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Year: 2017

Die erste Frau Professor in der Philosophie. Oder: Anna Tumarkin, eine grosse Unbekannte

Jauch, Ursula Pia

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-141106 Newspaper Article Published Version

Originally published at: Jauch, Ursula Pia. Die erste Frau Professor in der Philosophie. Oder: Anna Tumarkin, eine grosse Unbekannte. In: Schweiz am Wochenende, 30 September 2017, p.W4. Schweiz am Wochenende W4 kultur 30. September 2017 Die erste Frau Professor Die geborene Russin Anna Tumarkin studierte an der Universität Philosophie und wurde dort die erste habilitierte Frau in diesem Fach in Europa Philosophen befragt

Eine anspruchsvolle Serie.

VON URSULA PIA JAUCH

Denn durchaus lesbare ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Bücher für Laien über und Der Titel «Philosoph» ist – wie derjenige des Künstlers oder des Musikers – nicht zu bestimmten geschützt. Jeder kann sich «Philosoph» Philosophen gibt es zuhauf. nennen. Dass es «grosse» Philosophen Unschlagbar ist immer gibt, ist ein Urteil, das von der Nachwelt statuiert wird. Der heute als «Alleszer- noch: «Die philosophische malmer» bekannte und Hintertreppe» seine Philosophie standen noch bis in von Wilhelm Weischedel. die 1960er-Jahre auf dem Index der ka- tholischen Kirche. Nietzsche, der grosse Beschwörer einer Philosophie im «Jen- Keine Kurzporträts also mit seits von Gut und Böse», hatte bis zu sei- den Hauptlinien, aber was nem Tod kaum 15 Bücher verkauft. Schopenhauer hat erst weit im hohen dann? Eine möglichst Alter erste Anerkennung erhalten. konkrete Antwort auf eine Und wer kennt die Philosophinnen Margareth Cavendish, Emilie du Châte- möglichst konkrete Frage, let oder Charlotte Perkins Gilman? Kurz: beantwortet mit einem Es ist nicht auszuschliessen, dass wir Gedanken, der für den von den bedeutendsten Philosophen oder Philosophinnen gar nichts wissen, betreffenden Philosophen weil sie – was seit der Antike eine philo- nicht ganz unwichtig sophische Haltung ist – klug genug wa- gewesen ist. ren, sich nicht ins Licht der Öffentlich- keit zu stellen. «Denke kühn, aber ver- berge dich», das war schon früh das Die Serie wurde auf zehn Motto jener Philosophen, die lieber Elemente angesetzt, nicht (wie Sokrates) den Giftbecher neh- men oder (wie unzählige andere) in ewi- geschlossen wird sie mit gen Schulstreitigkeiten ihr Leben fristen einem Porträt-Essay über wollten. eine «Schweizer» Schweiz spielte Nebenrolle Philosophin, der man sich Nicht besser bestellt ist es mit den Phi- hierzulande zu Unrecht losophieprofessoren. Die Wege zu die- viel zu wenig erinnert. sem zertifizierten Amt sind auch heute noch höchst kitzlig und dabei weniger transparent als eine Papstwahl. Wer Anna Tumarkin (hier 1945 in Bern) war eine grosse Förderin der kantischen Philosophie. Keystone einmal eine Lehrkanzel (wie die Profes- sur in Österreich sinnigerweise heisst) Dissertationen betreuen durfte. Wer Sympathie und Antipathie, das die see- sich eine Schrift, deren Titel uns Heuti- erobert hat, muss sich anstrengen, jetzt an Jeanne Hersch denkt, liegt zu- lische Legierung zwischen den Indivi- gen vielleicht politisch unkorrekt vor- nicht in Dünkel und verschrobenem mindest zeitlich falsch; die Genferin er- duen ausmacht. Als Jüdin hatte Anna kommt, die aber lesenswert ist: «Wesen Sprachgebrauch zu erstarren. Schopen- hielt 1956 ein erstes Extraordinariat. Tumarkin die Pogrome in Russland er- und Werden der schweizerischen Philo- hauer, der uns Nachgeborenen eine Nein, nicht Jeanne Hersch war die erste lebt, als junge Frau und begabte Intel- sophie». Das Buch wurde 1948 publi- überaus lesenswerte Schrift über die Philosophieprofessorin in der Schweiz, lektuelle die Antipathie der (meisten ziert und ist auf eine diskrete Art eine «Universitätsphilosophie» hinterlassen sondern die aus Kischinew, das damals der etablierten) Vertreter einer männli- klare Mahnung vor grossen philosophi- hat, behauptet nicht zu Unrecht, dass zum russischen Kaiserreich gehörte, chen Geistesaristokratie. Zugleich ist schen (deutschen) Systemen. der Philosophieprofessor der Tod der stammende Anna-Ester Tumarkin. Anna Tumarkin – das kann man an- Philosophie sei. Er hatte dies an den Sie war 1875 geboren, stammte aus schaulich in den hinterlassenen Briefen Ausgleich und Pluralität Hegelschen «Afterweisheiten» studiert einer vermögenden jüdischen Kauf- nachlesen – ein Genie der Freund- Das Motiv des Philosophierens in der und überdies festgestellt, dass es eine mannsfamilie, besuchte in Kischinew schaft. In hat sie bei Simmel und Schweiz sei kein extraterrestrischer auffällige Häufung von Rektoren gab, das Mädchengymnasium und liess sich Dilthey studiert. Mit , Systembau, sondern eine «sachliche die ihre Tochter zusammen mit der va- zur Lehrerin ausbilden. So weit ist alles damals der bedeutendste Vertreter der Nüchternheit» für die Erkenntnis des- kanten Philosophieprofessur einem unspektakulär. Welche extraterrestri- philosophischen Hermeneutik und ein sen, was die Praxis des Lebens ausma- Schwiegersohn verhökerten. schen Weichen aber muss das Schicksal Unterstützer der Frauenbewegung, ist che. Gerade deshalb sei das Natur- In der Schweiz dagegen, in diesem stellen, damit eine junge Russin ausge- Anna Tumarkin bis zu seinem Tod be- rechtsdenken in der Schweiz früh 41 285 Quadratkilometer kleinen Land, rechnet in Bern zur ersten Philosophie- freundet. Es gibt fast kein Buch Dil- schon ausgebildet gewesen. Das skepti- das in der Philosophie nie eine Weltrol- professorin wird, verbeamtet von 1909 theys, das nicht von Tumarkin gegenge- sche Gemüt der Schweizer könne man le spielte wie etwa der nördliche Nach- bis 1943 als Extraordinaria? Der Nach- lesen und korrigiert wurde, so eng war als eine angewandte Form kritischer bar mit seinem einstigen Goldstandard lass von Anna Tumarkin liegt im Ber- diese Arbeitsfreundschaft. Urteilskraft im Sinne Kants verstehen. des «Deutschen Idealismus», gibt es in ner Staatsarchiv, säuberlich geordnet Anna Tumarkin selbst publiziert viel, Eine rein theoretische oder «ideale» weiten Kreisen eine verbriefte Skepsis liegen da Briefe, Manuskripte, Vorle- hält Vorträge, schliesslich promoviert Weltanschauung hätte vor dem philo- gegen die Philosophie. Sie lässt sich im sungsverzeichnisse. sie in Bern und beginnt ihre Habilitati- sophischen Gemüt in der Schweiz kei- berühmten «Mir wänd nöd filosofiäre!» on. Bei diesem schwierigen letzten Kar- ne Chance, dafür stehe die «ethische zusammenfassen. Im Gegensatz übri- Ein Genie der Freundschaft rierestein wird die mittlerweile staaten- Gesinnung», die Verantwortlichkeit vor gens zum «Deutschen Idealismus» ist Das Wunder der Anna Tumarkin hat los gewordene Russin von zwei Mitglie- dem eigenen Gewissen hoch. diese Schweizer Anti-Philosophie mit dem zu tun, was Immanuel Kant dern der Berner Fakultät aktiv beraten Das geistige Leben in der Schweiz er- durchaus lebendig. «Sympathetik» nannte und was das Ele- und unterstützt. Dass die Habilitation wachse aus dem Eigenen und sei keine Und doch war es just die Schweiz, in mentarste ist im menschlichen Leben: 1898 gelingt, ist gewiss Tumarkins Leis- Kopie von importierten Grossdenkerei- der europaweit die erste Philosophie- Abneigung und Zuneigung. Nicht Liebe tung, aber auch den günstigen Umstän- en. Skeptisch, selbstständig, auf Aus- professorin von Amts wegen an einer und Hass sind die primordialen Kräfte, den geschuldet: Die Berner Erziehungs- gleich und Pluralität sei das schweizeri- Universität Prüfungen abnehmen und sondern jenes unsichtbare Band von direktion gab grünes Licht und ein pro- sche Geistesleben bedacht, an Fragen gressiver Teil der Fakultät unterstützte der Rechtsstaatlichkeit und der Pädago- diese erste Philosophieprofessorin. gik interessiert, Untertanendenken fin- INSERAT Freilich erhielten auch die Gegner ihr de man keines, dafür eine Vermittlung Zugeständnis: «Frl. Prof. Tumarkin» zwischen der religiösen Ethik und dem solle die venia legendi (Lehrerlaubnis) gesunden Menschenverstand. 1944, als Veranstaltungen nur für die «Damenfächer» Ästhetik Europa in Grauen und in Trümmern und Psychologie erhalten. liegt (und Tumarkins Familie in den La- Zwischen 1906 und 1943, dem Datum gern vergast wird), weist Anna Tumar- ihrer Emeritierung, hat Tumarkin un- kin auf die Humanität der Naturrechts- zählige Vorlesungen, Seminarien und lehre hin, auf den Genfer Philosophen Kolloquien gehalten. Eine ihrer Stärken Jean Jacques Burlamaqui und sein Ein- war die Frage nach den psychischen treten für eine «société naturelle de li- und ästhetischen Tiefendimensionen berté et d’égalité», verfasst 1747. dessen, was Menschen für «objektiv» Als der bedeutende Philosoph Martin und philosophisch bedeutend halten. Heidegger sich am 27. Mai 1933 in sei- Früh schon hat Anna Tumarkin eine ner Freiburger Rektoratsrede bedin- Vorlesung über die «Psychologie der gungslos den Nazis andiente, hielt die Griechen» angesetzt, sie geht den Aus- Philosophieprofessorin Anna Tumarkin senseitern nach, liest über Spinoza, in Bern ein Seminar über Kants kriti- über Kants und Herders Kulturphiloso- sche Urteilskraft. Oder anders: Es ist ei- phie, über die Romantik als Weltan- ne heikle Frage, zu entscheiden, wer schauung, beschäftigt sich mit den weshalb ein bedeutender Philosoph ist. «Prolegomena zu einer wissenschaftli- chen Psychologie». Unter ihren, durch- Ursula Pia Jauch (58) ist eine Schweizer Philoso- weg vergessenen, Publikationen findet phin und Publizistin.