Berlin, 8. Juli 2019

Hauptabteilung Politik und Beratung Team Innenpolitik

Parteienmonitor aktuell

Zurück auf der Baustelle Die FDP nach der Europawahl 2019

Tobias Montag

www.kas.de

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Inhaltsverzeichnis

Das Wichtigste zum Mitnehmen 2

Die Mobilisierungsschwäche der FDP 3

Zweifel an Lindners Gespür für Politik 4

Die Klimapolitik und die Wiederkehr des Empathie-Problems ...... 4 Mit ausbalancierten Haltungen auf Stimmenfang? ...... 4 Das Stillstands-Narrativ greift nicht mehr ...... 5 Eindruck der gesellschaftlichen Entkoppelung – das „leidige Frauenthema“ ...... 5

Erosion der innerparteilichen Geschlossenheit 6

Überdehnung der personellen Kräfte 6

Fazit: Der Koalitionswille nimmt zu 7

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Das Wichtigste zum Mitnehmen

› Insgesamt gibt das Europawahlergebnis der FDP zu denken. Die traditionelle Schwäche der FDP bei Europawahlen verhindert nicht die Sorge unter den Parteimitgliedern, dass die von Lindner von Grund auf renovierte FDP in einer generellen Mobilisierungskrise stecken könnte.

› Das schwache Europawahlergebnis belegt, dass die Entscheidung Lindners, lieber Oppositions- anstatt Regierungsarbeit zu leisten, den Freien Demokraten auf der Bundesebene Aufmerksamkeitsverluste beschert. Dieser Umstand wird möglicherweise dazu führen, dass sich die FDP für eine Regierungsbe- teiligung im Rahmen einer „Jamaika-Koalition“ weiter öffnet, obwohl der Zeitpunkt angesichts der ge- genwärtigen Stärke der Grünen eher ungünstig ist.

› Der Austausch zwischen Grünen und Liberalen ist durch informelle Netzwerke dichter geworden.

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Die Mobilisierungsschwäche der FDP ropawahl 2019 konnte die FDP nur noch 90.000 Nichtwähler erreichen.6 Erstmals hat die FDP nach ihrem Wiedereinzug in den Deutschen Bundestags 2017 einen deutlichen Einziger Trost für die Freien Demokraten ist, dass Dämpfer erhalten. In der Europawahl 2019 ent- sie wie schon in der Bundestagswahl 2017 in allen täuschte sie mit nur 5,4 Prozent der Stimmen. Alterskohorten Zuwächse zu verzeichnen hat, auch Zwar ist dies eine Verbesserung im Vergleich zum wenn diese 2019 nicht mehr so ausgeprägt ausfie- Wahlergebnis des Jahres 2014, doch erzielte sie len und zudem durch die niedrigen Vergleichswer- damals nur 3,4 Prozent – das Ausgangsniveau war te der Europawahl 2014 bedingt sind.7 Insbeson- also sehr niedrig. Ihr Bundesvorsitzender Christian dere bei der Gruppe der unter 30-jährigen Männer Lindner hatte eigentlich ein zweistelliges Ergebnis kam die Partei relativ gut an. Den Vorwurf, dass als Wahlziel ausgerufen.1 Maßstab war für ihn die Parteien die junge Generation nicht erreiche, nicht das Abschneiden der FDP bei den Europa- wie ihn sich die beiden Volksparteien CDU und wahlen in der Vergangenheit – wo sie oft schlech- SPD derzeit gefallen lassen müssen, kann die FDP ter abschnitt –, sondern die letzte Bundestags- gelassen zurückweisen. Allerdings zeigt sich aber- wahl. mals ein bekanntes und mittlerweile unter den Freien Demokraten breit diskutiertes Problem: Die Mit dem Bundestagswahlergebnisse der FDP aus FDP erreichte wieder zu wenig Frauen. In der er- dem Jahr 2017 von 10,7 Prozent der Stimmen war folgreichen Gruppe der Wähler unter dreißig Jah- die selbstgesteckte Hürde also für die Europawahl ren beispielsweise fiel der Zuwachs bei den Frauen recht hoch. Aus Sicht der Parteiführung musste die gerade einmal halb so stark aus wie bei den Män- FDP bei diesem Vergleichsmaßstab Verluste hin- nern. Die Verbreiterung der Wählerschaft der FDP nehmen. In absoluten Zahlen wird das noch deut- droht an der Geschlechterfrage zu scheitern. licher: Bei der Europawahl 2019 verloren die Freien Demokraten im Vergleich zur letzten Bun- Insgesamt gibt das Europawahlergebnis der FDP destagswahl 2,9 Millionen Wähler.2 Sie mussten zu denken. Die traditionelle Schwäche der FDP bei davon 480.000 an die Grünen abgeben, 210.000 Europawahlen verhindert nicht die Sorge unter an die CDU/CSU, 110.000 an die AfD und 80.000 den Parteimitgliedern, dass die von Lindner von Wähler an die SPD.3 420.000 Wähler verlor die FDP Grund auf renovierte FDP in einer generellen Mo- an die „sonstigen Parteien“.4 Interessant ist auch bilisierungskrise stecken könnte. Angetrieben wird die Bewegung bei den „Nichtwählern“. Bei der diese Sorge durch den Umstand, dass die Europa- Bundestagswahl 2017 mobilisierten die Freien wahl diesmal nicht als eine reine Nebenwahl an- Demokraten immerhin 700.000 Nichtwähler zur gesehen werden kann. Die Wahlbeteiligung war Wahl der FDP. Dabei handelte es sich um den höher als sonst und Europapolitik wurde erstmals zweitgrößten Zuwachsposten in der FDP- von den Wählern mehrheitlich als wichtiger für die Wählerwanderungsbilanz. Allein die Zugewinne Wahlentscheidung eingeschätzt als die Bundespo- aus dem Lager der CDU/CSU waren damals mit litik.8 Aus dieser Perspektive kann das Wahlergeb- 1,36 Millionen Wählern größer.5 Doch bei der Eu- nis für die FDP als eine deutliche Wahlniederlage verstanden werden. Wie konnte es zu den Selbst- zweifeln kommen, obwohl der Partei mit ihrem 1 Vgl. Weiland, Severin: Ziel verfehlt. In: Spiegel Online Wiedereinzug in den Deutschen 2017 vom 27.05.2019. – https://www.spiegel.de/politik/deutschland/fdp-und- europawahl-christian-lindner-hat-sein-wahlziel-nicht- 6 Deckers, Daniel: Klimawandel. In: Frankfurter Allgemei- erreicht-a-1269408.html [29.05.2019]. ne Zeitung vom 28.05.2019, S. 8. 2 Vgl. Deckers, Daniel: Klimawandel. In: Frankfurter All- 7 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Bundestagswahl. gemeine Zeitung vom 28.05.2019, S. 8. Eine Analyse der Wahl vom 24. September 2017. – 3 Vgl. Deckers, Daniel: Klimawandel. In: Frankfurter All- Mannheim: Institut für Wahlanalyse und Gesellschafts- gemeine Zeitung vom 28.05.2019, S. 8. beobachtung, 2017. – (Berichte der Forschungsgruppe 4 Vgl. Neu, Viola: Die Europawahl in Deutschland am 26. Wahlen e.V.; 170) – und Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Mai 2019. Wahlanalyse. Vorläufiges Ergebnis. – Berlin: Wahltagbefragung EUROPAWAHL 26. Mai 2019. KAS, 2019. – S. 8. 8 Vgl. Neu, Viola: Die Europawahl in Deutschland am 26. 5 Vgl. Neu, Viola / Pokorny, Sabine: Bundestagswahl in Mai 2019. – Berlin: KAS, 2019. – S. 5. – Deutschland am 24. September 2017. Wahlanalyse. https://www.kas.de/einzeltitel/-/content/die-europawahl- Vorläufiges Ergebnis. Berlin: KAS, 2017. – S. 22. in-deutschland-am-26-mai-2019 [29.05.2019].

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noch ein beispielloser Wiederaufstieg gelungen schaft“ vorzogen. Dem Bundesvorstand wurde so ist? unmissverständlich signalisiert, dass er das Thema verpasst hat. Lindner sah sich hier mit seinem Zweifel an Lindners Gespür für Politik eigenen programmatischen Ansatz konfrontiert. Er hatte der FDP, die in der Westerwelle-Ära das Wie immer gibt es wohl eine Reihe von Gründen, Image einer menschlich kalten Klientelpartei für die erklären, warum auch der FDP der Erfolg nicht Reiche nicht abstreifen konnte, nach 2013 mehr in den Schoß fällt. Seit Monaten lastete auf Chris- Empathie verordnet und musste sich jetzt vorwer- tian Lindner öffentlicher Druck. Ihm wird vorge- fen lassen, gegen das von ihm selbst initiierte worfen, dass es seiner Partei nicht gelingt, mit Parteileitbild verstoßen zu haben. ihren Vorstellungen bei den Bürgern durchzudrin- gen. Noch immer wird Lindner der Abbruch der Der Parteitag stritt in der Debatte zum Klima- Jamaika-Sondierungsgespräche nach dem Wieder- schutz engagiert über die Balance von Empathie einzug der Freien Demokraten in den Bundestag und Vernunft in der Politik. Am Ende stand ein 2017 vorgeworfen. Insbesondere auf den sich seit klares Bekenntnis zum Pariser Klimaschutzab- Monaten abzeichnenden Höhenflug der Grünen in kommen – gewissermaßen als Zugeständnis an den Umfragen hat die Parteiführung noch keine das Gefühl. Mit den bereits bekannten Forderun- schlüssige Antwort gefunden. Liberale Themen gen beispielsweise nach Technologieoffenheit und verfangen bei den Wählern derzeit nicht. In der einer Ausweitung des CO2-Emmissionshandels auf Partei selbst macht sich die Sorge breit, dass Lind- andere Sektoren präsentiert sich die Partei zu- ner sein politisches Gespür verlassen haben könn- gleich als Stimme der (wirtschaftspolitischen) Ver- te. nunft. Das Klimakonzept der FDP ist durchaus durchdacht, es kam jedoch viel zu spät, um das Die Klimapolitik und die Wiederkehr Thema den Grünen streitig zu machen oder gar zu des Empathie-Problems entreißen. Das jahrzehntelang gewachsene Image Anlass für diese Zweifel dürfte die heftige Reaktion der Grünen in diesem Themenfeld lässt sich nicht auf Lindners Interview bzw. Tweet vom 10. März mit einem Parteitagsbeschluss oder der Stilisie- 2019 in Richtung der „Fridays for Future“- rung Genschers zum „ersten Umweltminister“ Bewegung gewesen sein. Lindner hatte den pro- zugunsten der FDP korrigieren. testierenden Schülern empfohlen, das Thema „Klimaschutz“ den „Profis“ zu überlassen.9 Prompt Mit ausbalancierten Haltungen auf wurde ihm Überheblichkeit vorgeworfen – für die Stimmenfang? klassischen Medien und die Sozialen Medien ein Der Beschluss zur Klimapolitik verdeutlicht ein gefundenes Fressen. Der Fehlgriff in Ton und Stil Dilemma, in dem die FDP steckt. Während sich die machte Raum frei für den Verdacht einer inhaltli- Partei sachpolitisch konsolidiert, dringt sie mit chen Abkehr vom Klimaschutz, der in Deutschland ihren Positionen immer weniger bei den Wählern als wichtiges Thema gilt. durch. Für ihre differenzierten und abwägenden Antworten auf die drängenden Fragen der Gesell- Dass die öffentliche Reaktion auf Lindners Inter- schaft wird sie nicht mit (medialer) Aufmerksam- view bzw. Tweet nicht ohne Spuren an der Partei keit belohnt. Ein weiteres Beispiel dafür ist die vorbeigegangen ist, wurde schließlich auf dem ebenfalls auf dem Bundesparteitag Ende April Berliner Bundesparteitag vom 26. bis 28. April 2019 beschlossene Idee des „Kinderchancengel- 2019 sichtbar, als die Delegierten den Antrag zum des“. Es soll die staatlichen Unterstützungsleistun- Klimaschutz in der Liste der zu behandelnden gen bündeln und sich aus einer pauschalen Anträge zulasten des allgemein gehaltenen Leitan- Grundsicherung für Kinder und einem vom Ein- trags „Ein Land wächst mit seinen Menschen – kommen der Eltern abhängigen Teil zusammen- Vorankommen durch weltbeste Bildung und Wirt- setzen. Genutzt hat der FDP diese sachpolitische Weiterentwicklung jedoch kaum.

9 Vgl. Eichinger, Roman / Burkhard, Uhlenbroich: Klima- Das Bemühen um ausbalancierte Haltungen war schutz ist was für Profis“. Interview mit . In: Bild am Sonntag vom 10.03.2019, S. 4-5 und auch im Europawahlprogramm „Europas Chancen https://twitter.com/c_lindner/status/11046830961071144 nutzen: Mut zur Veränderung“ zu spüren. Es recy- 97?lang=de [27.04.2019]. celte bekannte Positionen der Freien Demokraten. Zu nennen sind hier beispielsweise die Forderun-

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gen nach „Digital-Freiheitszonen“ – die FDP ver- wahl gewesen sein. Das Thema lenkte von den steht darunter Experimentierräume und Öff- anderen politischen Themen der Partei ab und nungsklauseln für digitale Start-ups – und einer befeuerte das Bild einer gesellschaftspolitisch Europäischen Agentur für Sprunginnovationen, die rückständigen Partei, obwohl sie genau das Ge- „radikale und disruptive Innovationen“ fördern genteil bezweckte. Eigentlich sollten die „moder- und weitgehend frei von politischer Steuerung nen Frauen“ und die FDP zueinanderfinden. sein soll. Beide Ideen standen schon im Bundes- tagswahlprogramm 2017. Die Kombination aus Auf dem Parteitag schrammte die FDP nur knapp weitgehend bekannten liberalen Positionen – die an einem Desaster vorbei. Bereits auf dem Or- öffentlich kaum Anklang fanden – und dem Ver- dentlichen Bundesparteitag 2017 hatte Lindner zicht der FDP, mit radikalen Forderungen aufzu- angekündigt, dass die FDP weiblicher werden sol- warten wie die AfD, hat das mediale Interesse – le. Die AG „Chancen durch Vielfalt“ wurde einge- sowohl im Sinne einer negativen als auch positiven setzt und mit der Aufgabe betraut, Vorschläge zu Berichterstattung – an der Partei im Wahlkampf entwickeln, wie die Partei für Wählerinnen und wie geschmälert. die Mitgliedschaft für Frauen attraktiver wird. Die FDP gehört zu den Parteien mit dem geringsten Das Stillstands-Narrativ greift nicht Frauenanteil in der Mitgliedschaft, aber auch unter mehr den Wahlanhängern – wie die Europawahl 2019 Zunehmend wird auch deutlich, wie sehr die FDP erneut bestätigte. Die Maßnahme folgt der (Er- bei der Bundestagswahl 2017 von einem klaren folgs-)Strategie Lindners, die Partei für breitere Feindbild zehrte: und die „große Wählergruppen zu öffnen. Auf dem Parteitag vor Koalition des Stillstands“. Seitdem die Bundeskanz- der Europawahl sprach Lindner davon, den „libe- lerin verkündet hatte, dass sie nach Ende der lau- ralen Feminismus“ anzuerkennen. fenden Legislaturperiode nicht mehr als Spitzen- kandidatin für das Amt des Bundeskanzlers antre- Das Ergebnis der AG „Chancen durch Vielfalt“ wur- ten wolle, und damit gewissermaßen einer Forde- de zuvor schon monatelang in der Partei heftig rung Lindners nachkommt, der das Scheitern der diskutiert. Im Kern geht es darum, dass die Partei- Jamaika-Sondierungsgespräche vor allem an ihrer gliederungen freiwillige Zielvereinbarungen über Person festmachte, ist das Selbstbild der Partei einen Mindestanteil von Frauen in Führungspositi- angekratzt. Das Narrativ hat den Freien Demokra- onen der FDP und bei der Nominierung von Wahl- ten geholfen, sich als innovative und zukunftsori- kandidaten schließen. entierte Partei darzustellen. Mit dem Megathema „Digitalisierung“ grenzte sich die FDP von der „ana- Viele in der Partei sehen in den Zielvereinbarun- logen“ großen Koalition ab. Auf den Aufstieg der gen lediglich einen anderen Begriff für die Frauen- Grünen war die FDP nicht eingestellt. Sie war da- quote, die für Liberale ein rotes Tuch ist. Der Bun- rauf ausgerichtet, einerseits Schwarz-Rot zu atta- desvorstand beschloss die Maßnahmen dennoch ckieren und andererseits die AfD im Bundestag zu einen Tag vor der Eröffnung des Bundesparteitags bekämpfen. Derart unvorbereitet fällt Lindner am 26. April 2019. Auf eine Überführung in Sat- mitunter in sein altes Muster des „Grünen- zungsrecht auf dem Parteitag verzichtete er je- Bashings“ zurück,10 das selbst innerhalb der Partei doch wegen der vermuteten Abstimmungsnieder- nicht sehr glaubwürdig wirkt. lage, denn für Satzungsänderungen ist eine Zwei- Drittel-Mehrheit erforderlich. Die Unverbindlich- Eindruck der gesellschaftlichen Ent- keit verhinderte allerdings nicht die erbitterte koppelung – das „leidige Frauenthe- Auseinandersetzung unter den Delegierten, die ma“ Lindner jetzt auch noch Eigenmächtigkeit vorwar- Eher suboptimal dürfte auch der heftige innerpar- fen. Ihm wurde unterstellt, er wolle die Partei ohne teiliche Streit um die „Frauenquote“ auf dem Bun- förmlichen Parteitagsbeschluss von oben ändern. desparteitag im April 2019 kurz vor der Europa- Auffällig war, dass das Zentrum des Widerstands gegen das Vorhaben der Parteispitze im nord-

rhein-westfälischen Landesverband lag. Er ist die 10 Vgl. z.B. Poschardt, Ulf / Niewendick, Martin: „Robert Habeck träumt von Deutschland als einem fleischlosen größte Parteigliederung und eigentlich die Haus- Land“. Interview mit Christian Lindner. In: Die Welt vom macht Lindners. Entlastend für die Position des 29.05.2019, S. 5. Bundesvorstands wirkte allein, dass der bayeri- sche Landesparteitag bereits eine Zielvereinba-

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rung mit großer Mehrheit beschlossen hatte und Forderung nach dem Posten eines Stellvertreters somit einen Erfolg verkünden konnte. Die Bayern des Bundesvorsitzenden. Lindner war damit unter hatten sich darauf verständigt, dass die beiden Zugzwang, denn ein öffentlicher Machtkampf mit obersten Plätze auf der Landesliste bei der Auf- Beer auf dem Berliner Bundesparteitag vom 26. stellung der Kandidaten für Landtags- und Bun- bis 28. April 2019 hätte die Spitzenkandidatin so destagswahlen paritätisch besetzt werden sollen. kurz vor der Wahl beschädigt. Dahinter muss man Die aufgebrachten Delegierten konnte das freilich nicht gleich eine Schwäche des Bundesparteivor- kaum beruhigen. Sie lieferten sich eine Rede- und sitzenden vermuten, aber der Schaden war ange- Antragsschlacht; die Mehrheitsverhältnisse waren richtet: In den Medien wurde munter über einen zwischenzeitlich völlig unklar. Der Antrag des Bun- Machtkampf spekuliert und dabei auf „nicht na- desvorstands schien chancenlos. Am Ende wurde mentlich genannte“ Mitglieder des Präsidiums der jedoch der Maßnahmenkatalog zur Frauenförde- Bundespartei verwiesen. Vom Bild des Zusam- rung des Bundesvorstands von den sichtlich er- menstehens gegen externe politische Gegner blieb matteten Delegierten als Sachantrag beschlossen. nicht mehr viel übrig. Eigentlich sollten partei- schädigende Durchstechereien von Machtkämp- Rein formal betrachtet ist das zwar folgenlos für fen der Ära Westerwelle und Rösler Vergangenheit die Parteiorganisation, den es handelte sich nicht bleiben. Ausgerechnet vor der Europawahl fiel die um eine Satzungsänderung, faktisch erhöht der Partei in alte Rollen zurück. Für die Spitzenkandi- Beschluss jedoch den innerparteilichen Hand- datin war das im Wahlkampf keine lungsdruck. Eine Modernisierungskrise der Partei Hilfe. konnte Lindner damit also abwenden – und eine Führungskrise. Nicht verhindern konnte Lindner Überdehnung der personellen Kräfte freilich, dass vor der Europawahl der Eindruck entstand, die FDP habe „ein Problem mit Frauen“ So freudig der Wiedereinzug in den Bundestag für und beschäftige sich nur mit sich selbst. die FDP auch gewesen sein mag, er hat auch eine Schattenseite: Mit Blick auf die Führungskräfte ist Erosion der innerparteilichen Ge- die Partei ausgedünnt. Aus vielen Parteiaktivisten schlossenheit wurden Abgeordnete, Funktionäre wechselten in den Bundestag. Das ist nicht spurlos an der FDP Eines der wichtigsten Erfolgsrezepte für den Wie- vorbeigegangen. Zum Wiederaufstieg der Partei deraufstieg der FDP nach 2013 war das Bild der gehört ein zum Teil radikaler Bruch mit dem vor- innerparteilichen Geschlossenheit, das nach au- belasteten Personaltableau der Westerwelle- und ßen vermittelt wurde. Zwar deuteten sich schon Rösler-Ära. Aber auch insgesamt wurden große erste inhaltliche Konflikte nach der Bundestags- Teile des Mitgliedsbestands „ausgetauscht“. Insbe- wahl 2017 an – es gab Streit um den Abbruch der sondere im Wahljahr 2017 gab es 12.362 Neuein- Jamaika-Sondierungsgespräche und um die Russ- tritte. Angesichts eines aktuellen Stands von knapp land-Politik von – doch drangen 64.000 Mitgliedern sind diese Zugewinne über- vor der Europawahl erstmals Konflikte offen aus proportional.12 Die Partei konnte damit ihre Ver- dem Präsidium nach außen. Über die scheidende luste seit 2010 ungefähr wieder ausgleichen.13 Generalsekretärin Nicola Beer hatte sich erhebli- cher Unmut breitgemacht – offenbar vor allem Sie sind noch lange nicht so weit, führende Positi- wegen ihres Ehemanns, der sich als stellvertreten- onen in der Partei zu bekleiden. Dies führt dazu, der Generalsekretär aufgeführt habe und zudem dass sich die FDP nach einer Phase der umfassen- die Nähe zu Viktor Orbán suche.11 Lindners Ver- such, Beer mit der Spitzenkandidatur für die Euro- 12 Vgl. Weiland, Severin: Der Lindner-Effekt. In: Spiegel pawahl nach Brüssel abzuschieben und damit aus Online vom 23.04.2019. – dem Präsidium zu drängen, konterte Beer mit der https://www.spiegel.de/politik/deutschland/christian- lindner-fdp-hat-fast-zur-haelfte-neue-mitglieder-seit- 2014-a-1264022.html [25.04.2019]. 11 Vgl. Schult, Christoph / Weiland, Severin: Lindners 13 Vgl. Niedermayer, Oskar: Parteimitglieder in Deutsch- Problem-Beer. In: Spiegel Online vom 26.04.2019. – land: Version 2018. – https://www.polsoz.fu- www.spiegel.de/politik/deutschland/fdp-parteitag-der- ber- machtkampf-um-nicola-beer-ist-ein-problem-fuer- lin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/schriften/Arb christian-lindner-a-1264673.html [28.04.2019]. eitshefte/index.html [22.05.2019].

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den personellen Erneuerung14 an der Spitze per- schwellige Sorge, dass ihr Parteichef Christian sonell konsolidiert. Lindner versagen könnte und die Stimmung in Gesellschaft und Partei verkennt, hat zugenom- Zu beobachten war dies bei den Präsidiumswah- men. Vom oftmals beschworenen Mut der Freien len auf dem letzten Bundesparteitag, der nur we- Demokraten war im Europawahlkampf wenig zu nige Änderungen mit sich brachte. Umso wichtiger spüren. Stattdessen zogen sie mit einer ange- erschien die Wahl von Linda Teuteberg aus Bran- schlagenen Spitzenkandidatin und dem Nachhall denburg zur Generalsekretärin der FDP. Damit der „Frauenquote“ sowie Lindners Äußerung zu gelang es Lindner, einerseits der Forderung nach „Fridays for Future“ in den Europawahlkampf. Mit mehr Frauen in Führungspositionen der Partei ihren differenzierten Haltungen in Sachfragen – nachzukommen. Andererseits konnte er mit der auch in der Klimapolitik als dem diesmal wichtigs- Personalie belegen, dass er es ernst meint mit ten Thema neben der Flüchtlingspolitik – und zum seiner Ankündigung, die Partei im Osten der Re- Teil angestaubten Positionen weckten die Freien publik stärker zu verankern und „den Ostdeut- Demokraten nur mäßig das Interesse der Medien schen“ eine Stimme zu geben. Teuteberg traf auf und drangen nicht zu den Wählern durch. dem Parteitag mit ihrer Aussage, dass man von ihr keine „unberechtigte Jammerei“ hören werde, den Hinzu kommt, dass es Lindner in der Partei offen- Ton der Parteibasis. Ihre klare Abgrenzung von der bar nicht mehr so leicht fällt wie früher, Unterstüt- – wenn man so will – „Ostpolitik“ der anderen zung für seinen Kurs zu organisieren. Das gilt Parteien – gemeint waren die SPD-Forderung nach selbst für seinen eigenen Landesverband. Die einer Aufarbeitung der Tätigkeit der Treuhand und Wahl von Linda Teuteberg als eine weitere Unter- weitere Fördermilliarden nach dem vermeintlichen stützerin seines Reform- und Modernisierungskur- Gießkannenprinzip der Union – kam bei den Dele- ses zur Generalsekretärin kann darüber nicht gierten sehr gut an. Sie legte ein überzeugendes hinwegtäuschen. Wahlergebnis von 92,8 Prozent vor. Anders als Beer schlägt sie leisere Töne an. Mit ihr läuft Lind- Das schwache Europawahlergebnis belegt, dass ner zudem nicht Gefahr, Machtkämpfe austragen die Entscheidung Lindners, lieber Oppositions- zu müssen. Teuteberg hat einen eher schwachen anstatt Regierungsarbeit zu leisten, den Freien Landesverband im Rücken, der Lindner nicht ge- Demokraten auf der Bundesebene Aufmerksam- fährlich werden kann, und steht für seinen Re- keitsverluste beschert. Dieser Umstand wird mög- form- und Modernisierungskurs. licherweise dazu führen, dass sich die FDP für eine Regierungsbeteiligung im Rahmen einer „Jamaika- Aus Sicht der Partei schien diese Personalie viele Koalition“ weiter öffnet, obwohl der Zeitpunkt Probleme gelöst zu haben. Das sollte jedoch nicht angesichts der gegenwärtigen Stärke der Grünen zu einer Selbsttäuschung führen. Die FDP ist nach eher ungünstig ist. Es gibt Bemühungen, sich mit wie vor im Osten der Republik schwach. Ihrem den Grünen vertrauter zu machen und stärker Ziel, mehr Wählerinnen zu gewinnen, ist sie nicht auszutauschen. So hat sich im März 2019 ein Kreis nähergekommen. Und die personelle Erneuerung aus Vertretern von FDP und Grünen unter dem der mittleren Funktionärsschicht steht erst am Namen „Pasta-Connection“ etabliert. Initiiert wur- Anfang. So gesehen waren die Bedingungen für de er von Lukas Köhler, der die aktuelle Klimapoli- den Europawahlkampf keineswegs optimal für die tik der FDP maßgeblich prägt, und FDP. von den Grünen. Ein zweiter Kreis ist nach der Berliner Bar „Lebensstern“ benannt und geht auf Fazit: Der Koalitionswille nimmt zu die beiden Rechtspolitiker von der FDP und von den Grünen Schon vor dem ernüchternden Ergebnis der Euro- zurück, die ihn im letzten Jahr ins Leben riefen.15 pawahl zehrten die bleiernen Umfragewerte an den Nerven der Freien Demokraten. Die unter- 15 Vgl. Bubrowski, Helene / Leithäuser, Johannes: Ver- trauensbildende Maßnahmen. In: Frankfurter Allgemeine 14 Vgl. Höhne, Benjamin / Hellmann, Daniel: die Freien Zeitung vom 04.06.2019, S. 2 und Höhne, Valerie: Grün- Demokraten. Comeback der FDP mit neuer Mannschaft, gelbe Pasta-Connection. In: Spiegel Online vom Mit-Mach-Organisation und Mut-Mach-Liberalismus. – 30.03.2019. – Sankt Augustin, Berlin: KAS, 2017. – S. 33-45. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gruene-und-

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Der Austausch ist damit mittlerweile dichter als mit der CDU/CSU im Gesprächskreis „Kartoffelkü- che“.

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Thomas Köhler Hauptabteilungsleiter Politik und Beratung T +49 30 / 2 69 96-3550 [email protected]

Tobias Montag Koordinator Innenpolitik Politik und Beratung T +49 30 / 2 69 96-3377 [email protected]

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Herausgeberin: Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. 2019, Sankt Augustin/Berlin Gestaltung: yellow too Pasiek Horntrich GbR fdp-gruenden-neuen-gespraechskreis-zur-annaeherung- a -1259880.html [25.04.2019]. Titelbild: Aufsteller auf dem Bundesparteitag der FDP, 26. April 2019 Quelle: Tobias Montag | KAS Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Berlin 9 Parteienmonitor aktuell 8. Juli 2019

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