Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Das Feature Gewebte Geschichte(n) – die Textilkünstlerin Hannah Ryggen Von Marietta Schwarz

Produktion: Dlf 2019

Erstsendung: Freitag, 11. Oktober 2019, 20:10 Uhr

Redaktion: Tina Klopp Regie: Nikolai von Koslowski

Es sprachen: Edda Fischer, Jonas Baeck, Marietta Schwarz, Nicola Gründel, Justine Hauer, Sigrid Burkholder

Technische Realisation: Wolgang Rixius und Roman Weingard

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© - unkorrigiertes Exemplar -

1 Musik

Sprecher: 22. Juli 2001

Atmo Webstuhl

(Tagesschau-Ausschnitt) O-Ton 1 „...Guten Abend, meine Damen und Herren. Norwegen ist heute Ziel mehrerer Anschläge geworden. Am Nachmittag explodierte eine Bombe im Regierungsviertel in Oslo...“

O-Ton 3 „Auf den 20 Etagen sind fast alle Fenster zerborsten. Hier hat der Ministerpräsident sein Büro.“

O-Ton 6 (0:48) „bislang blieb Norwegen von Anschlägen verschont, jetzt traf es das Land mit voller Wucht,

O-Ton 7 (1:55) Die Druckwelle der Bomben reichte mehrere hundert Meter weit“

O-Ton 9 (1:45) fast 70 Kinder richtete er auf der Insel Utoya hin

O-Ton 6b „…mutmaßlich die Tat eines rechtsextremen Norwegers“

Stoltenberg (original) Rede O-Ton 10 „jeder einzelne Tod ist eine Tragödie, zusammengenommen ist es eine nationale Tragödie“

2 O-Ton 11 Ashild Adsun / englisch #00:00:52-4# The tapestry was hanging in the Lobby. When Anders Breivik left the bomb outside the building of course this tapestry was damaged. And there was a big discussion afterwards between norwegian artists, what were you are going to do with the big tear in the tapestry.

Voiceover: Der Teppich hing in der Lobby des Regierungsgebäudes. Anders Breivik zündete die Bombe draußen, aber natürlich wurde der Teppich dabei beschädigt. Und dann gab es eine große Diskussion unter norwegischen Künstlern: Was machen wir mit diesem Riss?

Musik

Ansage Gewebte Geschichte – die Textilkünstlerin Hannah Ryggen Ein Feature von Marietta Schwarz

O-Ton 12 Marit Paasche / norwegisch / Voiceover 00:17 – 01:06 Voiceover Marit Paasche Das ist wirklich seltsam. Es ist beinahe schon rührend, dass ein Teppich, der für das Hochhaus im Regierungsviertel angefertigt wurde, damit Politiker jeden Tag mit ihm konfrontiert werden, und der als ein Testament für die Liebe als politische Kraft gilt – dass genau dieser Teppich dem schlimmsten Angriff, den Norwegen seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, zum Opfer fällt. Man kann es fast nicht glauben, es ist irgendwie unwirklich.

Musik

O-Ton 13 Ashild Adsen / englisch #00:01:24-8# We mended it, but we left it visible, so you can see the scars left by the bomb on many places on the tapestry, showing that this right wing extremist he wanted to destroy everything Norway stand for, the democracy, the social welfare state, he did not manage to do. Norway responded with a parade of roses, and this tapestry were Hannah Ryggen wanted to show that we live upon a star, above all is the love between men and women, between people, and in chaos it survives. So it's a nice symbol of the strength against all evil. But you see the scars here left in this very strong tapestry.

3 Voiceover Ashild Adsen: Wir haben ihn geflickt. Aber wir haben die Narben sichtbar gelassen, die die Bombe überall auf dem Teppich hinterlassen hat. Um zu zeigen, dass dieser Rechtsextremist es nicht geschafft hat, alles zu zerstören, wofür Norwegen steht: Die Demokratie, den Wohlfahrtsstaat. Der Teppich heißt: „We are living on a star“. Und Hannah Ryggen wollte mit diesem Werk ja gerade zeigen, dass die Liebe immer überlebt. Zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen den Völkern. Es ist also ein schönes Symbol für die Kraft gegen das Böse. Aber Sie sehen die Wunden.....

Atmo Kunstgewerbemuseum Trondheim

Autorin: Ashild Adsen steht im Treppenhaus des „Nordenfjeldske Kunstindustrimuseum“, des Kunstgewerbemuseums in Trondheim. Sie ist die Direktorin, läuft jeden Tag mehrmals an dem verwundeten, 12qm großen Teppich vorbei. Unten rechts sieht man noch eine lange Narbe.

O-Ton 14 #00:15:18-9# Ashild: We often, when we talk about Hannah Ryggen, talk about

Comics and the way images have been used for telling stories for thousands of years. And Hannah uses this aswell. She often starts with one thing happening and then the story develops in the tapestry. .

Voiceover Ashild Adsen: Wir sprechen tatsächlich oft über Comics und die Art, wie Geschichten seit tausenden Jahren in Bildern erzählt werden. Hannah Ryggen setzt das ein. Sie beginnt mit einem Ereignis, aus dem sich dann eine Geschichte auf dem Teppich entwickelt.

Musik

Sprecher „We’re living on a star“. 1958. Viel Blau. Ein braunes Oval spannt sich wie ein großes O über die gesamte Fläche. Außerhalb dieses O’s erkennt man Sterne, den Mond, einen Globus. Und vieles erkennt man auch nicht so genau: vielleicht sind das

4 andere Planeten. Vielleicht auch kleine Raumschiffe oder unbekannte Lebewesen. Innen wird das Rund von einem nackten, sich umschlingenden Paar dominiert. Frau und Mann. Mutter und Vater. In der Mitte, auf einem horizontalen Streifen zwei Säuglinge. Und um dieses Paar herum: Köpfe, Hände, Werkzeuge, alles ist voll mit Details.

Autorin: Der Teppich erinnert an ein antikes Mosaik ebenso wie an mittelalterliche Volkskunst. Enthält aber auch Spuren von Comic und Science Fiction. Er ist zugleich figürlich, abstrakt und ornamental.

O-Ton 15 Ashild weiter ..And one thing that we recognize in a number of Hannah Ryggens tapestry is the use of ornaments that go around the tapestry, here is the eight pointed star, which is very traditional symbol in swedish and norwegian folk art....so she always pulls references from biblical stories, from traditional art, vom art history, so she knew her history well and she always took inspiration of it and found her own way and language. it's always routed in tradition.

Voiceover Ashild Adsen: Diese Ornamente findet man häufig bei Hannah Ryggen. Zum Beispiel der achtzackige Stern, ein ganz traditionelles Symbol in der schwedischen und norwegischen Volkskunst. Sie hat immer Referenzen – aus biblischen Geschichten, aus Volkskunst, aus der Kunstgeschichte. Das inspiriert sie und sie entwickelt eine sehr eigene künstlerische Sprache, die immer in der Tradition wurzelt.

Autorin: „We’re living on a star“ – Hannah Ryggen hat diesen Teppich 1958 für das Regierungsgebäude in Oslo fertiggestellt, nach 13 Monaten Arbeit. Und seit er die Spuren des Attentats von Anders Breivik trägt, hängt er hier in Trondheim im Kunstgewerbemuseum, mit der größten Hannah-Ryggen-Sammlung weltweit.

1905023_003 O-Ton Ashild 16

#00:14:40-1# So we have the largest collection of Hannah Ryggen in the World...

#00:10:55-7# But obviously this permanent Hannah Ryggen Exhibition is not that permanent anymore, because we're constantly sending it out to other museums.

5 Autorin: Aber von „Dauerausstellung“ kann man eigentlich gar nicht mehr sprechen, sagt Ashild. Seit ein paar Jahren werden die Teppiche von Hannah Ryggen ständig an andere Museen verliehen.

(1905023_003

O-Ton 17 Ashild

We've seen this happened of course Hannah was lend to Documenta in 2012 and my phone hasn't stopped ringing after we showed this at documenta.

Voiceover Ashild: Und seit der documenta 2012 klingelt mein Telefon unaufhörlich.

Autorin: Ashild zählt auf, wo Hannah Ryggen die letzten Jahre ausgestellt wurde: Documenta 2012. 2015 gab es eine Einzelausstellung im Museum für Zeitgenössische Kunst Malmö, anschließend in Oslo im Nationalmuseum. 2017 folgte eine Retrospektive in Oxford, und nun gibt es die erste Einzelausstellung in Deutschland, in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main.

Musik Zeit ihres Lebens war Hannah Ryggen zumindest im skandinavischen Raum eine bekannte Künstlerin. Mit ihrem Tod 1970 geriet sie in Vergessenheit. Wer war diese Frau? Und warum wird sie jetzt wiederentdeckt?

Sprecherin Hannah Ryggen: „Schon als Kind war ich eine rote Revolutionärin“

Autorin: Hannah Ryggen kam 1894 im schwedischen Malmö als Kind einer Arbeiterfamilie zur Welt. Sie wurde Lehrerin, und in diesem Beruf nicht glücklich. Die Kunst hat sie mehr interessiert. Zunächst die Malerei, dann das Weben. Hannah Ryggen war Autodidaktin. Sie lebte als Selbstversorgerin, abgeschieden mit Mann und Kind auf einer Insel nahe Trondheim.

6 Sprecherin Hannah Ryggen „Ich bin keine Weberin, die sich einfach hinsetzt und das Bild eines Ausflugs auf einem See oder einer Reise webt. Sondern ich möchte den Menschen mit jedem meiner Teppiche etwas sagen. Da liegt der Unterschied. Es gibt die, die das Meer abbilden, oder einen großen Gobelin mit vielen Menschen darauf. So webe ich nicht – ich möchte, dass der Teppich lebt, genau wie ein Bild lebt. Er soll etwas aussagen, über das, was ich meine.“

Autorin: In den 1930er /40er Jahren, zur Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus in Europa, landeten die Köpfe von Hitler, Mussolini und dem norwegischen Nazi und Literaturnobelpreisträger auf Ryggens Wandteppichen. Aber auch die der Gegenseite: Carl von Ossietzky, Lieselotte Herrmann, Albert Einstein. Später auch die der lokalen Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung in Norwegen.

O-Ton Paasche 18 / norwegisch 1:23-2:14

Voiceover Ihre Kunst ist politischer Aktivismus. Sie wurde zu ihrer Stimme, sie war extrem politisch engagiert, sowohl was Konflikte in Norwegen als auch internationale Konflikte betraf.

Autorin: Marit Paasche ist Kunsthistorikerin und Hannah-Ryggen-Biografin:

O-Ton Paasche 18 / norwegisch Fortsetzung

Voiceover Und durch ihre Kunst trug sie ihr Engagement hinaus in die Welt. Das können wir an ihren Teppichen sehen, zum Beispiel am Äthiopien-Teppich, mit dem sie ihre Solidarität mit den Äthiopiern kundtun wollte, und auf dem sie einen Mann einen Speer durch Mussolinis Kopf stoßen ließ.

Musik

7 Sprecher „Ethiopia“, 1935. Der Teppich ist horizontal in zwei Streifen geteilt: Unten ein schlichter beige-brauner Hintergrund, lediglich unterbrochen durch geometrische Formen. Oben ein Bildstreifen, der zunächst von horizontalen und vertikalen Linien dominiert ist. Aber da sind auch Gesichter: Eine afrikanische Frau. Ein weißer Mann, der ein Sonnenkreuz trägt, das Symbol der norwegischen Faschisten. Haile Selassi, der letzte Kaiser von Äthiopien, dessen Land von Italien 1935 okkupiert wurde. Und schließlich, ganz rechts, der Mann mit dem Speer:

Autorin: Hannah Ryggen schrieb über „Ethiopia“ in einem kurzen Gedicht:

Sprecherin / Hannah Ryggen: „Ein Stegreif / Spontanwerk in Eile gewebt! Schwarze Köpfe – weiße Diplomaten Zwischen Clubs und Speeren Und meine Entschlossenheit (and throughout my determination) Mussolini mit dem Speer eines schwarzen Mannes aufzuspießen

Autorin: Am 3. Oktober 1935 begann der Abessinien-Krieg. Haile Selassi musste fliehen. Seine Worte gingen in die Geschichtsbücher ein:

Sprecher oder Autorin: „Heute sind wir dran. Morgen seid ihr an der Reihe.“

Musik

Autorin: Dieser Äthiopien-Teppich von Hannah Ryggen wurde 1937 sogar auf der Weltausstellung in Paris gezeigt. Und zensiert: Der rechte Teil mit Mussolinis Enthauptung musste nach hinten umgeschlagen werden, weil die Franzosen den

8 „Duce“ damals noch als Alliierten gegen Hitler betrachteten. Drei Jahre später begann seinen Feldzug durch Europa. Auch Norwegen wurde besetzt.

O-Ton Paasche 19 / norwegisch 11:03-11:18

Voiceover Paasche Sie wollte, dass ihre Äußerungen gehört werden, dass die Leute irgendwie dazu Stellung nehmen.

Interessant an dieser Stelle ist – es gibt mehrere norwegische Künstler, die politisch aktiv sind, aber nur wenige beschäftigen sich mit internationalen Konflikten. Damit steht sie so ziemlich alleine da, diese auch in ihre Motivpalette aufzunehmen.

O-Ton 21 Autorin: Is there a tradition in putting political content on weaving material in Scandinavia? Marit: No.

Autorin: Marit Paasche sagt: In der skandinavischen Webtradition kamen politische Inhalte bis zu Hannah Ryggen nicht vor.

O-Ton 21 weiter Marietta: So that was completely new?! Marit: Yeah... that was the break in addition to that she wasn't continuing this tradition of male artist making the cartoons and that the female craftswomen was supposed to execute. I think she treated the tapestries more like paintings. If you look at this tradition: I'm the male artist and I will draw this motive and I want you as the craftwoman to execute this.

Voiceover Marit Paasche: Das war ein Bruch. Zudem hat sie ja auch mit der klassischen Rollenverteilung gebrochen: Die nämlich vorsah, dass der Mann Skizzen liefert, die von der Frau am Webstuhl dann umgesetzt werden. Sie hingegen hat die Tapisserien wie Gemälde behandelt.

Sprecherin / Hannah Ryggen: „Wie ein Maler mit der blanken Leinwand konfrontiert ist, so sollte der Weber ebenfalls vor dem leeren Webstuhl sitzen. Ohne Vorlagen, ohne andere Hilfsmittel.

9 Der Weber soll den Teppich direkt aus seiner Imagination kreieren. Nur dann kann Weben Kunst sein!“

O-Ton 21 weiter Marietta: Ok, you mean it's a gender discussion. Marit: It's a gender discussion. But it is also a discussion about what are you using the tapestries for. If you just like transfer a motive from a painting to the tapestry, that's one thing. But if you actually use the tapestry as a canvas and you use it freely then it is something else.

Voiceover Marit Paasche weiter: Hier geht es zum einen um das Gender Thema. Aber zugleich auch um die Frage, was der Zweck solcher Wandteppiche sein soll: Geht es nur darum, ein Motiv aus dem Zeichnerischen/Malerischen auf die Weberei zu übertragen. Oder benutzt du den Webstuhl wie eine Leinwand, ganz frei?

Musik

Sprecherin / Hannah Ryggen „Als ich nach Ørlandet kam, hatte ich gerade erst damit angefangen, in einem Rahmen zu weben. Hans liebte es, alle möglichen Sachen zu erfinden. Als er sah, wie unglücklich ich auf diesem abscheulichen Ding namens flämischer Webstuhl war, verfiel er der Idee, mir einen Webstuhl zu bauen, an dem praktisch und gut zu arbeiten sein würde. Ich nannte ihn immer meine Harfe, auf der ich spielte – und so war es auch ganz buchstäblich. Die Kettfäden waren die Saiten, und meine Finger huschten zwischen ihnen hinein und wieder hervor. Auf diesem Webstuhl habe ich alle meine Wandteppiche gewebt und webe ich noch heute. Hans setzte ein Fenster in das Dach über dem Webstuhl und über dem Wohnzimmer, in dem er selbst malte. So hatte jeder von uns sein eigenes „Atelier“.“

Atmo Möwen Autorin: Im März 1924 zog Hannah Ryggen mit ihrem Mann Hans nach Ørlandet. Im Mai kam ihre Tochter Mona zur Welt. Mit dem Schnellboot ist man heute innerhalb von 45 Minuten da, von Trondheim. Früher war es wohl ein beschwerlicher Weg. Hans hatte ein Bauernhäuschen und 5 Hektar Land geerbt. Das Grundstück war seit langem

10 unbewirtschaftet, und es gab weder Strom noch Wasser. Die drei führten ein spartanisches Leben, aber sie waren unabhängig.

O-Ton 22 Marietta / Marit 4:17 What I find interesting as well is that they both went to Orlandet and lived as self sufficient farmer, which is almost a full time job – and you just mentioned that she was so addicted to weave. Marit: Yes, I think she used the possible spare time when they didn’t work in the farm. But it must have been extremely hard to do this... 5:59 He was very attached to the nature and surroundings of Orlandet and wanted to stay there. And she did become very attached to it, too. And she loved the animals, because they kept a lot of animals, they had a cow, they had a horse, they had sheep, geese, hens...

Voiceover Autorin: Dieses Selbstversorger-Leben in Orlandet ist ja im Prinzip schon ein Vollzeitjob. Dabei war Hannah doch vom Weben besessen?

Voiceover Marit: Ja, das bisschen Zeit, das übrigblieb, haben sie beide für ihre Kunst genutzt. Es muss aber extrem hart gewesen sein.... Hans wollte dort leben, er mochte die Natur und die Umgebung. Hannah entwickelte dann aber auch eine große Zuneigung. Und sie liebte Tiere.

Musik

Autorin: Der Umzug in die Einöde war eine Überzeugungstat – der Rückzug in die Natur, die Liebe zu den Tieren. Die Ryggens hielten sich Schafe, Hühner und Gänse. Es gab ein Schwein namens Nils, das Pferd Raumerra. Und die Kuh hieß Metta.

Sprecherin / Hannah Ryggen „Metta war eine Freundin und Familienmitglied. Oft hab ich mir gewünscht, ich könnte sie im Wohnzimmer halten, wie in alten Tagen, als die Leute noch mit ihren Tieren zusammenlebten.“

11 Autorin: Interessant ist, dass Hans und Hannah die üblichen Rollen tauschten: Er war ja auch Maler, kümmerte sich aber vorwiegend um Haus und Hof. Hannah hingegen stürzte sich in die Kunst, ins Weben.

Autorin: Das alte Bauernhaus der Ryggens existiert nicht mehr. Aber immerhin hängen im „Kultursenter“ von Orlandet einige Teppiche – im Rahmen einer kleinen Hannah- Ryggen-Triennale. Die Leiterin, Thina Andresen, tritt vor die Tür und schaut in den Himmel.

O-Ton 23 ....She loved the landscape, she loved the light, she loved the atmosphere, and she loved the nature.

Voiceover Thina Andresen Hannah Ryggen liebte die Landschaft, sie liebte das Licht, die Atmosphäre, die Natur...

O-Ton 24

#00:01:40-3# The nature is marvelous and magic I would say. Because there is a changing light, it's almost impossible to describe. You have to see it. Norway's known for the changing weather. and with changing weather you have changing light. But here in the landscape which is flat, but also have the mountains in the distance, and then you have the water to mirror it all, then you have an emphasize on the light. it's reflected in the water, it's strengthen by the water, and then you have the ?hays? that covers the mountains, and you have a multitude of fading colors, which is just wonderful.

Voiceover Thina Andresen Das Licht! Norwegen ist bekannt dafür, dass sich das Wetter ständig ändert. Und damit ändert sich auch das Licht. Und hier ist die Landschaft flach, in der Ferne sieht man die Berge, und auf dem Wasser spiegelt sich alles. Das unterstreicht das nochmal. Das Licht, das im Wasser reflektiert wird, die grünen Berge, und diese sich überlappenden Farbtöne. Fantastisch!

Musik

12 Sprecherin / Hannah Ryggen:

Gewöhnliche Flechte Heidekraut

Birkenblätter Föhrenrinde Weidenrinde Haarkappenmoos Vogelkirsche Strauchflechte

Wacholder

Labkraut

O-Ton 25 Thina Andresen And as we know Hannah Ryggen she used the nature very creatively, but also very extensively in her own artistry. She used the local farm or sheep to create the yarn. She was spinning the thread herself with some help from others, but very much part of it herself. She also colored the yarn herself and she used the natural resources to create, she did not use chemical colors. there are few tapestries were we know she used chemical colors, for instance the tapestry were you have an opposition against the Vietnam war. And the chemical colors is the chemical weapons in the war. So that was a deliberate choice. But apart from that she used the natural colors which nature created. the Bark from the trees, the leaves from the ground, the flowers, the plants.

Voiceover Thina Andresen Und wir wissen ja, dass Hannah Ryggen die Natur sehr kreativ genutzt hat, auch intensiv für ihre Kunst. Sie scherte die eigenen Schafe, hat selbst gesponnen und sie färbte mit pflanzlichen Pigmenten. Nur einmal, in ihrem Vietnam-Teppich, hat sie künstliche Farbstoffe eingesetzt, um die im Krieg eingesetzten Chemiewaffen zu versinnbildlichen. Aber sonst ausschließlich natürliche Farbstoffe. Aus Baumrinde, Blättern, Pflanzen....

Musik

13 Sprecherin / Hannah Ryggen (Farbrezeptur) „Roter Farbstoff: Blutwurz (Potentilla erecta). Vierblättrige Einbeere (Paris quadrifolia) Gelber Farbstoff: Sauerampferwurzel. Grün aus dem Stengel geschnittener Blätter.

Die Farbstoffmischung muss fein zerrieben, an einem warmen Ort gelagert und jeden zweiten und dritten Tag mit Pisse besprenkelt werden. Drei Wochen lang warm stehen lassen, dabei abdecken, um Fliegen abzuhalten.

O-Ton 26 Hakon Bleken (6:54-7:11) norwegisch, steht frei, darauf Autorin:

Autorin: Der inzwischen 91-jährige Zeitgenosse Hakon Bleken ist ein örtlich bekannter Künstler, und wie viele andere Männer, es waren vornehmlich Männer, durfte er, wie er sagt, seinen Urin für die Herstellung von „Pissblau“ abliefern. Am besten nach etwas Alkoholkonsum. Es galt als Auszeichnung, von den Ryggens eingeladen zu werden und einen urinalen Beitrag leisten zu dürfen.

Sprecherin Hannah Ryggen Gelb mit Sauerampferwurzel – das Garn in Molke zusammen mit den Wurzeln sieden. Warm in einen Bottich legen und Pisse darübergießen. Mit kaltem Wasser abspülen und an einem warmen und schattigen Ort aufhängen.

Kann auch mit Birkenblättern aufgesotten werden.

Zerschnittener Teufelsbiss (Succisa pratensis) – Blätter in Wasser sieden, zusammen mit dem Garn, dann herausnehmen und auf ein Stück Grasnarbe legen und mit kalter Asche bestreuen. Ein Stück Grasnarbe mit der grünen Seite nach unten darauflegen.

Die Wolle kann auch grün gefärbt werden, wenn man sie mit Asche direkt auf das Gras legt.“

O-Ton 27 Marit Paasche norwegisch 13:57 – 15:04

Voiceover Marit Paasche 14 Ihre Produktion war nicht auf das Geld anderer angewiesen. Sie konnte alles selbst herstellen. Das wiederum bedeutete, dass sie die Kontrolle über alle Produktionsmittel hatte, alle Elemente des Prozesses lagen in ihrer Hand. Und darum konnte sie sich auch in großen Formaten ausdrücken. Die ließen sich auch ohne große Umstände versenden, sogenannte „portable murals“. Und das hatte für sie auch wieder eine besondere Bedeutung: Es dauerte so lange, diese Teppiche herzustellen, in dieser Arbeit fand sie eine Art Ruhe. Sie hatte eine Langsamkeit für sich gefunden, die ihr ein Bedürfnis war.

O-Ton 28 Ashild Adsen [00:29:39] I think Hannah herself explains that this is a vital part of the creative process... the process of creating this masterpiece starts, when she walks in nature by the lovely grey big mountain in Orlandet and collects what she needs to to dye the yarn with. And I think there's a parallel to the artist and crafts people of today going back to working with materials again because there is a vital part of the creative process going out fighting materials or working in different traditional materials and I think that's why you can see that textile art and ceramics are now really coming back in the international art scene and maybe for the first time in bigger Biennales and Triennales, because we are understanding in this digital age that if you want to work creative, you also need to work with materials and maybe finding the roots of the creative process. [91.9s]

Voiceover Ashild: Der kreative Prozess beginnt bei ihr, wenn sie draußen in der Natur ihre Pflanzen sammelt, die sie zum Färben braucht. Ich sehe da auch eine Parallele zu heute, wo Künstlerinnen und Künstler wieder mit textilen Materialien oder Keramik arbeiten. Das kommt zurück und ist inzwischen auch auf den großen Biennalen und Triennalen zu sehen. Im Digitalzeitalter entdecken viele in diesen Materialien wieder die Wurzeln des kreativen Prozesses.

Autorin: Das bestätigt auch die Künstlerin Caroline Achaintre, die den einzigen Lehrstuhl für Textile Kunst in Deutschland innehat – nämlich an der Hochschule Burg Giebichenstein. Sie beobachtet, dass sich ihre Studierenden aufs Häkeln, Stricken, Nähen, Tuften und eben auch das Weben stürzen:

O-Ton 30 Achaintre

#00:02:27-1# Generell würde ich sagen, dass der Prozess bei der Kunst, und nicht nur das

15 Konzept in den Mittelpunkt geraten ist, die Ideenkunst hat sich so ein bisschen erschöpft, und dass Künstlerinnen und Künstler wieder mehr interessiert sind, auf dem Wege, auf dem künstlerischen Prozess Entscheidungen zu fällen, die auch aus dem Material heraus entschieden werden. Diese Intensivierung und die Zeit, die da rein fließt, die verstärken die Message, weil es nicht nur ein Abbild ist, sondern letztendlich alle Fasern des Objektes spielen dazu bei, um dieses Gesamtobjekt entstehen zu lassen. Das ist anders als bei einem Foto oder bei einer Malerei.

Autorin: Caroline Achaintre arbeitet selbst viel mit Wolle, aber auch Keramik, sie nennt es „domestic material“. Sie stellt zum Beispiel mit einer Tuftmaschine fluffige, gleichzeitig sehr archaisch wirkende Wandbehänge her.

O-Ton 31 Achaintre (18:32) Der Sigmund Freud hat ja über das Unheimliche gesprochen, Sachen, mit denen man schon vertraut ist, die sich im eigenen Heim befinden, und plötzlich sieht man die in einem anderen Zusammenhang und hat Angst davor. Ein unprätentiöses, einfach zugängliches Material.

Autorin: Umgekehrt kann man in einem durchdigitalisierten, technologisch geprägten Umfeld das Handgemachte als das Fremde neu erfahren, in dem sich auch die körperliche Arbeit, die Mühen des Prozesses, lesen lässt/lesen lassen?. Im Begriff „domestic“ steckt natürlich auch das Weibliche. Das Weben sei lange Zeit als Kunsthandwerk oder Frauenkunst verschrien gewesen.

O-Ton 32

Achaintre: Auf jeden Fall. Ganz sicher. Anni Albers ist ja nur zum Weben gekommen, weil sie in der Malerei nicht aufgenommen wurde damals. Weil Frauen damals keine Malerei studieren durften.

Autorin: Auch Anni Albers, Weberin am Bauhaus und Zeitgenossin von Hannah Ryggen, wurde in den vergangenen Jahren wiederentdeckt und international in großen Schauen gezeigt. In den 1990er Jahren seien es dann aber gerade KünstLER gewesen, die sich dieses „domestic material“ angeeignet hätten:

16 O-Ton 33

#00:06:41-8# Und als ich vor 20 Jahren in London Kunst studiert habe und mich anfing für

Textil zu interessieren, da war eine Phase, da war das in der Kunstwelt noch interessanter, wenn der Künstler eigentlich ein Mann ist, das was noch tradiert als feminines Material gesehen wurde, wenn es dann von einem Mann bearbeitet wurde. Damals gab es den Michael Raedeker, der hat dann in Bilder reingestickt, oder Enrico David, da gab’s dann diese Umkehrung. Autorin: Grayson Perry fällt mir dazu ein, der zwar nicht webt, aber Keramik macht Achaintre: Der webt auf jeden Fall, nur nicht selber, der lässt weben, der macht riesige Tapisserien, so wie viele viele andere zeitgenössische Künstlerinnen. Aber auf jeden Fall sind Tapisserien ein großer Teil seines Oeuvres inzwischen. Autorin: Sie haben aber gesagt, dass Sie das nicht so richtig mit der Genderthematik verquicken wollen, was Sie da beobachten? Achaintre: Ja. ...Es ist gut, dass Frauen in der Kunst mehr Präsenz haben, es ist gut, dass Textil in der Kunst mehr Präsenz hat, aber das muss nicht miteinander verknüpft sein. Und es gibt inzwischen natürlich auch viele männliche bekannte Textilkünstler, Alighiero Boetti und Mike Kelly haben schon lange mit Textilien gearbeitet, ich sehe dieses Material in der Hinsicht unemotional im Hinblick auf Männlich- oder Weiblichkeit. Autorin: Da sind Sie wahrscheinlich schon weiter als viele andere? Achaintre: Das kann schon sein. Aber es ist auch eine Thematik, die mich nicht so interessiert.

Musik

Autorin: Bauhaus, Dada, die Expressionisten. In ihrer Hannah-Ryggen-Biografie ordnet die Kunsthistorikerin Marit Paasche deren Werk auch zeitlich ein: Auf der einen Seite diejenigen, die den Fortschritt verherrlichen. Auf der anderen die, die ihm skeptisch gegenüberstehen. Die Ryggens standen auf der anderen. Ihr Lifestyle scheint zunächst die Ideale der Arts-and-Crafts-Bewegung zu spiegeln, die von Großbritannien auch nach Norwegen geschwappt war. Zurück zur Natur. Zurück zum Handwerklichen. Nein zum Kapitalismus. Und Kunst soll der Gesellschaft dienen. Aber Hannah realisierte schnell, dass dieser romantische Wunschtraum auch eine Kehrseite hat:

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Sprecher (Teppichbeschreibung): We and our animals. Ein Familienporträt in drei Teilen. 1934. 17 Links: Hannah Ryggen füttert die Hühner. Rechts: Hans führt das Pferd am Zügel. Pralle Farbflächen in rotbraun- und Blautönen In der Mitte wird es dunkel: Die Familie sitzt am Tisch. Auf dem Boden, vor dem Vater, eine geköpfte Gans. Der Gänsekopf fällt, sein Messer folgt. Die Mutter – Hannah – hält sich entsetzt die Hand vor die Augen. Aus der anderen entgleitet ihr der Teller. Eine alltägliche Situation, wie weitere akkurat aufgereihte Gänseköpfe unter dem Tisch beweisen. Blut tropft senkrecht nach unten.

Autorin: Auch formal brach Hannah Ryggen mit den naturalistischen Darstellungen ihrer webenden Zeitgenossen, sagt Marit Paasche.

O-Ton 35 Marit Paasche / norwegisch (17:46 – 18:50)

Voiceover Marit Paasche: Sie setzt den Kurs auf einen anderen visuellen Ausdruck, der im Einklang mit der modernen, modernistischen Malerei der 1930er, 1940er Jahre steht. Hier in Norwegen. Und diesen Ausdruck entwickelt sie, beginnt ihn, mit Elementen aus der Gebrauchskunst zu kombinieren, Muster, Ornamente. Sie schafft sich ein eigenes visuelles Universum, bewegt sich aber stets vor und zurück. Sie entwickelt sich nicht einfach in eine Richtung.

Autorin: Dazu gehörte auch die Collagetechnik. Nur dass Hannah Ryggen ihre Bildausschnitte nicht klebte, sondern im Kopf speicherte, was sie sah und las, und dann am Webstuhl montierte.

O-Ton 36 Marietta / Marit Paasche: (11:20)Autorin: I mean, it’s interesting to imagine that she lived lonely in the outskirts anywhere in the countryside. And then the information from all over the world came to her through radio. The media. So it’s very modern and very 20th century! (12:08) It’s a slow way of blogging, yeah. She took photography as a starting point...

18 Musik

Autorin: Das Weben könne man als langsame Form des Bloggens bezeichnen, sagt Marit Paasche. Häufig sei ein Foto aus der Zeitung Ausgangspunkt für eine Arbeit gewesen, auch bei dem Teppich über die Widerstandskämpferin Lieselotte Herrmann, die 1935 wegen Hochverrats verhaftet und 1938 hingerichtet wurde. Das Foto aus der Zeitung wird auf dem Teppich zu einem biblischen Szenario.

O-Ton 37 Marit Paasche /norwegisch 12:08 – 13:06

Voiceover Marit Paasche Die öffentlichen Medien sind eine Quelle für ihre Teppiche. Das sehen wir an „Lieselotte Herrmann“, Hannah Ryggen hatte ein Pressefoto von ihr in die Hände bekommen, auf dem Foto hält Herrmann ihr Kind auf dem Arm und füttert es. Ryggens Teppich ist fast identisch mit diesem Motiv. So geht sie auch bei dem Werk „Schweden“ vor. ... Sie benutzt also viele Medien als Quellen, als eine Art Trigger für ihr Schaffen.

O-Ton 38 Hakon Bleken (9:37)

Voiceover Autorin: Hans und Hannah gingen jeden Tag zum Dorfladen auf Orlandet, erzählt der Künstler Hakon Bleken, und kauften die Tageszeitung Dagbladet. Dagbladet war ihre Bibel. Dagbladet inspirierte sie zu ihren Motiven, was auch immer gerade in der Welt los war, stand im Dagbladet.

O-Ton 39 Marit Paasche 13:11 – 13:43:

Voiceover Marit Paasche Man kann das wie einen Film betrachten, oder aber auch wie Theater. Es funktioniert wie eine Szenenaufstellung, sie platziert die verschiedenen Figuren, die sie für wichtig erachtet, in einem Verhältnis zueinander. Das ist eine interessante

19 Verwendung von Medien. Wir wissen, dass sie sehr gern ins Theater und ins Kino gegangen ist.

Musik

Autorin: Später übte Hannah Ryggen auch MedienKRITIK auf ihren Wandteppichen.

Sprecher: „Blood in the Grass“. Ein Anti-Vietnamkriegsteppich aus dem Jahr 1966. Links ein strenges Raster aus blutrot durchzogenem Grün. Rechts der us- amerikanische Präsidenten Lyndon B. Johnson mit Cowboyhut und seinem Beagle.

Autorin: Die US-Presse hatte sich mitten im Krieg darüber echauffiert, dass der Präsident seinen Hund an den Ohren hochhebt. Hannah Ryggen fand das lächerlich. Sie stellt dem Mann mit dem Beagle, das eigentliche Verbrechen entgegen.Im linken Teil des Teppichs, den mit Agent Orange getränkten Boden. Sie hatte von der Affäre vermutlich aus dem Radio erfahren, denn nach dem Krieg wurde der Rundfunk Hannah Ryggens Leitmedium. In einem Teppich, den sie 1950 zum 900. Geburtstag Norwegens webte, hat sie Radiowellen verewigt, erzählt Ashild Adsen beim Rundgang durchs Kunstgewerbemuseum. „Ja vi elsker“, heißt er.

O-Ton 40 Ashild Adsen [00:47:50] [00:47:50] "Yes, we love" which is a tapestry she made to celebrate Oslo's 900. Birthday was it in 1950. And she weaves our king and the celebrations of Oslo because her heart belonged to Norway as she says. But then she uses linen to actually, because she sits in the Trondlag and listening to the celebrations in our capital Oslo. But she wants to be part of the celebrations. So she leaves herselves in, sitting there, with her Swedish Grey Goose and the ornaments from Oslo our king. And she uses linen to show the radio waves. [45.7s]

Voiceover Ashild Adsen: Es ist ein Bild der Feierlichkeiten in Oslo mit dem norwegischen König, weil ihr Herz, wie sie sagte, für Norwegen schlug. Sie hört die Radio-Übertragung aus Oslo. Sie wäre gerne dabei gewesen, und so fügt sie sich selbst inklusive ihrer schwedischen Graugans in dieses Bild ein. Und sie webt mit Leinenfäden Radiowellen ein.

20 Was sie webt, sind ihre Antworten auf das, was sie hörte. Das Radio war ein ganz wichtiges Werkzeug für ihre Arbeit.

Autorin / auf Atmo Kaffeekochen Wolfgang Ullrich Diese Frau, denke ich, hat uns nicht nur ein einzigartiges Werk hinterlassen, sondern auch viele gute Anekdoten. Wie wichtig ist für die Wiederentdeckung einer Künstlerin eigentlich ihre Biografie? Ein Treffen mit dem Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich in Leipzig.

O-Ton 42 Wolfgang Ullrich (19:58) Ich glaub die Geschichte ist immer noch sehr wichtig. Ohne die Geschichte ist es ganz schwer, überhaupt ein vergessenes Werk wieder in die erste Reihe zu bringen. Dazu gibt es einfach so ein unglaubliches Angebot, so viele letztlich interessante Werke, dass das alleine nicht reicht. Und wenn man nochmal zurückblickt, welche Künstler wiederentdeckt wurden, dann waren das immer Künstler mit einer interessanten, ungewöhnlichen Biografie, die Elemente enthält, die heute wieder in die Diskurse passen, z.B. Lotte Laserstein als Homosexuelle, als Vorreiterin der Gender-Theorien, wo man dann auch anfängt, das in den Bildern zu suchen, oder jetzt bei Hannah Ryggen diese klar politischen Aussagen in ihren Teppichen, ihre Positionierung gegen Faschismus, das passt sehr gut in die heutige Zeit, das ist begünstigend, vor allem auch begünstigend, dass man mehr Anlässe hat, über diese Künstlerin zu sprechen, zu konzeptualisieren, dass sie in eine Biennale passen, die sich mit aktuellen politischen Themen beschäftigt, dass es nicht nur Kunstmarkt-Kunst ist, Sofa-Bilder sind, die wiederentdeckt werden, sondern dass da noch andere Dimensionen reinspielen.

Autorin: Dass Hannah Ryggen wie viele Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts jetzt wieder in Museen gezeigt wird, habe aber mit dem Anspruch von Kuratoren zu tun, Dinge neu zu entdecken:

O-Ton 43 Ullrich (6:36) Und wir leben jetzt ja auch nicht mehr in einer Zeit, in der alles nur fortschrittsgläubig in die absolute Gegenwart guckt, ... sondern wichtig ist gerade auch der Blick zurück und gerade auch heutzutage wo wir in Zeiten leben, wo man das Gefühl hat, die ganze Moderne bedarf einer Revision. Das was bisher kanonisch war, war bisher vielleicht zu einseitig oder zu vorläufig, und entsprechend ist glaube ich sogar bei vielen Kuratorinnen und Kuratoren der Ehrgeiz da, solche unterschätzten Unbekanten oder vielleicht nur regional prominenten Positionen ans Licht zu bringen. Und das finde ich auch verdienstvoll.

21 Autorin: Wolfgang Ullrich sah die Teppiche von Hannah Ryggen zum ersten Mal bei der documenta 2012 und fand interessant, wie sie die Idee des höfischen Wandbehangs neu interpretiert:

O-Ton 44 Wolfgang Ullrich (2:00) ein Medium, das zu Zeiten der Monarchie oder Aristokratie sehr repräsentativ genutzt wurde, jetzt in Zeiten der Demokratie eher volkstümlich zu nutzen, wo man erstmal denkt an Formen von Folklore, von sog. Volkskunst, sog. Naiver Kunst, aber allein die großen Formate verraten einen Anspruch, der über das bloß Kleine und Alltägliche und Beiläufige hinausgeht.

Ausschnitt aus Wochenschau: Deutsche marschieren in Norwegen ein https://www.sofatutor.com/geschichte/videos/1940-besetztung-von-daenemark-und- norwegen

„In den Morgenstunden des 9. April landeten in zahlreichen Häfen Norwegens und Dänemarks deutsche Truppen....“

(Alternativ: O-Ton Goebbels aus Rundfunkarchiv)

Autorin: Am 9. April 1940 besetzte Nazi-Deutschland Norwegen.

O-Ton 45 Fritsche (1:06) Die Invasion Norwegens am 9. April kam wirklich sehr plötzlich. Norwegen war auf jeden Fall neutral, und was auch interessant ist, es gab relativ wenig Kämpfe.

Autorin: Maria Fritsche hat sich als Historikerin auf die Besatzungszeit Norwegens spezialisiert und lehrt und forscht in Trondheim.

O-Ton 46 Fritsche (3:47) Im Juni flüchtet dann die norwegische Regierung zusammen mit dem König nach England. Und die Regierung bleibt während des Krieges in London als Exilregierung. Sehr bald nach dieser Periode wird die deutsche zivile Administration eingesetzt, Norwegen wird ein Reichskommissariat und Josef Terboven Reichkommissar, der die Macht hat in Norwegen.

22 Atmo Möwen

Autorin: Das Weltgeschehen rückte 1940 direkt vor die Tür der Ryggens. In Orlandet wurde unter deutscher Besatzung einer der größten militärischen Flugplätze Norwegens von Kriegsgefangenen gebaut. Soldaten und Zwangsarbeiter, vor allem Russen und Serben, liefen täglich bei den Ryggens am Haus vorbei. Hannah versuchte sie mit Nahrung zu unterstützen.

O-Ton 47 Fritsche (19:36) Wenn man natürlich die Besatzung Norwegens vergleich mit der Besatzungspolitik in anderen europäischen Ländern, da kommt ja Norwegen immer so ein bisschen, naja, das war recht harmlos hier. Und vergleichsweise stimmt das natürlich. (15:30) Aber es ist wichtig, da ein nicht zu positives Bild zu bekommen. Es war eine Diktatur, die Presse war gleichgeschaltet, es gab nicht die Möglichkeit, offiziell Kritik zu üben am Staat.

Musik

Sprecherin / Hannah Ryggen: „Eines Tages, es schneite, kam ich nach Hause und fand das Haus voller Deutscher vor. (Meine Tochter) Mona war draußen und fütterte ein Kalb. Die Haustür war eingebrochen, der Schlüssel war weg, die Deutschen suchten das Haus nach Radiogeräten ab. Damals hingen die Teppiche oben unter dem Dach, mit all den Motiven, die ich in sie hineingewoben hatte. Das war ein echtes Risiko, ich weiß wirklich nicht, wie ich mich das überhaupt getraut habe, aber ich musste.“

Autorin: Hannah Ryggen hatte Glück. Die Wandteppiche blieben unentdeckt.

Sprecher: „Death of Dreams“. 1936. Carl von Ossietzky links mit anderen Gefangenen hinter Gittern. In der Mitte, wie in Schatten getaucht, Hitler, Goebbels und Göring, der seine Hände um den Hals eines Wehrlosen schlingt. Und auf der rechten Seite spielt Albert Einstein Violine. Auch dieser Teppich horizontal zweigeteilt. Der Teppich hat zwei Ebenen .Der Bildfries oben, und darunter ein Hakenkreuz-Dekor, das man erst auf den zweiten Blick entschlüsselt.

23 Autorin: Carl von Ossietzky, Herausgeber der „Weltbühne“, wurde bereits 1931 und erneut 1933 wegen Verrats verhaftete und landete im KZ. 1934 wurde er für den Friedensnobelpreis nominiert, zu seinen Unterstützern zählten Albert Einstein, Thomas Mann und Willy Brandt, der damals in Norwegen im Exil lebte. Der Fall sorgte international für großes Aufsehen, auch in Norwegen, und Hannah Ryggen begann, ihre düstere Vision einer Nazi-Herrschaft zu weben. Sechs Monate, bevor Ossietzky der Preis zuerkannt wurde, war „Death of Dreams“ vollendet.

Ein weiterer Teppich aus dieser Zeit ist: „6. Oktober 1942“

O-Ton 48 Ashild Adsen [00:14:02 and 6th October 1942 is also a very important date in Trondheim. It or so martial law, declared martial law, and Josef Terboven then a prominent Nazi in Norway, came with a list of names that were going to be executed because of their resistance in the in the area and this is something Hannah Ryggen tells through this tapestry which is made like a triptych with three different stories in this tapestry.

Voiceover Ashild Adsen: „Der 6. Oktober 1942“ war ein wichtiges Datum in Trondheim, da Josef Terboven, NS-Reichskommissar in Norwegen, eine Liste mit Todesurteilen gegen Widerständler präsentierte. Was hier in einem Triptychon erzählt wird.

O-Ton 49 Ashild [00:15:03] Hannah Ryggen herself wrote that in the middle piece we see here with his bowler hat standing in Tower London and you see the coastline of England woven in under the tower. She must have worked on the three different parts very separately telling the story. Maybe they were going to be three different tapestries but in the end they got put together as a one tapestry. It might well be because she did not do any sketches. So there is some improvisation while she is working on this piece. Marietta [00:16:08] So there is there is the detail I also I always have to watch it. And I think this farting Hitler fits to some descriptions of Hannah Ryggen doing her dying, which is very directly. She was a tough one, raw, rural, or how would you describe that language? Ashild [00:16:49] She was tough and raw and direct. She wasn't afraid of you know the talking or shoving bold bodily functions. But what we always used to say that this is the evil gases of Hitler spreading over the landscape as if the were very well looked a lot like that. That it's probably not gas but it's the Oak Leaf which has been used since the Middle Ages to portray the devil. We have a painting here in Trondheim ?in? a church from the 13th century where the devil is said the picture with this Oak Cliff coming out of the anus. So it's a direct link there of 24 church art from the middle ages up to this satirical portrayal of Hitler flying over the landscape with the Norwegian Knut Hamsun flying behind him like a black crow. And with Ken Quisling, the leader of the NS in Norway, flying in front of Hitler as a fat goose making way for Hitler. [74.3s]

Voiceover Ashild/ Autorin: Ashild: In der Mitte ist Winston Churchill, der im Tower steht, man sieht auch die Küste von England. Wahrscheinlich hat Hannah Ryggen die drei Teile unabhängig voneinander gewebt, aus dem Kopf heraus, und dann zu einem großen Teppich zusammengenäht.

Voiceover Autorin: Auf ein Detail muss ich schon die ganze Zeit starren: Der pupsende Hitler. Das passt irgendwie zu den Beschreibungen von Hannah Ryygen, auch die Geschichte mit dem Pisspott-Blau. Das ist eine sehr direkte, rohe Bildsprache, oder wie würden Sie das charakterisieren?

Voiceover Ashild: Ja, zäh, roh, direkt. Mit Körperfunktionen hatte sie kein Problem. Es sieht so aus, als ob Hitler giftiges Gas über der Landschaft verteilt. Aber wahrscheinlich handelt es sich bei der Ausscheidung nicht um Gas, sondern um Eichenblätter, die seit dem Mittelalter für das Böse stehen. Wir haben hier in Trondheim eine Kirche aus dem 13. Jahrhundert, in der es ein ähnliches Gemälde gibt. Hannah Ryggen bezieht sich mit dieser satirischen Darstellung Hitlers also direkt auf mittelalterliche Kirchenkunst. Hitler fliegt über die Landschaft, mit Knut Hamsun, (dem norwegischen Nazi), hinter ihm als Krähe. Und mit , dem Nazi-Führer in Norwegen, der als fette Gans vor ihm herfliegt und ihm den Weg freimacht.

Autorin: Für die Ryggens ging es bis 1944 gut – trotz aufrührerischer Teppiche. Dann wurde Hans wegen Beihilfe zum Widerstand festgenommen und landete im Konzentrationslager.

O-Ton 50 Maria Fritsche / Autorin (24:42) Autorin: Eine der ungeklärten Fragen ist, warum diese Frau, die einen schwedischen

25 Pass hatte, weil sie Schwedin war, und sich dezidiert politisch in ihrer Kunst geäußert hat, bis zu einem pupsenden Adolf Hitler auf einem Teppich, warum dieser Frau nichts passiert ist. Fritsche: Ein schwedischer Pass hat sicherlich geholfen.... weil das NS-Regime sich auch nicht mit Schweden verderben wollte, Schweden war sehr sehr wichtig für Nazi-Deutschland. Aber ich nehme an, dass sie nicht aufgefallen ist.

Szenenwechsel: Szene Kunstmuseum Trondheim! Atmo Knistern von Pergamentpapier, das vom Teppich gehoben wird Direktor Börjesson: „So we have to remember to turn it round....

O-Ton 54 #00:08:29-2# Reporterin: I think this is a very special moment. Marit Paasche: it is!

Autorin: Grini – so hieß das Konzentrationslager, in dem Hans Ryggen inhaftiert war. Und so heißt auch ein Teppich von Hannah Ryggen, der gerade frisch aus der Restauratorenwerkstatt zurück ins Kunstmuseum Trondheim gekommen ist. Er liegt im Museumslager auf dem Boden, mit einem riesigen Pergamentpapier bedeckt, das Johann Börjesson, der Museumsleiter, jetzt an einer Ecke schnappt und sanft nach oben zieht.

O-Ton 54 weiter Reporterin: Wow! Johann Börjesson: Yes the colors are remarkebly rejuvenated. Patsche: It's in much better shape....

Autorin: Die Farben leuchten. O-Ton 54 weiter Börjesson: And of course there have been several Hannah Ryggen Exhibitions recently, and this has been in all of them. But we decided, that after this exhibition in Frankfurt this will travel much much less. Will be much more restricted.

Voiceover Sprecher Börgesson Es gab ja verschiedene Hannah Ryggen Ausstellungen in letzter Zeit. Und dieser Teppich hing in jeder. Aber wir haben jetzt beschlossen, dass er nach der Ausstellung in Frankfurt nicht mehr so viel reisen wird. Das wird viel mehr eingeschränkt. 26 Typisch für Hannah Ryggen ist, dass sie ohne Skizze arbeitet, sie fängt direkt an zu weben.

O-Ton 56 #00:10:12-0# Marit Pasche: And she also started here and weaved it this way and not that way.

Voiceover Marit Paasche: Und an diesem Teppich sieht man auch, dass die Webrichtung senkrecht ist – sie hat also über Kopf gewebt.

Autorin: Hannah Ryggen sah immer nur einen Ausschnitt dessen, was sie gerade tat. Am Webstuhl wird das bereits Gewebte unten eingerollt und in diesem Fall noch um 90 Grad gedreht – über Monate speicherte sie ihre Ideen im Kopf.

Szene Kunstmuseum geht weiter

(bleibt unübersetzt)

O-Ton 57

#00:12:32-6# Johan is it possible to show a little piece of the backside?

Börjesson: (dreht Teppich um) So you see the colors are stronger on the back.

Sprecherin Hannah Ryggen: „Du weißt sicher, dass solche Tapisserien „reifen“. Die Farben bleichen aus und werden transparenter – viel schöner. Das Werk gewinnt durch die Einwirkung des Lichts. Als ich „We are Living on a Star“ vor 20 Jahren gewebt habe, fand ich die Farben zu stark, und legte den Teppich bewusst in die Sonne auf einen Felsen. Es half nichts. Nach Jahren waren die hellen Rot- und grünlichen Gelbtöne etwas verblichen, aber das Blau lichtecht. „Mothers heart“ ist feiner geworden, auch „Us and our Animals“ in Malmö. Letztes Mal, als ich es sah, war es sehr lebendig und intensiv, und ich dachte: Ich werde sterben, aber das hier wird weiterleben.“

Autorin: Am 2. Februar 1970 starb Hannah Ryggen im Alter von 76 Jahren. Sie hinterließ weit über 100 Webteppiche.

27 O-Ton 53 Marit Paasche / norwegisch 03:13 – 04:35 Voiceover Marit Paasche: Das ist das Faszinierende bei der Arbeit mit Hannah Ryggen – man kann ihr politisches Engagement von 1935 – 1945 genau sehen, denn zu der Zeit gab es große Konflikte in Norwegen, es gab die Besatzung durch die Nationalsozialisten, und auch die verheerenden Konflikte im restlichen Europa. Aber als 1945 der Frieden kommt, hört Hannah Ryggens politisches Engagement nicht einfach so auf, nein, sie macht weiter. Und sie beschäftigt sich mit der NATO, dem Kalten Krieg, sie war Atomkraftgegnerin, hatte regelrecht Angst vor Atomwaffen. Zu diesen Konflikten entstanden mehrere Arbeiten, sie beschäftigte sie auch mit dem Vietnamkrieg, sie war eine Gegnerin der amerikanischen Kriegsführung in Vietnam. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1970 war sie politisch aktiv.

Musik

Absage Gewebte Geschichte – die Textilkünstlerin Hannah Ryggen Feature von Marietta Schwarz

Alle Zitate stammen aus „Hannah Ryggen, Threads of Defiance“ von Marit Paasche, erschienen bei Thames and Hudson sowie „Hannah Ryggen, 100 Notizen – 100 Gedanken“ von Marta Kuzma, erschienen bei Hatje Cantz

Es sprachen: Edda Fischer, Nicola Gründel, Justine Hauer, Jonas Baeck,

Sigrid Burkholder und die Autorin.

Technische Realisation: Wolgang Rixius und Roman Weingard

Regie: Nikolai von Koslowski

Redaktion: Tina Klopp

Eine Produktion des Deutschlandfunks 2019.

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