37 PERSÖNLICHE ERINNERUNGEN AN DIE ZEIT ZWISCHEN 1920 UND 1950

IM AUGSBUGER LAND IM AUGSBURGER LAND

Blick ins Buch

37 Zeitzeugen wurden in mehrstündigen Interviews zu ihren Erinnerungen an die Zeit zwischen 1920 und 1950 befragt. Themen waren unter anderem der Alltag dieser Zeit, das Leben unter dem Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, die Besatzungszeit sowie die Flucht und Vertreibung.

DIE LETZTEN ZEITZEUGEN DIE LETZTEN ZEITZEUGEN IM AUGSBUGER LAND

EIN PROJEKT VON MICHAEL KALB & CHRISTOPH LANG VIDEOS

Impressum © Michael Kalb, Dieses Projekt wurde unter anderem gefördert vom: Bei den Eichen 4, 8624 Herausgeber: Angelika Pilz, Christoph Lang und Michael Kalb Öffentliche 1. Auflage (500 Stück), Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist ur- vom 01.09.2020 heberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des ISBN: 978-3-00-063986-9 Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für Transkription: die elektronische oder sonstige Vervielfälti- Angelika Pilz, Christine Haisch, Lydia Faß- gung, Übersetzung, Verbreitung und öffentli- nacht, Tamara Michalke, Brigitte Hübner, Laura che Zugänglichmachung. Ausschnitte aus allen Interviews gibt es im Internet unter Schmidt-Niederhoff, Sandra Everts, Tamara Bibliografische Information der Wittemann, Gregor Birle und Michael Spotka www.letzte-zeitzeugen.de Deutschen Nationalbibliothek: Blick ins Buch Korrektur: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet Angelika Kalb und Heike Baumgartner diese Publikation in der Deutschen Nationalbi- Buchgestaltung: bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind VISUAL STATEMENTS im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Haftungsausschluss Die Inhalte des Buches wurden sorgfältig geprüft durch die Nutzung fehlerhafter und unvollständi- und nach bestem Wissen erstellt. Jedoch kann ger Informationen verursacht wurden, sind grund- keinerlei Gewähr für die Korrektheit, Vollständig- sätzlich ausgeschlossen, sofern kein nachweislich keit, Aktualität oder Qualität der bereitgestellten vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verschulden Informationen übernommen werden. Haftungsan- vorliegt. sprüche gegen Michael Kalb oder die Herausgeber, Alle Transkripte, Aussagen der Zeitzeugen und na- welche sich auf Schäden materieller oder ideeller mentlich gekennzeichneten Beiträge spiegeln nicht Art beziehen, die durch die Nutzung oder Nicht- unbedingt die Meinung der Herausgeber wider. nutzung der dargebotenen Informationen bzw. Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Michael Kalb und Christoph Lang ....6 Zum Hintergrund...... 8

Karl Hinterstößer Anselma Weckermann aus Dinkelscherben ...... 16 aus ...... 192 Karolina und Albert Völk Franz Raiser aus ...... 30 aus ...... 198 Josef Fritz Franz Xaver Gollinger aus Baiershofen ...... 42 aus Hirschbach ...... 208 Friedrich Braun Kordula Hartl aus Ustersbach ...... 50 aus ...... 216 Elfriede Moll Genoveva und Paul Barl aus Schwabmünchen ...... 64 aus Neukirchen ...... 230 Franziska Rechner Benedikt Klein aus Hölzlarn ...... 76 aus Wollishausen ...... 240 Franz Gai Elmar Pfandzelter aus ...... 86 aus Schwabmünchen ...... 248 Elisabeth Mayr Otto Zott aus Agawang ...... 98 aus Neuhäder ...... 262 Daniel Schaffner Ulrich Sprößer aus ...... 106 aus Gersthofen ...... 274 Rosamunde Hiller Josef Müller aus ...... 118 aus Anried ...... 282 Blick ins BuchGerlinde Zerle und Barbara Wolf Gabriel Hartmann aus Ehingen ...... 124 aus Steinekirch ...... 292 Erna Mayerle und Jakob Demmel Anna Haider und Karl Wagner aus ...... 134 aus ...... 302 Edeltraud und Anton Hildensperger Rosa Karolina Hartelt aus ...... 150 aus Täfertingen ...... 314 Luise Hannes Richard Schafitel aus Schwabmünchen ...... 166 aus Ottmarshausen ...... 324 Heinz und Günther Barisch Theresia Linder aus /Zülz ...... 176 aus Dinkelscherben...... 342

Bildquellenverzeichnis...... 350 Anhang A: Der Film zum Projekt...... 352 Anhang B: Gesprächsleitfaden...... 354 Anhang C: Regeln zur Transkription... 355 IM AUGSBURGER LAND Vorwort Vorwort Michael Kalb Christoph Lang

Die persönlichen Erinnerungen der Zeitzeu- Wir führen diese Gespräche nicht nur für uns, gen nehmen den Zuschauer bzw. den Leser sondern auch für unsere Kinder und Enkel. dieses Buches mit auf eine Reise in die dun- Es gibt viele Möglichkeiten, Kenntnisse kelste Zeit der deutschen Geschichte, in der über die Vergangenheit zu erwerben. Eine da- es dennoch immer wieder Lichtblicke gab. von ist die Befragung von Zeitzeugen, oft als Alltag, Angst und Grausamkeit, die Wider- Oral History bezeichnet. Selbstverständlich sprüche des „Dritten Reiches“ und das Chaos muss man sich der Probleme bewusst sein, nach Kriegsende werden dadurch greifbar. die diese Methode in sich birgt: Der Blick Mit dem Wissen um die Hintergründe dieser in die Vergangenheit reicht nur einige Jahr- unmenschlichen Zeit erzeugt gerade die Un- zehnte zurück, ist getrübt, nicht unbedingt reflektiertheit mancher Zeitzeugen ein noch faktentreu und eindeutig subjektiv geprägt, größeres Unbehagen. die Auswahl der Zeitzeugen nicht unbedingt Deshalb sollte den Lesern dieses Buches repräsentativ. Die Methode hat aber auch ih- „Was geht mich das heute noch an?“ mögen stets bewusst sein, dass alle Teilnehmerin- ren Reiz: Es geht nicht allein um historische Für die Generation, die im 21. Jahrhundert einige Jüngere fragen und die Generation nen und Teilnehmer damals zumeist Jugend- Fakten, sondern auch darum, wie Menschen geboren ist, stammen unsere vor 1930 gebo- derjenigen, die die Zeit zwischen 1920 und liche waren und sie nur ihre pesönlichen und Vergangenheit erlebt haben, was sie gefühlt renen Zeitzeugen aus einer archaischen Welt. 1950 als junge Erwachsene erlebt haben und über 75 Jahre zurückliegenden Erinnerungen und was sie gedacht haben, worin ihre Ängs- Wenn wir dieser nachfolgenden Generation noch persönlich davon erzählen können, wiedergeben. Durch die regionale Einschrän- te, Sorgen und Hoffnungen lagen. etwas vom Leben ihrer Urgroßeltern vermit- stirbt aus. kung des Projektes und die Privilegiertheit Darüber hinaus dokumentiert die Zeitzeu- teln wollen, sind Zeitzeugen-Gespräche ein Für das Archiv-Projekt „Die letzten Zeit- der Interviewpartner, als eine der Letzten gen-Befragung eine Art des Redens und des geeigneter Weg. zeugen im Augsburger Land“ wurden 37 noch erzählen zu können, fehlt natürlich Erzählens über Vergangenheit, die spürbar Besonders wichtig wird diese Vermittlungs- Frauen und Männer, die meisten davon noch gänzlich die Perspektive der vielen Millionen im Wandel begriffen ist. Dieser Wandel in arbeit in Hinblick auf die Verbrechen der NS- vor 1930 geboren, zu deren persönlichen Ge- Opfer und Anderer, deren Geschichten hier der Sprache folgt den gesellschaftlichen Ver- Zeit. Die Zeitzeugen führen uns in diese Zeit. schichten und Erinnerungen vor der Kamera nicht erzählt werden können. änderungen, die wir in den vergangenen Jahr- Sie zeigen, dass die Unrechtsherrschaft auch interviewt. Themen waren unter anderem „Was geht mich das heute noch an?“Blick - ins Buchzehnten erlebt haben und die so gravierend im Gebiet des heutigen Landkreis Augsburg der Alltag zu dieser Zeit, der Nationalsozia- auch ich, Jahrgang 1989, habe mich dies schnell vonstatten gehen wie wohl nie zuvor. zu Hause war, und sie geben Einblicke in die lismus, der 2. Weltkrieg mit anschließender gefragt. In einer Zeit des erstarkenden Der Anblick, Geruch und Klang unserer Orte Wirkmechanismen dieses Regimes. Besatzung durch die Alliierten sowie die Nationalismus müssen wir über unsere Er- haben sich in den vergangenen 70 Jahren Zeitzeugen-Gespräche können eine wichtige Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen innerungskultur entscheiden. Umso wich- vermutlich mehr verändert, als in Jahrhun- Quelle in der Vermittlungsarbeit spielen, man deutschen Gebieten. Herausgekommen ist tiger ist es, dass wir den Menschen, die derten zuvor. Gewandelt haben sich Land- muss sie jedoch bei Zeiten dokumentieren. ein Video-Archiv von über 50 Stunden, wel- diese entscheidende Zeit noch persönlich wirtschaft und Gewerbe, gewandelt haben Wir wollten diese Chance nicht verpassen. ches zusätzlich noch transkribiert wurde. Die erlebt haben, noch einmal genau zuhö- sich auch die Einstellungen zu Leben und Interviews in Bild, Ton und Text sollen für ren und ihre Erinnerungen aber auch kri- Tod, Glaube und Kirche, Öffentlichkeit und die folgenden Generationen zugänglich ge- tisch hinterfragen. Die Frage lautet deshalb: Privatheit, Gemeinschaft und Individualität. macht werden. „Was können wir aus alledem lernen?“

6 7 IM AUGSBURGER LAND

ABLAUF EINES INTERVIEWS Mit einer Ausnahme (Franz Gai, Interview Bei vielen Interviews waren auch Angehö- vom 01.09.2017) fanden alle Gespräche im rige der Zeitzeugen anwesend. Diese spra- Zuhause der Zeitzeugen bzw. derer Verwand- chen manchmal mit, gaben Hinweise oder ten statt und wurden mit einer Videokame- Gedächtnisstützen für die Zeitzeugen. Mi- ra aufgezeichnet. Nach Start der Aufnahme chael Kalb war bei allen 30 Interviews dabei, stellten sich die Zeitzeugen vor und anhand die Volkskundler und Historiker Christoph eines Gesprächsleitfadens wurde das Ge- Lang, Claudia Ried, Michael Philipp und Mar- spräch geführt (siehe Anhang B). Je nach Per- gret Ottner beteiligten sich an ingesamt 20 son, Auskunftsfreudigkeit, geistiger Fitness Gesprächen. und Themenbezug wurde mal mehr und mal Die Interviews dauerten zwischen einer weniger in den Gesprächsverlauf eingegrif- und drei Stunden. Beendet wurden die Ge- fen. Manche Zeitzeugen erzählten lange und spräche, wenn der Gesprächsleitfaden ab- ausführlich, bei manchen musste oft nach- gearbeitet war und keine weiteren Fragen gefragt werden. Je nach Zeitzeuge wurde auf vorerst mehr offen waren, manchmal aber regionale bzw. persönliche Schwerpunkte auch, wenn die Wachsamkeit und Auskunfts- Interview mit Karl Hinterstößer, 15.05.2017 verstärkt eingegangen und nachgefragt. So freudigkeit der Zeitzeugen spürbar nachließ wurde beispielsweise bei Erna Mayerle und und keine weiteren Informationen mehr zu Jakob Demmel (Interview vom 03.10.2017) erfragen waren. verstärkt über deren Erinnerungen an die Zum Hintergrund damaligen jüdischen Mitbürger aus Fisch- ach gesprochen, Richard Schafitel (Interview Die Idee zum Projekt „Die letzten Zeitzeugen In einer Sitzung des Schul- und Kulturaus- vom 11.09.2019) hingegen erzählte schwer- im Augsburger Land“ hatte Michael Kalb im schusses des Landkreises Augsburg,Blick am ins Buchpunktmäßig von seiner Zeit im Reichsar- Frühjahr 2017. Aus verschiedenen Interviews 15.05.2017, sagten die Kreisräte einstimmig beitsdienst. mit Menschen aus dem Augsburger Land- die finanzielle und organisatorische Unter- kreis, die zwischen 1933 und 1948 im jungen stützung des Landkreises zu. Bald darauf Erwachsenenalter waren, sollte ein Doku- wurden vom Landratsamt Briefe an alle mentarfilm entstehen. Kurz nach diesem Landkreisgemeinden versandt, die auf das Entschluss führten Michael Kalb und Chris- Projekt aufmerksam machten und um Hin- toph Lang das erste Interview in ihrem Hei- weise bei der Suche nach möglichen Interview- matort Dinkelscherben (Karl Hinterstößer, partnern baten. Auch dank mehrerer Artikel in Interview vom 22.04.2017). der lokalen Presse gingen bei der Kultur- und Heimatpflege des Landkreises Augsburg, bei Michael Kalb und bei Christoph Lang zahlrei-

che Personenvorschläge ein. Interview mit Erna Mayerle und Jakob Demmel, 03.10.2017

8 9 PROJEKTABSCHLUSS Am 11.09.2019 fand mit Richard Schafitel aus Neusäß-Ottmarshausen das 30. und letzte B2 Interview des Projektes statt. Da bei man-

chen Interviews auch zwei Personen vor der Kamera erzählten, beispielsweise bei Ehepaa- ren oder Freunden aus Jugendzeiten, wurden Ehingen insgesamt 37 Personen interviewt.

Meitingen

Langweid

A A Horgau B3

TRANSKRIPTION bergen Augsburg Im Anschluss wurde das digitale Filmmate- rial gesichert und Michael Kalb erstellte zu jedem einzelnen Interview ein Gesprächs- Blick ins Buch protokoll, in dem der Zeitstempel (Timeco- B3 Bobingen de) und das dazugehörige grobe Gesprächs- Langen- thema vermerkt wurde. Königs- Im Anschluss transkribierten verschiedene Großaitingen Helferinnen und Helfer das gesamte Inter- view. Das bedeutet, sie tippten das gespro- aitingen chene Interview gemäß vorher abgestimm- ten Transkriptionsregeln ab (siehe Anhang C). Ebenfalls wurden im Video erkennbare tingen Reaktionen wie Gestik und Mimik oder Ge- fingen sprächspausen vermerkt. Langeringen

B1

10 11 BEARBEITUNGEN FÜR DIESE AUSGABE

Unter Federführung von Angelika Pilz, die zuvor bereits zwölf Interviews für das Pro- jekt verschriftlichte, wurden die Transkripte für diese Publikation gekürzt. Um die Texte in eine verständlichere und AUSWERTUNG gut lesbare Form zu bringen, wurden die Sät- ze größtenteils der neuen deutschen Recht- Alle Filmaufnahmen, Transkripte und wei- schreibung angeglichen. Dazu gehörte auch tere Daten zu allen Interviews wurden dem die Anpassung der gesprochenen Sprache an Landratsamt Augsburg sowie einigen Kom- die für einen Fließtext übliche Grammatik Ein Teil des Teams und Zeitzeugen bei der Landkreis-Premiere munen im Landkreis für deren Archiv in digi- und das Weglassen einzelner Unterbrechun- des Films „Die letzten Zeitzeugen“, 25.01.2020 taler Form übergeben. Ebenfalls wurden die gen und Rückfragen der anderen Gesprächs- vollständigen und ungekürzten Interview- teilnehmer. Wo es notwendig war, um den transkripte in einem Buch zusammengefasst Sinn des Gesprochenen aufrecht zu erhalten und allen Gemeinden, aus denen Zeitzeugen oder hervorzuheben, wurden auch Wörter kamen, übergeben. Die Originaldateien und oder Satzteile eingefügt, soweit sie sich aus Danksagung das Archiv-Buch sind gemäß dem Bayeri- dem Kontext des Interviews klar ableiten schen Archivgesetz (BayArchivG) zu behan- ließen. So weit es möglich war, wurdeBlick der ins BuchDie Arbeiten und Interviews für die- Der Augsburger Allgemeinen mit deln und sollen für weitere Forschungsarbeit sprachliche Duktus der Interviewpartner bei- ses Projekt erstreckten sich über eine Jana Tallevi, Philipp Kinne und genutzt werden können. Die Texte sind je- behalten. Zeit von knapp drei Jahren und waren Maximilian Czysz natürlich nur möglich durch die Unter- doch ohne eine wissenschaftliche Einord- Redaktionelle und inhaltlich ergänzte Stellen Dem Stammtisch der Ahnen- und stützung einiger Institutionen und nung oder Bearbeitung nicht für die Veröf- sind im Text durch [eckige Klammern] oder Heimatforscher im Landkreis Augsburg dank vieler fleißiger, ehrenamtlicher fentlichung bestimmt. als Fußnoten gekennzeichnet. mit Margret Ottner und Anita Christl Mit Ausschnitten aus den Interviews ent- Helfer. Ein großer Dank gilt deshalb: Dem Förderverein für Internationale stand in Koproduktion mit dem Bayerischen Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern Jugendbegegnung und Gedenkstätten- Rundfunk der Dokumentarfilm „Die letzten des Projektes mit ihren Familien Zeitzeugen“ (siehe Anhang A). arbeit in Dachau e.V mit Andrea Heller Dem Landkreis Augsburg mit allen Dr. Michael Philipp, Carolina Trautner, Kreisräten und Mitarbeitern Angela Schlenkrich, Gisela Mahnkopf, Der Bürgerstiftung Augsburger Land Sabine Sünwoldt, Dr. Andrea Faber, Lukas Kleinle, Anne-Marie Fendt Allen unterstützenden Bürgermeister* innen des Landkreises Augsburg

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SCHÄFFLERTANZ 1935 sen, dass man den Schäfflertanz aufführen Ich habe eigentlich schon eine schöne Ju- darf. Und das war auch die Zeit, wo so lang- gend gehabt, muss ich sagen. An und für sich sam die Vereine aufgelöst worden sind. Das bin ich eigentlich sorgenfrei aufgewachsen. ging so langsam einfach in die Hitlerjugend Mein Vater war ja Vorstand beim Turnver- über. Da ist man nicht mehr zum Turnen ein, der den Schäfflertanz aufgeführt hat, gegangen, sondern das hat halt die Hitler- KARL darum bin ich halt Bogenbub geworden. jugend gemacht und BDM, Bund Deutscher Und vom Bahnhofvorsteher Hofmann der Mädchen. Wir waren ja noch Jungvolk. Man HINTERSTÖSSER Sohn, der Alfred, war mein Freund, der war muss unterscheiden: Ich war eigentlich gar auch Bogenbub. Wir zwei waren Bogenbu- nie bei der Hitlerjugend, bloß beim Jung- * 13.03.1925 ben. Das war 1935, da war ich also gerade volk. Das Jungvolk ist glaube ich bis 14 Jahre in Dinkelscherben zehn Jahre alt. Ich habe überall so ein biss- gegangen und dann ist man zur Hitlerju- chen mitgemacht und mitgewirkt. Geturnt gend gekommen und bei den Mädchen war hat man dann beim Vikari in der Turnhalle es auch so ähnlich.1 Karl Hinterstößer wuchs mit zwei hinten. Halbbrüdern und einer Schwester 1935 war das noch nicht so streng, aber so- 1 Das Deutsche Jungvolk (DJ), kurz auch als Jungvolk be- (siehe Interview S. 342) in Dinkel- viel ich weiß, ich habe das später erfahren, zeichnet, war die Jugendorganisation der Hitlerjugend für scherben auf und erlebte eine der Turnverein hat schon beim Ortsgrup- Jungen zwischen zehn und 14 Jahren. Danach wurde, wer glückliche Kindheit. Seine Mutter penleiter eine Genehmigung einholen müs- nicht als Jungvolkführer eingesetzt war, in die Hitlerjugend war Hausfrau, der Vater arbeitete überwiesen. bei den Lechwerken, verstarb aber schon 1941 mit 53 Jahren. Hinterstößer war ein begeistertes Mitglied im Jungvolk. Er hat viele Erinnerungen an das damalige Ver- einsleben und an die anfängliche euphorische Stimmung nach Hit- lers Machtübernahme. Sehr prä- Interview vom 22.04.2017, gend waren für ihn seine ErlebnisseBlick ins Buch geführt in Dinkelscherben in viereinhalbjähriger Kriegsgefan- genschaft in der Sowjetunion. Länge des Interviews: 02:09:43 Transkription: Christine Haisch Nach seiner Heimkehr beendete er sein Maschinenbaustudium und arbeitete, wie sein Vater, bei den Lechwerken. 1952 heiratete er sei- ne Frau Gertrud. Die beiden beka- men vier Töchter und einen Sohn.

Interview- Schäfflertanz Dinkelscherben, 1935 Ausschnitte Karl Hinterstößer: vorderste Reihe, 2. von rechts

16 17 sonst auch nichts. Das war also das Jungvolk exerziert, Gleichschritt lernen und so weiter. Schreinerei raus, vom Kappeler, der Peter und BDM und Hitlerjugend, da war man so Das ist dann alles so ineinander rein geflos- Schorl und noch einer von da, der ist inzwi- frei, da hast du können nachts fortgehen, da sen. Schuhplatteln haben wir dann gelernt. schen gefallen. Dann hat man zuerst eine hat es nichts gegeben. Und dann hat man eine Musikkapelle, Form gemacht. Die Rippen waren für die Aber das sind lauter so Begebenheiten, ja also einen Musikzug gebildet. Ich war auch Flügel. Da hast du ja mindestens 40 so Rip- das war alles so, wir waren alle so begeis- schon mit zehn Jahren bei den Trommlern. pen gebraucht. Wir sind jeden Abend bald tert. Und das Zusammenwachsen: Wenn Das hat damals der Kommissar Dangel, der da droben gewesen und haben immer nur ein Fußballspiel war, das hat nicht mehr der war also Polizeikommissar hier, der hat den am Segelflugzeug gebaut. Der erste Start: Turnverein gemacht, oder sonst was, son- Musikzug herangebildet. Und da waren wir Da haben wir uns also zwischen dem Holm dern die Hitlerjugend. Da hat man keinen begeistert dann, wenn irgendein Umzug war reinhängen müssen, da waren die Flügel, das Unterschied mehr gemacht. Und so ist das oder am 1. Mai, wenn eine Maifeier war, der war ein Doppeldecker, und dann ist man ge- eigentlich so ineinander gewachsen. Spielmannszug aufmarschiert. Wir Trom- sprungen über den Hang runter. (deutet den Weil ich noch so jung war, ich glaube, ich melbuben, Fanfarenbläser. Und die Musik- Absprung und die Sprünge an) Da hat man bin auch mit zehn Jahren, oder mit neun kapelle, die es früher gegeben hat, die war ein Seil gehabt, einen Strick hat man vorne Jahren schon gleich zum Jungvolk gegan- eigentlich nur im Einsatz beim Schäffler- hin gebunden, und die einen haben gezogen. gen. Ich wollte dahin gehen. Weil die sind tanz hauptsächlich. Aber sonst ist immer Das ist dann auch in der Zeitung gestanden, aufmarschiert und haben Lieder gesungen, die Hitlerjugend mit dem Fanfarenzug auf- dass wir halt gestartet sind, dass wir etwa und man hat ein Braunhemd gehabt. Das marschiert. Da waren wir immer begeistert, acht Meter hoch gestiegen sind und dann hat (Hitler-)Jugendheim in Steinekirch, 1935 war halt was. Und die haben Wanderungen es war immer was los. sich der Höhengleiter gedreht, und ich bin Karl Hinterstößer: Trommler rechts gemacht, Geländespiele. Da hat es kaum Auch im Jugendheim dann, als wir schon dann zwischendrin gehangen. Und als sich welche gegeben, die vielleicht nicht gedurft älter waren, da war ich schon dreizehn, vier- der gedreht hat, bin ich abgesprungen. Und HITLERJUGEND UND hätten, höchstens wegen dem Alter. Und so zehn, da hat man gesagt, wir wollen einen dann hat es geheißen: „Der Pilot sprang ab.“ JUNGVOLK war es bei mir, [dass die Eltern gesagt ha- Hängegleiter. Da hat man einen Hängeglei- (lacht) Dann hat sich der natürlich gedreht ben]: „Ja gut, jetzt gehst halt zum Jungvolk.“ ter gebaut, also so ein Segelflugzeug zum und ist runter geflogen. Da waren natürlich Da hat es nur vier Ministranten gegeben. Am Die meisten Schulfreunde waren dort. Und reinhängen. Das haben wir im Jugendheim die Flügel kaputt. Das war also alles noch Schluss war ich der Oberministrant. Immer, dadurch, dass ich schon viel dabei war, war droben gebaut. Da waren wir vier: der Berch- vor dem Krieg. Da sind wir damals nicht wenn so ein Kapiteljahrtag war, wo mehrere ich dann später noch der Jungzugführer. told Schorl, der Meier Hugo, der ist von der mehr dazugekommen, das zu reparieren. Pfarrer da waren, haben die älteren Herren Drum bin ich beim Jungvolk geblieben.Blick Ich ins Buch nie den Wein ganz ausgetrunken. Das erste war schon 14, dann wäre ich eigentlich zur war, als die Kirche aus war, die Ministran- Hitlerjugend gekommen. ten raus, die Dinge reingeholt und den Wein Also vom Krieg oder so was war da gar ausgetrunken. (lacht) Und der Mesner und nichts zu spüren. Im Gegenteil, also du der Pfarrer, wenn die das gesehen haben, hat warst begeistert, weil alles organisiert war. es natürlich eine Schelle gegeben. (lacht und Ich sage ja, du hast können fortgehen. Ich deutet die Schelle an) Das sind so Erlebnisse. denke noch dran, als ich noch ein Pimpf war, Wie ich noch im Jungvolk war, da hat man da war am Berg droben, wo jetzt das Jugend- einen Ausflug gemacht, zum Ammersee, heim steht, war noch ein Resthaus von der zum Kloster Andechs. Ich habe in Andechs Ziegelei, und das war das Jugendheim. Da „Trommel- & Fanfarenzug sogar in der Uniform ministriert da droben. waren also die Hitlerjugend und das Jung- der Gefolgschaft 25/338 Also da ist eine Kutte drüber gezogen wor- volk auch nachts oben. Am Abend die Hitler- Dinkelscherben, Ausbilder Gendarm den, das war nichts Besonderes. Wir waren jugend und wir Jungen früher, und da war Meister Stefan Dangel“, alle in der Uniform. Uniform mein Gott, immer was los. Da hat man gesungen und 1937 man hat halt ein Braunhemd angehabt und musiziert und gesungen und marschiert und Karl Hinterstößer: vorne rechts, liegend

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REGIMEKRITIK UND A. Völk: Seine Tochter hat den praktisch so KZ DACHAU weit gebracht, mit seiner Tochter hat der sich angelegt. Dann haben sie ihn abgeholt A. Völk: Also der Vater1 der war Landwirt und nach Dachau gebracht. Der hat auch mit von Beruf, und Mesner war er. Vor dem meinem Vater viel diskutiert und so.2 Aber Zweiten Weltkrieg war mein Vater in Fisch- von Dachau hat er nie was erzählt, weil die ach tätig und zwar als Kutscher bei einem waren schon so (…) Arzt und hat dadurch sehr viele Juden ge- kannt und das hat sich auch in die Nazizeit K. Völk: (…) eingeschüchtert, dass sie nichts mit übertragen. Da sind sie oft zu uns rein- gesagt haben, als sie wieder rausgekommen gekommen, als sie verfolgt wurden und so sind. Mei, da haben die Anderen auch nicht und haben ihr Leid geklagt und dann kann viel gesagt, weil du hast ja nichts sagen dür- ich mich noch entsinnen, dass einer gesagt fen, sonst bist du selber hingekommen. hat: „Josef, jetzt sind wir dran und nachher kommt ihr dran!“, also mit der Verfolgung. BDM UND HJ Mein Vater war dann schon sehr bekannt mit denen und das hat sich auch ein biss- K. Völk: Ich war beim BDM und das war chen bewahrheitet. Also mein Vater war Pflicht.3 Wir haben von Haus aus nicht dür- kein Nazi, war er schon von der Religion her fen, aber dann war das automatisch, dass Interview vom 05.05.2017, nicht. Er war Mesner und als Katholik und alle im BDM aufgenommen worden sind geführt in Ustersbach so, hat er also mit den Juden also eine Ver- und dann war jede Woche Apell. Das war in bindung gehabt, gell. der Schule und wir sind da gerne hingegan- Länge des Interviews: 01:20:49 KAROLINA und Na ja, ich weiß eben bloß, dass mein On- gen, weil das war unterhaltsam. Da hat man Transkription: Angelika Pilz ALBERT VÖLK kel, der war drei Häuser weiter, der hat auch Spiele gemacht und alles so Sachen. Also neun Kinder gehabt, der war natürlich schon politisch war da nicht so viel. (lacht) Für uns * 16.11.1927 und 07.02.1922 ein Nazi, weil der wurde irgendwie geför- war das unterhaltsam. dert, die Kinderreichen und so. Bei uns hat in Mödishofen und Ustersbach Blick ins Buchman auch so ein bisschen geredet, aber das A. Völk: Ich war als junger Bub ja auch in der hat mich eigentlich nicht gestört. Mein Vater Hitlerjugend und dann mussten wir, Schwes- Albert Völk und seine Frau Karolina (geb. Albert Völk meldete sich 1939 freiwillig der hat sich schon geäußert. ter und ich, Heu abladen helfen. Und dann Kastner) wuchsen beide in einer Landwirt- zum Militär und musste bis Kriegsende war so ein Heimabend, so hat das geheißen, schaft auf. Neben Erinnerungen an die dienen, hauptsächlich an der Ostfront. K. Völk: Aber man hat es nicht wollen laut wo so Veranstaltungen von der Hitlerjugend Schulzeit erzählen sie von der politischen Seine Erlebnisse im Krieg und auch in sagen, weil wenn dich jemand hingehängt waren und dann hat mein Vater halt gesagt: Stimmung im beschaulichen Ustersbach sowjetischer Kriegsgefangenschaft schrieb hat, dann bist du nach Dachau gekommen. „Das geht jetzt nicht. Ich brauche den, der zur Zeit des Nationalsozialismus. er in einem Kriegstagebuch nieder. (lacht) So war das. Das war bekannt, ja klar. soll arbeiten“ und so. Und dann haben sie Karolina Völk schildert den Umgang mit Da hat man immer gesagt: „Sei still, sonst mich aus der HJ rausgeschmissen. Das war französischen Zwangsarbeitern in Mödis- kommst du nach Dachau!“ Der Geßler (…) mir persönlich auch nicht recht, weil da war hofen, die im Austragshaus ihrer Eltern am Samstag ein sogenannter Staatsjugend- untergebracht waren. A. Völk: (…) Ja, in Ustersbach ein paar Häu- tag und da war dann keine Schule. Da haben ser weiter (…) Nach Albert Völks Rückkehr aus der Ge- 2 siehe auch: Interview mit Friedrich Braun (S. 50) fangenschaft lernten sich die beiden beim 3 Durch das „Gesetz der Hitlerjugend“ vom 01. Dezember Tanzen kennen. 1951 heirateten sie und K. Völk: (…) der ist nach Dachau gekommen. 1936 galt eine Pflichtmitgliedschaft der „gesamten deut- Interview- bekamen fünf Kinder. schen Jugend“ in der Hitlerjugend und dessen weiblichen Ausschnitte 1 Josef Völk, * 22.10.1882, † 21.03.1946 Zweig, dem BDM.

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BAIERSHOFEN IM WANDEL so, aber sonst? Nach sind wir noch Wir waren einer von den größten Bauern gefahren, mit dem Fahrradl und von dort in Baiershofen. Wir haben noch Pferde ge- dann mit der Kutsche weiter nach Augsburg habt. Zwei, drei Pferde. Außerdem hatten und dann sind wir später mit der Bahn ge- wir Milchkühe, Schweine, Hühner, Gänse, fahren, auf Holzbänken. Da waren ja nur Enten, alles, was man so für die Landwirt- Holzbänke in der Bahn. Die Bahnstrecke JOSEF FRITZ schaft gebraucht hat. Die Pferde haben ge- ging von Welden nach Augsburg. Das ist ackert und Pflug und Sähmaschine und die jetzt ein Radweg. Eine Stunde lang ist man * 20.12.1925 Sachen gezogen. Einen Heuaufzug hat man da gefahren. In jeder Ortschaft hat er gehal- in Baiershofen gehabt, da ist es schon langsam losgegangen ten. Da hat er eingeladen, Milch und anderes. mit der Modernisierung. Ich habe dann spä- ter mal Maschinen gekauft bis zum Mähdre- WIRTSCHAFTLICHER scher. Und auf einmal war Schluss, da hat sich’s nicht mehr rentiert. Heute ist noch ein AUFSCHWUNG Josef Fritz wuchs in der elterli- Bauer in Baiershofen. Mit Milchvieh. Früher Die Alten, die haben schon gewusst, was im chen Landwirtschaft im beschau- waren es 60! 60 Milchbauern. Die einen ha- Krieg los ist. Mein Vater war vier Jahre fort, lichen Angerdorf Baiershofen auf. ben 20 Kühe gehabt und die anderen haben von 1914 bis 1918. Der hat schon gewusst, Er erzählt vom wirtschaftlichen bloß zwei Kühe gehabt und so was. Und die was im Krieg los ist, was sich da abspielt. Aufschwung nach der Machtüber- Milch haben wir dann in die Käserei gefah- [Der meinte]: „Ha, so eine Dummheit macht nahme der Nationalsozialisten und ren oder getragen. Da unten an der Kirche der Hitler!“ Uns Buben war das gleich. Da erinnert sich noch an den Aufbau war die Käserei. Es war ja alles da. Da gab es hat man nicht viel nachgedacht. des Bomber-Luftwarn-Systems im zwei Wirtschaften, Käserei, drei Läden mit Die Judenvernichtung und die ganze Sa- Jahr 1942/43. Kurz darauf wurde Lebensmitteln, zwei Schuster, einen Wag- che, das war schlimm! Das haben wir im Fritz zum Militär eingezogen und geriet in französische Kriegsge- ner, zwei Schmiede. (lacht) Heute ist alles Krieg draußen gar nicht so mitgekriegt, was fangenschaft. Als er wieder nach leer. daheim geschieht, im Land. Ich schaue oft Hause kam, war die Freude groß Hin und wieder sind wir zur Tante nach Filme an, Entstehung des Hitlertums und Augsburg hinein gefahren. In die Ferien und des Nationalsozialismus und die Sachen. Interview vom 26.05.2017, und zahlreiche Heimatvertriebene geführt in Altenmünster-Baiershofen hatten vorübergehend im OrtBlick eine ins Buch Bleibe gefunden. Länge des Interviews: 01:23:16 1958 übernahm er die elterliche Transkription: Laura Schmidt-Niederhoff Landwirtschaft und heiratete seine Frau Erika, die er beim Tanzen ken- nenlernte. Die beiden bekamen vier Kinder.

Interview- Badeanlage am Ausschnitte Hochwiesenbach, 1940

42 43 Denkt man ja: „Gibt’s denn so was auch?“ tig, [weil diese Arbeit hat] Geld hergeschafft. Wir haben das gar nicht mitgekriegt, wie das Die haben ein Fahrrad gehabt und sind mit in Gang gekommen ist, die Macht praktisch. der Schaufel jeden Tag Richtung Zusmars- Da habe ich einmal mit einem gearbeitet, hausen auf die Autobahn gefahren. Die ist ja der war bei der SA. Da haben wir oft drüber fast mit Handarbeit gebaut worden, die Au- gesprochen: „Ja, warum bist du in der SA tobahn. Die haben nur ein paar Lastwagen gewesen?“ Hat er gesagt: „Ja, ich war ja ar- oder so ein paar alte Krans gehabt. Nicht so beitslos. Ich habe ja keine Arbeit gehabt und wie heute, wenn eine Autobahn gebaut wird. die SA hat gesagt: Du kriegst eine Arbeit. Du Heute brauchen sie ja keine Leute mehr. kriegst Arbeit.“ Die Autobahn wurde 1937 gebaut. Das war KRIEGSEINSATZ das wichtigste Projekt.1 Und das Hitlerregi- me hat das [genutzt]: Sieben, acht Millionen Durch die Zeitung und so haben wir erfah- Arbeitslose haben die Autobahn und Indus- ren, dass der Krieg losgeht und durch das trie aufgebaut und es ist Arbeit gekommen.2 Radio. Ein Radio haben wir auch gehabt. Da Und alles auf den Krieg hin. Das hat man ist immer der Nachbar, der alte Mayer Karl, nicht so wahrgenommen, weil man Arbeit rumgekommen und hat bei uns da Nach- gekriegt hat. Viele, die fünf Jahre älter wa- richten gehört. Da sind sie beim Vater beiei- ren als ich, sind dann auf die Autobahn ge- nandergesessen und haben die Nachrichten gangen zum Arbeiten. Das war für die wich- gehört. Draußen in der Küche haben wir Ra-

1 Der Abschnitt der Reichsautobahn bei Zusmarshausen dio gehabt. Volksempfänger. wurde von 1937 bis 1939 gebaut und am 22. September 1939 Im Juni 1943 bin ich eingerückt. Wir woll- Wehrpass , 1942 eröffnet. Dass „Hitlers Autobahnbau“ etwas ganz Neues ten uns freiwillig melden. Der Mayer kam gewesen sei und auf einen Schlag gegen die Arbeitslosig- keit geholfen habe, ist jedoch ein Mythos. Projekte dazu rüber und wir sind nach Dillingen ins Wehr- existierten bereits seit 1924. Die höchste Zahl an im Auto- bezirksamtskommando gefahren, mit den „Buben, fahrt wieder heim, ihr kommt noch chen nach Danzig und von Danzig mit dem bahnbau Beschäftigten lag 1936 bei 130.000 Arbeitern. Die Fahrrädern, und wollten uns freiwillig mel- früh genug dran.“ Schiff über die Ostsee nach Finnland hinauf. Lage auf dem Arbeitsmarkt verbesserte sich tatsächlich unter den Nationalsozialisten, allerdings durch einen lang- den. Im Februar, März 43 war das. Wir woll- Freiwillig durfte ich mich ja nicht melden Finnland war besetzt. Wir sind raufgekom- samen wirtschaftlichen Aufschwung, der bereits vor 1933 ten auch fort, als die Älteren fort waren.Blick Wir ins Buchund dann habe ich einen Einberufungsbe- men bis nach Murmansk. Das war im Win- begonnen hatte, und durch die Rüstungsindustrie. wollten ja auch kämpfen! Und da hat der Mann fehl gekriegt. Am 24. Juni 1943 ist der Ein- ter. Im Winter war es besonders. Da haben 2 Arbeitslosenzahlen in Deutschland 1933: 4,8 Millionen, 1935: 2,15 Millionen und 1938: 0,43 Millionen [beim Wehrbezirksamtskommando] gesagt: rückungsbefehl gekommen. Da bin ich nach wir vier Meter Schnee gehabt und 50 Grad Sonthofen hinauf und habe dann die Zivilbe- minus. kleidung heimgeschickt. Du bist jetzt Soldat Da war ich Scharfschütze. Ich war einer geworden und hast deine Uniform gekriegt. von den besten Schützen von der Kompa- Wir haben eine Freude gehabt: „Jetzt kom- nie. Sechs Mann hat man da rausgesucht, men wir auch fort!“ Drei Gleichaltrige sind die den Scharfschützenlehrgang gemacht später gefallen. Die sind mit uns eingerückt haben. Da hat man so ein langes Fernglas und der eine ist 1945 gefallen, ein anderer 44. raufgekriegt aufs Gewehr. Da haben wir auf Dann haben wir Schießübungen gemacht 500 Meter geschossen, zur Übung. Ich war und dann sind wir nach Saint-Prix nach immer vorne in vorderster Linie. Da waren Südfrankreich verlegt worden. Da haben wir mal 250 Meter weg vom Russen in Stel- wir auch Ausbildung gemacht in den Ber- lung. Und ich war bei einem Feldwebel. Ein Autobahnbau bei gen drinnen. Und dann ist man wieder nach Scherenfernglas hat der gehabt, damit hat er Zusmarshausen, München zurückgekommen und von Mün- hinübergeschaut. Es war im Frühjahr 45 und Datum unbekannt

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SPAZIERGANG MIT DER wieder ein paar [geschnappt]?“ (lacht und WEHRMACHT gestikuliert) Und dann hat er uns ein Essen bestellt, ich glaube Leberknödel und einen [Ein besonderes Erlebnis in meiner Schul- Braten haben wir gekriegt, wir zwei. Dann zeit:] Da bin ich in der vierten Klasse ge- hat er uns wieder mitgenommen in seine wesen, zehn Jahre alt. Da hat in Ustersbach Wohnung. Da hat müssen seine Frau Brote FRIEDRICH eine ganze Kompanie, vielleicht war es auch streichen und Wurst drauf tun, weil wir ge- ein Bataillon, der Reichswehr biwakiert. Die sagt haben, dass wir noch ein paar [Kamera- BRAUN Soldaten sind von Augsburg her gelaufen. den] dabei haben. Und als wir raus gekom- Und da haben sie nun ihr Frühstück ge- men sind, wir zwei, haben wir die anderen * 24.02.1923 habt und dann sind sie weitermarschiert bis nicht mehr gefunden, da waren sie schon in Ustersbach nach Thannhausen. Und wir Buben haben fort. Aber in Ziemetshausen haben wir sie doch auch Soldaten spielen wollen damals, dann wieder erreicht und da haben die un- gell. Und das war doch großartig, wenn du sere Mitbringsel dann schon liebend gerne Friedrich Braun wuchs mit fünf mal Soldaten siehst und mit denen laufen angenommen. Die haben auch Hunger ge- Geschwistern auf dem elterlichen kannst. Und dann sind wir mitgelaufen. In habt. Das ist mein schönstes Ereignis, was Bauernhof auf. Er erzählt von sei- Thannhausen haben wir dann halt Hunger ich gehabt habe. ner Schulzeit und der politischen gekriegt. Und die Soldaten sind in ein Quar- Als wir heim gekommen sind, waren wir Stimmung in Ustersbach während tier gekommen, dann haben wir sie nicht froh, dass wir wieder da waren und dass uns des Nationalsozialismus. Wie seine mehr gesehen. Wir waren vielleicht so zehn niemand was tut. Aber in der Schule, oh der beiden Brüder musste auch Fritz aus der Schule, die da mitgelaufen sind von Hauptlehrer, der war narrisch [wütend] wie Braun in den Kriegsdienst. Ustersbach. Der Völk1 war auch dabei. ein Stock. Hat er uns gleich mal einen Auf- Nach Einsätzen in der Sowjetunion Nachher sind wir in Thannhausen zum satz schreiben lassen von der Begegnung und Ungarn sowie mehreren La- Fechten gegangen, zum Betteln (erklärend), mit der Wehrmacht. Darüber, was wir alles zarettaufenthalten kam er gegen weil wir ja Hunger gehabt haben. Und der gewusst haben. Und ich hab meinen Schul- Kriegsende nach Reutte. Von dort Biber Alfred, der ist später gefallen, der hat ranzen in die Kartoffelstrangen rein ge- aus schlug er sich als Fahnenflüch- mich in ein Haus mitgenommen und als wir schmissen. Als ich heimgekommen bin, war Interview vom 04.07.2017, tiger bis in die Heimat durch, wo er rein kommen, sind zwei Polizisten drin ge- er schon zu Hause. Ich weiß nicht, wer mir geführt in Ustersbach noch kurz von den Alliierten gefanBlick- ins Buch gen genommen wurde. standen. Hoo! Können Sie sich vorstellen, den heimgetragen hat. Hab mich selber ge- Länge des Interviews: 02:36:00 wie uns das Herz runter gefallen ist? (lacht) wundert. Transkription: Michael Spotka Braun übernahm den Hof und hei- Der hat natürlich gefragt, wo wir herkom- ratete 1951 seine Frau Thusnelda. men und wo wir hin wollen. Da haben wir Frage: Was haben Ihre Eltern gesagt, dass Aus der Ehe gingen fünf Kinder das so erzählt. Dann hat er uns mitgenom- Sie da einfach mit der Wehrmacht nach hervor. Fritz Braun war von 1978 men in eine Wirtschaft. Der Polizist, das Thannhausen spaziert sind? bis 1984 Bürgermeister der Ge- meinde Ustersbach und Mitglied war ein Freund und Helfer, war zum Glück im Kreistag. ein Verwandter von dem Biber Alfred, der Braun: Die sind doch froh gewesen, dass wir da mit mir gelaufen ist. Der Polizist hat ihn wieder gekommen sind. Weil man doch auch nach dem Namen gefragt: „Biber“, dann hat Angst gehabt hat: „Wo sind denn die?“ Ist er schon Bescheid gewusst. Und wir haben doch immer so. geweint und (lacht) als wir rein gekommen sind in die Wirtschaft, sagt die Bedienung schon: „Ah, Herr Kommissar, haben Sie Interview- Ausschnitte 1 siehe auch: Interview mit Albert Völk (S. 30)

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UMZUG NACH gleich zu dem Nachbarn seinem Ding, dass SCHWABMÜNCHEN ich ihn schier nicht vorwärtsgebracht habe.

[Geboren bin ich] in Langerringen. Und da war ich als kleines Mädchen, mit drei Jah- ren habe ich bei einer Frau in ihrem Garten ELFRIEDE mal ein paar Blumen weggerissen. Da war dann Feuer auf dem Dach, dann hat es nicht MOLL mehr recht funktioniert. Das war ein biss- chen eine böse Frau. Die ist zum Lachen in * 11.07.1921 den Keller runtergegangen. Und dann sind in Langerringen wir auf Schwabmünchen runtergezogen. Und zwar waren wir in dem Haus in der Schulstraße. Das hat dem Tag- und Nacht- schuster gehört. Und wissen Sie, warum der Drei Freundinnen, Datum unbekannt Elfriede Moll (geb. Biesle) wuchs von links: Zita, „Elli“ Biesle und Traudl mit zwei jüngeren Brüdern in Tag- und Nachtschuster geheißen hat? Das Schwabmünchen auf. Nach der war ein alter Mann und der ist am Fenster Ausbildung arbeitete sie als Luft- drangehockt und hat Schuhe geflickt. Und Da habe ich mir allerweil gedacht, lieber wäre nachrichtenschreiberin auf dem das oft nachts, um Zehn, um Elf noch. Da- mir schon dem seiner als wie meiner. (lacht) Militärstützpunkt im Lechfeld. rum hat man den Tag- und Nachtschuster An Weihnachten habe ich einmal eine Zi- Moll war Zeugin der Bombardie- geheißen. ther gekriegt. Weil meine Cousine eine Zi- rung Schwabmünchens am 4. März ther gekriegt hat, ich weiß gar nicht, wo 1945. Sie erinnert sich gut an das FREIZEITBESCHÄFTIGUNG mein Vater die her gehabt hat, habe ich an Alltagsleben in Schwabmünchen Weihnachten auch eine Zither gekriegt. Und zur damaligen Zeit und erzählt von ALS MÄDCHEN meine Cousine hatte natürlich die viel schö- ländlichen Gebräuchen wie dem Einen Puppenwagen habe ich gehabt und da nere. Die haben mehr Geld gehabt wegen Abbeten oder dem Besuch von sind wir im Luitpoldshain mit den Puppen der Wirtschaft. Und meine Zither war halt Interview vom 31.07.2017, Wahrsagern. Nach dem Kriegsende spazieren gegangen. Dann hat unser Nach- nicht so schön. Ihre hat eine Mechanik mit geführt in Schwabmünchen schildert sie ihre BegegnungBlick mit ins Buch barsjunge, die Eltern1 haben anscheinend ein so Elfenbein-Knöpfen dran gehabt und bei Länge des Interviews: 01:23:22 den Amerikanern und einigen „Dis- placed Persons“. bisschen mehr Geld gehabt, die haben ihrem mir hat man mit einem Schraubenschlüs- Transkription: Tamara Michalke Buben einen Holländer gekauft. Wissen Sie sel bloß drehen müssen. Das habe ich da als Ihren Mann lernte Moll bereits zu was ein Holländer ist? Das ist ein vierrädri- Kind schon gemerkt: Mal hat sie einen Win- Jugendzeiten kennen und heirate- ger Karren gewesen mit einer Deichsel drauf termantel gekriegt, da war ein Pelzkragen te ihn 1942 während des Krieges. und da hat man müssen allerweil so tun: (be- drauf. Ja und nun hat meine Tante Marie Später betrieben sie zusammen eine Wirtschaft und eine Metzgerei. wegt die Arme rudernd vor und zurück). Dann den Stoff für mich gekauft, auch für so ein ist er gelaufen. Und nachher habe ich einmal Wintermäntelchen. Und bei mir war halt zu meinem Vater gesagt: „Ach weißt, ich täte bloß ein Samtkragen drauf. Da ist mir das schon auch gern so einen Holländer wollen.“ als Kind schon aufgefallen, dass die mehr Dann hat er mir einen Holländer gebaut! Aus Geld haben als wir. Da hat sie an Weihnach- einem alten Fahrrad hat er mir den gebaut. ten mal Schlittschuhe gekriegt, vernickelte, Aber der ist ja so schwer gegangen, im Ver- schöne Schlittschuhe. Ich habe auch Schlitt- schuhe gekriegt, aber eiserne. Wenn ich die Interview- 1 Kunigunde (geb. Schmied, * 16.06.1892, † 23.02.1966) und nicht jedes Mal geputzt habe, dann waren Ausschnitte Johann Biesle (* 12.03.1893, † 12.12.1977)

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KINDHEIT, JUGEND UND Und dann bin ich in die Schule gegangen. ARBEIT IN EBENRIED Ich habe ja bloß aus der Türe raus und über die Straße gehen brauchen, dann bin ich in In Ebenried, da werden es so hundert oder der Schule gewesen. hundertzwanzig Einwohner gewesen sein. Das waren alles Bäuerinnen. Die Männer FRANZISKA sind ja damals schon fort gewesen, gell? Einen nach dem anderen haben sie weg1. RECHNER Wir sind damals in der siebten Klasse schon aus der Schule gekommen. Da hat es sieben * 07.05.1926 Klassen in der Volksschule gegeben. Bis zur in Ebenried siebten waren wir alle beieinander. Wir sind sieben in einer Klasse gewesen und davon lebt heute niemand mehr außer mir. Franziska Rechner (geb. Sattich) In der Früh, da hast du in die Kirche ge- wuchs in Ebenried im heutigen hen müssen. Um halb acht hast du jeden Tag Landkreis Aichach-Friedberg auf. in die Kirche gehen müssen. Um sieben hast Sie war das vierte von acht Kin- du schon aufstehen müssen, bis wir dann dern. Ihr Vater war Zimmerer und gekämmt gewesen sind, gell? Du hast dich starb bereits 1935. Fortan half sie selber mit kaltem Wasser waschen müs- ihrer Mutter in der eigenen kleinen sen. Das hast du ja zuerst holen müssen. Du Landwirtschaft mit zwei Kühen, hast auch gespart mit dem Wasser. Da bist zwei Tagewerken und einer Pfar- du nicht immer jeden Tag zum Brunnen rerpacht für Getreide und Kartof- feln. Das Kriegsgeschehen und hingekommen. Damals hatten wir in Eben- die anschließende Besatzungszeit ried noch gar kein fließendes Wasser. Nach erlebte Rechner in vermeintlicher Osterzhausen haben wir müssen mit dem Schubkarren und dort das Wasser holen. Interview vom 02.08.2017, Abgeschiedenheit und Ruhe. Fünf Familien waren das, die da reinfahren geführt in -Hölzlarn 1942 musste Rechner zur MusteBlick- ins Buch haben müssen. Ja und weiter unten beim Franziska Sattich, Dezember 1940 Länge des Interviews: 01:36:48 rung und wurde als Arbeitsmaid in Ebenried eingesetzt, wo sie unter Keller, beim Schmied, da war nochmal ein Transkription: Angelika Pilz anderem in einer Wirtschaft arbei- Brunnen. Wir haben auch kein elektrisches In meiner Schulzeit habe ich einmal sechs tete. Über ihre älteste Schwester Licht gehabt. Erst anno 1948 haben wir das Tatzen vom Pfarrer bekommen, weil wir lernte sie ihren zukünftigen Mann elektrische Licht gekriegt. getanzt haben. (lacht) Da haben wir das kennen. Nach dem Krieg, im Jahr Da hast du nicht viel Spiele gemacht. Da Tanzen gelernt gehabt und dann haben wir 1946, heirateten die beiden, be- hast du deine Wolle gekriegt und hast stri- das schon probiert und die Buben haben trieben gemeinsam eine Landwirt- cken müssen. Du hast damals deine Socken uns verraten, die haben rein gewollt in das schaft und bekamen vier Söhne und deine Strümpfe selber stricken müssen. Zimmer, in dem wir getanzt haben. Die ha- und eine Tochter. Und wenn was zum Flicken war, das hast du ben wir dann nicht reingelassen. Da haben selber tun müssen. Das haben wir schon ler- wir ja auch schon gewusst, dass es zweierlei nen müssen. Geschlechter gibt. (lacht) Der Zenz hat der Pfarrer am gleichen Tag noch die Tatzen gegeben und dann erst, als er inne wurde, Interview- dass ich auch dabei war, habe ich am nächs- Ausschnitte 1 zum Militärdienst eingezogen

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GAIS WOHNHAUS Dann waren sie immer so nett, wenn sie Dann haben meine Eltern1 den Platz in der dann die Zipfel (zupft an seinem Hals), die Augsburger Straße gekauft, wo heute unser Säckchen da so dranhängen gehabt haben. Haus steht, und gebaut. Da hat man dann Mit denen hat man gespielt und alles mit rechts und links hundert Meter Zaun gehabt. den Geißlein, aber das war von vornherein Die nächsten Häuser waren hundert Meter klar, dass das dann ein gutes Essen gibt. Das FRANZ GAI weg. Am Vorhäuschen vorbei hat man mit war schon was Feines. Ja, und dann war hin- einem Handwägelchen durchfahren können, tendran noch der Hühnerstall. * 21.11.1931 so nah hat man da an die Grenze gebaut. Auf in Gersthofen der Nordseite war das Aborthäuschen und die Abortgrube lag auf der Grenze. wenn man die geleert hat, damals gab es ja keine Kanalisation, benutzte man einen Schöpfer. An dem war so eine lange Stange dran und Franz Gai wuchs in einer Arbeiter- dann ist man auf dem Nachbargrundstück familie und mit drei Halbbrüdern in reingefahren und hat den Bonzawaga2 ge- Gersthofen auf. Er erzählt humor- füllt. Nach dem Krieg haben sie ihn noch ge- voll von verschiedenen Erlebnissen habt. Da sind sie teilweise mit dem Abwasser aus der Schulzeit, dem Schwarz- auf das Feld gefahren. Da ist man vorne ge- schlachten oder der Heimkehr ei- fahren und dann ist das hinten rausgespru- nes totgeglaubten Soldaten. Auch delt. Das war also die natürliche Düngung. Wohnhaus Familie Gai, erbaut 1927, renoviert 1990 an damals übliche Praktiken, wie Unser Häuschen hat ca. 90 Quadratmeter dem Aufsuchen von Wahrsagern, Wohnfläche, da haben wir unten gewohnt, erinnert er sich. ARBEITERFAMILIE GAI oben droben war vermietet. Damals lebten 1944 kam Gai durch die Kinderland- in dem Häuschen acht, neun Leute. Heute Am 21. November 1931 bin ich geboren und verschickung zuerst nach Bolster- wohne ich alleine drin. Dann war hinten da bin ich als Siebenmonatskind auf die Welt lang und dann nach Bad Wörisho- eine Waschküche dran. Bad gab es keines. gekommen. Das ging dann in einen kalten Interview vom 01.09.2017, fen, wovon ihn sein Vater aufgrund Im Sommer hat man hinten halt das Schäff- Winter rein und damals war in der Küche geführt in Augsburg Blick ins Buch des bevorstehenden Kriegsendes 3 zurückholte. le gehabt. Später gab es dann auch einmal der Herd die einzige Wärmequelle und in Länge des Interviews: 01:58:46 die Blechbadewanne, die langgezogene. Im den übrigen Räumen gab es keine Heizung. Transkription: Angelika Pilz Nach dem Krieg schloss Gai in der Winter bist du dann, wenn du gewaschen Da haben meine Eltern schon eine Arbeit ge- Städtisch Höheren Handelsschule warst, schnell wieder nach vorne ins Haus habt, um den Winzling mit sieben Monaten ab, machte eine Lehre im Lebens- gesaust. Dahinter lagen der Saustall und der durchzubringen. Ich war das dritte Kind mittelgroßhandel und 1957 die Ziegenstall. Zwei Säue hat man gehabt und meiner Mutter. Prüfung zum Bilanzbuchhalter. In der Brauerei „Goldene Gans“ stieg zwei Goißa, zwei Ziegen. Da gab es im Früh- Mein Vater war in erster Ehe verheiratet er bis zum Prokurist auf. 1960 hei- jahr natürlich immer die Zicklein. Die waren und am 11. Februar 1922, an seinem Ge- ratete er seine Frau Viktoria. Die lustig, gell? Die sind hochgesprungen, dass burtstag, ist die erste Frau meines Vaters beiden bekamen zwei Kinder. sie mit allen vier Füßen in der Luft waren. verstorben. Er war mit drei Buben allein und Anfang Mai hat er auf die Schnelle wieder 1 Katharina (* 1892) und Sebastian Gai (* 1886) geheiratet. Meine Eltern haben notverwal- 2 Wagen mit einem Holzfass, vergleichbar mit einem Gül- tet. In der schlechten wirtschaftlichen Zeit lewagen, mit dem man die Fäkalien aus den Abortgruben zu den Feldern gefahren und als Dünger verteilt hat. Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre wa- Interview- 3 Holzwanne, die draußen aufgestellt und mit warmem Was- ren meine drei Halbbrüder arbeitslos, der Ausschnitte ser gefüllt wurde. Darin badete nacheinander die ganze Familie.

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ZUSTIMMUNG ZU HITLER heute vergleichen. Da hat der Brauer mithel- Viele haben durch den Hitler Arbeit ge- fen müssen, weil da hat meine Mutter nicht kriegt. Darum hat man den Hitler genom- immer das Biergeld zahlen können, so viele men. Das hat schon eine Rolle gespielt. Man Schulden sind da drauf gestanden.2 Und das hat im Ort gemerkt, dass es aufwärts geht. ist dann immer besser geworden. Dass man Also, das muss man schon sagen. (lacht) So da den Hitler gemocht hat, ist auch klar. ELISABETH ist es halt, [durch] die Autobahnen und das Zeug. Die Leute haben da Arbeit gekriegt.1 DER JUDE LEVI MAYR Was meinen Sie, wie die vor der Hitlerzeit arm in ihren Häusern drinnen gesessen sind Ich weiß bloß den Levi aus Fischach.3 Der * 08.06.1926 und kein Geld und keine Arbeit mehr gehabt hat Zigaretten verkauft und Zigarren. Der in Augsburg haben, was man da für eine Tafel gehabt ist ins Haus gekommen und hat gefragt: hat, was da alles [an Essen] drauf gestanden „Was brauchst du in der Woche, im Monat?“ ist? (ironisch) Das kann man nicht mehr mit Darum kenne ich den Levi. Und auf einmal Elisabeth Mayr (geb. Saur) war die hieß es, du darfst keine Rechnungen mehr Tochter zweier Wirtsleute in Aga- 1 Dass „Hitlers Autobahnbau“ auf einen Schlag gegen die vom Levi haben, und dann ist der Levi ver- wang. Ihr Vater starb bereits 1933 Arbeitslosigkeit geholfen habe, ist ein Mythos. Die höchste Zahl an im Autobahnbau Beschäftigten lag 1936 bei 130.000 schwunden und den haben wir nie mehr und ihre Mutter führte darauf mit Arbeitern. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt verbesserte sich der Großmutter die Wirtschaft und tatsächlich unter den Nationalsozialisten, allerdings durch 2 Gemeint ist die Stundung der Schulden bei der Brauerei Rapp. die dazugehörige Landwirtschaft einen langsamen wirtschaftlichen Aufschwung, der bereits 3 siehe auch: Interview mit Erna Mayerle und weiter. Von den zwei Schwestern vor 1933 begonnen hatte, und durch die Rüstungsindustrie. Jakob Demmel (S. 134) starb die ältere bereits bei der Ge- burt, die jüngere im Alter von elf Monaten. Als dann 1944 im Krieg noch Mayrs Bruder fiel, war dies ein schwerer Schicksalsschlag für die Familie. Interview vom 02.09.2017, Weitere Erinnerungen hat Elsa geführt in Kutzenhausen-Agawang Mayr an den jüdischen HändlerBlick Jo- ins Buch Länge des Interviews: 01:05:50 sef Levi aus Fischach, die Augsbur- ger Bombennacht und die spätere Transkription: Angelika Pilz Nutzung ihres Hauses als Lazarett der Amerikaner. Sie heiratete 1949 ihren Mann Alois Mayr und bekam sieben Kin- der, fünf Töchter und zwei Söhne. Das Ehepaar betrieb die Wirtschaft bis 1990.

Interview- Klassenfoto, 1932 Ausschnitte Elisabeth Mayr: 1. Reihe, 4. von rechts

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WISSEN ÜBER einen ganzen Lastwagen voll Mannsbilder KONZENTRATIONSLAGER aus Langerringen zusammengenommen, hat sie nach Landsberg raufgefahren und Da hat keiner was über Dachau aussagen hat ihnen die Grausamkeiten gezeigt. Und dürfen. Man hat gewusst, dass da Grausam- ich weiß, der Ringler Xaver damals war auch keiten sind, aber man hat nichts direkt er- dabei und der hat mir selber erzählt, was da DANIEL fahren. In Igling oben, da ist doch der Bun- Haufen von Toten rumgelegen sind, die man ker, den der Hitler später noch gebaut hat. nicht mehr wegtransportieren hat können. SCHAFFNER Und da waren viele KZler oben. Dort hat Er hat gesagt: „Ich habe drei Tage nichts man Holz gekriegt und das hat man holen mehr gegessen.“ Bis er das verdaut gehabt * 14.12.1926 können, das hat nichts gekostet. Da hat man hat. Aber ansonsten hat man da bei uns rum in Langerringen bloß eine Schachtel Zigaretten für den Vor- nichts zu tun gehabt. gesetzten mitbringen müssen. Ob es der al- lein eingeschoben hat, weiß ich nicht. Auf POLITISCHE STIMMUNG Daniel Schaffner wuchs in einer jeden Fall hat man mich als 16-jährigen Jun- UND BESPITZLUNG evangelischen Familie in Langer- gen mit dem Pferdewagen da rauf geschickt, ringen auf. Nach der Volksschule einen Wagen voll Holz zu holen. Und da habe Mein Vater2 war kein Parteimitglied3. Der wechselte er auf die Landwirt- ich die KZler gesehen. Die Organisation hat ab und zu einmal schon gegen die Partei schaftsschule in Kaufbeuren. Zu- Todt1 hat damals den Wald gerodet und war geredet und da haben wir hier einen Lehrer dem spielte Schaffner, wie sein Va- da eben im Einsatz. Man hat bloß gewusst, gehabt, der hat auch Orgel spielen müssen, ter auch, vor und nach dem Krieg in dass die Bevölkerung heimlich nachts am und nach der Kirche sind halt die Mannsbil- diversen Musikkapellen. Zaun Lebensmittel hingeschmissen hat, die der beieinander gestanden. Mein Vater hat Im Rahmen des „Volkssturms“ wur- eine dann zum Essen weggeholt hat. Aber halt seine Meinung gehabt. Da hat der Schul- de er noch zum Unteroffizier aus- mehr hat man nicht erfahren. lehrer zugehört und gesagt: „Wägen Sie Ihre gebildet und nahm bei Ingolstadt Aber als später der Ami da war, hat man Ausdrücke, sonst kommen Sie da hin, wo Sie an verschiedenen Sondereinsät- schon längst hingehörten.“ Dieser Lehrer zen teil. Nach Kriegsende fuhr er 1 Die Organisation Todt (OT) war eine paramilitärische Interview vom 05.09.2017, als Zivilist verkleidet und vorbei an Bautruppe im nationalsozialistischen Deutschland, die den 2 Heinrich Schaffner, * 26.09.1885, † 20.11.1981 3 Gemeint ist die NSDAP geführt in Langerringen amerikanischen KontrollpunktenBlick ins BuchNamen ihres Führers Fritz Todt (1891–1942) trug. Länge des Interviews: 01:27:53 zurück nach Langerringen. Transkription: Tamara Michalke Wieder zu Hause half Schaffner auf der elterlichen Landwirtschaft, besuchte noch verschiedene Aus- bildungen und übernahm später den Hof. Am 11.11.1957 um 11 Uhr heiratete er seine Frau Lydia. Die beiden bekamen zwei Kinder.

Familie Schaffner vor ihrem Anwesen, 1943 von links: Geschwister Elsa, Heinrich und Daniel, Interview- Eltern Heinrich und Ausschnitte Katharina Schaffner

106 107 IM AUGSBURGER LAND HEISLALEIT ROT-KREUZ-SCHWESTER Ich bin am 22.08.[1920] in Langenneufnach IM KRIEG geboren, an einem Sonntag. Aber ich habe nicht gemerkt, dass ich ein Sonntagskind Und dann habe ich in Rottach-Egern einen war, ich bin nie bevorzugt behandelt wor- schönen Posten gehabt. Krieg – musste ich den. (lacht) gehen. Jetzt musste man natürlich so und ROSAMUNDA Mein Vater, [Romuald Hiller,] war beim so viele Leute [zum Kriegsdienst] abgeben. Landratsamt Schwabmünchen. Wir waren Ich war eine von den Jüngsten. Schade. Ich HILLER als Kinder nur die „Heislaleit“, weil da waren hatte bis dahin einen wunderbaren Posten. ja die Bauern groß. Wir haben, mei gut, mein Ich musste gehen. Dann kam ich nach Mün- * 22.08.1920 Vater hat eine schöne Position gehabt, aber chen, Berlin, Lemberg, und dann ist da alles in Langenneufnach wir waren vier Kinder, ja die haben genauso ins Rollen gekommen. Ich war ja dann als gekostet. Ich bin, noch nicht ganz 15 war ich, Rot-Kreuz-Schwester unter militärischem nach Bad Wiessee und Rottach-Egern in die Befehl gestanden, bin da gleich zum Einsatz Rosamunda Hiller wuchs in Langen- Lehre gekommen, und bin da oben natürlich gekommen.1 neufnach auf und wurde während „hocken geblieben“ (lacht), so sagt man bei Der Lazarettzug Düsseldorf, in dem ich des Zweiten Weltkrieges zum Rot- uns. Ich habe als Büroangestellte eine Leh- war, der ist damals von Stalino bis Netro- Kreuz-Dienst an die Ostfront ein- re gemacht. Da war ich dann bis Kriegsaus- petrowk2 gependelt. Und da waren wir drei gezogen. Nach dem „Königlichen bruch 1939. Schwestern dabei. Die Schwerverwunde- Staatsstreich in Rumänien 1944“ ten wurden unterwegs mit Hubschraubern geriet sie in sowjetische Kriegsge- abtransportiert nach Netropetrowk. Und fangenschaft, wurde schwer krank dann hat das eigentlich geklappt, bis Ru- und gebar dort ihren Sohn. mänien kapituliert hat. Das war der 28. Au- Ihre Brüder und ihre Mutter star- gust.3 Das weiß ich noch wie heute. Das war ben zum Ende des Zweiten Welt- der schrecklichste Tag für die ganze Wehr- krieges. Nach der Rückkehr in die macht. Heimat meisterte Hiller ihren Neu- Dann ging die Reise los. Rumänien hat- Interview vom 11.09.2017, anfang. te damals den Deutschen freien Abzug zu- geführt in Langenneufnach Blick ins Buch gesichert. Aber es war alles schon zu. Und Länge des Interviews: 01:09:02 wir haben, bevor wir in Rumänien weg sind, Transkription: Christine Haisch Adressen von den Landsern gekriegt, weil die alle die Hoffnung gehabt haben, WIR kommen heim. Wir haben das alles unten in den Kittel, den man da gehabt hat, ein- genäht. Der Kittel hat nie Deutschland ge- 1 Das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 regelte unter anderem auch die Dienstverpflichtung von Frauen im Kriegsfall. Schon vor Kriegsbeginn als Kriegshelferin oder Rot-Kreuz- Schwester geschult, konnte man nach Ausbruch des Krie- ges zum Dienst an der Front verpflichtet werden. 2 heute Donezk und Dnipropetrowsk in der Ukraine. 3 Gemeint ist der 23. August 1944. Damals stürzte der ru- mänische König Mihai I. die faschistische Regierung unter Marschall Ion Antonescu. Ebenso kündigte das Land das Interview- Bündnis mit dem Deutschen Reich und stellte sich auf die Ausschnitte Rosamunda Hiller, Datum unbekannt Seite der Alliierten.

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FAMILIE UND AUSBILDUNG gegangen. Und eine andere Versicherung hat Wolf: Ich bin hier in Ehingen in die Schule nichts übernommen. Dieser Professor, das gegangen, bis ich krank geworden bin. Ich soll erwähnt werden, hat alles kostenlos ge- war mit acht Jahren schwer krank, hatte macht. Nur den Aufenthalt mussten meine Krebs, aber ist Gott sei Dank geheilt worden. Eltern bezahlen, aber die Operation hat der Habe dann auf die Schule etwas verzichten Professor umsonst gemacht. Leider lebt er müssen, weil da alles doch sehr anstrengend nicht mehr. war. Das war eine schwere Erkrankung und Das war im Hauptkrankenhaus. So ist es da hat es einen Arzt in Augsburg gegeben, halt dann weitergegangen: Ich ging wieder nur den einen Arzt und das war ein beson- zur Schule und dann ist meine Schwester derer Professor. Der hat mich 1931 mit acht 1931 geboren. Wir sind beide hier aufge- Jahren operiert. Mein Arm wäre zum Am- wachsen, aber der Altersunterschied war putieren gewesen. Aber dieser Professor hat halt krass. Und so habe ich mich halt an bei mir einen Versuch gemacht und ist ihm meine Schulkameradinnen gewöhnt und sie Gott sei Dank gelungen. Der Arm blieb dran. an ihre. Jetzt kannst du weitermachen. (la- Vom Fuß wurde ein Wadenspan entnommen chend an ihre Schwester) und hier eingesetzt. (zeigt auf ihren rechten Unterarm) Der kranke Knochen wurde raus- Zerle: (ebenfalls lachend) Also, ich bin geschnitten. Das habe ich mir nach der Ope- 05.12.31 geboren und war die zweite Toch- Interview vom 22.09.2017, ration von einem Arzt erklären lassen. ter. Meine Schwester war um einige Jahre 1 geführt in Ehingen Mein Vater war selbstständig und der hat- älter. Und ich bin auch aufgewachsen hier, in te eine Krankenversicherung, die ist pleite- dem Haus. Es war schon meinem Vater sein Länge des Interviews: 01:45:16 GERLINDE ZERLE und Elternhaus. Und ich bin hier in die Schule Transkription: Tamara Michalke BARBARA WOLF 1 Rupert Speer, * 24.10.1896, † 02.01.1958

* 05.12.1931 und 06.02.1923 in Ehingen Blick ins Buch

Die Schwestern Barbara Wolf und Gerlin- amerikanischen Bombers mit Unterbrin- de Zerle (geb. Speer) mussten durch ihre gung eines Piloten in Kloster Holzen. berufstätige Mutter im Haushalt schnell Ihr Vater war dem Hitlerregime gegenüber selbstständig werden. Erinnerungen haben kritisch eingestellt. Nach Kriegsende wurde die beiden Schwestern an jüdische Händ- er von den Alliierten als Bürgermeister ein- ler aus dem naheliegenden Buttenwiesen. gesetzt und musste die im Ort ankommen- Ebenso erzählen sie vom Absturz eines den Flüchtlinge und Heimatvertriebene auf die Häuser verteilen. Barbara Wolf lernte Familie Speer ihren Mann, einen „Flüchtling“, wenig spä- vor dem Haus, ter beim Tanzen kennen. 1951 heirateten ca. 1933 die beiden. von links: Vater Rupert, Barbara, Mutter Maria Interview- mit Gerlinde Ausschnitte

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KINDHEITSERINNERUNGEN da einer gebaut hat oder so, da hat alles zu- Mayerle: Da hat man gar keine so dicken sammen geholfen. Und heute ist es so: Was Freunde gehabt. Der Haufen ist halt zusam- wird bezahlt? men gekommen und da hat es keine beson- deren Freundschaften gegeben. Wir haben manchmal so Theater gespielt. Früher sind ja auf den Dörfern so Wandertheater auch gekommen, oder vielmehr Zirkus. Da kann ich mich noch an den Bär erinnern. Ein rie- sen Bär! Und da war der Bärentreiber dabei. Und was der da alles gemacht hat, da haben halt die Kinder geschaut. Und dann war ein- mal ein kleiner Zirkus da und den haben wir dann nachgespielt. Und da haben wir natür- lich viel Publikum gebraucht.

Demmel: Aber ich finde, dass wir in unse- rer Jugend praktisch nichts gehabt haben. Wenn da in Fischach einmal Markt war, Interview vom 03.10.2017, wenn du 20 Pfennig gehabt hast, da warst geführt in Fischach du ja „reich.“ Aber trotzdem finde ich, dass unsere Jugend fast schöner war als bei den Länge des Interviews: 02:25:41 ERNA MAYERLE und Kindern, die heute aufwachsen. Warum? Transkription: Christine Haisch JAKOB DEMMEL Weil wir ein ganzer Haufen immer beiein- ander gewesen sind. Da ist man in den Wald * 22.03.1929 und 28.12.1925 gegangen oder nachher, mein Gott (schaut Jakob Demmel, 1929 Mayerle an), weißt du noch, da hat man im in Fischach Blick ins BuchWald gespielt noch mit den Tannenzapfen. Mayerle: Das war egal. Das war egal ob du Jude oder Christ warst. Mit den Juden sind Erna Mayerle (geb. Fischer) und Jakob Dem- Mayerle wohnte mit ihrer Familie und drei Mayerle: In die Heidelbeeren ist man gegangen. wir genauso aufgewachsen wie mit den an- mel erinnern sich noch an einige Fischacher Geschwistern am Ortsrand. Nach dem Krieg deren Kindern auch. Ein Jude hat ein Auto Juden, deren Bräuche und Tätigkeiten so- arbeitete sie in einer Bank, heiratete 1975 Demmel: Aber ich finde, dass unsere Jugend gehabt, das war gleich in unserer Nähe, und wie deren Diskriminierung und Deporta- ihren Mann Anton Mayerle und zog nach trotzdem, dass wir nichts gehabt haben, fast der ist immer in der Früh weg. Die haben in tion während des Nationalsozialismus. Augsburg. Nach dessen Ableben kehrte sie schöner war. Wenn ich da dran denke: Bei Augsburg ein Geschäft gehabt, Lämmle, und nach Fischach zurück. uns, mein Vater1, der hat Zither gespielt im wenn der abends heimgekommen ist (lacht), Demmel wuchs mit seiner Familie im 1864 Garten, und da sind am Abend die Nach- dann haben wir immer auf ihn gewartet, von den Großeltern erbauten Haus auf. Nach barn gekommen. Und mich hat man immer dann haben wir dürfen von hier nach hier der Schule machte er eine Elektrikerlehre, geschickt mit der Ledertasche in die Trau- (zeigt mit den Fingern den Abstand) mit dem musste 1943 zum Militär und kam in ame- be raus, zweimal drei Schoppen Bier holen, Auto mitfahren in seine Garage rein. Das rikanische Kriegsgefangenschaft. Später und da sind die beieinander gesessen. Das war für uns natürlich das Höchste. Und der arbeitete Demmel 40 Jahre lang beim Fern- gibt es doch heute gar nicht mehr. Und da Dr. Million hat ein Auto gehabt, die Hebam- meldeamt Augsburg. 1949 heiratete er sei- obendrein die Nachbarschaftshilfe. Wenn me hat ein Auto gehabt, wo ich mich erin- Interview- ne Frau Aloisia und bekam mit ihr vier Söhne. nern kann. Dann das Sägewerk Lehner hatte Ausschnitte 1 Jakob Demmel, * 1897, † 1964

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[Anton Hildensperger schilderte seine Erin- waren die da. Dann hat man die LKW ent- nerungen an die Kriegszeit und den Bau der färbt und hat sie ganz grau militärmäßig ge- Blechschmiede auch im Buch „Horgau – Ein strichen. Im Pfarrhof war ein großer Garten, Dorf im Wandel. 1938 – 2001. Band II“, erschie- das ist jetzt alles verbaut, da wurden klei- nen im Eigenverlag der Gemeinde Horgau, nere Fahrzeuge bearbeitet. Circa nach vier, 2001. Einige der zusätzlichen Informationen sechs Wochen sind die wieder fortgefahren und Fußnoten in den folgenden Texten stam- und die älteren Leute haben gesagt: „Au, das men aus diesem Werk.] ist nichts Gutes, das ist nichts Gutes!“ Aber uns Kinder haben einfach die LKW interes- KRIEGSBEGINN siert. Die Älteren haben immer gesagt: „Au, was soll das werden? Was soll das werden? A. Hildensperger: Mein Vater1, war Schuh- Hoffentlich kommt da kein Krieg, hoffent- macher und hatte in Auerbach eine Schuh- lich kommt da kein Krieg.“ Und in Wirklich- macherei angefangen. Die Bauern, die ihre keit ist dann einer gekommen. Schuhe zur Reparatur gebracht haben, be- zahlten meist nur in Lebensmittel, die we- nigsten haben mit Geld gezahlt. Mein Vater brauchte aber Geld für Material und die Familie. Zum Glück baute man damals die Interview vom 20.10.2017, Bundesstraße, die Reichsstraße geheißen geführt in Horgau hat, vom Kreuzbiegel nach Auerbach. Die Baufirma hat Arbeiter gesucht und so kam Länge des Interviews: 02:44:50 EDELTRAUD mein Vater zum Straßenbau. In Auerbach Transkription: Angelika Pilz und ANTON haben wir uns gut gefühlt. Vor Weihnach- ten ist man zu den Bauern gegangen und hat HILDENSPERGER Krippen angeschaut. An das kann ich mich gut erinnern. Das war schön. Dann sind wir Fahrzeuge im Pfarrgarten, Frühjahr 1939 *22.09.1933 und 12.09.1932 Blick ins Buch1936 nach Horgau gezogen. Zu der Zeit wur- 2 in Horgau und Haunstetten de die frische Autobahn gebaut. KRIEG AUS DER SICHT Wir haben 1939, vielleicht im Mai, da auf dem Hof gespielt mit Kameraden und plötz- EINES KINDES Edeltraud (geb. Reiser) und Anton Hilden- Anton Hildensperger erzählt außerdem von lich sind auf der Dorfstraße ganz große LKW, A. Hildensperger: Dann war vielleicht vier sperger erinnern sich ausführlich an die Zeit einzelnen Ereignissen um die „Blechschmiede die man sonst kaum gesehen hat, gefahren. Wochen vor dem Krieg eine Musterung. Da in Horgau während des Zweiten Weltkrie- Horgau“, einem Waldwerk für den Flugzeug- Fünf, sechs so ganz große LKW sind durch sind die jungen Männer irgendwo in Augs- ges, dem Einmarsch der Amerikaner und wie teilebau und Außenlager des KZs Dachau. das Dorf. Wir Buben waren ganz überrascht: burg gemustert worden und dann sind sie da sie dies alles als Kinder wahrnahmen. Edeltraud Hildensperger, die Älteste von vier „So große LKW, ja wo fahren die hin?“ Und im Gasthof eingekehrt und da sind die heim- Geschwistern, wuchs in einer Wirtsfamilie auf. dann sind sie da ins Dorf runter. Da wo gelaufen und haben sogar gesungen, die jun- Ihr Vater starb noch im April 1945 im Volks- heute der Reiterhof ist, das war früher der gen Kerle. Wir Kinder haben das ja gar nicht sturm bei einem Luftangriff in Ingolstadt. Gasthof Kellerwirt, dort sind sie rein und da verstanden. Ja und dann, wie gesagt, ist der sind die einquartiert worden. Vier Wochen Krieg angegangen und nach vier Wochen ist Die beiden gingen bereits zusammen in die bei uns schon der erste Soldat gefallen. „Ja Schule, lernten sich aber erst nach dem Krieg 1 Gottfried Hildensperger, * 1903, † 1972 in der Pfarrjugend richtig kennen. 1957 hei- 2 Der Abschnitt der Reichsautobahn bei Zusmarshausen schlimm, jetzt ist der tot!“ und so. Am Krie- Interview- rateten sie und bekamen zwei Kinder. wurde von 1937 bis 1939 gebaut und am 22. September 1939 gerdenkmal war so ein Treffen und da haben Ausschnitte eröffnet.

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PATCHWORK-FAMILIE Mein Vater war Zimmermann und meine Wir waren, heute täte man sagen, eine Mutter hat die Landwirtschaft betrieben Patchwork-Familie. Mein Vater1 war da drü- und wenn halt was war, dann hat der Vater ben in diesem Haus und hier hat meine Mut- auch mitgeholfen. Ich hab eine unbeschwer- ter2 gelebt. Meine Mutter war mit meinem te Kindheit gehabt. Aber leider Gottes ist Vater das zweite Mal verheiratet. Ihr erster mein Vater krank geworden und ist dann LUISE HANNES Mann ist 1916 gefallen. Drei Kinder hatte sie 1933 gestorben, da war ich 13 Jahre alt. Das bereits. Meiner Mutter ihr früherer Mann war das einschneidendste Erlebnis, das ich * 21.03.1920 und mein Vater waren Brüder. Mein Vater gehabt hab. Ich hab lange Zeit gebraucht, in Schwabmünchen hatte vier Kinder und da ist seine erste Frau bis ich das überwunden gehabt hab. Weil 1916 an Hautkrebs gestorben. Also waren ich war, wie könnte man das so bezeichnen? dann insgesamt sieben Kinder da und nur Ein Vaterkind. Mein Vater war für mich alles eine Oma, die das versorgt hat. Und dann und wenn mein Vater nicht gestorben wäre, bin ich noch 1920 entstanden. dann wäre auch mein Lebenslauf vielleicht Luise Hannes (geb. Hafner, spä- anders verlaufen. Weil ich war in einer Klas- ter Meisenhälter) wuchs in einer se, wir waren Buben und Mädchen getrennt, „Patch-Work Familie“ mit sieben aber jede Klasse hatte damals 46 Kinder, und Halbgeschwistern auf. Ihr Vater da war ich halt, ich will mich jetzt nicht lo- war Zimmermann und starb, als sie ben, aber so ungefähr die Beste. erst 13 Jahre alt war. Aber wenn man früher keine Beziehungen Als einfache „Fabriklerin“ bei der zu besseren Leuten gehabt hat, dann bist du Weberei Holzhey nahm sie das verloren gewesen. Da ist sogar einmal ein noch vorherrschende Klassen- Herr vom Amtsgericht gekommen zu mei- denken im Ort wahr. Als fleißige ner Mutter und hat gesagt „Ja, haben Sie gar Arbeiterin durfte Hannes auf einer niemanden, der das Mädchen fördern könn- KDF-Fahrt auf der Wilhelm Gust- te?“ Ich war klein und zierlich und dann hab loff nach Italien teilnehmen. Spä- ich eine Tante gehabt, die war in der Holz- Interview vom 21.10.2017, ter wurde sie zum Kriegsdienst in hey Weberei und die hat dann gefragt, [ob geführt in Schwabmünchen einer Rüstungsfabrik in MünchenBlick ins Buch verpflichtet. ich dort arbeiten könnte], und dann habe ich Länge des Interviews: 02:06:01 mich vorgestellt, dann hat der Chef dort ge- Transkription: Brigitte Hübner Ihre erste Ehe mit dem Feldwebel sagt, „Mei Mädchen, wachs du zuerst einmal und Piloten Josef Meisenhälter be- und dann meldest du dich in einem Jahr wie- stand nicht lange, da dieser 1942 der.“ Da war ich 14 und mit 15 habe ich mich im Einsatz über dem Mittelmeer wieder vorgestellt und da hat er gesagt: „Ja, starb. Am 04. März 1945 waren Hannes und ihre Familie Zeuginnen jetzt bist du ja immer noch so klein!“ Und der Bombardierung Schwabmün- dann hat er mich aber trotzdem genommen chens. Nach dem Krieg schlugen und er hat dann aber gesehen, dass ich flink bin. die Alliierten vor ihrem Haus ihr La- Luise Hafner, 1926 ger auf und wurden von ihr und der Mutter verpflegt.

Interview- 1 Alois Hafner, * 02.06.1878, † 23.08.1933 Ausschnitte 2 Magdalena Hafner (geb. Port), * 31.01.1882, † 17.04.1967

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KINDHEIT IM sche (lacht) Schuparge gespielt. Oder mit OBERSCHLESISCHEN ZÜLZ Reifen, die man aus dem Fahrrad montiert hat. Mit einem Holzstecken ist man da die H. Barisch: Unsere Stadt war eingerahmt Stadt runter gekläppert. von einer Stadtmauer. Die ganze Stadt maß 300 m im Durchmesser, also eine kleine G. Barisch: Und dann hat man natürlich öf- Stadt, aber mit städtischem Charakter. Bei ter einen Schabernack gespielt, auch mit der uns gab es Vorderhaus, Mittelhof und Hin- Lehrerin. Und dann hat man uns meistens terhaus. Und wir Kinder kamen kaum aus erwischt. Dann sind wir in die Schule: „Ba- der Mauer raus. Unser tägliches Leben hat risch (macht mit dem Zeigefinger lockende Be- sich innerhalb der Stadtmauer abgewickelt, wegung), komm mal raus.“ Ich war ja meis- da haben wir unsere Spiele gemacht. Und in tens dabei. Und dann hat es gegeben: (lacht) Ermangelung von Angeboten haben wir uns Drei da (streckt die rechte Hand aus), drei da selber Spiele erfinden müssen und das ist ja (streckt die linke Hand aus). Und dann war heute ganz anders. Heute wird einem ja al- wieder mal was, dann musste man sich auf les geboten. Wir waren noch geistig so rege, den Stuhl hin, dann hat man hinten drauf dass wir uns ständig neue Spiele ausgedacht bekommen. (deutet Schläge an) So sind wir haben und das war unser Lebensstil. erzogen worden. Unser Vater1 war im Krieg, „Eckengucker zeige dich“ haben wir ge- meine Mutter2 hat gearbeitet, wir waren auf Interview vom 23.10.2017, spielt. Wir haben ein Häuserviereck gehabt, uns allein gestellt. Und wo ist man hingegan- geführt in Bobingen Haus an Haus war da gebaut, und da ist man gen nach der Schule? Da ist man auf die Stra- rumgelaufen, hat sich versteckt [und wurde ße runter gegangen, hat Freunde getroffen, Länge des Interviews: 02:13:49 HEINZ und gesucht]. Dann hat man mit der Schuparge, mit denen hat man verschiedenes angestellt. Transkription: Christine Haisch GÜNTHER BARISCH so hat man früher zum Kreiselspiel gesagt, 1 Walter Barisch, * 18.07.1901, † 14.07.1989 hat man also mit dem Kreisel mit der Peit- 2 Dorothea Barisch (geb. Novotny), * 07.02.1901, † 01.11.1995 * 10.12.1932 und 05.10.1930 in Zülz Blick ins Buch

Die Brüder Günther und Heinz Barisch flo- In der neuen Heimat kamen Barischs in hen im März 1945 aus Zülz (poln. Biała) im einem Behelfsheim unter und erfuhren ehemaligen Oberschlesien. Sie erzählen per Brief vom Verbleib des Vaters, der als ausführlich von ihrer Kindheit mit anschlie- Soldat bei der Wehrmacht diente. 1956 ßender Flucht sowie der Ankunft und Inte- bauten die Eltern ein Haus in Bobingen, gration als „Fremde“ in Bobingen. die Jungen integrierten sich vor allem über den Sport und durch Vereine.

Familie Barisch, 1934 von links: Günther, Mutter Dorothea , Interview- Heinz, Margot , Ausschnitte Vater Walter und Alfred

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KINDHEIT UND JUGEND Gang haben wir ein Trapez und Ringe, alles Wir haben in Augsburg eine Wohnung mit gehabt. Mein Papa hat uns das gemacht. sechs Zimmern gehabt, alles durchgehende Und für die große Wäsche hat man frü- Räume, wissen Sie. Am Eck vom Hausgang her so große Holzwannen gehabt. Da war war dann der Kamin vom Bäcker [im Erd- die dreckige Wäsche drin, die man nochmal geschoss]. Da haben wir uns immer hin- reingeschmissen hat. Und mit der Wäsche ANSELMA gestellt, da war es schön warm. Wir haben haben wir dann Häuschen gebaut und Ker- ganz allein da im zweiten Stock oben ge- zen angezündet. Hinterher hörst, wenn mei- WECKERMANN wohnt. Der Bäcker war ja den ganzen Tag im ne Mama mal gewaschen hat: „Selma, komm Laden, bloß abends war er dann im ersten mal her!“ [Ich]: „Was ist, Mama?“ [Sie]: „Wer * 22.10.1916 Stock. Da hat er dann an die Decke geklopft, hat das Loch wieder reingemacht?“ „Das in Augsburg dass wir leise sein sollen. Dann haben wir, Loch? Keine Ahnung“, habe ich immer ge- nachdem mein Großvater gestorben ist, der sagt, „das wird wahrscheinlich von selber auch in der Wohnung gewohnt hat, eine gehen.“ „Ein Brandloch kommt nicht von Anselma Weckermann (geb. Ficht- Tischtennisplatte von meinen Eltern ge- selber!“, hat sie gesagt. Und ich habe für alle, ner) wurde 1916 in Augsburg ge- kriegt. Logisch, Freundinnen lädst du dann die da waren, Prügel gekriegt. So war das boren, wo sie mit ihren Eltern und ein! Dann waren wir oft zu sechst, zu siebt. früher. zwei jüngeren Schwestern in einer Dann sind wir in dem Zimmer umeinander Stadtwohnung lebte. Ihr Vater gerannt und haben Tischtennis gespielt. war Bauschlosser in einer Maschi- „Gestern hat fei die Decke wieder gewa- nenfabrik und wechselte später in ckelt“, hat der Bäcker oft gesagt, wenn ich eine Kartonfabrik. Eine der beiden zum Einkaufen gekommen bin. Aber wir Schwestern verstarb bereits mit waren Mädchen mit zehn, zwölf Jahren und sieben Jahren an Tuberkulose. die waren nett, die Bäckersleute, da gibt es Weckermann ging bis zur vierten gar nichts. Ich habe denen dann auch wieder Klasse in die Volksschule und kam einmal geholfen, wenn Not am Mann war. In anschließend nach Maria Stern, wo der Backstube habe ich Semmeln und Bre- Interview vom 04.11.2017, sie von Klosterfrauen unterrichtet zen, alles heraus mit dem Schieber. Das war geführt in wurde. Während der NS-Zeit arbeiBlick- ins Buch schön. Wir haben einen großen Hof dabei Länge des Interviews: 01:07:27 tete sie bei der Augsburger Firma Messerschmitt im Büro. Ihr Mann gehabt und die haben noch Hennen gehabt, Transkription: Tamara Michalke verstarb noch vor Kriegsende bei im Hof. Da ist es oft zugegangen, ja lieber einem Arbeitsunfall. Mehrmals Gott! musste die alleinerziehende Mut- Schlosser war mein Papa von Beruf. Der ter von Zwillingen bei Bomben- war in einer Maschinenfabrik Bauschlosser, alarm in einem Luftschutzbunker später ist er dann mal zur Kartonfabrik ge- Zuflucht suchen. kommen. Von dort aus hat er es natürlich näher gehabt, da war es ja noch günstiger. Wir haben sieben Zimmer gehabt und im letzten Zimmer, da war ein Pflasterboden drin, ein roter sogar, schöner roter Pflas- terboden. Und das hat mein Papa als Werk- statt eingerichtet, weil der war ja Schlosser, Interview- der hat viel selber machen können. Und im Selma Fichtner in Jugendjahren, Datum unbekannt. Ausschnitte

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AUTOBAHNBAU nicht gearbeitet wurde, als ich dann schon Meine Tante hat eine Tankstelle an der ein Jahr älter war, da waren auch so Loren Augsburger Straße gehabt, eine BP-Tank- draußen, mit Gleisen. Mit den Loren sind stelle, die hat früher OLEX geheißen. Das wir heimlich gefahren. Die haben wir rauf- war noch so eine, bei der man gepumpt geschoben bis in den Berg, uns draufgeses- hat. Und da ist noch der Schlauch vorne so sen und dann runtergefahren. Dann ist im- FRANZ RAISER runtergehangen und da hat man können so mer so ein Wächter gekommen und hat uns schön hinsitzen, hat können das alles beob- davon gejagt. Kaum war der Wächter weg, * 12.08.1930 achten, was so ist. Und bevor die Autobahn sind wir wieder hinauf. in Zusmarshausen in Betrieb gegangen ist, war die Augsburger Straße sehr frequentiert. Also da war viel HITLER IN ZUSMARSHAUSEN Verkehr, auch relativ viele Ausländer. Da habe ich sogar einmal von einem Engländer, Das vom Hitler wollte ich noch erzählen. Da der hat auch getankt bei meiner Tante, zehn war ich an der Tankstelle gesessen, an dem Franz Raiser verfolgte als kleiner Pfennig gekriegt. Drei Brezen oder zwei Eis Schlauch und habe halt auch die Gescheh- Junge den Bau der Reichsauto- hat es da gegeben um zehn Pfennig. Das war nisse da an der Augsburger Straße ein wenig bahn in Zusmarshausen und erleb- damals schon relativ viel. Und dann ist der so beobachtet. Dann ist plötzlich ein Haufen te einen Besuch Adolf Hitlers im Autobahnbau losgegangen. Da waren wir Leute gekommen. Habe mir gedacht: „Was Ort. Außerdem half er als Knabe Buben natürlich auch mit dabei.1 ist da los?“ Die sind da beim Hotel Post an beim Neubau der örtlichen Kirche Und da haben wir den Baggern zugeschaut. die Einfahrt hin und dann habe ich mir ge- Maria Immaculata. Das war so ein Dampf-Bagger, das war so dacht: „Da musst du auch hin und gucken, Nach der Bombennacht in Augs- ein Schaufel-Bagger, die hat man noch mit was da los ist!“ Dann kam ein Auto, vorne burg kam er als Schüler des Gym- Dampf betrieben und das hat gepustet wie ein Fahrer und hinten ist einer drin geses- nasiums St. Stephan nach Weiler so eine alte Lok. Und das war ja für Buben sen, der hat so gemacht: (zeigt den Hitler- ins Allgäu. Von dort aus schlug er sehr, sehr interessant, das anzuschauen gruß). Das war ein offenes Auto. Er hat so sich kurz vor Kriegsende mit einem und dann später, gerade am Sonntag, wenn gemacht und ist dann da rein gefahren. Und Freund und ohne weitere Beglei- Interview vom 11.12.2017, tung zurück in die Heimat durch. 1 Der Abschnitt der Reichsautobahn bei Zusmarshausen wurde geführt in Zusmarshausen Blick ins Buchvon 1937 bis 1939 gebaut und am 22. September 1939 eröffnet. Raiser machte während der Besat- Länge des Interviews: 01:34:30 zungszeit eine Lehre und lernte zu Transkription: Lydia Faßnacht dieser Zeit auch seine spätere Frau Annemarie beim Schlittenfahren kennengelernt. Nach dem nachge- holten Abitur studierte er Elektro- technik in München und arbeitete bis zur Rente bei den Lechwerken. Raiser heiratete 1956 und bekam mit seiner Frau zwei Kinder.

Interview- Autobahnbau bei Ausschnitte Zusmarshausen, 1938

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KINDHEIT UND JUGEND Ein Doktor Schürer war unser Pfarrer. Dok- Wir haben in Hirschbach schon eine Volks- tor Joseph Schürer war ein Lateiner. Wir schule gehabt, die ganz normale achtklassi- waren die einzigen Schulkinder, die Latein ge Schule. Es waren keine großen Zukunfts- gekonnt haben. Das Kyrie, das haben wir von pläne zu machen, sondern man hat gucken unten bis oben AUSWENDIG lateinisch ge- müssen, dass man eine Arbeit hat und man sungen. (lacht) Man hat einfach in die Kir- FRANZ XAVER ein Geld verdient. che gemusst. Jeden Tag in der Früh vor der Jede Woche am Freitag in der Früh die Schule war Gottesdienst. Man hat ja einen GOLLINGER erste Stunde war Einmaleins. Da hat man eigenen Pfarrer gehabt in der Gemeinde und 30 Rubriken gemacht auf der Tafel und der um Sieben ist die Kirche angegangen. Da * 25.06.1929 Lehrer hat gesagt: „Fünf mal siebzehn, zwei musste man also dort sein, auch im Win- in Hirschbach mal zwei?“ Nach der Stunde hast du ge- ter, wenn Schnee war, und damals hat es ja wusst, was das ergeben hat. (lacht) Das war viel mehr Schnee gehabt als jetzt. Und keine toll und ich war nicht der fleißigste Schüler, warme Bekleidung und weiß Gott was für Franz Xaver Gollinger wuchs mit weil da war danach immer eine Kettenrech- Schuhe. Da ist man halt durch den Schnee. fünf Geschwistern im beschau- nung und das war mir sowas von unsympa- Das war doch eine Gaudi! Nicht so ein Getue lichen Hirschbach bei Wertingen thisch. Da habe ich mir gedacht: „Da kommt wie heute: Kaum regnet es, dann muss die auf. Er erzählt unter anderem vom es mir doch auf einen Fehler nicht an und Mama schon mit dem Auto fahren. letzten Kriegsjahr, in dem er im so!“ Und ich habe dann Schreiner gelernt, Ich hätte ja schon in früheren Jahren ger- Rahmen der vormilitärischen Aus- und da war ich auch recht zufrieden. Dann ne Klavier gelernt. Aber es war nicht denk- bildung nach Nesselwang musste erst, als ich dann mal so 18 war, hat sich die bar. Es war kein Lehrer da unter dem Krieg und von dort aus auch nach Kriegs- ganze Lebensweise nach dem Krieg voll- und dann war das ganze Haus voll bis in das ende wieder zu Fuß zurücklief. kommen verändert. letzte Zimmer. Wo hätten wir denn das Kla- Als gelernter Schreiner und später als technischer Zeichner bei MAN spielte Arbeit und Arbeitsmoral eine große Rolle für Gollinger. Franz X. Gollinger, 1932 Interview vom 14.01.2018, 1948 lernte er seine zukünftige geführt in Wertingen-Hirschbach Frau Eva, eine HeimatvertriebeBlick- ins Buch Länge des Interviews: 01:35:56 ne und Freundin seiner jüngeren Schwester, kennen. Die beiden hei- Transkription: Lydia Faßnacht rateten 1957 und bekamen zwei Söhne.

Interview- Ausschnitte

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ALLTAG UND HAUSARBEITEN und bei sich auf den Feldern verteilt. Das hat Das war eigentlich so eine richtige Dorfge- man alles selber regulieren müssen. Da gab es meinschaft, oder auch kameradschaftlich nichts, keinen Abfall, der abgeholt worden ist. war das, ganz anders als heute. Man hat ja Im Winter, es waren ja kältere Winter als kein Spielzeug in dem Sinne gehabt. Wie hat jetzt, da hat man einen Leseschein gehabt, man das immer geheißen? „Fürchtet ihr den einen Holzleseschein. Da ist man mit so KORDULA Schwarzen Mann?“ So ist man dann von ei- einem kleinen Leiterwagen hinausgefahren. nem Stadel zum anderen gesprungen, solche Tannenzapfen, Holzrinde und das trockene HARTL Spiele hat man halt gemacht. Und dann war Zeug, das von den Bäumen vom Wind run- das natürlich auch schon so: Das war ja ein tergefallen ist, hat man alles eingesammelt. * 30.11.1927 Selbstversorgerdorf. Zum größten Teil wa- Was die Bauern gefällt haben, Reißschlag in Adelsried ren das ja Bauern und die paar anderen, die hat sich das geheißen, das hat der Förster noch waren: Hat man müssen vom Gemüse- ausgewiesen und das hat man müssen zu- garten leben. Da gab es keinen Gärtner oder sammentragen. Das teure Holz hat man da Kordula Hartl (geb. Vogel) wuchs solche Sachen und dann als Kind ist man nicht nehmen dürfen. Der Bauer hat es uns mit zwei jüngeren Geschwistern, schon hergenommen worden und hat müs- dann heimgefahren, und die Großmutter ihren Eltern und der Großmutter sen mithelfen. Man hat halt so einen Tante- hat das im Sommer im Hof klein gemacht in bescheidenen Verhältnissen in Emma-Laden gehabt, dass man die notwen- und wir Kinder haben es aufgehäuft. Da war Adelsried auf. digsten Sachen kaufen konnte. Dann sind ja eine große Holzhütte, wo man das rein hat Nach der Schulzeit war Hartl Haus- natürlich auch die Händler gekommen, die und im Winter haben wir Kinder das immer haltshilfe bei der Augsburger Fa- Hausierer. Da ist einer gekommen, der hat mit einem großen Korb von der Hütte in milie Herrmann Wurster, einem Hosengummis, Knöpfe, Stecknadeln und so die Wohnung getragen, wo der große Ofen bekannten Testpiloten von Mess- Zeug gehabt, und die anderen haben Stoffe stand, so bis zur Decke rauf. Die ganze un- erschmitt. Auf zwei sehr arbeitsrei- angeboten. tere Wohnung hat man mit so einem Ofen che und schwere Jahre, in denen Und dann war der Pumpbrunnen. Es gab warm gemacht. Wir Kinder waren schon im- sie auch den Bombenangriff auf ja kein fließendes Wasser. Wenn man den mer mit eingebunden, bei dem, was es zum Augsburg miterlebte, folgte die Garten gegossen hat, einer hat gepumpt, Arbeiten gegeben hat. Interview vom 28.01.2018, „schönste Zeit ihres Lebens“ im der andere hat müssen die Kübel tragen. geführt in Augsburg-Lechhausen NSV Kindergarten in Füssen. Blick ins Buch Also man war als Kind schon miteingebun- Länge des Interviews: 01:52:16 Das Kriegsende beendete die Aus- den in die Arbeiten. Das ist nicht so einfach Transkription: Angelika Pilz bildung abrupt und Hartl wurde in gewesen. Und wenn die große Wäsche war, ein Auffanglager nach Innsbruck wir waren ja fünf Personen, dann haben wir gebracht. Die nationalsozialistische am Abend vorher schon zwei große Schäffla Ausbildung wurde nicht weiter an- Wasser pumpen müssen. Darin ist die Wä- erkannt und der Berufstraum als Kindergärtnerin war vorbei. Hartl sche geschwenkt worden. Heute macht das machte nach Kriegsende dann je- die Waschmaschine. Das kann man sich doch einen beruflichen Neuanfang, nicht mehr vorstellen, aber das war eine Hei- heiratete und bekam eine Tochter. denarbeit für eine Hausfrau. Nach dem Krieg ist erst die Kanalisation gekommen. Da war vorher ein großer Kom- posthaufen, den man selber entsorgen hat müssen, und von der Toilette, das alles hat Interview- immer ein Bauer in seinem Odelfass geholt Ausschnitte Auf einem Fest in Kruichen, Datum unbekannt

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SCHMIEDEARBEITEN UND angefangen hat, und das hat schnell gehen LANDWIRTSCHAFT müssen. Und gleich nebendran kam das ins Wasser rein und wurde gedreht, dass er P. Barl: Wir haben auch eine kleine Land- schnell kalt geworden ist. Dann hat das alles wirtschaft gehabt. Die Mutter1 hat sich um einander zusammengezogen. Und da haben die Landwirtschaft gekümmert. Ganz, weil wir zusammenhelfen müssen. Da waren wir der Vater2 war ja praktisch immer in der immer zu dritt, zu viert. Da hat meine Mut- Werkstatt. Also der Stadel und das Haus ter auch mithelfen müssen. waren zusammengebaut und im Haus unten Und die Pferde hat der Schmied beschla- war die Werkstatt. Und der Schweinestall ist gen, manchmal auch Ochsen, oder eine Kuh auch noch ein bisschen mit ins Haus rein- noch. Das war nicht so einfach. Die Hufeisen gekommen. Und dann waren da noch der haben wir immer abbiegen müssen um den Kuhstall und das Heu, das Platz gehabt hat, Huf. Die haben ja passen müssen. Und dann und das war dann der Stadel. Mein Vater hat sind die warm aufgebrannt worden, auf den schon manchmal auch in der Landwirtschaft Huf vom Pferd. Natürlich hat man da nicht ein wenig helfen müssen, weil unsere Ort- zuerst alles weghauen dürfen. Denn wenn schaft ist ja nicht groß und von außen sind das nicht genau aufgelegen ist, dann hätten keine Kunden gekommen. Die waren dann die Nägel, mit denen es angenagelt worden von Neukirchen, Hölzlarn und Weiden. ist, auch keinen Wert nicht gehabt, weil das Interview vom 19.03.2018, Früher hat man mit Eisen bereifte Wägen hätte das Pferd weggescharrt. Die haben ei- geführt in Thierhaupten-Neukirchen gehabt. Der Wagner hat das Gestell gemacht nen Sitz gebraucht, einen ganz guten Sitz. Da- und der Schmied hat das dann beschlagen. rum hat man die warm aufgebrannt, dass es Länge des Interviews: 01:19:25 GENOVEVA und Der hat Eisen hingemacht, wo die Deichsel rot außen ist, bis eine schöne Unterlage da war. Transkription: Angelika Pilz PAUL BARL hingekommen ist und der Wagen reinge- Und was man so noch in der Landwirt- hängt worden ist und auf die Räder sind ei- schaft gebraucht hat, [hat man gemacht]: * 01.01.1929 und 19.09.1928 serne Reifen aufgezogen worden. Der Wag- Pflugscharen dengeln, Eggenzähne spitzen, ner und der Schmied haben da praktisch für die Eggen. Da sind Klingen gemacht in Neukirchen Blick ins Buchzusammengearbeitet, für die Fahrzeuge. worden und dann sind die geklopft wor- Immer haben wir Kinder mithelfen müs- den, rechts und gedreht und links und so Paul Barl wuchs mit fünf Geschwistern in der Kriegsgefangenschaft führte er zu Hau- sen. Das war ja so früher: Wenn man auf die und dann die Kanten noch geschliffen, bis der elterlichen Landwirtschaft und Schmie- se das Schmiedehandwerk seines Vaters Holzräder einen Reifen aufgezogen hat, da sie ganz spitz geworden sind und dann sind de unterhalb der Kirche auf. Auf Bitte des fort und lernte seine Frau Genoveva (geb. hat man zwei Leute gebraucht, die es aufge- sie abgehärtet worden mit Wasser, dass sie damaligen Pfarrers spielte er bereits 1940 Schmid) bei einer Tanzveranstaltung ken- spannt haben. Das ist unten am Holz angele- hart geblieben sind. Dann sind sie noch mal im Ort die Kirchenorgel. In den letzten nen. 1955 heirateten die beiden und beka- gen und oben war eine Klappe, einer hat das warm gemacht worden und ins Wasser rein- Kriegsmonaten musste Barl noch zur Flak men fünf Kinder. Rad, den Eisenreifen genommen und dann geschmissen. nahe Leipzig einrücken. Nach Rückkehr aus Genoveva Barl war die älteste von vier Ge- hat man ihn über das Holz drüber gezogen Da hat man alle Tage ein Feuer gebraucht. schwistern. Ihr Vater war im Kriegseinsatz, und da haben es immer zwei Personen sein Das macht man in der Früh und am Abend weshalb es für die Kinder viel in der eige- müssen. Wenn es einmal recht schwierig dann an. Da tut man die Kohlen ein wenig nen Landwirtschaft zu tun gab. Sie erlebte war, haben auch drei zusammenarbeiten auf die Seite und ein bisschen ein Holz rein, den Krieg und dessen Ende zu Hause. müssen. Weil der Eisenreifen ist heiß gewe- ein Reißig angezündet. Wenn das richtig sen, so heiß, dass fast das Holz zu rauchen brennt, hat man die Kohlen drauf getan und einen Blasebalg eingetreten. (stampft dazu Interview- 1 Afra Barl (geb. Forthofer), * 09.02.1896, † 25.08.1983 mit dem Fuß) Den hat man früher noch [mit Ausschnitte 2 Paul Barl sen., * 08.06.1893, † 13.07.1968

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ARBEIT IN DER den Ochsen machen müssen, was zum Fah- LANDWIRTSCHAFT ren war. Zum Beispiel in , die Leute, die Holz gekauft haben, die haben Früher als Kind, da haben die Eltern1 zuhau- keine Viecher gehabt, da hat mein Vater für se schon gewartet, bis man aus der Schule die auch Holz geholt. gekommen ist. Da hat man mit zehn, zwölf Da sind ein paar Juden auch gekommen, BENEDIKT Jahren schon helfen müssen. Man hat ja die sind alle Tage gekommen. Jetzt fällt mir alles mit der Hand gemacht. Man hatte ja der Name auch nicht mehr ein, zwei waren KLEIN keinen Bulldog, keine Maschinen. Da hat es das auf jeden Fall. Weil früher hat man ja das Kinderschutzgesetz nicht gegeben, wie auch mit den Ochsen gehandelt, ich weiß * 13.06.1925 heute. (lacht) Da hat keiner gefragt, ob der noch: Schon als Bub habe ich die holen müs- in Wollishausen kann oder wie alt sie sind. Habe ich alles mit sen, in Bergheim drüben, im Holz drüben. der Hand gemacht: In der Heuernte mit der Wenn ich heute daran denke: Als Bub frem- Hand umgekehrt und alles mit der Hand, de Ochsen holen! Benedikt Klein wuchs mit seiner Heu rechen und so. Das hat man hingenom- Schwester in einer kleinen Land- men. Nein, ich habe mich nicht beklagt. Das wirtschaft in Wollishausen auf. war selbstverständlich. Wie sein Vater begeisterte er sich Drei Kühe haben wir nur gehabt, auf vier ha- schon früh für Musik. Sonst war ben wir es nie gebracht. Zwei Ochsen haben sein Alltag sehr arbeitsreich. Mit 17 wir gehabt, das war halt das Wichtigste, gell? Jahren wurde er zum Arbeitsdienst Die haben gut zu Fressen gekriegt, wir haben eingezogen und meldete sich frei- ja alles mit den Ochsen tun müssen, die Arbei- willig zur Waffen-SS, was er kurz ten. Dann waren noch sechs Hennen im Stall darauf bereute, aber nicht mehr rückgängig machen konnte. und im Eck war dann noch ein Junges. Meine Eltern haben noch Torf gestochen, Über seine Zeit im Krieg sprach und zwar [für Bauern] in Kutzenhausen. Der Arbeit auf dem Feld, Datum unbekannt Klein bis vor einigen Jahren wenig, Torf ist dann getrocknet worden und den Interview vom 13.08.2018, schrieb seine Erinnerungen jedoch haben sie dann umgebeigt2, dass er getrock- geführt in Gessertshausen-Wollishausen in Stichpunkten nieder. Er erlebteBlick ins Buch FREIZEIT net ist. Mein Vater war als Bub, zehn oder Länge des Interviews: 01:09:28 als Funker die Landung der Alliier- ten im Sommer 1944 und wurde so wird er gewesen sein, ich weiß es jetzt Zum Baden ist man viel gegangen im Som- Transkription: Angelika Pilz auf dem Rückzug schwer verletzt. nicht mehr genau, schon dabei. Der Torf ist mer. Da war ja da draußen in der Mühle der Die letzten Kriegstage verbrachte ja auch als Brennmaterial verkauft worden, Badeplatz. Da ist man am Tag hin gegangen, er in Selčan in der Nähe von Prag in der Stadt auch. wenn das Wetter schön war. und kam in russische Kriegsgefan- Mein Vater, der war vielseitig. Und später Und früher ist man jeden Sonntag in die genschaft in Stalingrad. mit den Ochsen hat er viel für die Leute ge- Kirche gegangen. Da hat es nichts anderes Nach seiner Rückkehr lernte er sei- tan, Holz geholt zum Beispiel. Und geackert gegeben. Zudem war ich im Kirchenchor. ne spätere Frau Gertrud kennen. haben wir auch für die, welche Kühe gehabt Mein Vater, der hat den Chor dirigiert und Die beiden bekamen drei Töchter haben da in Wollishausen, für die Springers mir hat das schon Spaß gemacht. Klarinet- und einen Sohn. da, für verschiedene. Damals hat ja niemand te habe ich gespielt. Das habe ich zuerst einen Bulldog gehabt, das hat man alles mit gelernt. Mein Vater hat ja auch Klarinette gespielt und Trompete. Dann bin ich nach 1 Barbara (geb. Berger, * 20.05.1887, † 14.12.1947) und Kutzenhausen gegangen, zu den Pfarrkö- Interview- Adolf Klein (* 09.06.1884, † 14.02.1978) chinnen. Das waren vier Pfarrköchinnen. Ausschnitte 2 Dialektausdruck für umdrehen, stapeln

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Brandbomben und die haben eine Stichflam- me geben, vielleicht 15 Meter hoch. Aber es hat keine Splitter gegeben. Also keine Sprengbom- ben. Aber das war dann immer (lacht) schön, wenn es so ein Feuer gegeben hat. Hundertprozentig haben wir auch nicht OTTO ZOTT gewusst, ob es Splitter gibt. Aber man hat es halt probiert. Man ist hinter die Brücke * 20.05.1929 hin gestanden und hat die Bombe vorne von in München der Brüstung da runter geschmissen, richtig auf den Boden. Und dann hat das das erste Mal geklappt und dann haben wir es immer so gemacht. (lacht) Vielleicht so fünf oder sechs haben wir halt versteckt. Das war halt Otto Zott wurde in München ge- während des Krieges. boren und zog mit seinen Eltern Die Bombenangriffe waren immer auf kurze Zeit später nach Neuhäder. Augsburg und da hat man die Flugzeuge Dort übernahm seine Mutter die schon immer fliegen hören, wenn sie über Landwirtschaft ihrer Eltern, da der uns drüber sind. Meistens sind sie über uns eigentlich dafür vorgesehene Bru- „Erinnerung an meine Schulzeit“, 1938 drüber und einmal ist auch einer abgestürzt. der im ersten Weltkrieg fiel. Als Das war nachts. Der ist da aus der Bahn ent- einziges Kind musste er aufgrund lang raus und hat eine Kurve gemacht und des „Reichserbhofgesetzes“ die BOMBENANGRIFFE ALS SPIEL hätte wieder rein wollen. Und dann ist er Landwirtschaft übernehmen und durfte nichts anderes lernen. Als die Bombenangriffe immer waren, da gleich hinter Schempach in den Berg rein. Da haben sie mal in dem Auwald da unten eine waren sieben Mann drin, drei waren tot und Über das Einrücken der Amerikaner Bombe abgeworfen. Sprengbomben und vier waren verwundet. Die haben wir dann war die Familie Zott froh, da sie dem Brandbomben. Die Sprengbomben sind ex- bei uns im Feuerwehrhaus aufgebahrt, die Interview vom 22.11.2018, Naziregime gegenüber kritisch, plodiert und die Brandbomben, die haben drei, und die anderen sind weggekommen. geführt in Dinkelscherben-Neuhäder aber auch zurückhaltend war.Blick Von ins Buch wir Buben dann suchen müssen. Von der Wo sie hingekommen sind, weiß ich nicht. Länge des Interviews: 01:42:52 einen „Flüchtling“ erhielt Zott Kla- vierunterricht und wurde dann auf Gemeinde ist das angeordnet worden, dass Und wir sind da immer rauf, der Goisberg Transkription: Tamara Wittemann die Organistenschule nach Bad Rei- die Schulkinder die Brandbomben suchen war das, und haben da so Trümmer geholt. chenhall geschickt. Danach war er müssen. Die waren ja nicht gefährlich. Das Da waren auch die Phosphor-Bomben drin 50 Jahre lang Organist in Häder und waren so Stabbrandbomben und die haben und da waren so Säckchen drin, weiße Säck- leitete 40 Jahre den Männerchor. wir dann gesucht. Da haben wir schon meh- chen mit so kleinen Phosphor-Körnern. Die Seine Verbindung mit einem rere gefunden, vielleicht so 20. Und wir ha- haben wir auch immer geholt. (lacht) Und da „Flüchtlingsmädchen“ stieß zu die- ben (lacht), ich weiß nicht, soll ich es sagen? war auch Munition drin. Munition, in den ser Zeit bei seinen Eltern auf Ab- Wir haben einige auf die Seite getan und englischen Patronen. Also Gewehrpatronen lehnung. Zott verliebte sich dann haben sie versteckt im Wald draußen und waren das. Da hat man die Spitze weggetan, aber in seine spätere Frau Dora, sind dann da später wieder raus und haben und dann war da so ein Stabpulver drin. Das eine „Einheimische“, und heiratete sie losgelassen, an der Brücke da draußen. waren wie so ganz kleine feine Stäbchen. diese 1959. Wenn man die genommen hat und hat sie Die haben wir immer heim (lacht) und wenn richtig auf den Beton hingeschmissen, dann man Zigaretten gedreht hat, in die Zigaret- Interview- sind sie losgegangen. Das waren Phosphor- ten rein getan. (lacht) Da war ein Knecht bei Ausschnitte

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REDEN ÜBER DEN KRIEG Frage: Haben Sie mit Ihren Kindern über Also es ist so, dass mein Vater, [Josef Sprö- Ihre Erlebnisse gesprochen? ßer,] 1898 geboren ist und im Ersten Welt- krieg war er dann mittendrin. Als er acht- Sprößer: Zuerst lange nicht, aus dem glei- zehn geworden ist, haben sie ihn eingezogen chen Grund wie mein Vater. Es hat keinen und da hat er das große Pech gehabt, nach Wert. Kinder müssen selber durch positives ULRICH Verdun zu kommen, nach Frankreich, und und negatives Verhalten herausfinden, wo da hat er sehr wenig immer erzählt. Ich woll- ihr Weg zum Ziel ist. Aber Sie müssen das in SPRÖSSER te immer wieder mit meinem Vater darüber der Form sehen, dass, wenn ich das erzähle, reden, sagte er: „Das muss ich dir nicht sa- das für mich [damals wie heute] eine riesige * 19.10.1930 gen, was sich da abgespielt hat.“ Ich habe im- Aufregung wieder wird und da bohr ich rum in Gersthofen mer gesagt: „Vater, du hast doch so früh dei- und warum soll ich meine Aufregung mei- ne Haare verloren.“ „Mei“, hat er gesagt „als nem Kind weitergeben? ich in den Schützengräben mit dem Stahl- Ulrich Sprößer wuchs mit zwei Ge- helm saß, Tag und Nacht haben wir die auf- TOD DES ONKELS ALS schwistern in einem Mehrparteien- lassen müssen.“ Sonst hat er gar nichts über haus in Gersthofen auf. Sein Vater die Zeit im Krieg erzählt. Das hat er [bis zu SCHICKSALSSCHLAG war bereits im ersten Weltkrieg seinem Tod so] durchgezogen. Er wollte das Ich war neun Jahre alt und da gab es bereits und dem Hitlerregime gegenüber einfach nicht. ein schlimmes Ereignis für uns in der Fami- kritisch eingestellt. Zum Kriegsen- lie und zwar deswegen, weil der jüngere Bru- de kam Sprößer auf Kinderland- der von meiner Mutter im Frühjahr, glaube verschickung ins Österreichische ich, 1939 zu Spähtrupp-Tätigkeiten an die Riezlern und nach Bad Wörishofen. Westfront abberufen worden ist und zwar Kurz nach seiner Rückkehr besetz- ten amerikanische Soldaten das zwischen Pirmasens und Zweibrücken. Dort Wohnhaus und es erfolgte ein Gra- mussten sie die Franzosen beobachten oder natangriff. einfacher ausgedrückt: Die Franzosen ha- ben die Deutschen geärgert und umgekehrt. Interview vom 24.11.2018, 1954 heiratete er seine Frau Sieg- Und dann ist immer wieder, wenn sie einen geführt in Bobingen linde, die er vier Jahre zuvor Blickbeim ins Buch gesehen haben, geschossen worden. Und da Länge des Interviews: 00:58:22 Tanzen kennenlernte. Gemeinsam mit ihrer Tochter und dem Sohn haben sie meinen Onkel im Kopf erwischt. Transkription: Angelika Pilz betrieben sie später in Bobingen Er ist dann nach einem achttägigen Kran- ein Familienunternehmen. kenhausaufenthalt gestorben und überführt worden nach Ellgau, zu einem Zeitpunkt, an dem noch nicht Krieg war. Und da sieht man, welche Unverschämtheiten vom Hitler geplant waren, einfach jemanden zu ärgern. Und da habe ich dann miterlebt, was es heißt, wenn jemand im Interesse von Hit- ler so sterben muss und ich hatte ja meinen Onkel sowas von gern. Also das war unser Lieblingsonkel. Der hat uns fast jeden zwei- Familie Sprößer, Datum unbekannt ten, dritten Tag besucht und der war so su- Interview- per. Das war eine ganz schlimme Sache für Ausschnitte

274 275 IM AUGSBURGER LAND ARMUT UND AUFSCHWUNG Die meiste Zeit meiner Kindheit war ich bei meiner Großmutter. Die haben ein größeres Haus gehabt und ein bisschen eine größere Landwirtschaft. Das waren ursprünglich zwölf Kinder, da waren größere Räume da JOSEF MÜLLER und darum habe ich mich hauptsächlich da aufgehalten. Und ich habe schon mit vier, * 20.12.1928 fünf Jahren mitbekommen, wie arm alles bei in Anried uns auf dem Land war zur damaligen Zeit. Es war richtig verarmt. Da sind auch den ganzen Tag von Augsburg heraus die Bettler Josef Müller vor dem Elternhaus, 1935 gekommen. Früher hat man sie Handwerks- burschen genannt. Im Sommer sind sie bar- sie die Führung abgegeben haben. Ich kann Josef Müller aus Anried wuchs in fuß gekommen, weil sie keine Arbeit gehabt das nicht verstehen, dass man ein Land an einer ärmeren Bauernfamilie auf. haben. Dann sind sie aufs Land heraus und so eine Gruppe abgibt. Das war ja ein Öster- Er erinnert sich an bettelnde Hand- haben da herum gebettelt. Meine Groß- reicher, der Hitler, und ein Maler, und das ist werksleute und die Stimmung nach mutter hat halt einige Pfennige da auf den mir bis heute nicht klar. Weil der dann an die der Machtübernahme der National- Fenstersims gelegt und wenn er auch richtig Macht gekommen ist und nach 1933 die Re- sozialisten. Mehrfach verweigerte gebettelt hat, dass seine Kinder so Hunger gierung übernommen hat und von daher ist ihm seine Mutter die Teilnahme an haben, dann hat er halt noch ein Stück Brot es aufwärts gegangen. Und als er das Geld Aktivitäten der Hitlerjugend, wo- gekriegt für seine Kinder. So sind sie halt gehabt hat, hat er gleich die Autobahn ge- rauf ihm der nationalsozialistisch wieder einige Tage über die Runde gekom- baut. Das ist noch ein Rätsel! Und die Betrie- gesinnte Lehrer drohte. men. Und das habe ich da schon ziemlich be, die haben auch alle wieder Arbeit gehabt Zum Kriegsende kam er zu einer früh auch alles mitbekommen. und Leute eingestellt, und bei uns sind halt Geschützstellung nahe Leipzig, wo Das war immer gleich, bis der Hitler dann die Männer dann alle nach Zusmarshausen er in amerikanische Kriegsgefan- gekommen ist, dann hat es Arbeit gegeben. da auf den Autobahnbau und haben wieder Interview vom 30.11.2018, genschaft kam. Er schildert aus- Ich habe einen Onkel gehabt in München, gearbeitet und es hat wieder Essen gegeben geführt in Dinkelscherben-Anried Blick ins Buch führlich die Zustände im Gefange- 1 nenlager am Rhein. der war am Hauptbahnhof beschäftigt und und so ist es aufwärts gegangen. Und die Länge des Interviews: 01:59:44 der hat die ganze Entwicklung von der Hit- MAN hat wieder Aufträge gehabt. Dann war Transkription: Sandra Everts Nach seiner Rückkehr fand Mül- ler[bewegung] mitbekommen, (lacht) wie das Volk praktisch befriedigt, dass man eine ler anfangs keine Lehrstelle und die Gruppe [anfangs] mit 15 Mann da durch Arbeit und was zum Essen hat. schlug sich mit verschiedenen Aus- München gelaufen ist. Uniform haben sie Und ich weiß nicht, jetzt werden damali- hilfsarbeiten durch. Später über- angehabt und die Fahnen und er hat im- ge Bürger angeschuldigt, dass sie die unter- nahm er die Landwirtschaft der El- tern und heiratete 1957 seine Frau mer schon gesagt, was das soll, schön lä- stützt haben oder gewählt haben, aber wenn Dora. Die beiden bekamen einen cherlich. Aber ich weiß nicht, die damalige man Hunger hat und dann jemand kommt, Sohn. Regierung hat nicht mehr gewusst, wo ein der einem Brot gibt, Arbeit und Brot, also, und aus. Weil es gab einfach keine Arbeit, 1 Dass „Hitlers Autobahnbau“ auf einen Schlag gegen die Betriebe haben keine Aufträge und nichts Arbeitslosigkeit geholfen habe, ist ein Mythos. Projekte bekommen, da hat es einfach wirtschaft- dazu existierten bereits seit 1924. Die höchste Zahl an im lich nicht mehr funktioniert und darum war Autobahnbau Beschäftigten lag 1936 bei 130.000 Arbeitern. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt verbesserte sich tatsächlich die Armut. Also meines Erachtens war das unter den Nationalsozialisten, allerdings durch einen lang- Interview- eine Verzweiflungstat, muss ich sagen, dass samen wirtschaftlichen Aufschwung, der bereits vor 1933 Ausschnitte begonnen hatte, und durch die Rüstungsindustrie.

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SCHULZEIT UND KIRCHE dann schon Ministrant. Alles Latein. Vom IM NATIONALSOZIALISMUS Anfang bis zum Ende, alles, jedes Gebet, der Wettersegen, alles Latein. Steinlehner hieß der Lehrer, das war der ers- Der Pfarrer in Steinekirch hieß Josef Au- te, das war ein ganz alter Lehrer, der hat so- mann, das war ein ziemlich Hochbetagter, gar noch meine Mutter1 gelehrt. Am Anfang, der war von Uttenhofen. Vom jetzigen Au- GABRIEL als er hergekommen ist, ist sie bei ihm in die mann ein Onkel war das damals, vom alten Schule gekommen. Das war 1913 oder 1914, Benno Aumann noch ein Onkel. Der ist kri- HARTMANN da ist er nach Steinekirch gekommen. Und tisch gewesen, das war auch bekannt, weil ich bin so ungefähr bei den letzten gewesen, da ist dann oftmals am Sonntag unter der * 16.02.1927 die er noch unterrichtet hat. Dann sind die Predigt die Polizei von Zusmarshausen ge- in Steinekirch Lehrer damals eingerückt, zu den Soldaten, kommen und hat sich außen am hinteren zur Wehrmacht. Dann haben wir noch vor- Eingang von der Kirche bereit gemacht und her, so in der Mittelstufe, einen Nazi als aufgestellt und hat gehorcht, was der alles Gabriel Hartmann hatte zwei Ge- Lehrer gehabt, der halt leidenschaftlicher sagt. Die SA haben wir da schon gehabt und schwister und stammt aus einer Parteigänger war. Der war fanatisch und da die hat dann von sich aus am Sonntagvor- gläubigen Familie, die dem Na- haben wir beim Begrüßen und beim Kom- mittag, wenn wir in der Kirche waren von tionalsozialismus kritisch gegen- men „Heil Hitler“ (deutet Hitlergruß an) zu acht bis zehn Uhr, Gottesdienst, Predigt überstand. 1942 begann er eine ihm sagen müssen, nicht wie vorher die und Messe, und in der Zeit haben die immer Schmiedelehre in Gablingen und Tagessprüche und Wochensprüche. Da hat ihren Dienst gemacht, die SA, die da errich- kam zum Kriegsende zum Reichs- man ja vorher jede Woche andere gehabt, tet worden ist. Die haben da ihre Aufmär- arbeitsdienst nach Polen und kurz aus der Zeitung heraus2, und da hat müssen sche gemacht, zum Dorf hin, wahrscheinlich darauf zum Militär. Sehr negative ein Kind in der Früh vorlesen und dann ein gegen die Kirche. Und das hat ihm natürlich Erfahrungen machte Hartmann in der anschließenden amerikani- Gebet sprechen. Und als der dann gekom- schwer gestunken, dem Pfarrer, aber da hat schen und französischen Kriegsge- men ist, da hat man das dann mit „Heil Hit- er nichts machen können. fangenschaft. ler“ (deutet Hitlergruß an) angefangen. Ich war sechs Jahre Ministrant und Ober- Interview vom 14.12.2018, Nach der Heimkehr im Jahre 1947 VATER ALS NAZIGEGNER ministrant. Der Großvater war Mesner, mei- geführt in Zusmarshausen ging die Arbeit in der SchmiedeBlick des ins Buch Vaters weiter, später arbeitete er ne Mutter hat im Kirchenchor gesungen, Mein Vater war schon ein überzeugter Geg- Länge des Interviews: 01:36:43 3 als selbstständiger Heizungsbauer mein Vater war in der Kirchenverwaltung ner vom Hitler und der Richtung da. Über Transkription: Gregor Birle und 18 Jahre bei der Firma Isar und meine Großmutter ist auch alle Tage Politik wurde aber zuhause nicht geredet, so Baustahl. 1949 heiratete er seine gläubig in die Kirche gegangen. Und mei- mit ein paar Gleichaltrigen und so halt, aber Frau Karolina. Die beiden bekamen ne Großmutter hat mir die Gebete gelernt, vor den Kindern nicht. Was ist denn an den zwei Kinder. die hat ja auch nicht Latein gekonnt, aber Fenstern drangestanden? In jedem Eisen- rein buchstabenmäßig hat die mir das bei- bahnwaggon, in jedem Omnibus, überall ist gebracht. In der zweiten Klasse, was habe das drangestanden: „Vorsicht, Feind hört ich da gewusst? Confiteor Deo, was soll das mit!“ Also, man soll aufpassen, der Feind sein?4 Sie hat mir das alles durch Buchsta- hört mit.5 bieren beigebracht. Mit acht Jahren war ich Mein Vater war strikter Nazigegner und

1 Magdalena Hartmann (geb. Leitenmaier), * 25.03.1900, 5 Feind hört mit! war eine innenpolitische Kampagne † 28.07.1969 im Deutschen Reich vom 1. September 1939 bis Ende des 2 Gemeint ist die Propagandazeitung „Parole der Woche“. Zweiten Weltkrieges zur Abwehr von Spionage und zur Interview- 3 Modest Hartmann, * 01.10.1888, † 05.04.1921 Sensibilisierung der Bevölkerung für die Folgen unbedarfter Ausschnitte 4 Dies sind die ersten beiden Wörter im Schuldbekenntnis. Kommunikation in der Öffentlichkeit zu Kriegszeiten.

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ARBEITSREICHE KINDHEIT abliefern gefahren, mit so einem Wägelchen Wagner: Eine Landwirtschaft haben wir ge- und da waren dann 20 Liter oder 30 Liter habt. Ich habe keine Freizeit nicht gehabt: [in Kannen darauf gestanden]. Und ich weiß Bin von der Schule heimgekommen, den noch, im Winter war es halt rutschig. Da bin Schulranzen runter und dann hat der Vater1 ich ausgerutscht und die ganze Milch auf die schon eine Arbeit gehabt. Entweder muss- Straße hin. Ja, mein Gott, ich habe mich gar te ich mit den Ochsen zum Ackern fahren nicht mehr heim getraut zu dem Bauern! Ich oder irgendwohin. Aber ich habe immer eine habe aber nichts dafür gekonnt, ich habe es Arbeit gehabt, ja. Ich wäre auch gerne in die nicht mehr halten können. Ich war ja da so Lehre gegangen, aber der Vater hat gesagt: ein Mädchen und das sind 20-Liter-Kan- „Dich brauche ich daheim zum Arbeiten!“ nen gewesen. Dann bin ich halt rauf und 1957 habe ich die Landwirtschaft von mei- habe geweint. Dann war eine alte Tante da, nem Vater übernommen. die fragte, was denn passiert ist. Dann hat sie gesagt: „Mädchen, wenn du einen Fuß Haider: Meine Mutter2 ist am Vormittag zu gebrochen hättest, das wäre schlimmer!“ dem einen Bauern gegangen, zum Helfen, Also hat sie keine Schwierigkeiten gemacht. am Nachmittag zum anderen. Entweder hat Aber da war man immer beschäftigt. Oder sie Kartoffeln oder Rüben rausgerissen oder wir haben auch Kühe gehütet auf der Wiese was halt in der Landwirtschaft zu tun war. draußen. Interview vom 30.12.2018, Da hat man dann immer im Jahr zwei so Rei- geführt in Langweid am Lech hen kostenlos Kartoffeln anbauen dürfen. Das war der Verdienst fürs ganze Jahr. Länge des Interviews: 01:41:44 ANNA HAIDER und Transkription: Lydia Faßnacht KARL WAGNER Wagner: Das weiß ich auch noch. Das war dann der Lohn für das, wenn man, sagen * 14.12.1928 und 13.01.1927 wir, für zwei Jahre oder für ein halbes Jahr bei dem Bauern mitgeholfen hat. Ja, ja. Und in Achsheim und Augsburg Blick ins Buchso einen Fall habe ich auch gehabt, der hat bei uns immer zwei Strangen Kartoffeln an- Die beiden Schulkameraden erinnern sich der (geb. Jehle) über Tieffliegerangriffe gebaut und die habe ich ihm dann raus ge- an ihre arbeitsreiche Kindheit sowie zahl- nahe des Stützpunktes Gablingen sowie den legt, und der hat die dann auch mit seiner Anna Jehle mit ihrer Mutter bei der Feldarbeit, 1941 reiche Alltagsbegebenheiten während der Einmarsch der Alliierten. Wagners Vater war Frau aufgesammelt. Zeit des Nationalsozialismus. Während Karl Mesner und wurde nach dem Krieg von den Als ich noch ein Bub war, da hat man fünf Wagner kurz vor Ende des Krieges noch Alliierten als Bürgermeister eingesetzt. Kühe gehabt. Und dann später, als dann der Wagner: Im Herbst hat man die auf die Wei- zum Militär eingezogen wurde und in Ge- Haider arbeitete nach ihrem Arbeitsdienst- Schlepper gekommen ist, hat man den alten de rausgetan, bis es halt kalt geworden ist. fangenschaft kam, erinnert sich Anna Hai- pflichtjahr bei Keller & Knappich in Oberhau- Bulldog verkauft und für den Bulldog hat sen, wo sie auch ihren zukünftigen Mann man dann noch zwei Kühe dazu reingestellt. Haider: Automatisch hat man da irgendwas Walter Haider kennenlernte. Die beiden hei- tun müssen. Die Mutter hat gesagt: „Das und rateten 1947 und bekamen eine Tochter. Haider: Und bei mir war es dann so: Ich das und das muss getan sein, bis ich kom- war in der Schule, aber ich bin ja dann in me!“ Und wenn es dann wirklich knapp hi- Karl Wagner wuchs auf der elterlichen Landwirtschaft auf, die er 1957 übernahm. der Früh und am Abend immer zum Milch- naus gegangen wäre oder was, dann ist eine Im selben Jahr heiratete er seine Frau Ma- Schulfreundin gekommen. Die wohnte bloß Interview- ria und die beiden bekamen drei Kinder. 1 Johann Wagner, * 1892, † 1969 ein paar Häuser weiter, und die hat nichts Ausschnitte 2 Anna Jehle (geb. Schaller), * 01.11.1892, † 15.03.1972

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VATER ALS NAZIGEGNER prozentiger Nazi. Weil auch in Hammel und Und damals hat es schon BDM gegeben. Und , die Stetten waren derart ver- unser Vater1, das war ein riesiger Gegner. schuldet. Und der Kapitalgeber war früher Unser Lehrer war ein 200-prozentiger Nazi der Jude. Und die Juden hat man ja alle ent- und hat uns immer gefragt: „Wann geht eignet. Folglich hat man denen die Schulden denn ihr einmal zum BDM?“ Und wir ha- erlassen können. Denen sind allen die Schul- ROSA KAROLINA ben doch nicht gedurft, weil unser Vater so den erlassen worden. Ich weiß es so genau, dagegen war. Unser Vater hat immer politi- weil meine Mutter damals in Gablingen in HARTELT siert. Unsere Mutter2 hat immer gesagt: „Du der Raiffeisenkasse war und die das mitge- kommst schon noch einmal nach Dachau!“ kriegt hat, weil es in Gablingen genauso war. * 07.10.1923 Und dann hat noch der Eduard von Stetten Die Schulden sind reduziert worden.3 Der in Täfertingen unseren Vater verwarnen lassen. Dann ist Jude war ja früher der Kapitalgeber, weil ein jemand gekommen und hat gesagt: „Herr Jude hat ja kein Land besitzen dürfen. Der Metzger, nehmen sie sich in Acht, gell!“ Die hat kein Bauer werden dürfen. Rosa Hartelt (geb. Metzger) wuchs haben dauernd politisiert in der Werkstatt, Meine Mutter hat eine Cousine gehabt, die mit drei Geschwistern auf. Zum im Geschäft, und dann hat meine Mutter ge- war in Amerika. Im Bankhaus Morgan. Auf trotze ihres regimekritischen Va- sagt: „Du kommst zu keiner Arbeit mehr mit jeden Fall war meine Tante, wir haben Tante ters wollte sie zum BDM gehen, deiner Politisiererei!“ 3 Die „Nürnberger Rassengesetze“ vom 15. September 1935 was sie nach dessen frühen Tod, Aber der Stetten war auch ein hundert- gaben der Enteignung deutscher Juden einen scheinbar 1938, auch mit Begeisterung tat. gesetzlichen Rahmen. Sie wurden zunächst gezwungen, ihr Durch ihre Mutter, die wie Hartelt 1 Josef Metzger, * 1889, † 1938 Eigentum zu verkaufen, später wurde es ohne Vertrag konfis- 2 Angelika Metzger (geb. Herb), * 1894, † 1996 ziert und verstaatlicht und „Ariern“ zur Verfügung gestellt. später auch selbst, in der Raiffei- senkasse arbeitete, bekam sie ein wenig von der Enteignung der Ju- den mit. 1942 wurde Rosa Hartel als Schrei- berin zu den Luftnachrichten nach Interview vom 11.01.2019, Paris geschickt, wo sie eine unbe- geführt in Neusäß-Täfertingen schwerte Zeit erlebte. Nach kurzerBlick ins Buch Länge des Interviews: 01:57:27 Ausbildung zur Maschinistin diente sie als „Blitzmädel“ bei Starnberg Transkription: Lydia Faßnacht und auf dem Stützpunkt Lager- lechfeld, bis sie krank wurde und der Krieg zu Ende ging. 1944 heiratete sie ihren Mann Otto Hartelt, den sie durch eine Soldatenbrieffreundschaft kennen lernte. Die beiden bekamen zwei Kinder.

Interview- Familie Metzger, Datum unbekannt Ausschnitte von links: Angelika, Josef, Vater Josef, Mutter Angelika, Carolina und Rosa Karolina

314 315 Zug mehr gegangen. Dann sind wir nach arbeit.“ Dann habe ich mich gemeldet, habe Bad Tölz gefahren, wir zwei. Da war ein ehe- ich geschrieben. Am Samstagvormittag, ich maliger Flugplatz, war ein Aufnahmelager. habe gerade zur Haustüre hinaus gemusst, Da sind wir also hin und haben uns Ent- hält ein Taxi. Er sucht die Frau Hartelt. „Ja“, lassungspapiere ausstellen lassen von den habe ich gesagt, „ich bin es selber!“ [Mein- Amis. te der]: „Sie können am Montag in der Ver- einsbank anfangen!“ Die war da am Moritz- ARBEIT IN DER BANK platz [in Augsburg]. Also, dann habe ich in der Vereinsbank angefangen. In der Ver- 1946 bin ich dann nach Batzenhofen zur einsbank haben wir dann Wertpapiere um- Raiffeisenbank gekommen, weil die kei- gestellt. Und dann haben eben die von der nen Rechner gehabt haben. In Batzenhofen Raiffeisenzentralkasse angerufen, dass die habe ich Währungsumstellung gemacht und Handels- und Gewerbebank jemand sucht in dann ist der Rechner aus der Kriegsgefan- Oberhausen, und die Handels- und Gewer- genschaft gekommen, dann hat es der wie- bebank war ursprünglich auch eine Raiffei- der übernommen. Also, das war ja klar, dass senbank. Das war mir natürlich lieber als die ich das nur auf Zeit war. monotone Wertpapierumstellung da. Das Und dann ist in der Zeitung gestanden: war eine ganz langweilige Arbeit. In Stellung in Starnberg, 1944 Rosa Metzger: 2. von rechts „Vereinsbank sucht Kräfte zur Währungs-

Ich habe nie Angst gehabt. So was habe ich am Bahngleis. Das war eine schwere Flak. nie gekannt. Aber in Percha, unsere Schein- Da war ich dann (lacht), also da habe ich werferstellung, die war ja vielleicht 100 Me- dann einen Soldat abgelöst. Wir haben im- ter vor dem Wald. Und wir mussten ja zwei mer Soldaten abgelöst. Wir waren dann zu Stunden Wache stehen. Ich sag Ihnen, zwei dritt auf der Schreibstube, lauter Mädchen. Stunden sind lang! Nachts und am Wald, da Und dann habe ich Mittelohrvereiterung ge- hören Sie so viel Geräusche. Das war das kriegt. Da war ich dann in Klosterlechfeld,Blick ins Buch Allerschlimmste, das Wachestehen beim da haben sie ein Lazarett gehabt. Da war ich Scheinwerfer! dann zuerst schon eine Zeit lang. Weil ich von Augsburg war, habe ich dann heimfah- ENTLASSUNG VOM DIENST ren dürfen und habe dann aber jeden Tag in die Flak-Kaserne hinauf müssen. Gegenüber Im Sommer 1944 waren wir in Starnberg. vom Klinikum, da war die Flak-Kaserne. Da Wir sind jeden Tag zum Baden. Wenn schö- habe ich dann jeden Tag da hinauffahren nes Wetter war, natürlich. Aber, nachts müssen und da habe ich dann Bestrahlung haben wir natürlich da sein müssen. Eine gekriegt und habe mich halt auch jeden Tag war am Telefon und eine hat Posten stehen melden müssen. Und dann bin ich wieder müssen. Von Starnberg aus bin ich für zwei mal hinaufgekommen, dann war die Kaser- Wochen nach Wien gekommen. Dort habe ne leer. (lacht) Da war alles leer. Dann sind ich einen Lehrgang gemacht für die Schreib- wir nach dem Krieg, [ich und noch eine an- stube halt. Und da war ich danach [bis Mai dere aus Täfertingen], nach Bad Tölz gefah- Postkarte von Täfertingen, Datum unbekannt 1945] in Lagerlechfeld. Unsere Stellung war ren per Anhalter. Nach dem Krieg ist ja kein

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haupt keinen Schlag mehr erinnern, weil ich anscheinend sehr folgsam war. Aber es gab schon Kinder, die frech waren. Ich kann mich erinnern an einen Schüler, der nach dem Krieg, also so 1946, hier wohnte. Dessen Vater war irgendeine Nazigröße in Ottmars- RICHARD hausen. Und der war anscheinend ziemlich frech und der bekam eigentlich jeden Tag SCHAFITEL dann sechs Hosenspanner, bevor der Unter- richt begann. Das war die Höchstzahl, die * 31.03.1927 erlaubt war damals: Sechs Hosenspanner. in Augsburg Man musste sich beugen und der Lehrer, der klopfte dann mit dem Haselnussstock auf den Hintern. Richard Schafitel wuchs als Ein- zelkind im beschaulichen Ott- Erna Schafitel (Ehefrau)1: Mein Mann war marshausen auf. Wegen des na- auch Lehrer und wir waren beide Lehrer. Da tionalsozialistisch überzeugten hat er den ersten Hosenspanner austeilen Bürgermeisters musste er der wollen. Dann ist er vorsichtshalber rüber in NSDAP beitreten und sein Vater die Lehrerwohnung zu mir in die Küche ge- Auf dem Dreirad, 1930 zur Organisation Todt. Umfangrei- kommen, sagt er: „Leg dich da mal schnell che Erinnerungen hat Schafitel an über den Tisch.“ Ich habe mich über den seine Zeit und Tätigkeiten während PRÜGELSTRAFE Tisch gelegt und hat er doch die Haselrute des Reichsarbeitsdienstes. IN DER SCHULE genommen und hat mir einen Hosenspan- Nach seiner Heimkehr zum Kriegs- Und als ich dann die Grundschule hier ab- ner gegeben, um auszuprobieren, wie fest er ende half Schafitel dem damaligen, solviert hatte, kam ich in die Oberstufe und zuschlagen darf. (lacht) neu eingesetzten Bürgermeister besuchte noch die fünfte Klasse beim Ober- Interview vom 11.09.2019, als Sekretär aus und konnte danach lehrer Vogg und dann trat ich über in die so- R. Schafitel:Das erzählt sie immer wieder. geführt in Neusäß-Ottmarshausen endlich seinem TraumberufBlick als ins Buch genannte Städtische Höhere Handelsschule. (lacht) Das hat sie immer in guter Erinnerung Länge des Interviews: 01:40:10 Lehrer nachgehen. Seine Frau Erna lernte er in der Lehrerbildungs- Diese Städtische Höhere Handelsschule war anscheinend. Die Mädchen bekamen Tatzen, Transkription: Angelika Pilz anstalt in Lauingen kennen. Die eine sechsklassige Realschule, könnte man auf die Hand. Aber das kam seltener vor. beiden heirateten 1950 im Dom in sagen, die mit Mittlerer Reife abschloss und Augsburg und bekamen vier Kin- die war in der Jesuitengasse. Den Namen E. Schafitel: Ich habe allerdings sogar zwei der. des Direktors habe ich noch in guter Er- Tatzen gekriegt, weil ich die Schule ge- innerung: Dr. Lorenz Dax hat er geheißen. schwänzt habe, die Handarbeitsstunde habe Ein ganz kulanter Mann. Ein ganz tüchtiger ich geschwänzt. Aber für die Mädchen ist Pädagoge, muss ich wirklich sagen. Von dem das selten vorgekommen. Freilich ist die habe ich viel gelernt, wie ein Lehrer sein Prügelstrafe nicht in Ordnung, aber man sollte in der Schule. muss natürlich sehen, dass die Schülerzahl Denn man hat ja früher viel zugeschla- damals sehr groß war. Also bei meinem Va- gen mit dem Haselnussstock, hier auch in ter2 beispielsweise war die Schülerzahl 80. Ottmarshausen. Ich habe weniger Schläge Interview- bekommen. Ich kann mich also an über- 1 Erna Schafitel (geb.Bronnhuber), * 10.08.1929 Ausschnitte 2 Martin Bronnhuber, * 10.05.1907, † 22.11.1964

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ARBEIT IM KINDERGARTEN Früh um acht gekommen und sind abends Ich war ja im Kindergarten oben während um sechs abgeholt worden. Die waren zum des ganzen Krieges. Ich wollte ursprünglich Mittagessen da und die waren zum Schlafen etwas anderes machen, war angemeldet in da. Die waren also den ganzen Tag da. Und München auf der Modeschule. Und da sind dann hat es geheißen: Ja, einer muss jetzt eigentlich nur solche rüber gekommen, die da rauf [nach Ettelried]. Und meine andere THERESIA Abitur gehabt haben. Ich habe aber kein Kollegin, die war aus Gessertshausen, die Abitur gehabt. Ich bin in Augsburg und in hat gesagt, sie kann nicht Rad fahren und LINDER Krumbach in die Schule gegangen und da sie kann das nicht und sie macht das nicht. habe ich eine Aufnahmeprüfung machen Dann habe ich mich bereit erklärt. * 27.06.1922 müssen. Und dann habe ich das bestanden. Ich bin dann da raufgegangen und habe in Dinkelscherben Ich komme also rüber, um die Modeschule gesagt: „Gut, das mache ich dann.“ Dann bin zu machen in München, und dann ist plötz- ich halt jeden Tag mit dem Fahrrad da rauf lich mein Papa1 gestorben. Mein Papa ist gefahren, für die Kinder in Ettelried. Und mit dreiundfünfzig Jahren gestorben und darum habe ich heute noch so eine gute Ver- Theresia Linder (geb. Hinterstößer) meine Mama2 war damals vierzig Jahre alt bindung mit diesen ganzen Höck-Buben und arbeitete während des gesamten und dann hat die gesagt: „Nichts mehr! Du allen. Die waren alle bei mir im Kindergar- Zweiten Weltkrieges in Dinkel- darfst nicht fort! Du musst da bleiben!“ ten. Jetzt sind es auch schon ausgewachsene scherben und in Ettelried als Kin- Und dann hat der Krieg angefangen und Männer. Und darum sind sie auch zu mei- dergärtnerin. Ihren Mann heiratete ich bin gemustert worden. Dann haben sie nem neunzigsten Geburtstag gekommen, sie 1943 während des Krieges, als bei der Musterung gesagt: Ja, also ich wer- ohne, dass ich sie eingeladen habe. dieser mit einer Verwundung auf de eingezogen und zwar zum Arbeitsdienst. Heimaturlaub kam. Später mussten Aber wenn ich den Arbeitsdienst umgehen sie und ihre Mutter für die Alliier- kann und will, dann kann ich in den Kinder- ten das Haus verlassen. garten gehen oder in ein Altenheim oder so. 1951 war Linder Mitgründerin des Irgendwas Soziales einfach haben die ge- braucht. Dann habe ich gesagt: „Ja, mache Interview vom 15.11.2012, Katholischen Frauenbundes und ich gerne.“ Und dann habe ich natürlich geführt in Dinkelscherben jahrzehntelange UnterstützerinBlick ins Buch des Kinderheims in Baschenegg. Kurse machen müssen und zwar war ich da Länge des Interviews: 01:15:03 Resi Linder ist die Schwester von in Friedberg und in Ichenhausen. Da war so Transkription: Angelika Pilz Karl Hinterstößer (siehe Interview ein Kindergärtnerinnenseminar. Auf jeden S. 16). Fall bin ich dann im Kindergarten in Dinkel- Das Interview mit Resi Linder wur- scherben angestellt worden. de bereits vor dem Projekt „Die In Ettelried hat der Bürgermeister da- letzten Zeitzeugen im Augsburger mals gesagt, er hat so viele Soldaten und Land“ geführt. Es war Grundlage die ganzen Bauersfrauen sind alle allein des Kurzfilms „Resi“, der ihr Leben und sie brauchen auch über die Winter- und und ihre Persönlichkeit portraitiert. Sommermonate jemanden, der die Kinder nimmt. Wir waren bloß zu zweit im Dinkel- scherbener Kindergarten, und eine Köchin haben wir gehabt. Da sind die Kinder in der

Kurzfilm „Resi“ Interview- 1 Xaver Hinterstößer, * 1887, † 02.02.1941 2013, 20 min. Ausschnitte 2 Theresia Hinterstößer (geb. Knoll), * 1900, † 1951 Resi Hinterstößer als Kindergärtnerin, Datum unbekannt

342 343 IM AUGSBURGER LAND Anhang A: Der Film zum Projekt

Aus diesem Projekt entstand in Koproduk- vor knapp 75 Jahren verlassen mussten. Die tion mit dem Bayerischen Rundfunk der 85 Filmemacher Michael Kalb und Timian Hopf minütige Dokumentarfilm „Die letzten Zeit- begleiten die beiden Senioren auf eine Rei- zeugen“. Dafür wurden Ausschnitte aus 21 se in die Vergangenheit und besuchten mit der 30 Interviews verwendet. Ebenfalls fällt ihnen die Orte ihrer Kindheit. den beiden Zeitzeugen Heinz und Günther Barisch (siehe Interview auf Seite 176) eine Doch was passiert, wenn mit den Menschen besondere Rolle im Film zu. auch die Erinnerungen an damals sterben? Neben den Gebrüdern Barisch interviewte Kalb 35 weitere Zeitzeugen aus dem Land- kreis Augsburg, die noch aus eigener Erfah- rung von der Zeit zwischen 1920 und 1950 berichten können. Wie ein Mosaik aus Er- innerungen soll „Die letzten Zeitzeugen“ die Erinnern Zuhören Verstehen Grausamkeit und Widersprüche des “Dritten Reiches”, das Chaos nach Kriegsende, aber auch den Alltag und manche Lichtblicke die- ser Zeit greifbar machen. Mit dem Wissen um die Hintergründe dieser unmenschlichen Zeit erzeugt gerade die Unreflektiertheit mancher Zeitzeugen ein noch größeres Un- behagen. Ohne auf konkrete gegenwärtige ein Film von Ereignisse zu verweisen, wird klar, dass das Michael Kalb und LOGLINE damalige Geschehen heute brisanter und ak- Timian Hopf Was geht mich das heute noch an? - Wir rei- tueller erscheint denn je. sen in die Erinnerungen von Menschen, die Blick ins Buchnoch aus eigener Erfahrung von der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Welt- kriegs berichten können. Ohne auf konkrete gegenwärtige Ereignisse zu verweisen, wird klar, dass das damalige Geschehen heute bri- santer und aktueller erscheint denn je. SYNOPSIS Die Brüder Günther und Heinz Barisch sind sich oft nicht einer Meinung. Doch wenn es um ihre Heimat geht, leuchten beider Augen gleichermaßen. Das kleine Städtchen Zülz heißt heute Biała und gehört seit Ende des KmediaALB Zweiten Weltkrieges zu Polen. Für Heinz und Günther ist es jedoch der beschauliche www.letzte-zeitzeugen.de oberschlesische Ort geblieben, welchen sie

353 IM AUGSBURGER LAND Anhang B: Gesprächsleitfaden Anhang C: Regeln zur Transkription

Vor den ersten Interviews wurde ein grober Die Transkriptionen der Interviews wurden Gesprächsleitfaden erstellt. Dieser half bei nach diesen Regeln erstellt. Dazu erhielt je- der Eingrenzung der Themen, aber auch als de*r Helfer*in das Video des Interviews und eine Art „Checkliste“, da viele Gespräche in begann dies am Computer in einem Word- ihren Erzählungen nicht chronologisch ver- Dokument zu transkribieren. Am Ende wur- liefen. Je nach Gesprächsbereitschaft der In- den alle Texte gleich formatiert. terviewpartner wurde mal mehr, mal weniger Mit ins Video eingebettet war stets ein am Gesprächsleitfaden festgehalten. Timecode, welcher in den Transkripten auch regelmäßig vermerkt wurde (siehe Punkt 18). Biografische Angaben • Name, Geboren, Ort, Familienstand, Beruf Für Heimatvertriebene/Flüchtlinge: 1. Kennzeichnung der Personen: • seit wann im Augsburger Land • Erinnerungen an die Flucht ins Die Kennzeichnung erfolgt bei der ersten Augsburger Land Nennung mit dem kompletten Namen, bei Für „Einheimische“ - Warum im Ort X gelandet? erneuter Nennung nur mit dem Nachna- (geboren im Augsburger Land): (Plan oder Zufall) men. Bei zwei Interviewpartnern mit glei- 5. Deutliche Reaktionen / Emotionen: • Alltag unterm Hakenkreuz“ • Ankunft in der „neuen Heimat“ chem Nachnamen wird der erste Buchstabe Wenn Reaktionen oder Emotionen beson- (je nach Alter) - Annäherung/Erster Kontakt/ des Vornamens genannt. Die Namen werden ders auffällig und wichtig im Gespräch sind: - Schule Sprache fett geschrieben. In Klammern () und kursiv, kurz und knapp - Hitlerjugend/BDM - Einquartierung: Wo und wie beschreiben. - Alltag untergebracht? 2. Füllwörter und Grammatikfehler: • Kriegsausbruch und Verlauf • Neuanfang Alle Aussagen werden wie gesprochen 6. Durcheinanderreden: - Stimmung und Medien zu Beginn - Abwarten oder aktiv werden? erfasst, also auch scheinbar unwichtige Füll- Kennzeichnen mit (...) bei Unterbrechung - Kriegsgefangene/Zwangsarbeiter „Bleiben oder zurückgehen“? wörter und grammatikalische Fehler. und am Anfang des Satzes des Unterbrechenden. im Ort? - Schule, Beruf? • Kriegsende - Eigene vier Wände 3. Dialekt: 7. Zwischenlaute: - Stimmung und Medien zum Ende • Es wird wörtlich transkribiert, nicht • Nicht transkribiert werden alle - Einmarsch der Alliierten (u.a. der Allgemeine Fragen: Blick ins Buch lautsprachlich. Geglättet werden also Zwischenlaute (z.B. Stotterer, Ähms etc.) erste Schwarze) • Was ist Ihre erste Erinnerung? Färbungen von Dialekt (z.B. „haben • Es sei denn, sie sind wirklich - Schwarzmarkt • Welche Person hat Sie besonders wir“ anstatt „hamma“, „ist“ anstatt „is“, wesentlich im Gespräch bzw. gehören • Erinnerung an Heimatvertriebene geprägt? „so ein“ anstatt „son“) zum Satzbau - Einquartierung: Wo und wie • Was möchten Sie jungen Leuten fürs • Es sei denn, es ist ein besonderer • Zustimmende Laute des untergebracht? Leben mitgeben? Eigenbegriff/Kolorit im Dialekt Interviewers (z.B. mhm, aha etc.) - Annäherung/Erster Kontakt/ • Was haben Sie aus all dem gelernt? (z.B. „Heuschober“ anstatt „Scheune“, werden nicht transkribiert Sprache • Wer sind Sie dadurch geworden? „Schlacht“ anstatt „Hofeinfahrt“, • Besteht eine Antwort beispielsweise • Was ist das Geheimnis, so alt zu „Hagameis“ anstatt „Ameisen“) nur aus einem „mhm“ oder „aha“ dann werden? wird dies transkribiert mit einer • Was haben Sie noch nie jemandem 4. Unverständliche Stellen: Erklärung des Lautes (siehe Punkt 5) erzählt? Bei unklaren bzw. unverständlichen Stellen • Wann haben Sie begonnen, darüber wie z.B. Eigennamen, Dialekt, Tonstörung 8. Unterbrechungen / Unvollständige Sätze: zu reden? etc. wird das Wort oder der Satz mit voran- Einen Abbruch des Satzes mit // kennzeichnen. • Warum ist es wichtig, diese gestellten ??? gekennzeichnet. Geschichten zu erzählen?

354 355 Blick ins Buch sowie dieFluchtundVertreibung. der Zweite Weltkrieg, dieBesatzungszeit das LebenunterdemNationalsozialismus, waren unteranderemderAlltagdieserZeit, Themen zwischen 1920und1950befragt. zuihrenErinnerungenandieZeit Interviews 37 Zeitzeugen wurdeninmehrstündigen

DIE LETZTEN ZEITZEUGENIM AUGSBUGER LAND DIE LETZTEN IM AUGSBUGER LAND ZEITZEUGEN EIN PROJEKT VON MICHAEL KALB &CHRISTOPH LANG VONEIN PROJEKT MICHAEL KALB 37 PERSÖNLICHEERINNERUNGEN AN DIEZEITZWISCHEN 1920 UND1950