Jugendliche interviewen Zeitzeugen Wir haben viel GLuck gehabt.

LEHR-

Wir haben viel Glück gehabt – Lebensgeschichten zur Sturmflut 1962 Wir haben viel Glück gehabt – Lebensgeschichten Programm gemäß § 14 JuSchG

Stadtteilschule Stellingen, , www.stadtteilschule-stellingen.de Inkl. Dvd Ida Ehre Schule, Hamburg, www.idaehreschule.de Helmut Schmidt Interview Kontakt: [email protected] Lebensgeschichten zur Sturmflut 1962 1 Autorinnen und Autor

Stadtteilschule Stellingen Ida Ehre Schule

Lena Klemke, geb.1995 (Abitur 2014) Burcu Selim, geb.1996 (Abitur 2015) Beyza Erdur, geb.1995 (Abitur 2014) Sandra Sandra Hasselfeldt, geb. (Abitur 2015) Asma Mohamadi, geb.1994 (Abitur 2014) Rümeysa Kaba, geb. 2000 Marisol Gribner, geb.1999 Kaya Deußing, geb. 2000 Sophie Burmeister, geb.1999 Mira Frost, geb.1999 Katja Lina Nehring, geb.1998 Annemarie Kawe, geb. 2000 Masud Raufi, geb.1998 Stella Gabrielides, geb.1997 (Abitur 2016) Katja Martha Wiegard, geb.1996 (Abitur 2016)

2 3 Krisenstab im Polizeipräsidium am Karl-Muck-Platz Quelle: Hamburger Abendblatt

Wir danken Impressum • Heike Lemke, Archiv Helmut Schmidt im Neubergerweg für die Unterstützung unserer Recherchen Erscheinungsjahr Juni 2016 • Simone Neumann und Werner Tannhof, Bibliothek der Helmut Schmidt Universität Herausgeber Stadtteilschule Stellingen, Ida Ehre Schule • Freimut Duve für das Vorwort 1. Auflage 1.000 • dem Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg Olaf Scholz für das Grußwort Projektleitung Cläre Bordes • der Loki und Helmut Schmidt-Stiftung, der Stiftung Hamburger Wohnen und dem Lektorat Cläre Bordes, Katrin McClean Grundeigentümer-Verband für die Realisierung unseres Projekts Layout Art Direction Röwer, Kai D. Röwer • den Zeitzeugen für ihre Offenheit und das Vertrauen Druck Druckerei WIRmachenDRUCK GmbH, Mühlbachstr. 7, 71522 Backnang • dem Ohnsorgtheater für das Lektorat des Textes „De grote Floot“ Bildnachweise Tim Wendrich / Hansestyle S. 8, Thomas Müller S.10. • dem Fotografen Helmut R. Schulze für die historischen Fotos von Helmut Schmidt Jürgen Heinemann S.19, 22, 28, 35, 36, 47. Heinz Petersen S.51, 57. Gerd Mertens S.52, 53. Katrin McClean S.60. Ingrid und Roland Schefe Titelfoto, S.45. Cläre Bordes S. 12, 17, 29, 39, 44, 65. Raimund Dietzsch S. 26. Helmut R. Schulze S.63, Julia Muhs, S. 2, 3. Archiv Helmut Schmidt S. 4. Regina Roß-Kluth S.54. Doris Michaels S.48.

4 5 Inhalt

Grußwort des Ersten Bürgermeisters...... 8 Ein Polizei-Einsatz während der Sturmflut...... 39 Vorwort...... 10 Mein Vater gab mir Sicherheit...... 42 Interview mit Helmut Schmidt...... 12 Die Flut kam bis zum Rödingsmarkt...... 44 Unsere Wohnung als Rettungsinsel...... 18 Überall roch es nach Wasser...... 46 Eine Zeitreise durch Wilhelmsburg...... 22 Die Flut brachte mir meinen Traummann...... 48 Die Sturmflutnacht in der Ölraffinerie in ...... 26 Sorge um meine Tanten...... 50 De grote Floot!...... 28 In der Röttiger Kaserne...... 52 Überleben auf dem Dach...... 29 Mit dem Bus durch die Flut...... 54 Volljährig in die Sturmflut-Nacht...... 32 Mein Schutzengel hat Überstunden machen müssen...... 56 Sturm auf ...... 33 Schluss mit Schlittschuhlaufen...... 59 Mit dem Bautrupp gegen den gebrochenen Deich...... 36 Im Büro von Helmut Schmidt – Interview mit Ruth Loah...... 60

6 7 Hamburg hat in seiner Geschichte viele Herausforde- rungen meistern müssen. Die Sturmflut von 1962 war eine besondere Herausforderung: In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 stieg das Wasser in der auf eine Höhe von 5,70 Meter über Normalnull und überschwemmte große Teile des Hafens und der Stadt. Die Flut zerstörte viele Gebäude und brachte die Hamburger Bürgerinnen und Bürger in große Not. Diese Fakten lernt jede Schülerin und jeder Schüler. Doch es braucht mehr als das, um die Geschichte wirklich verstehen zu können. Geschichte passiert nicht einfach, sie wird von den Beteiligten gemacht. So rettete der damalige Polizeisenator Helmut Schmidt mit seinem beherzten und unbürokratischen Eingreifen vielen Menschen das Leben. Es sind Per- sönlichkeiten, die mit ihrem Handeln die Geschichte prägen. Die Schülerinnen und Schüler der Stadtteilschule Stel- lingen und der Ida Ehre Schule haben 18 Zeitzeugen zu ihren Erlebnissen während der Sturmflut befragt. Entstanden ist ein Buch, das einen ganz persönlichen Blick auf die Ereignisse ermöglicht. Ein gelungenes Projekt, das Geschichte erlebbar macht.

Erster Bürgermeister der Grusswort Freien und Hansestadt Hamburg Olaf Scholz

8 9 Grundsatz: Global denken, lokal handeln.

Verglichen mit einigen anderen Städten Deutschlands Flut-Helferin fest verankert: der meiner Tante Anne- hatten die Bomben Hamburg besonders getroffen – marie Rohlf, die aus Ostpreußen 1945 nach Altona etwa 53 Prozent der Stadt. Nach dieser Halbzerstö- geflohene Schwester meiner Mutter. Sie hatte sich rung haben wir nicht nur den schwierigen Wiederauf- nach dem Krieg mit einer kleinen Wäscherei selb- bau erlebt, sondern auch den wahrlich nicht leichten ständig gemacht. Wen immer sie von den verzweifel- und häufig nicht unbedingt überzeugten Abschied ten Wilhelmsburger und Veddeler Bürgern mit ihrem vom Nationalsozialismus. kleinen Lieferwagen erreichen konnte, dem half sie Aus dem Osten waren tausende Bürger vertrieben auf ihre Weise: Sie sammelte Berge verschlammter, worden. Die Flüchtlinge fanden eine neue Heimat stinkender und nahezu unbrauchbar gewordener Wä- auch in Hamburg. Wie die Schwester meiner Mut- sche ein und lieferte sie einige Tage später wieder an ter, die sich mit ihrer Tochter aus Ostpreußen nach ihre Besitzer aus, frisch gewaschen und gemangelt. Hamburg durchgeschlagen hatte. Die beiden zogen Eine kleine Hilfe, gewiss. Aber es gelang ihr, mit ihren zu meinen Großeltern nach Altona. Mitteln für einen kurzen Moment ein Lächeln auf die Viele Menschen fanden eine – oft behelfsmäßige – Gesichter der erschöpften Bewohner zu zaubern. Sie Unterkunft an den Rändern der Stadt, in den von der war wahrlich nicht die Einzige, die zur Hilfe bereit war. Elbe umgebenen Stadtteilen wie Wilhelmsburg oder auf der Veddel. Beim Wiederaufbau wie bei der Masseneinwande- Gemeinsam erlebten wir Hamburger Bürger diese rung: Stets haben in vielen Städten und Gemeinden Gründungszeit unserer demokratischen Republik. unseres Landes Bürgerinnen und Bürger miteinander Nach einer zerstörerischen, antidemokratischen Ver- für ihre Kinder und ihre Zukunft hart gearbeitet. gangenheit nun die gemeinsame Friedenshoffnung – So sind wir deutschen Bürger des 21. Jahrhunderts in unseren Herzen und in unseren Köpfen. mit unseren gemeinsamen Erfahrungen die Kinder Wir atmeten den Frieden in den sechziger Jahren im der historischen Kultur und Natur geworden und wol- wieder aufgebauten Hamburg. len es in gemeinsamer Verantwortung bleiben. Das Doch dann wurde die Hansestadt von einer neuen erfordert jedoch den wachen und erweiterten Blick Katastrophe heimgesucht: Täter waren diesmal nicht auf globale Krisensituationen, auf Kriege, aber auch die Menschen und ihre Waffen, sondern das Wasser. auf Natur- und Umweltkatastrophen. Beides können Die große Sturmflut von 1962. wir beinahe täglich in den TV-Nachrichten verfolgen, Viele Menschen gerieten in direkte Not durch die- den Krieg in Syrien, durch Klimaveränderungen her- se Flut; einige entkamen ihr nur knapp, sie retteten vorgerufene Dürren in Afrika, Überschwemmungen nichts als ihr Leben. Das verdanken sie auch dem in den USA, auf den Philippinen und immer wieder im engagierten Politiker Helmut Schmidt, der, all seine geschundenen Bangladesh, einem der ärmsten Län- Kompetenzen als Innensenator überschreitend, unter der der Welt. Aber, egal wie nah oder wie fern die Ka- anderem mit Hilfe von Hubschrauberpiloten der Bun- tastrophen sind, jeder von uns kann auf seine Weise deswehr Frauen, Männer und Kinder von den Dächern einen Teil dazu beitragen, Not zu lindern. Vielleicht vorwort oder aus den oberen Stockwerken ihrer überfluteten sogar zu verhindern. Häuser holen ließ. In meiner Erinnerung hat sich aber auch der Name einer unerschrockenen, zupackenden Freimut Duve, Mai 2016

10 11 Über die Hamburger Sturmflut

Am 30. Juni 2015 interviewten die Schülerinnen Marisol Gribner und Sophia Burmeister den damaligen Polizeisenator und späteren Bun- deskanzler Helmut Schmidt im Pressehaus am Speersort zur Sturmflut 1962 in Hamburg. Es war eines seiner letzten Interviews, in dem er die Schülerinnen auch an seinen Lebenserinnerungen teilhaben ließ.

Wenn Sie auf ihr Krisenmanagement zur Zeit der Sturmflut zurücksehen, was geht Ihnen dabei als Erstes durch den Kopf? Da muss ich zunächst die Vorgeschichte erzählen. 1961 war ich bereits seit acht Jahren Mitglied des Bundestages für die SPD. Bei einem Landesparteitag kurz vor der Hamburger Bürgerschaftswahl erklärte ich der Hamburger Sozialdemokratie, dass ihre Art, die Hamburger Stadt zu verwalten, blödsinnig war. Denn im Gegensatz zu den meis- ten anderen Städten hatte Hamburg damals keinen Innensenator. Ich sagte: Wenn euch mal ein Flugzeug auf den Rathausmarkt fällt, dann rennt ihr alle durcheinander wie die Hühner, und die Behörden auch. Darüber haben sich die alten Senatoren der SPD furchtbar geärgert. Als sie dann die Wahl gewonnen hatten, wollten sie es mir heimzahlen und schlugen mir vor, ich solle doch nach Hamburg kommen und den Innensenator machen. Dafür musste ich allerdings den Bundestag verlassen. Doch der damalige Parteivorsitzende Erich Ollenhauer hat mich ermutigt: „Mach das mal“, sagte er, „da lernst du zu verwalten.“

Und dann kam ganz schnell die Flut und es ist genauso gekommen, Im IntervieW wie ich es vorhergesagt hatte. Die Beamten liefen durcheinander wie die aufgeregten Hühner. Die Hamburgische Polizei nahm wie eine Ge- neralstabszentrale von all ihren Polizeiwachen Meldungen entgegen Helmut Schmidt und setzte daraus ein Mosaik über die Lage zusammen, das machte sie aber auch nicht wesentlich schlauer. 30. Juni 2015, pressehaus, Speersort Ich war als Innensenator eigentlich noch gar nicht richtig eingearbei- tet und zu Beginn der Flut auch grad in Berlin bei einer Innenminis- terkonferenz. Als ich davon hörte, fuhr ich aber trotzdem sofort los, was gar nicht so einfach war. Wir mussten durch einen gewaltigen Sturm, überall fielen Bäume über die Straße, um 11 Uhr abends kam ich dann in Hamburg an.

12 13 Zufällig hatten wir gerade Besuch. Das befreundete Aber Sie haben sich eingesetzt, sie haben die Telefonate Man brauchte einen Beamten, der in der Lage war, Welche Leitsätze sind das heute? Ehepaar Arnold hatte es gerade mit unserer Hilfe geführt. mit einer beschissenen Situation umzugehen und Das öffentliche Wohl, nicht das Wohl der eigenen Par- geschafft, aus der DDR auszureisen und saß nun mit Ich hab natürlich das Kommando übernommen. Das trotzdem seinen Befehl auszuführen, und er musste tei oder der eigenen Koalition, ist der höchste Wert. seinen beiden Töchtern bei uns zu Hause. Außerdem Krisenzentrum war im damaligen Polizeipräsidium eine Verbindung zum nächsten Ortsamtsleiter her- Salus populi suprema lex esto. (Cicero) war noch eine Ehepaar da, denen wir im Krieg ge- am Karl-Muck-Platz, gegenüber der Musikhalle. Aber stellen. Das Wichtigste an der Flutkatastrophe ist in holfen hatten, nach Schweden zu kommen. Zu dem die vergleichsweise geringe Zahl an Toten verdanken meinen Augen die Erfahrung der Hilfsbereitschaft von Welches würden Sie als Ihr größtes Lebenswerk be- Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass in Wilhelms- wir der Hilfsbereitschaft des Militärs. Die Deiche wa- Menschen, die nicht betroffen waren, für diejenigen, zeichnen? burg bereits Menschen starben, und die Hamburger ren an 60 Stellen gebrochen. Die meisten in Kirchdorf, die ihr Haus und Hab und alles verloren haben in ei- Würde ich nicht tun! Polizei dachte nicht mal daran, mich zu informieren, an der Süderelbe und vor allen Dingen in Waltershof. ner einzigen Nacht. Ich habe damals jedem, der sein weil sie glaubten, ich sei noch in Berlin. Das ist die Waltershof war damals ein trockenes Hafenbecken Haus verlassen musste, 50 D-Mark auszahlen lassen. Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, gibt es etwas, erste Erinnerung, was die Behörden betrifft. mit einem intakten Abschluss zur Elbe, an dessen Das war ein schwerer Verstoß gegen die Hamburger das Sie komplett anders gemacht hätten? Aber genauso wichtig ist meine erste Erinnerung an Rändern sich Laubenkolonien befanden. Hunderte Verfassung. Der damalige Finanzsenator hat es mir Ich habe sicherlich vieles falsch gemacht, aber das die Hamburger Bevölkerung, mein Eindruck von der von Hamburgern, die 1943 bei der Bombenkatastro- sehr übel genommen. Ich bin gleich zu Beginn mit werde ich nicht vor Ihnen ausbreiten. unglaublichen Hilfsbereitschaft der Leute, die selbst phe ausgebombt wurden, lebten dauerhaft dort. Die einem leichten Polizeihubschrauber über das Gebiet gar nicht betroffen waren. waren jetzt vom Wasser gefangen und erfroren auf geflogen. Daher kam auch meine erste Einschätzung, Haben Sie ein Rezept für eine Welt ohne Kriege? Und dann gab es eine Reihe glücklicher Zufälle. Ich den Dächern. Man konnte nicht mit einem schweren dass wir mit zehntausend Toten rechnen müssten. Ein schöner Wunschtraum. hatte ein dickes Buch über die Strategie der Nato ge- Hubschrauber auf diesen Wochenendbuden landen. Hunderte von toten Kühen schwammen im Wasser schrieben und war gut bekannt mit dem Oberbefehls- Ich habe mich damals über alle Vorschriften hinweg- und ich rechnete mit einer Seuche. Ich hab meine Man hört momentan von vielen Terroranschlägen des IS. haber der Nato für Europa, das war ein amerikani- gesetzt. Selbst über das Grundgesetz. Wir haben die Frau gebeten, den Neubergerweg rauf und runter zu Warum unternehmen die Länder nichts dagegen? Was scher General. Leute zum Teil gegen ihren Willen dort abgepflückt. gehen. Sie sollte bei allen Leuten klingeln und sagen, könnte man gegen Terroranschläge unternehmen? Manche wollten dort bleiben, obwohl es eisig kalt war. sie müssen ihr Trinkwasser abkochen, weil es wegen Relativ wenig können Sie machen. Wir bekommen je- Nachdem mich die Hamburger Polizei endlich in das der toten Tiere möglicherweise verseucht war. Die den Tag Nachrichten von Hunderten, manchmal Tau- Problem eingeweiht hatte, bin ich morgens um 6 Uhr Wir haben von einem Zeitzeugen gehört, dass Sie da- Cholera war gerade erst eine Generation vorher ge- senden, die im Mittelmeer umkommen. Die, koste es, ins Polizeipräsidium gefahren und hab den angerufen. mals einen Schießbefehl gegen Plünderer erlassen ha- wesen. Eine Seuche hat es nicht gegeben. Wir haben was es wolle, auf jeden Fall raus wollen aus Afrika, Bei jedem anderen hätte der Mann vermutlich ge- ben! Stimmt das? viel Glück gehabt. raus wollen aus dem muslimischen Teil von Nord- dacht: „Das muss ein Verrückter sein. Der holt mich Das stimmt gewiss nicht. Ich weiß von Gerüchten, afrika. Die politischen Instanzen in Europa sind zur- aus dem Schlaf und sagt mir, hier steht die Nordsee dass ein höherer Polizeibeamter so einen Befehl zeit kaum handlungsfähig. Wenn es bei der heutigen auf den Dächern.“ gegeben haben soll. Ich selber habe keinen Schieß- Der Politiker Helmut Schmidt Handlungsunfähigkeit bleiben sollte, dann werden wir Aber mich kannte er zum Glück und ich sagte ihm, befehl gegeben. Quatsch, dummes Zeug. Aber man im Jahre 2050 überschwemmt sein mit Flüchtlingen. was ich brauche. Vor allem Hubschrauber, mit denen traut mir alle möglichen Dummheiten zu. Welcher Leitsatz oder Grundgedanke hat Sie als Bun- man auf den Dächern der Wochenendhäuser landen deskanzler begleitet? Haben Sie Angst um Europa? kann, ohne dass die Häuser darunter zusammenbre- In der Zeit brach das Stromnetz in Hamburg zusammen. Das Erste, was ich 1974 gedacht habe, war, dass ich Die heutige Lage ist ziemlich beschissen und es gibt chen und Schlauchboote mit Antrieb. Wie war die Situation? die damalige Koalition zwischen Sozialdemokraten zurzeit niemanden, der die Führung übernehmen Nach zwölf Stunden hatte er eine riesenhafte Arma- Es gab Stadtteile, da gab es noch Strom. Das und Freien Demokraten mit Anstand bis zur nächs- will. Frau Merkel hat Recht, dass sie die Führung da von Hubschraubern und Gummibooten nach Ham- Schlimmste war, dass das Telefon nicht ging. Man ten Wahl führen musste. Mit Anstand, ohne Leitsatz. nicht übernimmt. Wenn sie die Führung überneh- burg geholt. konnte nicht mit Waltershof, Finkenwerder, Wil- Nachträglich, später als alter Mann, habe ich schö- men würde, was sie könnte, würde es nur ein einzi- Ich hatte bei meinen ersten Einschätzungen um die helmsburg oder mit der Veddel telefonieren. Es war ne Leitsätze erfunden, nachträglich könnte ich Ihre ges Jahr brauchen, dass andere Leute ihr das übel zehntausend Tote befürchtet, am Ende waren es drei- eine der empfindlichsten Schwierigkeiten, dass man Fragen beantworten, aber damals hätte ich das nicht nehmen und im zweiten Jahr würden alle übrigen hundert. Da war viel Glück und Zufall dabei. immer jemanden hinschicken musste. gekonnt. Europäer auf die Deutschen mit dem Finger zeigen.

14 15 Sie hat Recht, dass sie sich zurückhält. Wir erleben drei Jahre von 1946 bis 48 waren unglaublich. Sie Auch den Chinesen Lee Kuan Yew möchte ich nennen. völlig verändert. Denken Sie bitte daran, dass heu- einen Privatkrieg in Syrien und im Irak mit einem neu- brachte dort alle möglichen Stücke, von deren Exis- Er hat die einst verkommene malaysische Stadt Sin- te vor hundert Jahren Charles Lindbergh zum ers- gegründeten terroristischen Staat, der sich IS nennt. tenz wir gar nichts wussten. Ich erinnere ein Stück gapur zu einem Stadtstaat gemacht und sie mit ei- ten Mal in einem Flugzeug über den Ozean flog. Er Es ist alles ein bisschen viel für uns, und jedenfalls ist von Thornton Wilder: „Wir sind noch einmal davon ge- serner Faust geführt. Er war kein Demokrat, aber der brauchte keine Angst zu haben, mit einem anderen es zu viel für die nicht vorhandene Führung Europas. kommen“. Das muss 1947 gewesen sein. Lebensstandard der Bewohner ist heute höher als in Flugzeug zusammenzutreffen. 15 Jahre später fin- Hamburg. Fast alle haben eine Eigentumswohnung, gen wir an, uns gegenseitig mit Flugzeugen zu beha- Sie besuchten die damalige Lichtwarkschule. Welchen Sie sind viel in der Welt herumgekommen. Welcher die Umgangssprache ist Englisch. Alles sein Werk. ken, sie warfen Bomben, schossen sich gegenseitig Einfluss hatten ihre Lehrerinnen und Lehrer auf ihr Le- Mensch, welcher Politiker oder welche bekannte Größe Er ist 2015 gestorben. ab. Ein halbes Jahrhundert später fielen die ersten ben? hat Sie am meisten beeindruckt? Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Eine un- Am meisten hab ich ihnen die Fähigkeit zum selb- Da muss ich drei Personen nennen. Was würden Sie uns Jugendlichen mit auf den Weg ge- glaublich schnelle technologische Entwicklung. Was ständigen Arbeiten zu verdanken. Wir mussten je- Das eine ist der Ägypter Anwar al Sadat. Er hat mich ben? aus der heutigen Internet-Entwicklung wird, kann des Jahr eine Jahresarbeit abliefern. Das wurde sehr enorm beeindruckt und beeinflusst. Er ist lange tot. Fragen Sie mich was Leichteres. Sie leben in einer man nicht vorhersehen. Das wird Ihr Leben ganz ent- ernst genommen. Man musste mit dem Klassenleh- Zweitens muss ich den Chinesen Deng Xiaoping nen- Zeit, in der die Welt sich schneller verändert als in scheidend beeinflussen. rer das Thema gemeinsam bestimmenn Normaler- nen. Er hat von Mao Tse-tung die Führung Chinas früheren Jahrhunderten. Nicht nur weil es immer weise akzeptierten die Klassenlehrer die Themen, die übernommen und hat China für die Weltwirtschaft. mehr Menschen gibt, auch weil die Zivilisation sich Autorinnen: Marisol Gribner und Sophia Burmeister wir angegeben haben, und dann haben wir ein halbes geöffnet. 1975 habe ich Mao in seiner Hauptstadt be- Jahr gebraucht, um diese Arbeit abzuliefern. Es war sucht. Da gab es China in der Weltwirtschaft über- eine gute Erziehung zur Selbständigkeit. Abgesehen haupt nicht. Heutzutage ist China die zweigrößte davon war die Lichtwarkschule an schönen Künsten Volkswirtschaft der Welt. Das ist Deng Xiaopings orientiert: Malerei, Skulptur, Musik. Wir hatten min- Werk. Sein Werk wird durch den schlimmen Zusam- destens zwei Orchester, mindestens zwei Chöre. Wir menstoß am Tian‘anmen Platz im Laufe des Jahres konnten in der Klasse vom Blatt einen vierstimmigen 1989 überschattet. Chor singen. Das kann heute keiner mehr. Als drittes muss ich den Amerikaner Gerald Ford Erinnern sie sich an die Themen Ihrer Jahresarbeiten? nennen. Gerald Ford war nur zweieinhalb Jahre Prä- Mit 16 habe ich zwanzig Kirchenlieder in einen vier- sident der Vereinigten Staaten von Amerika. Er ist es stimmigen Satz gesetzt und abgeliefert. Mein Musik- unter ungewöhnlichen Umständen geworden und ge- lehrer war damit zufrieden. Ein bis zwei Jahre zuvor wesen. Er war Mitglied des Abgeordnetenhauses, und ging es um die Konkurrenz der vier Häfen Rotterdam, als der damalige Vizepräsident Spiro Agnew wegen Antwerpen, Bremen und Hamburg. Ich weiß nicht eines Skandals zurücktreten musste, hat der ameri- mehr, was ich geschrieben habe, aber heutzutage kanische Präsident Nixon den Abgeordneten Gerald müsste ich zugeben, dass Bremen völlig abseits ge- Ford zum Vizepräsidenten ernannt. Kurze Zeit darauf raten ist. Der Hamburger Hafen hat einen gewaltigen kam der Watergate Skandal und der Präsident selber Aufschwung genommen, noch gewaltiger war der musste zurücktreten. So wurde der von ihm ernannte Aufschwung von Rotterdam. Vizepräsident sein Nachfolger. Ford hat als erstes da- für gesorgt, dass der abgetretene Präsident von der Sie haben zu Ida Ehre ein besonderes Verhältnis gehabt. Strafverfolgung freigestellt wurde. Damit hat er die Ich habe diese Künstlerin geliebt! Sie hat nach dem Amerikaner vor einer Zerreißprobe bewahrt. Ich habe Krieg die Kammerspiele gegründet und die ersten ihn für seinen Mut bewundert.

16 17 Erinnerungen von Ilse Röpcke, geb. 1930 aufgeschrieben von Burcu Selim und Sandra Hasselfeldt Unsere Wohnung als Rettungsinsel

Zur Zeit der Sturmflut war ich 32 Jahre alt und habe ren, wie Autos, Kühlschränke, Waschmaschinen, Kü- mit meinem Mann in Wilhelmsburg in einem Häuser- chenschränke und vieles mehr, durch die Straßen. block im 2. Stock gelebt und in Bahrenfeld in einer In diesem Moment konnten wir das gar nicht fassen. Nordmeerstraße, Finkenwerder Fabrik gearbeitet. Den ganzen Tag vor der Flutnacht Wir waren wie weggetreten und konnten nicht glau- war schon ein schlimmer Sturm. Die Polizei ist von ben, dass das die Realität sei. Es war wie ein Traum. morgens bis abends mit Blaulicht durch die Straßen Mein zweiter Gedanke war, dass ganz Hamburg unter hatten Angst, dass unsere Verwandten in der Flut hin konnten und auch alles abgestellt war. Aufgrund gefahren. Jedoch hat dies niemand gehört, da der Wasser stehen musste. ertrinken oder in der Kälte erfrieren könnten. Am des Hochwassers konnte auch nicht gearbeitet wer- Sturm draußen viel zu stark und laut war. Eine dro- Das Schrebergartengebiet war der Ort, an dem die nächsten Morgen fuhr mein Mann mit einem Paddel- den. hende Flut wurde weder durch das Radio noch durch meisten Leute ums Leben gekommen sind. Da wir in boot los und wollte zu Wilma, meiner Schwägerin, um Wir hatten keinerlei Kommunikationsmöglichkeiten Nachrichten im Fernsehen angekündigt. einem Häuserblock lebten, sind ständig Menschen zu sehen, ob sie und ihre Familie noch am Leben wa- zur Außenwelt. Als das Wasser langsam anfing zu- Mein Mann und ich kamen vom Spätdienst und haben angeschwommen, die wir dann zu uns ins Haus nah- ren. Ich weiß nicht genau, wie er dorthin gekommen rückzugehen, bekamen wir Propangasflaschen, um unser Auto in die Garage gestellt, die direkt am Ernst- men. Sie waren vollkommen durchnässt und halb er- ist, später habe ich auch nicht mehr nachgefragt. Als damit Essen zu kochen. Es wurden auch noch Stütz- August-Kanal lag. Das Wasser stand dort schon ziem- froren. Sie haben von uns trockene Kleidung bekom- er dort ankam, saßen Wilma und ihre Familie im obe- punkte an verschiedenen Orten geschaffen, wo die lich hoch. Wir beide haben gehofft, dass es nicht noch men. Wir haben ihnen gegeben, was wir konnten. In ren Geschoss auf den Betten, weil die unteren Räume Menschen sich Nahrung holen konnten. Wir waren überläuft. diesem Moment ist man einfach selbstlos und denkt alle unter Wasser standen. jedoch viel zu beschäftigt mit unseren Verwandten, Wir haben nichts Schlimmeres geahnt und sind des- nicht mehr nur an sich. Sie warteten und hofften auf Rettung, die sie durch um überhaupt auf die Idee zu kommen, uns Essen zu halb unbedarft zu Bett gegangen. Nachts kam die Unser Strom, die Toilette und die Heizung waren nicht die Soldaten bekamen. Kurze Zeit später wurden sie holen. Flut daher sehr überraschend für uns. mehr benutzbar. Wir stellten Kerzen auf, um etwas in die Turnhalle einer Harburger Schule gebracht und Hubschrauber kamen ebenfalls und haben auf den In der Nacht weckte mein Mann mich mit den Worten: und vor allem um uns sehen zu können. wir waren ein wenig beruhigter, da wir sie wieder in Dächern Körbe mit Getränken abgesetzt. „Ilse, da klopfen welche auf die Autos!“ Wir gingen ans Die größte Sorge hatten wir um meine Schwägerin, Sicherheit wussten. Wenn man das Haus verlassen wollte, musste man Fenster und sahen nach draußen. Es schwammen die mit ihrer Familie in einer Laubenkolonie in Wil- Wir waren einfach hilflos in dieser Zeit. Wir waren immer schauen, ob Ebbe oder Flut war, denn der alle möglichen Gegenstände, die in den Lauben wa- helmsburg in einem festen Häuschen wohnte. Wir eingeschlossen in unserer Wohnung, da wir nirgends Deich hatte ein riesiges Loch.

18 19 Nach einigen Tagen haben wir die Familie meiner die Schienen wieder gelegt ... Das ist wirklich etwas, für mich. Die Hilfe vom Staat während dieser Zeit war erfeier ausgerichtet, an der wir aber nicht teilgenom- Schwägerin auf unsere Verwandten aufgeteilt, damit was mir bis heute im Kopf geblieben ist. Da hätte sich sehr gut. Man konnte sich Geld und Lebensmittel be- men haben, weil wir uns sagten, dass wir lieber hier sie nicht mehr in den Turnhallen leben mussten. Ei- mancher Ältere eine Scheibe abschneiden können. sorgen. Außerdem konnte man seine Schäden mel- vor Ort helfen. Hier haben wirklich alle mit angefasst ner hat bei meinem Bruder gelebt, zwei bei meiner Es gab auch ein paar gute Erlebnisse in diesen Tagen. den und bekam in vielen Fällen Entschädigung. Die und mitgeholfen. Mutter und bei uns haben mein Schwager und meine Als wir zu unserer Schwägerin gegangen sind, waren größten Verluste hatten natürlich die Leute zu bekla- Der Chef meiner Firma war sehr großzügig. Meine Schwägerin gewohnt. Man konnte keine öffentlichen die Wände des Hauses mit einer dicken Schlamm- gen, die in den unteren Etagen gewohnt hatten. Sie Freundin ist damals zu ihm gegangen und hat ihm Verkehrsmittel nutzen. Wenn man Glück hatte, hatte paste bedeckt. Wir haben Spachtel genommen und hatten durch die Flut einfach alles verloren. Es hat Grüße von einer Mitarbeiterin bestellt und gesagt, man selbst ein Paddelboot oder eines gefunden, um versucht, den Schlamm abzukratzen. Das wurde mit nur ein Dreivierteljahr gedauert, bis diese Menschen dass sie momentan noch nicht zur Arbeit kommen sich damit fortzubewegen. der Zeit ziemlich lustig. alle eine neue Wohnung bekommen haben. kann. Mein Chef hat ihr weiterhin das Gehalt über- Wir sind eigentlich auf alles vorbereitet. Als wir in unserem Wohnzimmer mit den Betroffenen Zu uns kamen während der Flut alle Nachbarn aus wiesen und gesagt, dass sie so lange helfen kann, wie Wir haben zuhause Vorräte, mit denen wir bis zu drei der Flut saßen, haben wir Kerzen angezündet und ha- dem ersten Stock und Menschen aus den Lauben- sie gebraucht wird. Mein Mann wurde jedoch, weil er Monate auskommen können, da wir das noch aus ben uns über viele Themen unterhalten, hauptsäch- kolonien. Es war für uns eine Selbstverständlichkeit, drei Wochen lang nicht bei der Arbeit erschienen ist, Kriegszeiten kennen. Die Rettungsaktionen began- lich natürlich über unsere Familie, Verwandte und diese Personen aufzunehmen. Erst am Montag fingen entlassen und musste Arbeitslosengeld beantragen. nen mit den Soldaten, die mit Schlauchbooten anka- Bekannten, von denen wir noch nichts gehört hatten. wir langsam an, uns zu fragen, wann der normale All- Eine Sache werde ich nie vergessen. Mein Mann und men und durch die Kolonien gefahren sind. Zu diesem Wir waren in dieser Situation einfach eine Gemein- tag wiederkehren würde. Wann wir wieder all die Din- ich schauten in der ersten Nacht der Sturmflut aus Zeitpunkt ist mein Mann mit seinem Paddelboot rum- schaft. Wir haben zusammengehalten und versucht, ge tun konnten, die gerade nicht möglich waren. unserem Fenster und sahen gegenüber von uns am gefahren. Die Soldaten baten ihn, in den Lauben nach das Beste daraus zu machen, indem wir es mit Hu- Das einzige, was nicht gut organisiert war, waren die Baumstamm ein Auto, das mit der Schnauze nach Leichen Ausschau zu halten, da sie mit ihren Booten mor sahen und die getrübte Stimmung damit über- Warnungen vor dem Sturm. oben zeigte und die ganze Nacht gehupt hat, bis nicht hinkamen. Mein Mann erzählte mir jedoch, dass tönten, weil man mit einer schlechten Stimmung eh Man hätte schon am Abend vorher etwas ankündigen schließlich die Batterie leer war. Wir hätten keine er den Soldaten diesen Gefallen abschlagen musste, nichts ändern konnte. sollen. Mein Mann und ich sind friedlich zu Bett ge- Chance gehabt, dieses Auto zu erreichen, ohne unser weil er, auch wenn er im Krieg war, keine Leichen se- Wir haben versucht, alles positiv zu sehen und haben gangen. Wir rechneten nicht mit diesem Ausmaß des Leben zu riskieren. Das war für uns beide der grau- hen konnte. auch viele Witze gemacht. Eine ganz lustige Episode Sturmes. Wir sind ja noch am Abend vor der Flut mit samste Moment, weil wir in der Ungewissheit lebten, Erst nach 14 Tagen war das Wasser komplett abge- war, dass mein Schwager Bier und Brause in seinem dem Auto nach Hause gefahren und nicht einmal im ob ein Mensch in diesem Auto saß. laufen. Straßenbahnen fuhren auch nicht mehr, da Laden verkaufte. Die Scheine, die durch die Flut in Autoradio haben wir davon gehört. Ich bin mir ziem- Dieses Bild, das bei mir im Kopf geblieben ist, hängt die Straßen kaputt waren. Die Harburger Chaussee, der Kasse nass geworden sind, haben wir in Gummi- lich sicher, dass so etwas heute nicht mehr passieren im Museum für Hamburgische Geschichte. die eine Verbindung zwischen der Veddel und der In- stiefeln auf einer Wäscheleine in seinem Haus zum würde. Damals war der technische Fortschritt noch nenstadt war, hatte ein riesiges Loch, in dem ein Bus Trocknen aufgehängt. Sein Haus auf Vordermann zu nicht so weit wie heutzutage. Trotz allem bin ich sehr glücklich mit meinem Leben lag. Man konnte nur noch das Dach sehen. Ich glaube bringen, war das Schönste für uns. Die Siele und Deiche wurden gleich nach der Flut er- und dem, was ich habe. Leider gibt es heutzutage viel nicht, dass Tote in diesem Bus waren, aber mit Si- In den betroffenen Gegenden hat es Wochen gedauert, höht und aufgearbeitet. 1962 waren die Deiche sehr zu viele Menschen, die nicht zufrieden mit ihrem Le- cherheit kann ich das auch nicht sagen. bis die untersten Etagen frei von Wasser waren. Der alt und sind nicht richtig gewartet worden. Auch wa- ben sind, obwohl sie genug haben, um glücklich zu Die jungen Menschen, die sich mit ihrer Kleidung Deich hatte ein so großes Loch bekommen. Ehe sie ren einige Stellen noch von Bomben aus dem Krieg sein. Aber ich kann sagen, dass ich es nach all dieser einer Gruppe angehörig zeigen wollten, also diejeni- das wieder zubekommen haben, gab es immer wieder beschädigt. Das hätte man schon längst reparieren Zeit immer noch bin. gen, wo einige sagten: „Oh, wie sehen die denn aus.“, Ebbe und Flut und die unteren Etagen standen immer müssen. Für mich war es schrecklich, dass so vie- sind diejenigen gewesen, die am meisten mitgehol- wieder unter Wasser. Das erste Mal, dass man wie- le Menschen ums Leben gekommen sind. Für diese fen haben. Sie haben die Straßen wieder aufgebaut, der die Straße betreten konnte, war wie ein Geschenk Menschen wurde im Hamburger Rathaus eine Trau-

20 21 Schon an der S-Bahn-Haltestelle in Wilhelmsburg men war. Es lag auf der Seite und half mir dadurch, nahm mich das Ehepaar Petersen mit auf eine Zeit- den Verlauf der Straße besser abschätzen zu können. reise quer durch Wilhelmsburg und Umgebung. An- Da wir nicht wussten, wie tief das Wasser war und lass dafür war die Erinnerung an die Sturmflut 1962, rechts und links der Straße tiefe Gräben vorhanden die beide miterlebten. Rolf Petersen war damals 21 waren, fuhren wir sehr, sehr langsam. An dieser Stel- Jahre alt und lebte bei seinen Eltern in der Peter- le gab es eine langgestreckte Kurve, die ich durch das Beenck-Straße 35. Schräg gegenüber wohnte seine Rathaus, das im Hintergrund zu sehen war, sicher jetzige Frau. durchfahren konnte.“ „Er hat mich damals immer geärgert. Aber das war ja Herr Petersen zeigt auf einen erhöhten Straßenab- normal, immerhin bin ich vier Jahre jünger als er!“, schnitt. antwortete mir Frau Petersen auf die Frage, ob sie „Hier wurde die Reichsstraße dann wieder sichtbar als Kinder viel zusammen gespielt haben. Wir sind und ging in einen Damm über. Im Bereich der Eisen- auf dem Weg zur Wilhelmsburger Reichsstraße, denn bahnüberführung an der Veddel versank die Straße dort hat für Herrn Petersen alles angefangen. Da- dann wieder im Wasser und wir näherten uns vor- bei kommen wir an dem Denkmal für die Opfer der sichtig der Unterführung. Der LKW versank immer Sturmflut 1962 vorbei. Wir halten an und steigen aus. tiefer im Wasser und plötzlich streikte der Motor, es Erinnerungen von Helga und Rolf Petersen, Mitten auf einer Erhöhung steht ein gewaltiger Stein gab kein Zurück mehr.“ geb. 1944 und 1941 mit Gravuren. Auch das Denkmal im Hintergrund ist Während wir die Straße auf und ab fahren, versuche aufgeschrieben von Lena Klemke beschildert und verweist auf die Opfer der Sturmflut. ich mir vorzustellen, wie damals alles ausgesehen Vor dem Stein steht ein Sockel mit einem Bronze- haben muss. Immer, wenn wir eine Erhebung hinter Relief, das die Geschichte der Eindeichung von Wil- uns lassen und die Straße bergab führt, tauchen in Eine Zeitreise durch helmsburg aufzeigt. Wir fahren weiter und kommen meinem Kopf Bilder aus Dokumentationen über die nach einiger Zeit zur Wilhelmsburger Reichsstraße. Flut auf. „Ich war damals bei der Bundeswehr, in der Panzer- Auf dem Weg zur Peter-Beenck-Straße fahren wir an Wilhelmsburg brigade 7 in Fischbek. Wir waren auf dem Rückweg dem Deich vorbei, der in der Nacht von Freitag auf von einer 36-Stunden-Übung und hörten früh mor- Samstag 1962 brach und fast 200 Menschen in den gens von der Sturmflut. Es wurden Ortskundige ge- Tod riss. Wir halten an und steigen auf den Deich, der sucht, die die Befahrung der Wilhelmsburger Reichs- nach der Flut aufgestockt wurde. Ich kann weit bis zur straße von Harburg nach Hamburg prüfen sollten. Da S-Bahn-Haltestelle Veddel sehen. Zu meiner Linken alles unter Wasser stand, gab es keine offensichtliche ist Wasser, im Moment völlig ruhig. Es ist mir nicht Orientierung. Wir saßen zu zweit in einem Siebenein- möglich, mir vorzustellen, dass das Wasser über den halbtonner und fuhren ganz langsam die Straße ent- Damm steigen könnte, der so gewaltig, stark und un- lang.“ erschütterlich unter meinen Füßen ruht. Zu meiner Ich blicke aus dem Autofenster nach draußen. Heute Rechten befinden sich einerseits Häuser, anderer- ist die Wilhelmsburger Reichsstraße mit Leitplanken seits ist dort ein Gewerbegebiet zu sehen. versehen und rechts und links stehen Bäume. „Dort war vor der Flut eine große Anlage mit Klein- „Diese Orientierungen, die Sie jetzt hier sehen, hatten gärten. Nachdem so viele Menschen in ihren kleinen wir damals nicht. Ich kann mich gut daran erinnern, Gartenhütten von den Wassermassen überrascht wie ein Feuerwehrauto von der Fahrbahn abgekom- und getötet wurden, hat man sich dazu entschlossen,

22 23 die Gärten nicht zu erneuern, sondern das Gebiet als alt und wohnte noch bei meinen Eltern. Wir haben Pinkepank in meine Richtung. Ich kann mir ein Grin- bei denen wir untergekommen waren, doch mein Gewerbegebiet zu verkaufen.“ damals viel falsch gemacht. Anstatt unsere Haustür sen nicht verkneifen. „Warte, ich hab deinen Namen Mann blieb daheim. Eigentlich mussten alle Flutop- Während Frau Petersen mir das erzählt, wandert ihr aufzulassen, haben wir sie abgeschlossen. Später ha- auf der Zunge, sag nichts!“ Frau Pinkepank steht mit fer in Notaufnahmen untergebracht werden, doch ich Blick über die vielen Firmen, die dort ansässig sind. ben wir erlebt, was für ein Fehler das war, denn der strahlenden Augen in der Tür und überlegt fieberhaft, konnte den Busfahrer überreden, mich bei einer Be- Ich schaue auf den Boden und kann ganz genau se- Wasserdruck war so stark, dass unsere Tür irgend- wer ich bin. Doch Frau Petersen und ich sagen ihr kannten in Harburg aussteigen zu lassen. Ich muss- hen, wo damals der alte Damm geendet hat und wo wann brach. Das werde ich nie im Leben vergessen; gleichzeitig, dass sie mich gar nicht kennen kann. te ihm versprechen, mich registrieren zu lassen, so der neue aufgestockt wurde. genau in diesem Moment stand ich mit meinem Va- „Rolf und ich nehmen an einem Schulprojekt über die wie jeder andere auch. Als ich bei meiner Bekannten „Zur Innenstadt war nicht durchzukommen. Pioniere ter auf der Treppe im ersten Stock und meine Mutter Sturmflut 1962 teil, und diese junge Dame schreibt ankam, war ich sehr überrascht und sie mindestens aus Celle, die hier noch mit einem Sturmboot un- stand vor der Eingangstür. Sie wurde von der Welle unsere Geschichte dann auf.“ genauso, wenn nicht gar noch mehr. terwegs waren, holten uns aus unserem LKW und einfach umgeworfen. Wir holten sie aus dem Wasser Frau Pinkepank besteht weiterhin darauf, dass wir hi- Sie saß mit ihrer Familie beim Frühstück und hat- nach kurzer Beratung fuhren wir zurück bis zum und stiegen in den ersten Stock. Ich erlaubte meinem nein kommen und so sitzen wir wenig später in der te von der Flut gar nichts mitbekommen! Ihr Mann Wilhelmsburger Rathaus. Hier wollten wir den Be- Vater nicht, zu nah ans Fenster zu gehen. Ich hatte Küche. machte sich gleich auf den Weg, um meinem Mann reich westlich der Reichsstraße, also auch die Peter- ganz große Angst, dass das Haus nach vorne kippt. „So, erzählt mal. Wie kommt ihr auf so was?“ beizustehen, doch er kam mit der erschreckenden Beenck-Straße, abfahren und sehen, ob Hilfe ge- Wir sind auf das Dach unseres Hauses geklettert, Ich erzähle von unserem Aufruf im Hamburger Abend- Nachricht zurück, dass mein Mann nicht zuhause auf- braucht wurde.“ dann auf das Dach des Nachbarhauses und schließ- blatt und was mir Frau und Herr Petersen schon alles zufinden war. Später stellte sich heraus, dass mein Wir sind mittlerweile in dem Wohngebiet angekom- lich dort im Obergeschoss gelandet. geschildert haben. Mann mit einem Nachbarn zum Haus meiner Eltern men, in dem das Ehepaar fast 60 Jahre gelebt hat. Zur Am nächsten Tag wurden wir mit dem Boot abgeholt Sobald ich geendet habe, fängt Frau Pinkepank an gepaddelt war. Meine Eltern hatten einen kleinen La- Rechten befindet sich das kleine weiße Häuschen, in und mit einem Bus in eine Aufnahmestation in einer zu erzählen. „Ich war damals im 8. Monat schwanger. den, und die Männer wollten sich dort Nahrung ho- dem Herr Petersen aufgewachsen ist, zur Linken das Schule gebracht. Ein paar Tage später ging es von da Mein Mann und ich haben zusammen mit unserem len. Allerdings war das Einzige, was noch nicht vom von Frau Petersen. Die niedrigen weißen Zäune, die aus zu einer Helfersfamilie, und nach insgesamt acht einjährigen Kind hier unten geschlafen. In der Nacht Wasser verschluckt war, der teure Alkohol, der auf beide Häuser und Gärten von der Straße abtrennen, Tagen kehrten wir zurück in unser Zuhause.“ klopfte es an unserem Fenster und mein Nachbar den obersten Regalen stand. Kurzerhand nahmen die haben sie damals selber gesetzt. Vor dem Haus, in dem das Ehepaar Petersen nach der schrie: Wacht auf! Das Wasser kommt! Männer die Flaschen mit und teilten sie mit ein paar „Die kleinen Dächer über den Eingängen waren teil- Hochzeit gewohnt hat, bleiben wir stehen. Das wei- Überall kam das Wasser durch, nichts war dicht. Ich Soldaten, die auf Rettungsmissionen bei ihnen vorbei weise von Wasser verdeckt. Es gab keinen Strom, kei- ße Haus mit schwarzem Dach überragt die anderen habe mir mein Kind geschnappt, und wir sind zu den kamen. Nach ein paar Tagen bin ich auch wieder nach ne Heizung, kein Wasser und man hatte lediglich nur Häuser um ein ganzes Stück. 1965, also drei Jahre Nachbarn in den ersten Stock geflüchtet. Mein Mann Hause zurückgekehrt.“ Tagesbedarf an Lebensmitteln in den Häusern. Viele nach der Flut, heirateten die beiden und blieben in der war so realistisch und hat an Klamotten und Nahrung Während wir auf dem Weg zur Haustür sind, zeigt aber wollten doch die Häuser verlassen, zu Bekann- Straße wohnen, in der sie aufgewachsen sind. Noch für die Kleine gedacht. In ein Bettlaken gewickelt, uns Frau Pinkepank im Wohnzimmer noch, wie hoch ten oder in Notunterkünfte nach Harburg. Mit den immer kennen sie viele Bewohner der Straße, und so brachte er kleine Gläschen aus dem Kühlschrank und das Wasser stand. „Unser Schrank wurde vom Was- Sturmbooten haben wir die Bewohner zur Reichs- kommt es, dass wir fünf Minuten später bei Frau Pin- Wäsche nach oben. Dann lief er wieder nach unten ser einfach hochgehoben! Er ist umgekippt, aber das straße gebracht, wo Bundeswehrfahrzeuge die Men- kepank an der Haustür klingeln. und holte noch mehr, wir haben es ja gebraucht. Er Geschirr ist heil geblieben. Nach der Flut mussten wir schen nach Harburg brachten. Die Menschen aus „Rolf hat sie damals hochschwanger aus der Woh- lief ein drittes Mal hinunter und wollte unseren Tep- fast alles erneuern, auch den Boden. Aber so sind wir ihren überfluteten Wohnungen zu holen, das ist für nung geholt. Aber das kann sie viel besser erzählen, pich retten, doch es war schon zu spät – unsere Woh- zu diesem schönen Holzfußboden gekommen.“ mich der prägendste Moment während der gesamten mal sehen, ob sie da ist “, sagt Frau Petersen. nung stand unter Wasser. Zeit geblieben. Am schlimmsten war es, als wir in die Und schon geht die Tür auf. Ich schlief auf dem Sofa, zusammen mit meiner Toch- Peter-Beenck-Straße einbogen und die Wasserwüste „Ach, ihr seid das! Was macht ihr denn hier? Kommt ter. Am nächsten Tag kam Rolf. Ich hatte Angst, dass sahen und die Häuser unserer Nachbarn und mein rein, kommt rein.“ die Geburt jederzeit anfangen könnte. Was hätte ich Elternhaus auftauchten“, sagt Herr Petersen „Danke, aber wir haben nur eine kurze Frage.“, sagt dann gemacht? Wir hätten keine Hilfe gehabt! Nein, Während wir durch die Peter-Beenck-Straße schlen- Frau Petersen. die Angst war zu groß. Zusammen mit meiner Tochter dern, erzählt mir Frau Petersen von ihren Erlebnis- „Ach was. Ich bin gerade angekommen, kommt rein brachte mich Rolf weg, genau wie unsere Nachbarn, sen während der Flut. „Ich war gerade mal 17 Jahre und setzt euch. Bist du groß geworden!“, sagt Frau

24 25 Arbeiter der Spätschicht um 14 Uhr von der betriebs- Wasser zu kommen. Die Bushaltestelle in Neumüh- eigenen Barkasse am Anleger Neumühlen abgeholt len lag tief unter Wasser, und wir konnten geradeso werden. hindurchwaten. Feuerwehrautos waren im Einsatz Als wir nach einer Busfahrt dort ankamen, bot sich und versuchten, die Fahrzeuge zu bergen, die dort uns ein beängstigendes Bild. Die Brücke, die sonst geparkt hatten. Bei dem Hochwasser kam natürlich zum Wasser hinab zum Ponton führte, ragte aufwärts, auch kein Bus mehr nach Neumühlen. Wir mussten so hoch hatte das Wasser den Ponton gehoben. Sie den Berg bis zur hinaufsteigen, wo ein wurde vom Wasser überspült, so dass wir Schuhe Schnellbus nach fuhr. und Strümpfe auszogen, die Hosen hochkrempelten, uns am Geländer festhielten und barfuß zum Pon- Am nächsten Morgen bekam ich sehr früh ein Tele- ton hinauf wateten. Bald näherte sich die Barkasse. gramm, in dem es hieß, dass ich schnell zur Früh- Wie eine Nussschale wurde sie von den hohen Wel- schicht kommen sollte, obwohl ich zur Spätschicht len hin und her geworfen, bevor sie unter einigen eingeteilt war. Wieder schlüpfte ich in meine Gummi- Schwierigkeiten anlegte. Zum Glück war der Skipper stiefel. An diesem Morgen war schon wieder bestes ein erfahrener Seemann und ehemals Kapitän eines Wetter und ich fuhr ohne Schwierigkeiten rüber zur Fischkutters. Er meisterte das An- und Ablegen unter BP. Erinnerungen von Raimund Dietzsch, geb. 1936 Schwerstarbeit. Die Überfahrt, die regulär sonst acht Als ich dort ankam, empfing mich pure Verwüstung. Minuten dauerte, zog sich durch den hohen Wellen- Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Mei- gang auf 15 Minuten hin und hatte schon etwas Be- ne Kollegen berichteten, was in der Nachtschicht al- Die Sturmflutnacht in ängstigendes. les passiert war. Das Wasser hatte Teile der Anlage Für 16 Uhr war das Hochwasser vorhergesagt, das zerstört oder funktionsunfähig gemacht. Einer unse- Wasser stieg immer weiter. Manch einer fragte sich, rer Kollegen war ums Leben gekommen. der Ölraffinerie in Finkenwerder ob wir diesen Abend heil überstehen würden. Später hörten wir, dass wir noch Glück gehabt hat- Als wir anlegten, war noch alles trocken, und wir stie- ten. Auf dem Containerterminal in Waltershof hatten gen in die tiefer gelegenen Umkleideräume. Weil wir mehrere Hafenarbeiter in dieser Nacht ihr Leben ver- Links: Raimund Dietzsch beim Wiederaufbau, 1955. Mitte: Klassenfoto Klasse 9a, Schule Telemannstraße, 1949. Rechts: Portrait, 1956. spät dran waren, eilten wir alsbald in Arbeitsmontur loren. zur Ablösung und mündlichen Übergabe an unseren Alle Mitarbeiter der BP Finkenwerder spendeten fünf Raimund Dietzsch wuchs in der Tornquiststraße 21 te bis 1960. Im Jahr der Sturmflut war die Raffinerie jeweiligen Arbeitsplatz. Prozent ihres Gehaltes, um die Angehörigen der Op- in Hamburg-Eimsbüttel auf. Seine Kindheit im Krieg also gerade einmal zwei Jahre im voll wiederherge- Das Wasser stieg auch nach 16 Uhr immer höher und fer zu unterstützen. und in den Trümmern sowie die Jahre beim Wieder- stellten Zustand in Betrieb. Ich selbst war damals 27 der Wind nahm an Stärke zu. Lose Ölfässer wurden aufbau Hamburgs als Maurer in einer Akkordkolonne Jahre alt und arbeitete als Produktionshelfer im Un- vom Sturm hin und her gerollt. Es war kaum möglich, Dank des Einsatzes von Helmut Schmidt konnten aber der Firma Heinrich Höppner wie die Erlebnisse wäh- ternehmen. unter diesen Umständen zu arbeiten, aber wir taten, auch viele Menschen gerettet werden. Viele von ihnen rend der Sturmflut haben sein Leben geprägt. was wir konnten. Um 22:40 Uhr kam noch mehr Per- wurden zunächst zum Jenisch Park gebracht, wo sie Am Freitag, den 16. Februar 1962, hatte ich Spät- sonal. Die Männer sollten helfen, bei diesem Unwet- vor dem kalten Wasser in Sicherheit waren. „Die Ölraffinerie der BP (British Petroleum) Finken- schicht. Seit Tagen war schlechtes Wetter und das ter alles unter Kontrolle zu halten. werder wurde 1934 auf einem Gelände aufgebaut, das hydrographische Institut hatte für die Nacht schwe- Um 23 Uhr war unsere Schicht zu Ende und die Bar- Ich hatte Glück, dass mir nichts passiert ist. Doch bis in den Jahren zuvor mit Elbschlick aufgespült worden re Stürme bis Windstärke 12 aus Nordwest vorher- kasse holte uns wieder ab. Die Rückfahrt war noch heute bin ich stolz darauf, dass ich in dieser Nacht war. 1943 wurden sechzig Prozent der Anlagen bei gesagt. Weil der Betrieb der Hafenfähren bereits schlimmer als die Hinfahrt. Wir hatten schon alle bei der BP gearbeitet und mit meinen Kollegen der Bombenangriffen zerstört, der Wiederaufbau dauer- am Nachmittag eingestellt worden war, sollten die Gummistiefel an, um überhaupt noch durch das Sturmflut getrotzt habe.“

26 27 Nordmeerstraße, Finkenwerder

Erinnerungen von Marion Wüstemann, geb. 1938 Wiltrud Rosenkranz, Eimsbüttel geb. 1927 aufgeschrieben von Marisol Gribner De grote Floot! Überleben auf dem Dach

Wi harrn domols noch keen Handy un ok keen Com- mehr. Mien Mann, Hugo, mookt de Döör op un rin ke- Am 24. August 2015 habe ich die Zeitzeugin der gro- Knien stand. Der sechs Monate alte Schäferhund Rex puter. Noch nich mol en Auto. Wi harrn unsen Käfer men sien Meister Albert Hagen un sien Fro, de weent ßen Flut von 1962, Frau Marion Wüstemann, 77 Jahre hatte leider nicht angeschlagen. eerst twee Johr loter. un weent. De beiden hebbt ehr Wohnung op de Peu- alt, in ihrer Wohnung im Daniel Schutte-Stift besucht Frau Wüstemann griff nach ihrem Baby und schnapp- In uns Bad wörr al dat mächtige Hulen vun den Storm te un dor steiht allens ünner Woter. Uns Beseuk un und interviewt. Es war ein spannendes und emotiona- te sich die „Nottasche“ mit den Papieren. Ihr Mann to heuern. Wi harrn uns veer Lüüd inloodt, de wi vun wi kregen nu eerst to weten, dat de grote Floot uns les Interview, in dem ich von einer sehr bewegenden nahm das andere Kind und den Hund. Allesamt lie- uns Öösterriek-Urlaub kennen. Op‘nmol geiht dat Hamborg öberrennt. Mien Mann hett domols noch bi Lebensgeschichte erfahren habe. fen sie zum Auto. Doch das sprang nicht an, weil der Licht ut. Na, dor warrt woll en poor Leitungen afreten Strom un Hafenbau sien Arbeit hatt. De Meister vun Auspuff schon voller Wasser war. Das alles zu ihrem sien. Wi hebbt jo noch den Oben in de Köök. Gau den mien Mann hett, ok wenn sien Wohnung un vun sien Als im Februar 1962 die Sturmflut über Hamburg Glück, denn sonst wären sie am Deich vermutlich er- Woterketel opstellt un Kerzen an. Dat mookt dat eerst Fro de Heißmangel op de Veddel ünner Woter stun- kam, lebte Marion Wüstemann mit ihrem Mann und trunken. Dort stieg nämlich mit großer Geschwindig- so richtig kommodig. Dat eerste Poor kloppt al an de nen, all sien Lüüd gau vun to Huus afhoolt. zwei Söhnen (drei Jahre und zehn Monate) in einem keit das Wasser und eine Flucht mit dem Auto wäre Döör. De Klingel geiht nich. Se vertellt, dat al so enige Man goot, dat wi Hamborgers uns „Schmidtl“ harrn! kleinen Holzhaus in einer Laubenkolonie am Brum- unmöglich gewesen. Bööm ümfullen sünd. Un denn kummt dat twete Poor De hett sik dorchsett un de Soldoten un ok Heliko- merkarten in Wilhelmsburg, das sie erst sieben Mo- Sie liefen zum nahe gelegenen Vereinshaus und - ut Bahrenfeld un Schmidt: Keen Lücht un de Bohn pter anfordert, üm de Lüüd, de op de Dacken vun nate zuvor bezogen hatten. Zu dem Zeitpunkt, als das suchten dort auf Stühlen und Tischen Schutz. Als das blifft stohn in Altona. Mien Koffie un Koken hett mien ehre Hüüs seten, aftoholen. De Soldoten harrn grote Wasser stieg, war es Nacht und die Familie Wüste- Wasser jedoch weiter stieg, kletterte Familie Wüste- Gäst op anner Gedanken brocht. Nanu!? Dat kloppt Schlauchboote un kunnen öberall de Lüüd retten. Jo, mann schlief. Sie wurden erst durch das Plätschern mann mit dreißig weiteren Menschen auf das Dach wedder ganz dull an uns Döör. Inloodt hebbt wi keen uns Schmidt-Schnauze, dat hest goot mookt. des Wassers geweckt, das ihnen schon bis zu den des Vereinshauses. Dort warteten sie mit knapper

28 29 Kleidung bei eisiger Kälte und Schneeregen auf Ret- an Tische, Fensterbänke oder andere Gegenstände Hund durfte mit. Er wurde draußen in einem Zwinger ters ging es Familie Wüstemann finanziell recht gut. tung. Der kleine Hund durfte nicht mit auf das Dach, geklammert. Frau Wüstemann hatte auch einmal ge- gehalten. Die Familien haben sich in einer Gemein- Frau Wüstemann bekam zwei weitere Kinder. Später weil die Leute schon ziemlich hysterisch waren und sehen, wie er hinter dem Fenster des Vereinshauses schaftsküche selbst versorgt. Kurze Zeit nach der An- fing sie an, im Akkord zu arbeiten und war täglich von Angst hatten, dass der Hund aggressiv werden könn- vorbeischwamm. Später hatten ihn Rettungskräfte kunft in der Probstei fing Herr Wüstemann wieder an, 16 bis 23 Uhr als Datentypistin tätig. te. Marion Wüstemann schützte sich und ihre Kinder aus dem Wasser gefischt. selbständig als Dekorateur für die Textilbranche zu Frau Wüstemann hat bis heute ein tragisches Ereig- vor dem Wind und der Kälte hinter einem Schornstein, Die Eltern von Marion Wüstemann wohnten in der arbeiten. Die Familie hat viel materielle Hilfe von den nis nicht vergessen, das einer Nachbarsfamilie wi- während ihr Mann das steigende Wasser angsterfüllt Nähe. Da keine neuen Nachrichten über die Lage Kunden des Vaters bekommen. derfahren ist. In der Wohnung nebenan wohnte ein beobachtete und seiner Frau berichtete. Vom Dach bekannt gegeben wurden, machten sich die beiden Als das Wasser sich zurückgezogen hatte, durfte man junges Ehepaar mit zwei Kindern. Der Vater arbeitete aus sah man alle möglichen Gegenstände vorbei- große Sorgen, wie es um ihre Tochter und deren Fa- für ein paar Tage in die Häuser zurück. Diese waren bei der Bundeswehr und war zum Zeitpunkt der Flut schwimmen, auch Tiere und Menschen. Als ihr Mann milie stand. Der Vater war ausgebildeter Rettungs- unbewohnbar geworden, da sie teilweise in sich zu- dienstlich unterwegs. endlich die Nachricht verkündete, dass das Wasser schwimmer. Da er die Ungewissheit nicht länger aus- sammengefallen waren. In den Trümmern fand man Die Mutter war Rettungsschwimmerin, konnte also nicht mehr stieg, wusste sie, dass die schlimmste Ge- hielt, stürzte er sich in die eisigen Fluten. Doch kam noch immer Leichen. Später wurden die Häuser ab- eigentlich gut schwimmen. So stürzte sie sich in die fahr vorüber war. Doch es war noch immer eisig kalt er nicht weit, weil die Strömung so stark war. Dadurch gerissen. Doch vorher konnte die Familie noch einige Fluten, um Hilfe für ihre Kinder zu holen. Dabei muss- und an ein Hinabsteigen ins Vereinshaus war nicht zu zog er sich eine Lungenentzündung zu. Kinderspielsachen und Bettwäsche aus dem Haus te sie mit dem Kopf gegen einen Giebel gestoßen sein. denken. In der Schule wurden die Flutopfer zunächst mit Bro- retten. Die Entschädigung für das Haus belief sich auf Sie verlor das Bewusstsein und ertrank. Die Kinder Nach qualvollen acht Stunden kam endlich die Ret- ten und Decken versorgt. Helmut Schmidt hatte da- 800 DM. Insgesamt war das keine große Hilfe. „Man wurden glücklicherweise dennoch gerettet. Die junge tung. Mit Schlauchbooten wurden zuerst Frauen und für gesorgt, dass zahlreiche Fahrzeuge bereitgestellt stand vor dem Nichts“, sagt Frau Wüstemann. Sie er- Frau wurde als letzte Leiche geborgen. Man konn- Kinder vom Dach geholt und zum Deich gebracht. wurden. Mit einem davon wurde die Familie zu einer innert sich noch heute an viele Details. So hatte zum te sie nur am Ring identifizieren, da der Körper von Frau Wüstemann erzählte, wie Wäscheständer aus Schwester von Frau Wüstemann nach Eimsbüttel ge- Beispiel das kleine Holzkreuz, unter dem ihr Welllen- Wasserratten bis zur Unkenntlichkeit zerfressen war. dem Wasser ragten und sie in großer Sorge war, dass bracht. Dort konnten sie jedoch nur für eine Nacht sittich begraben lag, dem Wasser standgehalten. Der Mann konnte dieses furchtbare Unglück nicht das Schlauchboot aufgespießt werden könnte. Doch bleiben, da die Schwester selbst zur Untermiete Frau Wüstemann spricht sehr dankbar über die Hilfe, verwinden und beging Selbstmord. Die Kinder wuch- die Rettungskraft beruhigte sie und erklärte ihr, dass wohnte. Am nächsten Tag zogen sie zu einer anderen die Helmut Schmidt organisiert hat. Ohne die Hilfs- sen schließlich bei den Großeltern auf. die Boote fünf Luftkammern hätten und deshalb kei- Schwester in die Arnoldstraße nach Altona. aktionen, meint sie, wäre alles viel schlimmer gewe- ne Gefahr drohe. Frau Wüstemann ging jeden Tag in die Stadt zum sen. Ich frage Frau Wüstemann, wie sich diese Katastro- Am Deich wurden die Flutopfer mit Bussen abgeholt Wohnungsamt und kämpfte hartnäckig um eine Blei- Nach einem halben Jahr in der Probstei bekam die phe auf ihr Leben ausgewirkt hat. und in die Sporthalle des Gymnasiums Alter Postweg be für ihre Familie. Nach einer Woche kamen sie in Familie eine Wohnung in Bramfeld zugewiesen. Sie Sie sagt, sie führe seitdem ein wesentlich bewuss- in Harburg gebracht. Nach drei weiteren sorgenvol- die evangelische Probstei Am Mühlenberg in Blan- waren froh, wieder in eigenen vier Wänden wohnen zu teres Leben. Auch sei sie toleranter und gelassener len Stunden hörte sie das Bellen ihres Hundes, der kenese in ein ca. 40 qm großes Zimmer. Dort haben können. Leider durfte der Hund nicht mit in die Woh- geworden. Außerdem habe sie ihre letzten beiden in Begleitung ihres Mannes ankam. Ihr Mann wurde sie ein halbes Jahr gewohnt. Marion Wüstemann nung ziehen. Sie gaben ihn zu einem Bekannten, der Kinder freier erzogen als die ersten beiden. Ihre Le- als Letzter gerettet, weil er der Jüngste war. Dass der beschreibt diese Zeit als sehr angenehm, mit einem beim Zoll gearbeitet hat. Der hörte von dem großen bensphilosophie lautet seitdem: Man muss nicht alles kleine Hund noch am Leben war, glich einem Wunder. gemütlichen und netten Umfeld. Insgesamt wohn- Durchhaltevermögen des Hundes und bildete ihn als haben wollen, sondern man sollte mit dem zufrieden Er hatte in den Fluten stundenlang erbittert um sein ten dort zwölf Familien, Freundschaften wurden ge- Schnüffelhund aus. Durch die fleißige Arbeit des Va- sein, was man hat. Überleben gekämpft. Wahrscheinlich hatte er sich schlossen. Einige haben bis heute gehalten. Auch der

30 31 Ellen Walch, geb. 1941 Erinnerungen von Johannes Tönnies aufgeschrieben von Beyza Erdur und Asma Mohamadi Volljährig in die Sturmflut-Nacht Sturm auf Waltershof

Ich lebte damals in Wilhelmsburg bei meinen Pflege- wir noch kein Telefon, keinen Fernseher, geschweige Im Februar 1962 wohnte ich in einem Haus in Wal- len. Nachdem meine Großeltern in Sicherheit waren, eltern in einem Mehrfamilienhaus, und der 16. Febru- denn ein Handy! Der einzige Nachrichtenträger war tershof und arbeitete bei der Deutschen Bundespost ging ich durch das brusttiefe Wasser zurück zu mei- ar war mein 21. Geburtstag! ein Radio, das natürlich auch nicht funktionierte. Also auf Finkenwerder. ner Familie, um sie auch in Sicherheit zu bringen. Das Damals wurde man erst mit 21 Jahren volljährig. Ich wusste man nicht, was geschehen war, und glaubte, Ich erinnere mich noch ganz genau an meine Spät- Land war sehr uneben und das Wasser war mal tief, hatte mich so sehr auf diesen Tag gefreut, da ich ver- dass der Weltuntergang nahte! Vor allem, weil so et- schicht am Abend der Sturmflut. mal flach, kleinere trockene Stellen gab es auch noch. lobt und sogar schon berufstätig war. Ich war froh, was ja noch nie vorher – soweit uns bekannt – ge- An diesem Abend sollte ich ein Telegramm für ei- Plötzlich sah ich Frau Osnabrück, die gegenüber von endlich über mich selbst bestimmen zu können! schehen war! nen Empfänger im Mühlenwerder Grund zustellen, uns wohnte. Sie war auf dem Weg zur Schule, als ich Es ist merkwürdig, so empfinde ich es im Nachhin- wo eine Hochzeit gefeiert wurde. Ich nahm den VW- sie aufhielt und sie vor dem Hochwasser warnte. Mein Pflegevater war sehr liebevoll, aber auch streng. ein, man hat vor so vielen Sachen Angst, und wenn sie Käfer des Postamtes, stellte das Telegramm zu und Auf dem Rückweg begegnete ich auch unserem Ta- Doch an diesem Geburtstag durfte ich einige gute dann eintreten, benimmt man sich ganz anders als fuhr dann gleich nach Hause. Unser Haus war im Ver- xifahrer Klemm. Er saß in seinem schwarzen Merce- Freunde und natürlich auch meinen Verlobten ein- gedacht! gleich zu den meisten Häusern in Waltershof etwas des, der so gut wie wasserdicht war und im Wasser laden. Wir hatten nur eine kleine Wohnung, und als Wenn ich an diese Panikstunden zurückdenke, weiß höher gelegen. schwamm. Er fragte mich, ob ich ihn nicht zur Drade- es 23 Uhr wurde, mussten meine Gäste nach Hause ich nur noch, dass ich merkwürdigerweise ganz ru- Gegen 23 Uhr klopfte plötzlich mein Vater an unser nau schieben könnte, da die Dradenau höher lag. Ich gehen. Ich war böse auf meinen Vater, weil es mir hig war. Ich betrachtete meinen Gabentisch, ich hat- Fenster und schrie: „Oma und Opa saufen ab!“ Mei- schüttelte den Kopf und sagte: „Geht nicht. Ich muss peinlich war, dass er einfach so meine kleine Feier te u.a. einen neuen Rock bekommen, und dachte bei ne Großeltern wohnten am Köhlbrand, also direkt an zu meiner Familie.“ beendet hatte! mir: Den wirst du nie tragen können, heute geht dein der Elbe. Ich nahm den Post-Käfer und fuhr über eine Währenddessen hatte meine Frau wegen des anste- Im Nachhinein musste ich feststellen, dass das unser Leben zu Ende. höher gelegene Straße zu meinen Großeltern. Ich bin henden Hochwassers bereits die Nachbarschaft alar- Glück war! Denn mein Verlobter und meine Freunde Als dann der helle Morgen kam, wurde es ruhiger. Der ohne zu überlegen einfach in das Haus meiner Groß- miert. Zuallererst halfen wir unserer Nachbarin, die sind mit der letzten Straßenbahn von der Insel ge- Sturm hatte sich etwas gelegt. Wir wurden dann tage- eltern gelaufen und stand bald bis zur Brust im Was- zwei Kinder hatte. Meine Frau und ich holten die Fa- kommen. Nicht auszudenken, wie es geworden wäre, lang von der Bundeswehr durch Boote versorgt, heiz- ser. Alle Möbel schwammen bereits durch das Haus. milie in unser Haus und brachten sie auf dem Dach- wenn alle tagelang in unserer kleinen Wohnung hät- ten den Kohleofen mit zerhackten Stühlen und was Meine Oma saß in der Küche auf der Küchentheke, boden unter. Ich hatte ein Faltboot im Garten, das ich ten ausharren müssen! Was dann kam, war ein In- sonst noch brannte. Wir waren auf jede Hilfe ange- und mein Opa saß auf einem Stuhl, der auf einem draußen am Dachlukenfenster befestigte. Das sollte ferno! Ich war gerade trotz des tosenden Sturmes wiesen. Auch mein Verlobter kam, um uns zu helfen. Tisch stand. Ich rannte zu meiner Oma, nahm sie auf zur Sicherheit dienen, falls das Wasser noch weiter eingeschlafen, als ich durch lautes Geschrei geweckt Unsere Freunde haben diese Zeit anlässlich unserer meine Schulter und brachte sie zur Dradenau zu ei- steigen sollte. Zum Glück kam dieses nie zum Einsatz. wurde! Draußen heulte der Sturm, es war stockdun- späteren Silberhochzeit so bedichtet: ner Zollstation. Mittlerweile war das Wasser so hoch Mit zwei Nachbarn ging ich los, um so viele Men- kel, die Elektrizität funktionierte nicht mehr! Alle Fa- „Robert kam auf nassen Socken und brachte Milch gestiegen, dass ich mich zu Fuß auf den Weg machen schen wie möglich zu retten. Wir sahen eine junge milien des Hauses hatten sich versammelt und wa- und Haferflocken!“ Mein Mann lebt leider nicht mehr, musste. Frau, die auf einem Dach saß, an uns vorbeitreiben. ren in größter Panik. Blickte man aus dem Fenster, doch seine Besuche in dieser Zeit werde ich nie ver- Als ich meine Oma abgesetzt hatte, lief ich auf dem Wir handelten sofort. Mein Nachbar Günther sprang sah man nur noch dunkles Wasser, in dem tote Tiere gessen. direkten Weg zurück zu meinem Opa. Die Feuerwehr ins Wasser und befestigte ein Seil um ihre Hüfte. Da- schwammen. Und das Wasser stieg! Damals hatten war bereits eingetroffen. Sie halfen, ihn herauszuho- nach zogen wir sie durch einen Weidenbusch aus dem

32 33 Auedeich, Finkenwerder

Wasser. Dabei haben wir ihr leider den Arm ausgeku- gestorben war. Insgesamt verloren 43 Flutopfer auf gelt. Die arme Frau schrie vor Schmerzen, aber wir Waltershof ihr Leben. hatten ihr das Leben gerettet. Für mich war das sehr traurig, weil ich fast jeden Wir machten uns mit der Frau auf den Weg zu Frau kannte. Viele meiner damaligen Nachbarn verlor ich Bierbaum. Frau Bierbaum war eine sehr hilfsbereite aus den Augen. Nach der Flut waren alle wie vom Nachbarin. Wir brachten die Geretteten zu ihr, denn Winde verweht, ihre Wohnungen waren ja zerstört. ihr Haus lag auf einer etwas höheren Stelle, also an Sie wurden vom Staat untergebracht und haben Woh- einem relativ trockenen Ort. Auf unserem Weg dort- nungen gestellt bekommen. hin sammelten wir weiter unterkühlte Personen auf. Meine Familie und ich haben noch neun Jahre in Wal- Frau Bierbaum leistete sofort erste Hilfe. tershof gelebt. Danach mussten wir wegziehen, weil Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Käfer zum die Stadt hier den Hafen weiter ausbauen wollte. Die- Postamt Finkenwerder, nahm mir den Paketzustell- sen Plan hatte es schon vor der Flut gegeben. 1962 wagen und holte die unterkühlten Menschen von Frau war das Schicksal von Waltershof eigentlich schon Bierbaum ab und fuhr sie zum Anleger Waltershof. entschieden. Waltershof sollte ein Industriegebiet Am Anleger waren bereits Polizisten und Hadag-Fäh- werden. Wir Einwohner hatten damals jedoch noch ren. Sie nahmen uns die unterkühlten Menschen ab keine Ahnung davon. und verteilten sie auf die Krankenhäuser in Hamburg. 50 Jahre danach wurde zur Erinnerung viel über die Am Tag darauf saß ich mit meinem Vater im Wohn- Flut geschrieben. Dabei ärgerte ich mich, dass fast zimmer und schaute fern. Angespannt verfolgten wir nur über Wilhelmsburg berichtet wurde. Als hätte es die Nachrichten, denn es hieß, die Sturmflut könnte die Verstorbenen aus Waltershof nie gegeben. Ich be- noch einmal wiederkommen. Das war unsere größ- schloss, mich hinzusetzen und darüber zu schreiben, te Angst. Doch nach langem Bangen war schließlich wie es in Waltershof war. Ich fing an zu recherchieren klar, dass wir das Schlimmste überstanden hatten. und fand viele interessante Informationen, von denen In den Tagen nach der Flut kamen bei der Post viele ich bis dahin noch nichts wusste. Telegramme und Eilbriefe an. Alle fragten: Wo sind 4096 Bewohner wohnten in der Flutnacht noch auf unsere Bekannten? Das Problem war, dass es viele Waltershof. Viele der umgekommenen Menschen Adressen nun nicht mehr gab. wurden erst Ende März gefunden. Ich habe trotzdem vieles zustellen können, weil ich Bei diesen Recherchen kam die Frage auf: Wieso hatte die Leute fast alle kannte und wusste, wo sie unterge- es auf Waltershof eigentlich keinen Alarm gegeben? kommen waren. Beim Zustellen dieser Telegramme Ich fand heraus, dass es am Petroleumhafen eine und Eilbriefe sah ich Frau Osnabrück wieder, die auch Hochwasserwarnanlage gegeben hatte, die jedoch Post bekommen hatte. Als ich mich verabschieden zum Zeitpunkt der Flut defekt war. Aber wie kann eine wollte, hielt sie mir plötzlich eine D-Mark entgegen solche Anlage defekt sein? An der ganzen Elbe gab es und sagte: “Hier Johannes, du hast mir das Leben eine Deichwacht, außer auf Waltershof. Die hätten wir gerettet.“ Ich nahm die Mark und bedankte mich. Ich gebraucht. Im Nachhinein bringt mir diese Erkennt- weil das Wasser schon da war. 2012 haben wir bei der Außerdem wurde daneben ein Schild mit dem Text war total überrascht, denn um so etwas war es mir nis auch nichts mehr. Ich erinnere mich noch, dass Seemannsmission Duckdalben ein Flutdenkmal auf- „Waltershof, ein von Sturmfluten geprägter Stadt- nie gegangen. Ich persönlich habe nur das getan, was an dem Tag die Waltershofer Polizei gegen 0:20 Uhr gestellt. Das ist ein 3,5 Tonnen schwerer Findling, auf teil!“ auf Deutsch und Englisch angebracht. Es fällt für mich das einzig Richtige in dieser Situation war. kam, um die Menschen zu warnen. Zwanzig Minuten dem eine Bronzetafel eingearbeitet ist. Hier sind die mir noch heute schwer, über das alles zu reden. Ich Vierzehn Tage später bekam ich die Nachricht, dass später waren sie wieder zurück auf Finkenwerder. Die 43 Flutopfer von Waltershof aufgelistet. Ich habe je- denke immer noch oft an die Flut. So ganz verkraften mein Opa im Krankenhaus an einer Unterkühlung Polizisten konnten die Bewohner nicht mehr warnen, des der Opfer persönlich gekannt. werde ich diese Erlebnisse wohl nie.

34 35 Zusammen mit Johannes Horneber sitze ich im Auszeichnung abschloss. Sobald ich das Zeugnis in Wohnzimmer der Wohnung, die er mit seiner Frau ge- den Händen hielt, verließ ich die Firma. mütlich eingerichtet hat. In der Ecke zwitschern zwei Mit 19 Jahren arbeitete ich für ein halbes Jahr als gelbe Vögel in ihren Käfigen. Vor dem Fenster steht Erzieher in einem Kinderheim für Schwererziehbare eine kleine Wasserquelle. Ihr fröhliches Plätschern in der Nähe von Friedrichroda. Nach einer Umschu- lässt mich denken, dass ich nicht in Hamburg, son- ling zum Betonbauer und Zimmerer gelangte ich dern weit, weit weg bin. Kein Autogeräusch kommt zu über Stationen in Stuttgart und Hannover 1956 nach uns durch. Ich fühle mich sofort wohl und geborgen. Hamburg. 1961 legte ich mein Examen als Tiefbauin- Der heute 81-Jährige sitzt mir gegenüber, seine wei- genieur in Hamburg ab. So kam ich zu der Tiefbaufir- ßen Haare zeugen von einem langen Leben und seine ma Wellmann in Lokstedt, für die ich ein Jahr später junggebliebenen Augen blitzen mich freudig an. Ich während der Flut im Einsatz war. muss gar nichts weiter sagen, denn schon im nächs- Mein Wochenablauf war immer gleich. Ich arbeitete ten Moment befinde ich mich in der Lebensgeschich- 70-80 Stunden pro Woche. te von Johannes: Ich musste früh aufstehen und durch Besprechungen oder Abnahmen von Baustellen kam ich meistens Ich bin 1934 in Nürnberg geboren und der Älteste von nicht vor 21 Uhr nach Hause. Körperlich hatte ich vier Jungs. Meine Mutter trug mit Stolz ihr Mutter- mich an die Belastung gewöhnt, doch meine Familie kreuz, das sie als Belohnung für vier gesunde, stram- war mir sehr wichtig. Meine Arbeitszeiten bedeute- me Burschen bekam. Damals war es üblich, dass wir ten, dass ich meine Kinder kaum gesehen habe. Des- als Pimpfe, als kleine Nazis, erzogen wurden. Bis halb brachte ich sie, sooft es ging, zur Schule. heute kann ich nicht verstehen, warum unsere Eltern Im Februar 1962 waren in der Firma 60 Mitarbeiter das zugelassen haben. tätig. Am Abend des 16.Februars 1962 wurden wir te- Als ich neun Jahre alt war, sind wir in den Thüringer lefonisch vorgewarnt, dass ein Katastropheneinsatz Wald, nach Friedrichroda, gezogen. Die folgenden elf bevorstand. Wir sollten uns am kommenden Mor- Erinnerungen von Johannes Horneber, geb. 1934 Jahre lebten wir hier. 1944 fiel mein Vater in Russland gen um 6 Uhr auf unserem Betriebsplatz einfinden. aufgeschrieben von Lena Klemke und meine Mutter stand nun alleine mit uns Buben da. Mehrere Deiche waren durch die Flut gebrochen und Das war der Moment, in dem sie wohl aufwachte und nun sollten einige von uns eine Deichbruchstelle am sich vom Nationalsozialismus abwandte. Moorfleeter Elbdeich mit Großpflastersteinen füllen. Mit dem Bautrupp gegen Die Hungerszeit von 1946 bis 1948 lässt mich bis heu- Die Steine wurden in unserem städtischen Lager in te nicht los. Wie mich diese Zeit während der Sturm- Tiefstack geladen und zur Bruchstelle gefahren. Mor- flut wieder einholen würde, erzähle ich später. Da- gens um sieben ging es los. Die Bruchstelle war ca. den gebrochenen Deich mals gab es meistens noch nicht einmal mehr Brot. fünfzehn Meter breit. Meine Aufgabe war es, die LKW Außerdem war meine Mutter Vegetarierin, weshalb einzuweisen, damit sie rückwärts bis zur Bruchstel- es für uns nur sehr selten Fleisch gab. le fahren konnten, um dort abzuladen. Ganz langsam 1949 war ich Schulbester in der Hauptschule und fuhren die Zwanzigtonner LKW, denn die Fläche, die danach besuchte ich noch ein Jahr die Oberschu- wir zum Rangieren zur Verfügung hatten, war sch- le. Mein beruflicher Werdegang war bunt. Nach der mal und rutschig. Des Weiteren war da ja noch der Oberschule begann ich meine Ausbildung zum Tisch- normale Verkehr! Meine einzige Hilfe war ein weißes ler in einer Möbelfabrik, die ich als Kreisbester mit Taschentuch, da es unmöglich war, sich mit Worten

Neßdeich, Finkenwerder 36 37 zu verständigen. Jeder Laut wurde von den starken Mittagessen war nicht geplant. So wurde ich losge- Sturmgeräuschen verschluckt. Bis zum Abend hat- schickt, um für meine Arbeiter und mich etwas zu ten wir ca. achtzig LKW-Ladungen verarbeitet, wobei kaufen. Die nachfolgende Situation erinnerte mich die ersten Ladungen kaum auffielen. Wir sahen die an die Hungerszeit während meiner Kindheit. Fast Erinnerungen von Jürgen Heinemann, geb. 1935 Pflastersteine im Deichloch verschwinden, doch eine zwei Stunden verbrachte ich damit, sämtliche Läden aufgeschrieben von Masud Raufi und Beyza Erdur Wirkung sahen wir nicht. Dafür war das Loch zu groß abzuklappern, doch nirgends gab es etwas zu essen und die Wassermassen zu stark. Ab dem fünfzehnten oder zu trinken, noch nicht einmal Brot. Sie waren LKW konnte man eine geringe Veränderung erken- alle ausverkauft, denn die Menschen hatten in ihrer Ein Polizei-Einsatz nen. Panik alles gekauft, was die Regale hergaben. Nach Am selben Abend wurden wir von der Bundeswehr einer langen Suche kam ich mit Brot, Würstchen und abgelöst. Mein Job wurde nun von drei Männern erle- etwas Bier für alle zurück. Insgesamt wird es wohl so während der Sturmflut digt. Das muss man sich mal vorstellen! Ich hab das fünf Jahre gedauert haben, bis alle Deiche erhöht und alleine geschafft und die Bundeswehr braucht gleich sicher vor einer Sturmflut waren. drei Mann. Zwischen Norder- und Süderelbe in Wilhelmsburg Es war der 15. Februar 1962, ich war Polizeibeam- Er drehte sich um und sagte: „Ich denke nicht, dass starben in der Nacht von Freitag auf Samstag mehr ter und hatte Spätdienst in der Polizeiwache 83 in es eine bedrohliche Situation ist. Falls das Wasser Bei der Ankunft an der Bruchstelle erlebte ich wohl als zweihundert Menschen. Die vom Berliner Ufer am Finkenwerder. Zunächst war es ein ganz gewöhnli- weiter ansteigen sollte, womit ich nicht rechne, kön- meine schlimmste Erfahrung, die mich bis heu- Spreehafen überflutete Insel fiel damals in verschie- cher Arbeitstag für mich. Meine Arbeitskollegen und nen Sie uns gerne nochmal Bescheid geben.“ te nicht wieder loslässt und mich immer wieder im dene, miteinander konkurrierende Zuständigkeiten, ich verrichteten unseren Dienst in der Wache 83 in Ich glaube, sie haben gemerkt, dass wir sie nicht Traum überrascht. Durch das Loch im Damm ström- was die Kommunikation und die Rettungsmaßnah- Finkenwerder, unterhielten uns und erledigten ne- ernst genommen hatten. ten Unmengen von Wasser, aber auch Äste, Zäune, men erheblich erschwerte. benbei unsere Arbeit. Am frühen Nachmittag kamen Am Ende der Schicht fuhr ich mit meinem Fahrrad Gestrüpp, Boote, halbe Holzdächer, Fässer und wei- Die Bombenschäden aus dem zweiten Weltkrieg an zwei Deichwarte herein. Ich fragte mich, was sie wohl nach Hause. Die Kinder waren schon im Bett und tere Gegenstände. Alles, was die Strömung mit sich den Wilhelmsburger Deichen hatte man nach dem wollten. Deichwarte in der Wache? Worum konnte schliefen tief und fest. „Sie sind so schnell groß ge- reißen konnte, wurde von seinem Platz gezerrt. Plötz- Krieg nur mit Trümmerschutt gefüllt, der später es denn gehen? Vielleicht wurden sie ja bedroht. Ich worden“, dachte ich und schmunzelte, als ich nach ih- lich tanzte ein kleines, wunderschönes Holzhaus auf den Wassermassen der Sturmflut nicht standhalten spitzte die Ohren. nen sah. Sie waren drei und vier Jahre alt. Ich schloss einem massiven Holzfloß. Es sah so unerschütterlich konnte. In den Schrebergärten waren vor allem Aus- „Guten Tag, Herr Kommissar“, sagte der eine. „Wir die Tür und ging ins Wohnzimmer, setzte mich zu und stark aus, wie es auf dem Wasser in unsere Rich- gebombte und Flüchtlinge aus der besetzten Zone sind hier, um Ihnen mitzuteilen, dass das Wasser au- meiner Frau und versuchte, mich zu entspannen. Wir tung trieb. Vor dem Deichbruchloch verfing es sich angesiedelt, meist in provisorisch gebauten Behau- ßergewöhnlich hoch läuft. So einen starken Anstieg guckten Fernsehen und unterhielten uns über den und innerhalb weniger Minuten war nichts mehr da- sungen, die nicht den geringsten Schutz boten. Die haben wir bisher noch nicht gesehen. Wir wollten Sie Tag. von zu sehen. Durch den Wasserdruck zerbrach das von alten und zu niedrigen Deichen umrahmte Fluss- zur Sicherheit vorwarnen.“ Wir waren schon im Bett und fast eingeschlafen, als Häuschen in seine Einzelteile und ging unter. Von ei- insel ist außerdem ein tiefliegendes Gebiet und die Der zufällig anwesende Revierführer reagierte kurz vor Mitternacht mein Nachbar an das Schlafzim- ner auf die andere Minute wurde es vom Wasser ver- Wilhelmsburger waren den Fluten hilflos ausgeliefert. leicht irritiert „Außergewöhnlich hoch? Wir haben merfenster klopfte und rief: „Jürgen! Jürgen! Schnell, schluckt. doch den Deich, es wird schon nichts passieren.“ das Wasser, komm!!“

38 39 Ich sprang aus dem Bett und dachte an einen Rohr- ne Familie nach Finkenwerder in Sicherheit bringen. Die Bundeswehr ist eigentlich nur für die äußere Si- mitbringen sollte. Doch als ich näher kam, erkannte bruch. Da bekam ich nasse Füße. Tatsächlich! Aus Danach eilte ich zur Wache 83 in Finkenwerder. Wir cherheit zuständig. Im Polizeipräsidium übernahm ich: Es war ein totes Kind. dem Fenster sah ich, dass das umliegende Land machten uns in unserer Uniform sofort auf den Weg. Polizeisenator Schmidt aber die Regie und machte al- Ich erinnere mich auch an einen Anruf, dass im Au- überflutet war. Flut! Mich überkam ein Schauer, und Spezialausrüstung, so etwas hatten wir nicht. Wir ver- len klar, dass er ab sofort die Verantwortung für alle ßendeichsgebiet die Nahrungsmittel knapp wurden. ich dachte in diesem Moment nur an meine Familie. suchten einfach, alles zu tun, um so viele Menschen in Zusammenhang mit der Katstrophe zu veranlas- Ich wusste, dass der Bäcker Körner in der Finkenwer- Ich rannte zu meinen Kindern und weckte sie. Sie wie möglich zu retten. Durch die Flutfolgen waren die senden Maßnahmen übernehme. Ein hoher Polizei- der Altstadt in Eigeniniative und mit Hilfe der Bun- hatten keine Ahnung, was gerade passierte. Meine meisten Strecken blockiert. Der untere Teil von Fin- offizier versuchte Helmut Schmidt an das Grundge- deswehr seinen Betrieb wieder zum Laufen gebracht Söhne brachte ich auf den Schultern durch das inzwi- kenwerder stand hoch unter Wasser und war nur mit setz zu erinnern. Schmidt machte diesem Mann klar, hatte. Der Laden war voll mit Broten, Brötchen usw.. schen knietiefe Wasser zu meinem Nachbarn, der ein Booten erreichbar. dass es in diesem Ausnahmefall um Menschenleben Der Bäcker Körner sah mich etwas irritiert an, als ich zweistöckiges Haus hatte. Auf dieser kurzen Strecke In Waltershof wohnten viele Menschen in ihren Gar- und nicht um irgendwelche Vorschriften gehe. Dieser ihm klarmachte, dass ich die gesamte Ware mitneh- lernte mein Ältester, er war vier Jahre jung, das Wort tenhäusern. Viele waren ertrunken. Sie waren im Polizeibeamte wurde dann im Stab Helmut Schmidts me. Ich übernahm die Verantwortung für diese Ent- „Hilfe!“ Schlaf von der Flut überrascht worden. Wir haben im nicht mehr gebraucht. scheidung und habe diese etwas später meinem Re- Das Wort schallte aus dem nahegelegenen Mühlen- Stundentakt Leichen geborgen. Die Leistung der Bundeswehr in den folgenden Ta- vierführer gegenüber mit dem bestehenden Notstand werder Grund, wo die Menschen durch das einbre- Darunter auch die fünf Kinder der Familie Bennewitz gen und Wochen war enorm. Eine große Hilfe war die begründet. Ich habe nie wieder etwas davon gehört! chende Wasser in höchster Gefahr waren, einige wa- aus dem Mühlenwerder Grund. Wochen später bar- Technik, welche der Truppe zur Verfügung stand. Die Einsatzzeiten waren sehr lang, doch sobald ich ren schon tot. gen wir noch einen Tischler, der von seinem Sohn Auf Finkenwerder, das damals noch eine Art Insel etwas Zeit hatte, schaute ich in Finkenwerder bei Ich barg aus meinem Haus noch einige wichtige Sa- gesucht und gefunden wurde. Er konnte seinen Vater war, gab es riesige logistische Probleme. Stromaus- meinen Schwiegereltern nach meiner Familie. Ihnen chen, musste aber wegen des steigenden Wassers nur noch an seinem Glasauge identifizieren. fälle, Kraftstoffmangel für Hilfsfahrzeuge usw.. Das ging es zum Glück gut, denn die Flut hatte ihr Haus in aufgeben. Die Schäden, die durch die Flut verursacht wurden, erledigte eine Hubschrauberstaffel der Bundeswehr, Finkenwerder nicht erreicht. Meine Schwiegereltern Die Eltern meines Nachbarn, die Familie Kugler, hat- waren heftig und zogen auch manchmal weitere Ka- die Menschen und auch Tiere in den Außenbezirken haben sich um meine Familie gekümmert und mich ten ebenfalls in der Nachbarschaft ein kleines Häus- tastrophen nach sich. Die Hauseigentümer versuch- versorgte. damit von dieser Sorge befreit. chen. Beide waren alt und konnten sich alleine nicht ten durch starkes Heizen ihre Gebäude zu trocknen. Die Leute waren tagelang von der Außenwelt isoliert. Auch in den Tagen und Wochen nach der Sturmflut- helfen. Ich half meinem Nachbarn, die alten Leute Durch Überhitzung brannte manches Häuschen ab. Viele Menschen haben ihre Häuser und Wohnungen nacht fanden wir immer wieder Tote. Schlimm war es zu bergen und in Sicherheit zu bringen. Dabei, ich Ich sah den Hauseigentümer einer Wohnung, wie er verloren. Einige von ihnen lebten ohnehin nur in den dann, den Angehörigen mitteilen zu müssen, dass ihr hatte den alten Mann auf dem Rücken, bin ich vom ins Feuer hineinlief und dabei schrie: „Meine Papiere Gartenlauben in ihren Schrebergärten, weil sie be- Lebenspartner oder ihre Kinder gestorben waren. Weg abgekommen, im Schlamm eines Beetes einge- sind noch da drin!“ reits im Krieg ihre Wohnungen verloren hatten und In Hamburg war der Notstand ausgerufen worden. sackt und konnte mich nur mit großer Mühe an einem Leider konnten wir ihn nicht mehr aufhalten. Er ver- es noch immer an Kapazitäten für neuen Wohnraum Nachdem sich die Lage in den Überflutungsgebieten Baum auf den Weg zurückziehen. brannte mit seinen Papieren und wurde unter dem fehlte. Einige von ihnen hatten im Krieg auch ihre etwas normalisiert hatte, fand auf dem Rathausplatz Im Verlaufe der kommenden Stunden barg ich etliche einstürzenden Gebäude begraben. ganze Familie verloren und nun niemanden, der sie eine Gedenkfeier statt. Es versammelten sich unge- Personen am Rand des Mühlenwerder Grundes aus Als die Feuerwehr eintraf, konnte sie nur noch den aufgenommen hätte. fähr 800.000 Menschen, um der Opfer zu gedenken. dem Wasser. Brand löschen. Zu retten war nichts mehr. Wir Polizisten gingen bis an die Grenzen unserer Dieses Ereignis hat mich geprägt. Als Eigner einer Es war ein gespenstischer Anblick! Sturm, Vollmond, Zu der Zeit war Helmut Schmidt Polizeisenator und Leistungsfähigkeit. Wir halfen, bargen Leichen und kleinen Yacht bin ich zwar sehr mit dem Wasser, ins- schreiende Menschen. Nun konnte ich kaum glauben, damit unser oberster Vorgesetzter. Wir merkten und hatten nebenher auch noch normale polizeiliche Tä- besondere der Elbe, verbunden und habe deshalb dass wir die Warnungen der beiden Deichwächter erlebten sehr schnell, welche Energie in diesem Mann tigkeiten zu bewältigen. Ich bin damals, nach meiner keine Angst. Doch habe ich vor der ungeheuren Ge- nicht ernst genommen hatten. Es war also doch pas- steckte. Er tat sein Bestes für das Wohlergehen der Erinnerung, drei Tage nicht zu Hause gewesen und walt des Wassers hohen Respekt bekommen. siert. Wir gingen durch das kalte Wasser und hatten Bevölkerung. Die Polizei war technisch überfordert! habe in meiner Dienststelle geschlafen. Ich erinnere Außerdem habe ich gelernt, dass es nicht ratsam kein Gefühl mehr in den Beinen. Wir strengten uns Helmut Schmidt forderte die Bundeswehr an. Die mich an eine nächtliche Streife in Waltershof. Es ging ist, eine gut gemeinte Warnung zu ignorieren. Und an, auch ohne Gefühl in den Beinen, so schnell wie Problematik bestand darin, dass es eine im Grund- um die Verhinderung von Plünderungen in den leer- nehme mir seitdem den Spruch zu Herzen: „Mit des möglich zu laufen und zu helfen! gesetz verankerte klare Vorschrift zur Gewaltentren- stehenden Häusern. Auf einer Bank sah ich eine Pup- Schicksals Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten!“ Das Wasser stieg immer weiter und ich musste mei- nung gab. Es gibt die innere und äußere Sicherheit. pe liegen und überlegte, ob ich sie meinen Kindern

40 41 Marlene Behrens lebte 1962 auf Waltershof, in einem Dach blieben sie, bis Soldaten sie in den frühen Mor- Gebiet unterhalb des Deiches. Sie hieß damals noch genstunden mit einem Transporter retteten. Sie wur- Gerken und war erst zehn Jahre alt. In der Nacht von den nach Hamburg in ein Erfassungslager gebracht, Freitag auf Samstag war sie mit ihren Eltern und wo sie zwei Tage verbrachten. Von da aus wurde Frau ihrem großen Bruder (20) zuhause. Glücklicherwei- Behrens für drei Wochen verschickt, so hatten ihre se war ihr Vater, der als Kapitän für die deutsche Eltern es leichter, das Leben wieder in den Griff zu Schleppreederei FAIRPLAY arbeitete, auch zuhause. bekommen. Zum Glück hatte die Familie Verwandte Er ahnte die Gefahr schon früh, deshalb schickte er im Ausland, die sie finanziell unterstützen konnten. ihren großen Bruder stündlich zum Deich, um die Lage einzuschätzen. Schließlich kam ihr Bruder von Die Familie kehrte nicht nach Waltershof zurück, son- seiner letzten Erkundung zurück und sagte, in einer dern blieb in Hamburg, wo Frau Behrens in eine neue Stunde würden die Deiche überflutet werden. Schulklasse kam. Mit der Flut hatte sie ihr Zuhause, Da ihr Vater die Gefahren des Wassers gut kannte, ihren Besitz und ihr soziales Umfeld verloren. drängte er die Nachbarn wegzugehen. Sie würden Zu der Frage, was für eine Rolle Helmut Schmidt bei ertrinken, wenn sie hier blieben. Er würde mit seiner der Flut spielte, sagte sie: „Helmut Schmidt, das war Familie das Haus verlassen und zu Freunden gehen, der Mann, der uns gerettet hat.“ die auf dem Deich wohnen. Leider haben nicht sehr Seine Entscheidung, sich über Verordnungen hinweg- viele den Ratschlag angenommen und wiesen darauf zusetzen, insbesondere der Einsatz der Bundeswehr- hin, dass es keine Warnung im Radio gab. Zu diesem hubschrauber und Schlauchboote, hat vielen das Le- Zeitpunkt hoffte die Familie, dass nur ein bisschen ben gerettet. Wasser ins Haus gelangen würde, und sie nahmen Gerade jetzt, da Helmut Schmidt vor wenigen Tagen nur die wichtigsten Papiere mit. Das Ausmaß der Flut gestorben ist, hat Frau Behrens wieder viel an ihn war zu der Zeit niemandem klar. Frau Behrens hatte gedacht. Die Unterstützung vom Staat, aber auch die auch keine Angst und war sicher, nach einigen Stun- Hilfsbereitschaft untereinander war in den Tagen der den wieder heimzukehren. Deshalb legte sie sich im Flutkatastrophe sehr groß. Frau Behrens ist der Mei- Haus der Freunde einfach schlafen. Nach zwei Stun- nung, dass die Flut die Hamburger Bevölkerung auf den wurde sie geweckt. gewisse Weise zusammengeschweißt hat. Das Wasser hatte den Deich überflutet. Als der Va- Ihre Erlebnisse prägten Marlene Behrens ganzes Le- ter die Tür öffnete, um nachzusehen, drang das Was- ben. Noch heute ist die Flut ein großes Thema für sie, ser ein und schon bald stand es den Eltern bis zum über das sie sich auch regelmäßig mit anderen Men- Erinnerungen von Marlene Behrens, geb. 1952 Bauch. Sie mussten das Haus verlassen und Schutz schen austauscht. Noch nach so vielen Jahren hat sie aufgeschrieben von Katja Martha Wiegard und Stella Gabrielides auf einem der Nachbardächer suchen. Frau Behrens Angst bei Sturm und verbindet Wasser immer mit Ge- wurde von ihrem Bruder etwa fünfhundert Meter wei- fahr. Das spürt sie besonders auf Schiffen oder beim Mein Vater gab mir Sicherheit ter zu einem Dach getragen, auf dem schon andere Schwimmen. Die Frage, warum sie nicht gewarnt Leute Schutz gesucht hatten. Es war bereits voller worden sind, kann sie sich bis heute nicht beantwor- Menschen. ten. Sie ist sich sicher, dass ihre Familie ohne ihren Frau Behrens erinnert sich an einen Mann im Roll- Vater die Gefahr nicht erkannt hätte. stuhl, der verzweifelt versuchte, auf das Dach zu Frau Behrens ist nur noch einmal mit ihrer Mutter auf kommen. Obwohl einige Männer ihm halfen, so gut es Waltershof gewesen und hat ihre Klassenlehrerin be- ging, schaffte er es nicht. An die Stunden bis zur Ret- sucht. Bei diesem Besuch erfuhr sie, dass zwei Kinder tung kann Frau Behrens sich nicht erinnern. Auf dem ihrer Klasse bei der Flut ums Leben gekommen sind.

42 43 Erinnerungen von Ingrid und Roland Schefe, geb. 1935 und 1926 aufgeschrieben von Katja Lina Nehring

Die Flut kam bis zum Rödingsmarkt

Links: Überflutungen unter dem Hochbahn-Äquadukt Baumwall. Mitte: Überseebrücke. Rechts: Rödingsmarkt, Ecke heutige Willy-Brandt-Straße.

Es war Samstagmorgen um zehn Uhr. Wir saßen oben hin. Das Wechselgeld schwamm auf der Keller- lerräume, aus denen wir nach und nach den Schlamm gemacht werden. Schließlich waren wir sehr stolz, gerade gemütlich beim Frühstücken und das Radio treppe. hinaustrugen und auf die Straße brachten. Die nassen dass wir die Bestellung trotz der Katastrophe pünkt- lief. Da kamen die Nachrichten, und wir hörten zum „Oh Gott“, dachten wir. Doch wir hatten nicht die Zeit, Füße, die wir dabei bekamen, störten uns am wenigs- lich bei unserem Kunden abliefern konnten. ersten Mal eine Meldung über die Sturmflut. Der lange darüber nachzudenken, was passiert war. Wir ten. Das Schlimmste war der Gestank, der aus dem Am darauf folgenden Montag haben wir unser Ge- Nachrichtensprecher sagte, dass das Wasser am mussten überlegen, was nun alles zu tun war. Keller kam. Durch das Siel war das Wasser zwar in schäft pünktlich wie jede Woche geöffnet. Als wir zu- Rathausmarkt etwa dreißig Zentimeter hoch stand. Dabei hatten wir noch Glück gehabt, weil unser Keller die Kanalisation abgesackt, doch aus der Toilette kam vor auf dem Großmarkt erschienen, wunderten sich Wir wohnten damals in Stellingen, doch unser Blu- ein Siel hatte. Es führte zur Straße, so dass ein Teil es uns wieder entgegen. Es brachte auch das wieder unsere Kollegen. „Ihr lebt noch?“, fragten sie. „Wir mengeschäft befand sich am Rödingsmarkt. Rolands des Wassers dorthin abgeleitet wurde. Das hatte uns zurück, was durch die Toilette gespült worden war. dachten, ihr wärt ertrunken!“ Großmutter hatte es 1895 gegründet. vor größerem Schaden bewahrt. In den Geschäften Im Geschäft waren große Materialschäden entstan- In den Tagen nach der Sturmflut herrschte noch Kaum hatten wir die Meldung gehört, fuhren wir in neben uns stand das Wasser viel höher, sie hatten den. Nicht nur Vasen waren zerbrochen und viele Blu- ziemlich viel Unruhe in der Innenstadt. Trotz allem die Stadt. Uns war klar, dass uns die Flut nicht ver- kein Siel. men verdorben, auch Gestecke, die mühevoll herge- haben wir viele Fotos gemacht, die unser Geschäft schont haben konnte. Doch es gab noch genug zu tun. Überall hatte sich stellt worden waren, waren zerstört. Für diesen Tag und die Umgebung zeigen. Als wir unser Geschäft betraten, war alles verwüstet. Schlamm verteilt. Gemeinsam fingen wir an, den hatten wir eine große Bestellung, die auf ein Schiff Blumen und Vasen lagen kreuz und quer. Wir öffne- Schlamm abzutragen und auf die Straße zu bringen, geliefert werden musste. Zum Glück war noch ein Teil ten die Klappe zum Keller. Dort stand das Wasser bis wo er entsorgt wurde. Wir hatten insgesamt drei Kel- davon erhalten, einiges musste aber noch einmal neu

44 45 Erinnerungen von Brigitte Stallbaum, geb. 1939 aufgeschrieben von Mira Frost

Überall roch es nach Wasser

Neßdeich - Nordmeerstraße, Finkenwerder

Brigitte Hillgruber lebte 1962 im 2. Stock in einer Neu- die Deiche brachen. So, als hätte die Familie Hillgru- Stock keine nassen Füße. Den Nachbarn aus dem solle im Haus helfen, um nicht auf „dumme Gedan- bauwohnung in Wilhelmsburg in guter Nachbarschaft ber gewarnt werden sollen. Ungefähr eine Stunde Erdgeschoss erging es weniger gut. So halfen Brigit- ken“ zu kommen. mit allen Bewohnern des Hauses. Dort wohnte sie seit später rauschte das Wasser schon durch die Straßen. tes Vater und andere Nachbarn den Menschen aus Als das Wasser allmählich komplett abzog, wurde zehn Jahren zusammen mit ihrer älteren Schwester Die Eltern weckten Brigitte und ihre Schwester. Sie dem Erdgeschoss dem Wasser in ihren Wohnungen Brigitte von ihrer Arbeitsstelle, dem Postscheckamt, und ihren Eltern. Brigitte hatte eine Ausbildung beim erzählten ihnen kurz und knapp, dass das Elbwasser zu entkommen. Brigittes Vater und auch andere Mie- für 14 Tage zum Helfen eingeteilt. Alle Helfer beka- Postscheckamt absolviert und war dort angestellt. in großen Mengen durch die Straßen schoss. Darauf- ter nahmen die Bewohner des Erdgeschosses bei sich men einen dicken Pulli und Gummistiefel. Es war ihre Brigitte hat uns sehr offen ihre persönlichen Erleb- hin mussten die beiden Schwestern sich anziehen. auf. Brigitte verbrachte die Nacht mit ihrer Familie Aufgabe, zu betroffenen Menschen zu gehen und ih- nisse während der großen Flut erzählt. Brigitte berichtete, ihr erster Gedanke, der ihr in und den Nachbarn aus dem Erdgeschoss auf Stühlen nen beim Aufräumen der Wohnungen zu helfen. Für In der Woche vor der Sturmflut war es bereits sehr den Kopf kam, war: „Wir können doch nicht alle zum und Bänken auf ihrer Etage. Per Funk erfuhren sie, die Suche nach einer Unterkunft und trockener Klei- stürmisch. Die Menschen um sie herum und sie Kirchturm schwimmen.“ Im Nachhinein sagt sie, sie dass die Deiche an vielen Stellen gebrochen waren. dung war der Pflegedienst AS zuständig. selber hatten sich wenig Gedanken über den anhal- hätte damals nicht wirklich realistisch gedacht. Kurze Trotz dieser schlimmen Nachricht brach keine Panik tenden Sturm gemacht. Brigitte und ihre Schwester Zeit später saß die Familie Hillgruber hinter geschlos- aus. Sie empfanden die Situation eher als unheimlich, Für Brigittes Familie gab es keine tragischen Ver- waren an diesem Abend allein zu Hause. Die beiden senen Türen im Dunklen, denn der Strom war abge- aber zusammen fühlten sie sich geschützt. luste. Nur Gegenstände, die im Keller aufbewahrt jungen Frauen merkten nicht, wie der Sturm vor ihrer schaltet. So konnten sie auch keine Nachrichten im So verbrachten alle Nachbarn gemeinsam zwei Tage wurden, mussten entsorgt werden. Der Keller stand Haustür immer stärker wurde. Radio verfolgen. Da der Familienvater im technischen im Haus. Es gab kein dramatisches Lebensmittelpro- komplett unter Wasser, aber durch Trockner kam er Kurz vor 24 Uhr kamen ihre Eltern nach Hause und Dienst arbeitete, besaß er ein mobiles Funkgerät, mit blem, die vorhandenen Lebensmittel wurden geteilt. wieder in den Normalzustand. erzählten ihnen aufgewühlt, wie der Sturm an Stärke welchem die Familie Nachrichten empfangen konnte. Als das Wasser etwas abzog, half Brigitte in ihrem Wenn Brigitte zurückdenkt, „zieht“ ihr vor allem ein zugenommen hatte. In dieser Nacht weckte Brigittes Das Wasser erreichte in ihrem Haus eine Höhe von Wohnhaus. Sie und ihre Mitbewohner kehrten das Geruch zurück in die Nase. In Wilhelmsburg roch es Vater ihre Mutter, weil er davon geträumt hatte, dass 1,80m. Brigitte und ihre Familie bekamen im ersten Wasser aus dem Erdgeschoss. Ihr Vater meinte, sie überall nach Elbwasser.

46 47 ben in eine Turnhalle, in der Spenden für Flutgeschä- digten Kindern zu beschäftigen. Jeden Abend ging er digte gesammelt worden waren. Ich suchte nach ei- in die Kneipe. Er war keine Unterstützung. Ich rief die nem Trainingsanzug und festen Schuhen, da meine Schulfürsorge an. Frau Beckedorff hatte sofort Ver- Sachen in Flottbek geblieben waren. ... und dann lag ständnis. „Ich schicke ihnen jetzt jemanden, der passt da ein CHANEL-Kostüm, lindgrün mit weißer Bordü- besser.“ re, gar nicht meine Farbe und völlig unangebracht in Mit Schlitten, die wir von der Gemeinde zur Verfügung dieser Situation. Aber es war CHANEL, also packte gestellt bekommen haben, machte ich mich mit ei- ich es ein. nigen Schülern auf den Weg zum Bahnhof, um den Es muss der 19.Februar gewesen sein, als ich mit neuen Lehrer, Herrn Michaels, abzuholen. Ich wollte Erinnerungen von Doris Michaels, geb. 1937 einem Amphibienfahrzeug der Bundeswehr wieder natürlich wissen, ob der neue Hilfslehrer seiner Auf- aufgeschrieben von Beyza Erdur und Asma Mohamadi zurück nach Francop kam. Als ich das Ausmaß der gabe gewachsen war. Dieser Herr Michaels schien Schäden des Wassers sah, war ich entsetzt, erschüt- mir sehr spießig zu sein. Seine Haare waren ordent- tert, traurig und kam mir sehr hilflos vor. Seitdem lich gescheitelt, sein Fischgrätmantel saß perfekt Die Flut brachte mir meinen Traummann habe ich Achtung, Respekt und häufig auch Angst vor und mit seinem zerbeulten Koffer stand er nun vor diesem Element. mir. „Der soll jetzt an meiner Seite sein?“, fragte ich Das Haus der Krefts stand noch. Zwar war der Keller mich. Ich musste mir eingestehen, dass er ein ziem- Alle Bilder: Verschickung nach Clausthal-Zellerfeld, Harz. voller Wasser und auch im Erdgeschoss gab es Schä- lich freundliches Gesicht hatte. den, aber mein Zimmer war trocken geblieben. In der Wir machten uns auf den Weg zur Jugendherberge, Am 8. Januaer 1962 begann ich meine Tätigkeit als tig und wollte mich gerade hinlegen, als Herr Kreft Schule sah es übel aus. Sämtliches Mobiliar und alle vorbei am Rodelberg. Er sollte sein Können bewei- Lehrerin im Hamburger Schuldienst in der dreiklas- wild an meiner Tür klopfte: “Doris, ihr müsst los! Das Akten schwammen in einer schmutzigen Brühe. Ge- sen. Ich wusste nicht, dass er noch nie rodeln war. Er sigen Grund- und Hauptschule in Francop am südli- Wasser kommt!“ Mit „ihr“ waren seine Frau und ich meinsam spannten wir Wäscheleinen unter der De- rodelte also den Berg runter, kam vom Weg ab und chen Elbeufer. gemeint. Das Wasser war schon über den Deich ge- cke und hängten Zeugnisse und andere Dokumente landete direkt in einem Busch. Er kam zu mir und zog Anfangs hatte ich noch bei meiner älteren Schwester schwappt, an einigen Stellen war er unterspült. Es mit Wäscheklammern auf. den Schlitten hinter sich her. Ich musste mir ein Grin- und meiner Mutter in Flottbek gewohnt und fuhr je- war eisig kalt und der Sturm heulte, als wir gegen Von der Schulbehörde kam die Anweisung, dass sen verkneifen. Er sagte: „Das war wohl nichts, das den Morgen mit der Fähre über die Elbe nach Frank- Mitternacht durch die Obstplantagen Richtung Haus- Schülerinnen und Schüler aus den Überschwem- muss ich wohl nochmal machen.“ So hatte er seine cop und nachmittags zurück. Wegen der langen Fahrt bruch zur Geest hin liefen. Uns war nicht bewusst in mungsgebieten verschickt werden sollten. Probe bestanden. kam ich allerdings einige Male zu spät und so mietete welcher Gefahr wir uns befanden. Wir hatten zwei Ta- Es waren an die 50 Kinder von Klasse 1 bis 9, die mir, Viele Kinder wurden sehr krank. Sie litten an Fieber ich schließlich ein Zimmer bei der Familie Kreft in der schenlampen dabei, aber es war trotzdem sehr dun- zwei Kollegen und einer Mutter anvertraut wurden. und Angina. Uwe Michaels erwies sich als hilfsbereit, Hohenwischerstraße in Finkenwerder gleich hinterm kel, dazu Sturm und Regen. Am 14. März 1962 um 9:30 Uhr fuhr uns ein Bus zur liebevoll, geduldig, einfühlsam und als guter Zuhörer. Deich. Wir kamen bei den Verwandten der Krefts unter. Erst Jugendherberge von Clausthal-Zellerfeld in den Harz. Wir konnten dann vor Ostern fast alle Kinder gesund Meine Vermieter waren mir schnell ans Herz gewach- am nächsten Tag wurde uns das ganze Ausmaß der Die Kinder hatten zum Teil Schweres erlebt, Angehö- zu Hause abliefern sen, und ich fühlte mich dort sehr wohl. Am Abend Katastrophe bewusst. Ich meldete mich beim Roten rige verloren oder waren selbst nur knapp mit dem Noch im selben Jahr haben wir uns verlobt und später des 16. Februar sah ich die Sendung „Was bin ich?“ Kreuz und gab meiner Familie Bescheid, dass es mir Leben davongekommen. Der eine Lehrer hatte an- geheiratet. mit Robert Lemke. Danach machte ich mich bettfer- gutging. Am nächsten Tag gingen wir nach Neugra- derweitige Interessen, als sich mit den flutgeschä-

48 49 Erinnerungen von Erich Meyer, geb. 1946 aufgeschrieben von Burcu Selim Sorge um meine Tanten

Im März 1946 wurde ich in Hamburg geboren und war meine beiden Tanten, die im Flutgebiet Finkenwerder im Februar 1962 kurz vor meinem 16. Geburtstag. Ich wohnten. Insbesondere meine Mutter hatte große bin Zeitzeuge dieses historischen Ereignisses, jedoch Angst um ihre zwei Schwestern. Da Telefonate wegen kein Augenzeuge. Zu der Zeit wohnte ich mit meinen des Stromausfalls in die Flutgebiete hinein nicht mög- Eltern und meiner Schwester in Rahlstedt. Meine lich waren, konnten wir meine Tanten nicht erreichen. zwei Tanten wohnten in Finkenwerder, und so bin ich Als wir schließlich spät in der Nacht erfuhren, welche ziemlich nahe am Geschehen gewesen. Gebiete von der Flut betroffen waren, wuchs bei uns Damals besaß nicht jeder einen Fernsehapparat. Es die Angst um die Tanten in Finkenwerder. Wir konnten gab keine Handys oder Internet. Informationen er- zu Hause kein Auge zu tun. Auch hingen wir am Radio, hielt man durch Zeitungen und Rundfunk. um die ständigen Nachrichten, die immer schlim- Vor der furchtbaren Flutnacht gab es bereits eine mer wurden, zu hören, sofern wir Elektrizität hatten. Sturmankündigung, doch niemand rechnete mit solch Draußen in unserem Garten wurden Baumzweige einer Katastrophe. Ich war am Freitagnachmittag herabgerissen, auch schlug die Schuppentür im Wind. etwa 25 Minuten mit dem Fahrrad zu meiner Nachhil- Schließlich meldete sich eine Tante, deren Wohnhaus felehrerin gefahren, um dort Unterricht zu erhalten. an der Elbe lag und in dieser Nacht zerstört wurde. Als der Sturm kräftiger wurde und hier und dort auch Endlich erhielt meine Familie ein Lebenszeichen. schon Äste von den Bäumen auf die Gehwege fielen, Meine Tante war evakuiert worden und in einer Turn- schickte mich meine Nachhilfelehrerin nach Hause. halle untergebracht. Sie erhielt später eine vorüber- Diese Heftigkeiten waren auch in Rahlstedt, weit vom gehende Wohnung in Alsterdorf, bevor sie in Steils- bereits tobenden Sturm in den späteren Flutgebieten hoop eine endgültige Mietwohnung bekam. Dorthin entfernt, zu spüren. Nur mit sehr viel Kraft auf den zogen auch viele andere Flutgeschädigte. Die zweite Pedalen konnte ich nach Hause kommen. Damals Tante wohnte damals im ersten Stock eines Miets- Arbeiten am Straßendamm an der alten A24 gab es Laternenpfähle aus Holz, die oberirdisch über hauses in Finkenwerder. Das Wasser lief in die Kel- Stromkabel miteinander verbunden waren. Auf den ler bis ins Erdgeschoss hinein. Die Bewohner des Wegen lagen schon herabgewehte Stromkabel. Auch Hauses konnten nur durch den Einsatz von Booten konnte ich auf meiner Fahrt nach Hause sehen, dass und Hubschraubern versorgt werden, bis das Wasser Straßenlaternen auf die Gehwege gefallen waren. massiv zurückging. Von meinen Verwandten kam also Für beide Tanten blieb die Flut in ihrem ganzen Leben senator die hervorragende Rettungsaktion mit den Der Sturm hatte tatsächlich ganz Hamburg erfasst. zum Glück keiner ums Leben. ein Thema, das immer wieder auftauchte. Einsatzkräften organisierte, wird immer im Gedächt- Die Stromversorgung in den Haushalten fiel auch in Als wir die Nachrichten aus Finkenwerder bekamen, Man sollte wissen, dass viele der Menschen, die ihre nis der Hamburger Bevölkerung bleiben. den nicht von der Flut betroffenen Stadtteilen immer dass unsere Tanten überlebt hatten, war unglaub- Unterkünfte verloren haben, bereits im 2. Weltkrieg Die Hamburger rückten zusammen, was ich als Kind wieder aus. Während der Sturmflut waren meine El- lich große Erleichterung eingetreten. Die von der durch Bomben Wohnungen, Hab und Gut verloren erfuhr und spüren konnte. tern, meine Schwester und ich in tiefer Besorgnis um Flut betroffene Tante hatte so gut wie alles verloren. hatten. Dass Helmut Schmidt als damaliger Polizei-

50 51 Erinnerungen von Gerd Mertens, geb. 1938 aufgeschrieben von Annemarie Kawe In der Röttiger Kaserne

Links: Röttiger Kaserne. Rechts: Gerd Mertens im Rettungseinsatz.

1962 war Gerd Mertens als 20-jähriger Soldat der Angekommen in der Kaserne, sahen sie, dass das Ka- deren Soldaten Menschen aus den Parzellen an der filiale in die Innenstadt gebracht. Von der Wilhelms- Bundeswehr in der Röttiger Kaserne an der Cuxhave- sernentor weit offen stand und eine Menschenmenge Wilhelmsburger Reichsstraße von den Dächern zu burger Polizeistation erhielt Gerd Mertens auch den ner Straße in Neugraben-Fischbek stationiert. hineinlief. Viele hatten keine Schuhe an oder waren retten. Das Wasser war so hoch gestiegen, dass die Auftrag, einen Ertrunkenen nach Fuhlsbüttel zum Am Abend der Flut fuhr Gerd Mertens mit einem Kol- im Nachthemd. Gert Mertens und seinem Kollegen Bewohner der Schrebergartenkolonien nur Rettung Flughafen zu fahren. Doch einer der Vorgesetzten be- legen nach 22 Uhr Richtung Neuenfelde zur Gast- war in keiner Weise bewusst, was geschehen war. Ein auf ihren Dächern gefunden hatten. Es war sehr kalt. fand ihn schließlich doch für zu jung und ersparte ihm stätte Neuenfelder Hof. Dort gab es es, laut seiner Orkantief über der Nordsee hatte Hamburg erreicht Das größte Problem war, durch die Fluten zu den so einen schrecklichen Anblick. Diese Situation hat Einschätzung, die besten Bratkartoffeln der Welt. Ihr und trieb Schneeregenschauer durch die Straßen. Menschen zu gelangen. Die Fluten waren für die Gerd Mertens bis heute nicht vergessen. Ihm bleiben Dienstgrad erlaubte es Ihnen, zu so später Stunde Deiche brachen. meisten LKW viel zu hoch. Die Soldaten mussten Um- auch die Bilder von den ertrunkenen Tieren im Kopf. unterwegs zu sein. Die Soldaten, die bis vor kurzem noch schliefen, wege nehmen, um die halberfrorenen Menschen zu Nach einigen Tagen leerte sich die Röttiger Kaserne. Am Tage herrschte bereits sehr starker Sturm. mussten ihre Betten für die vor dem Wasser aus ihren bergen. Das dauerte oft sehr lange. Die geflüchteten Menschen kamen vorübergehend in Häusern geflüchteten Menschen räumen. Im Moment der Rettung hatte Gerd Mertens keine DRK Einrichtungsstätten. Sie versuchten, mit einem Volkswagen gegen den Name und Wohnort der Geflüchteten wurden notiert. Angst. An die Gefährdung seines eigenen Lebens Sturm anzukommen. Ohne Erfolg. Sie wurden mehr Waren sie noch im Besitz ihres Personalausweises, dachte er zu keiner Zeit. Außerdem waren die Bun- Am Sonntag nach der Sturmflut gab es noch viel zu zurückgeworfen, als sie vorwärts kamen. So fuhren wurden weitere Daten aufgenommen. deswehrsoldaten gut ausgerüstet. tun für die Soldaten. Aufräumen und das Kontrollie- sie wieder zurück. Gerd Mertens erlebte auch oft, wie die Menschen sich ren der nicht befahrbaren Strecken gehörten zu ih- Sie hatten Glück im Unglück. Es stellte sich später Gerd Mertens und die anderen Soldaten der Versor- mit dem Restvorrat von Alkohol zukippten, weil ihnen ren Hauptaufgaben. Die Fluthelfer wurden mit einer heraus, dass auf der Höhe des Neuenfelder Hofs der gungskompanie teilten den Geflüchteten heißen Tee, so kalt war. Eine weitere Aufgabe war es, bei der Räu- Medaille und einer Urkunde von Bürgermeister Paul Deich gebrochen war. Hätten sie versucht weiterzu- Kaffee und Essen aus, das durch die Bundeswehr mung der überfluteten Haspa Filiale in Neuenfelde zu Nevermann ausgezeichnet. fahren, wären sie mit Sicherheit von den Fluten mit- organisiert worden war. Es wurde ein Rettungsplan helfen. Alles, was gerettet werden konnte, wurde mit gerissen worden. erstellt. Gerd Mertens bekam den Auftrag, mit an- einem, von der HASPA gecharterten Schiff zur Haupt-

52 53 hen, und am Wochenende fuhr sie nach Harburg zu zu dieser Zeit einen Freund, der mit ausschlaggebend ihren Eltern. An besagtem Tag, am Sonnabend, den für die wöchentlichen Besuche war. In Harburg wurde 17. Februar 1962, wollte sie wie immer nach Harburg ihr dann von der Sturmflut berichtet. Sie blieb wie im- fahren. Radios oder Fernseher waren kein Standard mer über das Wochenende dort. Am Montagmorgen zu dieser Zeit, daher empfing sie auch keine Nach- musste sie wieder zurück nach Wellingsbüttel, um richten. Nachdem sie ihre Hausarbeiten erledigt hat- das Kind der Familie, für die sie arbeitete, zu wecken te, fuhr sie am frühen Nachmittag zum Hauptbahnhof. und für die Schule fertig zu machen. Also fuhr sie früh Dort angekommen dachte sie: „Was ist denn hier los?“ am Morgen gegen 6 Uhr 30 wieder mit dem Bus los. Chaos überall. Die Züge fuhren nicht mehr, Men- Sie kam am Ende schen waren in Panik und wussten nicht wohin. Sie viel zu spät, doch sie hatte es wieder nach Wellings- Erinnerungen von Regina Roß-Kluth, geb. 1944 erkundigte sich und erfuhr, dass vom ZOB eventuell büttel geschafft. Das Kind war natürlich schon in der aufgeschrieben von Kaya Deußing und Rümeysa Kaba noch ein Bus fährt. Also machte sie sich auf zum ZOB. Schule, also machte sie sich an die Hausarbeit. Tatsächlich fand sie dort einen Bus, der nach Harburg An diesem Morgen gab es nach dem Wochenende viel fuhr. Sie stieg ein. Der Bus fuhr los. Nach kurzer Zeit Arbeit im Gästehaus. Da wurden ihr ihre Clogs zum Mit dem Bus durch die Flut schon schoss Wasser in den Bus und stand schnell Verhängnis. Auf einer unebenen Steinstufe im Garten bis zu den Treppen. Sie versicherte uns mehrmals knickte sie um und blieb liegen. Die Hunde kamen während des Interviews, dass sie keine Angst gehabt herbeigerannt und winselten. Es dauerte sehr lange, hätte. „Wenn der Bus fährt, wird er schon wissen, wo bis der Krankenwagen kam. Er brachte sie mit einem die Straße ist!“, dachte sie damals. Sie war nur ein dick angeschwollenen, verstauchten Knöchel ins Im Bild rechts: Regina Roß-Kluth am Teekisten-Bass in der Fernsehsendung „Aktuelle Schaubude“. wenig aufgeregt. Barmbeker Krankenhaus. Im Krankenhaus spürte sie Wenn man aus dem Fenster guckte, sah man nur Was- noch einmal die Folgen der Flut – sie bekam keinen ser. Nach einigen nassen Stunden kam sie in Harburg Besuch. Auch viele Tage danach war der Bahnbetrieb Frau Roß-Kluth, heute 72, war zum Zeitpunkt der Flut Für einige Momente waren wir sehr verwundert, doch an. Es gab kein Licht und Telefon. Zu Fuß machte sie nach Hamburg noch gestört. gerade 17 Jahre alt. als wir ihre Geschichte hörten, verstanden wir. Es war sich auf den Weg nach Hause. Sie war erschöpft, da Sie machte in einer Mädchen-Band mit dem Namen ein Morgen wie jeder andere. Die junge Frau arbei- die Busfahrt sehr lange gedauert hatte. Als sie bei ih- Als sie im April ihren Gehgips los war und ihr Prak- Lady Crackers Skiffle Musik. Es war die erste Mäd- tete als Praktikantin in einem Fabrikanten-Haushalt ren Eltern ankam, waren diese sehr verwundert, dass tikum im Tagesheim beginnen wollte, musste sie chen-Skiffle-Group Norddeutschlands. Als wir sie in Wellingsbüttel. Erzieherin wollte sie werden, doch sie es bis dahin geschafft hatte. wochenlang beim Trockenlegen und Saubermachen fragten, wie sie von der Sturmflut erfahren hatte, ant- dafür war sie noch nicht alt genug. Während der Wo- „Wo kommst du denn her?“, fragten sie. „Ja, ich wollte helfen. Das Tagesheim lag in der Sanitasstraße in wortete sie: „Ich habe gar nichts davon erfahren.“ che wohnte sie dort, um ihren Pflichten nachzuge- doch kommen! So wie jedes Wochenende.“ Sie hatte Wilhelmsburg!

54 55 Heinz Petersen, geb. 1941 Mein Schutzengel hat Überstunden machen müssen

Ich arbeitete bei den HEW (Hamburgische Elektrici- die ersten Hiobsbotschaften und die Ereignisse über- täts-Werke) als Kabelmonteur und war zur Zeit der schlugen sich. Erste Meldungen: Die Deiche in Wil- Flut beim ZB (Ziviler Bevölkerungsschutz). helmsburg, Moorburg, Georgswerder und Kirchdorf Der Februar 1962 begann schon recht stürmisch. sind auf breiter Front gebrochen. Wir wurden nach Doch so sind eben Frühjahrsstürme. Hätte man aber Georgswerder zum Bergen und Evakuieren beordert. genau hingeschaut, wäre dem Betrachter aufgefallen, Unser GKRKW (Großraumkrankenwagen) war ein dass ungewöhnlich viele Seevögel im Binnenland wa- Ford Benziner. Der Auspuff durfte nicht unter Wasser, ren und der Wasserstand der Elbe bei Niedrigwasser sonst wäre er abgesoffen. Was tun? Wir fuhren kur- fast den Stand des normalen Hochwassers erreichte. zerhand in eine Werkstatt, die auf unserem Weg lag. Das Wasser konnte seit Tagen nicht ablaufen, da der Dort wurde ein altes Auspuffrohr angeschweißt, so Wind aus West bis Nordwest kam. Der Sturm drehte dass der Auspuff über das Dach ragte und kein Was- ganz auf Nordwest und wurde zum Orkan. Es gab also ser in den Motor kam. Als wir nun über die Wilhelms- Hinweise, die uns hätten wachrütteln müssen. „War- burger Reichsstraße nach Georgswerder wollten, gab um sollte man sich Gedanken machen. Es war ja seit es kein Durchkommen mehr. 100 Jahren nichts passiert,“ so dachten die Menschen Alles stand so hoch unter Wasser, dass wir trotz un- in Hamburg. serer Schweißarbeit nicht weiterkamen. Um unser Gott sei Dank haben nicht alle so gedacht. Zum Bei- Einsatzgebiet zu erreichen, mussten wir eine Straße Im Bild rechts: Elfi Freitag, geb. Petersen, Schwester von Heinz Petersen. spiel gab es den Katastrophen-Einsatzstab, der alle befahren, die teilweise unterspült war. Zurück konn- Hilfsorganisationen und Einsatzkräfte koordinierte. ten wir nicht mehr, denn Wenden war unmöglich. Wir probierte geistesgegenwärtig, ob der Starter noch nen und brachten die Geretteten zur Friedrich Ebert Und genau von dort kam der Befehl, am Freitag dem mussten also genau da durch und keiner konnte uns funktionierte. Er funktionierte. So konnte er die rest- Schule. Wir wurden mit den Worten empfangen: „Ihr 16.Februar 1962 um 18 Uhr, in Bereitschaft zu gehen. sagen, wie weit die Straße noch befahrbar war, wo die lichen zwanzig Meter mit dem Starter als Antrieb aus lebt! Ihr seid als vermisst gemeldet, weil zwölf Stun- Um 22 Uhr wurde ich nach Harburg in die Friedrich Abbruchkante anfing. Wir hatten zum Glück Gummi- der Gefahrenzone fahren. Nachdem wir die Zündung den keine Verbindung zu euch bestand.“ Ebert Schule beordert. stiefel, so dass wir nicht gleich durchnässt waren. trocken hatten, konnten wir unseren Auftrag erfüllen Nachdem wir die Leute in die Obhut der in der Schule Inzwischen war der Pegel in Cuxhaven ausgefallen, Es war dunkel und die Straßendecke lag circa 60 Zen- und bergen und retten. Wir waren durchgekommen, Tätigen übergeben hatten, fiel uns auf, dass wir seit so dass Hamburg das Schlimmste erwarten musste, timeter unter dem Wasser. Sie war beim besten Willen aber wie zurück? Wir mussten die Ebbe abwarten und fünfzehn Stunden nichts gegessen hatten. weil keine Wasserstandsmeldungen mehr durchka- nicht zu sehen. Also musste einer vorausgehen und brauchten Tageslicht, um den Verlauf der Straße zu Nur wenig später ging es frisch gestärkt raus nach men. Rein in die Wagen und los zum Stützpunkt. Wir mit den Füßen den Straßenrand abtasten und dem erkennen. Unser GKRKW hatte Platz für 20 Personen. Kirchdorf zu einem Kleingartenverein. Auf der Wil- kamen schnell nach Harburg, rüber über die Elb- Fahrer signalisieren, wo die Straße befahrbar war. Die Geretteten konnten sich aufwärmen und so ver- helmsburger Reichsstraße standen Bundeswehrsol- brücken, auch die Wilhelmsburger Reichsstraße war Ich wurde für diesen Job ausgeguckt. Dann wurde die brachten wir gemeinsam die Nacht. daten und versorgten die vorbeifahrenden Helfer noch befahrbar. In der Schule wurden wir erwartet Zündung nass und der Wagen blieb stehen. Was nun? Nachdem das Wasser ein wenig abgelaufen war, mit Butterbroten. Jetzt zeigte sich, dass genügend und bauten gleich ein Auffanglager auf. Dann kamen Wir mussten handeln. Hein Schirmer, unser Fahrer, konnten wir bei Tageslicht den Straßenverlauf erken- Material vorhanden war, von Luftmatratzen über

56 57 Gummistiefel bis hin zu Benzin. Helmut Schmidt Lebensmitteln versorgt werden. Die Bundeswehr und Erinnerungen von Wolfgang Strippgen, geb. 1946 hatte als Polizeisenator alles, was benötigt wurde, das Rote Kreuz waren mit Schlauchbooten im Einsatz. aufgeschrieben von Rümeysa Kaba organisiert. An den Tankstellen in der Gegend durf- Es gab für uns nur noch ein kleines Schlauchboot für ten nur Fahrzeuge der Hilfsorganisationen und der drei Personen. Die Strömung war allerdings so stark, Bundeswehr tanken.Dass wir die Letzten waren, die dass es für zwei Paddler unmöglich war, dagegen an- Schluss mit Schlittschuhlaufen am Abend der Sturmflut noch über die Elbbrücken zukommen. Wir beschlossen, dass ich, da ich die lan- und die Wilhelmsburger Reichsstraße nach Harburg gen Gummistiefel anhatte, das Schlauchboot durch durchgekommen waren, wurde uns erst jetzt be- den Strömungsbereich ziehen sollte. Ein Arzt und ein wusst. Alle anderen mussten über Lauenburg fahren, Helfer ins Boot zum Paddeln und ab ging es. Plötzlich um nach Harburg zu gelangen. verschwand ich von der Oberfläche. Die Straße war Wir entdeckten einen einsamen LKW auf einer Brü- weggespült, ich verlor den Boden unter den Füßen cke, die über die Reichsstraße führte. Vor und hinter und tauchte unter. Nass, wie ich war, watete ich zu- dem LKW war die Straße weggespült. rück. Ich glaube, in dieser Zeit hat mein Schutzengel Die Gleise am Wilhelmsburger Bahnhof waren un- Überstunden machen müssen. terspült und eine Lok hing umgekippt in einem Was- Ein Erlebnis bewegt mich noch heute. Der alte Mann, serloch. Von den umliegenden Gartenhäusern waren den ich mit Engelszungen überredet hatte mitzukom- nur noch die Dächer zu sehen. Uns schoss durch den men, ist in der Nacht noch einmal zurückgegangen. Kopf: „Was wäre geschehen, wenn wir zu dem Zeit- Er wollte Papiere holen. Am Morgen ist er ertrunken punkt, als die Deiche brachen, auf dem Weg nach aufgefunden worden. Das Gefühl der Hilflosigkeit, die Wolfgang Strippgen, heute 70 Jahre alt, war damals Zu der Zeit wohnte Herr Strippgen mit seiner Fami- Harburg gewesen wären?“ mich bei der Nachricht überkam, werde ich nie ver- 16 und liebte es, in „Planten un Blomen“ Schlittschuh lie auf einem gigantischen Schuttplatz, sein Haus In Kirchdorf Neuland sollten wir Menschen aus einer gessen. Abends waren wir wieder in der Schule. Die zu laufen. Als Schüler besaß er eine Dauerkarte für stand auf einer fünf Meter hohen Schuttfläche. Von Kleingartensiedlung evakuieren. Einige riefen um Müdigkeit kroch in meine Glieder. Ich setzte mich auf die Eislaufsaison von November bis März und ging dort ging es hinunter und man war direkt am - Hilfe, doch wir hatten nur unsere Gummistiefel und die Treppe und schlief sofort ein. Ich habe elf Stun- fast jeden Tag auf die Eisbahn. Er wohnte in Alster- kanal. Sein Schulweg führte ihn nach St. Georg ins Hosen. Wir forderten ein Schlauchboot an, das auch den auf der Treppe sitzend geschlafen. Von der un- dorf am Brabandkanal. Am Freitag, dem 16. Februar Neusprachliche Gymnasium für Jungen. Er erzählte, schnell zur Stelle war. Damit war unsere Arbeit aber bequemen Lage habe ich nichts gemerkt. Man muss 1962, bemerkte er, dass er beim Schlittschuhlaufen dass der Jägerzaun vor seinem Haus vom Wind um- nicht zu Ende. In Lauben suchten wir nach Überle- sehr müde sein, um solche Schlafplätze schätzen zu gar nicht mehr gegen den Wind ankam. Er musste geweht wurde. Der Sturm war so stark, dass er Angst benden. Wir entdeckten einen alten Mann, der bis zur können. sich über alle Maßen anstrengen, um von einem Ende hatte, dass sein Haus zerstört werden könnte. Brust im Wasser an seinem Tisch saß und sich dar- Mein letzter Einsatz war in Moorburg. Wir sollten zum anderen zu laufen. Der Wind war so stark, dass In diesen Tagen wollte er eigentlich mit dem Zug nach an festhielt. „Ich bleibe hier. Ich will nicht noch ein- die umliegenden Häuser nach noch nicht gefunde- er ständig zurückgetrieben wurde. Bayern verreisen. Allerdings konnte er die Reise nicht mal anfangen. Erst im Krieg ausgebombt, dann die nen Opfern absuchen. Uns bot sich ein Anblick des Zwei Tage später war die Eislaufbahn gesperrt, und rechtzeitig antreten, weil die Bahnstrecke unterbro- Vertreibung aus meiner Heimat und jetzt das Was- Grauens. Überall dort, wo die Deiche gebrochen wa- er fragte sich, warum. Es stellte sich heraus, dass auf chen war. Als sie wieder freigegeben wurde, fuhr ser. Nein, ich will nicht mehr. Lasst mich bitte hier.“, ren, waren die Häuser ganz oder zum Teil weggespült. der Eisfläche ein Zelt aufgebaut worden war, in denen er nach Bayern in die Ferien. Von dort wollte er mit schrie er unter Tränen. Ich habe dann solange auf ihn Auf jedem Hof lagen Rinderkadaver mit aufgedunse- die Toten aus Wilhelmsburg zwischengelagert wur- den Menschen, die er besucht hatte, nach Österreich eingeredet, bis er mit uns kam. Er bat uns um eines, nen Bäuchen. Es war ein schrecklicher Anblick. Zum den. In Ohlsdorf und den anderen Friedhöfen waren fahren. Der österreichische Grenzbeamte wollte sei- den Kühlschrank und den Elektroherd so hoch zu Glück haben wir keine Leichen gefunden. nicht genügend Kühl-Kapazitäten. „Ich empfand es nen Ausweis sehen. Er hatte keinen dabei. Da sagte setzen, damit sie nicht kaputt gingen. Wir taten ihm Nach vier Tagen Einsatz kam die dringende Anforde- als sehr merkwürdig. Ich dachte, du läufst dort immer der Bekannte von Herrn Strippgen: „Der kommt aus den Gefallen. Mit den Geborgenen, einige beschimpf- rung von den HEW, ich würde gebraucht werden, um Schlittschuh und hast in erster Linie Spaß, und plötz- Hamburg, da ist doch Flut, er hat alles verloren.“ ten uns, ging es zurück zur Schule. Die nächste Fahrt die Versorgung der Bevölkerung mit Strom wieder- lich wurde es richtig ernst.“ Er war enttäuscht, aber Daraufhin sagte der Beamte: „Ach ja, danke und wei- führte uns nach Wilhelmsburg zum großen Bun- herzustellen. auch schockiert, als er erfuhr, dass viele Menschen ter gute Fahrt.“ ker. Die Menschen in den Wohnblocks mussten mit bei der Flutkatastrophe ihr Leben verloren hatten.

58 59 Am Abend der Sturmflut war ich noch in Bonn. Der Decken für die Flutopfer und für die Obdachlosen Umzug des Büros von Bonn nach Hamburg musste ja her?“, „Was müssen wir beschaffen?“ oder „Was ma- noch organisiert wurden. Ich hatte einen Bericht von chen wir mit den Toten?“ Für die, die ihr Haus ver- der Sturmflut im Fernsehen gesehen. Am nächsten loren hatten, wurde eine Unterkunft organisiert, so Tag fuhr ich direkt nach Hamburg ins Büro. Im da- dass sie wieder ein Dach über dem Kopf hatten. Zu maligen Polizeipräsidium am Karl-Muck-Platz hat- dieser Besprechung musste ich jeden Morgen die Da- ten wir im 1. Stock einige Räume zur Verfügung. Als ten wie Hochwasserstand und Windstärke beim See- ich im Vorzimmer an meinem Arbeitsplatz saß, ging wetteramt einholen und vorlegen. plötzlich die Tür zum Büro von Schmidt auf. Ich er- Ich musste Schmidt übers Telefon auch häufig mit der kannte ihn im ersten Moment nicht wieder. Er hatte NATO in Paris verbinden. Als er Mitglied im Verteidi- einen Drei-Tage-Bart, trug einen alten, dunkelgrü- gungsausschuss des Bundestages war, hatte er Ge- nen, ledernen Militärmantel, der bis zu seinen Knö- neral Lauris Norstad, den obersten Befehlshaber der cheln reichte, und sein Kopf war bedeckt mit einer NATO in Europa, kennengelernt. Schmidt bat ihn, uns grauen, selbstgestrickten Seemannsmütze. Während Hubschrauber und Sturmfahrzeuge zur Verfügung zu der Sturmflut ist Schmidt jeden Morgen in diesem stellen, um weitere Hilfe leisten zu können. Dieser Aufzug in den Hubschrauber gestiegen und über das Bitte ist Lauris umgehend nachgekommen. Flutgebiet geflogen. Die Toten wurden in Planten un Blomen in einem Zelt Ein Gespräch mit Ruth Loah auf der Schlittschuhbahn aufgebahrt, damit die Men- aufgeschrieben von Burcu Selim und Sandra Hasselfeldt Im Film „Die Nacht der großen Flut“, in dem Ulrich schen, die Angehörige vermissten, diese identifizie- Tukur Helmut Schmidt spielt, entsteht teilweise ein ren konnten. falsches Bild von Schmidt. Tukur ist ständig gestrie- Außerdem riefen täglich Menschen an, die helfen und Im Büro von Helmut Schmidt gelt und im feinen Anzug gekleidet, so war das aber spenden wollten. Ich kümmerte mich mit zwei Telefo- nicht. nen gleichzeitig um diese Spendenanrufe. Ich erinne- Immer, wenn Schmidt nach den Flügen über das re mich noch genau daran, dass ich einmal ein Tele- Flutgebiet zurück war, fand eine Lagebesprechung fonat mit dem Boxer Max Schmeling führte. Er besaß statt. Die Mitglieder des Katastrophenteams kamen damals schon einen Getränkemarkt und informierte aus den verschiedenen Bezirksämtern, die damals sich bei mir, wohin er Getränke mit seinen Lastwagen 1955 arbeitete ich als Angestellte beim Hauptaus- So fing ich an für Helmut Schmidt zu arbeiten. 1962 unmittelbar von der Flutkatastrophe betroffen waren. liefern könne, um den Betroffenen zu helfen. schuss der Arbeiterwohlfahrt in Bonn. Die Angestell- war ich 28 Jahre alt. Helmut Schmidt war Bundes- Außerdem gehörten noch Spezialisten aus verschie- Albert Schweitzer rief auch an und schrieb Schmidt ten der SPD Fraktion im Bundestag und die Ange- tagsabgeordneter, und ich hatte für ihn in Bonn gear- denen Bereichen dazu. einen Brief, in dem er Schmidts Einsatz während der stellten des SPD Parteivorstandes waren zu einem beitet. Als er für seine neue Position als Polizeisena- Alle sind seinen Anordnungen gefolgt, weil sie merk- Sturmflut lobte. Dieser Brief ist Bestandteil des Pri- Betriebsausflug auf dem Rhein eingeladen. tor nach Hamburg ging, hatte ich eigentlich geplant, ten, dass Schmidt sich voll und ganz der schwierigen vatarchivs im Neubergerweg. Meine Schwester, die beim SPD Parteivorstand gear- im Forschungs- und Beratungsunternehmen INFAS Aufgabe widmete. Einmal erreichte uns ein Päckchen, in dem eine Pup- beitet hatte, nahm mich auf dieses Fest mit, bei dem in Bad Godesberg anzufangen. Aufgrund seiner morgendlichen Erkundungsflüge pe und ein Brief von einem kleinen Mädchen lagen. ich Helmut Schmidt kennenlernte. Es wurde viel ge- Schmidt überzeugte mich, trotz meiner Pläne eine konnte Schmidt auch durchschauen, wenn jemand Sie schrieb: „Lieber Onkel Schmidt, ich schicke dir tanzt. Er forderte mich einige Male zum Tanz auf. Am dreitägige Prüfung beim Personalamt des Hambur- etwas sagte, das nicht stimmte, er hatte ja zuvor al- meine Lieblingspuppe und ich möchte, dass du sie Ende des Abends fragte er mich überraschend, ob ger Senats abzulegen. Ich bestand die Prüfung und les persönlich in Augenschein genommen. Es wa- einem anderen Mädchen schenkst, das alles verloren ich nicht Lust hätte, ins Bundeshaus zu kommen, um folgte Schmidt nach Hamburg. ren viele Fragen zu klären. „Wo bekommen wir die hat.“ Da Schmidt gerade nicht da war, antwortete ich dort für ihn einige Briefe zu tippen.

60 61 dem Mädchen, dass er sich bestimmt sehr darüber len Flüssigkeit löschen. Die Tage während und nach freut, dass sie ihre Lieblingspuppe opfern wolle. Ich der Sturmflut haben die Kollegen aus dem Büro von legte ihm den Brief auf den Schreibtisch und er steck- Schmidt zusammengeschweißt. Wir waren ein rich- te ihn nach Feierabend ein. Ich bin sicher, dass ein tig tolles Team, da sich jeder auf den anderen verlas- betroffenes Kind die Puppe bekam. sen konnte. Abends spielten wir gemeinsam im Flur Im Katastrophengebiet hatte ich zum Glück keine Tischtennis. Sogar Schmidt ist auf dem Nachhause- Verwandten oder Freunde. Meine Arbeitstage wäh- weg vor dem Paternoster stehen geblieben und hat rend der Sturmflut waren mindestens Zwölf – Stun- manchmal ein paar Runden mit uns gespielt. den – Tage. Die letzten fünf Jahre bis zu seinem Tod waren an- Die Arbeitstage bei Schmidt waren außerdem häufig strengend. Viele von Schmidts Freunden starben vor lang und auch oft sehr anstrengend. Ich habe wirklich ihm, wie z.B. Peter Schulz, Siegfried Lenz, Richard sehr viel gearbeitet und mir Arbeit mit nach Hause von Weizsäcker und viele andere. Schmidt meinte zu genommen. Ich kam manchmal nur zum Schlafen mir: „Ich bleibe als letzter übrig. Schön ist das nicht.“ und übers Wochenende nach Hause. Die meiste Arbeit lag im Schreibmaschine schreiben. Die Entscheidung für Helmut Schmidt zu arbeiten, Schmidt hat die Reden, Briefe und Artikel mir direkt habe ich nie bereut. Ich bin unglaublich dankbar, dass oder in einen Stenografen diktiert, und ich muss- ich so viele Jahrzehnte für ihn arbeiten durfte. Sech- te sie abtippen. Damals gab es noch keine Drucker zig Jahre waren es insgesamt. oder Kopierer. Die Texte habe ich häufig mit sechs Bedingt durch den Krieg habe ich nur sechseinhalb Durchschlägen geschrieben. Und wenn es noch mehr Jahre die Schule besucht. Mehr war das nicht. Kopien sein sollten, benutzte ich Matrizen. Eine Ma- Deswegen war ich oft unsicher und dachte: „Sieh zu, trize ist ein Bogen in der Größe eines DIN A4 Blattes, dass du bloß alles richtig machst.“ Trotzdem war es ein Wachsbogen mit einem Farbblatt dahinter, auf mir noch lange peinlich, dass ich keine Ausbildung den man mit der Schreibmaschine tippt. Damit hat- hatte. Doch Helmut Schmidt gab mir die Sicherheit, te man dann eine Vorlage, mit der man viele Kopien dass man auch ohne lange Schulbildung mit Ehrgeiz drucken konnte. Die Buchstaben auf der Schreibma- erfolgreich sein kann. schine mussten regelmäßig gesäubert werden, weil Ich denke oft: Hätte ich die letzten sechzig Jahre sich das Wachs in ihnen absetzte. Hatte man sich ver- Tagebuch geführt, dann wäre aus dem, was ich erlebt tippt, musste man den Buchstaben mit einer speziel- habe, ein richtig tolles Buch geworden.

Helmut Schmidt und Ruth Loah

62 63 Brief von Albert Schweitzer an Helmut Schmidt Helmut Schmidt fotografiert von Helmut R. Schulze

Beim Telefonieren im Büro der ZEIT Im Büro der ZEIT

Mit Präsident Sadat im Privathaus in Gizeh, Kairo Ehepaar Schmidt vor den Pyramiden und der Sphinx

Mit Förderer Justus Frantz beim Schachspielen auf Teneriffa Ehepaar Schmidt Besuch in den Höhlen von Göreme, Türkei 64 65 Recherchen im Archiv Helmut Schmidt und in der Bibliothek der Helmut Schmidt Universität

66 67 Titelseiten DER SPIEGEL Auswahl. Fotografiert im Archiv Helmut Schmidt.

68 69 Jugendliche interviewen Zeitzeugen Wir haben viel GLuck gehabt.

LEHR-

Wir haben viel Glück gehabt – Lebensgeschichten zur Sturmflut 1962 Wir haben viel Glück gehabt – Lebensgeschichten Programm gemäß § 14 JuSchG

Stadtteilschule Stellingen, Hamburg, www.stadtteilschule-stellingen.de Inkl. Dvd Ida Ehre Schule, Hamburg, www.idaehreschule.de Helmut Schmidt Interview Kontakt: [email protected] Lebensgeschichten zur Sturmflut 1962 70