Plenarprotokoll 18/168

Deutscher

Stenografischer Bericht

168. Sitzung

Berlin, Freitag, den 29. April 2016

Inhalt

Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und , Dr ., weite- SPD: Tschernobyl und Fukushima mah- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- nen – Verantwortungsbewusster Um- NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine öffentlichen gang mit den Risiken der Atomkraft Forschungsgelder für den Wiedereinstieg und weitere Unterstützung der durch in atomare Technologien – 6. Energiefor- die Reaktorkatastrophen betroffenen schungsprogramm vollständig in Richtung Menschen Energiewende weiterentwickeln Drucksache 18/8239...... 16565 B Drucksachen 18/5211, 18/8262...... 16565 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, in Verbindung mit Bau und Reaktorsicherheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Zusatztagesordnungspunkt 7: , , Karin Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Binder, weiterer Abgeordneter und der Kai Gehring, , weiterer Fraktion DIE LINKE: Risiko-Reakto- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ ren abschalten – Atomausstieg in Eu- DIE GRÜNEN: Europaweiten Atomausstieg ropa beschleunigen voranbringen – Euratom-Vertrag reformie- – zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia ren oder aussteigen Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Drucksache 18/8242...... 16565 D Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Dr . Barbara Hendricks, Bundesministerin GRÜNEN: 30 Jahre Tschernobyl, BMUB...... 16566 A 5 Jahre Fukushima – Atomausstieg Hubertus Zdebel (DIE LINKE) ...... 16567 D konsequent durchsetzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Steffen Kanitz (CDU/CSU) ...... 16568 C Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter DIE GRÜNEN)...... 16570 C und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Atomkraftwerk Cattenom (SPD) ...... 16571 D sofort abschalten Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE)...... 16572 B Drucksachen 18/7875, 18/7656, 18/7668, 18/8266...... 16565 C Florian Oßner (CDU/CSU)...... 16573 C Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ in Verbindung mit DIE GRÜNEN)...... 16574 C Zusatztagesordnungspunkt 6: Dr . (SPD)...... 16575 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (BÜNDNIS 90/ schusses für Wirtschaft und Energie zu dem DIE GRÜNEN)...... 16576 A II Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Marco Bülow (SPD)...... 16576 D von Wegenutzungsrechten zur leitungsge- bundenen Energieversorgung Dr . (CDU/CSU)...... 16578 A Drucksache 18/8184...... 16605 C (SPD)...... 16605 D Tagesordnungspunkt 25: Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE)...... 16606 C Unterrichtung durch die Bundesregierung: Weiterentwicklung der Konzeption zur Er- (CDU/CSU)...... 16607 C forschung, Bewahrung, Präsentation und Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE). . . . . 16608 C Vermittlung der Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa nach § 96 Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ des Bundesvertriebenengesetzes DIE GRÜNEN)...... 16609 B Drucksache 18/7730...... 16580 B , Parl . Staatssekretär Monika Grütters, Staatsministerin BK. . . . . 16580 C BMWi...... 16610 C Sigrid Hupach (DIE LINKE)...... 16581 D Barbara Lanzinger (CDU/CSU)...... 16611 B Christina Jantz-Herrmann (SPD) ...... 16583 C (SPD)...... 16612 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 16585 B Tagesordnungspunkt 28: Dr . (CDU/CSU)...... 16586 D Antrag der Abgeordneten Dr .Valerie Wilms, Matthias Schmidt (Berlin) (SPD)...... 16587 D , Stephan Kühn (Dresden), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Klaus Brähmig (CDU/CSU)...... 16588 D BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Bundes- (SPD)...... 16590 A verkehrswegeplan zum Bundesnetzplan weiterentwickeln Dr . (CDU/CSU) ...... 16591 B Drucksache 18/8083...... 16613 C Dr .Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 26: DIE GRÜNEN)...... 16613 C Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- (CDU/CSU)...... 16615 A tionsausschusses: Sammelübersicht 289 zu Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ Petitionen DIE GRÜNEN)...... 16615 B Drucksache 18/8092...... 16592 B Dr .Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ (SPD)...... 16592 B DIE GRÜNEN)...... 16616 A (DIE LINKE) ...... 16593 B (DIE LINKE)...... 16617 B (CDU/CSU)...... 16594 C (SPD)...... 16617 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ (SPD)...... 16619 B DIE GRÜNEN)...... 16595 B (CDU/CSU) ...... 16620 C Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 16595 D (SPD)...... 16621 D Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 16597 A Sabine Leidig (DIE LINKE)...... 16622 B Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU). . . . . 16598 B Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 16623 D (SPD) ...... 16599 B Nächste Sitzung ...... Matthias W . Birkwald (DIE LINKE). . . . . 16599 C 16625 C (CDU/CSU) ...... 16601 B Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ Anlage 1 DIE GRÜNEN)...... 16602 D Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . 16627 A (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO)...... 16603 D Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung Tagesordnungspunkt 27: über die Empfehlung des Petitionsausschusses Erste Beratung des von der Bundesregierung Sammelübersicht 289 (Drucksache 18/8092) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur zur Petition 4-18-11-81503-001721 Änderung der Vorschriften zur Vergabe (Tagesordnungspunkt 26)...... 16628 A Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 III

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE). . . . . 16628 A Birgit Wöllert (DIE LINKE)...... 16630 C Cornelia Möhring (DIE LINKE)...... 16628 C Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE)...... 16631 A (DIE LINKE)...... 16629 A

Dr. (DIE LINKE). . . . . 16629 D Anlage 3 (DIE LINKE)...... 16630 B Amtliche Mitteilungen...... 16631 C

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16565

(A) (C)

168. Sitzung

Berlin, Freitag, den 29. April 2016

Beginn: 9 .00 Uhr

Präsident Dr. : und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet . GRÜNEN Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle Atomkraftwerk Cattenom sofort ab- herzlich . schalten Heute Morgen beschäftigen wir uns zunächst mit den Drucksachen 18/7875, 18/7656, 18/7668, Tagesordnungspunkten 24 a und 24 b sowie den Zusatz- 18/8266 punkten 6 und 7: ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 24 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der richts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie CDU/CSU und SPD (9 .Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Dr .Franziska (B) Tschernobyl und Fukushima mahnen – Brantner, weiterer Abgeordneter und der Frakti- (D) Verantwortungsbewusster Umgang mit on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Risiken der Atomkraft und weitere Unterstützung der durch die Reaktorka- Keine öffentlichen Forschungsgelder für den tastrophen betroffenen Menschen Wiedereinstieg in atomare Technologien – 6. Energieforschungsprogramm vollständig in Drucksache 18/8239 Richtung Energiewende weiterentwickeln b) Beratung der Beschlussempfehlung und Drucksachen 18/5211, 18/8262 des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia (16 . Ausschuss) Kotting-Uhl, Kai Gehring, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- – zu dem Antrag der Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN Hubertus Zdebel, Andrej Hunko, , weiterer Abgeordneter und der Europaweiten Atomausstieg voranbringen – Fraktion DIE LINKE Euratom-Vertrag reformieren oder aussteigen Risiko-Reaktoren abschalten – Atom- Drucksache 18/8242 ausstieg in Europa beschleunigen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) – zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, sicherheit Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ abschätzung und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union GRÜNEN Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll diese 30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fu- Aussprache 60 Minuten dauern . – Dazu sehe ich keinen kushima – Atomausstieg konsequent Widerspruch . Also können wir so verfahren . durchsetzen Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- – zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia nächst der Bundesministerin Barbara Hendricks . Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 16566 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

(A) Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um- haben sich nie wieder getroffen; denn sie sind in der gro- (C) welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: ßen Sowjetunion an verschiedenen Orten untergebracht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! worden . Menschenleer und still ist heute also, was ein- Meine Damen und Herren! Die Geschichte der Atom- mal eine Stadt war . kraft war an ihrem Beginn eine Geschichte großer Eu- Meine Damen und Herren, es gibt Ereignisse, die phorie . Ihre enormen Risiken wurden erst unterschätzt, brennen sich in unser Gedächtnis ein: die Aufnahmen dann heruntergespielt und sind erst Stück für Stück in aus dem Hubschrauber, die den brennenden Reaktorkern das öffentliche Bewusstsein eingedrungen . Die Reaktor- zeigen, die Strahlenmessungen am Boden und auch an katastrophe von Tschernobyl, an die wir in dieser Woche Lebensmitteln hier bei uns, später dann die Geschichten erinnern, ist einer der Wendepunkte dieser Geschichte . von den Feuerwehrleuten, den Kraftwerksmitarbeitern Sie zeigt: Das Risiko der Atomkraft ist nicht nur eine und den Soldaten, die bei dem Versuch, die Katastro- theoretische Größe . Die Katastrophe ist eingetreten mit phe einzudämmen, dem Tod ins Auge sahen . Ich habe verheerenden Konsequenzen . einen Kranz an der Gedenkstätte niedergelegt . Dort wird Meine Damen und Herren, ich war vor wenigen Wo- 23 Männer gedacht, die alle schon am 6 .Mai, also weni- chen in Tschernobyl . Ich habe dort den Fortschritt der ger als zehn Tage nach dem GAU, tot waren . Arbeiten gesehen, die dazu dienen, den verunglückten Von der Reaktorruine geht bis heute eine Gefahr für Reaktor mit einer neuen Schutzhülle zu überziehen . Das die Menschen durchaus in ganz Europa aus . Der Sarko- ist eine ingenieurtechnische Meisterleistung, die dort phag über dem havarierten Reaktor 4, der 1986 hastig vollbracht wird . Die Schutzhülle kostet ungefähr 2 Milli- errichtet wurde, hat seine Altersgrenze erreicht . Es war arden Euro . Insgesamt 45 Länder, darunter Deutschland, deshalb ein wichtiger Erfolg der deutschen G-7-Präsi- beteiligen sich an diesen Kosten . Russland ist auch da- dentschaft im vergangenen Jahr, dass die großen Indus- bei; das muss man, finde ich, in diesem Zusammenhang triestaaten gemeinsam mit vielen anderen Ländern die erwähnen . Finanzierung für den Weiterbau der neuen Schutzhülle Gleichwohl erwartet niemand, dass diese Hülle länger fest zugesagt haben . Wir werden versuchen, auch darüber als 100 Jahre hält . Die vor 30 Jahren notdürftig ange- hinaus zu helfen . brachte Hülle kommt an ihre Grenze; ihre Lebensdauer Weite Landschaften der Ukraine, Russlands und Weiß- wurde auf 20 bis 30 Jahre geschätzt . Die jetzt neu anzu- russlands sind bis heute belastet . Hunderttausende leiden bringende große Hülle soll, wie gesagt, etwa 100 Jahre unter den Folgen . Sie sind heimatlos, sie sind erkrankt halten, in der Hoffnung und Erwartung, dass in dieser oder sie pflegen kranke Angehörige. Wir lassen diese Zeit die Menschen, die nach uns kommen, technologi- Menschen nicht allein . Das zeigt auch das Engagement (B) sche Kenntnisse haben, die wir jetzt noch nicht haben der vielen ehrenamtlichen Gruppen aus ganz Europa, die (D) und die dann helfen würden, mit dem umzugehen, was sich den Opfern widmen . dort für immer eine Gefahr darstellt . (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ An dieser Stelle sehen Sie, was es bedeutet, wenn DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ein großer Unfall geschieht . Die Natur hat sich die ge- CDU/CSU und der LINKEN) sperrte Region zurückerobert . Die Menschen dürfen in einem Umkreis von 30 Kilometern nie mehr siedeln . Liebe Kolleginnen und Kollegen, Tschernobyl gab Gleichwohl arbeiten Menschen natürlich an diesem Re- denjenigen recht, die schon lange vor den Gefahren der aktor . Sie arbeiten dort zwei Wochen und sind dann zwei Atomkraft gewarnt hatten, in Wyhl, in Brokdorf, in Wa- Wochen zu Hause . In dem Ort Tschernobyl leben diese ckersdorf, in Kalkar und an vielen anderen Orten . Ge- Arbeiterinnen und Arbeiter in den zwei Wochen ihrer rade weil die Atomkraftgegner über lange Zeit so man- Arbeit . Etwa 150 Menschen sind in ihre Heimatstadt ches an Schmähungen über sich haben ergehen lassen Tschernobyl, die etwa 10 Kilometer von dem Reaktor müssen und sogar in die Ecke von Staatsfeinden gerückt entfernt liegt, zurückgekehrt . Diese 150 Menschen, die wurden, sage ich heute in diesem Hohen Haus: Die Anti- eigentlich widerrechtlich dort leben, haben gesagt: Wir atomkraftbewegung war keine gegen den Staat gerichtete sind älter, wir werden sowieso sterben, wir wollen in un- Bewegung . Ganz im Gegenteil: Es waren Freunde des serer Heimat sterben . – Das ist die Lage, mit der man es Staates und der Gesellschaft, weil sie nicht hinnehmen jetzt, 30 Jahre nach dem Unfall, dort zu tun hat . wollten, dass wir alle den Risiken einer zu gefährlichen Art der Energieerzeugung ausgesetzt sind . Ich danke die- Die Stadt war einmal von etwa 200 000 Menschen sen Menschen heute ganz ausdrücklich; denn sie haben bewohnt, und sie war damals eine sozialistische Muster- sich um unser Land verdient gemacht . stadt: alles neu, alles modern, Kulturhäuser, Schwimm- bäder . Am 1 . Mai, also fünf Tage nach dem Unfall, sollte (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem ein großer Vergnügungspark eröffnet werden, der nun BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . aber nie genutzt wurde . Da stehen jetzt überwucherte Ulrich Petzold [CDU/CSU]) Autoskooter und Riesenräder . Es ist in der Tat eine total gespenstische Atmosphäre . Meine Damen und Herren, dass es bis Fukushima brauchte, bis alle Fraktionen dieses Hauses sich hinter Die Menschen, die gerne dort gelebt haben, weil es für dem Ziel eines zügigen Ausstiegs aus der Atomener- junge Familien sehr angenehm war, wurden evakuiert – gie versammelt haben, gehört natürlich zur Geschichte eigentlich ein paar Tage zu spät –, sind mit Bussen in dazu . Fukushima liefert den endgültigen Beweis, dass viele verschiedene Richtungen weggebracht worden und es auch in hochindustrialisierten Ländern mit hohen Si- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16567

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) cherheitsstandards zu Ereignissen kommen kann, die zu nen anderen Weg gemacht . Wir steigen um auf Energien, (C) nicht mehr beherrschbaren Störfällen führen . Auch dort die Wohlstand ermöglichen, ohne Menschen und Um- mussten Hunderttausende ihre Heimat verlassen . Auch welt zu gefährden . Wir stehen heute – ohne Zweifel – am dort wurden unter anderem Mitarbeiter der Firma Tepco Beginn des Zeitalters der erneuerbaren Energien . Lassen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt, um die Katastrophe Sie uns diesen Weg entschlossen weitergehen . einzudämmen . Herzlichen Dank . Liebe Kolleginnen und Kollegen, 2022 wird das letz- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ te deutsche Atomkraftwerk abgeschaltet . Unsere Arbeit DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ist aber noch nicht getan . Die Sicherheit der Atomkraft- CDU/CSU und der LINKEN) werke muss bis zum letzten Betriebstag gewährleistet bleiben . In den vergangenen 30 Jahren haben Bund und Länder dafür gesorgt, dass die deutschen Atomkraftwer- Präsident Dr. Norbert Lammert: ke ein hohes Sicherheitsniveau haben . Wir müssen für Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich die gleiche Sicherheit sorgen, wenn wir die Meiler stillle- Ihnen, Frau Ministerin, gerne zu Ihrem heutigen Geburts- gen und zurückbauen; das sage ich auch im Hinblick auf tag gratulieren . die Vorkommnisse im AKW Philippsburg . Wir werden die Bewertung des Sachverhaltes und die Maßnahmen (Beifall) des Betreibers EnBW und der baden-württembergischen Ich verbinde damit die Erwartung, dass die heutige De- Landesregierung abwarten . Klar ist aber, dass sowohl der batte zu diesem Thema in Ihrem Verantwortungsbereich Betreiber als auch die zuständigen Landesbehörden sol- der erste Höhepunkt Ihrer heutigen Geburtstagsfeierlich- che Täuschungen nicht dulden dürfen . keiten sein wird . (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Heiterkeit) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der CDU/CSU) Mit dieser Vorlage bitte ich jetzt den Kollegen Hubertus Zdebel an das Mikrofon, Gerade die letzten Wochen zeigen, dass trotz des deut- schen Atomausstiegs Risiken bestehen bleiben . Radioak- (Heiterkeit) tivität macht an Grenzen ja nicht halt . Fessenheim, das der für die Fraktion Die Linke das Wort erhält . nächst gelegene französische Atomkraftwerk, liegt, wie wir wissen, direkt am Rhein . Besondere Sorgen machen (Beifall bei der LINKEN) uns die belgischen Kraftwerke Tihange und Doel . Natür- (B) lich liegt die Entscheidung für oder gegen die Nutzung Hubertus Zdebel (DIE LINKE): (D) der Atomenergie in der nationalen Souveränität des je- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen weiligen Staates . Aber ich erwarte, dass unsere Nachbarn und Herren! Frau Hendricks, auch von meiner Seite: die Sorgen der Menschen in den Grenzgebieten ernst Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag . Ich bin nehmen und für ein höchstmögliches Sicherheitsniveau Ihnen außerordentlich dankbar für Ihre klaren Worte, die sorgen . Sie zu den Atomreaktoren in Belgien gefunden haben; (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ darauf komme ich in meiner Rede gleich zurück . Aber DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der erst einmal Glückwunsch, auch von meiner Seite . CDU/CSU und der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist auch der Grund, warum ich die belgische Regie- rung gebeten habe, die Blöcke Tihange 2 und Doel 3 bis Tschernobyl und Fukushima sind eine Mahnung, dass zur Klärung aller Sicherheitsfragen vom Netz zu neh- der Atomausstieg nicht nur in Deutschland, sondern in men . Ich bedauere sehr, dass dieser dringenden Bitte von Europa und in der ganzen Welt erforderlich ist . Nur so belgischer Seite bislang nicht entsprochen wurde . können derartige Katastrophen wirksam verhindert wer- den . Diesem Anspruch hält die Politik der Bundesre- Deutschland hat sich auf EU-Ebene mit Erfolg für die gierung allerdings nicht stand . Die heute vorliegenden Festlegung von verbindlichen Sicherheitszielen in der Anträge von uns Linken und von den Grünen zeigen Europäischen Union und für ein System wechselseitiger auf, dass es vielfältige Handlungsmöglichkeiten für eine Kontrolle starkgemacht . Wir setzen uns außerdem für Bundesregierung gibt, den Atomausstieg in Deutschland eine verpflichtende grenzüberschreitende Umweltver- und Europa klarer und deutlicher auf die Tagesordnung träglichkeitsprüfung ein, wenn unsere Nachbarn Lauf- zu setzen . zeiten verlängern . Wir werden uns weiterhin mit ganzer Kraft für ein hohes Sicherheitsniveau in Europa und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- weltweit einsetzen . Wir werben dafür, dass der Ausstieg neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) aus der Atomenergie in Europa und möglicherweise auch weltweit Schule macht . Im Rahmen meiner Redezeit kann ich das nur an ei- nigen wenigen Punkten deutlich machen . Meines Erach- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Atom- tens ist es nicht die Frage ob, sondern leider nur wann energie ist eine Sackgasse der technischen Entwicklung . und wo eine Katastrophe wie in Tschernobyl und Fuku- Die Orte Tschernobyl und auch Fukushima sind dafür shima passieren wird . Nicht auszuschließen ist, dass die- ewige Mahnungen . In Deutschland haben wir uns auf ei- se nächste Katastrophe Tihange sein könnte . 16568 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Hubertus Zdebel (A) Über Filz und Schlamperei in der belgischen Atom- Rechnung dafür zahlen muss, obwohl es im Atomgesetz (C) aufsicht berichtet aktuell die Süddeutsche Zeitung, vor ganz anders geregelt ist . allem über einen obersten Atomaufseher, der zuvor für (Beifall bei der LINKEN) den Tihange-Betreiber Electrabel gearbeitet hat . Dazu kommen jede Menge ungeklärte Fragen zu den Tau- Bei der Suche nach solchen und ähnlichen Deals hat senden Rissen im Reaktordruckbehälter . Dass er einen die Satiresendung heute-show vor einigen Wochen ein schweren Störfall aushält, bezweifelt sogar das Bun- neues Element entdeckt: Va 119 . „Va“ steht für „Verar- desumweltministerium . schium“ . Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist – (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) auch für die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik –, Die Atomkonzerne müssen weiter für die Kosten gera- dass endlich die Uranfabriken in Gronau und Lingen in destehen, wie es seit Jahrzehnten gesetzlich vorgeschrie- den Atomausstieg einbezogen werden . ben ist . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerk- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) samkeit . Darüber findet sich in dem Antrag der Großen Koalition, (Beifall bei der LINKEN) der heute auch vorliegt, bezeichnenderweise kein Wort . Hier AKWs abzuschalten und sie hinter der Grenze, wie in Doel und Tihange, mit Brennstoff zu versorgen, ist Präsident Dr. Norbert Lammert: keine glaubwürdige Politik . Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kanitz für die CDU/CSU-Fraktion . (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist Beihilfe zum Atomrisiko in den Nachbarstaaten, Steffen Kanitz (CDU/CSU): in Europa und in der Welt, und es ist ein Hinweis da- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten rauf, dass die Bundesregierung sich international eine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tür zu einer Zukunft der Atomenergie offenhält . Diese Ich möchte mich ausdrücklich den Wünschen des Bun- Tür muss so weit wie möglich geschlossen werden . Das destagspräsidenten anschließen und Ihnen, Frau Ministe- ist übrigens auch ein Grund, warum wir den Atomaus- rin, im Namen meiner Fraktion herzlich zum Geburtstag stieg gemeinsam mit vielen Anti-AKW-Initiativen und gratulieren . Als kleines Geburtstagsgeschenk haben wir Umweltverbänden im Grundgesetz festschreiben wollen . (B) Ihnen einen schönen Antrag der Koalitionsfraktionen (D) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . mitgebracht, Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf von der LINKEN) NEN]) der Sie auf Ihrem Weg unterstützen soll, in Europa für Tschernobyl, Fukushima? Egal . Für ihre wirtschaft- höchste Sicherheitsstandards bei den Kernkraftwerken lichen Interessen halten Konzerne international an der zu werben . Also, alles Gute für Ihre Zukunft . Atomenergie ebenso fest wie Staaten, die damit auch ihre militärischen Machtansprüche aufrechterhalten . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) In diesem Zusammenhang, weil es auch zu den Risi- ken der Atomkraft gehört, ein Wort zu den sogenannten Fukushima und Tschernobyl sind Synonyme für zwei Ergebnissen der Atom-Finanzkommission, KFK, in der folgenschwere nukleare Unglücke geworden . Mit dem Vertreter und Vertreterinnen von CDU/CSU, SPD und Antrag der Koalitionsfraktionen möchten wir einen Bei- Grünen dominierten und in die wir als Linke aus guten trag dazu leisten, dass die Erinnerung an beide Katastro- Gründen nicht berufen wurden . phen wachgehalten wird . Wir gedenken der Opfer und trauern mit den Angehörigen, wir verneigen uns in Dank- (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Wirk- barkeit und Respekt vor den vielen Helfern, die unmittel- lich gute Gründe!) bar nach den Katastrophen beherzt eingegriffen und noch größeren Schaden vermieden haben . Viele von ihnen ha- Diese Atom-Finanzkommission macht den Atomkonzer- ben diesen Einsatz mit ihrem Leben bezahlt . Auch wenn nen gerade ein fettes Geschenk: Zum Schaden der Bürge- die Einschätzungen über die Anzahl der Folgetoten aus- rinnen und Bürger wird das gesetzlich festgeschriebene einandergehen, sind wir uns, glaube ich, alle einig: Jedes Verursacherprinzip für RWE, Eon usw . durch eine Art einzelne Opfer war eines zu viel . Ablasshandel einfach außer Kraft gesetzt . Circa 41 Mil- liarden Euro sind laut Ergebnissen dieser KFK vorge- Es steht außer Frage, dass wir Japan und auch die sehen, eine Summe, die von vorne bis hinten nicht aus- Ukraine bei der Beseitigung der Folgen weiterhin unter- reichen wird . Das wissen Sie alle . Der Co-Vorsitzende stützen . Insbesondere in der Ukraine wollen wir bei der der Endlagersuchkommission, Michael Müller, hat völlig Bewältigung der medizinischen und sozialen Spätfolgen zu Recht vor kurzer Zeit von Kosten in Höhe von min- helfen . Für den Bau des neuen Sarkophags – die Minis- destens 70 Milliarden Euro gesprochen . Wenn man diese terin hat es eben angesprochen –, der ab Ende 2017 die Summe mit den jetzt festgeschriebenen circa 40 Milli- Umgebung vor weiterer Strahlung schützen soll, steuert arden Euro vergleicht, ist völlig klar, wer letztlich die allein Deutschland über 300 Millionen Euro bei . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16569

Steffen Kanitz (A) Diese Unfälle mahnen uns auch weiterhin zu höchster Wir brauchen eine Freiheit im Denken . Denn eine Ein- (C) Sorgfalt und Vorsicht im Umgang mit dieser Technolo- schränkung dieser Freiheit bedeutet, dass wir uns mögli- gie . Wir müssen alles dafür tun, dass etwas Vergleichba- cher Zukunftschancen berauben . res nicht wieder geschieht . Dabei gehen wir nicht von der Unfehlbarkeit des Menschen aus, sondern legen Sicher- Mir scheint, dass der Gedenktag zu Tschernobyl von heitssysteme so aus – das erwarten wir auch –, dass sie interessierter Seite genutzt wird, um Ängste zu schüren . auf Fehler angemessen reagieren . In Deutschland leisten (Zurufe von der LINKEN und dem BÜND- wir unseren Beitrag dazu, indem wir über höchste Sicher- NIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) heitsstandards verfügen, indem wir eine Forschung und eine Entwicklung auf internationalem Spitzenniveau ha- Dabei gerät die Wahrheit häufig unter die Räder. ben und indem wir einen offenen Umgang mit Fehlern (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE praktizieren . GRÜNEN]: Welche Wahrheit denn? Fukushi- Seit Inbetriebnahme des ersten Reaktors in Garching ma? Die Störfälle in Deutschland?) bei München im Jahr 1957 gab es keine schwerwiegen- Anhand einiger kurzer Beispiele möchte ich das illus­ den nuklearen Vorfälle in kerntechnischen Anlagen in trieren . Deutschland . Deswegen möchte ich einen großen Dank an die Betriebsmannschaften der deutschen Kernkraft- Das erste Beispiel ist Gundremmingen . Die Behaup- werke aussprechen . Auch sie haben gute Arbeit geleistet . tung ist, es hätte einen Cyberangriff auf die in Betrieb Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden . befindlichen Reaktoren gegeben. Richtig ist: Es handelt sich um einen Rechner ohne Internetzugang, der nicht (Beifall bei der CDU/CSU) mit dem Betriebs- und Sicherheitssystem der Anlage ver- bunden ist. Der eigentliche Schutz der Reaktoren findet Rückblickend können wir ohne Schaum vor dem analog statt . Die Anlage war zu keinem Zeitpunkt gefähr- Mund feststellen, dass die Nutzung der Kernenergie ei- det . nen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwick- lung der Bundesrepublik geleistet hat . Wir haben in die- Das zweite Beispiel ist das Kernkraftwerk Fessen- ser Zeit etliche Kompetenzen erworben, etwa im Betrieb heim . Anfang März dieses Jahres erschien ein Bericht, von Kernkraftwerken, in der Bearbeitung von Sicher- demzufolge einer der „dramatischsten AKW-Unfälle in heitskonzepten und auch in der Erkundung . Westeuropa“ vorgefallen sei . Das Fachwissen dieser Betriebsmannschaften ist auch (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE in Zukunft unabdingbar . Wir sollten heute nicht leichtfer- GRÜNEN]: Atomkraft ist total sicher, oder?) (B) tig die Belegschaft in Gorleben entlassen, weil wir dann (D) möglicherweise in fünf Jahren, wenn wir mit der Erkun- Richtig ist: Selbst die grün-geführte Landesregierung in dung beginnen, feststellen müssten, dass wir das nötige Baden-Württemberg hat schon 2014 bestätigt, dass der bergmännische Know-how in unserem Land nicht mehr Vorfall ordnungsgemäß gemeldet wurde, die richtigen haben . Wir sollten hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, Maßnahmen eingeleitet und die notwendigen Informati- weitsichtig handeln . onen veröffentlicht wurden . Ich stelle fest: Es war eine Falschmeldung . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Gerade als Folge unseres Ausstiegs wird das Thema GRÜNEN]: Also, Atomkraft ist total sicher? – „Kompetenz für den sicheren Rückbau von Kernkraft- Gegenruf von der CDU/CSU: Hat er ja nicht werken“ immer wichtiger . Diesen bereits vorhandenen gesagt!) Sachverstand an den Standorten müssen wir bewahren Ich komme nun zum Lieblingsbeispiel der letzten Wo- und sollten ihn nicht schlechtreden . Dazu müssen wir ge- chen, zum Forschungszentrum Jülich . Ein Redaktions- rade bei jungen Menschen für das Zukunftsfeld Rückbau netzwerk meldete, Terroristen hätten Unterlagen über das Werbung machen . Wer sich einmal angesehen hat, wie Forschungszentrum Jülich gesammelt . Der Präsident des ein Ringwasserbehälter mit Diamantseilsägen zerlegt Verfassungsschutzes habe Mitglieder des Parlamentari- wird, die extra zu diesem Zweck von der Betriebsmann- schen Kontrollgremiums über mögliche Anschlagspläne schaft und den Ingenieuren konstruiert wurden, bekommt informiert . Richtig ist: Weder hat der Verfassungsschutz Lust darauf, bei dieser technisch anspruchsvollen Aufga- Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums be mitzumachen . über solche Vorgänge informiert, noch hatten das Bun- des- und entsprechende Landesinnenministerium Kennt- Hierbei hat Deutschland eine Vorreiterrolle . Wir wer- nis über solche Vorgänge . Diese Meldung ist frei erfun- den sie nur erhalten können, wenn wir weiterhin über den . ausreichend qualifiziertes Personal verfügen. Dazu brau- chen wir auch weiterhin eine Offenheit gegenüber neuen Sie können in Deutschland alles behaupten . Solange Technologien . Wir brauchen auch weiterhin eine For- es um Kernkraft geht, können Sie davon ausgehen, dass schungslandschaft, die sich nicht an Ideologie, sondern jede Meldung ungeprüft übernommen und verteilt wird, am Einfallsreichtum zukunftsbegeisterter Menschen ori- entiert . (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) DIE GRÜNEN]: Aber Ihre Rede nicht!) 16570 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Steffen Kanitz (A) sofern es sich um die Risiken der Kernkraft handelt . der für ein Verfahren der Endlagersuche öffnen und ein (C) einziges Bundesland ausschließen . Das entspricht nicht (Dr . [BÜNDNIS 90/DIE dem Prinzip der weißen Landkarte . Das ist mit der CDU/ GRÜNEN]: So ein Quatsch!) CSU-Fraktion nicht zu machen . Ein solches Vorgehen ist unzulässig und hat mit seriösem Vielen Dank . Journalismus nichts zu tun . (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Göring- (Beifall bei der CDU/CSU) Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lü- genpresse?) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich will noch kurz auf ein Lieblingsthema der Oppo- Die Kollegin Kotting-Uhl erhält nun das Wort für die sition eingehen, den Euratom-Vertrag . Auch wenn Sie es Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . nicht gern hören: Gerade der so häufig kritisierte Eura- tom-Vertrag leistet vor allem durch die Richtlinie über Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): einen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Ministerin, kerntechnischer Anlagen einen wesentlichen Beitrag zu auch die Fraktion der Grünen gratuliert Ihnen natürlich . den von Ihnen geforderten höheren Sicherheitsstandards Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben heute als Ko- in Europa . Ziel ist es, die nukleare Sicherheit in Europa alition einen Antrag vorgelegt, der viele richtige Forde- aufrechtzuerhalten und in allen Ländern zu verbessern . rungen enthält, die wir weitgehend teilen, die allerdings Ich denke, dieses in der Richtlinie verankerte Ziel ent- bei weitem nicht ausreichend sind, um dem Gedenken an spricht genau unseren Interessen . Tschernobyl und Fukushima auch nur im Ansatz gerecht (Beifall bei der CDU/CSU) zu werden . Deswegen werden wir uns heute enthalten . Schon deshalb wäre es kontraproduktiv, den Eura- Sie fordern in diesem Antrag unter anderem eine eu- tom-Vertrag zu kündigen, unabhängig davon, dass wir ropäische Erinnerungskultur an die Katastrophe von dann auch sämtliche Mitspracherechte in internationalen Tschernobyl . Ich muss sagen: Diese Erinnerungskultur Gremien verlieren . würde ich mir manchmal auch hier im Hohen Haus wün- schen . Wenn wir über Sicherheit sprechen, dann gilt das nicht nur für den Betrieb von nuklearen Anlagen, sondern ins- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) besondere auch für die Entsorgung der radioaktiven Ab- Wenn ich Ihre Reden höre, Herr Kanitz, muss ich bei fälle . Hier laufen derzeit zwei Prozesse, die mich hoffen aller sonstigen Wertschätzung, die wir uns durchaus ge- (B) lassen, dass das Jahr 2016 als das Jahr in die Geschichts- genseitig manchmal ausdrücken, sagen: Sie werfen uns (D) bücher eingehen wird, in dem die noch offenen Fragen beständig vor, wir würden Ängste schüren und Panik ma- der Finanzierung des Kernenergieausstiegs auf der einen chen, aber Sie reden Risiken herunter . Das machen Sie, Seite und der Standortsuche auf der anderen Seite gelöst und das ist deutlich unangemessener . wurden . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Kommission zur Überprüfung der Finanzierung und bei der LINKEN) des Kernenergieausstiegs hat in dieser Woche erste Er- gebnisse zur Finanzierung der Endlagersuche vorgestellt, In dem Antrag wird auch ein Lob für Japan ausgespro- die man durchaus als historisch bezeichnen kann . Ich chen in der Hinsicht, Japan habe alles richtig gemacht danke allen Beteiligten und gratuliere zu dem Ergebnis, und umgehend reagiert . Ich muss sagen: Nein, das stimmt das eben genau dem Verursacherprinzip entspricht und nicht . Ich habe mit Menschen der früheren Stadtverwal- deutlich macht, dass wir natürlich einen Risikoaufschlag tungen der toten Städte in der 9-Kilometer-Zone geredet . auf all die Rückstellungen, die jetzt schon gebildet wor- Sie haben mir erzählt, wie es danach war . Sie haben mir den sind, nehmen . gesagt, dass Informationen nicht gegeben wurden, dass die Menschen nicht wussten, was zu tun war, dass Kata- (Beifall bei der CDU/CSU) strophenpläne nicht funktionierten und es bis zu einem Es ist jetzt an der Endlagerkommission, den letzten Jahr dauerte, bis Orte, die 4 oder 5 Kilometer neben den großen Meilenstein zu bewältigen . Ich bin durchaus op- havarierten Reaktoren lagen, evakuiert waren . Ich will timistisch, dass wir das schaffen werden . Wir tagen nun aber auf Japan gar nicht schimpfen . Ich will ehrlich sa- seit zwei Jahren in intensiven Gesprächen und haben auf gen – deswegen ärgert mich auch dieses Herunterreden einem guten Weg des Vertrauens zusammengefunden . des Risikos so –: Jedes Land auf dieser Welt wäre bei der Der Grundkonsens, der uns alle einigt, war: Wir wollen Bewältigung eines GAUs überfordert, jedes Land . einen Neustart der Endlagersuche auf Basis der weißen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Landkarte . Das bedeutet für die CDU/CSU-Fraktion, und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten dass alle Standorte gleichbehandelt werden . Gorleben der SPD) muss sich wie jeder andere Standort auch an den wis- senschaftlichen Kriterien messen lassen und kann nicht Das Lob für unser eigenes Land kann ich auch nicht aufgrund von politischen Vorfestlegungen vorsorglich uneingeschränkt teilen . Ja, wir haben im europäischen aus dem Verfahren genommen werden . Damit würden und vor allem im weltweiten Vergleich hohe und gute Si- wir genau die Kritik bestätigen, die im Vorhinein an cherheitsstandards . Aber was ist zum Beispiel in Gund- Gorleben geübt wurde . Wir können nicht alle Bundeslän- remmingen mit der mangelhaften Nachkühlversorgung? Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16571

Sylvia Kotting-Uhl (A) Was ist in Gundremmingen mit der mangelhaften Aus- dereinstieg in atomare Technologie, ja sogar in atomare (C) legung der Erdbebensicherheit gerade dieser Nachkühl- Großtechnologie bedeuten würde . Bei der Transmutation systeme? Was ist mit der Häufigkeit der Precursor-Zwi- geht es um Stichworte wie Brüdertechnologie, Wieder- schenfälle? Was ist mit der bayerischen Atomaufsicht, aufarbeitungsanlagen und, und, und . Solche Technologi- die all das herunterspielt, die das genauso herunterredet, en erforschen wir, wie gesagt, mit unserem Geld, um sie Herr Kanitz, wie Sie in Ihren Reden die Risiken herunter- in anderen Ländern anwenden zu lassen . reden? Was ist damit? Gerade wird darüber entschieden, ob einer Empfeh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lung des Rates zugestimmt wird, in der steht: Wir wol- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten len die Ausweitung der europäischen und der deutschen der SPD) Nuklearindustrie in noch unerschlossene Märkte unter- stützen .– Das heißt, wir unterstützen mit unserem öffent- Was ist bezüglich der Vortäuschung von Untersuchun- lichen Geld die Anwendung und Einführung einer sol- gen im Hinblick auf die Instrumente, die man braucht, chen Technologie in Ländern, die heute vielleicht noch um die Sicherheit zu überprüfen? Ja, das wird jetzt aufge- gar nichts damit zu tun haben, also die Anwendung einer klärt . Und: Ja, es ist nichts passiert . Aber zu Betrügereien Technologie, von der wir aus gutem Grund alle mitei- und Schlampereien wie in Fessenheim, die zum Ausfall nander gesagt haben: Das damit verbundene Risiko ist von Sicherheitseinrichtungen führen, darf es nicht kom- unserer Bevölkerung nicht mehr zumutbar . men . Sie, Herr Kanitz, sagen: Es ist doch nichts pas- siert .– Auch die französische Atomaufsicht sagt: Es ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN doch nichts passiert . – Das ist aber kein Anlass, zu sagen: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es ist alles gut . – Es geht doch nicht darum, wie es aus- geht, sondern um die Frage: Was hätte passieren können? Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ist nicht glaubwürdig . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der SPD) und bei der LINKEN)

Die Quintessenz ist: Weder die Technik noch der Präsident Dr. Norbert Lammert: Mensch können bei Atomkraftwerken für hundertpro- Das Wort erhält nun der Kollege Oliver Kaczmarek zentige Sicherheit garantieren . Die Folgeauswirkungen für die SPD-Fraktion . der Technologie Atomkraft sind, wenn etwas passiert, zu massiv und zu gravierend, als dass man die damit einher- (Beifall bei der SPD) gehenden Sicherheitsdefizite, die Mensch und Technik (B) (D) notwendigerweise mit sich bringen, akzeptieren kann . Oliver Kaczmarek (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möch- sowie bei Abgeordneten der SPD und der te mit einem Lob an den Bundestag beginnen, weil ich LINKEN) glaube, es ist aller Ehren wert, dass der Deutsche Bun- destag heute zu einer guten Debattenzeit an die Katastro- Ich komme noch auf zwei Punkte zu sprechen; viel phen von Tschernobyl und Fukushima erinnert . Ich weiß, mehr Zeit bleibt mir leider nicht . Zunächst zur For- das findet in den betroffenen Ländern viel Beachtung. Es schung . Wie ich gesehen habe, wird Herr Lengsfeld neun wird als ein Zeichen deutscher Solidarität empfunden . Minuten darüber reden . Deswegen: Es ist gut, dass wir diese Debatte heute zu (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dieser Zeit führen . Uns bleibt auch nichts erspart! – Weitere Zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ nein! – Muss das sein?) DIE GRÜNEN) Er wird vermutlich wieder loben, wie toll das alles ist Ich möchte einen etwas anderen Akzent setzen und, und wie notwendig internationale Forschung ist . wie auch die Ministerin, an die Betroffenen erinnern – an (Dr .Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Es tut mir die, die schwer erkrankt sind oder deren Familienange- ja leid, Frau Kollegin, aber so ist es nun ein- hörige teilweise schon verstorben sind – und den Blick mal!) vor allen Dingen auf diejenigen richten, die sich heute um die Betroffenen kümmern: auf diejenigen, die Hilfs­ Ich möchte Ihnen nur eines sagen: Wir steigen hier- transporte oder Ärztefortbildungen auf dem Land orga- zulande aus der Atomkraft aus, und das mit der Begrün- nisieren, die mithelfen, Krankenhäuser zu ertüchtigen, dung, dass das Risiko der Bevölkerung nicht mehr zu- um beispielsweise Schilddrüsenkrebserkrankungen zu mutbar ist; das waren die Worte von Frau Merkel, und sie bekämpfen, und diejenigen, die Erholungsaufenthalte für waren völlig richtig . bislang mehr als 1 Million Kinder aus den betroffenen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Regionen in Europa organisiert haben . sowie bei Abgeordneten der SPD und der Tschernobyl war vor 30 Jahren die größte Technikka- LINKEN) tastrophe in Europa; das ist klar . Aber Tschernobyl war Aber wir erforschen mit unserem öffentlichen Geld, mit auch die Geburtsstunde der bis dahin größten Solidari- Steuergeld, Technologien, deren Anwendung den Wie- tätsbewegung Europas . Deswegen ist diese Debatte auch 16572 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Oliver Kaczmarek (A) der richtige Ort, um für die Solidarität und das Engage- einem hochentwickelten Industrieland, ein mit Tscher- (C) ment im Rahmen der Tschernobyl-Hilfe Danke zu sagen . nobyl vergleichbarer Super-GAU stattfand, nämlich in Fukushima . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- wie bei Abgeordneten der LINKEN und des Heute ist noch einer unter uns, der vor 30 Jahren als BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Forschungsminister in Bonn war: von der CDU, ein großer Befürworter und Förderer der In diesen Wochen wird im Gedenken an Tschernobyl Atomtechnologie in Deutschland . Das blieb er auch nach und Fukushima Solidarität in Europa gelebt . Allein im Tschernobyl . Nach Fukushima ist aber auch er nachdenk- Rahmen der Europäischen Aktionswochen „Für eine Zu- lich geworden, und in seiner letzten Rede zu Tschernobyl kunft nach Tschernobyl und Fukushima“ finden in mehr hat er vor kurzem zu großer Einmütigkeit der Fraktionen als 200 Städten in 13 Ländern Europas Veranstaltungen aufgerufen und ein flammendes Plädoyer für die Ener- statt . Die Schirmherrschaft hat dankenswerterweise wie- giewende gehalten, die in Deutschland gelingen müsse, der der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin damit das Ausland sehe, dass es sich daran ein Beispiel Schulz, übernommen, der vorvergangene Woche, glaube nehmen könne . – So weit, so gut . ich, 200 Helfer von Tschernobyl-Initiativen auf Einla- dung von Rebecca Harms im Europäischen Parlament in Das ist gerade für unsere Nachbarn in Frankreich und Brüssel begrüßt hat . in Großbritannien mit seinen unsäglichen Hinkley-Point- Plänen, aber auch für alle anderen Länder von großer Ich glaube, die Botschaft dieser Tschernobyl-Hilfe, Bedeutung . dieser Solidaritätsbewegung, die sich hoffentlich auch auf die Betreuung der Opfer und Betroffenen von Fuku- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . shima weiter ausdehnen wird, ist eine Botschaft, die weit Dr . Nina Scheer [SPD]) über die Solidaritätsbekundung allein hinausgeht; denn Was macht das Ausland? Das Ausland wundert sich diese Aktivitäten symbolisieren in diesen Tagen: Europa gerade über Deutschland . Sie sagen: Ihr habt die Erneu- vergisst Tschernobyl und damit die Betroffenen in Bela- erbaren wie verrückt gefördert, bezahlbar gemacht und rus, in der Ukraine und in Teilen Russlands nicht . daraus gelernt, und jetzt seid ihr dabei, sie auszubremsen Europa scheint im Moment auf der Suche nach einer und zu blockieren . Warum erntet ihr diese Früchte nicht? gemeinsamen politischen Idee zu sein . Die betroffene Die Bundesregierung ist mit dem EEG-Entwurf gera- Region ist eine, die von vielen politischen Widersprüchen de dabei, die Energiewende zu drosseln und den Ausbau betroffen ist . Es gibt Krieg in der Ukraine, wirtschaftli- regenerativer Energien zu beschneiden und auszubrem- che Schwierigkeiten in Belarus und Einschränkungen der sen . Sie hat dies bereits 2012 mit der Solarenergie und (B) Meinungsfreiheit in Russland . 2014 mit der Bioenergie gemacht, die ihre Ausbauziele (D) All diese Dinge zeigen: Die Zivilgesellschaft tritt für seither bei weitem nicht mehr erreichen . Das müssen sie ein Europa ein, in dem man füreinander einsteht, das die aber, wenn wir aus der Atomenergie aussteigen wollen . Opfer nicht vergisst und das eine Zukunft ohne Atom- (Beifall bei der LINKEN) kraft hat . Deswegen ist diese Botschaft weit darüber hi­ nausgehend eine Ermutigung der Zivilgesellschaft an uns, Mit dem neuen EEG-Entwurf soll jetzt auch den Windan- an die Politik, für ein besseres Europa und für ein Europa lagen an Land das Leben schwer gemacht werden . ohne Atomkraft einzutreten . Das sollten wir beherzigen . Ich sage Ihnen: Dieser fatale Kurs ist nicht geeignet, Herzlichen Dank . um die Versprechen von Paris einzulösen und die Ener- giewende mit der Kraft voranzutreiben, die eigentlich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geboten wäre . der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Ich schlage jetzt einmal vor, dass Herr Riesenhuber – Präsident Dr. Norbert Lammert: leider ist er nicht da – in Sachen EEG aktiv wird und Eva Bulling-Schröter ist die nächste Rednerin für die endlich einmal mit , Herrn Bareiß und Fraktion Die Linke . noch einigen anderen Hardlinern aus der CDU, die es ausbremsen wollen, redet und versucht, ihnen beizubrin- (Beifall bei der LINKEN) gen, was die Stunde geschlagen hat . (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Dr .Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Lauter Eh- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und rentitel! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Kollegen! Frau Ministerin, auch von meiner Seite herzli- „Hardlinern“!) chen Glückwunsch zum Geburtstag . – Lesen Sie doch einmal Ihre eigenen Briefe, und lachen 1986, wenige Wochen nach der Reaktorkatastrophe Sie nicht so! von Tschernobyl, hat der damalige Bundesinnenminister (Beifall bei der LINKEN) Friedrich Zimmermann, CSU, erklärt, die Bundesregie- rung sehe „keinen Anlass, ihre eigene Kernkraftpolitik zu Jetzt komme ich zu Tschernobyl . Man geht heute von überprüfen“, das Restrisiko sei „theoretisch“ . Wie theo- circa 100 000 bis 1,3 Millionen Toten aus . Die Schätzun- retisch das war, haben wir 2011 gesehen, als in Japan, gen sind unterschiedlich . Allein 20 000 der 600 000 Li- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16573

Eva Bulling-Schröter (A) quidatoren starben infolge des GAUs . Jetzt können wir Florian Oßner (CDU/CSU): (C) über Totgeburten, Säuglingssterblichkeit und Leukämie Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und reden; das wissen Sie alles . Aber heute sind weltweit im- Kollegen! Liebe Frau Kollegin Bulling-Schröter, ich mer noch zehn Reaktoren nach Bauart von Tschernobyl bedanke mich zu Beginn meiner Rede ganz herzlich: in Betrieb . Das ist doch der große Skandal . Die Folgen Derartige Lobeshymnen auf CSU-Politiker seitens der von Tschernobyl sind spürbar . Linken und auch von Ihnen ist man tatsächlich gar nicht (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- gewohnt . Noch einmal besten Dank dafür . neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Fleisch Das Datum 26 .April 1986, welches sich in dieser von Wildschweinen in Bayern zu sprechen kommen . Ei- Woche zum 30 .Mal gejährt hat, wird für immer unaus- nige Jäger sitzen ja hier . löschlich mit dem Wort „Tschernobyl“ verbunden sein . (Heiterkeit) Die Reaktorkatastrophe dort hat uns genauso wie das Un- glück am 11 .März 2011 in Fukushima drastisch vor Au- Die zulässigen Grenzwerte im Fleisch werden teilweise gen geführt, welche Risiken mit der friedlichen Nutzung um mehr als das 16-Fache überschritten . Im Fleisch des der Kernenergie verbunden sind . Mein tiefes Mitgefühl – Wildschweins werden bis zu 10 000 Becquerel gemes- das haben auch schon meine Vorredner zum Ausdruck sen . Euer Verbraucherministerium verschweigt das na- gebracht – gilt natürlich zuallererst den Hinterbliebenen türlich . Das darf in Bayern wieder niemand wissen . Das der Opfer und all jenen, die bis heute unter den Folgen halte ich für einen Skandal . leiden . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Berücksichtigen sollte man hierbei aber auch die rund neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – 600 000 Menschen, die von der damaligen Sowjetuni- Dr .Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Aber mein on als sogenannte Liquidatoren eingesetzt waren und Wildschwein wird gegessen, Frau Kollegin! – ihre Arbeit ohne einen besonderen Schutz bzw . ohne Dr . [DIE LINKE]: Das erklärt aber, Kenntnis über die enorme Strahlenbelastung, der sie aus- warum der Seehofer so drauf ist!) gesetzt waren, verrichtet haben . Der Umstand, dass die Katastrophe ihren Ursprung in einer staatlich angewiese- Ein Computervirus im Atomkraftwerk jedoch wird ge- nen Übung hatte, zeigt doch sehr deutlich, wie teilweise rade von Ihrer Partei, die sonst immer gegen Verbrecher menschenverachtend das System in der damaligen Sow- und Terroristen vorgehen will, relativiert . jetunion war . (B) (D) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Kollegin . Auch müssen wir uns immer wieder bewusst sein, dass über 300 000 Menschen in Tschernobyl und Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): 185 000 Menschen in Fukushima aufgrund dieser beiden schweren Unglücke ihre Heimat verloren haben . Große Das aber soll man am besten verschweigen . Anerkennung gilt bei dieser Debatte all den vielen Initia- (Dr . Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Nein! Das tiven, Organisationen und Einzelpersonen, die sich in der Wildschwein wird gegessen!) Folge der beiden Unglücke für die Opfer von Tscherno- byl und Fukushima eingesetzt und engagiert haben und Also, denkt daran: Ihr müsst noch viel tun . die es heute noch mit viel Hingabe tun . Herzlichen Dank (Beifall bei der LINKEN) für diese großartige Leistung . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Präsident Dr. Norbert Lammert: ordneten der SPD) Frau Kollegin . Meine Heimat Niederbayern war noch Mitte des letzten Jahrhunderts eine der ärmsten Regionen Deutschlands . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Heute gilt sie als einer der attraktivsten Lebensräume Eu- Wir sagen: Atomkraftwerke müssen sofort und schnell ropas mit innovativen Arbeitsplätzen, Vollbeschäftigung abgeschaltet werden . Dann wird vieles besser . und sehr hoher Lebensqualität . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – LINKEN) Dr .Geor g Nüßlein [CDU/CSU]: Und die In meinem Wahlkreis in der Region Landshut und Wildschweine gegessen!) Kelheim bin ich vom Atomausstieg und möglichen Ri- siken durch die grenznahen Kernkraftwerke direkt be- Präsident Dr. Norbert Lammert: troffen . 2022 – das hat die Frau Bundesministerin schon Das Wort erhält nun der Kollege Florian Oßner für die gesagt – geht in Essenbach/Niederaichbach mit Isar 2 das CDU/CSU-Fraktion . letzte KKW in Deutschland vom Netz . Die Kraftwerke Isar 1 und Isar 2 haben in den letzten Jahrzehnten einen (Beifall bei der CDU/CSU) maßgeblichen Beitrag zur Versorgungssicherheit in ganz 16574 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Florian Oßner (A) Süddeutschland geleistet und damit auch für die starke Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Entwicklung unserer Heimat . Gut, aber natürlich nicht unlimitiert . Zwei würde ich einmal zulassen, und die rufe ich vielleicht einmal der Deswegen ist es mir wichtig und ein persönliches An- Reihe nach auf . – Frau Kotting-Uhl, fangen Sie bitte an . liegen, im Rahmen dieser Debatte die Gelegenheit zu nutzen, den vielen Beschäftigten in den deutschen Kern- kraftwerken für ihre gute und zuverlässige Arbeit für un- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sere Sicherheit ein großes Lob auszusprechen . Ohne die- Herr Oßner, danke, dass Sie die Frage zulassen . – Sie ses Engagement hätten wir das große Vertrauen in diese bezieht sich auf die von Ihnen gerade konstatierte Aus- Technologie nicht erreicht . legung gegen Erdbeben, die bei uns in Deutschland ge- nüge . Bei uns könne ein Erdbeben also nicht zu einem (Beifall bei der CDU/CSU) Schadensfall führen . Ich frage Sie, ob Sie wissen, dass die japanischen Atomkraftwerke sehr viel besser als die Meine Damen und Herren, wie wir heute wissen, deutschen gegen Erdbeben ausgelegt sind . Das ist aus ei- kam es aufgrund eines unzulässigen Experiments mit nem ganz einfachen Grund so: In Japan hat man schon dem Turbinen-Generator-Satz der Kraftwerksanlage immer – anders als bei uns – mit Erdbeben gerechnet, die zu dem Unfall in Tschernobyl . Durch eine ganze Reihe höher auf der Erdbebenskala angesiedelt sind . Die Atom- von Bedienungsfehlern der unzureichend ausgebildeten kraftwerke sind dort zum Teil gegen Erdbeben der Stär- Betriebsmannschaft – das ging bis hin zur vorsätzlichen ke 8 auf der Richterskala ausgelegt – weit weg von dem, Überbrückung von Abschaltsignalen – kam es zu einem mit dem man bei uns rechnet und wogegen die Kraftwer- sehr starken Leistungsanstieg bis zum Hundertfachen ke bei uns ausgelegt werden . der Nennleistung . Erschwerend kamen natürlich noch die ungünstigen reaktorphysikalischen und sicherheits­ Haben Sie – das ist meine Frage – versäumt, zu reali- technischen Eigenschaften des RBMK-Reaktors, des sieren, dass die Lehre aus Fukushima nicht die ist: „Hütet sogenannten Tschernobyl-Typs, hinzu . Ein solcher Re- euch weltweit vor hohen Tsunamis und vor Erdbeben der aktor wäre hierzulande nie genehmigt worden; denn die Stärke 9 auf der Richterskala“, sondern dass sie lautet: Sicherheitsphilosophie und ‑standards der ehemaligen „Erkennt, dass ihr Naturgewalten nicht richtig einschät- Sowjetunion entsprachen bei weitem nicht den schon da- zen könnt und dass die sich auch verändern“? mals sehr strengen deutschen Anforderungen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ähnliches gilt auch für den Reaktorunfall in Fuku- Florian Oßner (CDU/CSU): (B) (D) shima . Die unzureichende Auslegung der Anlagen ge- Sehr geehrte Frau Kollegin Kotting-Uhl, erst einmal gen Tsunamis war hier die wesentliche Ursache für die vielen Dank für die Frage .– Ich muss noch einmal eines Ereignisabläufe . Auch in Bezug auf den Fall Fukushima klarstellen: Auch japanische Ingenieure sind im Nach- muss klargestellt werden, dass ein derartiger Unfall in gang zu Fukushima gerade auch bei uns im Wahlkreis – Deutschland kaum vorstellbar und faktisch unmöglich im Atomkraftwerk Isar 2 – zu Besuch gewesen, um sich ist; denn der Restrisikobereich ist hierzulande bereits bei zu informieren, welche Sicherheitsvorkehrungen wir im der Bemessung der Auslegungswerte für Kernkraftwerke Rahmen unserer Sicherheitsabläufe – dabei ging es um gegen Einwirkungen von außen und auch bei der Geneh- sieben bis neun Stufen – getroffen haben . Ich wäre in migung von Anfang an klar vorgegeben: Alle Anlagen meiner Rede ohnehin in Kürze darauf eingegangen . Das sind so ausgelegt, dass sie mindestens dem 100 000sten heißt, diese Frage passte gut . jährlichen Erdbeben und dem 10 000sten jährlichen Ich denke, selbstverständlich kann man sich nicht ge- Hochwasser – bemessen am statistischen Mittel für die gen alle Risiken weltweit schützen . jeweilige geografische Lage – standhalten. ( [DIE LINKE]: Das muss Zum Unfallablauf hat aber auch die zum Beispiel ge- bei Atomkraft gesichert sein!) genüber deutschen Kernkraftwerken geringere sicher- heitstechnische Ausstattung der japanischen Anlagen Der größtmögliche Schutz ist aber, wie ich vorhin schon beigetragen . So hätte zum Beispiel eine für deutsche gesagt habe, gegeben – wir sprechen hier über das Kernkraftwerke typische Sicherheitsauslegung – dabei 100 000ste jährliche Erdbeben; das überlasse ich aber geht es um Wasserstoffrekombinatoren und Systeme zur den Experten und Statistikern –, wenn man, wie im ge- gefilterten Druckentlastung – einen Unfallablauf wie in schilderten Fall geschehen, die Risiken minimiert bzw . Fukushima verhindern können . verschiedene hintereinander geschaltete Sicherheitsstu- fen implementiert . Wenn das der Fall ist, dann, denke ich, kann man von einem bestmöglichen Schutz in Bezug auf Präsident Dr. Norbert Lammert: die Kraftwerke sprechen . Herr Kollege Oßner, es gibt zahlreiche Wünsche, Ihre ( [SPD]: Der bestmögliche Rede mit zusätzlichen Fragen anzureichern . Schutz führt zum GAU!) Wie gesagt, auch die Japaner haben sich sehr eng mit uns Florian Oßner (CDU/CSU): über die Sicherheitsvorkehrungen ausgetauscht . Diesen Wünschen werden wir natürlich gerecht . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16575

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Risiken im Blick behält und diese, so gut es geht, be- (C) Darf jetzt die Kollegin Scheer die zweite Frage stel- herrschbar macht . len? – Bitte . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Bla, bla!) Dr. Nina Scheer (SPD): Die Einrichtungen zur Auslegung der Wasserstoffre- Meine Frage geht in eine ähnliche Richtung . Ich bin, kombinatoren, von denen ich vorhin gesprochen habe, ehrlich gesagt, etwas irritiert, wenn in einer Gedenkde- wurden bereits ab dem Jahr 1979 nach dem Three-Mile-­ batte – als solche kann man, denke ich, die heutige De- Island-Störfall in Harrisburg, Pennsylvania, in unsere batte ansehen – mit Blick darauf, was dieses Gedenken Kernkraftwerke eingebaut . Das war natürlich ein wichti- an den schrecklichen Unfall vor 30 Jahren zwingender- ger Schritt für die Risikominimierung . Wären diese auch weise auch für unsere zukünftige energiewirtschaftliche in Fukushima implementiert gewesen, hätte man das eine Positionierung bedeuten muss, ein entscheidender Rede- oder andere sicherlich besser in den Griff bekommen anteil eines Koalitionspartners darauf gerichtet ist, die können . Beherrschbarkeit von Atomtechnologie und den Einzel- fallcharakter vergangener Unfälle zu suggerieren . Nicht umsonst haben sich nach dem Unfall in Fuku- shima – jetzt komme ich auf Ihre Frage zurück, Frau (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Kotting-Uhl – die japanischen Kraftwerksbetreiber in BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den deutschen Kernkraftwerken – auch bei mir im Wahl- Daher frage ich mich, ob unser Koalitionspartner an sich kreis – diese Systeme zeigen lassen . Anschließend wur- Restrisiken negiert . den die abgeschalteten Anlagen entsprechend nachgerüs- tet, was ich sehr beachtenswert finde. Dies sagt meines (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das hat Erachtens sehr viel über das große Vertrauen weltweit in er nie gesagt!) die hohen Sicherheitsstandards in Deutschland aus . Meinen Sie tatsächlich, dass die Atomtechnologie keine Deshalb, meine lieben Linken und Grünen: Hören Sie Restrisiken beinhaltet? bitte auf, diese vorbildlichen Sicherheitsstandards stän- (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das hat dig schlechtzureden und in der Bevölkerung Angst zu er nie behauptet!) schüren! Auch damit macht man keine vernünftige Zu- kunftspolitik . Das frage ich mich, ehrlich gesagt, bei Ihren Ausführun- gen, und es würde mich interessieren, ob Sie etwas dazu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – zu sagen haben . Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und (B) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Trotz der hier herrschenden sehr hohen Sicherheits- NEN) standards ist der schrittweise und verkraftbare Ausstieg aus der Kernenergie – jetzt kommt etwas, das Ihnen si- cherlich sehr gut gefällt – die richtige Konsequenz . Die- Florian Oßner (CDU/CSU): sen Weg gilt es auch konsequent weiterzugehen . Dafür Sehr geehrte Frau Kollegin, ich tue mich tatsächlich bedarf es eines weiteren Ausbaus der erneuerbaren Ener- ein Stück weit schwer, in Ihrem Redebeitrag eine Frage gien . zu erkennen . ( [SPD]: Auch Windkraft in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bayern!) Eine Schlüsselrolle werden aber auch innovative Spei- Präsident Dr. Norbert Lammert: chertechnologien, zum Beispiel die Speicherung durch Das ist auch gar nicht erforderlich, verehrter Herr Kol- die Wasserstofftechnik, einnehmen . lege, weil die Möglichkeit der Wortmeldung diese Res­ triktion schon lange nicht mehr vorsieht . Meine Damen und Herren, wie wir in unserem Antrag abschließend festgestellt haben, stehen wir auch weiter- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des hin vor großen Herausforderungen, die es anzupacken BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gilt . So wollen wir unter anderem die Fusions- und Nu­ klearforschung in Deutschland zukünftig auf Sicherheits- Florian Oßner (CDU/CSU): und Entsorgungsforschung – ich betone: auf Sicherheits- forschung – fokussieren und damit zum Kompetenzerhalt Aber ich gehe natürlich sehr gerne darauf ein . in Deutschland beitragen . Ich denke, der gesamte erste Teil hat sich einzig und (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE allein darauf beschränkt, der Opfer – ich habe die Zahlen GRÜNEN]: Geht doch gar nicht!) genannt; womöglich ist es Ihnen entgangen – und auch aller Helfer und all derer zu gedenken, die heute noch Auch um schlussendlich ein Endlager für hochradi- unter den Folgen leiden . Ich denke, das ist ein ganz ent- oaktive, wärmeentwickelnde Abfallstoffe zu finden, be- scheidender Punkt . Aus diesem Grund habe ich das auch darf es des aktuellsten und neuesten Standes in Wissen- angesprochen . In dieser Hinsicht sind wir absolut einer schaft und Forschung . In dieser Frage sind wir uns auch Meinung . Es ist sehr, sehr wichtig, dass man auch die in der Endlagerkommission einig . 16576 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Florian Oßner (A) Vielen Dank an das Bundesumweltministerium mit zung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen nun (C) der Bundesumweltministerin Barbara Hendricks an der gegen Belgien klagt . Da wird Neuland beschritten . Spitze für die Unterstützung . Auch vonseiten der CSU herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Des Weiteren wollen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien nicht nur in Deutschland, sondern auch durch Frau Hendricks, bei aller gebotenen Zurückhaltung an- Kooperationen mit anderen Staaten weltweit vorantrei- lässlich Ihres Geburtstags finde ich, dass bei Ihrem En- ben . Dies gilt auch für unsere erworbenen Kenntnisse im gagement gegen die grenznahen AKW-Standorte noch Bereich der nuklearen Sicherheit sowie bei der Entsor- Luft nach oben ist . Ich würde mich freuen, wenn die gungsfrage . Dies ist aus meiner Sicht eine einmalige wirt- Bundesregierung die Klage der Städteregion Aachen un- schaftspolitische Chance, unseren Kompetenzvorsprung terstützen würde . Das wäre das richtige Zeichen . in Deutschland zu nutzen . Aus diesem Grund bitte ich um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zustimmung für den Antrag der Koalitionsfraktionen . und bei der LINKEN) Herzliches „Vergelts Gott“ fürs Zuhören . Wir müssen mit unseren Nachbarstaaten darüber re- (Beifall bei der CDU/CSU) den, wie wir unsere Energiewende auch in diesen Staa- ten umgesetzt bekommen . Es ist doch verrückt, dass wir in den Niederlanden, in Belgien und Deutschland Präsident Dr. Norbert Lammert: massenweise Gaskraftwerke haben, deren Kapazitäten Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der nicht genutzt werden und die stillstehen, und gleichzeitig Kollege Oliver Krischer das Wort . Schrottreaktoren, die Risse aufweisen und deren Betrieb auch nach Einschätzung der Bundesregierung unver- Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): antwortlich ist, weiterbetreiben . Es wäre doch Aufgabe Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dieser Bundesregierung, in den Nachbarstaaten nach Kollegen Kanitz und Oßner, Sie haben in Ihren Reden Lösungen zu suchen, wie zumindest diese Schrottreakto- Risiken verharmlost und die Errungenschaften der Atom- ren abgeschaltet werden können . Da vernehme ich aber kraft hochgelobt . nichts . (Florian Oßner [CDU/CSU]: Sie müssen zu- Das Problem dieser Bundesregierung ist, dass sie hören! Das ist an Fakten orientiert!) AKWs in Deutschland abschalten – auch wenn man manchmal bei ihren Reden daran zweifeln kann –, aber Am 30 . Jahrestag von Tschernobyl habe ich fast das Ge- (B) den Atomausstieg nicht ins Ausland tragen will . Da gibt (D) fühl, dass nun noch eine Forderung nach Laufzeitverlän- es in Ihrem Antrag einen verräterischen Satz . gerung kommt . Sie sind noch immer nicht im Nachatom- kraftzeitalter angekommen . (Florian Oßner [CDU/CSU]: Da haben Sie lange nach suchen müssen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Wi- Er lautet, Deutschland könnte für die Energiewende im derspruch bei der CDU/CSU) Ausland werben . Nein, meine Damen und Herren von Wer hier solche Reden hält, hat die Lehren aus Tscher- der Großen Koalition, Deutschland muss für die Energie- nobyl und Fukushima nicht verstanden; aber das gehört wende im Ausland werben . dazu . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ( [CDU/CSU]: Regen Sie und bei der LINKEN) sich wieder ab! – Florian Oßner [CDU/CSU]: Das ist die notwendige Konsequenz aus 30 Jahren Aber Sie haben es verstanden?) Tschernobyl und fünf Jahren Fukushima . Nur wenn Sie Man muss gar nicht weit schauen und nur an die West- das tun, ist das, was Sie hier machen, auch authentisch . grenze unserer Republik, nach Belgien gehen . Genau Ich danke Ihnen . zum Jahrestag von Tschernobyl hat die Regierung von Belgien angekündigt, dass sie nun flächendeckend Jodta- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bletten verteilen lässt . Die Regierung von Belgien weiß offensichtlich, warum sie das tut . Dort werden nämlich

Atomkraftwerke betrieben, deren Weiterbetrieb unver- Präsident Dr. Norbert Lammert: antwortlich ist . Diese Atomkraftwerke gehören genauso Das Wort erhält nun Marco Bülow für die SPD-Frak- abgeschaltet wie die Atomkraftwerke in Cattenom, Fes- tion . senheim, Beznau und Temelin . (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Marco Bülow (SPD): der SPD) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Ich finde es richtig, dass die Städteregion Aachen mit Herren! Frau Ministerin, auch von mir herzlichen Glück- Unterstützung Dutzender Kommunen aus Deutschland, wunsch und viel Kraft für die weiteren Herausforderun- Luxemburg und den Niederlanden sowie mit Unterstüt- gen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16577

Marco Bülow (A) Wir sprechen heute über den 26 .April vor 30 Jahren, Deutschland, dann aber auch europaweit, damit wir diese (C) als ein Atomkraftwerk in die Luft geflogen ist und wir Hoffnung in die ganze Welt tragen können . erst Tage später mitbekommen haben, was passiert ist . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich war damals Schüler . Ich habe mich gefragt: Warum des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) macht man so etwas? Warum sind die Erwachsenen so dumm, eine Technologie einzusetzen, die ihre Kinder 30 Jahre nach Tschernobyl und 5 Jahre nach Fukushi- maßlos gefährdet? Gibt es eigentlich keine Alternativen? ma haben wir folgende Situation: Viele denken, in Fuku- Seit 30 Jahren treibt mich dieses Thema um . Auch nach shima sei jetzt alles in Ordnung . Aber an den Jahrestagen 30 Jahren haben wir es noch nicht geschafft, weltweit erfährt man, dass nicht alles in Ordnung ist . So wurde oder zumindest europaweit aus dieser Technologie aus- am Mittwoch bei der großen Veranstaltung der SPD zusteigen . deutlich gemacht, dass immer noch jeden Tag 400 Ton- nen radioaktives Wasser austreten, die nicht aufgehal- Vor fünf Jahren geschah das Gleiche in Fukushima . ten werden können . Jeden Tag 400 Tonnen! Es werden Meine Tochter war gerade geboren . So wird mich das Barrieren aufgebaut, es werden Eismauern gebaut, und Thema wahrscheinlich auch die nächsten Jahre immer es werden Brunnen gebaut . Man sieht daran, dass auch noch umtreiben, und es wird dafür sorgen, dass ich mich ein Hochtechnologieland wie Japan nach fünf Jahren die weiter dafür engagiere, dass nicht nur wir in Deutschland Situation immer noch nicht in den Griff bekommt . aussteigen, sondern dass wir auch europaweit und welt- weit aus dieser Technologie aussteigen . Erst dann gibt Daran sieht man: Erstens . Menschliches Versagen ist es die wirkliche Sicherheit vor Atomenergie . Das sollten immer möglich . Zweitens . Auch technisches Versagen ist uns die Jahrestage lehren . immer möglich . Wir sind nicht in der Lage, die großen Katastrophen in den Griff zu bekommen . Das zeigt doch, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass diese Risikotechnologie keine Zukunft hat und wir der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE darauf verzichten müssen, weil wir sie nicht beherrschen GRÜNEN) können, und zwar nirgendwo auf der Welt, auch nicht in 30 Jahre später stehen wir hier und debattieren . Wir Deutschland . haben in Deutschland den Ausstieg beschlossen . Wir ha- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem ben heute einen Antrag vorgelegt, der, denke ich, deutlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) macht, dass die Mehrheit des Hauses für den Ausstieg ist . Aber auch ich muss zugeben: Herr Oßner, Ihre Rede hat 30 Jahre später sieht man, dass die Atomkraftwerke an mich nicht gerade ermutigt, dass wir weiter vorankom- den Grenzen Deutschlands Pannenreaktoren sind . Man men . Ich glaube nicht, dass in der Union komplett alle es sieht, dass die Aufsichtsbehörde in Belgien stark in der (B) so sehen, dass dieser Ausstieg richtig ist . Kritik ist . Diese Kritik geht nicht von linken „Spinnern“ (D) oder Leuten, die das schon immer gesagt haben, aus; Trotzdem bedanke ich mich, gerade bei Steffen Kanitz, nein, insgesamt gibt es eine heftige Diskussion in Belgi- für die sachorientierte Zusammenarbeit . Ich glaube, wir en über die Aufsichtsbehörde, in der sich die Mitglieder sind ein Stück weitergekommen, auch wenn wir natür- selbst nicht grün sind, in der es riesigen Streit gibt und lich nicht in allen Dingen einig sind . Darum muss weiter der man nicht trauen kann, dass sie genau das offenlegt, hier gerungen werden . Das werden wir von unserer Seite was offengelegt werden muss . auch tun . (Beifall der Abg . Sylvia Kotting-Uhl [BÜND- (Beifall bei der SPD sowie des Abg . Steffen NIS 90/DIE GRÜNEN]) Kanitz [CDU/CSU]) Wir dürfen uns nicht einmischen, aber wir dürfen Es haben einige gewürdigt – der Würdigung möch- immer wieder darauf hinwirken – das ist sogar unsere te ich mich anschließen –, dass es viele Organisationen Pflicht; deshalb danke ich unserer Ministerin –, dass un- gibt, die sich dafür engagieren, nach Tschernobyl der sere Nachbarländer erkennen, was unsere Sorgen sind . Opfer nicht nur zu gedenken, sondern den Opfern vor Wir müssen dafür sorgen, dass wir in Europa einen ande- allen Dingen zu helfen . Aber es ist ein bisschen so wie ren Weg gehen . mit der Tafel: Eigentlich müsste man Armut und Hunger (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten abschaffen, gerade in einem reichen Land wie Deutsch- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) land, und nicht Armenspeisungen durchführen . Deswe- gen möchte ich, dass sich irgendwann erübrigt, dass den Ich muss dazu sagen: Es ist wichtig, dass wir immer Opfern einer Katastrophe geholfen werden muss; ich wieder darauf dringen . So lese ich in einer aktuellen möchte, dass neue Katastrophen gar nicht erst entstehen . EU-Parlamentsvorlage – das steht dort wortwörtlich –: Neue Kernkraftwerke sind die entscheidende Quelle für (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des die Grundlast auch in Zukunft .– Wenn ich so einen Satz BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lese, dann sage ich: Die Ministerin hat recht, dass sie der Antiatomkraftbewegung für ihr Engagement gedankt Eine dieser Hilfsorganisationen betreibt ein Projekt hat . Wir brauchen diese Bewegung und die Gegner der mit dem schönen Namen Nadeshda; das heißt Hoff- Atomkraft aber auch in Zukunft, damit wir verhindern, nung . Genau sie sollten wir versprühen . Wir brauchen dass Europa die Atomkraft weiter ausbaut . diese Hoffnung, und dazu brauchen wir den Umstieg . Wir brauchen die Energiewende, und dazu brauchen wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der den Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energien in LINKEN) 16578 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Marco Bülow (A) Wir müssen endlich aus der Atomenergie aussteigen . Der Sowjetkommunismus hat immer seine Wissen- (C) Das muss das Ziel sein, und dafür werden meine Fraktion schaftlichkeit betont . Der gesamte Ostblock wurde durch und ich weiter kämpfen . Ingenieure und durch eine ingenieursgeprägte Weltsicht dominiert . Die Natur war etwas – das kann man zum Bei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ spiel in einem der schlechteren Brecht-Gedichte nachle- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der sen –, was sich der neue Sowjetmensch untertan macht . LINKEN) Die Atomkraft war die fast perfekte Energieform für die- se Art Weltsicht . Aber diese Überheblichkeit gepaart mit Präsident Dr. Norbert Lammert: Herrschaftswissen, totaler Intransparenz und einer nicht gewünschten, oft aktiv unterdrückten Verantwortungs- Philipp Lengsfeld ist der letzte Redner zu diesem und Fehlerkultur führte in der Nacht zum 26 .April 1986 Tagesordnungspunkt . Er spricht für die Fraktion CDU/ direkt in die Katastrophe . Der Unfall von Tschernobyl CSU . war nämlich die Folge eines geplanten Testexperiments – (Beifall bei der CDU/CSU) mein Kollege hat es erwähnt – am gerade einmal drei Jahre alten Reaktor . Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): Leider hatte diese neue Generation von sowjetischen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und grafitmoderierten Siedewasserreaktoren inhärente De- Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte meine signschwächen, die aber ein wohlgehütetes Geheimnis Rede zu diesem Thema mit einem Bekenntnis starten: waren . Diese Schwächen offenbarten sich in der Phase Ich war tatsächlich schon immer gegen die Atomkraft . der Vorbereitung des Experiments . Statt aber abzubre- Zugegeben, meine Motivation als Jugendlicher war si- chen, überbrückte das Personal mehrere Sicherheitsstre- cherlich auch ein Stück weit politisch geprägt; denn ich cken, um das von oben gewünschte Experiment durch- bin in Ostberlin eher SED-kritisch aufgewachsen, und in führen zu können . Trotz zunehmender, immer ernsterer den Jahren vor dem Mauerfall waren die Genossen von Warnsignale wurde der aufwendige Test nicht etwa abge- der SED noch nicht die stringenten Atomkraftgegner, als blasen, sondern letztlich gestartet, und damit wurde der die sie sich heute darstellen . Reaktor direkt in die Luft gejagt . ( [CDU/CSU]: Ah, Wende- Auch in unmittelbarer Reaktion kam es zu katastro- hälse!) phalen behördlichen Fehlleistungen . Es wurde versucht, die Katastrophe in der systemüblichen Art zu vertuschen . Aber da bis auf die Grünen alle Fraktionen hier im Haus Evakuierungen fanden zu zaghaft und viel zu spät statt . (B) eine Lernkurve durchgemacht haben, will ich da weder Die 1 .-Mai-Parade in Kiew fand statt trotz massiver Risi- (D) zu streng noch zu einseitig sein . ken und Belastungen der Bevölkerung . Die Katastrophe von Tschernobyl, ihre Vor- und Nachgeschichte sind ein Ich habe meine Haltung auch im Studium der Physik, wesentlicher Grund, warum das Sowjetsystem wenige während der Promotion oder in späteren Lebensabschnit- Jahre später zerbrochen ist . ten nicht grundlegend geändert . Dies hat natürlich auch sehr gute Gründe . Sie sind hier genannt worden . Ich wie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – derhole sie: Die Atomkraft hat das Sicherheitsproblem – Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Reden gar keine Frage –, wie unter anderem die Katastrophen Sie mal über Fukushima!) von Tschernobyl und Fukushima unterstrichen haben . Die Atomkraft hat das Problem der Lagerung der langle- Der Unfall von Fukushima stellt sich dagegen doch et- bigen Abfälle; auch das ist erwähnt worden . Jedes Pro- was anders dar . Ja, auch die Katastrophe von Fukushima blem ist für sich sehr gravierend . In der Kombination ist hat die Schwächen der Atomkraft brutal aufgedeckt – gar die Technik tatsächlich unattraktiv und nicht mehr zeit- keine Frage –: ein sehr unwahrscheinliches Restrisiko – gemäß . Das gilt für die Kernfusion übrigens nicht . aber es ist nun einmal vorhanden –, nämlich die Kombi- nation von Erdbeben und Tsunami, die nicht genügende Aber ich möchte hier trotzdem für mehr Augenmaß Redundanz der Sicherung der Kühlsysteme des sehr alten in der deutschen Debatte werben . Dazu muss ich noch Reaktors und die Grundcharakteristika der Technik . einmal einige Gedanken auf die beiden schon erwähnten Katastrophen verwenden . Natürlich muss bei einer Erin- Trotzdem, Frau Kollegin Kotting-Uhl, ist die Bilanz nerung immer auch eine Analyse erfolgen . hier eine völlig andere . Der Unfall von Fukushima war ein Kollateralschaden einer gigantischen Tsunamikata­ Starten wir mit Tschernobyl, der Reaktorkatastrophe strophe – das wurde hier gar nicht in dieser Deutlichkeit in der Sowjetunion . Hier erscheint mir die momentane gesagt –, die circa 18 000 Menschen in Japan das Le- deutsche Erinnerung größtenteils doch recht einseitig; ben gekostet hat . Und: Die japanischen Behörden haben denn diese Katastrophe hat nicht nur die Probleme der ganz anders reagiert als die sowjetischen . Vielleicht hät- Atomkraft verdeutlicht, sondern in genauso krasser Wei- te man es noch besser machen können, aber sie haben se die Schwächen und Unmenschlichkeiten des sowjet­ konsequent evakuiert; sie haben konsequent Jodtabletten kommunistischen Systems aufgedeckt . Auch daraus verteilt . kann man etwas lernen . ( [SPD]: Das hilft uns ja weiter! (Beifall des Abg . Dr . Georg Nüßlein [CDU/ Also: Jodtabletten für alle! – Weiterer Zuruf CSU]) von der SPD: Super!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16579

Dr. Philipp Lengsfeld (A) – Ja, es ist einfach so . handlungen; denn er macht unser Netz instabiler und un- (C) sere Abhängigkeit von den Nachbarnetzen größer . (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der atomare Tod kommt lang- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sam!) Versorgungssicherheit ist auch ein Sicherheitsthema . Ohne Fukushima in irgendeiner Weise kleinreden zu Ein größerer Blackout in Deutschland oder Europa wollen: Es muss konstatiert werden, dass zumindest nach aktuellem Kenntnisstand auch fünf Jahre nach der Kata- (Ulli Nissen [SPD]: Wo planen Sie das Atom- strophe kein Todesfall auf die Verstrahlung im Zuge des kraftwerk?) Unfalls zurückzuführen ist . wäre keine Unbequemlichkeit, sondern eine Katastrophe Warum diskutiere ich diese Punkte so ausführlich? größeren Ausmaßes . Deshalb können wir zum Beispiel Weil es niemandem nützt, wenn man eine Technik ein- in den Fragen der Atomverträge nicht wie der Elefant im fach nur dämonisiert und nicht auch den zwingend not- Porzellanladen agieren . wendigen abgewogenen und umsichtigen Umgang mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – jeglicher Technik mitdenkt . Es reicht nicht, immer nur Ulli Nissen [SPD]: Wer ist der Elefant im Por- auf einer Technik herumzuhacken . zellanladen? Das sind doch Sie!) (Beifall bei der CDU/CSU) Zuletzt zur Forschung; Frau Kotting-Uhl, Sie warten Wenn es auch mancher nicht hören will: Radioaktivi- schon darauf . Ich bin der festen Überzeugung tät ist auch ein natürlicher Prozess . Gammastrahlen sind (Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, was hilft es Teil des elektromagnetischen Spektrums . uns?) (Ulli Nissen [SPD]: Oh Mann! Ich kriege – Ihnen hilft das nicht, aber vielleicht anderen im Land –, gleich eine Krise!) (Marco Bülow [SPD]: Eltern, die ihre Kinder Strahlenschutz und Reaktorsicherheit genügen physika- durch Schilddrüsenkrebs verlieren, werden lischen Gesetzen, sich bestimmt damit trösten!) (Ulli Nissen [SPD]: Wo sind wir denn heute?) dass auch in Zukunft eine sichere, also auch versorgungs- die eigentlich leicht zu verstehen sind, meine lieben Kol- sichere, bezahlbare und saubere Energieversorgung aus leginnen und Kollegen . Wir sollten deshalb weg von Pa- einem Mix bestehen wird . Aber selbst wenn dem nicht nikmache so wäre, selbst wenn Sie mit Ihrem 100-Prozent-Glau- (B) ben recht hätten: Es ist keine gute Portfoliopolitik, alles (D) (Ulli Nissen [SPD]: Panikmache?) auf eine Karte zu setzen – erst recht nicht in einem For- und hin zu rationalen Abwägungen . schungsportfolio . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Ulli Nissen [SPD]: Sie planen den Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg, oder?) Auf Basis von diffusen, teils völlig irrationalen deut- schen Ängsten werden wir mit anderen Nationen nicht Deshalb: Finger weg von der Sicherheitsforschung! auf Augenhöhe verhandeln können . Finger weg von den kleinen Resten der Kernforschung! Und vor allem: Finger weg von der Fusionsforschung! Gehen wir in diesem Licht die im Zusammenhang mit den Jahrestagen der beiden Reaktorkatastrophen disku- Vielen Dank . tierten Themen, die hier heute immer erwähnt wurden, (Beifall bei der CDU/CSU – Ulli Nissen noch einmal durch: [SPD]: Unglaublich diese Rede! Unglaub- Starten wir mit den Reaktoren unserer Nachbarn! In lich! – Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: den Verhandlungen mit unseren Nachbarländern mit dem Selbst den eigenen Leuten peinlich!) völlig berechtigten Anliegen, überalterte Reaktoren ab- zuschalten, müssten wir eigentlich nicht nur appellieren, Präsident Dr. Norbert Lammert: sondern zahlen . Ich sage mal: 1 Milliarde Euro, 2 Milli- Ich schließe die Aussprache . arden Euro aus der jährlichen 25-Milliarden-EEG-Um- verteilung wären sicherlich sehr hilfreich und könnten Wir kommen nun zur Abstimmung über die vorlie- bestimmte Denkprozesse stark beschleunigen . Aber dies genden Anträge . Unter dem Tagesordnungspunkt 24 a ist momentan natürlich weder politisch noch rechtlich geht es um die Abstimmung über den Antrag der Koa- abzubilden . Nachdenken sollten wir darüber vielleicht litionsfraktionen auf Drucksache 18/8239 mit dem Titel trotzdem . „Tschernobyl und Fukushima mahnen – Verantwortungs- bewusster Umgang mit den Risiken der Atomkraft und (Ulli Nissen [SPD]: Ja, nachdenken sollte weitere Unterstützung der durch die Reaktorkatastro- man, bevor man eine solche Rede hält!) phen betroffenen Menschen“ . Wer stimmt für diesen An- Auch der sehr zügige massive Ausbau von Wind- und trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit Solarenergie in diesem Land hilft nicht – Herr Krischer, ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen da können Sie noch so sehr den Kopf schütteln –, son- die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von dern ist eine zusätzliche Belastung auch in diesen Ver- Bündnis 90/Die Grünen angenommen . 16580 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Unter dem Punkt 24 b unserer Tagesordnung stimmen Überweisungsvorschlag: (C) wir über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ausschuss für Kultur und Medien (f) Innenausschuss Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit auf der Drucksache 18/8266 ab . Auch hierzu soll nach einer interfraktionellen Verein- barung 60 Minuten debattiert werden . Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- Wenn diejenigen, die daran in besonderer Weise be- tion Die Linke auf der Drucksache 18/7875 mit dem Titel teiligt sind, Platz genommen haben, eröffne ich die Aus- „Risiko-Reaktoren abschalten – Atomausstieg in Europa sprache . Ich erteile das Wort der Staatsministerin Monika beschleunigen“ . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Grütters . lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da- mit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der (Beifall bei der CDU/CSU) Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenom- men . Monika Grütters, Staatsministerin bei der Bundes- kanzlerin: Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die -Ab Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- ren Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht kennen Sie ja nen auf der Drucksache 18/7656 mit dem Titel „30 Jahre das schmale Büchlein Reisende auf einem Bein, das Her- Tschernobyl, 5 Jahre Fukushima – Atomausstieg konse- ta Müller nach ihrer Flucht aus Rumänien vor 28 Jahren quent durchsetzen“ . Wer stimmt der Beschlussempfeh- veröffentlicht hat . Es ist ein Buch über das Gefühl des lung des Ausschusses zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer Fremdseins fern der Heimat, über das Aufbrechenmüssen enthält sich? – Auch hier ist mit den gleichen Mehrheiten und das Nicht-ankommen-Können, über den Verlust des die Beschlussempfehlung angenommen . Gleichgewichts, wenn man mit dem Standbein noch im Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, hier früheren Leben steht . Reisende auf einem Bein waren die auf der Drucksache 18/8266, empfiehlt der Ausschuss Heimatvertriebenen und später auch die deutschstämmi- die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die gen Aussiedler aus dem östlichen Europa. Die Pflege des Grünen auf Drucksache 18/7668 mit dem Titel „Atom- Kulturguts ihrer Herkunftsgebiete, im Bundesvertriebe- kraftwerk Cattenom sofort abschalten“ . Wer stimmt die- nengesetz festgeschrieben als eine gemeinsame staatli- ser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – che Aufgabe von Bund und Ländern, half ihnen dabei, Wer enthält sich? – Mit der gleichen Mehrheit ist die am Ende dann doch mit beiden Beinen in der neuen Hei- Beschlussempfehlung angenommen . mat anzukommen . (B) Unter dem Zusatzpunkt 6 geht es um die Abstim- Bis heute ist es ein wichtiges Anliegen, das reiche kul- (D) mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses turelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa zu be- für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Fraktion wahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie es § 96 Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Keine öffentli- des Bundesvertriebenengesetzes vorsieht . Die Mittel chen Forschungsgelder für den Wiedereinstieg in atoma- dafür kommen am Ende dann Archiven, Museen, For- re Technologien – 6 . Energieforschungsprogramm voll- schungsinstituten und mittlerweile vier Juniorprofessu- ständig in Richtung Energiewende weiterentwickeln“ . ren zugute . In meinem Etat hat die Förderung mit rund Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung 23,7 Millionen Euro im Jahr 2015 eine Höhe erreicht, die auf Drucksache 18/8262, den Antrag der Fraktion Bünd- auch monetär unsere sehr große Wertschätzung für das nis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/5211 abzuleh- gemeinsame kulturelle Erbe im östlichen Europa zum nen . Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer Ausdruck bringt . stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Beschlussempfehlung mit Mehrheit der Koalition gegen ordneten der SPD) die Stimmen der Opposition angenommen . Nicht zuletzt angesichts der EU-Beitritte der östlichen Schließlich wird unter Zusatzpunkt 7 interfraktionell Nachbarstaaten – das ist ja eine Entwicklung, die sich die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/8242 an erst im Verlauf der Anwendung dieses Paragrafen erge- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- ben hat – und der neuen Qualität der Zusammenarbeit schlagen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist einver- geht es nun darum, die Förderkonzeption aus dem Jahr nehmlich, und damit ist die Überweisung so beschlossen . 2000 – so alt ist sie nämlich schon – im europäischen Geist weiterzuentwickeln . Darauf haben sich die Regie- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 25 auf: rungsparteien auch im Koalitionsvertrag verständigt . Wir Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- möchten die Grundlage, die im demografischen Wandel gierung Bestand hat und die getragen ist von unseren gewachse- nen Bindungen in Europa, neu formulieren . Weiterentwicklung der Konzeption zur Er- forschung, Bewahrung, Präsentation und Dabei geht es erstens darum, den Erinnerungstransfer Vermittlung der Kultur und Geschichte der von einer Generation zur nächsten sicherzustellen . Das, Deutschen im östlichen Europa nach § 96 des was die Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur im Bundesvertriebenengesetzes Allgemeinen betrifft, bezieht sich auf das Thema Um- gang mit unseren östlichen Nachbarn und den Vertrie- Drucksache 18/7730 benen der ersten Generation . Je weniger Zeitzeugen es Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16581

Staatsministerin Monika Grütters (A) gibt – auch aus diesem Bereich –, desto wichtiger wird thie mit Menschen, die heute hier bei uns in Deutschland (C) eine professionelle und zeitgemäße Bildungs- und Öf- Zuflucht suchen. Auch wenn man die Flucht aus Syrien, fentlichkeitsarbeit . Irak oder Afghanistan heute aus vielerlei Gründen nicht direkt mit der Vertreibung aus Ostpreußen, Schlesien und Es geht zweitens darum, neue Partner zu finden und Pommern vergleichen kann, so sind die Erfahrungen der neue Zielgruppen zu erschließen . Neben Vertriebenen „Reisenden auf einem Bein“, wie es Herta Müller aus- und Flüchtlingen sind das mittlerweile ganz besonders gedrückt hat, heute wie damals vielfach ähnlich . Gerade die Spätaussiedler, die eine starke gemeinschaftliche und die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in gesellschaftliche Kraft geworden sind . Ihre Bedeutung Mittel- und Osteuropa kann sehr wohl helfen, nicht nur soll sich unter anderem in der Erforschung und Vermitt- die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, son- lung ihrer Kultur und Geschichte auch in regionalen Mu- dern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht seen spiegeln . Europa sich heute in der Welt bewähren muss . (Beifall bei der CDU/CSU) Es geht um Themen, die Deutschland und Europa Es geht drittens darum, europäische Kooperationen heute mehr denn je beschäftigen: um Fragen des Zusam- zu stärken . Sie wissen selbst um die Situation in vielen menlebens unterschiedlicher Kulturen, um Fragen der Ländern des östlichen Europas . Wer mit Partnern vor Ort wechselseitigen Wahrnehmung und Anerkennung . Die kooperieren möchte, muss Geld mitbringen . Deswegen Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertrie- werden wir mehr Geld und Mittel in die Hand nehmen benengesetz ist damit aktueller denn je . Mit ihrer Wei- für unsere bundesgeförderten Museen, die Vermittlungs- terentwicklung sorgen wir dafür, dass sie auch in Zu- und Forschungseinrichtungen . kunft einen maßgeblichen Beitrag zum Zusammenhalt in Deutschland und in Europa leisten kann . Schließlich geht es viertens darum, die Chancen der Digitalisierung auch in diesem Bereich zu nutzen . Sie ist Für Ihre Mitarbeit und Hilfe sind wir Ihnen dankbar . hier wie überall wichtig . Wir wollen eine digitale Infra- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) struktur für die Wissenschaft und die Museen entwickeln . Guter Wille allein reicht natürlich nicht aus, um all Präsident Dr. Norbert Lammert: das umzusetzen, was wir uns im Zusammenhang mit der Die Kollegin Sigrid Hupach hat nun für die Fraktion Weiterentwicklung von § 96 des Bundesvertriebenenge- Die Linke das Wort . setzes vorgenommen haben . Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben mir bereits für das Jahr 2016 zusätzliche (Beifall bei der LINKEN) Mittel zur Erfüllung dieser Aufgaben, die zum Teil auch (B) in diesen Politikbereich fallen, zur Verfügung gestellt . Sigrid Hupach (DIE LINKE): (D) Dafür danke ich Ihnen, dem Hohen Haus, sehr . Doch wir Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie- brauchen mehr als ein einmaliges Signal: Wir brauchen be Kolleginnen und Kollegen! Gegenstand dieser um- einen dauerhaften Aufwuchs, um den gesamten Förder- fangreichen und zu prominenter Zeit angesetzten Debat- bereich zukunftsorientiert aufzustellen . Dafür setze ich te ist ein dünnes Papier der Bundesregierung . Unter der mich natürlich auch in den fortlaufenden Haushaltsbera- Überschrift: „Erinnerung bewahren – Brücken bauen – tungen ein . Zukunft gestalten“ wollen Sie die im Jahr 2000 verfasste (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Konzeption zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa weiterentwickeln . Ich bin gespannt, Ebenso – auch das ist mir wichtig – setze ich mich womit Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der für die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ein . Koalitionsfraktionen, diese Debatte füllen wollen . Mit Am 1 .April – das war ja erst vor kurzem – hat die pro- dem unkonkreten Inhalt des vorliegenden Papiers kann movierte Historikerin Gundula Bavendamm ihr Amt Ihnen das eigentlich nicht gelingen . als neue Direktorin angetreten . Ich bin mir sicher, dass sie als durchsetzungsstarke, erfahrene und erfolgreiche Worin besteht der Fortschritt und worin die Weiterent- Museumsmanagerin das Know-how mitbringt, um den wicklung? Zunächst einmal fallen einige Unterschiede weiteren Ausbau des für uns so wichtigen Ausstellungs-, auf . Im Titel ist nicht mehr nur von der „Erforschung“ Informations- und Dokumentationszentrums mit der und „Präsentation“ deutscher Kultur und Geschich- notwendigen Überzeugungskraft engagiert und zügig te die Rede, sondern außerdem von „Bewahrung“ und voranzutreiben . Die Kollegin Lotze hat bei ihrer Vor- „Vermittlung“ . Im Unterschied zur Konzeption aus dem stellung gesagt: Die lässt sich die Butter nicht vom Brot Jahr 2000 tauchen Begriffe wie „transnational“, „multi- nehmen .– Ich glaube, das ist in diesem Bereich und bei kulturell“, „multireligiös“ und „multiethnisch“ auf . Auch dieser Aufgabe eine ganz wichtige Eigenschaft . Sie hat die kulturelle Vielfalt hat Eingang in die Konzeption ge- das AlliiertenMuseum hervorragend geleitet . Deshalb funden . 2000 war das Stichwort „Vielfalt“ noch negativ freue ich mich, dass wir sie für diese wichtige Aufgabe belegt . Damals galt es nämlich – ich zitiere –, die „Viel- gewinnen konnten . falt und Vielzahl vom Bund geförderter Einrichtungen“ zu reduzieren und regional neu zu strukturieren . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Auch findet sich in der Einleitung schon ein Verweis Meine Hoffnung ist, meine Damen und Herren, dass auf den historischen Kontext, in den Flucht und Vertrei- uns die deutschen Erfahrungen mit Flucht und Vertrei- bung einzuordnen sind, nämlich das verbrecherische bung auch in besonderer Weise fähig machen zur Empa- NS-Regime mit seiner Expansions- und Vernichtungspo- 16582 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Sigrid Hupach (A) litik . Und etwas nebensächlich, aber immerhin, wird bei und Roma . Angesichts der europäischen Dimension von (C) der Projektförderung auch die Erforschung und Vermitt- Flucht und Vertreibung im Zuge des Zweiten Weltkrieges lung des jüdisch-deutschen Erbes im östlichen Europa ist das aber ein völlig überholter Ansatz . genannt . Diese Änderungen waren längst überfällig . (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei der LINKEN – Dr .Christoph NIS 90/DIE GRÜNEN) Bergner [CDU/CSU]: Das ist aber nicht in- haltsleer!) Meine Fraktion hat sich bereits vor zehn Jahren in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ für ein Allerdings muss sich nun noch erweisen, dass das nicht Ende dieser speziellen Kulturförderung ausgesprochen . nur Worthülsen und leere Versprechungen bleiben . Ange- Gemeint ist damit nicht eine Einkassierung der bereitge- sichts der unkonkreten Ausführungen sind hier Zweifel stellten Mittel, sondern eine Eingliederung in die allge- mehr als angebracht . Ich glaube nicht, dass das alles aus- meine Kulturförderung, sodass dieser Teil der deutschen, reicht, um die Kulturförderung nach § 96 Bundesvertrie- der europäischen Geschichte und Kultur als selbstver- benengesetz wirklich weiterzuentwickeln und sie an die ständlicher Teil der allgemeinen Arbeit der Institutionen aktuellen Herausforderungen anzupassen . definiert werden kann. Sie wollen die Landsmannschaften und Organisatio- (Beifall bei der LINKEN) nen der Heimatvertriebenen wieder verstärkt einbinden (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch rich- Gerade auch in Osteuropa haben wir gut funktionie- tig so!) rende Strukturen und Förderprogramme: vom Deutschen Akademischen Austauschdienst über die östlichen Part- und erhoffen sich davon „zukunftsweisende Maßnah- nerschaften, das Institut für Auslandsbeziehungen und men und Kooperationsoptionen“ . Im Jahr 2000 wollten die Goethe-Institute . Es gibt seitens des Bundes viele Sie eine Professionalisierung gerade durch eine Zurück- verschiedene, aber leider parallel verlaufende Ansätze . nahme der Landsmannschaften erreichen . Nun sollen Wäre es nicht klug gewesen, dies alles in einer wirkli- diese wieder gestärkt werden . Wenn man sich die letzten chen Weiterentwicklung zusammenzubringen? Tweets von in Erinnerung ruft, so fragt man sich wirklich, was mit dem – ich zitiere aus der Kon- Warum haben Sie nach den Querelen um die Stiftung zeption – „fortdauernden Beitrag zu einer gelingenden Flucht, Vertreibung, Versöhnung und nach der Kritik an Integration, den der Bund der Vertriebenen … und seine der Einführung des Vertriebenengedenktages nicht eine Landesverbände leisten“, gemeint sein soll. Ich finde, das wirklich zukunftsweisende Idee entwickelt? Erst recht ist bloß noch zynisch . angesichts der globalen Herausforderungen durch aktuel- (B) le Migrationsbewegungen wäre das mehr als angebracht (D) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- gewesen . neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Ulle Zweitens sind Zweifel angebracht, weil Sie in Ihrem Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Papier ein rosarotes Bild von Europa zeichnen, das so gar nicht mit der aktuellen Situation übereinstimmt . Man darf Ich bin überzeugt, dass in den aktuellen Bezügen doch nicht die Augen davor verschließen, dass wir es in das eigentliche Potenzial steckt, um auch bei denen, die Europa angesichts der aktuellen Flucht- und Migrations- nicht mehr zur Erlebnisgeneration gehören, Interesse an bewegungen mit einer verheerenden Abschottungspolitik der Vergangenheit zu wecken und um Flucht und Ver- und mit einer erschreckenden, rückwärtsgewandten Re- treibung in einem viel größeren, allgemeineren Kontext nationalisierung zu tun haben . Der von Ihnen beschrie- zu thematisieren, als das in der nationalen Nabelschau je bene Dialog seit 1953 hat ja offenbar gerade nicht dazu gelingen kann . geführt, dass es gegenwärtig in Europa ein übergreifen- des Verständnis für das Schicksal und das Leid von Ge- Die von Ihnen in der Konzeption genannten Heraus- flüchteten gibt – abgesehen natürlich vom solidarischen forderungen für die Erinnerungskultur ohne Zeitzeugen Handeln vieler Einzelner . und in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft sind kei- neswegs ein Spezifikum der Vertriebenen. Wenn Sie da- (Dr .Christoph Bergner [CDU/CSU]: Wem für wirklich zeitgemäße Ansätze suchen, dann empfehle machen Sie da jetzt den Vorwurf?) ich Ihnen, sich Rat bei den NS-Gedenkstätten zu holen . – Hören Sie doch weiter zu .– Das hat auch damit zu tun, Diese haben sich von Orten des Gedenkens immer stär- dass Flucht und Vertreibung durch das Bundesvertriebe- ker hin zu zeitgeschichtlichen Museen entwickelt . Neben nengesetz immer noch national thematisiert werden . Forschung und Bildung erfüllen sie auch weiterhin hu- manitäre Aufgaben und bemühen sich um den baulichen Damit bin ich beim dritten Punkt: Das Bundesvertrie- Erhalt der authentischen Orte . Ich habe meine Zweifel, benengesetz ist über 60 Jahre alt, atmet den Geist seiner ob die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung mit dem Entstehungszeit und geht eben vom Nationalen aus, von zukünftigen Deutschlandhaus eine vergleichbare zu- der deutschen Kultur und Geschichte . So zieht es sich kunftsweisende Funktion zu erfüllen vermag . eben auch durch die Kulturförderung nach § 96 . Bis auf den bereits erwähnten Spiegelstrich zum jüdisch-deut- In der vorliegenden Konzeption wird der Stiftung eine schen Erbe unter dem Punkt „Projektförderung“ ist in Rolle für den grenzüberschreitenden Austausch und Di- der gesamten Konzeption an keiner Stelle von anderen alog zugeschrieben . Vor acht Jahren ist die Stiftung ge- Opfergruppen die Rede, insbesondere nicht von Sinti gründet worden, und im Ergebnis sind die Gräben bisher Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16583

Sigrid Hupach (A) eher vertieft worden . Es hat gerade keine Versöhnung Christina Jantz-Herrmann (SPD): (C) stattgefunden . Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Vor vier Wochen hat Frau Dr .Bavendamm ihr Amt ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eingangs möchte als Direktorin angetreten . Jetzt sollte man ihr erst einmal ich die Gelegenheit nutzen und herzliche Grüße und Ge- Zeit lassen, ihre Ideen zu entwickeln und vorzustellen . nesungswünsche an meine liebe Kollegin aus unserem Haus übermitteln, die heute aus Krankheits- (Dr . Bernd Fabritius [CDU/CSU]: Sehr rich- gründen leider nicht persönlich hier stehen kann . tig!) (Beifall) Einige hoffnungsvolle Signale gab es bereits . Im In- terview mit Deutschlandradio Kultur hat sie einen grund- Sie hat sich in den vergangenen Monaten unermüdlich legenden Richtungswechsel in der Stiftung angekündigt . für das so wichtige Thema, über das wir heute reden, ein- Sie hat in diesem Gespräch erneut klargestellt, dass sie gesetzt . sich nicht als Dienstleisterin des Bundes der Vertriebenen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten versteht . der CDU/CSU) Dennoch: Die bisherigen Querelen um die Stiftung In weniger als zehn Jahren feiern wir den 300 .Ge - haben nicht nur etwas mit Personen zu tun, sondern sie burtstag von Immanuel Kant . Sein Werk gehört zum hatten vor allem auch strukturelle Ursachen – bedingt Schwierigsten und Klügsten, was die Philosophie jemals durch den Stiftungsrat, der unserer Ansicht nach völlig hervorgebracht hat . Immanuel Kant hat auf Deutsch ge- falsch zusammengesetzt ist . In diesem hat der Bund der schrieben . Er wurde in Königsberg geboren, dem heuti- Vertriebenen fast ein Drittel aller Sitze inne, gen Kaliningrad, einer Stadt, die einmal in Ostpreußen (Dr . Bernd Fabritius [CDU/CSU]: Lernen Sie lag und heute zu Russland gehört . Immanuel Kant war einmal rechnen!) Deutscher, aber in erster Linie war Immanuel Kant Eu- ropäer . und aus dem parlamentarischen Raum ist die Opposition gar nicht vertreten . Wir halten das nach wie vor für ein Was hat Kant mit der Kulturförderung nach § 96 des falsches Signal . Bundesvertriebenengesetzes zu tun, über dessen Wei- terentwicklung wir heute hier debattieren? Nun, so wie (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Immanuel Kant und Königsberg sind auch andere Orte NIS 90/DIE GRÜNEN) und Geschichten in den Regionen Osteuropas, in denen Wir hoffen sehr, dass es Frau Dr .Bavendamm gelingt, seit Jahrhunderten Deutsche leben, ein Erbe, mit dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insbesondere sich alle dort lebenden Völker auseinandersetzen, des- (B) (D) aus Osteuropa zu finden, die die Stiftungsarbeit im Be- sen Geschichte zunehmend angenommen, erforscht und raterkreis begleiten . Aus diesem Grunde möchte ich zum weiterentwickelt wird . Kant gehört ebenso dazu, wie er Schluss an einen weiteren Vorschlag der Linken erin- zu unserer deutschen Geschichte gehört . Indem wir diese nern, den wir damals in die Enquete-Kommission „Kul- gemeinsame Vergangenheit aufarbeiten und miteinander tur in Deutschland“ eingebracht hatten: die Gründung darüber diskutieren, schaffen wir etwas sehr Wertvolles, von multinationalen Stiftungen nämlich, in denen neben und zwar ein gemeinsames europäisches Identitätsbe- Bund und Ländern auch die osteuropäischen Staaten und wusstsein . Indem wir diese einzigartigen Kulturland- auch die Opfergruppen als gleichberechtigte Partner ver- schaften, in denen Deutsche jahrhundertelang gelebt treten wären . haben, im Sinne ihrer früheren und heutigen Bewohner bewahren, sie in Erinnerung rufen und das Erbe pflegen (Beifall bei der LINKEN) und weiterentwickeln, leisten wir einen wertvollen Bei- Diese Stiftungen könnten in multi- und bilateralen Pro- trag für Europa insgesamt . jekten das soziokulturelle Zusammenleben der deutsch- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sprachigen Bewohner Osteuropas mit denen anderer Kultur und Sprache erforschen und im Kontext heutiger Und das genau ist die Aufgabe des § 96 des Bundesver- Probleme in Erinnerung halten. Ich finde, das ist auch triebenengesetzes . heute, fast zehn Jahre später, noch ein bestechender und Verehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Förderung überzeugender Vorschlag . Schade, dass Sie es nicht ge- von Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen wagt haben, eine wirkliche Neukonzipierung anzugehen, Europa ist eine Erfolgsgeschichte . Für dieses Thema inte- und sich leider vor den aktuellen Herausforderungen ressieren sich nicht mehr nur die Betroffenen, die damals wegducken . geflüchteten und vertriebenen Menschen, sondern der Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . Interessentenkreis geht mittlerweile weit darüber hinaus . Schüler, Studierende, Wissenschaftler, auch Menschen (Beifall bei der LINKEN) ohne einen familiären Vertriebenenhintergrund fragen nach, interessieren sich genau für diese Geschichte, die Präsident Dr. Norbert Lammert: wir zwar deutsch nennen, die aber vielmehr multikultu- Nächste Rednerin ist die Kollegin Jantz-Herrmann für rell, multiethnisch und multikonfessionell ist . die SPD-Fraktion . Die derzeitige Fördergrundlage, die diese Erfolgs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geschichte mitbegründete, ist die sogenannte Konzepti- der CDU/CSU) on 2000, die von der damaligen rot-grünen Bundesregie- 16584 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Christina Jantz-Herrmann (A) rung im Jahr 2000 verabschiedet wurde . Die Konzeption Die Kulturförderung muss auch diese Menschen, vor al- (C) setzt auf Professionalisierung, Regionalisierung und die lem auch die jungen Menschen, ermuntern, unsere Ge- Öffnung für eine europäische Ausrichtung der Förde- schichte zu erforschen, auf Spurensuche zu gehen und rung . All diese Ansätze haben sich durchaus bewährt . unsere Verbindungen ins östliche Europa zu stärken . Die Mitarbeiter in den geförderten Museen und wissen- schaftlichen Instituten leisten eine hervorragende Arbeit . Für uns ist die jetzt vorliegende Weiterentwicklung Gerade die wissenschaftliche Basis hat die Wege zu einer des § 96 Bundesvertriebenengesetz tragbar, jedoch nicht vertrauensvollen Zusammenarbeit vieler unterschiedli- unbedingt überzeugend . Die Förderkonzeption hält an cher Partnereinrichtungen im östlichen Europa geebnet . den Grundzügen der gewachsenen Förderstruktur fest . Weiterhin werden sechs Museen und vier Forschungs- Aber seit dem Jahr 2000, in dem wir die Förderkon- einrichtungen institutionell gefördert; gleichzeitig hat die zeption geschrieben haben, hat sich einiges verändert . Weiterentwicklung der Förderkonzeption den Anspruch, Europa hat sich verändert: 2004 sind alle drei baltischen zukunftsweisende Maßnahmen und Kooperationsoptio- Staaten, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und nen zu entwickeln . Ungarn, 2007 dann Rumänien und Bulgarien und 2013 Aber statt den Fokus zu weiten, verengt die vorliegen- auch Kroatien der EU beigetreten . Die Kulturförderung de Konzeption den Blick dabei stark auf die Rolle der nach § 96 findet damit innerhalb der EU statt. Die Erzäh- Landsmannschaften und den Bund der Vertriebenen . Um lung von deutscher Kultur und Geschichte im östlichen es nochmals deutlich zu sagen und nicht missverstanden Europa muss in diesen neuen europäischen Kontext ge- zu werden: Die Perspektive der Vertriebenen und ihrer bettet werden . Deswegen haben wir uns im Koalitions- Nachkommen bleibt weiterhin von zentraler Bedeutung . vertrag gemeinsam mit der Union darauf verständigt, die Aber unser Ziel sollte doch auch sein, das Interesse von Förderkonzeption des § 96 weiterzuentwickeln mit dem Menschen ohne persönlichen Vertriebenenhintergrund Ziel, die europäische Integration zu stärken . aufzunehmen . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es ist ein Versäumnis der vorliegenden Konzeption, der CDU/CSU) dass gerade bei der Ansprache der jüngeren Generation nur das Interesse bei den Nachkommen der Erlebnisge- Noch etwas hat sich in den mehr als 15 Jahren, die seit neration von Flucht, Vertreibung und Aussiedlung gese- 2000 vergangen sind, verändert: die Zielgruppen, die wir hen wird und dass explizit in der Förderkonzeption nur mit der Konzeption ansprechen . Ich erwähnte es bereits: die Jugendorganisationen der Landsmannschaften als Das Interesse an der Thematik weist schon lange über junge Interessengruppen genannt werden . den Kreis der eigentlich Betroffenen hinaus . Das ist ein (B) großer Erfolg; denn überall in der geschichtlichen Aufar- (Beifall der Abg . Ulle Schauws [BÜND- (D) beitung stehen wir vor der Herausforderung, dass die Er- NIS 90/DIE GRÜNEN]) lebnisgeneration schwindet . Von denjenigen, die Heimat- Verständlich ist der Blick zurück . Das Vergangene ist verlust und eine oftmals traumatische Flucht verarbeiten zu vergewissern, aber bei der Weiterentwicklung der För- mussten, leben leider nur noch wenige . derkonzeption sollte die Zukunft im Vordergrund stehen . Es sind die Landsmannschaften, die durch ihre erfolg- (Beifall bei der SPD sowie der Abg . Ulle reiche Arbeit, durch ihre Projekte viele Verbindungen in Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ihre Heimatregionen pflegen und aufrechterhalten und damit einen wichtigen Teil zum Erhalt und zur Bewah- Die Zielausrichtung sollte auch in Richtung Europa ge- rung der deutschen Kultur in den Ländern Osteuropas hen . Eine richtungs- und zukunftsweisende Konzeption leisten . mit den Worten zu beginnen: „Unter großen Opfern ha- ben bis zu 14 Millionen Deutsche als Vertriebene und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Flüchtlinge ihre Heimat verlassen “,. wie im Entwurf des ordneten der SPD) Hauses BKM zunächst vorgeschlagen, lenkt den Blick in die Vergangenheit . Allein schon ihr Wissen, die Geschichten der Heimat und die Geschichte ihrer Flucht – all das muss uns im Wir als SPD-Bundestagsfraktion begrüßen daher aus- Gedächtnis bleiben . Das, was mündlich erzählt werden drücklich, dass unsere Anmerkung aufgenommen wurde, kann, muss lesbar werden und für die Zukunft bewahrt den Grund für eine Weiterentwicklung, nämlich die ver- werden . Wir müssen dafür Sorge tragen, dass dieser Teil stärkte europäische Integration, an den Anfang zu stellen unserer Geschichte in unseren Erinnerungskanon gehört, und damit das richtige Signal auszusenden . dass er gewürdigt und erinnert wird . Die geplante Dauer- (Beifall bei der SPD) ausstellung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung wird dies als einen elementaren Teil aufgreifen . Damit wird keinesfalls das große Leid negiert, das insbesondere die deutschen Vertriebenen und Flüchtlin- Es muss aber auch diejenigen geben, die sich für diese ge gegen und nach Ende des Zweiten Weltkriegs tragen Geschichte interessieren, ohne sie miterlebt zu haben . Es mussten . liegt daher in unser aller Interesse, dass sich auch Men- schen ohne Vertriebenenhintergrund für die deutsche Neben der leider starken Fokussierung auf eine be- Kultur und Geschichte im östlichen Europa interessieren . stimmte Interessengruppe beinhaltet das Papier aber be- sonders in den Fördergrundsätzen gute Punkte, wie wir (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) finden. So muss die Erforschung und Vermittlung des Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16585

Christina Jantz-Herrmann (A) jüdisch-deutschen Erbes im östlichen Europa in die För- In diesem Kontext sprechen wir heute erneut über die (C) derkonzeption aufgenommen werden – ein längst fälliger Förderung der Kulturarbeit nach § 96 Bundesvertriebe- Schritt . nengesetz und seine zukünftige Weiterentwicklung . Es wäre eine gute Chance, um in der Praxis ein altes Gesetz Auch zeitgemäße mediale Vermittlungs- und Arbeits- neu aufzustellen . Sie als Bundesregierung hätten jetzt formen – ich nenne dabei das Stichwort „Social Media“ – die Chance, eine moderne und zukunftsgewandte Bun- sind nun Kriterien der Förderung . Wichtig für die SPD desvertriebenenarbeit zu konzipieren . Leider ist davon ist, dass die exzellente wissenschaftliche Basis mit der aber hier wenig zu spüren . Im Vorwort ist zunächst die Weiterentwicklung bestehen bleibt und weiter ausgebaut Rede davon, Erinnerung zu bewahren, Brücken zu bau- wird . Genau das ist hierbei der Fall . en und Zukunft zu gestalten – hehre und wichtige Ziele . Es wäre aber auch möglich gewesen, das große Po- Aber wenn man dann einmal genauer schaut, wie Sie das tenzial, das in der Kulturförderung nach § 96 Bundes- ausfüllen, sieht man, dass es in der Neukonzeption leider vertriebenengesetz steckt, mit einer Weiterentwicklung wenig Konkretes und leider noch weniger Zukunftsge- noch stärker auszuschöpfen, die breite Öffentlichkeit an- wandtes gibt . zusprechen und dieses interessante Themenfeld für viele Ich fange einmal mit dem ersten Ziel an: Erinnerung Interessierte, ob nun mit oder ohne Vertriebenenhinter- bewahren . Es ist natürlich und selbstverständlich, an das grund, zu stärken . Das Interesse ist da . millionenfache Leid und Schicksal von 12 Millionen Bei der handwerklich guten Förderkonzeption – – Vertriebenen hierzulande zu erinnern . Flucht, Gewalt und Ausgrenzung und der tägliche Kampf ums Überleben, all das gehört zu den Erfahrungen vieler deutscher Familien . Präsident Dr. Norbert Lammert: Ihre Geschichten sind natürlich Teil der deutschen Erin- Frau Kollegin, Sie müssen allmählich – – nerungskultur . Aber wir können nicht über ihr Schicksal sprechen, ohne dabei den historischen Kontext zu thema- Christina Jantz-Herrmann (SPD): tisieren, den Kontext von nationalsozialistischem Terror, Krieg und Befreiung . Dieser wichtige Grundsatz ist aber Das mache ich gerne . Ich bin beim letzten Satz, Herr leider bei der Gründung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Präsident . Versöhnung lange verleugnet worden .

Präsident Dr. Norbert Lammert: (Dr . Bernd Fabritius [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) Das tut mir leid . Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich das andächtig abgewartet . Man hatte leider den Eindruck, als solle hier vor allem (B) ein sichtbares Zeichen für die Opferrolle der Deutschen (D) (Heiterkeit) entstehen . Wir Grüne haben das immer kritisiert . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (SPD): Christina Jantz-Herrmann sowie der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]) Bei der handwerklich guten Förderkonzeption hätten wir uns mehr Mut seitens der BKM gewünscht . Seit März gibt es nun mit Gundula Bavendamm end- lich eine neue Direktorin nach vielen Jahren der Skan- Vielen Dank, meine Damen und Herren . dale, Rücktritte sowie heftiger Kritik aus dem Ausland . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es besteht nun auch nach Aussage der Bundesregierung der CDU/CSU) für zentrale erinnerungspolitische Vorhaben ein kleiner Hoffnungsschimmer auf eine Besserung . Damit dieser Hoffnungsschimmer nicht gleich wieder erlischt, braucht Präsident Dr. Norbert Lammert: es jetzt die schon lange angemahnte Neuzusammenset- Die Kollegin Schauws erhält nun das Wort für die zung des Stiftungsrates; die Kollegin hat es eben ange- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . sprochen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie der Abg . Sigrid Hupach [DIE LINKE]) Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Alle Gruppen, die von Flucht und Vertreibung betroffen legen! In den letzten Monaten und Wochen haben wir sind, sollten hier vertreten sein, also auch der Zentralrat viel über das Thema Flucht gesprochen und in diesem Deutscher Sinti und Roma und Vertreterinnen und Ver- Zusammenhang auch über den Stand der europäischen treter von Migranten- und Flüchtlingsorganisationen . Integration – gerade gestern im Plenum aufgrund unse- Dieser Schritt ist längst überfällig . res grünen Antrags zum Flüchtlingsschutz und zur fairen Verantwortungsteilung in einer geeinten Europäischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Union . sowie der Abg . Sigrid Hupach [DIE LINKE]) Die Flüchtlingsfrage droht die EU zu spalten . Rechts- Dieser Schritt ist auch ein wichtiges Signal ins Aus- populisten und -extremisten befinden sich fast überall auf land . Denn ohne ernstgemeinte Veränderungen werden dem Vormarsch, und die Frage, für welche gemeinsamen keine internationalen Mitglieder für den wissenschaftli- Werte die Europäische Union derzeit zusammensteht, chen Beraterkreis zu gewinnen sein . Zu groß ist inzwi- wird heftig diskutiert . schen das Misstrauen gegenüber der Stiftung und auch 16586 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Ulle Schauws (A) gegenüber dem Handeln der Bundesregierung . Hier muss auf unsere aktuelle Erinnerungspolitik in Deutschland (C) verlorengegangenes Vertrauen wiederhergestellt werden . nicht nur die Frage, wie wir in Zusammenarbeit mit den Darum: Werden Sie hier endlich tätig! östlichen Partnerinnen und Partnern zu einem interkultu- rellen Erinnern kommen, sondern auch, was eine zuneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mend vielfältiger werdende Gesellschaft für unsere offi- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) zielle Erinnerungskultur in Deutschland bedeutet . Denn Nicht zuletzt braucht die Stiftung vor allem einen Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchtete, die nach ernstgemeinten inhaltlichen Neuanfang . An die Ge- Deutschland kommen, bringen ihre eigenen Erfahrungen schichte der deutschen Vertriebenen kann nur im euro- und Geschichten mit . Damit steht die bisherige Erinne- päischen Kontext und in Bezug auf aktuelle Flucht und rungskultur in Deutschland vor der längst überfälligen Vertreibung angemessen erinnert werden . Vielverspre- Aufgabe, aus den verschiedenen Perspektiven und Er- chend klingt daher zunächst das Ziel, Brücken bauen zu zählungen endlich gemeinsame Leitbilder und Geschich- wollen und die europäische Integration zu fördern . Aber ten des Erinnerns zu entwickeln . im Schlusswort tauchen plötzlich Begriffe wie eigene (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kulturelle Selbstvergewisserung auf, und es ist vom „An- und bei der LINKEN) deren“ die Rede . Interkulturelle Zusammenarbeit und Förderung der In der öffentlichen Debatte spielen die individuellen europäischen Integration sieht meiner Meinung nach Erinnerungen und Geschichten von Migrantinnen und anders aus . Es kann bei so einer Institution doch nicht Migranten nach wie vor kaum eine Rolle . Die Schoah ist darum gehen, dass die Deutschen zu sich selber finden, und bleibt der zentrale Bezugspunkt der Erinnerungskul- sondern darum, dass die Europäerinnen und Europäer zu- tur in Deutschland . Hier, liebe Kolleginnen und Kolle- einanderfinden. gen, sehe ich wichtige Aufgaben und Herausforderungen für die aktuelle und zukünftige Erinnerungspolitik . Diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gilt es jetzt anzugehen . sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vielen Dank . Wer wirklich einen Beitrag zur europäischen Integra- tion leisten will, muss verstärkt Kooperationen fördern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Austausch auf Augenhöhe ermöglichen . Da passiert und bei der LINKEN) aus meiner Sicht viel zu wenig . Er muss auch darauf auf- merksam machen, dass Europa sich schon immer durch Präsident Dr. Norbert Lammert: Migration und kulturelle Vielfalt ausgezeichnet hat . Das (B) gilt auch für Osteuropa . Hier kann und sollte die Arbeit Das Wort erhält Christoph Bergner für die CDU/ (D) im Rahmen des Bundesvertriebenengesetzes verstärkt CSU-Fraktion . anknüpfen . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ordneten der SPD) Ich möchte damit zum letzten Ziel der Neukonzeption (CDU/CSU): übergehen: Zukunft gestalten . Gerade jetzt, wo fast über- Dr. Christoph Bergner all in Europa Ressentiments gegenüber Migrantinnen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und Migranten und Geflüchteten zunehmen und Rechts- Meine Damen und Herren! Wer sich mit der Entwick- populisten und ‑extremisten auf dem Vormarsch sind, ist lung und Geschichte des Bundesvertriebenengesetzes das eine umso wichtigere Aufgabe . Hier sollte unserer beschäftigt, wird mitbekommen, dass diese Geschichte, Ansicht nach gemeinsam mit den Partnern in Osteuro- die über 60 Jahre umfasst, durch ständige Modernisie- pa durch die Auseinandersetzung über die Ursachen rungen, Novellierungen und Anpassungen an veränderte und Folgen des Nationalsozialismus für gesellschaftli- Verhältnisse gekennzeichnet ist . Ich erinnere an die No- che Ausgrenzung und Vertreibung sensibilisiert werden . vellierungen, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs Das kann letztlich auch dazu beitragen, das Bewusstsein zusammenhingen und zu einer Neuordnung der Aussied- für aktuelle rechtsextreme Hetze und antidemokratische leraufnahme geführt haben . Ich erinnere auch an Anpas- Entwicklungen zu schärfen . Das heißt mit Blick auf das sungen, die im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt un- Bundesvertriebenengesetz, auch Vorschläge zu machen, serer östlichen Nachbarn geschehen sind . wie vor allem junge Menschen zukünftig besser einbe- Dabei hat sich das Bundesvertriebenenrecht von ei- zogen und erreicht werden können . Hier bleiben Sie als nem Recht der unmittelbaren Kriegsfolgenbewältigung Bundesregierung Antworten schuldig . immer mehr zu einem Recht, das Beiträge zur nach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haltigen Friedenskonsolidierung leistet, gewandelt . Die und bei der LINKEN) vorgelegte Weiterentwicklung der Konzeption der Be- auftragten für Kultur und Medien steht in genau diesem Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Tat- Kontext der Entwicklung: von unmittelbarer Kriegsfol- sache, dass in den letzten Monaten Hunderttausende genbewältigung zu nachhaltiger Friedenskonsolidierung Menschen neu bei uns in Deutschland angekommen sind, im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses . und angesichts der Tatsache, dass unsere Gesellschaft schon längst, spätestens seit der sogenannten Gastarbei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- terzeit, vielfältiger geworden ist, stellt sich mir mit Blick ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16587

Dr. Christoph Bergner (A) Neben die Verarbeitung des Kulturbruches nach Ende Aber, meine Damen und Herren, die deutsche Kul- (C) des Zweiten Weltkrieges durch Flucht und Vertreibung, tur und Geschichte im östlichen Europa gehen über neben die Herausforderungen, die seinerzeit geprägt wa- die Grenzen der EU hinaus . Ein Anliegen ist mir hier ren durch die Rettung unmittelbar, akut gefährdeten Kul- besonders wichtig: Wir dürfen die Kultur der russland- turgutes und die Notwendigkeit einer empathischen Er- deutschen Kolonisten und ihr Deportations- und Vertrei- innerungskultur für Vertriebene, neben diese Grundsätze, bungsschicksal nicht vergessen . die nach wie vor Bedeutung haben, tritt immer mehr der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Beitrag der deutschen Kultur im östlichen Europa zu ei- nem gesamteuropäisch zu verstehenden kulturellen Erbe . Ich bin froh, dass sich das Museum für russlanddeut- Dies kommt, meine Damen und Herren, in der vorliegen- sche Kulturgeschichte im Konzept wiederfindet, und will den Konzeption überzeugend zum Ausdruck . nur darauf hinweisen, dass sich hier Begegnungsmög- lichkeiten ergeben . Dies konnte ich gerade auch in der (Beifall bei der CDU/CSU) letzten Woche bei einem Besuch in Aserbaidschan wie- der feststellen, als ich erlebte, dass dort – und zwar von Sie verbindet die national-kulturellen Traditionen im der einheimischen Bevölkerung – Helenendorf und An- Sinne eines gemeinsamen, nationenübergreifenden eu- nenfeld als deutsche Gründungen – die Deutschen sind ropäischen Kulturverständnisses . Nirgends ist mir das 1941 deportiert worden – und die Schwabendörfer in der in jüngerer Zeit so deutlich geworden wie beim Besuch Gegend von Tiflis gepflegt werden und man zusammen des Breslauer Oberbürgermeisters, der im Unteraus- die Feierlichkeiten zum 200 .Jahrestag der Ansiedlung schuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik über der Deutschen im Kaukasus in den Jahren 2017 und 2018 die Konzepte zum Programm des Kulturhauptstadtjahres vorbereitet, den man gemeinsam begehen will . berichtete . An den Ausführungen des Oberbürgermeis- ters ist klar geworden, dass die deutschen kulturellen Ich erinnere in diesem Zusammenhang an ein Wort un- Prägungen seiner Stadt zu einem europäischen Marken- seres früheren Außenministers Hans-Dietrich Genscher, zeichen der Gegenwart geworden sind und wie wertvoll das mir sehr wertvoll geworden ist und das ich leider für ihn die Kombination aus deutscher Geschichte und nur aus dem Gedächtnis zitieren kann . Auf einem Fo- deutschen Prägungen der Vergangenheit und dem euro- rum mit kasachischen Teilnehmern sagte Hans-Dietrich päischen Verständnis der Gegenwart ist . Genscher: In unserer Gesellschaft sollten wir Nachbarn nicht allein darüber definieren, ob wir eine gemeinsa- In Erwiderung auf Frau Hupach möchte ich sagen: me Grenze haben, und wir sollten unseren Begriff von Wer anderes als die Deutschen selbst soll denn für die Nachbarschaft nicht nur auf eine gemeinsame Grenze Pflege des deutschen Beitrages zu einem europäischen beziehen .– Unter Verweis auf die Russlanddeutschen in (B) Kulturprojekt Verantwortung tragen? Niemand wird er- Kasachstan, die weitgehend Nachkommen von Depor- (D) warten, dass wir das deutsche Kulturerbe gewissermaßen tierten waren, sagte er weiter: Der Umstand, dass in kasa- in die Hand von Polen und anderen zur Betreuung geben . chischen Dörfern deutsche Familien neben kasachischen Dann sollten wir uns auch darüber freuen, dass ein pol- Familien gelebt haben, macht uns zu Nachbarn im Sinne nischer Oberbürgermeister unsere Kooperation bei der einer kulturellen Nachbarschaft . gemeinsamen europäischen Kulturpflege verlangt und fordert, und dafür bietet das Konzept sehr gute Voraus- (Beifall bei der CDU/CSU) setzungen . Damit komme ich abschließend zu einem besonderen inhaltlichen Ansatz für diese Konzeption und für die Ar- (Beifall bei der CDU/CSU – Sigrid Hupach beit nach dem § 96 Bundesvertriebenengesetz: Wir haben [DIE LINKE]: Besser mal zuhören! Das war die Chance, kulturelle Nachbarschaft zu gestalten . Wir nicht meine Kritik!) sollten nicht immer wieder alte Feindbilder pflegen, die mit Blick auf das Bundesvertriebenenrecht nie richtig Ich hoffe, dass das Konzept auch dazu beitragen kann, waren, und den Eindruck erwecken, Frau Schauws und zukünftige Herausforderungen zu bewältigen . Ich will Frau Hupach, als würde diese Arbeit Keile in unsere eu- nur ein Beispiel herausgreifen: Die Europäische Kom- ropäische Nachbarschaft treiben . Stattdessen sollten wir mission und das Europaparlament haben 2018 zum Eu- nach Gemeinsamkeit suchen . ropäischen Kulturerbejahr ausgerufen . Unter dem Motto „Sharing Heritage“ sollen übergreifende, eine europäi- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . sche Kulturidentität begründende Beispiele gesucht wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den – insbesondere in der Bautradition . Ich bin mir si- cher, dass Zeugnisse deutscher Kulturtradition im Osten wertvolle Beiträge dazu leisten können . Vizepräsidentin : Das Wort hat der Kollege Matthias Schmidt für die Als Beispiele nenne ich die Kirchenburgen in Sieben- SPD-Fraktion . bürgen, den Kaschauer Dom in Kosice in der Slowakei mit seinem gotischen Turm – das östlichste gotische (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bauwerk in Europa –, die Jahrhunderthalle in Breslau . der CDU/CSU) Ich könnte diese Aufzählung fortführen, und ich möchte appellieren, dass auf der Basis des vorgelegten Konzep- Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): tes eine Beteiligung am Europäischen Kulturerbejahr in Vielen Dank .– Frau Präsidentin! Meine sehr geehr- Erwägung gezogen wird . ten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Lie- 16588 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Matthias Schmidt (Berlin) (A) be Kolleginnen und Kollegen! Aus Erinnerung erwächst Die Koalitionsparteien stehen zur gesellschaftlichen (C) Verantwortung . Diese oft hergestellte Verknüpfung hat wie historischen Aufarbeitung von Zwangsmigrati- auch heute nicht an Bedeutung verloren . Dieser kurze on, Flucht und Vertreibung . Satz hat es in sich; denn er betrifft Vergangenheit, Gegen- wart und Zukunft . Der Auftrag, der damit verbunden ist, Damit stehen wir ad hoc im Zusammenhang mit der ist vielschichtig und groß, und er entwickelt sich weiter, aktuellen Flüchtlingssituation . Dr . Bergner, Sie hatten die von Generation zu Generation . empathische Erinnerungskultur für die Vertriebenen ge- nannt. Ich finde, wir müssen das zur Empathie für Flücht- Bei der Frage nach der Erinnerung geht es um die Fra- linge weiterentwickeln . Viele Menschen kommen zu uns ge der Wurzeln: Wo kommen wir her? Welche Wege sind und bereichern unseren Kulturschatz mit eigenen kultu- wir gegangen? Welche Spuren – man könnte auch sagen: rellen Fußabdrücken . Auch sie werden sich irgendwann welchen kulturellen Fußabdruck – haben wir hinterlas- auf die Suche nach ihrer Identität begeben und dabei sen? Diese Fragen betreffen oft Gruppen mit gleichen auch Fragen an uns richten . Wir müssen und wir wollen oder ähnlichen Erfahrungshorizonten und sind doch zu- sie für die europäische Geschichte und damit auch für gleich ganz und gar individuell . unsere Geschichte sensibilisieren . Diesen Blickwinkel müssen wir einnehmen, wenn wir den Auftrag „Erinne- Die uns vorliegende Konzeption will den Auftrag aus rung bewahren – Brücken bauen – Zukunft gestalten“ auf § 96 Bundesvertriebenengesetz, dem sogenannten Kul- breitere Füße stellen . turparagrafen, fortentwickeln, Erinnerung an die „deut- sche Kultur und Geschichte im östlichen Europa“ bewah- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren, eine Geschichte, die viele Jahrhunderte zurückgeht . des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Millionen von Deutschen haben nach dem Zweiten Welt- krieg ihre Heimat verloren . Sie mussten sich umorientie- Lassen Sie uns – Frau Präsidentin, ich komme zum ren und haben Leidvolles erfahren . Das dürfen und das Schluss – mutig sein, damit wir am Ende das erreichen, wollen wir auch nicht vergessen . was Europa und auch Deutschland dringend brauchen: im Bewusstsein um das Vergangene eine gute Zukunft Zugleich sind wir gefordert, diesen Auftrag zur Be- für alle zu gestalten . wahrung und Vermittlung von Erinnerung weiterzuent- wickeln . Europa hat sich verändert, ist größer geworden Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit . und damit auch vielfältiger . Junge Menschen – eine wich- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tige Zielgruppe, Frau Kollegin Grütters, die Sie noch er- gänzen können – suchen in diesem Europa nach Identität . Hier kann und sollte Kulturförderung einen wichtigen Vizepräsidentin Petra Pau: (B) Beitrag dazu leisten, dass junge Menschen historische Das Wort hat der Kollege Klaus Brähmig für die (D) Entwicklungen nachzeichnen können . ­CDU/­CSU-Fraktion . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie sollen verstehen, dass Geschichte viele Blickwinkel einnimmt und auch Leidensgeschichten in sich trägt . Wer Klaus Brähmig (CDU/CSU): seine Wurzeln kennt, kann sich im Leben besser verwirk- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und lichen . Kollegen! Werte Gäste! Als die britische Königin Eli- Im Jahr 2000 hatte die rot-grüne Bundesregierung ei- zabeth II . aus Anlass ihres Staatsbesuches in der Bun- nen wichtigen Meilenstein dafür gelegt . Die Strukturen desrepublik Deutschland im vergangenen Jahr auf die der Förderung nach § 96 Bundesvertriebenengesetz wur- engen Beziehungen des Vereinigten Königreichs zu Eu- den systematisiert und fortentwickelt . Das war gut so und ropa einging, verdeutlichte sie dies sinnbildlich an den hat sich bewährt . Über die Berichte der Bundesregierung schottischen Wurzeln eines Mannes aus Ostpreußen, ei- erfahren wir regelmäßig, dass die Museen, Forschungs- nes Mannes, der, genau gesagt, aus Königsberg stamm- einrichtungen, die Kulturinstitute und die vielen zivilge- te und mit seinem Wirken Weltgeschichte geschrieben sellschaftlichen Akteure eine anspruchsvolle und großar- hat: Immanuel Kant . Die Rede der Königin macht eines tige Arbeit leisten . Das verdient unser aller Respekt . deutlich: Kein Philosoph, kein Deutscher wird mit sei- nen Werken häufiger in Reden internationaler Staats- und Nun hat sich die Große Koalition die Aufgabe gege- Regierungschefs zitiert als eben Immanuel Kant, dessen ben, dieses Konzept mit dem Ziel verstärkter europäi- Geburtstag sich im Jahr 2024 zum 300 . Male jährt . scher Integration weiter fortzuentwickeln und damit auch weiterzudenken . Damit ist die Aufforderung verbunden, Was will ich damit sagen? Mit der heutigen Ausspra- Strukturen zu hinterfragen, Prozesse zu beleuchten und che würdigt der Deutsche Bundestag zum wiederholten Veränderungen anzupacken . Was das heißen kann, dazu Male in einer Kernzeitdebatte den Kulturraum, dem der gehen die Meinungen auch in diesem Haus durchaus aus- Ostpreuße Immanuel Kant entstammte . Es sind dies die einander . Vieles ist diskutabel . Bewegen müssen wir uns früheren Ostgebiete des Deutschen Reiches und die histo- in jedem Fall . rischen Siedlungsgebiete der Deutschen in Mittelost- und Südosteuropa . Als Kerngebiet der deutschen Geschichte Lassen Sie mich dazu einen Satz im Koalitionsvertrag und als Heimat von Millionen Deutscher und ihrer Vor- aufgreifen, der die europäische Dimension für das Hier fahren zählen diese Kulturlandschaften bis heute zum und Heute verdeutlicht: Urbestand unserer Kultur . Die bis heute dort lebenden Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16589

Klaus Brähmig (A) Mitglieder der deutschen Minderheit sind augenfälliges ihr Engagement nun in jüngere Hände legen . Hierbei (C) Beispiel dieser langen historischen Verbindung . müssen wir vonseiten der Politik die notwendige Hilfe- stellung geben . Vor allem muss unter allen Umständen Für unser Land, seine Geschichte und unser nationa- vermieden werden, dass durch mangelnde Sensibilität in les Selbstverständnis sind diese geografischen Regionen der Gegenwart Teile des unter schwierigsten Bedingun- und ihre Metropolen wie Königsberg, Breslau, Danzig, gen geretteten und anschließend über mehr als 70 Jahre Stettin oder Thorn von zentraler Bedeutung . Es war bewahrten ostdeutschen Kulturguts verloren gehen . Ori- nicht zuletzt der damalige Direktor des British Museum ginalobjekte aus dem historischen deutschen Osten sind in London, Neil MacGregor, der in seiner international nicht reproduzierbar . Die heute debattierte Konzeption vielbeachteten Deutschland-Ausstellung zum Jahres- erkennt diese wichtige Aufgabe an . wechsel 2014/2015 auf diesen bedeutenden Sachverhalt hingewiesen hat . Ein hervorragendes Beispiel dafür, wie deutsches Kul- turerbe dauerhaft für die uns nachfolgenden Generatio- Die von der Bundesregierung nun vorgelegte Konzep- nen gesichert werden kann, ist die vor wenigen Wochen tion zur Weiterentwicklung und Pflege der Kultur und vertraglich vereinbarte Überführung der Bestände des Geschichte der Deutschen im östlichen Europa ist ein Museums Stadt Königsberg aus Duisburg in das Ostpreu- richtungsweisendes Dokument; denn sie legt ein starkes ßische Landesmuseum Lüneburg . Bekenntnis zur essenziellen Bedeutung dieses Kulturbe- reiches ab . So wird die Kulturförderung gemäß § 96 Bun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) desvertriebenengesetz zu Recht als „Beitrag zur kulturel- Auf diese Weise werden die weltweit größte Einzel- len Identität Deutschlands und Europas“ gekennzeichnet . sammlung zu Immanuel Kant und bedeutende Bestände Die neue Konzeption stellt die ostdeutsche Kulturarbeit zur ebenfalls aus Königsberg stammenden Malerin und wieder in einen angemessenen historischen Rahmen und Bildhauerin Käthe Kollwitz zusammenhängend erhal- erkennt die bleibende Aktualität des Themas „Flucht und ten . Mittels der Sammlung des Ostpreußischen Landes- Vertreibung“ an . Sie würdigt den Beitrag der deutschen museums und der Überlieferung zur früheren Provinz- Heimatvertriebenen und Flüchtlinge sowohl zum Wie- hauptstadt Königsberg wird es künftig möglich sein, die deraufbau nach dem Krieg als auch zur Kulturarbeit seit Bestände in ihrem geschichtlichen und geografischen über 65 Jahren . Darüber hinaus nimmt sie die deutschen Kontext zu präsentieren . Dies ist von allergrößter Bedeu- Minderheiten im Ausland anerkennend in den Blick . Re- tung . Allein die geschichtliche Tatsache, dass Immanuel levante Akteure des Kulturbereichs, wie beispielsweise Kant seine Heimatstadt und die sie umgebende Provinz in der jüngsten Kulturpolitischen Korrespondenz kom- zeitlebens nie verlassen hat, macht eines deutlich: Ein mentiert, stimmen dieser Bewertung zu . wirkliches Verständnis Kants ohne die Berücksichtigung (B) Die Konzeption der Bundesregierung ist mit dem Zu- der ihn umgebenden und prägenden Kulturlandschaft (D) satz „Erinnerung bewahren – Brücken bauen – Zukunft Ostpreußens muss unvollständig bleiben . Diese umfas- gestalten“ untertitelt . In diesem Zusammenhang ist es sende Einbettung wird künftig in Lüneburg möglich sein . von größter Bedeutung, dass die Konzeption auch die Ich lade übrigens alle Kollegen herzlich ein, Ostpreußen Rolle und das fortbestehende grenzüberschreitende En- einmal zu besuchen . Es ist immer eine Reise wert . gagement der deutschen Heimatvertriebenen würdigt, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- unter großen Verlusten ihre Heimat verlassen mussten . ordneten der SPD) Auch die heutige Relevanz des Themas in der deut- Es gilt nun, den Bund und das Land Niedersachsen schen Gesellschaft, in der „gut jeder vierte Deutsche dafür zu gewinnen, mittels einer baulichen Erweiterung einen persönlichen oder familiären Bezug zu den deut- des Ostpreußischen Landesmuseums um einen dritten schen Flüchtlingen und Vertriebenen sieht“, bleibt nicht Bauabschnitt die dafür notwendigen Rahmenbedingun- unerwähnt . Aus diesem Grunde ist es richtig, von einer gen zu schaffen . Dies ist meines Erachtens alternativlos . grundlegenden qualitativen Verbesserung zu sprechen, Wie wenige andere Themen eignen sich die Kultur und die der Bundesregierung mit dieser Weiterentwicklung Geschichte der Deutschen im östlichen Europa für eine der Förderkonzeption aus dem Jahr 2000 gelungen ist . intensive Zusammenarbeit mit unseren östlichen Nach- Das klare Bekenntnis, dass der Förderauftrag des § 96 barn . So sollten wir beispielsweise den 300 .Geburtstag Bundesvertriebenengesetz nicht mit dem Erlöschen der von Immanuel Kant im Jahre 2024 nutzen, um mittels der Erlebnisgeneration endet, sondern eine zukunftsweisen- Brückenfunktion des nördlichen Ostpreußens den kultu- de Bedeutung entfaltet, verstärkt die positive Zielrich- rellen Dialog mit Russland im Rahmen einer Kant-De- tung der Konzeption . kade zu intensivieren . Die gemeinsame Wertschätzung (Beifall bei der CDU/CSU) des Lebens und Wirkens Kants, aber auch der deutschen Geschichte in der heutigen Oblast Kaliningrad ist ein Der Kulturbereich steht in vielen Fällen aber auch vor Themenfeld von größter deutsch-russischer Überein- wichtigen Weichenstellungen. Dies gilt auch in finanzi- stimmung . Diesen glücklichen Umstand dürfen wir nicht eller Hinsicht . ungenutzt verstreichen lassen . Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Mitglieder der Hochgeschätzte Zuhörer, lassen Sie mich abschlie- deutschen Erlebnisgeneration von Flucht und Vertrei- ßend etwas zur Zukunft der Stiftung Flucht, Vertrei- bung, die sich bis in die Gegenwart in zutiefst anerken- bung, Versöhnung sagen: Mit der Wahl von Dr .Gundula nenswerter ehrenamtlicher Weise um das Andenken an ­Bavendamm zur neuen Direktorin und ihrem klaren die verlorene Heimat verdient gemacht haben, möchten Bekenntnis zur Stiftungskonzeption in ihrer heute gülti- 16590 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Klaus Brähmig (A) gen Form hat dieses zentrale Erinnerungsvorhaben der tiperspektivität und Pluralität sichergestellt wird, dass (C) Bundesregierung eine gute Zukunft vor sich . Indem die wir wirklich der gesamten Dimension der Erinnerung geplante Dauerausstellung ihren Schwerpunkt auf die gerecht werden, und das auf eine Weise, dass sie einen Flucht und Vertreibung der Deutschen legen wird, wird Beitrag zur Gestaltung einer besseren Zukunft leistet, die die Einrichtung ihrem wichtigen Auftrag gerecht . Ein nicht, wie Aleksander Kwasniewski und Johannes Rau bedeutendes Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte gesagt haben, zu neuen Spaltungen und Missverständnis- wird damit in der Hauptstadt Berlin präsent bleiben . sen führt? Das ist die zentrale Herausforderung . Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit . Ich will noch einmal deutlich unterstreichen, was Christina Jantz-Herrmann gesagt hat . Es geht nicht da- (Beifall bei der CDU/CSU) rum, die Leistungen der Landsmannschaften auf irgend- eine Weise zu diskreditieren oder kleinzureden . Wenn wir Vizepräsidentin Petra Pau: aber Heraushebungen, die interpretiert werden könnten Der Kollege Dietmar Nietan hat für die SPD-Fraktion als Bevorzugung einzelner Akteure, in den Mittelpunkt das Wort . der Weiterentwicklung stellen, dann führt das zu Miss- verständnissen und Missperzeptionen, die nicht das Eini- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gende, sondern das Trennende wieder nach oben spülen . der CDU/CSU) Ich glaube, der zentrale europäische Ansatz ist das rich- tige Mittel und die richtige Antwort auf den aufkommen- Dietmar Nietan (SPD): den Nationalismus in Europa und die Vereinnahmung der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschichte durch nationalistische Kräfte . Angesichts dieser bitteren Vergangenheit müssen Ich will an dieser Stelle sagen, dass es mich mit großer wir unsere Anstrengungen für eine bessere Zukunft Sorge erfüllt, dass zurzeit der polnische Kulturminister vereinen . Wir müssen der Opfer gedenken und da- versucht, in die eigentlich schon fertige, mit internati- für sorgen, dass es die letzten waren . Jede Nation onalen Partnern entwickelte Konzeption des Danziger hat das selbstverständliche Recht, um sie zu trau- Museums für den Zweiten Weltkrieg einzugreifen, weil ern, und es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, ihm die Multiperspektivität und Internationalität des An- dafür zu sorgen, dass Erinnerung und Trauer nicht satzes nicht gefällt und er es gerne wieder in den Kon- missbraucht werden, um Europa erneut zu spalten . text eines nationalen, polnischen Erinnerns stellen will . Deshalb darf es heute keinen Raum mehr geben für Wenn wir uns solchen Tendenzen entgegenstellen, sind Entschädigungsansprüche, für gegenseitige Schuld- wir am glaubwürdigsten, wenn wir keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass unsere Weiterentwicklung der (B) zuweisungen und für das Aufrechnen der Verbre- (D) chen und Verluste . Konzeption multiperspektivisch, gleichberechtigt und plural ist sowie immer im Geiste der Versöhnung Euro- Die Europäer sollten alle Fälle von Umsiedlung, pas zu sehen ist . Flucht und Vertreibung, die sich im 20 . Jahrhundert in Europa ereignet haben, gemeinsam neu bewerten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und dokumentieren … der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Ich will an dieser Stelle deutlich sagen, dass sich viele CDU/CSU) noch immer engagieren, damit es in diese Richtung geht . Ich glaube, dass wir mit der neuen Direktorin Gundula Wir sind überzeugt davon, dass die Ergebnisse die- Bavendamm eine gute Wahl getroffen haben . Ich bin der ses europäischen Dialoges einen wichtigen Beitrag festen Überzeugung, dass sie ihre Arbeit sehr gut machen zur Vertiefung unseres gegenseitigen Verständnisses wird . und zur Stärkung unserer Gemeinsamkeiten als Bür- ger Europas leisten werden . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) So lautet die gemeinsame Erklärung von Bundesprä- Lassen Sie mich noch der Kollegin Hiltrud Lotze – sie sident Johannes Rau und dem polnischen Staatspräsi- kann nicht anwesend sein – und Bernd Fabritius danken, denten Aleksander Kwasniewski aus dem Jahr 2003 . Ich der als neuer Präsident des BdV deutlich Akzente setzt, finde, sie ist ein guter Rahmen für das, worum es in der die dazu geeignet sind, nach vorne zu schauen und zu heutigen Diskussion und bei der Weiterentwicklung und versöhnen . Bernd, dafür einen herzlichen persönlichen Umsetzung des § 96 Bundesvertriebenengesetz gehen Dank! muss . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Eigentlich weht dieser Geist schon im Gesetzestext . Ich danke auch , der nicht mehr Mitglied Wenn wir ihn uns genau anschauen, stellen wir fest, des Parlaments ist . Er hat mit vielen Intellektuellen, Ge- dass die Arbeit zur Sicherung des Kulturguts „in dem schichtswissenschaftlern und Politikern aus Mittel- und Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des ge- Osteuropa an diesem gemeinsamen Zeichen gearbeitet . samten deutschen Volkes und des Auslandes“ verrichtet Ich will noch einmal an seinen Aufruf aus dem Jahr 2003 werden soll . Sie merken an dieser Aufzählung im Ge- erinnern, in dem es deutlich heißt: setzestext, dass es keine Priorisierung gibt, sondern alle Aspekte wichtig sind . Das ist der Punkt, über den wir dis- Wenn es in der Mitte Europas gelingt, in der Erar- kutieren müssen: Wie sorgen wir dafür, dass durch Mul- beitung einer gemeinsamen Konzeption für ein Eu- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16591

Dietmar Nietan (A) ropäisches Zentrum gegen Vertreibungen und durch Die vorliegende Weiterentwicklung setzt wieder (C) seine Errichtung uns gemeinsam dieser schwierigen die richtigen Zeichen . Es geht um einen partizipativen Geschichte zu stellen, wäre dies ein wichtiges Zei- Ansatz, der allen Aspekten einer lebendigen, zukunfts- chen der Aussöhnung und des gegenseitigen Ver- orientierten und professionellen Kulturarbeit Rechnung ständnisses für ganz Europa . trägt, und es geht nicht um Heraushebung, sondern um Beseitigung eines weitestgehenden Ausschlusses, für den In diesem Sinne möchte ich enden mit dem Schluss- es keine Gründe gab . Dafür danke ich ausdrücklich der wort des Aufrufs aus dem Jahre 2003 . Bundesregierung und der für diesen Bereich verantwort- lichen Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die diese Vizepräsidentin Petra Pau: wichtige Weichenstellung umgesetzt hat . Kollege Nietan, auch wenn der Dank hier im Hause (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . sicherlich breit getragen wird, heißt das nicht, dass Sie [SPD]) die Redezeit nun verdoppeln können . Ich freue mich besonders, dass die Selbstorganisati- Dietmar Nietan (SPD): onen der deutschen Heimatvertriebenen und Aussiedler Nein, das möchte ich nicht . Deshalb möchte ich mit wieder stärker eingebunden werden und deren gute Ar- folgendem Schlusssatz enden, Frau Präsidentin: beit, die – übrigens grenzüberschreitend – ausdrücklich auch in den Herkunftsgebieten, Frau Kollegin Hupach, Lasst uns diese Arbeit gemeinsamer Erinnerung be- Anerkennung erfährt, so weiter ermöglicht wird . Denn ginnen und so miteinander an der Zukunft bauen! gerade sie sind wichtige Partner, wenn es um den Erhalt dieses kulturellen Schatzes geht . Wir dürfen sie mit die- Herzlichen Dank . ser Arbeit nicht alleine lassen . Gerade deshalb gibt es (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) § 96 BVFG mit einem klaren, verbindlichen gesetzgebe- rischen Auftrag .

Vizepräsidentin Petra Pau: Mit der Weiterentwicklung der Konzeption werden Das Wort hat der Kollege Dr . Bernd Fabritius für die wieder Kulturreferenten für Regionen vorgesehen, die CDU/CSU-Fraktion . aus unerklärlichen Gründen vorher abgeschafft worden waren . Diese sind unerlässlich . Auch die Förderung eini- (Beifall bei der CDU/CSU) ger Museen wird verbessert, was ich nur begrüßen kann . Museen machen Kultur und Geschichte für jedermann (B) Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): greifbar und erfahrbar und sind so wichtige Eckpfeiler (D) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und der Darstellung und Vermittlung dieser Inhalte . Kollegen! Die Bundesregierung informiert heute über die Eines darf man nicht verkennen: Kulturarbeit und Er- Weiterentwicklung einer Konzeption, die nicht mehr und innerungstransfer sind identitätsstiftend . Und vergessen nicht weniger leisten muss, als den vielleicht gefährdets- wir nicht die Kultur in den Heimatgebieten . Hier haben ten Teil unserer Kultur zu sichern, weiterzuentwickeln der Zweite Weltkrieg und das folgende Unwesen der und in die Zukunft zu tragen . Das ist eine Reichweite, kommunistischen Herrschaft ihr Übriges geleistet . Sie- die offenbar nicht jedem in diesem Raum bewusst ist . Ich benbürgen, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde als Teil kann es nur immer wieder deutlich betonen: Sicherung Rumäniens während des Kommunismus zu einer wirt- der Kultur der Deutschen aus den Siedlungsgebieten im schaftlich notleidenden Region, blieb aber unglaublich östlichen Europa, die Pflege der immateriellen Werte, der reich an Kultur, an Traditionen und an Bräuchen . Bräuche und Traditionen sowie des vielfältigen geistigen Wirkens als Teil des gesamtdeutschen kulturellen Erbes Hermannstadt, die wunderbare Stadt, in der ich auf- im Sinne des § 96 ist eine gesamtgesellschaftliche Auf- wachsen durfte, wurde um 1147 gegründet; die erste gabe, die uns alle angeht und der wir in einer Verantwor- urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 1191 . tung für kommende Generationen nachkommen müssen . Dort entstand damals ein überwiegend moselfränkisch (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . basierter Dialekt, eine Ausgleichsmundart, das Sieben- Dietmar Nietan [SPD]) bürgisch-Sächsisch . Wer versteht denn morgen noch, wenn ich sage: „Wo Kängd uch Hangd Paluckes wer- Investitionen in Kulturpflege zählen mit zu den nach- jen, do äs menj Himet Sieweberjen“? Auf Hochdeutsch: haltigsten Investitionen, die ich mir vorstellen kann . Ge- Wo Kind und Hund Paluckes würgen, ist meine Heimat rade in dem sensiblen Bereich der Kulturpflege der deut- Siebenbürgen .– Siebenbürgisch-Sächsisch ist eine der schen Heimatvertriebenen, einer Menschengruppe, deren ältesten noch erhaltenen deutschen Siedlersprachen aus Erlebnisgeneration uns langsam, aber sicher verlässt dem 12 .Jahrhundert, die heute noch von etwa 200 000 und in welcher wir einen Erinnerungs- und einen Iden- überwiegend in Deutschland lebenden Personen gespro- titätstransfer schaffen müssen, sind Investitionen und chen wird . Es wäre schön, wenn das so bliebe . Paluckes, Nachhaltigkeit unerlässlich . Wir dürfen diesen Bereich ein einfacher, aber umso schmackhafterer Maisbrei, steht nicht kaputtsparen, wie das noch unter dem Vorwand in der zitierten Redewendung übrigens als Metapher für einer Professionalisierung im Naumann’schen Konzept eine von Wohlstand und Reichtum gelöste, unbedingte angelegt war und welches wir durch diese Konzeption Liebe zu Heimat, zu Kultur und zu Traditionen . Diese endlich überwinden . dürfen wir nicht aufgeben . 16592 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Dr. Bernd Fabritius (A) Das Bewusstsein dieser Identität und die Rückkopp- Mitwirkungspflichten abgeschafft werden. Letztendlich (C) lung zu den Heimatgebieten macht Heimatvertriebene also möchte Frau Hannemann eine Art bedingungsloses und die heute in den Heimatregionen als deutsche Min- Grundeinkommen . Aber ich sage: Geld allein genügt derheit lebenden Heimatverbliebenen zu wichtigen Brü- nicht . Das bedingungslose Grundeinkommen löst nicht ckenbauern im Europa des 21 .Jahrhunderts . Diese Ver- die Probleme der Menschen . Die meisten von ihnen wol- bindung gilt es zu fördern und auszubauen . len aus der Arbeitslosigkeit heraus und am Arbeitsleben teilhaben . Auch ich meine, dass wir die Sanktionspraxis Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen: Das verändern müssen . Ich sage allerdings auch deutlich, kulturelle Erbe der deutschen Heimatvertriebenen gehört dass ich Sanktionen nicht generell abschaffen will . uns allen . Es darf nicht, in Kisten verpackt, in Archiven verschwinden oder totgespart werden . Es muss lebendig (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der bleiben und unter Einbeziehung der Kultureinrichtun- CDU/CSU) gen der Heimatvertriebenen finanziell so ausgestattet Wir müssen eine Balance zwischen Fordern und För- und gefördert werden, dass es im grenzüberschreitenden dern schaffen, mit dem Ziel, allen Menschen, die auf Austausch mit unseren Partnern in Europa gesichert und Unterstützung angewiesen sind, wieder eine Teilhabe am zukunftsorientiert weiterentwickelt werden kann . Mit der gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen . Dafür ist Ar- aktuellen Konzeption leisten wir genau das . beit ein wesentlicher Faktor . Vielen Dank . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der CDU/CSU) ordneten der SPD) Der Schwerpunkt im SGB II muss auf dem Fördern lie- gen; dann kann man auch fordern . Erziehung gehört al- Vizepräsidentin Petra Pau: lerdings nicht zu den Zielen der Grundsicherung . Ich schließe die Aussprache . (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf GRÜNEN]: Aha! – Katja Kipping [DIE LIN- Drucksache 18/7730 an die in der Tagesordnung aufge- KE]: Schön wär’s! Schikane!) führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein- Deshalb: Wer sich mutwillig verweigert, der sollte auch verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung sanktioniert werden . so beschlossen . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Dabei dürfen allerdings die Kosten für Wohnung und Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions­ (B) Heizung in keinem Fall gestrichen werden; (D) ausschusses (2 .Ausschuss) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie Sammelübersicht 289 zu Petitionen der Abg . Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE Drucksache 18/8092 GRÜNEN]) In dieser Sammelübersicht sind die Eingaben betref- denn das Anwenden des Sozialgesetzbuches kann und fend das Arbeitslosengeld II zusammengefasst . darf nicht die Gefahr von Obdachlosigkeit heraufbe- schwören . Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für DIE GRÜNEN) die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . Ich bedauere zutiefst, dass die entsprechenden Vor- schläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe nicht aufge- Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege griffen wurden . 15 von 16 Bundesländern hatten sich für Markus Paschke für die SPD-Fraktion . diese Reform ausgesprochen . Falls jemand nicht weiß, (Beifall bei der SPD) welches Bundesland sich nicht der Auffassung der ande- ren Bundesländer angeschlossen hat: Markus Paschke (SPD): (Katja Kipping [DIE LINKE]: Bayern!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Das war Bayern . und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Selten haben wir als Mitglieder des Petitionsausschusses ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hier im Plenum des Deutschen Bundestages die Möglich- NEN]: Es ist immer dasselbe!) keit, so öffentlich über an uns herangetragene Petitionen Da die CSU Bestandteil der Großen Koalition in Berlin zu reden . In diesen Petitionen werden ja die Probleme der ist, kann man daraus schließen, woran das gescheitert ist . Bürgerinnen und Bürger aufgegriffen . (Katja Kipping [DIE LINKE]: Ist ja noch Auf Antrag der Linken reden wir heute über die Peti- nicht durch! Das können Sie noch ändern!) tion von Frau Inge Hannemann, die für die Linken Ab- geordnete in der Bürgerschaft der Hansestadt Hamburg Auch schärfere Sanktionen für unter 25-Jährige sind – ist . In ihrer Petition fordert sie, dass alle Sanktionen und das haben uns alle Experten in einer Anhörung gesagt – Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16593

Markus Paschke (A) schädlich . Sie führen dazu, dass sich jugendliche Arbeits- lich kein Pappenstiel . Dieser Frau ist einmal ein Termin (C) lose komplett aus unserer Gesellschaft verabschieden . durchgerutscht, weil sie auf Arbeit gefragt war, Statt Kooperation erfolgt Resignation . Das ist also völlig (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Oh Gott! konträr zu dem, was wir wollen . Wir dürfen keinen Ju- Dann wird sie sicherlich nicht gleich sankti- gendlichen verlieren oder gar verloren geben . Hamburg oniert werden!) und mittlerweile auch viele andere Kommunen beweisen mit ihren Jugendberufsagenturen, und sie wurde sofort sanktioniert . (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Allein dieses Beispiel macht deutlich: So kann es NEN]: Die Union sollte mal besser zuhören! nicht weitergehen . Er redet Wahres!) (Markus Paschke [SPD]: Das stimmt doch dass man erfolgreich ist, wenn man auf Sanktionen weit- gar nicht!) gehend verzichtet . Vertrauen und Hilfsangebote sind also – Das ist ein realer Fall . Er wurde ordentlich recherchiert das Mittel der Wahl . und nachgewiesen . Bei Leistungen nach dem SGB II handelt es sich auch (Beifall bei der LINKEN) um einen Interessenausgleich, um einen Interessenaus- Initiiert wurde diese Massenpetition von Inge Han- gleich zwischen Leistungsempfänger und Leistungs- nemann . Inge Hannemann folgt dieser Debatte übrigens geber . Leistungsgeber, das sind wir alle, das ist unsere zusammen mit dem Team von sanktionsfrei .de oben auf Gesellschaft . Ich denke, unsere Gesellschaft hat einen der Tribüne . Schön, dass ihr da seid! Anspruch darauf, dass sich jeder im Rahmen seiner Mög- lichkeiten bemüht, diese Unterstützungsnotwendigkeit (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Peter zu beenden. Aber: Wir haben auch die Pflicht, diejeni- Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gen, die sich bemühen, zu unterstützen, egal in welchem Inge kennt das Jobcenter von innen als Mitarbeiterin, Bereich sie Unterstützung benötigen . Weil dieser Interes- und sie sitzt jetzt für die Linke in der Hamburger Bürger- senausgleich in der Petition keine Rolle spielt, lehnen wir schaft . Sie hat mir gesagt: Aus meiner jahrelangen Erfah- den Änderungsantrag der Linken heute ab . rung weiß ich: Jede Sanktion wirkt kontraproduktiv, weil Danke schön . sie die Betroffenen in die Resignation treibt . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – 90 000 Menschen unterstützen diese Petition. Ich fin- Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- de, allein diesen 90 000 schulden wir, dass wir das jetzt NEN]: Schwaches Argument!) nicht einfach zur Seite schieben, sondern an diesem The- (B) ma dranbleiben, (D)

Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping für die Frak- tion Die Linke . zumal das Ziel der Sanktionsfreiheit auch von großen Or- ganisationen unterstützt wird: Diakonie, Parität, IG Me- (Beifall bei der LINKEN) tall . Die Diakonie begründet ihre Positionierung übrigens damit, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaf- Katja Kipping (DIE LINKE): fen ist und man das Ebenbild Gottes nicht sanktioniert . Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich ste- (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Wenn die he heute hier, um für ein wichtiges Petitionsanliegen zu Linken Gott anführen, wird es ganz eng in werben . Es geht um Freiheit, um Sanktionsfreiheit . Kurz- diesem Land!) um: Es geht um die Abschaffung des Hartz-IV-Sankti- Solch eine christliche Nächstenliebe überzeugt selbst onssystems, die längst überfällig ist . mich als Konfessionslose . (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Peter (Beifall bei der LINKEN) Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ja, wir als Linke kämpfen schon lange gegen die Herr Paschke, wenn Sie hier Sanktionsfreiheit fälsch- Hartz-IV-Sanktionen, und das aus gutem Grund; denn licherweise gegen das Recht auf einen guten Arbeitsplatz die Angst vor diesem Sanktionssystem führt dazu, dass auszuspielen versuchen, dann muss ich noch einmal ei- Menschen in Bewerbungsgesprächen familienunfreund- nes in Erinnerung rufen: Betroffen von Hartz-IV-Sank- liche Arbeitszeiten und niedrige Löhne akzeptieren . tionen sind nicht nur Erwerbslose, die verzweifelt nach Dieses Sanktionssystem ist also auch ein Angriff auf die einem Arbeitsplatz suchen, sondern auch Aufstockende . Arbeitsstandards . Es abzuschaffen, ist also sowohl im So zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter von zwei Interesse von Erwerbslosen wie auch im Interesse von kleinen Kindern, die zwar einen 30-Stunden-Arbeitsplatz Beschäftigten, die gute Arbeit wollen . hat, aber, weil der Lohn so niedrig ist, dass sie damit (Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler nicht über die Runden kommt, Anrecht auf aufstocken- [SPD]: Schwachsinn!) de Leistungen hat . Man ahnt, wie sich eine solche Frau im Alltag abhetzen muss . Job, Kinder und dann noch Eine Sanktion entspricht einer Kürzung von Grund- die gesamte Ämterbürokratie zu managen, das ist wahr- rechten . Ich bin überzeugt: Grundrechte kürzt man nicht . 16594 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Katja Kipping (A) Auch deshalb hat die Linke im Petitionsausschuss be- geschafft und durch gute Arbeit und eine sanktionsfreie (C) antragt, „die Petition der Bundesregierung zur Berück- Mindestsicherung ersetzt ist . sichtigung zu überweisen“ . Dazu muss man wissen: Das deutsche Petitionsrecht kennt als intensivste Form der Vielen Dank . Zustimmung keine andere Formulierung als diese . Doch (Beifall bei der LINKEN – Matthias W . SPD wie CDU konnten sich im Ausschuss nicht einmal Birkwald [DIE LINKE]: So machen wir das! – dazu durchringen, die Petition zur Berücksichtigung an Dagmar Ziegler [SPD]: In der Linkenfraktion die Bundesregierung zu überweisen . Hier wird es doch lässt sich gut arbeiten, oder? Schauen Sie sich wieder einmal offensichtlich: Sie wollen die Bundesre- einmal die Arbeitsverhältnisse mit Ihren Mit- gierung nicht mit den Nöten der Erwerbslosen und Auf- arbeitern in Ihrer Fraktion an!) stocker behelligen . Ihre Ablehnung der Petition zeigt ein- mal mehr: Sie verstehen sich weniger als Vertretung der Bevölkerung, Sie verstehen sich vor allem als Vollstre- Vizepräsidentin Petra Pau: ckerin der Wünsche der Bundesregierung, und das finde Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die ich höchst peinlich . ­CDU/­CSU-Fraktion .

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . (Beifall bei der CDU/CSU) Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN] – Markus Paschke [SPD]: Wir verste- Paul Lehrieder (CDU/CSU): hen uns als Vertreter der gesamten Bevölke- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, rung!) liebe Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kol- legen von der Fraktion Die Linke! Auf die Initiative Ih- Wenn Sie sich so aufregen: Sie haben ja die Möglich- rer Fraktion hin beraten wir heute eine Sammelübersicht keit, mir das Gegenteil zu beweisen . Sie können beim von 103 verschiedenen Petitionen hier im Plenum des Rechtsvereinfachungsgesetz sehr wohl noch eine Ände- Bundestages . Mich hat erstaunt, dass unsere Ausschuss- rung vornehmen . vorsitzende, Frau Steinke, hier nicht reden durfte, und dass dafür mit Katja Kipping eine ausgewiesene Arbeits- (Dagmar Ziegler [SPD]: Wir lachen nur über marktpolitikerin gesprochen hat . Sie! Wir regen uns nicht auf!) (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das ist Wenn Sie die besonders scharfen Sanktionen abschaffen zum Glück egal, zu welchem Tagesordnungs- wollen, dann setzen Sie sich doch einmal durch, dann punkt die redet!) (B) hauen Sie mit der Faust auf den Tisch und lassen Sie sich (D) hier nicht ständig von Bayern vorführen . – Stellen Sie bitte eine Frage, dann habe ich mehr Zeit, Frau Kollegin . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Katja Kipping [DIE LINKE]: Die kann auch eine persönliche Erklärung abgeben, wenn es Mit der Ablehnung der Petition wird wieder einmal die Präsidentin erlaubt!) mehr deutlich: Ein würdevolles Leben in diesem Lan- Lassen Sie sich gesagt sein, Frau Kipping: Nicht wer de steht unter Vorbehalt . Wer nicht spurt, bekommt die am lautesten schreit, hat recht . Auch wenn Sie eine For- Existenznotpeitsche zu spüren . Das bedeutet politisches derung hier immer wieder und, wie vorhin, sehr volumi- Mittelalter, und ich finde, das müssen wir überwinden. nös wiederholen, wird sie davon nicht richtiger . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Besonders empörend ist doch Folgendes: Selbst inner- halb der strengen Gesetzeslage werden fehlerhafte Sank- Sie waren, Frau Kollegin Kipping, in der Zeit Vorsit- tionen verhängt . Bei 36 Prozent aller Widersprüche, bei zende des Ausschusses für Arbeit und Soziales, in der 40 Prozent aller Klagen bekommt der Kläger ganz oder dieses Problem materiell-rechtlich im Ausschuss für Ar- teilweise recht . Das heißt also, auch bei den Sanktionen beit und Soziales behandelt wurde . Im letzten Jahr waren gilt: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt . Deshalb ist es Sie bereits nicht mehr Ausschussvorsitzende, da waren umso wichtiger, dass es Initiativen wie sanktionsfrei .de Sie Fraktionsvorsitzende . gibt . Diese Onlineplattform möchte Menschen, die von (Widerspruch bei der LINKEN – Sanktionen bedroht sind, ermuntern, sich auch juristisch [SPD]: Parteivorsitzende!) zu wehren . Hut ab vor eurem Engagement! – Oder stellvertretende, was weiß ich .– Auf jeden Fall: (Beifall bei der LINKEN) Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat am 14 .Januar 2015 die jetzt hier zur Debatte stehende Petition beraten . Ich verspreche zum Abschluss: Wir als Linke werden weiterhin unermüdlich gegen das Hartz-IV-Sanktions- (Katja Kipping [DIE LINKE]: Wenn Sie die system kämpfen . So wie wir beim Mindestlohn nicht Fakten genauso schlecht recherchieren wie nachgelassen haben, so werden wir in diesem Fall auch meine Position, dann wundert mich gar nichts nicht Ruhe geben, bis das Hartz-IV-Sanktionssystem ab- mehr!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16595

Paul Lehrieder (A) Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat am 29 .Juni hat, dass die Sondersanktionen für unter 25‑Jährige in je- (C) 2015 eine umfangreiche Ausschussanhörung durchge- der Hinsicht kontraproduktiv sind? führt, auch zu dieser Petition . Dieser war die sogenannte Hannemann-Petition zugrunde gelegt, über die wir jetzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Rahmen des Änderungsantrags gesondert beraten . In und bei der LINKEN) dieser Ausschussanhörung war auch die von Ihnen zitier- te Diakonie zugegen . Wären Sie bereit, diesem Votum der Sachverständigen auch Folge zu leisten? Ansonsten muss hier auch die Fra- Wir haben also genau dieses Problem, die Frage der ge erörtert werden: Welchen Sinn haben Anhörungen? Sinnhaftigkeit einer Abschaffung von Sanktionen im Hartz-IV-Bereich, im federführenden Ausschuss einge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hend beraten . Am 23 . September 2015 hat der Ausschuss und bei der LINKEN) für Arbeit und Soziales abschließend über die Petition beraten und mitgeteilt, dass dem Anliegen nicht entspro- Paul Lehrieder (CDU/CSU): chen werden konnte . Liebe Frau Kollegin Pothmer, herzlichen Dank für die Was Sie jetzt über den Petitionsausschuss hier versu- Frage . Es ist natürlich so, dass in jeder Sachverständi- chen, ist, so eine Art Superrevisionsinstanz zu schaffen . genanhörung unterschiedliche Meinungen geäußert wer- Das heißt, Sie stellen das Fachwissen des Petitionsaus- den . schusses im Bereich Arbeit und Soziales über das, was der Ausschuss für Arbeit und Soziales in dieser Sache (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE schon entschieden hat, und das kann eigentlich so nicht GRÜNEN]: Es ist aber keine unterschiedliche richtig sein . Meinung geäußert worden! – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es waren alle (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Udo einer Meinung, Herr Lehrieder!) Schiefner [SPD] – Corinna Rüffer [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so billig, Herr Natürlich wird der Ausschuss aus der Sachverständi- Lehrieder! Das ist so billig! – Matthias W . genanhörung einen Schluss ziehen müssen . Das haben Birkwald [DIE LINKE]: 90 000 Unterschrif- wir damals im Ausschuss für Arbeit und Soziales getan, ten!) und zwar mit der Begründung: „Fördern und Fordern“ betrifft nicht nur die über 25‑Jährigen, sondern auch die Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, vor dem Hinter- Heranwachsenden, die Jugendlichen, die durch Sankti- grund der altbekannten Forderung nach Abschaffung der onen zum Einhalten von Terminen angehalten werden . (B) Sanktionsmöglichkeiten bei Hartz IV haben wir im fe- (D) derführenden Ausschuss – ich habe auf die Daten hinge- Ich möchte auf Ihre Einlassung, Frau Kipping, noch wiesen –, aber auch schon in der öffentlichen Anhörung eingehen . Wenn ich beim Jobcenter einen Termin unver- des Petitionsausschuss das ganze Anliegen sehr einge- schuldet versäumt habe, dann gibt es keine Sanktionen . – hend geprüft, und wir sind mehrheitlich zu der Auffas- Frau Kipping hat eine Frage . sung gekommen, dass das Verfahren abgeschlossen wer- den soll . Daran wird sich auch durch die heutige Debatte (Beifall bei der CDU/CSU) nichts ändern . Wir haben nicht nur in dieser Wahlperiode, sondern Vizepräsidentin Petra Pau: auch in den vergangenen Wahlperioden, in denen Sie, Sie lassen die Frage oder Bemerkung zu? Frau Kipping, Vorsitzende des federführenden Ausschus- ses waren, ausführlichst darüber debattiert und werden entsprechend handeln . Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ja, freilich . Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Frage oder Be- Vizepräsidentin Petra Pau: merkung? Bitte schön .

Paul Lehrieder (CDU/CSU): Katja Kipping (DIE LINKE): Ja, selbstverständlich, von Frau Pothmer immer gerne . Herr Lehrieder, Sie haben zu Recht darauf hingewie- sen, dass es formal, laut Gesetz nicht möglich ist . Tat- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Brigitte Pothmer sache aber ist: Der von mir zitierte Fall ist nicht ausge- Vielen Dank .– Herr Lehrieder, Sie haben gerade die dacht, sondern von einer ehemaligen Mitarbeiterin eines Anhörungen zum Thema Sanktionen angesprochen . Sie Jobcenters geprüft worden . Selbst Ihre Bundesregierung haben darauf hingewiesen, dass die Mehrheit der Sach- hat bestätigt, dass ein Teil der Widersprüche recht be- verständigen sich eindeutig positioniert hat und dass Sie kommt, dass also falsche Sanktionen verhängt werden . dem folgen . Haben Sie auch zur Kenntnis genommen, dass sich die absolute Mehrheit aller Sachverständigen in (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Es wer- jeder Anhörung zu diesem Thema dafür ausgesprochen den auch manchmal Fehler gemacht!) 16596 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Katja Kipping (A) Das Problem ist nur: Wenn einmal jemand sanktio- titionen einreicht, reicht allein nicht aus, um die Sinnhaf- (C) niert ist, dann muss man sich erst einmal wehren . Die tigkeit des Systems von „Fördern und Fordern“ – bleiben Bearbeitung des Widerspruchs dauert eine ganze Weile . Sie bitte stehen, Frau Kipping, ich bin noch nicht fertig – infrage zu stellen . (Dagmar Ziegler [SPD]: Das hat mit dem Gesetz nichts zu tun!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Das Klagen dauert eine ganze Weile . Wir reden hier über Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Eine Leute, die kein finanzielles Polster haben, die womöglich Gruppierung von 90 000 Leuten!) gar kein Geld mehr haben, um bis zum Monatsende über Das wird durch die Lautstärke und durch Wiederholen die Runden zu kommen . auch nicht wahrer . (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Als wenn Meine Damen und Herren, wir haben das Thema das so schwer ist, eine Maßnahme oder einen ALG II nicht nur im Bereich Arbeit und Soziales – dort- Termin zu besuchen!) hin gehört es fachlich – lange gemeinsam debattiert . Vor diesem Hintergrund können Sie es sich nicht so (Zuruf des Abg . [DIE LINKE]) einfach machen und es den Mitarbeitern in den Jobcen- tern in die Schuhe schieben, dass es deren Fehler sei; – Herr Ernst, eine Frage, bitte! Sie wedeln in der letzten denn sie stehen unter einem enormen Einsparungsdruck . Reihe mit den Armen . Stellen Sie mir eine Frage, dann Deswegen frage ich Sie: Was gedenken Sie zu tun, damit kann ich darauf eingehen .– Auch im Petitionsausschuss es wenigstens nicht zu falschen Sanktionen kommt? haben wir die Sanktionen bei der Besprechung zahlrei- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- cher Eingaben bereits behandelt; ich habe darauf hinge- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – wiesen . So wurde die Leitakte dieser Sammelübersicht Dagmar Ziegler [SPD]: Billig!) beispielsweise im Rahmen einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses beraten – auch das habe ich bereits gesagt –, an der auch die zuständige Parlamentarische Paul Lehrieder (CDU/CSU): Staatssekretärin, Frau Kollegin Lösekrug-Möller, und Frau Kollegin Kipping, herzlichen Dank für die Frage . damit die Bundesregierung beteiligt war; sie hat auch Sie gibt mir die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass ausführlich Stellung bezogen . Was Sie heute fordern, auch bei Sanktionen über Lebensmittelgutscheine das ist eine erneute Überweisung der Petitionen an die Bun- Existenzminimum immer gewahrt wird . Das heißt, wer desregierung, die auch nicht zu einer neuen Erkenntnis einen Widerspruch oder eine Klage eingereicht hat – wo führen würde, weil wir genau diese Massenpetition der (B) Menschen handeln, können auch Fehler passieren; da öffentlichen Anhörung zugrunde gelegt hatten . (D) gebe ich Ihnen recht –, wird nicht in seinem Existenz- minimum beschnitten . Statt einer Zahlung bekommt er Meine Damen und Herren, zudem gab es vier Stel- Lebensmittelgutscheine . Das ist für eine Übergangszeit lungnahmen des zuständigen Ministeriums . Auch da war zumutbar . Das System von Hartz IV „Fördern und For- die Regierung beteiligt . Betreiben Sie bitte auch hier in- dern“ ist hier nicht unlogisch . soweit keine Legendenbildung . Es handelte sich um ein sogenanntes Verfahren nach § 109 der Geschäftsordnung (Katja Kipping [DIE LINKE]: Wo sollen die des Bundestages . Schließlich führen wir die heutige De- den denn einlösen! Haben Sie einmal ver- batte im Deutschen Bundestag . sucht, so einen Gutschein einzulösen?) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, sehr geehrte Frau – Bitte? Ausschussvorsitzende Steinke, sehr geehrte Frau Kolle- (Katja Kipping [DIE LINKE]: Haben Sie gin Kipping, auf all diesen Diskussionsebenen des parla- einmal versucht, so einen Gutschein einzulö- mentarischen Verfahrens haben Sie diesbezüglich unsere sen? – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ist das Argumente und auch die der Bundesregierung zur Kennt- jetzt ein Gespräch?) nis genommen und auch Ihre Ansichten ausführlich dar- legen dürfen . Die Tatsache, dass Sie nunmehr eine Sam- – Ich selber habe noch keine Kürzung erhalten, Frau Kol- melübersicht mit über 100 Petitionen im Plenum beraten legin Kipping . möchten, lässt bei mir den Eindruck entstehen, dass es (Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber sich Ihnen gar nicht darum geht, den einzelnen Petenten zu mit Leuten unterhalten! – Andreas Mattfeldt helfen . Sie benutzen vielmehr die Petenten, um hier zum [CDU/CSU]: Frau Präsidentin!) wiederholten Mal die Abschaffung der Hartz‑IV-Sankti- onen auf großer Bühne zu fordern, um zu skandalisieren . Über die Frage der verbesserten Einlösbarkeit von Le- bensmittelgutscheinen werden wir uns sicherlich Gedan- Ich will Ihnen eines sagen: Ich bin in den Petitionsaus- ken machen, wenn so etwas vorkommt . Aber das Pro- schuss des Deutschen Bundestag gegangen, weil mir die blem gibt es nicht flächendeckend. Anliegen der kleinen Leute wichtig waren . Es kann nicht darum gehen, dort im Nachhinein mit großem Buhei die Noch einmal: Es wird deswegen niemand in seinem Schlachten zu wiederholen, die in den Fachausschüssen Existenzminimum beschnitten . Es muss niemand ver- bereits geschlagen wurden . hungern . Die Skandalisierung, die Sie als Linkspartei immer wieder zum Hartz‑IV-System vortragen, hat keine Liebe Frau Kollegin Kipping, missbrauchen Sie den Grundlage . Eine motivierte Gruppierung, die Massenpe- Petitionsausschuss nicht für die Skandalisierung irgend- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16597

Paul Lehrieder (A) welcher Vorgänge, die längst in den Fachausschüssen be- wahrlich verdient, dass sich die Bundesregierung damit (C) handelt worden sind . beschäftigt . (Beifall bei der CDU/CSU – Dr .Kirsten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tackmann [DIE LINKE]: Das steht in der Ge- und bei der LINKEN) schäftsordnung des Deutschen Bundestages!) Die Petition zeigt: Die Sanktionen sind umstritten . Ich wünsche Ihnen alles Gute . Ich freue mich auf den Dafür gibt es durchaus bedenkenswerte Argumente . Ha- nächsten Antrag zur Abschaffung von Sanktionen im ben Erwerbslose aufgrund von Sanktionen weniger Geld, Hartz‑IV-Bereich . dann kann das vielfältige Folgen haben . Es besteht die Gefahr der Obdachlosigkeit, der Mangelernährung und (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Man der Entstehung von Schulden . Vor allem führen Sanktio- kann Gesetze ändern! Dazu ist der Deutsche nen häufig zu einem Rückzug aus dem sozialen Umfeld. Bundestag da!) Gesellschaftliche Isolation macht etwas mit den Men- Es wird von Ihnen in Kürze – das ist so sicher wie das schen; es entstehen Selbstzweifel, Unsicherheit, Ängste . Amen in der Kirche – wieder ein solcher Antrag kom- All das ist nicht förderlich für eine Integration in den Ar- men . Wir werden wieder mit großer Gründlichkeit darü- beitsmarkt . Das sollten Sie endlich einmal bedenken . ber beraten . Ob wir zu einem anderen Ergebnis kommen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden, kann ich Ihnen nicht versprechen, Frau Kipping . und bei der LINKEN) Alles Gute . Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende . Sanktionen suggerieren auch, Arbeitslosigkeit sei (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) selbstverschuldet . Aber was sind denn die Gründe, wa- rum Menschen lange arbeitslos bleiben? Geringe Qualifi- Vizepräsidentin Petra Pau: kation, Krankheit; manche sind nur zu alt, manche haben die falsche Nationalität, manche sind alleinerziehend . Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für Unsere Arbeitswelt ist nicht inklusiv, sondern sehr exklu- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . siv . Das ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftli- ches und letztendlich auch ein politisches Problem; denn Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es fehlt an Unterstützung, es gibt zu wenig finanzielle NEN): Mittel und somit zu wenig passende Angebote . Sanktio- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen helfen da nicht weiter . Langzeitarbeitslose brauchen nen und Kollegen! Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir vielmehr Chancen und Perspektiven . heute die Petition von Inge Hannemann diskutieren . (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) und bei der LINKEN) Sehr geehrte Regierungsfraktionen, wir kennen Ihre Herr Lehrieder, wir diskutieren heute eben nicht einen Haltung, aber Sie haben doch selbst in Ihrem Koaliti- Antrag im Ausschuss für Arbeit und Soziales, sondern onsvertrag Handlungsbedarf ausgemacht . Warum tun eine Petition . Sie dann nichts? Ein Beispiel: Ein Großteil der Sanktio- nen erfolgt aufgrund von Meldeversäumnissen . Da sind (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sanktionen zu hart, und sie verändern auch nichts; das NEN]: So ist das!) zeigen die alljährlich hohen Zahlen . Die Frage müsste Der Petitionsausschuss sollte sich endlich etwas ernster doch vielmehr sein: Wie kann das vermieden werden? nehmen . Was ist da schiefgelaufen? Vor allem ist es ein extrem bürokratischer Aufwand; Inge Hannemann hat es in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anhörung sehr deutlich belegt . und bei der LINKEN) (Katja Mast [SPD]: Die Frage ist doch, ob Die Petition von Inge Hannemann war öffentlich stark die Grünen die Sanktionen abschaffen wollen präsent . Zuletzt hatten 91 500 Menschen die Petition oder nicht, Beate!) mitgezeichnet . Bei der öffentlichen Anhörung hat nicht einmal der Europasaal ausgereicht . Die Anhörung wurde Sanktionen binden viel Zeit, viele Kräfte und letztend- zusätzlich in einen anderen Saal übertragen . Das zeigt, lich viel zu viel Geld . Zeit und Engagement brauchen wir das Thema Sanktionen treibt viele Menschen um . an anderer Stelle, und zwar bei der Beratung und Unter- stützung . Sinn und Zweck von Petitionen ist es doch, etwas über die Stimmung in der Bevölkerung zu erfahren, eine Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – schätzung zu erhalten, ob Gesetze ihre Ziele erreichen Katja Mast [SPD]: Abschaffen oder nicht, und welche Probleme bestehen . Mein Verständnis bei Beate?) solchen herausragenden Petitionen ist: Wir sollten die – Dazu komme ich noch, liebe Kollegin . Argumente ernst nehmen und bedenken, einfach mal innehalten und den Blickwinkel etwas weiten . Damit Dann geht es noch um die verschärften Sanktionen für meine ich nicht nur uns, den Petitionsausschuss, sondern die unter 25‑Jährigen; es gab eben schon eine entspre- auch die Bundesregierung . Weil diese Petition stellver- chende Frage dazu . Sie sind nicht akzeptabel, und das tretend für viele, viele Einzelpetitionen steht, hätte sie es war – auch ich sage es noch einmal – auch die Meinung 16598 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Beate Müller-Gemmeke (A) der Expertinnen und Experten bei allen öffentlichen An- vorgesehen . In der Sammelübersicht 289 zu Petitionen, (C) hörungen . über die wir heute debattieren, geht es um 103 Petitionen . Sie von den Linken aber greifen in Ihrem Änderungsan- Es gibt eine Studie aus NRW zu den Sanktionen, aus trag eine von Ihnen öffentlich platzierte Petition heraus, der deutlich hervorgeht: Sanktionen erhöhen nicht die sie beleuchten ausschließlich die Perspektive dieser ei- Motivation . Im Gegenteil: Junge Menschen reagieren nur nen Petentin und erklären diese für allgemeingültig . mit kurzfristigen Jobs . Das ist keine nachhaltige Strate- gie . Vor allem verlieren sie auch das Vertrauen in die Job- (Beifall bei der CDU/CSU) center und sind nur noch schwer erreichbar . Besonders harte Strafen sind hier der absolut falsche Weg . Nehmen Sie scheren somit alle Anliegen der 103 Petitionen über Sie das endlich zur Kenntnis – insbesondere die Damen einen Kamm . Aber ich frage Sie: Sind die darin geschil- und Herren der CSU –, und schaffen Sie die verschärften derten Verläufe nicht sehr unterschiedlich und auch in- Sanktionen für junge Menschen ab! dividuell? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der LINKEN) NEN]: Immer! Immer!) Notwendig wären darüber hinaus ein Wunsch- und Lassen Sie mich aus einer anderen Petition dieser Wahlrecht, damit die Angebote wirklich passen, Om- Sammelübersicht berichten . In einem Schreiben teilt ein budsstellen, um Konflikte zu vermeiden und zu lösen, Petent dem Jobcenter mit, dass er seinen Termin beim und notwendig wären vor allem Hilfe und Unterstützung Ärztlichen Dienst nicht wahrnehmen werde, da er hierfür auf Augenhöhe . Immerhin spricht die Bundesagentur für keinen Anlass sehe . Gleichzeitig sagt er den Termin beim Arbeit immer von „Kunden“, dazu braucht es eine part- Ärztlichen Dienst selbstständig ab . Ziel dieses Untersu- nerschaftliche Zusammenarbeit . chungstermins war es, die Erwerbsfähigkeit des Petenten und damit seine körperliche Leistungsfähigkeit festzu- Deshalb fordern wir, liebe Katja Mast, ein Sanktions- stellen . Dieser Fall zeigt eine fehlende Mitwirkung des moratorium, Petenten. Der Petent ist seiner Mitwirkungspflicht nicht (Beifall des Abg . Dr .W olfgang Strengmann- nachgekommen . Aber das Mitwirken des Betroffenen ist Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) doch wichtig, um ihm in der Beratungskette des Jobcen- ters entsprechende Angebote machen zu können . bis freie, faire Regeln etabliert sind . (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Denn wir wollen eine armutsfeste Grundsicherung . Wir Sie wollen doch hier nicht allen Ernstes behaupten, liebe (B) (D) wollen, dass bei der Integration in den Arbeitsmarkt auf Kolleginnen und Kollegen, dass es sich bei der Mitwir- Unterstützung, Motivation und Chancen gesetzt wird . kungspflicht um eine Form von Gängelung von Men- schen im SGB‑II-Bereich handelt . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Arti- Vor allem – ganz kurz zurück zum Anfang – wünschen kel 1 Grundgesetz!) wir uns einen Petitionsausschuss, der offen ist für Anre- gung und Kritik; denn nur wer die Anliegen der Men- Vielmehr ist es eine notwendige Maßnahme, um gemein- schen kennt, macht auch gute Politik . sam miteinander arbeiten zu können . Vielen Dank . (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Dagmar Ziegler [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Katja Mast [SPD]: Auch diese Schilderung des Sachverhalts entspricht der Klare Ansagen sind etwas anderes, Beate!) Realität . Sie entspricht vereinzelt dem Alltag von Job- centermitarbeitern . Vizepräsidentin Petra Pau: Zur Realität gehört auch – das sollten wir einmal zur Das Wort hat die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser Kenntnis nehmen –, dass das Bundesverfassungsgericht für die CDU/CSU-Fraktion . sowohl 2010 als auch 2012 festgestellt hat, dass Sankti- (Beifall bei der CDU/CSU) onen weder gegen das Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums noch gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit verstoßen . Die Par- Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): lamentarische Staatssekretärin Lösekrug-Möller hat dies Mehrere Beratungen in den Ausschüssen Arbeit und bei der öffentlichen Anhörung im Petitionsausschuss zu Soziales und Petition, mehrere Debatten hier im Plenum, diesem Thema noch einmal betont . öffentliche Anhörungen im Petitionsausschuss und im Ausschuss Arbeit und Soziales – Frau Präsidentin! Liebe Zur Wahrheit gehört auch – das wurde heute Morgen Kolleginnen und Kollegen! –, und wieder einmal debat- schon angesprochen –, dass beim SGB II das Fördern tieren wir heute über die Abschaffung der Sanktionen im und Fordern im Vordergrund steht und nicht das Sank- SGB II . tionieren . Sozialleistungen bedarfsunabhängig und vorausset- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zungslos zu leisten, das ist im deutschen Sozialrecht nicht ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16599

Christel Voßbeck-Kayser (A) Sanktionen stehen erst am Ende einer langen Beratungs- Udo Schiefner (SPD): (C) kette . Bitte . (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Personal!) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Herr Kollege, haben Sie herzlichen Dank, dass Sie die Unser Sozialgesetz erwartet Mitwirkung, indem Ter- Zwischenfrage zulassen . mine wahrgenommen und persönliche Unterlagen einge- reicht werden, Der gesetzliche Mindestlohn ist nicht eine Erfindung der SPD . (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) (Lachen bei Abgeordneten der SPD) ebenso dass auf Angebote zur Weiterbildung reagiert wird und Vorschläge zur Beschäftigung angenommen Der gesetzliche Mindestlohn wurde das erste Mal von werden . Das ist eine Frage der Gerechtigkeit gerade unserer Vorvorvorgängerpartei, der PDS, in den Deut- denjenigen Menschen gegenüber, die diesen Sozialstaat schen Bundestag eingebracht . durch ihre Erwerbstätigkeit erst ermöglichen . (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- [SPD]: Franz Müntefering!) ordneten der SPD) Als Zweite hat die Gewerkschaft NGG einen gesetzli- Beratungsangebote, Hilfen und Unterstützung können chen Mindestlohn gefordert . nur in wechselseitigen Beziehungen erfolgreich sein, Drittens . Ich erinnere mich an eine Parteiveranstaltung und die Mitarbeiter in den Jobcentern engagieren sich der SPD auf Bundesebene, auf der die heutige Bundes- großartig . Unsere Aufgabe in der Politik ist es, Rahmen- ministerin für Arbeit und Soziales als Juso-Vorsitzende bedingungen zu schaffen, damit erfolgreiche Arbeitsver- einen gesetzlichen Mindestlohn forderte . mittlung stattfinden kann. Wir sind dabei, Rechtsverein- fachungen und Änderungen im SGB II vorzunehmen . (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Den Grundsatz unserer Sozialgesetzbücher, die Mitwir- GRÜNEN]: Das kann doch nicht sein! Wir re- kungspflicht, werden wir nicht aufgeben. Von daher ist den über was anderes!) die Abschaffung von Sanktionen für uns kein Thema . Die flammende Gegenrede dazu stammte von Franz (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Müntefering . Daraufhin hat sich die SPD gegen einen ordneten der SPD) Mindestlohn ausgesprochen . (Katja Mast [SPD]: Wer hat es gemacht? Wir (B) (D) Vizepräsidentin Petra Pau: haben es gemacht!) Das Wort hat der Kollege Udo Schiefner für die Viertens . Es gab x-mal Antworten aus dem Bereich SPD-Fraktion . der Sozialdemokraten, dass ein gesetzlicher Mindestlohn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Unsinn sei und dass das nur die Tarifpartner klären könn- der CDU/CSU) ten . (Lachen bei der SPD) Udo Schiefner (SPD): Nur aufgrund des Druckes der PDS, der Linkspartei, der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen WASG und der Linken gibt es überhaupt in diesem Land und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe einen gesetzlichen Mindestlohn . Frau Kipping, ich muss hier einmal ganz deutlich sagen: Wer dem Mindestlohn nicht zustimmt, darf meiner Mei- (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der nung nach nicht mit Belehrungen oder Vorwürfen in die- SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Ei, ei, ei! – ser Debatte kommen . Und der SPD!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Als Letztes möchte ich Ihnen sagen: Die Linke hat Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesem Mindestlohn nicht zustimmen können, weil er NEN]: Oh nein!) mit 8,50 Euro viel zu niedrig ist . Ihr Beitrag zielte mehr auf Effekthascherei ab als auf eine (Beifall bei der LINKEN) sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema . Auch das Heute braucht man 11,68 Euro, um nach 45 Jahren harter muss man an dieser Stelle deutlich sagen . Arbeit eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu ha- ben . Ich möchte für meine Fraktion noch einmal betonen: Erstens . (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das macht die Debatte nicht Vizepräsidentin Petra Pau: wirklich besser!) Kollege Schiefner, gestatten Sie eine Frage oder Be- Wir Linken wollen einen Mindestlohn ohne alle Ausnah- merkung des Kollegen Birkwald? men . Bitte: Was sagen Sie dazu? (Günter Baumann [CDU/CSU]: Es wird nicht (Beifall bei der LINKEN – Katja Mast [SPD]: besser dadurch!) Wer hat ihn gemacht, den Mindestlohn?) 16600 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

(A) Udo Schiefner (SPD): Keine Erwartungen an die Menschen zu haben, ist kein (C) Lieber Kollege, was ich dazu sagen würde, wäre Zeichen von Respekt in diesem System, das wir für ab- wahrscheinlich ein den Nachmittag füllendes Programm . solut richtig halten . Aber eines möchte ich doch feststellen: Ich möchte hier (Beifall bei der SPD – Beate Müller-Gemmeke nicht die historische Debatte führen . [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss (Zurufe von der LINKEN) doch erst mal Strukturen schaffen, die das För- dern ermöglichen, bevor man fordert!) Letztlich ist entscheidend, was am Ende herauskam . Ich halte nochmals fest – das wurde auch schon deut- (Beifall bei der SPD) lich –: Aus Sicht der SPD gibt es Grundbedürfnisse, die Das sind dank der Sozialdemokratie 8,50 Euro . von Sanktionen ausgenommen bleiben müssen . Das sind das Wohnen, das Heizen, die medizinische Versorgung (Lebhafter Beifall bei der SPD) sowie ausreichendes Essen . Das versteht sich für Sozial- demokraten von selbst, meine Damen und Herren . Wäre man Ihrem Weg gefolgt, hätte man gar nichts . Ich sage ganz deutlich: 8,50 Euro sind in der Tat wirklich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – eine untere Grenze . Daran werden wir noch arbeiten . Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Und auch für Aber wir waren diejenigen, die den Mindestlohn letztlich Christdemokraten! – Heiterkeit bei der SPD) durchgesetzt haben . Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen . – Und auch für Christdemokraten, danke Herr Kollege Mattfeldt . (Lebhafter Beifall bei der SPD – Zurufe von der LINKEN) Auch wenn wir dem Anliegen der Petition nicht fol- gen, meine ich, dass wir schon stolz auf unser Petitions- Auch den zweiten Punkt dazu möchte ich ansprechen . recht sein können, darauf, dass wir diese Petition an so Dass Sie die NGG erwähnt haben, macht mich stolz als prominenter Stelle debattieren . NGG-Mitglied – damit Sie das auch einmal wissen . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Des- ordneten der SPD) halb habe ich es doch gesagt!) Denn es wird deutlich: Die Petition ging an den rich- Auch ich habe dort für den Mindestlohn gekämpft . tigen Adressaten, den Deutschen Bundestag, den Ge- (B) (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Aber setzgeber . In Petitionen geht es immer auch um die Ne- (D) lange vor der SPD!) benwirkungen von Gesetzen und Verordnungen . Darum haben wir den Handlungsbedarf bei der Überprüfung . – Das spielt doch keine Rolle . Am Ende haben wir den Aber es geht auch darum, dass Petitionen genau geprüft Mindestlohn . Wir haben ihn dank der SPD . und genau beurteilt werden, um letztlich eine Entschei- dung zu treffen . (Zurufe von der LINKEN) (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Da können Sie noch so laut dazwischenrufen . Ihre ge- NEN]: Und dann vom Tisch gewischt wer- schichtliche Abhandlung war sehr interessant, aber am den!) Ende ist entscheidend, was herauskommt, und das sind 8,50 Euro . Dies ist nur möglich durch das transparente Petitions- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE recht, das Artikel 17 Grundgesetz vorgibt . GRÜNEN]: Können wir mal über Sanktionen Sie haben eben selber den Prozess geschildert, der bei reden?) dieser Petition hinter uns liegt . Am 17 .März 2015 gab Meine Damen und Herren, um es deutlich zu ma- es eine öffentliche Anhörung . Die Petentin hatte Gele- chen – Kollege Paschke hat es auch schon auf den Punkt genheit, ihr Anliegen persönlich vorzutragen . Wir haben gebracht –: Ja, wir müssen die Praxis der Sanktionen diskutiert mit der Petentin und Vertretern der Bundesre- beim Arbeitslosengeld II prüfen . Werden die Regelungen gierung . Man kann nicht sagen, dass diese Petition nicht richtig angewandt? Werden sie auch richtig umgesetzt? ausführlich im Petitionsausschuss behandelt wurde . So viel zum Handlungsbedarf, den wir natürlich auch er- (Zuruf von der LINKEN: Das ist auch nicht kennen . Aber wir sagen ganz klar: Nein, wir können und das Problem! – Corinna Rüffer [BÜND- wollen Sanktionen nicht komplett abschaffen, denn sie NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hatten auch kei- gehören zum Prinzip des Förderns und Forderns . ne andere Wahl!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wer das sagt – das muss man ehrlich und offen deutlich Ich halte auch nichts davon, auf das Mitwirken der machen –, nimmt nicht wahr, dass wir ein ganz transpa- Menschen zu verzichten . rentes Verfahren hatten . Letztlich haben wir entschieden . (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Zuruf von der LINKEN: Entscheidend ist GRÜNEN]: Wann wird denn geprüft?) das Ergebnis!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16601

Udo Schiefner (A) Die Entscheidung, denke ich, muss man in dieser Form mich schon ein wenig zweifeln, ob Sie, die Linke, über- (C) respektieren . haupt daran interessiert sind – Kollege Schiefner hat es eben gesagt –, allen Petenten die gleiche Aufmerksam- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der keit zuzubilligen, oder ob Sie nur dort aktiv sind, wo es CDU/CSU – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ihnen politisch in den Kram passt . Das hat mit Demokratie zu tun! Das ist fremd für manche!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Widerspruch bei der LINKEN) Ich denke, wir sollten die Bürgerinnen und Bürger er- mutigen, von ihrem Petitionsrecht Gebrauch zu machen . Aus gutem Grund war und ist es gängige Praxis, die Denn nur so werden wir über die Nebenwirkungen von Sammelübersichten zu Petitionen nicht im Plenum des Gesetzen und Verordnungen informiert . Jeder hat das Bundestages, sondern im zuständigen Ausschuss zu be- Recht, seine Anliegen, seine Bedürfnisse, seine Anre- raten . Über jede einzelne Petition hier im Plenum zu de- gungen im Rahmen des Petitionsrechts einzufordern und battieren – das muss man einfach sagen –, wäre weder beim Petitionsausschuss einzureichen . Da ist nicht ent- inhaltlich noch organisatorisch noch zeitlich zu leisten . scheidend, wie viele Unterschriften oder Klicks im Inter- Dann müsste sich das Plenum des Bundestages nur noch net gesammelt wurden . mit Petitionen befassen . (Günter Baumann [CDU/CSU]: Richtig!) (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das wäre toll!) Es ist auch unwichtig, ob das Anliegen gelikt wurde . Jede Darum sind die Petitionen im Petitionsausschuss genau Petition – dies möchte ich noch einmal betonen – wird im richtig aufgehoben . Dort haben wir den Raum, um auf Petitionsausschuss dieses Hauses ernst genommen . sachlicher Ebene auf jede Petition einzugehen . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wie der Abg . Kersten Steinke [DIE LINKE]) ordneten der SPD) Das sollten Sie bitte schön nicht infrage stellen . Kommen wir einmal zu einem Beispiel in der Über- sicht . In der Petition 60 schreibt der Petent in der Begrün- Unsere Arbeit im Petitionsausschuss des Deutschen dung zur Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen, diese Bundestages unterscheidet sich deutlich von den soge- seien unverantwortlich gegenüber den Einzahlern . Wis- nannten Erregungsplattformen – so nenne ich es ein- sen Sie, als Familienvater, als Haushaltspolitiker, aber mal –, die sich in den Weiten des Internets tummeln . Das vor allem auch als jemand, der nicht sein ganzes Leben ist auch gut so . Es gibt viele private Plattformen, da steht im oder vom öffentlichen Dienst gelebt hat, interpretiere zwar auf der Packung Petition, es ist aber keine Petition ich es für die fleißigen Einzahler genauso, aber natürlich (B) drin . in eine andere Richtung . (D) (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Die NEN]: Was hat das mit der Petition von Frau Angestellten dort zahlen übrigens auch ein!) Hannemann zu tun?) Auch ich sage: Eine Abschaffung von Sanktionen ist un- Jetzt liest man in diesen Tagen auch noch, dass sie unter verantwortlich und setzt genau das falsche Signal . Des- dem Verdacht stehen, Nutzerdaten missbraucht zu haben; halb ist Ihre Forderung hier heute ganz deutlich abzu- das nur am Rande . lehnen . Vor diesem Hintergrund – die heutige Debatte beweist (Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Tosen- im Gegensatz dazu doch wieder einmal mehr den Wert der Beifall!) der echten Petition – kann ich Sie alle nur aufrufen, die Bürgerinnen und Bürger auf der Besuchertribüne, aber Eine Abschaffung der Sanktionen wäre unverantwortlich auch diejenigen, die dieser Debatte am Fernseher folgen: gegenüber denjenigen, die jeden Tag hart arbeiten, damit Nutzen Sie Ihr Petitionsrecht . Es lohnt sich . dieser Sozialstaat und damit auch die Hartz-IV-Leistun- gen finanziert werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ordneten der SPD – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Vizepräsidentin Petra Pau: Sie denn damit sagen?) Der Kollege Andreas Mattfeldt hat für die CDU/­CSU- Im Sinne des Forderns und des Förderns wollen wir Fraktion das Wort . Hartz-IV-Beziehern helfen, wieder eine Arbeit zu bekom- men . Die gute Lage am Arbeitsmarkt mit der geringsten (Beifall bei der CDU/CSU) Zahl an Arbeitslosen seit 25 Jahren und der höchsten Zahl der Beschäftigten – es sind fast 44 Millionen Men- Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): schen – und 640 000 offenen Stellen bietet hierzu eine Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten ausgesprochen gute Ausgangslage . Damen und Herren! Bevor ich nun auf den Sachverhalt (Günter Baumann [CDU/CSU]: Genau!) zur Abschaffung von Sanktionen für SGB-II-Empfänger eingehe, lassen Sie mich erst einmal ein wenig über die Dies war nicht immer so . Ich gebe ja zu, dass es 2005 Sinnhaftigkeit dieser heutigen Debatte sprechen . Sie lässt bei über 5 Millionen Arbeitslosen weitaus schwieriger 16602 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Andreas Mattfeldt (A) war, nach Verlust des Jobs wieder in der Arbeitswelt Fuß ich Mitglied im Club der deutlichen Aussprache bin; (C) zu fassen . daher müssen Sie das ertragen –: Ja, ich habe es in un- serem Unternehmen leider nicht nur einmal erlebt, dass (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE es eben auch Langzeitarbeitslose gibt, denen man eine GRÜNEN]: Was will er uns damit sagen?) echte Chance auf dem Arbeitsmarkt bzw . eine Chance, Heute sieht das zum Glück anders aus, dank kluger Poli- in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, geben möchte, die- tik und auch dank der Einführung der Hartz-IV-Gesetze, se aber häufig nicht einmal zum Vorstellungsgespräch die wir, die Union, immer mitgetragen haben . Sie von erscheinen oder schon nach ein oder zwei Tagen – bitte den Grünen haben sie übrigens mit eingeführt; davon verzeihen Sie meine Ausdrucksweise – einfach ab und an wollen Sie heute anscheinend nichts mehr wissen . keinen Bock mehr haben, zu arbeiten . (Dr .Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Man- (Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- che sind eben einsichtig! – Corinna Rüffer NEN]: Herr Mattfeldt, das sind ganz miese [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind ja Unterstellungen!) lernfähig! – Günter Baumann [CDU/CSU]: Das haben sie vergessen!) Natürlich – das weiß ich – ist das nicht die Mehrheit . Aber gerade für diese schwierigen Fälle brauchen wir Sankti- Heutzutage fällt es auch bei geringerer Qualifikation er- onen, übrigens auch – diese Menschen vergessen Sie in heblich leichter, einen Job zu finden, als 2005. Als Unter- Ihrer Argumentation immer –, um uns vor diejenigen zu nehmer in der Lebensmittelbranche weiß ich, wovon ich stellen, die ernsthaft daran interessiert sind, wieder einen hier spreche . Job zu finden. Das ist zum Glück die große Mehrheit. Meine Damen und Herren, der Steuerzahler inves- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tiert erheblich, um gerade von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Menschen mit Weiter- und Fortbildungs- maßnahmen zu helfen . Dies geschieht natürlich in der Vizepräsidentin Petra Pau: Erwartung, dass diese Maßnahmen dazu beitragen, dass Kollege Mattfeldt, gestatten Sie eine Frage oder Be- der von Arbeitslosigkeit Betroffene – man darf übrigens merkung der Kollegin Müller-Gemmeke? sagen: auch mit eigener Anstrengung – wieder einen Job findet. Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Ihr Vorschlag, keine Sanktionen auszusprechen, wenn Aber selbstverständlich . zum Beispiel vereinbarte Termine beim Jobcenter igno- riert, Weiterbildungsmaßnahmen grundlos abgebrochen Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) oder Vorstellungstermine nicht wahrgenommen werden, (D) NEN): würde bedeuten, dass wir die Hälfte des Prinzips „För- dern und Fordern“ einfach streichen . Das Fordern, das Vielen Dank, Frau Präsidentin .– Vielen Dank, dass zumindest bei den meisten Menschen auch notwendig ich eine Frage stellen darf . ist – das gilt übrigens auch für mich ganz persönlich –, Nachdem ich Ihrer Rede eine Weile zugehört habe, fände dann nicht mehr statt . Wenn Sie die Sanktionen ab- habe ich immer mehr den Eindruck, dass Sie indirekt, schaffen, fordern Sie die Menschen nicht mehr . Das be- zwischen den Zeilen, permanent den Eindruck erwecken deutet für mich, Sie geben diese Menschen de facto auf . wollen, als wenn die Sanktionen notwendig wären, weil (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das ist doch Langzeitarbeitslose in der Regel einfach nicht arbeiten Quatsch! Was für eine absurde Argumentati- wollen . on! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ (Günter Baumann [CDU/CSU]: Das hat er DIE GRÜNEN]: Ach was! – Corinna Rüffer überhaupt nicht gesagt! – Weitere Zurufe von [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch der CDU/CSU: Nein, das stimmt nicht! – Er absurd, Herr Mattfeldt!) hat doch gesagt, das ist die Ausnahme!) Wir von der Union geben keinen Menschen auf, auch und gerade, weil wir wissen, dass es Lebenssituationen gibt, – Das schwingt für mich die ganze Zeit mit . die nicht einfach sind . (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, weil (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Kipping Sie das gerne so hätten!) [DIE LINKE]: Das ist echte Argumentation!) Daher möchte ich nachfragen, ob das wirklich Ihre Hal- Meine Damen und Herren, ich kann und will den flei- tung und Ihre Meinung ist . ßigen Mitarbeitern in unserem Unternehmen nicht erklä- (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Nein!) ren, warum sie jeden Tag pünktlich zur Arbeit erscheinen müssen, während ein Hartz-IV-Empfänger, wenn es nach Zum Zweiten möchte ich fragen, ob Sie wirklich mei- Ihnen ginge, ohne jede Gegenleistung bedingungs- und nen, dass die Strukturen momentan so ausgestaltet sind, sanktionslos jeden Monat sein Geld bekommen soll . dass Langzeitarbeitslose tatsächlich passende Angebote, Chancen bekommen und dass ihnen Perspektiven eröff- (Dagmar Ziegler [SPD]: So ist es!) net werden . Denn trotz guter Konjunktur – Sie haben das Ich weiß, Sie wollen das nicht hören – einige, gera- ausgeführt – ist es definitiv so, dass sich die Langzeitar- de die Mitglieder des Petitionsausschusses, wissen, dass beitslosigkeit verfestigt hat . Da muss man sich die Struk- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16603

Beate Müller-Gemmeke (A) turen und die Mittel doch einmal anschauen und überle- Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) gen, wie so etwas passieren kann . NEN]: Er hat lang genug herumgeschwafelt! Er hat nicht geantwortet!) (Beifall der Abg . Corinna Rüffer [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN] und Katja Kipping Meine Damen und Herren, vielleicht sollten wir [DIE LINKE]) jetzt auch einmal die Fakten betrachten . Gerade bei den Ausführungen der Grünen und der Linken hat man den Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Eindruck, als würde in Deutschland permanent sanktio- Liebe Frau Müller-Gemmeke, vielleicht haben Sie niert werden . Das ist eben nicht Fall . Im Gegenteil: Wir nicht richtig zugehört . müssen uns manchmal fragen, ob wir hier nicht sogar zu großzügig sind . (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!) Sie wissen ganz genau, dass eben nicht immer beim ersten Versäumnis, sondern in fast allen Fällen erst nach Sie interpretieren meine Worte so, wie Sie es gerne hät- der dritten Ermahnung sanktioniert wird . ten . Die Lebenswirklichkeit sieht eben anders aus, als Sie sie darstellen . Gerade wir von der Union stellen sehr (Cajus Caesar [CDU/CSU]: Ja!) viel Geld für Weiterbildungsmaßnahmen bereit, um die Lediglich 3 Prozent der SGB‑II-Empfänger wurden 2015 Langzeitarbeitslosen, bei denen es manches Mal wirklich sanktioniert . Allein hieran sehen Sie, dass diese Motiva- Vermittlungshemmnisse gibt, so zu qualifizieren, dass sie tionshilfe sehr zurückhaltend eingesetzt wird . eine Arbeit bzw . eine Beschäftigung aufnehmen können . (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Dagmar Ziegler [SPD]) GRÜNEN]: Warum hat sich die Langzeitar- beitslosigkeit dann verfestigt?) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken und – das muss ich jetzt auch sagen – der Grünen, es bleibt wohl Frau Müller-Gemmeke, wir wissen aber, dass der dabei, dass wir von der Union uns um die Langzeitar- Mensch so ist, wie er ist . Der Mensch braucht das ein beitslosen, die enorme Anstrengungen unternehmen, um oder andere Mal – gerade wenn er seit vielen Jahren be- wieder einen Job zu finden, und um diejenigen kümmern, schäftigungslos ist – auch einen gewissen Druck, damit die diese sozialen Errungenschaften mit harter Arbeit fi- er Termine wahrnimmt, zu Vorstellungsgesprächen er- nanzieren, während Sie ausschließlich die Interessen der- scheint und diese Maßnahmen aufnimmt, und ich darf jenigen vertreten, die einfach keinerlei Anstrengungen Ihnen sagen: Wenn die Gesellschaft bereit ist, dem je- unternehmen wollen, um wieder einen Job zu bekommen . weiligen in Not befindlichen Menschen Mittel für einen (B) vorübergehenden Zeitraum zu geben, dann ist es doch (Widerspruch bei der LINKEN und dem (D) nun wirklich nicht zu viel verlangt, dass dieser Mensch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dann auch etwas zurückgibt . Deshalb sind die Vorschläge, Sanktionen abzuschaffen, (Beifall bei der CDU/CSU) abzulehnen . Wenn hier jemand etwas missverstehen will, dann ver- Danke schön . steht er das Prinzip „Leistung – Gegenleistung“ nicht . (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Kipping (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE [DIE LINKE]: Vielen Dank! Ihre Rede wer- GRÜNEN]: „Anreize“!) den wir weitertragen!) – Nun bin ich dran, Frau Müller-Gemmeke . Wir sollten hier kein Zwiegespräch führen . Ich glaube, das wäre Vizepräsidentin Petra Pau: nicht im Sinne des Plenums . Ich schließe die Aussprache . Frau Müller-Gemmeke, ich komme aus der Wirtschaft Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich Ihnen und weiß sehr wohl, dass es heute Stellen gibt, die eben zur Kenntnis: Mir liegen sieben persönliche schriftliche nicht für jeden Langzeitarbeitslosen geeignet sind . Wir Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor . können aber doch nicht die Augen davor verschließen, Entsprechend unseren Regeln nehmen wir sie zu Proto- dass wir in Deutschland 640 000 unbesetzte Stellen ha- koll 1). ben, und das sind nicht nur hochqualifizierte Stellen. Ich gebe das Wort an die Kollegin Kerstin Kassner (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE zu einer persönlichen Erklärung nach § 31 unserer Ge- GRÜNEN]: Also dann stimmt doch was mit schäftsordnung . den Strukturen nicht!) (Beifall bei der LINKEN) Diese Stellen können auch Langzeitarbeitslosen angebo- ten und von ihnen in Anspruch genommen werden . Kerstin Kassner (DIE LINKE): (Abg . Beate Müller-Gemmeke [BÜND- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen NIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt Platz – Cajus und Kollegen! Ich sage es vorweg: Ich werde dagegen- Caesar [CDU/CSU], an Abg . Beate Müller- stimmen, dass diese Petition damit erledigt ist . Ich wer- Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] ge- wandt: Aufstehen! – Gegenruf der Abg . Beate 1) 2 Anlage 16604 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Kerstin Kassner (A) de dafür stimmen, dass sie zur Berücksichtigung an die – Natürlich geht das . Ich erkläre, warum ich so stimmen (C) Bundesregierung, an das Bundesministerium für Arbeit werde . und Soziales, überwiesen wird, (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder Die Sanktionen werden die Situation nicht ändern . Es [CDU/CSU]: Das wird nicht ganz reichen!) wird weiter viele Langzeitarbeitslose geben . Die Bedin- weil ich denke, dass hier noch viel getan werden muss . gungen, unter denen die Menschen zu leben haben, wer- den dadurch schwieriger . Gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung kann ich das mit ein paar Worten begründen: (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Frau Präsi- dentin!) Ich bin 2013 sehr bewusst in den Petitionsausschuss gegangen . Ich denke, eine Politik macht nur Sinn, wenn wir sie ganz nah an den Sorgen, Problemen und Hinwei- Vizepräsidentin Petra Pau: sen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ausrich- Und deshalb? ten . Die Petitionen, die auf unseren Tisch kommen, sind wirklich ein Seismograf für das, was die Menschen emp- Kerstin Kassner (DIE LINKE): finden. Ich möchte, dass die Petition an die Bundesregierung (Beifall bei der LINKEN) überwiesen wird . Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Ich spre- (Christel Voßbeck-Kayser [CDU/CSU]: Das che keiner meiner Kolleginnen und keinem meiner Kol- ist eine Rede! Schon seit drei Minuten!) legen im Petitionsausschuss – das gilt für alle, die dort Ich sage noch einmal ganz deutlich, dass die Bundesre- sind – ihren Arbeitswillen, ein wirkliches Herangehen gierung mit dieser Petition nicht unbedingt gezwungen und echtes Abarbeiten und ihr Kümmern ab, wenn es um ist, den Ansatz vollständig umzusetzen . die Anliegen der Petenten geht . (Günter Baumann [CDU/CSU]: Das ist länger (Katja Kipping [DIE LINKE]: Alle!) als die normale Redezeit! – Christel Voßbeck- – Alle, die dort sind . Kayser [CDU/CSU]: Das ist gegen die Ge- schäftsordnung!) Allerdings muss ich eins sagen: Es gibt Unterschiede . An dieser Petition wird der Unterschied sehr deutlich . Vielmehr muss sie sich mit dem berechtigten Anliegen Immer dann, wenn man sich von seinen Überzeugungen, auseinandersetzen . (B) seinen Erfahrungen verabschiedet und sich zum verlän- (Beifall bei der LINKEN) (D) gerten Arm der Bundesregierung macht, dann wird zwei- felhaft, ob es wirklich die Aufgabe eines Parlamentes ist, Ich finde, das ist das, was wir von der Regierung verlan- so zu handeln . gen müssen . (Günter Baumann [CDU/CSU]: Nur eine (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben wir Begründung, keine Rede!) alles getan! – Christel Voßbeck-Kayser [CDU/ CSU]: Hier wird das Plenum missbraucht!) Es ist unser Anspruch als Mitglied dieses Bundestages, die Sorgen, Probleme und Nöte der Menschen in unserem Deshalb – das sage ich ganz deutlich – habe ich den An- Land tatsächlich aufzunehmen, uns darum zu kümmern trag gestellt, dass wir der Bundesregierung diese Petition und ihre Forderungen in Gesetze zu gießen . Das müssen überweisen, wir unserem Gewissen und unseren Wählern gegenüber (Dagmar Ziegler [SPD]: Das haben Sie schon verantworten. Diese Pflicht haben wir. dreimal gesagt!) Der Umgang mit dieser Petition macht mich wirklich damit sie in der Lage ist, sich mit diesem, wie ich finde, wütend . Mehr als 90 000 Unterstützer für eine Petition berechtigten Anliegen auseinanderzusetzen . haben wir in unserem Petitionsausschuss nicht oft . (Zurufe von der CDU/CSU: Frau Präsiden- (Günter Baumann [CDU/CSU]: Erklärung tin!) zur Abstimmung!) Es ist wirklich sehr deutlich zum Ausdruck gebracht wor- Vizepräsidentin Petra Pau: den, welche Sorgen die Menschen haben und wie wenig Deshalb stimmen Sie wie ab? die Sanktionen an den Bedingungen für die Menschen tatsächlich ändern . Kerstin Kassner (DIE LINKE): (Max Straubinger [CDU/CSU]: Frau Präsi- Ich sage es ganz deutlich: dentin, das ist keine Erklärung zur Abstim- (Dr . [CDU/CSU]: Jetzt ist mung! – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das Schluss!) Thema hatten wir gestern schon mal! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist extra Redezeit, Wir haben hier im Plenum immer das letzte Wort zu allen Frau Pau! – Günter Baumann [CDU/CSU]: Petitionen . Meist wird die Abstimmung in einem forma- Das geht nicht!) lisierten Verfahren durchgeführt . Aber angesichts dieser Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16605

Kerstin Kassner (A) Petition mit 90 000 Unterstützern ist es an dieser Stelle Ansonsten: Zumindest ich persönlich habe gehört, wie (C) wichtig, dass wir alle uns dazu positionieren . die Kollegin abstimmen will . Alles andere werden wir dann an anderer Stelle klären . (Christel Voßbeck-Kayser [CDU/CSU]: Eine Erklärung kann nicht fünf Minuten dauern!) Wir kommen zur Abstimmung über die Sammel- übersicht 289 . Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Sie haben jetzt die Möglichkeit, Ihre Haltung zu dieser Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8236 vor . Über Petition zu ändern . Deshalb möchte ich an Sie alle appel- diesen stimmen wir zuerst ab . Wer stimmt für diesen lieren, sich an die Erkenntnisse aus den Anhörungen zu Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält erinnern, sich? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der (Günter Baumann [CDU/CSU]: Unvorstell- CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die bar!) Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen abgelehnt . dass nämlich die Sanktionen gerade für junge Menschen wirklich kontraproduktiv sind . Damit kommen wir zur Abstimmung über die Sam- melübersicht 289 auf Drucksache 18/8092 . Wer stimmt (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ganz im Ge- für die Sammelübersicht? – Wer stimmt dagegen? – Wer genteil!) enthält sich? – Die Sammelübersicht 289 ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion Daher sollten Sie sich noch einmal überlegen, an diesem gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak- Gesetz tatsächlich Änderungen vorzunehmen, die diesen tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen . Forderungen Genüge tun . Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: (Beifall bei der LINKEN) Erste Beratung des von der Bundesregierung Ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie mir zugehört eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- haben . derung der Vorschriften zur Vergabe von We- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Nein!) genutzungsrechten zur leitungsgebundenen Energieversorgung Ich denke, es ist ein sehr wichtiges Anliegen Drucksache 18/8184 (Günter Baumann [CDU/CSU]: Es geht noch Überweisungsvorschlag: weiter!) Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Innenausschuss (B) und eine sehr gute Möglichkeit, sich mit dem, was Men- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (D) schen bewegt, auseinanderzusetzen . Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ Vielen Dank . sicherheit (Beifall bei der LINKEN) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- Vizepräsidentin Petra Pau: nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . Damit alle wissen, auf welcher Geschäftsgrundlage Sobald die notwendigen Umgruppierungen in den wir verhandeln: Nach § 31 unserer Geschäftsordnung ist Fraktionen abgeschlossen sind, können wir fortfahren . es möglich, am Ende der Aussprache vor der abschlie- ßenden Abstimmung eine mündliche Erklärung, die nicht Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege länger als fünf Minuten dauern darf, Johann Saathoff für die SPD-Fraktion . (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Zum Abstim- (Beifall bei der SPD) mungsverhalten!) Johann Saathoff (SPD): oder eine kurze schriftliche Erklärung abzugeben . Genau das ist hier geschehen . Die fünf Minuten waren nicht aus- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen geschöpft . und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Proo- ten is een Saak, man Doen is een Ding“ hätte ich jetzt (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Zur gesagt, wenn ich meine Muttersprache benutzt hätte . Abstimmung!) Das kann man wörtlich fast nicht übersetzen . Man kann es aber sinnbildlich mit den Worten „Reden ist Silber, – Eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten . – Das dis- und Handeln ist Gold“ übersetzen . Und handeln wollen kutieren wir nicht hier im Plenum . wir jetzt . Wir sind in der ersten Lesung zur Reform des (Beifall bei der LINKEN) § 46 EnWG . Und es ist gut, dass wir in der ersten Lesung dazu sind . Wenn es Beschwernisse gibt, haben wir verabredet, diese an einem anderen Ort zu behandeln, so wie das auch ges- Am 3 . Februar hat es einen Kabinettsbeschluss dazu tern geschehen ist . gegeben . Ich denke, wir können an dieser Stelle schon zu Beginn der parlamentarischen Verhandlungen miteinan- (Dagmar Ziegler [SPD]: Genau! Das kommt!) der konstatieren, dass dieser Gesetzentwurf ein Entwurf 16606 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Johann Saathoff (A) ist, der den Kommunen entgegenkommt und ihnen auch geht es darum, dass die Kriterien aus § 1 EnWG gleich (C) hilft . häufig genannt werden und mit gleichem Gewicht gelten. Worum geht es in diesem Gesetzentwurf? Es geht um (Beifall bei der SPD) die Vergabe von Konzessionen, also um die Betriebser- laubnis von Strom- und Gasnetzen . Und diese Betriebser- Ich freue mich über konstruktive Beratungen mitei- laubnis ist verfassungsgemäß den Gemeinden – ich beto- nander. Aber ich finde, dass wir auch zügig beraten soll- ne das ausdrücklich – und nicht nur den Kommunen – das ten . Denn wir brauchen jetzt endlich nach langer Zeit ist ein Unterschied – überlassen . Rechtssicherheit für die Kommunen . Wichtig ist aus meiner Sicht, dass es mit diesem Ge- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- setzentwurf erstmalig auch einen richtig fairen Interes- NEN]: Zweieinhalb Jahre habt ihr gebraucht!) senausgleich zwischen Alt- und Neukonzessionären gibt Ich habe anfangs gesagt: Reden ist Silber, Handeln ist und dass die Gemeinden in der Rechtssicherheit massiv Gold .– Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gestärkt werden . den Kommunen beweisen, dass wir das ernst meinen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und lassen Sie uns dafür sorgen, dass dieser Gesetzent- wurf zügig Recht und Gesetz wird . Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht in diesem Gesetzentwurf um den Kaufpreis für die Netze . Lange Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . Zeit war unklar, wie hoch der Kaufpreis tatsächlich sein würde . Jetzt ist der objektive Ertragswert festgelegt wor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den . Das ist gut so, und das erzeugt ein ganzes Stück der CDU/CSU) Rechtssicherheit und Klarheit für die Kommunen . Es geht darum, dass man, wenn man die Vergabe der Netze Vizepräsidentin Petra Pau: abgewickelt hat, nicht noch jahrelang in Rechtsunsicher- Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für heiten sein muss, sondern dass die Rückobliegenheiten die Fraktion Die Linke . des Altkonzessionärs begrenzt werden . Die Verfahren werden deutlich kürzer . Das begrüßen wir ausdrücklich . (Beifall bei der LINKEN) Wir hätten gerne noch zusätzlich aufgenommen, dass der Streitwert tatsächlich in der Höhe auf 100 000 Euro Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): begrenzt wird, sodass es auch in dieser Beziehung kein Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damoklesschwert für die Gemeinden gibt . Ja, lange hat es gedauert . Es gab ja, wie ich denke, eine (B) Verschleppung dieses wichtigen Themas der Vergabe (D) Wir begrüßen ausdrücklich, dass es einen Auskunfts- der Verteilnetze bei Strom und Gas . Wir als Linke haben anspruch der Gemeinden gibt . Das heißt, die Gemeinden dazu schon vor langer Zeit einen Antrag eingebracht . können künftig entscheiden, in welchem Verfahren sie mitbieten wollen . Früher mussten sie raten . Bereits der Koalitionsvertrag enthält das Versprechen, Ausdrücklich zu begrüßen ist auch, dass im Gesetz- bei Neuvergabe der Verteilnetze die Rechtssicherheit zu entwurf festgelegt ist, dass die Pflicht zur Fortzahlung verbessern; denn die Regelung im Energiewirtschafts- der Konzessionsabgabe über das eine Jahr hinaus – so gesetz hierzu ist mehrdeutig und liefert die Kommunen war es bisher geregelt – unbegrenzt weiterbesteht, sodass einem großen Prozessrisiko aus; Sie haben es kurz ange- niemand in zeitliche Not gerät und aus dieser zeitlichen sprochen, Kollege Saathoff . Not heraus vielleicht eine Entscheidung treffen muss, die Viele Vergaben sind jetzt leider schon gelaufen – auch er später einmal bereut . so kann man Probleme lösen – und oft zuungunsten der Es gibt aber auch Diskussionsbedarf, insbesondere bei Kommunen entschieden worden . Es ist ja ein offenes den Kriterien . Ich will aber von vornherein sagen, dass Geheimnis, dass bei diesem Thema die CDU ein Pro- mir als ehemaliger Bürgermeister – man könnte auch sa- blem mit ihren eigenen Bürgermeistern hat, allen voran gen: Altbürgermeister – ganz wichtig ist, dass die Ange- dem CDU-Bürgermeister von Titisee-Neustadt, Armin legenheiten der örtlichen Gemeinschaft künftig Berück- ­Hinterseh, der derzeit vor dem Bundesverfassungsge- sichtigung finden können. Das ist ganz, ganz wichtig; richt klagt . Ich wünsche ihm alles Gute und viel Erfolg . denn die Bedingungen sind nicht überall in Deutschland (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- gleich . Diese Berücksichtigung der Angelegenheiten der neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) örtlichen Gemeinschaft war für die Gemeinden ein ganz wichtiges Thema, und diese wird stattfinden. Er will es sich einfach nicht gefallen lassen, dass seine Kommune das Verteilnetz nicht an sich selbst vergeben Ich glaube, dass wir keinen Bedarf haben, noch einmal darf . CDU-Kollege Bareiß aus dem benachbarten Wahl- besondere Kriterien herauszustellen . Ich habe ein biss- kreis – er wohnt nämlich sozusagen direkt nebenan – hat chen Sorge, dass, wenn wir in § 46 EnWG die Kriterien ganz deutlich gesagt, dass für ihn nicht die kommuna- Versorgungssicherheit und Kosteneffizienz noch einmal len Interessen im Mittelpunkt stehen, sondern angeblich extra aufführen, obwohl sie in § 1 des EnWG schon die Kunden . Hört! Hört! Ich sehe da aber keinen Wider- enthalten sind, der eine oder andere Jurist auf die Idee spruch, kommen könnte, dass diese Kriterien wichtiger seien als andere Kriterien, weil sie zweimal genannt werden . Mir (Johann Saathoff [SPD]: Ich auch nicht!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16607

Eva Bulling-Schröter (A) sondern eher besondere Interessen gewisser Herren und Sachen – so wie das im hessischen Wolfhagen . Dort hat (C) ein Misstrauen gegenüber den Kommunen. Das finde ich man sogar einen Teil des Stadtwerks in eine Bürgerener- schade, denn – das kann ich nur noch einmal sagen – hier giegenossenschaft ausgelagert, die wiederum Anteile am werden die Interessen der Kommunen ignoriert . Wir hal- Stadtwerk besitzt . Das ist eine Form von Bürgerbeteili- ten das für falsch und für ignorant . gung, und Bürgerbeteiligung wollen viele Menschen . Es gibt eine ganze Reihe von Politikern, die in ihren Wahl- (Beifall bei der LINKEN) kreisen ständig über Bürgerbeteiligung reden . Wenn es Auch die Chefin des baden-württembergischen Städ- aber in Berlin wirklich ernst wird, dann stimmen sie tetags und Mitglied des Bundesvorstands der CDU – sie dagegen . Ich sage: Wir brauchen eine solche Bürgerbe- ist also nicht irgendjemand – kritisiert ganz massiv Ihr teiligung . Auch im Sinne der Klimabeschlüsse sind Bür- Vorgehen . Wir kritisieren das auch . Deswegen haben wir gerenergie und örtliche Netze eine ganz wichtige Sache . im Bundestag Anträge dazu eingebracht und das The- Das vorliegende Gesetz verhindert leider die Vergabe an ma immer wieder angesprochen . Wir lehnen es ab, dass die Kommunen . Deshalb sagen wir Nein . Kommunen heute gezwungen sind, die Konzession ihres (Beifall bei der LINKEN) Verteilnetzes ohne Berücksichtigung kommunaler Be- lange auszuschreiben und zu vergeben . Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der LINKEN) Der Kollege Ingbert Liebing hat für die CDU/ Seitdem sind ja bereits etliche Konzessionen neu ver- CSU-Fraktion das Wort . geben worden – auf einer gesetzlichen Grundlage, die (Beifall bei der CDU/CSU) überaus unklar und schwierig ist . Der Regelungsbedarf an dieser Stelle ist himmelschreiend . Aber Sie sitzen das Thema aus . Ich halte das für peinlich und schlimm; das Ingbert Liebing (CDU/CSU): zeigt nur, dass Sie von der CDU/CSU gerade nicht an der Vielen Dank, Frau Präsidentin .– Liebe Kolleginnen Seite der Kommunen stehen . und Kollegen! Auf den ersten Blick mag es so anmuten, dass wir nur über einen einzelnen Paragrafen des Ener- (Beifall bei der LINKEN – Ingbert Liebing giewirtschaftsgesetzes sprechen, eine Kleinigkeit . Aber [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!) es ist ein Paragraf mit großer Bedeutung für die Energie- Bürgerenergie, regionale Wertschöpfung, Ökostadt- wirtschaft, für die Verteilnetzbetreiber und eben auch für werke, Stärkung der Kommunen, Regionalisierung der die Kommunen als Konzessionär, die die Konzessionen Energieversorgung – all das ist für Sie von der Union für die Leitungsnetze vergeben . Hier hat es in der Ver- (B) anscheinend kein Thema . Denn der Besitz des Verteilnet- gangenheit große Rechtsunsicherheiten gegeben . Es gab (D) zes ist eine wichtige Voraussetzung für Kommunen, die viele Prozesse, die die Vergabe der Konzessionen in die eine eigenständige Energieversorgung, zum Beispiel ein Länge gezogen und für Unsicherheit gesorgt haben, so- Ökostadtwerk, entwickeln wollen . Aber diese Entwick- dass Investitionen in das Netz auf der Strecke geblieben lung wollen Sie offensichtlich nicht . Das sehen wir auch sind . Dieser Zustand ist unbefriedigend gewesen . Wir am EEG-Entwurf, mit dem Sie die dezentrale Energie- wollen das nun mit dem vorliegenden Gesetz ändern . wende torpedieren und durch Ausschreibungspflicht zen- Der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung nun vor- tralistische Tendenzen unterstützen . Zwischen 2007 und legt und den wir als Koalition durch die parlamentari- 2014 sind 85 Prozent der rund 1 400 Verteilnetze an den schen Beratungen bringen wollen, ist gut . Aber selbstver- alten Konzessionär vergeben worden . Hier sind Chancen ständlich gilt: Auch ein guter Gesetzentwurf kann noch für eine dezentrale Energiewende vertan worden, weil in verbessert werden . Kollege Saathoff hat schon auf einige Berlin nicht gehandelt wurde – vertan für weitere 20 Jah- Diskussionspunkte hingewiesen, mit denen wir uns in re! Man muss wissen: Die Konzessionen laufen 20 Jahre . den parlamentarischen Ausschussberatungen noch befas- Vorher kann man sie nicht kündigen . sen werden . Aber ich bin sicher: Wir sind mit diesem Ge- In dem Gesetzentwurf sprechen Sie sich ausdrück- setzentwurf schon auf einem guten Weg, liebe Freunde . lich gegen Inhousevergaben aus, wofür wir, Die Linke, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) uns entschieden einsetzen . Wir sind dafür von Ihnen von der Union ja immer gegeißelt worden – mit dem Unser oberstes Ziel bei diesem Gesetz ist, mehr alten Vorwurf, wir wollten Staatswirtschaft und lehnten Rechtssicherheit zu schaffen . Es geht eben nicht um Wettbewerb ab . Wir sagen: Das ist Unsinn und blanker die Punkte, die Sie in den Vordergrund gestellt haben, Hohn gegenüber den Kommunen . Inhousevergaben gibt Frau Bulling-Schröter, es geht nicht um Schlagworte wie es in den Niederlanden, und zwar sehr erfolgreich; sie Rekommunalisierung . Aber wenn wir Rechtssicherheit sind vollständig durch das Europarecht gedeckt . Ja, und durch entsprechende Regelungen schaffen, handeln wir dort – jetzt erschrecken Sie vielleicht – gibt es sogar ein auch im Interesse der Kommunen . Hier mehr Rechtssi- Privatisierungsverbot für Verteilnetze, das 2013 als euro- cherheit zu schaffen, dient doch allen Beteiligten . Das parechtskonform vom Europäischen Gerichtshof bestä- gilt für die Alt- und Neukonzessionäre genauso wie für tigt wurde . die Kommunen, die das Konzessionsverfahren zu regeln (Beifall bei der LINKEN) haben . Deswegen leistet mehr Rechtssicherheit auch ei- nen Beitrag zur Stärkung der kommunalen Selbstverwal- Wir, die Linke, finden innovative Ökostadtwerke gut – tung vor Ort und hilft den Kommunen, die schwierigen dafür gibt es viele Beispiele; da gibt es wirklich tolle Rechtssituationen und Rechtsstreitigkeiten der Vergan- 16608 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Ingbert Liebing (A) genheit zu überwinden . Auch das dient den Kommunen, Das gilt auch für die Vorschrift, dass die Konzessions- (C) meine Damen und Herren . abgabe zwingend fortzuzahlen ist, sodass ein Klageweg nicht davon befreit, die Konzessionsabgabe zu leisten . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch dies liegt im Interesse der Kommunen und schafft Wir reden hier über die Verteilnetze . Gerade die Ver- ebenfalls Rechtssicherheit . teilnetze sind wichtig für den Erfolg der Energiewende; denn über 90 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Ener- Der letzte und fünfte Punkt ist für mich auch im Inte- gien wird in die Verteilnetze eingespeist . Deswegen brau- resse der Kommunen sehr wichtig, weil wir neben den chen wir auch Investitionen in die Verteilnetze . Investiti- Kriterien, die § 1 Energiewirtschaftsgesetz als Vergabe- onen erreichen wir nur dann, wenn wir Rechtssicherheit kriterien aufgibt, auch festlegen, dass örtliche Belange haben . Auch das ist ein wichtiges Argument dafür, dass ein Kriterium sein können . Damit bekommen die Kom- wir mehr für Rechtssicherheit tun . munen mehr Gestaltungsmöglichkeiten in die Hand . Das ist gut, das stärkt die Kommunen, und es zeigt, dass das, Dabei bekennen wir uns zum Wettbewerb, Frau was Sie hier beschrieben haben, es sei ein Gesetzentwurf Bulling-Schröter . Da sind wir in der Tat inhaltlich ande- gegen die Interessen der Kommunen, mit der Wirklich- rer Auffassung . Es geht nicht um Inhousevergabe, son- keit des Gesetzestexts nichts, aber auch gar nichts zu tun dern wir wollen den Wettbewerb . Aber wir wollen ihn hat . Wir geben hiermit den Kommunen mehr Möglich- rechtssicher gestalten . Das ist im Übrigen auch in der Fa- keiten in die Hand, ihre örtlichen Belange mit einzube- milie der kommunalen Unternehmen unstrittig . Ich darf ziehen . aus einer Stellungnahme des Verbandes kommunaler Un- ternehmen zitieren, in der es ausdrücklich heißt: (Beifall bei der CDU/CSU) Der Wettbewerb um Strom- und Gasnetzkonzessi- onen, der seit den 90er‑Jahren im EnWG verankert Vizepräsidentin Petra Pau: ist, hat sich in den letzten Jahren als wichtiges Ele- Kollege Liebing, gestatten Sie eine Bemerkung oder ment der Förderung des Wettbewerbs auf den Ener- Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter? giemärkten … etabliert . Als „wichtiges Element“ – das ist eine positive Würdi- Ingbert Liebing (CDU/CSU): gung des Wettbewerbs . Daran halten wir fest . Ja . (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Lesen Sie mal weiter! Danach kommt Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): die Inhousevergabe!) (B) Danke schön, Kollege Liebing .– Ich habe hier die (D) Dem widerspricht eine Inhousevergabe . Wir setzen auf Zeitung Kontext:Wochenzeitung, bestimmt kein linkes den Wettbewerb . Propagandablatt . In einem Artikel geht es genau um die- se Kommunalverfassungsbeschwerde, die der Bürger- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- meister von Titisee – Sie kennen den Fall sicher – ein- NEN]: Lesen Sie weiter, was im Text noch gereicht hat . Zu dem grundgesetzlich verbrieften Recht kommt!) auf Selbstbestimmung, um das es vor dem Verfassungs- Wettbewerb braucht aber rechtssichere Spielregeln, und gericht geht, schreibt diese Zeitung: die schaffen wir mit diesem Gesetzentwurf . Es sind fünf Aspekte, die ich aus meiner Sicht kurz skizzieren und be- … „weil das Thema fast alle Städte und Gemeinden gründen möchte . betrifft“, so das geschäftsführende Vorstandsmit- glied Gudrun Heute-Bluhm auf Kontext-Anfrage . Das wichtigste Anliegen ist, dass wir beim Netzkauf- Die ehemalige Oberbürgermeisterin von Lörrach preis Klarheit schaffen . Auch Kollege Saathoff hat schon positiv gewürdigt, dass mit dem Vorschlag des objek- – sie ist Mitglied des Präsidiums des CDU-Vorstandes, tivierten Ertragswerts der Streit beendet wird, ob nun also nicht irgendjemand – das Ertragswertverfahren oder das Sachwertverfahren führt die Kritik an der herrschenden Rechtsprechung gewählt wird . Dieser Streit kann nicht mehr vor Gericht weiter aus: „Es ist für uns nicht nachvollziehbar, ausgetragen werden . Wir schaffen hier Klarheit . weshalb es der Kommune nicht möglich sein soll, Wir schaffen Klarheit für die Kommunen, welche parallel in einem Verfahren nach einem Konzessio- Auskunftsrechte sie bekommen . Denn wie sollen Kom- när oder nach einem Kooperationspartner zu suchen munen vernünftig ausschreiben, wenn sie nicht über alle und die jeweiligen Angebote gegeneinander abzu- Informationen vom Altkonzessionär verfügen, die sie wägen “. Stattdessen seien die Kommunen heute brauchen? Auch das regeln wir . gezwungen, die Konzession ohne Berücksichtigung kommunaler Belange auszuschreiben und zu verge- Die zeitlich gestaffelte Rügeobliegenheit ist wichtig; ben . Erst dann dürfe sich die Kommune überlegen, denn es kann nicht sein, dass zwei Jahre nach Abschluss ob sie sich eine Kooperation mit dem Neu-Konzes- eines Verfahrens noch der Rechtsweg beschritten werden sionär vorstellen könne . kann . Wir setzen eine enge Frist von wenigen Wochen, innerhalb der eine Vergabe gerügt werden kann . Danach Das ist doch eine deutliche Kritik von Vertretern Ihrer gilt eine Entscheidung . Auch das schafft Rechtssicher- Partei . Dabei geht es doch um genau das, was ich ange- heit . sprochen habe . Dennoch sagen Sie, dergleichen gebe es Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16609

Eva Bulling-Schröter (A) überhaupt nicht . Das ist ein Widerspruch . Ich verstehe machbar . Sie würde das Verfahren vereinfachen; da- (C) Sie jetzt gar nicht . mit würde das klar und deutlich geregelt . Wir haben in Deutschland 900 Verteilnetzbetreiber, die überwiegend Ingbert Liebing (CDU/CSU): in kommunaler Hand sind . Diese beweisen jeden Tag, Frau Kollegin Bulling-Schröter, Sie haben doch vor- dass die Kommunen gut und vernünftig Netze betreiben gelesen, was Frau Gudrun Heute-Bluhm, die ich gut können . Warum soll man angesichts dessen keine In- kenne und sehr schätze, gesagt hat . Sie hat den jetzigen housevergabe möglich machen? Das verstehe ich nicht . Zustand kritisiert . Das, was sie kritisiert hat, wollen wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern . und bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sie sagen nun, Sie wollen mehr Rechtssicherheit für ordneten der SPD) den Fall schaffen – das steht in Ihrem Koalitionsver- Wir tragen der Kritik doch Rechnung . Frau Heute-Bluhm trag –, dass der Konzessionär gewechselt werden soll . hat den aktuellen Zustand kritisiert . Es geht darum, dass Das ist bitter nötig; das ist vollkommen klar . Man muss wir die Verhältnisse, die wir heute haben, mit der Ver- an dieser Stelle aber vielleicht auch ein Wort darüber ver- abschiedung unseres Gesetzentwurfs ändern . Damit wird lieren, wer eigentlich dafür verantwortlich ist, dass wir auch dem Anliegen von Frau Heute-Bluhm Rechnung diese Rechtsunsicherheit haben . Verantwortlich dafür ist getragen . Schwarz-Gelb . Ich glaube, Herr Pfeiffer, Herr Liebing, auch Sie waren schon dabei, als Schwarz-Gelb 2010 Ich bin überzeugt: Wir sind mit diesem Gesetzent- genau diesen § 46 des Energiewirtschaftsgesetzes, von wurf zum Leitungsrecht bei der Erreichung des Ziels ei- dem die heutige Rechtsunsicherheit ausgeht, geschaffen ner rechtssicheren Konzessionsvergabe auf einem guten hat . Die Union ist dafür verantwortlich; sie hat das Gan- Weg . Wir werden sehen, ob wir noch bessere, rechtssi- ze sehenden Auges herbeigeführt . Ich kann mich gut an chere Formulierungen finden. Sie sind immer das Ergeb- Sachverständigenanhörungen erinnern, in denen all das nis intensiver Beratungen im Ausschuss . Ich bin sicher: beschrieben worden ist, was Sie jetzt hier beklagt haben . Am Ende werden wir zu einem guten Ergebnis kommen . Dass wir dieses Problem haben, liegt in der Verantwor- Vielen Dank . tung der vorigen Bundesregierung, in der die Union nun einmal die zentrale Verantwortung trug . Das zu sagen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gehört an dieser Stelle auch dazu, meine Damen und Her- ren .

Vizepräsidentin Petra Pau: Jetzt einmal ganz offen gesprochen: Zweieinhalb Jah- (B) Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die Frak- re ist Ihre Koalition alt . Nun endlich bekommen wir die- (D) tion Bündnis 90/Die Grünen . sen Gesetzentwurf vorgelegt . Ich meine, er ist ein wich- tiger Schritt; er ist aber kein epochales Werk . Am Ende Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geht es eigentlich nur um zwei Paragrafen . Durch die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! von Ihnen angestrebte Problemlösung verbessern Sie in Um es vorab noch einmal klar zu sagen: Der Betrieb von der Tat ein paar Dinge; das muss man Ihnen zugestehen . Strom- und Gasverteilnetzen ist Teil kommunaler Da- Endlich wird es, wie Sie ja schon sagten, eine Regelung seinsvorsorge . hinsichtlich des Kaufpreises geben . Hier den Ertragswert zugrunde zu legen, das ist richtig . (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ge- nau!) Aber die eigentliche Problematik, auf deren Basis die Konzessionsverträge angegriffen werden – ich meine die Für uns ist klar: Die Kommunen und niemand anders sol- Bezugnahme auf § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes und len entscheiden, wer die Netze betreibt . die unbestimmten Rechtsbegriffe – und die die Vielzahl (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ge- sich widersprechender Gerichtsurteile auslöst, lösen Sie nau! – Johann Saathoff [SPD]: Tun sie auch!) überhaupt nicht . Das alles lassen Sie so, wie es ist . Sie machen es sogar noch komplizierter . Sie führen weite- Das einmal vorausgeschickt . re Begriffe ein wie „netzwirtschaftliche Anforderungen“ Ich habe, ehrlich gesagt, überhaupt kein Verständnis oder „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ – dafür, dass Sie in § 46 dieser Novelle zum Energiewirt- ich habe nichts gegen die Berücksichtigung von Ange- schaftsgesetz, die ja in einem SPD‑geführten Ministe- legenheiten der örtlichen Gemeinschaft –, die zu Rechts- rium ausgearbeitet worden ist, nicht verankern, dass es unsicherheit führen werden . Das wird wieder juristische eine Inhousevergabe an eine Kommune geben kann . In Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen allen anderen Bereichen und auch im europäischen Aus- Wettbewerbern um das Netz nach sich ziehen . land ist das üblich . Warum nicht hier? Das entzieht sich Insofern löst dieser Gesetzentwurf nicht die eigentli- meiner Kenntnis . Das ist der erste große politische Man- che Problematik . Das können Sie auch in den zahlreichen gel dieses Gesetzentwurfes . Stellungnahmen nachlesen, die Sie ebenso wie ich be- Der Kollege Liebing hat bei der Wiedergabe der Stel- kommen haben . Ihr Gesetzentwurf wird an dieser Stelle lungnahme natürlich genau an der Stelle aufgehört, vor- den Anforderungen an mehr Rechtssicherheit nicht ge- zulesen, an der der VKU die Möglichkeit zur Inhousever- recht . Er ist am Ende weiterhin, wenn § 46 so bleibt, wie gabe fordert . Eine solche Vergabe wäre unbürokratisch von Ihnen jetzt geplant, ein Beschäftigungsprogramm für 16610 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Oliver Krischer (A) Anwälte und Gerichte . Das haben Kommunen und Netz- Uwe Beckmeyer, Parl . Staatssekretär beim Bundes- (C) betreiber an dieser Stelle nicht verdient . minister für Wirtschaft und Energie: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und sowie der Abg . Eva Bulling-Schröter [DIE Herren! Frau Bulling-Schröter, Herr Krischer, jeder bas- LINKE]) telt sich seine Wahrheit selber, Man kann ja fragen – Herr Beckmeyer spricht gleich (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- noch; das BMWi und die dort arbeitenden Menschen sind NEN]: Ja, Sie auch!) ja nicht dumm; die wissen, was sie tun; denen ist das alles wenn er ins Gesetz schaut; jedenfalls habe ich den Ein- klar; die verfolgen auch die Debatten; die kennen die Ge- druck . richtsurteile –: Warum gibt es diese Unklarheit? Warum wird in dem Entwurf, der uns jetzt hier vorliegt, diese Es steht etwas klar sozusagen als Überschrift darü- Unsicherheit produziert? Ich glaube, dahinter steckt ein ber: Rekommunalisierung der Energieversorgungsnet- bisschen System – ze . – Das ist etwas, über das wir lange debattiert haben, das auch im Bundesrat beraten worden ist . Merkwürdi- (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Jetzt kommen gerweise hat uns der Bundesrat gerade in dieser Frage wieder die Verschwörungstheorien!) recht gegeben . Er unterstützt ausdrücklich diese Positi- das ist genau der Grund, weshalb die Union schon 2010 onierung . diese Rechtsunsicherheit sehenden Auges geschaffen hat –: Man will verhindern, dass Stadt- und Gemeinderäte (Zuruf des Abg . Oliver Krischer [BÜND- ihren bisherigen Konzessionär – in aller Regel RWE, Eon NIS 90/DIE GRÜNEN]) oder EnBW – wechseln, also zu einem anderen Anbieter Ich will an dieser Stelle sagen: Rekommunalisierung gehen oder ein eigenes kommunales Stadtwerk gründen . ohne wettbewerbliches Verfahren schließt das Gesetz Es geht am Ende darum: Es soll den Konzernen nicht aus . Rekommunalisierung ja, aber bitte mit wettbewerb- das Geschäft weggenommen werden . Das kann man am lichem Verfahren! Das ist der Unterschied . Wir geben besten dadurch erreichen, dass man Rechtsunsicherheit nicht einfach etwas preis . Nach 20 Jahren ist es vielleicht schafft, sodass vor jeder Entscheidung in einer Ratssit- ganz klug, einmal über die Netze, den Zustand der Net- zung gesagt wird: Macht das nicht mit einem anderen ze, die Qualität der Netze zu sprechen und sich Klarheit Netzbetreiber, denn dann lauft ihr in Rechtsunsicherheit darüber zu verschaffen, was das bedeutet . Also, es geht hinein! um einen fairen Wettbewerb bei der Vergabe der Ener- gieversorgungsnetze, die wir nicht durch Gerichte klären (B) (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Das sind (D) übelste Unterstellungen!) lassen wollen . Somit werden viele Netzübernahmen überhaupt nicht in (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Angriff genommen . Das, glaube ich, steckt am Ende da- NEN]: Aber genau das werden sie wieder hinter . tun!) Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen ganz klar: Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will noch Dieser Gesetzentwurf ist kommunalfeindlich, er läuft etwas zum Inhalt ausführen: den Zielen einer dezentralen Energiewende zuwider, und Streitigkeiten um den Netzkaufpreis wollen wir ver- er dient am Ende den Interessen der Konzerne, die der- meiden . Dazu wird klargestellt, dass sich der Preis nach zeit die großen Netzbetreiber sind . den Erlösen zu bemessen hat, die mit dem Netz zu erzie- Wir treten gern für mehr Rechtssicherheit ein . Wir len sind . haben dazu Vorschläge gemacht; die Linken haben dazu Vorschläge gemacht; darauf kann man sich gern ver- Wenn Fehler im Vergabeverfahren frühzeitig geltend ständigen . Aber dieser Gesetzentwurf löst die Probleme gemacht werden, ist das okay . Wer sich aber nicht recht- nicht, und das hören Sie auch allerorten aus der kommu- zeitig rührt, kann das Verfahren nicht mehr angreifen . nalen Familie . Das können Sie auch nicht schönreden, in- So wird das gesamte Vergabeverfahren aus unserer Sicht dem Sie diese Probleme an der Stelle einfach ignorieren . deutlich robuster . Ich danke Ihnen . Ebenfalls wird klar geregelt, welche Daten der aktuel- le Netzbetreiber an die Gemeinde herausgeben muss . So (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird Transparenz geschaffen, was einen fairen Wettbe- sowie der Abg . Eva Bulling-Schröter [DIE werb um die Energieversorgungsnetze unterstützt . LINKE]) Der Entwurf enthält weiterhin die Klarstellung, dass bei der Auswahl des künftigen Netzbetreibers auch die Vizepräsidentin Petra Pau: Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft Berück- Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Uwe sichtigung finden dürfen. Beckmeyer . (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NEN]: Aber dann machen Sie es so, dass es der CDU/CSU) konkret ist, was es bedeutet!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16611

Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer (A) Das, denke ich, stärkt die kommunalen Interessen, die meindliche Ebene in den Vordergrund zu stellen ist – den (C) beim Betrieb der örtlichen Verteilnetze von besonderer Strom bis hin zum einzelnen Verbraucher transportieren . Wichtigkeit sind . In den Verteilnetzen findet die Energiewende statt. Sie sind von zentraler Bedeutung . Die Wegenutzungsrechte (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sind – auch das ist schon erwähnt worden – spätestens Netzwirtschaftliche Belange, meine sehr geehrten Da- alle 20 Jahre in einem wettbewerblichen Verfahren neu men und Herren, Versorgungssicherheit und Kostenef- zu vergeben . fizienz dürfen dem jedoch nicht entgegenstehen. Dies In den letzten Jahren hat es in der Tat eine Vielzahl schafft einen sachgerechten Ausgleich zwischen den In- gerichtlicher Auseinandersetzungen gegeben . Auch das teressen der Allgemeinheit und den Belangen der jeweili- führt zu Verzögerungen im Netzausbau, der dringend be- gen Gemeinde . Ich glaube, dafür müssen wir letztendlich nötigt wird . Aus diesem Grund brauchen wir – ich betone sorgen . Und das tun wir auch, indem wir auch weiterhin es noch einmal – Rechtssicherheit . Diese zu schaffen, ha- daran festhalten, dass bei schwebenden Verhandlungen ben wir auch im Koalitionsvertrag festgelegt . Das setzen der Gemeinde die Konzessionsabgabe nicht vorenthalten wir jetzt um . Dies dient der Energiewende und den Kom- werden darf, damit sie nicht finanziell ausgehungert wird. munen bzw . Gemeinden und auch dem Allgemeinwohl . Meine Damen und Herren, was die Inhousevergabe Im Großen und Ganzen sind die Inhalte des Gesetzent- angeht, sage ich noch einmal ganz klar: Ohne wettbe- wurfs positiv zu bewerten . Die Vorschriften zur Vergabe werbliches Verfahren geht es nicht . Das ist auch mehr- von Wegenutzungsrechten werden konkretisiert . Die Pla- heitlich die Haltung der Länder . Ich glaube, es ist wichtig, nungssicherheit beim Netzübergang für die beteiligten dass wir dafür sorgen, dass die notwendige Qualität im Unternehmen und Gemeinden wird damit verbessert, und Netz auch tatsächlich erreicht wird . In diesem Punkt er- es wird mehr Rechtssicherheit gewährleistet . Auf einige hält die Bundesregierung auch Unterstützung vom Bun- Punkte will ich noch einmal konkret eingehen . desrat, der entsprechende Anträge im Plenum abgelehnt hat . Hier ist besonders zu bedenken, welche enormen He- In § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes ist unser grund- rausforderungen die Energiewende für den Betrieb der legendes Ziel festgelegt, nämlich „eine möglichst siche- Stromnetze mit sich bringt . Millionen dezentraler Erzeu- re, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und gungsanlagen sind sicher und auch kosteneffizient in das umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung der System zu integrieren . Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas“ . Das ist auch der Zweck des heute zu beratenden Gesetzes . Um dieses Ziel Insofern, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist zu erreichen, werden die Wegenutzungsrechte in einem es uns wichtig, dass mit dieser Gesetzesnovelle die so wettbewerblichen Verfahren alle 20 Jahre vergeben . Das wichtige energiewirtschaftliche Praxis auch tatsächlich (B) ist kein Selbstzweck . (D) geübt wird . Daher bitte ich um zügige Beratung . Die Kommunen besitzen bei den Wegenutzungsrech- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten ein fast natürliches Monopol . Sie haben dabei eine NEN]: Zügig? Nachdem Sie zweieinhalb Jah- durchaus marktbeherrschende Stellung . Der Wettbewerb re darauf gesessen haben?) um die Wegenutzungsrechte erfolgt somit nicht unbe- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . dingt im freien Markt . Die Laufzeitbegrenzung verhin- dert, dass das Verteilnetz vor diesem Hintergrund erstarrt . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ansonsten bestünde die Gefahr ineffektiver Ewigkeits- der CDU/CSU) rechte . Eine durchaus mögliche Folge: steigende Nut- zungsentgelte und somit höhere Strompreise . Das wäre Vizepräsidentin Petra Pau: zum Nachteil von Verbrauchern, Gewerbe und Industrie . Das Wort hat die Kollegin Barbara Lanzinger für die Auch der Wettbewerb um die Wegenutzung dient dem CDU/CSU-Fraktion . Wohl des Endverbrauchers . Nur durch ein transparentes (Beifall bei der CDU/CSU) und diskriminierungsfreies Auswahlverfahren kann der geeignetste Netzbetreiber gefunden werden . Barbara Lanzinger (CDU/CSU): In diesem Zusammenhang wird immer wieder der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle- Punkt Rekommunalisierung aufgebracht, kombiniert ginnen und Kollegen! Vielleicht noch einmal zusam- mit der Forderung nach einer Inhousevergabe, das heißt menfassend: Heute haben wir die erste Beratung dieses Direktvergaben an kommunale Unternehmen ohne ein Gesetzentwurfs . Die Formulierung im Titel „Vergabe wettbewerbliches Auswahlverfahren . Das lehnen wir ab . von Wegenutzungsrechten zur leitungsgebundenen Ener- Wir wollen den Wettbewerb . gieversorgung“ klingt ein bisschen kompliziert . Das hört sich schwieriger an, als es ist . Insgesamt ist es aber sehr Lassen Sie mich betonen: An Rekommunalisierung wichtig . Kurzum geht es – das als Wiederholung – um habe ich nichts auszusetzen, wir alle nicht . Ganz im Ge- die Rechte zur Nutzung der Gas- und Stromverteilnetze . genteil: Die kommunalen Akteure, Bürgerinnen und Bür- ger sind in die Energiewende einzubeziehen . Das schafft Warum behandeln wir das Thema? Die Verteilnet- Akzeptanz . Bereits heute können wir einen Trend zur ze sind zum Beispiel auch jene Stromleitungen, die auf Rekommunalisierung erkennen . Seit 2005 wurden mehr regionaler und kommunaler bzw . gemeindlicher Ebe- als 200 Konzessionen von kommunalen Unternehmen ne – Herr Saathoff hat ja schon betont, dass hier die ge- übernommen . Aber auch nur dann, wenn dem ein wett- 16612 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Barbara Lanzinger (A) bewerbliches Verfahren vorausgegangen ist, ist es auch Energiewende, sie sind Multiplikator . Sie sind es nicht (C) richtig . Nur so wird der geeignete Netzbetreiber gefun- alleine, aber sie sind es ganz maßgeblich . Das weiß auch den . das Bundeswirtschaftsministerium, das deshalb einen Entwurf vorgelegt hat, der – das ist jenseits der Kritik, Von Kommune zu Kommune gibt es unterschiedli- glaube ich, im Detail unbestritten – ein maßgeblicher che Rahmenbedingungen . Keine Kommune ist gleich . Fortschritt gegenüber dem Status quo ist . Die Entscheidung zur Übernahme von Netzen ist immer eine Einzelfallentscheidung . Deshalb muss die Kommu- Ich will an dieser Stelle sagen, dass es eine entspre- ne auch im Wettbewerb mit anderen prüfen, ob sie ein chende Unterstützung – das hat auch der Staatssekretär Netz übernehmen kann, ob sie dazu geeignet ist, ob sie gesagt – seitens des Bundesrates gibt, dass es positive das Know-how hat . Das kann der Fall sein – vielleicht in Reaktionen der kommunalen Spitzenverbände gibt, dass der Regel –, ist es aber nicht immer automatisch . Des- es positive Reaktionen des VKU gibt, zwar nicht in je- halb dürfen wir nicht vergessen: Bei einer Übernahme dem Punkt, aber die große Linie wird begrüßt . Das kann von Wegenutzungsrechten und Netzen besteht neben den nicht als Indiz dafür genommen werden, dass wir etwas hohen Kaufkosten in der Regel auch erheblicher Investi- Kommunalfeindliches machen würden . Das zu behaup- tionsbedarf in die Energienetze . ten, ist einfach nur Unsinn . Es ist wichtig, dass Kommunen am Wettbewerb teil- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nehmen und die Auswahl anhand wettbewerblicher Kri- der CDU/CSU) terien auf Grundlage der in § 1 genannten Ziele erfolgt . Es geht um Rechtssicherheit, um Informationen, um Wettbewerb hat hier eine durchaus heilsame Wirkung . Bewertungsfragen – das alles ist hier schon angesprochen Letztendlich soll nicht die Kommune von der Ausschrei- worden – und um einen Konfliktpunkt, der die Rechte der bung profitieren, sondern der Kunde. Der Endverbrau- kommunalen Selbstverwaltung betrifft . Wenn man über cher soll von dieser Ausschreibung profitieren. Darum die kommunale Selbstverwaltung redet und sich dabei geht es . Deshalb ist eine ausschließliche Inhousevergabe auf das Grundgesetz bezieht – in Artikel 28 wird Bezug einfach nicht richtig . genommen auf „alle Angelegenheiten der örtlichen Ge- meinschaft“ –, dann kann man, Herr Krischer, nicht mehr (Beifall bei der CDU/CSU) von einem unbestimmten Rechtsbegriff reden . Es muss Das heißt jedoch nicht, dass Kommunen keinen Ge- im Rahmen eines solchen Gesetzgebungsverfahrens zu- staltungsspielraum mehr erhalten sollen . Ganz im Ge- lässig sein, sich auf das Grundgesetz zu beziehen . genteil – Kollege Liebing hat es erwähnt –: Um die kom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten munalen Interessen zu stärken, ist es bedeutend, dass die der CDU/CSU) (B) örtlichen Rahmenbedingungen in den Auswahlkriterien (D) Beachtung finden können. Genau das sieht der Gesetz- Wir haben es aber nicht mit einem einfachen Thema entwurf vor . Entscheidungsspielraum bei der Formulie- zu tun; ich weiß das . Es gibt viele Abstimmungen dazu . rung und bei der Gewichtung der Auswahlkriterien wird Aber unbestritten ist, dass der verbesserte Auskunftsan- gewährleistet . Das ist ein absolut richtiger Schritt . spruch der Kommunen ein Fortschritt ist . Positiv ist die zeitliche Staffelung bei der Möglichkeit, Rügen auszu- Lassen Sie mich zum Schluss kommen . Die Verteilnet- sprechen . Gut ist auch die Klarheit über die Fortzahlung ze sind ein essenzieller Baustein im Rahmen der Energie- der Konzessionsabgabe . Gut ist, dass es Klarheit über die wende . Die Kommunen sind ein ganz zentraler Akteur . Bestimmung eines angemessenen Netzkaufpreises im Wir wollen auch weiterhin eine gute Energieversorgung Rahmen des objektivierten Ertragswertverfahrens gibt . für die Allgemeinheit – sicher, preisgünstig, verbraucher- All das ist positiv . Dann zu sagen, dieser Entwurf sei freundlich, effizient und umweltverträglich – mit einem kommunalfeindlich, ist nur noch Oppositionsrhetorik – zunehmenden Anteil an erneuerbaren Energien . Dafür das muss man doch schlicht und ergreifend sagen . müssen wir auf allen Ebenen zusammenarbeiten . Auch dahin gehend werden wir den vorliegenden Gesetzent- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wurf durchaus auf Herz und Nieren überprüfen . Ich freue mich schon auf die weiteren Beratungen zu diesem Ge- Ich will gar nicht bestreiten, dass uns das Thema der setzentwurf . Inhousevergabe vielleicht ein bisschen trennt . Ich wür- de mir auch ein bisschen mehr wünschen . Ich weiß aber Danke schön . auch: Viele Stadtwerke scheuen einen solchen Wett- bewerb überhaupt nicht; denn sie sind gut – besser je- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) denfalls, als manche glauben . Trotzdem: Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass man den Wind des Vizepräsidentin : Wettbewerbes einziehen lassen will; anderes wäre mir Vielen Dank .– Als nächster Redner in dieser Debatte lieber . Aber darüber können wir noch einmal reden . hat Bernhard Daldrup von der SPD-Fraktion das Wort . Das BMWi hat viele Erwartungen der Kommunen er- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) füllt . Dafür herzlichen Dank! Ich hoffe, dass wir im Lau- fe der Beratungen eine stärkere Verankerung der kommu- Bernhard Daldrup (SPD): nalen Selbstverwaltung erreichen werden . Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: Die netzwirtschaftlichen Anforderun- Wir wissen alle: Die Kommunen sind Motor bei der gen – darüber ist eben gesprochen worden –, insbesonde- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16613

Bernhard Daldrup (A) re Versorgungssicherheit und Kosteneffizienz, sind schon Kühn (Dresden), weiterer Abgeordneter und der (C) Teil kommunalpolitischer Entscheidungen . Sie stehen Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aber nicht über anderen Fragen der kommunalen Selbst- Den Bundesverkehrswegeplan zum Bundes- verwaltung; es gibt keine solche Hierarchie . Deswegen netzplan weiterentwickeln wäre es aus unserer Sicht durchaus überlegenswert, ob wir uns nicht im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens Drucksache 18/8083 auf die Anregung des Bundesrates verständigen könnten, Überweisungsvorschlag: die Zielhierarchie herauszunehmen . Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Oliver sicherheit Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Ausschuss für Tourismus das ist doch mal ein guter Vorschlag!) Haushaltsausschuss – Ja, ist doch nicht schlecht! Ich mache öfter mal gute Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Vorschläge . Hören Sie einfach zu . die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu keinen Widerspruch . Das ist dann so beschlossen . (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist super! Herr Beckmeyer, haben Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze einge- Sie das gehört?) nommen haben, kann ich die Debatte eröffnen . – Er hat zugehört . Ich eröffne die Debatte . Als erste Rednerin hat Dr .V alerie Wilms für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Ich will es für Sie, Herr Krischer, vielleicht sogar ein nen das Wort . bisschen deutlicher machen; denn Sie sollen wissen, dass ich da gar keinen Konflikt sehe. Der Hinweis in der Be- gründung, man bilde das Urteil des Bundesgerichtshofes Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ab, stimmt . Er stimmt aber nur deswegen, weil der Vor- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! rang der kommunalen Selbstverwaltung im entsprechen- Meine Damen und Herren! Jetzt kommen wir beim letz- den Paragrafen nicht entsprechend normiert ist . ten Tagesordnungspunkt zu einem ganz wichtigen The- ma: Bundesverkehrswegeplan . Deutschland hat eines der (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dichtesten und komplexesten Verkehrsnetze der Welt; ich NEN]: Sehr gut!) glaube, darüber sind wir uns alle einig . Für unseren Ver- Wenn das erfolgen würde, wäre es ein Stück weit einfa- kehrsminister ist das Ganze offensichtlich zu komplex . cher . Wir werden darüber diskutieren; so ist das im Ge- Denn anders ist nicht zu erklären, warum er sich beim (B) setzgebungsverfahren üblich . Bundesverkehrswegeplan mal wieder so heillos verzet- (D) telt hat . Ich glaube aber, zunächst einmal feststellen zu kön- nen – auch mit Ihrer freundlichen Unterstützung –: Es Eine der wichtigsten Aufgaben des Verkehrsministers gibt einen guten Gesetzentwurf, der endlich den Status in dieser Wahlperiode ist es, einen umfassenden Plan zur quo deutlich verbessert, unter dem die Kommunen ge- langfristigen Entwicklung der Verkehrswege vorzulegen . litten haben . (Kirsten Lühmann [SPD]: Genau!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mit fast zweijähriger Verspätung, Kollegin Lühmann, NEN]: Nein, einen schlechten Gesetzentwurf, haben wir jetzt mal so etwas wie einen Entwurf bekom- den man vielleicht noch besser machen kann!) men, der aufschrecken lässt . Dafür sehr herzlichen Dank an das Ministerium . Wir (Lachen des Abg . [CDU/ werden eine schöne Beratung haben . Sie sind herzlich CSU]) eingeladen . Der Plan ist unvollständig und nicht bezahlbar . Wenn der Vielen Dank . Entwurf so bleibt, wie er jetzt ist, können zentrale Aufga- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben nicht erfüllt werden . der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: schlecht ist er auch nicht!) Vielen Dank . – Damit, liebe Kolleginnen und Kolle- Damit können weder die Verkehrsprobleme der Zukunft gen, schließe ich diese Debatte . gelöst werden noch ein wirksamer Beitrag zum Klima- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- schutz geleistet werden . Klimaschutz: Fehlanzeige! Aber wurfs auf Drucksache 18/8184 an die in der Tagesord- das ist bei dem Abgasminister sowieso kein Wunder . nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall . sowie des Abg . [DIE LINKE]) Dann ist die Überweisung so beschlossen . Die meiste Energie scheint der Minister in seine per- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: sönliche PR-Strategie zu stecken . Deswegen müssen wir Beratung des Antrags der Abgeordneten hier klarstellen, dass die meisten Versprechen nichts an- Dr .V alerie Wilms, Matthias Gastel, Stephan deres als Augenwischerei sind . Es ist schlicht unwahr, 16614 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Dr. Valerie Wilms (A) dass die Projekte finanzierbar sind. Vielleicht nehmen zu formulieren . Das beste Navigationsgerät führt nir- (C) Sie einmal den Taschenrechner, werte Kolleginnen und gends hin, wenn kein Ziel eingegeben wird . Kollegen, Herr Staatssekretär, und rechnen nach . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erstens . Es fehlt über die Hälfte der geplanten Schie- Der Bundesverkehrswegeplan könnte tatsächlich et- nenprojekte; denn es wurde nicht einmal geschafft, diese was erreichen, wenn man ihn richtig anpacken würde . zu prüfen . Sie wissen auch noch nicht, bis wann Sie diese Aber Fehlanzeige! Deswegen muss das Vorhandene min- prüfen wollen . Zweitens . Die Hälfte aller Straßenneu- destens zu einem Bundesnetzplan aller Verkehrswege bauten soll erst nach Ablauf des Planes, also nach 2030, weiterentwickelt werden . Das heißt, einzelne Projekte umgesetzt werden . Sie haben uns in Wirklichkeit also dürfen nicht mehr isoliert betrachtet werden, sondern es gleich den übernächsten Bundesverkehrswegeplan mit kommt auf das Zusammenwirken aller Verkehrsmittel an . vorgelegt . Drittens . Es fehlt jede Berücksichtigung von Dazu brauchen wir klare Vorgaben, wie die Klimaschutz- Kostensteigerungen . Viertens . Es fehlt selbst bei den Be- ziele von Paris erreicht werden können . Bisher geht es rechnungen des Ministers mindestens 1 Milliarde Euro nur aufwärts mit den CO2‑Emissionen im Verkehr . Dazu jährlich . müssen wir ein Vorrangnetz in einem Netzplan definie- ren, das Deutschland intelligent in Europa einbindet . Aber die Bezahlbarkeit ist bei weitem nicht das ein- Ein vernünftiger Netzplan muss endlich auch Prioritäten zige Problem . Der Bundesrechnungshof, den wir alle so setzen . Es braucht den Mut, die Projekte in eine echte sehr lieben, Rangfolge ohne lokale Rücksichtnahme zu bringen . Es (Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/ ist doch völlig klar, dass manches wichtiger ist . DIE GRÜNEN]: Das Ministerium nicht!) Die jetzigen groben Kategorien sind Augenwischerei . Sie bedeuten eben nicht, dass der sogenannte „Vordring- hat nachgewiesen, dass die Berechnungen nicht nach- liche Bedarf zur Engpassbeseitigung“ zuerst realisiert vollziehbar sind . Zack, damit kracht Ihr ganzes Gebäude werden muss . Hier wird sich um eine klare Aussage ge- zusammen . Aber auch damit ist es noch nicht genug . Das drückt, und zwar aus einem einzigen Grund: Es soll nach Umweltbundesamt bescheinigt, dass elf der zwölf Zie- wie vor möglich sein, Wahlkreise zu beglücken . le aus dem eigenen Umweltbericht des Ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur – vielleicht ein biss- (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen mehr Digitales als echter Verkehr – nicht erreicht NEN]: Ja!) werden . Es kommt vielen Wahlkreisabgeordneten dieser Koaliti- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- on nämlich nicht darauf an, Verkehrsprobleme zu lösen . (B) NEN]: Unglaublich!) (Gustav Herzog [SPD]: Schade, Sie haben (D) keinen Wahlkreis!) Selbst die Kabinettskollegin, Bundesumweltministe- rin Hendricks, distanziert sich vom Vorschlag des Herrn – Schreien Sie ruhig laut, Herr Herzog, Sie erreichen so- Dobrindt . wieso nichts . (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und NEN]: Thema Kohärenz!) der SPD – Gustav Herzog [SPD]: Ich habe meinen Wahlkreis gewonnen!) Der Minister bekommt sein Papier von allen Seiten links Viel wichtiger ist Ihnen, weiterhin jedes Jahr Millionen und rechts schön um die Ohren gehauen . So etwas pas- Euro nach Hause in eine Ortsumfahrung zu lenken . So siert, werte Kolleginnen und Kollegen, wenn die PR geht es nicht . wichtiger ist als der Inhalt . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So vie- le gibt es doch gar nicht!) So etwas passiert, wenn ein Minister im Grunde ein Ge- neralsekretär geblieben ist . Wäre er es doch tatsächlich Es ist beschämend, wie wenig der Minister hinbe- geblieben! kommt . Für so etwas gab es auf Spiegel Online einen bezeichnenden Begriff – ich zitiere –: „Achtung, Lusche (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- am Steuer“ . Aber noch ist der Bundesverkehrswegeplan NEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE nur ein Entwurf . Noch ist es möglich, daraus wirklich GRÜNEN]: Dann hätte man der Republik viel etwas Brauchbares zu machen, wenn das Ganze grund- ersparen können!) sätzlich überarbeitet und zu einem Netzplan weiterent- wickelt wird . Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss sich das alles auf der Zunge zergehen lassen: Seit fast fünf Jah- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein ren werden Gutachter, Ministerien und Verwaltungen System von vernetzten Verkehrswegen statt ein Sammel- beschäftigt, ohne dass etwas Brauchbares dabei heraus- surium an lokalen Wünschen . Menschen und Wirtschaft kommt . Das liegt nicht daran, dass dort schlechte Ar- wollen nicht mehr mit platten Parolen hinters Licht ge- beit gemacht wird, mitnichten . Es liegt daran, dass der führt werden . Wir müssen weg von der Wünsch-dir-was- Fisch – wie heißt es so schön? – vom Kopf her stinkt . Es Politik, aber dazu braucht es Mut . Wir brauchen Mut in fehlen bei Herrn Dobrindt Willen oder Fähigkeit, Ziele der Politik und keine Luschen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16615

Dr. Valerie Wilms (A) Herzlichen Dank . dazu leisten soll . An welchen Stellen dieses Entwurfs des (C) Bundesverkehrswegeplans 2030 sehen Sie Ansätze, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) darauf hoffen lassen, dass man diese Ziele im Verkehrs- sektor zumindest ansatzweise erreichen kann? Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank .– Als nächster Redner hat Patrick Patrick Schnieder (CDU/CSU): Schnieder von der CDU/CSU das Wort . Wenn man in den Entwurf schaut, insbesondere in den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- anhängenden Bericht, kann man deutlich sehen, dass wir ordneten der SPD) auch CO2‑Minderungsziele erreichen . (Günter Lach [CDU/CSU]: So weit hat er Patrick Schnieder (CDU/CSU): nicht gelesen!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, ich muss erst noch einmal klarstellen, worum Deshalb verstehe ich nicht, worüber Sie hier reden . Das es hier geht: Wir reden über den Bundesverkehrswege- hat jedenfalls nichts mit dem zu tun, worüber Sie geredet plan 2030 . Das, was Sie hier gerade präsentiert haben, haben . Das ist in der Tat richtig . war ein Zerrbild der Wirklichkeit . Das hatte mit dem, Eines muss man zu den CO2‑Minderungszielen an- worüber wir reden, überhaupt nichts zu tun . merken: Der Verkehrssektor kann zwar einen großen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Beitrag leisten, aber es ist eine Illusion, zu glauben, dass wir das alles über einen Bundesverkehrswegeplan regeln Deshalb müssen wir noch einmal darüber reden, was hier und erreichen können . Was wir darüber erreichen kön- Thema ist . nen, das wollen wir auch angehen . Sie können mir nicht Der vorliegende Entwurf des Bundesverkehrswege- erzählen, dass wir viel für die Umwelt tun würden, wenn plans 2030 bedeutet Vorfahrt für Mobilität, ist eine Ant- wir Staustrecken bestehen lassen, wenn wir Engpässe wort auf die Herausforderungen, nicht beseitigen, wenn wir nicht in die Infrastruktur in- vestieren . (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD – Michael Grosse-Brömer die die Verkehre stellen . Wir müssen Antworten darauf [CDU/CSU]: Sehr richtig!) geben, was wir in der Verkehrspolitik machen wollen . Was Sie hier vorgestellt haben, ist ein Konzept, wie Mo- Mit diesem Bundesverkehrswegeplan leisten wir auch (B) bilität nicht aussehen soll . Das sind überhaupt keine Ant- zur Erreichung dieser Ziele einen großen Beitrag . (D) worten auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen . (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Straßenbau für Klimaschutz, oder wie NEN]: Das sind Phrasen!) verstehe ich das?) Deshalb kann ich nur feststellen: Dieser Entwurf des Sie haben in Ihrer Antragsbegründung – das gilt auch Bundesverkehrswegeplans, über den wir reden, verwirk- für das, was Frau Dr .W ilms gerade ausgeführt hat – auf licht genau die Ziele, die wir uns vorher gesetzt haben . skurrile Art und Weise durchblicken lassen, wie Sie auf Wir bekommen von fast allen Seiten, mit Ausnahme von diesen Plan schauen . Das war ja in großen Teilen eine Ihnen, Zustimmung zu dem, was vorgelegt worden ist, Selbstanklage . So liest sich auch Ihr Antrag . weil genau diese Ziele verwirklicht werden . ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist nur Ihre Interpretation!) NEN]: Außer in der eigenen Bundesregie- rung!) Das, was Sie beschreiben und kritisieren, ist im Grunde Ihr Werk . Den Bundesverkehrswegeplan 2003 haben Sie ja mitgeschrieben; er trägt Ihre Handschrift . Das, was Sie Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: jetzt kritisieren, haben Sie selbst mit verbockt . Wir geben Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage zu? jetzt Antworten auf die Herausforderungen, die entstan- den sind . (CDU/CSU): Patrick Schnieder (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aber bitte, gerne . NEN]: Sie geben Antworten? Sie formulieren nicht einmal Fragen!) Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und Ihr einziger Lösungsvorschlag, den Sie im Antrag Vielen Dank, Frau Präsidentin .– Vielen Dank, Kollege formulieren, ist: Stopp, wir machen jetzt gar nicht wei- Schnieder, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . Sie sa- ter . – Das kann nun wirklich nicht die Antwort auf die gen: Dieser Bundesverkehrswegeplan gibt Antworten auf Herausforderungen sein, vor denen wir stehen . die Frage, wie wir unsere Ziele erreichen können . Ihnen sind sicherlich die Klimaziele, die im Rahmen des Pariser Abkommens unterschrieben worden sind, bekannt . Auch Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: aus den internen Beratungen der Bundesregierung wird Herr Kollege Schnieder, es gibt den Wunsch nach ei- Ihnen bekannt sein, welchen Beitrag der Verkehrssektor ner zweiten Zwischenfrage . 16616 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

(A) Patrick Schnieder (CDU/CSU): werden . Wir werden einen Plan vorlegen, der nicht voll- (C) Bitte sehr . kommen überzeichnet ist . (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Frau (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wilms hat doch gerade geredet!) NEN]: Der ist nicht vollkommen überzeich- net? Schön, dass das im Protokoll steht!)

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Ja . Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischen- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- frage zulassen .– Ich bin ein bisschen erstaunt, dass Sie NEN]: Der ist nur überzeichnet!) behaupten, dass wir gar nichts mehr machen wollen . Ich zitiere aus unserem Antrag: – Der ist nicht überzeichnet . Da haben Sie schon etwas anderes vorgelegt . 3 . bis zum Beschluss eines zum Bundesnetzplan weiterentwickelten Bundesverkehrswegeplans kei- (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Gebt doch ne weiteren Neubauprojekte zu beginnen, um den mal dem Kollegen Krischer eine Baldrianta- Handlungsspielraum nicht weiter einzuschränken . . blette!) Das ist etwas ganz anderes, als gar nichts Neues mehr Zweiter Punkt . Wir orientieren uns ganz klar am Prin- machen zu wollen . zip „Erhalt vor Neubau“ . Auch das bestreiten Sie . Da kann ich nur sagen: Ziehen Sie den Vergleich . Für Erhalt Wir sind dagegen, dass ständig etwas anfinanziert werden wir etwa 70 Prozent der verfügbaren Projektmit- wird, dass irgendeiner von Ihnen mit der großen Geld- tel aufwenden . Im alten Bundesverkehrswegeplan waren schütte durch das Land läuft und irgendwo eine Brücke es nur 56 Prozent . Das ist ein deutlicher Zuwachs . hinsetzt, die man nachher nicht weiter anschließen kann . Können Sie bestätigen, dass es angesichts dieser Tatsa- Wir treffen – dritter Punkt – klare Prioritäten . Das gilt chen völlig unmöglich ist, Ihre Versprechungen im Bun- schon für die Betrachtung der verschiedenen Verkehrs- desverkehrswegeplan einzuhalten? Sie schaffen es näm- träger . Auf die Straße wird knapp die Hälfte der Mittel lich gar nicht, das tatsächlich durchzufinanzieren. entfallen, auf Bahn und Wasserstraßen die andere Hälfte . Auch das ist eine deutliche Veränderung bzw . Verschie- (Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!) bung gegenüber dem alten Plan und entspricht den For- derungen und Zielsetzungen, die wir uns vorher gegeben haben . (B) Patrick Schnieder (CDU/CSU): (D) Liebe Frau Kollegin Dr .W ilms, das ist Ihre Behaup- Das betrifft aber auch die Priorisierung der Maßnah- tung, aber sie hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun . Denn men innerhalb der einzelnen Verkehrsträger . Auch da ha- es ist anders als im Bundesverkehrswegeplan 2003 . Wir ben Sie vorhin Dinge erzählt, die mit der Wirklichkeit haben hier keine reine Wunschliste . nichts zu tun haben . In Hauptachsen werden 75 Prozent der Mittel investiert . Ich weiß nicht, wie man darauf (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kommen kann, dass wir nur in Ortsumgehungen oder in NEN]: Doch, Sie haben eine Wunschliste! Da regionale Verkehre investieren würden . Das Gegenteil ist steht nur die Hälfte des Geldes! – Gegenruf der Fall; ich will das hier festhalten . Es gibt eine klare von der CDU/CSU: Wunschlisten machen die Prioritätensetzung bei den Projekten . Länder!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen nicht „Wunsch und Wolke“ hineinschreiben, sondern wir haben eine realistische Vorstellung davon Vierter Punkt . Engpassbeseitigung ist das nächste niedergeschrieben, was wir bis 2030 umsetzen können . Stichwort . Allein 1 700 Straßenkilometer – Ausbau, Er- Deshalb gilt die Aussage: Was dort im Vordringlichen haltung – und 700 Schienenkilometer werden zur Eng- Bedarf erscheint, wird auch realistisch umgesetzt werden passbeseitigung ertüchtigt . Auch da muss ich fragen: In können . welcher Welt leben Sie, wenn Sie nicht erkennen, dass das zur Engpassbeseitigung gehört? Das ist ein Schwer- (Dr .V alerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- punkt in diesem Bundesverkehrswegeplan . NEN]: Dann bin ich gespannt, wann!) Fünfter Punkt – dieser zieht sich auch durch Ihren An- Wir wollen Mobilität ermöglichen, Sie scheinen das trag –: Wir machen zum ersten Mal eine Öffentlichkeits- Gegenteil zu wollen . Deshalb bin ich froh, dass es hier beteiligung . Ich kann nicht verstehen, dass Sie in Abrede andere Mehrheiten gibt, die dann einen solchen Plan stellen, dass wir in transparenter Weise unter Beteiligung durchsetzen werden . der Bürgerinnen und Bürger diesen Plan vorlegen . (Beifall bei der CDU/CSU) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sechs Wochen über Ostern!) Erster Punkt . Es ist sicherlich eine der Grundvoraus- setzungen für diesen Bundesverkehrswegeplan, dass wir – Ja, sechs Wochen lang . Das ist doch keine Frage der eine realistische Perspektive in den Blick nehmen und Qualität, ob ich sechs Jahre oder sechs Wochen dafür dass hier klare Finanzierungsperspektiven aufgezeigt vorsehe . Denn wer Interesse an einem Projekt hat, wird Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16617

Patrick Schnieder (A) sich in sechs Wochen dazu äußern und seine Meinung Die Präsidentin des Umweltbundesamtes, Frau (C) vorbringen können . Krautzberger, sagt: (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Der Entwurf des Bundesverkehrswegeplanes . . ver- Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fehlt elf der zwölf im eigenen Umweltbericht ge- NEN]: Aber über Ostern? – Oliver Krischer setzten Ziele . [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätten Sie Und: das mal in den Sommerferien gemacht!) Durch den zu starken Fokus auf die Straße zemen- – Viele sind jedenfalls in der Lage, das zu tun . Wenn Sie tiert der Entwurf weitgehend die nicht nachhaltige das nicht schaffen, müssen Sie nicht andere dafür in Haf- Verkehrspolitik der vergangenen Jahre . tung nehmen . Ich füge hinzu: Dafür geben Sie 264 Milliarden Euro aus . (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie machen nichts, um diese ambitionierten Ziele, die Sie NEN]: Sie haben zwei Jahre gebraucht, und sich vertraglich selbst gegeben haben, zu erreichen . Das die Leute haben nur sechs Wochen Zeit!) halte ich für absolut unverantwortlich . Wenn ich das gesamte Werk betrachte, muss ich sa- (Beifall bei der LINKEN) gen: Alle Ziele, die wir uns gesetzt haben, werden wir damit erreichen . Bei aller Feinjustierung, die wir noch Ich will an einem Beispiel ausführen, warum ich der vornehmen müssen, gilt: Die großen Linien stimmen . Meinung bin, dass das Geld, das da ausgegeben wird, Ich würde Ihnen wünschen, dass Sie irgendwann in der viel stärker in die kommunale Bestimmung gegeben Wirklichkeit ankommen . werden muss . Eines der Autobahnprojekte, die in diesem Verkehrswegeplan stehen, ist die A 100 in Berlin: 6,9 Ki- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lometer mitten durch dichtbewohntes Stadtgebiet für ordneten der SPD – Peter Meiwald [BÜND- sage und schreibe 1 Milliarde Euro . Das ist das teuerste NIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!) und dümmste Straßenbauprojekt, das man sich überhaupt vorstellen kann . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Vielen Dank .– Als nächste Rednerin hat Sabine neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Leidig von der Linken das Wort . Auf der offiziellen Seite des Berliner Senats schreiben (Beifall bei der LINKEN) die Verantwortlichen zum Thema Verkehr: Wussten Sie, (B) dass der Kfz-Verkehr seit etwa dem Jahr 2000 kontinu- (D) Sabine Leidig (DIE LINKE): ierlich abnimmt, obwohl die Bevölkerung in Berlin seit fünf Jahren wächst? Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Der Regierungsentwurf für den Bundesver- (Zuruf des Abg . Gustav Herzog [SPD]) kehrswegeplan 2030 zielt auf mehr Verkehr und Straßen Wussten Sie, dass rund die Hälfte der Haushalte in Berlin ab . Er ist umwelt- und klimaschädlich und geht an den überhaupt kein eigenes Auto hat? Wussten Sie, dass die Mobilitätsbedürfnissen der Bevölkerung vorbei . Deshalb Fahrgastzahlen im öffentlichen Nahverkehr in Berlin in sagen wir: Er muss vom Tisch . den letzten Jahren deutlich angestiegen sind? (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die Linke fordert einen ganz anderen, einen demokra- Wussten Sie, dass es mehr als doppelt so viele Fahrräder tischen Bundesmobilitätsplan . Wir brauchen einen völlig wie Pkw pro 1 000 Einwohner in Berlin gibt? anderen Ansatz . Die Kommunen brauchen Spielraum für eine Verkehrswende, die von den Leuten schon begonnen wird . Die Bahn muss endlich in der Fläche ausgebaut und Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: nicht weiter abgebaut werden . Frau Kollegin Leidig, lassen Sie eine Zwischenfrage zu? (Beifall bei der LINKEN) Es muss auch eine ernsthafte Ausrichtung an den Sabine Leidig (DIE LINKE): Klimazielen stattfinden. Ich weiß gar nicht, ob Sie sich Gerne . dessen bewusst sind: Bis zum Jahr 2050 dürfen wir fast überhaupt kein CO mehr ausstoßen . Wir verbrauchen 2 Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: heute ungefähr 5 000 Liter Öl pro Person . Wenn wir ernsthaft herangehen würden, das zu ändern, um sozusa- Bitte . gen schrittweise dem Ziel näher zu kommen, müssten wir zu einer Reduktion auf ein Zehntel dieser Zahl kommen: Stefan Zierke (SPD): nicht mehr 5 000 Liter, sondern nur noch 500 Liter . Dann Frau Leidig, danke, dass Sie die Zwischenfrage ge- hätten wir eine Chance, diese Klimaschutzziele ohne ei- statten .– Sie zählen viele Punkte auf, die aus Ihrer Sicht nen richtig katastrophischen Knall zu erreichen . Davon sicherlich sachlich begründet sind . Haben Sie auch, weil sind Sie himmelweit entfernt . Dazu haben Sie überhaupt Sie gerade die A 100 in Berlin ansprechen, den Umstand keinen Plan . zur Kenntnis genommen, dass gerade bei diesem Projekt 16618 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Stefan Zierke (A) viele Bürger, viele Institutionen die Möglichkeit genutzt Sabine Leidig (DIE LINKE): (C) haben, in das entsprechende System genau die sachlichen Es ist in Ordnung; das betrifft sowieso das Thema, Begründungen, die Sie hier aufzählen, einzugeben, um über das ich sprechen möchte .– Wir haben in dem Ge- damit das Projekt noch einmal neu zu bewerten? Es geht spräch mit Vertretern des Deutschen Städtetages ein paar darum, ob die A 100 wirklich um diesen Bestandteil ver- wirklich spannende Dinge erfahren . Die Baudezernentin längert werden soll oder nicht . Es geht ja um den letzten von Bremerhaven sagte: Ich brauche Geld für den Rück- Abschnitt, den Sie hier beschreiben . Es geht nicht um die bau von Straßen . Unsere Infrastruktur ist auf berufstätige ganze A 100 . Männer, die Auto fahren, ausgelegt . Davon gibt es immer weniger; es ist weniger als ein Drittel der Bevölkerung . Sabine Leidig (DIE LINKE): Ich brauche in unserer Stadt etwas ganz anderes . Dafür habe ich überhaupt kein Geld . – Die Stadtbaurätin von Genau . München sagte: Wir wollen Regionalentwicklung ma- chen . Das Ballungszentrum quillt über . Wir haben au- Stefan Zierke (SPD): ßerhalb von München Kasernengelände . Wenn man sie erschließen will, damit dort Wohnen und Arbeiten mög- Von daher denke ich, dass die Bürger und die kom- lich ist, braucht man eine Bahnanbindung .– Das sind die munale Ebene doch exzellent beteiligt sind, wenn es um wirklichen Herausforderungen und die Themen, die be- genau diese Abschnitte geht . Man konnte sachliche Be- arbeitet werden müssen . gründungen für den Senat oder für das Bundesministeri- um geben . Sind Sie da nicht meiner Meinung? (Beifall bei der LINKEN – Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Jetzt wird der Grünenantrag mal Sabine Leidig (DIE LINKE): richtig interpretiert!) Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass es völlig berechtigt Sie sagen einfach: Das ist Sache der Kommunen, der ist, dass die Bürgerinnen und Bürger dort alle ihre Ein- Länder usw .– Aber so ist es eben nicht . Der Bund legt die wände einbringen . Es gibt eine seit Jahrzehnten arbeiten- Maßstäbe fest und gibt die Marschrichtung vor . Solange de Bürgerinitiative, die wirklich hervorragendes Material Sie daran festhalten, dass das Geld entweder für Straßen erarbeitet hat, das zeigt, warum dieser Weiterbau der Au- verbaut wird oder gar nicht, geben Sie den Menschen vor tobahn für die Stadt und für alle völliger Unsinn ist . Ort nicht die Möglichkeit, die Verkehrswende in ihrem Sinne zu gestalten und ihre Mobilitätsbedürfnisse zu be- (Beifall bei der LINKEN) friedigen . Das ist aber genau das, was passieren muss: Wir brauchen eine Demokratisierung bei der Mittelver- (B) Das Entscheidende ist aber – das ist, glaube ich, auch wendung im Zusammenhang mit der Infrastrukturent- (D) in Berlin der Knackpunkt –, dass sich die Verantwortli- wicklung auch beim Verkehr . chen entschieden haben, dieses Projekt zu verwirklichen, weil die 1 Milliarde Euro, wenn sie es nicht verwirkli- (Beifall bei der LINKEN) chen würden, nicht in den Straßenbau in Berlin, sondern in den Straßenbau in einem anderen Bundesland fließen Ich möchte noch einen Satz zum Antrag der Grünen würde . Wirklich notwendig wäre – das ist unser Plädo- sagen . Sie wollen den Bundesverkehrswegeplan weiter- yer –, dass über das Geld in den Kommunen entschie- entwickeln . Ich bin ein bisschen traurig, dass Sie sich so den wird, dass also die Kommunen, die Regionen oder sehr auf die innere Logik dieses Verkehrswachstumspro- die Ballungszentren entscheiden: Mit dieser 1 Milliarde gramms, das uns hier vorgelegt wird, einlassen . Euro bauen wir bessere und mehr Fahrradwege, damit reparieren wir unsere kaputten Straßen, sodass die Fahr- (Dr .V alerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- radfahrer nicht dauernd hinfallen, und damit bauen wir NEN]: Das müssen Sie einfach einmal richtig unser öffentliches Nahverkehrssystem aus .– Das wäre lesen!) notwendig . Sie sagen im Grunde: Wir können das besser machen .– Ich sage Ihnen Folgendes: Die Baudezernentin von Ich will nicht sagen, dass jede einzelne Ihrer Forderun- Bremerhaven hat neulich an einem Gespräch mit einigen gen unvernünftig ist . Es gibt sicherlich einige Ansätze, Mitgliedern des Verkehrsausschusses teilgenommen . die auch wir für richtig halten. Aber ich finde, das klingt sehr nach Reparaturbetrieb und nicht nach einer wirkli- (Stefan Zierke [SPD]: In meiner Frage ging chen Alternative . es um Berlin! Ist die Frage damit beantwor- tet? – Gegenruf von der SPD: Ja, die Frage ist beantwortet!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen . – Na ja, okay . Wenn Sie sie als beantwortet ansehen, ist das okay . Aber ich führe das noch aus . (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ja, das Gefühl hatte ich auch!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Es ist so gedacht, dass man auf eine Frage antwortet; Sabine Leidig (DIE LINKE): das ist völlig richtig . Ich glaube, das ist jetzt geklärt . Ich habe doch noch eine Minute . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16619

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: notwendigen Schwerpunkt „Erhalt vor Neu- und Aus- (C) Minus, Entschuldigung! Sie haben schon eine Minute bau“ gesetzt . 69 Prozent der gesamten Gelder sind für überzogen . den Erhalt vorgesehen . Zum Vergleich: Im Bundesver- kehrswegeplan 2003 waren dies 56 Prozent . Außerdem (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten im ganzen haben wir die grundsätzliche Festlegung getroffen, dass Hause) es beim Aus- und Neubau um viel befahrene Verkehrs- wege, Lückenschlüsse und Engpassbeseitigung geht . Sabine Leidig (DIE LINKE): Für uns als Sozialdemokraten, als SPD, war es darüber Oh, dann komme ich zum Schluss; pardon . hinaus besonders wichtig, dass wir in den Koalitionsver- (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Vielleicht handlungen eine sechswöchige Öffentlichkeitsbeteili- sollte man mehr Geld in Bildung investie- gung durchgesetzt haben . Bis zum 2 . Mai 2016 können ren! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie sich unter www bvwp. .de noch beteiligen . Ich rufe Das Ding läuft rückwärts!) dazu auf . Diese Bürgerbeteiligung ist ein sinnvolles In- strument . Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass wir in unse- rem Antrag fordern, diesen Plan zurückzuziehen und ein Ich sage Ihnen deshalb: Den Antrag und die Kritik der wirklich alternatives Mobilitätskonzept vorzulegen, das Grünen teile ich nicht . das Verkehrswachstum beendet, den Verkehr zielgerich- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – tet von den Straßen auf Schienen verlagert – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Meinung?) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Wir haben im neuen Bundesverkehrswegeplan Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte wirklich zum 41,3 Prozent der Mittel für die Schiene, 49,4 Prozent für Schluss! die Straße und 9,3 Prozent für die Wasserstraßen vorge- sehen . Sabine Leidig (DIE LINKE): Aus meiner Sicht müssen wir auch ein besonderes – und Mobilität im Einklang mit Klimaschutzzielen Augenmerk auf die Infrastruktur für den Schienengüter- ermöglicht . verkehr richten . Wenn man sich die Verkehrsprognosen Danke . anschaut, dann stellt man fest, dass für den Schienengü- terverkehr bis 2030 eine Zunahme von sage und schreibe (Beifall bei der LINKEN – Thomas Jarzombek 42,9 Prozent prognostiziert wird . Mehr Güterkapazitäten [CDU/CSU]: Wir sollten mehr Geld in Bil- (B) auf der Schiene sind also dringend notwendig . Daneben (D) dung investieren!) müssen die Straßeninfrastruktur entlastet und die Klima- schutzziele – darin sind wir uns einig – erreicht werden . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Ich sage: Das geht nur mit einer Stärkung der Schiene . Als nächster Redner hat Martin Burkert von der Deswegen verbietet es sich übrigens auch, dass man bei SPD-Fraktion das Wort . der DB Cargo einen Schrumpfkurs forciert . Auch darü- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ber wird zu reden sein . der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Martin Burkert (SPD): Einen Kritikpunkt muss ich hier aber anbringen: Bei dem Abschnitt über die Schienenprojekte im Bundesver- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und kehrswegeplan, lieber Herr Staatssekretär, Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Entwurf des Bundesverkehrswegeplans liegt seit März dieses (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jahres vor . Er ist eine gute Vorlage – das will ich aus- NEN]: Er hört nicht zu!) drücklich sagen – im Hinblick auf die langfristige Pla- nung und Prioritätensetzung im Bereich des deutschen könnte man schon den Eindruck gewinnen, dass er ein Verkehrsnetzes . Wir reden über ein Gesamtvolumen von wenig oberflächlich bearbeitet wurde. 264,5 Milliarden Euro . Dass diese Investitionen wichtig, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- richtig und notwendig sind, wird darin ausdrücklich ge- NEN]: Aha!) schildert . Ich will deshalb darauf hinweisen, Frau Wilms, dass die gesamte Verkehrsbranche diesen Entwurf des Ich will dazu ein Beispiel aus Bayern nennen, nämlich Bundesverkehrswegeplans positiv bewertet . VDE 8 – Hochgeschwindigkeitstrasse München–Ber- lin –, das letzte Verkehrsprojekt Deutschen Einheit, das (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Reden Sie mal noch nicht umgesetzt ist . Warum hier Teilstrecken des mit den Kommunen!) wichtigen Schienenprojekts zwischen Nürnberg und Er- furt aus dem Bezugsfall genommen und neu berechnet Es gibt hier fast keine negativen Stimmen, und das ist werden sollen, ist nicht erklärbar . Es geht faktisch um auch zu Recht so . den Güterzugtunnel in Fürth und die Ausbaustrecke in Wir haben wichtige Neuerungen verankert . Im Fokus Bamberg . Einzelabschnitte bleiben im Bezugsfall, ande- stehen dabei die überregionalen Verkehrsprojekte, die auf re sollen neu berechnet werden . Hier sehe ich einen drin- das Gesamtverkehrsnetz wirken . Daneben haben wir den genden parlamentarischen Handlungsbedarf . 16620 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Martin Burkert (A) Ein anderes auffälliges Beispiel: Dass die sogenannte Thomas Jarzombek (CDU/CSU): (C) Mottgers-Spange im Entwurf des Bundesverkehrswege- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir planes noch aufgeführt wird, muss aus bayerischer Sicht haben heute einiges dazu gehört, wie sich die Grünen ebenfalls grundlegend hinterfragt werden, haben sich vorstellen, eine Bundesverkehrswegeplanung durchzu- doch zumindest alle Verantwortlichen aus Bayern hier führen . Ich kann Ihnen sagen: Die Menschen in diesem dafür ausgesprochen, dass diese Variante nicht mehr wei- Land sind froh, dass die Grünen gerade nicht die Bundes- terverfolgt werden sollte . verkehrswegeplanung bis 2030 machen . Wir sind auf den Dialog und auf das Moratorium, das (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom in Hessen stattfinden wird, sowie die dortigen Antworten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) gespannt . Mir ist das alles bekannt . Aus bayerischer Sicht sage ich: „Ein totgerittenes Pferd braucht man auch nicht Sie reden so viel vom Fahrradverkehr und Ähnlichem . mehr zu satteln“, um das einmal deutlich zum Ausdruck Bei der letzten Wahlwerbesendung im Fernsehen sah zu bringen . ich einen Ministerpräsidenten der Grünen, der mit einer S-Klasse durchs Land gefahren ist . (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dann können Sie ja absteigen!) (Michael Donth [CDU/CSU]: Jawohl!) Ein Ausbau zwischen Frankfurt und Fulda wäre an dieser Offensichtlich wurde hier bei Ihnen schon ein gewisser Stelle sicherlich sinnvoller . Modifikations- und Anpassungsbedarf befriedigt. Ein Wort noch ans Ministerium, lieber Herr Staatsse- Ich kann etwas Positives zu Ihrem Antrag sagen: Er kretär . enthält eine wirklich ehrliche Analyse der Verkehrspoli- tik aus der rot-grünen Regierungszeit . Sie schreiben, die (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bisherige Bundesverkehrswegeplanung stehe „in einem NEN]: Er hört aber immer noch nicht zu!) eklatanten Missverhältnis zu vorhandenen Haushalts- mitteln“ .– Das stimmt . Ich weiß gar nicht mehr, ob es Der fortschreitende Rückbau von Personal in der Eisen- ­Bodewig, Stolpe oder Klimmt war: bahnabteilung im BMVI ist meiner Meinung nach ein sichtbar falsches Signal . Gegenüber der Deutschen Bahn (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- AG muss das Verkehrsministerium auch in Bezug auf die NEN]: Es gab auch so viele grüne Verkehrs- Bearbeitungsstärke Koch und nicht Kellner sein . Der Be- minister!) weis kann ja noch angetreten werden, aber das muss man hier auch einmal sagen . Es war jedenfalls ein Verkehrsminister der rot-grünen Regierung, der den letzten Bundesverkehrswegeplan im (B) Als bayerischer Verkehrspolitiker möchte ich ab- Jahr 2003 aufgestellt hat . (D) schließend ganz allgemein die Perspektive des Freistaats (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ansprechen: NEN]: Die SPD widerspricht gar nicht!) Wir begrüßen es, dass vieles umgesetzt wird . Das Die Erfindung dieses Ministers bestand in der Pla- ist gut für die Menschen vor Ort . Eine Steigerung der nungsreserve; das kann man auch heute noch nachlesen . Pkw-Zahlen in ganz Deutschland um 10 Prozent bedeu- tet für das Transitland Bayern 30 Prozent mehr Verkehr . Sie gewährleistet ein zusätzlich umsetzbares Bau- Deswegen sind die Projekte zu Recht entsprechend be- potenzial, das dann aktiviert werden kann, wenn es nannt . 365 Projekte für die Straße und 220 Ortsumgehun- bei anderen Vorhaben zu Verzögerungen bei der Re- gen wurden angemeldet, leider keine Priorisierung; das alisierung kommt . hätten wir uns gewünscht, Kollege Lange . Aber ich bin überzeugt, wir werden da einiges zurechtrücken können . So hat er das damals gesagt . Ich glaube, wenn sich vor Ort über die Parteigrenzen Meine Damen und Herren, diese Planungsreserve hat hinweg alle einig sind, dass Projekte zurückgestuft oder dazu geführt, dass manche Investitionsrahmenpläne drei- ganz aus dem Plan herausgenommen werden, dann soll- fach überzeichnet gewesen sind . Jetzt wollen Sie doch ten wir das auch tun, um dann Geld für wichtige Projekte nicht allen Ernstes uns den Vorwurf machen, dass wir zur Verfügung zu haben . Ich bin überzeugt: Wir werden immer noch dabei sind, eine unglaubliche Bugwelle von noch in diesem Jahr einen guten Bundesverkehrswege- teilweise Fantasieprojekten, die Sie in die Welt gesetzt plan beschließen . haben, abzubauen . (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank . NEN]: Sie setzen das aber fort!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Insofern, glaube ich, sollten Sie eher ein Lob für uns der CDU/CSU) haben, dass die Finanzierung bei diesen Projekten jetzt realistisch ist . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Thomas (Dr .V alerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jarzombek von der CDU/CSU-Fraktion das Wort . NEN]: Machen Sie doch mal den harten Schnitt! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie uns aber er- ordneten der SPD) klären!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16621

Thomas Jarzombek (A) – Den harten Schnitt, liebe Frau Kollegin Wilms, fordern die Quote nahezu fifty-fifty. Wir sind jetzt bei 69 Prozent (C) Sie in Ihrem Antrag . Erhalt und 31 Prozent Neubau . Insoweit ist das eine ver- nünftige und nachhaltige Politik . Es ist eine Politik, die (Dr .V alerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wirklich vor Ort hilft . NEN]: Ja!) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber daran sieht man, dass die Wahrnehmung der Wirk- lichkeit mit jedem Oppositionsjahr weiter abnimmt . Da Sie immer noch auf dem Rechnungshof und dem NKV herumreiten: Ich habe einmal im BWL‑Studium (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gehört, dass man Kosten nicht berechnen kann, weil alle SES 90/DIE GRÜNEN – Dr .V alerie Wilms Gemeinkosten am Ende doch sehr willkürlich sind . Ich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht glaube auch, dass in der gesamten NKV‑Rechnung eine nimmt sie auch in jedem Regierungsjahr wei- ganze Reihe willkürlicher Komponenten enthalten sind . ter ab!) Wenn der Rechnungshof sich immer wieder darauf fo- Sie wissen doch, wie der Bundesverkehrswegeplan auf- kussiert und sagt, dass eine Schleuse unwirtschaftlich sei, gestellt wird . Dafür sind jahrelange Berechnungen, Gut- weil er sie nur als Schleuse betrachtet und nicht sieht, achten, Planungen, Bürgerbeteiligungen, Beteiligungs- dass sie einen Engpass für den gesamten Binnenwas­ verfahrens in den Ländern und alles Mögliche gemacht serweg, der an ihr dranhängt, darstellt, dann ist das, finde worden . Wenn Sie heute fordern, alles wieder auf null ich, eine sehr willkürliche Kostenbetrachtung . zu stellen, dann haben wir auf Jahre eine Zeit völliger (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Unsicherheit und ohne Planungsstrategie . Deshalb klingt Rechnungshof immer fast so wie TÜV; Da Sie fragen, was diesem Plan zugrunde liegt, erkläre aber in Wahrheit liegen hier schwere systematische Feh- ich das vielleicht noch einmal . Das könnte man nachle- ler vor . Darüber müssen wir, glaube ich, noch einmal re- sen . Man hätte auch heute Morgen um 7 .30 Uhr zum Ter- den . min mit der DB gehen können . Sie waren doch auch da, Herr Krischer . Da wurden doch die nationalen Korridore, Der Bundesverkehrswegeplan hat jetzt ein Gesamt- die Sie fordern, recht klar erklärt . volumen von 264 Milliarden Euro . Dieses Volumen ist zum ersten Mal ein realistisches . Damit werden wir in (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland viele gute Projekte realisieren können – NEN]: Ich? – Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/ auch diejenigen, die mir selber am Herzen liegen und DIE GRÜNEN]: Der Kollege Gastel und ich wofür ich mich einsetze, nämlich beispielsweise für das waren da! – Michael Grosse-Brömer [CDU/ fünfte und sechste Gleis zwischen Duisburg und Düssel- CSU]: Daran kann er sich gar nicht erinnern!) (B) dorf, den bestmöglichen Lärmschutz beim Rhein-Ruhr- (D) – Ach, der Kollege Krischer war um 7 .30 Uhr noch nicht Express und den Regionalhalt in Benrath . da . Das nehme ich zur Kenntnis, das ist kein Problem . Vielen Dank . Der Kollege Gastel wird Ihnen sicherlich berichtet ha- ben, was die Strategien sind . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Sie konnten die nationalen Korridore, die heute Mor- gen vorgestellt wurden, doch sehr gut sehen . Dass diese Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: mit den europäischen TEN-Korridoren korrespondieren, Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Gustav Herzog ist sinnvoll . Genauso sinnvoll ist, dass ein Ausbau des von der SPD-Fraktion das Wort . 740‑Meter-Netzes geplant ist, damit auch längere Güter- züge überall durch Deutschland fahren können, und dass (Beifall bei der SPD) es die Knotenpunkt- und Engpassbeseitigung gibt . Gustav Herzog (SPD): Ich lese Ihnen das mal vor: Bei der Schiene ist es so, dass Engpässe auf einer Länge von 700 Kilometern Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! abgebaut werden . Damit werden 11 400 Stunden an Bei den gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen sonst jährlich zu erwartender Wartezeit abgebaut . Das Grünen und der Union musste ich etwas schmunzeln . entspricht schon einmal 11 Prozent der zu erwartenden Die Grünen haben beim Bundesverkehrswegeplan mit- Zugverspätungen . Über 1 Milliarde Pkw‑Kilometer und gewirkt, und kurz danach war die Union in der Regie- 780 000 Lkw‑Fahrten pro Jahr werden damit vermieden . rungsverantwortung . Wir müssen also sehen, dass wir Das ist Engpassbeseitigung, weil wir uns ganz gezielt auf alle für den heutigen Zustand die Verantwortung tragen . die Knoten fokussieren . Deswegen ist etwas mehr Zurückhaltung in dieser Frage geboten . Und so schlecht war das ja auch wirklich nicht . Das ist auch bei der Straße der Fall . Deshalb gibt es auch die neue Kategorie: Vordringlicher Bedarf – Eng- Vor wenigen Tagen hat mir Staatssekretär Ferlemann passbeseitigung . Das liegt daran, dass der Kern dieses eine Liste darüber zugeschickt, was denn aus dem letz- Bundesverkehrswegeplans die Beseitigung von Engpäs- ten Bundesverkehrswegeplan im Bereich Fernstraße er- sen ist . ledigt worden ist . Danach liegen wir für das Jahr 2014 bei 70 Prozent . Wenn man jetzt das hineinrechnet, was Eine weiterer Kernaussage lautet: Erhalt vor Neu- damals als Planungsreserve angenommen worden ist, bau . Ich vergleiche einfach einmal: In dem letzten von dann kann man sagen, dass wir insgesamt gute Arbeit im Ihnen aufgestellten Bundesverkehrswegeplan 2003 war Bereich Neu- und Ausbau geleistet haben . Ich gebe allen 16622 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Gustav Herzog (A) recht, die sagen, wir hätten mehr im Bereich des Erhalts schen vor Ort eine viel größere Vorstellungskraft haben (C) tun müssen . und vieles davon schon realisieren . Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grünen ver- ( [CDU/CSU]: Sie haben langen, dass wir den Bundesverkehrswegeplan weiter- doch geredet!) entwickeln . Deswegen lohnt sich der Blick zurück auf Es gibt praktisch gegen alle großen Autobahnausbau- das Jahr 2003 . Hat es denn eine Weiterentwicklung zu und -neubauprojekte seit Jahren Bürgerinitiativen . diesem Entwurf gegeben? Ja, es hat sie, was das Verfah- ren angeht, gegeben . Noch niemals war das Verfahren so Ich möchte gerne wissen: transparent und mit so viel Bürgerbeteiligung versehen . (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mal eine Frage, bitte! – Gitta Connemann NEN]: Was?) [CDU/CSU]: Frage!) Frau Kollegin Wilms, es wurde bewusst ein erster Ar- Welche konkrete Vorstellung haben Sie davon, wie dieser beitsentwurf erstellt . Die Regierung sagt: Wir nehmen Umbau stattfinden soll? den Sachverstand der Bürgerinnen und Bürger bzw . aller, die sich beteiligen wollen, um aus einem guten Plan ei- Gustav Herzog (SPD): nen besseren zu machen . Und das Sahnehäubchen setzen Frau Kollegin Leidig, ich glaube, Sie machen einen wir als Parlament dann darauf . grundlegenden Denkfehler, weil Sie der Auffassung sind, die Straße, die Schiene oder die Wasserstraße produzie- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – ren CO oder NO . Dr .V alerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 2 x NEN]: Aber auf Ihre eigene Umweltministerin (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der hören Sie nicht mehr, oder?) CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Aber das, was darauf fährt!) Ich komme zu den Inhalten, die dieser Plan enthält . Ich glaube, die Opposition war richtig erschrocken, als Das ist nicht der Fall . der Bundesverkehrsminister den Plan im Ausschuss vor- (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Natürlich!) legte; denn alle ihre Erwartungen – die darauf hinauslie- fen, wir würden jetzt nur noch Straßen bauen und keinen Es sind die Verkehrsmittel, die darauf bewegt werden . Erhalt mehr vornehmen; also all das, was Sie sich so an Jetzt erläutere ich Ihnen meine Version: Auf der Was- Kritik vorgenommen haben – haben sich nicht erfüllt . serstraße werden die Schiffe mit Wasserstoff- und Brenn- Diese Kritik können Sie doch einpacken . (B) stoffzelle fahren . Wir werden den Schienenverkehr, ob (D) (Zuruf der Abg . Sabine Leidig [DIE LINKE]) Nahverkehr, Fernverkehr oder Güterverkehr, bis 2050 zu 100 Prozent mit grünem Strom versorgen, und es wird Sie ist einfach nicht gerechtfertigt, weil das, was im auch weiterhin der Individualverkehr mit dem Pkw statt- Koalitionsvertrag festgelegt worden ist und was wir am finden. Mit der Elektromobilität werden wir dafür sorgen, 25 .März letzten Jahres gemeinsam im Deutschen Bun- dass kein CO2‑Ausstoß erfolgt . Aber weiterhin wird die destag beschlossen haben, vollzogen worden ist: Erhalt Straße, ob Bundesstraße oder kommunale Straße, not- vor Neubau, eine ausgewogene Verteilung auf die Ver- wendig sein . Das werden wir in 2050 haben: CO2‑freier kehrsträger und Beseitigung von Engpässen . Verkehr auf Straße, Schiene und Wasserstraße . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol- Und die Lkws? Das ist eine absurde Vorstel- legin Leidig zu? lung: Lkws mit Elektromotor!) Ich war gerade bei der Frage der Kollegin Wilms nach Gustav Herzog (SPD): einem Vorrangnetz . Frau Kollegin Wilms, wenn Sie sich Aber immer doch, gerne . die Arbeit machen, das nachzulesen, was wir im Bun- desverkehrswegeplan zur Engpassbeseitigung skizziert haben, zum Beispiel bei TEN‑Projekten und den Was- Sabine Leidig (DIE LINKE): serstraßen der Kategorie A, dann stellen Sie eine große Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen .– Also, wir Übereinstimmung fest . Das, was Sie als Vorrangnetz sind gar nicht erschrocken, weil wir es gar nicht anders wünschen, ist bereits im Plan abgebildet . erwartet haben . Ich möchte Ihnen aber schon ganz ernst- (Dr .V alerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haft, Kollege Herzog, eine Frage stellen . Es gibt die Vor- NEN]: Was ist mit den Ortsumfahrungen, Herr stellung, dass wir in 34 Jahren – um mehr Zeit geht es Kollege? 25 Prozent Ortsumfahrungen!) nicht; es ist wahrscheinlich so, dass wir es noch erleben können – mit null Öl- und CO2‑Emissionen auskommen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe ein anderes sollen . Können Sie sich vorstellen, wie das mit der Infra- Problem . Wir haben einen Plan . Wir haben Geld . Aber struktur realisiert werden soll, auf die Sie jetzt zusteuern? wir suchen die Ressource, um das alles in den nächsten Das interessiert mich einfach. Ich finde es auch schwer Jahren umzusetzen . Wir haben heute Morgen die Vertre- vorstellbar, aber meine Wahrnehmung ist, dass die Men- ter der DB AG gezielt gefragt, wie sie das alles umsetzen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16623

Gustav Herzog (A) wollen . Wir wissen aus der Wasserstraßen- und Schiff- wir uns noch einmal damit befassen . Es kann jedenfalls (C) fahrtsverwaltung, dass dringend Personal für Planung nicht allein um den Flächenverbrauch gehen . und Bau benötigt wird . Wir wissen auch, dass die Länder häufig nicht in der Lage sind, all das umzusetzen, was Abschließend will ich noch etwas zur Verlagerungs- wir für notwendig halten . Von daher sollten wir in Zu- perspektive sagen . Wir geben deutlich mehr Geld für kunft das Augenmerk verstärkt darauf richten, wie wir all Schiene und Wasserstraße aus, als diese an Verkehrsleis- das Gute, das wir im Deutschen Bundestag beschließen tungen erbringen . Frau Kollegin Leidig, im Übrigen stellt werden, dann auch dem Bürger und der Bürgerin zur Ver- der Bund den Ländern 8 Milliarden Euro an Regionali- fügung stellen können . sierungsmitteln für den Schienenpersonennahverkehr zur Verfügung . Das ist mehr, als wir für die Straße ausgeben . Der Entwurf des Bundesverkehrswegeplans ist positiv bewertet worden . Der nordrhein-westfälische Verkehrs- (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Aber deutlich minister hat ihn als größtes Antistauprogramm für sein zu wenig!) Land bezeichnet . Das ist mehr, als wir für die Schiene ausgeben . Das ist (Martin Burkert [SPD]: Welcher denn?) mehr, als wir für den Fernverkehr ausgeben . Das ist mehr, als wir für die Wasserstraße ausgeben . Ihre Behauptung, Bei Bayern tue ich mich etwas schwer, Kollege Burkert, der Bund komme seiner Verantwortung für den kommu- weil ich nicht genau weiß: Wer ist wofür oder gegen et- nalen Verkehr nicht nach, geht völlig an der Wirklichkeit was, und zwar parteiübergreifend? Aber die anderen, die vorbei . sich mit Verkehrspolitik beschäftigen, finden es gut. Ich nehme es als ein positives Signal, dass es auch seitens Ich freue mich auf die weiteren Beratungen . derjenigen, die immer darauf achten, ob die Ahrensbur- ger Liste und die Düsseldorfer Liste berücksichtigt wor- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – den sind, eine große Übereinstimmung gibt . Da haben Sabine Leidig [DIE LINKE]: Sie geben 7 Mil- wir unsere Hausaufgaben gemacht . liarden Euro für die Dieselsubventionen aus! Das ist Unsinn! Da machen Sie sich etwas Weil alle Parteien bis auf die Linke am 13 . März in vor!) drei Ländern in Regierungsverantwortung hineinmanö­ vriert wurden, halte ich fest: Auch in den Koalitionsver- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: trägen in den drei Ländern findet der Bundesverkehrswe- geplan mit geringen Abweichungen Zustimmung . Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Debatte hat Ulrich Lange von der CDU/CSU-Fraktion das Wort . Ich will mich noch in drei Punkten mit den Kritikern (B) auseinandersetzen . (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Erstens, der Klimaschutz . Frau Kollegin Leidig, es geht um den Bundesverkehrswegeplan, nicht um den Ulrich Lange (CDU/CSU): Klimaschutzplan der Bundesrepublik . Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, er liegt endlich da . (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber das muss doch zusammenpas- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sen!) NEN]: Am Boden!) Es findet aber in diesem Plan eine sehr sorgfältige Abwä- Natürlich freuen wir uns über den ersten Entwurf eines gung statt, welche Auswirkung welcher Investitionsan- Bundesverkehrswegeplans . teil bei den verschiedenen Verkehrsträgern hat . Eine Er- höhung der Investitionen auf 62 Prozent bei der Schiene (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- würde lediglich zu einer Einsparung von 1 Million Ton- NEN]: Wo sind denn die Schienenprojekte?) nen von 190 Millionen Tonnen CO im Jahr 2030 führen . 2 Wir haben überwiegend große Zustimmung erfahren . Der gesellschaftliche Anspruch der Leichtigkeit und Si- Liebe Kollegin Leidig, Sie haben schon eine sehr selek- cherheit des Verkehrs überwiegt hier eindeutig . tive Wahrnehmung, Den zweiten Punkt – Thema Klimaschutz – habe ich schon genannt: Wir müssen darauf setzen, dass die (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ich habe eine andere Perspektive! Zum Glück!) Verkehrsmittel, die genutzt werden, CO2-frei unterwegs sind . wenn Sie sich nur mit Bürgerinitiativen, die dagegen Was den Flächenverbrauch angeht, habe ich einen sind, auseinandersetzen . Wir sprechen genauso gern mit Blick in die große Liste des Umweltbundesamtes gewor- Bürgerinitiativen, die dafür sind, weil wir auch einmal fen . Damit werden wir uns insgesamt noch sehr sorgfältig für etwas sein wollen und sein können . auseinandersetzen . Zum Lückenschluss der A 1 zwischen (Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Leidig Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind drei Pro- [DIE LINKE]: Würde ich ja gern!) jekte vorgesehen, darunter eines über eine Strecke von 10 Kilometern und eines über 6 Kilometer . Zwei dieser Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, es ist Projekte sollen umgesetzt werden; eines wurde vom wirklich müßig, aber das Spiel läuft immer gleich: Für UBA gestrichen . Das ist nicht logisch . Deswegen müssen Sie ist Doppelzüngigkeit typisch, wenn es um das Ver- 16624 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

Ulrich Lange (A) hältnis zwischen Berlin und den Ländern geht . Sie ver- Wir haben die Umweltverträglichkeit im Rahmen der (C) halten sich immer gleich . Strategischen Umweltprüfung überprüft . Da wir hier ei- nen Bundesverkehrswegeplan vorlegen, kann ich man- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- che Kritik nicht ganz nachvollziehen . NEN) Hier in Berlin sagen Sie, man könne mit diesem Bundes- (Dr .V alerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verkehrswegeplan überhaupt nichts anfangen . Ich darf NEN]: Was haben die Ortsumgehungen damit zwei Ihrer Länderkollegen zitieren . Der Verkehrssenator zu tun?) Joachim Lohse aus dem Stadtstaat Bremen sagt – Frau Für uns gilt noch immer, dass die verkehrlichen Belange Kollegin Leidig, vielleicht hören auch Sie zu, da Sie sich und die Umweltbelange gegeneinander abzuwägen sind über diesen Stadtstaat geäußert haben –: „Aus Bremer und dass an der einen oder anderen Stelle die verkehrli- Sicht ist der neue Bundesverkehrswegeplan ein voller chen Belange überwiegen müssen . Erfolg .“ (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) NEN]: Da geht es um die A 100!) Denn am Ende gilt immer noch: Mensch vor Maus . Aus Baden-Württemberg hören wir von Winnie Hermann, (Beifall bei der CDU/CSU) dem Minister der Spatenstiche in den letzten Wochen und Monaten – das hat ihm richtig gut gefallen; bei jedem Das, was Sie wollen, wäre ein sofortiger Stopp Ihres Spatenstich wollte er gleich einen neuen Spaten für den eigenen Gesetzes . Nein, das machen wir nicht; denn wir nächsten Stich haben –, zum neuen Bundesverkehrswe- sind gesetzestreu . Das gilt für uns Parlamentarier ebenso geplan: „Es bleiben da nur wenige Wünsche offen .“ wie für die Bundesregierung . Wir werden das, was be- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das schlossen wurde, umsetzen . Das geschah damals nicht sagt ein Grüner! Alle Achtung!) mit unserer Mehrheit; aber wir arbeiten gemeinsam daran seit vielen Jahren, und zwar in den unterschiedlichsten­ Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, ein biss- Konstellationen, übrigens auch ganz intensiv mit den chen mehr innere Stringenz täte Ihnen wirklich gut . Grünen in den Ländern, wenn es um die Umsetzung eini- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – ger Projekte geht, die auch sie nicht stoppen . Orientieren Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie sich bitte auch hier an der Realität . NEN]: Und das von der CSU!) 141,6 Milliarden Euro für den Erhalt zeigen auch (B) Wir haben einen durchfinanzierten Bundesverkehrs- die neue Qualität des Bundesverkehrswegeplans . Dem (D) wegeplan . Grundsatz „Erhalt vor Neubau“ wurde weiß Gott Rech- nung getragen . Liebe Kollegin Wilms, weil Sie es von (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mir auch heute Nachmittag unbedingt noch einmal hören Wir haben für einen Investitionshochlauf gesorgt . Wir wollen: Ja, zum Glück haben wir Ortsumfahrungen; denn haben die Wende hin zu mehr finanziellen Mitteln für die es gibt viele gute und wichtige Ortsumfahrungen . Verkehrsinfrastruktur und alle Verkehrsträger geschafft . (Dr .V alerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das ist eine große Leistung der Großen Koalition . NEN]: Nein!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie sind wichtig zur Entlastung der Menschen . Ortsum- NEN]: Sie sind ein Schönrechner! – Dr .V alerie fahrungen sind nicht grundsätzlich negativ . Viele Orts- Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da umfahrungen sind einfach verkehrlich gut . bin ich gespannt, ob die kommen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wir haben die Beseitigung des Engpasses beim vor- ordneten der SPD) dringlichen Bedarf priorisiert . Aber wir haben mit un- serem Beschluss auch klar festgelegt: Es gibt zunächst Wir haben mit dem Entwurf des Bundesverkehrs- einen vordringlichen Bedarf und dann einen weiteren wegeplans etwas Positives auf den Weg gebracht . Jetzt Bedarf . ist eines gefordert: Auch die Länder müssen mitziehen; denn der Bund allein kann es nicht . Nur, eines geht in (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zukunft nicht mehr: der Fingerzeig auf den Bund, weil NEN]: Und einen potenziellen Bedarf!) nicht gebaut werden kann, ganz egal aus welchem Land Wir bewegen uns also in zwei Blöcken mit klaren Aussa- und von welcher Regierung er kommt . Wir haben einen gen . Wir haben zudem Netzzusammenhänge berücksich- Verkehrswegeplan in Arbeit, der bald fertig ist, und wir tigt . haben einen Finanzierungshochlauf . Liebe Länder, jetzt seid ihr dran, zu planen und Baurecht zu schaffen . Ihr (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- könnt nicht mehr mit dem Finger auf den Bund zeigen . NEN]: Es sind 70 Prozent der Schiene noch In diesem Sinne: Packen wir es an . nicht einmal bewertet!) Danke schön . Schauen Sie sich den Bundesverkehrswegeplan doch einmal genau an . Lesen bildet! (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16625

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- (C) ordnung . Vielen Dank .– Liebe Kolleginnen und Kollegen, da- mit schließe ich die Aussprache . Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- tags auf Mittwoch, den 11 . Mai 2016, 13 Uhr, ein . Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein Drucksache 18/8083 an die in der Tagesordnung aufge- schönes, erholsames Wochenende . Bis bald . führten Ausschüsse vorgeschlagen .– Ich sehe dazu kei- nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . (Schluss: 14 .02 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16627

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ 29 .04 .2016 Maizière, CDU/CSU 29 .04 .2016 DIE GRÜNEN Dr . Thomas de

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 29 .04 .2016 Middelberg, CDU/CSU 29 .04 .2016 Marieluise DIE GRÜNEN Dr . Mathias

Bleser, Peter CDU/CSU 29 .04 .2016 Müller, Bettina SPD 29 .04 .2016

Böhmer, Dr . Maria CDU/CSU 29 .04 .2016 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ 29 .04 .2016 DIE GRÜNEN Castellucci, Dr . Lars SPD 29 .04 .2016 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 29 .04 .2016 Dehm, Dr . Diether DIE LINKE 29 .04 .2016 DIE GRÜNEN

Fuchs, Dr . Michael CDU/CSU 29 .04 .2016 Scheuer, Andreas CDU/CSU 29 .04 .2016

Gabriel, Sigmar SPD 29 .04 .2016 Schulte, Ursula SPD 29 .04 .2016

Gohlke, Nicole DIE LINKE 29 .04 .2016 Steffel, Dr . Frank CDU/CSU 29 .04 .2016

(B) Grindel, Reinhard CDU/CSU 29 .04 .2016 Strobl (Heilbronn), CDU/CSU 29 .04 .2016 (D) Thomas Gröhe, Hermann CDU/CSU 29 .04 .2016 Thönnes, Franz SPD 29 .04 .2016 Held, Marcus SPD 29 .04 .2016 Ulrich, Alexander DIE LINKE 29 .04 .2016 Holmeier, Karl CDU/CSU 29 .04 .2016 Veit, Rüdiger SPD 29 .04 .2016 Janecek, Dieter BÜNDNIS 90/ 29 .04 .2016 DIE GRÜNEN Veith, Oswin CDU/CSU 29 .04 .2016

Klingbeil, Lars SPD 29 .04 .2016 Vogt, Ute SPD 29 .04 .2016

Kühn (Tübingen), BÜNDNIS 90/ 29 .04 .2016 Weinberg, Harald DIE LINKE 29 .04 .2016 Christian DIE GRÜNEN Weisgerber, CDU/CSU 29 .04 .2016 Kühn-Mengel, Helga SPD 29 .04 .2016 Dr . Anja

Lerchenfeld, Philipp CDU/CSU 29 .04 .2016 Wellmann, CDU/CSU 29 .04 .2016 Graf Karl-Georg

Lotze, Hiltrud SPD 29 .04 .2016 Whittaker, Kai CDU/CSU 29 .04 .2016

Ludwig, Daniela CDU/CSU 29 .04 .2016 Wicklein, Andrea SPD 29 .04 .2016

Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ 29 .04 .2016 Wolff (Wolmirstedt), SPD 29 .04 .2016 DIE GRÜNEN Waltraud 16628 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

(A) Anlage 2 Cornelia Möhring (DIE LINKE): Dem ablehnenden (C) Abschluss der Petition von Frau Hannemann kann ich Erklärungen nach § 31 GO nicht zustimmen . Dass die Petition von Frau Hannemann zur Abstimmung über die Empfehlung des Peti- mit Ablehnung abgeschlossen wurde, ist ein Armuts- tionsausschusses Sammelübersicht 289 (Druck- zeugnis . Die Petentin und mit ihr die 90 000 Unterstütze- sache 18/8092) zur Petition 4-18-11-81503-001721 rinnen und Unterstützer der Petition fordern die Abschaf- (Tagesordnungspunkt 26) fung der Sanktionsregelungen bei Hartz IV (SGB II) und in der Sozialhilfe (SGB XII) . Hierbei geht es um nicht Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Ich stimme für weniger als die Achtung der Menschenwürde: Die Ga- die Petition von Inge Hannemann, und damit stimme ich rantie des menschenwürdigen Existenz- und Teilhabemi- heute mit weiteren 90 000 Unterstützerinnen und Unter- nimums ist ein in Artikel 1 und 20 Absatz 1 Grundgesetz stützer dieser Petition zu . (GG) verankertes Grundrecht jedes Menschen, der sich in Deutschland aufhält. Das Sozialstaatsgebot verpflich- Ich stimme für die Petition von Frau Hannemann, weil tet den Staat, dieses Grundrecht zu gewährleisten . Die man von Hartz IV nicht leben kann . Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzmini- Genau das ist aber von der Mehrheit der hier im Bun- mums durch Sanktionen verletzt dieses Grundrecht . destag vertretenen Parteien politisch gewollt: Was diese Verletzung für den Alltag der von Sanktio- Hartz IV heißt Armut und Entbehrung per Gesetz . nen betroffenen Menschen bedeutet, hat Frau ­Hannemann als langjährige Mitarbeiterin in einem Jobcenter in Ham- Deshalb hat Die Linke als einzige Partei von Anfang burg in der öffentlichen Sitzung des Petitionsausschus- an Nein dazu gesagt . ses eindrücklich geschildert: Sanktionen entwürdigen die Ich stimme dafür, Sanktionen abzuschaffen, weil im Leistungsberechtigten, sie bedeuten im Effekt Elend und vergangenen Jahr in den Amtsstuben der Jobcenter und Ausschluss . Sanktionen erzeugen Zukunftsängste, sind der Optionskommunen knapp eine Million Mal Sank- psychisch stark belastend . Verlust von Selbstvertrauen, tionen verhängt wurden: 416 292 Menschen wurden Schlafstörungen oder Depressionen sind keine seltenen 2015 erstmals mit der Kürzung des Existenzminimums Erscheinungen . Viele Betroffene werden mit der Situati- bestraft . Die meisten davon nur wegen Meldeversäum- on nicht fertig und werden krank . Insbesondere bei jun- nissen . gen Erwachsenen nehmen Sanktionen sogar Wohnungs- losigkeit in Kauf . Nicht selten führen Sanktionen in die Einem nackten Menschen kann man nicht in die Ta- soziale Isolation, weil mit Rückzug aus dem eigenen sche greifen . Umfeld reagiert wird . Oftmals verschulden sich sanktio- (B) Aber wissen Sie, was diese Zahl bedeutet? Genau das . nierte Menschen, um überhaupt noch halbwegs über die (D) Einem von 200 Menschen in diesem reichen Land wurde Runde zu kommen . 2015 noch einmal in die Tasche gegriffen, obwohl man Sanktionen werden – so hat es auch Hannemann in der mit Hartz IV eh nichts in der Tasche hat . 108 Euro waren öffentlichen Sitzung ausgeführt – von den Betroffenen das im Durchschnitt . als Strafen verstanden; Strafen für ein Verhalten, welches Einem von 200 Menschen in unserem Land wurde die Jobcenter als falsch bewerten . Sanktionen behandeln 2015 damit das Existenzminimum verweigert, einem von damit erwachsene Menschen wie unmündige Kleinkin- 200 Menschen wurden die Menschenrechte gekürzt . Das der, denen ein Erziehungsberechtigter sagt, was es zu darf nicht sein . Darum stimme ich für die Petition . tun und zu lassen hat . Das Jobcenter wird im Auftrag des Gesetzgebers zu einem „Erziehungsberechtigten“ . Eine Inge Hannemann zitiert in ihrer Petition das Bundes- Funktion, die dem Jobcenter nicht zukommt, denn: Leis- verfassungsgericht: Das Existenzminimum gehört zur tungsberechtigte sind keine unmündigen Kinder, son- Menschenwürde . Es ist ein unverfügbares Grundrecht dern vollwertige Mitbürgerinnen und Mitbürger, deren und muss zu jeder Zeit garantiert werden . Würde und Autonomie zu respektieren ist . Hannemann Richtig, sage ich, und deshalb stimme ich heute gegen macht das Problem konkret deutlich: Leistungsberech- die Beschlussempfehlung des Ausschusses . tigte haben vielfach gute Gründe, den Anforderungen der Jobcenter nicht nachzukommen, sei es die x-te als Der Sozialstaat soll die Menschenwürde schützen und sinnlos empfundene, aber trotzdem vom Jobcenter auf- soll vor Zukunftsängsten schützen . erlegte Maßnahme, sei es der berechtigte Widerstand ge- Doch die Sanktionen bewirken das genaue Gegenteil, gen einen nicht existenzsichernden Job . Hannemann sagt sie machen Angst . zu Recht: Die betroffenen Menschen wissen selbst am besten, welche Maßnahmen hilfreich und nützlich sind An dieser Angst haben die Arbeitgeber in den Jahren und welche Auflagen ihrer Würde widersprechen. Statt seit der Einführung von Hartz IV nicht schlecht verdient: Hilfe und Unterstützung bei ihren eigenen Anstrengun- gen erfahren die Menschen in den Jobcentern einen bü- Die Zunahme von Leiharbeit und Niedriglöhnen seit rokratischen Apparat, der sie entwürdigt und maßregelt . der Einführung von Hartz IV wäre ohne Sanktionen Es fehlt den Jobcentern massiv an Zeit und Empathie für kaum möglich gewesen . das Eingehen auf die individuellen Nöte und Bedürfnisse Deshalb ist meine Stimme für die Petition zur Ab- der hilfeberechtigten Personen . Hilfe und Unterstützung schaffung der Sanktionen auch eine Stimme für gute Ar- statt Gängelung und Entwürdigung – das ist das Leitmo- beit und gute Löhne . tiv von Inge Hannemann . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16629

(A) Fast eine Million Sanktionen werden pro Jahr aus- unterstellt, dass die Erwerbslosigkeit und die Hilfebe- (C) gesprochen . Die Leistung wird im Durchschnitt jeder dürftigkeit der Betroffenen in erster Linie ein Ergebnis Sanktion um über 100 Euro reduziert . Wird mit diesen falschen Verhaltens sei und durch Sanktionsandrohungen beiden Eckdaten gerechnet, so spart die öffentliche Hand korrigiert werden könne . Das Jobcenter wird im Auftrag Jahr für Jahr fast 200 Millionen Euro an vorenthalte- des Gesetzgebers zu einem ,,Erziehungsberechtigten“ . nen Leistungen . Der Staat spart damit auf Kosten der Eine Funktion, die dem Jobcenter nicht zukommt, denn: Hartz-IV-Berechtigten, auf Kosten also von Menschen, Leistungsberechtigte sind keine unmündigen Kinder, die in Armut leben . sondern vollwertige Mitbürgerinnen und Mitbürger, de- ren Würde und Autonomie zu respektieren ist . Die Pe- Sanktionen unterschreiten Leistungen, die bereits un- abhängig von den Kürzungen bereits viel zu gering sind . tentin macht das Problem konkret deutlich: Leistungsbe- Ein Leben in Hartz IV bedeutet – politisch gewollt – ein rechtigte haben vielfach gute Gründe, den Anforderungen Leben in Armut und Entbehrung . Eine Kürzung dieser der Jobcenter nicht nachzukommen, sei es die x-te als bereits unzureichenden Leistung führt zu erheblichen sinnlos empfundene, aber trotzdem vom Jobcenter auf- sozialen Verwerfungen . Diese die Würde des Menschen erlegte Maßnahme, sei es der berechtigte Widerstand ge- verachtende Praxis muss endlich ein Ende haben . gen einen nicht existenzsichernden Job . Hannemann sagt zu Recht: Die betroffenen Menschen wissen selbst am besten, welche Maßnahmen hilfreich und nützlich sind Kersten Steinke (DIE LINKE): Dem ablehnenden und welche Auflagen ihrer Würde widersprechen. Statt Abschluss der Petition von Frau Hannemann kann ich Hilfe und Unterstützung bei ihren eigenen Anstrengun- nicht zustimmen . Die Petentin fordert mit guten Gründen gen erfahren die Menschen in den Jobcentern einen bü- die Abschaffung der Sanktionsregelungen bei Hartz IV rokratischen Apparat, der sie entwürdigt und maßregelt . (SGB II) und in der Sozialhilfe (SGB XII) . Es fehlt den Jobcentern massiv an Zeit und Empathie für 91 500 Menschen haben die Petition unterstützt . Frau das Eingehen auf die individuellen Nöte und Bedürfnisse Hannemann hat in einer öffentlichen Sitzung des Petiti- der hilfeberechtigten Personen . Hilfe und Unterstützung onsausschusses aus ihrer Erfahrung als langjährige Mit- statt Gängelung und Entwürdigung – das ist das Leitmo- arbeiterin in einem Jobcenter in Hamburg deutlich ge- tiv von Inge Hannemann, denn Arbeitslosigkeit ist das macht, dass Sanktionen die Leistungsberechtigten nicht Ergebnis der strukturellen Probleme des Kapitalismus . nur entwürdigen, sondern auch Elend und Ausschluss Betroffene werden zu Tätern der Arbeitsmarktkrise um- statt Hilfe und Unterstützung bedeuten . Dieser Argumen- gedeutet . Zudem blendet das Aktivierungskonzept aus, tation und der Forderung der Petition kann ich mich aus dass Hartz-IV-Leistungsberechtigte bereits jetzt vielfäl- Gesprächen mit Betroffenen nur anschließen . tig aktiv sind – sie gehen bereits Erwerbsarbeit nach (so- (B) genannte Aufstocker), sie leisten Erziehungs- oder Pfle- (D) Fast eine Million Sanktionen werden pro Jahr ausge- gearbeit, sie sind ehrenamtlich aktiv . Sie suchen aktiv sprochen . Die Leistung wird im Durchschnitt jeder Sank- nach Erwerbsarbeit . Die Bereitschaft zur Erwerbsarbeit tion um über 100 Euro reduziert . Dadurch kann der Staat muss ihnen nicht aufgezwungen werden . Im Gegenteil: Jahr für Jahr fast 200 Millionen Euro an vorenthaltenen Die Betroffenen empfinden die Erwerbslosigkeit als Leistungen auf Kosten der Ärmsten sparen . Ausschluss aus einem wichtigen Aspekt der sozialen Sanktionen stellen eine Unterschreitung des men- Teilhabe . schenwürdigen Existenzminimums dar . Es ist nicht zu akzeptieren, wenn in einem reichen Land wie Deutsch- land Menschen – trotz anerkannter Hilfebedürftigkeit – Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Ich stimme der existentieller Not bis hin zu Obdachlosigkeit ausgesetzt Ablehnung der Petition von Inge Hannemann nicht zu . werden . Mit Bezug auf das Bundesverfassungsgericht Es gibt gute Gründe, die Sanktionsregelung bei Hartz IV wird ausgeführt, dass die Garantie des menschenwürdi- (SGB II) und der Sozialhilfe (SGB XII) abzuschaffen . gen Existenzminimums durch die Menschenwürde und Mit 90 000 Stimmen für die Petition war das Quorum für das Sozialstaatsgebot ein zwingender Auftrag an den eine öffentliche Sitzung des Petitionsausschusses deut- Staat ist . Das Existenzminimum ist stets und zu jeder Zeit lich überschritten – was die gesellschaftliche Brisanz und zu garantieren, so die Urteile . Mit diesem Grundrecht ist das hohe Interesse der Bürgerinnen und Bürger zeigt . eine Unterschreitung des menschenwürdigen Existenz- Sanktionen bewirken, dass das menschenwürdige minimums durch Sanktionen nicht zu vereinbaren . Diese Existenz- und Teilhabeminium unterschritten wird und Einschätzung der Petentin wird mittlerweile auch geteilt von dem Sozialgericht Gotha (S 15 AS 5157/14) . Das Menschen in Not in noch größere Not gezwungen wer- Sozialgericht führt die verfassungsrechtlichen Beden- den, Unterversorgung und drohende Obdachlosigkeit in- ken an den Sanktionsregeln bei Hartz IV aus und hat die klusive . Fast eine Million Sanktionen werden pro Jahr Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung ausgesprochen . Mit Bezug auf das Bundesverfassungs- vorgelegt . Mehr als jeder dritte Widerspruch und 40 Pro- gericht führt die Petentin mit Recht aus, dass das men- zent aller Klagen gegen Hartz-IV-Sanktionen bekommen schenwürdige Existenzminimum durch die Menschen- Recht . würde und das Sozialstaatsgebot zwingender Auftrag des Staates ist . Sanktionen sind für die Betroffenen Strafen . Sanktio- nen behandeln damit erwachsene Menschen wie unmün- Auch einer juristischen Prüfung hält die Sanktionspra- dige Kleinkinder, denen ein Erziehungsberechtigter sagt, xis oft nicht stand, wie kürzlich eine kleine Anfrage der was es zu tun und zu lassen hat . Das Sanktionsregime Linken-Abgeordneten Katja Kipping zeigte . 16630 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

(A) Sanktionen entmündigen die von Hartz IV und So- beitslosigkeit das Ergebnis der strukturellen Probleme (C) zialhilfe betroffenen Menschen und despektieren deren des Kapitalismus ist . Stattdessen werden die Betroffe- Würde und Autonomie . Statt Hilfe und Unterstützung er- nen zu den Verantwortlichen der Arbeitsmarktkrise um- fahren sie einen bürokratischen Apparat, der sie maßre- gedeutet . Zudem blendet das Aktivierungskonzept aus, gelt und gängelt . Sanktionen führen stärker zu sozialem dass Hartz-IV-Leistungsberechtigte bereits jetzt viel- Rückzug, belasten den gesundheitlichen Zustand und die fältig aktiv sind – sie gehen bereits Erwerbsarbeit nach subjektive Befindlichkeit der Sanktionierten, wie eine (sogenannte Aufstocker), sie leisten Erziehungs- oder unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zu Ursa- Pflegearbeit, sie sind ehrenamtlich aktiv, sie suchen aktiv chen und Auswirkungen von Sanktionen bei Hartz IV nach Erwerbsarbeit . Die Bereitschaft zur Erwerbsarbeit und Sozialhilfe aufzeigt, die im Auftrag des Ministeri- muss ihnen nicht aufgezwungen werden . Im Gegenteil: ums für Arbeit, Integration und Soziales, NRW, erstellt Die Betroffenen empfinden die Erwerbslosigkeit als Aus- wurde . schluss aus einem wichtigen Aspekt der sozialen Teilha- be . Die Vorstellung einer „Hängemattenmentalität“ bei Die Sanktionspraxis unterstellt den Menschen in den Betroffenen, die quasi mit Gewalt ausgetrieben wer- Hartz IV und Sozialhilfe, dass sie durch eigenes falsches den müsse, geht an der Wirklichkeit vorbei und befördert Verhalten in diese Hilfebedürftigkeit geraten sind oder soziale Diskriminierung und Stigmatisierung . verbleiben . Die Sanktionen nehmen den Menschen das Recht, (DIE LINKE): Dem ablehnenden Nein zu sagen – zu unzumutbaren Arbeitsbedingungen, Birgit Wöllert Abschluss der Petition von Frau Hannemann – mit der -zeiten oder zu geringen Löhnen, und zermürbt sie . Die Forderung, die Normen im Zweiten Buch Sozialgesetz- Konzessionsbereitschaft – also die Bereitschaft dahin buch und im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch ersatzlos gehend, Zugeständnisse zu machen, steigt. Profiteure zu streichen, die Möglichkeiten von Sanktionen bzw . dieser Praxis sind bekanntlich die Leiharbeitsfirmen, die Leistungseinschränkungen vorsehen – kann ich nicht die Betroffenen in nicht nachhaltige Jobs und prekäre Le- zustimmen . Die Petentin fordert mit guten Gründen benssituationen trotz Arbeit zwingen . die Abschaffung der Sanktionsregelungen bei Hartz IV Wie schon in unserem Antrag „Sanktionen bei (SGB II) und in der Sozialhilfe (SGB XII) . Hartz IV und Leistungseinschränkungen bei der Sozial- hilfe abschaffen“ (18/1115) dargelegt, sind Sanktionen 91 500 Menschen haben die Petition unterstützt . Frau nicht nur in Bezug auf Demokratie und Verfassungsrecht Hannemann hat in einer öffentlichen Sitzung des Petiti- abzulehnen, sie sind überdies arbeitsmarktpolitisch gera- onsausschusses aus ihrer Erfahrung als langjährige Mit- dezu sinnlos . arbeiterin in einem Jobcenter in Hamburg deutlich ge- (B) macht, dass Sanktionen die Leistungsberechtigten nicht (D) nur entwürdigen, sondern auch Elend und Ausschluss Katrin Werner (DIE LINKE): Dem ablehnenden statt Hilfe und Unterstützung bedeuten . Abschluss der Petition von Frau Hannemann kann ich nicht zustimmen . Die Petentin fordert mit guten Grün- Sanktionen stellen eine Unterschreitung des men- den die Abschaffung der Sanktionsregelungen bei schenwürdigen Existenzminimums dar . Es ist nicht zu Hartz IV (SGB II) und in der Sozialhilfe (SGB XII) . akzeptieren, wenn in einem reichen Land wie Deutsch- 90 000 Menschen habe die Petition unterstützt . Damit land Menschen – trotz anerkannter Hilfebedürftigkeit – war das Quorum für eine öffentliche Sitzung des Petiti- existentieller Not bis hin zu Obdachlosigkeit ausgesetzt onsausschusses deutlich überschritten . Frau Hannemann werden . Mit Bezug auf das Bundesverfassungsgericht hat in dieser öffentlichen Sitzung aus ihrer Erfahrung als wird ausgeführt, dass die Garantie des menschenwürdi- langjährige Mitarbeiterin in einem Jobcenter in Hamburg gen Existenzminimums durch die Menschenwürde und deutlich gemacht, dass Sanktionen die Leistungsberech- das Sozialstaatsgebot ein zwingender Auftrag an den tigten entwürdigen und im Effekt Elend und Ausschluss Staat ist . Das Existenzminimum ist stets und zu jeder Zeit statt Hilfe und Unterstützung bedeuten . Dieser Argumen- zu garantieren, so die Urteile . Mit diesem Grundrecht ist tation und der Forderung der Petition kann ich mich mit eine Unterschreitung des menschenwürdigen Existenz- meinen eigenen Erfahrungen nur anschließen . minimums durch Sanktionen nicht zu vereinbaren . Diese Fast eine Million Sanktionen werden pro Jahr ausge- Einschätzung der Petentin wird mittlerweile auch vom sprochen . Die Leistung wird im Durchschnitt jeder Sank- Sozialgericht Gotha (S 15 AS 5157/14) geteilt . Das So- tion um über 100 Euro reduziert . Wird mit diesen beiden zialgericht führt die verfassungsrechtlichen Bedenken an Eckdaten gerechnet, so spart die öffentliche Hand Jahr den Sanktionsregeln bei Hartz IV aus und hat die Frage für Jahr fast 200 Millionen Euro an vorenthaltenen Leis- dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorge- tungen . Der Staat spart damit auf Kosten der Ärmsten, legt . Zudem sind Hartz-IV-Sanktionen grundrechtswid- auf Kosten der Hartz-IV-Berechtigten und ihrer Kinder . rig, weil sie das ohnehin zu geringe Existenzminimum kürzen . Sie verletzen das Recht auf Berufsfreiheit, weil Das Sanktionsregime unterstellt, dass die Erwerbs- schon die Sanktionsandrohung einen faktischen Zwang losigkeit und die Hilfebedürftigkeit der Betroffenen ausübt, einer nicht frei gewählten Arbeitstätigkeit nach- selbstverschuldet seien . Die falschen Verhaltensweisen, zugehen . so die Unterstellung weiter, könne durch „Aktivierung“, durch Sanktionsandrohungen korrigiert werden . Diese Hinzu kommt, dass jedem dritten Widerspruch und Vorstellung geht an der Wirklichkeit vorbei . Zunächst 40 Prozent aller Klagen gegen Hartz-IV-Sanktionen ignoriert die Idee der Aktivierung die Tatsache, dass Ar- stattgegeben wird . Hier entstehen hohe Kosten, die bei Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016 16631

(A) Abschaffung der Sanktionen wirksamen arbeitsmarktpo- seres Landes einzusetzen, die unter dem Hartz-IV-Sank- (C) litischen Maßnahmen zugutekommen könnten . tionsregime existenziell zu leiden haben . Statt Hilfe und Unterstützung bei ihren eigenen An- strengungen erfahren die Menschen in den Jobcentern einen bürokratischen Apparat, der sie entwürdigt und Anlage 3 maßregelt . Es fehlt den Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung tern der Jobcenter massiv an Zeit, um auf die individuel- len Nöte und Bedürfnisse der hilfeberechtigten Personen Der Bundesrat hat in seiner 944 .Sitzung am 22 .April einzugehen . 2016 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- stimmen bzw . einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Menschen, die von Sanktionen betroffen sind, haben des Grundgesetzes nicht zu stellen: nur selten die Möglichkeit, die finanziellen Einbußen zu überbrücken . Die Folgen sind abzusehen und belegt: – Gesetz zur Umsetzung der prüfungsbezoge- Durch Leistungskürzungen werden Betroffene in die so- nen Regelungen der Richtlinie 2014/56/EU so- ziale Isolation getrieben, der Weg zurück auf den Arbeits- wie zur Ausführung der entsprechenden Vor- markt und in die Mitte der Gesellschaft wird erschwert gaben der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 oder gar verhindert . Viele, besonders junge Erwerbslose, im Hinblick auf die Abschlussprüfung bei brechen nach Sanktionserfahrungen ihren Kontakt zu Unternehmen von öffentlichem Interesse den zuständigen Behörden ab und verschwinden damit (Abschlussprüfungsreformgesetz – AReG) sowohl aus der Statistik als auch aus den öffentlichen – Gesetz zu dem Vertrag vom 28. April 2015 zwi- Unterstützungssystemen . Positive Effekte auf den Ar- schen der Bundesrepublik Deutschland und der beitsmarkt sind dagegen nicht spürbar . Tschechischen Republik über die polizeiliche Zu- sammenarbeit und zur Änderung des Vertrages Aus den vorgenannten Gründen stimme ich gegen die vom 2. Februar 2000 zwischen der Bundesrepublik Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses, das Peti- Deutschland und der Tschechischen Republik über tionsverfahren abzuschließen . die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): 1959 und die Erleichterung seiner Anwendung Die Petition von Frau Hannemann verfolgt ein richtiges – Gesetz zu dem Vertrag vom 24. Oktober 2014 zwi- Ziel . Der Hartz-IV-Regelsatz soll das Existenzminimum schen der Bundesrepublik Deutschland und dem sichern . Der Regelsatz ist ohnehin schon viel zu knapp (B) Königreich der Niederlande über die Nutzung (D) bemessen . Davon sollen Menschen das bezahlen, was und Verwaltung des Küstenmeers zwischen 3 und sie zu ihrer Existenz, also zum Nötigsten, brauchen . Von 12 Seemeilen diesem Geld darf grundsätzlich nichts mehr weggekürzt werden . Denn das bedeutet, Menschen staatlicherseits in – … Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes existentielle Not zu stoßen . Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie Die Jobcenter verhängen Sanktionen für geringfügig­ gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von ste Regelverletzungen, in den meisten Fällen dafür, dass einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen Termine versäumt wurden . Wir wissen von Mitarbeite- absehen: rinnen und Mitarbeitern der Jobcenter, dass Sanktionen Auswärtiger Ausschuss eingesetzt werden, um die Ausgaben der Jobcenter zu reduzieren . Das führt zusätzlich zu einer exzessiven An- – Unterrichtung durch die Bundesregierung wendung von Sanktionen . Dass diese rechtlich oft nicht Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des gerechtfertigt sind, beweist die hohe Zahl von erfolgrei- Europarats im Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni chen Widersprüchen und Klagen . Und dabei kennen bei 2015 Weitem nicht alle Betroffenen ihre Rechte und wissen, dass sie Einspruch erheben können . Drucksachen 18/7983, 18/8129 Nr. 1.1 Das Sanktionsregime bedeutet deshalb andauernde – Unterrichtung durch die Bundesregierung Rechtsbrüche durch eine staatliche Einrichtung . Es soll Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des Menschen Angst machen und sie gefügig machen, damit Europarats im Zeitraum vom 1. Juli bis 31. Dezem- sie jeden noch so schlechten Job annehmen, der ihnen an- ber 2015 geboten wird . Dieses Vorgehen ist einer Demokratie un- würdig . Es ist ein dauernder Angriff auf die Menschen- Drucksachen 18/7984, 18/8129 Nr. 1.2 würde . Frau Hannemann hat mit ihrem Anliegen daher Innenausschuss vollkommen Recht . Hartz IV und sein Sanktionsregime gehören abgeschafft . Wir brauchen eine sanktionsfreie – Unterrichtung durch die Bundesregierung soziale Mindestsicherung, die ein Leben in Würde er- Zwölfter Bericht der Bundesregierung nach § 5 möglicht . Absatz 3 des Bundesstatistikgesetzes für die Jahre 2009 und 2010 Es stünde dem Bundestag gut zu Gesicht, sich für die Grundrechte von Millionen Bürgerinnen und Bürgern un- Drucksachen 17/6236, 18/641 Nr. 1 16632 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 168 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 29 . April 2016

(A) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für Verkehr und digitale Agenda (C) Bericht der Bundesregierung nach § 5 Absatz 3 – Unterrichtung durch die Bundesregierung des Bundesstatistikgesetzes für die Jahre 2011 und Bericht der Bundesregierung über ÖPP-Projekte 2012 im Betrieb Drucksachen 17/14424, 18/641 Nr. 22 Drucksachen 18/6898, 18/7116 Nr. 2 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak- Bericht der Bundesregierung nach § 5 Absatz 3 torsicherheit des Bundesstatistikgesetzes für die Jahre 2013 und – Unterrichtung durch die Bundesregierung 2014 Umweltbericht 2015 Drucksachen 18/4532, 18/4732 Nr. 2 Auf dem Weg zu einer modernen Umweltpolitik Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksachen 18/6470, 18/6605 Nr. 1.7 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Erfahrungsbericht zum Erneuerbare-Energi- mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- en-Wärmegesetz onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat . (EEWärmeG-Erfahrungsbericht) Drucksachen 17/11957, 18/770 Nr. 15 Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Dokumentennummer Zweiter Erfahrungsbericht zum Erneuerba- Drucksache 18/7733 Nr . A .1 re-Energien-Wärmegesetz (2. EEWärmeG-Erfah- Ratsdokument 5801/16 rungsbericht) Drucksachen 18/6783, 18/6933 Nr. 1.5 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Dokumentennummer Verteidigungsausschuss Drucksache 18/7612 Nr . A .30 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 14992/15 (B) (D) Vierter Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung (Berichtszeitraum 1. Januar 2011 bis 31. Dezember 2014) Dokumentennummer Drucksache 18/7934 Nr .A .26 Drucksachen 18/7410, 18/7605 Nr. 4 Ratsdokument 5857/16

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