen zum großen Teil am durch Propaganda und später in willkürlichen Gerichtsur- Rande des Dorfes und die Juden in den schönen Häusern teilen zu Feinden des Volkes erklärt. In der Ukrainischen im Zentrum wohnten. […] Jetzt sind die Deutschen in die Sozialistischen Sowjetrepublik werden zwischen 1934 und leer gewordenen Häuser der Juden eingezogen.« Auch ein 1938 über 20 000 Deutsche verurteilt und davon etwa Teil des geraubten beweglichen Besitzes der im Holocaust 18 000 erschossen. Außerdem werden nach einem gehei- Getöteten wird nach einer Anweisung Himmlers 1942 unter men Beschluss des Rates der Volkskommissare im April 1936 der deutschsprachigen Bevölkerung in der Ukraine verteilt.

Soldaten vor der schwarzmeerdeutschen Siedlung Speyer (Beresaner Gebiet, heute Pischtschanyj Brid/Піщаний Брід), um 1941 Foto: Daniel Brunnengräber, Deutsches Historisches Museum Berlin, BA 2015/685 Ausgabe 8 • 2020 MENSCHEN 27

Spätestens ab Sommer 1942 stellt die SS in deutschen Links: Angehöriger des Selbstschutzes vor dem Bürgermeisteramt Dörfern den »« aus allen wehrfähigen Männern in Mannheim (Gebiet Odessa, heute Kamjanka/Кам'янка), 7. Juni 1943. Foto: Willy Pragher, Staatsarchiv Freiburg, W 134 Nr. 035917 ab dem 18. Lebensjahr auf. Schätzungen gehen allein im Rechts: Flüchtlingstreck aus Alexanderwohl (Gebiet Molotschna, Gebiet zwischen dem Dnestr und dem Südlichen Bug von heute Switle/Світле), 1943/44. Foto ohne Ortsangabe, Hans Hin- sieben- bis neuntausend Personen aus. Dem Namen nach dorf, Privatarchiv Louise Klassen ist ihre Aufgabe der Schutz vor Plünderungen. In der Praxis setzt die Waffen-SS die Einheiten zur Beteiligung am Holo- 1945 beschließen die Alliierten jedoch die sogenannte Repa- caust ein. Eine der größten Tötungsaktionen ist der Mord triierung von Soldaten und Zivilisten in das Land, in dem an etwa 52 000 Juden in Bohdaniwka bis zum 15. Januar sie vor Kriegsbeginn ihren Wohnsitz hatten. Nach der end- 1942. Von 130 Todesschützen beteiligen sich etwa 60 Ange- gültigen Kapitulation des Deutschen Reiches werden des- hörige des Selbstschutzes aus Rastadt, München (heute halb 200 000 Russlanddeutsche zwangsrepatriiert. In der Poritschtschja/Поріччя), Michailowka, Marianowka und Sowjetunion werden sie ohne Gerichtsverfahren in Lager Lenintal an den Erschießungen. Darüber hinaus leisten deportiert, in denen sie unter strenger Einschränkung ihrer Angehörige des Selbstschutzes Unterstützung bei dem Freiheit bis in die 1950er Jahre hinein Strafarbeit leisten Transport von Juden zu den Exekutionsplätzen sowie bei müssen. Beim Transport sterben etwa 15 bis 30 Prozent der der Beseitigung der Leichen. Deportierten an mangelnder Versorgung. 1943 muss sich die Wehrmacht vor der Roten Armee aus In der UdSSR ist es den Russlanddeutschen erst ab Ende der Ukraine zurückziehen. Die Angst vor erneuter Repression 1955 wieder erlaubt, ihre Verbannungsgebiete zu verlassen. seitens der Sowjetmacht treibt die Schwarzmeerdeutschen In ihre alte Heimat, etwa in das Schwarzmeergebiet, dürfen zu einer hastigen Flucht, bei der viele hinter der Wehrmacht sie jedoch nicht zurückkehren. zurückbleiben und der Roten Armee ausgeliefert sind. Der Nico Wiethof Verbleib von 25 000 Schwarzmeerdeutschen während der Nico Wiethof ist am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Det- Flucht bleibt ungeklärt. Die Mehrheit ist vermutlich durch mold (ž S. 56–58) als Sammlungskurator tätig. Hunger, Krankheit oder Gewalt gestorben. Auch die meisten nicht tödlichen Verbrechen wie Vergewaltigung, Verstüm- melung oder Raub wurden bis heute nicht aufgearbeitet.

Die Sonderausstellung Volksgenosse oder Feind des Volkes? Die Vermutlich etwa 200 000 deutschsprachige Bürger der doppelte Diktaturerfahrung der Schwarzmeerdeutschen ist bis zum Sowjetunion werden bereits auf ihrer Flucht vor der Roten 31. Oktober 2020 im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte Armee aufgegriffen. Einem Teil gelingt die Flucht in die in Detmold zu sehen. Besatzungszonen der Amerikaner oder Briten. Im Februar : www.russlanddeutsche.de 28 NDRIN E U T N T

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TSCHECHISCHE PERSPEKTIVEN A

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S E Zehn Blicke auf die Sudetendeutschen in einer neuen Publikation R

Der tschechische Staatspräsident Václav Havel nahm in sei- Schriftstellerinnen und Schriftsteller unseres Nachbarlandes. ner auch in Deutschland bekannt gewordenen Ansprache Ihnen allen ist die deutsch-tschechische Verständigung – an der Prager Karlsuniversität im Jahr 1995 Bezug auf die gerade unter dem Aspekt der gemeinsamen, oft auch leid- Wahrnehmung des deutschen Nachbarn durch seine Lands- vollen Geschichte des 20. Jahrhunderts – ein Herzensanlie- leute. Seine Bemerkungen – eigentlich auf Deutschland im gen. Vertreten sind etwa auch Jiří Padevět, unermüdlicher Allgemeinen gemünzt – könnten in weiten Teilen ebenso Herausgeber populärwissenschaftlicher (und stark nachge- gut auch die Beziehung vieler Tschechen zu den böhmischen fragter) historischer Bände, der bekannte Brünner Dramaturg Deutschen (Sudetendeutschen) beschreiben: und Politiker Milan Uhde sowie Journalisten wie Erik Tabery »Für uns bedeutet das Verhältnis zu Deutschland und den Deut- (Chefredakteur der Zeitschrift Respekt) und Lída Rakušanová, schen mehr als bloß eines von vielen Themen unserer Diplomatie. lange Zeit für Radio Free Europe tätig. Beteiligte Künstler wie Es ist Teil unseres Schicksals, sogar Teil unserer Identität. Deutsch- die Bildhauerin Magdalena Jetelová oder Mark Ther (Video land ist unsere Inspiration wie unser Schmerz, eine Quelle von ver- Art), dessen Wurzeln im Braunauer Ländchen liegen, ließen ständlichen Traumata, von mancherlei Vorurteilen und Irrglauben in ihren Beiträgen vor allem Bilder sprechen. sowie von Maßstäben, auf die wir uns beziehen.« Länge, Form und Stil ihrer Beiträge waren den Autorin- Sprechen die Tschechen über die Sudetendeutschen, nen und Autoren völlig freigestellt. Und so sind diese auch so bezeichnen sie diese oft als Naši Němci (»Unsere Deut- ganz unterschiedlich gestaltet, wenn etwa Tomáš Kafka seine schen«). Über viele Jahrzehnte lang bis zum Wendejahr frühere Faszination für die deutsche Fußballnationalmann- 1989 wurden diese von der KPTsch pauschal als mit den schaft und die erste Begegnung mit einem Sudetendeut- westdeutschen und NATO-Imperialisten unter einer Decke schen in München schildert, Jaroslav Rudiš in einem fiktiven steckende Revanchisten verunglimpft, bis an die Zähne Kneipengespräch die zentrale Bedeutung der Eisenbahn für bewaffnet an den Grenzen bereitstehend, sich das Sude- seine Liebe zu Deutschland in den Mittelpunkt stellt, Erik tenland im passenden Moment wieder einzuverleiben. Auf Tabery die Wirkung des sudetendeutschen Themas in ver- sudetendeutscher Seite fokussierte man sich dagegen vor gangenen Wahlkämpfen Tschechiens analysiert, Kateřina allem auf das eigene Leid der Vertreibung: So wurde etwa Tučková ihr Brünner Wohnviertel Cejl (Zeile) und dessen die Zeit der NS-Herrschaft in den Sudetengebieten bzw. die deutsche Vergangenheit entdeckt oder Mark Ther das Brau- Protektoratszeit in vielen Heimatbüchern gänzlich ausge- nauer Mundartgedicht De Grusla (»Die Großmutter«) zitiert, blendet, bagatellisiert oder vereinzelt auch idyllisiert. Noch das seine Kindheit begleitete. Die Bezeichnung »Unsere in den neunziger Jahren waren Appelle auf sudetendeut- Deutschen«, lange auch pejorativ verwendet, gewinnt nun scher und tschechischer Seite nach mehr Empathie für das eine positive Dimension. Gegenüber keinesfalls Mainstream, entsprechende Vertreter Wolfgang Schwarz mussten sich bisweilen gar als Verräter oder Kollaborateure Dr. Wolfgang Schwarz ist Kulturreferent für die böhmischen Länder im Adal- beschimpfen lassen. Hüben wie drüben wurde das Thema bert Stifter Verein in München (ž S. 56–58). zu Wahlkampfzwecken genutzt. Einem im Jahrbuch des Adalbert Stifter Vereins 2002 erschienenen gleichnamigen Beitrag des Karlsbader Archi- Mein Weg zu unseren Deut- vars Milan Augustin hat das Buch Mein Weg zu unseren Deut- schen. Zehn tschechische schen seinen Titel zu verdanken. Vorausgegangen war eine Perspektiven. Hg. v. Wolfgang vom Kulturreferenten für die böhmischen Länder im Adal- Schwarz. Mit Beiträgen von bert Stifter Verein und dem Tschechischen Zentrum Mün- Radka Denemarková, Magda- chen veranstaltete Vortragsreihe in den Jahren 2016 bis 2018. lena Jetelová, Tomáš Kafka, Zehn tschechische Autorinnen und Autoren beschrieben Jiří Padevět, Lída Rakušanová, darin ihre eigenen biografischen Erfahrungen und Wahrneh- Jaroslav Rudiš, Erik Tabery, Mark mungen »ihrer Deutschen«. Erschienen ist die Publikation in Ther, Kateřina Tučková und Milan Uhde, Viechtach: edition der edition lichtung. Deren Viechtacher Verlag ist seit vielen lichtung 2019, 160 S. Jahren auch grenzüberschreitend literarisch aktiv. ISBN 978-3-941306-84-4, 14,90 €

Mit Radka Denemarková, Jaroslav Rudiš und Kateřina Tučková beteiligten sich gleich drei der derzeit erfolgreichsten MEINE UNVERGESSLICHEN DEUTSCHEN Von Milan Uhde

nsere Begegnung fand an einem sonnigen dass die Abschiebung gesetzlich angeordnet worden U Junitag des Jahres 1945 statt. Am Gartentor sei und keine Ausnahmen gemacht werden könnten. unserer kleinen Brünner Villa klingelte Frau Černá. [...] Frau Czerny müsse damit rechnen, nicht in der Unter diesem Namen kannten wir sie zumindest bis Tschechoslowakei bleiben zu können. Sie ging wei- zu dem Zeitpunkt, bevor wir und unsere Freunde nend aus unserem Haus hinaus und tat mir, damals lesen gelernt hatten. Dann erfuhren wir durch die im Alter von neun Jahren, sehr leid. Das Wort odsun Aufschrift an ihrer Glocke im Nachbarhaus, dass sie (Abschub) hörte ich damals zum ersten Mal [...]. sich Czerny – also mit Cz schrieb. Wir kamen dar- auf, dass sie eine Deutsche war, auch wenn wir sie atürlich erinnerte ich mich auch, dass bei wei- niemals deutsch sprechen gehört hatten. Wir klin- N tem nicht alle Begegnungen mit den Deutschen gelten immer wieder bei ihr, wenn uns der Ball über angenehm waren. [...] Beim Einkaufen in der Molke- den Nachbarzaun sprang, über den wir nicht wagten, rei wurde ich zusammen mit meiner Mutter Zeuge hinüberzuklettern: Der Hausmeister war den ganzen Tag zu Hause und passte auf. Er war mürrisch und schrie fürchterlich, sobald er uns nur sah, so dass für uns nicht in Frage kam, ihn darum zu bitten, uns unseren Ball wiederzubringen. Dagegen absol- vierte Frau Czerny diesen Gang mit einem Lächeln, manchmal auch zweimal am Tag. [...]

apa machte ihr auf und führte sie die Trep- P pen hinauf ins Wohnzimmer. Ich wollte, dass mir nichts entging, und so wartete ich dort gut ver- steckt unter dem Tisch, der bis zum Fußboden mit einer entsprechend langen und breiten Tischde- cke bedeckt war. [...] Frau Czerny hatte einige Blät- ter Papier dabei. Aus ihren Ausführungen begriff ich, dass sie die Unterschriften von 174 Menschen Das Deutsche Haus in Brünn/Brno auf einer Postkarte von 1915, aus der Umgebung enthielten, die bezeugten, dass Verlag Ascher und Redlich, Brünn sich Frau Czerny während der gesamten deutschen Besetzung zu allen ihren tschechischen Nachbarn sehr freundschaftlich verhalten habe, dass sie tsche- chisch gesprochen habe, das Recht der Deutschen auf Bedienung ohne Wartezeit nicht ausgenutzt, sich in allen Läden geduldig in die Warteschlange eingereiht und außerdem niemals Sympathien für Hitlers Politik gezeigt habe. Deshalb forderten die Unterzeichner, dass sie von der Abschiebung aus- genommen werde und zu Hause in ihrer Wohnung bleiben dürfe.

apa sagte zu ihr, dass er genauso wie die Nach- P barn denke, die auf den Papierbögen unter- schrieben hatten, und dass er wisse, dass ihr Ehemann, der an der Ostfront gefallen war, ein gewöhnlicher Wehrmachtssoldat war [...] Doch Gerüst in den Umrissen des nicht mehr existierenden Deutschen am Ende enttäuschte er mich sehr: Weder er noch Hauses am ursprünglichen Platz. Es wurde während des Festivals Meeting Brno 2017 aufwendig in Originalgröße aufgebaut, um meine Mutter könnten angeblich die Liste unter- auch an die Rolle der Deutschen für die Stadt zu erinnern. schreiben. Sie seien Anwälte, denen bewusst sei, Foto: © Adalbert Stifter Verein ~ 30 ~

einer [...] Szene: der Besitzer Herr Vocílka wusste nicht, dass eine Kundin in grünem Kostüm, die ihre Bestellung sofort am Eingang auf Tschechisch vortrug, eine Deutsche war, und so bat er sie, ein paar Minuten zu warten, bis diejenigen bedient worden seien, die vor ihr gekommen waren. Die Dame ver- schwand und kam mit einem Mann wieder, der einen typi- schen Ledermantel trug. Er reagierte gar nicht auf die Ent- schuldigungen von Herrn Vocílka – warum um Gottes Willen hätte denn die gnädige Frau nicht zumindest mit einem Wort in deutscher Sprache angedeutet, dass sie Anspruch auf eine Vorzugsbehandlung habe – sondern nannte ihn einen Schwei- nehund, schlug ihn mit einigen Boxhieben nieder und trat noch zweimal auf den am Boden liegenden Mann ein. Herr Vocílka blutete und musste weggetragen werden. [...]

rst als Erwachsener wurde mir bewusst, dass die 174 E Unterschriften unserer Nachbarn weit mehr Sinn für Gerechtigkeit bewiesen als unsere Politiker mit Präsident Beneš an der Spitze. [...] Als ich als Präsident des Abgeord- netenhauses des tschechischen Parlaments im Jahre 1994 auf offiziellem Deutschland-Besuch war, erzählte ich der Bun - Milan Uhde im Desert Club Brünn/Brno, destagspräsidentin, Frau Professor Rita Süßmuth, außer- 2009,© Wikicommons/Ben Skál halb des Programms beim Abendessen von meinen Erlebnis- sen als Brünner Bub und erwähnte auch die 174 Gerechten. Meine anwesenden Abgeordneten-Kollegen reagierten dar- Milan Uhde, geboren 1936 in Brünn/Brno, auf schrecklich wütend. Sie drohten damit, aus Protest gegen ist Schriftsteller, Dramatiker und Politiker. Er meine devoten Erzählungen vorzeitig abzureisen. Der tsche- wurde nach der Niederschlagung des Prager chische Botschafter und mein Freund Jiří Gruša musste lange Frühlings mit Publikationsverbot belegt und auf sie einreden, davon abzusehen [...]. unterzeichnete die regimekritische Charta 77. Nach der Wende 1989 war er u. a. Kulturmi- nister in der Tschechoslowakei und Präsident ie ODS, die bürgerlich-demokratische Partei, für die ich in des tschechischen Parlaments. Seit 1998 ist er Dden Wahlen kandidierte und deren Mitglied ich war, nahm wieder als freier Schriftsteller tätig. Literarisch im Hinblick auf einen Dialog zum Thema Vertreibung einen vielseitig, schreibt er Gedichte, Erzählungen, ablehnenden Standpunkt ein: die Sache sei erledigt, diskutie- Drehbücher, Theaterstücke, Hörspiele und ren solle man über die Gegenwart und die Zukunft. Ich habe Essays. Auf Deutsch erschienen die beiden jedoch nicht verheimlicht, dass ich zu dem erwähnten Thema Dramen König Vavra und Nonstop-Nonsense immer wieder zurückkehren würde [...]. Ich bin überzeugt, (1965) in der Anthologie des tschechischen Das Gartenfest. dass der Vertreibung der Einwohner deutscher Abstammung Theaters mit dem Titel Die deutsch-tschechische Verständigung prägte im Grunde das abwegige Prinzip der Kollektivschuld zugrunde stark auch sein politisches Wirken. liegt. [...] Ich hatte übrigens in meinem Abgeordnetenschreib- tisch eine geräumige Schublade, die voller Beschwerden und Anliegen der tschechischen Bürger deutscher Nationalität war, welche nachweisbar in der NS-Zeit Widerstand geleistet hatten, trotzdem aber im Jahr 1945 ihre Häuser und anderes Eigentum verloren hatten und bis heute nicht zurückbekommen bzw. eine Entschädigung erhalten hatten. Oben in der Schublade waren Unterlagen, die davon zeugten, wie ich mich auf den verschiedensten Wegen darum bemühte, ein Gesetz auf den Weg zu bringen [...]. Ich hatte damit keinen Erfolg. Alle diese Menschen mit ihrem nicht erhörten Anliegen reihten sich somit Biografie und Übersetzung aus dem in meine unvergesslichen Deutschen ein. Tschechischen: Wolfgang Schwarz BASTELBOGEN AUS SIEBENBÜRGEN

Das Motto »Schneiden, kleben, fröhlich sein« steht für einen und Details wirken realistisch, weil sie vor Ort aufgenommen ganz besonderen Zugang zur Geschichte, Architektur und und entsprechend bearbeitet worden sind. Kunst aus Siebenbürgen: Fotorealistische Kartonmodelle, Das aktuelle Angebot umfasst verschiedene Modelle von von einer kurzen Monografie eingeleitet, Kirchen und Kirchenburgen, Basteien und zeigen ein Phänomen im östlichen Europa, Patrizierhäusern (1 :160) sowie Kunstmo- das seit 850 Jahren in der abendländischen biliar, Orgeln und Kachelöfen (1 :18). Auf Kultur präsent ist. Anfrage können unter gewissen Bedin- Kinder und Jugendliche werden in eine gungen auch andere Modelle oder andere Welt eingeladen, die weit entfernt von PC- Maßstäbe geliefert werden. Spielen und Handys ist; auch Erwachsene Radu Nebert haben ihre Freude am Ausschneiden, For- Dr. Radu Nebert gründete nach dem Abschluss des men und Zusammenkleben. Studiums an der Universität für Kunst und Design Klau- Die Teile sind durchnummeriert, schwar- senburg/Cluj die Firma KRN Design und wurde an der Klausenburger Babeș- ze unterbrochene Linien stehen für das Biegen, rote für ein Bolyai-Universität promoviert. 2019 erweiterte er die Firma um den Verlag KRN, der auch seine Bastelbögen und Monografien herausgibt. Gegenfalten. Schneidematte, Cutter und Qualitätskleber sind notwendig. : [email protected] Das hier beigefügte Modell zeigt die romanische Michels- berger Bergkirche im Maßstab 1 : 200. Es entspricht dem gegenwärtigen Zustand des Baudenkmals. Die Fassaden Radu Nebert mit einem seiner Modelle, © Radu Munteanu

Der Ort Michelsberg (rum. Cisnădioara, ung. Kisdisznód) am Fuß der Südkarpaten entstand in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bald nach den ersten deutschen Siedlungen im süd- lichen Siebenbürgen. Das Dorf lag zunächst auf dem Gebiet der Hermannstädter Props- tei und kam nach einigen Schenkungen an die Zisterzienserabtei Kerz (rum. Cârţa, ung. Kerc), 1474 schließlich in den Besitz der Stadt Hermannstadt (rum. Sibiu, ung. Nagyszeben) – der Ort war also abhängig und gehörte nicht zu den politisch freien Gemeinden der Sächsischen Nation. Auf einem Bergkegel direkt oberhalb des Ortes wurde Michaelskirche auf dem Berg entstand wohl im 14. Jahrhun- um 1200 eine Basilika errichtet, die sich in reinem romani- dert eine Marienkirche im Ort, deren Nachfolgebau bis heute schen Stil erhalten hat. Ihr Portal, ihre Schlichtheit und ihr als evangelische Pfarrkirche der sächsischen Gemeinde in unverfälschter Erhaltungszustand beeindrucken bis heute. Benutzung ist. Die Michelsberger Burg ist heute nicht nur ein Im Chor der Kirche befindet sich seit der Zwischenkriegszeit beliebtes Touristenziel, sondern auch ein Begegnungs- und eine Gedenkstätte für gefallene deutsche und österreichisch- Veranstaltungsort der deutschen Gemeinschaft im Groß- ungarische Soldaten des Ersten Weltkriegs. Noch vor dem raum Hermannstadt. Mongolensturm (1241) wurde das Bergplateau durch eine Harald Roth ovale Ringmauer mit Zinnenkranz befestigt, die den Dorf- Dr. Harald Roth ist Direktor des Deutschen Kulturforums östliches Europa bewohnern im Kriegsfall als Fliehburg diente. Neben der in Potsdam (ž S. 56–58).

Siebenbürgen ist berühmt für seine über 160 Kirchenburgen, sind die weithin sichtbaren Wahrzeichen vieler Dörfer und deren Entstehungsgeschichte bis weit ins Mittelalter zurück- der Region insgesamt. geht. Damals war die Region ein umkämpftes Grenzgebiet. Die Kirchenburgen wurden überwiegend von deutsch- Die Bewohner vieler Dörfer reagierten auf die zunehmen- sprachigen Siedlern – den Siebenbürger Sachsen – erbaut, den Bedrohungen mit der Befestigung ihrer Kirchen durch genutzt und erhalten. Über Jahrhunderte bildeten sie die Wehranlagen. Im Konfliktfall boten die so entstandenen Bur- Mittelpunkte des religiösen und kulturellen Lebens der Dorf- gen Flucht- und Schutzräume. Über Jahrhunderte hinweg gemeinschaften. Nach über 800 Jahren wanderten die meis- wurden die Anlagen aus- und umgebaut. Viele von ihnen ten Siebenbürger Sachsen in den letzten Jahrzehnten aus sind bis heute erhalten und bilden eine weltweit einmalige der Region ab, so dass sich heute die Frage nach der Zukunft Kirchenburgenlandschaft, die sich durch eine besondere der Kirchenburgen stellt, die teilweise auch Bestandteil des Dichte und Vielfalt dieser Baudenkmäler auszeichnet. Sie UNESCO-Weltkulturerbes sind.

Die siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburgen werden von aufzuhalten. Mit Partnern aus dem In- und Ausland werden der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien verwaltet. Nach- darüber hinausgehende behutsame Instandsetzungen an dem die Zahl ihrer Mitglieder durch die Auswanderung vieler ausgewählten Bauwerken durchgeführt. Siebenbürger Sachsen stark zurückgegangen ist, werden die Der Erhalt der Kirchenburgen ist mittelfristig aber nur meisten Kirchen nur noch selten für Gottesdienste genutzt. bei vorhandenen Nutzungen der Bauwerke möglich. Daher Gleichzeitig fehlen vor Ort diejenigen Dorfbewohner, deren entwickelt die Stiftung Konzepte zur Um- und Nachnutzung Vorfahren die Bauwerke erschaffen und über Jahrhunderte und setzt Modellprojekte gemeinsam mit Partnern um. Die gepflegt haben. Entwicklung eines sanften Kulturtourismus ist dazu eine Vor diesem Hintergrund wurde im Jahr 2015 die Stiftung Möglichkeit und wird besonders gefördert. Kirchenburgen gegründet, die von ihrem Sitz in Hermann- Die Stiftung engagiert sich darüber hinaus bei der Schu- stadt/Sibiu aus als Fachinstitution für den Erhalt des kirch- lung von Handwerkern in traditionellen Techniken, um dem lichen Kulturerbes arbeitet. Der rumänische Staatspräsident Fachkräftemangel im Bereich der Denkmalpflege in Sieben- Klaus Johannis und der deutsche Bundespräsident Frank- bürgen entgegenzuwirken. Walter Steinmeier haben die gemeinsame Schirmherrschaft Die laufende Arbeit der Stiftung finanziert sich überwie- übernommen. gend aus Spenden und Fördermitteln, während Zustiftun- Wenn man bedenkt, dass derzeit rund die Hälfte der über gen zum Aufbau eines unantastbaren Kapitalstocks genutzt 160 Kirchenburgen in unterschiedlich starkem Maße vom werden. Verfall bedroht ist, wird klar, vor welchen enormen Heraus- forderungen die Stiftung steht. Notreparaturen, die im Rah- Philipp Harfmann men des Dächerprogramms durchgeführt werden, dienen Philipp Harfmann ist Geschäftsführer der Stiftung Kirchenburgen in zunächst dazu, den Verfall von besonders bedrohten Kirchen Hermannstadt/Sibiu.

Der Erhalt der siebenbürgischen Kirchenburgen bleibt eine große Aufgabe, für die die Stiftung um Ihre Hilfe und Unterstützung bittet. Bei Interesse nehmen Sie bitte mit dem Stiftungsbüro Kontakt auf.

Stiftung Kirchenburgen Str. Gen. Magheru 4 RO-550185 Hermannstadt /Sibiu Tel./Fax: +40 – (0)269 – 221 010 E-Mail: [email protected] Die Luftaufnahme der Bergkirche Michelsberg/Cisnădioara zeigt ihre Lage über dem Ort, die wichtig für ihre Funktion www.kirchenburgen.org als Fliehburg war. Foto: Ovidiu Sopa, © www.schiller.ro : RTER RASTLOSER REPO AUCH EIN enzel Jaksch che Politiker W agen Der sozialdemokratis e Sozialreport schrieb eindrücklich außenpolitisches Wirken als Mitglied tschechoslowakischen Regierung bei des Bundestages ab 1953 hervor, wo Es war Willy Brandt, frisch gebackener und die DSAP stellte einen Minister Jaksch sich besonders um eine kons- Vizekanzler und Außenminister der bis 1938. Schließlich wurde Jaksch im truktive deutsche Ostpolitik bemüht ersten Großen Koalition der Bundes- März 1938 zum Vorsitzenden der DSAP hatte. Dies werde nicht verloren gehen, republik, der am 2. Dezember 1966 gewählt. Noch vor dem Münchener wenn es darum gehe, »den Schutt der seinem sozialdemokratischen Partei- Abkommen warnte er vor Hitler und Vergangenheit wegzuräumen und die freund Wenzel Jaksch an dessen Sarg dem kommenden Krieg in einem tau- Spaltung Europas in geduldiger Arbeit im Hessischen Staatstheater in Wies- sendfach verbreiteten Flugblatt mit zu überwinden«. So Brandt 1966. baden die Trauerrede hielt. Als Jaksch dem Titel Mitbürger, es geht um alles! Jaksch war aber gerade am Beginn am 27. November 1966 bei einem Ver- Nach dem Einmarsch der Wehrmacht seiner Karriere als Politiker auch Jour- kehrsunfall gestorben war, endete eine ins Sudetenland verhalf Jaksch Tausen- nalist. Angestellt als Redakteur, wie verwickelte, typisch sudetendeutsche den Funktionären und deren Familien viele seiner Politikerkollegen, ver- Lebensgeschichte, die Brandt in seiner ins Exil. Er selbst flüchtete auf spek- stand er diese Tätigkeit als Berufung. Rede auch schlaglichtartig Revue pas- takuläre Weise im März 1939 aus dem Sein sprachliches Naturtalent vervoll- sieren ließ. von deutschen Truppen gerade besetz- kommnete er im Schreiben von Sozi- Geboren am 25. September 1896 ten Prag und rettete sich als Ski-Tourist alreportagen über die sudetendeut- in Langstrobnitz/Dlouhá Stropnice verkleidet nach Polen, von wo aus er schen Siedlungsgebiete vor allem in im Böhmerwald, verließ Jaksch die über Schweden schließlich nach Lon- den 1920er Jahren. In seinen im Sozi- Volksschule in Strobnitz/Horní Strop- don gelangte. aldemokrat erschienenen und nun in nice verfrüht, um wie sein Vater und Nach Westdeutschland durfte Buchform zusammengefassten Arbei- einer seiner Brüder nach Wien in eine Jaksch erst 1949 ausreisen, nachdem er ten beweist er einen geschärften Blick Maurerlehre zu gehen. Dort kam er im Londoner Exil vergeblich versucht auf die Lebensrealitäten in der Ersten mit der österreichischen Sozialde- hatte, die Vertreibung seiner sudeten- Tschechoslowakischen Republik. mokratie in Kontakt, organisierte deutschen Landsleute zu verhindern. Ulrich Miksch sich, lernte in Arbeiter-Bildungsver- Seine innenpolitischen Verdienste einen und las die Arbeiter-Zeitung. würdigte Willy Brandt als ein Wirken Ulrich Miksch arbeitet als freier Journalist unter Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs für die Integration der Vertriebenen, anderem für die Neue Zürcher Zeitung und die Sudetendeutsche Zeitung. Er ist Mitherausgeber wurde die Tschechoslowakei gegrün- zuletzt als Präsident des Bundes der des Sammelbands Verlorene Dörfer, verlassene det. Das durchtrennte die Wege sei- Vertriebenen, hob aber vor allem sein Menschen ... und Mitglied der Seliger-Gemeinde. ner Heimat, plötzlich kam man nicht mehr zur Arbeit nach Wien. Jaksch wurde bei einer Parteiversammlung Der 2020 bereits in dritter Auflage im Sabat- der Deutschen sozialdemokratischen Verlag erschienene Sammelband mit Sozial- Arbeiterpartei in der Tschechoslowa- reportagen von Wenzel Jaksch (334 Seiten, kischen Republik (DSAP) durch den ISBN: 978-3943506488, 24,95 €) kam zuerst damaligen Generalsekretär und gebür- 2017 im Prager Verlag Academia auf Tsche- tigen Wiener Karl Cermak entdeckt und chisch heraus und erhielt eine breite öffent- in den Führungszirkel um Josef Seliger liche Aufmerksamkeit. Zur Veröffentlichung nach Teplitz-Schönau/Teplice-Šanov trug maßgeblich die jahrelange Archivarbeit geholt. Redakteur erst hier, später in von Dr. Thomas Oellermann (Prag) bei. Das Titelbild zeigt ein Porträt Wenzel Jakschs, das Komotau/Chomutov und schließlich in 1939 in London entstand und heute im Haus Prag, wurde Jaksch 1929 für die DSAP der Tochter Mary Jaksch in Nelson (Neusee- ins Prager Parlament gewählt. Dort land) hängt. landete er gleich im Regierungslager, denn die tschechische wie die sude- tendeutsche Sozialdemokratie trat der Böhmisch-sächsische Bewohnern des Flachlandes immer wieder nützlich zu Grenzwanderung machen, damit diese ihnen zum Lohn dafür den dürf- Bilder vom Existenzkampf des armen tigsten Lebensbedarf stillen, den ihnen der karge Hei- Erzgebirgsvolkes matboden verweigert. Hundertfältige Versuche hat das arme Erzgebirgsvolk bereits unternommen, sich neue Ein rauhes Berg- und Sumpfland, den größten Teil Daseinsgrundlagen zu zimmern, seitdem die alte Exis- des Jahres von Nebel und Dunkelheit bedeckt, mit tenzbasis zerbrochen ist. Alle Arten von Heimarbeiten reißenden Raubtieren bevölkert und nur von weni- wurden bereits eingeführt und vielfach wieder aufge- gen Pfaden durchschnitten – so sah vor einem Jahr- geben, Industrialisierungsversuche mit wechselndem tausend noch nach den Schilderungen der Geschichts- Erfolg begonnen, während die Bewohner ganzer Ort- schreiber das heutige Erzgebirge aus. Erst im zwölften schaften ihr Glück als Musikanten, Händler und Hau- Jahrhundert brachte der Bergbau reges menschliches sierer in der engeren Heimat und auch weit in der Welt Leben und Schaffen auf die unwirtlichen Höhen. Auf draußen erprobten. Die unermüdliche Ausdauer, mit die Kunde von reichen Silbererzfunden ergoß sich ein der die Nachfahren der alten Bergmannsgeschlechter Strom hauptsächlich deutscher Einwanderer in das um ihr kümmerliches Dasein ringen, die Zähigkeit, mit rauhe Grenzgebirge. Im harten Felsgestein begann der sie sich an den geizigen Gebirgsboden klammern, emsiges Bohren und Hämmern, Schmelzöfen und Koh- ihr freundliches Wesen, ihr heiteres Lebenskünst- lenmeiler durchbrachen mit ihrem Rauch die feuchte lertum sind wohl einer näheren Beschreibung wert. Nebeldecke, und fraßen mit ihrer Glut tiefe Einschnitte in das Urwaldgestrüpp. Auf den Waldblößen entstan- * den alsbald volkreiche Siedlungen, neue Wege und Pfade eröffneten sich dem Verkehr. Freie Bergstädte Heinrichsdorf-Natschung. Dieser freundliche blühten auf, Handel und Wandel stellten die Verbin- Grenzort erleidet das traurige Schicksal wirtschaftli- dungen mit den Kulturzentren des damaligen Mit- chen Niederganges. Das alte Nagelschmiedegewerbe, teleuropa her und trugen die reichen Früchte des einstmals der Hauptberuf der männlichen Ortsbevöl- »Bergsegens« in die fernsten Länder. Im fünfzehn- kerung, rentiert sich nicht mehr. Die Nagelschmie- ten Jahrhundert erreichte der Erzbergbau den Höhe- derei kam aus Sachsen herüber und bürgerte sich punkt seiner Blüte, dann brausten die Stürme der Reli- bei den Heinrichsdorfern fest ein. Sie betrieben das gionskämpfe und des Dreißigjährigen Krieges über ihn Handwerk in kleinen und größeren Werkstätten mit hinweg und ließen auch dieses werkfleißige Grenzland primitiven Feueressen und Blasbälgen und lieferten veröden. Es hat später nicht an Versuchen gefehlt, zentnerweise Schienennägel, Schiffsnägel, Mauerha- den »Bergsegen« wieder so reich wie früher in leere ken, Hufeisennägel und so weiter in die Welt hinaus. Staatssäckel und in die Taschen des Adels fließen zu In den ersten Nachkriegsjahren zählte die Gilde der lassen, aber die alte Blütezeit kam nimmer zurück. Im Nagelschmiede noch 250 Mann, seither ist sie in ste- Laufe der letzten Jahrhunderte sind dann die Zechen tem Rückgang und umfaßt heute noch 20 bis 25 Aus- vollends ausgestorben, die Schmelzöfen erloschen, übende. An dem rapiden Aussterben ist der technische die Eisenhämmer verfallen und nur noch der Name Fortschritt schuld und nicht zuletzt eine kleine chauvi- der Landschaft erinnert an die große Vergangenheit. nistische Quertreiberei. Eine Komotauer Eisenwaren-

* Eine alte Schmelzhütte – heute ZufluchtZuflucht der Waldbäume

Bis auf spärliche Überreste ist der alte Erzbergbau erstorben, der einstens die einzige Lebensquelle des schaffenden Erzgebirgsvolkes war. Aber die Bergstädte, die vielen Dörfer mit ihren auf weitem Plan zerstreu- ten Fachwerk-Hütten und ihre Bewohner leben noch. Sie stehen und leben weiter auf einem Boden, der viel zu arm ist, Menschen in größerer Zahl zu ernähren, und der nur durch einen geschichtlichen Zufall so eng und so dicht besiedelt worden ist. Und so ist es seit Jahrhunderten das Lebensproblem der Erzgebirgler, sich durch Fleiß und Geschick und Kunstfertigkeit den Ausgabe 8 • 2020 ~ 33 ~ MENSCHEN 33

firma erzeugt maschinell in einem Tag so viel Nägel, gebirgler mindestens so reich wie die Saazer Hopfen- als vorher 40 Nagelschmiede in einer Woche fertig- agrarier. So aber kann man Luft nicht exportieren und brachten. Neben den Maschinenkonkurrenten hat- auch in der Heimat davon nicht leben. Und so trifft ten die Heinrichsdorfer auch die Konkurrenz einer man auf den gesündesten Kammhöhen viele Kinder mit tschechischen Nagelschmiedezunft in der Příbamer schmalen Gesichtern und manche Leute, die ihrem Aus- Gegend zu bestehen. Aber statt, daß man die Staats- sehen nach eine bessere Kost wohl vertragen würden. bahnlieferungen auf beide Gruppen gleich armer Teu- Wenzel Jaksch fel verteilt hätte, wie es recht und billig wäre, sind die Lieferungen ganz ins tschechische Gebiet dirigiert wor- Die hier gekürzte Reportage erschien zuerst am 7. Januar den. Indem man solcherart einem alten Erwerbszweig 1928 im Sozialdemokrat Nr. 6. Für die Abdruckgeneh- den Kragen umdreht, statt mitzuhelfen, ihn auf neu- migung danken wir dem Sabat-Verlag in Kulmbach. Die zeitliche Grundlage umzustellen, wird man die Grenz- Originalillustrationen stammen von Lili Réthi. bevölkerung den neuen Staat sicherlich lieben lehren. Die letzten Nagelschmieden, die wir noch in Betrieb fanden, werden sonach bald willkommene Studienob- jekte für unsere rührigen Heimatforscher sein, die sich Einer der letzten Nagelschmiede von Heinrichsdorf ja für alles interessieren, was einmal gewesen ist. In der Werkstatt des langjährigen Lokalvertrauensman- nes, des Genossen Körner, erfuhren wir einiges zu der bekannten Streitfrage, wer denn eigentlich das Klein- gewerbe zugrunde richtet. Im Jahre 1897 arbeitete er bereits als Meister mit sechs Gehilfen. Nach dem Kriege mußte er wieder allein anfangen, aber wegen der hohen Steuern war er bald gezwungen, den Gewerbeschein zurückzulegen. Heute, nach einem schweren, arbeitsrei- chen Leben, ist er Gehilfe, schmiedet auf fremde Rech- nung Putzhaken und bekommt für ein Kilo 60 Heller Lohn … Sind daran auch die Sozialdemokraten schuld?

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Durch den Zwang eines übermächtigen Schicksals, durch das harte Gebot der wirtschaftlichen Tatsachen werden viele treue Erzgebirgler gezwungen, ihrer grü- nen Heimat Ade zu sagen. Heinrichsdorf ist der Mittel- punkt dieses Entvölkerungsgebietes. Vor dem Kriege zählte die Gemeinde noch 1 400 Einwohner, derzeit um 1 000 herum. Die Männer und Burschen sind auf der enttäuschungsvollen Arbeitssuche fortgezogen in die verrußten Industriegebiete, die am Fuße des Erz- gebirges oder weit im industriellen Deutschland drau- ßen liegen. Die Frauen und Mädchen sitzen im Win- ter daheim an den Tischen, machen Häkelknöpfe und verdienen, wenn’s gut geht, 50 Heller in der Stunde. Sommers mühen sie sich im Walde mit Futterholen oder Reisigsuchen ab oder leisten für einige Kronen schwere Waldarbeit für den Großgrundbesitz. »Eine gute Luft haben wir im Erzgebirge« – dieses immer wiederkehrende Heimatlob ist ein schwacher Trost für die Fortziehenden wie für die Daheimblei- benden. »Wenn man Luft verkaufen könnte!«, meinte einer humoristisch. Ja, dann allerdings wären die Erz- 34

DER KROATISCHE ODYSSEUS Eine Begegnung mit dem Schriftsteller und Theatermacher Slobodan Šnajder

Wie ein Wahrzeichen bäumt sich die Kathedrale von Zagreb seine Epik aufhorchen – so auf. Einrüstungen zeugen wie Notverbände eines Verwun- sein Roman Die Reparatur der deten von ihrer Hilfsbedürftigkeit. Wenn Steine sprechen Welt, ein szenenstarker, vom Theater könnten, würden diese hier von Krieg, Erdbeben und ande- beeinflusster Erzählstrom, in dem Tote, Lebende, Ungebo- ren Erschütterungen erzählen. Bekanntlich tun sie das nicht. rene zu Wort kommen. Trotz aller Phantastik ist das Funda- Deshalb treffe ich mich schräg gegenüber der Bischofskirche ment dokumentarisch. Šnajder benutzte die Nachlässe sei- mit Slobodan Šnajder. ner Eltern, recherchierte in Archiven, konsultierte Historiker.

Dramen der Geschichte gestaltet der 1948 in Zagreb Gebo- »In Deutschland schreibt man ein Hungerjahr«, so setzt rene, dessen markantes, zerfurchtes Gesicht verrät: Hier das Epos im 18. Jahrhundert an. »Stürme wälzen das Korn ist kein Jedermann. Er war einer der großen Dramatiker nieder. Auch die Kriege haben das Ihre getan. Soldaten des zerschossenen Jugoslawien. Seinen 1982 in Split urauf- essen, säen aber nichts.« Ein Rattenfänger – ein zentrales geführten Kroatischen Faust spielte das Wiener Burgthea- Motiv des Werks – lockt nach Slawonien. Hier sollen Neubau- ter, ebenso das Mühlheimer Theater an der Ruhr und viele ern das Land der vertriebenen Osmanen bestellen. Šnajders andere Bühnen. Das Stück zeigt Zagreb im Fadenkreuz gro- Vorfahren väterlicherseits gehören zur deutschen Minder- ßer Mächte, gespalten zwischen eigenen Faschisten – der heit. Ihre Geschichte reicht noch länger zurück, aber ihre Ustascha – und Kommunisten. Die Mischung aus Mythos Zahl ist durch Flucht und Vertreibung nach 1945 drastisch und Dokument kennzeichnet die Kontinuität seines Werkes, reduziert worden. der Gesellschafts- und Medienwandel der 1990er Jahre mar- Als »Volksdeutscher« kam der Vater »zwangswillig« zur kiert den Bruch. Als sein deutscher Kollege Christoph Hein Waffen-SS-Division Galizien, worüber er nie sprach. Aber sein damals schrieb, das gegenwärtige Theater sei ein Schreib- Sohn erzählt über die Odyssee durch Polen, quer durch die anlass für Prosa, bejahte das Slobodan Šnajder. Er arbeitet »Bloodlands« (Timothy Snyder) Osteuropas mit Massakern zwar ab und zu noch für die Bühne, aber international lässt und Bluttaten auf allen Seiten und überraschenden Wendun- gen. Die ungeheure Gewalt gegen Juden, Polen und andere Bevölkerungsgruppen lässt die Frage aufkommen: »War Hitler nicht genauso ›Europa‹ wie Johann Sebastian Bach?« Zufällig, mehr aus Überlebenswillen als Überzeugung, gerät der Vater unter Partisanen. So erhält er eine Bumaschka, ein Dokument, dass er auf der roten Seite gekämpft habe; das Kainsmal der SS-Blutgruppentätowierung bleibt unent- deckt. Die Mutter dagegen war eine kommunistische Par- tisanin, die denkbar knapp überlebte. Der traumatisierte Vater schweigt und trinkt, die Mutter will den Kommunis- mus aufbauen und erlebt neue, wechselnde Fronten. Nach dem Bruch zwischen Stalin und Tito erfolgt in Jugoslawien eine Entstalinisierung mit stalinistischen Methoden. Die Eltern sind ein ungleiches Paar, das sich bald trennt. Erst als Jugendlicher lernt Slobodan Šnajder seinen Vater kennen. »Viel sprach dafür, dass ich nicht geboren wurde, so kam ich auf die Stimmen der Ungeborenen im Roman.«

Slobodan Šnajder (*1948 in Zagreb), © Dirk Skiba ƒ Das Coverfoto des 2019 erschienenen Romans stammt aus dem Familienalbum der Šnajders. ISBN: 978-3552059245, 544 Seiten, 26 € © Paul Zsolnay Verlag Ausgabe 8 • 2020 MENSCHEN 35

Immer wieder wird der Autor im Gespräch sarkastisch. dem kleinen Land nur noch rund vier Millionen Menschen Dass viele Deutsche nach 1945 vertrieben, hingerichtet, leben und allein in Deutschland bereits eine halbe Million interniert, enteignet wurden, war in seinen Augen kurzsich- Kroaten, ist es das auch. Ohne ein neues Miteinander der tig: »Das Problem der Volksdeutschen war, dass viele etwas Nachfolgestaaten Jugoslawiens über die Gräben der Kriege geschaffen hatten, was andere haben wollten.« hinweg, ohne eine Umkehr aus nationalistischen Irrwegen Obwohl Slobodan Šnajder das jugoslawische NDRIN wird diese Entwicklung nicht zu stoppen sein. Des- E U Experiment grundsätzlich unterstützte, sah er bald T halb unterzeichnete Slobodan Šnajder die vielbe- N T

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die Schattenseiten, das Aufkommen der Neuen D achtete Deklaration zur gemeinsamen Sprache der M

Klasse, wie der vom Funktionär zum Dissidenten A Kroaten, Serben, Bosniaken und Montenegriner vom N

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S E sich wandelnde Milovan Đilas die Herrschaft der R 30. März 2017. Parteikader charakterisierte. »Ein Dramatiker schreibt nicht bloß, was passiert«, bemerkt Šnajder, »sondern, was Nach einem Spaziergang durch die Oberstadt mit ihren geschehen könnte.« Das brachte ihn zum Widerspruch – bis wohlgestalteten Palais und heimeligen Bürgerhäusern heute, wo er das Entstehen nicht einer neuen Klasse, son- sehen wir auf die Unterstadt mit hufeisenförmiger Anlage dern einer neuen Kaste befürchtet. aus der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und Trotz seiner Wurzeln fühlte er sich nie als verhinderter disparater Vielfalt der Epochen danach. Slobodan Šnajder deutscher Schriftsteller, sondern als kroatischer. So war es bekennt, er schreibe an einem Roman, der keine Odyssee auch schon beim Vater, der Gedichte schrieb; nur einmal, quer durch Osteuropa sei, sondern Geschichten über Zag- kurz vor seinem Tod 1993, Jugoslawien stand in Flammen, reb von 1918 bis zum Ende Jugoslawiens erzähle. »Jeder sagte er zum Sohn: »Wir sind nicht Serben oder Kroaten, wähnt sich als Opfer, keiner als Täter.« Wie in Die Reparatur wir sind Deutsche.« der Welt soll dieses schlichte Muster durchbrochen werden. Wieder sollen verschiedene symbolische und erzählerische Heute beobachtet Slobodan Šnajder eine wachsende Ebenen miteinander korrespondieren. So arbeitet er weiter nostalgische Sehnsucht nach Jugoslawien von unten und an einem Spätwerk mit irdisch-dokumentarischer Härte und eine schroffe Ablehnung von oben. »Tito wird nicht wegen philosophisch-symbolischer Bilderwelt, das bei aller Tragik seiner Fehler gehasst, sondern wegen seiner Erfolge.« von sarkastischer Komik ist. Nicht allein aus eigenen Beobachtungen, auch von sei- Achim Engelberg nem Sohn, einem Informatikprofessor, weiß er: Gerade gut Ausgebildete wandern aus. Wirtschaftliche Stärke und Der Publizist und Kurator Dr. Achim Engelberg schreibt unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung und die Blätter für deutsche und internationale kulturelle Nähe machen Deutschland zum beliebten Ziel. Politik. Als Fellow der Fazit-Stiftung verfasste er das Buch An den Rändern »Kroatien entleert sich.« Das klingt dramatisch. Und weil in Europas, das im Herbst 2020 bei DVA (Random House) erscheinen wird.

Die Galeb (serbokroat. für »Möwe«), von 1952 bis 1980 Staatsyacht von Josip Broz Tito, 2019 im Hafen von Rijeka. Sie soll im Kulturhaupt- stadtjahr 2020 zu einem Museum mit Kino, Konferenzräumen und einem Hostel ausgebaut werden. © Ingeborg Szöllösi, DKF 36

EINE NEUE REGIONALITÄT Der Schriftsteller Siegfried Lenz und seine masurische Heimat

Die Beziehung von Siegfried Lenz zu seinen masurischen Kriegsgefangenschaft geriet. Die Briten brachten ihn ins Wurzeln hat zwei Seiten: Lyck/Ełk ist zunächst einmal ganz Lager Witzwort auf Eiderstedt. Nach seiner Entlassung ging konkret sein Geburtsort, Ostpreußen im weiteren Sinne auch er im Winter 1945 nach Hamburg und beschloss, von seinen der Schauplatz seiner wichtigsten literarischen Werke, in Kriegserlebnissen zu erzählen, wie er 1978 dem polnischen denen er – insbesondere im Roman Heimatmuseum (1978) Journalisten Adam Krzemiński erklärte: – nicht den schwierigen Fragen der deutschen Geschichte aus dem Wege geht und sich somit als ein Brückenbauer Ich war 19 Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging […]. Ich habe gese- zwischen der einstigen deutschen Provinz und ihren heu- hen, wohin der von uns verschuldete Krieg Deutschland geführt tigen Bewohnern erweist. hat, und als ich unmittelbar nach dem Krieg zu studieren begann, Abgesehen von einigen Interviews, gehört der 1966 ver- stand für mich fest: wenn ich schreiben würde, dann über diese fasste Aufsatz Ich zum Beispiel. Kennzeichen eines Jahrgangs Dinge – über den Krieg, das Elend, über Verfolgungen, Flucht, zu den wenigen Quellen, in denen Lenz zu seinen Jugend- Erschlagene. Das ist so etwas wie ein freiwillig übernommenes jahren in der »Hauptstadt Masurens« Auskunft gibt. Über Zeugnis […]. den Tag seiner Geburt am 17. März 1926 schreibt er dort: Dazu gehörte auch die Auseinandersetzung mit seiner Die kleine Stadt Lyck war schon da, man nannte sie bereits die nun verlorenen Heimat, die bereits in den 1950er Jahren in »Perle Masurens«. Der Lyck-See war schon da, die sandigen Exer- einer Reihe von Rundfunkarbeiten und Erzählungen begann. zierplätze, die Fischverkäuferinnen mit den Kapitänsnacken, die Der eigentliche literarische Durchbruch war aber der 1955 gedrungenen Kriegerdenkmäler, das gekalkte Gefängnis, die Vorur- erschienene Erzählungsband So zärtlich war Suleyken. Die teile und die trübseligen Kasernen, in denen das feldgraue Unglück Geschichten beschrieb Lenz als »kleine Erkundungen der wohnte: alles war schon da. Die trockenen, pulsenden Sommer masurischen Seele«. In den Jahren nach ihrem Erscheinen Masurens waren schon von den Redakteuren des Hundertjährigen wurden sie weitgehend unpolitisch interpretiert, auch von Kalenders gemacht, Hindenburg blickte schon unter geschwolle- den Vertriebenenverbänden, denen eine derartige, beinahe nem Lid auf die Schulklassen herab, der Bosniaken-Kommandeur idyllische Lesart der ostpreußischen Geschichte wohl unver- von Günther besaß schon sein Denkmal und die Lycker ihre pruz- fänglicher erschien als das Nachdenken über die Nazizeit zisch-sudauische Vergangenheit […]. und den Zweiten Weltkrieg als eigentliche Gründe für den Heimatverlust. Die Landsmannschaft Ostpreußen verlieh Es ist unklar, wann Lenz Lyck verließ. Nach dem frühen Tod Lenz 1961 für die Suleyker Geschichten sogar ihren Kultur- seines Vaters zog die Mutter mit der kleinen Schwester nach preis für Literatur. Braunsberg/Braniewo, während Siegfried bei seiner Groß- mutter blieb, um die Volksschule abzuschließen. Seinen ers- Lenz beließ es aber nicht bei einem derartigen Ton. Schon ten Schulabschluss machte er 1939, später besuchte er die in den 1960er Jahren unternahm er die ersten Versuche, Oberschule in Samter/Szamotuły, kam in die Hitlerjugend davon Abschied zu nehmen. Dies gelang ihm aber nicht, da und nahm in den Ferien an »Wehrertüchtigungslagern« teil. er – wie er Adam Krzemiński 1978 gestand – »geradezu Opfer 1943, mit 17 Jahren, legte er ein Notabitur ab und wurde zur der eigenen Erinnerungen« wurde. Lenz Kriegsmarine eingezogen. Das Kriegsende erlebte er meinte, er benötige dazu eine größere auf der dänischen Insel Seeland, auf der Distanz und müsse »eine neue Regi- er aus einem Einsatz deser- onalität finden«. Diese gewann dann tierte und schließ- eine ganz konkrete Gestalt im Enga- lich in britische gement für die neue Ostpolitik von Willy Brandt, den er 1965 im Wahlkampf unterstützte. Im September 1969 wurde Brandt Bundeskanzler und begann, seine ostpo- litischen Konzepte umzu- setzen. Der Höhepunkt im deutsch-polnischen Ausgabe 8 • 2020 MENSCHEN 37

Kontext war der 7. Dezember 1970 – der Tag, an dem Brandt in Warschau den Vertrag über die »Grundlagen und Norma- lisierung der gegenseitigen Beziehungen« unterzeichnete und am Warschauer Ghetto-Ehrenmal seinen später in die Geschichte eingegangenen Kniefall vollzog. Dabei beglei- tete ihn auch Siegfried Lenz.

Diese Erfahrungen flossen in den RomanHeimatmuseum ein. Hauptfigur und Erzähler ist Zygmunt Rogalla, Leiter eines Heimatmuseums im ostpreußischen Lucknow – der Ortsname erinnert an Lenz´ Geburtsort Lyck –, das 1945 nach Egenlund bei Schleswig gerettet wird. Schließlich steckt Rogalla sein mühsam aufgebautes Lebenswerk in Brand. Warum er das tut, erklärte Lenz 1978 in einem Interview für die Kulturpolitische Korrespondenz:

In dem Augenblick, als er argwöhnt oder Grund hat zum Argwöh- nen, daß ein Teil des Inventars in einen höchst problematischen seines 95. Geburtstages im Jahre 2021 plant das Histori- Dienst genommen werden könnte, glaubt er, freie Hand genug zu sche Museum eine Ausstellung zum Leben und Werk des haben, um die Dinge zerstören zu können. […] Dazu gehört auch Schriftstellers; schließlich veranstaltet das Museum auch die Tatsache, daß er erfährt, […] wie das Mitgebrachte mehr und die monatlichen Colloquia Lenziana, die als Diskussionen mehr seine Zeugen verliert, seine Beweisfähigkeit. zu verschiedenen regionalen Themen konzipiert wurden. Die Zofia-Nasierowska-Stadtbibliothek organisiert jedes Wie der Titel bereits andeutet, ist Heimatmuseum – so Lenz Jahr den Internationalen Siegfried-Lenz-Literaturwettbe- – eine Auseinandersetzung mit dem »in Verruf gekomme- werb, Gegenstand sind kurze literarische Formen zum Thema nen« Wort »Heimat«, das »mißbraucht wurde, so schwer- »Gesichter Europas«. wiegend mißbraucht, daß man es heute kaum ohne Risiko Rafał Żytyniec aussprechen kann«. Er setzt sich auch mit dem von den Dr. Rafał Żytyniec ist Direktor des Historischen Museums in Lyck/Ełk (Muzeum Vertriebenenverbänden proklamierten »Recht auf Heimat« Historyczne w Ełku). auseinander: & Rafał Żytyniec: Zwischen Verlust und Wiedergewinn. Ost- Das diskrete Plädoyer meiner Geschichte läuft darauf hinaus, den preußen als Erinnerungslandschaft der deutschen und polni- materiellen Anspruch auf die Ostgebiete angesichts der politischen schen Literatur nach 1945, Allenstein/Olsztyn 2007 (antiqua- Verhältnisse aufzugeben und gleichzeitig einen immateriellen Erin- risch erhältlich) nerungsanspruch aufrechtzuerhalten. Politisch sollten wir unsere Zuflucht zu einem übergreifenden Prinzip nehmen: zu Europa.

Wie zukunftsfähig diese Worte von Siegfried Lenz waren, sollte sich erst im Laufe der Zeit zeigen – vor allem nach dem Zerfall des Kommunismus im östlichen Europa und nach der EU-Osterweiterung. Diese Veränderungen, die auch mit der Fortsetzung und Vertiefung des deutsch-pol- nischen Versöhnungsprozesses einhergingen, machten es möglich, dass Siegfried Lenz am 18. Oktober 2011 Ehren- bürger von Lyck wurde. Und seine Heimatstadt hält die Erinnerung an den 2014 verstorbenen Schriftsteller wach. Nach Siegfried Lenz wurde eine Straße benannt; anlässlich

ƒ Schild der Siegfried-Lenz-Straße in Lyck/Ełk (Foto: Rafał Żytyniec) Der Autor Siegfried Lenz, Foto: © Ingrid von Kruse  Cover der 2018 erschienenen illustrierten Ausgabe, © Hoffmann und Campe 38 Literatur im BlickWechsel

WUNDE AM FUSS Mein polnischer, deutscher Vater Von Brygida Helbig

Mein Vater wird in diesem Jahr 90. Er schluckt Ich habe bis zum achtzehnten Lebensjahr nicht Unmengen von Tabletten, jeden Tag, bräuchte wirklich gewusst, wer mein Vater ist. Hab mich wohl kaum noch etwas anderes zu sich zu nehmen. nur manchmal etwas gewundert. Woher der Name Die Medikamenteneinnahme plant er für die ganze kommt, über den meine Lehrerinnen stolperten. Woche im Voraus. Er widmet dieser Tätigkeit viel Woher er das Deutsch konnte, das er so gut bei unse- Zeit und Aufmerksamkeit, führt sie salbungsvoll aus. ren Einkaufsreisen nach Löcknitz und Pasewalk ein- Sein heiliges Ritual. Mein Vater hat hohen Blutdruck. setzte, wenn wir Salami und Salamander-Schuhe aus Er hat Diabetes, verengte Blutgefäße, Kreislaufpro- den Regalen räumten. bleme, einen diabetischen Fuß und einen amputier- ten Zeh. Vor zwei Jahren haben ihm Ärzte damit Er hat sehr früh seinen Vater verloren, noch in der gedroht, dass sein ganzer Fuß vielleicht bald unters Kolonie Steinfels, die längst nicht mehr existiert. Messer muss. Dass womöglich weitere Amputatio- Seit meiner Kindheit erzählte er mir immer wieder, nen folgen, weil es halt so ist. Dass seine Wunden wie er als Sechsjähriger durch das ganze Dorf lief, vielleicht nie heilen werden. Für einen solchen Fall um seinem sterbenden Vater den letzten Wunsch zu kündigte mein Vater sein Abtreten an. Kein Leben erfüllen – eine Zigarette. Er erzählte von seinen klei- ohne Bein. Und kein Leben ohne Autofahren. nen Heldentaten, von Wölfen und Kartoffeldieben. Sein Erzählen war mein Zuhause. Er konnte zwar Sonst aber ist sein Lebenswille ungebro- hart bestrafen, zu hart, aber er beschenkte chen. Seine Freuden sind klein: gutes auch reich. Essen, Sonne im Garten, Vogel am Fensterbrett, Kleinkind im War- Meine Mutter erzählte nicht, sie spielte tezimmer, Blümchen-Kaffee mit- Akkordeon, sie sang, und in ihrem ten in der Nacht, wenn er wieder Gesang war alles. Aller Schmerz und nicht schlafen kann. Sein Missmut alles Leid, die sich auch in meine ist furchterregend, seine Witze Seele eingegraben haben. Aber auch

© sind treffend, sein Lächeln ist schel- M die Sehnsucht und die Hoffnung. o ri misch, seine kindliche Freude über tz In einer polnischen Familie geboren, Ne uf wurde sie eines verschneiten Aprilmor- jedes Weihnachtsfest entwaffnend. Wie fer er überall Lichterketten aufhängt. Fleißig gens 1940 als Kind nach Kasachstan ver- über die ganze Wohnung Hirsche verteilt. Und schleppt und lebte dort in einer Erdhütte. später dann Osterhasen. Damit es so ist wie früher. Meine beiden Eltern wurden als Kinder aus vertrau- Familienfeste waren dort, wo er lebte, das Gewürz ten Räumen herausgerissen, die wir Heimat nennen. des Lebens. Meine Mutter aus Ostpolen, wo heute Weißrussland ist und der Njemen fließt, mein Vater aus Galizien, Aber sein größter Schatz ist die Dokumentenmappe. heute Südostpolen und Westukraine. Dort wurde Wenn diese einmal wieder auf mysteriöse Weise ver- er in einem der zahlreichen deutschen Dörfer 1930 schwindet, versetzt er uns alle in Aufruhr. Hält sogar geboren. Seine Vorfahren kamen Ende des 18. Jahr- mitten auf der Autobahn an, um im Kofferraum nach hunderts aus der Pfalz dorthin. Das Gebiet gehörte ihr zu wühlen. Oder er lässt uns Dutzende Müllton- damals zum Habsburgerreich und wurde 1918 pol- nen eines Rieseneinkaufszentrums danach durch- nisch. Sie bauten sich allmählich unter Polen, Ukra- forsten. Und immer finden wir die Mappe dann an inern, Juden, Bojken und Lemken ihr Zuhause. Es einem mehr als banalen Ort. Ja, mein Vater und die hat sie viel Blut gekostet, sie waren ziemlich arme Identität! Hunde … Gaben acht, ihre Sprache nicht zu verges- sen, ihren köstlichen pfälzischen Dialekt. Gaben acht, Ausgabe 8 • 2020 WERKE 39

Zwangsarbeit getrieben. Von dort ist er irgend- wann geflüchtet, war dann lange Zeit in Polen noch Knecht – bis er ein neues Leben mit einem polni- schen Vornamen begann und in die nun polnische Stadt Stettin/Szczecin kam, wo ich geboren wurde. Mit knapp zwanzig Jahren habe ich diese Stadt ver- lassen, um am 31. Oktober 1983 in den Ost-West- Express zu steigen und die ganze Nacht durch licht- überflutete Städte und Tunnel zu rasen, mit vielen Gespenstern im Gepäck. Bis die Maschine erst den Eisernen Vorhang stürmte und dann an Allerheiligen im goldenen Westen anhielt, an einem Bahnsteig mit dem Schild: Wanne-Eickel.

Ob ich deshalb aus dem Koffer lebe und nirgendwo Bernarda und Roman Helbig, die Eltern der Autorin, um 2010 in Wurzeln schlagen kann? Stettin/Szczecin, Foto: Artur Helbig Mein Vater hat hohen Blutdruck, der jeden Tag durch nicht zu vergessen, wer sie sind. Ihren Glauben nicht moderne Medizin im Damm gehalten wird. Darunter zu vergessen. Und ihre Feste, die die Gemeinschaft brodelt es wie verrückt. lebendig hielten und dem Leben Sinn verliehen. Aber seine Wunde ist geheilt! Vielleicht dank einer Bis 1939 blieben sie dort. Bis sie von Hitler in den polnischen Ärztin aus Pasewalk, die ihm eines Tages Warthegau umgesiedelt wurden und alles, was sie mit aller Entschiedenheit den genauen Termin der sich hart erkämpft und liebgewonnen hatten, nun Heilung nannte. »Die Wunde heilt in einem halben verlassen mussten. Jahr im Juni!«, sagte sie, damit er endlich Ruhe gibt. Und genauso ist es dann gekommen. Mein Vater war da neun Jahre alt. Er vermisst sein Foto aus der Zeit im Warthegau. Ein verbotenes Foto. Aus der Nazi-Zeit. Sein einziges Kindheitsfoto. Da trommelte er auf einer kleinen Trommel. Hatte eine Uniform an. Er würde alles darum geben, dieses Foto wiederzufinden. Aber er hat doch irgendwann die Fotos vernichtet.

Prof. Dr. Brygida Helbig Gott sei Dank hat er im Warthegau schnell erkannt, wurde 1963 in Stettin/ dass es in die verkehrte Richtung ging. Dass die Kin- Szczecin geboren und der fehlgeleitet und betrogen wurden. Und als er lebt seit 1983 in Deutsch- dann später Pole wurde, hat er halb Polen von den land. Nach einem Stu- Minen befreit. Ein Wunder, dass er noch lebt. dium der Slawistik und Germanistik an der Ruhr- Manchmal überkommt ihn die Angst. Oder ein Universität Bochum habi- litierte sie sich 2004 an schlechtes Gewissen. Er träumt von Hunden, die der Berliner Humboldt ihn verfolgen, Menschen, die etwas von ihm wollen, - Universität. In deutscher etwas einfordern, ihm entreißen wollen. Übersetzung erschien 2019 ihr Roman Kleine Himmel. © Klak-V Im Januar 1945, nachdem seine Flucht vor sowje- Auf Deutsch sind außer- erlag Berlin tischen Panzern mit seiner Mutter und ihrem pol- dem die satirischen P rosabände Ossis und andere Leute (2015) und Engel und Sch nischen Knecht und Geliebten misslungen war und weine (2016) sowie zahlreiche wissenschaftliche Publikationen erschienen. Br er sich blutverschmiert am Wegesrand bei Gnesen/ ygida Hel- big lebt in Berlin und is Gniezno unter einer Pferdeleiche wiedergefunden t zur Zeit Professorin an der Adam- Mickiewicz-Universitä hatte, wurde er vierzehnjährig nach Odessa zur t in Posen/Poznań. 40 CREMIG, SCHOKOLADIG, HIMMLISCH! Die Dobosch-Torte begeistert seit 135 Jahren nicht nur Kaiser und Genies

Die Chronisten der österreichisch-ungarischen Monarchie wurde im Banat, in haben die Wojwodina wegen ihres fruchtbaren, »fetten« der Stadt Werschetz/ Ackerbodens als Speisekammer Europas bezeichnet. Die Vršac als Kind einer Menschen hier gelten als gastfreundlich und gesellig, schät- donauschwäbischen zen gutes Essen und Trinken. Trotz häufiger politischer Aus- Familie geboren, deren einandersetzungen und damit verbundener, oft willkürlicher Ahnen 1789 aus dem Grenzverschiebungen lebten hier schon immer verschie- Elsass in diese Region dene Nationalitäten friedlich nebeneinander und haben kamen. Die Großeltern sich in ihrem Brauchtum, im Feiern ihrer Feste und auch meines Vaters wohn- in der Zubereitung ihrer Speisen gegenseitig beeinflusst. ten im benachbarten Zichydorf/Plandište, Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bildeten die wo mein Vater mit sei- Ungarn, Serben und Deutschen die drei größten Bevölke- nem Bruder die Win- rungsgruppen der heute in der Republik Serbien gelegenen terferien verbrachte. Region. Ihre Küche vermischte sich mit der Zeit, es entstand Er erzählte gerne, die »Wojwodina-Küche«: würzig-scharf, saftig und üppig. dass die Großmutter Bei einem sonntäglichen Mittagessen durfte eine köstliche die Reste der Dobosch-Torte stets in ihrer Küchenkredenz Hühnersuppe nicht fehlen, danach gab es gekochtes Fleisch versteckt hielt, was natürlich ein besonderer Reiz für die mit Saucen, Braten mit Beilagen und zum Abschluss Kuchen Schleckermäuler war. als unverzichtbaren Bestandteil. Alle Kuchen und Torten Mein Neffe war als Kind ein schlechter Esser. Das Einzige, werden heute noch nach Wiener oder Budapester Rezepten was er gerne mochte, war die Dobosch-Torte. So musste hergestellt: cremig, schokoladig, nussig, einfach himmlisch! meine Schwester dafür sorgen, dass diese Köstlichkeit immer im Hause war. Als wir einmal ein Weihnachtsfest mit vielen Eine der beliebtesten Kreationen ist die Dobosch-Torte. Gästen feierten und die Kuchen und Torten zum Servieren Sie war auch die Lieblingstorte unseres Vaters. Diese Torte bereitgestellt waren, steckte meine damals zweijährige Toch- wurde auf der Budapester Landesausstellung 1885 von dem ter jedes Mal, wenn sie daran vorbeiging, ihr Fingerchen in ungarischen Konditor József Dobos präsentiert. Der Name die Schokocremefüllung der Dobosch-Torte, so dass diese wird gesprochen wie »Dobosch«, aus dem Ungarischen über- voller Löcher auf die Festtafel kam. Ich rätselte vergeblich, setzt heißt das Trommler – und die Form der Torte erinnert wie das passiert war, bis ich das verschmierte Gesichtchen auch an eine Trommel. Zu denen, die sie damals gekos- meiner Tochter sah. Seitdem sind viele Jahre vergangen, tet haben, gehörte das österreichische Kaiserpaar Franz meine Tochter hat geheiratet und wir erwarten ein Enkel- Joseph I. und Elisabeth (»Sisi«), die zu jener Zeit auch König kind. Aber die Feiertage sind nach wie vor ohne Dobosch- und Königin von Ungarn waren. Die Torte wurde außeror- Torte nicht vorstellbar – und die Anekdoten, die damit ver- dentlich beliebt und gerne zu Weihnachten, Silvester oder bunden sind, bleiben unserer Familie in Erinnerung. an Geburtstagen aufgetischt oder verschenkt. Sogar Albert Éva Hübsch Einstein war begeistert, als seine Braut Mileva Marić aus Neu- satz/Novi Sad eine Dobosch-Torte zusammen mit anderen hausgemachten Köstlichkeiten in einem Weihnachtspaket nach Schaffhausen schickte. Am 28. Dezember 1901 schrieb Die Regisseurin und Produzentin Éva Albert an seine Zukünftige: »Was hab ich für ein goldiges Hübsch begann ihre journalistische Schatzerl und was für ein feins Paketl hat mirs geschickt! Laufbahn im wojwodinischen Fern- Sogar ein großartig feines Dobogl [Diminutiv von Dobosch- sehen. Seit 1992 arbeitet sie für ver- Torte] hats drin verborgen & ein allerliebstes Brieferl …« schiedene in- und ausländische TV- Produktionen und gründete 2008 Auch in unserer Familie ist die Dobosch-Torte zu Weih- ihre eigene, im serbischen Neusatz/ nachten ein besonderes Highlight. Zur Erinnerung an seine Novi Sad ansässige Produktionsfirma Kindheit führte unser Vater diese Tradition bei uns ein. Er Media News. ubereitung der legen- Eine Mühe, die sich lohnt: Éva Hübsch bei der Z orisches Backbuch mit einem alten dären Dobosch-Torte. Oben ein hist va Hübsch Familienfoto. Alle Bilder: © É Literatur im BlickWechsel

TONE PARTLJIČ ist ein slowenischer Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor, geboren 1940 in Marburg an der Drau/Maribor. Ab 1971 war er Dramaturg am Slowe- nischen Nationaltheater Laibach/Ljubljana, bis er 1987 die künstlerische Leitung des Stadttheaters Ljubljana übernahm. Für sein literarisches Schaffen wurde er mit vielen Preisen geehrt, 2016 mit dem bedeutendsten slowenischen Literaturpreis – dem Prešeren- Preis für sein Lebenswerk. In seinem letzten Buch, dem Novellenband Ljudje iz Maribora (»Men- schen aus Marburg an der Drau«, 2017), porträtiert Partljič mit viel schriftstellerischer Empathie sowohl kulturell und politisch exponierte als auch weniger bekannte Marburger. Er zeichnet sie an erster Stelle als Menschen, gefangen im Wirbel der turbulenten (Nach-)Kriegszeit. So etwa die russische Fürstin Obolenska, die vor der Revolution in die Steiermark flüchtete. Dort wurde sie als Bibliothekarin zur Furcht und zum Schrecken aller Leser, die nachlässig mit Büchern umgingen.

In der Abschlussnovelle Schwiegermutter führt der Autor den Leser in die Zeit unmittelbar nach der deutschen Kapi- tulation. In Marburg an der Drau herrscht großes Durcheinander, da unterschiedliche »Sieger« ihre Interessen durch- setzen wollen. Priska Haas soll wie alle anderen »Volksdeutschen« nach Österreich abtransportiert werden. Aus- gerichtet wird ihr dies von Dane, einem jungen Offizier und Mitarbeiter der OZNA (Geheimdienst Jugoslawiens), bei dem es sich um Zdenko Zavadlav handelt, einem ehemaligen Geheimpolizisten, der in seinem Tagebuch Späte Beichte (Hermagoras, 2010) auch die Massentransporte der »Volksdeutschen« aus Marburg nach Graz beschreibt. Priska Haas, die sich in der Erzählung als Kommunistin bezeichnet, war die zweite Ehefrau des siebenundzwanzig Jahre älteren Rechtsanwalts Heinrich Haas, der den ersten Esperanto-Bund in Slowenien gegründet hatte. Nach dem Krieg engagierte sie sich im Zveza prijateljev mladine (»Bund der Freunde der Jugend«), einer heute noch bestehen- den humanitären NGO. Alenka Kreft

SCHWIEGERMUTTER Von Tone Partljič

[…] in der Stadt befanden sich die durchgedrehten ane musste noch den letzten Transport der Bulgaren […]. In den Bewohnern der Steiermark, D Volksdeutschen organisieren. Das waren Mar- besonders in der ehemals deutschen Stadt Marburg burger deutscher Abstammung, die zwar kein Blut an der Drau, sahen sie einen besiegten Pöbel, den an ihren Händen hatten, aber die Stadt vergifteten. sie in Schach halten und dem sie als Kriegsbeute Diejenigen, an deren Händen Blut klebte und die mit alles wegnehmen mussten, was glänzte oder sich der Gestapo kollaboriert hatten, waren zum Tode abschrauben ließ. Sie waren auch der Ansicht, alles verurteilt und hingerichtet worden. Nur Ärzte in den Weibliche unbedingt vergewaltigen zu müssen. […] Krankenhäusern, Ingenieure in den Fabriken oder bedeutend war auch das brüderliche russische Kom- andere Fachleute wurden bedingt toleriert, weil es mando mit Marschall Tolbuchin, das hinter dem an slowenischen Kadern mangelte und sie deshalb mysteriösen oder vielleicht auch imaginären Werwolf unersetzbar waren. Die OZNA-Mitarbeiter stellten her war, einer deutschen Untergrundbewegung, die für jedes Stadtviertel eine Liste auf. Das Schicksal illegal den rassistischen und nationalsozialistischen der Menschen, deren Namen sich darauf befanden, Kampf in Europa auch nach der Kapitulation wei- wurde ohne lange Diskussion beschlossen: Sie wer- terführen wollte […]. Anwesend waren außerdem den ausgesiedelt. Zuerst diejenigen, die in den letzten die slowenischen Partisanen vom Bacherngebirge, Jahren zugezogen waren. Viele der Familien wohnten Poßruck und von der Windischen Bühel mit OZNA aber seit Jahrhunderten hier, denn bis 1918 war dies und KNOJ, die sich unter den unzähligen fremden eine österreichisch-deutsche Stadt gewesen. Des- Befreiern ihre Geltung und das entscheidende Wort halb gab es großes Gejammer, als sie in die Fremde noch erkämpfen mussten. ziehen mussten, wo viele von ihnen nicht einmal ~ 43 ~

Verwandte hatten. Als Dane die Namenslisten ausge- Zentimeter breit, dann wurde sie von einer kleinen händigt bekam, fragte er seine Mitarbeiter: »Erinnert Kette angehalten, die am Rahmen befestigt war. ihr euch noch, was der Genosse Kidrič beim letzten OZNA-Treffen gesagt hat? In den nördlichen Gebie - »Ja?« ten müssen alle Reste des Deutschtums beseitigt werden! Wir müssen den Befehl des Präsidenten der »Guten Tag! Ich bin vom Militär, lassen Sie mich slowenischen Regierung gewissenhaft ausführen!« rein. Ich bin ein Offizier der Abteilung für die Volkssicherheit!« r organisierte die LKWs, auf denen die Aussiedler Esamt ihrem Gepäck zum Bahnhof gebracht wer- Die Frau entriegelte die Tür und fragte im Marburger den sollten. Und von dort würde es Richtung Dialekt: »Möchten Sie sich setzen?« Graz gehen, wie er ihnen sagte. Weil er für die ganze Stadt nicht genug »Nein, ich bin dienstlich hier. Sind Sie Männer hatte, besuchte er selbst Priska Haas?« einige der gekennzeichneten Wohnungen in der Umge- »Selbstverständlich!« bung des OZNA-Sitzes am Stadtpark. Auch den »In einer halben Stunde müs- Hutter-Wohnblock, wo sen Sie unten vor dem Ein- im Erdgeschoss eine Zeit gang stehen. Sie werden nach lang sogar er und einige Graz in Österreich ausgebür- seiner Kollegen gewohnt gert, hier ist der Bescheid. Dort hatten. Doch in mehreren werden sich Ihre Leute um Sie Dutzend Wohnungen lebten kümmern. Sie können einen tatsächlich noch Volksdeut- Koffer mitnehmen, aber höchs- sche. Danach musste er zu den tens fünfundzwanzig Kilo Gepäck! Häusern auf der anderen Seite der Gegen diesen staatlichen Bescheid ist Maistrova-Straße am Park gehen ... keine Beschwerde möglich!« Trotz des Befehls von Kidrič spürte er aber tief in seinem Inneren, wie unangenehm diese Arbeit war. Die Frau setzte sich an den Tisch und fragte: Seine Eltern, sein Bruder und seine Schwester waren in Šoštanj von den Deutschen auf die LKWs verfrach- »Soll das ein Witz sein?« tet worden und jeder durfte höchstens fünfundzwan- zig Kilo Gepäck mitnehmen. Die Mütter stopften die »Die OZNA macht keine Witze!« Koffer meistens mit Kleidung voll … Bei ihrem ersten Wiedersehen nach dem Krieg hatte seine Mutter ihm »Wissen Sie eigentlich, wer Tito ist?« weinend davon erzählt. Damals, als die Deutschen die Bewohner der Steiermark zwangsumsiedelten, war ane wurde wütend: »Hör mal, Alte, verarschʼ er noch Student und befand sich zu seinem Glück in D mich nicht! Du hast kein Recht, den Namen Ljubljana. Dort war er mit zwei guten Freunden bald unseres Oberkommandanten zu erwähnen! Wir wer- der Befreiungsfront beigetreten. Jetzt machen wir das den dieses Land von den Volksdeutschen säubern! Gleiche wie die Schwaben damals, überlegte er, wir Zieh dich um und Abmarsch! In einer halben Stunde vertreiben sie aus ihren Häusern. In die zweite Etage musst du angezogen und mit deinem Koffer unten muss ich noch ... warten! Auf Wiedersehen!«

uf dem kleinen Messingschild stand der Name »Hör mal, Junge. Ich bin doch mit Tito verwandt. A Haas, auf seiner Liste Priska Haas, Witwe. Er Ich bin seine Schwiegermutter. Das hier könnte dir drückte auf die Klingel, es summte. Schleifende später noch leidtun!« Schritte näherten sich und die Klinke aus Messing neigte sich. Dane, gerade mal einundzwanzig, war selbstverständlich in Uniform. Eine Frau mit Brille, Marburg an der Drau/Maribor, Blick vom südlichen Drau-Ufer auf um die fünfzig, öffnete die Tür, aber nur zwanzig die Altstadt, 1929, Sammlung DKF in Zagreb. Und sie ist auch die Ehefrau von Marschall Tito. Du gehst sofort wieder zurück und entschul- digst dich bei ihr, sonst haben wir hier bald mäch- tig die Kacke am Dampfen! Verdammtes Ljubljana! Für solche Arbeit müssen sie uns ausgerechnet die Jugend schicken …«

edes Mal, wenn er als Jugendlicher bezeich- Jnet wurde, wäre Dane am liebsten an die Decke gegangen. Er war alt genug gewesen für das italieni- sche KZ, alt genug, um als Partisan in der Neunten Division zu kämpfen, alt genug für den Nachrichten- Herta Haas (1914–2010) im Jahr 1943. Sie war die zweite Ehefrau des Partisanenführers und Präsidenten des sozialistischen Jugoslawien, dienst im Küstenland ... Jetzt aber, wo wieder Frie- Josip Broz Tito. © Wikimedia Commons den war, bekam er ständig zu hören, er sei zu jung für diese Aufgaben ...

Aus dem Slowenischen übersetzt von Alenka Kreft. o etwas hätte Dane sich im Traum nicht vorstellen S können. Nun, er verstand, dass er es hier wohl Auszug aus der Erzählung Schwiegermutter in Ljudje iz Mari- mit einer deutschen Provokateurin oder einem ver- bora von Tone Partljič. Wir danken dem Verlag Beletrina Aca- rückten, dementen alten Weib zu tun hatte. Als er bei demic Press für die Übersetzungsgenehmigung. den Partisanen gewesen war, hatten sie sich schon Alenka Kreft arbeitet als freie Übersetzerin für Slowenisch gefragt, ob der Alte eine Frau hätte. Man erzählte, und Deutsch in Berlin. er hätte was mit einer Russin gehabt und mit ihr einen Sohn, dass er aber jetzt mit einer anderen Frau Tone Partljič:Partljič: Ljudje iz Maribora. Ljubljana: Beletrina Academic Press 2017, 308 S., ISBN 978-9612842-92-5, 29 €, E-Book 21,29 € zusammen sei. Dass Tito in Maribor eine Schwieger- mutter hätte, davon hatte Dane nie etwas gehört. So ein Schwachsinn!

»Machen Sie sich bereit, sonst landen Sie nicht auf einem LKW, sondern im Gefängnis, und dann kann Ihnen noch was viel Schlimmeres zustoßen!«

r schlug mit den Fersen seiner Stiefel zusammen, E damit es laut knallte, und ging hinaus ... Doch als er die Treppen hinunterlief, ließ ihm dieses Weibs- stück keine Ruhe. Am liebsten hätte er laut gelacht, er würde schon später mit ihr fertig werden, wie mit den anderen, und sie würde ihn nicht mehr verar- schen können. Als er aber in seinem Büro ankam, wartete dort Rafael auf ihn:

»Sag mal, du warst doch nicht bei diesem Haas- Weib?«

»Ja, und du glaubst es nicht, die alte deut- sche Kuh wollte mich verarschen, sie sei Titos Schwiegermutter!«

»Du Blödmann! Sie hat dich nicht verarscht! Die Haas ist zwar eine , sie ist aber auch die Mut- ter von Herta Haas. Ihre Tochter, also diese Herta, war vor und nach dem Krieg eine Parteifunktionärin Ausgabe 8 • 2020 WERKE 45

ZEUGNISSE DES TERRORS Eine Sammlung bisher geheimer Akten dokumentiert die »deutsche Operation« in der Sowjetukraine

Mit dem Befehl Nr. 00439 des Innenmi- Erarbeitung der Aktensammlung war nisteriums der UdSSR (NKWD) begann auch das Institut der Geschichte der am 25. Juli 1937 die »deutsche Opera- Ukraine der Nationalen Akademie der tion« in der Sowjetukraine. Sie war Teil Wissenschaften der Ukraine beteiligt. einer Verfolgungskampagne gegen Nachdem das GDA SBU bereits als unzuverlässig geltende Gruppen Dokumente zu den umfangreichsten und mutmaßliche Gegner der stalinis- Massenoperationen des NKWD – der tischen Herrschaft, die als »Großer Ter- »Kulakenoperation« und der »polni- ror« in die Geschichte einging. Mit dem schen Operation« – veröffentlicht hat, Befehl Nr. 00439 zielte das Regime vor bietet die neu vorgelegte Dokumen- allem auf ehemalige oder derzeitige tensammlung weitere Möglichkeiten reichsdeutsche Staatsangehörige, die zur Erforschung der repressiven Tätig- in Rüstungsbetrieben oder -abteilun- keit kommunistischer Sicherheits- gen, in der Energiewirtschaft oder im dienste in der Sowjetukraine während Transportwesen arbeiteten. Dabei wur- des »Großen Terrors«. den vom NKWD auch ihre Kontakte zum weiteren Personenkreis erfasst, etwa zu Dank des internationalen Charak- Der 1 248 Seiten starke Band kann zum Preis Arbeitskollegen, Verwandten, Bekann- ters des Editionsprojekts konnten von 43 € über das IKGN bezogen werden. ten oder Nachbarn. Durch die Auswei- zum ersten Mal in einer Publikation zur tung der Operation, deren Ergebnisse Geschichte der »deutschen Operation« Schriftstücke der deutschen diploma- ursprünglich bis zum 22. August 1937 auch einschlägige Dokumente deut- tischen Vertretungen in der UdSSR. hatten vorliegen sollen, vergrößerte scher Provenienz veröffentlicht werden. sich die Anzahl der Opfer deutlich. Sie Dabei handelt es sich um Archivalien Die mehrjährige Zusammenarbeit waren Repressalien ausgesetzt – von aus dem Politischen Archiv des Aus- zwischen dem GDA SBU und dem Verhaftung über Verbannung bis hin wärtigen Amtes der Bundesrepublik Nordost-Institut hat sich trotz zeitwei- zur Todesstrafe. Die »deutsche Ope- Deutschland. lig dramatischer politischer Ereignisse ration« nahm schnell Massencharak- Insgesamt umfasst die Edition in der Ukraine als bemerkenswert sta- ter an. Schließlich forderte sie rund 258 Dokumente aus dem Zeitraum bil erwiesen. Besonders förderlich für 55 000 Opfer – sowohl Sowjet- als auch zwischen 1934 und 1991. Der weit- die Auswertung der Archivbestände Reichsdeutsche. aus größte Teil von ihnen sind Doku- war das im April 2015 in Kraft getretene mente des NKWD der UdSSR und des ukrainische Gesetz »Über den Zugang Im Sommer 2018 ist in der ukraini- NKWD der Ukrainischen SSR – zum zu Archiven der repressiven Organe des schen Hauptstadt Kiew eine Dokumen- einen normativ-rechtliche Akten wie totalitären kommunistischen Regimes tensammlung unter dem Titel »Vely- Anordnungen, schriftliche Berichte, der Jahre 1917–1991.« Die Öffnung der kyj Teror« v Ukraïni: Nimec’ka Direktiven oder Rundschrei- Archive des ehemaligen KGB ermög- operacija 1937–1938 rokiv ben, zum anderen Prozess- licht es, alle erhalten gebliebenen [»Der ›Große Terror‹ in der dokumente der NKWD- und Dokumente der repressiven Organe der Ukraine: Die deutsche Ope- der Gerichtsorgane, beispiels- UdSSR für die Wissenschaft zugänglich ration 1937–1938«] erschie- weise Untersuchungsakten, zu machen. nen. Diese wissenschaftli- Buchpräsentation am Anklageschriften, Urteile Eine Veröffentlichung der deutsch- che Edition ist das Ergebnis 23.10.2018 in Kiew oder Vollzugsmeldungen. Die sprachigen Auflage des Aktenbands einer mehrjährigen Kooperation zwi- nächste Gruppe bilden Informations-, ist für das Jahr 2020 geplant. schen dem Staatlichen Behördenar- Auskunfts- und Berichtsdokumente des Zusammengestellt chiv des Staatssicherheitsdienstes der Innenministeriums und seiner Organe von Dmytro Myeshkov Ukraine (im Weiteren: GDA SBU) und vor Ort wie Sondermeldungen, opera- Dr. Dmytro Myeshkov ist wissenschaftlicher Mit- dem Institut für Kultur und Geschichte tive Zusammenfassungen oder Rechen- arbeiter am Institut für Kultur und Geschichte der der Deutschen in Nordosteuropa e.V. schaftsberichte. Schließlich enthält die Deutschen in Nordosteuropa (IKGN)/Nordost-In- (Nordost-Institut) in Lüneburg. An der Dokumentensammlung auch einige stitut in Lüneburg (ž S. 56–58). 46 NDRIN E U T N T

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AMBITIONIERTE BRÜCKENBAUER R Die Bundesregierung unterstützt und fördert deutsche Minderheiten im östlichen Europa

In Mittel-, Ost- und Südosteuropa, im Baltikum, der Ukraine Die Bundesregierung fühlt sich daher diesen Menschen und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion leben noch besonders verpflichtet, sie bei der Bewältigung ihres beson- mehr als eine Million Menschen deutscher Abstammung. deren Kriegsfolgenschicksals zu unterstützen. Nach dem Fall Sie sind aufgrund unterschiedlicher Ereignisse im Laufe der des Eisernen Vorhangs hat sich die Situation der meisten Jahrhunderte in ihre jetzigen Siedlungsgebiete gekommen. deutschen Minderheiten verbessert. Eine Vielzahl der Länder, In 22 Staaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, im Baltikum, in denen deutsche Minderheiten leben, haben in der Folge- der Ukraine und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zeit die Regelungen des Europarates zum Schutz der Minder- leben Nachkommen dieser Siedler, die sich bis heute zu ihrer heiten – das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler deutschen Herkunft bekennen. Schwerpunkte deutscher Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheiten finden sich in der Russischen Föderation mit Minderheitensprache – ratifiziert. Die Bundesregierung hat 400 000, in Kasachstan und Ungarn mit jeweils über 180 000 mit vielen der Herkunftsländer darüber hinaus bilaterale und in Polen mit knapp 150 000 Angehörigen. Es folgen Verträge zum Schutz der deutschen Minderheiten abge- Rumänien mit 38 000, die Ukraine mit 33 000 und Tsche- schlossen. Sie konnte außerdem seit 1989/1990 durch ver- chien mit rund 18 000 Menschen deutscher Abstammung. schiedene Fördermaßnahmen die Heimatverbliebenen vor Kleinere deutsche Gemeinschaften von hundert bis einigen Ort unterstützen. tausend Menschen leben noch in Aserbaidschan, Belarus, Zu Beginn der Förderung lag ein besonderer Schwerpunkt Estland, Georgien, Kirgistan, Lettland, Litauen, Moldau, Tad- auf humanitären Hilfen und Wirtschaftshilfen. Mittlerweile schikistan, Turkmenistan, Usbekistan, Kroatien, Serbien, in geht es nicht mehr ausschließlich um Erleichterungen für der Slowakei und in Slowenien. die Erlebnisgeneration, sondern um die Verbesserung der Lebens- und Zukunftsperspektiven sowie das Ergreifen iden- In unmittelbarer Folge des Zweiten Weltkriegs haben titätsstärkender Maßnahmen für die deutschen Minderhei- viele dieser Deutschen unter schwerwiegenden Repressio- ten in ihren Herkunftsländern. Ein besonderes Augenmerk nen aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit gelitten. Sie mussten liegt dabei auf dem Erhalt der deutschen Sprache und der Vertreibung, Unterdrückung, staatliche Zwangsassimilation, Jugendarbeit, aber auch auf dem Aufbau gut funktionieren- Umsiedlungen, Internierung in Arbeitslagern, Sprachver- der und zukunftsfähiger Selbstverwaltungen. bote, Einschränkungen in der Ausübung des Berufs sowie Anfeindungen im Alltag über Jahrzehnte ertragen. Dennoch Die deutschen Minderheiten haben sich im Laufe der haben sich die deutschen Minderheiten – oft im Geheimen letzten drei Jahrzehnte als wertvolle Bindeglieder zwischen und trotz der Gefahr von Strafverfolgung bei Bekanntwer- ihren Herkunftsländern und Deutschland erwiesen. Bereits den – nach Kräften bemüht, ihre ethnokulturelle Identität 1995 hat der Deutsche Bundestag die Brückenfunktion der und Sprache, ihre Gebräuche, ihr Kulturgut, ihre Lieder und in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, im Baltikum, der Ukraine Gedichte sowie oft auch ihren von der Mehrheitsbevölke- und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion lebenden rung abweichenden christlichen Glauben zu erhalten.

Bernd Fabritius bei der staatlichen Gedenkfeier zur Vertreibung und Verschleppung der Ungarndeutschen in Maan/Mány (Ungarn), Januar 2020, © BMI Ausgabe 8 • 2020 SZENE 47

Deutschen hervorgehoben, die sich positiv auf die Bezie- Ein wichtiges Mittel zum Brückenbau ist die Kontaktpflege hung Deutschlands zu diesen Ländern auswirkt. der deutschen Minderheiten untereinander oder zu den in Die deutschen Minderheiten leben vor dem Hintergrund Deutschland ansässigen Landsmannschaften. Die Bundesre- des eigenen Schicksals und der historischen Erfahrungen gierung fördert daher Partnerschaftsmaßnahmen, d. h. zivil- im Bewusstsein, dass Frieden und Freiheit besonders kost- gesellschaftliche Kontakte auf kultureller, wirtschaftlicher, bar und erhaltenswert sind. Entsprechend schätzen sie in wissenschaftlicher und sozialer Ebene. Dies sind grenzüber- europäischen Herkunftsländern die Einbettung in Europa als schreitende Maßnahmen, bei denen die deutsche Sprache besonderen Garant für den Erhalt dieser Güter. Für sie ist die als Bindeglied gilt. Gründung Europas nicht nur als Wirtschafts-, sondern auch als Wertegemeinschaft ein Beitrag zur Verständigung und Ein weiteres Feld, das zur Völkerverständigung und zu Versöhnung der Völker und eine Garantie für friedliches und einem tieferen Verständnis der anderen Nation beiträgt, vertrauensvolles Zusammenleben. Zu dieser Wertegemein- sind die Jugendtreffen und Schüleraustausche, die mit schaft gehören die Achtung der Menschenrechte, Wahrung Hilfe der Minderheiten und Landsmannschaften organi- des Friedens, Solidarität und freundschaftliches Miteinander. siert werden. Sie ermöglichen jungen Menschen, einen Entsprechend dieser Erkenntnisse sind die Angehörigen Einblick in das Leben, die Kultur und Sprache des Gastlands deutscher Minderheiten überzeugte Botschafter für den und damit Kenntnisse über und Verständnis für Menschen Europäischen Zusammenhalt. Die gleichen Grundüberzeu- außerhalb der eigenen Nation zu erlangen und grenzüber- gungen lassen sich aber auch auf die deutschen Minder- schreitende Freundschaften zu schließen. Welche Investition heiten übertragen, die in Herkunftsländern außerhalb der kann zukunftsträchtiger und gewinnbringender für den Europäischen Union leben. Allen ist der tief verwurzelte Frieden sein als die internationale Jugendarbeit? Wunsch nach Frieden und Völkerverständigung zu eigen, In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass die Bemühungen der der sie zu ambitionierten Brückenbauern macht. Bundesregierung für die deutschen Minderheiten auch in der Zukunft Früchte tragen und die Herkunftsstaaten die eingegan- Zum Brückenbau bringen sie besondere Qualifikationen genen Verpflichtungen des Minderheitenschutzes als Chance durch ihre Kenntnisse der Kultur und Sprache zweier Länder begreifen, über die Brücke der deutschen Minderheiten eine mit. Angehörige deutscher Minderheiten kennen die Kultur dauerhafte enge Freundschaft mit Deutschland zu pflegen. ihres Herkunftslands und die deutsche Kultur und beherr- Bernd Fabritius schen – sofern sie nicht durch historische Verbote gehindert wurden – zwei Sprachen. Sie sind in ihren Gesellschaften Prof. Dr. Bernd Fabritius wurde 1965 im gut integriert und bringen sich in deren wirtschaftliches, siebenbürgischen Agnetheln/Agnita gesellschaftliches, kulturelles und politisches Leben über geboren und siedelte 1984 gemein- ihre Dachverbände aktiv ein. Dabei bedeutsam ist, dass sie sam mit Eltern und Geschwistern gelernt haben, sich zu integrieren, ohne sich zu assimilieren. in die Bundesrepublik Deutsch-

Sie leben folglich im Respekt für die Kultur der jeweiligen land aus. Er ist Präsident des Bun-

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B des der Vertriebenen und seit April Mehrheitsgesellschaft, ohne ihre eigenen deutschen Wur- © 2018 Beauftragter der Bundesregie- zeln aufzugeben. Viele dieser Menschen tragen sozusagen rung für Aussiedlerfragen und natio- »zwei Herzen in ihrer Brust«. nale Minderheiten.

Bernd Fabritius zu Gast beim Karpatendeutschen Verein in Kaschau/Košice (Slowakei), August 2019, © BMI NDRIN 48 E U T N T

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EINE UNERHÖRTE GESCHICHTE R Die Bernheim-Petition schützte bis 1937 die Juden in Oberschlesien – ein Museum erinnert daran

Die besondere Region Vertragsdauer von 15 Jahren, auf dem jeweiligen Teilgebiet »Ein Jude könnte Hitler behindern – Deutschland auf der der Region die Minderheitenrechte zu achten. »Alle deut- Anklagebank in Genf«, so lautete im Mai 1933 der Titel von schen Reichsangehörigen sind vor dem Gesetze gleich und einem unter vielen Artikeln in der internationalen Presse. Der genießen ohne Unterschied des Volkstums, der Sprache oder Jude, um den es ging, war Franz Bernheim, der kurz zuvor der Religion die gleichen bürgerlichen und staatsbürgerli- mithilfe von jüdischen Minderheitenrechtlern des Comité chen Rechte«, hieß es in Artikel 67 der Konvention. Dies galt des Délégations Juives (Komitee der jüdischen Delegatio- auch bei der »Zulassung zu öffentlichen Ämtern […] oder nen) beim Genfer Völkerbund Anklage gegen das Deutsche der Ausübung der verschiedenen Berufe oder Gewerbe« Reich eingereicht hatte. Grund für die Anklage war, dass der für »alle deutschen Reichsangehörigen, die zu einer […] damals 34-jährige Kaufhausangestellte am 31. März 1933 Minderheit« gehörten (Artikel 68). Diese Artikel wurden an von seinem Arbeitgeber, dem Kaufhaus DeFaKa (Deutsches anderer Stelle als »Grundgesetze« bezeichnet, zu denen Familien-Kaufhaus), zusammen mit zwei weiteren jüdischen »kein Gesetz, keine Verordnung und keine Amtshandlung Angestellten fristlos entlassen worden war. Das Geschäft im im Widerspruch« stehen könne. oberschlesischen Gleiwitz/Gliwice sei »judenfrei«, teilte die mehrere Filialen betreibende DeFaKa-GmbH, deren Haupt- Rassegesetze galten nicht in Oberschlesien anteil dem 1932 aus Deutschland emigrierten jüdischen Und in der Tat: Der Rat des Völkerbunds in Genf forderte Großunternehmer Jakob Michael gehörte, Ende März ihrer am 6. Juni 1933 das Deutsche Reich offiziell auf, die Miss- Kundschaft mit. Am 1. April fand ein reichsweiter Boykott von stände in Oberschlesien zu beheben und sich an den Ver- jüdischen Geschäften, aber auch von Ärzten und Rechtsan- trag mit Polen zu halten. Was aus der heutigen Perspektive wälten statt. Nur wenige Monate nach der Machtübernahme unglaublich erscheinen mag: Bis zum 15. Juli 1937, als der durch die NSDAP erlebten Zehntausende Jüdinnen und deutsch-polnische Vertrag auslief, griffen die antisemitischen Juden so eine staatlich verordnete Diskriminierung. Doch Gesetze in der Region nicht. Auch die berüchtigten »Nürn- dass nur Bernheims Klage Erfolg beschieden sein sollte, berger Rassengesetze« von 1935 wurden in Oberschlesien hatte einen besonderen Grund: Er lebte in Oberschlesien. nicht umgesetzt. Etwa 10 000 Juden lebten im Jahr 1933 auf Denn die Region war nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Gebiet, sie gründeten nach dem Genfer Votum einen den schlesischen Aufständen und der Volksabstimmung von Verband, um als nun anerkannte Minderheit die Durchset- 1921 zwischen Polen und Deutschland aufgeteilt worden. zung des Genfer Beschlusses zu überwachen. Bis 1937 konn- Das Deutsche Reich schloss dann im Jahr 1922 mit der ten rund 150 jüdische Klagen vor dem Minderheitenamt 1918 neu ausgerufenen Republik Polen das unter Aufsicht in Oppeln meist gütlich beigelegt werden. »In einem Teil des Genfer Völkerbunds stehende »Abkommen über Ober- des Reiches, wenngleich an der Peripherie, nur für wenige schlesien«. Darin verpflichteten sich beide Staaten für eine Jahre und unter Zuhilfenahme international garantierter Gesetzgebung, konnte für vier Jahre eine Art ›alter Zeit‹ der Pressebericht über die Beratungen der Vereinten Nationen zur Weimarer Republik bewahrt werden«, schreibt der Histori- Bernheim-Petition in der Gleiwitzer Zeitung Der Oberschlesische ker Philipp Graf in seinem Buch Die Bernheim-Petition 1933. Wanderer vom 27./28. Mai 1933, © Museum Gleiwitz/Gliwice Bernheim, der inzwischen in Prag wohnte und noch vor Ausbruch des Krieges in die USA emigrierte, erhielt sogar eine finanzielle Entschädigung. Es sei ein »Sieg Davids gegen Goliath« gewesen, ein »Akt des Widerstandes, an den die Erinnerung wachgehalten werden sollte«, schreibt der pol- nische Historiker Leszek Jodliński. Dies gelte auch, weil der Fall die »erzwungene Heraustrennung der Gemeinschaft oberschlesischer Juden aus der deutschen Identität« sym- bolisiere, so Jodliński. Diese Erfahrung der Trennung sollte sich indes noch tra- gisch verschlimmern. Denn nach Auslaufen der Konvention galten ab dem 15. Juli 1937 die antisemitischen Gesetze auch in Oberschlesien. Viele oberschlesische Juden emigrierten, im Mai 1939 lebten nur noch knapp 5 000 von ihnen in der Region. Während des Zweiten Weltkriegs wurde ein Großteil all jener, die geblieben waren, im KZ Auschwitz-Birkenau und anderen Lagern ermordet.

Erinnerung in Gleiwitz Die Geschichte der Bernheim-Petition ist sowohl in Deutsch- land als auch in Polen nur wenig bekannt. Auch in einschlä- gigen geschichtlichen Werken wird sie nur als Randnotiz oder gar nicht erwähnt. Herausgehoben wird die Geschichte Das ehemalige DeFaKa (Deutsches Familien-Kaufhaus) in Gleiwitz/ des 1990 in New York verstorbenen Bernheim indes in der Gliwice heute, © Jan Opielka Stadt, in der seine Petition ihren Ausgang nahm. Seit vier Jahren erzählt das Haus der Erinnerung an die Juden Ober- schlesiens (Dom Pamięci Żydów Górnośląskich) in Gleiwitz die mehrere Jahrhunderte umfassende Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in der Region. Ende 2018 öffnete die Gedenkstätte als Zweigstelle des Stadtmuseums eine imposante Dauerausstellung, in der auch die Bernheim- Petition im breiten Kontext erörtert wird. Das Haus orga- nisiert regelmäßige Vorträge, gibt Publikationen heraus, organisiert Bildungsworkshops für Jugendliche und emp- fängt Besucher vor allem aus Polen, Deutschland und Israel. »Wir wollen, dass noch mehr Menschen, die das ehemalige Vernichtungslager Auschwitz besuchen, zu uns kommen«, sagt Ausstellungskuratorin Bożena Kubit. Viele Besucher, so die Ethnografin, wollen das Land jenseits des Traumas kennenlernen, mit dem sie im siebzig Kilometer entfernten Auschwitz-Museum konfrontiert würden. Auch die Gleiwitzer Ausstellung zeigt die Shoa und den Tod der oberschlesischen Juden. Doch insgesamt dominiert Das Haus der Erinnerung an die Juden Oberschlesiens ist in der auf- das jüdische Leben in seiner einstigen Vielfalt. Dazu gehört wendig restaurierten ehemaligen jüdischen Begräbnishalle unter- gebracht, die 1902/1903 nach einem Entwurf des Wiener Architekten die Geschichte des Kaufmanns Franz Bernheim, dessen Peti- Max Fleischer erbaut wurde. © Museum Gleiwitz/Gliwice tion eine Lehre auch für die Gegenwart ist. »Die Geschichte der Menschheit enthält viele Gesten der Hoffnung, der Ver- Blick in die Dauerausstellung des Hauses der Erinnerung an die Juden zweiflung, des Triumphes«, schreibt der Historiker Leszek Oberschlesiens, © Museum Gleiwitz/Gliwice Jodliński. »Die Petition indes lehrt uns, dass die Ideologie des Hasses nicht akzeptiert werden kann und soll.« Jan Opielka

Jan Opielka schreibt als freier Publizist für deutsche und polnische Medien zu den Themenschwerpunkten Politik, Gesellschaft, Kultur, Glaube und Phi- losophie. Er lebt in Gleiwitz/Gliwice.

: Website der Stadt Gleiwitz/Gliwice mit deutschsprachigen Hin- weisen zum Haus der Erinnerung an die Juden Oberschlesiens: http://bit.ly/gedenkstaette_gliwice Infoportal des Gleiwitzer Museums Schatzkiste des Wissens, auch auf Deutsch: skarbnica.muzeum.gliwice.pl/?lang=de 50 NDRIN E U T N T

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E DREI COUSINS R Wie sich eine russlanddeutsche Familie zwischen Ludwigsburg und Omsk wiederfand

Vor uns erstreckt sich die schier endlose Weite der westsibiri- schen Waldsteppe, nur ab und an von inselförmigen Birken- wäldern durchbrochen. Das Tauwasser ist nach dem langen Winter endlich versickert und die Sonne wärmt den von Ris- sen durchzogenen Asphalt. Geschickt manövriert der Taxi- fahrer seinen Lada zwischen den Schlaglöchern hindurch. Die Quaste am Rückspiegel baumelt dabei heftig hin und her. Aus dem Autoradio tönt die russische Rockband Ljube. Irgendwann taucht das Ortsschild »Alexandrowka« auf. Wir biegen in die Dorfstraße ein. Bunte Holzhäuser reihen sich hier ordentlich aneinander, dazwischen ein Tante-Emma- Laden. »Na, kånn mer uff Russisch, kånn mer uff Deitsch«, sagt Verkäuferin Tatjana auf meine Frage, in welcher Spra- che sie sich unterhalten will. »Åwa Hochdeitsch vasteh i nur, wenn Se långsåm verzähle!«

Wir befinden uns 85 Kilometer südwestlich der Millio- Wiedervereint: Nikolaj Luft, Alexander Lohrey und Peter Luft nenstadt Omsk. Hier hatten sich im 19. Jahrhundert wol- (v. l. n. r.) mit Magdalena Sturm im April 2019, © Peter Luft gadeutsche Kolonisten angesiedelt und mehrere Dörfer gegründet. 28 Dörfer wurden 1992 zu dem autonomen Sibirien. Muttersprachliche Lehrer geben Deutschunter- Verwaltungsgebiet »Deutscher Nationalkreis Asowo« richt, deutsche Journalisten schreiben für die Regionalzei- zusammengefasst. Mit finanziellen Mitteln aus Deutsch- tungen. Auch mich hat diese Mission nach Omsk geführt. land baute man die Infrastruktur aus. Obwohl die Dörfer Als ifa-Redakteurin unterstützte ich das Journal vitamin de heute russische Namen tragen und viele in die »alte Hei- für junge Deutschlerner und das Regionalblatt Ihre Zeitung mat« ausgewandert sind – »vo uns’re sin scho ned viel in Asowo. Im Kultur- und Geschäftszentrum Deutsch-Russi- gebliewe« –, findet man es noch: das deutsche Leben in sches Haus bot ich für Kinder und Jugendliche Workshops

Das westsibirische Dorf Alexandrowka im Sommer 2016, © Magdalena Sturm an. Und ich begann, Geschichten aus den deutschen Dör- fern Sibiriens zu sammeln. So auch jene von Peter Luft.

Peter Luft – Jahrgang 1955, kurzes, weißes Haar, Schnurr- bart – wohnt in Ludwigsburg. Er war noch nie in Russland, hat sich aber intensiv mit seiner Familiengeschichte ausein- andergesetzt. »Mein Großvater Adam war Wolgadeutscher«, erzählt er. »Er kam 1884 im Dorf Jagodnaja Poljana bei Sara- tow zur Welt und hatte drei Kinder: Anna Elisabeth, Alexan- der und Peter, mein Vater.« In den 1920er Jahren wurde die Familie zusammen mit anderen Deutschen nach Sibirien verbracht. Dort gründeten sie das Dorf Nowo Jagodnaja, heute Swjatogorsk. Adam Luft wurde Vorsteher der örtlichen Kolchose. Mitte der 1930er Jahre wollte er für seine Arbeiter Walenki (Filzstiefel) besorgen. »Weil kein Geld da war«, erklärt Peter Luft, »bezahlte er mit Getreide aus der Kolchose.« Adam Luft wurde an die Behörden verraten, der Veruntreuung beschuldigt und später vermutlich erschossen. Peter Lufts Vater fiel während des Krieges in die Hände der deutschen Wehrmacht und arbeitete für sie als Dolmet- scher. Nach dem Krieg kam er nach Deutschland. Peter Lufts Alexander Luft mit Familie, vorn links Cousin Nikolaj, um 1950 Tante Anna Elisabeth Lohrey wanderte erst in den 1980er Foto: privat Jahren mit ihrer Familie aus. »Sie hatte ihren Bruder, meinen Vater, 52 Jahre nicht gesehen«, erinnert sich Peter Luft an die bewegende Begegnung. »Eine Weile gab es noch einen Die deutschen Minderheiten im Ausland spiegeln ein Stück euro- Briefwechsel zwischen Deutschland und Sibirien«, sagt er. Da päischer Identität: in Vielfalt friedlich zusammenleben, aktive Mehr- aber Kontakte ins Ausland während der Sowjetzeit gefährlich sprachigkeit, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und ein hohes gewesen seien, habe man sich über die Jahrzehnte verloren. Engagement für eine demokratische und tolerante Zivilgesellschaft. Der Bereich Integration und Medien des ifa (Institut für Auslandsbe- Gemeinsam machten wir uns auf Spurensuche, durch- ziehungen) fördert mit Mitteln des Auswärtigen Amtes diese positive Rolle der Minderheiten. So werden aktuell 19 Kulturmanager und suchten Listen, lasen in Foren – und dann ging plötzlich Redakteure aus Deutschland in Organisationen, Verbänden, Redak- alles sehr schnell: In einem Forum für Wolgadeutsche suchte tionen der deutschen Minderheiten im östlichen Europa und in die eine gewisse Ljudmila Wlasowa aus Krasnojarsk nach den Staaten der GUS entsandt. Sie unterstützen die Kultur-, Jugend-, Verwandten ihres Mannes Nikolaj Luft, geboren 1948. Niko- Medien- und Bildungsarbeit der Organisationen vor Ort und berei- laj stellte sich als Cousin Peter Lufts heraus. Und im April chern sie mit neuen Ideen, fördern den interethnischen Dialog und 2019 saßen wir in einem Café in der Leninstraße in Omsk an sprechen insbesondere die jüngere Generation an. einem Tisch: Peter Luft, der in Deutschland geboren wurde. Darüber hinaus initiiert und fördert das ifa innovative Projekte zu Alexander Lohrey, der als Jugendlicher von Russland nach den Schwerpunkten Jugend und Medien und setzt sie in Koopera- tion mit den Partnern vor Ort um. Dazu gehören Sommercamps, Deutschland ausgewandert war. Nikolaj Luft, der in Russland Jugendkonferenzen, Kinderspielstädte, Kinderuniversitäten oder geblieben war. Und ich, die nach Russland gekommen war. Social-Media-Plattform. Ein Beispiel für ein Impulsprojekt in diesem In welcher Sprache wir uns unterhielten? Na, so wie es in Bereich ist die Social-Media-Plattform Mind_Netz. Seit 2016 bietet den deutschen Dörfern Sibiriens gang und gäbe ist: »Holbe sie einen authentischen Einblick in die Länder des östlichen Europa Russisch, holbe Deitsch. Omal so, omal so.« und zeigt die Vielfalt des Lebens der deutschen Minderheiten. Die Magdalena Sturm Mind_Netz-Redaktion scannt täglich über vierzig Websites von Zei- tungen, Magazinen, Radio- und Fernsehsendungen der deutschen Magdalena Sturm war von 2015 bis 2019 als Redakteurin des ifa (Institut Minderheiten aus Mittelosteuropa, Russland und Zentralasien. Sie für Auslandsbeziehungen) in Omsk (Russland) tätig. Heute lebt sie in Wien. wählt Beiträge aus und verbreitet sie dort, wo junge Menschen sie leicht finden: auf Facebook, Instagram, Twitter und VKontakte. & Russlanddeutsche. Im Gespräch mit ifa-Redakteurin Mag- Karoline Gil, Bereichsleiterin des ifa für Integration und Medien dalena Sturm. Stuttgart: Institut für Auslandsbeziehungen, 2019, 53 S., ISBN 978-3-948205-08-9, Gratisdownload über publikationen.ifa.de 52 NDRIN E U T N T

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SCHULEN OHNE PAUSENKLINGEL N D S E

Die Angebote von Pro Liberis Silesiae richten sich nicht nur an die deutsche Minderheit R

Vor mehr als zwanzig Jahren fanden im HAUS SCHLESIEN Muttersprachler, Lehrende und Freiwillige aus Deutschland. in Königswinter die ersten Begegnungen mit Studierenden Einsatzmöglichkeiten der erlernten Sprache bieten Ausflüge schlesischer Universitäten statt. Unter ihnen waren Mitglieder nach Deutschland und der Austausch mit befreundeten des Lehrerkollegs Oppeln/Opole, die begeistert an den Semi- Schulen aus dem deutschsprachigen Raum. Die Eltern, die naren teilnahmen und zudem erste Einblicke in reformpäda- ihre Kinder zweisprachig erziehen, und Familien, die aus gogische Einrichtungen in Bonn und Umgebung bekamen. Deutschland nach Polen zurückgekehrt sind, wissen diese Die Idee entstand, eine Schule zu gründen, die das Kind im Einrichtungen besonders zu schätzen. Zentrum sieht und zugleich die regionale Spezifik, Geschichte Die Schulen des Vereins waren sowohl von der Verab- und Kultur Schlesiens vermittelt. Viele der damaligen Stu- schiedung des neuen Schulsystems 2017 durch das polni- dierenden arbeiten heute im Verein Pro Liberis Silesiae mit. sche Parlament betroffen als auch durch die Verordnung des »Wir haben die Wichtigkeit der Bildung nicht nur auf der polnischen Bildungsministeriums im August 2019, die für sprachlichen deutsch-polnischen Ebene erkannt. Gute Bil- alle Schulen eine erhebliche Erhöhung der Lehrergehälter dung, die die Kinder der deutschen Minderheit wie auch bestimmte, ohne dabei eine Erhöhung der Bildungssubven- der polnischen Mehrheit in Oberschlesien zu mündigen tionen für Vereinsschulen vorzusehen. In Raschau konnte Bürgern erzieht, ist in der heutigen so komplizierten Welt man die zwingend erforderlichen Investitionen dank der von enormer Bedeutung,« schätzt Dr. Margarethe Wysdak Unterstützung aus Deutschland und Österreich stemmen. ein. Sie gab 2008 den Impuls zur Gründung des Vereins Pro Am schwierigsten ist derzeit die Lage am Standort Oppeln, Liberis Silesiae (»Für die Kinder Schlesiens«), der inzwischen dessen Existenz bedroht ist. Träger von drei Schulen und drei Kindergärten ist. Trotz aller Probleme macht der Verein weiter Angebote Ohne Pausenklingel, Hausaufgaben und Noten – so lernen von regionaler und überregionaler Bedeutung. Fest in der die Kinder in Oppeln, Goslawitz/Gosławice und Raschau/ Kultur- und Bildungslandschaft verankert sind der Theater- Raszowa. Statt von der Tafel abzuschreiben, arbeiten sie wettbewerb in deutscher Sprache für die Schulen der Region am Montessori-Material zu grundlegenden Arbeitsberei- und die internationale Kinderspielstadt (mehr dazu auf S. 3), chen von Fremdsprachen bis hin zu Mathematik und Bio- außerdem werden Liederwettbewerbe in deutscher Spra- logie. Die Montessori-Pädagogik basiert auf eigenständiger che, ein Kunstfestival und ein Theaterfestival veranstaltet. Wissensaneignung des Kindes, das die Welt kennenlernen Welche Perspektiven man der jungen Generation eröffnet, will. Sie geht davon aus, dass das Kind am effektivsten lernt, welche Bildungsinhalte und Werte ihr vermittelt werden, wenn es sich mit Dingen beschäftigt, die es faszinieren, oder entscheidet darüber, wie die Gesellschaft morgen aussehen wenn es seiner eigenen Meinung Ausdruck verleihen kann wird. »Hilf mir, es selbst zu tun«, forderte Maria Montessori und selbstständig nach Antworten sucht. Die Montessori- einst. Das bedeutet für die Pädagoginnen und Pädagogen Methode erzielt große Erfolge: Seit Jahren liegen die Ergeb- des Vereins Pro Liberis Silesiae, die Schulen und Kindergärten nisse der externen Prüfungen im überdurchschnittlichen als »Orte des Lernens und Weltentdeckens« zu gestalten. Bereich, die Absolventen finden für ihren weiteren Bildungs- Margarethe Wysdak weg Plätze an ihren Wunschschulen. unter Mitarbeit von Nicola Remig

Dr. Margarethe Wysdak ist Vorsitzende des Vereins Pro Liberis Silesiae, Nicola Zweisprachigkeit als Faktor regionaler Identität Remig ist Leiterin des Dokumentations- und Informationszentrums von In den Kindergärten von Pro Liberis Silesiae sind schon die HAUS SCHLESIEN in Königswinter (ž S. 56–58). Jüngsten bei sämtlichen Aktivitäten von deutscher und pol- : Pro Liberis Silesiae online: nischer Sprache umgeben. Den Deutschunterricht in den http://www.edukacja-raszowa.eu/ Schulen unterstützen deutsche Muttersprachlerinnen und http://www.edukacja-goslawice.eu/ http://www.montessori-opole.eu/

Sie mögen es bunt: Teilnehmerinnen an der 2019er Kinderspielstadt in Raschau/Raszowa, © Pro Liberis Silesiae NDRIN E U T N T

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Der Museumshof in Klucken/Kluki beantwortet diese Frage heute ideologiefrei R

Wer lebte in Klucken/Kluki und in anderen pommerschen August 1971 bis Dezember 1972 verließen 81 Personen das Dörfern an der Küste zwischen Lupow/Łupawa und Leba/ Land, 1975 waren es 36 Personen. Łeba, am Ufer des Gardersees und des Lebasees? Der Streit Der Slowinzische Museumshof stand nun inmitten eines um den Namen dieser Gruppe wird seit 150 Jahren geführt. verlassenen Dorfes. Es fehlten die Nachkommen derjeni- Für sie übersetzte Pastor Pontanus 1643 Luthers Katechismus gen Menschen, für die der Hof ein Denkmal sein sollte. Die ins »Vandalische« oder »Slowinzische«. Mitte des 19. Jahr- Behörden beschlossen, die verlassenen Gehöfte abtragen zu hunderts setzte sich für die ursprünglich slawischsprachige lassen. Als immer mehr Gebäude abgerissen wurden, spür- Gruppe der Name »Slowinzen« durch. [Anm. d. Red.: Von ten die Ethnografen des nahegelegenen Museums in Stolp/ den verwandten Kaschuben unterschied die Slowinzen vor Słupsk, dass sie schnell handeln müssen, bevor ein Stück allem ihre Konfession: Sie waren evangelisch und damit dem der Geschichte dieses Landstrichs spurlos verschwindet. deutschen Einfluss deutlich stärker ausgesetzt als die katho- Es gelang ihnen, ein Dutzend in lokaler Bauweise errichte- lischen Kaschuben.] Die letzte slowinzische Predigt wurde ter Häuser zu retten, die bis heute zusammen das Museum 1886 gehalten. Schule, Kirche und Verwaltung propagierten des Slowinzischen Dorfes bilden. Die Anlage wurde in den die deutsche Sprache, immer mehr Jugendliche sprachen darauffolgenden zwei Jahrzehnten stetig erweitert, wuchs nur noch deutsch. Nach dem Ersten Weltkrieg verblassten in und gedieh. Nur die Einwohner waren nicht mehr da. kurzer Zeit die kulturelle Identität, die Sprache und schließ- lich das ethnische Bewusstsein. Mitte des 20. Jahrhunderts Ende der 1990er Jahre durften wir, die Mitarbeiterinnen wurden nur noch einzelne Splitter von Brauchtum und Glau- und Mitarbeiter des Museums, endlich alle Ideologien hin- benspraxis gepflegt. Sie waren die letzten Spuren der alten ter uns lassen und einfach von der örtlichen Bevölkerung slowinzischen Kultur – neben einigen Bezeichnungen für sprechen: von ihren slawischen Wurzeln und ihrer deutschen Speisen, Orte, Werkzeuge und Haushaltsgeräte. sowie pommerschen Identität. Von Menschen, die seit Jahr- hunderten an den großen Strandseen, unter unwirtlichen Die Idee zur Gründung des Museums des Slowinzischen natürlichen Gegebenheiten, überdauerten und so eine sehr Dorfes in Klucken (Muzeum Wsi Słowińskiej w Klukach) ent- geschlossene und einzigartige Gemeinschaft entwickel- stand 1958, in einer Zeit, als die deutsch-polnischen Bezie- ten. Unabhängig davon, ob wir sie Slowinzen, Kaschuben, hungen stark belastet waren. Auch die Situation der Men- Lebakaschuben nennen oder einen anderen Namen für sie schen vor Ort war schwierig. Die meisten Vorkriegsbewohner finden, waren sie einfach hier, bauten ihre Dörfer und begru- Kluckens waren ab 1947/48 vertrieben worden, nur eine ben auf dem Friedhof ihre Toten. Schon als sie in den Fokus Handvoll Einwohner verblieb im Dorf. Innerhalb von zwanzig der ethnografischen Forschung gerieten, betrachtete man Jahren sank die Bevölkerungszahl auf ein Viertel, so dass viele sie als »die letzten Slawen im südlichen Ostseeraum«. Die Höfe aufgelassen wurden. Das Land ging in Staatseigentum nächsten Forschergenerationen sicherten lediglich Über- über und lag brach. Der 1963 in Kluki eröffnete Museumshof reste ihrer Kultur. sollte die Slowinzen ermutigen, in Polen zu bleiben. Trotz Inzwischen konnten wir die letzten Jahre des slowin- der propagandistischen Zielsetzung war das Museum das zischen Dorflebens von Klucken erforschen. In unseren Werk von seriösen Forschenden und Freiwilligen, die davon Gesprächen mit den Nachkommen und dank ihrer Erinne- überzeugt waren, dass es sich unabhängig von der Politik rungen haben wir aus Bruchstücken den Alltag der 1930er lohnt, die Spuren der einzigartigen Kultur dieser Region zu Jahre rekonstruiert. Wir fertigten Kopien von Kleidungsstü- erhalten. Doch die Arbeit des Museumsteams stieß auf einen cken an, sammelten Rezepte, lernten, wie man Brot buk oder deutlichen Widerwillen in der örtlichen Bevölkerung. Neben dem Pferd »die Schuhe anzog«, wie man Torf stach und Seile der Schwierigkeit, geeignete Exponate für die Sammlung zu herstellte. Wir füllen das Museum mit Leben, um die ver- beschaffen, musste auch auf die ideologischen Vorgaben gangene Zeit zu bewahren – wenigstens in der Erinnerung. der Behörden Rücksicht genommen werden. Violetta Tkacz-Laskowska Aus dem Polnischen übersetzt von Gunter Dehnert und In den 1960er Jahren, als der Museumshof seinen Betrieb Dorota Makrutzki, gekürzt von der BLICKWECHSEL-Redaktion aufnahm, gab es bereits keine Slowinzen mehr vor Ort. Die- jenigen, denen der Hof Mut machen sollte, fühlten sich als Violetta Tkacz-Laskowska ist Kuratorin am Museum des Slowinzischen Dor- fes in Klucken (Muzeum Wsi Słowińskiej w Klukach). Dorota Makrutzki ist Deutsche und strebten die Ausreise an. Was ihnen viele Kulturreferentin für Pommern und Ostbrandenburg am Pommerschen Lan- Jahre verweigert wurde, war nach der Unterzeichnung des desmuseum in Greifswald ( S. 56–58), Gunter Dehnert ist dort als Histori- Warschauer Vertrages am 7. Dezember 1970 möglich: Von ker tätig. Hintergrundfoto: © Muzeum Wsi Słowińskiej w Klukach ND 54 E T

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EUROPÄISCHE VIELFALT AUF DEM SCHIRM I

Minet-TV bringt Minderheiten-Geschichten ins Fernsehen und ins Internet M

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Die TV-Sendung Minet – der zu machen. Minet schaute auch der Redaktion der E Name der Sendung setzt Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien über R sich aus den Anfangsbuch- die Schulter, lauschte einem Fußballtrainer der Gemeinde staben der Begriffe Min- Chronstau/Chrząstowice (in der Nähe der Stadt Oppeln/ derheiten und Netzwerk Opole) in Schlesien, der seinen Spielern seine Anweisungen zusammen – begann ihre zweisprachig mitteilt, ließ sich vom ehemaligen Präsiden- Tätigkeit im Jahr 2004. Sie ten der Slowakischen Republik Rudolf Schuster durch sein wird für die RAI (Radiotele- Museum führen – das in seinem Heimathaus in Metzensei- visione Italiana) in Südtirol/ fen/Medzev die Geschichte des slowakischen Dokumen- Italien produziert und vom tarfilms erzählt – oder fragte beim Deutschlehrer József Internetportal www.minet-tv.com flan- Balogh nach, wie sein Unterrichtsalltag im weltweit ein- kiert. Die Bandbreite der Themen reicht zigen Roma-Gymnasium abläuft – jener Schule, die 1992 von beinahe verschwundenen autochthonen Minderheiten von der Minderheit der Roma im ungarischen Fünfkirchen/ über neue Minderheiten in einer globalisierten Welt bis hin Pécs gegründet wurde. zu skurrilen Minderheiten, die diese dehnbare Begriffsdefini- Minet sucht und findet Minderheiten-Geschichten, tion bis dato auf sich selbst nicht einmal angewandt haben. macht auf sie aufmerksam und bringt die europäische Die Redakteurinnen und Redakteure von Minet besuch- Vielfalt – mit Fokus auf häufig medial vergessene Landstri- ten auch immer wieder Angehörige deutschsprachiger che und ihre Menschen – ins Fernsehen und ins Internet. Minderheiten im östlichen Europa – beispielsweise die Martin Hanni Turmwärter eines historischen Wasserturms im Städtchen Martin Hanni widmet sich als Filmemacher, Kulturpublizist und Hörspiel- Lyck/Ełk, um anhand ihrer Arbeit auf die Geschichte des autor den Themenschwerpunkten Minderheiten, Literatur und Geschichte. einstigen ostpreußischen Landstrichs Masuren aufmerksam : www.minet-tv.com

»IN BETWEEN?« Studierende erforschen Grenzregionen und begegnen Minderheiten

»Wenn ich zurückschaue auf unsere ›In Between‹-Erfahrung, Die Teilnehmenden zeichnen während einwöchiger Studi- kommt sie mir zweifach vor«, sagt Ivanka Pruchová, Studen- enbesuche in verschiedenen Regionen Europas Gespräche tin der Geschichte in Prag. Im Rahmen eines Projektes des mit Zeitzeugen auf und digitalisieren private Archive ihrer Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität (ENRS) Gesprächspartner. »Wir haben versucht, uns den Menschen, reiste sie als eine von sechs Studierenden in das deutsch- die wir trafen, emphatisch zuzuwenden. Wir haben unserer tschechisch-polnische Dreiländereck bei Reichenberg/Libe- Phantasie erlaubt, die ›weißen Flecken‹ auf unserer Land- rec. Die Gruppe traf Vertreter der deutschen Minderheit, karte des Verstehens zu akzeptieren. Wir haben gelernt, dass einen Vertreter der Jüdischen Gemeinde sowie Tschechen, jeder von uns selbst eine Geschichte in sich trägt, möge sie die nach dem Zweiten Weltkrieg in der vormals deutsch- ausgesprochen sein oder nicht«, erläutert Ivanka Pruchová sprachigen Region angesiedelt worden waren. ihre Erfahrung in der internationalen Gruppe. Das Projekt »In Between?« richtet sich an Studierende Aus jeder besuchten Grenzregion entsteht ein kurzer aller Fachrichtungen und fördert Forschungen zur Mikroge- Videofilm mit Auszügen aus den Interviews. Geplante Stu- schichte und Entdeckungen in europäischen Grenzregionen. dienreisen 2021 führen nach Komorn/Komarno/Komárom, Teschen/Cieszyn/Český Těšín, Golm bei Swinemünde/ Świnoujście und Walk/Valga/Valka. Annemarie Franke Dr. Annemarie Franke ist Projektmitarbeiterin des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) beim Europäi- schen Netzwerk Erinnerung und Solidarität (ENRS) in Warschau. : https://enrs.eu/inbetween

Fania Brancovskaja, Überlebende des Holocaust, erzählt im litauischen Ponary/Paneriai von ihrer Familie, die hier während des Zweiten Weltkriegs umgebracht wurde. Studienreise in die polnisch-litauische Grenzregion im Sommer 2017, Foto: Antonia Foldes, © ENRS DRIN U 55

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D FÜR DIE INTERESSEN DER MINDERHEITEN

A Der Dachverband FUEN und die AGDM stehen für Austausch und Zusammenarbeit

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D E In Europa und Zentralasien leben in mehr als zwanzig Minderheiten vor Ort und beschäftigen sich fortlaufend mit Ländern etwa 1,5 Millionen Angehörige der deutschen ihren Bildungskonzepten. Minderheit, die ihre Kultur, Tradition und Sprache in zahlrei- In Berlin hat die AGDM-Koordinierungsstelle ihren Sitz. Sie chen Verbänden pflegen. Viele von ihnen sind Mitglieder der vertritt auf politischer Ebene die Interessen der deutschen FUEN (Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten), Minderheiten und setzt sich für deren Sichtbarkeit sowohl des größten Dachverbands der autochthonen, nationalen in Deutschland als auch im Ausland ein. Darüber hinaus Minderheiten in Europa. 1991 wurde in Budapest die unterstützt sie die Belange und die Tätigkeit der einzelnen Arbeitsgemeinschaft Deutscher Min- deutschen Minderheit vor Ort im jeweili- derheiten (AGDM) unter dem gen Land und verbindet sie mit der Dach der FUEN gegründet, bundesdeutschen und europäi- die seitdem als Plattform schen Ebene. Dabei versteht sie für Zusammenarbeit alle sich als Schnittstelle für weitere aktiven Verbände der Partner aus dem Bereich der

deutschen Minderheiten n. Minderheiten- und Aussiedler- Te rli iln Be in West- und Ostmitteleuropa eh in politik, der kulturellen Vielfalt und me 19 nde r 20 der A embe sowie Zentralasien vereint. GDM-Jahrestagung im Nov der interkulturellen Verständigung. Die AGDM versteht sich als Solidar- Renata Trischler gemeinschaft. Regelmäßig treffen sich die Mitglieder bei Renata Trischler ist Koordinatorin der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Min- der AGDM-Jahrestagung, um sich untereinander sowie mit derheiten (AGDM) bei der Föderalistischen Union Europäischer Nationali- täten (FUEN). politischen Entscheidungsträgern in Deutschland auszu- tauschen. Die Vertreter der AGDM besuchen die deutschen : [email protected]

KULTURARBEIT SEIT 1989 Das Simon-Dach-Haus ist das Zentrum des deutschen Vereinslebens in Memel/Klaipėda

»Ännchen von Tharau ist, die mir gefällt; / Sie ist mein Leben, Auf Initiative des Vereins wurde 1992 die Hermann-Suder- mein Gut und mein Geld.« Das ursprünglich niederdeutsche mann-Schule eröffnet, die mittlerweile ein Gymnasium mit Lied über Anna Neander aus dem 17. Jahrhundert wird immer 560 Schülerinnen und Schülern ist und eine enge Verbin- wieder von deutschen Reisegruppen angestimmt, wenn sie dung zum Verein pflegt. In der Anfangsphase wur- sich auf dem Theaterplatz in Memel/Klaipėda versammeln. den hier Kinder deutscher Herkunft in ihrer Es stammt von Simon Dach, der hier geboren wurde und als Muttersprache unterrichtet. Heute erfüllt die Gerichtsdolmetscher wirkte. Den Namen des großen deut- Schule vor allem eine unterstützende Funk- schen Barockdichters trägt nur wenige Gehminuten vom The- tion, da durch den Generationenwechsel aterplatz das Haus des »Vereins der Deutschen in Klaipėda«. die kulturelle und sprachliche Verbun- Die Organisation der deutschen Minderheit in der litau- denheit mit Deutschland im Alltag der ischen Hafenstadt hat 300 Mitglieder und führt im Simon- Familien abgenommen hat. Dach-Haus verschiedene kulturelle Veranstaltungen sowie Markus Nowak Deutschkurse durch. Hier probt und konzertiert der Vereins- Markus Nowak ist Historiker, Journalist und chor, hier versammelt sich die Jugendgruppe, zudem gibt Redakteur bei der Kulturkorrespondenz es regelmäßig Vorträge zur Regionalkultur und -geschichte östliches Europa. sowie Freundschaftsabende mit Vertretern verschiedener : www.sdh.lt Nationalitäten. Im ehemaligen Memelland leben Schätzun- gen zufolge bis zu 5 000 Menschen deutscher Herkunft. »Wir Die Skulptur Abschied vor dem sehen uns als Ostpreußen«, sagt Klaus Peter Paul Grudzinskas Bahnhof von mit Stolz. Der Vorsitzende ist Jahrgang 1940 und berichtet, Memel/Klaipėda wie die Deutschen in Memel schon 1989 einen eigenen Ver- erinnert an die Vertreibungen ein gegründet haben – den ersten in Litauen und einen der aus der Stadt. ersten in der damaligen Sowjetunion. © Markus Nowak EIN THEMA MIT VIELEN FACETTEN Bund und Länder fördern Institutionen, die sich der deutschen Kultur und Geschichte im östlichen Europa widmen

❶ ❹⓭ ⓲ ◉ ❼ ⓱ ⓬ ❺ Ⓠ Ⓡ Ⓔ ⓯ ◉ ❾ ❷

Ⓘ Ⓙ ⓰ Ⓕ ❿ ⒶⒷ ⓫ Ⓟ Ⓒ Ⓜ ❽ Ⓖ ❸ ❻ Ⓓ ⒽⓀⓃⓄ Ⓛ Ausgabe 8 • 2020 SZENE 57

Vom Bund geförderte Einrichtungen Einrichtungen der Kulturvermittlung ⓭ Ostpreußisches Landesmuseum mit Deutschbaltischer Abteilung Förderung nach § 96 des Bundesvertrie- ❻ Adalbert Stifter Verein e. V. Heiligengeiststraße 38 benengesetzes (BVFG), bei ❷ nach Artikel Hochstraße 8 • 81669 München 21335 Lüneburg 91b des Grundgesetzes Telefon: +49 (0)89 622716-30 Telefon: +49 (0)4131 75995-0 www.stifterverein.de www.ostpreussisches-landesmuseum.de • Die Beauftragte der Bundesregierung [email protected] [email protected] für Kultur und Medien KR Dr. Wolfgang Schwarz KR Agata Kern Willy-Brandt-Straße 1 • 10557 Berlin [email protected] Referate K 44 und K 45 [email protected] (Kultur und Geschichte der Deutschen ❼ Deutsches Kulturforum Pommersches Landesmuseum im östlichen Europa) östliches Europa e. V. ⓮ Rakower Straße 9 • 17489 Greifswald Graurheindorfer Straße 198 Berliner Straße 135 | Haus K1 Telefon: +49 (0)3834 8312-0 53117 Bonn 14467 Potsdam www.pommersches-landesmuseum.de [email protected][email protected] Telefon: +49 (0)331 20098-0 [email protected] www.kulturforum.info Dorota Makrutzki Bundesinstitut [email protected] KR kulturreferat@pommersches- ❶ Bundesinstitut für Kultur und Museen landesmuseum.de Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) ❽ Donauschwäbisches ⓯ Schlesisches Museum zu Görlitz Johann-Justus-Weg 147 a Zentralmuseum Ulm Schönhof, Brüderstraße 8 26127 Oldenburg Schillerstraße 1 • 89077 Ulm 02826 Görlitz Telefon: +49 (0)441 96195-0 Telefon: +49 (0)731 96254-0 Telefon: +49 (0)3581 8791-0 www.bkge.de www.dzm-museum.de www.schlesisches-museum.de [email protected] [email protected] [email protected] KR Dr. Swantje Volkmann KR Agnieszka Bormann Forschungseinrichtungen und [email protected] [email protected] Bibliotheken ❾ Haus Schlesien ⓰ Siebenbürgisches Museum ❷ Herder-Institut für historische Dollendorfer Straße 412 Schloss Horneck 1 Ostmitteleuropaforschung 53639 Königswinter-Heisterbacherrott 74831 Gundelsheim/Neckar Institut der Leibniz-Gemeinschaft Telefon: +49 (0)2244 886-0 Telefon: +49 (0)6269 90621 Gisonenweg 5–7 • 35037 Marburg www.hausschlesien.de www.siebenbuergisches-museum.de Telefon: +49 (0)6421 184-0 [email protected] [email protected] www.herder-institut.de KR Dr. Heinke Fabritius www.herder-institut.de/blog ❿ Kulturzentrum Ostpreußen [email protected] [email protected] Schloßstraße 9 91792 Ellingen/Bayern ⓱ Westpreußisches Landesmuseum ❸ Institut für deutsche Kultur und Telefon: +49 (0)9141 8644-0 Franziskanerkloster Geschichte Südosteuropas e. V. (IKGS) www.kulturzentrum-ostpreussen.de Klosterstraße 21 • 48231 Warendorf an der Ludwig-Maximilians-Universität [email protected] Telefon: +49 (0)2581 92777-0 München www.westpreussisches-landesmuseum.de Halskestraße 15 • 81379 München ⓫ Kunstforum [email protected] Telefon: +49 (0)89 780609-0 Ostdeutsche Galerie KR Magdalena Oxfort www.ikgs.de • [email protected] Dr.-Johann-Maier-Straße 5 magdalena.oxfort@westpreussisches- 93049 Regensburg landesmuseum.de ❹ Institut für Kultur und Geschichte der Telefon: +49 (0)941 29714-0 www.kulturreferat-westpreussen.de Deutschen in Nordosteuropa e. V. www.kunstforum.net (IKGN)/Nordost-Institut [email protected] Stiftung Flucht, Vertreibung, an der Universität Hamburg Versöhnung Lindenstraße 31 • 21335 Lüneburg ⓬ Museum für russlanddeutsche Telefon: +49 (0)4131 40059-0 Kulturgeschichte ⓲ Stiftung Flucht, Vertreibung, www.ikgn.de • [email protected] Georgstraße 24 • 32756 Detmold Versöhnung Telefon: +49 (0)5231 921690 Mauerstraße 83/84 • 10117 Berlin ❺ Stiftung Martin-Opitz-Bibliothek www.russlanddeutsche.de Telefon: +49 (0)30 2062998-0 Berliner Platz 5 • 44623 Herne [email protected] www.sfvv.de • [email protected] Telefon: +49 (0)2323 162805 KR Edwin Warkentin www.martin-opitz-bibliothek.de [email protected] KR = Kulturreferat [email protected] Erläuterungen siehe S. 58 58

Von den folgenden Bundesländern Ⓖ Bukowina-Institut Ⓟ Sudetendeutsches Musikinstitut getragene oder institutionell an der Universität Augsburg Ludwig-Thoma-Straße 14 geförderte Einrichtungen Alter Postweg 97a • 86159 Augsburg 93051 Regensburg Telefon: +49 (0)821 577067 Telefon: +49 (0)941 9100-1341 BADEN-WÜRTTEMBERG www.bukowina-institut.de www.bezirk-oberpfalz.de ➞ ❽ Donauschwäbisches Ⓗ Collegium Carolinum HESSEN Zentralmuseum Ulm Hochstraße 8 • 81669 München Telefon: +49 (0)89 552606-0 ➞ Ⓔ Kulturstiftung der deutschen Ⓐ Donauschwäbische Kulturstiftung www.collegium-carolinum.de Vertriebenen des Landes Baden-Württemberg Schlossstraße 92 • 70176 Stuttgart Ⓘ Egerland-Museum MECKLENBURG-VORPOMMERN Telefon: +49 (0)711 66951-26 Fikentscherstraße 24 ➞ ⓮ Pommersches Landesmuseum www.dsksbw.de 95615 Marktredwitz Telefon: +49 (0)9231 3907 NIEDERSACHSEN Ⓑ Haus der Heimat des Landes www.egerlandmuseum.de Baden-Württemberg ➞ ⓭ Ostpreußisches Landesmuseum mit Deutschbaltischer Abteilung Schlossstraße 92 • 70176 Stuttgart Ⓙ Haus der Heimat Nürnberg Telefon: +49 (0)711 66951-0 Imbuschstraße 1 • 90473 Nürnberg NORDRHEIN-WESTFALEN www.hdhbw.de Telefon: +40 (0)911 8002638 www.hausderheimat-nuernberg.de ➞ ⓱ Westpreußisches Landes- Ⓒ Institut für donauschwäbische museum Geschichte und Landeskunde Ⓚ Haus des Deutschen Ostens Mohlstraße 18 • 72074 Tübingen Am Lilienberg 5 • 81669 München Ⓠ Gerhart-Hauptmann-Haus Telefon: +49 (0)70719992-500 Telefon: +49 (0)89 449993-0 Bismarckstraße 90 www.idglbw.de www.hdo.bayern.de 40210 Düsseldorf Telefon: +49 (0)211 1699111 Ⓓ Institut für Volkskunde der Ⓛ Isergebirgs-Museum Neugablonz www.g-h-h.de Deutschen des östlichen Europa, IVDE Bürgerplatz 1 • 87600 Kaufbeuren Goethestraße 63 Telefon: +40 (0)8341 96 50 18 Ⓡ Oberschlesisches Landesmuseum 79100 Freiburg/Breisgau www.isergebirgs-museum.de Bahnhofstraße 62 Telefon: +49 (0)761 70443-0 40883 Ratingen www.ivdebw.de Ⓜ Schlesisches Schaufenster in Bayern Telefon: +49 (0)2102 9650 – Museum und Dokumentation www.oslm.de Ⓔ Kulturstiftung der deutschen (im Herzogschloss Straubing) Dr. David Skrabania Vertriebenen KR Schlossplatz 2 b • 94315 Straubing [email protected] Godesberger Allee 72–74 • 53175 Bonn Telefon: +49 (0)6022 8795 (Information) Telefon: +49 (0)228 91512-0 +49 (0)9421 4303120 (Anmeldung) SACHSEN kulturportal-west-ost.eu/kulturstiftung www.landsmannschaftschlesienbayern.de ➞ ⓯ Schlesisches Museum zu Görlitz Ⓕ Siebenbürgen-Institut Ⓝ Sudetendeutsche Akademie der SCHLESWIG-HOLSTEIN an der Universität Heidelberg Wissenschaften und Künste Schloss Horneck Hochstraße 8/III • 81669 München Ⓢ Academia Baltica 74831 Gundelsheim am Neckar Telefon: +49 (0)89 48000348 Akademieweg 6 Telefon: +49 (0)6269 4210-0 www.sudetendeutsche-akademie.eu 24988 Oeversee www.siebenbuergen-institut.de Telefon: +49 (0)4630 550 Sudetendeutsches Museum Ⓞ www.academiabaltica.de BAYERN (im Aufbau) Hochstraße 8 • 81669 München ➞ ❿ Kulturzentrum Ostpreußen Telefon: +49 (0)89 480003-0 ➞ ⓫ Kunstforum Ostdeutsche Galerie www.sudetendeutsche-stiftung.de

An die Einrichtung angegliedertes eigenständiges Kulturreferat. Kulturreferentinnen und -referenten entwickeln mit eigenen Förder- KR etats Projekte der kulturellen Bildung und sind Ansprechpartner der Heimatvertriebenenverbände. Ergänzungen und Korrekturen dieser Übersicht bitte an [email protected]. berg an der Warthe Werke Sie möchten keinen BLICKWECHSEL mehr verpassen? Abonnieren Sie ihn doch! Bauhaus in Brünn: Der internationale Stil und die nationale Frage Szene Europa im Blick: Das Ostpreußische Landesmuseum Lüneburg Das Journal BLICKWECHSEL erscheint einmal im Jahr und kann gegen eine Schutzgebühr von 2,50 € pro Heft zzgl. Porto beim Stuttgarter Verlagskontor bezogen werden. BLICK WECHSEL Magazin für deutsche Kultur und Geschichte Ich möchte den BLICKWECHSEL abonnieren und erhalte ab der nächsten verfügbaren Ausgabe bis im östlichen Europa zum Widerruf 1 Ausgabe pro Jahr (FF-Bestellnr. 15913) Mittendrin und anders Ich bestelle folgende noch lieferbare Einzelhefte:

Exemplar(e) 2016 (DF111): Mutterstädte | Von großen und kleinen Metropolen im östlichen Europa*

Exemplar(e) 2017 (DF113): Mehr als Luther | Reformation im östlichen Europa*

Orte Das Dreikaisereck: Eine Region im Strudel nationaler Interessen Menschen Exemplar(e) 2018 (DF115): Zwischen Trauer und Triumph Der große Sprung: Dobrudschadeutsche in der Neuen Welt Das Jahr 1918 und seine Folgen im östlichen Europa Werke Wer wollte den Krieg? Der Prager Autor Max Brod klärt auf Szene Der »slowenische Luther«: Zum 510. Geburtstag von Exemplar(e) 2019 (DF117): Grenzenlos regional | Landschaft und Identität im östlichen Europa Primus Truber BLICK Exemplar(e) 2020 (DF119): Mittendrin und anders | Deutschsprachige Minderheiten im östlichen Europa WECHSEL Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa

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