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Sendung vom 22.10.1999

Prof. Dr. h.c. Wolfgang Leonhard Russland-Experte im Gespräch mit Dr. Johannes Grotzky

Grotzky: Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, bei uns ist heute eine Person der Zeitgeschichte zu Gast. Er ist ein Mann, der Geschichte erlebt und Geschichte geschrieben hat: Ich begrüße Sie ganz herzlich zu unserer Sendung, ebenso wie Herrn Professor Wolfgang Leonhard. Herzlich willkommen. Leonhard: Herzlich willkommen, Johannes Grotzky. Grotzky: Mit zarten 14 Jahren hatten Sie schon einen gewaltigen Lebensweg aufzuweisen: Man kann da die Stationen Wien, Berlin, Ulm, Stockholm und Moskau sehen. Was hat Sie denn als knapp Vierzehnjähriger nach Moskau gebracht? Leonhard: Ich war schon 1931 in Berlin als knapp Elfjähriger gegen Ende der Weimarer Republik Mitglied der "Jungen Pioniere": mit dem roten Halstuch und dem Spruch "Seid bereit, immer bereit". 1932 habe ich am 1. Mai mitdemonstriert und schaute selbstverständlich gläubig auf die Sowjetunion, auf das Land, in dem die Arbeiter die Macht hatten. Als Hitler an die Macht kam, hat mich meine Mutter, eine aktive Antifaschistin, zuerst einmal nach Schweden gebracht. Im März 1935, nachdem sie in Berlin zwei Jahre lang illegale Arbeit gemacht hatte, kam sie selbst auch nach Schweden, weil ihre Gruppe aufgeflogen war. In Schweden konnten wir jedoch nicht bleiben, weil wir dort keine Aufenthaltserlaubnis bekamen, und so fragte sie mich im Mai 1935, ob wir entweder nach England zu unseren Freunden in Manchester gehen sollen oder nach Moskau. Für mich Vierzehnjährigen war das selbstverständlich eine ganz überflüssige Frage: Ich wollte natürlich nach Moskau. So fuhren wir eben im Juni 1935 in die Sowjetunion. Grotzky: Moskau und auch die Stationen davor auf Ihrem Lebensweg waren sehr stark geprägt von Heimerziehung, Internaten und Schulen, auf denen Sie praktisch ohne Elternhaus gelebt haben. War die Ideologie, in der Sie erzogen worden sind, für Sie dann auch zur Heimat geworden? Leonhard: Ich glaube ja. Das ist mir natürlich damals nicht so bewusst geworden, aber ich glaube, dass meine Ideologiegläubigkeit auch etwas damit zu tun hatte, dass ich nicht in einem, wenn man so will, normalen Elternhaus aufgewachsen war. Meinen Vater kannte ich überhaupt nicht, und meine Mutter sah ich nur ab und zu. Ich war in einem Landschulheim nach dem anderen: Diese hoffnungsvolle Ideologie einer neuen Gesellschaft war daher etwas, das außerordentlich tiefen Eindruck auf mich gemacht hat. Grotzky: Sie sind dann in eine Sowjetunion gekommen, in der Stalin regierte. Ihr persönliches Schicksal, das Sie dort erlitten, war sehr hart: Auch Ihre Mutter wurde relativ rasch von den stalinistischen Säuberungen erfasst. Sie wurde verhaftet und verschwand. Was war dann mit Ihnen los? Sie gehörten ja zu den Immigrantenkindern, die auf der einen Seite in diesem Land privilegiert waren. Auf der anderen Seite waren Sie selbst aber auch ein Opfer stalinistischer Säuberungen. Hat das denn nicht einen Riss bei Ihnen verursacht? Leonhard: Ja, wollen wir einmal so sagen: Es hat gewisse Komplikationen gegeben. Ich war in dem berühmten Kinderheim Nummer 6. Nun gibt es ein ganzes Buch über dieses Kinderheim. Dort waren die Kinder deutscher kommunistischer Immigranten und die Kinder von österreichischen Schutzbundleuten untergebracht. Das war unser Heim. Wir wurden in der deutschsprachigen "Karl-Liebknecht-Schule" in Moskau erzogen, in der ja auch Peter Florin, Markus Wolf, Werner Eberlein und andere aufgewachsen sind. Es gab da immer einen Zwiespalt: Auf der einen Seite war ich ein gläubiger Anhänger des Marxismus-Lenismus als der, wie es mir damals schien, einzigen wissenschaftlich festgelegten Ideologie. Auf der anderen Seite gab es aber auch die unendlich schrecklichen Dinge, die ich selbst in der Sowjetunion erlebte, z. B. die Verhaftung meiner Mutter am 26. Oktober 1936 in Moskau. Sie war im Übrigen eine enge Freundin von und gewesen. Ich erlebte die Verhaftung all unserer Lehrer, die Verhaftungen im Freundeskreis. Wir fragten uns, was da wirklich los war. Grotzky: Wie lange haben Sie denn Ihre Mutter nach der Verhaftung nicht gesehen? Leonhard: Ich habe sie nach der Verhaftung am 26. Oktober 1936 in Moskau erst wieder im August 1948 in Ostberlin wiedergesehen. Ich lebte also zwölf Jahre lang ohne meine Mutter. Meine Mutter war in der Zeit fast zehn Jahre lang im berüchtigten Lager von Workuta und dann anschließend noch zwei Jahre in der Verbannung in Ostkasachstan. Sie kehrte dann erst im Sommer 1948 zurück. Grotzky: Das waren allerdings zwölf Jahre, in denen Sie im kommunistischen Regime Karriere gemacht haben. Sie wurden in diesem Regime erzogen: mit allen Höhepunkten und auch mit allen Tiefpunkten. Leonhard: Ich habe nicht nur Karriere gemacht. Es gab ein Auf und Ab. Grotzky: Über dieses Auf und Ab werden wir noch sprechen, aber mich interessiert zunächst einmal ein bestimmter Punkt. Sie waren schon ein politisch mündiger Mensch, als Sie in der Sowjetunion gelebt haben und die Schauprozesse begannen. War das in Ihrer politischen Erziehung ein Thema? Hat man solche Dinge gerechtfertigt? Hat man gerechtfertigt, dass Stalin einen Großteil der Altrevolutionäre hat verurteilen, hinrichten und vernichten lassen? Waren das Themen, bei denen Sie gesagt haben: "Hoppla, das kann doch alles gar nicht wahr sein!" Leonhard: Ja, das war natürlich das Hauptthema zwischen meinem fünfzehnten und siebzehnten Lebensjahr. In den Jahren der großen Säuberung zwischen 1936 und 1938 habe ich fast täglich nur an diese Dinge gedacht. Den Prozessen habe ich nicht einen Moment lang geglaubt. Dort wurden ja z. B. Sinowjew, Radek, Bucharin verurteilt, die engste Mitkämpfer Lenins und große Vorkämpfer in der Oktoberrevolution waren. Mir war klar, dass das keine Spione und Agenten waren: An so etwas habe ich nie geglaubt. Aber ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, ob es nicht noch etwas anderes gibt, was diese Säuberungen vielleicht doch notwendig macht. Grotzky: Es gibt aus der stalinistischen Zeit eine Menge Memoirenliteratur von Leuten, die ähnlich wie Sie diese Zeit dort durchlebt haben und die immer wieder eine Art von Rechtfertigung gefunden haben für das, was dort an schlimmen Dingen passiert ist. Ich will das einmal etwas leger ausdrücken: Sie sagten, dass es wohl schon zum Guten der gesamten Sache gewesen sein wird, auch wenn im Einzelnen Unschuldige mit verurteilt worden sind. Was steckt da für eine Psychologie dahinter, dass Menschen trotz der Verbrechen bei diesen stalinistischen Verfolgungen dieses Regime verteidigt haben? Was war da los? Leonhard: Es war ein interessanter und bedeutsamer Zwiespalt. Es gab auf der einen Seite die feste Überzeugung, dass der Marxismus-Leninismus die einzige wissenschaftlich beweisbare Weltanschauung ist. Es gab zwar noch irgendwo irgendwelche Sozialdemokraten oder gläubigen Christen oder Liberale oder Konservative: Aber für uns waren das nur Strömungen, die bloß praktische Tagesinteressen vertraten. Wir hingegen, die Anhänger des Marxismus-Leninismus, hatten eine wissenschaftliche Weltanschauung, die in der Lage war, alles zu erklären, alle Fragen aller Völker in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und die den Beweis führen konnte, dass der Kapitalismus durch den Sozialismus und dann später durch den Kommunismus weltweit abgelöst wird. Das war für uns ganz einfach bewiesen. Es gab da ja auch so seltsame Dinge, wie die theoretische Vorgabe, dass man zwischen Form und Inhalt unterscheiden müsse. Das wurde uns von Kindheit an beigebracht: Ein baufälliges Haus im Kapitalismus ist ein Zeichen für den Niedergang dieser Gesellschaftsform, wohingegen ein baufälliges Haus in Moskau ein Zeichen für die Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaus ist. Die Preiserhöhungen im kapitalistischen Westen waren ein Beweis für die Ausbeutung der Arbeiter, eine Preiserhöhung in der Sowjetunion war ein wichtiger volkswirtschaftlicher Beitrag für die Errichtung des Sozialismus. Es war klar, dass diese Dinge niemals auf die gleiche Stufe gestellt werden durften. Das war es, was einen immer wieder gehalten hat und den Übergang zu einem oppositionellen Denken und Handeln so außerordentlich erschwert hat. Grotzky: Letztlich war das doch eine Polarisierung in dem Wissen, dass man selbst den richtigen Weg gewählt hat und alles andere um einen herum falsch war. Wenn man dann sieht, dass unter dieser Prämisse der Faschismus das Falsche und der Antifaschismus das Richtige ist: Wie konnten Sie dann akzeptieren, dass Stalin mit dem Protagonisten des Falschen, mit dem faschistischen Führer Hitler, einen Pakt macht? Wie konnte man das überhaupt vermitteln? Leonhard: Genau das war mein zweiter Punkt. Mein erster Punkt der kritischen Auseinandersetzung bezog sich auf diese entsetzliche große Säuberung von 1936 bis 1938, der ja mehr Parteimitglieder zum Opfer gefallen waren als Parteilose: Das waren doch eigentlich die Blüte der Intelligenz und die wichtigsten Funktionäre gewesen. Was war da los? Das hat ganz tief kritisch in mich hineingewirkt. Der zweite Punkt war natürlich der Hitler- Stalin-Pakt vom 23. August 1939. Denn wir wussten ja sofort, dass das kein Nichtangriffspakt ist, sondern dass das sehr weit darüber hinausgehen und unmittelbar das eigene Leben betreffen wird. Aus den Moskauer Kinos verschwanden sofort "Familie Oppenheim" und "Professor Mamlock": zwei antifaschistische Filme. Es gab sie plötzlich nicht mehr. Die Bibliothek an der Kalaschnij-Pereulok 2, also die Bibliothek für ausländische Literatur, war drei Tage lang geschlossen: Danach waren alle antifaschistischen Bücher daraus verschwunden. Auch die Bücher von Anna Seghers: Alles war plötzlich weg. Ich sah dann auch plötzlich Nazi-Zeitschriften aushängen. Ich wusste spätestens da, dass dieser Pakt weitreichende Folgen haben wird. Dieser Hitler-Stalin-Pakt war der zweite Anlass, der 1939 – ich war damals 18 Jahre alt – in mir ein sehr tiefes Gefühl von Opposition wachgerufen hat. Grotzky: Sie sind dann von einer gesamten antideutschen Welle erfasst worden, als sich das Blatt wendete und Hitler wieder zum Feind wurde: Sie wurden nach Kasachstan verbracht. Dort haben Sie erleben müssen, dass man plötzlich nationale Etikette traf, denn die Deutschen waren innerhalb der Sowjetunion nun alle zu Feinden erklärt worden – egal ob sie auf Seiten der kommunistischen Partei standen oder nicht. Was hat diese Zwangsumsiedlung in Ihnen ausgelöst? Leonhard: Ich bin, was sehr viele Menschen wundert, einer der wenigen Überlebenden dieser Zwangsumsiedlungen der Deutschen nach Nord- Kasachstan: Sie kamen von der Wolga, aus dem Kaukasus, aus Moskau oder aus Leningrad. Ich war damals 20 Jahre alt und habe es überlebt. Das ist auch die Gegend, aus der heute noch fast alle Russland-Deutschen kommen: Sie kommen fast alle aus Kasachstan. Es war ein entsetzliches Gefühl: Man war nicht unbedingt ein Feind, aber man war ein zweitklassiger Bürger. Man war jemand, dem man nicht ganz traute. Das war ein entsetzliches Gefühl für einen jungen überzeugten Menschen, der auf dem Boden des Marxismus-Leninismus stand. Aber auch das, diese dritte große Schwierigkeit meines Lebens, hat man schrittweise überwunden, schrittweise verdrängt. Es gab die große Säuberung, den Hitler-Stalin-Pakt und die Zwangsumsiedlung nach Kasachstan: Das waren die drei schweren Prüfungen – und doch blieb man der festen Überzeugung, dass man auf der richtigen Seite steht. Grotzky: Es gab in der Sowjetunion, in Baschkirien, eine Schule, auf der Funktionäre ausgebildet worden sind, die dann im Sinne der kommunistischen Internationale in ihre Heimatländer zurückgehen sollten, um dort Aufbauarbeit zu leisten. Zu diesen Kaderschülern gehörten auch Sie. Wenn Sie auf diese Zeit in der Kominternschule zurückblicken: Würden Sie sagen, dass Sie dort tatsächlich Dinge gelernt haben, die Sie bis heute beeinflussen? Leonhard: Einiges vielleicht. Es war eine sehr intensive Schule: Es war nicht das, was man im Westen politische Wissenschaften nennt, sondern etwas sehr viel – vorsichtig ausgedrückt – Sachbezogeneres. Man lernte, wie man illegal arbeitet. Man lernte, Treffs anzulegen. Man lernte Methoden, wie man illegal Flugblätter vorbereitet. Man lernte Bündnispolitik in der illegalen Arbeit, und man lernte, das war erstaunlich, den ideologischen Kampf gegen den Faschismus. Wir bekamen alle Hitlerreden, alle Goebbelsreden, wir bekamen alle Sachen von Speer usw. und mussten das dann genau lesen: Auf jede Nazi-These mussten wir eine wirklich hervorragende Antithese finden. Diese Intensität der Schulung hat mich damals beeindruckt – und tut es auch noch heute. Gleichzeitig gab es dort aber auch diese erschreckende Intoleranz: Jeder Satz wurde gewogen, wurde genau analysiert, und aus dem kleinsten falschen Satz wurden ganze Verdächtigungsszenarien aufgebaut. Man wurde dabei eben doch zu einem gehorsamen kleinen Schräubchen einer großen Maschine erzogen und nicht zu einem selbstbewussten, selbständig denkenden und handelnden Antifaschisten. Grotzky: Ihr Name verbindet sich in der Folgezeit mit der Gruppe um . Sie haben Walter Ulbricht schon recht früh in Moskau kennengelernt und sind ihm später wiederbegegnet. Nach dem Krieg sind Sie als jüngstes Mitglied mit der Gruppe Ulbricht nach Deutschland gekommen. Was war das Ziel der Gruppe Ulbricht, und was war Ihr persönliches Ziel? Welche persönliche Motivation hatten Sie, im Nachkriegsdeutschland bei dieser Gruppe mitzuarbeiten? Leonhard: Ich wurde natürlich nicht gefragt, weil man da nie gefragt worden ist. Ich war Rundfunksprecher des Senders "Freies Deutschland" in Moskau, und am 27. April, also drei Tage vor unserer Abfahrt, wurde mir erklärt, ich müsse sofort nach Ende der Sendung zu Walter Ulbricht kommen. Nach Ende der Sendung ging ich dann eben ins , und da stand Ulbricht und erklärte uns: "Ja, wir werden in den nächsten Tagen nach Deutschland fliegen, wir müssen dazu noch ein paar organisatorische Dinge regeln." Da lernte ich ihn zum ersten Mal kennen. Für mich erstaunlich war diese Selbstverständlichkeit: Man kommt nach zwölf Jahren Nazizeit wieder zurück nach Deutschland und zeigt keine Gefühlsregung. Völlig gleichmütig wurden dabei die praktischen und strategischen Fragen besprochen. Unvergesslich ist mir auch, dass uns gar nicht gesagt wurde, wohin wir eigentlich fliegen, welche Aufgaben wir haben werden. Im Stalinismus bekam man nie etwas mitgeteilt: Man hat das ganz bewusst so gemacht, damit man sich selbst gegenüber der Partei und der Führung hilflos fühlt. Mit meinen 24 Jahren war ich der Jüngste bei dieser plötzlichen Reise. Am Abend des 29. Aprils gab es bei im Hotel Lux eine Abschiedsfeier: Alles war so richtig gemütlich und Pieck erhob sein Glas auf die zukünftige Arbeit in Deutschland. Am 30. April stand dann in der Früh am Nebeneingang des Hotel Lux ein Autobus, und wir fuhren zum Flughafen. Ich dachte mir, dass wir wohl den ganzen Tag im Flughafen verbringen werden, denn man brauchte ja ein Propusk, einen Zulassungsschein. Aber es ging alles ganz glatt, und schon zehn Minuten später saßen wir in einer amerikanischen DC 3, die man Russland zur Verfügung gestellt hatte, und flogen ab. Ich wusste immer noch nicht, wohin wir eigentlich flogen. Aber ich war damals wirklich voller Hoffnung: Ich hoffte, dass wir nach dem Krieg in der Sowjetzone Deutschlands kein stalinistisches System aufbauen werden, sondern dass das alles ganz anders sein wird. Ich hoffte, wir würden andere, eigene Möglichkeiten haben. Vor allem glaubte ich wie viele andere Menschen in der Sowjetunion auch, dass, sobald der Krieg beendet und der Faschismus besiegt ist, auch die Sowjetunion selbst freier und toleranter werden wird. Wir glaubten, dass es Abstimmungen darüber geben wird, ob man die Kollektivwirtschaft behalten soll oder nicht, dass die Leute aus den Lagern zurückkommen werden und dass es eine tolerante Kulturpolitik geben wird. Das alles war damals eine weit verbreitete Annahme. So kam es, dass ich an jenem 30. April und 1. Mai die früheren Dinge zwar nicht vergessen hatte, aber ich hatte sie ein wenig verdrängt, und ich war vor allem voller Hoffnung. Ich hoffte, dass es das, was ich in der Sowjetunion unter Stalin erlebt hatte, niemals mehr geben wird. Grotzky: Trotzdem waren Sie von der Aufbauarbeit in der damaligen SBZ enttäuscht und sind dann mit viel Sympathie für den "Dritten Weg" nach Jugoslawien gegangen, um dort weiter zu arbeiten. Was hat Sie denn an Jugoslawien fasziniert? Leonhard: Das geschah ja nicht sofort. Zuerst einmal war ich doch noch sehr optimistisch, als ich in Berlin angekommen bin. Am 11. Juni gab es die Wiedergründung der KPD, und es wurde verkündet: "Wir werden das Sowjetsystem Deutschland nicht aufzwingen, wir sind für eine parlamentarisch-demokratische Republik mit allen Rechten und Freiheiten für das Volk." Es gab zum ersten Mal in meinem Leben ein Mehrparteiensystem: Am 17. Mai kam die SPD und am 25. Mai auch plötzlich die Christlich-Demokratische Union. Grotzky: Wobei die SPD natürlich mit der SED zwangsvereinigt wurde. Leonhard: Zu Beginn hatte ich jedenfalls große Hoffnungen. Aber schon während der Vereinigung der beiden Parteien KPD und SPD zur SED, bei der es Druck gab und nicht eingehaltene Versprechungen benutzt wurden, und dann mit jedem Monat mehr und mehr entdeckte ich die bürokratisch-diktatorische Entwicklung in der SBZ. Ab 1948 war mir dann klar: "Wolfgang, hier kommt ein Stalinismus auf deutschem Boden. Da kannst du nicht mitmachen." Ich suchte nach einem Ausweg. Im Sommer 1948 hat sich dann das titoistische Jugoslawien von Moskau losgelöst. Ich selbst war nach wie vor für Marx, Engels und Lenin und hoffte auf einen besseren Sozialismus. Ich bin aber nicht, wie Sie sagten, gegangen, sondern unter Lebensgefahr von der SED-Parteihochschule weg quer durch die Tschechoslowakei geflohen, bis ich nach 14 Tagen Flucht am 25. März 1949 in Jugoslawien ankam: in der Hoffnung, die sich am Anfang auch zu erfüllen schien, dass ich nun einen eigenständigen Sozialismus erleben werde. Grotzky: Hatten Sie vorher schon Kontakte nach Jugoslawien? Gab es da Leute, die Ihnen geholfen haben? Leonhard: Ja, zweifellos. Ich hatte ja jugoslawische Freunde, und seit dem Bruch Jugoslawiens mit Moskau am 30. Juni 1948 stand ich in ständigem Kontakt mit den Jugoslawen und sagte ihnen, dass ich auf ihrer Seite stünde und dass auch ich ein anderes Modell – eben nicht diesen entsetzlichen Stalinismus – des Sozialismus anstreben würde. Grotzky: Dieser Wechsel nach Jugoslawien ist von einem interessanten Briefwechsel begleitet, der in irgendwelchen Archiven ruht. Das ist ein Briefwechsel zwischen Ihnen und Ihrem Vater, dem Schriftsteller , der damals noch in Paris lebte. Er hat Ihnen vorgeworfen, Sie seien ein Frontwechsler und auf die falsche Seite hinübergegangen. Sie sagten aber: "Nein, es geht mir nicht darum, auf die falsche Seite zu gehen, sondern es geht mir darum, eine andere Option von Sozialismus zu verwirklichen." War das der erste Kontakt, den Sie mit Ihrem Vater hatten? Leonhard: Er lebte ja in Paris, aber ich hatte ihn einmal gesehen, als er im Sommer 1947 Ostberlin besuchte. Dabei haben wir uns praktisch das erste Mal gesehen und uns ausgesprochen. Im März 1949 schrieb ich ihm dann von Belgrad aus nach Paris über meinen Schritt, über meine Ablehnung des diktatorischen Stalinismus und über meine Bejahung eines eigenständigen und besseren jugoslawischen Sozialismusmodells. Daraufhin gab es dann einen Briefwechsel, in dem er mir erzählte, dass man doch verstehen müsste, dass das alles nur Kinderkrankheiten seien, weil in Russland eben alles besonders schwierig war. Er schrieb mir in den Jahren 1949/50 aus Paris alle Argumente, die ich seit meiner Kindheit und Jugend mit meinen Freunden selbst schon besprochen hatte – bis wir eben erkannten, dass es so eben nicht ist. Es stimmte eben nicht: Es war wirklich ein ganz tiefes Systemproblem. Das schrieben wir uns hin und her, bis er dann sagte, dass er den Briefwechsel nicht mehr fortsetzen könne, denn er würde jetzt in die DDR fahren. Grotzky: Ich habe diesen Briefwechsel zum Teil gelesen, und ich finde es interessant, dass in Ihrer Argumentation – so interpretiere ich es zumindest – auch der Versuch lag, von Ihrem Vater eine Anerkennung für diesen Schritt zu erhalten. Bemerkenswert ist das für mich deshalb, weil Sie mit Ihrem Vater ja eigentlich gar nicht in so enger Verbindung standen. Was hat Sie motiviert, sich ausgerechnet diesem Mann gegenüber, der letztlich ein Fremder für Sie war, auch wenn er Ihr Vater war, in diesem Briefwechsel so zu engagieren? Ich halte diesen Briefwechsel im Übrigen für sehr bemerkenswert und für ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument. Leonhard: Es war ja nicht nur mein Vater, dem ich geschrieben habe. Ich dachte mir, dass es doch Leute geben muss, die das verstehen können, die eine Ablehnung und Bekämpfung des Stalinismus mit einer Bejahung eines anderen Sozialismusmodells zusammenbringen können. Es musste doch Leute geben, die das unterstützen. Ich habe in der Zeit natürlich auch anderen Freunden in der DDR geschrieben. Ich wollte ihnen das vermitteln, aber damals ist mir das nicht gelungen. Mein Vater fuhr dann im Herbst 1950 in die DDR und war anfangs sehr glücklich. Er erkannte aber sehr bald, dass ich Recht gehabt hatte bei der Beurteilung dieses bürokratisch- diktatorischen Unterdrückungssystems. Er wurde immer trauriger und verzweifelter und ist schon im Jahr 1953 gestorben: Er starb de facto an gebrochenem Herzen, an seinem gebrochenen Glauben. Grotzky: Sie haben das System in Jugoslawien bejaht und hatten, das unterstelle ich einmal, auch eine gewisse Hochachtung vor und womöglich sogar eine gewisse Bewunderung für Tito, den Sie persönlich kennengelernt haben. Sagen Sie vielleicht ein paar Worte zu dieser persönlichen Begegnung mit Tito: Ich denke schon, dass das etwas Authentisches ist, was Sie dort erlebt haben. Was war Tito für ein Mensch? Leonhard: Es war ganz erstaunlich. Ich kannte ja nun zehn Jahre Sowjetunion und vier Jahre Sowjetzone. In der SBZ kannte ich sogar alle höchsten Führer persönlich. Nun kam ich aber am 10. Mai zu Tito: Mir wurde gesagt, er würde im Garten auf mich warten. Er hatte einen grauen Anzug an und bot mir Zigaretten an, als ich auf ihn zuging. Ich wollte mich eigentlich russisch mit ihm unterhalten, aber er schaute mich an und sagte nur: "Ach was, wir können ja auch Deutsch miteinander reden." Sein Deutsch hatte einen leicht österreichischen Akzent. Ich genierte mich dann sehr in diesem Gespräch, aber ich hatte mir doch extra Fragen aufgeschrieben, die ich ihm stellen wollte. Es waren ideologische Fragen, von denen z. B. eine lautete: "Genosse Tito, wie ist es eigentlich besser? Sollten wir den Begriff 'Diktatur des Proletariats' neu formulieren, oder ist dieser Begriff so diskreditiert, dass man einfach Abstand nehmen muss von ihm?" Er schaute mich daraufhin in einer bestimmten Weise an und sagte zu mir: "Das weiß ich nicht." Ja, um Gottes willen, er sagt, er weiß das nicht. Ich hatte noch nie einen KP- Funktionär erlebt, der so etwas zugegeben hätte. Selbst der kleinste Kreissekretär hätte nie zugegeben, dass er etwas nicht weiß. Stattdessen wussten sie immer alles oder taten zumindest so, als würden sie alles wissen. Aber der Generalsekretär sagt zu mir, er wisse das nicht. Ich fiel bei dieser Antwort fast vom Stuhl. Er lachte aber nur und sagte zu mir: "Lieber Genosse Leonhard, das sind so ideologische Dinge. Damit beschäftigen sich Eduard Kardelj und Moscha Pijade: Mit denen sollten Sie mal reden darüber. Ich kann das vermitteln. Denn für diese Dinge sind sie zuständig. Wissen Sie, ich als Generalsekretär koordiniere nur." Na, das fand ich doch außerordentlich. Eine solche Form der Bescheidenheit gab es in der KPDSU und in der SED bei den Funktionären nur in den allerseltensten Ausnahmefällen. Ich war wirklich ganz hin und weg. Er sagte daraufhin zu mir: "Jetzt möchte ich Sie einmal etwas fragen, Sie sind doch immer so ideologisch: Welcher Begriff von Marx und Engels stand bei der zukünftigen Gesellschaft im Vordergrund?" - "Absterben des Staates und Assoziation der freien Produzenten!", habe ich ihm geantwortet. "So", sagte Tito, "das haben mir Eduard Kardelj und Moscha Pijade auch gesagt. Da kann ich Ihnen nur sagen: Das muss man verwirklichen. Am besten fahren Sie im Sommer, so gegen Ende Juni, quer durch Jugoslawien, da können Sie das dann alles selbst erleben. Wir bereiten gerade ein Gesetz über die Arbeiterräte vor, denn es soll geheim gewählte Arbeiterräte geben." Ich war immer noch ganz fassungslos und sagte nur, dass ich gar nicht weg können, denn ich würde doch beim Rundfunk arbeiten. Er antwortete mir nur: "Die früheren Zeiten, als ein Parteiführer dem Rundfunkchef sagen konnte, wie eine Sache zu machen sei, sind ja nun vorbei. Aber ich verspreche Ihnen, ich werde meinen Einfluss geltend machen und versuchen, dass man Sie vier Wochen freistellt, damit Sie herumreisen können, wenn Sie versprechen, von unterwegs Rundfunkbeiträge zu liefern." So war es dann auch: Ich fuhr in Jugoslawien herum und entdeckte und erlebte dabei die Arbeiterselbstverwaltung. Das war für mich wirklich ein sehr positives Element. Das vergisst man allzu leicht in dieser entsetzlichen Situation, in der sich Jugoslawien heute befindet: Heute ist die Situation wirklich grauenvoll. Aber damals in den ersten Jahren nach 1948 hatte sich noch eine außerordentlich erfolgversprechende Entwicklung angebahnt, die leider gegen Ende der sechziger Jahre und zu Beginn der siebziger Jahre aus anderen Gründen zusammengebrochen ist. Grotzky: Kommen wir zurück zu Ihrem persönlichen Lebensweg. Obwohl natürlich dieser "Dritte Weg" Jugoslawiens auch in der Bundesrepublik z. B. bei den Jungsozialisten sehr viel Faszination ausgelöst hat: Teile unserer eigenen Geschichte sind ja damit verbunden. Was brachte Sie jedoch 1950 von Jugoslawien in die Bundesrepublik? Leonhard: Ich sagte mir ganz einfach, dass ich ein deutschsprachiger Publizist bin, der die Situation in der Sowjetunion und in der DDR analysiert. Ich hatte schon in Jugoslawien viel über dieses Thema geschrieben, aber mein Platz war sicherlich, dieses von Deutschland aus zu versuchen. Außerdem hatte ich eine Reihe von Kontakten zu ehemaligen höheren Funktionären der damals noch existierenden KPD in Westdeutschland, die ebenfalls mit der Partei gebrochen hatten und sich für Titos Weg begeisterten. Mit diesen Leuten traf ich mich dann. Sie organisierten auch eine kleine Partei, die "Unabhängige Arbeiterpartei". Das war eine marxistische Partei, die unabhängig von Ost und West tätig sein wollte. Das bestimmte meinen Beginn und mein anfängliches Leben in der damaligen Bundesrepublik Deutschland. Grotzky: Es wird damals nicht ganz einfach gewesen sein für Sie: der wirtschaftliche Einstieg und das Überleben. Wie konnten Sie zu der Zeit Ihr Leben fristen? Leonhard: Es war psychologisch und menschlich wirklich sehr schwer. Denn die Wessis, wie man heute sagt, trauten einem nicht ganz: "Da kommt einer, der zehn Jahre in der Sowjetunion, vier Jahre lang ein höherer Funktionär in der Sowjetzone und eineinhalb Jahre in Jugoslawien war. Da muss man wohl vorsichtig sein, wenn der hier ankommt." Dann gab es aber auch die Angst, dass man entführt wird: Diese Angst hat sich im Übrigen bestätigt, denn ich sollte tatsächlich vom Osten entführt werden. Man stand also plötzlich zwischen beiden Seiten: Es gab das Misstrauen der einen und die Entführungsangst den anderen gegenüber. Man wurde auch wirklich immerzu angegriffen und natürlich ging es mir zu der Zeit auch persönlich sehr schlecht. Markus Wolf hat in seinem Buch "Troika" beschrieben, wie herrlich es ihm dagegen nach dem Fall der Mauer in der Bundesrepublik ging und welch beliebter Gast er in den Medien war. Bei mir hat das hingegen volle sechs Jahre gedauert. Ich war arbeitslos und habe dann Zeitungen ausgeschnitten: als ehemaliger hoher Funktionär und Dozent an der Parteihochschule. Ich habe ganz primitive mechanische Arbeiten machen müssen, um überleben zu können. Grotzky: Aber Sie haben die Jahre genutzt, um diese Autobiographie zu schreiben, die natürlich heute noch vielen Menschen bekannt ist: "Die Revolution entlässt ihre Kinder." Damals war das eine Autobiografie, heute ist das ein Geschichtsbuch für die nachwachsenden Generationen geworden. Hat die Revolution Sie selbst eigentlich jemals entlassen, oder sind Sie nicht bis heute zumindest ein Gefangener dieser Thematik geblieben? Leonhard: Zunächst einmal Folgendes. In den Jahren 1953/54 habe ich tatsächlich nach meiner Arbeit am Feierabend unter armseligsten Bedingungen - in einer Einzimmerwohnung mit einer Toilette, aber ohne Bad, denn es gab nur ein Etagenbad – dieses Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder" geschrieben. Das war eine unglaublich schwierige Zeit für mich. Geschrieben habe ich hauptsächlich auch am Wochenende, denn während der Woche war ich ja mit diesem Ausschneiden beruflich tätig. Die Wirkung dieses Buches ist, dass ich mich zuerst einmal befreit habe von der Vergangenheit, um den Weg frei zu machen, mich mit der Gegenwart und der Zukunft beschäftigen zu können. Zweitens war es so, dass ich mit dem Schreiben dieses Buches für mich mit dem Marxismus-Leninismus endgültig alles bereinigt habe: Es blieb da nichts mehr übrig. Es bleibt Respekt für Marx und Engels, aber vom Marxismus-Leninismus habe ich mich dadurch endgültig verabschiedet. Geblieben ist allerdings, dass ich mich mit der Sowjetunion, mit der Geschichte der Sowjetunion, mit der Sowjetzone in Deutschland, mit der DDR, mit dem deutschen Kommunismus und dem internationalen Kommunismus ernsthaft beschäftige: nicht propagandistisch, weder dafür noch dagegen, sondern in einer möglichst genauen Analyse. Das ist geblieben. Grotzky: An diesem Punkt können wir vielleicht noch einen Moment verweilen: Sie sind in der Phase eines sehr kämpferischen Antikommunismus in Deutschland als Ostexperte groß geworden, ohne dabei zum "kalten Krieger" zu werden. Das ist etwas, das ich persönlich an Ihnen immer sehr bewundert habe. Sie hatten nie Schaum vor dem Mund bei Ihren Argumentationen. Was hat Sie davor bewahrt, in dieses Fahrwasser des politischen Denkens hineinzugeraten, das damals in der Adenauer-Zeit die Bundesrepublik sehr stark beherrscht hat? Leonhard: Das waren zwei Dinge. Zum einen lag es daran, dass mir manche Antikommunisten, die ich dann erlebt habe, manchen stalinistischen SED- Funktionären sehr ähnlich schienen. Ich dachte mir: "Um Gottes willen, da sind ja nur die Worte ausgetauscht, aber die Anschauung, die Verbreitungsart und das Innere ist gleich geblieben. Da kann ich doch nicht mitmachen, denn es muss doch einen echten Wandel für mich geben." Das Zweite war meine Sachkenntnis. Wenn diese berufsmäßigen Antikommunisten alle Kommunisten der Welt in allen Ländern und zu allen Zeiten als Banditen, Verbrecher und Unterdrücker bezeichneten, dann konnte ich da doch nicht mit einstimmen. Denn ich wusste ja genau, wie unterschiedlich die Kommunisten gewesen sind und wie wichtig es ist, zu unterscheiden zwischen den stalinistischen Einpeitschern, die es in der DDR z. B. natürlich auch gegeben hat, und den nachdenklichen SED- Funktionären, also den zum Teil Gläubigen, zum Teil Zweifelnden. Die Differenzierung ist doch ganz sicher die wichtigste Aufgabe, wenn man wirklich wissen will, was dort los war und was es mit dem ganzen Kommunismus auf sich hatte. Grotzky: Sie sagten vorhin, Sie seien ein deutschsprachiger Publizist. Aber Sie sind natürlich trotzdem mehrsprachig geprägt. Sie haben in russischer Sprache studiert und sind in Russisch ausgebildet worden. Sie haben in Deutsch publiziert, gelehrt und unterrichtet. Als Professor haben Sie aber auch über zwei Jahrzehnte lang in den USA auf Englisch doziert, und Sie haben auch in England unterrichtet. Spielt diese mehrsprachige Prägung auch eine Rolle im Hinblick darauf, dass sich diese Mehrsprachigkeit bei Ihnen mit verschiedenen Aspekten verbindet, wie Sie Dinge sehen und erleben? Leonhard: Ja, ich glaube, das ist eine pluralistische Art der Differenzierung. Ich habe immer eine Aversion gegen Menschen, die alles nur in richtig und falsch einteilen und dabei die eigene Meinung ohne jegliche Diskussion als das Richtige ansehen oder die ausschließlich von Stimmungen und Strömungen in einem gewissen Land zu einer gewissen Zeit geprägt sind. So geht es nämlich nicht. Wenn man sich in diesem Jahrhundert mit wirklich ernsthaften Dingen befassen will, dann kann man nicht nur von einem einzigen Standort ausgehen, von einer politischen Richtung eines Landes, sondern muss eine möglichst breite Basis haben, um diese Dinge verstehen, erkennen und so plastisch wie möglich darlegen zu können. Grotzky: Ich möchte nun einen ganz großen Sprung machen, denn man könnte nun noch viel über Ihre Analysen der früheren Sowjetunion sprechen. Was den Leuten hier bei uns jedoch am stärksten im Gedächtnis geblieben ist, ist vielleicht die Entstalinisierungsphase unter Chrustchow und ganz sicher und vor allem die Person Gorbatschow. Ganz summarisch gefragt: Gab es bis zu Gorbatschow echte Reformchancen für die Sowjetunion? Sahen Sie irgendwelche Möglichkeiten, dass sich schon vor Gorbatschow, vor 1985, etwas in einer ähnlichen Weise hätte bewegen können? Oder war das tatsächlich ein Land der Stagnation, das letztlich auch wir mit in diese Richtung gedrängt haben? Leonhard: Es war ein Land der Stagnation. Aber ich habe seit Mitte der siebziger Jahre die gesellschaftlichen Widersprüche, die Kräfte, die auf Veränderungen drängen, sehr sorgfältig untersucht. Ich habe sogar darauf hingewiesen, dass man sich noch einmal wundern wird, dass es auch in der kommunistischen Partei der Sowjetunion unter den Funktionären und sogar in höheren Funktionärskreisen heimliche Reformer gibt. Ich habe das erkannt: an den kleinsten Dingen – aber ich habe es erkannt. Inzwischen hat sich das als absolut wahr herausgestellt. Als Gorbatschow im Frühjahr 1985 mit den Reformen begann, gab es schon Hunderte auch höhere Funktionäre, die das vorausgearbeitet, vorausgeahnt und die den Weg dafür geebnet hatten. Grotzky: Sie selbst mussten relativ lange warten - mehr als vier Jahrzehnte –, bis Sie 1987 zum ersten Mal wieder in die Sowjetunion fahren konnten. Was hat dabei überwogen: die Neugier oder die Verbitterung, die Angst oder die Hoffnung? Leonhard: Das ist sehr schwer zu sagen. Ich bin im Juli 1987 zum ersten Mal wieder in die Sowjetunion gekommen. Ich habe lange gezweifelt, ob ich es machen soll. Ich war ja selbst zehn Jahre in der Sowjetunion gewesen, meine Mutter war zwölf Jahre im Lager gewesen: Das war ja keine leichte Bürde. Aber dann sagte mir, wie ich glaube, Ernst-Dieter Lueg bei einem Gespräch mit vielen anderen Journalisten: "Aber, Wolfgang, so gut wirst du es selten treffen. In der Sowjetunion heißt der Führer Gorbatschow, und hier in der Bundesrepublik gibt es einen Bundespräsidenten mit Namen Richard von Weizsäcker, der nun in die Sowjetunion fliegt. Diese Chance, da mitzugehen, würde ich doch wahrnehmen." Ich habe dann auch tatsächlich ja gesagt. Als das Flugzeug immer näher an den Moskauer Flughafen kam, war ich hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, den Beginn einer sich liberalisierenden Sowjetunion zu sehen, und der Angst, dass das Alte vielleicht doch noch mächtiger ist und ich wieder in der Falle sitze. Als ich dann ankam auf dem Flughafen, das große "Moskwa" sah und auf rotem Grund in weißer kyrillischer Schrift lesen konnte "Willkommen Herr Bundespräsident aus Deutschland", war ich einerseits erfreut, aber gleichzeitig habe ich daran gedacht, dass das dieselbe Schrift ist wie z. B. bei den früheren Losungen anlässlich der Todesstrafe für irgendwelche trotzkistischen "Verbrecher". Das war natürlich nur eine äußerliche Assoziation, aber ich war wirklich hin und her gerissen. Als wir dann im Hotel waren, habe ich mich erst einmal eingeschlossen und mir gedacht, dass ich da auf keinen Fall alleine hinausgehen werde. Ich hatte als Mitglied der Pressedelegation des Bundespräsidenten so ein schwarz-rot-goldenes Abzeichen dabei: Ich habe dieses Ding nie so stark festgehalten wie in diesen Tagen. Aber ich wurde dann doch mit jedem Tag beruhigter. Ich erlebte, wie Sowjetbürger mit ausländischen Journalisten völlig frei und ungehindert sprachen, diskutierten und sich über das Land beschwerten. Man konnte wirklich frei mit allen Menschen sprechen. Das hat mich doch von Tag zu Tag ruhiger werden lassen. Nach dieser Reise bin ich ja noch fünfzehnmal immer wieder und wieder zunächst in die toleranter werdende Sowjetunion Gorbatschows und dann, nach dem Zusammenbruch, auch nach Russland gekommen. Grotzky: Ich habe Sie einmal bei einem Ihrer Besuche in Moskau persönlich getroffen, und mir ist dieses Treffen sehr in Erinnerung geblieben. Ich habe damals selbst in Moskau gearbeitet, und wir trafen uns in der Kantine im Presseamt des Außenministeriums. Ihnen muss das gar nicht erinnerlich sein, weil ich damals viel zu unwichtig für Sie war, aber Sie erzählten mir damals – und da schien mir auch eine gewisse Rührung mitzuschwingen –, dass Sie gerade von Gesprächen mit der "Iswestija" kämen, weil man Teile Ihrer Autobiografie in russischer Sprache nachdrucken wolle. Ist das dann erfolgt? Hat man sich tatsächlich diesen Dingen gegenüber geöffnet und das erste wirklich große kritische Werk über das stalinistische System dort abgedruckt? Leonhard: Ja, aber ich kann mich an dieses Gespräch natürlich schon erinnern und ganz so unwichtig waren Sie, Herr Grotzky, für mich nicht: Ich kannte Ihre Veröffentlichungen wohl genauso wie Sie meine. Es gab also mit der "Iswestija" darüber Gespräche, und sehr bald erschienen in ihrer Wochenendbeilage seitenlang in russischer Übersetzung große Auszüge aus meinem Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder". Während man mich in dieser Zeitschrift früher als Kriegshetzer und Antisowjetkämpfer verurteilt hatte, stand nun im Vorspann zu lesen, dass die heutigen Leser darum gebeten werden zu verstehen, dass das Beschriebene Erlebnisse aus den dreißiger Jahren seien, die zu Beginn der fünfziger Jahre niedergeschrieben worden sind: "Die Leser mögen das also berücksichtigen, wenn sie heute bei Wolfgang Leonhard in diesen Auszügen immer wieder Versuche lesen, manches noch zu rechtfertigen, und er sich in seiner Kritik sehr zurückhält – sich für uns zu sehr zurückhält." Das war nun de facto für mich ein Kompliment, wenn mir die "Iswestija" bestätigte, dass ich nicht nur kein kalter Krieger sei, sondern noch immer versuchen würde, Dinge zu verstehen und zu erklären. Grotzky: Sie haben sehr viele Bücher mit Prognosen geschrieben, die, wenn ich das richtig sehe, ziemlich genau eingetroffen sind. Ich erinnere mich z. B. sehr gut an ein Buch aus dem Jahr 1975, in dem Sie für das nächste Jahrzehnt Reformschritte in der Sowjetunion vorausgesagt haben, die auch tatsächlich erfolgt sind. Lassen Sie uns zum Abschluss unseres Gesprächs einmal einen Blick auf die Zukunft von Russland werfen. Auch wenn man heute keine so genauen Prognosen mehr machen kann, weil das System nicht mehr so berechenbar ist, haben Sie doch sicherlich so viel Kenntnis, um uns verraten zu können, wo Sie denn den wünschenswerten Weg Russlands in die Zukunft sehen. Leonhard: Ich würde nicht nur "wünschenswert" sagen. Für mich besteht gar kein Zweifel, dass die Kriminalität, die Korruption, die Mafia, die sozialen Ungerechtigkeiten in einem unglaublichen Maße und der Rückgang der Produktion und der Kursverfall des Rubel alles Dinge sind, die stimmen. Man kann das nicht beschönigen, aber das ist eben doch nur die Hälfte der Wahrheit. So grauenvoll vieles in Russland heute ist, so gibt es doch in Keimform auch schon einige positive Dinge, die sich in einer längerfristigen Zukunft - nicht heute und morgen, aber in zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren – auswirken werden. Das ist erstens die Überlebenskraft der Bevölkerung. Es ist nicht das, was die deutsche Presse immer wieder schreibt und worüber ich furchtbar wütend werde, wenn ich es lesen muss: Es ist nicht die Leidensfähigkeit der Russen. Die Leidensfähigkeit ist das eine, aber Überlebenskraft ist mehr. Denn sie besteht nicht nur darin, Leiden und Entbehrungen ertragen zu können, sondern, auf sich selbst gestellt - z. B. mit einem kleinen Gemüsegarten -, das Leben meistern zu können. Das ist das Erste. Das Zweite ist, dass es diese nationalen Widersprüche zwar immer noch gibt, es aber kriegerische Konflikte, hasserfüllte Konflikte, die zu Kriegen größeren Ausmaßes führen, nicht mehr geben wird. Stattdessen wird das Bedürfnis nach Zusammenarbeit immer größer werden. Drittens wird die Gewalt total abgelehnt. Die Leute sagen: "Wir haben genug, es ist genug Blut geflossen, es hat genug Barrikaden, Bürgerkriege und Putschversuche gegeben. Wir haben genug! Wir wollen endlich Ruhe und Stabilität." Dieser Wunsch ist so stark, dass sich kein General und kein Politiker dem entziehen kann. Letztlich habe ich dann noch die Hoffnung auf die jüngere Generation: nicht weil sie jünger ist, sondern weil die jetzige Führungsschicht weitgehend sowjetisch geprägt ist. Es besteht bei der jüngeren Generation eben die Hoffnung, dass sie anders ausgebildet und gegenwartsorientiert ist und dass sie mit neuen Ideen Russland aus der Krise herausführen könnte. Ich also sehe kurzfristig sehr schlimme Probleme, aber langfristig habe ich Hoffnungen auf eine gewisse Stabilisierung in Russland. Grotzky: Das waren, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, Ausblicke und Einblicke mit Wolfgang Leonhard, dem Mann, der uns letztlich über viele Jahrzehnte hinweg nahe gebracht hat, was die Motive und die Lebensweisen unseres östlichen Nachbarn Russland sind. Ich danke für die Aufmerksamkeit.

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