Titel Schaden an der Seele Welchen magischen Reiz bietet Politik, dass so viele in die Arena drängen? Politiker inszenieren sich wie Popstars, befriedigen ihre Eitelkeit, suchen Selbstbestätigung. Dabei kennen sie auch die Preise, die sie dafür bezahlen müssen: persönliche Deformation und Wirklichkeitsverlust. Die Droge Macht ist eine Sucht, die sie nicht loslässt.Von Jürgen Leinemann

1. STRAHLENDER MITTELPUNKT?

rifft ein Politiker einen anderen. „Ich Thabe dich gestern im Bus gesehen“, sagt der eine. „Ja und?“, fragt der andere, „wie war ich?“ Guido Westerwelle war entzückend am Donnerstag vergangener Woche – locker, hart und klar, ein Sieger. Nur dass sein Auftritt vor der Bundespressekonferenz in Berlin so gar nicht passen wollte zum halb- herzigen Ende einer trüben Kontroverse um Antisemitismus und rechte Rattenfän- gerei, in die FDP-Vize Jürgen Möllemann seine Partei und die deutsche Öffentlichkeit verstrickt hatte. Na und? „Das Ergebnis zählt, ich habe meine Arbeit getan.“ Westerwelle strahlte, wie es der Bus-Witz suggeriert, der schon in Bonn kursierte, mit austauschbarer Be- setzung. Was sind schon Inhalte? Der po- litische Star ist das Ereignis. Sein Ego muss leuchten. Ging es denn um den antisemitischen Landtagsabgeordneten Jamal Karsli aus

Düsseldorf, der den Liberalen im / ARGUM LEHSTEN CHRISTIAN zugelaufen war? Um den Streit zwischen Kanzlerkandidat Stoiber*: „Wettbewerb der besten Entertainer“? Möllemann und dem Talkmaster Michel Friedman, dem Möllemann vorwarf, als ches Erleben auslösen, sozusagen Sucht vor der Zentrale der FDP in Berlin Hun- Jude den Antisemitismus selbst zu erzeu- ohne Drogen. derte Demonstranten versammelten, die gen? Ging es um Tabubrüche bei der Kri- Die Gier, sichtbar zu sein, treibt Wes- Schilder hochhielten mit gelben Juden- tik an Israels Politik? terwelle in den „Big Brother“-Container, sternen, mit Inschriften wie „Blau + Gelb Für Guido Westerwelle gehört das alles Kanzler Gerhard Schröder nebst Staats- = Braun?“. Deshalb war es gewiss nicht zu einer „Debatte, die gewesen ist“. Jetzt gast Wladimir Putin oder Nobelpreisträ- gelogen, als der FDP-Chef tags darauf be- geht es wieder um ihn und den Erfolg bei ger Günter Grass in „Boulevard Bio“ und teuerte, die Proteste hätten ihn „betroffen der künftigen Wahl. Rudolf Scharping mit badender Lebensge- gemacht“. Es kränkte Westerwelle, dass „Ich finde, die Person ist auch Pro- spielin für die „Bunte“ in den Luxus-Pool die Prominenten bei der Christiansen- gramm“, hat er einmal gesagt. „Da strahlt von Mallorca. Runde ihn beim Smalltalk vor und nach man ein bestimmtes Lebensgefühl aus, Und sie verführt Möllemann dazu, im- der Sendung schnitten und dass Paul Spie- nämlich das Lebensgefühl einer fröhlichen, mer noch einmal nachzulegen, wenn sich gel, der Vorsitzende des Zentralrats der lebensbejahenden Einsteigerpartei.“ ihm ein Mikrofon entgegenstreckt. Juden, nicht mit ihm bei Ruprecht Eser im So produziert sich der politische Me- Guido Westerwelle möchte geliebt wer- ZDF zusammensitzen wollte. dienstar. Jeder Auftritt ist ein Kick. den. Wenn schon nicht von allen, dann Es müssen deprimierende Tage für den Der Blick der anderen ist die Rückmel- doch möglichst von vielen. Das, versteht rheinischen Erfolgsmenschen gewesen dung auf die eigene Bedeutung. Positive sich, konnte nicht gut gelingen, wenn sich sein, als er erkennen musste, dass es eine Bestätigung und Beifall, Aufmerk- moralische Kategorie sein kann, eine „an- samkeit und Zustimmung lösen im Politiker gehören zu den Schluss- ständige Figur“ abzugeben, nicht nur eine Gehirn Impulse aus, die Wohlge- ästhetische. fühl vermitteln. Angestoßen durch lichtern jeder Berufsprestige-Skala, Nun aber war er fast wieder so „ober- Stimulation von außen – oder cool“ und „voll fett“, wie er sich im „Big durch Gefühle und innere Bilder –, nur Gewerkschaftsführer und produziert das Hirn körpereigene Buchhändler rangieren hinter ihnen. * Vor einem Modell des Reichstags im Günzburger Substanzen, die ein rauschähnli- Legoland.

76 24/2002 Brother“-Container erlebt hatte. „Die Dro- ge 18 Prozent“, wie ein Parteifreund das Projekt nennt, stimulierte ihn, die Fragen der Journalisten, auch unerfreuliche, lock- ten seine Stresshormone hervor. Er dopte sich mit neuem Selbstbewusstsein. Wie er zu sagen pflegt: „Wer auf dem Kirchturm sitzt, den umkreisen die Raben.“ Ist es verwunderlich, dass Politiker seit Jahren schon zu den Schlusslichtern jeder Berufsprestige-Skala gehören? Nur Ge- werkschaftsführer und Buchhändler ran- gierten 2001 noch hinter ihnen. „Ich weiß, dass Sie glauben, Politiker seien dick, dumm, faul und gefräßig und MARTIN MEISSNER / AP MARTIN Liberale Möllemann, Westerwelle Jeder Auftritt ist ein Kick

verdienten zu viel Geld“, begrüßt die CDU-Abgeordnete Erika Steinbach ihre Besucher in Berlin. Nur wenn sie Glück hat, nicken nicht alle. Aus Höflichkeit, nicht aus Überzeugung. Aber das reicht ihnen offenbar immer noch nicht. Zurzeit jedenfalls tritt die po- litische Klasse auf, als wollte sie alle Stammtisch-Parolen bestätigen, die Politik als schmutziges Geschäft verunglimpfen, das den Charakter verdirbt. Talkshow-Gezeter, gezinkte Arbeitslo- senstatistiken, Empörungstheater im Bun- desrat, „Dankeschön“-Spenden, schwarze Kassen, Ferienflüge, Filz, staatlich sub- ventionierte Pleiten und jetzt auch noch die Antisemitismus-Debatte – mit einer Serie aus Firlefanz und Skandalen arbeitet die Politik zielstrebig weiter an ihrem Nie- dergang. In Magdeburg stürzte die Wahlbeteili- gung auf 56,5 Prozent. Jeder dritte Wahl- Kanzler Schröder berechtigte will im September weder für Gerhard Schröder noch für Edmund Stoi-

JULIA FASSBENDER / BPA FASSBENDER JULIA ber stimmen. der spiegel 24/2002 77 Titel

Nicht, dass die Politiker mit sich zufrie- Was für eine Metapher, welch eine Sym- den wären. Sie trauen sich selber nicht. bolik. Stölzl ist auch durch den Einwand „An der Macht bin ich mir ununterbro- nicht zu bremsen, dass der Berliner Ballon chen verdächtig“, zitiert die sozialdemo- mit Helium gefüllt ist. Er beharrt auf seinem kratische Familienministerin Christine Bild: So wie der Ballon die Blicke auf sich Bergmann zustimmend den Prager Präsi- zieht und im Betrachter die Faszination für denten Václav Havel. Und Beneidenswer- Aufstieg und Fall weckt, so eigne sich in der tes fällt den meisten zu ihrem Beruf auf Politik ein Einzelner die Sympathie aller Anhieb nicht ein. an. „Und die müssen es dann aushalten, dass er zum strahlenden Mit- Die politische Klasse tritt auf, als wollte telpunkt wird.“ Voraussetzung für solche sie alle Stammtisch-Parolen bestätigen, Höhenflüge freilich ist ein Klima der Sympathie, das die Politik als schmutziges Geschäft verun- der Politiker selbst zu erzeu- glimpfen, das den Charakter verdirbt. gen verstehen muss. Stölzl: „Begeistert geliebt zu wer- den ist kein bloßes Accessoi- Respekt? „Staubsaugervertreter werden re des Politikers, kein Schaustellertrick, den auch nicht verächtlicher behandelt“, fin- besonnene Menschen eben beherrschen det Thomas Krüger, Präsident der Bun- müssen, weil sie sonst ihren edlen Zielen deszentrale für politische Bildung. nicht nachgehen könnten, sondern die Ur- Macht? „Sie wissen ja gar nicht, wie gebärde demokratischer Politik.“ machtlos ein Bundeskanzler ist“, lässt Ger- Nur will diese Urgebärde derzeit nicht so hard Schröder eine Gruppe junger Intel- recht gelingen, schon gar nicht mit Begeis- lektueller wissen. Nach dem Amoklauf von terung. Geliebt? Im Gegenteil. Weshalb es Erfurt bekannte er hilflos: „Und da sitzt irgendwie auch stimmig schien, dass der du hier und möchtest was tun und kannst Ballon dieser Tage plötzlich abschlaffte. Er nichts machen.“ hatte einen Riss. Schrumpelig, grau und Einkommen? „Wer ökonomisch denkt, bar jeder Faszination lag die Hülle am ist völlig beknackt, wenn er in den Bun- Boden. Die Luft war raus. destag geht“, findet der ehemalige Juso- Chef Wolfgang Roth, der aus dem Bun- 2. „WIR BRINGEN UNS DOCH NICHT UM“ destag als Vizepräsident der Europäischen Außenminister Fischer*: „Die Verwandlung des Investitionsbank nach Luxemburg wech- ie hat über Einsamkeit, Versagensängs- selte. Ste und Medienterror geklagt, wie alle, Doch heute, während noch immer kaum Erfolge? Keine Bilanzen, Dividenden, die halbwegs ehrlich von ihrem Berufsall- verkraftete Demütigungen ihr Gesicht ver- Kursgewinne. Lord Ralf Dahrendorf, libe- tag reden. Sie ist hart geworden, miss- schatten, sagt sie plötzlich: „Politik ist ein raler Politiker und Mitglied des britischen trauisch und ungeduldig. Und im Januar wunderbarer Beruf.“ Oberhauses: „Ich kenne keinen erfolgrei- 2001 trat die Grüne Andrea Fischer, 42, als Wunderbar? Was soll denn so toll sein an chen Unternehmer, der in die Politik ge- Berliner Gesundheitsministerin zurück, um einem Beruf, der einsam, unfroh und dick wechselt ist und es dort zu ähnlichen Er- dem Rausschmiss durch die eigenen macht? Wo ist „das Schöne“, das auch der folgen gebracht hat.“ Parteifreunde zuvorzukommen. CDU-Abgeordnete Friedbert Pflüger ent- Es muss einer wohl so neu im politischen Versteinert guckte sie bei ihrer letzten deckt? Was macht für den SPD-Veteran Er- Geschäft sein wie Christoph Stölzl, zu- Pressekonferenz in die Kameras. Ein si- gleich so phantasievoll, sprachmächtig und cheres Angebot, wieder in den Bundestag * Oben: mit Journalisten an Bord eines Luftwaffen-Airbus romantisch wie dieser Berliner Polit-Novi- einzuziehen, lehnte sie ab: „Jetzt ist es vor- 2001; unten: beim Neujahrsempfang 2001 für das diplo- ze, der gerade vom Generaldirektor des bei.“ matische Korps. Deutschen Historischen Museums über eine kurzfristige Tätigkeit als Kultursenator zum CDU-Landesvorsitzenden mutierte, um im viel geschmähten Politikerleben noch poetische Höhenflüge zu vermuten. Stölzl deutet mit pathetischem Schwung auf einen in allen Regenbogenfarben schil- lernden Ballon des TV-Senders Sat.1, der seit Monaten verlockend und leicht über den wuchtigen Gebäuden der Staatsmacht im Berliner Regierungsviertel schwebt: Ist der Heißluftballon nicht ein wunderbares Symbol für die bedrohlich labile und ab- gehobene dekorative Existenz des Politi- kers? Angeheizt durch das Feuer der Me- dien bläht sie sich auf und steigt empor. Angesengt durch zu intensive Befeuerung

gerät sie in Absturzgefahr. ARIS

Bundespräsident Rau* „Politik ist wie Nüsse knabbern“ 78 he. „Das Endziel sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verantwortung werden wir nicht erreichen“, wusste Schröder schon vor zehn Jahren. Das hat ihn nicht daran ge- hindert, die Kanzlerschaft anzustreben. Und , die heutige Minis- terpräsidentin von Schleswig-Holstein, sag- te im selben Jahr 1992, damals noch Fi- nanzministerin: „Wenn es mir ausschließ- lich darum gegangen wäre, etwas zu än- dern, wäre ich vermutlich bei der Ge- werkschaft oder in der Kirche gelandet. Offensichtlich habe ich mir in der Politik auch eine gewisse Außenwirkung verspro- chen, die Möglichkeit, andere zu beein- flussen. Und das befriedigt auch die per- sönliche Eitelkeit.“ Sieger, oder wenigstens „Gewinnenwol- ler“, wie der Sohn der SPD-Präsidin Re- nate Schmidt seine Mutter charakterisiert, nehmen die Qualen und Strapazen des po- litischen Lebens auf sich, um Aufmerk- samkeit und Bestätigung einzuheimsen. Was der Gewinn ist? „Ich bin immer im Zentrum der Aufmerksamkeit“, sagt Wolf- gang Thierse. Auch Wolfgang Schäuble fin- det es „natürlich wichtig, öffentliche Be- achtung zu erfahren“. „Dass ich so geworden bin, wie ich bin. Und dass ich das habe tun können, was ich wollte – das war Gewinn genug“, hatte Gerhard Schröder, gerade zum Bundes-

THOMAS KOEHLER / PHALANX KOEHLER THOMAS kanzler gewählt, Herlinde Koelbl geant- Amtes durch den Menschen dauert länger als die Verwandlung des Menschen durch das Amt“ wortet, der er für ihren protokollarischen und fotografischen Langzeitreport „Spu- hard Eppler den Politikerberuf zum „Ab- ihre Köpfe und Kehlköpfe und unsere Ner- ren der Macht“ Rede und Modell stand. gründigsten“ und „Spannendsten“, wor- ven strapazieren. Etwa 2500 Kandidaten Vier Jahre später haben sich tiefe Kerben auf Menschen sich einlassen können? kämpfen überdies um die 598 Plätze im in sein Gesicht gegraben, Müdigkeit, Zwei- Ist das Faszinosum zu erklären, das die Bundestag. Und auch wenn Bundeskanzler fel und Ohnmacht trüben ihm bisweilen Kohls, Biedenkopfs, Diepgens und Schar- Schröder befürchtet, dass – als Folge von den Blick. Und doch: Dass er seinen Job pings selbst dann nicht loslässt, wenn sie Medien-Aufdringlichkeiten – bald kein jun- liebt, noch immer und „trotz alledem“, wie ihre Familien, ihren Ruf und sich selbst zu ger Mensch mehr Politiker werden wolle, er täglich in seinem ersten Berliner Amts- zerstören drohen? drängen auf der Ebene der Parteien noch sitz im Treppenhaus lesen konnte, daran Irgendeinen magischen Reiz muss Poli- immer genügend Nachwuchsleute in die lässt Gerhard Schröder keinen Zweifel. tik wohl bieten. Denn es sind ja nicht nur erste Reihe. Komplizenhaft zwinkert er Bestätigung auf Gerhard Schröder, Edmund Stoiber und Ein einheitlicher Typus ist das nicht, entsprechende Fragen: Ist doch klar, oder? Guido Westerwelle, die im laufenden sieht man einmal von einer robusten Schröder unterscheidet sich damit nicht Wahljahr als Bewerber um das Kanzleramt Grundausstattung an Eitelkeit, Ehrgeiz und von den meisten seiner Kollegen, die Poli- Geltungsdrang ab. Lei- tik als Beruf betreiben. Nach einer Weile denschaft und Augen- sind sie eben doch ziemlich austauschbar maß? Inhalte? Irgendei- geworden, mögen die Damen und Herren ne utopische Idee, wie Politiker auch aus den unterschiedlichsten es zugehen sollte zwi- Gründen und mit den abweichendsten Zie- schen den Menschen, len ihr Gewerbe begonnen haben. Joschka hat – wie vage auch im- Fischer hat es ausgesprochen: „Die Ver- mer – wohl jeder, der wandlung des Amtes durch den Menschen politische Ämter an- dauert etwas länger als die Verwandlung strebt. Sei es nun als des Menschen durch das Amt.“ umfassendes Sinn- und Die Profession Politik entwickelt einen Wertesystem, sei es Sog, schafft Abhängigkeit, verändert den ganz speziell für be- Blick auf die Realität. Dabei sind die Ver- stimmte Gebiete. führungen zur Deformation zahlreicher Aber ob es die Politik und wirksamer als die Bildungschancen. ist, die über die ent- Eppler: „Die wachsende Übermacht der scheidenden Schalthe- Medien über die Politik, des Verkaufens bel zur Veränderung der über das Erarbeiten, des Scheinens über Welt verfügt, das be- das Sein, der Inszenierung über die Ak-

LAURENCE CHAPERON zweifeln selbst die Ak- tion machen Deformation immer wahr- Bundestagspräsident Thierse: Rest an Bodenständigkeit teure in der ersten Rei- scheinlicher, Reifung immer erstaunlicher.“

der spiegel 24/2002 79 Titel

Ist Politik eine Sucht? Schon Max Weber hatte 1919 in seiner berühmten Rede über „Politik als Beruf“ davor gewarnt, dass das Machtstreben des Politikers „Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung“ werden könnte. Heu- te hantieren die Akteure selbst locker mit Sucht-Begriffen, um die Gefahren der be- ruflichen Verformung zu beschreiben. Und Gerd Langguth, einst RCDS-Vorsitzender, CDU-Vorstandsmitglied und Bundestags- abgeordneter, jetzt Professor für Politische Wissenschaft in Bonn, spricht gar von „Politaholics“, um die Persönlichkeits- veränderungen zu charakterisieren, die die „Droge Macht“ auslöst. Sucht. Droge. Entzug. Die meisten Poli- tiker benutzen die Begriffe aus der Jun- kie-Szene mit bemerkenswerter Beiläufig- keit. „Ich bin süchtig nach Selbstbestäti- gung“, bekennt beispielsweise die stellver- tretende SPD-Vorsitzende Renate Schmidt. Und Peter Gauweiler, Ex-CSU-Landesmi- nister, sagt: „Man muss sich von der Be- rufspolitik entwöhnen. Genauso wie man sich von Alkohol oder Nikotin entwöhnen muss.“ Sie tun so, als wären die Suchtvergleiche blasse Metaphern, harmlose Umschrei- bungen für eine etwas peinliche Besessen- heit. Sucht light sozusagen. Johannes Rau findet gar ein ganz besonders possierliches Bild: „Politik ist wie Nüsse knabbern. Hat man eine probiert, kann man nicht mehr aufhören.“ Wie aber, wenn Politiker wirklich süch- tig wären? Wie, wenn der Machtrausch tatsächlich eine Krankheit wäre, zumin- dest eine tief greifende soziale Deforma- tion? Wäre das nicht ein Schlüssel zum Ver- ständnis der selbstzerstörerischen Bor- niertheit, mit der sich viele an den Beruf klammern, der angeblich so wenig Gewinn abwirft – ideellen wie materiellen? Und hätte dann nicht auch der auffällige Rea- litätsverlust vieler Politiker eine Erklärung? Das Wort „Sucht“ kommt von „siech“,

englisch „sick“, was krank heißt, und kenn- FINCK / AP J. zeichnet einen Mangel, ein Defizit. Die CDU-Politiker Schäuble*: Einsamkeit sichtbarer als bei jedem anderen Wirklichkeit wird als unerfüllt oder be- drohlich erlebt. Die Drogen, ganz gleich oder körperliche Veränderungen her- und womit er diesen Zustand erlangt – mit ob es chemische Mittel sind oder stimulie- vorgerufen werden können, um sich der Rauschmitteln oder durch betäubende oder rende Tätigkeiten, dienen dazu, dieses De- Realität zu entziehen. „Wichtigkeits- stimulierende Tätigkeiten. Es sind nicht die fizit zu füllen. drogen“ nennt Wolfgang Thierse solche Drogen, die abhängig machen, sondern es Im engeren Sinn wären das Substanzen Stimulanzien, die wirksamsten sind Fern- ist ihre Wirkung. „Sucht“, schreibt der Of- – wie Alkohol, Nikotin oder Medikamen- sehauftritte. fenbacher Psychologe Werner Gross, „ist te –, die Funktionen des Organismus be- Wenn das laut gängiger Suchtdefinition eine Möglichkeit, dem Leben davonzulau- einflussen und Stimmungen verändern: „unabweisbare Verlangen“ nach einem be- fen, eine innere Leere auszufüllen.“ Hast du Kummer mit die Deinen, trink stimmten Gefühls-, Erlebnis- und Bewusst- Die breite Auslegung des Suchtbegriffs dich einen. Die Einschätzung, dass der seinszustand die Herrschaft über einen empfinden die meisten Politiker als de- Deutsche Bundestag bisweilen einer „Al- Menschen erlangt hat, ist es ihm egal, wie nunzierend. Sind sie denn alle Junkies? koholiker-Versammlung“ gleiche, Was soll ein Begriff wie zerstörerisch? „Wir stammt vom Abgeordneten Joschka bringen uns doch nicht um“, sagt Wolfgang Fischer. „Man muss sich von der Berufspolitik Schäuble. Im weiteren Sinn verstehen entwöhnen. Genauso wie Jeder Politiker ist – wie jeder Workaho- Suchtexperten als Drogen auch lic, jeder Computerfreak oder jeder fröhli- „personale oder apersonale Mittel“ man sich von Alkohol oder Nikotin – also etwa Arbeit, Beifall, Erfolg –, * Beim CDU-Parteitag in Essen 2000, vor der Wahl Angela mit denen Verhaltens-, Gefühls- entwöhnen muss.“ Merkels zu seiner Nachfolgerin im Parteivorsitz.

82 der spiegel 24/2002 schon war er stellvertretender Landesvor- sitzender. Schlag auf Schlag ging es weiter: In den Kieler Landtag zog er mit 27 Jahren ein, mit 29 führte er die CDU-Fraktion, mit 34 war er Finanzminister, und im Oktober 1982, Barschel war 38 Jahre alt, wurde er Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Fünf Jahre später war Uwe Barschel tot. Und Bischof Ulrich Wilckens, der Vorsit- zende der Nordelbischen Kirche, sah im plötzlichen Ende des Ministerpräsidenten ein politisches, ja, ein gesamtgesellschaftli- ches Symptom. In seiner Trauerrede sagte er: „Solange es schlicht als Katastrophe gilt, wenn die einen die anderen in der Macht ablösen und die Macht zu verlieren als eine Schande gilt, so lange werden alle durch Jahrhunderte bekannten Gefahren der Machtsucht vielfache und vielfältige Chan- cen bekommen, unserem Gemeinwesen,

DPA gerade dem demokratisch verfassten, in sei- Polit-Aussteiger Lafontaine, Sohn Carl-Maurice (1999): Existenzielle Kränkung ner Wurzel zu schaden. Und es steht sehr zu befürchten, dass hier der eigentliche Herd der Krankheit von uns allen liegt, die Uwe Barschel so jählings hingestreckt, aber auch viele andere befallen hat.“ Jählings? Gewiss, dass der Politiker unter myste- riösen Umständen tot in der Badewanne ei- nes Hotels in Genf gefunden wurde, kam als ein Schock. Aber war es denn so, dass man das Unheil nicht hätte heraufziehen sehen können? Waren Barschels verzwei- felte Anstrengungen, sich an die Macht zu klammern und sein Glück zu zwingen, tatsächlich so ungewöhnlich? Damals sorgten in der linken Bonner Po- lit-Kneipe „Provinz“, wo die Regierenden von heute ihre Karrierepläne schmiedeten, die Nachrichten aus Kiel für Bedrückung. Wie geht es Engholm? Björn ist fertig, der will in die Förde. Am Ende wurden die Selbstzweifel in Bier ertränkt. Heute schwelgt Vizekanzler und Außen- minister Fischer von den Grünen in Berg- steiger-Bildern, um die extremen Belas-

MARKUS SCHREIBER / AP MARKUS tungen zu beschreiben, die Politiker auf Zurückgetretene Gesundheitsministerin Fischer (2001): „Jetzt ist es vorbei“ der letzten Etappe ihres Weges zum Gipfel aushalten müssen. Mit fast kindlicher Be- che Zecher – selbst dafür verantwortlich zu erkannt zu werden ist das Hauptziel jedes wunderung, die vor sich selbst keineswegs erkennen, wann süchtige Entgleisungen Süchtigen. Es ist auch das Bestreben jedes Halt macht, beschreibt er strahlend die sein Leben zu beherrschen beginnen. Die Politikers in der Medienwelt. Strapazen auf dem Marsch zum Gipfel – zunehmende Fülle der öffentlichen Äuße- Regierung, Kanzlerschaft, das sind für Fi- rungen zu diesem Thema deuten darauf 3. POLITIK IST NICHTS NETTES scher die Achttausender der Politik. hin, dass sich viele Polit-Profis der psychi- Er hat es geschafft, sich selbst sieht er auf schen Unfallgefahr an ihrem Arbeitsplatz chon als Primaner nannte er als Be- dem Mount Everest: „Da ist die Luft dünn bewusst zu werden beginnen. Srufsziel „Bundeskanzler“. Später sagte und der Wind eisig.“ Welche Verhaltensweisen – exzessiv be- er im Fernsehen: „Vielleicht werde ich mal Bis auf 7000 Meter brächten es viele Ta- trieben – dann wirklich den Namen Präsident der Vereinigten Staaten von Eu- lente, höhnt Fischer mit genüsslichem „Sucht“ verdienen, ist weniger eine ropa.“ Schaudern. Auf den letzten Metern aber Frage der wissenschaftlichen Definition Tatsächlich galt Uwe Barschel, Doktor sieht er viele festgefrorene Politikerleichen als ein Grundproblem der Mediengesell- der Juristerei und der Politologie, in der in der Wand hängen. Eine heißt für ihn ge- schaft. CDU als einer der kommenden Leute. Er wiss Andrea Fischer. Er hielt sie immer für Denn die Parallelen drängen sich auf. gehörte – 1944 geboren – jener Aufsteiger- eine „Heulsuse“. Wenn der Nutzen des Drogenkonsums Generation an, die heute regiert – in Ber- Unabhängig von Intelligenz, politischer Entlastung von Ohnmachtsgefühlen, Krän- lin, in München, in Kiel. Doch er wollte Phantasie und menschlicher Reife ist es kungen und Selbstwertzweifeln ist – wo ist schneller sein: Mit 16 Jahren trat er in die vor allem eine Frage der Härte, ob einer bis der Unterschied? Wahrgenommen und an- Junge Union ein, als 25-jähriger Student an die Spitze durchhält. Teil einer syste-

der spiegel 24/2002 83 Titel matischen Lebensplanung ist ten. Die Zweckbündnisse der „Politik als Beruf“ nur in Politik zerbrechen bei verän- Ausnahmefällen. derter Lage. Die Erfahrun- Bloß knapp ein Sechstel gen des Aufstiegs machen sie der westdeutschen Abgeord- misstrauischer. Sie kennen neten bringt sich, nach den sich aus mit der Angst vor ei- Erkundungen des schleswig- genen Fehltritten und der holsteinischen CDU-MdB Heimtücke anderer. Das Wolfgang Börnsen, gezielt macht sie „beinhart“ (Schrö- als Kandidat für den Bun- der) und zynisch. destag ins Gespräch. In Ost- „Jeder, der Erfolg hat – deutschland ist es nur jeder und das heißt auch, sich Zehnte. durchsetzen –, wird Gegner Politik ist learning by hinterlassen, Enttäuschungen doing. Das, findet Andrea Fi- produzieren, auch Wut. scher heute, ist das größte Dann heißt es, er geht über Handicap in diesem Beruf: Leichen“, rechtfertigt sich Man wird nur durch Schaden Joschka Fischer. klug. Dass sie viel kämpfen Wer dazu noch der Ver- musste und viel einstecken, führung erliegt, die das Wort findet sie in Ordnung. „Poli- „Macht“ suggeriert, wird tik“, sagt sie, sei „niemals ir- hart bestraft. gendwie Ringelpiez mit An- Irmgard Schwaetzer hat es fassen, also irgendwas Net- erfahren, die frühere FDP- tes. Wer kuscheln will, sollte Generalsekretärin und Bau- was anderes machen“. ministerin, die sich über Um sich gegen Verletzun- ihren Aufstieg ein bisschen gen zu wappnen, lernen Spit- zu unverhohlen gefreut hat- zenpolitiker, sich emotional te. „Macht“, bekannte sie zu reduzieren. Vielleicht ist Herlinde Koelbl, „Macht ist das die Voraussetzung dafür, ja mehr, als nur bestimmte überhaupt ins politische Inhalte durchsetzen zu kön- Hochgebirge aufzusteigen. nen. Die öffentliche Auf-

Sie spalten ganze Bereiche EINGER / ARGUM THOMAS merksamkeit schmeichelt ihrer Persönlichkeit ab, ver- Christdemokrat Heiner Geißler (1994): Eine Frage der Härte dem Ego. Und es gibt auch weigern das Nachdenken ein Gefühl der Superiorität, über Fehler und Niederlagen, wehren Noch drastischer gab Karlheinz Blessing, das mit Macht verbunden ist: das Gefühl, Selbstzweifel ab, suchen Schuldige an- einstiger Gewerkschaftsfunktionär und ein bisschen mehr zu sein als die anderen.“ derswo und klammern sich so an eine ehemaliger Bundesgeschäftsführer der Den Preis für ihren Ego-Trip gab sie spä- durchsetzungsfähige Siegerversion von sich SPD in Bonn, Herlinde Koelbl seine Er- ter bekannt: harte Jahre. Verlust der ersten selbst. Diese emotionale Verarmung neh- fahrungen zu Protokoll: „Mit der normalen Ehe. Einsamkeit. „Sozusagen die innere men die meisten gar nicht wahr. Verwundbarkeit des Menschen könnten Wüste, wo man nicht weiß, was jetzt ei- Sie wissen nicht viel über sich und damit Sie in solchen Jobs nicht überleben. gentlich wird.“ auch nicht über andere. Das macht sie Und Sie müssen auch normale mensch- Irmgard Schwaetzer hat ihre Leidens- handlungsfähig. „Mangel an Menschen- liche Rücksichtnahmen verdrängen, müs- zeit überlebt. Uwe Barschel ging an ihr zu kenntnis ist eine der wichtigsten Führungs- sen eine Brutalität an den Tag legen im Grunde. Bis heute weigern sich die Bar- voraussetzungen in der Politik“, hat Holger Abstoßen und Bekämpfen von anderen. schel-Familie und viele politische Profis zu Börner, lebenslanger Berufspolitiker und Politiker halten das alles nur aus, indem sie akzeptieren, dass der ehrgeizige junge Mi- Ex-Ministerpräsident von Hessen, einmal menschliche Regungen sich selbst und an- nisterpräsident freiwillig aus dem Leben deren gegenüber weitgehendst aus- geschieden sein könnte. Denn dann wäre „Jeder, der Erfolg hat, wird Gegner blenden.“ „der Fall Barschel“ tatsächlich eine Ex- Gehärtet im Konkurrenzkampf tremvariante der professionell üblichen De- hinterlassen, Enttäuschungen mehr mit den Kollegen der eigenen formation durch Machtsucht. Das Volk, wie Partei als gegen die Widersacher bei seine gewählten Vertreter, hätte sich fragen produzieren, auch Wut. Dann heißt den anderen und fixiert auf den per- müssen, ob nicht grundsätzlich etwas schief es, er geht über Leichen.“ sönlichen Erfolg, haben Politiker zu- läuft in der politischen Klasse. meist ein rein instrumentelles Ver- Dass Barschel mit kriminellen Mitteln hältnis zu ihren Mitmenschen. Höh- versucht hatte, seinen SPD-Konkurren- gesagt. Das war keineswegs als Witz ge- nisch hat vor dem Bundes- ten Björn Engholm zu diffamieren, um meint. tags-Untersuchungsausschuss berichtet, wie ihn im Wahlkampf zu besiegen, hatte Selbstzweifel, schon auf früher Karrie- sich „wichtige Leute aus der deutschen Ge- der SPIEGEL unmittelbar vor dem Wahl- restufe hinderlich, bedeuten auf oberster sellschaft absentieren“, sobald „man nicht tag im September 1987 aufgedeckt. Bar- Ebene einen Anschlag auf die eigene poli- mehr oben ist“, Leute, die sich zuvor in schel leugnete mit „Ehrenwort“ in einer tische Existenz. „Wenn man am Morgen sein Dienstzimmer drängten, „um auf mei- bundesweit übertragenen Fernsehpresse- aufwachen und über seine eigenen cha- nem Schoß zu sitzen, aber nicht aus Grün- konferenz. rakterlichen Defizite nachdenken würde, den, die sonst beim Schoß wichtig sind“. Wenig später fand man seine Leiche. käme man nicht mehr zur Arbeit“, hat Kohl abwinkend: „Das gehört zur Macht.“ „Vielleicht“, glaubt Erhard Eppler, „ist Gerhard Schröder bekannt, als er noch öf- Im glücklichsten Fall bleiben dem poli- Politik an der Grenze dessen angesiedelt, fentlich über sich reflektierte. tischen Star ein paar private Freundschaf- was Menschen leisten können, ohne, um es

84 der spiegel 24/2002 Titel

Publikum vor dem Kanzleramt, Parlamentsbesucher*: Der Politiker wird zum Vertrauten und Nachbarn, die Wähler leiden mit ihm und biblisch zu sagen, Schaden zu nehmen an mer 1998 für einige Tage in Weinhofers Hei- schen Genossen sein größter Auftritt in ihrer Seele.“ matstadt Eichstätt und schickte sich an, Bonn. Danach gab es keinen Zweifel mehr, Uwe Barschel war dafür ein perfektes Kanzler zu werden. Stürmische Umarmung dass er einer von denen da oben geworden Beispiel, zumal er seine geltungssüchtige auf dem Marktplatz. Hatte ihm „Charly“ war. Man redete über ihn. Betriebsamkeit offenbar noch zusätzlich nicht 1980, als sie beide als Neulinge in den Ihn ärgerte das. Denn er war nicht auf mit großen Mengen Medikamenten an- Bundestag einzogen, vorausgesagt, es wer- dem Bildschirm erschienen, weil er etwas heizte, um sich unter dem Druck wech- de den Niedersachsen einmal holzgeschnitzt gefragt worden wäre oder etwas zu sagen selnder psychischer und physischer als Marionette geben? Nun hing Schröder gehabt hätte. Weinhofer kam groß ins Bild, Schwierigkeiten einsatzfähig zu erhalten. schon als Nussknacker in den Läden. als er beim Aufruf zur namentlichen Ab- Von mehreren Ärzten hatte sich Barschel Weinhofer selbst war in der Politik nichts stimmung in alphabetischer Reihenfolge seit 1986 extrem hohe Dosen eines „Angst- Spektakuläres gelungen. Genau genom- unmittelbar auf Herbert Wehner folgte, löser“-Psychopharmakons verschreiben men hatte er in den sieben Jahren, in de- den die Kamera festhielt. lassen, das Abhängigkeit erzeugen kann. nen er ab 1980 im Bundestag saß, nicht Dieses Ergebnis hat der Ex-Abgeordne- Die Wirkung war im Wahlkampf un- einmal herausgefunden, was eigentlich die te im Sinn, wenn er heute sagt, er sei froh, übersehbar. Im schummrigen Licht eines Leistung eines MdB ist. dass er nicht mehr dabei ist. Festzeltes in Alt Bennebek konnten 400 Seine Anwesenheit im Plenum? Die Zahl Missen möchte er die Zeit in Bonn nicht, Unionsfreunde, die ihren heldenhaften seiner Anfragen? Eine minimale Textän- auch wenn „die Familie dabei draufgegan- Uwe feiern wollten, den Ministerpräsiden- derung in einem Gesetzentwurf? Lobende gen ist“. Er ist geschieden, den Kindern ten kaum erkennen, wie er da einsam, fei- Erwähnung in der Lokalpresse? entfremdet. Doch das Ganze noch einmal? erlich und mit vor Schwäche fast vibrie- Einmal ist Karl Weinhofer im Fernsehen „Jetzt nicht mehr.“ render Spannkraft langsam die Hand zum erschienen. Das war in den Augen seiner Weinhofer muss sich nur das Schicksal Gruß hob. Familie, vieler seiner Freunde und heimi- seines einstigen Gegenkandidaten Horst Weil aber alle sehen sollten, dass Uwe Barschel drei Monate nach dem Flugzeug- Unglück von Lübeck, bei dem drei Men- schen starben und nur er – mit schweren Rückenverletzungen – überlebte, trotz al- lem „wieder voll da“ war, kletterte der Ge- stürzte zum Schrecken seiner Freunde auch noch wacklig auf einen Stuhl. Für meine Karriere mache ich alles, hieß das, für Beifall riskiere ich mein Leben – im wahrsten Sinne des Wortes. Es konnte ihm nichts mehr wert sein, als der Erfolg ver- siegte. 4. DER ALLMÄHLICHE ABSCHIED VON DER WIRKLICHKEIT as Erfolg ist in der Politik, das hat Wder Sozialdemokrat Karl Weinhofer, 60, eigentlich nur bei seinem Freund Ger- hard erkennen können. Der kam im Som-

* Rechts: beim Tag der offenen Tür im April im Paul- / KNESEBECK VERLAG KOELBL HERLINDE FOTOS: Löbe-Haus, mit Kanzler Schröder als Pappfigur. CDU-Politikerin Merkel (1991, 1991, 1996, 1998): „Ich will kein halbtotes Wrack sein,

86 der spiegel 24/2002 Dort hetzte er dann durch den Wahl- kreis. Pro Jahr fuhr er zwischen 26000 und 28000 Kilometer. Er informierte, belehrte, manipulierte. „Die Zufuhr von Eitelkeit“, sagt er, „ist nicht zu unterschätzen.“ Viel hat sich nicht geändert in den fol- genden 20 Jahren. Auch heute kommen die Neulinge mit Kraft, Optimismus, Idea- len und Dynamik in die Hauptstadt. Sie sind aufgestiegen in die Bundesliga der Po- litik, nun wollen sie etwas bewegen, be- wirken, auf die Reise bringen, anstoßen, durchboxen. Doch nur allzu bald wird ih- nen klar, dass sie auf ein Terrain gelangt sind, das ihre Vorgänger fest im Griff ha- ben. So fühlte sich der SPD-Bundestags- Novize Carsten Schneider aus Erfurt, als er frisch gewählt 1998 in Bonn eintraf, als be- träte er eine eroberte Stadt: „Da war alles festgelegt. Da waren ganz feste Struktu-

JOSE GIRIBAS / IMAGES.DE (L.); / IMAGES.DE JOSE GIRIBAS (R.) / G.A.F.F. BORIS GEILERT ren. Von den Kneipen angefangen bis hin freuen sich bei seinen Erfolgen zu den Büros.“ Den Nächsten wird es in Berlin nicht an- Seehofer von der CSU vor Augen führen, chanismus, in dem du verloren gehst, wenn ders gehen. Da die politische Sozialisation um abgeschreckt zu werden. Der Ex-Ge- du dich nicht auf deine Individualität und die Rekrutierung des Nachwuchses sundheitsminister hatte trotz Warnung sei- besinnst.“ Aber die muss einer erst mal fast ausschließlich über die Parteien laufen, ner Ärzte und klarer Gefahreneinsicht eine haben. haben die Bundestagsaspiranten schon bei Grippe verschleppt und sich mit einer Mit Schrecken hatte Weinhofer gesehen, der Kandidatenaufstellung gelernt, wem Herzmuskelentzündung an den Rand des wie er Fett ansetzte, neun Kilo außen, zent- sie sich zu unterwerfen haben. Sie wissen, Grabes gearbeitet. Nun will er wieder in nerschweren Seelenspeck innen. Immer dass sie Bündnisse brauchen, Mehrheiten den Wahlkampf einsteigen, „allerdings träger funktionierte er, während nicht mehr mit 150 Prozent, sondern nur er sich immer gehetzter fühlte. Neulinge kommen mit Idealen und noch mit 100“. Von Hupton (Auszählung), Weinhofer, der den erfolgreichen See- Klingelzeichen (einfache Ab- Dynamik in die Hauptstadt. Doch hofer stets beneidet hatte, gibt sich jetzt stimmung), Gong (der Präsi- erleichtert: „Der Stress ist doch noch viel dent) und Glockengeläut (Mor- bald wird ihnen klar, dass ihre Vorgänger größer geworden. Die Rolle der Medien genfeier), durch Lautsprecher das Terrain fest im Griff haben. noch bedeutender. Nein, von dieser Sucht und Telefon, von roten Licht- bin ich jetzt geheilt.“ signalen und weißen, durch Sucht? Mit der Vorstellung, „eine Drucksachen auf gelbem, grünem oder organisieren müssen, dass ihnen Kompro- Möglichkeit zum Gestalten“ vorzufinden, rosa Papier ist er sicher geleitet worden. misse und Zugeständnisse abverlangt wer- war er nach Bonn gekommen. Tausend Wann’s Freitag war, hat er ohnehin ge- den. Tage später waren ihm seine Gestaltungs- wusst. Das war, wenn er den Frust über Kein Routinier der politischen Klasse flausen vergangen. „Du wirst konditio- Bonn und das Heimweh nach Bayern nicht hat die Geschichten seiner Einebnung niert“, erklärte er, „wirst Teil eines Me- einen Tag länger zu ertragen schien. durch Frust, Schikane und Selbstunter- werfung vergessen, die sozusagen die erste Übung zum Eintritt in die Sphäre Politik kennzeichneten. Vor dem Gewissen, dem die Abgeordneten laut Grundgesetz allein unterworfen sind, kommt im richtigen Le- ben allemal der Fraktionsgeschäftsführer. Dass man Recht hat, verschafft keine Sympathien in der Fraktion. Dass man sei- ne Meinung in die Medien lanciert, schon gar nicht. Der CDU-Abgeordnete Fried- bert Pflüger, vor seiner Wahl ins Parlament Pressesprecher des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, brauchte vier Jah- re, bis er begriff, „dass es wichtiger ist, vier gute Freunde in der Fraktion zu haben als einen schönen Artikel in irgendeiner Zei- tung“. Immerhin geht es heute nicht mehr so robust zu wie in den siebziger Jahren, als noch alle Sozialdemokraten vor dem le- gendären Fraktionschef Herbert Wehner zitterten. Manfred Coppik etwa, ein rabia- ter Linker aus Offenbach, meinte sich da- wenn ich aus der Politik aussteige“ mals gegen einen Abstimmungsvorschlag

der spiegel 24/2002 87 Titel des „Onkels“, wie Weh- ner genannt wurde, un- ter Berufung auf seinen heimischen Ortsverein wehren zu müssen. Prompt wurde er zum Chef beordert. Der las Akten und ließ Cop-

pik lange Minuten un- DPA beachtet vor seinem SPD-Politiker Glogowski* Schreibtisch stehen. Schicksalhafte Niederlage Auf einmal aber begann der grimmige Alte leise tes Zeichen, wenn man so viel arbeiten und stoßweise zu mur- muss.“ meln, ohne aufzubli- Im Gegensatz zum früheren Bundes- cken. „Manch einer“, kanzler Helmut Schmidt, der einen Kabi- hörte Coppik ihn vor nettsneuling mit triumphierendem protes- sich hin grummeln, „in tantischem Pflichtgeheul „im Kreise der dieser Stadt stirbt ganz Workaholics“ begrüßte, empfindet Nida- langsam.“ Pause. „Aber Rümelin diesen Begriff eher als Alarm- manch einer, Genosse signal denn als Kompliment: „Das kann zu Coppik …“, und da einer echten Krankheit werden.“ richtete er sich plötzlich Im Normalfall ist Max Webers „starkes, auf und brüllte: „stirbt langsames Bohren von harten Brettern“ ganz schnell.“ Ende der noch immer die alltägliche Aufgabe des Audienz. Berufspolitikers. In unzähligen Telefona- Weder Fischer noch ten, Gesprächen, E-Mail-Diskussionen, in Schröder, nicht Kohl Sitzungen, Gremien und Anhörungen ent- und nicht einmal Ange- scheiden fachliches Know-how, taktisches la Merkel, die mit ei- Gespür und kommunikatives Geschick nem Sonderbonus Ost über den politischen Einfluss der Akteure. aufstieg, sind solche Das ist die eine Seite. Die andere ist, Erlebnisse erspart ge- dass sich dieser Betrieb verselbständigt, blieben. vom Mittel zum Zweck wird, um den alles Der erste Schock Denken kreist. trifft vor allem Idealis- Die wenigsten Spitzenpolitiker schaffen ten ins Mark. Alle ma- es, sich zumindest in den Ferien Muße zu chen die gleichen Er- gönnen. Wenn Joschka Fischer in der Tos- fahrungen. Sie werden kana „faulenzt“, wie er sagt, dann schreibt

in Berlin nie gelobt und PRESS ACTION er Bücher, liest dazu nötige Literatur, läuft in ihren Wahlkreisen CDU-Politiker Barschel*: Geltungssüchtige Betriebsamkeit bis zu 30 Kilometer am Tag und telefoniert angemacht. mit dem Amt oder Kollegen in aller Welt: Freundschaften gehen auseinander. „Die Das Leben sei derweil an ihm vorbeige- „Im Nebengebäude ist ein Büro des Aus- Distanz wächst“, hat Carsten Schneider rauscht, erzählte der gescheiterte Krause wärtigen Amts eingerichtet.“ festgestellt, „die denken alle: Der hat sich später: „Einmal fragte ich meinen Chauf- Das kann Spaß sein, wie Fischer be- verändert. Wenn man abends in die Disco feur, warum es so warm sei. Er sagte: ‚Die hauptet, Gewohnheit, wie der einstige geht, wo man früher ganz normal behan- Sonne scheint, es ist Sommer.‘“ SPD-Chef Hans-Jochen Vogel seine per- delt wurde, wird man jetzt plötzlich ange- So war es damals, sagt Günther Krause. manenten Aktivitäten verteidigte, es kann macht oder zu später Stunde beschimpft.“ So ist es immer. Die Politik frisst ihre aber auch Betäubungsmittel sein gegen den Dabei sind sie im Plenum nur Hinter- Leute. Schmerz des Leerlaufs. bänkler. Den begehrten Platz vor den Ka- Denn was eigentlich die Macht ist, meras, den großen Auftritt an der Rampe Was eigentlich die Macht ist, die sie so hartnäckig angestrebt ha- der politischen Bühne, den mussten sich ben, wissen am Ende die wenigsten auch die Spitzenpolitiker von heute auf die sie so hartnäckig angestrebt konkret zu beschreiben. Entscheiden, Dauer hart erarbeiten. Blitzkarrieren er- gewiss. Aber wo ist die richtige Posi- eignen sich nur in historischen Ausnah- haben, wissen am Ende die tion dafür? mesituationen wie der deutschen Vereini- wenigsten konkret zu beschreiben. Im Prinzip, sagt die SPD-Bundes- gung, und die enden oft auch wieder blitz- tagsabgeordnete Ute Vogt, ist man artig – wie bei Lothar de Maizière oder ständig auf der Suche und stößt Günther Krause. Über 90- bis 120-Stunden-Wochen immer an Grenzen. Dass so Sucht entsteht, Der fühlt sich heute, da er in Rostock stöhnen alle, die es im Berliner Betrieb kann sie sich vorstellen. „Du fängst an wegen Millionenbetrugs vor Gericht steht, geschafft haben oder es noch zu etwas zu arbeiten, bist irgendwann sogar im als Opfer des politischen Betriebs. „Es hieß bringen wollen. „Damit brüste ich mich Bundestag, hast wunderbare Ideen und arbeiten, arbeiten“, erinnerte er sich in nicht“, fügt Kulturstaatsminister Julian kannst Gesetze beschließen. Bis du merkst, einer jammerigen „Bild“-Serie. Nida-Rümelin hinzu, „denn es ist kein gu- du bist doch auf das Ministerium an- „Sitzungen, Gespräche und Verhand- gewiesen, und es ist überhaupt nicht so, lungen mit Wirtschaftsbossen und Politi- dass du selbst als Gesetzgeber alles in * Mitte: bei seiner „Ehrenwort-Pressekonferenz“ 1987; kern. Alles neu lernen. Vier Stunden Schlaf oben: mit Ehefrau Marianne, bei einem Ägypten-Urlaub der Hand hast. Dann denkst du irgend- mussten reichen.“ 1999. wann, wenn ich erst einmal im Ministe-

90 der spiegel 24/2002 nischer Lesung“ sein Fassade der Berliner CDU-Zentrale war- Leben vorspielten. ben wie für Kino-Uraufführungen. „Hamlet“, dritter Kantig? Echt? Erfolgreich? Stoibers Akt, zweite Szene? Schauspieler-Vorwurf ist naiv. In der Me- Auftritt der Komödi- dienwelt mit den allgegenwärtigen Kame- anten-Truppe am dä- ras wird der Herausforderer seine Echtheit nischen Königshof? ebenso überzeugend darstellen müssen, Nein, Gerhard Schrö- wie Schröders Darstellung echt sein muss. der bei einer Kultur- Und damit hat Stoiber Probleme. Kurze veranstaltung in der Sätze? Klare Aussagen? Das ist nicht seine Sky-Lobby seines Art. Das will gelernt sein. bühnenhaften Kanz- Edmund Stoiber übt. Mit geradezu über- leramts. Der Kanzler wältigender Leutseligkeit begrüßte er am bewegte sich mit der Freitag vor der Sachsen-Anhalt-Wahl in Sicherheit eines Star- seiner Münchner Staatskanzlei einen schauspielers – jede Schüler, der – als Beitrag für einen Ju-

BRÜCHMANN / DPA BRÜCHMANN Geste auf Wirkung gendwettbewerb – einen Film für den CSU-Politiker Streibl (1990): Abschied von der Macht berechnet, keine Be- Bayerischen Rundfunk drehte. Der junge wegung übertrieben. Mann – glatt, korrekt und so überwälti- rium säße, hätte ich noch weit mehr Ein- Er lebt von der Macht der Bilder, die gend bayerisch wie Lothar Matthäus jr. – fluss.“ Mediengesellschaft von den Bildern der zückte das Mikrofon. Oder ob sie vielleicht doch besser gleich Macht. Ist der SPD-Politiker Schröder des- Stoiber stellte sich in Positur. Er sah aus Kanzlerin werden sollte? wegen nur eine Phantomexistenz? Wird wie immer: korrekt, glatt und sehr, sehr der Wahlkampf Schröder gegen Stoiber deutsch. Hinter sich die weiß-blaue Lan- 5. ALLES THEATER zwangsläufig zum bloßen „Wettbewerb der desfahne, neben sich einen sprunghaften besten Entertainer“, wie der bayerische bayerischen Löwen, vor sich einen Bron- ntendant Volker Hesse vom Berliner Ma- Ministerpräsident unterstellt, der den am- zekopf von Franz Josef Strauß. Er war gu- Ixim Gorki Theater hätte die Handlung tierenden SPD-Kanzler ablösen will? ter Dinge, sehr guter Dinge. Offenbar kann- nicht schöner inszenieren können: Dekora- Die Berater des CSU-Chefs versuchen te er schon die Prognosen aus Magdeburg. tiv lümmelte sich der Herrscher im Kreise ihren Kandidaten als kantige, echte, erfolg- „Herr Ministerpräsident, was ist für Sie seiner Gefolgsleute auf den Stufen einer reichere Kontrastperson zu dem angebli- das Besondere an Bayern?“ theatralischen Treppe, um einer Gruppe von chen Medienkasper Schröder zu verkau- Natürlich war das eine Frage, auf die Schauspielern zu lauschen, die ihm in „sze- fen. Doch haushohe Stoiber-Plakate an der Stoiber kilometerlange Antworten wüsste. Titel

Ob andere das Show nennen, ist ihm egal. Dass Stoiber so tut, als wäre nur er echt, belus- tigt ihn. Denn „dass das Handeln authentisch ist“, ist auch Schröder wich- tig. „Die Darstellung muss was mit der Person zu tun haben, die das macht.“ Keine Frage, dass Poli- tik auf diese Weise mehr und mehr auf ihren Vor- dergrund verkürzt wird – auf ein chaotisches Spek- takel, getragen von Haupt- und Staatskerlen, von Skandalen, Macht- kämpfen und Affären. Und dass die Helden ein bisschen mächtiger wir- ken, als sie sind. Staunend und ein biss- chen erschrocken er- kannte der PDS-Frak- tionschef Gregor Gysi nach zehn Jahren im Par- lament der kapitalis- tischen Bundesrepublik: „Politiker sind oft hilf- los, ohnmächtig, überfor-

MICHAEL KAPPELER / DDP MICHAEL KAPPELER dert.“ Plakat mit Fischer und Schröder, Fassadenkletterer (2001): Jede Geste auf Wirkung berechnet Allerdings geständen sich die meisten die Be- Aber er sollte ja echt sein. Also kantig. viewerin Sandra Maischberger. Warum? grenztheit ihrer Wirkungsmöglichkeiten Und kurz. Deshalb sagte Stoiber knapp, „Zum Beispiel, um jemanden davon zu nicht ein, ergänzte der jetzige Berliner aber freundlich: „Das Besondere an Bay- überzeugen, dass er gefälligst auch empört Wirtschaftssenator. Im Gegenteil: „Politi- ern ist, dass es gelungen ist, große Tradi- sein soll.“ ker sind an dem trügerischen Bild, das über tionen in Kultur und Wirtschaft zu be- Tatsächlich waren Schmidts exakt durch- sie existiert, sogar interessiert.“ gründen. Also: Laptop und Lederhose.“ stilisierte Wutausbrüche bei Wahl- Dabei hilft ihnen die reale Ausstattung „Ja“, sagte da der junge Mann erfreut, kampfauftritten – „Ich habe die Schnauze ihres Arbeitsplatzes. Denn die Luftwaffen- „vielen Dank.“ Und schaltete das Mikrofon voll bis obenhin“, pflegte er loszubrüllen, jets, die gepanzerten Limousinen und die aus. während er sich mit der Handkante die Suiten in Luxushotels, die den Spitzenleu- „Wie, das war’s schon?“ Nun war Ed- Gurgel zu zerschneiden drohte – von gleich ten in ihren demokratischen Ämtern ein ki- mund Stoiber wirklich konsterniert. Das bleibend authentischer Spontaneität, bis nohaftes Königsleben ermöglichen, sind ja wollte er doch noch ausführen. Im Einzel- zu fünfmal am Tag. keine Attrappen. Der Luxus ist der Si- nen. Was typisch ist. Wo also blieben die Wie einst Schmidt hat heute auch Ger- cherheit geschuldet und der Funktionalität Zusatzfragen? „Wollen wir’s noch mal ma- hard Schröder nicht die geringsten Skrupel, des Amtes, gewiss; verführerisch ist er chen?“ seine Politik zu inszenieren. Wenn der trotzdem. Alles signalisiert: Wichtig! Very Den Theater-Vorwurf finden die important person! jüngeren Politiker aller Parteien al- Politiker gefallen sich Kann es verwundern, wenn der eine bern. Die Heuchelei war unüber- oder andere sich womöglich unersetzlich hörbar, als nach dem Geständnis immer aufs Neue, wenn sie sich findet mit der Zeit? Stets sitzen sie in der des saarländischen Ministerpräsi- ersten Reihe, immer wollen sie das Beste, denten Peter Müller, dass Kanzler- in der „Tagesschau“ sehen: Applaus ist ihnen sicher. Schnell haben sie kandidat Stoiber und die anderen Guck, da bin ich schon wieder. rausgefunden, welche Gesten und welche Unionspolitiker im Bundesrat Floskeln beim Publikum ankommen. Und „spontane“ Empörung über die sie werden ihrer eigenen Erfolgstiraden nie umstrittene Abstimmung zum Zuwande- Theater-Begriff Inszenierung auf der poli- überdrüssig. Sie gefallen sich immer aufs rungsgesetz vorher verabredet und geplant tischen Bühne bedeutet, dass die Darstel- Neue, wenn sie sich im Radio noch einmal hätten, ein zorniges Geschrei anhob. lung von bestimmten Sachverhalten auf hören oder in der „Tagesschau“ sehen: Das war Theater? Na und? Ex-Kanzler Wirkung berechnet und symbolisch ver- Guck, da bin ich schon wieder. Helmut Schmidt räumte jetzt ein, dass dichtet ist – was sollte daran falsch sein? Sollten sie es nicht selbst registrieren, er schon vor mehr als 20 Jahren ziel- „Die Politik braucht Darstellung“, sagt er, hilft die Umgebung. „Hans-Dietrich, du führend geschauspielert hat: „Manchmal „man kann Politik nicht nur begreifen als bist im Fernsehen“, gellte mütterliches müssen Sie Ihre Empörung für das Publi- Durchsetzung von Inhalten. Man muss sie Triumphgeschrei durch die Genscher-Villa kum inszenieren, ob mit oder ohne Fern- auch begreifen als Vermittlung dessen, was im Bonner Vorort Pech, sobald der sehen“, erklärte er unlängst seiner Inter- man meint.“ Außenminister während seiner Amtszei-

92 der spiegel 24/2002 Titel ten über den Bildschirm flim- merte. Der Blick für die kleinen Schwierigkeiten des Alltags verliert sich, wenn einem jede Tür aufgerissen, jede Fahrkar- te besorgt wird. Telefonpart- ner sind prompt in der Lei- tung. Alles scheint möglich. In der Umgebung von Macht hal- ten alle Zerrspiegel der Täu- schung bereit. Die zeigen ei- nen öffentlichen Helden. Für die Betroffenen ergibt das eine seltsame Diskrepanz. Auf der einen Seite wird der Spitzenpolitiker zum Promi- nenten schlechthin. Völlig ent- individualisiert, geistert er als eine glorreiche Schablonen- Figur durch die öffentliche Landschaft, die mit einem nor- malen Lebewesen nicht mehr vergleichbar scheint. „In der Politik gibst du die Souveränität über dich auf“, hatte Gregor Gysi schon ge-

ahnt, bevor er in Berlin Sena- BECKER & BREDEL tor wurde, „du verfügst nicht CDU-Politiker Müller*: „Spontane“ Empörung gestanden mehr über dich: nicht über dein öffentliches Bild, nicht über dein schon die neuesten Umfragen? Wir sind Jetzt wird Außenminister Fischer von Image, nicht über deine Zeit.“ bestimmt gestiegen.“ vier kraftstrotzenden Sicherheitsbeamten, Das ist so geblieben. Aber zusätzlich Darsteller waren Politiker immer. Auch deren Mäntel kinoreif im Wind wehen, tri- lernt Gysi jetzt die andere Seite kennen: schon vor dem Zeitalter der elektronischen umphal ins Frankfurter Gerichtsgebäude Als Medienversion des Helden wird er Medien haben sie versucht, ihr Publikum zu geleitet, wenn er als Zeuge aussagt. Und ganz persönlich für alles haftbar gemacht, erreichen, Beifall einzuheimsen und sich Kanzler Schröder pflegt mehrmals täglich was in der Welt passiert. Er ist der, um den als glaubwürdig und überzeugend zu prä- aus dem gepanzerten Dienstwagen zu fe- sich alles dreht, im Positiven wie im Nega- sentieren. Heute, sagt der Philosoph Nor- dern, dessen Tür sein Fahrer aufreißt, um tiven. Wenn die Firma Herlitz in Berlin bert Bolz, ersetze der Politiker als Medien- die Hand zum Gruß zu recken, wenn nicht Pleite macht, dann stehen die Arbeitslosen star den charismatischen Führer. Es gilt die gar beide. bei ihm vor der Tür, klagt Gysi heute, nicht Maxime: „Sein ist Wahrgenommenwer- Immer zucken Fotoblitze, immer surren bei den Banken. den.“ Die politische Szene stellt dafür Kameras in einem Pulk von Journalisten, Alle Handlungen und Charaktere sind die Requisiten und die Kulissen bereit, die die – von den Sicherheitsleuten gedrückt – auf den politischen Hauptdarsteller ausge- in Berlin üppiger ausfallen als einst in Bonn. rückwärts vor den Heroen der Politik da- richtet: Er muss – möglichst mit Taten, auf Plötzlich residieren die Politiker der hinstolpern. Das Publikum kriegt weder jeden Fall aber mit Worten – den Dingen Bundesrepublik hinter mächtigen Mauern, das Gedrängel mit noch die Regenschir- einen Sinn geben, Orientierung schaffen. schreiten über weit schwingende Trep- me, die den Kanzler trocken halten, noch Das ist eine Überforderung, die schmei- pen, wandeln durch hehre Hallen und die Scheinwerfer, die sein Gesicht in einen chelt und nervt. Sie putscht die Akteure speisen in hohen Bankettsälen. rembrandtschen Lichtschimmer tauchen. auf und deformiert sie zugleich. Wenn der grüne „Die gesamte Gesellschaft nimmt teil an Bundestagsabgeordnete den Verletzungen“, sagt Angela Merkel, Joschka Fischer früher in „man ist sozusagen auf dem öffentlichen seine hessischen Wahl- Markt.“ veranstaltungen latschte, dann war er einfach da. 6. DIE SUCHT, SICHTBAR ZU SEIN „Tach, Joschka.“ Ger- hard Schröder ließ noch em Mann, der sich aus dem Getümmel 1998, als er schon acht Dvon Kameraleuten, Fotografen, Mi- Jahre Ministerpräsident krofonhaltern und Mitschreibern hervor- von Niedersachsen war, kämpfte, war vor Erregung und Bedeutung den Dienstwagen weit der Kopf hochrot angeschwollen. „Jetzt ist vor den Kundgebungs- er bestimmt 2,90 Meter groß“, spottete eine hallen halten: „Wir fah- ARD-Korrespondentin. Jürgen Mölle- ren nicht vor, wir kom- mann, stellvertretender FDP-Vorsitzender men.“ und gerade wegen seiner antisemitischen Wortwahl von den Führungsgremien der * Mit Ehefrau Astrid, bei einer

Partei gerügt, stürmte auf neu hinzutre- Karnevalsveranstaltung in Saar- PRESS / ACTION GRABKA THOMAS tende Reporter zu und fragte: „Haben Sie brücken im Februar. CDU-Zentrale (mit Stoiber-Plakat): Werben wie fürs Kino

94 der spiegel 24/2002 genannt. Stoiber: „Konserva- tiv bedeutet für mich auch, die Wirklichkeit als Wirklichkeit anzuerkennen. Wir müssen bereit sein, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, und müssen aufhören, sie verfor- men zu wollen.“ Das ist geradezu die Ver- ewigung der Reformstaus: Nur nichts ändern; nicht die Wirk- lichkeit und nicht die Sicht auf sie. Gerhard Schröder würde mit gleichen Argumenten, die er aber sozial nennen würde statt konservativ, den Status quo mittels einer Neuen Mitte garantieren. Dienstleistungspolitiker sind sie beide. Sie machen aus Tat- sachen Ansichtssachen, erset- zen durch symbolische Politik, was an Handlungen unter- bleibt. Verändert werden soll weniger die äußere Welt, sagt der Soziologe Claus Offe, „als das Bild, das wir uns von ihr

MARKUS SCHREIBER / AP MARKUS machen, und die Erwartun- CDU-Politiker Koch*: Theater für das Publikum inszeniert gen, die wir an sie richten“. Macht hat, wessen Wirklich- Abends sieht es auf den heimischen Bild- seine Zuhörer es denken. Vor allem sagt er keitsversion von der Mehrheit der Wähler schirmen so aus, als bummelte ein ent- nicht, was sie nicht hören wollen. geteilt wird. spannter Staatsmann lächelnd zu seiner In diesem Zusammenspiel zwischen dem Im Idealfall könnten Politiker ihren Arbeitsstätte, hier eine Autogrammkarte Volk und seinen gewählten Vertretern wird Wählern natürlich zumuten, das Störende signierend, dort ein paar Hände schüttelnd die Suchtgefahr am deutlichsten – die zu akzeptieren, das wäre staatsmännisch. – Politik macht Spaß. Wähler werden zu Co’s, wie es in der The- Im schlimmsten Fall lenken sie die Wut ih- Aus diesen Bildern erwächst Macht. Der rapiesprache heißt, zu Komplizen der von rer Klientel auf Sündenböcke. Das wäre Politiker wird zum Popstar, nicht notwen- sich selbst und ihren Privilegien Berausch- Demagogie. Im Normalfall aber rühren Po- dig zum Idol, aber zum Vertrauten und ten, die ihnen zum Dank die Welt schön- litiker nicht an Themen, die den Leuten Nachbarn, dem man ansieht, dass er zuge- reden. Einsichten oder Einbußen abverlangen. nommen hat, und auch, wann er schwin- Es geht um Wirklichkeit. Die krasse Rea- Immer häufiger entwickelt sich so eine delt. Die Wähler freunden sich mit ihm an, lität ist für niemanden uneingeschränkt er- wechselseitige Manipulation, mit der sich sehen, wie er schwitzt, wie die Mundwin- freulich. Für den Politiker aber, der ge- Politiker und Wähler in ihrer Gemütsruhe kel zucken, die Oberlippe zittert, sobald wählt wird, um den Bürgern ein möglichst bestätigen. Der Amtsinhaber erkundet ihre er unter Druck ist. Dann leiden sie mit. erfreuliches Leben zu gestalten oder we- Ängste und Wünsche. Und er macht ihnen Und sie freuen sich bei seinen Erfolgen. klar, dass er sie teilt. Sie spiegeln Die Erfolgskette ist simpel: Bilder fügen Der Politiker sagt, was er glaubt, sich in seinen Auftritten. Das von sich zum Image. Das Image bringt Stim- ärgerlichen und Furcht erregenden men. Die Stimmen öffnen die Türen zu dass seine Zuhörer es denken. Realitätsaspekten bereinigte Bild Ämtern – fertig ist die Macht. Das gilt für der Welt wird verfestigt und gegen Angela Merkel wie für Manfred Stolpe, für Vor allem sagt er nicht, was sie alle Zweifel und Veränderungen ver- Rezzo Schlauch wie für Edmund Stoiber. nicht hören wollen. teidigt. Alle wollen sie bemerkt und gemocht Der Kommunikationszusammen- werden, am Ende natürlich gewählt. Das hang ist eng und sehr labil. Wolf- Fernsehen habe die Politik nicht nur des- nigstens vorzugaukeln, ist eine verun- gang Schäuble hat es zu spüren bekom- halb so tief greifend verändert, glaubt Alt- sichernde Realität besonders bedrohlich. men, als er sich im Machtkampf mit Hel- kanzler Helmut Schmidt, weil es die Poli- Also versucht er sie zu schönen: Ängste mut Kohl vor zwei Jahren um seine Glaub- tiker zur Oberflächlichkeit verführt: „Es zu leugnen, Störungen abzuwehren und würdigkeit gebracht sah. Damals, sagt er macht sie auch sympathiesüchtig.“ sich selbst zu bestätigen. heute, habe er sich mit Ausstiegsgedanken Die Versuchung zum Opportunismus, oh- Tatsächlich pflegt die Mehrheit ihre getragen. nehin immer eine Gefahr für die demokra- Amtsinhaber ausdrücklich zu diesem Einmal mehr war Schäuble, den die Ku- tisch gewählten Vertreter des Volkes, werde Zweck zu wählen, glauben die Wirt- gel eines Attentäters vor zwölf Jahren in übermächtig. Schmidt: „In der Demokratie schaftswissenschaftler Guy Kirsch und den Rollstuhl zwang, ganz auf sich allein werden sie nämlich nur gewählt, wenn sie Klaus Mackscheidt. Mit ihrer Deutungs- zurückgeworfen. Seine Einsamkeit war sich ausreichend angenehm machen.“ Das macht sollen sie ihnen die Ängste vertrei- sichtbarer als bei jedem anderen. heißt: Der Politiker sagt, was er glaubt, dass ben und die Wünsche als realisierbar er- Denn solange er noch regierte, hatte der scheinen lassen. schmächtige CDU-Chef ein besonders ein- * Im Bundesrat am 22. März, nach der Abstimmung über Edmund Stoiber hat im SPIEGEL diese drucksvolles Symbolbild der Macht abge- das Zuwanderungsgesetz. Art der Beruhigungspolitik „konservativ“ geben, wenn er im Rollstuhl, von Sicher-

der spiegel 24/2002 95 Titel heitsrecken umstellt, in eine Parteikund- „Und ohne die Wertschätzung der Men- andere auf, bis nur mehr eine dicke alte Fo- gebungshalle rollte. Dann zielten die Ka- schen kann ich keine Politik machen.“ relle übrig bleibt. Bei mir hat im Laufe der meras auf ein langsam durch den Saal wo- Das hat sich wieder eingerenkt. Zeit die Leidenschaft zur Politik alle an- gendes Gewusel, aus dem Blitzlichter zuck- Entspannt blinzelt Wolfgang Schäuble deren Leidenschaften aufgefressen.“ ten. Mittendrin ein schwarzes Loch, das in seinem neuen Arbeitszimmer mit Blick Zum Verhalten der Politiker heute fehlt IHN verbarg – den Star des Abends, Wolf- auf den Reichstag in die Sonne. Wenn die der romanhafte Abstand. gang Schäuble. Wenn dann der Men- Union die Wahl gewinnt, ist er wieder im Aber nicht nur deshalb gingen den schenknubbel auf der Bühne ankam und Geschäft; die Aussichten versetzen ihn quälenden und kläglichen Schauspielen, die Bodyguards zur Seite traten, war das nicht in helle Aufregung. die Helmut Kohl, Klaus Landowsky, Eber- wie die Enthüllung einer Ikone. Der Beifall Gewiss, für einen im Rollstuhl bedeutet hard Diepgen und Kurt Biedenkopf der Öf- überschlug sich. Politik vermutlich mehr als für andere. fentlichkeit in den vergangenen Monaten Einen Tag nach der Wahlniederlage 1998 Auch sei ihm die Leidenschaft dafür ge- zumuteten, jeder Anhauch von Größe und aber stand Schäuble minutenlang unbe- blieben. Dennoch glaubt der CDU-Vete- Tragik ab. Als „Kamikaze-Abschiede von achtet und schweigend hinter Theo Waigel ran: „Es wäre nicht so arg schwierig ge- der Macht“ hat Evelyn Roll in der „Süd- im Bierkeller der bayerischen Vertretung in worden, was anderes zu machen.“ deutschen Zeitung“ diese Unfähigkeit zum Bonn. Keiner begrüßte ihn. Keiner schien Loslassen charakterisiert. Ihr Urteil: kom- ihn wahrzunehmen. Er war allein gekom- 7. „DIES IST DAS LETZTE MAL …“ pletter Realitätsverlust. Peter Gauweiler men und galt nichts mehr. fand: „Wie sich manche Kollegen an ihre Das war ein Vorgeschmack auf die Rol- n den Erinnerungen der Alten klingt es Ämter klammern, das hat etwas Selbstzer- le des Verlierers, die ihn auf dem Parteitag Iwie Literatur. „Wer von der Politik ein- störerisches.“ in Erfurt im April 1999 voll einholte. Ob- mal gegessen hat, der möchte immer mehr Ans Rednerpult im Dresdner Landtag wohl gewählter CDU-Parteichef, wurde und mehr“, hatte 1963 Konrad Adenauer trat der 72-jährige Ministerpräsident Bie- Schäuble, der „mit möglichst wenig Ge- einer Gruppe japanischer Besucher anver- denkopf, den sie „König Kurt“ nannten in dränge und Aufhebens“ zum geselligen traut, als seine eigene Fraktion ihm nicht Sachsen, im April noch mit Haltung. Seine Abend zu gelangen versuchte, dort von mehr folgte. Resigniert fügte er hinzu: „Die Frau Ingrid hatte versucht, ihm den Rücken seinem noch immer machtprallen Vorgän- Politik kann zum Laster werden, wenn man zu stärken: „Wenn wir die Tür hinter uns ger Helmut Kohl rücksichtslos ins Abseits sich ihr zu sehr ergibt.“ zumachen, können uns alle mal kreuz- gedrängt. nannte Politik „eine weise.“ Auf den „Altbundeskanzler“ stürzten Leidenschaft“, eine zerstörerische freilich, Doch mit dem Beginn seiner Ab- sich die Kameraleute und Reporter, er gab die alle übrigen Teile der Persönlichkeit schiedsrede endete die Fassung. Wut und jovial-lärmend den Chef. „Für Inszenie- aufzehrt. Dem Alten vom Sachsenwald Selbstmitleid übermannten ihn. Die Stim- rungen“, resümierte Schäuble in seinem spiegelten die Forellen in seinen Fischtei- me rutschte dem Scheidenden weg, als er Buch „Mitten im Leben“ bitter, „war ich chen das politische Leben: „Eine frisst die sagte: „Dies ist das letzte Mal …“ also ungeeignet, und auf Verständnis in Keine zwei Jahre war es her, der Öffentlichkeit konnte nicht gehofft da hatte Biedenkopf der Journa- werden, wenn schon diejenigen, die es wis- Otto von Bismarck nannte Politik listin Roll erklärt, „woher die ir- sen mussten, keine Rücksicht nahmen.“ rationale Unfähigkeit zum Los- Das fand er schon schlimm genug. „Die „eine Leidenschaft“, eine lassen komme, mit der Altkanz- eigentliche Kränkung“ aber sei gewesen, zerstörerische freilich, die alle übrigen ler Helmut Kohl seine furiose dass ihm ganz normale Leute signalisier- Selbstdemontage durch illegale ten, sie könnten ihm nicht mehr glauben. Teile der Persönlichkeit aufzehrt. Parteispenden in Szene setzte“. ROLF H. SEYBOLDT ROLF Sächsischer Ministerpräsident Biedenkopf, Ehefrau Ingrid (1995): Irrationale Unfähigkeit zum Loslassen

98 der spiegel 24/2002 Der habe nun einmal seit seinem 15. Ge- burtstag ein Leben geführt, das auf nichts anderes als auf die Eroberung von forma- len Machtpositionen ausgerichtet war. Und nun könne er eben nicht mehr existieren ohne Macht. Das sei wie eine Sucht. Dann hatte Biedenkopf, so Evelyn Roll, von seinem Vater erzählt, dem Ingenieur und Vorstand eines Chemieunternehmens, der fast gestorben wäre, als er mit 67 Jah- ren in Pension geschickt wurde und nicht wusste, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Der Sohn Kurt habe damals ein für alle Mal kapiert, was das Klammern an Macht und Position bedeutet. Drei Monate später zeigte Biedenkopf die gleiche Halsstarrigkeit, die er an Kohl kritisiert hatte: „Wie bekommt man den Altbauern dazu, sich endgültig aufs Alten- teil zurückzuziehen?“ Biedenkopfs Rea- litätsverweigerungsprogramm hieß: „Mei- ne Sachsen sehen das anders.“ Und: „An meinem Stuhl sägt niemand.“ Den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik zu finden ist – das hatten ost- deutsche Politikneulinge wie Angela Merkel und Wolfgang Thierse schnell gelernt – für die seelische Gesundheit von höchster Be- deutung: „Ich will kein halbtotes Wrack sein, wenn ich aus der Politik aussteige“, sagte Merkel schon, bevor sie richtig drin war. Thierse hämmerte sich ein: „Man muss ohne die Wichtigkeitsdrogen auskommen können.“ Er hat als Bundestagspräsident auf seine Dienstvilla verzichtet und ist auf dem Prenzlauer Berg wohnen geblieben, um sich wenigstens einen Restbestand von Bodenständigkeit zu erhalten, auf den er sich zur Not zurückretten kann. Alle, die ganz ausscheiden müssen aus dem Spiel um die Macht, brauchen Mona- te, um mit dem Schock fertig zu werden, wenn sie ihn überhaupt je verwinden. Ob die Ministerpräsidenten Gerhard Glogow- ski in Niedersachsen oder Max Streibl in Bayern, ob die Bundesminister Reinhard

Klimmt, Karl-Heinz Funke oder Andrea MARCO-URBAN.DE Fischer, ob SPD-Parteichef Oskar Lafon- Altkanzler Kohl (1999): Wie eine Sagenfigur aus dem Kyffhäuser taine oder Gewerkschaftsboss Franz Stein- kühler – eine existenzielle Kränkung ist der SPD im Bundestag, Peter Struck, die pörte Zwischenrufer griffen den Ex-Kanz- der Abschied von der Macht allemal, für CDU heftig wegen der ungeklärten Par- ler an. Herrisch donnerte der in den Saal: viele eine schicksalhafte Niederlage. teifinanzierung attackierte. Gravitätisch „Das kann in der Art und Weise, wie hier „Der Rücktritt war der tiefste Einschnitt erhob sich da in der zweiten Reihe des verleumdet wird, nicht stattfinden. Ob Sie in meinem Leben“, hat Ex-IG-Metall-Chef Plenums, mit der ganzen Macht seiner das wollen oder nicht. Sie können hier mit Steinkühler im Berliner „Tagesspiegel“ be- Persönlichkeit und der Wucht seiner his- Niederbrüllen gar nichts erreichen.“ kannt, sechs Jahre nachdem er „plötzlich torischen Gestalt, Altbundeskanzler Hel- Einen Augenblick lang breitete sich von 100 auf null abgebremst“ wurde, weil mut Kohl, um den frechen Redner mittels Schweigen aus im Reichstag. Dann pruste- ihm unkeusche Geldgeschäfte nachgesagt einer als Zwischenfrage getarnten Rüge zu ten die Abgeordneten los. SPD, PDS und wurden. Steinkühler: „Ich bin daran bei- bremsen. Grüne lachten aus vollem Halse. Es war, als nahe kaputtgegangen.“ Mit schneidender, Respekt heischender hätte Kohl seinen eigenen Bann gebrochen. Man kann es den Machtsüchtigen anse- Stimme sagte er: „Herr Abgeordneter, Sie Da stand er wie ein Kanzlerdenkmal, re- hen, wenn sie in den Entzug geraten. Es ist, wissen doch so gut wie ich, dass dies nicht dete wie eine Sagenfigur aus dem Kyff- als wäre ein Licht in ihnen ausgeschaltet. eine Situation ist, um die Fragen, die Sie häuser und war doch in Wahrheit nur noch Resignation, Hilflosigkeit und eine ver- stellen, zu beantworten, und über die Be- ein ertappter Abgeordneter, der sein Fehl- heerende Lebensunsicherheit raubt den hauptungen, die Sie aufstellen, zu debat- verhalten pathetisch zu vertuschen suchte. einst Mächtigen ihre Ausstrahlung. tieren.“ Er trat auf, als verfügte er noch über die Wie plötzlich das geschehen kann, wurde Es war der Ton mehr als der Inhalt, der Legitimation des Amtes und den Respekt dem Fernsehvolk am 24. November 1999 große Unruhe bei der SPD auslöste. Wi- des Volkes. Doch das Fernsehen enttarnte drastisch vorgeführt, als der Fraktionsführer derspruch prasselte von allen Seiten, em- ihn als Hochstapler. ™

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