Lortzing - ein Autodidakt Gesine Schröder

Albert Lortzings Stücke gehören für Musiktheoretiker offensichtlich zu denen, "die nichts hergeben".' Kein musiktheoretisches Buch ist mir bekannt, in dem eines seiner Werke angesprochen, geschweige denn aus ihm zitiert würde. 2 Selbst Instrumentationslehren, in denen am ehesten Mittleres, Leichtes oder auch überhaupt Beispiele aus Opern anzutreffen sind, verschweigen ihn. Auf wen wirft das ein schlechtes Licht? Auf die musiktheoretischen Bücher oder auf den Komponisten? Selbstverständlich hat es kein Komponist nötig, in musiktheoreti- schen Büchern erwähnt zu werden. Wichtiger ist der Erfolg beim Publi- kum und bei Leuten, die kulturell zu bestimmen haben. Dazu gehören Musiktheoretiker nicht - und sie wollen gewöhnlich auch nicht dazu- gehören. Musiktheorie ist nun mal nichts für die Masse (oder für die Macht). Von dieser wie von jener unberührt, "hat - wie stets - die zünf- tige Musik hochmütig auf den Mann herabgeblickt, der es verschmähte, durch spezifisch musikalische insbesondere orchestrale Mittel den hochweisen Kontrapunktprofessoren [... ] zu imponieren".3 Bekanntlich zogen die Komponistenkollegen da mit: Franz Liszt hielt es für einen .abgeschmackten Einfall", in Weimar auf die Bühne zu bringen, Schumann fand „es ,unbegreiflich', daß Lorrzings Opern Glück machten, und der junge Hans v. Bülow [sah] in Lort- zing nur einen ,Dittersdorf redivivus' [... ], ,dessen musikalische Sprache

1 Clemens Kühn, Analyse lernen (Bärenreiter Studienbücher Musik 4), Kassel 1993, S. 186: ,es gibt Werke [... ], bei denen eineru nichts auf- oder einfallen will." Ihnen hat Kühn ein immerhin achtseitiges Kapitel gewidmet, betitelt „Stücke, die nichts hergeben•. 2 In Edgar lstel, Buch der Oper. Die deutschen Meister von Gluck bis Wagner, Berlin 1919, S. 271 f., findet sich jedoch eine h,.lbscitige harmonische Analyse der Bil- lardszene aus dem Wildschütz. Istel hatte bei Ludwig 1huille Theorie studiert und einige Zeit als Musiktheorielehrcr gearbeitet. Einer seiner Schüler war Friedrich Blume. 3 Ebd., S. 241.

303 Gesine Schröder den gebildeten Musiker heute nach kurzer Zeit schon mit Widerwillen erfüllen darf'".4 Doch hat sich das musiktheoretische Interesse weg von Kunstwerken im nachdrücklichen Sinne zu Fragen des Funktionierens musikalischer Sprachen verlagert, die nun auch einen alltagssprachli- chen Anstrich haben können. Damit wird Lortzing interessant für die Musiktheorie. Der Titel dieses Beitrags weckt die Erwartung, es solle der kurze musikalische Ausbildungsgang Lortzings rekonstruiert werden: Was hat er bei Carl Friedrich Rungenhagen, Felix Mendelssohns altem Konkurrenten, gelernt? Was hat er bei der Lektüre von Johann Georg Albrechtsberger oder möglicherweise auch anderer Kompositionslehrer wohl mitgenommen?' Über Rungenhagens Unterricht ließ sich nichts in Erfahrung bringen. Im zweiten Fall erwies sich die Antwort als schwie- rig, weil Albrechtsbergers hervorragende Lehre nicht etwa enge und darum gut wiedererkennbare Grundsätze bereitstellt. Zudem gibt es bei ihm so vieles, was bei Lortzing nicht zu finden ist; dazu gehört vor allem die Verehrung für Johann Sebastian Bach. Deren Fehlen besagt freilich nichts über das kompositorische Geschick des in Rede stehenden Kom- ponisten. Und der Vorteil eines Autodidakten kann darin liegen, dass er - anders als jemand, der wie Mendelssohn dureh eine gediegene Schule gegangen ist - überkommene, aber für ihn unpassende satztechnische Reglements nicht erst über Bord werfen muss und dass er womöglich durch Unkenntnis individuell und innovativ wirkt. Er braucht schlechte Routine nicht zu überwinden, weil er sie gar nicht kennt. Die beiden Beispiele, die ich gewählt habe, um an ihnen Lortzings kompositorisches Handeln zu demonstrieren, entstammen der - wie ihre Gattungsbezeichnung im Untertitel lautet - ,,romantischen Zau-

4 Ebd.; Richard Wagner habe das handwerkliche Geschick Lortzings immerhin Res- pekt abgenötigt; vgl. lstcl, Buch ckr Oper, S. 242. 5 „Rungenhagen erteilte mir den ersten musiktheoretischen Unterricht."; aus Lort- zings autobiografischer Skizze, in: : Sämtliche Briefe. Hi.storisch- kritisch, Ausgabe (Detmold-Paderborner Beiträge zur Musikwissenschaft 4), hrsg. von lrmlind Capclle, Kassel 1995, S. 450. Dass Lortzing sich mit Albrechtsbergers Schriften fortgebildet habe, geht auf Mitteilungen seiner Gattin zurück; vgl. lrm- Hnd CapeJle, Art. Lortzing, Albert, in: MG(Jl, Personenteil 11, Kassel und Stutt- gart 2004, Sp. 479.

304 Lortting - cin Autodidakt beroper" , einem Werk, das Lortzings klügster Verteidiger sen- timental {und nicht sentimentalisch) fand,6 vielleicht nur in Gegen- realttion auf die Vorliebe seiner Zeitgenossen für dieses Stück. Lortzings Undine wird hier nicht mit anderen musikalischen Umsetzungen dieses Sujets verglichen, und ich werde auch nicht auf die Verballhornungen eingehen, die Lortzing sich bei dieser Oper hat gefallen lassen müssen. Lortzing habe Erfolg und beherrsche die Bühne, weil er .genau die Grenzen seines Talentes innehält, nicht mehr tun will, als er kann und aus der Fülle einer schier unerschöpflichen Bühnenerfahrung gestaltet"? Auf Lortzings Bühne lerne .man endlich erkennen, was die Stellung der Reden und Szenen zu bedeuten hat". Auch dieser dramaturgischen Kön- nerschaft Lortzings möchte ich mich nicht widmen, sondern untersu- chen, wie er musikalisch im Kleinen disponiert. Hier hat er keine Übung von Kindesbeinen an. Doch wirkt seine musikalische Unausgebildet- heit gerade dort vorteilhaft, wo es um harmonische Anlagen in engem Rahmen geht. Hier trifft das zu, was er selber etwa so beschrieben hat: Auf dem Papier könne eine Szene nach nichts aussehen, doch auf der Bühne die beste Wirkung hervorrulen. Zunächst die übliche Einschät- zung von Lortzings Undine: .Der sich der Grenzen seiner Begabung wohlbewußte Meister hielt dabei an dem Herkömmlichen fest, ohne etwas Neues, Bahnbrechendes schaffen zu wollen [... ]. Musikalisch bot der Stoff dem Komponisten die Möglichkeit, in Bereiche vorzudringen, die ihm sonst, bei der Spieloper, verschlossen waren."' - .Besonders die Fachkollegen [... ] hätten [... ] ihm, dem König der Spieloper, die ,Erha- benheit' nicht gegönnt."• Noch die Herausgeberin des Nachdrucks der Partitur von 2005 meint, mit Undine "gelangt Lortzing an die Grenzen seines Talents".

6 Isrel, Buch der Oper, S. 252. 7 Dieses und das folgende Zitat ebd., S. 245 und 247. 'Rudolf Kloiber, Handbuch der Oper. Bd. !, Adam-Prokofjew, München 1961, '1973 0'2011), S. 275. 9 Dieses und das folgende Zitat aus: Irmelin Mai Hoffer, Vorwort zum Nachdruck der Partitur: Albert Lortzing, Undine. Romantische Zauberoper in vier Aufzügen, hrsg. von Kurt Sold.an (mph, ex.plorer) study score 20), München o. J.) unpa- giniert.

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Werfen wir einen Blick aufs Detail: Dem ersten Stück der Num- mer 3 der Oper, einer Romanze, liegt ein Text zugrunde, der von der vornehmen spanischen Literaturgattung den erzählenden Ritter über- nimmt, sieb aber nur ungenau an das Versscberna hält, das der deut- schen Variante der Gattung in der neueren Zeit gegeben worden war (Vierzeiler mit vierhebigen Trochäen; bei Lortzing jedoch mit vierhe- bigen Jamben).

erste musikalische Strophe zweite musikalische Strophe

1 Ich ritt zum großen Waffenspiele „Dies Pfand" i sprach sie mit glühn' den Wangen, 2 jüngst in die freie Reichsstadt ein; ,,Herr Ritter, es sei Euch geweiht, 3 der tapfern Ritter kämpften viele, doch eines muß ich doch verlangen 4 und jeder wollte Sieger sein. als Zeichen Eurer Tapferkeit." 5 Vor Kampfes Lust Vor Kampfes Lust 6 wogt jede Brust. pocht mir die Brust!

7 Als ich auf des Altanes Höhe ,,Zum Zauberwalde mögt Ihr eilen, 8 ein reizend Frauenbild ersehe; und könnt Ihr Kunde mir erteilen 9 ein Blick von ihm war mir Geheiß, von jener wundersamen Macht, 10 und ich errang des Sieges Preis. werd' süßer Lohn Euch dargebracht."

11 Geschieht es öfter, daß zu Zeiten Du ließest dich doch nicht verleiten? 12 ein einz'ger Blick so viel verspricht? Doch sonst besäß' ich Dich ja nicht. 13 Für Frauenschönheit kühn zu streiten, Für Frauenschönheit kühn zu streiten, 14 erheischen Ehr' und Ritterpflicht! erheischen Ehr' und Ritterpflicht!

Jeweils drei vierzeilige Strophen (Zeile 1-4, 7-10 und 11-14) und das in sie eingeschlossene Kurzzeilenpaar (Zeilen 5 und 6) sind musikalisch zu einer Großstrophe zusammengefasst. In den letzten Textstrophen der beiden musikalischen Strophen werden die ersten beiden Zeilen jeweils von Undine, dem Wassermädchen, gesungen, alles Übrige singt ihr wankelmütiger Geliebter, Ritter Hugo. Ihm wird es später, am Ende der Oper, versagt sein, den - ursprünglich für ihn vorgesehenen - Hel- dentod sterben zu dürfen: ein Zug von Wahrhaftigkeit, dass die Oper

306 Lortting - cin Autodidakt nicht mit seinem Untergang endet. Das nachträglich eingeführte lieto fine der Oper ist alles andere als bloß ein versöhnliches Geschenk ans Publikum.10 Der Ritterlichkeit dieses Ritters ist von vornherein nicht zu trauen - und das wird bei seinem allerersten Auftritt klar. Oft wird eine derart geformte textliche Vorgabe innerhalb der musi- kalischen Strophen, wenn man nicht ganz kleingliedrig bleiben will und - wie in der Oper opportun - dem Ganzen stattdessen einen über- greifenden Zug verleihen möchte, in eine sogenannte dreiteilige Lied- form eingepasst. Jede der vierzeiligen Strophen entspräche einem Teil dieser dreiteiligen Form, die in diesem Fall einmal wiederholt würde. Das Kurzzeilenpaar schlüge man aus inhaltlichen Gründen vermutlich dem erstem Teil zu, ungewöhnlich wäre höchstens, dass dem kontras- tierenden Mittelteil und der Reprise doppelt so viel Text zukäme wie sonst, da doch je zwei Zeilen für den zweiten und dritten Teil reichten. Lortzing, der sich des Formschemas auch andernorts gern bediente, realisierte es hier folgendermaßen: Mit den Kurzzeilen beginnt der Mit- telteil bereits und er endet erst mit der zwölften Zeile, sodass der Repri- senabschnitt - wie üblich - lediglich zwei Textzeilen erhält, der Mit- telteil jedoch außerordentlich textreich ausfällt. Er ist zudem inhaltlich besonders inhomogen: zuerst die Kurzzeilen, in denen der arme Ritter seine Männlichkeit zu spüren bekommt; dann die Wendung zu Frau- enbild und Zauberwald; schließlich Undines Fragen (siehe Notenbei- spiel 1). Der Mittelteil erscheint dadurch als ein solcher, dass er mit einem je viertaktigen Orgelpunkt auf der Dominante G beginnt und endet. Ein- geschlossen sind zehn Takte in Es-Dur und in c-Moll, der Variante der ersten Stufe und davor der zu dieser gehörenden Paralleltonart. Deren

10 Zu den Änderungswünschen der Regie und Lortz.ings Bericht über seine Ände- rungen des Schlusse, vgl. Lortzing. Briefe, S. 217 (,,Nur eine Ausstellung hat er zu machen: daß Hugo stirbt und sich am Schluß als Leiche präsentirt. Er wünscht, daß Kühleborn seinen Spruch ändern und um Undine willen, die doch ganz schuldlos gelitten, ihren Gdiebten in's Leben zurück rufe. Er meint, der Eindruck sei wohl- thuender und die letzte glänzende Schlußdecoration harmonire schlecht mit dem Tode Hugo',.• Brief Ende November 1844 von Philipp Reger in Frankfurt) und S. 222 (.Den Schluß der Oper habe ich [... ] ganz so wie du mir später schriebst, geändert und er ist jedenfalls so besser." Brief an dens. vom 7. Januar 1845).

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Notenbeispiel 1: Albert Lortzing, Undine (Klavierauszug, Leipzig: Peters [um 1910]): Nr. 3, Studienziffer 1

308 Lortting - cin Autodidakt harmonische Farbwirkung ist selbstverständlich durch den Text moti- viert: Stichworte sind Frauenbild und Zauberwald, das ganz Andere und das Wunderbare, je mit den konkurrierenden Frauengestalten Ber- thalda (Frauenbild) und Undine (Zauberwald) verknüpft. Rundberum hört man ritterliches trompetengerechtes C-Dur, das dem Selbstbild des Ritters entspricht. Splendide Inszenierung der Tonarten. Es gelingt Lortzing, die eingeschlossenen Regionen Es-Dur und c-Moll durch Meidung jeglicher modulatorischer Vermittlung oder sogenannter har- monischer Logik fremd wirken zu lassen, eher also durch Nichtstun als durch Erfindung kniffiiger Harmonieprogressionen. Auf die Heraus- forderung, die Versstruktur der Kurzzeilen musikalisch umzusetzen, lässt sich Lortzing im Übrigen nicht ein; die einmal gewählte Länge der musikalischen Phrasen bleibt gewahrt, als seien die zwei Zeilen eine. Ihre Wiederholung sorgt für einfache metrische Korrespondenz. Neben der Gedehntheit des Mittelteils sind zwei weitere Besonder- heiten der Romanze hervorzuheben: erstens die Art, wie der Mittelteil beendet wird, zweitens die interne Gliederung des ersten Teils. Der Mit- telteil endet mit Undines zwei Zeilen und Undine singt sie, als stünde ihr die Reprise zu, nämlich zu der leicht abgewandelten Melodie des Anfangs. Die bei ihrem Einsatz noch nicht erreichte Tonika verhin- dert aber, dass sie ähnlich naiv erscheint wie Hugo, als spiegelte sie sich selber etwas vor. In dem Orgelpunkt und der mit ihm suspendierten tonalen Basis bleiben ihre Zweifel bewahrt. Noch wird nichts zu einem Ende gebracht. Undines Frage endet auch harmonisch offen. Melodisch beginnt die Reprise mit Zeile 11 (Undine}, harmonisch erst mit Zeile 13 (Hugo). So ergibt sich eine Mischung zwischen dem Reglement, die drei Hauptstrophen (unter Absehung von den beiden Kurzzeilen) direkt den drei Teilen zuzuordnen, und der Erwartung, die Reprise müsse ver- kürzt sein und - wie üblich - mit zwei Textzeilen auskommen. Zum zweiten Aspekt, der internen Gliederung des ersten Teils: Sehr speziell und, man möchte sagen, romantisch ist dessen Anlage insofern, als die übliche harmonische Disposition einer periodisch geformten Melodie durch ausgestellte Kunstlosigkeit und durch ein leichtes Lokalkolorit variiert wird. Statt der einfachsten Realisierung (Dominante oder auf andere Art offener Schluss am Ende des Vordersatzes, Tonika am Ende des Nachsatzes) erscheint für die Enden der periodischen Halbsätze eine

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1. Ich ritt zum g·rossen \\af _ feu _ spie_ Je jiiug·st in die frei_ e Reich sstadt 2.,,Dies Pfaud'.'sprneh sit: mit glüli11dl'11 Wa11_gen, "Herr RiUer, es sei Euch ge _ -~-~-u,._,rt_. _ (auf seine Scharpe deutend )

d1T l1Lpfe1·11 Hit_ ter sah mau vie _ le und je _ der woll _te Sie_ger doch ei _ 11 es muss ich uoch ver _ lau _ gen als Zei _ che11 Eu_ rer Ta_pfer_

Notenbeispiel 2: Albert Lortzing, Undine, Nr. 3, T. 10-1 vor Studienziffer 1 noch nicht allzu absonderliche vereinfachende Variante: Ganzschluss auf der Tonika sowohl am Ende des Vorder- als auch des Nachsatzes, sodass die für große Bögen nötige Differenz der Schlüsse ausbleibt (siehe Notenbeispiel 2). In den Nachsatz eingeschlossen ist aber eine zwei Takte ausma- chende Verdopplung der vierten Zeile, die unvermittelt zur dritten Stufe kadenziert (e), jener Stufe, die im Mittelteil gefärbt vorkommen wird (Es). Der Nachsatz umfasst daher sechs Takte statt vier. Es erge- ben sich als Eckpunkte des harmonischen Feldes der ganzen Romanze:

310 Lortting - cin Autodidakt c-C-e-Es, neben der ersten nur zweifach ausgeführten die dritte, beide jeweils in beiderlei Tongeschlecht realisiert. Statt Stufenreichtum: Stu- fenarmut. Das erhöht die Wirkung und Farbigkeit der einzelnen Statio- nen. Die Instrumentation ist übrigens höchst professionell, wie nicht anders zu erwarten bei jemandem, der im Theaterorchester selber spielt oder es selber leitet: Sobald die Sänger einsetzen, schweigt die Masse; alle Pausen des Gesangs sind für Tuttieinsätze genutzt. Die melodische und instrumentale Idiomatik ist hervorragend beachtet, wenn sie auch nicht gerade innovativ wirkt. Mit meinem zweiten Beispiel möchte ich mich dem instrumenta- len Anteil der Oper zuwenden, jenem Anteil, der mehr noch als die in die Oper integrierten Lieder und Romanzen für das steht, was Lortzing in Undine umtrieb: primär auf die Musik zu bauen und weniger auf das Gesprochene. Dass in einer romantischen Zauberoper die Konkur- renz vor allem mit Carl Maria von Webers Freischütz aufzunehmen war, muss Lortzing bewusst gewesen sein. Nicht zufällig begegnen in seinen Briefen aus der Zeit der Planung und des Beginns des Kompositions- projektes Undine immer wieder Zitate aus dem Freischütz. Aber auch Wolfgang Amadeus Mozart spielt bei der offensichtlichen Selbstverge- wisserung Lortzings, seiner Suche nach einer eigenen Position in dieser Zeit eine nicht unwesentliche Rolle. Ihn selber habe der Erfolg einzelner Musikstücke überrascht, denn das Genre sei für ihn „fremdes Terraln"11 gewesen. Dieses Terrain wird von Beginn an stilistisch fixiert: Die Ouvertüre zu der - wie er sel- ber findet - von ihm „äußerst schlau bearbeitet[en], große[en] lyrisch romantische[n] Oper mit allerlei Kanaillerien"12 ist in eine frei gehand- habte Sonatenform gefasst. Einer unmittelbar aus der Schlussgruppe der Exposition hervorgehenden kurzen Durchführung fulgt eine Reprise mit umgekehrter Reihenfolge der beiden Themen; das erste wird über- haupt nur angedeutet und verliert sich sehr bald, um einem eingescho- benen Andante mit der Unterwassermusik Platz zu machen (die im Finale der Oper als Schwanengesang zu der Dekoration eines untersee- ischen Kristallgewölbes zu hören sein wird). Diesem schließt sich eine

11 Brief vom 3. Mai 1945 an Karl Gollmick in Frankfurt, in: Lartzing. Briefe, S. 240. 12 Brief vom 16. Mai 1844 an Philipp Düringer in Mannheim, in: ebd., S. 177.

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Notenbeispiel 3: Albert Lortzing, Undine, Ouvertüre, Studienziffer 6 bis acht Takte vor? kurze Apotheose an, für die Lortzing nochmals das sangliche zweite Thema nutzt. Der Hauptsatz im schnellen Tempo ist ähnlich zerklüf- tet wie der in Webers Freischütz. Befördert wird dies dadurch, dass die langsame Einleitung mit der über einem Orgelpunkt der fünften Stufe erscheinenden Doppeldominante endet, sodass das tempo guisto mit der Dominante beginnt, statt harmonisch gleich Fuß fassen zu können. Eine regelmäßige Syntax ist nicht feststellbar. Eingeschlossen sind wie bei Webers Werk heftig rhythmisierte Akkordrepetitionen. Sie dienen nicht dazu, das Taktgerüst zu stärken, sondern drängen nach Unab- hängigkeit. Lortzing wahrt die übliche instrumentale Disposition der Exposition: Hauptsatz im Piano mit kleiner Besetzung; dann subito ein- fallendes Tutti. Während Weber in diesem überleitenden Tutti fast ohne Modulation auskommt, moduliert Lortzing heftigst: Mit einem über elf

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Stationen gestreckten zweiphasigen Quintfall, der in Tonarten mit bis zu fünf b ausschwenkt, gelangt er zur üblicherweise hier zu erwarten- den fünften Stufe der Seitensatztonart. Einer schönen Tradition gemäß wird Letztere mit ihrer Variante (f-Moll) vorbereitet. Wie bei Weber gibt es vor dem eigentlichen Seitensatz einen ungewöhnlich ausgebreiteten dominantischen Orgelpunkt. Diese Partie ist durch ein eigenes Solo akzentuiert: Ließ Weber sie aus dem berühmten visionären Eintritt der Klarinette zum stationären Es-Dur hervorgehen, der verfrüht eintreten- den Seitensatztonart, so handelt es sich bei Lortzing weniger spektakulär und mit unverhülltem Sentiment um eine Melodie der ersten Geigen, die von dem ersten Horn und der ersten Klarinette teilweise verdoppelt wird. Die instrumentale Anlage des folgenden Seitensatzes ist bei beiden Komponisten gleich: Lortzing lässt dessen Melodie wie Weber von den ersten Geigen und einem verdoppelnden Blasinstrument spielen. Mit sei- nen freien Nebennoten und der flächigen Harmonik prägt der Satz eine Al-fresco-Schreibweise aus, wie sie zu der Zeit auch in anderen Genres außerhalb der Oper üblich war, etwa in der Musik für Virtuosen. Sogar Webers Unruhe stiftende Synkopen in den je geteilten zweiten Geigen und Bratschen begegnen wieder (siehe Notenbeispiel 3). Die Durchführung moduliert bei Lortzing nach dem später beim deutschen Schlager so populär gewordenen Schema Grundton wird Leitton. Als Zwischenstadien wirksame, jeweils mit ihren eigenen Dominanten ausgestattete Akkorde klettern somit halbtönig aufwärts: F, fo, g. Die entscheidende Modulation aus der Durchführung des Frei- schütz basiert auf dem gleichen Modell. Doch hatte Weber eine Ver- sion benutzt, welche die Stationen in Abstände von Ganztönen plat- ziert: b, c, d. Jeder Station geht selbstverständlich wieder eine eigene Zwischendominante voraus. Das Schema lautet also nicht: Grundton wird Leitton, sondern der chromatisch erhöhte bzw. alterierte Grundton wird Leitton. Stellen, wie Lortzing sie hier schreibt, geben Anlass zu der Frage, ob der Komponist mit dem harmonischen Sog nicht selber ins Schlingern gerät? Jedenfalls wagt er, Weber durch Chromatisierung zu überbieten. In der früheren Fassung der Ouvertüre hatte Lortzing auf die Wie- derkehr des ersten Themas in der Reprise verzichtet. Er mochte sich dort noch dem melodischen Schwung des Seitensatzes überlassen. Das

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Moment des Zögerns und des Zerrissenen, das das erste Thema brachte, wurde vom Fluss des Geschehens - mit der den Wasserwesen zugehö- rigen Musik - weggeschwemmt. Es ist als Streben nach dramatischer Wahrhaftigkeit deutbar, wenn das Formschema suspendiert wird. Dass Lortzing das erste Thema wieder einführt, als er die Ouvertüre für die Wiener Vorstellung seiner Oper umarbeitet, sieht nach einer Konzes- sion an das musikalisch womöglich konservativere Publikum dort aus. Doch bleibt die Wiederkehr derart vage, dass ein gegenteiliger Effekt eintritt: Nur noch Fetzen des Themas sind zu hören - und sie stiften Unsicherheit, sodass die folgende Kristallpalastmusik umso mehr ver- klärt. Lortzing hört nun genauer auf das innere Potenzial seiner themati- schen Erfindungen. Er kann darauf vertrauen, dass ein Zuhörer heftiger bewegt ist, wenn ihm wirklich der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, als wenn man ihm die längere Jubelpartie der ersten Fassung vorgespielt hätte.

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