Der vorliegende Band versammelt Aufsätze von Promotionsstipendiat_innen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die in den Jahren 2009 und 2010 ihre Dissertationsprojekte während inter- disziplinärer Doktorand_innenseminare der Stiftung vorgestellt und mit ihren Mitstipendiat_­innen diskutiert haben.

Der Anspruch dieses Bandes ist der einer engagierten Wissenschaft: Ein Großteil der Autor_innen versteht die eigene Arbeit als politisch engagierte Tätigkeit. Kritische wissen­schaftliche Texte, die davon ausgehen, dass soziale Verhältnisse als Machtverhält­ nisse zu beschreiben sind, stellen dabei keine scholastischen Übungen dar, Studienwerk Jahrbuch sondern Versuche, gerade in krisen­ dietz berlin haften Zeiten ein im weitesten Sinne rosa luxemburg stiftung kritisches Denken zu bewahren. 2 011 Dass viele der Autor_innen aus einer dezidiert kapitalismus­kritischen Perspektive heraus argumentieren, ist daher naheliegend.

Das Herausgeber_innenkollektiv

ISBN 978-3-320-02280-8

9 783320 022808 E 29,90 [D] www.dietzberlin.de 2 011

US_Work in Progress_2011.indd 1 26.01.12 10:06 TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:12 Uhr Seite 1

Rosa-Luxemburg-Stiftung TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:12 Uhr Seite 2

Tarnschrift. Siehe Beitrag von Cordula Greinert (S. 329-344) in diesem Band. Quelle: Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:12 Uhr Seite 3

Work in progress. Work on progress. Doktorand_innen-Jahrbuch der Rosa-Luxemburg-Stiftung hrsg. von Marcus Hawel

Jahrgang 1/2011

hrsg. von Esther Denzinger, Cordula Greinert, Nadine Heymann, Benjamin Moldenhauer, Britta Pelters, Bettina Schmidt, Andrea Scholz

Karl Dietz Verlag Berlin TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:12 Uhr Seite 4

Rosa-Luxemburg-Stiftung, Doktorand_innen-Jahrbuch, Jg. 1/2011

ISBN 978-3-320-02280-8

Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2011 Satz: Elke Jakubowski Druck und Verarbeitung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Printed in TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:12 Uhr Seite 5

Inhalt

Vorwort 11

Einleitung 12

Zusammenfassungen 16

ARBEIT

Matthias Richter-Steinke Von der Liberalisierung zur Privatisierung europäischer Eisenbahnen. Der Aktionsradius der Bahngewerkschaften im Wandel 27

Kai Marquardsen Soziale Netzwerke in der Erwerbslosigkeit. Bewältigungsstrategien in informellen sozialen Beziehungen 41

Stefan Paulus Work-Life-Balance als neuer Herrschaftsdiskurs. Eine kritische Diskursanalyse eines Regierungsprogramms 57

POLITISCHE ÖKONOMIE

Jan Sailer Marx’ Begriff von Moral. Zur Genese des allgemeinen Interesses aus dem Privatinteresse 69 TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:12 Uhr Seite 6

TRANSFORMATION VON STAATLICHKEIT

Alke Jenss Zurück nach rechts. Transformation von Staatlichkeit unter Bedingungen neoliberaler Globalisierungsprozesse in Kolumbien und Mexiko 81

Isabella Margerita Radhuber Die indigenen Rechte im bolivianischen Wirtschaftsmodell. Eine Analyse ausgehend von der Erdgaspolitik 95

Mike Nagler Der Einfluss lokaler Eliten auf die Privatisierung kommunaler Leistungen am Beispiel Leipzigs 107

INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN

Jan Stehle Das Amt und der Aktenzugang. Meine Bemühungen um Aktenfreigabe beim Auswärtigen Amt im Kontext des Berichts der Historikerkommission sowie der Archivierungspraxis des Auswärtigen Amtes 119 TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:12 Uhr Seite 7

GEWALT UND ERINNERUNG

Oliver Schupp Der Verlust kommunistischen Begehrens. Entwurf einer geschichtsphilosophisch informierten und gedächtnistheoretisch begründeten Deutung der Brucherfahrung von ehemaligen Kommunist_innen in der Weimarer Republik 135

Esther Abel Peter Scheibert – ein Osteuropahistoriker im »Dritten Reich«. ›Wissenschaftliche‹ Aufgaben im Sonderkommando Künsberg 147

Roman Fröhlich Der Einsatz von Gefangenen aus den Lagern der SS bei deutschen Unternehmen am Beispiel Heinkel und HASAG. Ein Vergleich 161

Katia Genel Die sozialpsychologische Kritik der Autorität in der frühen kritischen Theorie. Max Horkheimer zwischen Erich Fromm und Theodor W. Adorno 174

Esther Denzinger Nach dem Genozid. Erinnerungsprozesse und die Politik des Vergessens in Ruanda 187

ANTISEMITISMUS UND RASSISMUS

Monika Urban Die ›Heuschreckenmetapher‹ im Kontext der Genese pejorativer Tiermetaphorik. Reflexion des Wandels von sprachlicher Dehumanisierung 199

Tanja Kinzel Was sagt ein Bild? Drei Porträtaufnahmen aus dem Ghetto Litzmannstadt 211

Antje Krueger »Keine Chance pour Wohnung – C’est pas possive!« Sprachliche Zwischenwelten als kulturelles Produkt des Migrationsprozesses 225

7 TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:12 Uhr Seite 8

RELIGION UND SÄKULARISIERUNG

Polina Serkova Subjektivierungstechniken in der Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts 239

Marziyeh Bakhshizadeh Frauenrechte und drei Lesarten des Islam im Iran seit der Revolution 1979 251

NATUR UND TECHNIK

Susanne Mansee Am Strand. Zur Genese eines Sehnsuchtsraumes 259

Ercan Ayboga Talsperren und ihr Rückbau 273

MEDIEN

Peter Bescherer Ganz unten im Kino. Eisenstein, Pasolini und die politische Subjektivität des Lumpenproletariats 291

Nils Brock Ansichtssache ANTenne. Überlegungen zu einer medienethnographischen Untersuchung des Radiomachens 307

8 TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:12 Uhr Seite 9

LITERARISCHES FELD

Ena Mercedes Matienzo León El político como fabulador. Los artificios del discurso político en los inicios de la literatura latino- americana entre la ficción literaria y la utopía política en El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno de Felipe Guamán Poma de Ayala 321

Cordula Greinert Subversives Brausepulver. Heinrich Manns Tarnschriften gegen den Nationalsozialismus 329

Julia Killet Maria Leitners Reportagen aus Nazi-Deutschland 345

Jens Mehrle Sozialistischer Realismus 1978. Zu einem Vorschlag von Peter Hacks 356

Maria Becker »Von der Zensur der Partei in die Zensur des Marktes?« Literarische Selbstverwirklichung renommierter Kinder- und JugendbuchautorInnen der DDR vor und nach 1989 367

BILDUNG

Bettina Schmidt Brüche, Brüche, Widersprüche … Begleitende Forschung emanzipatorischer politischer Bildungsarbeit in der Schule 379

9 TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:12 Uhr Seite 10

KÖRPER – MACHT – IDENTITÄT

Anja Trebbin Vergesellschaftete Körper. Zur Rolle der Praxis bei Foucault und Bourdieu 395

Nadine Heymann Play Gender Visual Kei. Dynamiken an der Schnittstelle zwischen Europäischer Ethnologie und Queer Theory 409

Britta Pelters Die doppelte Kontextualisierung genetischer Daten. Gesundheitliche Sozialisation am Beispiel der Familie Schumacher-Schall-Brause 422

EMANZIPATION UND UTOPIE

Andrea Scholz Indigene Rechte, entzauberte ›Wilde‹ und das Dilemma engagierter Ethnologie 437

Tanja Ernst Transformation liberaler Demokratie. Dekolonisierungsversuche in Bolivien 451

Judith Vey Freizeitprotest oder Beschäftigungstherapie? Hegemonietheoretische Überlegungen zu linken Krisenprotesten in Deutschland in den Jahren 2009 und 2010 464

Biographische Angaben zu den Autor_innen und Herausgeber_innen 473

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Vorwort

Work in progress. Work on progress, so hat das Herausgeber_innenkollektiv entschieden, soll das Doktorand_innen-Jahrbuch der Rosa-Luxemburg-Stiftung heißen. Das Verständnis, das im Titel zum Ausdruck kommt, folgt einem dialektischen Bildungs- und Wissenschaftsbegriff: Wissenschaft ist politisch, muss aus dem Elfenbeinturm heraus, das heißt, die Einheit aus Theorie und Praxis wahren, sich in den Dienst der Gesellschaft stellen. Wissenschaft darf engagiert und normativ sein, ohne sich den Vorwurf der Unwissenschaft- lichkeit gefallen lassen zu müssen. Sie muss sich vor allem dagegen verwah- ren, von Herrschaftsinteressen instrumentalisiert zu werden. Denn Bildung ist zum einen das Bilden von sich selbst, zum anderen das Bilden des gesell- schaftlichen Ganzen. Es geht nicht nur darum, die Welt zu begreifen, son- dern sie durch das Begreifen auch zu verändern. Diese Prozesse sind niemals abgeschlossen, daher im wahrsten Sinne des Wortes work in progress und work on progress. Das Selbstverständnis, das hier zum Ausdruck kommt, ist zugleich die Er- wartung, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung – ganz im Sinne ihrer Namens- geberin – an Promovend_innen richtet, die von ihr mit einem Stipendium ge- fördert werden. Es ist beeindruckend zu sehen, wie dieses Selbstverständnis in den jeweiligen Promotionsprojekten auf vielseitige Art und Weise in un- terschiedlichen Themen und Fragestellungen umgesetzt wird. Um diese ei- ner interessierten universitären und engagierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, haben wir das Format eines Jahrbuchs entwickelt, in dem wir die Ergebnisse fortan Jahr für Jahr vorstellen werden. Die Ergebnisse können sich sehen lassen und geben Zuversicht, dass die Einebnung der Universitä- ten zu (kultur-)industriellen Wissensproduzentinnen kritische und politische Wissenschaft bisher nicht hat verdrängen können.

Dr. Marcus Hawel, Referent für Bildungspolitik im Studienwerk der RLS Berlin im August 2011

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Einleitung

Der vorliegende Band versammelt Aufsätze von Promotionsstipendiat_innen der Rosa-Luxemburg Stiftung (RLS), die in den Jahren 2009 und 2010 ihre Dis- sertationsprojekte während interdisziplinärer Doktorand_innenseminare der Stiftung vorgestellt und mit ihren Mitstipendiat_innen diskutiert haben. In einem solchen Rahmen haben alle Promotionsstipendiat_innen regel- mäßig die Möglichkeit, ihr Thema und den Stand ihrer Forschungsarbeiten in einem teilöffentlichen, solidarischen Zusammenhang zu präsentieren. Indem dabei methodische Probleme reflektiert, Fragestellungen zugespitzt und The- sen auf ihre gesellschaftspolitische Relevanz hin diskutiert werden, wird ein Raum geschaffen, in dem sich die Stipendiat_innen untereinander Rückmel- dungen und Unterstützung in ihren individuellen Forschungsprozessen ge- ben können. Im Anschluss an diese Werkstatt-Seminare war es bisher üblich, die verschriftlichten Vorträge jeweils in einem separaten Sammelband zu pu- blizieren. Das Studienwerk der RLS hat sich nun dafür entschieden, die Er- gebnisse in Form eines Jahrbuchs zu präsentieren, damit die Vielfalt der The- menpalette, die mit Stipendien der RLS gefördert wird, für die interessierte Öffentlichkeit konzertierter dargestellt werden kann. Die Herausge- ber_innenschaft übernimmt dabei ein Kollektiv aus den Reihen der Promoti- onsstipendiat_innen. Als Herausgeber_innenkollektiv haben wir uns entschieden, an dieser Stelle nicht die zahlreichen Beiträge nach chronologischer oder thematischer Ordnung vorzustellen – dafür sei auf die Zusammenfassungen zu Beginn des Bandes verwiesen. Stattdessen möchten wir im Rahmen dieser Einlei- tung den Entstehungsprozess des ersten Doktorand_innen-Jahrbuchs der RLS nachzeichnen und Anregungen zum Gebrauch des Bandes geben. Das auf Seite 2 angekündigte »köstliche Backwerk« möchten wir Wissens- hungrigen mit diesem Jahrbuch anbieten. Die Abbildung dort ist jedoch nicht das, was sie zu sein vorgibt: Nicht die Aufmachung eines Backbuches ist zu sehen, sondern die einer Tarnschrift, einer seit der Französischen Revolution eingesetzten Publikationsform zum Unterlaufen von Zensurmaßnahmen – ein Thema, mit dem sich einer unserer Aufsätze auseinandersetzt. Die Be- schäftigung mit verschiedenen Formen von Widerstand, Subversion und Ge- sellschaftskritik teilen viele der hier versammelten Texte. Mit diesem gesellschaftskritischen Anspruch, sowohl hinsichtlich der Themen als auch der Methoden, ist eine Gemeinsamkeit unserer Beiträge be- nannt. Die ›Zutaten‹ zu unserem ›Kuchen‹ sind dennoch äußerst vielfältig. Verarbeitet haben wir sie mit großer Sorgfalt: Zunächst wurden die einzel- nen Beiträge im Lektorat gewogen und verfeinert. Danach galt es sicherzu-

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stellen, dass sie in passender Kombination ihre Wirkung entfalten können. Dafür haben wir während unserer Redaktionstreffen Kategorien gebildet – die ›Hefe‹ für einen guten ›Teig‹. Wir haben alles gut ›verrührt‹, ›geknetet‹, ›gewürzt‹ und auch die Prise Salz nicht vergessen. Konkret haben wir für jeden Text zunächst drei Schlüsselbegriffe festge- halten, die dann auf einem großen Tisch ausgebreitet wurden. Auf der Suche nach gemeinsamen Nennern und Schnittmengen wurden viele Texte hin- und hergeschoben, bei einigen ergaben sich Übereinstimmungen, bei ande- ren nicht. Da die Cluster die thematische Vielfalt im Jahrbuch abbilden und für alle Texte einen angemessenen Platz schaffen sollten, sind es zahlreiche geworden – sie reichen nun von »Arbeit« über »Emanzipation« bis »Utopie«. Manche dieser Kategorien bündeln bis zu acht Texte, andere lediglich einen. Dies rührt daher, dass einige Themen gleichsam state of the left art sind und daher häufiger erforscht werden. Hinzu kommt, dass manche Kategorien nur zufällig in diesem Jahrbuch nicht besonders repräsentativ vertreten sind. Das kann im nächsten Jahr schon wieder ganz anders sein. Aus diesem Grund war es unser Anliegen, Kategorien zu ›backen‹, mit denen künftige Herausgeber_innenkollektive weiterarbeiten, auf denen sie aufbauen können. Auch wenn wir unsere Kategorien also aus den in diesem Band versammelten Beiträgen entwickelt haben, so wollten wir sie doch rela- tiv offen gestalten, damit sie eben nicht nur die Schwerpunkte des ersten Doktorand_innen-Jahrbuchs abbilden, sondern auch eine Grundlage dafür bieten, weitere Dissertationsthemen, die im Rahmen der RLS entstehen und gefördert werden, darstellen zu können. Gleichzeitig war uns bewusst, dass die Kategorienfindung kein abschließbarer Prozess ist, sondern immer wie- der neu verhandelt werden wird und muss. Ein Resultat unserer Diskussionen zur Anordnung der Jahrbuch-Artikel war die Festlegung einer Binnenstruktur für die einzelnen Kategorien. Dabei haben wir uns entschieden, jeweils erst die methodischen, dann die histori- schen und schließlich die gegenwartsanalytischen Aufsätze innerhalb einer Kategorie abzudrucken. Ein weiteres Diskussionsergebnis war es, dass die Zusammenhänge »Gender«, »Intersektionalität« und »Widerstand« keine eigenen Kategorien darstellen, die für sich gesondert gruppiert werden, sondern dass sie sich quer zu den Kategorien als Grundaufmerksamkeiten und -fokussierungen durch den Band ziehen sollten. Damit ist ein Anspruch formuliert, der sich nicht nur an die Autor_innen der Beiträge, sondern auch an die Rezipien- t_innen richtet – nämlich sensibel für Geschlechterverhältnisse, für die Ver- strickung unterschiedlicher Herrschaftsstrukturen und für Momente des Wi- derstands beim Verfassen und Lesen der Texte zu sein. Das Spektrum der Kategorien bildet nunmehr in seiner inhaltlichen Aus- richtung und Bandbreite wissenschaftliche und gesellschaftspolitische De-

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batten, Auseinandersetzungen und Denkweisen ab, wie sie sich in der und um die RLS wiederfinden. Die Kategorien stellen vor allem den Versuch dar, diese linken Diskurse für die Leser_innen zu bündeln und leichter auffind- bar zu machen. Gemeinsam ist allen Beiträgen eine kritische Wissensproduk- tion, die nicht in erster Linie auf akademische Elfenbeintürme abzielt, son- dern in die Gesellschaft hineinwirken will. Der Anspruch des Bandes ist somit durchaus der einer engagierten Wis- senschaft, womit ein weiteres verbindendes Merkmal vieler der hier versam- melten Texte benannt wäre: Ein Großteil der Autor_innen versteht die eigene Arbeit als politisch engagierte Tätigkeit. Kritische wissenschaftliche Texte, die davon ausgehen, dass soziale Verhältnisse als Machtverhältnisse zu beschrei- ben sind, stellen dabei keine scholastischen Übungen dar, sondern Versuche, gerade in krisenhaften Zeiten ein im weitesten Sinne kritisches Denken zu be- wahren. Dass viele der Autor_innen aus einer dezidiert kapitalismuskritischen Perspektive heraus argumentieren, ist daher naheliegend. Auch wenn sich einige unserer Kategorien im Verlauf der Jahre ändern werden, so ist doch davon auszugehen, dass manche der Themen so schnell nicht von der politisch-wissenschaftlichen Agenda verschwinden. Daher sind die Kategorien von uns durchaus mit der Gewissheit ausgebildet wor- den, dass ihnen eine größere Reichweite beschieden ist – größer jedenfalls als uns wiederum recht sein mag, wenn wir etwa an die Virulenz von Rassis- mus, Antisemitismus, Nationalismus und Ungleichheit in den Geschlechter- verhältnissen denken, die wir lieber heute als morgen überwunden hätten. Auch die Kritik der Politischen Ökonomie oder die Transformation von Staatlichkeit werden sicherlich noch viele Generationen linker Nachwuchs- wissenschaftler_innen beschäftigen, da machen wir uns keine Illusionen. Angesichts der internationalen Zusammensetzung der Promotionsstipen- diat_innenschaft der RLS und der Tatsache, dass nicht alle geförderten Dis- sertationen in deutscher Sprache verfasst werden, wird es in diesem wie in kommenden Jahrbüchern fremdsprachliche Artikel geben. Dies begründet sich auch in unserem Anliegen, Sprache nicht als Ausschlusskriterium für die Teilnahme am Diskurs zu definieren. Und so hoffen wir, dass wir nicht nur unter unseren Autor_innen, sondern auch unter unseren Leser_innen durch die sprachliche Diversität des Jahrbuchs mehr Interessierte einschlie- ßen als ausschließen. Auch in Bezug auf das Thema der Geschlechtergerechtigkeit in der Spra- che war es uns als Herausgeber_innen-Kollektiv wichtig, Formen zu finden, die Diversität ausdrücken und anerkennen. Wir haben unseren Autor_innen deshalb vorgeschlagen, in ihren Artikeln den sogenannten queer-sensitiven Unterstrich zu verwenden. Dieser basiert nicht auf der Vorbedingung der Zweigeschlechtlichkeit. Vielmehr wird Geschlecht als Kontinuum zwischen männlich und weiblich gedacht und visualisiert, wodurch eine schier unend-

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liche Anzahl von Geschlechtern im cis-, trans- und/oder inter-Modus denk- bar wird, die somit in das Spektrum der in diesem Jahrbuch beschriebenen und schreibenden Menschen inkludiert werden. Unseren somit verdeutlich- ten emanzipatorischen geschlechterpolitischen Anspruch wollten wir unse- ren Autor_innen aber nicht aufoktroyieren. Denn die sprachliche Inklusion der einen sollte nicht durch das ›Überschreiben‹ anderer Meinungen und an- derer Versuche, Formen einer geschlechtergerechten Sprache zu finden, er- kauft werden. In den hier versammelten Beiträgen finden sich daher diverse Lösungen der sprachlichen Geschlechterinklusion. Auch der Titel des Bandes spiegelt unser Ziel, bekannte Perspektiven durch eine emanzipatorisch-utopische Maxime herauszufordern. Er hat sich nach und nach herausgebildet: Zunächst konnten alle Promotionsstipen- diat_innen Vorschläge unterbreiten, die dann zur Abstimmung gestellt wur- den. Von den drei Favoriten haben wir als Redaktion work in progress. work on progress. Doktorand_innenjahrbuch der Rosa-Luxemburg-Stiftung gewählt. Der erste Teil bezieht sich auf etwas, das alle Doktorand_innen gemeinsam ha- ben: Ihre Dissertationen sind work in progress, ständig im Werden, »in der Mache«. Die Texte des Jahrbuchs stellen dabei erste Ergebnisse und Einsich- ten aus den Promotionsprojekten vor. Doch auch die Gesellschaft ist work in progress, ständig in Bewegung, ein Prozess. Der zweite Teil des Titels nimmt den ersten auf und wandelt ihn leicht ab in work on progress. Er bezeichnet das beständige Engagement: das Entwickeln von Standpunkten und Strate- gien, die in die Gesellschaft hinein wirken, und das kritische Hinterfragen von Gegebenem und Gewolltem. Auch dieses Jahrbuch ist Teil eines solchen work on progress. Dabei soll das Sprachspiel in/on progress den Gebrauch des Begriffs »Fortschritt« ironisch unterlaufen – es geht uns nicht um linearen oder wirtschaftlichen Fortschritt, sondern um Utopie, um neues, anderes Denken. Im Mittelpunkt der hier versammelten Beiträge steht nicht allein die Analyse dessen was ist, sondern immer wieder – und sei es implizit – das Aufzeigen dessen, was möglich wäre. In der Hoffnung, dass uns dies in unserem Jahrbuch gelungen ist, wün- schen wir allen Leser_innen interessante Entdeckungen und Erkenntnisse so- wie Anregungen zu kritischem Weiterdenken und konstruktivem Wider- spruch. Wir danken unseren Autor_innen für ihre Beiträge und ihre Bereitschaft, dieses Jahrbuch zusammen mit uns dem Titel entsprechend als work in pro- gress und work on progress zu gestalten. Dem Studienwerk der RLS gilt unser Dank für die personelle und finanzielle Unterstützung des Jahrbuchs.

Das Herausgeber_innenkollektiv Andrea, Benjamin, Bettina, Cordula, Esther, Nadine, Pelle Berlin, Bremen, Osnabrück, Stockholm und Wien im August 2011

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Zusammenfassungen

ARBEIT

Matthias Richter-Steinke Von der Liberalisierung zur Privatisierung europäischer Eisenbahnen. Der Aktionsradius der Bahngewerkschaften im Wandel Der Artikel befasst sich mit der Liberalisierung und Privatisierung der euro- päischen Eisenbahnen seit Anfang der 1990er Jahre. Mit der Liberalisierung kam und kommt es für Beschäftigte und Gewerkschaften des Schienenver- kehrssektors zu zahlreichen Umstrukturierungen. In diesem Prozess der Neupositionierung nehmen sowohl die Deutsche Bahn AG als auch die deutschen Bahngewerkschaften eine führende Rolle ein. Doch trotz dieser großen Herausforderungen bieten sich den Gewerkschaften zahlreiche Op- tionen.

Kai Marquardsen Soziale Netzwerke in der Erwerbslosigkeit. Bewältigungsstrategien in informellen sozialen Beziehungen Gegenstand des Beitrags ist der Wandel sozialer Netzwerke in der Erwerbs- losigkeit und die Bewältigung von Erwerbslosigkeitserfahrungen innerhalb solcher Netzwerke. Es wird untersucht, welche typischen Funktionen soziale Beziehungen in der Erwerbslosigkeit erfüllen. Besondere Aufmerksamkeit wird der Unterstützung durch Freunde gewidmet. Der Beitrag präsentiert verschiedene Bewältigungsmuster von Erwerbslosigkeit in sozialen Netz- werken, von denen exemplarisch zwei ausführlich diskutiert werden.

Stefan Paulus Work-Life-Balance als neuer Herrschaftsdiskurs. Eine kritische Diskursanalyse eines Regierungsprogramms Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Konzept Work-Life-Balance. Mit Hilfe der Kritischen Diskursanalyse wird hierbei analysiert, wie die Zusam- mensetzung von Geschlechterverhältnissen durch Work-Life-Balance-Maß- nahmen ideologisch organisiert wird.

POLITISCHE ÖKONOMIE

Jan Sailer Marx’ Begriff von Moral. Zur Genese des allgemeinen Interesses aus dem Privatinteresse Marx bestimmt Moral als notwendige Bewusstseinsform konkurrierender

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Eigentümerinteressen. Aufgrund ihrer gegensätzlichen Abhängigkeit im Tausch haben die Warenbesitzer das allgemeine Interesse nach der Relativie- rung ihres Gegensatzes für das Zustandekommen ihrer Tauschbeziehung, ohne dadurch ihre den Tausch untergrabenden Interessen am Tausch aufzu- geben. Dieser Widerspruch eines im Gegensatz zum Privatinteresse stehen- den allgemeinen Interesses generiert nach Marx eine neue Form von Bewusst- sein, die des moralischen Sollens.

TRANSFORMATION VON STAATLICHKEIT

Alke Jenss Zurück nach rechts. Transformation von Staatlichkeit unter Bedingungen neoliberaler Globalisierungsprozesse in Kolumbien und Mexiko In Kolumbien und Mexiko haben die Umstrukturierungen der letzten Jahr- zehnte und die entstandenen sozialen Polarisierungen zum Erstarken einer »neuen Rechten« geführt. Es hat in den letzten beiden Jahrzehnten ein- schneidende Veränderungen in Bezug auf politische Dynamiken, etwa auf die Parteiensysteme gegeben, und doch weisen die beiden Staaten sehr un- terschiedliche geschichtliche Entwicklungen auf. Mexiko, industrialisierter als viele andere lateinamerikanische Staaten, ist heute durch das NAFTA- Abkommen von der Wirtschaftslage in den USA abhängiger denn je und hat dennoch die staatliche Ölfirma bisher nicht privatisiert. Ein Einparteien- system bot zwar keine partizipative Demokratie, aber doch über Jahrzehnte integrativ-korporatistische Maßnahmen für große gesellschaftliche Sektoren. Kolumbien mit einer praktisch durchgehenden Exportorientierung und we- nigen Primärprodukten hat eine lange Geschichte politischer Gewalt und des Krieges, fragmentierte und regional verankerte herrschende Gruppen und ein dazugehöriges Zweiparteiensystem, das die Gesellschaft mit struk- turierte, aber kaum politische Partizipation bot.

Isabella Margerita Radhuber Die indigenen Rechte im bolivianischen Wirtschaftsmodell. Eine Analyse ausgehend von der Erdgaspolitik In Bolivien findet derzeit ein tiefgreifender Transformationsprozess statt, der von Vertreter_innen der Zivilgesellschaft angestoßen wurde. Zentrale Forde- rung ist die Anerkennung von bis dato marginalisierten indigenen Völkern und Nationen mit ihren Kapazitäten der Selbstorganisation ebenso wie eine Verstaatlichung der natürlichen Rohstoffe. Ein zentrales Spannungsfeld tut sich auf, in dem das staatliche Entwicklungsmodell mit den spezifischen in- digenen Rechten konkurriert.

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Mike Nagler Der Einfluss lokaler Eliten auf die Privatisierung kommunaler Leistungen am Beispiel Leipzigs Seit Jahren steht ein Thema auf der politischen Agenda vieler Städte und Ge- meinden ganz weit oben – die Privatisierung zentraler Bereiche der allge- meinen Daseinsvorsorge. Von den entscheidenden lokalen Eliten werden diese Prozesse meist mit Verweis auf Sachzwänge aufgrund von Haushalts- situationen oder juristischen Gegebenheiten als alternativlos dargestellt. An- hand von Beispielen wird unter anderem der Einfluss lokaler Eliten auf diese Prozesse untersucht.

INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN

Jan Stehle Das Amt und der Aktenzugang. Meine Bemühungen um Aktenfreigabe beim Auswärtigen Amt im Kontext des Berichts der Historikerkommission sowie der Archivierungspraxis des Auswärtigen Amtes Das Auswärtige Amt hält einen Großteil der für das Promotionsvorhaben »Deutsche Außenpolitik und Menschenrechte: Der Fall Colonia Dignidad« relevanten Akten unter Verschluss und beruft sich dabei vornehmlich auf Staatsschutz- und Geheimhaltungsnotwendigkeiten. Der Verfasser klagt da- gegen beim Berliner Verwaltungsgericht. Der Beitrag beschreibt die Bemü- hungen um Aktenzugang im Kontext der scharfen Kritik, den die Historiker- kommission an der Archivpolitik des Auswärtigen Amts geübt hat.

GEWALT UND ERINNERUNG

Oliver Schupp Der Verlust kommunistischen Begehrens. Entwurf einer geschichtsphilosophisch informierten und gedächtnis- theoretisch begründeten Deutung der Brucherfahrung von ehemaligen Kommunist_innen in der Weimarer Republik Eine bestimmte historische Erfahrung ist verloren gegangen. Die Rede ist von den Brucherfahrungen, die eine Reihe von Aktiven der kommunisti- schen Bewegung in der Weimarer Republik gemacht haben. Diese bergen eine ambivalente Spannung, welcher in der Folgezeit eine Weitergabe ver- wehrt geblieben ist. In dem Aufsatz wird zum einen die Fragestellung des Dissertationsvorhabens angerissen, zum anderen wird der eigenwillige For- schungsgegenstand der Autobiografie vorgestellt.

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Esther Abel Peter Scheibert – ein Osteuropahistoriker im »Dritten Reich«. ›Wissenschaftliche‹ Aufgaben im Sonderkommando Künsberg Peter Scheibert war von 1959 bis 1981 Professor für Osteuropäische Ge- schichte in Marburg. Seine Verstrickung während des Zweiten Weltkriegs in den nationalsozialistischen Kulturgutraub in Osteuropa, der sich in Plünde- rungen von Bibliotheken und Archiven äußerte, war bereits zu seinen Leb- zeiten kein Geheimnis. Der vorliegende Beitrag stellt eine Zusammenfassung von Scheiberts Tätigkeiten während der NS-Zeit innerhalb des SS-Sonder- kommandos Künsberg dar.

Roman Fröhlich Der Einsatz von Gefangenen aus den Lagern der SS bei deutschen Unternehmen am Beispiel Heinkel und HASAG. Ein Vergleich Die Firmen Heinkel und HASAG gehörten zu den Privatunternehmen, die im NS-Staat die meisten KZ-Gefangenen beschäftigten. Anhand eines Ver- gleichs mit Hilfe eines Phasenmodells wird verdeutlicht, wie sehr Firmen- interesse und -ziel mit der Zwangsarbeit von KZ-Gefangenen verknüpft wa- ren. Neben den Konzentrationslagern werden auch die »Zwangsarbeitslager für Juden« (ZAL) berücksichtigt, die an den Standorten der HASAG und der Firma Heinkel entstanden.

Katia Genel Die sozialpsychologische Kritik der Autorität in der frühen kritischen Theorie. Max Horkheimer zwischen Erich Fromm und Theodor W. Adorno Der Aufsatz beabsichtigt, die Bedeutung des Autoritätsbegriffs für die kriti- sche Theorie zu erläutern. Die Autoritätskritik der »Frankfurter« liefert ein komplexes Bild ihrer Herrschaftstheorie und erlaubt es, das interdisziplinäre Programm des Instituts für Sozialforschung genauer zu untersuchen. Dabei ergibt sich, dass ein sozialpsychologischer Ansatz von Horkheimer, Fromm und später von Adorno privilegiert wurde. Die Komplexität dieses Ansatzes, der verschiedene Integrationsweisen der Psychoanalyse in die kritische Theorie der Gesellschaft enthält, wird in dem vorliegenden Aufsatz erklärt, um die Relevanz der Autoritätskritik deutlich zu machen.

Esther Denzinger Nach dem Genozid. Erinnerungsprozesse und die Politik des Vergessens in Ruanda In meiner Arbeit gehe ich der Frage nach, wie Ruanda sechzehn Jahre nach dem Genozid den Folgen der Gewalt begegnet. Im Zentrum der Arbeit ste- hen die Erzählungen und Zeugnisse der Angehörigen zweier ruandischer

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Frauenkooperativen. In einem Ausschnitt zeigen diese Frauen, vor welchen Aufgaben die ruandische Nachbürgerkriegsgesellschaft steht. Es sind Frauen, die ihr Leben anzupacken versuchen, die um Normalität ringen und die mit ihren sich immer wieder bahnbrechenden Erinnerungen an Schuld und Leid weiterleben und sich auseinandersetzen müssen.

ANTISEMITISMUS UND RASSISMUS

Monika Urban Die ›Heuschreckenmetapher‹ im Kontext der Genese pejorativer Tiermetaphorik. Reflexion des Wandels von sprachlicher Dehumanisierung Pejorative Tiermetaphorik hat eine lange Tradition in der deutschen Sprache. Sie wurde nicht nur durch die jeweiligen Praxen ihres soziokulturellen Kon- textes motiviert, sondern besaß auch einen Einfluss auf die jeweiligen Deu- tungsmuster sozialer und politischer Prozesse. Anhand einiger synchroner Schnitte in einer diachronen Perspektive führt dieser Artikel in die Mehr- dimensionalität, Aktualisierung und Wirkmächtigkeit von pejorativer Tier- metaphorik ein, der Fokus liegt auf judenfeindlicher und antisemitischer Dehumanisierung.

Tanja Kinzel Was sagt ein Bild? Drei Porträtaufnahmen aus dem Ghetto Litzmannstadt Im Zentrum meiner Dissertation steht eine historische Kontextualisierung der fotografischen Bestände des Ghettos Litzmannstadt und eine Differen- zierung der unterschiedlichen Perspektiven der Fotografierenden. In mei- nem Beitrag arbeite ich anhand von drei Porträtfotografien heraus, inwiefern sich Interessen und Motive der Fotografen (Funktionäre des NS oder Ver- folgte) in der Auswahl der Motive, des Bildausschnitts und des Blickwinkels artikulieren und somit in die Konstruktion der Fotografien einfließen.

Antje Krueger »Keine Chance pour Wohnung – C’est pas possive!« Sprachliche Zwischenwelten als kulturelles Produkt des Migrationsprozesses Anhand der Forschung zur ethnologisch-psychologischen Betreuung von psychisch belasteten Asylsuchenden in Zürich wird aufgezeigt, wie Migra- tionsprozesse zur Produktion sprachlicher Zwischenwelten führen können. Hier wird deutlich, dass dieser sprachlichen Praxis zwar einerseits kreative und kulturelle Momente der Selbstbestimmung innewohnen. Andererseits

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zeigt sich, dass diese im Kontext missachtender asylpolitischer Strukturen eher zu einem Ausschluss denn zu einer Anerkennung der betroffenen Asyl- suchenden führen. Im Rahmen des Artikels wird diskutiert, welche Bedeu- tung eine wertschätzende Betreuungsform einnehmen kann, damit die belastende Situation des statusrechtlichen Übergangs ausgehalten und über- lebt werden kann.

RELIGION UND SÄKULARISIERUNG

Polina Serkova Subjektivierungstechniken in der Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts In dem Artikel werden zunächst die theoretischen Grundlagen für die Ana- lyse der Erbauungsliteratur erläutert. Danach werden die Definition und der Entstehungskontext der Erbauungsliteratur dargestellt sowie die sprach- lichen und inhaltlichen Mittel der Subjektivierung in der Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts analysiert.

Marziyeh Bakhshizadeh Frauenrechte und drei Lesarten des Islam im Iran seit der Revolution 1979 Die Frage, ob die Gleichberechtigung der Frauen mit den islamischen Richt- linien vereinbar ist, wird heutzutage kontrovers diskutiert. Der Beitrag macht deutlich, dass »der Islam« nicht monolithisch ist; vielmehr existieren sehr unterschiedliche islamische Strömungen, die ihre jeweils eigenen An- sichten in Bezug auf Frauenrechte formulieren. Erst unter Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Sichtweisen können differenzierte Aussagen über das Verhältnis von Frauenrechten und Islam getroffen werden.

NATUR UND TECHNIK

Susanne Mansee Am Strand. Zur Genese eines Sehnsuchtsraumes Kaum ein Strandbesucher – gesetzt den Fall, er würde gefragt – könnte beantworten, was ihn allsommerlich an den Meeressaum zieht. Dass der urlaubende Mensch sich dort wohlfühlt, ist kollektiver Allgemeinplatz. Zu- nehmend rückt der Komplex positiver Zuschreibungen, die sich mit dem Badeurlaub, dem Sehnsuchtsraum Strand und den körperlich-sinnlichen Praktiken und Erfahrungen dort verbinden, in den Fokus wissenschaftlichen Interesses. Anhand ausgewählter wissenschaftlicher Beiträge wird deren kulturelle Hervorbringung nachvollzogen.

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Ercan Ayboga Talsperren und ihr Rückbau Der Rückbau von Talsperren hat mit der Talsperre Krebsbach 2007 auch in Deutschland Einzug erhalten, wofür ökonomische Gründe ausschlaggebend waren. Erstmalig wurde hier eine erhöhte Hochwassergefahr im dicht besie- delten Unterstrombereich in Betracht gezogen. Das Gerinne im Stauraum wurde mäandrierend angelegt – ein bisher einmaliger Vorgang.

MEDIEN

Peter Bescherer Ganz unten im Kino. Eisenstein, Pasolini und die politische Subjektivität des Lumpenproletariats Anhand zweier Filme von Regisseuren mit explizit kapitalismuskritischem Anspruch – Sergej Eisensteins Streik und Pier Paolo Pasolinis Accattone – rekonstruiert der Aufsatz das Bild vom »Lumpenproletariat« im linken Ima- ginären. Dabei zeigt sich ein deutlicher Kontrast in den Darstellungen, der einer Streitfrage in verschiedenen historischen und aktuellen Beiträgen zur kritischen Theorie der Gesellschaft entspricht. Pasolinis Film wird als Reak- tion auf den Eisensteins und die marxistische Orthodoxie interpretiert. Wel- che Rückschlüsse lassen sich ziehen für eine Kritik, die überlieferte Stereo- type – wie sie etwa auch in der Prekarisierungsforschung zu finden sind – nicht unhinterfragt fortschreibt?

Nils Brock Ansichtssache ANTenne. Überlegungen zu einer medienethnographischen Untersuchung des Radiomachens Medienethnographische Arbeiten leisten innerhalb der Sozialwissenschaften einen wichtigen Beitrag, um mediale Prozesse genauer zu dokumentieren, und ergänzen theoretische Zugänge um einen Blick, der den Akteur_innen folgt. Artefakte werden dabei jedoch selten so intensiv beschrieben wie han- delnde Subjekte. Der Artikel schlägt eine symmetrische Betrachtung aller an Medien beteiligten Entitäten vor und skizziert am Beispiel einer Antenne deren operative Entfaltung und analytischen Gewinn.

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LITERARISCHES FELD

Ena Mercedes Matienzo León El político como fabulador. Los artificios del discurso político en los inicios de la literatura latino- americana entre la ficción literaria y la utopía política en El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno de Felipe Guamán Poma de Ayala Der Beitrag zielt auf die Frage der Beziehung zwischen dem politisch moti- vierten, literarischen Werk des indigenen Autors Felipe Guamán Poma de Ayala und der Entstehung einer eigenständigen Literatur Lateinamerikas. Diese Fragestellung wird anhand des aus dem frühen 17. Jahrhundert stam- menden Manuskriptes El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno untersucht. Absicht dabei ist es, literarische Fiktion und politische Utopie in der indige- nen Chronik zu analysieren sowie das Konzept des »Politikers als Fabulier« zu erläutern, dessen Rede im Zwischenraum von Fiktion und politischer Fa- bel anzusiedeln ist. (Der Aufsatz erscheint in spanischer Sprache.)

Cordula Greinert Subversives Brausepulver. Heinrich Manns Tarnschriften gegen den Nationalsozialismus In diesem Artikel wird zunächst das Phänomen von Tarnschriften unter den Bedingungen von Nationalsozialismus und Exil analysiert und als spezifisch subversive Form des Widerstands gegen Publikations- und Distributionsver- bote gekennzeichnet. Darauf aufbauend werden Heinrich Manns Beiträge zu Tarnschriften und seine Rolle bei ihrer Veröffentlichung untersucht, wobei ihn beides als Tarnschriftenautor par excellence charakterisiert.

Julia Killet Maria Leitners Reportagen aus Nazi-Deutschland Maria Leitner (1892–1942) gehört zu den vergessenen Schriftsteller_innen des 20. Jahrhunderts. Zeit ihres Lebens war die Jüdin und Kommunistin auf der Flucht und erlebte ein zweifaches Exil: So floh sie nach der Zerschlagung der Räterepublik aus ihrem Heimatland Ungarn und schließlich vor den Na- tionalsozialisten nach Frankreich. In diesem Artikel werden eine Auswahl von Maria Leitners antifaschistischen Reportagen aus Nazi-Deutschland vorgestellt: Unter Todesgefahr reiste sie 1935 mehrmals dorthin, um darstel- len zu können, wie das Deutsche Reich unterschwellig auf den Krieg vorbe- reitet und aufgerüstet wird.

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Jens Mehrle Sozialistischer Realismus 1978. Zu einem Vorschlag von Peter Hacks Vor der internen Öffentlichkeit einer Arbeitsgruppe der Akademie der Künste initiierte Peter Hacks 1978 eine Debatte zur Ästhetik des sozialistischen Rea- lismus. Sein Versuch, in einer Krisensituation der DDR-Gesellschaft histori- sche Ansätze zu sichten, zu rekonstruieren und zu aktualisieren, verbindet Vorstellungen von einer sozialistischen Kunst und kunstpolitische Erwägun- gen zum Entwurf eines erneuerten Programms des sozialistischen Realismus in der Literatur. Die Elemente dieser Ästhetik blieben sowohl auf der Seite der Literatur als auch auf jener der Politik weitgehend unerprobt.

Maria Becker »Von der Zensur der Partei in die Zensur des Marktes?« Literarische Selbstverwirklichung renommierter Kinder- und JugendbuchautorInnen der DDR vor und nach 1989 Im Fokus des Artikels stehen die Arbeitsbedingungen renommierter DDR- Kinder- und JugendbuchautorInnen vor und nach 1989/1990, die im Rah- men narrativer Interviews erhoben wurden und an dieser Stelle analysiert und komparativ beleuchtet werden.

BILDUNG

Bettina Schmidt Brüche, Brüche, Widersprüche … Begleitende Forschung emanzipatorischer politischer Bildungsarbeit in der Schule In diesem Artikel wird die wissenschaftliche Begleitung eines Projektes vor- gestellt, welches an Grundschulen unter anderem im Themenfeld von De- mokratie und Vielfalt arbeitete. Zunächst werden das subjektwissenschaftli- che Forschungsvorgehen sowie der aktuelle Stand der Forschung fokussiert. Anschließend wird die Frage diskutiert, in welcher Form sich strukturelle Widersprüche in Positionen und Handeln von Subjekten an Schule realisie- ren und verstetigen.

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KÖRPER – MACHT – IDENTITÄT

Anja Trebbin Vergesellschaftete Körper Zur Rolle der Praxis bei Foucault und Bourdieu Foucault und Bourdieu denken Subjektivierungsprozesse in ähnlicher Weise. Ein Subjekt oder – in Bourdieus Terminologie – ein gesellschaftlicher Akteur konstituiert sich unmittelbar in der gesellschaftlichen Praxis, die sich den Körpern präkognitiv einschreibt. Wie lässt sich eine solche Vergesellschaf- tung ins Bewusstsein rufen und ihr Widerstand entgegensetzen? Foucaults und Bourdieus diesbezügliche Überlegungen regen an, beide Ansätze kom- plementär ergänzend aufeinander zu beziehen.

Nadine Heymann Play Gender im Visual Kei. Dynamiken an der Schnittstelle zwischen Europäischer Ethnologie und Queer Theory Die in Japan seit 15 Jahren etablierte Jugendkultur Visual Kei ist nun auch in Deutschland angekommen. Auffälliges Merkmal der Akteur_innen ist ihre ästhetische Erscheinung, in der Geschlechtergrenzen nicht mehr auszuma- chen sind. Das ethnografisch ausgerichtete Forschungsprojekt stellt die Frage nach spezifischen Praxen im Visual Kei und ob es so gelingt, die bi- näre, heterosexuelle Geschlechterordnung zu irritieren. Auf methodologi- scher Ebene werden Schnittstellen von Queer Theory und empirischer For- schung betrachtet und Implikationen für die Forschungspraxis abgeleitet. Die Arbeit ist im Spannungsfeld zwischen Subkultur- und queer-feministi- scher Geschlechterforschung angesiedelt.

Britta Pelters Die doppelte Kontextualisierung genetischer Daten. Gesundheitliche Sozialisation am Beispiel der Familie Schumacher-Schall-Brause Der Artikel zeigt, dass je individuelle Deutungen eines positiven Brustkrebs- Gentests als Ergebnis eines doppelten Kontextualisierungsprozesses zu ver- stehen sind, bei dem sowohl familiale Strukturen und Systeme als auch gesundheitliche Deutungs- und Handlungsmuster eine Rolle spielen. Ausge- hend von den Befunden der hier vorgestellten Fallstudie wird die Forderung nach relationaler Autonomie abgeleitet und ein konstruktivistischer Gesund- heitsbegriff vorgeschlagen.

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EMANZIPATION UND UTOPIE

Andrea Scholz Indigene Rechte, entzauberte ›Wilde‹ und das Dilemma engagierter Ethnologie Territoriale Rechte stellen ein wichtiges politisches Ziel indigener Bewegun- gen dar. Formal gesehen verfügen die Indígenas in Lateinamerika heute über Möglichkeiten zur Anerkennung ihrer Rechte. Allerdings besteht nicht nur eine tiefe Kluft zwischen den Rechtsdiskursen und der politischen Praxis, sondern auch zwischen den Diskursen und der Lebensrealität ihrer Ziel- gruppen. Ethnologische Feldforschung zu dieser Thematik muss sich mit zahlreichen Widersprüchen auseinandersetzen.

Tanja Ernst Transformation liberaler Demokratie. Dekolonisierungsversuche in Bolivien Ausgehend von einem intersektionellen Ungleichheitsverständnis und theo- retisch-konzeptionellen Überlegungen des Postkolonialismus thematisiert der Beitrag die Grenzen formaler Gleichheit und politischer Teilhabe. Die Be- obachtungen münden in eine grundsätzliche Kritik des universellen Gültig- keitsanspruches liberal-repräsentativer Demokratie, welche in anderen ge- sellschaftshistorischen Kontexten sowohl aus funktionalen als auch aus legitimatorischen Gründen zunehmend in Frage gestellt wird.

Judith Vey Freizeitprotest oder Beschäftigungstherapie? Hegemonietheoretische Überlegungen zu linken Krisenprotesten in Deutschland in den Jahren 2009 und 2010 Nicht erst seit den Krisenprotesten der vergangenen drei Jahre gibt es neue Protestbewegungen in Deutschland. An vielen Orten regt sich zu äußerst di- versen Themen Widerstand. Der vorliegende Artikel stellt hegemonietheore- tische Überlegungen zu diesen neuen Bewegungen an und fragt, welche Qualität und Quantität die Verbindung zwischen den Kämpfen haben muss, damit diese eine neue Hegemonie etablieren können, und welche Rolle All- tagspraxen bei der Hegemonialwerdung spielen.

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ARBEIT

Matthias Richter-Steinke

Von der Liberalisierung zur Privatisierung europäischer Eisenbahnen. Der Aktionsradius der Bahngewerkschaften im Wandel

Ob Lokführerstreik, Servicepannen oder die Diskussion um den Börsengang der Deutschen Bahn AG – in Deutschland sind die öffentlichen Diskussionen rund um den Wandel der heimischen Eisenbahn kaum wegzudenken. Doch auch in den europäischen Nachbarländern wird seit längerem um die Verän- derungen der Eigentumsform der Staatsbahnen gerungen. Hinter dieser breiten europäischen Debatte steht in erster Linie die zu Beginn der 90er Jahre eingeleitete Liberalisierung des europäischen Schienenverkehrssek- tors, die den Startschuss für zahlreiche Rationalisierungen und einen immer härter werdenden Wettbewerb unter den Eisenbahnverkehrsunternehmen gab. Immer mehr Länder reagieren auf diesen Wettbewerb mit der Privati- sierung ihrer staatlichen Eisenbahnen – frei nach dem Motto: privat ist wirt- schaftlich effizienter. Die Kehrseite dieser liberalisierungsbedingten Wettbe- werbsorientierung stellen jedoch der massive Abbau von Arbeitsplätzen und eine deutliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der EisenbahnerIn- nen dar. Dass die Privatisierungen auch die Bedingungen gewerkschaftlicher Organisation beeinflussen, wird hingegen häufig übersehen. In meiner For- schungsarbeit »Auswirkungen von Privatisierungen auf Gewerkschaften« habe ich mich daher vor dem Hintergrund von Globalisierung und fort- schreitender Europäisierung beispielhaft den Gewerkschaften des deutschen Schienenverkehrssektors gewidmet und konnte darlegen, dass Gewerk- schaften, unabhängig davon, ob sie sich kooperativ oder konfrontativ ver- halten, aus Privatisierungsprozessen geschwächt hervorgehen. Dieser Beitrag möchte nun Einblick in den Entwicklungsstand der Libera- lisierung und Privatisierung der Eisenbahnen in Europa seit Anfang der 90er Jahre geben, ihre Bedeutung für die Beschäftigten des Schienenverkehrssek- tors darlegen und auf die gemeinsame Positionierung der europäischen Ge- werkschaften hierzu eingehen. Denn ist es einerseits die Deutsche Bahn, der

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eine bedeutsame Rolle für das Fortschreiten der Privatisierung zukommt, sind es andererseits insbesondere die deutschen Bahngewerkschaften, die auf internationaler Ebene die gewerkschaftliche Positionierung stark beein- flusst haben. Gleichzeitig werden bei allen Veränderungen auch unterschied- liche Optionen der europäischen Eisenbahnergewerkschaften in diesem Pro- zess deutlich.

Die europäische Liberalisierung des Schienenverkehrssektors

Wie auch andere wirtschaftliche Sektoren wurde der Schienenverkehrssektor in den vergangenen Jahrzehnten vom vorherrschenden marktradikalen Dogma neoliberaler Wirtschaftspolitik bestimmt. Dabei spielten insbeson- dere Liberalisierung und Privatisierung eine entscheidende Rolle.1 Während Privatisierung vereinfacht gesprochen die Entscheidung darüber bedeutet, ein vormals öffentliches Gut oder eine öffentliche Aufgabe privat bereitzu- stellen, entscheidet Liberalisierung über die rechtliche Ausgestaltung eines unternehmerischen Feldes. Liberalisierung bedeutet hierbei den Abbau von gesetzlichen Beschränkungen des Marktzutritts für Private und die Freigabe von gebundenen Preisen (Marktöffnung, Abbau staatlicher Auflagen und Monopolrechte). Vorrangigstes Ziel ist es dabei, mehr Wettbewerb unter den Anbietern entstehen zu lassen (Wettbewerb um den und im Markt) sowie Marktmechanismen einzuführen. Für den Bereich des Schienenverkehrssektors bedeutet Liberalisierung da- her im ersten Schritt, dass es privaten Anbietern ermöglicht wird, eigene, mit den vormals monopolistisch betriebenen staatlichen Eisenbahnverkehrs- unternehmen (EVU) konkurrierende Dienstleistungen anzubieten. Hierzu müssen sie eine staatliche Betriebsgenehmigung erhalten und Zugangsrechte zum Schienennetz erteilt bekommen, die bis dahin, mit wenigen Ausnahmen, nur den staatlichen und bisweilen behördlichen Eisenbahnen zustanden. Spielt eine Liberalisierung des Schienenverkehrssektors auf der Ebene des Welthandels und des Dienstleistungsabkommens GATS bislang aufgrund der geringen Verpflichtungen, welche die EU in diesem Sektor einging, nur eine untergeordnete Rolle, so sorgt der derzeitige Boom im wachstums- starken und lukrativen Transportdienstleistungssektor, an dem sich auch die europäischen Logistikmultis beteiligen, für wachsendes handelspolitisches Interesse.2

1 Zur klassischen Trias neoliberaler Wirtschaftspolitik gehört neben Liberalisierung und Privatisierung auch die Deregulierung, also die Rücknahme von staatlichen (bisweilen politischen) Regulierungen gegen das Versagen des Marktes, die zu mehr Wettbewerb auf den Märkten führen soll. In diesem Fall möchte ich mich jedoch aufgrund ihrer grundlegenderen Bedeutung für den Schienenverkehrssektor auf die beiden erst- genannten Maßnahmen beschränken.

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Steckt die Liberalisierung des Schienenverkehrssektors über die Grenzen der europäischen Gemeinschaft noch in den Kinderschuhen, so ist sie im europäischen Binnenmarkt bereits deutlich weiter fortgeschritten. Bemer- kenswerterweise macht sich die Europäische Kommission, als eine wesent- liche Triebkraft hinter der europäischen Liberalisierungspolitik, die Ver- handlungen um das GATS trotz dieses Unterschiedes zunutze, um den Druck auf die europäische Politik zur Liberalisierung und Privatisierung des eigenen Sektors zu verstärken sowie über die Grenzen ihres Verantwor- tungsbereichs steuernd auf nationale Entscheidungen über den Charakter öffentlicher Güter und Dienstleistungen einzuwirken. Der breit angelegte Umstrukturierungsprozess, der durch die Liberalisie- rungspolitik im Eisenbahnsektor seit Anfang der 90er Jahre stattfindet, wurde dabei »überwiegend durch die Rechtsvorschriften der EU in Gang ge- setzt«3. Eine vom Europäischen Rat bereits 1975 getroffene Entscheidung (75/327/EWG) zur Liberalisierung und Kooperation der europäischen Staatsbahnen war in den Folgejahren noch an einer abnehmenden Integra- tionsbereitschaft der angewachsenen Europäischen Gemeinschaft geschei- tert.4 Erst 1985 forderte das Europäische Parlament angesichts des schlechten Zustandes vieler europäischer Staatsbahnen mit einer Untätigkeitsklage beim Europäischen Gerichtshof vom Rat, »die Dienstleistungsfreiheit im ge- meinschaftlichen Verkehr sicherzustellen«5. Daraufhin nutzte die Europäi- sche Kommission die 1986 beschlossene Schaffung eines einheitlichen Bin- nenmarktes als Antriebsmotor für eine Reaktivierung der Reformvorhaben aus den 70ern. Mit der EU-Richtlinie 91/440/EWG aus dem Jahr 1991 verlangte die EU von ihren Mitgliedern neben einem Abbau der Verschuldung der Staatsbah- nen und ihrer finanziellen Sanierung sowohl eine unabhängige Betriebs- führung der Eisenbahnverkehrsunternehmen als auch eine (mindestens buchhalterische) Trennung von Infrastruktur und Eisenbahnbetrieb. Auch war mit dieser Richtlinie (die bis spätestens 2003 in nationales Recht umge- setzt werden musste) ein gleichberechtigter und diskriminierungsfreier Netzzugang aller EVU auf dem transeuropäischen Schienengüternetz ver- bunden. Kurz darauf folgten unter anderem die Verordnung zum sogenann- ten Bestellerprinzip (1993), welche die staatlichen EVU aus ihrer gemeinwirt-

2 Vgl. Thomas Fritz; Kai Mosebach; Werner Raza; Christoph Scherrer: GATS-Dienstleistungsliberalisierung. Sektorale Auswirkungen und temporäre Mobilität von Erwerbstätigen, Düsseldorf 2006, S. 77. 3 Roberto Pedersini; Marco Trentini: Arbeitsbeziehungen im Eisenbahnsektor. http://www.eiro.eurofound.eu.int (http://tinyurl.com/6auj8wo; 28.03.2000). 4 Vgl. Hans-Peter Müller; Manfred Wilke: »Gestaltend Einfluss nehmen«. Bahngewerkschaft und Bahnreform 1993-2005, Berlin 2006, S. 30 ff. 5 Heike Delbanco: Die Bahnstrukturreform – Europäische Vorgaben und deren Umsetzung in nationales Recht. In: Christoph Roland Foos (Hrsg.): Eisenbahnrecht und Bahnreform: Vorschläge im Rahmen der Seminarveranstaltung ›Eisenbahnrecht und Bahnreform‹ vom 24. Juni 2000 in Mannheim, Minfeld in der Pfalz 2000, S. 21-57, hier: S. 28.

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schaftlichen Verpflichtung entließ, und die Richtlinien über die Preis-, Be- triebsbedingungen und Fahrwegzuweisung des Schienennetzes (1995) sowie zur technischen Harmonisierung der Schienenverkehrssysteme (1996).6 Mit dem sogenannten Infrastrukturpaket des 1. Eisenbahnpakets forderte die EU 2001 eine weitestgehende Unabhängigkeit bei der Trassenzuweisung und Festlegung der Wegentgelte und leitete die allmähliche Öffnung des Transeuropäischen Schienengüternetzes für zugelassene Unternehmen ein. 7 Danach überarbeitete die EU mit ihrem 2. Eisenbahnpaket 2004 die bestehen- den Richtlinien, richtete als Kontrollbehörde die Europäische Eisenbahn- agentur (EEA) ein und verstärkte die Harmonisierung der Eisenbahnsicher- heitsbestimmungen. Eine Vereinheitlichung sozialer Bestimmungen (z. B. der Arbeitszeit) für die Beschäftigten blieb hingegen – ganz im Geiste des Wettbewerbs – aus. Gegen die Stimmen Frankreichs, Belgiens und Luxem- burgs wurde zudem die vollständige Liberalisierung des europäischen Schienengüterverkehrs bis Anfang 2007 beschlossen.8 Mit dem 3. Eisenbahnpaket aus dem Jahr 2007 sollten schließlich der in- ternationale Personenverkehr liberalisiert und die Fahrgastrechte gestärkt werden. Doch während die EU-Kommission zum Januar 2007 die vollstän- dige Liberalisierung des Schienengüterverkehrs abschließen konnte9 und das Europäische Parlament am 18. Januar 2007 die Öffnung der Schienennetze für den grenzüberschreitenden Personenverkehr bis 2010 sowie eine einheit- liche Zertifizierung der LokführerInnen beschloss, verfehlte eine vom Ver- kehrsausschuss des Parlaments empfohlene Marktliberalisierung des inner- staatlichen Personenverkehrs bis 2017 die Mehrheit im Europaparlament.10 Derzeit haben nur einzelne Länder, wie z. B. Deutschland 1994, ihren inner- staatlichen Personenverkehr freigegeben und stellen sich damit zusätz- lichem Wettbewerb. Andere große Eisenbahnmärkte, wie z. B. Frankreich, haben diesen Schritt noch nicht vollzogen. Der Berichterstatter des Europäi- schen Parlaments, Georg Jarzembowski, machte vor allem die Befürchtun- gen der Volksvertreter kleinerer EU-Länder und deren Ängste vor Übernah- men ihrer (noch) staatlichen Eisenbahngesellschaften für das Scheitern einer weitergehenden Liberalisierung verantwortlich.11 Auch in der Umsetzung

6 Vgl. Delbanco 2000 (s. Anm. 5), S. 33; Barbara Dickhaus; Kristina Dietz: Öffentliche Dienstleistungen unter Privatisierungsdruck: Folgen von Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen in Eu- ropa, Bonn 2004, S. 22; Dagmar Hemmer; Bela M. Hollos: Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen in der EU. Eisenbahn und öffentlicher Nahverkehr, Wien 2003, S. 4. 7 Vgl. Egon Brinkmann: Referat im Rahmen des Projektes »Arbeitnehmervertretung bei der Umstrukturie- rung im Transportsektor«, gefördert durch den BMAS. http://www.eva-akademie.de/c78.html (22.07.2008). 8 Vgl. Hemmer; Hollos 2003 (s. Anm. 6), S. 4. 9 Vgl. Europäische Kommission: Bahn im Vorwärtsgang: vollständige Liberalisierung des Schienengüterver- kehrs ab 1. Januar 2007. http://europa.eu (http://tinyurl.com/3nwrchg; 01.02.2006). 10 Vgl. Bahn für Alle: Europaparlament beschränkt geplante Liberalisierung des Personenverkehrs bei der Bahn. http://www.attac.de (http://tinyurl.com/6xt8atf; 18.01.2007). 11 Vgl. Handelsblatt: Straßburg bremst Bahn-Liberalisierung. EU-Parlament gegen Öffnung nationaler Strecken. In: Handelsblatt vom 19.01.07, S. 5.

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des 1. Eisenbahnpakets sieht die Europäische Kommission offenbar deutli- chen Nachbesserungsbedarf. So verschickte sie 2008 an 24 der 25 Eisenbahn- länder Europas diesbezüglich Beschwerdebriefe.12 Fehlt es der europäischen Liberalisierungspolitik bislang an erkennbaren Fortschritten im Sinne eines belebenden Wettbewerbs, da sie bisher weder zu sinkenden Preisen, zu einem Anstieg der Bahn am Modal Split (Anteil des Güterverkehrsaufkommens unter den Verkehrsträgern) noch zu einer be- deutsamen Zahl an neuen Anbietern geführt hat, so macht die EU-Kommis- sion dafür die aus ihrer Sicht ungebrochene Marktdominanz der (ehemali- gen) staatlichen Monopolisten und staatliche Wettbewerbsverzerrungen verantwortlich. Deshalb beabsichtigt die EU-Kommission weiter an einer fortschreitenden Binnenmarktliberalisierung festzuhalten. So machte die Kommission ihre verkehrspolitischen Ziele einer anteiligen Erhöhung des Schienenverkehrs gegenüber den anderen Verkehrsträgern, ungeachtet der Wettbewerbsvorteile konkurrierender Verkehrsträger (Cherusin-Subvention, fehlende LKW-Maut, Verlagerung externer Kosten), mittels einer Marktöff- nung und Wettbewerbsförderung in ihrem Weißbuch Die europäische Ver- kehrspolitik bis 2010: Weichenstellung für die Zukunft von 2001 deutlich.13 Nach Aussagen der Europäischen Transportarbeiter Föderation (ETF) plant die EU-Kommission zudem neue Gesetzesvorhaben, »um die Zerschlagung und Liberalisierung weiter fortzusetzen: Integrierte Unternehmen sollen zerstört werden, Infrastruktur-Management und Verkehrsunternehmen sollen kom- plett getrennt werden. Sogenannte eisenbahnnahe Dienstleistungen, In- standhaltungen, Rangierbahnhöfe und selbst Ausbildungszentren« sollen – mit den Worten der EU – »›diskriminierungsfreien Zugang gewähren‹«14.

Liberalisierung als Werkzeug zur Privatisierung der Eisenbahnen

Von der Liberalisierung des europäischen Schienenverkehrssektors und den grundlegenden Änderungen der nationalen Bestimmungen waren vor allem die staatlichen Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) betroffen. Neben ei- ner (zumindest rechnerischen) Trennung ihrer Unternehmensbereiche Infra- struktur (Netz) und Betrieb sowie der Ausgliederung ihrer Funktionen einer Kontrollbehörde mussten sie sich fortan als unabhängige Wirtschaftsunter- nehmen auf einem Markt mit neuen privaten Wettbewerbern im Kampf um Aufträge und KundInnen behaupten. Die traditionellen EVU reagierten da-

12 Vgl. European Transportworkers’ Federation (ETF): Es ist genug!!! 13. November 2008 in Paris: Demonstra- tion der Europäischen Eisenbahnerinnen und Eisenbahner. Flugblatt, erschienen am 13.11.2008. 13 Vgl. Europäische Kommission: Weißbuch. Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft. http://www.eu.int (http://tinyurl.com/6dxsz4s; 04.01.2006). 14 European Transportworkers’ Federation (ETF) 2008 (s. Anm. 12).

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rauf überwiegend mit der Neugliederung (wie In- und Outsourcing) und technischen wie personellen Rationalisierung ihrer Unternehmen sowie ei- ner teilweisen unternehmerischen Neuausrichtung (wie Diversifizierung/ Reduzierung der Angebotspalette, Expansion und Internationalisierung). Viele Länder der EU, darunter Belgien, Deutschland, Finnland, Italien, Lett- land, die Niederlande, Österreich, Polen, Schweden, Slowakei, Tschechien und Ungarn, koppelten, ohne eine rechtliche Erfordernis der EU, die natio- nale Umsetzung der neuen Bestimmungen an eine formelle Privatisierung ihrer Eisenbahnen. Die Bahnen blieben dabei zwar hundertprozentig in der Hand des Staates, doch gab dieser wichtige Mitspracherechte ab. Auch kon- zentrierten sich die rechtlich privatisierten traditionellen EVU fortan auf ihren unternehmerischen Erfolg in den Bilanzen und nicht mehr auf die Ge- währleistung öffentlicher Daseinsvorsorge, wie einen sich in die Fläche er- streckenden, serviceorientierten und preiswerten Personen- und Gütertrans- port. Andere europäische Länder reagierten auf die Veränderungen durch die Liberalisierung des Sektors mit teilweiser oder vollständiger Privatisierung ihrer traditionellen EVU. Am weitesten gingen hierbei Großbritannien und Estland. So zerschlug und verkaufte die konservative britische Regierung John Majors in einer Kapitalprivatisierung 1995 bis 1997 die British Rail (BR). Nach zahlreichen Zugunglücken, die auf eine Vernachlässigung der Schiene- ninfrastruktur zurückzuführen waren, sah sich die nachfolgende Labour- Regierung Ende 2002 gezwungen, den insolventen Infrastrukturbetreiber Railtrack mit hohen Verlusten für die SteuerzahlerInnen zurückzukaufen und den Betrieb wieder in staatliche Hand zu nehmen. Estland hingegen entschied sich, die Privatisierung seiner Eisenbahn Anfang 2007 vollständig zurückzunehmen. Schweden, einst Vorreiter der Liberalisierung, verkaufte trotz weiterge- hender Ankündigungen bislang lediglich die bahneigenen Servicedienste seiner Eisenbahn. Während Dänemark 2001 seine Güterverkehrssparte an die Güterverkehrstochter der Deutschen Bahn AG, DB Railion, verkaufte und eine weitere Teilprivatisierung der Danske Statsbaner (DSB) forciert15, entschieden sich die Niederlande bereits 1999, »mit der bemerkenswerten Begründung, mehr Mobilität zu gewährleisten sei wichtiger als Gewinn- maximierung«16, auf eine Privatisierung der Nederlandse Spoorwegen (NS) zu verzichten und die NS-Cargo 2000 in Kooperation mit der DB Railion zu verschmelzen. Der Trend zur Privatisierung der Eisenbahnen scheint indes ungebrochen. Erst Ende 2008 verkaufte Ungarn die Güterverkehrstochter der staatlichen

15 Vgl. Die Presse: Dänemark will Bahn privatisieren. http://diepresse.com (http://tinyurl.com/65kxxld; 24.06.2006). 16 Hemmer; Hollos 2003 (s. Anm. 6), S. 6.

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Eisenbahn AG Magyar Államvasutak (MAV) an die Österreichischen Bundes- bahnen (ÖBB). Und auch wenn die Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG im Herbst 2008 aufgrund der internationalen Finanzkrise von der Bun- desregierung vorläufig gestoppt wurde, hatte bereits die hiesige Debatte um den Börsengang der eigens hierfür neugegründeten DB Tochter Mobility & Logistics (DB ML AG) des größten europäischen Anbieters andere europä- ische Staaten unter Zugzwang gesetzt, über die Positionierung ihrer Eisen- bahnen im internationalen Wettbewerb nachzudenken. Insbesondere der Fortschritt bei der Liberalisierung des europäischen Schienengüterverkehrs tat dabei sein Übriges. Führten Überlegungen des ehemaligen konservativen Vizekanzlers Wilhelm Molterer (ÖVP) im April 2008 über eine Kapitalprivati- sierung der Güterverkehrstochter Rail Cargo Austria und des Personenver- kehrs der ÖBB noch zu Streit mit dem sozialdemokratischen Koalitionspart- ner SPÖ17, scheint sich das Thema Privatisierung des Schienengüterverkehrs bis heute hartnäckig zu halten. Während die neue polnische Regierung unter Ministerpräsident Donald Tusk eine Kapitalprivatisierung der Staatsbahn Polskie Koleje Pa´nstwowe (PKP) anstrebt18, zieht auch die Unternehmenslei- tung der italienischen Staatsbahn Ferrovie dello Stato (FS) immerhin eine Teil- privatisierung ihrer Hochgeschwindigkeitssparte in Betracht.19 Es sind vor allem die kleineren europäischen Bahnen, die angesichts der starken Konkur- renz der Global Player, wie des weltweit zweitgrößten Logistikers DB AG, neue Möglichkeiten der Finanzierung zur Steigerung ihrer Wettbewerbsfähig- keit suchen. Doch rüstet sich selbst die bislang von Liberalisierung und Priva- tisierung weitestgehend verschonte französische Staatsbahn SNCF mit Koope- rationen und strategischer Expansion sowie einem Konzernumbau nach Art der DB AG. Gerade dieser Konzernumbau wird unter den Vorzeichen einer möglichen Kapitalmarktorientierung von französischen Gewerkschaftlern argwöhnisch betrachtet.20 Trotz partieller Kooperationen ist zwischen den bei- den größeren europäischen EVU, DB AG und SNCF, der Wettlauf um die europäischen Verkehrsmärkte bereits voll entbrannt. So liegen entsprechende Expansionspläne beider Seiten vor.21 Eine teilweise Kapitalprivatisierung der DB AG dürfte daher neben dem ohnehin schon starken intermodalen Wettbe- werb zwischen den Verkehrsträgern eine ernsthafte Verschärfung des interna- tionalen intramodalen Wettbewerbs auf der Schiene bedeuten.

17 Vgl. Die Presse: Faymann lehnt ÖBB-Privatisierung ab. http://diepresse.com (http://tinyurl.com/64sbmc; 13.03.2008). 18 Vgl. Sebastian Becker: Polen verkauft 19 Staatsunternehmen. http://www.ftd.de (http://tinyurl.com/68xutwo; 23.04.2008). 19 Vgl. Andre Tauber: Internationaler Bahnvergleich (Teil 3): Flucht aus dem staatlichen Korsett. http://www.ftd.de (http://tinyurl.com/6fwbtme; 28.08.2008). 20 Vgl. Lutz Meier: Internationaler Bahnvergleich (Teil 2): Frankreich – Expansion streng nach Vorbild. http://www.ftd.de (http://tinyurl.com/6zutkbf; 27.08.2008). 21 Vgl. Hans-Gerd Öfinger: Europas Bahnen rüsten auf. Deutsche und französische Gewerkschafter warnen vor Konkurrenzkampf. http://www.nd-online.de (http://tinyurl.com/6d5xpmq; 12.02.2007).

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Und selbst hinter den Grenzen der EU machte die angefachte Diskussion um die Privatisierung der Bahnen keinen Halt: »Auch in der ansonsten bürgerbahnfreundlichen Schweiz gibt es Diskus- sionen, wie etwa mit der bereits EU-konform liberalisierten Güterverkehrs- sparte der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) zu verfahren sei. Ganz offen sprachen Schweizer Verkehrsminister und SBB-Vorstand bereits von ei- nem teilweisen Börsengang der SBB nach deutschem Vorbild.«

Die Folgen der Umstrukturierung für die Beschäftigten des Schienenverkehrssektors

Bis heute vermissen die Beschäftigten des Schienenverkehrssektors eine not- wendige Vereinheitlichung sozialer Bestimmungen, die verhindern könnte, dass der Wettbewerb zwischen den Unternehmen (via Lohndumping etc.) auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Doch während in Westeuropa die Fris- ten für die Restrukturierungen zum Teil nicht eingehalten wurden und der Liberalisierungsprozess langsamer und durch Verhandlungen in seinen so- zialen Folgen abgemilderter verlief, sorgte der hohe Druck der EU auf die osteuropäischen Länder, im Zuge ihres Beitritts eine zügige Implementie- rung der EU-Gesetzgebung zu vollziehen, dafür, dass es zu einer schnellen und in ihren Auswirkungen für die Beschäftigten deutlich schonungsloseren Restrukturierung kam. Einige Regierungen nutzten den externen Druck gar, um eine besonders harte Vorgehensweise der Restrukturierung zu wählen. Hunderttausende von EisenbahnerInnen verloren im Zuge der europa- weiten Rationalisierungen ihren Arbeitsplatz,23 erfuhren eine Verschlechte- rung ihrer Arbeitsbedingungen oder wurden bei zunehmenden Belastungen zu deutlichen Produktivitätssteigerungen angehalten. Die neu auf dem Markt entstandenen EVU trugen aufgrund ihres schlanken Personalstamms entgegen der Vorstellungen der EU-Kommission nur zu einer geringen Kompensation der weggefallenen Arbeitsplätze bei. Vielmehr sorgte die un- terdurchschnittliche Organisation ihrer Beschäftigten, mit zumeist geringer tarifierten Beschäftigungsverhältnissen, für einen run to the bottom, und der anhaltende Arbeitsplatzabbau führte zu einer deutlichen Verunsicherung bei den Beschäftigten. Prekarisierung, Leih- und Zeitarbeit sowie Tarifdumping

22 Matthias Richter-Steinke: Bahnprivatisierung vor dem Aus? In: Blätter für deutsche und internationale Poli- tik, Nr. 12/2008, S. 14; vgl. Verkehrsrundschau: SBB-Teilprivatisierung in Diskussion. http://www. verkehrsrundschau.de (http://tinyurl.com/6z9p2gl; 19.05.2008); Ulf Brychcy: Internationaler Bahnvergleich (Teil 6): Schweiz – Milliarden für den Nationalstolz. http://www.ftd.de (http://tinyurl.com/6dp3m3p; 02.09.2008). 23 Die Internationale Transportarbeiterföderation spricht von einer »Reduzierung der Belegschaften um die Hälfte«. International Transportworkers’ Federation (ITF): Demonstration gegen die Zerschlagung der euro- päischen Bahnen. http://www.itfglobal.org (http://tinyurl.com/6y68kwo; 14.11.2008).

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hielten Einzug. Konnten für die verbleibenden Beschäftigten der traditionel- len EVU teilweise soziale Besitzstände gesichert werden, so liegt das Niveau der Neu-Eingestellten zumeist deutlich unter diesem Level. Wie die neuen EVU setzten mittlerweile auch die traditionellen EVU auf eine Intensivie- rung der Arbeit mittels flexibler und längerer Arbeitszeiten sowie multifunk- tionaler Tätigkeiten (z. B. der Lokführer als Schaffner und Servicekraft). »Auch für die Beschäftigten der bahnnahen Zulieferbetriebe hatten die Umstrukturierungen massive negative Auswirkungen. Allein in der deut- schen Bahnindustrie verloren im Zuge der formellen Bahnprivatisierung 1994 über 50 000 Menschen ihren Arbeitsplatz; der Sparkurs der DB AG mit dem Ziel der Börsenfähigkeit seit 2000 kostete die Bahnindustrie weitere 10 000 Arbeitsplätze.«24

Europäische Gewerkschaften unter Zugzwang

Die Schwierigkeiten der europäischen Bahngewerkschaften, die Arbeits- plätze und sozialen Errungenschaften für die Beschäftigten des Sektors zu si- chern, dürften trotz massiver Mitgliederverluste und angesichts eines tradi- tionell hohen Organisationsgrads der Eisenbahner weniger durch ihre Verhandlungsstärke als vielmehr durch die politischen Vorgaben der EU und nationaler Regierungen erklärbar sein. So konnten europaweite Streikbewe- gungen 1992 zwar eine schnelle Umsetzung der Direktiven der EU verhin- dern, »dennoch gab es kein einheitliches internationales gewerkschaftliches Vorgehen gegen den Angriff von Kapital und Regierungen« 25, das die Ein- griffe hätte verhindern können. Nach Ansicht von BeobachterInnen war der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) »nicht bereit, die Bewegung zu koordinieren und weiter zu intensivieren«26. Erst mit der Neugründung der Europäischen Transportarbeiter Föderation (ETF) im Juni 199927 aus den Vor- gängerorganisationen der Föderation der Transportarbeiter der Europä- ischen Union/EFTA (FST) und den sonstigen in Europa vertretenen Mitglie- dergewerkschaften der Internationalen Transportarbeiter Föderation (ITF) intensivierten auch die europäischen Verkehrsgewerkschaften ihre Zusam- menarbeit.

24 Richter-Steinke 2008 (s. Anm. 22), S. 15. 25 Willi Hajek: Eisenbahnen in Europa: Wohin rollt der Zug? Für einen Öffentlichen Dienst anstelle von Privati- sierung. In: Ränkeschmiede – Texte zur internationalen Arbeiterbewegung, No. 15, 02/06, Offenbach 2006, S. 5. 26 Ebd., S. 5. 27 Der mit rund 2,5 Millionen Mitgliedern in 40 Ländern fortan größte Tochterverband der 1896 gegründeten ITF, die in weltweit 148 Ländern mit 681 Gewerkschaften rund 4,5 Millionen Mitglieder vertritt, ist unterteilt in zehn unterschiedliche Sektionen, die von der Zivilluftfahrt über die Eisenbahn (36 Eisenbahnsektoren) bis zum städtischen Nahverkehr reichen.

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Die ETF versucht seitdem ihre Mitgliedsgewerkschaften im Europäischen Sozialen Dialog (ESD) auf Gemeinschaftsebene zu vertreten und die europä- ische Gesetzgebung via Lobbying zu beeinflussen. Besonders im ESD, des- sen Abkommen gemäß Artikel 139 des EG-Vertrags in europäisches Recht umgewandelt werden können, konnte die ETF bereits wichtige Erfolge erzie- len. Darunter fallen auch die Einführung einer Europäischen Lokführer- lizenz und Verpflichtungen über Arbeitsbedingungen für mobiles Personal im grenzüberschreitenden Verkehr. Gleichzeitig sprach sich die ETF von jeher gegen die Liberalisierung des Schienenverkehrssektors aus, »da ihrer An- sicht nach nicht eine intrasektorale Konkurrenz die Probleme im Eisenbahn- sektor behebe, sondern nur faire intersektorale Wettbewerbsbedingungen zwischen den Verkehrsträgern, nachholende Investitionen in die Schienen- infrastruktur und die Herstellung von Interoperabilität der unterschied- lichen Systeme. Die ETF sieht in der Liberalisierung des Eisenbahnsektors lediglich das Ziel der EU-Kommission, die großen integrierten Eisenbahnun- ternehmen aus Wettbewerbszielen zu fragmentieren und zu zerschlagen. Diese Fragmentierung sei zugleich die Voraussetzung und somit erster Schritt, um auf nationaler Ebene Privatisierungen voranbringen zu können. Auch hinter den geplanten Gesetzesvorhaben der EU-Kommission befürchtet die ETF eine weitere ›Zerschlagung, Outsourcing und Privatisierung‹ der tradi- tionellen europäischen EVU«28. Auch wenn es unter den heutigen Mitgliedsgewerkschaften der ETF beim 1. Eisenbahnpaket noch kontroverse Diskussionen gab und sich eine deutli- che Mehrheit für eine strikte Ablehnungshaltung fand, zeigte man sich beim 2. Eisenbahnpaket aufgrund der gescheiterten Verhinderungsversuche weit- aus ernüchterter. So einigte man sich nun darauf zu versuchen, praktischen Einfluss auf die weitere Gesetzgebung zu nehmen. Dieser allmähliche libera- lisierungskritische Konturverlust innerhalb der ETF dürfte vor allem an der zentralen Rolle der eher moderaten Bahngewerkschaften, darunter die deut- sche TRANSNET und GDBA unter dem ehemaligen TRANSNET-Vorsitzen- den und langjährigen ETF-Sektionspräsidenten im Bereich Schiene, Norbert Hansen, gelegen haben.29 Auch unter Hansens Leitung, der Mitte 2008 durch seinen Wechsel ins Arbeitgeberlager in die Kritik geraten sollte30, vermied es die ETF sich näher des Themas Privatisierung anzunehmen.31 Trotz des Weg-

28 Zitiert nach Matthias Richter-Steinke: Auswirkungen von Privatisierungen auf Gewerkschaften. Die Privati- sierung der europäischen Eisenbahnen am Beispiel der Deutschen Bahn im Kontext von Liberalisierung, Europäisierung und Globalisierung. Dissertation (in Vorbereitung). 29 Neben den deutschen Verkehrsgewerkschaften TRANSNET und der GDBA, die Ende 2010 zur Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) verschmolzen, ist auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Mitglied der ETF. Die Lokführergewerkschaft GDL hingegen nicht. 30 Vgl. Transnet-Chef wechselt die Seiten. Rücktritt als Gewerkschaftsvorsitzender. http://www.tagesschau.de (http://tinyurl.com/5vxucq; 08.05.2008). 31 Ein europäischer Eisenbahnerstreik alternativer internationaler Gruppen am 18. März 2003 fand ohne eine Beteiligung der ETF statt. Vgl. Hajek 2006 (s. Anm. 25), S. 5.

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gangs Hansens fehlt es bis heute an einer einheitlichen Position der Bahnge- werkschaften zur Privatisierung ihres Sektors. Auch wenn voraussichtlich eine Mehrheit der ETF-Mitgliedsgewerkschaften sich klar gegen Privatisie- rungen aussprechen würde, scheut die ETF den offenen Konflikt, da sie für ihre Arbeit als Dachorganisation auf einen Konsens der Mitgliedsgewerk- schaften angewiesen ist. Denn die Konfliktlinien um eine Positionierung in Bezug auf die europäische Liberalisierung und nationalen Privatisierungen des Schienenverkehrs in Europa gehen quer durch die ETF-Mitglieder: »Die großen etablierten Bahngewerkschaften in Europa, speziell in Italien, Spanien und Deutschland, tragen den Privatisierungsprozess der Bahn weit- gehend mit und unterstützen zum Teil, wie in Italien, Gesetze, die die Bewe- gungsfreiheit der BasisgewerkschafterInnen wie spontane Streikbewegun- gen im Transportbereich einschränken sollen.«32 Andere Bahngewerkschaften der ETF, wie die französische CGT, die österreichische vida, die deutsche ver.di oder die britische RMT, hingegen sehen die Liberalisierung weitaus kritischer und sprechen sich deutlich ge- gen eine Privatisierung der Bahnen ihrer Länder aus. Einige von ihnen lassen sich daher auch auf eine Zusammenarbeit mit nicht in der ETF vertretenen basisorientierten Gewerkschaften und Organi- sationen, wie dem deutschen Bündnis Bahn für Alle oder der gewerkschaftli- chen Basisorganisation der einstigen TRANSNET, Bahn von unten, ein. Als Beispiel hierfür kann auch die gemeinsame Mobilisierung der CGT mit der konkurrierenden SUD-Rail Anfang November 2008 gegen eine Verlängerung der Fahrtzeiten gelten, »die aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit [der SNCF] mit privaten Anbietern eingeführt werden« soll.33 Trotz dieser Spaltung veranstaltete die ETF am 13. November 2008 in Pa- ris einen europäischen Aktionstag und eine Demonstration gegen die Priva- tisierung der Bahn in Europa. »Für die einen ist die europäische Ebene eine Möglichkeit, die kämpferi- schen Teile der Eisenbahner zusammenzubringen und sichtbar zu machen, dass es überall in Europa aktive Basisgewerkschaften gibt, die eine Alterna- tive wollen zur Privatisierung der Bahn. Für einen anderen Teil der Gewerk- schaften sind die auf europäischer Ebene organisierten Protestaktionen eine Show-Veranstaltung, die in großem Widerspruch steht zur realen Praxis in ihren jeweiligen Ländern. Dort sitzen nämlich dieselben Bahngewerkschafts- vertreter in enger Verbundenheit mit den jeweiligen nationalen Bahnunter-

32 Willi Hajek: »Tous ensemble«. Eisenbahner vorne dran – 20.000 auf Demo der ETF in Paris. In: express – Zei- tung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 11/08. http://www.labournet.de (http://tinyurl.com/5wgnaay; 22.06.2010). Dies hinderte die basisorientierten Gewerkschaften in Italien je- doch nicht daran, am 17.10.2008 zu nationalen Streiks im Nah- und Fernverkehr aufzurufen und den Ver- kehr mehrerer italienischer Großstädte zum Erliegen zu bringen. 33 Ebd.

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nehmen in den Vorständen und Aufsichtsräten und unterstützen den Priva- tisierungsprozess.«34 So beteiligten sich Mitglieder der vormaligen TRANSNET einerseits an der privatisierungskritischen Demonstration, während die Gewerkschaft an- dererseits offiziell nur von einer Demonstration gegen die Liberalisierung des Schienenverkehrs in Europa sprach.35 Auf der Demonstration am 13. November 2008 forderte die ETF von der EU-Kommission unter anderem »Keine weitere Liberalisierung und Zer- schlagung des Eisenbahnsektors« sowie die »Sicherstellung der Funktion öffentlicher Verkehrsdienstleitungen«. Von den nationalen Regierungen Eu- ropas wurde ein »Votum für Eisenbahnen im öffentlichen Eigentum« gefor- dert.36 Auch beinhaltete das politische Papier der ETF von 2008, trotz der un- veränderten Haltung von damaliger TRANSNET und GDBA, ohne wörtlich auf Privatisierungen einzugehen, die Forderung, dass »der Bereitstellung und Finanzierung des öffentlichen Verkehrs, vorzugsweise über Unterneh- men im staatlichen Besitz, Vorrang einzuräumen« sei.37 Auch die ITF, die weltweite Dachorganisation der ETF, forderte auf ihrer bisher größten Sektionskonferenz Eisenbahn im Dezember 2008 in Curitiba (Brasilien) einhellig ein Ende der neoliberalen Politik. Unter zwei Jahrzehn- ten Bahnrestrukturierung hätten auch die Gewerkschaftskapazitäten gelit- ten. Diese müssten nun wieder aufgebaut werden, um die Bezahlung und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten des Sektors zu verbessern und Druck auf die Regierungen auszuüben, »Menschen vor Profite zu setzten«, so ITF- Vertreter Mac Urata.38

Optionen für eine europäische Gewerkschaftspolitik im Eisenbahnsektor

Wenn die europäischen Gewerkschaften des Eisenbahnsektors zunehmend aktiver und selbstbewusster öffentlich gegen Liberalisierung, verstärkten Wettbewerb und Privatisierungen vorgehen, so stellt sich die Frage, welche Optionen ihnen noch bleiben und wie sie an Aktionsradius zurückgewinnen können. Ein erster Schritt könnten ein Moratorium und eine Evaluation der bisher erfolgten Liberalisierungen und Privatisierungen in Europa sowie ein

34 Ebd. 35 Großdemonstration gegen EU-Liberalisierung. http://www.transnet.org/.Home08/08_11_13_Demo (13.11.2008). 36 Vgl. ETF 2008 (s. Anm. 12). 37 European Transportworkers’ Federation (ETF): Für eine gewerkschaftliche Vision zu nachhaltigem Verkehr. Das ETF Politik-Papier. http://www.itfglobal.org (http://tinyurl.com/5vm4wq9; 18.06.2008), S. 11. 38 International Transportworkers’ Federation (ITF): Bahngewerkschaften fordern ein Ende der neoliberalen Politik. http://www.itfglobal.org (http://tinyurl.com/5urh5qj; 17.12.2008).

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Überblick über die verbliebenen Kapazitäten der Gewerkschaften sein. Die EFT beabsichtigt, sich gerade in diesem Bereich auch aktiv einzubringen. Das von ihr geforderte Moratorium zur Evaluation europäischer Liberalisie- rungspolitik im Verkehrssektor dürfte jedoch schwer umsetzbar sein, so- lange die EU-Kommission unbeirrbar auf Erfolge im fortschreitenden Wett- bewerb orientiert ist. Für eigene Evaluationen der ETF bedürfte es zunächst einer Stärkung der internationalen Gewerkschaftsarbeit, eine Notwendig- keit, die nicht von allen Mitgliedern gleichermaßen gesehen wird. Eine weitere Herausforderung für die Sektorgewerkschaften wäre die grundsätzliche Überwindung von Organisationsstreitigkeiten, die ihr Arbei- ten erschweren und sich zum Teil aus organisationsstrategischen Gründen auch auf ihre (inter-)nationale Gewerkschaftsarbeit auswirken. Darüber hi- naus erscheint eine Verstärkung der Bemühungen zur Organisierung von neuen Eisenbahnern erforderlich. Angesichts des zum Teil sehr geringen Or- ganisationsgrads könnten sich diverse Strategien zur Mitgliedergewinnung in Form des sogenannten »Organizing« als wirkungsvoll erweisen. Dürfte der bisherige europäische Liberalisierungsprozess im Schienenver- kehrssektor voraussichtlich nicht rückgängig gemacht werden, so liegt die größte Herausforderung der Gewerkschaften darin, den Wettbewerb sozial zu regulieren. Um Sozialdumping und Tarifunterbietung zu vermeiden, müssen die nationalen Gewerkschaften »durch EU-weite Mindeststandards einen nicht unterschreitbaren Sockel in den Arbeitsbedingungen […] schaf- fen« und für eine in etwa parallele Entwicklung der Lohnstückkosten sor- gen.39 Ansatz hierfür kann eine Kombination aus Ausweitung des Europä- ischen Sozialen Dialogs (ESD) und Europäisierung der Tarifpolitik sein. Fällt es den Gewerkschaften bislang schwer, Sozialpartnerschaftsvereinbarungen über europäische Mindeststandards mit der Arbeitgeberseite auf Gemein- schaftsebene sowie mit Zustimmung des Rates durchzusetzen, und erlaubt der ESD keinerlei Arbeitskampfmaßnahmen oder Einkommensregelungen40, so könnten europäische Tarifkoordination und transnationale Gewerk- schaftskooperationen diese Lücke schließen. Als Bespiel hierfür kann die »DOORN-Initiative« genannt werden – eine tarifpolitische Kooperation von Gewerkschaften der Beneluxländer und Deutschlands, darunter die ehema- lige TRANSNET, zur Verhinderung tariflicher Unterbietungskonkurrenz.41 Fehlt es diesem gewerkschaftspolitischen Instrument jedoch bislang noch am erwünschten Erfolg, so könnte sich dieser einstellen, wenn es den Ge-

39 Vgl. Joachim Kreimer-de Fries: Tarifkooperation der Gewerkschaftsbünde BeNeLux-Deutschland: Die »Er- klärung von Doorn«. In: Rainer Bispinck; Thorsten Schulten: Tarifpolitik unter dem EURO, 1999, S. 185-196. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Roland Atzmüller; Christoph Hermann: Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen in der EU und Österreich: Auswirkungen auf Beschäftigung, Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen, Wien 2004, S. 129.

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werkschaften gelänge, sich mittels gemeinsamer organisierter basisnaher Tarifkommissionen, formulierter Tarifforderungen und finanzieller Aufwen- dungen (Streikkasse)42 bei einer möglichst branchenweiten Organisation in diesem transnational agierenden und operierenden Wirtschaftsbereich durch- zusetzen. Einige Experten raten darüber hinaus sogar zu einem neuen Gewerk- schaftsmodell multinationaler Branchengewerkschaften43, um der Erpress- barkeit der Arbeitnehmer und Gewerkschaften durch den Standortwettbe- werb der Arbeitgeber wirksam etwas entgegenzusetzen und flächendeckende Tarifvertragsstrukturen durchzusetzen. Supranationale Dachverbände, euro- päische und Weltbetriebsräte, transnationale politische Mobilisierungen und Netzwerke sowie europäische Tarifkoordination könnten diesbezüglich Wegbereiter sein.44 Doch letztendlich sollten sich die Gewerkschaften angesichts der fort- schreitenden europäischen Liberalisierung und Privatisierung auch für einen Wandel sowohl der europäischen als auch der nationalen Politik ein- setzen. Eine gemeinsame gewerkschaftliche Kampagne zur Sicherung öf- fentlicher Daseinsvorsorge oder für europaweite soziale Vergabekriterien und Mindeststandards wäre denkbar. Gerade angesichts aktueller Krisenten- denzen auf dem Arbeitsmarkt könnte eine Förderung des öffentlichen Ver- kehrs spürbar zu dessen Belebung beitragen45 und dabei auch noch helfen, die gesteckten Umweltziele der EU zu erreichen. Partner für die Forderung nach solch einem Politikwechsel dürften sich leicht finden lassen, denn als europäisches Pendant für das deutsche privatisierungskritische Bündnis Bahn für Alle, bestehend aus unterschiedlichsten Interessenverbänden, wie dem globalisierungskritischen Netzwerk von attac, Umwelt- und Verkehrs- verbänden, Eisenbahnexperten, parteinahen Organisationen und Basisge- werkschaftern, gründete sich im Sommer 2008 eine European Coalition Against Railway Privatisation (rail4all.org), an der sich bereits einige der ETF-Mitgliedsgewerkschaften beteiligen. Andere Bahngewerkschaften könnten ihrem Beispiel folgen.

42 Vgl. Bernd Riexinger; Werner Sauerborn: Gewerkschaften in der Globalisierungsfalle: Vorwärts zu den Wur- zeln!, Hamburg 2004. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. Tim Engartner: Die Privatisierung der Deutschen Bahn. Über die Implementierung marktorientierter Verkehrspolitik, Wiesbaden 2008, S. 189.

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Kai Marquardsen

Soziale Netzwerke in der Erwerbslosigkeit. Bewältigungsstrategien in informellen sozialen Beziehungen

Die Situation der Erwerbslosigkeit wird von den meisten Betroffenen als überaus problematisch empfunden. Auf diesen gemeinsamen Nenner lassen sich die Ergebnisse aller Untersuchungen bringen, die sich mit dem indivi- duellen Erleben von Erwerbslosigkeit befassen. Die Erwerbslosigkeit stellt zumeist einen Bruch in der bisherigen Biographie dar und wird als Bedro- hung der eigenen Identität und als Verlust sozialer Zugehörigkeit wahrge- nommen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Situation verstetigt und die Erwerbslosen dauerhaft vom Arbeitsmarkt abgeschnitten sind. Diese Zusammenhänge mögen trivial klingen, sind jedoch keineswegs selbst- verständlich. So wäre es nur konsequent, wenn die Betroffenen, angesichts fehlender Perspektiven am Arbeitsmarkt, nach alternativen Wegen zur Her- stellung einer positiven sozialen Identität suchen würden. Tatsächlich ge- lingt dies aber offenbar nur selten. Selbst wenn die Möglichkeit eines Rück- zugs in eine gesellschaftlich anerkannte Alternativrolle besteht, bleibt die persönliche und soziale Identität auf das System der gesellschaftlichen Ar- beitsteilung verwiesen. Die Erwerbsarbeit stellt eine »Anerkennungs- und Integrationsmaschine«1 dar, der nach wie vor die Funktion des zentralen Mo- dus der Herstellung sozialer Zugehörigkeit und Identität zukommt. Die Er- werbslosigkeit erscheint hier als das negative Gegenbild, als Schreckge- spenst des Ausschlusses und des Verlusts der eigenen Identität. Dies gilt auch und besonders unter den Bedingungen von ›Hartz IV‹. So ist die Wir- kung der neuen Arbeitsmarktgesetzgebung einerseits in dem disziplinieren- den Effekt zu sehen, den sie auf die (noch) Beschäftigten ausübt.2 Anderer- seits hat sich auch der Druck auf die Erwerbslosen erhöht – und zwar nicht nur durch die konkreten arbeitsmarktpolitischen Instrumente und Maßnah- men, sondern vor allem durch die dominante öffentliche Deutung der Ar- beitslosigkeit als ein selbstverschuldetes, individuelles Defizit. Diese Deu-

1 Berthold Vogel: »Überzählige« und »Überflüssige«. Empirische Annäherungen an die gesellschaftlichen Fol- gen von Arbeitslosigkeit. In: Berliner Debatte Initial, Jg. 15, Nr. 2, 2004, S. 12. 2 Peter Bescherer; Klaus Dörre; Silke Röbenack; Karen Schierhorn: Eigensinnige ›Kunden‹. Auswirkungen strenger Zumutbarkeitsregeln auf Langzeitarbeitslose und prekär Beschäftigte. In: Klaus Dörre et al. (Hrsg.): Eigensinnige ›Kunden‹. Der Einfluss strenger Zumutbarkeit auf die Erwerbsorientierung Arbeitsloser und prekär Beschäftigter, SFB 580 Mitteilungen, Heft 26, 2008, S. 29.

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tung verschärft sich mit der ›aktivierenden Arbeitsmarktpolitik‹ und führt zu einem verstärkten Rechtsfertigungsdruck auf die Betroffenen.3 Unter die- sen Bedingungen entsteht die schizophrene Situation, dass die Erwerbsar- beit, gerade weil immer mehr Menschen dauerhaft von ihr ausgeschlossen oder nur noch prekär an das Erwerbssystem angebunden sind, sogar eine normative Aufwertung erfährt. Die Vermutung, dass es unter den Bedingun- gen anhaltender Erwerbslosigkeit auch zu einer Auflösung sozialer Bezie- hungsstrukturen kommt, liegt hier nah: Die Betroffenen werden aus er- werbsvermittelten Interaktionskontexten herausgerissen, können aufgrund finanzieller Einschränkungen weniger am sozialen Leben teilnehmen und sehen sich zudem mit dem Gefühl von Scham und (Selbst-)Vorwürfen kon- frontiert. Umso bemerkenswerter ist, dass es bislang keine Untersuchung gibt, welche die Frage nach dem Wandel sozialer Netzwerke in der Erwerbs- losigkeit und der Bewältigung von Erwerbslosigkeitserfahrungen innerhalb solcher Netzwerke systematisch in den Blick nimmt. Stattdessen wird der Verlust sozialer Kontakte und der Ressourcen sozialer Unterstützung in der Erwerbslosigkeit oftmals als selbstverständlich vorausgesetzt und besten- falls am Rande berücksichtigt. Dies führt jedoch zu einer sehr verkürzten Sicht der Dinge. Denn oftmals kommt es während der Erwerbslosigkeit zwar zu einem Verlust von sozialen Kontakten, zugleich intensivieren sich aber auch vorhandene Beziehungen und es entstehen neue. In jedem Fall hat der Wandel sozialer Netzwerke in der Erwerbslosigkeit aber einen veränderten Zugriff auf Ressourcen sozialer Unterstützung zur Folge. So ist davon aus- zugehen, dass parallel zum Gestaltwandel ein Funktionswandel sozialer Netzwerke stattfindet, der die Frage aufwirft, was die verschiedenen Teile ei- nes sozialen Netzwerks unter den Bedingungen der Erwerbslosigkeit zu leis- ten vermögen.4 Der Schwerpunkt der folgenden Darstellung wird auf letz- terem Zusammenhang liegen. So werde ich der Frage nach den typischen Funktionen sozialer Beziehungen in der Erwerbslosigkeit mit Blick auf die verschiedenen Arten von Beziehungen (Familie, Freundeskreis, Nach- bar_innen usw.) nachgehen, die von den Erwerbslosen im Interview5 als un- terstützend genannt wurden. Ein besonderer Fokus der Darstellung wird da- bei auf Freundschaftsbeziehungen liegen, da diese sich als überaus zentral für die Bewältigung von Erwerbslosigkeit erwiesen haben. Im Anschluss an

3 Vgl. Kai Marquardsen: Wie wirkt »Aktivierung« in der Arbeitsmarktpolitik?. In: Klaus Dörre et al. 2008 (s. Anm. 2). 4 Vgl. Kai Marquardsen; Silke Röbenack: »…der Freundeskreis, der Bekanntenkreis hat sich total verändert« – Rekonstruktionen von sozialen Beziehungskontexten bei Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen. In: Christian Stegbauer (Hrsg.): Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaf- ten, Wiesbaden 2008. 5 Die empirische Grundlage der Untersuchung bilden 27 problemzentrierte Interviews, die ich im Zeitraum zwischen Dezember 2006 und Mai 2007 mit Erwerbslosen und ihrem sozialen Umfeld in einer ost- und einer westdeutschen Untersuchungsregion geführt habe.

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diese Überlegungen werde ich auf die empirisch vorgefundenen Bewälti- gungsmuster von Erwerbslosigkeit in sozialen Netzwerken zu sprechen kommen, wobei ich hier lediglich zwei von insgesamt zehn Mustern exem- plarisch diskutiere.

Soziale Unterstützung in informellen Beziehungen

Wenn von den ›Funktionen‹ sozialer Beziehungen die Rede ist, ist damit die soziale Unterstützung gemeint, welche die Erwerbslosen durch ihr soziales Umfeld erhalten. Der Begriff der ›Unterstützung‹ verweist dabei nicht zwangsläufig auf das Bestehen einer individuellen Notlage, die eine Person auf die Hilfe anderer angewiesen sein lässt. Vielmehr ist soziale Unterstüt- zung als ein sozialer Austauschprozess zu verstehen, in dem verschiedene Akteure mit jeweils spezifischen Handlungsressourcen miteinander in Inter- aktion treten.6 Diewald unterscheidet zwischen drei Dimensionen der sozia- len Unterstützung: die Dimension der konkreten Interaktion (Arbeitshilfen, Pflege, materielle Unterstützung, Intervention, Information, Beratung, Ge- selligkeit, Alltagsinteraktion), die Vermittlung von Kognitionen (Anerken- nung, Orientierung, Zugehörigkeitsbewusstsein, Erwartbarkeit von Hilfe, Erwerb sozialer Kompetenzen) und die Vermittlung von Emotionen (Gebor- genheit, Liebe und Zuneigung, motivationale Unterstützung).7 Die unter- schiedlichen Formen der Unterstützung können als Direkteffekte oder Puffer- effekte wirksam sein: Im Sinne eines Direkteffekts wirkt sich die Einbindung in primäre soziale Beziehungen unmittelbar positiv auf das individuelle Wohlbefinden und die psychische und physische Gesundheit aus. Die Ver- mittlung eines Geborgenheitsgefühls zählt ebenso zu den Direkteffekten so- zialer Unterstützung wie die Herstellung von Selbstwertgefühl, Selbstver- trauen und sozialer Anerkennung.8 Im Sinne eines Puffereffekts können soziale Beziehungen als Schutzfunktion bei gegebenen Belastungen wirken: Stress aufgrund von hohen Belastungen kann durch soziale Beziehungen ab- gefangen werden, während der Rückhalt in sozialen Beziehungen den Opti- mismus zur Bewältigung aktueller und zukünftiger Probleme fördert.9 Den verschiedenen Teilen eines sozialen Netzwerks werden unterschied- liche Formen der Unterstützung zugeschrieben, die typischerweise von die- sen Beziehungen ausgehen. Dies sei jedoch nicht im Sinne einer strikten Auf-

6 Vgl. Martin Diewald: Soziale Beziehungen: Verlust oder Liberalisierung? Soziale Unterstützung in informel- len Netzwerken, Berlin 1990, S. 77 f. 7 Vgl. ebd., S. 7 f. 8 Vgl. ebd., S. 9 ff. 9 Vgl. ebd., S. 96 ff.; vgl. Betina Hollstein: Grenzen sozialer Integration. Zur Konzeption informeller Beziehun- gen und Netzwerke, Opladen 2001, S. 25 ff.

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gabentrennung, sondern einer Schwerpunktsetzung zu verstehen.10 Eine wichtige Differenzierung lässt sich darüber hinaus anhand der Frage treffen, ob die jeweilige Unterstützung an eine bestimmte Person gebunden ist. So sei im Falle emotionaler Unterstützung und Geselligkeitsunterstützung »nicht nur die Ressource, sondern auch der Ressourcenträger wichtig«11. Zu- dem wird auf den Unterschied zwischen multiplexer und uniplexer Unter- stützung verwiesen: Während Familie und Freund_innen jeweils ein breites Unterstützungsspektrum abdecken (multiplex), seien entferntere Verwandte, Nachbar_innen, Kolleg_innen und Bekannte eher auf einzelne Unterstüt- zungsdimensionen oder -arten spezialisiert (uniplex).12 Diese Unterschei- dungen werden weiter unten bei der Diskussion der verschiedenen Bewälti- gungsmuster von Erwerbslosigkeit erneut aufgegriffen. Zunächst soll jedoch der Frage nach der sozialen Unterstützung in der Erwerbslosigkeit anhand der einzelnen Beziehungsarten nachgegangen werden, die von den Befrag- ten als unterstützend genannt wurden. Die Befragten wurden im Laufe des Interviews gebeten, auf einer ›Netz- werkkarte‹13, der Intensität ihrer Unterstützung entsprechend (sehr unter- stützend, unterstützend, ein wenig unterstützend), jene Personen anzuord- nen, die für sie als Unterstützung wirken. Von den meisten Befragten wurde der/die Partner_in (sofern vorhanden) als wichtigste Quelle der sozialen Unterstützung angeführt. Dies betrifft neben emotionaler vor allem finan- zielle und praktisch-instrumentelle Unterstützung im Alltag. Dabei wurde durchgehend das Bild der absoluten Solidarität als normative Erwartung zwischen den Partner_innen formuliert: Diese erwarten voneinander, dass sie sich sprichwörtlich ›in guten wie in schlechten Tagen‹ zur Seite stehen. Dies gilt mit Blick auf ältere, bereits langjährig verheiratete Paare ebenso wie bei jungen unverheirateten: In beiden Fällen wird die Partnerschaft als etwas Hochexklusives gesehen, das man lediglich mit dieser einen Person teilt und das mit der Erwartung der Dauerhaftigkeit verbunden ist. Dies macht die Partnerschaft zu einem prädestinierten Rückzugsort. Zugleich wird die part- nerschaftliche Solidarität aber in der Erwerbslosigkeit auf die Probe gestellt. Spannungen zeigten sich hier vor allem in Partnerschaften, die in ihren Er- wartungen an einem ›traditionellen‹ Modell geschlechtsspezifischer Arbeits- teilung orientiert waren. Die soziale Normalität, die mit der Erwerbsarbeit des Mannes verbunden ist, erodiert vor allem mit der zunehmenden Dauer der Lage. Allerdings finden sich in Partnerschaften, die diesem Typus zuge-

10 Diewald 1990 (s. Anm. 6), S. 230. 11 Sören Petermann: Persönliche Netzwerke in Stadt und Land. Siedlungsstruktur und soziale Unterstützungs- netzwerke im Raum /Saale, Wiesbaden 2002, S. 88 f. 12 Vgl. ebd., S. 127. 13 Robert L Kahn; Toni C. Antonucci: Convoys over the Live Course: Attachment, Roles and Social Support. In: Paul B. Baltes; Olim G. Brim (Hrsg.): Life-Span Development and Behaviour, New York 1980.

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rechnet werden können, auch Beispiele dauerhaft tragfähiger Unterstüt- zungsbeziehungen. Dies ist vor allem dort der Fall, wo beide Partner_innen von Erwerbslosigkeit betroffen sind und das Verhältnis zwischen ihnen auf diese Weise nicht einseitig in Frage gestellt wird. Beide Beispiele verdeut- lichen, dass die Solidarität zwischen den Partner_innen weniger absolut ist, als dies oftmals in den Erzählungen suggeriert wird: Sie ist einerseits von ei- ner Verunsicherung überkommener Geschlechteridentitäten gekennzeich- net. Andererseits steht sie in Frage, wenn die Unterstützung zu lange einsei- tig bleibt. Das Problem der fehlenden Reziprozität in sozialen Beziehungen aufgrund der Erwerbslosigkeit (siehe unten) scheint in Partnerschaften also keinesfalls aufgehoben zu sein. Auf der anderen Seite zeigte sich ein Bild starker und vielfältiger Unterstützung vor allem in den Fällen, in denen eine größere Rollenflexibilität in der Beziehung und ein hohes Reflexionsniveau über die Ausgestaltung der Beziehung existierten. Dennoch lässt sich auch in solchen Beziehungen zumeist von einem Funktionswandel sprechen: Die Be- ziehung zum/zur Partner_in gewinnt im Vergleich zu anderen Beziehungen an Gewicht. Bestimmte Formen der sozialen Unterstützung können in Frage stehen, wenn keiner der Partner_innen über die entsprechenden Ressourcen verfügt. Als weitere wichtige Quelle der Unterstützung wurden Beziehungen zur Familie genannt. Dies betrifft etwa die Beziehung zu den Eltern oder Schwie- gereltern, von denen viele der Befragten, neben bedarfsabhängigen Sachlei- stungen, regelmäßige finanzielle Zuwendungen erhalten. Dies gilt keines- wegs nur in Bezug auf die jüngeren Befragten im Sample, sondern auch für Personen, die schon zum Teil Jahrzehnte im Berufsleben gestanden haben: Sofern die Eltern noch am Leben sind, spielen sie als Unterstützer_innen oft- mals eine tragende Rolle. Konflikte können hier allerdings durch eine Ver- schiebung der Machtbalance im Verhältnis zu den Eltern stattfinden. Die El- tern können ihre Unterstützung an Bedingungen knüpfen und Druck auf ihre längst erwachsenen Kinder ausüben. Zugleich zeigt sich, dass die Unter- stützung durch die Schwiegereltern oftmals stärker als rechtfertigungsbe- dürftig wahrgenommen wird als die der eigenen Eltern. Insgesamt lässt sich damit von einer Solidarität unter Vorbehalt sprechen, die den Erwerbslosen durch ihre Eltern bzw. Schwiegereltern zukommt. Außerdem wurden häufig auch die Geschwister als unterstützend ge- nannt. Wichtig sind hier vor allem praktische Formen der Unterstützung: Die Geschwister setzen sich, ihrem Können und ihren eigenen Ressourcen entsprechend, für die Befragten ein. Dabei können es ganz unterschiedliche und kaum vergleichbare Ressourcen sein, die gegeneinander ausgetauscht werden. Auch können ›offene Rechnungen‹ über einen längeren Zeitraum offenbleiben. Entscheidend erscheint hierbei, dass durch den Verweis auf die besonderen Fähigkeiten und Kapazitäten der Person mit der Unterstützung

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zugleich eine Anerkennung der Person erfolgt: Durch die Unterstützungslei- stung wird die Besonderheit der Person und zugleich die Beziehung zwi- schen den Geschwistern bestätigt. Dennoch bedarf die Solidarität zwischen den Geschwistern in den Erwartungen der Befragten immer einer Gegensei- tigkeit und kann bei fehlender Gegenseitigkeit in Frage stehen. Damit zeigt sich auch hier das Bild einer auf spezifische Weise eingeschränkten Solida- rität. Schließlich entstehen und verstärken sich im Verhältnis zu entfernteren Verwandten häufig Konflikte. So berichten einige Befragte von dem Druck, den Verwandte auf sie ausüben, indem sie ihnen vorhalten, nicht genug zur Überwindung ihrer Lage zu tun. Stellvertretend für diesen Personenkreis werden zum Beispiel die Schwägerin, die Tante oder die Cousine genannt. Die Erlebnisse, die von den Befragten geschildert werden, beschreiben Ent- täuschungen und Kränkungen, die oft zu einem Bruch mit den jeweiligen Personen geführt haben. Zugleich bleibt dieser Bruch zumeist insofern un- vollständig, als sie diesen Personen etwa im Rahmen von Familienfeiern im- mer wieder über den Weg laufen. Eben solche Ereignisse sind es, in denen die Konflikte wieder aufflammen und die von den Befragten als überaus un- angenehm und erniedrigend beschrieben werden. Die familiäre Solidarität ist im Falle dieser entfernten Verwandtschaftsbeziehungen deutlich einge- schränkt. Etwas ausführlicher soll nun auf die Unterstützung in Freundschaftsbezie- hungen eingegangen werden. Diese Beziehungen erweisen sich einerseits durch die Erwerbslosigkeit als besonders gefährdet, stellen aber andererseits besondere Ressourcen der Unterstützung zur Verfügung, die offenbar dem spezifischen Charakter von Freundschaften geschuldet sind. So zeichnet sich Freundschaft zunächst, in Abgrenzung zu allen anderen sozialen Beziehun- gen, durch Freiwilligkeit aus: Sie ist im Unterschied zu familiären Beziehun- gen gewählt und prinzipiell aufkündbar. Im Unterschied zum weiteren Kreis von Kolleg_innen und Bekannten stellen Freund_innen eine besondere Aus- wahl von Personen dar, zu denen eine besondere Verbundenheit empfunden wird. Diese Verbundenheit wiederum impliziert zugleich eine hohe Verbind- lichkeit im Verhältnis zwischen den Personen, die Freundschaften von allen anderen Beziehungen unterscheidet. Eben jene Gleichzeitigkeit von Freiwil- ligkeit und Verpflichtung ist es, die (als Doppelcharakter von Freundschafts- beziehungen) Formen der Unterstützung ermöglicht, die weder Familie und Partner_in noch sogenannte ›schwache Bindungen‹ leisten können. Freund_innen leisten einerseits emotionale Unterstützung, die in der Be- ziehung zum/zur Partner_in und zur Familie nicht erwünscht oder möglich ist (zum Beispiel Beratung bei Konflikten mit dem/der Partner_in oder den Eltern). In diesem Zusammenhang wird oftmals die beste Freundin oder der beste Freund als herausragende Person genannt, die in besonderer Weise die

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›gleiche Wellenlänge‹ hat und immer da ist, wenn man sie braucht. Anderer- seits wurde häufig die Funktion des gemeinsamen Zeitvertreibs thematisiert. Dabei werden die gemeinsamen Aktivitäten als etwas Besonderes, nicht All- tägliches dargestellt, wodurch sie sich wiederum von Aktivitäten mit dem/ der Partner_in oder der Familie unterscheiden. Darüber hinaus spielen Freund_innen eine wichtige Rolle für das Selbstwertgefühl und die soziale Identität der Person. Freund_innen werden als Personen beschrieben, mit denen man selbst vergleichbar ist. Freundschaftsbeziehungen stellen ein so- ziales Spiegelbild der Person und damit einen wichtigen Maßstab für die so- ziale Selbstverortung des Individuums dar. Allerdings erscheint eine finanzi- elle Unterstützung durch Freund_innen eher untypisch. Zum einen verfügen auch sie zumeist nicht über die notwendigen finanziellen Ressourcen, um unterstützend wirken zu können. Zum anderen entstünde damit eine quan- tifizierbare ›Schuld‹, ein Ungleichgewicht, welches die Beziehung in der Wahrnehmung der Befragten in Frage stellen würde. Insofern hört tatsäch- lich beim Geld die Freundschaft auf. Anders ist dies jedoch im Falle von ma- teriellen und alltagspraktischen Leistungen, die auf die besonderen Eigen- schaften einer Person verweisen. Die Erwartung einer gleichwertigen Gegenleistung besteht hier in der Regel nicht, sondern die ausgetauschten Leistungen orientieren sich an der Wertschätzung und dem situativen Bedarf des Gegenübers. Die Leistung gewinnt dabei in ihrem Verweis auf die Betei- ligten als ganz besondere Personen eine einzigartige Bedeutung und be- stätigt auf diese Weise die Beziehung. Dazu folgendes Zitat aus dem Sample: »Die Form find ich eigentlich am schönsten – gegenseitige Hilfe. Das find ich am besten, weil man gibt ‘n Stück von sich, man nimmt ‘n Stück von dem anderen und – das funktioniert halt irgendwie. Was weiß ich, jetzt zum Bei- spiel für den einen Freund, der Krankenpfleger, der geht halt auch gerne mal zu ‘ner Techno-Party so. Dann arbeite ich halt mal ‘n Tag lang da im [Club], um mir ‘n Gästelistenplatz zu organisieren, und schreib ihn dann halt da mit drauf, weil ich weiß, auf ihn kann ich mich verlassen, er ist auch für mich da, wenn ich ihn brauche, und so ist das halt so dieses, dieses Geben und Neh- men. Das ist halt ganz wichtig. [...] So macht’s Leben auch mehr Spaß eigent- lich. Ohne das blöde Geld. Aber, na, das gehört halt auch dazu, das Geld, das liebe.« (Herr Wagner, 29 Jahre) Geld drückt hier eine Beliebigkeit aus, die der Besonderheit freundschaft- licher Beziehung entgegensteht. Es ist eine ›Entzauberung‹ der Freund- schaftsbeziehung. Zugleich verweist das Zitat auf die Erwartung eines ›Ge- bens und Nehmens‹ in Freundschaften, die von fast allen Befragten explizit hervorgehoben wurde: Die Beziehung zur anderen Person soll sich in einem Zustand des relativen Gleichgewichts befinden, in dem keine einseitigen Ab- hängigkeiten und uneingelösten Verpflichtungen bestehen. Jedoch scheint sowohl hinsichtlich der Frage, wie lange eine Verpflichtung legitimerweise

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uneingelöst bleiben darf, als auch in Bezug auf die Frage, was gegeneinander ausgetauscht wird, eine mehr oder weniger ausgeprägte Flexibilität in Freundschaftsbeziehungen zu bestehen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass in ihnen die konkrete Person (mit einer relevanten Auswahl ihrer indi- viduellen Eigenschaften) im Mittelpunkt der Interaktion steht. Die Verbun- denheit und Zuneigung, die auf diese Weise zwischen den Personen besteht, kann sich dabei auf eine besondere Charaktereigenschaft der anderen Person ebenso beziehen wie auf gemeinsame Interessen. In jedem Fall findet in den Ritualen des ›Gebens und Nehmens‹ eine Anerkennung des/der Freund_in als Individuum mit bestimmten, hochgeschätzten Eigenschaften statt. Wenn sich nun der Beziehungstypus ›Freundschaft‹ in der Erwerbslosigkeit viel- fach als besonders relevante Quelle sozialer Unterstützung erweist, ist dies vor allem darauf zurückzuführen, dass sich die Befragten neue Beziehungen suchen, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Es besteht also ein (mehr oder weniger) aktiver und strategischer Umgang mit den eigenen sozialen Bezie- hungen in der Erwerbslosigkeit, auf den im Zusammenhang mit den unter- schiedlichen Bewältigungsstrategien von Erwerbslosigkeit in sozialen Netz- werken noch exemplarisch eingegangen wird.

Bewältigungsmuster von Erwerbslosigkeit in sozialen Netzwerken

Die Bewältigung der Erwerbslosigkeit stellt eine mehr oder weniger aktive Leistung von Seiten der Erwerbslosen dar. Im Folgenden wird jeweils ein Fallbeispiel für eine weniger ausgeprägte und eine stärker ausgeprägte ak- tive Leistung ausführlicher diskutiert. Ersteres Beispiel beschreibt den Rück- zug in die (vermeintliche) Sicherheit familiärer Beziehungen. Auch dieser Versuch der Bewältigung ist aber nicht nur ein passiver Akt, sondern ihm liegt eine individuelle Strategie zugrunde, der gegenüber anderen mög- lichen Formen der Bewältigung der Vorzug gegeben wurde. Das Beispiel für eine stärker aktive Leistung beschreibt den Versuch, über den Aufbau eines Netzwerks nützlicher Kontakte gezielt die eigenen Handlungsoptionen zu erweitern. Beide Beispiele zeigen die Bedeutung sozialer Netzwerke für die Bewältigung der Erwerbslosigkeit. Diese tragen die jeweilige Bewältigungs- strategie mit, indem sie unterschiedliche Ressourcen sozialer Unterstützung zur Verfügung stellen. Die Beispiele illustrieren zwei von insgesamt zehn Be- wältigungsmustern, die sich aus dem empirischen Material identifizieren lassen und die jeweils einen spezifischen Umgang mit der Erwerbslosigkeit repräsentieren. Diese sind in Abbildung 1 dargestellt.

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Abbildung 1: Bewältigungsmuster von Erwerbslosigkeit und ihre Eigenschaften Quelle: eigene Darstellung

Typ A beschreibt das Muster eines Rückzugs in den privaten Raum. Exempla- risch für diesen Typus ist Herr Petersen, ein 46-jähriger Befragter, der auf- grund einer schweren Erkrankung und durch den Konkurs des Betriebs, in dem er über 20 Jahre gearbeitet hat, seit mehr als zwei Jahren erwerbslos ist. Zurzeit befindet er sich in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Er ist seit 29 Jahren verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Seine Ehefrau war nie erwerbstätig. Im Interview hebt der Befragte den engen Zusammenhalt hervor, der von jeher innerhalb der Familie bestanden hat. Dies gilt vor allem in Hinblick auf seine acht Geschwister. Die Unterstützung zwischen den Geschwistern be- steht in praktischen, alltäglichen Hilfen (etwa Gartenarbeit, Verleih von Ge- genständen, Begleitung zum Amt) sowie in gemeinsamen Aktivitäten (etwa Ausflüge, Feiern). Die Tatsache, dass Letztere deutlich abgenommen haben, führt der Befragte weniger auf die Erwerbslosigkeit als vielmehr auf Todes- fälle unter den Geschwistern sowie darauf zurück, dass die eigenen wie auch die Kinder der Geschwister inzwischen erwachsen sind. Von einer Tante erhält der Befragte auch regelmäßig finanzielle Unterstützung, betont hier jedoch, dass er der alten Dame dafür auch bei praktischen Dingen im Alltag (z. B. Einkauf, Reparaturen) zur Verfügung steht. Der Freundeskreis des Befragten besteht lediglich aus zwei Freund_innen. Andere Freund_innen hätten sich im Laufe der Zeit zurückgezogen:

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»Und die paar, die dann geblieben sind, ja, die hatten selber eben Familie und einige sind denn nach der Arbeitslosigkeit, oder in meinem Fall durch die Insolvenz, haben sich dann erst recht abgesetzt, ne. Also, die hatten wohl Angst, dass man denen gleich auf der Tasche liegen könnte, oder was, was eben nicht sein soll, nicht sein darf, ne.« (Herr Petersen, 47 Jahre) Hier zeigt sich wiederum sehr deutlich die Bedeutung des ›Gebens und Neh- mens‹ in der Beziehung zum Freundeskreis. Die Unmöglichkeit mithalten zu können, führte in diesem Fall zu Konflikten und letztlich zum Bruch mit den Freund_innen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird jedoch deutlich, dass der Rückzug nicht nur von Seiten der Freund_innen ausging, sondern dass sich der Befragte selbst zurückgezogen hat, weil er die Situation der Unaus- geglichenheit in der Beziehung als sehr spannungsreich erfahren hat. Dies lässt sich maßgeblich darauf zurückführen, dass die Beziehung zu den Freund_innen vor allem über den eigenen Erwerbsstatus und die Bestäti- gung dieses sozialen Status durch Konsum und kostspielige Freizeitaktivitä- ten geprägt war. Solche Beziehungen sind in der Erwerbslosigkeit einer be- sonderen Gefährdung ausgesetzt – ein Problem, das sich (wie viele Befragte immer wieder berichteten) unter den Bedingungen gekürzter sozialer Leis- tungen noch verschärft. Als emotional besonders unterstützend beschreibt der Befragte dagegen das Verhältnis zu seiner ›besten Freundin‹. Kennengelernt hat er diese über die Geburt seines ersten Kindes. Heute lebt die Freundin mehrere hundert Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Hier zeigen sich zwei Bedingungen für die Stabilität dieser Beziehung: Zum einen ist diese Freundschaft in einer nicht-alltäglichen Situation entstanden, was eine besondere Verbindung zwi- schen den Personen gestiftet hat. Ohne diese besondere Situation hätten sich die Personen wahrscheinlich nie kennengelernt, weil sie nicht die gleiche Alltagswelt teilen. Aufgrund der sozialen Distanz spielt zum Beispiel auch der soziale Vergleich über Konsum keine entscheidende Rolle. Das beidersei- tige Wissen um die diesbezügliche Nicht-Vergleichbarkeit wird dabei zur Voraussetzung für die Stabilität der Beziehung. Zum anderen ist es die rä- umliche Distanz, die eine Aufrechterhaltung der Freundschaft ermöglicht: Durch sie wird der Druck, mithalten zu müssen, ebenfalls abgeschwächt. Gemeinsame Aktivitäten spielen eine geringere Rolle, und auch der sich der eigenen Statusposition vergewissernde Blick auf das Verhalten der signifi- kanten Anderen hat hier wiederum keine Bedeutung. Die Aktivitäten mit der Freundin beschränken sich im Falle des Befragten neben sehr seltenen Treffen vor allem auf Telefonate, in denen der Befragte über persönliche Pro- bleme redet, die ansonsten unausgesprochen bleiben. Neben dem Befragten wurden auch seine Ehefrau und seine älteste Tochter interviewt. Das Netz- werk der Familie zeigt Abbildung 2. Die unterschiedliche Stärke der Unter- stützung ist durch die unterschiedliche Stärke der Pfeile gekennzeichnet. Die

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Pfeilrichtung entspricht der Frage, von wem die Befragten Unterstützung empfangen und wem sie selbst welche geben.

Abbildung 2: Netzwerk Familie Petersen

Legende Quelle: eigene Darstellung

Die Abbildung zeigt deutlich die Konzentration der Unterstützungsbezie- hungen auf den Kreis der Familie und (im Falle des Ehemannes) ein gänz- liches Fehlen schwacher Netzwerkkontakte (z. B. Bekannte, Kolleg_innen, Nachbar_innen). Es findet ein familialer Schließungsprozess statt, der mit ei- nem (wenn auch unvollständigen) Rückzug aus anderen sozialen Bindun- gen einhergeht. Der Rückzug in den privaten Raum meint, dass die Familie relativ an Bedeutung gewonnen hat. Voraussetzung dafür ist, dass sich das engmaschige familiale Netzwerk schon in früheren Krisensituationen als zu- verlässig und belastbar erwiesen hat. Der Verunsicherung sozialer Interak- tionsbeziehungen infolge der Erwerbslosigkeit wird die (vermeintliche) Si- cherheit familiärer Bindungen entgegengesetzt. Soziale Anerkennung wird bei dieser defensiven, kompensatorischen Strategie ausschließlich im fami- liären Netzwerk gesucht. Der Erfahrung der Unkontrollierbarkeit des indivi- duellen Schicksals infolge der andauernden Erwerbslosigkeit wird das Bild des kollektiven Schicksals entgegengesetzt. Die Bedeutung der konkreten Personen im Netzwerk ist hoch, die Beziehung zu ihnen nicht-instrumentell. Die Unterstützung in der Familie ist multiplex, da sich vielfältige Formen der Unterstützung auf diese Beziehungen konzentrieren.

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Demgegenüber repräsentiert Typ D das Muster eines Aufbaus von Öffent- lichkeit. Dieses Bewältigungsmuster sei im Folgenden exemplarisch am Bei- spiel der 57-jährigen Frau Grewe und ihres 61-jährigen Ehepartners beschrie- ben. Frau Grewe ist seit über zwei Jahren erwerbslos. Vorher hatte sie sich über viele Jahre hinweg eine gehobene Position in einem Einzelhandelsun- ternehmen erarbeitet, das später in Konkurs gegangen ist. Dabei ist sie lange Zeit auch gewerkschaftlich und als Betriebsrätin aktiv gewesen. Herr Grewe ist ebenfalls im Einzelhandel tätig gewesen und durch den Konkurs des Be- triebs erwerbslos geworden. Zum Zeitpunkt des Interviews war er seit über einem Jahr erwerbslos und ist damit erst kürzlich in den Leistungsbereich des SGB II ›gefallen‹. Das Ehepaar hat keine Kinder. Beide sind in einer Er- werbsloseninitiative aktiv. Frau Grewe ist zudem ehrenamtlich in der Er- werbslosenberatung sowie bei einem Verein der Selbsthilfe tätig. Interviewt wurden noch zwei weitere Personen (Frau Thiele und Frau Wirth), die im ehrenamtlichen Netzwerk der Ehepartner_innen eine wichtige Rolle spielen.

Abbildung 3: Netzwerk Frau und Herr Grewe

Legende Quelle: eigene Darstellung

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Auffällig ist zunächst, dass die Partner_innen sich ausschließlich gegen- seitig als »sehr unterstützend« nennen. Diese Unterstützung besteht in emo- tionaler ebenso wie in praktisch-instrumenteller Hinsicht. Sie bildet die Vor- aussetzung für das intensive ehrenamtliche und politische Engagement, das neben dem Kampf gegen die Zumutungen der Erwerbslosigkeit auch als eine Kompensation der verloren gegangenen Integration in eine Erwerbs- arbeit zu verstehen ist. Als »unterstützend« werden verschiedene Kontakte aus der ehrenamtlichen Arbeit angeführt, von denen Frau Thiele und Frau Wirth eine herausragende Rolle spielen. Bemerkenswert dabei ist, dass die Einschätzung über die Stärke der Unterstützung zwischen den Personen un- terschiedlich ausfällt: Werden Frau und Herr Grewe von mindestens einer der beiden Personen aus dem ehrenamtlichen Netzwerk als »sehr unterstüt- zend« genannt, sieht Frau Grewe diese lediglich als »unterstützend«. Dies unterstreicht noch einmal die Priorität der Partnerschaft gegenüber anderen Beziehungen: Die Bewältigung der Erwerbslosigkeit stellt hier eine partner- schaftliche Strategie dar. Die Beziehung zu den anderen Personen im Netz- werk erscheint dagegen überwiegend instrumentell geprägt. Ihre Bedeutung bemisst sich an ihrem Beitrag für die Realisierung der eigenen Bewältigungs- strategie. Dies führt immer wieder zu Konflikten im Netzwerk, was sich in Abbildung 3 an den »problematischen« Kontakten ablesen lässt. Diese sind genau deshalb problematisch, weil sie gegen das gemeinsame Interesse han- deln und nicht ›am gleichen Strang‹ ziehen. Im Falle von Herrn Grewe fin- den sich schließlich noch Kontakte aus der früheren Erwerbsarbeit, die er für gelegentliche Gefälligkeiten und auch gemeinsame Aktivitäten mobilisieren kann. Insgesamt bezeichnend für das Netzwerk der Ehepartner_innen ist jedoch die Erzählung beider Partner_innen, dass sich der Freundes- und Be- kanntenkreis in der Erwerbslosigkeit »vollkommen gedreht« bzw. »umge- schichtet« habe. Dies wird als Ergebnis einer aktiven Auswahl thematisiert: »Dann ham wir also selber so ‘n bisschen selektiert und sind denn auch von den anderen Seiten selektiert worden. Das ist, das bleibt nicht aus. Na ja, wie gesacht, der Freundeskreis und Bekanntenkreis, der hat sich ‘n bisschen umgeschichtet. Und da sind wir nicht böse drum, weil das trennt so ‘n bis- schen die Spreu vom Weizen. Und man kennt denn seine Pappenheimer und: siehste, es hat sich bewahrheitet. Und dann ham wir schon vorher ge- sacht, na, wie werden die sich denn wohl drauf einstellen? Werden wir da noch mal eingeladen, oder? Nee, es war nicht so. Bums, da war’s so weit. Und dann hatten wir an dem, an dem kleinen Kreuzchen, was wir vorweg schon bald gedanklich gemacht haben, ham wir dann den Haken dran ge- macht. Es warn auch tatsächlich die Leute, die denn so [...], na ja, die wir denn ausgeguckt hatten: die könnten’s. Also in der Beziehung waren wir also so richtig cool dann, nich. Wir ham uns da nichts so menschlich auch vormachen lassen. Wobei wir dann natürlich im Nachherein auch ein biss-

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chen enttäuscht war’n, dass es sich bewahrheitet hat, ne.« (Herr Grewe, 61 Jahre) Übrig geblieben seien nur jene Kontakte, die sich in der Erwerbslosigkeit als unterstützend erwiesen haben. Zugleich hätten aber die neuen Kontakte durch die ehrenamtliche Arbeit dazu geführt, dass die absolute Anzahl der Kontakte sogar zugenommen hat. Dieses Bewältigungsmuster lässt sich als eine offensive, auf die Erweiterung von Handlungsoptionen gerichtete Stra- tegie charakterisieren. Dabei ist das Verhältnis zu den anderen Akteur_innen im Netzwerk maßgeblich über den Nutzen bestimmt, den diese für das part- nerschaftliche Projekt haben. Die anderen Personen erscheinen sogar über- wiegend austauschbar. Konflikte im Netzwerk entstehen dort, wo die ande- ren Personen gegen das kollektive Interesse handeln. Dass diese Strategie trotz solcher Konflikte stabil ist, dürfte hierbei nicht zuletzt auf das Alter der Ehepartner_innen zurückzuführen sein: Obwohl ihnen ihr Engagement eine Herzensangelegenheit ist, können sie doch bereits ihrem offiziellen Ausstieg aus dem Erwerbsleben entgegensehen, was einen ›entspannteren‹ Umgang mit der eigenen Lage ermöglicht. Trotzdem zielt dieses Bewältigungsmuster auf eine Anerkennung des eigenen Handelns in- und außerhalb des Netz- werks und damit auch auf eine Verallgemeinerbarkeit der eigenen Hand- lungsziele: Ihr eigenes Handeln wird als Maßstab nicht nur innerhalb des ehrenamtlichen Netzwerkes angelegt, sondern auch als solidarische Alterna- tive gegenüber dem von Konkurrenz geprägten Erwerbssystem in Stellung gebracht.

Fazit

Entgegen der verbreiteten Annahme kommt es durch die Erwerbslosigkeit nicht zwangsläufig zu einer Erosion sozialer Kontakte und zu sozialer Isola- tion. So finden sich Fälle im Sample, in denen sich entweder quantitativ nichts verändert hat oder in denen die Zahl der Kontakte, nach Selbstaus- kunft der Befragten, sogar gestiegen ist. Was sich jedoch beobachten lässt, sind Prozesse eines Gestalt- und eines Funktionswandels sozialer Netz- werke, die sich wechselseitig beeinflussen. Entscheidend ist dabei, dass diese Veränderungen sowohl durch bestimmte individuelle Bewältigungsstrate- gien als auch durch die Struktur des jeweiligen Netzwerkes sowie durch die normativen sozialen Erwartungen geprägt sind. Wie bereits der lediglich kursorische Einblick in die Auswertung des empirischen Materials zeigt, operiert hier nicht nur der Alltagsblick auf das Phänomen Arbeitslosigkeit, sondern auch der Mainstream der wissenschaftlichen Rezeption mit zweifel- haften Annahmen. Ein genauerer Blick lässt die Erwerbslosen (in unter- schiedlicher Weise und in unterschiedlichem Ausmaß) als aktive Gestalte-

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r_innen ihres Schicksals in Erscheinung treten, die versuchen, alternative Formen und Möglichkeiten der Zugehörigkeit zu etablieren. Soziale Netz- werke spielen dabei für die verschiedenen Bewältigungsstrategien eine tra- gende Rolle. Diese Ergebnisse sind schließlich nicht ohne Folgen für politische Per- spektiven und Strategien gegenüber dem Phänomen der Arbeitslosigkeit. So sollte es unter der Bedingung, dass eine existenzsichernde, den eigenen Be- dürfnissen und Interessen entsprechende Erwerbsarbeit für einen immer größeren Teil der Bevölkerung außer Reichweite bleibt, darum gehen, alter- native Wege und Formen der sozialen Zugehörigkeit aufzuzeigen, zuzulas- sen und politisch zu unterstützen. Die gegenwärtige Arbeitsmarktpolitik weist hier jedoch in eine ganz andere Richtung, nämlich in die eines ›Arbei- tens um jeden Preis‹. Eine solche Politik wird von den meisten Befragten als zunehmender finanzieller, emotionaler und sozialer Druck wahrgenommen. Das in dieser Politik implizit enthaltene Versprechen der Wiederherstellung der sozialen Zugehörigkeit wird allerdings nicht einlöst. Stattdessen ver- stärkt sich das individuelle Gefühl nicht dazuzugehören. Nur wenige gehen mit dieser Situation so offensiv um wie dies exemplarisch am Bewältigungs- muster des Typ D gezeigt wurde. Und selbst in diesen Fällen bleibt der Ver- such, alternative Formen der Zugehörigkeit zu erproben, rechtfertigungsbe- dürftig und wird von Seiten der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik vielfach behindert. Demgegenüber bedarf es meines Erachtens einer dezidierten Abkehr von der Arbeit als dem zentralen Modus der sozialen Integration und einer Politik der Ermöglichung vielfältiger Entwürfe sozialer Identität und Zugehörig- keit. Damit ist kein beliebiges Nebeneinander subgesellschaftlicher Integra- tionsformen gemeint, sondern die Möglichkeit, sich auf unterschiedliche Weise Anerkennung und Respekt zu verschaffen, die nicht nur auf den Mi- krokosmos subgesellschaftlicher Milieus und Netzwerke beschränkt bleibt. Entsprechend kann eine solche Politik auch nicht in einer Rückkehr zu tradi- tionellen Solidaritäten und vormodernen Formen sozialer Integration beste- hen. Vielmehr muss sie auf die Schaffung gesellschaftlicher Bedingungen hinwirken, unter denen die Frage nach sozialer Zugehörigkeit frei von den Zwängen solcher strukturellen Abhängigkeitsverhältnisse und materiellen Gefährdungslagen gestellt werden kann. Um dies zu ermöglichen, wäre zunächst eine allgemeine und bedingungslose Grundsicherung denkbar. Diese müsste deutlich über das Niveau der bloßen Existenzsicherung hinaus- gehen und dürfte nicht an den Kriterien der Bedürftigkeit, der Beschäftigungs- bereitschaft oder einem (früheren) Beitrag zur Sozialversicherung ausgerichtet sein. Vielmehr müsste die Grundsicherung der gesamten Bevölkerung zu- stehen, unabhängig von der Einbindung in das Erwerbssystem, der Staats- angehörigkeit oder dem Alter. Ein solches Modell stellt dabei sicherlich nur

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einen möglichen Ansatzpunkt der Entkopplung der gesellschaftlichen Zu- gehörigkeit und Teilhabe von der Erwerbsarbeit dar. Eine Diskussion über andere, in ihrer Intention und Wirkung weiterreichende Konzepte wäre des- halb wünschenswert. Die Perspektive einer Abkehr vom System der Er- werbsarbeit sollte hierbei nicht als ein Luxus interpretiert werden, den die Gesellschaft sich zunächst leisten können (und wollen) muss, sondern als eine notwendige Antwort auf das Problem der dauerhaften sozialen Verunsi- cherung und Marginalisierung in einer Gesellschaft, in der das Erwerbssys- tem in zunehmendem Maße zur ›Desintegrationsmaschine‹ geworden ist.

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Stefan Paulus

Work-Life-Balance als neuer Herrschaftsdiskurs. Eine kritische Diskursanalyse eines Regierungsprogramms

Einleitung

Ultraflexible Arbeitsformen, dezentralisierte Arbeitsplätze, Privatisierung und Rationalisierung, das Auslagern von Funktionen und Dienstleistungen an Subunternehmen, MitarbeiterInnen, die sich selbst für den Erfolg des Un- ternehmens verantwortlich fühlen sollen, die neoliberale Losung »Arbeit, Arbeit, Arbeit«, das Bedürfnis, für stetigen Wachstum über die ganze Erdku- gel zu jagen und die billigsten Standorte und Arbeitskräfte zu finden. All das sind Formen einer kapitalistischen Verwertungsstrategie, die darauf abzielt, Ausbeutungsbedingungen zu verschärfen und sozialstaatliche Sicherungen aufzulösen. Die Vereinbarkeit von Leben und Arbeit scheint außer Kontrolle geraten zu sein. In dieser neuen Periode geht es weniger darum, über gewerkschaftliche Vereinbarungen den kapitalistischen Widerspruch zwischen Arbeit und Le- ben zu minimieren, sondern darum, das materielle Überleben durch die Ge- genleistung einer möglichst umfassenden egoistischen Flexibilität in Bezug auf die berufliche Qualifikation, den Arbeitsplatz, die Arbeitszeit und den Arbeitslohn zu sichern. Die Lohnabhängigen sind mit einem komplexeren und aufwändiger zu organisierenden Alltag konfrontiert. In der postfordisti- schen Phase des 21. Jahrhunderts ist die neue ökonomische Rolle der Einzel- nen in der Gesellschaft nicht mehr ausschließlich auf das Funktionieren in der Produktionssphäre beschränkt, sondern die ArbeitnehmerInnen sollen sich als gesamte Person mit den kapitalistischen Verhältnissen identifizieren. Flexiblere und mobilere Arbeitsbedingungen sowie die Extensivierung und Intensivierung der Erwerbsarbeit erhöhen den Druck und die Anforderun- gen an soziale Beziehungen sowie an die Selbstorganisation der Arbeitneh- merInnen. Infolgedessen treten in den Industrieländern bisher weitgehend unbeachtete Folgeerscheinungen auf, wie Individualisierung, zunehmende Scheidungsraten, ein für Industrienationen scheinbar bedrohender Rück- gang der Geburtenrate, eine zunehmende Anzahl Alleinerziehender und Patch-Work-Familien, psychische Probleme wie Stress- und Burn-Out-Syn- drome bis hin zu Karoshi, dem Tod durch Überarbeitung.1

1 Vgl. Stefan Paulus: Mutti kocht, Vati schafft! Geschlechterverhältnisse im Spiegel der Wirtschafts- und Be- völkerungspolitik. In: Direkte Aktion, Nr. 182, 2007, S. 12 f.

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Das ist aber kein Zufall, denn der den Kapitalismus antreibende Mecha- nismus zur Selbstverwertung des Werts – aus Geld mehr Geld zu machen – ›zwingt‹ Unternehmen und staatliche Institutionen immer wieder dazu, die Ware Arbeitskraft dem Produktionsprozess anzupassen und die Produkti- vität der Arbeitskraft nutzbar zu machen, sie zu entwickeln, sie zu reprodu- zieren. Die Arbeitskräfte, welche in Rente gehen, durch Unfälle, Krankheiten ausfallen oder sterben, müssen durch neue Arbeitskräfte ersetzt und ange- lernt werden, damit die Profitmaximierung nicht zum Erliegen kommt. Für den Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaftsformation zwischen »Arbeiten, um Leben zu haben«, und »Leben, um zu arbeiten«, versprechen neoliberale Managementkonzepte und staatliche Regulationsweisen Abhilfe: Die Probleme der ›Volksgesundheit‹, des Nachwuchsmangels und die Frage danach, wie die Geburtenrate gesteigert werden kann, werden seit einiger Zeit – erstmals nach 1945 – wieder verstärkt öffentlich diskutiert. Die Überle- gungen zur Regulierung von Bevölkerungsentwicklungen und Gesundheit- sprävention werden Work-Life-Balance genannt. Vor diesem Hintergrund der negativen demographischen und volkswirt- schaftlichen Auswirkungen von flexibilisierten Arbeitsverhältnissen haben sich die börsennotierten Konzerne Bertelsmann, Commerzbank, Daimler- Chrysler, Deutsche Telekom, Fraport, Vattenfall Europe mit dem Bundesmi- nisterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) zusammengeschlos- sen. Unter der Schirmherrschaft des Bundesverbandes der deutschen Indus- trie (BDI) bilden sie seit 2005 die bundesweit operierende Initiative Work-Life- Balance als Motor für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Stabilität.2 In diesem Aufsatz wird der diskursiven Formation von Work-Life-Ba- lance-Maßnahmen nachgegangen. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, welche Diskurspositionen die Initiative Work-Life-Balance als Motor für wirt- schaftliches Wachstum und gesellschaftliche Stabilität in Bezug auf Geschlechter- verhältnisse vertritt. Die Methode der Kritischen Diskursanalyse soll dazu beitragen, die Diskurspositionen der Initiative zu analysieren. In den Blick geraten so die Artikulationen der Initiative bzw. die des Klassenbündnisses zwischen Regierung und Wirtschaft und ihre eingesetzten Strategien im Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie über Geschlechterverhältnisse.

2 Vgl. BMFSJ: Work-Life-Balance – Motor für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Stabilität. Ana- lyse der volkswirtschaftlichen Effekte – Zusammenfassung der Ergebnisse, Berlin 2005.

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Die Methode der Kritischen Diskursanalyse

Aus diesen unterschiedlichen Maßnahmen, Blickwinkeln, Perspektiven und veränderten gesellschaftlichen Entwicklungen lässt sich die Relevanz erken- nen, die es notwendig macht, die Art und Beschaffenheit des Work-Life-Ba- lance-Diskurses systematisch zu analysieren und kritisch zu hinterfragen. Im Folgenden werde ich mittels der Kritischen Diskursanalyse die mit Work- Life-Balance-Konzepten transportierten Normen, Ideologien und Repräsen- tationen herausarbeiten und Bezüge auf die Zusammensetzung von Ge- schlechterverhältnissen verdeutlichen. Die Kritische Diskursanalyse ist im Umfeld des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) maßgeblich von Siegfried Jäger ent- wickelt worden.3 Die Kritische Diskursanalyse zielt darauf ab, den konkreten Zusammenhang von Wissen und Macht zu erkunden und hegemoniales Wissen einer Kritik zu unterziehen. Ziel der Vorgehensweise ist es, mit dis- kursanalytischen und ideologiekritischen Untersuchungen auf restaurative und undemokratische Tendenzen hinzuweisen. Es geht also um die Analyse aktueller Diskurse und ihrer Machtwirkungen und um das Sichtbarmachen ihrer (sprachlichen und bildhaften) Wirkungsmittel. Vor allem die Funktion von Diskursen als herrschaftslegitimierende und -sichernde Techniken in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation ist zentraler Blick- punkt der Kritischen Diskursanalyse. Letztlich geht es darum, sich »in der Absicht, menschliche Verhältnisse zu verbessern, auseinanderzusetzen«4. Zum Einstieg in die Methode der Kritischen Diskursanalyse möchte ich kurz auf die theoretische Zusammensetzung des Diskurses eingehen. Der von Link/Link-Heer (1990) operationalisierte und auf Foucault rekurrie- rende Diskursbegriff lautet wie folgt: »›Diskurs‹ ist stets lediglich die sprachliche Seite einer ›diskursiven Pra- xis‹. Unter ›diskursiver Praxis‹ wird dabei das gesamte Ensemble einer spe- ziellen Wissensproduktion verstanden, bestehend aus Institutionen, Verfah- ren der Wissenssammlung und -verarbeitung, autoritativen Sprechern bzw. Autoren, Regelungen der Versprachlichung, Verschriftlichung, Medialisie- rung«.5 Der Diskurs besteht aus mehreren Aussagen, die zusammenwirken und in Beziehung zu anderen Aussagen stehen, um eine »diskursive Formation«6 zu bilden. In einer solchen diskursiven Formation können Formulierungs- typen, Begriffe, theoretische Optionen, individuelle oder kollektive Verhal-

3 Vgl. Siegfried Jäger: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster 1993. 4 Ebd., S. 222. 5 Jürgen Link; Ursula Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: LiLi, Nr. 77, 1990, S. 90. 6 Michel Foucault: Über die Archäologie der Wissenschaften. In: Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 2001, S. 916.

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tensweisen, politische Operationen, wissenschaftliche Aktivitäten, literari- sche Fiktionen oder theoretische Spekulationen eingebettet sein. Diskurse lassen sich in diesem Zusammenhang als gesellschaftliche Produktionsmittel verstehen, indem Diskurse soziales Wissen produzieren und Vorgaben für die Subjektbildung und die Strukturierung von Gesellschaften schaffen. Der Diskurs als Ganzer ist demnach eine regulierende Instanz. Er formiert Sub- jekte und ihre Bedeutungskonstellationen. Subjekte werden dadurch zu AgentInnen »der Konstitution von Wissen«7. Das meint, dass jedes Subjekt, das einen Diskurs entfaltet, automatisch eine Position einnimmt, »als ob es selbst Subjekt des Diskurses wäre«8. Folglich entsteht ein Netz von Diskur- sen, welche aufeinander aufgebaut sind und in ein Bedeutungsnetz einge- bunden werden, das wiederum von Machtverhältnissen konstituiert ist. An- ders gesagt sind Diskurse selbst Systeme, durch die Machtverhältnisse zum Ausdruck kommen und gültiges Wissen vermittelt wird. Eine Aufgabe der Kritischen Diskursanalyse ist dabei das Ermitteln von Diskurspositionen. Die Diskursposition ist ein spezifischer ideologischer Standort einer Person oder Institution: Unter einer Diskursposition wird der Ort verstanden, »von dem aus eine Beteiligung am Diskurs und seine Bewertung für den Einzel- nen und die Einzelne bzw. für Gruppen und Institutionen erfolgt«9. Bei der nun folgenden stark gekürzten Darstellung zum methodischen Vorgehen einer kritischen Analyse von Diskursen orientiere ich mich an der von Siegfried Jäger vorgeschlagenen Vorgehensweise.10 Mittels dieser Vorge- hensweise wird auch die Kritische Diskursanalyse des Work-Life-Balance-Dis- kurses im folgenden Kapitel durchgeführt: • Der erste Analyseschritt umfasst die Charakterisierung des institutionellen Rahmens. Das heißt, die AutorInnen werden vorgestellt, die politische Ver- ortung des Diskurses wird aufgezeigt. • Der zweite Analyseschritt umfasst die Text-Oberfläche. Hierbei wird die Gestaltung des Textes thematisiert, und im Artikel angesprochene The- men und Themenkomplexe werden geclustert. • Der dritte Analyseschritt umfasst die sprachlich-rhetorischen Mittel inner- halb des Diskurses. Das bedeutet eine Analyse der Argumentationsstrate- gien, des Jargons, der Kollektivsymbolik und der Referenzbezüge. • Der vierte Analyseschritt bezieht sich auf die inhaltlich-ideologischen Aussa- gen zum Geschlechter- und Gesellschaftsbild, welches im Diskurs ange- sprochen wird.

7 Michel Foucault: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 119. 8 Stuart Hall: Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In: Schriften, Bd. 2: Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg 1994, S. 151. 9 Margret Jäger: Fatale Effekte. Die Kritik am Patriarchat im Einwanderungsdiskurs, Duisburg 1996, S. 47. 10 Vgl. Jäger 1993 (s. Anm. 3), S. 188 ff.

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• Im fünften Analyseschritt wird die Interpretation des gesamten unter- suchten Diskursstrangs mit abschließender kritischer Einordnung der Un- tersuchungsergebnisse vollzogen.

Kritische Diskursanalyse unter besonderer Berücksichtigung von inhaltlich-ideologischen Aussagen zum Geschlechter- und Gesellschaftsbild

Die nun folgende Kritische Diskursanalyse des Work-Life-Balance-Konzepts bezieht sich auf den zentralen Text der Initiative »Work-Life-Balance – Motor für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Stabilität. Analyse der volkswirtschaftlichen Effekte – Zusammenfassung der Ergebnisse«11. Auf- grund des begrenzten Umfangs dieses Aufsatzes werde ich die Analyse- schritte hier nur stark verkürzt darstellen. Ich werde auf die Analyseschritte zur Text-Oberfläche und zu den sprachlich-rhetorischen Mitteln komplett verzichten. Folglich bezieht sich die Interpretation des gesamten untersuch- ten Diskursstrangs im Fazit auch nur auf die hier dargelegten Analyse- schritte.

Charakterisierung des institutionellen und thematischen Rahmens des Diskurses Wie schon beschrieben, besteht die bundesweit operierende Initiative Work- Life-Balance als Motor für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Stabi- lität aus staatlichen Institutionen und börsennotierten Unternehmen. Die Leitidee der Initiative ist es, über wirtschaftliches bzw. kapitalistisches Wachstum gesellschaftliche Stabilität zu erreichen. Zentrale Positionen der Initiative sehen vor, dass Work-Life-Balance-Maßnahmen als Investitionen in das sogenannte »Humanvermögen«12 Deutschland die Chance bieten, die Produktivität der Beschäftigten zu steigern. So versprechen Work-Life-Ba- lance-Maßnahmen, die Arbeitsmotivation zu erhöhen und Fehlzeiten ebenso wie die Personalfluktuation zu verringern sowie eine nachhaltige Unterneh- mensrendite zu sichern und die Identifikation der Belegschaft mit dem Un- ternehmen zu stärken. Weiter sollen Work-Life-Balance-Maßnahmen es er- möglichen, den Standort Deutschland zu sichern, die Geburtenrate zu steigern und die Frauenerwerbsquote zu erhöhen, insbesondere durch eine bessere Nutzung der Arbeitskraft gut ausgebildeter Frauen und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.13

11 Vgl. BMFSJ 2005 (s. Anm. 2). 12 BMFSJ 2005 (s. Anm. 2), S. 5. 13 Vgl. ebd.

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Konkret bedeutet das auf der betrieblichen Ebene die Einführung von Arbeitsorganisationsmodulen wie Zeit- und Selbstmanagement, spezifisch ausgestaltete Arbeitszeitmodelle oder den Ausbau von Modellen zur Flexibi- lisierung des Arbeitsortes. Auf der Regierungsebene beinhalten diese Kon- zepte biopolitische Maßnahmen. Darunter sind finanzielle und gesundheit- spräventive Leistungen für Lohnabhängige wie einkommensabhängiges Elterngeld, Elternzeit, Kinderbetreuungsmaßnahmen oder Anti-Stress-Ma- nagement zu verstehen. Auf der subjektiven Ebene sollen durch diese Maß- nahmen bei den Lohnabhängigen die Arbeitsmotivation erhöht, Fehlzeiten und Personalfluktuation verringert sowie Arbeit und Leben besser vereinbart werden, so zumindest die Hoffnungen der Initiative. Zunehmend wird her- vorgehoben, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur unter dem Gesichtspunkt der sogenannten Humanisierung der Arbeitswelt oder dem der Chancengleichheit zu sehen ist, sondern dass diesbezügliche Inve- stitionen für die Betriebe auch unter dem Gesichtspunkt der Kosten lohnend sind, weil sich durch familienfreundliche Maßnahmen am Arbeitsplatz ein betriebswirtschaftlicher Nutzen ergibt.14 Um Profit, Gesundheit, Vereinbarkeit und Geburtenrate zu steigern, gibt es unterschiedlichste Work-Life-Balance-Maßnahmen. Sie reichen von Teilzeit- arbeitsmodellen, Gleitzeitangeboten, Telearbeit, Job-Sharing, Teamarbeit über Mentoring, Sensibilisierungsstrategien für Führungskräfte, haushalts- nahe Dienstleistungen, Sozialberatung, betriebliche Kinderbetreuung bis hin zu Maßnahmen, die auf Gesundheitsprävention durch Stressvermeidung und psychologische Beratung setzen. In diesem Zusammenhang versucht die Initiative, in ihren Betrieben und Verwaltungen bis zum Jahr 2020 bis zu 30 Prozent ihrer Beschäftigten an Work-Life-Balance-Maßnahmen teilhaben zu lassen. Auf Grund von »Berechnungen« und den aktuellen Entwicklungen in den Unternehmen geht die Initiative davon aus, dass durch KundInnen- zufriedenheit und MitarbeiterInnenmotivation eine Stärkung des Wirtschafts- wachstums und ein zusätzliches Bruttoinlandsprodukt von 248 Mrd. Euro erreicht wird. Weiter wird sich eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit durch weniger Fehlzeiten um eine 1,6-prozentige höhere Produktivität pro Arbeitsstunde versprochen. Die Geburtenrate soll auf 1,56 Geburten pro Frau steigen – fast eine Million zusätzliche Geburten in den nächsten zwölf Jahren. Bedingt durch die steigende Erwerbstätigkeit und die skizzierte Be- völkerungsentwicklung soll der private Konsum einen zusätzlichen Profit von 191 Mrd. Eeuro einbringen. Mehr Konsum führt in dieser Logik wie- derum zu mehr Arbeit. 221 000 neue Stellen sollen in den Unternehmen ent-

14 Vgl. ebd., S. 4 und S. 33. 15 Ebd. – Diese Berechnungen stützen sich auf Erfahrungen der Unternehmen und sind eher als Prognosen zu bewerten. – Vgl. ebd., S. 32 ff.

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stehen, und die Gesundheitspräventionen sollen wiederum die Lohnneben- kosten senken und gleichzeitig die Arbeitsproduktivität steigern.16 Aus der Sicht der Initiative sind bis 2020 die erhofften Wirkungen dieser Maßnahmen eine sogenannte Win-Win-Situation für Unternehmen, Arbeit- nehmerInnen und für die Volkswirtschaft. Die Eckpfeiler und Themen des Work-Life-Balance-Konzeptes lassen sich auf diese Gleichungen bringen: Integration in das Unternehmen = Steigerung der Arbeitsproduktivität Gesunde Lohnabhängige = weniger Lohnnebenkosten Weniger Fehlzeiten = mehr Wettbewerbsfähigkeit Mehr Kinder = mehr privater Konsum Mehr Konsum = mehr Arbeit Mehr Arbeit = mehr Profit Zusammenfassend lässt sich der institutionelle Rahmen dieses Diskurses da- hingehend charakterisieren, dass aus der strukturellen Zusammensetzung eine Verstrickung von wirtschaftlichen und politischen Interessen hervor- geht. Die InitiatorInnen dieses Work-Life-Balance-Diskurses sind nicht nur als einfache MultiplikatorInnen des Diskurses zu bewerten, sondern sie können als ArbeitgeberInnen und als Regierung einen zentralen Einfluss auf die öf- fentliche Meinungsbildung geltend machen sowie durch ihre zentralen Posi- tionen innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation die »Führung der Führungen«17 zu organisieren versuchen. Zugespitzt formu- liert lässt sich feststellen, dass in dem hier untersuchten Text ein Konglome- rat aus staatlichen Institutionen und Großkonzernen Ziele der gesamtgesell- schaftlichen Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten artikuliert. Hierbei ist durchaus von einem wirkmächtigen Herrschaftsdiskurs zu sprechen.

Die inhaltlich-ideologischen Aussagen der Initiative zum Geschlechter- und Gesellschaftsbild Um die Frage zu beantworten, welches Geschlechter- und Gesellschaftsbild der Text vermittelt, habe ich exemplarisch Themen herausgearbeitet und Diskurspositionen kritisch kommentiert. Der erste Themenkomplex umfasst Aussagen zu geschlechtsspezifischen Verbindungen der Work-Life-Balance- Maßnahmen: »Betriebliche Work-Life-Balance-Konzepte bieten die Chance, die ge- schlechtsspezifische Arbeitsteilung nach dem traditionellen Modell eines männlichen Alleinverdieners und einer allenfalls in geringem Rahmen er- werbstätigen Hausfrau zu überwinden. Die strategischen Überlegungen und Aktionen der Work-Life-Balance-Konzepte richten sich darauf, weibliche

16 Vgl. ebd., S. 8 ff. 17 Michel Foucault: Warum ich die Macht untersuche: die Frage des Subjekts. In: Hubert L. Dreyfus; Paul Rabi- now: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1987, S. 255.

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und männliche Beschäftigte anzusprechen. Es wird explizit darauf gesetzt, auch männliche Beschäftigte zu ermutigen, die vorhandenen Möglichkeiten zu einer Verbesserung der Work-Life-Balance und dabei u. a. auch zu einer Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu nutzen.«18 »Der Zeitaufwand für Haushaltsarbeit von Männern steigt in Doppelver- dienerhaushalten nur geringfügig an. Hier vollzieht sich nur allmählich ein Wandel, der auch die Neudefinition gesellschaftlicher Rollenbilder voraus- setzt […]. Trotz einer steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen ist keine grundsätzliche Neuverteilung der Haushalts- und Betreuungsarbeit zwi- schen den Geschlechtern zu beobachten.«19 Diese Aussagen zu den geschlechtsspezifischen Verbindungen der Work- Life-Balance-Maßnahmen verdeutlichen das Dilemma der Initiative zwischen gesellschaftlicher Perspektive und dem derzeitigen Zustand der Geschlech- ter- und Gesellschaftsverhältnisse. Die Zukunftsperspektive der Initiative formuliert einen Bruch mit dem traditionellen männlichen Ernährermodell und zielt auf einen Rollen- und Mentalitätswandel der Geschlechter- und Gesellschaftsverhältnisse ab. Durch eine Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zugunsten von Frauen soll dieser Wandel etabliert wer- den. Diese Perspektive ist insofern diskursanalytisch interessant, da zentrale feministische Forderungen nach Chancengleichheit und einer Überwindung patriarchaler Strukturen Eingang in politische Herrschaftsdiskurse gefunden haben. Erklärtes Ziel der Initiative ist es somit, mittels Work-Life-Balance- Maßnahmen einen gesamtgesellschaftlichen Wertewandel und eine Neudefi- nition gesellschaftlicher Rollenbilder durchzusetzen. Im Hinblick auf die Anrufungssignifikanten in Richtung einer Neudefini- tion von Geschlechterbildern lässt sich allerdings nur eine geringe Anzahl von expliziten Maßnahmen und Aufforderungen finden. Väter werden in diesem Text zum Beispiel nicht (!) erwähnt, obwohl die Initiative explizit darauf setzt, männliche Beschäftigte zu ermutigen, die vorhandenen Mög- lichkeiten zu einer Verbesserung der Work-Life-Balance in Anspruch zu neh- men. Für Frauen und Mütter bewegen sich die Anrufungssignifikanten in den Feldern Wettbewerb, ökonomische Unabhängigkeit, Aufstiegschancen.20 Dieser Zusammenhang lässt die Frage zu, ob die Einfügung von geschlech- terrelevanten Termini lediglich aus rhetorischen Gründen stattgefunden hat. Zumindest die sehr geringe Anzahl bzw. nicht vorhandenen explizit ge- schlechtergerechten Rollenmodelle innerhalb dieses Work-Life-Balance-Kon- zeptes deuten darauf hin. Allerdings scheint im Gegensatz zu den Anrufun- gen an Männer ein deutlich verändertes Rollenbild von Frauen durch. Denn

18 BMFSJ 2005 (s. Anm. 2), S. 29. 19 Ebd. 20 Vgl. ebd., S. 6 und S. 28.

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in diesem Work-Life-Balance-Geschlechtermodell eröffnen sich völlig neue Perspektiven für Frauen: Im Gegensatz zum fordistischen Geschlechterver- hältnis, in dem Frauen aus der Produktionssphäre abgezogen wurden, um sie in der Reproduktionssphäre einzusetzen, sind hier Frauen angesprochen, in die Produktionssphäre zu gehen und die Reproduktionssphäre durch haushaltsnahe Dienstleistungen zu organisieren.21 Galt es im fordistischen Geschlechterbild, die weibliche Reproduktionsfähigkeit im Familienzusam- menhang als Garant für gesunde, funktionale und stabile Familienstruktu- ren einzusetzen, wird in diesem neuen Geschlechterbild die Frau als postmo- derne Hybridmutter stilisiert: ökonomisch-erfolgreich und effektiv-fürsorglich. Dieses Bild ist aber nicht nur für Frauen aus dem Mittelstand oder der obe- ren Klasse bestimmt, sondern es wird breit vermittelt, da eine Erwerbsbetei- ligung von Frauen auch als Chance für den haushaltsnahen Dienstleistungs- markt begriffen werden soll.22 Hierbei wird insgesamt ein neues Frauenbild ausgerufen, das die Funktion der Frau als ganztags Hausfrau und Mutter in ein Bild von der Frau als erfolgreicher Arbeitskraftmanagerin23 sowie Haus- frau und Mutter light transferiert. Die dargelegten Textstellen zu geschlechtsspezifischen Verbindungen der Work-Life-Balance-Maßnahmen spiegeln ausschließlich heteronormative Ge- schlechterverhältnisse wider, in der Elternschaft, Familie und vergeschlecht- lichte Rollenbilder unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten dargestellt sind. In erster Linie wird in dieser Argumentation Geschlechtergerechtigkeit als Argument für eine ökonomische Wachstumsideologie eingesetzt. Mittels der Ausweitung der Kinderbetreuungsangebote soll das gesamte Arbeitskräfte- potential erweitert und zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Damit werden besonders gut qualifizierte Mütter angesprochen, ihre Kinder im öffentlichen, halböffentlichen, privaten oder betrieblichen Familienservice betreuen zu lassen, um dieses Potential der gut ausgebildeten Mütter effi- zienter zu nutzen. Die feministische Kritik an mangelnden Möglichkeiten der Kinderbetreuung zwecks Partizipation von Frauen am Erwerbsleben wird somit verbunden mit einer wirtschaftlichen Wachstumsideologie, wel- che einhergeht mit der Ausweitung von Familienserviceangeboten. Die Dis- kursposition der Initiative beinhaltet zugleich einen feministischen und einen wirtschaftsliberalen Diskurs, der darum kreist, Elternschaft zu erleich- tern und zu fördern und diese in Balance mit wirtschaftspolitischen Strate- gien zu bringen. Die diskursive Verstrickung dieser Diskursposition besteht hierbei in einer Befriedung feministischer und akkumulationslogischer Dis- kurse, die letztlich darauf hinausläuft, den beteiligten Unternehmen Maß-

21 Vgl. ebd., S. 30. 22 Vgl. ebd., S. 18 und S. 29 ff. 23 Vgl. Gabriele Winker; Tanja Carstensen: Eigenverantwortung in Beruf und Familie – vom Arbeitskraftunter- nehmer zur ArbeitskraftmanagerIn. In: Feministische Studien, Nr. 2, 2007, S. 277-288.

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nahmen als zentrale Forderung vorzuschlagen, welche schon längst Be- standteil der Unternehmensstruktur sind: Arbeitsort- und Arbeitszeitflexibi- lisierung. Wie sich ein Mentalitätswandel und eine Modernisierung der traditionel- len Geschlechterverhältnisse und der geschlechtsspezifischen Arbeitsorgani- sation gestalten, bleibt an dieser Stelle diskursanalytisch eine Spekulation. Zwar lassen sich Haushaltsarbeiten durch professionelle haushaltsnahe Dienstleistungen oder durch eine Taylorisierung weniger zeitintensiv gestal- ten, aber bestimmte Care-Tätigkeiten, wie Zuwendung oder Zuhören, lassen sich nur schwer rationalisieren. Carework erfordert eine extensive Zeitver- ausgabung, was neben dem Beruf zu einer strukturellen Überforderung füh- ren kann. Aber auch die Konzepte der Arbeitszeit- und Arbeitsortflexibili- sierung und die damit verbundenen Entgrenzungen fester Zeitordnungen verkomplizieren das Zeithandeln und die damit zusammenhängende All- tagsorganisation.24 Wie die Ökonomisierung und Rationalisierung des Sozialen ohne Nach- teil der Betreuten organisiert werden soll, bleibt hier ebenfalls außen vor. Denn die dazugehörigen Kinder sind auf der diskursiven Ebene verobjekti- viert. In dem ganzen Text tauchen Kinder höchstens als Anhängsel von El- tern auf oder als Verschiebemasse kalkulatorisch zu klärender Flexibilisie- rungsprozesse. Die Frage hier heißt auch nicht, ob schon genügend Plätze für eine Kinderbetreuung geschaffen worden sind oder wie Kinder eine fle- xibilisierte Kinderbetreuung finden oder ob sie überhaupt Lust dazu haben? Sondern die Frage lautet: Wie lässt sich die Geburtenrate steigern? Die folgen- den Zitate beziehen sich auf den Themenkomplex der Bevölkerungspolitik: »Work-Life-Balance-Maßnahmen ermöglichen einer größeren Zahl von Paaren die Realisierung des Kinderwunsches und erhöhen damit langfristig die Geburtenrate. Hier kommen sowohl Unterstützungsmaßnahmen von Unternehmen zu einer verbesserten Kinderbetreuung als auch ein übergrei- fender Mentalitätswandel zur Wirkung, der in der Orientierung auf Familie und Karriere keinen Antagonismus sieht, sondern beiden Lebensschwer- punkten ein gleichberechtigtes Miteinander ermöglicht.«25 »Eine höhere Geburtenrate wirkt ab dem Jahr 2025 positiv auf das Wirt- schaftswachstum aufgrund: der Vermeidung von Engpässen bei der Deckung des Arbeitskräftebedarfs, der nachfrageseitigen Impulse, die von der höhe- ren Bevölkerungszahl ausgehen, einer verbesserten internationalen Wettbe- werbsfähigkeit durch geringeren Lohndruck und niedrigere Lohnnebenko- sten, einer Rückführung der Staatsquote.«26

24 Vgl. Arlie Russell Hochschild: Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit war- tet, Wiesbaden 2006. 25 BMFSJ 2005 (s. Anm. 2), S. 32. 26 Ebd., S. 41.

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Diese Diskursposition, durch Geburten das gesamtgesellschaftliche Wachstum zu sichern, verdeutlicht einmal mehr den Zusammenhang zwi- schen der kapitalistischen Bedingung der Produktion und der Reproduk- tion. Einfach gesagt, bedarf es ausreichender Geburtenraten, kostengünsti- ger Reproduktionstätigkeiten und funktionaler Identitäten, um die stetige Profitmacherei zu ermöglichen. Das heißt wiederum, dass »keine Produk- tion möglich ist, ohne dass die Reproduktion der Produktionsbedingungen erfolgt«27. Die Reproduktionsbedingungen der gesamten Gesellschaft sind somit ein zentrales Element des Akkumulationsregimes, das nur fortbeste- hen kann, wenn die ›außerökonomischen‹ Bedingungen reguliert werden. Regulationsweise hierfür ist unter anderem eine produktive Sexualität.28 Die diskursive Regulierung des sexuellen Verhaltens dient hier als Vermittlungs- instanz von Work-Life-Balance-Maßnahmen und als Verknüpfungsmoment der Sphären der Produktion und der Reproduktion. Diese vermittelnden Diskurselemente sind unmittelbar mit dem Leben und dem Gesundheits- niveau des ›Bevölkerungskörpers‹ bzw. des ›Produktionskörpers‹ verbunden. Die Anrufungen im Kontext der Stimulation der Geburtenrate sind somit Teil einer bevölkerungspolititischen Regulationsweise, die dazu führen soll, gesellschaftliche Entwicklungsprozesse zu balancieren. Verbunden mit Dis- kursen, wie der Stärkung der deutschen Wirtschaft und gesundheitspräven- tiven Aspekten,29 erhält die Anrufungskette klassistische Konnotationen. Me- thoden und Maßnahmen, wie das einkommensabhängige Elterngeld30, verdeutlichen diesen Klassismus. Das einkommensabhängige Elterngeld dient dazu, den Kinderwunsch von ökonomisch schlechter bzw. besser ge- stellten Eltern zu beeinflussen, und ist eine systematische Diskriminierung von ökonomisch schlechter gestellten Eltern aufgrund ihres sozialökonomi- schen Status. Dieses Elterngeld ist eine einkommensabhängige Transferzah- lung bzw. Entgeltersatzleistung für Eltern mit Neugeborenen. Das Sozial- staatsprinzip wird hier ins Gegenteil verkehrt, indem Besserverdienende gestärkt werden (1 800 Euro monatlich) und einkommensschwache Eltern (StudentInnen, Erwerbslose) weiter geschwächt werden (300 Euro monat- lich). Um diesen Besserverdienenden solch hohe Geburtenprämien zahlen zu können, wurde deshalb die staatliche Unterstützung für einkommens- schwache Eltern auf die Hälfte gekürzt. Daher widerspricht die Zuteilung des Elterngeldes dem Gleichheitsgrundsatz und dem Diskriminierungsver- bot, weil Eltern unterschiedlich bewertet werden, denn der Prämienunter- schied kann bis zu 19 800 Euro im Jahr zwischen ›höherwertigen‹ und ›min- derwertigen‹ Geburten betragen. Das Elterngeld zielt darauf ab, letztlich

27 Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg, Berlin 1977, S. 109. 28 Vgl. Michel Foucault: Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt am Main 1983. 29 Vgl. BMFSJ 2005 (s. Anm. 2), S. 32 ff. 30 Vgl. ebd., S. 43.

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Geburten in ganz bestimmten Bevölkerungsgruppen zu provozieren, näm- lich bei Besserverdienenden und Höherqualifizierten, indem diese mit ho- hen finanziellen Belohnungen übervorteilt werden. Work-Life-Balance lässt sich in diesem Zusammenhang als bevölkerungspolitisches Steuerungsin- strument zur sozialen Selektion beschreiben. Insgesamt werden dabei als Faktoren eines familienfreundlicheren Klimas vor allem wirtschaftliche Fak- toren und eine produktive Sexualität einkalkuliert. Abschließend ist festzu- stellen, dass die Diskursposition der Initiative den Diskurs der »Familie als Keimzelle des Staates« hin zu einem Diskurs zu der »Familie als Garant der Deutschland AG« verschiebt.

Fazit

Die Untersuchung des geschlechterspezifischen Diskursstranges kann wie folgt beschrieben werden: Die strategischen Überlegungen der Work-Life- Balance-Initiative verfolgen das Ziel einer Überwindung der bisherigen Rol- lenbilder in Richtung Chancengleichheit der Geschlechter, einer Verbesse- rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie einer expliziten Ermuti- gung von Männern, Work-Life-Balance-Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. Diskursanalytisch ist zu konstatieren, dass im Text ein widersprüchliches Ziel formuliert wird. Das Männerbild wird nicht verschoben oder verändert; es kann auch nicht von einer expliziten »Ermutigung«31 der männlichen Be- schäftigten gesprochen werden, da sich lediglich eine unmerklich kleine An- zahl an spezifischen Anrufungen an männliche Beschäftigte richtet. Die weiblichen Beschäftigten sind jedoch mit einer veränderten Anrufung ihres Rollenbildes konfrontiert. Die Anrufungen gehen in die Richtung, dass weib- liche Mitarbeiterinnen sich das aneignen sollen, was ihre männlichen Kolle- gen schon können: sich im Wettbewerb durchsetzen sowie Reproduktionsar- beiten funktionalisieren und rationalisieren. Insgesamt lässt sich damit auf der symbolischen Ebene keine signifikante Neudefinition von Geschlechter- bildern feststellen, obwohl feministische Diskurse Eingang in die Konzepte gefunden haben und auch der wirtschaftsliberale Diskurs darum kreist, El- ternschaft zu erleichtern und zu fördern bzw. Elternschaft in Balance mit wirtschaftspolitischen Strategien zu bringen. Dies ist aber noch keine Neu- definition von Geschlechterbildern oder eine Überwindung dieser. Die Ver- bindung von politökonomischen und bevölkerungspolitischen Diskursen dient letztlich dazu, solche Maßnahmen zu installieren, welche die Kontrolle der Geburtenrate und der Bevölkerungsentwicklung wieder als staatlich und ökonomisch zu überwachende Angelegenheit behandeln.

31 Vgl. ebd., S. 29.

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POLITISCHE ÖKONOMIE

Jan Sailer

Marx’ Begriff von Moral. Zur Genese des allgemeinen Interesses aus dem Privatinteresse

Das Verhältnis von Marx zur Moral erscheint auf den ersten Blick wider- sprüchlich. So stimmt Marx einerseits in der Schrift Die Heilige Familie1 dem französischen Materialisten Helvétius zu, »die sinnlichen Eigenschaften und die Selbstliebe, der Genuß und das wohlverstandne persönliche Interesse sind die Grundlage aller Moral«2. Andererseits bezeugen andere Textstellen, dass Marx Moral als eine Ideologie angesehen hat, welche die Verfolgung des eigenen Interesses behindere und die mit der Abschaffung der Klassen- gesellschaft verschwinde.3 Ist dies tatsächlich ein Widerspruch? Meint Marx, Moral habe ein positives Verhältnis zu den eigenen Interessen, oder denkt er, sie sei eine ideologische Bewusstseinsform? In diesem Aufsatz möchte ich zeigen, dass Marx einen kohärenten Begriff von Moral hat, auch wenn er sich lediglich sporadisch zu der Natur des mora- lischen Bewusstseins äußert. Anhand seines Begriffs von Moral im Kapitalis- mus werde ich darstellen, dass er Moral zwar als ideologische »Bewusstseins- form«4 bestimmt, die jedoch zugleich im Materialismus der kapitalistischen Akteure ihre Grundlage hat. Der vorliegende Text wird in der Herausarbeitung des Marx’schen Be- griffs von Moral erklären, warum dieser Moral als Ideologie kritisiert. Zu- gleich wird zu zeigen sein, dass diese Ideologie für Marx in den spezifischen

1 Zitiert wird im Folgenden, wo möglich, nach der zweiten Ausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA 2). Ansonsten wird nach den Marx-Engels-Werken (MEW) zitiert. Die zitierten Stellen weichen oft von der heute korrekten Orthographie ab. 2 Karl Marx; Friedrich Engels: Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. In: MEW, Bd. 2, Berlin (Ost) 1972, S. 137. – Auch Mäder sieht das Interesse als die Grundlage der Marx’schen Moralauffassung an. Wie die Moral nach Marx auf dem Interesse basiert, entwickelt sie allerdings nicht. – Siehe Denis Mäder: Fortschritt bei Marx, Berlin 2010, S. 295-298. 3 Vgl. Karl Marx; Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW, Bd. 4, Berlin (Ost) 1974, S. 480 f. 4 Ebd., S. 480.

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Interessen der kapitalistischen Subjekte selbst ihren Ursprung hat, anstatt etwa von der herrschenden Klasse als Untertanenbewusstsein vermittelt zu werden. Da die in Auseinandersetzung mit Hegel geplante Abhandlung über Mo- ral, die Marx in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten ankündigte,5 nicht vorliegt und wahrscheinlich nie geschrieben wurde, muss die Untersu- chung des Marx’schen Moralbegriffs aus seinen verstreuten Verlautbarun- gen zu diesem Gegenstand rekonstruiert werden.6

Gegensätzliche Interessen als Grundlage der Moral

Im Manifest der Kommunistischen Partei zitieren Marx und Engels den Ein- wand, die Kommunisten7 wollten u. a. die Moral abschaffen, die zwar ihre Form verändern würde, für sich jedoch eine überhistorische Idee darstelle, die »allen gesellschaftlichen Zuständen gemeinsam«8 sei. Marx und Engels halten dagegen, für sie sei die bisherige Beständigkeit von Bewusstseinsfor- men wie der Moral nicht weiter verwunderlich, seien doch alle bisherigen Gesellschaftszustände von Klassengegensätzen geprägt gewesen. Bewusst- seinsformen wie Moral oder Religion würden erst »mit dem gänzlichen Ver- schwinden des Klassengegensatzes sich vollständig auflösen«9. Marx stellt Moral nach dieser Textstelle in einen notwendigen Zusam- menhang mit der Existenz eines Klassengegensatzes. Wenn die Moral sich zusammen mit ihm auflöse, so muss sie für Marx ihren Grund in diesem Ge- gensatz haben. Wie Marx sich dieses Verhältnis denkt, wird durch die Be- trachtung eines der Manuskripte klarer, die posthum zusammen mit ande- ren unter dem Titel Deutsche Ideologie veröffentlicht wurden.10 Hier schreibt Marx gegen Stirners Lobpreisung des Egoismus, dass die Kommunisten überhaupt keine Moral predigten. Sie würden »weder den Egoismus gegen die Aufopferung noch die Aufopferung gegen den Egoismus geltend ma- chen und theoretisch diesen Gegensatz weder in jener gemütlichen noch in jener überschwenglichen, ideologischen Form fassen, vielmehr seine mate- rielle Geburtsstätte nachweisen, mit welcher er von selbst verschwindet. Die

5 Siehe Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. In: MEGA 2, Bd. I/2, Berlin (Ost) 1982, S. 314. 6 Der vorliegende Aufsatz geht davon aus, dass Marx’ Begriff von Moral spätestens seit 1845 relativ unverän- dert bleibt. Diese Prämisse ist Beweiszweck einer eigenständigen Veröffentlichung. 7 Der vorliegende Aufsatz benutzt ausnahmsweise das generische Maskulinum, um die Einheitlichkeit mit den Marx’schen Zitaten zu wahren. 8 Marx; Engels: Manifest (s. Anm. 3), S. 480. 9 Ebd. 10 Fortan werden diese Texte als »Deutsche Ideologie« bezeichnet, obgleich dieser Titel das Resultat einer poli- tisch geleiteten Edition dieser Texte ist, die zum Zwecke der Legitimation des sowjetischen historischen Ma- terialismus ein kohärentes und zur Veröffentlichung gedachtes Manuskript konstruiert, das es so nie gege- ben hat. – Siehe u. a. Terrell Carver: The German Ideology Never Took Place. In: History of Political Thought, Nr. 31.1, 2010, S. 107-127.

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Kommunisten predigen überhaupt keine Moral, […] wollen also keineswegs […] den ›Privatmenschen‹ dem ›allgemeinen‹, dem aufopfernden Menschen zuliebe aufheben – eine Einbildung, worüber sie sich Beide bereits in den ›Deutsch-Französischen Jahrbüchern‹ die nötige Aufklärung hätten holen können. Die theoretischen Kommunisten, die einzigen, welche Zeit haben, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, unterscheiden sich gerade dadurch, daß sie allein die Schöpfung des ›allgemeinen Interesses‹ durch die als ›Pri- vatmenschen‹ bestimmten Individuen in der Geschichte entdeckt haben.«11 Auch in der Deutschen Ideologie kritisiert Marx die Ansicht, Moral sei eine überhistorische Konstante, und kennzeichnet sie als unselbständige Bewusst- seinsform. Zudem sei es für die Moral wesentlich, dass in ihr die Negation des eigenen Interesses als gut und dessen Durchsetzung auf Kosten eines fremden als schlecht beurteilt werde. Auf der Ebene des Interesses stünden sich allgemeines und Privatinteresse gegensätzlich gegenüber. Das allge- meine Interesse werde vom moralischen Bewusstsein als Maßstab gesetzt, das reine Privatinteresse hingegen werde als Eigennütziges verworfen. Moral ist demnach für Marx eine Bewusstseinsform, die drei Bestimmun- gen aufweist: Erstens wird das Aufgeben des eigenen Interesses positiv be- urteilt. Zweitens hat diese Beurteilung keinen instrumentellen Charakter, sie ist nicht unmittelbar auf den eigenen Nutzen bezogen. Und drittens ist der Maßstab für diese Beurteilung ein höheres Prinzip, das für alle Gültigkeit be- sitzt und als allgemeines Interesse auftritt. Diese Bestimmung von Moral als ein Zurückstellen des eigenen Interesses zugunsten eines höheren, das seine Dignität in seiner Allgemeinheit besitzt, ist nicht originell.12 Die interessante Behauptung ist Marx’ These, dass die Be- wusstseinsform, die dem privaten Interesse ein allgemeines zur Beurteilung gegenüberstellt, durch das Privatinteresse selbst erzeugt werde, dass also das Eigeninteresse die Grundlage der Moral darstelle. Um zu zeigen, wie Marx die Genese eines allgemeinen Interesses aus dem Privatinteresse ablei- tet, muss noch geklärt werden, wie diese These genau zu verstehen ist. Zunächst ließe sich dieser Satz nämlich so interpretieren, dass das Allge- meine die Täuschung eines bestimmten Privatinteresses sei, nämlich das der Kapitalisten, die ein allgemeines Interesse vorgaukelten, um den Klassen- gegensatz hinter einer vordergründigen Gemeinsamkeit zu verschleiern. Aber das wäre weder philologisch noch inhaltlich stichhaltig. Denn erstens

11 Karl Marx; Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. In: MEW, Bd. 3, Berlin (Ost) 1969, S. 229. – An dieser Stelle interessieren allein die positiven Bestimmungen, die sich aus dieser Schrift zum Marx’schen Moral- begriff herausfinden lassen. Von der Kritik an Stirner selbst kann an dieser Stelle ohne theoretische Probleme abstrahiert werden. 12 Marx’ Lehrer Hegel hatte diese drei Bestimmungen von Moral in seinem Begriff von Moralität in seiner Rechtsphilosophie auch bereits festgehalten: Moral bestehe in Pflichten gegen das Subjekt, befinde sich also im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Interessen, nehme seinen Maßstab nicht aus den unvermittelten Nut- zenerwägungen und habe als Wohl aller bindenden Charakter für den Einzelnen. – Siehe G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main 1986, § 125, S. 236 und §133-134, S. 250 ff.

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geht es Marx hier ganz abstrakt um das im moralischen Bewusstsein auftre- tende Verhältnis von Einzelinteresse und allgemeinem, und nicht darum, wie sich die Privatinteressen unterscheiden mögen. Und zweitens spricht Marx hier nicht von einem bestimmten, sondern ganz abstrakt von dem Pri- vatinteresse überhaupt. Marx meint demnach nicht, dass der Gegensatz von allgemeinem Inter- esse und Privatinteresse von einem spezifischen Privatinteresse produziert wird, sondern von jenen Individuen, die ihre Interessen als private verfolgen. Es stellt sich somit die Frage, was Marx unter dem Privatinteresse versteht. Heutzutage wird das Wort »privat« gemeinhin für jene Sphäre benutzt, in der sich die Individuen der Anschauung der Öffentlichkeit entziehen. Bei Marx hat dieses Wort jedoch eine viel grundlegendere Bedeutung als die Frage, ob der eigene Körper, die eigenen Taten etc. der öffentlichen Begut- achtung ausgesetzt sind oder nicht. Marx selbst verweist im obigen Zitat in der Deutschen Ideologie auf seinen in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern von 1844 publizierten Aufsatz »Zur Judenfrage«, in dem er das Verhältnis von Privatinteresse und Allgemeinheit auf das politökonomische Verhältnis von Privateigentümern zurückführt.13 Der moderne Mensch führt demnach neben seinem Dasein als Staatsbürger auch noch ein »Leben in der bürger- lichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch thätig ist, die andern Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird«14. Aufgrund ihres Daseins als Privateigentümer stün- den die Menschen im Kapitalismus – der hier unter der Hegel’schen Bezeich- nung »bürgerliche Gesellschaft«15 auftritt – in einem unversöhnlichen Gegen- satz miteinander. Das Privatinteresse und der Privatmensch, aus denen die Notwendigkeit einer moralischen Allgemeinheit stammt, sind demnach Ei- genschaften von Privateigentümern, Individuen, die wegen ihres Rechts auf Eigentum in einem Gegensatz zueinander stehen. Marx meint also, dass aus den gegensätzlichen Interessen zwischen Pri- vateigentümern im Bewusstsein eine Allgemeinheit als moralischer Maßstab entstehen muss.16 Der moralische Maßstab eines allgemeinen Interesses sei somit in der Struktur kapitalistischer Verhältnisse angelegt, »und zwar exi- stirt dies gemeinschaftliche Interesse nicht bloß in der Vorstellung, als ›All- gemeines‹, sondern zuerst in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen, unter denen die Arbeit getheilt ist«17. Genau so sei es aber

13 Vgl. Marx; Engels: Deutsche Ideologie (s. Anm. 11), S. 229. 14 Karl Marx: Zur Judenfrage. In: MEGA 2, Bd. I/2, Berlin(Ost) 1982, S. 149. 15 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (s. Anm. 12), S. 339. 16 Auch Hegel leitet in seiner Rechtsphilosophie die Moralität aus dem Gegensatz von Privateigentümern her. Dieses Verhältnis von Hegel und Marx muss Gegenstand einer eigenständigen Erörterung sein. 17 Karl Marx; Friedrich Engels: Feuerbach und Geschichte. Entwurf S. 1 bis 29. In: Marx-Engels-Jahrbuch 2003, Berlin 2004, S. 20. – Aus diesem Manuskript wurde später das Einleitungskapitel der »Deutschen Ideologie« konstruiert.

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auch in den kapitalistischen Verhältnissen angelegt, dass diese Allgemein- heit im Widerspruch stünde zu der Individualität der Privateigentümer. »Ferner ist mit der Theilung der Arbeit zugleich der Widerspruch zwischen dem Interesse des einzelnen Individuums [...] & dem gemeinschaftlichen In- teresse aller Individuen die miteinander verkehren, gegeben«.18

Der Gegensatz tauschender Privateigentümer

Wie bestimmt Marx dieses Abhängigkeitsverhältnis, aus dem sich nach ihm die Bewusstseinsform Moral ableitet? Zunächst muss geklärt werden, warum Marx das Verhältnis der Privateigentümer zueinander als antagonistisch be- schreibt und wie er diesen Gegensatz genau charakterisiert. Dafür ist ein Blick in die späteren ökonomischen Studien von Marx erhellend, in denen dieser Gegensatz viel entwickelter vorliegt als in seinen frühen Schriften. Der von Marx konstatierte Klassengegensatz zwischen Proletarier und Kapitalisten bedingt einen Gegensatz aller Gesellschaftsmitglieder. Denn alle Mitglieder der kapitalistischen Produktionsweise seien über die Warenform als ihre »Elementarform«19 aufeinander bezogen. Alle ökonomischen Bezie- hungen werden demnach in Form des Warentausches abgewickelt, »die Per- sonen existiren hier nur für einander als Repräsentanten von Waare und da- her als Waarenbesitzer«20. Dass die Warenform als die grundlegende Beziehung aller ökonomischer Subjekte im Kapitalismus anzusehen ist, macht Marx auch im Urtext seiner ersten ökonomischen Publikation Zur Kritik der politischen Ökonomie deutlich: »Wenn wir überhaupt die sociale Beziehung der Individuen innerhalb ihres ökonomischen Processes prüfen, müssen wir uns einfach an die Formbestim- mungen dieses Processes selbst halten.«21 Diese Formbestimmungen sind aber nach Marx nichts anderes als die Warenzirkulation als die »abstrakte Sphäre des bürgerlichen Gesamtproduktionsprozesses«22.

18 Ebd., S. 19 f. Dass die Moral mit dem Klassengegensatz verschwinde, heißt demnach, dass sie mit dem grundlegenden Gegensatz aller Gesellschaftsmitglieder als Eigentümer und nicht als Lohnarbeiter und Ka- pitalisten verknüpft ist. Mit der Klassengesellschaft ginge aber auch dieser Gegensatz zugrunde und damit auch die Moral. 19 Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1. In: MEGA 2, Bd. II/10, Berlin 1991, S. 37. 20 Ebd., S. 83. 21 Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Urtext. In: MEGA 2, Bd. II/2, Berlin(Ost) 1980, S. 59. 22 Ebd., S. 68. – Gegen die später sich durchsetzende historisierende Interpretation von Engels hält Marx hier am Übergang von Geld zum Kapital fest: »Wir haben es hier jedoch nicht mit [sic] historischem Uebergang der Circulation in das Capital zu tun.« – Ebd., S. 68 f.; vgl. auch Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politi- schen Ökonomie, Erster Teil. In: MEGA 2, Bd. II/1.1, Berlin(Ost) 1976, S. 171 f. (fortan: Grundrisse). – Rakowitz’ Monographie beschäftigt sich u. a. mit dieser falschen theoretischen Abtrennung der einfachen Warenzirku- lation von der kapitalistischen Produktionsweise und der Konstruktion einer angeblich vorkapitalistischen »einfachen Warenproduktion«. – Vgl. Nadja Rakowitz: Einfache Warenproduktion: Ideal und Ideologie, Freiburg 2000.

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Diese Tauschbeziehung von Warenbesitzern hat nach Marx eine eigen- tümliche Negativität. Auf der einen Seite sind die Tauschpartner voneinan- der abhängig, da beide ihren Willen auf etwas richten, was der jeweils an- dere hat: Der Warenbesitzer will den Wert des Käufers – oder Geld als dessen äußere Manifestation –, der Käufer will den Gebrauchswert des Ver- käufers.23 Zugleich ist diese Abhängigkeit jedoch negativ bestimmt: Wenn der Warenbesitzer die Ware für ihren Wert weggibt, bleibt kein Mittel mehr, um an Wert zu kommen. Andersherum gibt der Käufer der Ware für den Ge- brauchswert der Ware jene Macht des Geldes aus der Hand, auf alle Waren in der Gesellschaft zugreifen zu können. Diese gesellschaftliche Zugriffs- macht steht ihm fortan nicht mehr zur Verfügung.24 Das Interesse, das die Austauschenden daher am Tauschverhältnis haben, gibt Anlass dazu, alle Prinzipien des freien Tausches – die Übergabe der versprochenen Ware in Quantität und Qualität, den Händewechsel des Geldes etc. – zu missachten. Damit würde das Tauschverhältnis jedoch selbst zerstört. Die beiden Par- teien sind also sowohl interessiert am Zustandekommen des Tausch-Verhält- nisses als auch daran, aus diesem Verhältnis ihren Nutzen auf Kosten des an- deren zu ziehen – und dafür auch die Bedingungen des Tausches zu brechen. Das Interesse am Tausch steht daher nach Marx im Gegensatz zu seinem Zu- standekommen. Für Marx sind somit alle Eigentümer in negativer Abhängigkeit aufeinan- der bezogen: Sie brauchen einander, um ihren Nutzen gegeneinander ver- folgen zu können. Sie stehen somit in einem Verhältnis abhängiger Ge- gensätzlichkeit oder in einem antagonistischen Abhängigkeitsverhältnis. Die Warenhüter haben einerseits das Interesse am Zustandekommen des Tausch- verhältnisses, andererseits wollen sie zugleich ihr Interesse am Gut des Kon- trahenten ohne Rücksicht auf die Bedingungen des freien Tausches befrie- digen. Aus dieser widersprüchlichen Praxis folgt nach der Marx’schen Theorie eine widersprüchliche Bewusstseinsform. Diese Ableitung ist in keinem Textzeugnis belegt, sie lässt sich jedoch innerhalb der Marx’schen Theorie 25 rekonstruieren.

23 Weil hier die Ebene der einfachen Warenzirkulation als Abstraktion der entwickelten kapitalistischen Gesell- schaft genommen wird, ist im vorliegenden Aufsatz das Tauschverhältnis mit dem Kaufverhältnis gleichge- setzt. Die Unterschiede sind für die hier dargelegten Argumente nicht relevant. 24 Dieser Gegensatz wird in den Grundrissen näher ausgeführt. – Vgl. Marx: Grundrisse (s. Anm. 22), S. 165-169. 25 Zwar gibt es unterschiedliche, teils gegensätzliche Urteile und Argumente im umfangreichen Marx’schen Werk. Wenn hier von der Marx’schen Theorie gesprochen wird, ist von begrifflichen Leistungen die Rede, die Marx seit 1842 vertritt und später nicht revidiert.

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Das allgemeine Interesse antagonistischer Privateigentümer

In den Grundrissen schreibt Marx nach der Darstellung des gegensätzlichen Tauschverhältnisses über die beiden am Tausch beteiligten ökonomischen Subjekte: »Jedes dient dem andren um sich selbst zu dienen; jedes bedient sich des andren wechselseitig als seines Mittels. Es ist nun beides in dem Be- wußtsein der Individuen vorhanden: 1) daß jedes nur seinen Zweck erreicht, soweit es dem andren als Mittel dient; 2) daß jedes nur Mittel für das andere (Sein für andres) wird als Selbstzweck (Sein für sich); 3) […] daß diese Wech- selseitigkeit ein nothwendiges fact ist, vorausgesezt als natürliche Bedin- gung des Austauschs, daß sie aber als solche jedem der beiden Subjekte des Austauschs gleichgültig ist, und ihm diese Wechselseitigkeit nur Interesse hat, so weit sie sein Interesse als das des andren ausschliessend, ohne Bezie- hung darauf befriedigt. D. h. das gemeinschaftliche Interesse, was als Motiv des Gesammtakts erscheint, ist zwar als fact von beiden Seiten anerkannt, aber als solches ist es nicht Motiv, sondern es geht so zu sagen nur hinter dem Rücken der in sich selbst reflectirten Sonder-interessen, dem Einzelin- teresse im Gegensatze zu dem des andren vor.«26 Diese Stelle zeigt, wie sich nach Marx der Gegensatz der Warenhüter im Austausch im Bewusstsein der Austauschenden darstellt. Einerseits wissen beide Tauschpartner darum, dass sie sich gegenseitig als Mittel des anderen bewähren müssen, um ihre Zwecke zu erreichen. Sie sind darauf angewie- sen, nützlich für die Erfüllung des Bedürfnisses des anderen zu sein. Zu- gleich machen sie sich aus eigennützigen Motiven heraus zum Mittel des anderen. Vor allem aber haben sie ein Bewusstsein davon, dass der wechsel- seitige Nutzen, den sie sich gegenseitig verschaffen, zwar notwendig für das Zustandekommen der Beziehung ist, beide Kontrahenten jedoch zugleich in- different zu ihm stehen. Ihre Intention ist die Aneignung der Ware des ande- ren. Dafür jedoch die eigene Ware herzugeben, die immerhin gesellschaft- liche Zugriffsmacht in Form ihres Wertes repräsentiert, ist ihnen nicht recht. Somit gibt es einerseits das Bewusstsein, dass die Instrumentalisierung des eigenen Interesses für das entgegengesetzte als Bedingung des Tausches not- wendig ist. Andererseits gibt es jedoch auch das Bewusstsein von der Ge- gensätzlichkeit des anderen Interesses zum eigenen in der Austauschbezie- hung: Was der andere an Wert erhält, gibt man selbst als Wert fort. Das gemeinsame Interesse steht somit im Gegensatz zum materiellen In- teresse der antagonistischen Kontrahenten, den anderen zum Mittel zu ma- chen, ohne zum Mittel zu werden. Zugleich ist das gemeinsame Interesse am Tausch jedoch notwendig. Es stellt sich daher die Frage, wie es dennoch im Bewusstsein der Beteiligten vorkommen kann. In theoretischer Hinsicht ist

26 Marx: Grundrisse (s. Anm. 22), S. 167 f.

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es ein Widerspruch. Einerseits bedarf es des Interesses an der Aufgabe des eigenen Interesses zugunsten des anderen, andererseits ist der Ausgangs- punkt dieses Interesses gerade die Durchsetzung des eigenen gegen das des anderen. »Damit ist also die vollständige Freiheit des Individuums gesezt: Freiwil- lige Transaction; Gewalt von keiner Seite; Setzen seiner als Mittel, oder als dienend, nur als Mittel um sich als Selbstzweck, als das Herrschende und Uebergreifende zu setzen; endlich das selbstsüchtige Interesse, kein darüber stehendes verwirklichend; der andre ist auch ebenso sein selbstsüchtiges In- teresse verwirklichend anerkannt und gewußt, so daß beide wissen, daß das gemeinschaftliche Interesse eben nur in der Doppelseitigkeit, Vielseitigkeit, und Verselbständigung nach den verschiednen Seiten der Austausch des selbstsüchtigen Interesses ist. Das allgemeine Interesse ist eben die Allge- meinheit der selbstsüchtigen Interessen.«27 Die ökonomischen Akteure haben also beide das Interesse an einer Allge- meinheit, ohne selbst ihre den anderen schädigenden Interessen relativieren zu wollen. Es wird demnach von den beiden Kontrahenten gewusst, beiden ist dieses gemeinschaftliche Interesse im Bewusstsein, aber dennoch ist es nicht individuelles Interesse der Kontrahenten.

Das allgemeine Interesse als moralische Bewusstseinsform

Aber wie ist dann das gemeinschaftliche Interesse im Bewusstsein der Kon- trahenten, wenn nicht als deren individuelles Interesse? Marx meint, es emanzipiere sich im Bewusstsein von den individuellen Interessen der Tau- schenden, es liege als eine neue Bewusstseinsform vor. Das gemeinschaftliche Interesse, das keiner individuell will, ist im Bewusstsein als ein der bürgerli- chen Existenz vorausgesetztes, aber jeder instrumentellen Bewertung entzo- genes Prinzip vorhanden. Es muss erstens positiv bewertet werden – weil unbedingt notwendig –, zweitens muss die Affirmation jenseits jedes be- stimmten Interesses liegen, weil es ansonsten gar nicht erst zustande kom- men kann. Und drittens muss das Prinzip als für alle verbindlich gedacht werden, da es gegensätzliche Interessen aufeinander verpflichten soll, damit sie überhaupt gegeneinander verfolgt werden können. Die Bewusstseinsform, in der diese drei Kriterien verwirklicht sind, ist die der Moral. In der Auseinandersetzung mit Stirner hat Marx gezeigt, dass er den Gegensatz zwischen Altruismus und Egoismus als konstitutiv für die Moral ansieht.28 Die Aufgabe des eigenen Interesses als höhere Pflicht wird in

27 Ebd., S. 168. 28 Marx; Engels: Deutsche Ideologie (s. Anm. 11), S. 229.

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dieser Sichtweise von Moral erstens als etwas Positives beurteilt. Zweitens ist diese Affirmation der eigenen Beschränkung auch der instrumentellen Beurteilung entzogen. Zu sagen, dass etwas für das eigene Interesse nützlich oder unnütz ist, ist gerade die Negation des Gedankens, hier ginge es dem Betreffenden um Moral. Drittens ist die Rücksicht in der Moral ein höheres Prinzip, das daher für alle zu gelten habe, in seiner modernen Form ein für alle Individuen bindendes allgemeines Interesse. Vor dem Hintergrund der Passage aus den Grundrissen29 lässt sich damit der Textabschnitt aus den Quellen der Deutschen Ideologie30 verstehen: Die es- sentielle Notwendigkeit, im Kapitalismus das andere, entgegengesetzte In- teresse prinzipiell anzuerkennen, wird damit vom Bewusstsein als grundle- gend gutes, aber jenseits aller Interessen stehendes positives Prinzip beurteilt. Wegen der Relevanz für die weitere bürgerliche Existenz muss diese Rück- sicht auf das gegensätzliche Interesse positiv bewertet werden. Spiegelbild- lich wird damit das Beharren auf dem eigenen Interesse gegen ein ge- gensätzliches negativ beurteilt: Einfach bloß auf seinem Interesse gegen das feindliche zu beharren, ist nach Marx identisch mit der Aufkündigung des Tauschverhältnisses, damit aber auch gleichbedeutend mit der Vernichtung der bürgerlichen Existenz beider Kontrahenten, da sie als Warenhüter auf den Tausch angewiesen sind. Daher erhält diese Position, die auf dem eige- nen Interesse gegen das andere beharrt, im bürgerlichen Bewusstsein eine negative Wertung. Diese positive und negative Wertung ist nicht auf ein spe- zielles Interesse bezogen – dann wäre es ja im Falle des eigenen gerade gut, auf dessen Durchsetzung zu beharren –, sondern wird an jedes besondere In- teresse als höherer Maßstab angelegt. Das eigene Interesse zurückzustellen gilt damit als gut, das eigene Interesse durchzusetzen gilt als schlecht.

Der ideologische Charakter der Moral

Die Aufhebung des materiellen Gegensatzes in den moralischen Gegensatz zwischen Altruismus und Egoismus ist nach Marx allerdings rein ideell. Man müsse erkennen, gibt Marx Stirner gegenüber zu bedenken, dass letzte- rer »Gegensatz nur scheinbar, weil die eine Seite, das sogenannte ›Allge- meine‹, von der andern, dem Privatinteresse, fortwährend erzeugt wird und keineswegs ihm gegenüber eine selbständige Macht mit einer selbständigen Geschichte ist, daß also dieser Gegensatz fortwährend praktisch vernichtet und erzeugt wird. Es handelt sich also nicht um eine Hegelsche ›negative Einheit‹ von zwei Seiten eines Gegensatzes, sondern um die materiell be-

29 Marx: Grundrisse (s. Anm. 22), S. 168. 30 Marx; Engels: Deutsche Ideologie (s. Anm. 11), S. 229.

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dingte Vernichtung einer bisherigen materiell bedingten Daseinsweise der Individuen, mit welcher zugleich jener Gegensatz samt seiner Einheit ver- schwindet«31. Einerseits hat dem soeben rekonstruierten Marx’schen Moralverständnis zufolge jedes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft das genuine Interesse an Rücksicht. Die Zurückstellung der eigenen Interessen zugunsten derer der anderen ist als moralischer Maßstab im Bewusstsein der bürgerlichen In- dividuen mit Notwendigkeit präsent. Dieses Interesse an Rücksicht kommt jedoch nur auf, weil man das gemeinsame Interesse, eine Einigung mit dem Handelspartner zu erzielen, bloß fasst, da man in diesem so zustande ge- kommenen Verhältnis das eigene materielle Interesse auf Kosten des ande- ren durchsetzen will. Dieser Gegensatz wird durch die Moral als die Über- höhung von Rücksicht in ein jenseits der Interessen stehendes gutes Prinzip nicht relativiert, sondern durch sie ergänzt. Insofern kann Marx schreiben, dass der Gegensatz von Altruismus und Egoismus nur scheinbar ist, da er keine praktische Gültigkeit besitzt. Der ideelle Altruismus ist eine den prak- tischen Egoismus ergänzende Geisteshaltung. Aus diesem Grund schätzt Marx auch die verändernde Kraft eines moralischen Prinzips als »ohnmäch- tiges Moralgebot«32 ein, das nicht in der Lage ist, die soziale Realität zu ver- ändern. So ist damit der materielle Interessensgegensatz nicht relativiert, sondern wird stattdessen um eine neue Betrachtungsweise ergänzt: Die antagonisti- schen Interessen werden unter dem höheren Gesichtspunkt der Rücksicht betrachtet. Für die grundlegendste Bedingung der eigenen Interessensverfol- gung, den Austausch der Waren, wird der Rücksicht eine höhere Bedeutung zugesprochen. Die eigenen Interessen zurückzustellen, bekommt eine posi- tive Wertung, und die eigenen Interessen ohne Rücksicht auf andere zu ver- folgen, wird negativ betrachtet. Wenn diese Rücksicht geübt wird, dann ist die essentielle Bedingung jedes kapitalistischen Akteurs erfüllt, dass bürger- liche Beziehungen überhaupt eingegangen werden können. Moral als der höhere Wert des Altruismus existiert somit als gemeinsames Interesse aller kapitalistischen Akteure, deren Handeln zugleich stets vom praktisch egoistischen Privatinteresse geleitet ist. Moral existiert somit zunächst einmal als Forderung, dass Rücksicht geübt werden soll. In dieser Forderung ist jedoch auch die Vorstellung eingeschlossen, dass der kapitalis- tische Gegensatz durch gegenseitige Rücksicht zu transzendieren sei. In die- ser Vorstellung fällt der Gegensatz in die Entscheidungshoheit der Indivi- duen und wird verharmlost. Demzufolge sei Moral ideologisch.

31 Ebd. 32 Ebd., S. 238.

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Fazit

Der Marx’sche Moralbegriff ist damit rekonstruiert: Die Aufgabe des eigenen Interesses zugunsten des anderen ist notwendige Bedingung für die eigene Existenz – und erhält daher eine Wertung eigener Art. Sie wird nicht unter instrumentellen Gesichtspunkten betrachtet, also unter Maßgabe der eige- nen Nutzenserwägungen beurteilt, sondern ihr wird aufgrund der essentiel- len Relevanz für die eigene Existenz ein übergeordneter Wert zugesprochen. Diese Art des Urteilens ist für Marx die Moral, die Rücksicht ist ihr wesent- licher Maßstab. Ohne diese Rücksicht ist das bürgerliche Individuum nichts, daher muss sie einen höheren Wert haben, als bloß funktional auf ein be- stimmtes Bedürfnis bezogen zu sein. Sie hat eine höhere Stellung, eine ei- gene Dignität, die für jeden gelten muss, der in dieser Ordnung sein Inter- esse verfolgt, denn auch der andere ist abhängig von dem Interesse seines Gegenübers. Die Bewertung von Rücksicht als höherer Wert ist damit ein ge- meinschaftliches Bewusstsein der feindlich sich gegenüberstehenden kapita- listischen Interessen. Der Gegensatz von Privatinteresse und allgemeinem wird somit einerseits beständig praktisch vernichtet, indem die zwingend notwendige Rücksichtslosigkeit der Wareneigentümer praktisch wird und das allgemeine Interesse, die Rücknahme des eigenen Interesses zugunsten eines anderen, keine Wirklichkeit wird. Andererseits wird mit der Vernich- tung des ideellen Gegensatzes von allgemeinem Interesse und Privatinteresse durch die Praxis des Privatinteresses dieser Gegensatz jedoch beständig re- produziert, da das Privatinteresse das allgemeine Interesse nach Rücksicht stets erneut hervorbringt. Dieses habe rein ideellen Charakter. Was die klassi- schen Ökonomen als Förderung des allgemeinen Interesses durch die Verfol- gung kapitalistischer Privatinteressen darstellen, sei bloß die Reproduktion des Kapitalverhältnisses und damit die Perpetuierung ihres Gegensatzes. »Wenn es heißt, daß innerhalb der freien Conkurrenz die Individuen rein ihrem Privatinteresse folgend das gemeinschaftliche oder rather allgemeine Interesse verwirklichen, so heißt das nichts, als daß sie unter den Bedingun- gen der kapitalistischen Production auf einander pressen und daher ihr Ge- genstoß selbst nur die Wiedererzeugung der Bedingungen ist, unter denen diese Wechselwirkung statt findet.«33 Erst mit der materiellen Vernichtung des Gegensatzes der Individuen ver- schwinden demnach der ideelle Gegensatz von allgemeinem Interesse und Privatinteresse und damit auch der Gegensatz von Altruismus und Egois- mus.

33 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Zweiter Teil. In: MEGA 2, Bd. II/1.2, Berlin(Ost) 1981, S. 537.

79 TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:13 Uhr Seite 80 TEIL 1_JB_bis s. 210_K:Texte 31_Krämer.qxd 25.01.2012 12:13 Uhr Seite 81

TRANSFORMATION VON STAATLICHKEIT

Alke Jenss

Zurück nach rechts. Transformation von Staatlichkeit unter neoliberaler Globalisierungsprozesse in Kolumbien und Mexiko

In Kolumbien und Mexiko haben die Umstrukturierungen der letzten Jahr- zehnte und die entstandenen sozialen Polarisierungen zum Erstarken einer »neuen Rechten« geführt. Mehr noch: »The presidents of Mexico and Colom- bia, Felipe Calderón and Álvaro Uribe, represent a phenomenon belonging to another era: the conversion of the right wing into an ultra-right allied with the armed forces or with paramilitaries«.1 Eine massive Krise wird in Mexiko wahrgenommen, seit die Regierung einen ›Krieg gegen die Drogen‹ verkün- det hat, in dem offensichtlich Teile der Netzwerke, über die Kokain vertrie- ben wird, bekämpft werden und der im Jahr 2010, wie das Präsidentenamt veröffentlichte, 15 000 Tote gefordert hat.2 Immer wieder ist die Rede von der Kolumbianisierung Mexikos; manche WissenschaftlerInnen vergleichen die Situation mit der in Kolumbien Anfang der 1990er Jahre.3 Solche Schlag- worte können der Komplexität der Entwicklungen allerdings kaum gerecht werden. Dennoch sind gerade diese beiden Länder interessant, weil sie zwar auf eine sehr unterschiedliche Geschichte verweisen, jetzt aber eine Relati- vierung historischer Legate stattfindet, die über die aktuelle Konjunktur hin- ausweist.4 Die Arbeit will die Art der Rekonfiguration von Staatlichkeit in Mexiko und Kolumbien analysieren und herausfinden, wie diese Entwicklungen

1 Raúl Zibechi: The new Latin American Right: Finding a Place in the World. In: North American Congress on Latin America (NACLA), 41, Nr. 1, 2008. 2 Vgl. Pablo Ordaz: Más de 15.000 personas murieron en México en 2010 a causa del »narco«, ELPAÍS.com, Januar 12, 2011. http://www.elpais.com (http://tinyurl.com/5r9n2n7; 29.01.2011). 3 Vgl. Fernando Escalante Gonzalbo: ¿ Puede México ser Colombia ? Violencia, narcotráfico y Estado, Nueva Sociedad, Nr. 220, 2009, S. 84-96; Vanda Felbab-Brown: The Violent Drug Market in Mexico and Lessons from Colombia, 2009. 4 Während in der Geschichte Mexikos die Entwicklungsparadigmen zwischen nationalistischen und welt- marktorientierten Projekten zu schwanken schienen, war in Kolumbien ein rohstoff- und weltmarktorien- tiertes vorherrschend.

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sich unterscheiden. Für einen umfassenden Überblick über die Veränderun- gen ist es notwendig, zunächst ein Verständnis von Staatlichkeit in Latein- amerika zu entwickeln und dabei die historisch unterschiedlichen Prozesse der Konstituierung des Staates und etwaige Verschiebungen in der Anord- nung einzelner staatlicher Apparate und Institutionen, die Art der Einbin- dung in den Weltmarkt sowie gewandelte Sozialstrukturen zu berücksichti- gen. Hierauf wird sich der vorliegende Beitrag konzentrieren.

Theoretische Zugänge

Unter der Frage, wie Staatlichkeit in postkolonialen Gesellschaften unter- sucht werden kann, möchte ich verschiedene Ansätze von Staatstheorien daraufhin überprüfen, was sie für die Analyse von Staaten im globalen Sü- den leisten können. Ein an materialistischen Staatstheorien orientiertes Staatsverständnis ist am ehesten in der Lage, die unterschiedlichen, sich ver- ändernden Kräfteverhältnisse innerhalb der jeweiligen Gesellschaft sowie die Bedingungen der Konstitution des Staates sichtbar zu machen; es spart also auch die Prozesshaftigkeit und zu beobachtende Widersprüche und mögliche Transformationen von Staatlichkeit nicht aus: Es geht um ein Kon- zept, das mit Nicos Poulantzas den Staat als »spezifische Verdichtung eines Kräfteverhältnisses«5 begreift und berücksichtigt, dass Staaten sich »inner- halb gewisser Grenzen transformieren« können.6 Poulantzas gibt eine Determinierung von Staatlichkeit durch die Ökono- mie letztendlich nicht auf. Gleichzeitig bilde der Staat aber eine relative Au- tonomie heraus. Der Staat ist in diesem Verständnis keine neutrale Einrich- tung, aber auch kein reines Instrument der herrschenden Klassen: Die Beherrschten sind eingebunden und finden sich innerhalb der Staatsappa- rate wieder: »Der Staat […] steht in einem engen Verhältnis zur Gesellschaft und kann daher nur mit dieser zusammen und den dort sich verschiebenden Kräfteverhältnissen und Strukturen analysiert werden. Er bildet aber auch eine eigene Materialität bzw. Apparatur heraus. […] Staat ist also weder eine neutrale und zweckrationale Instanz noch das ›Instrument‹ der herrschen- den Klasse[n], sondern die spezifische und materielle Verdichtung gesell- schaftlicher Kräfteverhältnisse [...], was bedeutet, dass sich darin zuvorderst die dominanten gesellschaftlichen Interessen materialisieren, aber nicht nur ausschließlich diese«.7

5 Nicos Poulantzas: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus, Hamburg 2002, S. 159. 6 Raul Zelik: Die kolumbianischen Paramilitärs. Terroristische Formen der Inneren Sicherheit, Münster 2009, S. 155. 7 Ulrich Brand: Die Internationalisierung des Staates. In: Kapitalistische Entwicklung in Nord und Süd. Handel, Geld, Arbeit, Staat, hrsg. von Joachim Becker u. a., Wien 2007, S. 264 f.; Poulantzas 2002 (s. Anm. 5), S. 159.

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Bob Jessop knüpft an Poulantzas’ Überlegungen an, versucht in seinem strategisch-relationalen Ansatz aber struktur- und handlungsorientierte An- sätze stärker zu vermitteln. Die Kohärenz gesellschaftlicher Konfigurationen und deren Stabilität sind zeitlich begrenzt.8 Es gibt keine »Theorie des Staates in der Peripherie«. Sowohl Poulantzas als auch Jessop konzentrieren sich auf Staaten des metropolitanen Raums; immer wieder stößt man mit diesen Konzepten an deren Grenzen, versucht man sie für postkoloniale Staaten zu »übertragen«9. Wenn auch die Erfah- rung der Kolonialherrschaft ein gemeinsames Merkmal ist, sind die konkreten Ausformungen von Staatlichkeit doch kaum zu vereinheitlichen. Gleichzeitig spielen manche Merkmale sowohl für den »Süden« wie für Zentrumsstaaten eine Rolle, umso mehr aus der »Peripherie« bekannte »Symptome« beson- ders ab den 1970er Jahren im »Zentrum« nun ebenfalls sichtbar werden. Poulantzas findet zudem keine Perspektive, die gender und race als gleich- berechtigte Strukturierungskategorien behandelt.10 Die Ansätze zweier AutorInnen, die zur vielfältigen lateinamerikanischen Debatte um Staatstheorie beigetragen haben, werden deshalb exemplarisch skizziert: René Zavaleta, bolivianischer Theoretiker der 1960er und 70er Jahre, sowie Mabel Thwaites Rey als Vertreterin der in den letzten Jahren wieder aufgenommenen Diskussion. Als wichtiger lateinamerikanischer »Vermittler« gramscianischer Ansätze zeichnet Erster sich besonders da- durch aus, dass er versuchte, marxistische Überlegungen und die Kategorien Gramscis in den lateinamerikanischen Kontext zu »übersetzen«. Zavaleta wehrte sich gegen eine schematische Übernahme des Marxismus und for- derte dessen kritische Aneignung durch die lateinamerikanische Linke. Die Realität sei nicht zu reduzieren auf vorgefertigte Schemata; es gehe darum, die »Grenzen der Anwendbarkeit [marxistischer Ansätze] explizit zu ma- chen«. Er war weder mit einer eurozentrischen Übertragung der Konzepte auf die Peripherie zufrieden, noch wollte er rein empirische Analysen, die die Besonderheiten des lateinamerikanischen Kontextes überbetont hätten. In Lateinamerika war die Entwicklung eines Staatsapparates mit den Un- abhängigkeitskämpfen gegen Spanien und Portugal verbunden. Ein erstes Element für die Analyse sei daher der sozioökonomische Rückstand durch

8 Vgl. Bob Jessop: State Power, Cambridge 2008; ders.: Kapitalistischer Staatstyp und autoritärer Etatismus. In: Poulantzas lesen, hrsg. von Lars Bretthauer u. a., Hamburg 2006, S. 51. 9 Das weberianische Idealbild des Staates, aus spezifischen historischen Bedingungen bei der Konstitution des bürgerlichen Nationalstaates in Europa entstanden, bildet nur die Folie für die Diskussion, weil staatli- che »Formen« (Institutionen, Territorialgrenzen) übernommen wurden. Die historische Entstehungsge- schichte postkolonialer Staaten ist eine andere. Daher geht es gerade nicht um »schwache« oder »zerfal- lende« Staaten (weil staatliche Hoheitsfunktionen nicht oder nur teilweise erfüllt werden). Denn dann würden periphere Staaten nur in (negativer) Abweichung vom Ideal analysiert. Im schlimmsten Fall legiti- miert diese ahistorische Perspektive »westliche«, unter Umständen militärische Interventionen. 10 Vgl. Jörg Nowak: Geschlecht, Politik und Arbeitsteilung. Eine Integration marxistischer und feministischer Staatstheorien, Dissertation, ISS Manuskript-Version, 2009.

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die in der internationalen Arbeitsteilung zugewiesene Rolle (der Kapitalis- mus sei eher von außen vorangetrieben als aus inneren Widersprüchen ent- standen). Somit fungiere der Staat als bedeutender Impulsgeber für Entwick- lung und die Produktion einer kollektiven Identität. Der Staat sei nicht nur ein Spiegel des Ökonomischen; tatsächlich sei die Beziehung zwischen Poli- tik und Ökonomie von gegenseitiger Bedingung und reziproker Strukturie- rung geprägt, »wenn auch in letzter Instanz die Determinierung, in globalem Maßstab, vom Weltmarkt ausgegangen sei«11. Als ergänzende Kategorie führt Zavaleta den Begriff des momento constitutivo ein, ein Moment, das eine relativ langfristige, spezifische Form der Artikulation zwischen Staat und Gesellschaft in Gang setze und einen gemeinsamen Sinnhorizont begründe. Zusätzlich betont Zavaleta explizit die ethnischen Spaltungslinien, die in La- teinamerika unübersehbar seien und dazu führten, dass eine teilweise illuso- rische Herrschaft – ohne Hegemonie – über kulturell völlig diverse Bevölke- rungen ausgeübt werde. Seit einigen Jahren wird in Lateinamerika an diese Debatte angeknüpft. Mabel Thwaites Rey stellt, veränderte Abhängigkeitsmuster mit einbezie- hend, die Frage, wie man sich dem Problem des »peripheren« Staates ange- sichts neoliberaler Globalisierungsprozesse theoretisch-methodisch nähern könne. Man müsse das gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis analysieren, das sich in den staatlichen Strukturen ausdrückt und »unter heutigen histori- schen Umständen nichts anderes ist als ein kapitalistisches«12. Thwaites be- tont, dass etwa Jessop Veränderungen feststellt (relativer Verlust der Eigen- ständigkeit bei der Regulation von Akkumulation im nationalen Raum, weniger Spielraum für staatliche Interventionen), die für postkoloniale Staa- ten kaum eine qualitative Neuerung darstellen. Es können globale Tenden- zen analysiert werden; dies nehme einen aber nicht davon aus, zu untersu- chen, wie diese sich in einer Gesellschaft materialisieren, ihre historische Form annehmen. Die »neoliberale Globalisierung« bezeichnet Thwaites als »brutale Diszi- plinierungsstrategie«13, die aktiv (auch von Regierungen postkolonialer Staa- ten) vorangetrieben wurde. Die Unterordnung der jeweiligen heimischen Wirtschaft unter die Anforderungen der Weltwirtschaft wurde erreicht: »Es ist offensichtlich geworden, wie Globalisierungsmechanismen die Peripherie mittels neuer Ausbeutungsformen einbinden, nun als ›Bedingungen‹, die er- füllt werden müssen, damit Kredite bewilligt und Schulden refinanziert wer-

11 Hernán Ouvina: Traducción y Nacionalización del marxismo en América Latina. Un acercamiento al pensa- miento político de René Zavaleta. In: OSAL (Buenos Aires: CLACSO), XI, Nr. 28, 2010, S. 193-207; René Zavaleta: El Estado en América Latina, La Paz 1990. 12 Mabel Thwaites Rey: Después de la globalización neoliberal: Qué Estado en América Latina? In: OSAL (Buenos Aires: CLACSO), XI, Nr. 27, 2010, S. 38; Mabel Thwaites Rey: El Estado en debate: de transiciones y contradicciones. In: Crítica y Emancipación II, Nr. 4, Revistas OSAL, 2010, S. 9-24. 13 Thwaites Rey: Después de la globalización neoliberal: Qué Estado en América Latina?, S. 32.

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den«14. Die unausweichlichen Krisen und Restrukturierungen der kapitalisti- schen Weltwirtschaft und die veränderlichen Formen, die das globale Kapi- tal annimmt, haben unterschiedliche Auswirkungen auf unterschiedliche Länder, je nach deren historisch bedingter Verortung und Entwicklung: Es gibt demnach zwischen der allgemeinen herrschenden kapitalistischen Produktionsweise und den Besonderheiten der Wirtschaft jedes Staates ein konstitutives Spannungsverhältnis. Thwaites denkt insofern theoretische Annäherung, Transformationen durch weltweite Globalisierungsprozesse und spezifische Bedingungen in der Peripherie zusammen. »Interne« und »externe« Aspekte wirken aufeinander, weisen aber eigene Ausdifferenzie- rungen auf. Es festigen sich deshalb globale Steuerungsstrukturen zur Regulierung des Welthandels, »die einen disziplinierenden Zwang auf nationale Gesell- schaftsformen ausüben«15. Der radikale Umbau der Regulierung von Finanz- märkten, Welthandel und weltweiter Produktion haben zu gewandelten Ab- hängigkeitsmustern geführt, die Eingang in eine Analyse des Staates finden müssen. Dennoch ist es die Konfiguration der gesellschaftlichen Kräftever- hältnisse, die bestimmt, wie sich diese globalen Bedingungen jeweils auswir- ken. Insofern bleibt nur, die Konfiguration spezifischer Staaten im Kontext globaler Herrschaftsbeziehungen zu untersuchen: Es sind historisch-spezifi- sche Analysen von Staatlichkeit und deren Wandel.16 Orientiert man sich an Jessops Analyserahmen von sechs Dimensionen, erfordern folgende Bereiche eine genauere Betrachtung: Formen der politi- schen Repräsentation und Artikulation; die Vermittlung verschiedener Ebe- nen im institutionellen Ensemble »Staat« und die Beziehung zu anderen (etwa Anordnung der Staatsapparate); die Interventionsmechanismen des Staates; politische Projekte und Forderungen verschiedener Kräfte; wenn vorhanden ein vorherrschendes Staatsprojekt, mit dem versucht wird, eine relative Einheitlichkeit innerhalb der staatlichen Aktivitäten durchzusetzen; hegemoniale Vorstellungen (politisch, moralisch, intellektuell), die zur Stüt- zung oder Veränderung eines solchen Projekts und Ensembles beitragen.17 Ulrich Brand weist darauf hin, dass diese staatstheoretischen Überlegun- gen um diskurstheoretische, skalentheoretische, postkoloniale Ansätze und

14 Ebd., S. 27. 15 Stefan Schmalz: Brasilien in der Weltwirtschaft. Die Regierung Lula und die neue Süd-Süd-Kooperation, Münster 2008, S. 39 f.; vgl. Thwaites Rey 2010 (s. Anm. 12). 16 Vgl. Jessop 2008 (s. Anm. 8). 17 Vgl. Bob Jessop: Der strategisch-relationale Ansatz der Staatstheorie in der Südperspektive. In: Hans-Jürgen Burchardt: Nord-Süd-Beziehungen im Umbruch. Neue Perspektiven auf Staat und Demokratie in der Welt- politik, Frankfurt am Main, New York 2009, S. 75 ff. – Mögliche konkretere Fragen entwickelten Rolf Hanisch und Rainer Tetzlaff 1981; sie fragen nach Formen von Herrschaft und Mitteln des Staates (Zwangs- mittel und Repression oder Integration, Kooptation), dem Klassencharakter, aber auch nach Steuerungska- pazitäten des Staates. – Vgl. Rolf Hanisch; Rainer Tetzlaff: Der Staat in Entwicklungsländern als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung. In: Dies. (Hrsg): Staat und Entwicklung. Studien zum Verhältnis von Herrschaft und Gesellschaft in Entwicklungsländern, Frankfurt am Main 1981, S. 19 ff.

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Ansätze der Kritischen Internationalen Politischen Ökonomie erweitert wor- den sind und eine permanente Beschäftigung mit unterschiedlichen Zugän- gen erforderlich bleibt.18 Beispielsweise knüpfen die Konzepte der Interna- tionalisierung des Staates und der veränderten räumlichen Selektivität an die staatstheoretischen Überlegungen an: Im Zuge der Krise des Fordismus habe sich eine Internationalisierung des Staates ergeben, die Brand, Chris- toph Görg und Markus Wissen in Anlehnung an Poulantzas als »Verdich- tung zweiter Ordnung« bezeichnen. Bestimmte Funktionen staatlichen Han- delns verlagern sich auf die internationale Ebene, und die Reorganisation von Regulation wirkt auf unterschiedlichen Ebenen in den Nationalstaat ein. Der internationalisierte Staat soll diese Verhältnisse dauerhaft absichern, bleibt als nationalstaatlich fragmentierter Raum allerdings erhalten. Zudem verändere sich die »räumliche Selektivität«20 des Staates, die Art und Weise, in der staatliche Politik auf unterschiedliche Räume abzielt. Da- bei handelt es sich nicht um einfaches upscaling oder downscaling (gedacht als Verschiebung von Entscheidungszentren auf die supra- oder subnationale Ebene). Der rekonfigurierte (National-)Staat bleibt in diesem Konzept zen- tral: Vielmehr werden subnationale Räume mittels politischer Strategien in supranationalen Akkumulationskreisläufen zu positionieren versucht.

Koloniale Legate

Der spanischen Kolonialherrschaft war der Aufbau umfassender zentral- staatlicher Strukturen kein prioritäres Ziel. Vielmehr ging es um die Garan- tie, dass genügend Rohstoffe für die europäischen Wirtschaften sichergestellt werden konnten. Später kamen die Erschließung von Absatzmärkten sowie die Möglichkeit hinzu, leere Räume zur Aufnahme von Auswanderern und zur Nahrungsmittelproduktion zu nutzen.21 So präsentiert sich häufig ein von der spanischen Kolonialherrschaft ererbtes fragmentiertes Gebilde, in dem sich der Zentralstaat immer wieder mit regionalen Caudillos arrangieren und mit diesen verhandeln muss. Wurden diese in Mexiko über ein Staats- parteiensystem eingebunden, so institutionalisierte in Kolumbien das Zwei- parteiensystem der Konservativen und Liberalen diese Klientelbeziehungen.

18 Vgl. Ulrich Brand: Globalisierung als Krise des Fordismus und ihrer Überwindung. Poulantzas’ Überlegun- gen zur Internationalisierung von Politik und Ökonomie. In: Alex Demirovic; Serhat Karakayali; Stephan Adolphs (Hrsg): Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas. Der Staat als gesellschaftliches Verhältnis, Ba- den-Baden 2010. 19 Ulrich Brand; Christoph Görg; Markus Wissen: Verdichtungen zweiter Ordnung Die Internationalisierung des Staates aus einer neo-poulantzianischen Perspektive. In: Prokla, Nr. 2, 2007, S. 217-234. 20 Neil Brenner: New State Spaces. Urban Governance and the rescaling of Statehood, Oxford 2004. 21 Vgl. Inés Izaguirre; Zoltan Szankay: Klassen und soziale Schichten in Lateinamerika. In: Klaus Meschkat; Oskar Negt (Hrsg.): Gesellschaftsstrukturen, Frankfurt am Main 1973, S. 272.

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Private Herrschaft war und ist in Gebieten, die keine Enklaven, sondern Teil eines fragmentierten Gesamtzusammenhangs sind, über lange Zeit die Norm.22 Da Zentralstaat und intermediäre Herrscher kooperieren, existiert gleichsam eine »Dopplung der Kontrollorgane«23 mit gegenseitiger Durch- dringung. Als recht stabile binnenmarktorientierte Phase kann die Zeit von etwa 1930 bis Ende der 1970er Jahre bezeichnet werden, in der häufig importsubs- tituierende Industrialisierung in Verbindung mit populistischen Entwick- lungsprogrammen betrieben wurde. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 intervenierte der Staat stärker in das Wirtschaftsgeschehen, nachdem auch durch die beiden Weltkriege Importe wegfielen und in der beginnenden In- dustrialisierung die Entwicklung einer kleinen Arbeiterschaft sowie eine größere politische Mobilisierung der Bevölkerung ermöglicht wurden. Es konnten mehr sozialpolitische Leistungen bereitgestellt werden. Allerdings gab es in Lateinamerika keine »revolutionäre Industriebourgeoisie, die den Wachstumsprozess vorangetrieben […] hätte, wie das in Europa der Fall war«24. Die Phase war denn auch von inkohärenter Politik geprägt. Das ISI- Modell erschöpfte sich angesichts der andauernden Importabhängigkeit von Kapitalgütern in den 1960er bzw. 70er Jahren. Die Sozialstruktur war dementsprechend in den 1970er Jahren noch im- mer von einer Landoligarchie und einer relativ starken auf den Export aus- gerichteten Handelsbourgeoisie geprägt.25 Die Diskussionen um Agrarrefor- men ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der postkolonialen Gesellschaften in Lateinamerika. Nach der Schuldenkrise der 1980er Jahre in Lateinamerika sollten die von IWF und Weltbank geforderte Liberalisierung, Privatisierung von staatlichen Unternehmen und Dienstleistungen sowie Deregulierung, die besonders seit den 1980er Jahren als Bedingungen an die Vergabe von internationalen Krediten geknüpft wurden und damit die Aus- richtung der sogenannten Strukturanpassungsprogramme bestimmten, vor allem monetäre Stabilität und ausländische Direktinvestitionen bewirken. Die soziale Polarisierung wurde dadurch noch verstärkt.26 In Lateinamerika lassen sich seitdem massive sozialstrukturelle Veränderungen beobachten: wachsende informelle Sektoren, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und teilweise Deindustrialisierung. Besonders Investitionen in Bodenschätze ver-

22 Vgl. Fernán E González; Ingrid J Bolívar; Teófilo Vázquez: Violencia Política en Colombia – De la nación fragmentada a la construcción del Estado, Bogotá 2002, S. 266. 23 Gerhard Hauck: Schwache Staaten? Überlegungen zu einer fragwürdigen entwicklungspolitischen Katego- rie. In: Peripherie 24, Nr. 96, 2004, S. 414 ff. 24 Izaguirre; Szankay 1973 (s. Anm. 21), S. 276; vgl. Dieter Boris: Staatlichkeit in der Peripherie. In: Joachim Becker u. a. (Hrsg.): Kapitalistische Entwicklung in Nord und Süd. Handel, Geld, Arbeit, Staat, Wien 2007, S. 252. 25 Vgl. Izaguirre; Szankay 1973 (s. Anm. 21), S. 278. 26 Vgl. Alejandro Portes; Kelly Hoffman: Latin American Class Structures. Their composition and change du- ring the neoliberal era. In: Latin American Research Review, 38, Nr. 1, 2003, S. 41-82.

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suchen die Regierungen anzulocken. In den Ländern, in denen sich eine nen- nenswerte Mittelklasse entwickelt hatte, verkleinerte sich diese zum Teil er- heblich. Seit den 1980er Jahren hat sich das kontinuierlich übernommene »brüchige« Gewaltmonopol angesichts der Abgabe staatlicher Hoheitsfunk- tionen an private Akteure noch verschärft.

Politische Gewalt in Kolumbien

Formalrechtlich ist Kolumbien seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Zentral- staat. Bereits geographisch durch drei Andenketten getrennt, gibt es den- noch regional stark segmentierte Binnenmärkte, die selbst heute außenorien- tiert sind. Maßnahmen zur Integration breiter Bevölkerungsteile wurden immer wieder massiv von den herrschenden Sektoren, vor allem von großen Agrarproduzenten, bekämpft, wenn diese sich bedroht fühlten: »these Groups were and remained sceptical of the state’s capability and willingness to protect their class interests«27. Die herrschenden Klassen waren in der Ge- schichte Kolumbiens allerdings nicht außergewöhnlich stark; keine Fraktion konnte je als hegemonial bezeichnet werden.28 Der regelmäßige Einsatz repressiver Mittel war und ist damit nur konsequent: Phasen exzessiver Ge- walt (z. B. la violencia 1948–1958) und relativer Stabilität (Koalition der Natio- nalen Einheit 1958–1974) wechselten sich ab. Der Staat selbst, bzw. be- stimmte Fraktionen innerhalb der Staatsapparate, hat die Gewaltausübung immer wieder an paramilitärische Akteure ausgelagert.29 Das Militär genießt große Autonomie und bestimmt die Sicherheitspolitik des Staates entschei- dend mit. Symptom der rigiden Strukturen ist der seit fünf Jahrzehnten an- dauernde Bürgerkrieg. Unter diesen Voraussetzungen sind ab den 1980er Jahren neue wirtschaft- lich und politisch bedeutende Fraktionen aus den Regionen des Landes in die herrschenden Klassen aufgestiegen, die mit der Expansion des Para- militarismus eng verbunden sind und sich unter anderem mit Geldwäsche durch Landkauf und Vertreibungen von Bauern ungeheure Flächen angeeig- net haben. Eine massive Gegenlandreform war die Folge; der die Ungleich- verteilung von Land messende Gini-Index beträgt in ländlichen Gebieten in- zwischen etwa 0,875.30 Die clase emergente ist demnach Ergebnis der Symbiose zwischen Netzwerken des Drogenhandels und regional verankerten parami-

27 Nazih Richani: Systems of Violence. The Political Economy of war and peace in Colombia, State University of New York series in Global Politics, Albany 2002, S. 406. 28 Vgl. Marco Palacios: Estado y clases sociales en Colombia, Nueva biblioteca colombiana de cultura. Serie breve, Bogotá 1986, S. 91. 29 Vgl. insbesondere Zelik 2009 (s. Anm. 6). 30 Vgl. Darío A. Fajardo Montana: Tierras, justicia y paz en Colombia. In: Ensayos Críticos, Nr. 6, de Espacio Crítico Centro de Estudios, 2010, S. 17 (espaciocritico.com).

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litärischen Gruppen, die sich zunehmend auf der politischen Bühne des Zen- tralstaats artikuliert. Kapitalakkumulation aus legalen und illegalen Quellen (Kokainhandel oder Smaragdschmuggel) ermöglichte ihr die Modernisie- rung der Wirtschaft, die Veränderung der Produktionsbeziehungen und die Konsolidierung eines regionalen Entwicklungsmodells, das mit dem Welt- markt verbunden ist.31 Wie die Nationale Steuerbehörde zugeben musste, finden massive Devisenzuflüsse außerhalb der öffentlichen Register statt.32 Bei den ausländischen Direktinvestitionen stand 2008 das karibische Steuer- paradies Anguila an zweiter Stelle. Diese Kombination von Kriegsherren, Gewaltunternehmern, politisch Mächtigen und legalen Unternehmern hat zu einem bemerkenswerten poli- tischen Wandel geführt und die traditionellen politischen Eliten teilweise er- setzt. Kolumbianische SozialwissenschaftlerInnen sprechen daher von einer Paramilitarisierung und »Narkotisierung« der Politik. In den letzten Jahren habe eine Re-Institutionalisierung des Paramilitarismus stattgefunden: Das Militär übernimmt zuvor an Terrorschwadrone ausgelagerte Aufgaben.33 Gleichzeitig sind diese Kräfteverhältnisse keineswegs zementiert, einzelne staatliche Stellen stehen miteinander in Konflikt. Während der Präsident- schaft von Álvaro Uribe Vélez (2002–2010) zeigte sich an den massiven Pro- blemen zwischen Exekutive und Teilen der Judikative, dass immer wieder Krisen zwischen dieser clase emergente und den traditionellen Fraktionen der herrschenden Klasse auftreten. Aus dem festgefügten Zweiparteiensystem hat sich eine unübersichtliche Vielfältigkeit entwickelt, in der viele kleinere Parteien inzwischen eher als micro-empresas electorales, als Mini-Unterneh- men zur Stimmenbeschaffung bei Wahlen gesehen werden.34

Mexikanische Entwicklung

In Mexiko ist der symbolische Bezug zur Revolution von 1910 bemerkens- wert. Obwohl man nicht von einer einzelnen Umsturzbewegung sprechen kann, sondern diverse Aufstände in verschiedenen Regionen unterschiedli- chen Ausgang nahmen, waren die Veränderungen, die sich zur Diktatur von Porfirio Díaz ergaben, doch weitreichend: Die Gewaltapparate wurden zer- stört, Besitz der ehemals Herrschenden konfisziert. Eine der wichtigsten Än-

31 Vgl. Carlos Medina Gallego: El narco-paramilitarismo – Lógicas y procesos en el desarrollo de un capita- lismo criminal. In: Capitalismo Criminal. Ensayos Críticos, hrsg. von Jairo Estrada Álvarez, Bd. 03, Bogotá 2008, S. 135. 32 Vgl. José G Aristizábal: Metamorfosis. Guerra, Estado y globalización en Colombia, Bogotá 2007, S. 138. 33 Vgl. Álvaro Camacho Guizado: De Narcos, Paracracias y Mafias. In: Francisco Leal Buitrago (Hrsg.): En la Encrucijada. Colombia en el siglo XXI., Bogotá 2006, S. 411; vgl. Francisco Leal Buitrago: Siete Tesis sobre el relevo de las Élites políticas – Seven Thesis on the Replacement of Political Elites. In: Colombia Internacio- nal, Nr. 66, 2007, S. 196-199. 34 Vgl. Daniel Pécaut: Tradición liberal, autoridad y autoritarismo. In: Revista Política 42, 2004, S. 67.

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derungen war der Umbau des Musters landwirtschaftlichen Besitzes und der Produktion hin zum sogenannten Ejido-System. Bereits in der »revolu- tionären Verfassung« von 1917 wurde diese Forderung Emiliano Zapatas festgeschrieben. Erst in den 1930er Jahren wurden jedoch unter dem linkspo- pulistischen Präsidenten Lázaro Cárdenas 18 Millionen Hektar enteignet und in den Gemeinde-basierten Landbesitz überführt. Ziele der Verfassung waren der Abbau des Großgrundbesitzes, die Verstaatlichung der Wasser- quellen und des Bodens Mexikos. Die Partei der Institutionellen Revolution (PRI) und deren Vorgängerorgani- sationen konnten seit den 1930er Jahren bis zum Jahr 2000 ein Staatsparteien- system institutionalisieren, das zwar keine besonders demokratischen Züge aufwies und nicht partizipativ war, aber in seiner korporativen Kontrolle der Massengewerkschaften und organisierten Bauernschaft über einen langen Zeitraum für viele gesellschaftliche Gruppen integrativ wirkte. Dieter Boris und Albert Sterr sprechen von einem »durchaus inklusiven Korporatis- mus«35. Die politische Partizipation von Bäuerinnen und Bauern sowie Ar- beiterInnen wurde erweitert, allerdings auch innerhalb des PRI-Systems kanalisiert.36 Stabilität und politische Dynamiken in der staatlichen Funk- tionslogik stützten sich auf den Tausch von (materiellen) Zugeständnissen – etwa der tatsächlichen relativen Umverteilung von Grund und Boden im Ejido-System und der Möglichkeit gewerkschaftlicher Organisierung – ge- gen politische Unterordnung. Im strengen Wortsinn war die PRI in dieser Zeit weniger eine politische Partei als vielmehr eine Zentralagentur, die den mexikanischen Staat als Ganzen verkörperte. Das mächtige Präsidentenamt, das als Institution praktisch über der Verfassung stand, war integrativer Be- standteil des Modells.37 Territoriale Kontrolle wurde in permanenter Aus- handlung über lokale und regionale Caudillos als eine Art »politische Arbeit- steilung« ausgeübt. Die metropolitane Modernisierungskoalition formulierte Entwicklungsstrategien, während die lokal verankerten Herrschaftsgruppen sich im Tausch für relative Autonomie um ländliche Gegenden kümmerten.38 Innerhalb eines im Grunde fordistischen Entwicklungsparadigmas sorgte die Nationalisierung des Erdölsektors 1938 zudem für Kapital, das in Infra- struktur, nationale Industrie etc. investiert werden konnte. Die lange Phase relativer Stabilität der PRI – in der zwischen Repression, Konzessionen und teilweisen Partizipationsmöglichkeiten austariert wurde – wird kaum ange- zweifelt. Lorenzo Meyer ist der Ansicht, die aus dem Porfiriat bekannten au-

35 Dieter Boris; Albert Sterr: FOXtrott in Mexiko – Demokratisierung oder Neopopulismus?, Köln 2002, S. 23. 36 Vgl. Rhina Roux: El Prínicipe Mexicano. Subalternidad, Historia y Estado, México D.F. 2005, S. 173 ff. 37 Vgl. Gerardo Ávalos Tenorio: El Estado mexicano en disolución. In: Metapolítica, Nr. 66, September 2009, S. 62-67. 38 Vgl. Marianne Braig; Markus-Michael Müller: Das politische System Mexikos. In: Stefan Rinke; Klaus Stüwe (Hrsg.): Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika. Eine Einführung, Wiesbaden 2008, S. 390-416, hier: S. 391.

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toritären Strukturen des politischen Systems seien modifiziert, aber keines- wegs durchbrochen oder aufgelöst worden. Dennoch konnte die PRI sich lange Zeit als die Organisation präsentieren, die alle Erfolge der Revolution in sich vereine.39 Der Konsens fiel auseinander, spätestens als sich Anfang der 1980er Jahre mit den massiven Auslandsschulden des Staates und den fallenden Ölprei- sen die Krise des Fordismus in Mexiko bemerkbar machte. Wirtschaftspoliti- sche Maßnahmen wirkten nun widersprüchlich (wie die ein Jahrzehnt später wieder aufgegebene Verstaatlichung der Banken) bzw. entsprachen immer mehr einem weltmarktorientierten, neoliberal-technokratischen Denken. Der Unmut der Bevölkerung speiste sich nicht nur aus dem »Anstieg der Ar- beitslosigkeit, Stagnation oder Fall der Realeinkommen«, »sondern die spe- zifische Leistung des ›revolutionären Regimes‹, im Prinzip jedem in Mexiko ein Stück Land, einen Schulplatz, Trinkwasser, Krankenversorgung, eine Wohnung etc. in Aussicht zu stellen (›Faktor Hoffnung‹), [wurde] fast voll- ständig infrage gestellt«40. Die autoritären Elemente der Herrschaft waren immer sichtbarer geworden, etwa in der Erschießung von demonstrierenden Studierenden in Mexico City 1968. Veränderungen in den Sozialstrukturen wie eine urbane, immer ausdifferenziertere Mittelschicht, die bessere Bil- dung der Bevölkerung erforderten Veränderungen im politischen System, die allerdings nur sehr langsam vorgenommen wurden. Immer häufiger näherte sich die PRI den Positionen regionaler Caudillos, UnternehmerInnen und des Klerus an.41 Öffentliche Güter wurden privatisiert. Damit sind nicht nur Medien, Na- turressourcen und Transportmittel (Straßen, Häfen, Flughäfen) gemeint, son- dern auch Finanzdienstleistungen oder Pensionsmodelle. Zudem wurde das Bildungssystem auf allen Ebenen restrukturiert. Ein bedeutendes Strukturie- rungsmerkmal ist die Modifikation von Landbesitz und deren Festschrei- bung in Artikel 27 der Verfassung. Die Unveräußerlichkeit des Ejido-Landes wurde aufgehoben, sogenannte Assoziationen mit Unternehmen können ge- schlossen werden; Land wird in marktförmige Prozesse einbezogen. Laut Rhina Roux beinhaltet die untergeordnete Integration in wirtschaftlich-pro- duktive Projekte wie den Nordamerikanischen Freihandelsvertrag (NAFTA) auch eine militärische Dimension (z. B. werden über Verträge wie die Mérida-Initiative und deren Vorläufer finanzielle Mittel und Ausrüstung für das mexikanische Militär bereitgestellt).42 Roux’ Analyse gemäß ist eine neue finanzmarktorientierte Fraktion der herrschenden Klassen entstanden, die

39 Vgl. Lorenzo Meyer: Liberalismo Autoritario. Las contradicciones del sistema político mexicano, México D.F. 1995; vgl. Boris; Sterr 2002 (s. Anm. 35); Ávalos Tenorio 2009 (s. Anm. 37). 40 Boris; Sterr 2002 (s. Anm. 35), S. 25. 41 Vgl. Braig; Müller 2008 (s. Anm. 38); Roux 2005 (s. Anm. 36). 42 Vgl. ebd., S. 227 ff.

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die traditionelle mexikanische Industriebourgeoisie, Kleinunternehmer und Grundbesitzer überflügelt habe. Dies verändert nicht nur die Positionierung politischer, parteinaher Kräfte, sondern die gesamte Gesellschaft.43 Inzwi- schen ist das Einparteiensystem aufgebrochen: Im Jahr 2000 musste die PRI erstmal die Präsidentschaft der lange Zeit einzigen einflussreichen, unter- nehmens- und kirchennahen Oppositionspartei PAN überlassen. Die massive Militarisierung im Rahmen des war on drugs hat nicht zu ei- ner Beruhigung der Lebenssituation der Bevölkerung beigetragen, sondern zu vermehrter Unsicherheit. Das Militär übernimmt Polizeiaufgaben.44 Da- mit einhergehend wird allerdings eine drastische Zunahme von Menschen- rechtsverletzungen durch staatliche Instanzen beobachtet. Die Regionen der Militarisierung entsprechen nicht unbedingt denen der Aktivitäten des Dro- genhandels, die größere Militärpräsenz ist vielmehr in Chiapas und Guer- rero spürbar, wo seit Jahren sozialer Protest geübt wird.45 Zum einen sind die Regionen ressourcenreich. Ein weiterer Grund für das Engagement im Sü- den ist die »Sicherung der Grenze« nach Guatemala (»Plan Sur«), um die Mi- gration aus Zentralamerika in die USA zu begrenzen. Der Beitritt zum NAFTA hat viele Kleinbauern in Mexiko in die Wanderarbeit gezwungen.46 Eine der größten grenzüberschreitenden Wanderbewegungen der Welt fin- det von Mexiko und Zentralamerika in die USA statt. Viele Familien in den Herkunftsländern decken essentielle Ausgaben über Rücküberweisungen von Angehörigen ab, die ohne Papiere in den USA (oder Europa) arbeiten. Gleichzeitig hatten 2008 die ausländischen Direktinvestitionen nach Mexiko neue Rekordwerte erreicht.47

Schlussfolgerungen

Es kann angenommen werden, dass es zu einem sowohl für Kolumbien wie auch für Mexiko ungünstigen Zusammenspiel von externen und internen Faktoren mit weitreichenden Konsequenzen für die Ausgestaltung von Staatlichkeit gekommen ist. Es haben sich Sozialstrukturverschiebungen und Veränderungen in der Anordnung der Staatsapparate ergeben. In Ko-

43 Vgl. ebd., S. 229; vgl. Karen Imhof: Verschuldung, Finanzkrise und die Etablierung neoliberaler Hegemonie in Mexiko. In: Karen Imhof u. a. (Hrsg.): Geld Macht Krise. Finanzmärkte und neoliberale Herrschaft, Wien 2003, S. 89-114. 44 Vgl. Ávalos Tenorio 2009 (s. Anm. 37). 45 Etwa als 1994 am Tag des Inkrafttretens des NAFTA die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) ihren bewaffneten Aufstand begann oder die Proteste in Oaxaca, die trotz massiv repressiven Vorgehens von staatlicher Seite über Monate aufrechterhalten werden konnten. Vgl. Braig; Müller 2008 (s. Anm. 38). 46 Vgl. Todd Miller: Mexico’s Emerging Narco-State. In: NACLA, 2009; Mónica Serrano: The Armed Branch of the State: Civil-Military Relations in Mexico. In: Journal of Latin American Studies 27, Nr. 2, 1995, S. 423-448. 47 Vgl. Ulrich Umann: Mexiko attraktiv für ausländische Direktinvestitionen, bfai, Lateinamerika-Konferenz der deutschen Wirtschaft, Juni 18, 2008. http://www. lateinamerika-konferenz.de (http://tinyurl.com/3q74opt; 22.05.2011).

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lumbien und Mexiko bestimmen Gelder aus dem Drogenhandel durch die in den letzten Jahrzehnten immer mehr gelockerten internationalen Kapitalver- kehrskontrollen und Freihandelsabkommen massiv auch die legale Wirt- schaft. Wirtschaftspolitische Maßnahmen werden militärisch abgesichert (Wettbewerb um Kapitalzuflüsse, Reduzierung staatlicher Interventions- möglichkeiten, Privatisierung staatlicher Unternehmen). Dies hat in Staaten des globalen Südens angesichts der Vorbedingungen (ohnehin schwache fis- kalische Basis, spezifische Wirtschaftsstruktur, spezifische Einbindung in den Weltmarkt, geringe Legitimation demokratisch-repräsentativer Organe bzw. Entscheidungen an ihnen vorbei, das vormals festgefügte Parteien- system ist in beiden Ländern aufgebrochen) noch grundsätzlichere Auswir- kungen. Brüche in den Staatsapparaten bzw. ein verschobenes Gefüge der- selben werden sichtbar; damit gestaltet sich auch der Zugang zu Entschei- dungszentren (Partizipation, Parteiensystem) anders. Kontinuitäten finden sich bei der Exklusion bestimmter Gruppen vom politischen Prozess und dem Fortbestehen, wenn auch teilweisen Umgestaltung, autoritärer politi- scher Systeme. Gerade die finanzmarktorientierten Kräfte konnten die neoliberale Aus- richtung (schwache staatliche Regulation, weitere wirtschaftliche Öffnung ab den 1980er Jahren) nutzen und trieben diese voran. Es scheint allerdings, dass die Restrukturierung von Wirtschaft und Herrschaft, wo sie umkämpft ist, auch mit gewaltsamen Mitteln vorangetrieben wird. Insofern nutzt die Deregulierung internationaler Kapitalflüsse auch mafiösen Gruppen. Ein Beispiel ist das in Kolumbien seit den 1970er Jahren bestehende ventanilla siniestra (das »unheilvolle Fensterchen«), das einen halblegalen Zugang etwa für aus dem Kokainhandel erwirtschaftetes Kapital zur Zentralbank bot.48 Heute sind legale und illegale Wirtschaft eng miteinander verschränkt. Um den Kollaps staatlicher Strukturen geht es dabei nicht. Es wird ein Produk- tionsmodell konsolidiert, das auf kapital- und technologie-intensiven Expor- ten der Agroindustrie und der Ausbeutung bzw. dem Export von Bodenschät- zen beruht und damit die gewaltsame Aneignung von Land mit einschließt und begünstigt. Gewaltsame Vertreibungen sind damit diesem Modell inhärent.49 Entscheidend ist, dass Gebiete, die zuvor über lange Zeiträume marginalisiert waren, heute aktiv in Weltmarktzusammenhänge einbezogen werden, sei es wegen neuer Funde von Bodenschätzen wie Kohle und Öl oder neuer Formen der Agrarnutzung (Monokulturen zur Produktion von »Biokraftstoffen«). Beispiele sind das südliche Mexiko oder die kolumbiani- sche Pazifikregion.

48 Vgl. Richani 2002 (s. Anm. 27), S. 102; Ciro Krauthausen: Moderne Gewalten: Organisierte Kriminalität in Kolumbien und Italien, Frankfurt am Main, New York 1997. 49 Vgl. Arturo Escobar: Displacement, development and modernity in the Colombian Pacific. In: Social Sciences, 2003, S. 157-167.

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Inwiefern sich diese Beobachtungen gegebenenfalls unterschiedlich aus- differenzieren, welche spezifischen Akteure und Dynamiken entscheidend sind, bleibt zu untersuchen. Dennoch geht dies über die Wandlung eines Entwicklungsparadigmas hinaus und präsentiert sich als Transformation staatlicher Herrschaft, die in der Art und Weise, wie Herrschaft und Partizi- pation organisiert werden, und in der Gewichtung einzelner Staatsapparate unter anderem dem gleicht, was Poulantzas den »Autoritären Etatismus« nannte.50 Der Zugang zu politischen Entscheidungszentren und politischer Artikulation geschieht auf direkterem Weg, nicht (mehr) über Massenorgani- sationen. Legitimation wird häufig über assistenzialistische Transferpro- gramme und regierungsnahe Medienberichterstattung erreicht. Die traditio- nellen Repräsentationsorgane sind nicht mehr in der Lage, Erwartungen zu kanalisieren. Bedeutungssteigerung haben eine von parlamentarischer Kon- trolle unabhängige Zentralbank und die Finanzministerien erfahren.51 In bei- den Ländern scheinen die Strategien seit Anfang der 2000er Jahre streng neo- liberal, weltmarktorientiert und investitionsfreundlich ausgerichtet zu sein. Die von den USA unterstützten Maßnahmen im Zusammenhang des Plan Colombia oder der Mérida-Initiative gehen weit über die »Drogenbekämp- fung« hinaus. Die Länder sind in der Region die bevorzugten Empfänger von Militärhilfe aus den USA. Mittels Zusatzverträgen wie ASPAN werden Investitionsgarantien, Militärkooperationen und Handelspolitik bewusst miteinander verknüpft. Die Regierungspolitik wird dabei von aggressiven öffentlichen (Un-)Sicherheitsdiskursen untermauert: BürgerInnen seien »less inclined to claim his or her rights politically and more prone to ›voluntary obedience‹ in return for protection«52. Das Militär sichert vielmehr struktu- relle Veränderungen in der Wirtschaftspolitik (prioritär der Wettbewerb um Direktinvestitionen) und einen damit artikulierten Umbau des Staates ab. Der sogenannte war on drugs, counterinsurgency-Strategien und die Kriminali- sierung gesellschaftlichen Protests gehen Hand in Hand. So wird die Stär- kung bestimmter Machtgruppen sichtbar, die mit spezifischen Wirtschafts- beziehungen sowie globalen Herrschaftskonfigurationen verknüpft bzw. in diese eingebettet sind.

50 Vgl. Poulantzas 2002 (s. Anm. 5). 51 Vgl. Miriam Heigl: Der Staat in der Privatisierung. Eine strategisch-relationale Analyse am Beispiel Mexikos, Baden-Baden 2009. 52 Cristina Rojas: Securing the State and Developing Social Insecurities: the securitisation of citizenship in con- temporary Colombia«. In: Third World Quarterly 30, Nr. 1, 2009, S. 229.

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Isabella Margerita Radhuber

Die indigenen Rechte im bolivianischen Wirtschaftsmodell. Eine Analyse ausgehend von der Erdgaspolitik

Einleitung

In Bolivien findet seit dem Jahr 2000 ein bedeutender Wandel in den Kräfte- verhältnissen in Gesellschaft und Staat statt, im Zuge dessen indigene und kleinbäuerliche Gruppierungen einen erheblichen Machtzuwachs verzeich- nen. Nach den Wahlen 2002 zogen erstmals in der Geschichte Boliviens indi- gene Vertreter_innen als Abgeordnete ins Parlament ein, und seit 2006 am- tiert Evo Morales von der Partei Movimiento al Socialismo (MAS) als erster indigener Präsident in der Geschichte Boliviens. Dieser Wandel fand nicht wie gewöhnlich durch die Machtübernahme einer anderen Partei und auch nicht durch das in Lateinamerika traditionsreiche Mittel einer Revolution statt; es handelte sich vielmehr um einen Wandel auf Basis von Entwicklun- gen in der Zivilgesellschaft. Wenn vormals Unternehmenskörperschaften und andere Zusammenschlüsse der dominanten Klasse direkte Kontrolle über den Staat ausübten, so kann aktuell vielmehr davon gesprochen wer- den, dass bäuerliche Gewerkschaften, Versammlungen und Vereinigungen indigener Völker sowie diverse Formen der zivilen und politischen Organi- sation, vor allem im Bereich der Arbeiterschaft, Veränderungen auf der Ebene der Regierung und Modifikationen der Staatsform erzeugen.1 Bolivien erbte eine koloniale Sozialstruktur, in der die vermeintliche Ras- senzugehörigkeit grundlegende soziale Differenzierungskategorie war und somit über die Inklusion und Exklusion im Staat entschied.2 Dies führte ins- besondere zu einem lang andauernden Ausschluss der indigenen Bevölke- rungsmehrheit3 aus der öffentlichen und staatlichen Sphäre. Die im Staat und in der Zivilgesellschaf gültigen Normen und Regeln, welche sich unter

1 Diese Feststellung bezieht sich in erster Linie auf die zentralisierten staatlichen Instanzen, da in den Depar- tements die politischen Kräfteverhältnisse unterschiedlich ausfallen. Vgl. Luis Tapia: El Estado en condicio- nes de abigarramiento. In: Álvaro García; Luis Tapia; Raúl Prada; Oscar Vega: El Estado.Campo de lucha, La Paz 2010, S. 127. Auf Deutsch im Erscheinen in: Ulrich Brand; Almut Schilling-Vacaflor; Isabella Radhuber: Plurinationale Demokratie in Bolivien. Gesellschaftliche und staatliche Transformationen, Münster 2012. 2 Vgl. Álvaro García Linera: Estado Plurinacional. In: Álvaro García; Luis Tapia; Raúl Prada; Oscar Vega: La transformación pluralista del Estado, La Paz 2007, S. 21. 3 Die indigene Bevölkerung stellt in Bolivien die Mehrheit dar. Nach dem Nationalen Statistikinstitut identifi- zieren sich in der Volkszählung von 2001 62 % der Bevölkerung als einer indigenen Kultur zugehörig. Von diesen 5 064 992 Personen identifizieren sich 30,71 % als indigen quechua, 24,23 % als indigen aymara, 1,55 % als indigen guaraní, 2,22 % als indigen chiquitano, 0,85 % als indigen mojeño und 1,49 % als indigen einer an- derer Kultur, während sich 37,95 % der gesamten Bevölkerung nicht als Teil einer indigenen Kultur fühlen.

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anderem in den Gesetzen materialisieren, wurden also von der dominanten Kultur als das institutionalisierte Öffentliche etabliert und waren Teil dieser kolonialen Machtbeziehungen.4 In Bolivien ist dieser neoliberale und neo- koloniale Einheitsstaat5 heute in einer Krise. Der bolivianische Staat befindet sich aktuell in einem Transformationsprozess. In Bolivien identifizieren sich – wie bereits erwähnt – 62 Prozent der gesamten Bevölkerung als einer indi- genen Kultur zugehörig. Die Indigenen stellen also die Bevölkerungsmehr- heit, die sich aus einer Vielzahl von sogenannten Völkern und Nationen6 zu- sammensetzt. In der Verfassung von 2009 findet sich zwar keine genaue Zahl der in Bolivien existenten Völker und Nationen, es werden in ihr aber 36 offi- zielle Amtssprachen anerkannt.7 Daher wird von der Konstruktion eines plu- rinationalen Staates gesprochen, der inzwischen auch verfassungsrechtlich als solcher verankert ist.8 Der gesellschaftliche – kulturelle, linguistische, po- litische und ökonomische – Pluralismus soll im Sinne einer Demokratisie- rung im politischen System anerkannt und verankert werden. Die Veränderungen des Staates können auf zwei Dimensionen verortet werden: Erstens geht es um eine wirtschaftliche und politische Machtumver- teilung auf nationaler Ebene und zweitens um eine Neupositionierung im internationalen wirtschaftlichen und politischen Kontext. Allgemein setzt sich im internationalen Kontext zunehmend eine Stärkung der transnationa- len Rechte über natürliche Ressourcen durch. Bolivien ist ein Beispiel für eine gegenläufige Tendenz, da hier eine Stärkung der bolivianischen Akteure und des Staates gegenüber den inter- und transnationalen Interessen zu ver- zeichnen ist. Dabei stellt sich die Frage, ob im Rahmen des aktuellen Demo- kratisierungsprozesses dieses Erstarken des Staates auch gleichzeitig eine Stärkung der indigenen Rechte bedeutet. In Bolivien – und grundsätzlich in Lateinamerika – organisier(t)en sich Staat und Gesellschaft stets rund um die Aneignung und Kontrolle der natürlichen Ressourcen.9 Angesichts der zentralen Bedeutung dieser Fragen analysiere ich die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft beziehungs- weise zwischen Staat und indigener Bevölkerung anhand der Erdgaspoli- tik.10 Die zentrale Frage, der in diesem Artikel nachgegangen werden soll,

4 Vgl. Luis Tapia: La invención del núcleo común. Ciudadanía y gobierno multisocietal., La Paz 2006, S. 6. 5 Unter neokolonialem Einheitsstaat wird hier die uninationale, monokulturelle und monolinguale Staatsform verstanden, welche der Heterogenität der bolivianischen Gesellschaft nicht entspricht. 6 Verfassung; Estado Plurinacional de Bolivia: Constitución política del Estado. Vicepresidencia del Estado Plurinacional. Presidencia de la Asamblea Legislativa Plurinacional. Texto aprobado en el Referéndum Con- stituyente de enero de 2009, Art. 1. 7 Verfassung 2009 (s. Anm. 6), Art. 2. 8 Verfassung 2009 (s. Anm. 6), Art. 5. 9 Vgl. Tapia 2006 (s. Anm. 5), S. 29.; siehe dazu auch Isabella M. Radhuber: Die Macht des Landes. Der aktuelle Agrardiskurs in Bolivien – eine Analyse der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Vorstellungen sowie der Machtbeziehungen, Investigaciones, Arbeitsgemeinschaft Österreichische Lateinamerikaforschung, Wien 2009; siehe dazu auch: Anthony Bebbington: La nueva extracción: ¿se recibe la ecología política de los Andes? In: UMBRALES 20. Revista del Postgrado en Ciencias del Desarrollo: Hidrocarburos, política y so- ciedad, La Paz, 2010, S. 189 f.

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lautet demnach: Wie kann die Beziehung zwischen Staat und indigenen Völ- kern in Bolivien, ausgehend von den natürlichen Ressourcen, begriffen wer- den? Handelt es sich um eine egalitäre Beziehung oder vielmehr um eine Unterdrückung der Mehrheit durch die Minderheit? Dazu soll die Rolle der Erdgaspolitik im aktuellen Wirtschafts- und Staatsmodell den spezifischen indigenen Rechten in den Erdgas-Gesetzen gegenübergestellt werden.

Die neue Erdgaspolitik als materielle Basis der bolivianischen Staates

In Bolivien befand sich die Produktionskette von Erdöl und -gas während 60 Jahren (1936–1996) unter staatlicher Kontrolle, vertreten durch die staat- liche Erdgasfirma »Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos« (YPFB).11 Ab 1985 trat ein neuer rechtlicher Rahmen in Kraft, der durch Privatisierung, De- regulierung und neue Verträge mit multilateralen Mechanismen wie der Welt- bank, dem Internationalen Währungsfonds, der interamerikanischen Entwick- lungsbank und der »Corporación Andina de Fomento« (CAF) ein günstiges Umfeld für nationale und ausländische private Unternehmen schuf. Die neuen Gesetze und Dekrete traten insbesondere Besitzrechte an trans- nationale Unternehmen ab. Es wurde aber kein Anstieg in den Direktinvesti- tionen verzeichnet, weder kamen die Einnahmen der Erdöl- und Erdgasför- derung noch der Lösung der zentralen Probleme der Bevölkerung zu12, die zu einem großen Teil in extremer Armut lebte. Dies führte in der Bevölke- rung zu einer hohen Frustration, die sich im Rahmen erheblicher sozialer Mobilisierungen ab der Jahrtausendwende ausdrückte. Diese kulminierten im sogenannten Gaskrieg 2003 – im Rahmen dieser Mobilisierung und der sogenannten Oktober-Agenda wurden insbesondere die Verstaatlichung der Erdgasproduktion und die Einberufung einer verfassunggebenden Ver- sammlung gefordert – und trieben den damaligen Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada in die Flucht. Die gesellschaftliche Forderung einer Ver- staatlichung der Erdgasproduktionskette und der Kommerzialisierung des Rohstoffs wurde dabei so stark, dass sie als konstitutiv für den Gemeinsinn13 der bolivianischen Bevölkerung begriffen werden kann.14

10 Das Erdgas stellt momentan die wichtigste natürliche Ressource Boliviens dar. 11 Vgl. Fundación Milenio Serie: Temas de la modernización. Las reformas estructurales en Bolivia, La Paz 1998, S. 81; siehe dazu auch Mirko Orgáz García: El gas en la historia de Bolivia. In: Dinámica económica. Nueva época. Revista especializada del Instituto de Investigaciones Económicas, UMSA Año 9 No 11, 2002, S. 309 ff. 12 Vgl. Carlos Villegas Quiroga: Privatización de la industria petrolera en Bolivia. Trayectoría y efectos tributa- rios, La Paz 2004, S. 51-112; siehe dazu auch Luis Alberto Echazú A.: El gas … NO se regala, La Paz 2003, S. 88-105. 13 Der Begriff Gemeinsinn stellt die Übersetzung der Autorin des spanischen »sentido común« dar. 14 Vgl. UNDP Bolivia: Informe Nacional sobre Desarrollo Humano 2007. El estado del Estado en Bolivia, La Paz 2007, S. 52, S. 54, S. 83.

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Den Forderungen Folge leistend wurde die Erdgasproduktion 2007 (nach 1937 und 1969) anhand des obersten Dekretes 28701 »Héroes del Chaco« am 1. Mai 2007 (im Rahmen des Gesetzes 3058 vom Mai 2006) zum dritten Mal verstaatlicht. Es handelte sich um eine konsensorientierte Verstaatlichung, die vor allem auf die Zurückeroberung der Besitzrechte, auf die Kontrolle über die Erdgasproduktionskette und auf einen Anstieg der staatlichen Be- teiligung an den Gewinnen abzielt.15 Gegenwärtig stellt die Rohstoffpolitik, und allem voran die Erdgaspolitik, den bedeutendsten wirtschaftspolitischen Grundpfeiler der Regierung Evo Morales dar; mit der aktuellen Erdgaspolitik und den neuen Kontroll- und Aneignungsmechanismen der Gewinne aus der Rohstoffpolitik soll die Aus- gangsbasis geschaffen werden für eine Industrialisierung, für eine Wirt- schaft, die auf einer breiten Basis ruht, und für die gewünschte integrale Ent- wicklung, welche eine gleichere und gerechtere Verteilung der Reichtümer beinhaltet. Diese orientiert sich, wie im neuen Entwicklungsmodell Boliviens ausgeführt, an der Verbesserung der Lebensqualität aller Bolivianer_innen und zielt auf das »gute Leben«16 in Harmonie mit der Natur.17 Es beabsich- tigt, an der nationalen produktiven Matrix anzusetzen und eine neue boli- vianische Identität und Institutionalität mit Schwerpunktsetzung auf die indigenen gemeinschaftlichen Organisationsform zu schaffen.18 Das Ideal eines pluralen Wirtschaftsmodells, das eine egalitäre Beziehung zwischen den unterschiedlichen Wirtschaftsformen Boliviens anstrebt, kann als Versuch der wirtschaftlichen Dekolonisierung Boliviens verstanden wer- den. Diese Wirtschaftsformen sind in der neuen Verfassung erstmals als »ge- meinschaftliche, staatliche, private und sozial-kooperative wirtschaftliche Organisationsformen« festgeschrieben,19 und insbesondere dem Staat kommt die inzwischen verfassungsrechtlich verankerte Aufgabe zu, die gemein-

15 Vgl. Boliviapress Edición Especial: En el marco de la Ley 3058 se »nacionalizan« los hidrocarburos en Bolivia. In: CEDIB Centro de Documentación e Información Bolivia: Nacionalización de Hidrocarburos en Bolivia. Dossier Hemerográfico. Mayo 2006 – Abril 2007, La Paz 2007, S. 4; vgl. Decreto Supremo 28701. Evo Morales Ayma. Presidente Constitucional de la República. »del Chaco«. http://www.hidrocarburos.gov.bo (http://tinyurl.com/6jz58xh; 07.12.2008); vgl. Ley 3058 del 17 de mayo del 2005. http://www.derechoteca.com/(http://tinyurl.com/3ghvop2; 16.10.2009); vgl. Verfassung 2009 (s. Anm. 6), Art. 359 I.; siehe dazu auch Almut Schilling-Vacaflor: El manejo de los recursos hidrocarburíferos en Bolivia. La nacionalización de los hidrocarburos y las demandas de los pueblos indígenas originarios en un contexto de globalización. In: Bolivian Studies Journal, Volume 13, Latin American and Caribbean Library, Illinois 2006, S. 5-8. 16 Dieses bedeutet nach dem Nationalen Entwicklungsplan den »Zugang zu materiellen Gütern und die effek- tive, subjektive, intellektuelle sowie spirituelle Verwirklichung in Harmonie mit der Natur und in Gemein- schaft mit den anderen Erdenbürgern«; vgl. Nationaler Entwicklungsplan; República de Bolivia; Ministerio de Planificación del Desarrollo; Viceministerio de Planificación y Coordinación: Plan Nacional de Desarrollo. Bolivia Digna, Soberana, Productiva y Democrática para Virir Bien. Lineamientos Estratégicos 2006-2011, La Paz 2007, I. 17 Vgl. Verfassung 2009 (s. Anm. 6), Art. 307 II. 18 Vgl. Nationaler Entwicklungsplan 2007 (s. Anm. 16), I.

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schaftliche Organisationsform zu fördern.20 So sollen Formen und Strukturen aufgebrochen werden, die Unterdrückungsmechanismen nicht nur im natio- nalen, sondern auch im internationalen Kontext widerspiegeln. Die makroökonomischen Daten Boliviens haben sich seit 2005 exponen- tiell verbessert. Das ist in erster Linie auf die Erdgaspolitik zurückzuführen – auf die Verstaatlichung, auf den Anstieg des Weltmarktpreises für Erdgas und auf den Anstieg des Produktions- und Erdgasvolumens.21 Das bolivianische BIP stieg von 9 549 125 267 USD 2005 auf 17 339 992 191 USD 2009 an. Der im bolivianischen Staatsbudget angegebene Schätzwert für 2010 beläuft sich auf 18 215 Mio. USD. Das geplante Staatsbudget hinge- gen betrug 2010 15 137 Mio. USD (105 964,3 Mio. Bolivianos) und hat sich im Vergleich zu 2005 um 160 Prozent erhöht. 22 Die gesamtem Staatseinnahmen aus der Erdgasförderung betrugen von 2001 bis 2005 2 905 Mio. USD, von 2006 bis 2010 hingegen 10 641 Mio. USD.23 2008 etwa machte die Erdgas- förderung 52 Prozent der Staatseinnahmen aus, und der Anteil der Erdgas- einnahmen am BIP hat sich von 2005 bis 2008 fast verdreifacht und erreichte 2008 16,19 Prozent.24 Dieses Wirtschaftswachstum hat sozialpolitische Handlungsspielräume ermöglicht, die der ärmsten Bevölkerung zugutekommen sollen. Direkte Transferleistungen sind der »Bono Juancito Pinto« von jährlich 200 Bolivia- nos25 für Schulkinder, die »Renta Dignidad«, eine Rente in Höhe von 2400 be- ziehungsweise 1800 Bolivianos für über 60-Jährige, und der »Bono Juana Arzuduy«, eine im April 2009 eingeführte Unterstützung für Mütter von 1820 Bolivianos pro Kind. Überdies wird in neue Sozial- und Produktivpro- gramme investiert: Hier sei beispielsweise das Programm »Evo cumple« er- wähnt, im Rahmen dessen von 2006 bis 2009 201,4 Mio. USD in Sport, Bil- dung, Gemeindeausstattung und Basisinfrastruktur investiert wurden, oder die von Juni 2007 bis August 2009 gewährten (Klein-)Kredite der »Banco de Desarrollo Productivo«. Zudem wurde die staatliche Initiative im produkti- ven Sektor verstärkt, etwa durch die Gründung staatlicher Unternehmen in

19 Vgl. Verfassung 2009 (s. Anm. 6), Art. 206 II. 20 Vgl. Verfassung 2009 (s. Anm. 6), Art. 307; vgl.: Regierungsplan; CNE BOLIVIA: Plan de Gobierno del MAS 2010–2015. http://www.cne.org.bo (http://tinyurl.com/64dbc5m; 05.10.2009), S. 55. 21 Zwischen 1999 und 2005 lagen die Exportpreise nach Brasilien durchschnittlich bei 1,7 US-Dollar/MMBTU, im März 2008 wurden 5,5 US-Dollar vereinbart. Für Argentinien wurden die Preise im selben Zeitraum von 2,1 auf 7,9 US-Dollar angehoben. Die Erdgasproduktion stieg von 2000 bis 2007 von 8,92 auf 37,93 m3 pro Tag. Vgl. Isabella Radhuber: Erdgaspolitik und staatliche Reorganisation in Bolivien. In: Tanja Ernst; Stefan Schmalz (Hrsg.): Die Neugründung Boliviens? Die Regierung Morales. Fachreihe Lateinamerika. Baden- Baden 2009, S. 109-123. 22 Vgl. Ministerio de Economía Finanzas Públicas: El crecimiento del PIB para la gestión 2010 será del 4,5 %, 17.12.2009. http://www.economiayfinanzas.gob.bo/ (http://tinyurl.com/42hpq84; 03.01.2011); vgl. World Band Search: GDP Bolivia. http://search.worldbank.org (http://tinyurl.com/3ehuvnw; 02.01.2001). 23 Vgl. Informe del Presidente Evo Morales del 22 de enero del 2011, unveröffentlichtes Dokument, S. 173. 24 Ministerio de Hidrocarburos y Energía. Datos Hidrocarburos (Participación sector público en el PIB), unver- öffentlichtes Dokument, La Paz 2008, S. 12. 25 Bolivianos ist die bolivianische Währung; 1 Euro entsprechen ca. 9,9 Bolivianos; siehe Wechselkurs auf www.xe.com vom 2. April 2011.

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den Bereichen Papier, Zement, Milch, Zucker u. a. Nahrungsmittel, Bergbau, Luftfahrt und Kohlenwasserstoffe (YPFB). Im nichtproduktiven Sektor wur- den die Telekommunikationsfirma ENTEL und die Eisenbahngesellschaft ENDE verstaatlicht. Außerdem interveniert der Staat durch die neuen Bud- getierungen des Staatshaushaltes. Die vorgesehenen öffentlichen Investitio- nen verdoppelten sich von 2008 auf 2009 auf 2 850,76 Mio. US-Dollar. Da- von sind etwa 49,2 Prozent für den produktiven Sektor vorgesehen, für Infrastruktur 30,5 Prozent und für den sozialen Sektor 16,6 Prozent.26 Obwohl die beschriebenen Initiativen messbare positive ökonomische Fakten schaffen, so bleibt vor allem in Bezug auf das neue plurale Wirt- schaftsmodell einiges offen. Neben fehlenden Verwaltungskapazitäten27 und Kontinuitäten früherer Regierungspraktiken wie Korruption stellt sich ins- besondere die Frage, ob es sich nur um eine temporäre Stärkung des Staates handelt oder ob diese langfristig zu einem pluralen und damit auch sozial- gemeinschaftlichen Wirtschaftsmodell führen kann. Zudem ist zu fragen, ob die extraktivistische Logik, die bekanntermaßen große soziale und ökologi- sche Kosten mit sich bringt und außerdem im Widerspruch zur Idee des »guten Lebens« steht, nicht fortgeführt beziehungsweise sogar noch ver- stärkt wird. Zur Annäherung an diese Unklarheiten soll im Folgenden einer spezifischen, aber zentralen Frage nachgegangen werden, nämlich der Reich- weite und der Grenzen der spezifischen indigenen Rechte in der bolivianischen Erd- gasgesetzgebung. Diese Frage wird als zentral erachtet, da in Bolivien der Staat – wie bereits erwähnt – verfassungsrechtlich dazu verpflichtet ist, die indigen-gemeinschaftliche Organisationsform zu stärken, und der Staat aber andererseits – wie dargelegt – seine Staatseinnahmen derzeit zum Großteil aus der Erdgaspolitik bezieht. Die Interventionen zur Erdgasgewinnung auf indigenen Territorien bringen soziale und ökologische Kosten für diese mit sich, woraus hervorgeht, dass es sich bei diesem Thema um ein zentrales Spannungsfeld im aktuellen Transformationsprozess handelt.

Spezifische indigene Rechte in den Erdgasgesetzen

Spezifische Rechte der indigenen Völker in Bolivien sind erst vor kurzem an- erkannt worden. Dieser Prozess begann mit der »Marcha Indígena por el

26 Vgl. Ministerio de Economía y Finanzas, 2009: El nuevo modelo económico y política económica en Bolivia. Foro – Debate UMSA, 30 de Septiembre, La Paz¸ S. 16 ff.; siehe dazu auch: Tanja Ernst; Isabella Radhuber: Indigene Autonomie und Wirtschaftsmodell in Bolivien. In: Luxemburg II, 2009: Umkämpfte Demokratie, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2009, S. 68-75. 27 2008 etwa setzten die Ministerien zwischen 24,4 und 94,5 Prozent ihrer Budgets um, insgesamt wurden ca. 504 Mio. US-Dollar ihrer Budgets nicht investiert. Die staatliche Erdgasfirma YPFB schöpfte nur 40,2 Pro- zent ihres Budgets aus. Vgl. La Prensa 2.3.2009: En 2008, ministerios no pudieron ejecutar unos Bs 3 490 mil- lones. http://www.laprensa.com.bo (http://tinyurl.com/bh2b3m; 02.03.2009).

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Territorio y la Dignidad« 1990. Mittels des Gesetzes 1254 hat Bolivien das Abkommen 169 der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) als Gesetz an- genommen, und 1994 folgte die Deklaration des Staates als multiethnisch und plurikulturell in der Verfassung, die Anerkennung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte der indigenen Völker, des Rechts auf Titulie- rung der sogenannten gemeinschaftlichen indigenen Ländereien (»Tierra Comu- nitaria de Origen« – TCO) und der Nutzung der darin existenten natürlichen Ressourcen (Artikel 1 und 171 der Verfassung)28. Das Erdgasgesetz Nr. 3058 von 2005 ist die erste erdgasbezogene Gesetz- gebung, welche die Rechte der indigenen und originären Gemeinschaften über ihre Territorien berücksichtigt, was entscheidend ist, wenn man beach- tet, dass sich ein guter Teil der Erdöl- und Erdgasgebiete auf als solchen an- erkannten gemeinschaftlichen indigenen Ländereien befindet.29 Eine andere Problematik tut sich auf, wo die Erdgas-Pipelines auf indigenen Territorien konstruiert werden. Die Phasen der Exploration, Perforation, Exploitation und Weiterverarbeitung der Kohlenwasserstoffe ziehen ernste Konsequen- zen für das soziale und kulturelle Leben der Völker mit sich, denn die Terri- torien gelten als Ausgangsbasis für die kulturelle, soziale, religiöse, spiritu- elle, politische und ökonomische Entfaltung der indigenen Gemeinschaften.30 Im Rahmen der großen sozialen Mobilisierungen ab dem Jahr 2000 forder- ten indigene Völker spezifische Rechte, wie etwa das Recht auf vorherige Be- fragung beziehungsweise Veto in Bezug auf die Erdgasförderung in ihren Territorien, ebenso wie eine »Wiedereroberung des Erdgases« seitens des bo- livianischen Staates. Diese Forderungen können als Teil eines »Prozesses der Erweiterung der Organisationsbasis der indigenen Völker und als allmäh- liche Einforderung der im Abkommen 169 der ILO festgesetzten Rechte«31 beschrieben werden. Das Erdgasgesetz Nr. 3058 hat einen großen Teil der Forderungen von indigenen und bäuerlichen Akteuren zu indigenen Rech- ten und Umweltschutz übernommen. Einerseits definiert es die Protagonis- tenrolle des Staates im Erdgassektor, andererseits legt es spezifische Rechte von indigenen Völkern fest.32 Im Titel VII sind folgende spezifische Rechte aufgelistet: »Befragung und Partizipation der bäuerlichen, indigenen und originären Völker« im Hinblick auf Erdgasförderung in ihren Territorien (Kapitel I), diesbezügliche »Kompensationen und Entschädigungen« (Kapi-

28 Vgl. Carlos Romero; Susana Rivero: Hidrocarburos, convulsión social y derechos indígenas en Bolivia. http://observatorioetnico.org (http://tinyurl.com/6gybjb9; 10.09.2008), S. 6. 29 In Bolivien zählte das Unternehmen REPSOL YPF im Jahr 2005 beispielsweise mit 22 Erdölfeldern auf einer Fläche von 4,9 Millionen Hektar, wobei diese 17 Gemeinschaftliche Indigene Ländereien in Amazonien und dem Chaco überlagerten. 30 Siehe dazu Radhuber 2009 (s. Anm. 9) und Carlos Romero: La gestión integrada de los recursos naturales como fundamento de la territorialidad indígena. In: Derechos Humanos y Acción Defensorial. Revista espe- cializada del Defensor del Pueblo de Bolivia: Derechos Indígenas. Año 1 No 1, La Paz 2006. 31 Romero; Rivero 2008 (s. Anm. 28), S. 7. 32 Vgl. Schilling-Vacaflor 2006 (s. Anm. 15), S. 10; vgl. Romero; Rivero 2008 (s. Anm. 28), S. 8-10.

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tel II), die »Unantastbarkeit von heiligen Stätten und Gebieten mit speziel- lem natürlichen oder kulturellen Wert« (Kapitel III) und »Wegerechte« in Fördergebieten (Kapitel IV).33 Damit kann von einer ersten Stufe der Aner- kennung indigener Rechte gegenüber den Erdöl- und Erdgasoperationen ge- sprochen werden.34 Das oberste Dekret Nr. 29033 vom 16. Februar 2007 reglementiert das Be- fragungs- und Partizipationsverfahren für die Einhaltung der Befragung von bäuerlichen und indigenen Völkern.35 Die Befragung wird in zwei Schritten durchgeführt: »Vor der Ausschreibung, Autorisierung, Vertragsabschlie- ßung, Einberufung und Approbierung der Maßnahmen, Werke und Erdgas- projekte« und »Vor der Approbierung der Evaluierungsstudie zu Umwelt- effekten«36; das Verfahren endet in der Erarbeitung eines Dokumentes zur Validierung der Abkommen im Rahmen eines Übereinkommens zwischen der verantwortlichen staatlichen Instanz – des Erdgas- und Energieminis- teriums in Koordination mit dem Vizeministerium für Biodiversität, Forst- wirtschaft und Umwelt und dem Vizeministerium für Land – und den repräsentativen Instanzen der indigenen und bäuerlichen Gemeinschaften. Das oberste Dekret Nr. 29124 vom 9. Mai 2007 ergänzt das oberste Dekret Nr. 29033, indem es unter anderem festsetzt, dass der Prozess zur Befragung und Partizipation von Seiten des entsprechenden Erdgasprojektes bzw. -werkes finanziert wird. Das oberste Dekret Nr. 29574 vom 21. Mai 2008 be- ruft YPFB neben anderen staatlichen Instanzen dazu (abhängig von den Charakteristika des Gebietes, in dem die Aktvität stattfindet), im Prozess zu partizipieren und mitzuhelfen. Außerdem verkürzt es die Fristen für die Be- fragungs- und Partizipationsprozesses auf nicht mehr als zwei Monate für die Ausführung. Im verfassunggebenden Prozess in Bolivien forderten einige indigene Or- ganisationen37 exklusive Besitzrechte über die nicht erneuerbaren natür- lichen Ressourcen auf ihrem Territorium. Das von den zentralen gewerk- schaftlichen und indigenen Organisationen verfasste Grundsatzdokument, der Einheitspakt (»Pacto de Unidad«), formulierte gemeinsame Forderungen und Strategien, die den verfassunggebenden Prozess maßgeblich beeinfluss- ten.38 Hinsichtlich der Selbstbestimmung wird dabei dem »Recht auf Land

33 Vgl. Ley 3058 (s. Anm. 15), S. 63-70; vgl. auch Romero; Rivero 2008 (s. Anm. 28), S. 8-9. 34 Vgl. Romero; Rivero 2008 (s. Anm. 28), S. 9. 35 Vgl. Decreto Supremo 29033 del 16 de febrero de 2007. http://www.derechoteca.com/ (http://tinyurl.com/3hgmojh; 10.09.2008), S. 2-3, hier: S. 7. 36 Vgl. Ley 3058 (s. Anm. 15), Art. 115; vgl. Dekret 29033 (s. Anm. 35), Art. 9. 37 »Manche Organisationen, wie die CONAMAQ (»Consejo Nacional de Ayllus y Markas del Qullasuyu«), die APG (»Asamblea del Pueblo Guaraní«) und die CPEMB (»Confederación de Pueblos Étnicos Mojeños del Beni«) – angeschlossen an die CIDOB (»Confederación Indígena del Oriente Boliviano«) – strebten das Be- sitzrecht oder das Ko-Besitzrecht über die Kohlenwasserstoff-Ressourcen an und das Besitzrecht über die er- neuerbaren Ressourcen.« – Schilling-Vacaflor 2006 (s. Anm. 15). 38 Vgl. Almut Schilling-Vacaflor: Recht als umkämpftes Terrain. Die neue Verfassung und indigene Völker in Bolivien, Baden-Baden 2010.

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und natürliche Ressourcen«39 spezielle Bedeutung beigemessen. In Bezug auf die natürlichen Ressourcen werden im Einheitspakt folgende Forderungen formuliert: Die indigenen und bäuerlichen autonomen Verwaltungen sollen die Administration und nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen gemäß ihren Bräuchen und Gewohnheiten selbst regeln.40 An der Entschei- dungsfindung über den Prozess der Exploration und Exploitation, der Indu- strialisierung und Kommerzialisierung der nicht erneuerbaren Ressourcen, die sich in ihren Territorien befinden, sollen sie partizipieren und ein Befra- gungs- und Vetorecht hinsichtlich der Exploration und Exploitation haben. Darüber hinaus sollen sie gemeinsam mit dem plurinationalen Einheitsstaat die Ressourcen verwalten, an den Gewinnen und an der Kontrolle der Pro- zesse beteiligt sein sowie ein Recht auf Entschädigung haben. Hinzu kommt die vorgesehene allgemeine und direkte Partizipation in der öffentlichen Verwaltung und in der Administration der öffentlichen Institutionen und staatlichen Unternehmen.41 Das Projekt der Neuen Verfassung wurde am 9. Dezember 2007 in Oruro approbiert. Daraufhin wurden im Dialog mit den vor allem oppositionellen Präfekten (bzw. ihren Vertreter_innen) und in einer Arbeitsgruppe des Kon- gresses – in der beträchtliche Kompromisse mit oppositionellen Vertre- ter_innen geschlossen wurden, die bisher eine Blockadepolitik betrieben hat- ten – bis zum 21. Oktober 2008 weitere Änderungen inkorporiert. Am 25. Jänner 2009 wurde die neue Verfassung in einem Referendum mit 61,43 Pro- zent der Stimmen angenommen.42 Die neue Verfassung stellt im Artikel 367 fest, dass sich die Erdgasaktivitäten den staatlichen Entwicklungszielen un- terordnen müssen. Hinsichtlich spezifischer indigener Rechte wird im neuen Verfassungsprojekt mit dem Artikel 362 II. konstitutionalisiert, dass »Ver- träge hinsichtlich Explorations- und Exploitationstätigkeiten von Erdgas eine vorherige Autorisierung und Approbierung durch die plurinationale le-

39 Einheitspakt; Asamblea Nacional de Organizaciones Indígenas Originarias, Campesinas y de Colonizadores de Bolivia: Propuesta para la nueva Constitución Política del Estado, alias Pacto de Unidad, Sucre am 05.08.2006, S. 5. 40 Die Versammlung des Guaraní-Volkes APG (»Asamblea del Pueblo Guaraní«) hat den Vorschlag eingereicht, dass die Kohlenwasserstoffe und Minerale in den indigenen Territorien Kompetenz der indigenen Autono- mien sein müssen und dass diese die nötigen Ressourcen an den Staat vermitteln und erteilen, zugunsten der Gesamtheit der bolivianischen Bevölkerung. Dieser Vorschlag wurde dann vom Einheitspakt übernom- men, in dem niedergeschrieben ist, dass die indigenen originären bäuerlichen Autonomien die Kompetenz haben müssen, die natürlichen Ressourcen (erneuerbar und nicht erneuerbar) in ihren Territorien zu admi- nistrieren, zu nutzen und nachhaltig zu bewirtschaften. Ebenso müssen sie die Befugnis haben, Pläne und Programme des Abbaus mittels eines Befragungs- und Partizipationsprozesses anzunehmen oder abzuleh- nen. Die Indigene Organisation der Chiquitanos OICH (»Organización Indígena Chiquitana«) und das Kol- lektiv der angewandten Studien zur sozialen Entwicklung CEADES (»Colectivo de Estudios Aplicados al Desarrollo Social«) hingegen schlugen eine gemeinsame Administration mit dem zentralen Staat vor. – Vgl. REPAC Representación Presidencial para la Asamblea Constituyente; Vicepresidencia de la República: Asamblea y Proceso Constituyente. Análisis de propuestas para un nuevo tiempo, La Paz 2007, S. 272. 41 Vgl. Einheitspakt 2006 (s. Anm. 39), S. 12 f. 42 Vgl. Corte Nacional Electoral: Referendúm Nacional Constituyente 2009. http://www.cne.org.bo (http://tinyurl.com/63nrxa4; 03.02.2011).

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gislative Versammlung (Parlament) erfordern. Falls diese Autorisierung nicht erlangt wird, sind sie aus vollem Recht heraus für nichtig erklärt, ohne der Notwendigkeit irgendeiner gerichtlichen oder außergerichtlichen Dekla- ration.« Die Zusammensetzung des Parlaments muss die formale Repräsen- tation der indigenen Völker und Nationen und damit auch ihre Mitbestim- mung in der öffentlichen Politik garantieren.43 Nachdem die allgemeine Repräsentation und Mitbestimmung der indi- genen Bevölkerung in der Politik betrachtet wurde, wende ich mich im fol- genden Abschnitt den spezifischen indigenen Rechten zu. In Artikel 3 und Artikel 30 der neuen Verfassung ist festgesetzt, dass nur die indigenen ori- ginären bäuerlichen Völker das Recht auf Selbstbestimmung haben. In Arti- kel 30 II sind unter anderem die Rechte auf Selbstbestimmung und Territo- rialität, auf eigene ihren Kosmovisionen entsprechende administrative, politische, juridische und ökonomische Systeme, auf eigene Institutionen, die Teile des staatlichen Institutionengefüges bilden sollen, auf Konsultation hinsichtlich der Rohstoffförderung auf ihren Territorien und die Teilhabe an den Gewinnen aus der Exploitation der natürlichen Rohstoffe, auf die terri- toriale Verwaltung der neu festgesetzten indigenen Autonomien und den ex- klusiven Nutzen der erneuerbaren natürlichen Ressourcen in ihren Territo- rien sowie auf die Partizipation in staatlichen Organen und Institutionen verankert.44

Schlussfolgerungen

Aus der Darstellung geht hervor, dass die staatlichen Entwicklungsziele klare Priorität vor den spezifischen indigenen Forderungen und Rechten ha- ben – was im Übrigen Staaten mit Regierungen der verschiedensten ideolo- gischen Ausrichtungen in Lateinamerika, wie Ecuador, Peru und Bolivien, gemeinsam haben.45 Die indigenen Völker haben formal das Recht auf Befra- gung und Partizipation, Kompensation und Entschädigung und auf die Un- antastbarkeit ihrer heiligen Stätten sowie jener mit speziellem natürlichen oder kulturellen Wert, was eine erste Anerkennung von indigenen Rechten

43 Hinsichtlich der direkten parlamentarischen Vertretung der indigenen (Minderheits-)Völker Boliviens hatte die indigene Tieflandorganisation CIDOB 18 Abgeordnete und die Hochlandorganisation CONAMAQ 24 Sitze gefordert, die Regierung schlug 14 Sitze vor. Als der Gesetzesvorschlag den Senat passierte, blieben allerdings nurmehr 3 Sitze übrig, was nach den darauffolgenden Verhandlungen auf 7 Sitze (von insgesamt 130 Sitzen) erweitert wurde. Vgl. fmbolivia: Habrá nuevo padrón. 7 curules indígenas y referendo en Chaco14 de Abril de 2009. http://www.fmbolivia.com.bo/ (http://tinyurl.com/3jp4l2c; 15.10.2010). – Ei- nerseits wurde also die formale Direktrepräsentation quantitativ stark reduziert, andererseits sollte betont werden, dass die formale quantitative Repräsentation von vormals ausgeschlossenen sozialen Gruppen noch keine Veränderung in der realen qualitativen Mitbestimmung bedeutet. 44 Vgl. Verfassung 2009 (s. Anm. 6), Art. 30 II. 45 Vgl. Bebbington 2010 (s. Anm. 9), S. 298.

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gegenüber den in den Staaten selbst eingeschriebenen transnationalen Inter- essen darstellt, obgleich für eine Einschätzung der Anwendung und Umset- zung derselben Rechte eine Evaluierung mit den involvierten sozialen Ak- teuren unerlässlich ist. Nichtsdestotrotz wurde den indigenen Völkern kein explizites Recht auf Veto erteilt, was damit begründet wird, dass die Rechte der indigenen Bevölkerungsmehrheit Boliviens als Teil der allgemeinen Staatsinteressen verankert und umgesetzt werden sollen. Es wird versucht, mit diesem Diskurs die Reduzierung spezifischer indigener Rechte teilweise zu legitimieren. Das verdeutlicht insbesondere auch der Artikel 367 der gel- tenden Verfassung, welcher feststellt: »Abbau, Konsum und Kommerziali- sierung des Erdgases und seiner Derivate müssen sich staatlichen Entwick- lungszielen unterordnen, die den internen Konsum garantieren. Der Export der überschüssigen Produktion sichert maximale Gewinne.« Dieselbe Linie – die Priorisierung der staatlichen Entwicklungsziele vor spezifischen indigenen Rechten – findet sich auch in den Festlegungen zum Besitzrecht im Projekt der neuen Verfassung, wobei insbesondere die Kon- trolle und Administration der nicht erneuerbaren natürlichen Ressourcen in indigenen Territorien relevant sind. Das Projekt der neuen Verfassung setzt in ihrem Artikel 359 I fest, dass das »Erdgas in allen seinen Stadien und Formen im unveräußerlichen und unverjährbaren Besitz des bolivianischen Volkes ist. Der Staat, im Namen und als Vertretung des bolivianischen Volkes, übt das Besitzrecht über die Produktion des gesamten Erdgases im Land aus und ist als einziger be- mächtigt, den Rohstoff zu kommerzialisieren. Die Gesamtheit der durch die Kommerzialisierung des Erdgases erhaltenen Einnahmen ist Eigentum des Staates.« Die Kontrolle der nicht erneuerbaren Ressourcen wurde den indigenen Gemeinschaften in der neuen Verfassung demnach nicht zugesprochen. Es kann zusammengefasst werden, dass in Bolivien derzeit ein Prozess stattfindet, der kulturelle Diversität anzuerkennen sucht. Bisher von der Ge- sellschaft ausgeschlossene Gruppen, die sich selbst als Völker und Nationen bezeichnen, sollen mit ihren Kapazitäten der Selbstorganisation und Auto- repräsentation in das staatliche Handeln integriert werden. Dies geht einher mit einem neuen Nationalbewusstsein, welches »vor allem die kollektive Kontrolle der natürlichen Ressourcen mittels des Staates umfasst«. Nicht an- gestrebt wird eine Identitätspolitik, die auf eine imaginierte, aber nicht vor- handene gemeinsame Geschichte etwa im Sinne von Andersons »Imagined Communities«46 aufbaut. Es handelt sich um das Projekt der Schaffung eines plurinationalen Staates ausgehend von der Gesellschaft in ihrer Vielfalt, und

46 Siehe dazu Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationa- lism, London 1993.

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vor allem ihrem indigen-bäuerlichen Kern. Die Erdgaspolitik stellt die mate- rielle Grundlage für die Konstruktion des plurinationalen Staates dar. Beach- tet man die Rolle der strategischen natürlichen Ressourcen und den Kampf um die Verteilung der durch die Rohstoffförderung erzielten Gewinne in der Geschichte Boliviens, so zeigt sich aktuell eine klare Kontinuität der Hierar- chisierung und Priorisierung der staatlichen Entwicklungsziele vor den indi- genen Rechten, die damit gerechtfertigt wird, dass die neuen Ressourcen für alle Bolivianer und Bolivianerinnen auf demokratische und plurale Weise materialisiert werden sollen. Hier wurde argumentiert, dass dies unzurei- chend ist, da stärkere spezifische indigene Rechte notwendig sind, um die Diskriminierungsmechanismen gegenüber den vormals ausgeschlossenen indigenen Gruppen zu beseitigen. Der Fortgang der diesbezüglichen Ent- wicklungen und eine mögliche Stärkung der spezifischen indigenen Rechte werden entscheidend vom Mobilisierungspotential der indigenen und bäu- erlichen Bevölkerung Boliviens abhängen.

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Mike Nagler

Der Einfluss lokaler Eliten auf die Privatisierung kommunaler Leistungen am Beispiel Leipzigs

Die Dissertation widmet sich einem Thema, das seit einigen Jahren auf der politischen Agenda vieler deutscher wie europäischer Städte und Gemein- den ganz weit oben steht – der Privatisierung zentraler Bereiche der allge- meinen Daseinsvorsorge. Ziel der Dissertation ist es, Ursachen, Verlauf und nachfolgende Entwicklungen sowie Tendenzen und Auswirkungen solcher Privatisierungsbestrebungen kritisch nachzuzeichnen, das heißt sie mög- lichst konkret zu beschreiben und vergleichend zu analysieren. Als Untersu- chungsobjekte dienen dabei die Privatisierungsprojekte ausgewählter deut- scher Großstädte in den vergangenen zehn Jahren. Der vorliegende Beitrag bezieht sich vor allem auf die Privatisierungsdebatte in . In Deutschland hat die Selbstverwaltung in Städten und Gemeinden eine lange Geschichte. Die Kommunen haben sich in einem Jahrhunderte andau- ernden Prozess das Recht einer dezentralen und eigenbestimmten Lokalver- waltung erkämpft. Im Grundgesetz und in den Länderverfassungen ist die kommunale Selbstverwaltung festgeschrieben. Freiherr von Stein prägte Anfang des 19. Jahrhunderts den Begriff von der »Schule der Demokratie« und bezog sich damit auf die kommunale Selbstverwaltung, der in der Ge- schichte der Bundesrepublik eine zentrale Rolle zukommt. Öffentliche Güter und Infrastruktur entwickelten sich, und die Städte hatten einen hohen Grad an Unabhängigkeit. Heute trifft dieses theoretisch zwar scheinbar noch im- mer zu, praktisch allerdings ist es so, dass einerseits die Kommunen in den vergangenen Jahren vermehrt mit zusätzlichen Aufgaben belastet wurden, ohne eine entsprechende finanzielle Ausstattung zu erhalten.1 Andererseits führten Gesetzgebungen sowie Unterfinanzierung zu einer schrittweisen Entmachtung der kommunalen Ebene, wodurch den Kommunalpolitike- r_innen heute meist nur noch ein sehr geringer Handlungsspielraum bleibt und somit Entscheidungen bereits vorweggenommen werden. Gleichzeitig lässt sich festhalten, dass auf kommunaler Ebene durchaus Möglichkeiten der direkten demokratischen Einflussnahme durch die Einwohner_innen existieren. Von verschiedenen Beteiligungsverfahren, wie Planungszellen, über Bürgerhaushalte bis hin zu Bürgerbegehren und -entscheiden gibt es –

1 In vielen Städten zeigt sich, dass die Mittelzuweisungen von der Bundesebene im Verlauf der vergangenen Jahre zwar halbwegs stabil geblieben sind, aber aufgrund der zusätzlich übertragenen kostenintensiven Aufgaben, wie bspw. der Kostenübernahme der Unterkunft bei Hartz IV (KdU), Kommunen ihre Aufgaben nicht mehr schultern können.

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in unterschiedlichem Umfang – die Möglichkeit der direkten Partizipation. Aufgrund der Haushaltssituation der Städte und Gemeinden werden diese Möglichkeiten allerdings nicht selten benutzt, um Kürzungen, Schließungen und Privatisierungen durch scheinbar demokratische Prozesse zu legitimie- ren. Auf der kommunalen Ebene existieren also Beteiligungsmöglichkeiten, die aber durch die chronische Unterfinanzierung der Gemeinden nur gerin- gen Gestaltungsspielraum ermöglichen und deshalb selten mehr als Alibi- veranstaltungen darstellen. Das Mittel des Bürgerbegehrens bzw. -entscheids als wirkmächtigstes Instrument direkter Demokratie auf kommunaler Ebene wird – ebenfalls aufgrund der geschilderten Situation – wiederum in den meisten Fällen nur für Abwehrkämpfe genutzt. Auf den übergeordneten Ebenen – Land, Bund und EU – nehmen die Beteiligungsmöglichkeiten mas- siv ab. Auf Bundes- und EU-Ebene gibt es praktisch keine Elemente direkter Demokratie oder direkter Beteiligung, und auch die Möglichkeiten demo- kratischer Kontrolle sind stark begrenzt. Jedoch sind dies die Ebenen, an die in den vergangenen Jahrzehnten nach und nach Kompetenzen der Kommu- nen abgegeben wurden und auf denen sich heute die Macht konzentriert. Auf EU- und Bundesebene wurden und werden Entscheidungen getroffen, die große Auswirkungen auf die kommunale Ebene haben und die in den Kommunen zu Problemen führen, die dort aber nicht gelöst werden können. Dieser Prozess lässt sich als Teil einer schleichenden Entdemokratisierung der gesamten Gesellschaft beschreiben. Seit einigen Jahren geben Kommunen daher vermehrt viele ihrer Aufga- ben und aus der Sozialstaatlichkeit gewachsenen Tätigkeitsfelder an die Pri- vatwirtschaft ab und verkaufen unter anderem Krankenhäuser, Wohnungs- bestände, Nahverkehr, Schulen, Wasser- und Elektrizitätswerke. Auch wenn seit ca. vier Jahren ein nicht zu leugnender Trend in Richtung (Re-)Kommu- nalisierung zu erkennen ist, überwiegen dennoch die kommunalen Privati- sierungsvorhaben durch die marode Kassenlage der Städte und Gemeinden. Die Diskurse um Privatisierungen öffentlicher Bereiche ähneln sich, und hierbei dominieren zwei zentrale Argumentationsmuster. Einerseits kommt oft ein Argumentationsstrang zum Tragen, der grundlegend – und in aller Regel unhinterfragt – davon ausgeht, dass kommunale oder staatliche Un- ternehmen im Vergleich zu privaten Unternehmen generell ineffizienter wirtschaften, da sie nicht in gleichem Maße im freien marktwirtschaftlichen Wettbewerb stehen. Andererseits spielt die schlechte finanzielle Haushalts- lage des Staates und insbesondere der Kommunen eine zentrale Rolle und wird gemeinhin als Hauptgrund für Privatisierungen angeführt. In der Re- gel wird dabei von lokalen Eliten – mit Verweis auf Sachzwänge aufgrund von Haushaltssituationen oder juristischen Gegebenheiten – die Privatisie- rung als alternativlos dargestellt. Diese beiden Argumentationsstränge sind eng miteinander verbunden bzw. bauen aufeinander auf. Hinzu kommt,

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dass es die Überzeugung vieler Politiker_innen ist, dass nur Manager_innen aus der sogenannten »freien Wirtschaft« die öffentlichen Unternehmen auf Effizienz trimmen können und anstatt Bürokratie »echten Service« bieten. Diese Gewissheit hat sich in den letzten Jahren, auch durch entgegengesetzte und ernüchternde Erfahrungen, etwas relativiert. Die Erfahrungen mit Privatisierungen haben auch in Deutschland zuge- nommen, wobei sich in Bevölkerungsumfragen eine negative Tendenz be- züglich der Privatisierung von Bereichen der Daseinsvorsorge abzeichnet.2 Deshalb werden immer wieder neue Begriffe erfunden, die den negativ kon- notierten Begriff Privatisierung ersetzen sollen.3 Es lässt sich sagen, dass durch Privatisierung kommunaler Unternehmen und Betriebe eine Abkopplung von öffentlich-demokratischen Entschei- dungsprozessen stattgefunden hat und stattfindet. Durch diese Entwicklung werden Demokratie und Entscheidungen im Interesse des Gemeinwohls stark behindert, da die demokratisch gewählten Gremien keinen Einfluss mehr auf ein Privatunternehmen haben. Aufgrund politischer Entscheidungen vor allem auf Bundesebene sind die Kommunen in eine schwierige Haushaltssituation gebracht worden. Durch zusätzliche Aufgaben und die u. a. deshalb entstandene chronische Unterfinanzierung wird die Debatte um den Verkauf kommunaler Unter- nehmen ein immer wiederkehrendes Phänomen. An dieser Stelle setzt meine Arbeit an. In einer vergleichenden Untersu- chung bereits vollzogener bzw. nicht erfolgreich zum Abschluss gebrachter Privatisierungsprozesse geht es besonders darum, zu hinterfragen, welche Akteure bzw. Eliten bei der Initiierung, Durchführung und Nachbearbeitung von Privatisierungsprozessen in Erscheinung treten und wie diese die Schritte des Prozesses argumentativ begleiten und zu steuern versuchen. Die entscheidenden zentralen Eliten, die hier betrachtet werden, sind vor allem jene aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Justiz. Darüber hinaus rückt aber auch die Rolle der Medieneliten oder – genereller gesprochen – der Fak- tor Öffentlichkeit in den Fokus. Außerdem ist der Einfluss von Wissen- schaftseliten, etwa im Sinne einer Unterelite, in diesen Prozessen oft nicht unwesentlich. Es gilt aber auch, den Einfluss von Gewerkschaften und Bür- gerinitiativen in den Privatisierungsdebatten zu untersuchen und zu fragen, inwieweit diese eine Elite-Rolle einnehmen. Meine These ist, dass es nicht die Verwaltung, Parteien, Verbände, Medien oder Unternehmen in ihrer Ge-

2 Vgl. dazu u. a. Manfred Güllner: Privatisierung staatlicher Leistungen – Was wollen die Bürger? forsa-Um- frage, Januar 2008. http://www.who-owns-the-world.org/wp/wp-content/uploads/2008/01/forsa.pdf (10.01.2010). 3 So werden beispielsweise, verstärkt vor allem seit 2003, sogenannte »Öffentlich Private Partnerschaften« (ÖPP) bzw. »Public Private Partnerships« (PPP) beworben. Aber auch diese Begriffe haben sich mittlerweile stark abgenutzt, da es eine Vielzahl berechtigter Kritik an diesen Projekten gibt, die für die Kommunen sehr teuer werden können. Vgl. zu PPP: http://www.ppp-irrweg.de (01.03.2011).

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samtheit sind, die diese Prozesse maßgeblich vorantreiben, sondern haupt- berufliche Akteure innerhalb dieser Organisationen, die durch das Amt bzw. die Funktion, die sie innehaben, auf der einen Seite Macht und Einfluss be- sitzen, auf der anderen Seite aber nur sehr eingeschränkten (demokrati- schen) Kontrollen unterliegen. In diesem Beitrag möchte ich – stark verkürzt – die Debatte der letzten Jahre in Leipzig, nur auf die kommunalen Stadtwerke bezogen, wieder- geben. Zur Situation des Haushaltes der Stadt ist vorab festzuhalten, dass der mit Abstand größte Teil des Stadthaushaltes für feststehende Pflichtaufgaben Verwendung findet. Die Ratsmitglieder haben die Möglichkeit, über ca. zehn Prozent des Haushalts mitzuentscheiden, das heißt, die finanziellen Gestal- tungsspielräume der Kommunalpolitik sind begrenzt. Anfang der 1990er Jahre bietet der Energieriese Rheinisch-Westfälische Energiewerke (RWE) dem damaligen Oberbürgermeister (OBM) Hinrich Lehmann-Grube (SPD) an, die Stadt bei der Gründung der Leipziger Stadt- werke (SWL) zu unterstützen und die Stromversorgung zu übernehmen, wenn RWE 40 Prozent der Anteile an den Stadtwerken kaufen könne. Der damalige Geschäftsführer der Stadtwerke empfiehlt zunächst eine Pacht- lösung, um über den Kaufpreis auf Augenhöhe verhandeln zu können. Über diesen kommt schließlich aber keine Einigung zustande. Es folgt einer der spektakulärsten Gerichtsprozesse einer deutschen Großstadt, mit einem Streitwert von 500 Millionen DM, der zwei Jahre dauert. Am Ende bekommt die Stadt das Eigentum an der Stromversorgung mit allen Anlagen und Lei- tungsnetzen zurück. Einige Jahre später, 1998, werden die kommunalen Stadtwerke teilprivati- siert. In der damaligen Debatte sind die beiden eingangs genannten zentra- len Argumentationsstränge von Bedeutung. So wird von Seiten der Befür- worter_innen des Verkaufs aufgrund der maroden finanziellen Haushaltslage argumentiert, die Stadt wolle durch die Privatisierung Schulden abbauen. Außerdem wird der Vorteil eines privaten »strategischen Partners« im libe- ralisierten Energiesektor betont, da kommunale Stadtwerke allein auf dem großen liberalisierten Energiemarkt nicht überstehen könnten. Bei dem Be- schluss handelt es sich um einen zweistufigen Veräußerungsprozess, bei dem zunächst 40 Prozent verkauft werden sollen und eine Option besteht, in den darauffolgenden Jahren von Seiten des Käufers weitere Anteile, insge- samt bis zu 75 Prozent, zu erwerben. Konkret werden dann 40 Prozent der Anteile an die Mitteldeutsche Energieversorgungs-AG (MEAG) veräußert, der damalige Regionalversorger im Raum Halle, obwohl er in der Endrunde des Auswahlverfahrens die Kriterien am schlechtesten erfüllt. Vor allem hat die MEAG keinerlei Erfahrungen im Wettbewerb, obwohl dies nach den Kri- terien des Auswahlverfahrens eines der zentralen Argumente für den Ver-

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kauf darstellt. Wegen der direkt aneinandergrenzenden Versorgungsgebiete hat der Investor auch kein Interesse an einer Stärkung der Stadtwerke Leip- zig. Einzig der Kaufpreis ist ausschlaggebend für die Entscheidung. Dies zeigt, dass das eigentliche zentrale Argument für den Verkauf von Seiten der Kommune nicht der Bedarf eines »strategischen Partners«, sondern die Ver- schuldungssituation bzw. Unterfinanzierung der Stadt ist. Wenige Jahre später wird die MEAG von RWE übernommen. 2003 kauft die Stadt aufgrund von Interessenkonflikten zwischen den privaten und kommunalen Anteilseignern die kompletten Stadtwerke-Anteile unter ho- hen Zusatzkosten im Vergleich zum Verkauf zurück. Möglich wird dies nur durch einen Entscheid des Kartellamtes. Aber die Debatte um Veräußerun- gen kommunaler Unternehmen setzt sich weiter fort. Alle großen kommunalen Unternehmen werden in den folgenden Jahren Gegenstand von Privatisierungsdebatten. Im September 2004 erstellt die In- dustrie- und Handelskammer Leipzig (IHK) ein internes Gutachten, das den Beteiligungsbericht der Stadt Leipzig auswertet. Nach dem Prinzip »Privat hat Vorrang« fordert die Kammer für eine Reihe der kommunalen Unterneh- men und Betriebe die Einschränkung der Geschäftstätigkeit, die (Teil-)Priva- tisierung oder die Auflösung. Nach Ansicht der IHK sollen, insofern bisher Zuschüsse und Bürgschaften für kommunale Unternehmen geleistet wer- den, diese reduziert werden. Zur gleichen Zeit wenden sich die Gewerk- schaft ver.di4, attac5 und der BUND6 mit einem Offenen Brief an die neu- gewählten Mitglieder des Stadtrates. Darin heißt es unter anderem: »Wir hal- ten es für […] wichtig und für eine handlungsfähige Stadt […] lebensnot- wendig, dass sie ihre Aufgaben zur Versorgung mit öffentlichen Dienstlei- stungen der Daseinsvorsorge und zur Bereitstellung der erforderlichen Infrastruktur mit eigenen Mitteln und demokratischer Kontrolle der Bürge- rinnen und Bürger wahrnimmt.«7 In den darauffolgenden Monaten führen Stadträte der Fraktionen SPD, CDU und FDP die unterschiedlichsten Privatisierungsvorschläge von kom- munalen Unternehmen ins Feld. Dabei geht es um die Stadtwerke (SWL), die Wohnungsbaugesellschaft (LWB), die Verkehrsbetriebe (LVB), die Leipziger Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (LVV), das städtische Krankenhaus St. Georg sowie kleinere kommunale Tochterunternehmen. Im Mai 2005 ge-

4 Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) ist eine Mitgliedsgewerkschaft im Deutschen Gewerk- schaftsbund (DGB) mit Sitz in Berlin. 5 Attac (association pour une taxation des transactions financières pour l'aide aux citoyens, dt. »Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger«) ist ein internationales globalisie- rungskritisches Netzwerk. 6 Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) ist eine Umweltschutzorganisation mit Sitz in Deutschland. Der Verein wird auch zu den Naturschutzorganisationen und den Nichtstaatlichen Or- ganisationen gerechnet. 7 Vgl. Offener Brief an die Leipziger Stadträte vom 1. September 2004: http://www.attac-leipzig.de/allg/material/2004/brief_stadtraete_2004.pdf (11.01.2011).

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nehmigt der Regierungspräsident Walter Christian Steinbach (CDU) den Leip- ziger Haushalt nur mit Auflagen. »Ohne Veräußerung von städtischem Ver- mögen und den Verkauf kommunaler Unternehmen wird die Stadt Leipzig auf Dauer nicht mehr leistungsfähig sein.«8 Im Januar 2006 wird das Ergeb- nis eines von Stadtkämmerin Bettina Kudla (CDU) der Wirtschaftsprüfungs- gesellschaft Price Waterhouse Coopers (PWC) in Auftrag gegebenen Gutach- tens bekannt. Im Ergebnis werden folgende städtische Beteiligungen von PWC als für (Teil-)Verkäufe geeignet betrachtet: Abfall-Logistik Leipzig, Ab- fallverwertung Leipzig, die Stadtwerke, die Wasserwerke, das Leipziger Computer- und Systemhaus (LeCos) und das städtische Klinikum St. Georg. Die im Februar 2006 stattfindende Oberbürgermeisterwahl ist u. a. von der Debatte um mögliche Privatisierungen städtischer Unternehmen gekenn- zeichnet. Der OBM-Kandidat Burkhard Jung (SPD) hält einen Anteilsverkauf bei den Stadtwerken für möglich; der OBM-Kandidat Uwe Albrecht (CDU) hingegen hält die Leipziger Wohnungsbaugesellschaft (LWB) für eine Privati- sierung geeignet. Im März 2006 gibt Kämmerin Bettina Kudla bekannt, dass sie mindestens 400 Millionen Euro an Privatisierungserlösen erzielen will, wo- bei sie anmerkt: »für eine Veräußerung oder Teilverkäufe kommen nur die großen Firmen in Frage«9. Zur Diskussion stehen Stadtwerke, Wasserwerke, Verkehrsbetriebe, Stadtreinigung und Wohnungsbaugesellschaft. Nach dem Komplettverkauf der Dresdner Wohnungsbaugesellschaft (WOBA) im Früh- jahr 2006 mehren sich auch in Leipzig Stimmen, die den Verkauf der kommu- nalen Wohnungsbaugesellschaft (LWB) fordern.10 Daraufhin entschließen sich Vertreter_innen bzw. Mitglieder des Mietervereins, des Netzwerks attac, der Gewerkschaft ver.di sowie einzelne Stadträte, Widerstand zu organisieren, und bilden das Antiprivatisierungsnetzwerk Leipzig (APRIL)11, welches in den folgenden Monaten eine Reihe von Veranstaltungen durchführt. Wegen frak- tionsübergreifenden Widerstandes gegen den Verkauf der LWB wird die Idee der Veräußerung nach dem Dresdner Vorbild fallengelassen, die Debatte um Veräußerungen aber fortgesetzt. Im November 2006 einigen sich OBM Jung (SPD) und die Spitzen der CDU- und SPD-Fraktion auf einen gemeinsamen Vorschlag, der sowohl eine Teilprivatisierung der Stadtwerke als auch – zu ei- nem späteren Zeitpunkt – der Leipziger Versorgungs- und Verkehrsgesell- schaft GmbH (LVV) sowie eine Reduzierung des Bürgschaftsrahmens der Wohnungsbaugesellschaft (LWB) vorsieht. Außerdem soll für die Stadtreini- gung die Möglichkeit einer Privatisierung geprüft werden.

8 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 31.05.2005. 9 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 15.03.2006. 10 Mike Nagler: Ursachen und Auswirkungen von Entstaatlichung öffentlicher Einrichtungen auf die Stadt- entwicklung im Kontext einer gesamtgesellschaftspolitischen Entwicklung (am Beispiel der Privatisierung der WOBA Dresden). Leipzig 2007, S. 58 ff. http://www.cultiv.net/cultiv/index.php?id=633&docid=114 (02.01.2011). 11 Vgl. http://www.april-netzwerk.de (10.01.2011).

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Drei Jahre nach dem Rückkauf durch die Stadt sollen die Stadtwerke Leip- zig damit erneut teilprivatisiert werden. Die Argumentationen, die von den Verkaufsbefürworter_innen ins Feld geführt werden, sind hierbei die glei- chen wie bei der Teilprivatisierung 1997/1998. Erstens brauche man einen starken »strategischen Partner«; zweitens wird das Argument der finanziel- len Handlungsunfähigkeit der Kommune im Falle eines Nichtverkaufs ange- führt. Mit Beschluss vom November 2006 leitet der Stadtrat – mit knapper Mehrheit und begleitet von Protesten der Bürger_innen und Belegschaften der kommunalen Unternehmen – erneut einen Verkaufsprozess ein. Zu- nächst sollen demnach 49,9 Prozent der Stadtwerke Leipzig (SWL) verkauft werden. In einem zweiten Schritt soll die Teilprivatisierung des gesamten Konzerns der Leipziger Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft GmbH (LVV), die Stadtwerke, Wasserwerke sowie die Verkehrsbetriebe umfasst, ge- prüft werden. Im Dezember 2006 schaltet sich erneut Regierungspräsident Walter Christian Steinbach (CDU) ein und bemängelt, dass ihm der Ratsbe- schluss zur (Teil-)Privatisierung von Stadtwerken und LVV nicht weit genug geht. Er hält einen Mehrheitsverkauf der Stadtwerke für »wirtschaftlicher«12. Im Nachgang gibt es von verschiedenen Seiten massive Kritik an dieser Ein- mischung von Seiten der Kommunalaufsicht. Im Januar 2007 äußert sich die für die Kommunalaufsicht zuständige Abteilungsleiterin des Regierungsprä- sidiums, Frau Reichelt, und fordert die Stadt zu weiteren Verkäufen auf. So seien Komplettverkäufe der Wohnungsbaugesellschaft (LWB) und der per- data13 denkbar. Im März 2007 bekräftigt das Regierungspräsidium die Kritik am Kurs der Stadt und fordert, die komplette kommunale Wohnungswirt- schaft zur Disposition zu stellen und auch den Nahverkehr perspektivisch ohne Zuschüsse zu garantieren. Im Juli 2007 stellen die CDU-, die SPD- und die FDP/Bürgerfraktion gemeinsam den Antrag, parallel zum Stadtwerke- Anteilsverkauf einen verbindlichen Zeitplan für einen LVV-Anteilsverkauf zu beschließen. OBM Jung forciert das Tempo des Stadtwerkeverkaufs und will innerhalb nur einer Woche die eingereichten indikativen Angebote von wenigstens 16 Bewerbern – jeweils über hundertseitige Konzepte – ausge- wertet haben, um auf deren Basis in die entscheidenden Verhandlungen mit wohl sechs bis acht Bewerbern einzutreten.14 Das Tempo wird von Beobach- ter_innen des Verkaufsprozesses mit Verwunderung registriert und weitge- hend als unseriös betrachtet, da in der kurzen Zeit eine ausgewogene Beur- teilung der eingereichten Konzepte nicht möglich ist, so dass Bewerber die Stadt erfolgreich auf Schadenersatz verklagen könnten. Ebenfalls im Juli gibt der OBM bekannt, dass er die für die Begleitung des Verkaufsprozesses ein-

12 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 04.12.2006. 13 Perdata ist eine Tochterfirma der Stadtwerke Leipzig, welche den kommunalen Unternehmen zuarbeitet. – Vgl. http://www.april-netzwerk.de/perdata (03.02.2011). 14 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 19.07.2007.

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gerichtete Lenkungsgruppe in der »heißen Phase« der Verkaufsverhandlun- gen nicht mehr einbeziehen will. Damit werden von Seiten der mit dem Ver- kaufsprozess beauftragten Unternehmensberatung Klynfeld, Peat, Marwick, Mitchell, Goerdeler (KPMG) nur noch der OBM sowie die drei LVV-Ge- schäftsführer auf dem Laufenden gehalten.15 Dieses Vorgehen wird aus dem Stadtrat und von den Gegner_innen der Privatisierung heftig kritisiert und als eine eklatante Beschneidung der Rechte des dafür gewählten Stadtrates zur Einflussnahme auf politische Entscheidungen bezeichnet. Der OBM er- klärt, dass der Verkauf noch im Herbst 2007 abgeschlossen werden soll. Das APRIL-Netzwerk ruft daraufhin zu einem breiteren Bündnistreffen auf. Aus diesem Kreis heraus wird die Initiative »Stoppt den Ausverkauf unserer Stadt« ins Leben gerufen, die ankündigt, die Privatisierungspläne mit einem Bürgerentscheid zu verhindern. Im September 2007 startet die Initiative mit der Sammlung der für ein Bürgerbegehren notwendigen Unterschriften. Dabei wendet sie sich aber nicht nur gegen die geplante (Teil-)Privatisierung der Stadtwerke, sondern wählt eine generellere Formulierung. Die Fragestellung des Bürgerbegehrens »Sind Sie dafür, dass die kommunalen Unternehmen und Betriebe der Stadt Leipzig, die der Daseinsvorsorge dienen, weiterhin zu 100 Prozent in kommunalem Eigentum verbleiben?« wird so formuliert, dass mit dem Votum jegliche Privatisierungen oder Teilprivatisierungen der großen kommunalen Unternehmen unmöglich gemacht werden.16 Neben den bisher im APRIL-Netzwerk Aktiven schließt sich nun eine Reihe von Bürger- und Stadtteilvereinen der Initiative an. Auch die Stadtratsfraktionen DIE LINKE und B’90/DIE GRÜNEN erklären offiziell ihre Unterstützung.17 In den kommenden Wochen und Monaten spitzt sich die Debatte zu. Anfang November 2007 stellt der OBM das von dem Beratungsunternehmen KPMG favorisierte Angebot vor. Der französische Konzern Gaz de France (GdF) will in Leipzig einsteigen und bietet für die Stadtwerkeanteile 520 Millionen Euro – deutlich mehr als die anderen Bieter. Dies liegt weit über den ur- sprünglichen Erwartungen, selbst denen des Chefunterhändlers von der KPMG.18 Die Debatte über das Angebot wird sehr breit geführt – von Begei- sterung über kritische Fragen und Forderungen nach einer Offenlegung aller Angebote bis hin zu Spekulationen über die Verteilung der möglichen Priva- tisierungserlöse sind alle Reaktionen vorhanden. Die Präsidenten der Indu- strie- und Handelskammer (IHK) und der Handwerkskammer (HWK) for- dern, dass der Stadtrat keine Abkehr vom Privatisierungskurs zulässt. Zum favorisierten Angebot betonen sie, dass »eine staatlich gelenkte Industrie- politik aus dem Ausland die Interessen regionaler Standortpolitik nicht

15 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 13.07.2007. 16 Zur Konkretisierung wurden in einem zweiten Satz die großen zur Daseinsvorsorge zählenden Unterneh- men aufgelistet. 17 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 01.09.2007. 18 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 01.11.2007.

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überlagern dürfe«19. Auch Regierungspräsident Steinbach betont noch ein- mal, »dass die Haushaltskonsolidierung zwingend die Veräußerung kom- munalen Vermögens erfordert«20. Am 6. November überreicht die Bürgerinitiative dem OBM in seiner Bür- gersprechstunde 41.978 Unterschriften von Bürger_innen, die einen Bürge- rentscheid einfordern. Nach juristischer Prüfung fällt daraufhin auf der Stadtratssitzung im Dezember 2007 der Beschluss, einen Bürgerentscheid für den 27. Januar 2008 anzusetzen. Daraufhin äußert sich zwischen Weihnach- ten und Neujahr noch einmal Regierungspräsident Steinbach und warnt da- vor, dass bei einer Nichtprivatisierung »Investitionen […] auf längere Zeit praktisch nicht mehr machbar« wären.21 Im Januar 2008 ist der anstehende Bürgerentscheid dominierendes Thema in der öffentlichen Debatte, und eine Vielzahl von Veranstaltungen finden dazu statt. Während die Initiative eine breit angelegte Plakatkampagne, ein Zeitungsprojekt und verschiedene Veranstaltungen initiiert, um die Bür- ger_innen davon zu überzeugen, am 27. Januar 2008 zur Wahl zu gehen und mit »Ja« zu stimmen, ist die Reaktion in den Fraktionen bzw. Parteien unter- schiedlich. Die Linkspartei wirbt ebenfalls offen auf Flyern und Plakaten für ein »Ja« beim Entscheid. Die Fraktionen von CDU und SPD, welche die Pri- vatisierung befürworten, setzen auf ein Scheitern des Bürgerentscheids auf- grund der hohen Beteiligungshürden und werben daher nicht bzw. sehr ein- geschränkt für den Termin.22 Von den die Privatisierung befürwortenden Parteien wirbt nur die FDP massiv in der Innenstadt mit Plakaten und Großaufstellern. Unter dem Motto »Stadtwerke verkaufen – Schulen sanie- ren« ruft sie die Leipziger_innen zu einem »Nein« beim Bürgerentscheid auf. Prof. Ulrich Heilemann von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig argumentiert als geladener Experte aus »der Wissen- schaft« auf dem Forum der Leipziger Volkszeitung (LVZ) für eine Privatisie- rung.23 Am 22. Januar 2008 fordert er, als »objektiver Wissenschaftler«, in ei- nem ganzseitigen Interview mit der BILD-Zeitung die Leipziger_innen zum »Nein« beim Bürgerentscheid auf.24 Handwerkskammerpräsident Joachim Dirschka und der Präsident der Industrie- und Handelskammer Wolfgang Topf rufen in einer gemeinsamen Erklärung die Leipziger_innen zum »Nein«

19 Vgl. gemeinsame Erklärung von HWK Leipzig und IHK Leipzig vom 05.11.2007. Gaz de France (GdF) befin- det sich zu diesem Zeitpunkt noch zum überwiegenden Teil in Besitz des französischen Staates. In der öffentlichen Debatte spielt auch die offensichtliche Konkurrenz zwischen der regionalen Verbundnetz Gas AG (VNG) und Gaz de France (GdF) eine Rolle. 20 Leipziger Volkszeitung vom 14.11.2007. 21 Leipziger Volkszeitung vom 27.12.2007. 22 Gemäß der Sächsischen Gemeindeordnung liegt das Quorum für einen erfolgreichen Bürgerentscheid bei 25 Prozent der Wahlberechtigten, die im Sinne der Fragestellung votieren müssen. Dies bedeutet für den Lei- pziger Bürgerentscheid vom Januar 2008, dass mindestens ca. 104.000 wahlberechtigte Bürger_innen mit »Ja« stimmen müssen. Sollte dieses Quorum nicht zustande kommen, liegt die Entscheidung beim Stadtrat. 23 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 21.01.2008. 24 Vgl. BILD Leipzig vom 22.01.2008.

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beim Bürger_innenentscheid auf und bekräftigen damit noch einmal ihren Pri- vatisierungskurs.25 Eine gemeinsame Anzeige der beiden Kammern, die zum »Nein« beim Bürgerentscheid aufruft, erscheint in der Leipziger Volkszeitung am Tag vor dem Entscheid.26 Auch die Geschäftsführung der städtischen Hol- ding LVV mischt sich in die Debatte ein. LVV-Chef Dr. Hans-Joachim Klein spricht öffentlich über geringere Gewinnerwartungen der Stadtwerke – 50 Millionen Euro (2008 und 2009) statt der bisher für diese beiden Jahre ge- planten 65 Millionen Euro, 60 Millionen Euro (2010), und danach 75 Millionen Euro pro Jahr. Dazu müsste allerdings investiert sowie bundesweite und inter- nationale Geschäfte gemacht werden. Dafür werde »ein großzügiges finanziel- les Polster gebraucht«, das nur durch eine kräftige Entschuldung der LVV als Anteilseignerin der SWL zu erreichen sei.27 Auf Kosten des kommunalen Un- ternehmens lässt die Geschäftsführung Anzeigen in verschiedenen Annoncen- zeitungen drucken und ein Flugblatt erstellen, das zwei Tage vor dem Bürger- entscheid an alle Leipziger Haushalte verteilt wird. Flugblatt und Anzeigen rufen dazu auf, für die Privatisierung des eigenen Unternehmens zu stimmen. Am 27. Januar 2008 beteiligen sich 170.621 Leipziger_innen an der Ab- stimmung, und die große Mehrheit – 87,4 Prozent – stimmt für den Erhalt der kommunalen Unternehmen. Damit geht der Bürgerentscheid als bis dato erster erfolgreicher Bürgerentscheid in die Stadtgeschichte ein. Die Privati- sierungspläne werden zunächst verhindert, da der Stadtrat an diese Ent- scheidung für die nächsten drei Jahre gebunden ist. Erwähnenswert ist, dass die von vielen Privatisierungsbefürworter_innen im Falle eines Scheiterns der Privatisierungspläne prophezeite Handlungsunfähigkeit der Stadt nicht eingetroffen ist. Im Gegenteil: Leipzig hat nach langer Zeit im Jahre 2008 das erste Mal einen konsolidierten Haushalt vorzuweisen. Wiederum drei Jahre später – im Herbst/Winter 2010 – wird die Debatte um Privatisierungen kommunaler Unternehmen erneut aktuell. Die drei- jährige bindende Wirkung des Bürgerentscheids gilt laut Sächsischer Ge- meindeordnung bis zum Januar 2011. Im Januar 2011 sollen nach Willen des OBM und einer Ratsmehrheit zwei wichtige Tochterunternehmen der Stadt- werke Leipzig teilprivatisiert werden. Es geht um den Vorschlag der Stadt- spitze, Anteile an der perdata in Höhe von 49,9 Prozent und an der HL komm28, ebenfalls Bestandteil der Stadtwerke, in Höhe von 74,9 Prozent zu veräußern, um die finanziellen Spielräume der Leipziger Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (LVV) als kommunale Muttergesellschaft zu verbessern und damit die Stadtfinanzen durch Gewinnabführungen aus der LVV zu sta-

25 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 23.01.2008. 26 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 27.01.2008. 27 Leipziger Volkszeitung vom 10.01.2008. 28 Vereinfacht ausgedrückt stellt HL komm die Hardware (Breitbandnetz) und perdata die Software für die kommunalen Unternehmen zur Verfügung. Sie sind wichtiger Bestandteil des Stadtwerkeunternehmens. – Vgl. dazu: http://www.april-netzwerk.de/perdata und http://www.april-netzwerk.de/hlkomm (03.02.2011).

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bilisieren. Bereits im September 2010 wird dem Aufsichtsrat der LVV von Seiten der Geschäftsführung die Veräußerung von Teilen der HL komm, der perdata und einer Tochter der Kommunalen Wasserwerke Leipzig (KWL), dem Wassergut Canitz, vorgeschlagen. Dieser Vorschlag wird aber mehrheit- lich im Aufsichtsrat der LVV abgelehnt.29 Daraufhin teilte die Geschäftsführung der LVV dem OBM mit, dass die LVV nicht mehr in der Lage sein wird, ihren finanziellen Verpflichtungen ge- genüber der Stadt Leipzig vollständig nachzukommen, und bittet den OBM, entgegen der Position im Aufsichtsrat, Maßnahmen zur Privatisierung auf Gesellschafterebene – also der Stadt – einzuleiten. Von einer Privatisierung des Wassergutes Canitz wird Abstand genommen, allerdings schlägt der OBM dem Stadtrat die Teilprivatisierung der beiden Tochterunternehmen der Stadtwerke vor, die vor allem auch für die Durchsetzung von zentralen Entwicklungsstrategien für die Stadt Leipzig (Medien- und Energiecluster) eine entscheidende Bedeutung haben. Die Befürworter_innen der Privatisierung sind auch in der aktuellen De- batte die gleichen Akteure wie in den beschriebenen zurückliegenden Priva- tisierungsdiskursen. So sind im Stadtrat vor allem die Fraktionen von CDU, SPD und FDP die treibenden Akteure im Verkaufsprozess. Außerhalb des Stadtrates sind es vor allem die Vertreter der Industrie- und Handelskamm- mer (IHK), der Handwerkskammer (HWK), aber auch die Geschäftsführer der städtischen Holding LVV. Auf der Seite der Gegner_innen der Privatisierung finden sich wiederum das APRIL-Netzwerk, die Gewerkschaft ver.di, attac und die Betriebsräte der betroffenen Unternehmen. Die Fraktion der Partei DIE LINKE und einzelne Stadträte der Fraktion B’90/DIE GRÜNEN lehnen die Verkäufe ab. Um den Verkauf zu begründen, werden wieder die gleichen Argumente ins Feld ge- führt wie bereits in den vergangenen Jahren. Zentrales Argument in der Pri- vatisierungsdebatte ist die Verschuldungssituation der Stadt sowie der LVV.30 Aufgrund des Widerstands gegen die Privatisierungspläne werden die Ver- kaufspläne von der Januarsitzung des Stadtrates abgesetzt und für die Sit-

29 Vgl. interne Aufsichtsratsvorlage der LVV Geschäftsführung auf der Aufsichtsratssitzung der LVV vom 26.10.2010. 30 Das zentrale Argument der Befürworter_innen der Privatisierung ist, dass die LVV konsolidiert werden müsse und dringend frisches Geld brauche. Die Gegner_innen der Privatisierung halten dem entgegen, dass genau dies ein Argument gegen den Verkauf sei, da HL komm und perdata als zwei gewinnbringende Un- ternehmen innerhalb des Stadtwerke-Unternehmens in nicht unbeträchtlicher Weise zum Gesamtgewinn beitragen. Aus den Geschäftsberichten geht hervor, dass beide Unternehmen zusammen im Jahre 2009 ca. 8 Millionen Euro Gewinn erwirtschafteten. Anzumerken ist außerdem, dass ein großer Teil der Schulden, die die Holding LVV belasten, aus dem Rückkauf der Stadtwerkeanteile im Jahre 2003 resultieren. Die Stadt hatte in den Jahren 1997/1998 40 Prozent der Stadtwerkeanteile an die MEAG (später RWE) veräußert. Nachdem es Schwierigkeiten bezüglich der Ausrichtung des Unternehmens zwischen den privaten und kommunalen Anteilseigner_innen gab, entschied sich die Stadt, die Anteile im Jahr 2003 für einen weit höheren Betrag wieder zurückzuerwerben. Hierfür wurde ein Gesellschafterdarlehen aufgenommen. Dieses Darlehen soll von der LVV nun, zusätzlich zu allen zu erbringenden Leistungen, an die Stadt zurückgezahlt werden und wird in der aktuellen Debatte u. a. als Begründung für die neuerlichen Privatisierungspläne an-

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zung im Februar 2011 eine neue Vorlage erstellt.31 Begleitet von Protesten fällt der Stadtrat im Februar 2011 mit den Stimmen von CDU, SPD und B’90/DIE GRÜNEN den Beschluss zur Einleitung eines Bieterverfahrens zur Privatisierung von jeweils 49,9 Prozent von HL komm und perdata.32 Diese aktuelle Debatte um den Verkauf kommunaler Unternehmen in der Stadt Leipzig ist noch nicht abgeschlossen, sondern wird auch im Jahre 2011 fortgesetzt. Anhand der, wenn auch verkürzten Darstellung des Diskurses über die letzten Jahre wird deutlich, dass es nicht nur immer wieder die glei- chen Argumente sind, die für den Verkauf der städtischen Unternehmen und Betriebe ins Feld geführt werden, sondern es auch die gleichen Akteure bzw. Funktionseliten sind, die diesen Prozess vorantreiben. So ist beispielsweise erkennbar, dass über Jahre hinweg der Regierungspräsident bzw. Präsident der Landesdirektion eine nicht unrelevante Rolle in den Privatisierungsde- batten einnimmt. Mit der von der Kommunalaufsicht angedrohten Nichtge- nehmigung des kommenden Stadthaushaltes werden mehrfach von Seiten der Verwaltungsbehörde bzw. ihres Präsidenten Forderungen nach Privati- sierungen verknüpft. Gleiches lässt sich in Dresden beobachten, wo im Rahmen der Debatte um den Komplettverkauf der Wohnungsbaugesellschaft Dresden GmbH ähnli- che Muster zu erkennen sind.33 Ich habe an dieser Stelle nur einen Ausschnitt aus dem Leipziger Privati- sierungsdiskurs angeführt, da ich hier aus Platzgründen nicht auf die kom- pletten Diskurse in den zu untersuchenden Städten eingehen kann. Anzu- merken bleibt aber: In Düsseldorf, Hamburg und Dresden, sowie in Privatisierungsdebatten bezogen auf andere kommunale Unternehmen in Leipzig, sind immer wieder die gleichen Vorgänge zu beobachten. Die Dis- kurse ähneln sich stark, in allen Städten tauchen die gleichen Argumentati- onsmuster auf, und es gibt Parallelen zwischen den handelnden Akteuren.

geführt. Dieses Gesellschafterdarlehen der Stadt an die LVV ist bei realer Betrachtung aber kein Darlehen, sondern eine konstruierte bilanzielle Belastung der LVV, um Erlöse des Unternehmens unversteuert in den kommunalen Haushalt transferieren zu können. Dazu kamen noch die Anteilskäufe der Stadt bei der Ver- bundnetz Gas AG (VNG), um deren Verbleib am Standort Leipzig zu sichern (110 Millionen Euro), und an der Energiebörse, European Energy Exchange (EEX) – aus demselben Grund (150 Millionen Euro). In allen drei Fällen wurde die LVV als politisches Instrument der Stadt benutzt. Die Gesamtschuldensumme der LVV beläuft sich – inklusive eines Tilgungsdarlehens von 50 Millionen Euro – auf 760 Millionen Euro, die jährlich eine Gesamtzinsbelastung von über 60 Millionen Euro erzeugen. Schulden der Stadt werden also auf die LVV umgelegt und diese damit belastet, die Schulden in Raten an die Stadt als Gesellschafter zurück- zuzahlen. Die Verschuldung der LVV ist damit eine konstruierte Situation und wird benutzt, um die Privati- sierung der Tochterunternehmen zu forcieren. 31 Nach dieser Vorlage soll der Stadtrat über eine unbefristete Verlängerung der Bindefrist des Leipziger Bür- gerentscheids von 2008 entscheiden. In derselben Vorlage wird aber die Teilprivatisierung der beiden Toch- terunternehmen der Stadtwerke Leipzig, HL komm und perdata zu jeweils 49,9 % eingebracht. 32 Die Fraktion DIE LINKE stimmt geschlossen gegen den Verkauf der kommunalen Unternehmen. Einzelne Stadträte aus den Fraktionen von SPD und B’90/DIE GRÜNEN votierten ebenfalls gegen den Verkauf. Die Fraktion der FDP stimmte den Privatisierungsplänen nicht zu, da der Vorschlag nicht weit genug gehe. 33 Vgl. Nagler 2007 (s. Anm. 10).

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INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN

Jan Stehle

Das Amt und der Aktenzugang. Meine Bemühungen um Aktenfreigabe beim Auswärtigen Amt im Kontext des Berichts der Historikerkommission sowie der Archivierungspraxis des Auswärtigen Amtes

»Die wissenschaftliche Aufarbeitung von Menschenrechtsfragen und das ›Wohl der Bundesrepublik‹ schließen sich nicht aus. Die Abwägung unterliegt einer Einzelfallprüfung.«1

Die oberen Bundesbehörden entscheiden bei Anträgen auf Einsicht in ihre Archiv- und Verwaltungsakten äußerst restriktiv. Im Rahmen der Recherchen für mein Promotionsvorhaben Deutsche Außenpolitik und Menschenrechte: Der Fall Colonia Dignidad 1961–2011, in dem ich untersuchen möchte, wie sich die bundesdeutsche Diplomatie im Fall der menschenrechtsverletzenden Sekte Colonia Dignidad2 (CD) verhalten hat und inwiefern dieses Verhalten mit dem Menschenrechtsdiskurs des Auswärtigen Amtes (AA) in Einklang steht, durfte ich bislang in weniger als ein Zehntel der im AA und seinem Politischen Archiv (PA AA) lagernden Akten zu meinem Forschungsthema Einblick nehmen. Lediglich zu Beständen, die älter als 30 Jahre sind und die keiner Geheimhaltungseinstufung unterliegen, wird mir der Zugang gestat- tet. Das »Wohl der Bundesrepublik«, Geheimhaltungsnotwendigkeiten und Datenschutzgründe verhindern in der Argumentation des AA weiterge- hende Einblicke in das Behördenhandeln. Diesen Begründungen vermag ich nicht zu folgen und klage derzeit beim Berliner Verwaltungsgericht gegen das AA auf Aktenzugang.

1 Deutscher : Bundestagsdrucksache (BT-DS) 17/3804 vom 09.11.2010, Erleichterung des For- schungs-Zugangs zu Archiven des Auswärtigen Amtes und anderer Bundesministerien, Frage 16.a. 2 Einen guten Überblick über die CD bietet: Friederich Paul Heller: Lederhosen, Dutt und Giftgas. Die Hinter- gründe der Colonia Dignidad, 4. Aufl., Stuttgart 2011.

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Dieser Beitrag beschreibt den schwierigen und langwierigen Prozess mei- ner Bemühungen um Akteneinsicht im Kontext der Veröffentlichung des Buches Das Amt und die Vergangenheit 3. Durch die dort formulierte scharfe Kritik an der Archivpolitik des AA hat die Unabhängige Historikerkommission der Debatte um den Umgang deutscher Bundesbehörden mit amtlichen Do- kumenten und Informationen neuen Schwung verliehen. Die Diskussion könnte einen Paradigmenwechsel im Umgang von Behörden und Archiven mit Akten hin zu forschungsfreundlichen Zugangsbedingungen und mehr Behördentransparenz einleiten – auch wenn die Widerstände gegen eine Aufgabe von historischer Deutungsmacht in den Behörden groß sind.

Die Deutungsmacht der Akten Selektive Aktenfreigabe als politische Intention

Behörden tendieren dazu, ihre eigenen Akten unter Verschluss zu halten, da sie so die Deutungshoheit über die Geschichtsschreibung monopolisieren. Potentiell herrschaftsgefährdende Informationen werden somit der Wissen- schaft und Öffentlichkeit vorenthalten, bis die Verantwortlichen für Amts- vorgänge nicht mehr in der Behörde tätig oder verstorben sind beziehungs- weise die Vorgänge als solche nicht mehr politisch relevant sind. Gleichzeitig werden nach einem politischen Systemwechsel die Akten der Vorgänger- behörde gerne über die gewöhnliche Praxis hinweg freigegeben, da eine sol- che Offenlegung der Vergangenheit als der eigenen Position ungefährlich oder gar förderlich betrachtet wird. Gleiches gilt für eine positive Selbst- darstellung durch Offenlegung beispielsweise vor Wahlen. Die folgenden Beispiele weisen auf diese Herrschaftspraxis hin: Die USA gaben die Akten, die sie nach Kriegsende aus dem AA in Berlin mitgenom- menen hatten, erst zurück, nachdem Staatssekretär Hallstein zugesichert hatte, diese Akten jederzeit in- und ausländischen Forscher_innen zur Verfü- gung zu stellen.4 Die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR können bei der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) seit Januar 1992 eingesehen werden und unterliegen nicht dem Bundesarchivgesetz (BArchG), sondern dem eigens geschaffenen Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG), das keine »Schutz- frist« vorsieht. Kurz vor den Bundestagswahlen 1998 entsperrte das Bundes- kanzleramt mehr als 400 selektierte Verschlusssachen(VS)-Dokumente aus den Jahren 1989/90, um damit die Rolle Kohls bei der Wiedervereinigung

3 Eckart Conze; Norbert Frei; Peter Hayes; Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010. 4 Astrid M. Eckert: Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2004, S. 429.

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herauszustellen.5 Ein demokratisch transparenter, weitreichender Aktenzu- gang würde diese behördliche Deutungsmacht der Wissenschaft und der öf- fentlichen Kontrolle übergeben und somit eine Demokratisierung des Um- gangs mit Behördeninformationen darstellen.

Die Kritik der Historikerkommission

Die Unabhängige Historikerkommission 6 äußert im Nachwort ihres Berichtes scharfe Kritik an der Archivpolitik des AA. Das AA habe sich »jahrzehnte- lang nicht nur faktisch bedeckt gehalten, sondern durch eine ausgesprochen restriktive Archivpolitik unabhängige Bemühungen um eine kritische Erfor- schung seiner Geschichte immer wieder konterkariert«7. Für die Kommis- sion habe sich die Benutzung mancher Archivbestände in der Praxis als schwierig gestaltet: »Neben evidenten individuellen Vorbehalten einzelner Mitarbeiter gegen den an die Kommission ergangenen Auftrag dürften die Gründe dafür vor allem in den eingeschliffenen strukturellen Sonderbedin- gungen zu suchen sein, unter denen das PA AA seit Langem operiert und die einem demokratisch transparenten Archivzugang, wie ihn das Bundesarchiv auf der Grundlage des Bundesarchivgesetzes erfolgreich praktiziert, zu- widerlaufen. […] All dies hat zur Konsequenz, dass die Kommission […] letztlich nicht sicher sein kann, wirklich alle für ihre Arbeit wesentlichen Un- terlagen zu Gesicht bekommen zu haben; dies gilt insbesondere für die erst zu einem sehr späten Zeitpunkt zugänglich gewordenen und noch nicht de- klassifizierten VS-Sachen.«8 Der Bericht der Historikerkommission kommt zu dem Schluss, dass das über Jahrzehnte gepflegte Selbst- und Geschichtsbild des AA ein Mythos ist.9

Das Amt und die Sonderrolle

Die Mythenbildung des AA wurde durch eine Sonderstellung begünstigt: Als einzige oberste Bundesbehörde gibt das AA seine Akten nicht an das Bundesarchiv ab, sondern verwaltet sie im eigenen Hause und ist bei Anträ-

5 Bundesministerium des Inneren unter Mitwirkung des Bundesarchivs (Hrsg.): Dokumente zur Deutsch- landpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München 1998. 6 Zu Auftrag und Zusammensetzung der Kommission, siehe deren Webseite: http://www.historikerkommission-aa.uni-marburg.de. 7 Conze et al. 2010 (s. Anm. 3), S. 716. 8 Ebd., S. 718 f. 9 Vgl. ebd., S. 12.

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gen auf Akteneinsicht daher Richter und Beteiligter gleichermaßen.10 Nach der Veröffentlichung von Das Amt und die Vergangenheit gab es daher zahlrei- che Stimmen, darunter Bundesaußenminister a. D. Fischer sowie der Leiter des Bundesarchivs Weber, die eine Überführung des PA AA in das Bundesar- chiv forderten, um Ressort- und Wissenschaftsinteressen besser trennen zu können.11 Dem Bundesarchiv weist das BArchG die Rolle zu, das Archivgut des Bundes und damit seine schriftlich dokumentierten Amtsvorgänge »auf Dauer zu sichern, nutzbar zu machen und wissenschaftlich zu verwerten«12, somit also eine »rückblickende Kontrolle von Regierung und Verwaltung« zu ermöglichen, wie das Leitbild des Bundesarchivs besagt.13 Das AA hinge- gen archiviert seine Akten im hauseigenen Politischen Archiv, weil es laut Bundesregierung die Bestände »regelmäßig zur Erfüllung unterschiedlichs- ter Aufgaben des Auswärtigen Dienstes (d. h. Zentrale und Auslandsvertre- tungen) benötigt«14. Das PA AA schreibt sich mithin sowohl eine Rolle für die Wissenschaft als auch eine hausinterne Funktion zu.15 Die beiden Archive pflegen damit unterschiedliche Selbstverständnisse, die aus ihrer unter- schiedlichen Behördenstellung herrühren und sich auf die Praxis der Akten- verwaltung auswirken dürften.16 Es ist daher anzunehmen – wenn auch auf- grund fehlender Vergleichszahlen nicht zu beweisen –, dass das PA AA bei Akteneinsichtsanträgen restriktivere Maßstäbe anlegt als das Bundesarchiv.17

10 Der Frankfurter Wissenschaftler Dieter Maier formuliert dies in einem Leserbrief an die Frankfurter Allge- meine Zeitung vom 17.11.2010 so: »Das Problem ist, dass das AA als einziges Bundesministerium sein eige- nes Archiv unterhält […] und dieses Archiv […] gegenüber dem Amt weisungsgebunden ist. [...] Das führt zu einer unheilvollen Zweieinigkeit. Zwar gilt für das Archiv das Bundesarchivgesetz, aber dessen Ausle- gung ist dort eigenwillig. Anträge auf Verkürzung der Schutzfrist (30 Jahre nach Bundesarchivgesetz) wer- den nach intransparenten Kriterien politisch entschieden.« 11 In einem Interview in der Frankfurter Rundschau am 29.10.2011 begründete Weber diese Forderung folgen- dermaßen: »Es [das PA AA] fungiert nämlich auch als Alt-Registratur, ist nur für ein Ressort zuständig und identifiziert sich zwangsläufig mit diesem und seiner Geschichte. Die Abwägung zwischen Forschungs- und Ressortinteressen braucht Abstand.« 12 BArchG vom 6. Januar 1988, § 1. 13 Leitbild des Bundesarchivs einzusehen auf dessen Website: http://www.bundesarchiv.de (http://tinyurl.com/42ryu4l; 17.02.2011). 14 Deutscher Bundestag 2010 (s. Anm. 1), Frage 1. 15 Siehe Website des Auswärtigen Amtes. http://www.auswaertiges-amt.de (http://tinyurl.com/3s6etmj; 17.02.2011). 16 Beispielsweise weist das Bundesarchiv Nutzer_innen auf die Möglichkeit einer Schutzfristverkürzung hin: http://www.bundesarchiv.de (http://tinyurl.com/43pkz6d; 10.02.2011). – Das PA AA hingegen lässt diese unerwähnt: http://www.auswaertiges-amt.de (http://tinyurl.com/3ldsqp5; 10.02.2011). 17 Das Bundesarchiv unterstützt Nutzer_innen bei der Stellung des Antrags auf Herabsetzung der Frist. Es ent- scheidet jedoch nicht alleine über den Antrag, sondern leitet diesen an die Behörde weiter, die das Doku- ment erstellt hat.

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Rechtsgrundlagen für die Aufbewahrung von und Einsichtnahme in Behördenakten

Das Bundesarchivgesetz Das BArchG sieht vor, dass Archivgut, das älter als 30 Jahre ist, für jede_n auf Antrag einsehbar ist. Ausgenommen sind personenbezogenes Schriftgut sowie Dokumente, die einer Geheimhaltungseinstufung unterliegen. Die 30-Jahre-»Schutzfrist« kann jedoch auf Antrag verkürzt werden, »wenn die Benutzung für ein wissenschaftliches Forschungsvorhaben oder zur Wahr- nehmung berechtigter Belange unerlässlich ist […]«18. Die Herabsetzung der Frist ist in erster Linie eine Ermessensentscheidung der Behörde, die darüber befindet, ob eines der in § 5.6 aufgeführten Ausschlusskriterien einer Herab- setzung entgegensteht. Dies ist unter anderem der Fall wenn: »1. Grund zu der Annahme besteht, dass das Wohl der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährdet würde, oder 2. Grund zu der Annahme besteht, dass schutzwürdige Belange Dritter entgegenstehen, oder […] 5. die Geheimhaltungspflicht nach § 203 Abs. 1 bis 3 des Strafgesetzbuches oder anderen Rechtsvorschriften des Bundes über Geheimhaltung verletzt würde.«19 Gegen die Ablehnung eines Antrags auf Herabsetzung der Frist kann beim zuständigen Verwaltungsgericht Klage erhoben werden. Seit Inkraft- treten des BArchG am 6. Januar 1988 haben allerdings erst zwei Forscher ge- gen das AA auf Akteneinsicht geklagt.20 Dabei dürfte es sich um die Klage des Forschers Dr. Dieter Maier auf Einsicht in Akten zur argentinischen Mi- litärdiktatur21 und um die Klage des Autors dieses Beitrags handeln.

Das Informationsfreiheitsgesetz Das AA bewahrt Akten, die der »laufenden Verwaltung« dienen, in den zu- ständigen Referaten auf.22 Diese Unterlagen unterliegen – wie alle amtlichen Informationen der obersten Bundesbehörden mit Ausnahme der Nachrichten- dienste und des Verfassungsschutzes – seit 2006 dem Informationsfreiheitsge- setz (IFG). Mit dem Inkrafttreten des IFG sollte ein »Paradigmenwechsel von der generellen Amtsverschwiegenheit zu einer offenen Verwaltung« einge- leitet werden.23 Fortan habe »[j]eder […] gegenüber den Behörden des Bun-

18 BArchG, § 5.5. 19 BArchG, § 5.6. 20 Deutscher Bundestag 2010 (s. Anm. 1), Frage 14. 21 Berliner Verwaltungsgericht, AZ: VG 1 K 1.10. – Die Laufzeit der Aktenbände, in die Dieter Maier Einblick begehrt, erstreckt sich bis 1999. 22 Deutscher Bundestag 2010 (s. Anm. 1), Frage 3b. 23 Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit: Zweiter Tätigkeitsbericht zur Infor- mationsfreiheit für die Jahre 2008 und 2009, Bonn 2010, S. 9.

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des einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen«24. Jedoch gilt eine Serie von Ausschlussgründen dem »Schutz von öffentlichen Belangen« (§ 3), dem »Schutz des behördlichen Entscheidungsprozesses« (§ 4) sowie dem »Schutz personenbezogener Daten« (§ 5), deren Auslegung wie im Fall des BArchG im Ermessen der entscheidenden Behörde liegt. Seit Inkraft- treten des IFG wird kritisiert, dass dieses behördlicherseits sehr restriktiv ausgelegt wird.25 Skandinavische und angelsächsische Länder seien der Bun- desrepublik in puncto Informationszugang weit voraus. Der Ausnahmekri- terienkatalog stelle eine »Generalklausel zur Verweigerung von Informatio- nen«26 dar. Er sei zu weit und zu unbestimmt und gebe den Behörden im Gegensatz zur erklärten Gesetzesintention die Möglichkeit, durch eine pau- schale Anführung abstrakter Gefahren Informationsgesuche komplett zu blockieren.

Verschlusssachen Sowohl BArchG als auch IFG sehen eine Ablehnung des Akteneinsichtsge- suchs vor, falls eine Geheimhaltungseinstufung vorliegt. Rechtsgrundlagen für die Einstufung eines Schriftstücks als »Streng Geheim«, »Geheim«, »Ver- schlusssache Vertraulich« (VS-V) oder »Verschlusssache – nur für den Dienst- gebrauch« (VS-NfD) sind die Verschlusssachenanweisung des Bundesminis- teriums des Inneren (VSA)27 und das Sicherheitsüberprüfungsgesetz (SÜG)28. Verschlusssachen werden in der VSA als »im öffentlichen Interesse geheim- haltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse« definiert.29 Bis vor kurzem war über Anzahl, Charakteristika und Art der Verwahrung von Verschlusssachen in Geheimarchiven bei den obersten Bundesbehörden und in den staatlichen Archiven wenig bekannt. In den letzten zwei Jahren ist jedoch im Zuge der Diskussion über Verwaltungstransparenz und Infor- mationsfreiheit eine lebhafte Debatte über VS-Sachen entstanden, die zu Presseartikeln, Publikationen30 und Anfragen im Bundestag31 geführt hat.

24 IFG, § 1. 25 Siehe zum Beispiel Manfred Redelfs: Erfahrungen mit dem Informationsfreiheitsgesetz: Transparenz für Hartnäckige. In: Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE). Newsletter Nr. 16/2007 vom 09.08.2007. http://www.b-b-e.de (http://tinyurl.com/3g89858; 11.02.2011). 26 Thomas Bräutigam: Rechtsvergleichung als Konfliktvergleich. Das deutsche Informationsfreiheitsgesetz aus Perspektive des US-amerikanischen und finnischen Rechts, Dissertation an der Universität Helsinki 2008. http://www.doria.fi (http://tinyurl.com/42kdgoa; 24.02.2011), S. 355. 27 Allgemeine Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Innern zum materiellen und organisatori- schen Schutz von Verschlusssachen vom 31. März 2006. 28 Gesetz über die Voraussetzungen und das Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen des Bundes vom 20. März 1994. 29 VSA, § 2. 30 Jens Niederhut; Uwe Zuber (Hrsg.): Geheimschutz Transparent? Verschlusssachen in staatlichen Archiven, Essen 2010; hier wird erstmalig umfangreich die Behandlung von Verschlusssachen in Archiven und Zu- gangsmöglichkeiten für die Forschung diskutiert. 31 Zum Beispiel Deutscher Bundestag: BT-DS 16/11354 vom 12.12.2008 oder BT-DS 17/3804 (s. Anm. 1).

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Laut Bundesregierung ist der überwiegende Teil der als VS eingestuften Akten mit dem Stempel »VS-NfD« versehen.32 Der Freiburger Historiker Josef Foschepoth schätzt den Bestand an Verschlusssachen bei Bundesmini- sterien, Nachrichtendiensten, obersten Gerichten und dem Bundestag auf insgesamt ca. 7,5 Millionen Schriftstücke33 und ist der Ansicht, dass » [a]ngesichts von Millionen bislang nicht zugänglicher VS-Akten […] die Ge- schichte der Bundesrepublik noch nicht geschrieben [ist]«34. Bei der Durch- sicht von über 30 Jahre alten Akten zur CD im PA AA fällt auf, dass viele Do- kumente den Hinweis »VS-NfD« tragen, bei denen nicht recht ersichtlich ist, warum ein Geheimhaltungsbedürfnis – zum Zeitpunkt der Erstellung und danach – erforderlich war. Die These vom überaus freizügigen Gebrauch des »VS-NfD«-Stempels bestätigen innerbehördliche Schreiben des AA. So schrieb beispielsweise der Staatssekretär des AA am 27. März 1968 an »die Herren Leiter der Arbeitseinheiten im Hause« in einem als »VS-NfD« einge- stuften Hauserlass: »Der VS-Verkehr hat im Auswärtigen Amt einen Umfang angenommen, der die vorschriftsmäßige Behandlung der VS außerordent- lich erschwert. Ich habe festgestellt, daß in Abweichung von den Bestim- mungen der VS-Anweisung Schriftstücke in erheblichem Umfange höher eingestuft werden, als es nach den Vorschriften des § 4 der VS-Anweisung erforderlich wäre. Ich bitte daher, bei der Einstufung der VS einen wesentlich strengeren Maßstab als bisher anzulegen. Die Arbeitseinheiten sind ver- pflichtet, laufend […] für die weitgehende Herabstufung des VS-Schriftgutes zu sorgen.«35 Obwohl die VSA eine ständige Überprüfung der Geheimhaltungsnotwen- digkeit der eingestuften Bestände vorsieht, ist diese Vorschrift laut Michael Hollmann, dem Leiter der Abteilung Bundesrepublik Deutschland des Bun- desarchivs, »in den vergangenen 60 Jahren seit der Gründung der Bundesre- publik Deutschland nur in sehr unzureichendem Maße tatsächlich umge- setzt worden«36.

32 BT-DS 16/11354 vom 12.12.2008, Antwort auf Frage 3. 33 Josef Foschepoth: Staatsschutz und Grundrechte in der Adenauerzeit. In: Niederhut; Zuber 2010 (s. Anm. 30), S. 29. – Foschepoth dürfte mit dieser Zahl die Verschlusssachen ab der Stufe VS-V meinen, die getrennt vom regulären Aktenbestand in den VS-Registraturen aufbewahrt werden. Die Anzahl von als VS-NfD ein- gestuften Dokumenten dürfte deutlich höher liegen. VS-NfD-Dokumente werden in der Regel nach 30 Jah- ren mit dem uneingestuften Aktenbestand zur Einsicht freigegeben. Daneben gibt es noch die VS-Akten in den Archiven. Die archivierten VS-Sachen belaufen sich laut BT-DS 17/3804 auf 577 laufende Meter im Bun- desarchiv und ca. 3500 laufende Meter im Freiburger Militärarchiv. Für das PA AA lautet die Antwort: »Aus den Jahren 1949 bis 1975 werden im Politischen Archiv ca. 8.000 Verschlusssachen (VS-) Archivbände ver- wahrt.« (Frage 7a.) Dazu kommen die VS-Dokumente der Landesarchive, laut Umfrage des Landesarchivs NRW weitere 1,4 Regalkilometer. – Vgl. ebd., S. 29. 34 Ebd., S. 27. 35 PA AA: Zwischenarchiv Bd. 125.131, AZ ZB 9-82.00/0 VS-NfD: Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes an die Herren Leiter der Arbeitseinheiten im Hause, Betr.: Behandlung von Verschlusssachen (VS) im Aus- wärtigen Amt, 27. März 1968. – Ein ähnlicher Hauserlass vom 28.12.1977 klingt nur unwesentlich anders. 36 Michael Hollmann: Verschlusssachen im Bundesarchiv. In: Niederhut; Zuber 2010 (s. Anm. 30), S. 114.

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Laut VSA entfällt der Geheimhaltungsgrad nach 30 Jahren, falls er nicht explizit von der Abteilung, die das Dokument erstellt hat, verlängert wird. Diese Regelung gilt jedoch erst seit Inkrafttreten der VSA 2006 beziehungs- weise deren Abänderung von § 8 und § 9 2010. Die sogenannten »Alt-VS« seit 1949, für die bislang keine automatische Entsperrung stattfand, werden nun stufenweise bis 2025 freigegeben.37

Gelangen die VS-Akten überhaupt in die Archive?

Unklar ist, wie viele der als geheim eingestuften Akten überhaupt in den Ar- chiven landen und dort auch einsehbar werden. Im Dezember 2008 be- stätigte die Bundesregierung die gezielte Vernichtung von VS-Dokumenten und bezifferte die Anzahl der seit Oktober 2005 vernichteten VS-Sachen mit 3181.38 Jens Niederhut und Uwe Zuber vom Landesarchiv NRW schreiben: »Nur gute und vertrauensvolle Beziehungen zu den entsprechenden Behör- den gewährleisten, dass überhaupt geheime Akten in die Archive kommen und nicht etwa unkontrolliert vernichtet werden.«39 Dem Autor ist keine Rechtsgrundlage für die Vernichtung von sensiblem Aktenmaterial bekannt.40 Dennoch existiert eine Reihe von Indizien, die suggeriert, dass Vernichtung von brisanten Akten bei verschiedenen Bundesbehörden gängige Praxis ist: Der Sozialwissenschaftler Wolfgang Buschforth zitiert aus einem Interview mit einem Verfassungsschutzmitarbeiter: »Es darf doch wohl nicht wahr sein, dass das nicht vernichtet wurde.«41 Im bereits genannten Hauserlass vom 28. Dezember 1977 heißt es: »Auf die Notwendigkeit der Vernichtung entbehrlicher VS wird hingewiesen. Auch hier sollte möglichst schon bei Fer- tigung, bzw. beim Eingang einer VS festgelegt werden, dass sie nach Bearbei- tung oder nach Eintreten eines bestimmten Ereignisses vernichtet werden kann.«42 Das Bundesarchiv beklagt, dass wichtige Akten des Bundeskanzler- amtes dort nicht ankommen: »Akten aus dem Leitungsbereich werden nicht von den Registraturen erfasst und gelangen somit nicht oder nur völlig un- zureichend in die Obhut des Bundesarchivs.«43

37 Folgender Entsperrfahrplan gilt seit der Änderung der VSA (26.04.2010) laut § 9.2: »Die Aufhebung von VS- Einstufungen erfolgt, sofern auf der VS keine längere oder kürzere Frist bestimmt ist (vgl. § 8 Abs. 2) 1. für die Vorgänge der Jahre 1949 bis 1959 bis zum 1. Januar 2013, 2. für die Vorgänge der Jahre 1960 bis 1994 bis zum 1. Januar 2025, beginnend mit dem Ablauf des Jahres 2013 sind mindestens drei Jahrgänge pro Kalen- derjahr in chronologischer Reihenfolge zu öffnen.« 38 BT-DS 16/11354 vom 12.12.2008, Frage 30. 39 Jens Niederhut; Uwe Zuber: Einleitung. In: Niederhut; Zuber 2010 (s. Anm. 30), S. 15. 40 Zwar behandelt § 28 VSA die Vernichtung von VS-Sachen. Es heißt hier jedoch lediglich, dass »VS, die das zuständige Archiv nicht übernimmt« zu vernichten seien. 41 Wolfgang Buschfort: Projekt zur Geschichte des Verfassungsschutzes. In: Niederhut; Zuber 2010 (s. Anm. 30), S. 18. 42 PA AA: Zwischenarchiv Bd. 125.131, AZ: 118-262.00/0 VS-NfD: Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes an die Herren Leiter der Arbeitseinheiten im Hause, Betr.: Behandlung von Verschlußsachen (VS), 28. De- zember 1977.

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Es gibt jedoch weitaus kreativere Wege, die Einsicht in VS-Akten zu ver- hindern. Im Rahmen der »Aktion Kanzlerakten« erreichte 1968 der BND an- scheinend bei der US-Regierung, dass Akten unauffindbar wurden, in denen die Namen Kiesinger und Eichmann gemeinsam auftauchten. Die Mikro- film-Suchlisten in den National Archives in Washington wurden einfach aus dem Lesesaal entfernt.44

Vorläufige Chronik meines Akteneinsichtsersuchens

Im Folgenden wird dargelegt, wie sich mein Akteneinsichtsersuchen in den letzten zwei Jahren entwickelt hat. Das Verfahren um die archivierten Akten auf Grundlage des BArchG wird ausführlich dargestellt.45

Anfängliche Recherchen und Akteneinsichtseintrag Zu Beginn meiner Recherchen besuchte ich im Herbst 2008 das PA AA, um den relevanten Aktenbestand zu identifizieren. Ich konnte über die Find- bücher circa 200 Aktenbände46 feststellen, die im Titel einen direkten Bezug zur Colonia Dignidad aufweisen. Vom Archivpersonal wurde mir mitgeteilt, dass ich aufgrund der Regelungen des BArchG nur diejenigen Akten einsehen dürfe, die älter als 30 Jahre seien. Das war nur bei circa 25 der 200 Archiv- bände mit direkter Nennung der CD der Fall.47 »Für Unterlagen aus jüngerer Zeit müssten Sie sich auf die Sekundärliteratur einschließlich Pressebericht- erstattung stützen.«48 Auf ein Schreiben, in dem ich mich nach der Anwend- barkeit des IFG für die Akten erkundigte, die jünger als 30 Jahre sind, erhielt ich als Antwort: »Das IFG ist […] auf neue, noch nicht archivierte Akten- bestände anwendbar. Dies ist jedoch mit Einschränkungen verbunden […] Gemäß § 3 Nr. 4 IFG besteht ein Anspruch auf Informationszugang nicht, wenn die Information einer […] Geheimhaltungs- oder Vertraulichkeits- pflicht oder einem Berufs- oder besonderen Amtsgeheimnis unterliegt. Dies ist bei Unterlagen zur Villa Baviera, die noch nicht archiviert sind, der Fall.«49

43 Beschreibung des Bestandes B 136 (Bundeskanzleramt) in der Online-Archivgutsuche (Argus) des Bundes- archivs: http://www.startext.net-build.de (http://tinyurl.com/26xwf5; 18.02.2011). 44 Frank P. Heigl; Jürgen Saupe: Operation EVA – Die Affäre Langemann. Eine Dokumentation, Hamburg 1982, S. 144 f. 45 Das IFG-Verfahren verläuft teilweise ähnlich und kann aus Platzgründen hier nicht beschrieben werden. Ich bin auf Anfrage jedoch gerne bereit, weitergehende Auskünfte zu den Erfahrungen mit beiden Verfahren zu geben. 46 Ein Aktenband im PA AA umfasst in der Regel 200-400 Seiten. 47 Die übrigen etwa 175 Aktenbände reichen von 1981-1999, sind also mindestens 12 Jahre alt. 48 E-Mail vom PA AA an den Verfasser vom 12.09.2008. 49 Schreiben des AA an den Verfasser vom 27.01.2009.

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Das AA argumentierte also, dass alle noch nicht archivierten Akten zur CD als geheimhaltungsbedürftig eingestuft seien. Nach Beratung mit meiner Rechtsanwältin stellte ich daraufhin den Antrag, »in alle Akten des AA zur Colonia Dignidad (Villa Baviera), die den Untersuchungszeitraum meines Forschungsvorhabens betreffen (1961-2008), Einsicht zu nehmen«50. Ich stützte mich dabei auf BArchG und IFG.51

Der Verwaltungsweg – Antrags- und Widerspruchsverfahren Entweder war ein solcher Antrag beim AA eine Seltenheit oder das Promoti- onsthema von besonderer Tragweite: Wenige Tage nach dem Eingang mei- nes Schreibens lud das Politische Archiv elf Referate des Hauses zu einer internen Besprechung zum Thema »Zugang zu den Unterlagen über die Co- lonia Dignidad nach IFG und Archivrecht« ein.52 Der Antrag wurde unterteilt: Die Anfrage zum Archivgut wurde vom PA AA beantwortet, die Arbeitseinheit Informationsfreiheitsgesetz übernahm den Teil des noch nicht archivierten Aktenbestandes. Beide Stellen erteilten ab- lehnende Bescheide. Das PA AA führte in seinem Ablehnungsbescheid aus, dass der Inhalt des Schriftgutes geeignet sei, die Beziehungen der Bundesre- publik zu Chile zu belasten: »Entgegen der von Ihnen in o. g. Antrag vorge- tragenen Auffassung besteht somit Grund zu der Annahme, dass das Wohl der Bundesrepublik durch die vorzeitige Benutzung des Schriftgutes gefähr- det würde […] Ein Interesse an der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Colonia Dignidad/Villa Baviera in Teilen der Öffentlichkeit steht der Ein- schlägigkeit dieses Ausschlusstatbestandes nicht entgegen. Ein amtliches Interesse an ihrem wissenschaftlichen Vorhaben […] ist vor diesem Hinter- grund nicht gegeben.«53 Gegen diesen Bescheid legte ich am 27. Juni 2009 Widerspruch ein. Ich wandte ein, dass zwar das Gesetz der Bundesregierung eine Einschätzungs- prärogative zu möglichen nachteiligen Auswirkungen auf internationale Be- ziehungen zugesteht, diese müssten jedoch im Einzelfall schlüssig dargelegt werden. Eine pauschale Prognose möglicher Schädigungen bilateraler Bezie-

50 Schreiben des Verfassers an das AA vom 03.03.2009. 51 Im Falle des BArchG stützte ich mich auf die in § 5.5 vorgesehene Möglichkeit einer Reduzierung der »Schutzfrist« bei wissenschaftlichen Vorhaben. Vorsorglich wies ich darauf hin, dass ich nicht davon aus- ginge, dass durch eine wissenschaftliche Auswertung der Bestände zur CD das Wohl der Bundesrepublik gefährdet werden könnte. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der dort begangenen Menschenrechtsverbre- chen läge vielmehr im Interesse der Öffentlichkeit und Wissenschaft und müsste daher auch im Interesse des AA liegen. Sowohl bei BArchG und IFG müsse eine VS-Einstufung gerichtlich überprüfbar sein. Den Per- sönlichkeitsrechten Dritter könne durch eine Verpflichtung zur Anonymisierung Rechnung getragen wer- den. 52 Das Protokoll oder der Vermerk zu dieser Besprechung am 26.03.2009 kann, sofern es nicht vernichtet wird, spätestens ab dem 01.01.2040 im PA AA eingesehen werden. Die Tatsache, dass diese Besprechung stattge- funden hat, wurde dem Verfasser über den Aktengang im Rahmen des BArchG-Klageverfahrens bekannt. 53 Ablehnungsbescheid des PA AA vom 27.05.2009.

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hungen erscheint hingegen in diesem Zusammenhang als nicht ausreichend. Außerdem gäbe es laut GGO54 die Möglichkeit der Genehmigung unter Auf- lagen.55 Ferner wies ich darauf hin, dass ich bei einem Forschungsaufenthalt in Chile im Archiv des dortigen Außenministeriums Bestände zu Deutsch- land und CD bis zum Jahr 2005 einsehen durfte, was darauf hinweise, dass Chile die Befürchtung einer Schädigung der bilateralen Beziehungen nicht teilt. Das AA antwortete mit ablehnendem Bescheid56 am 13. Oktober 2009. Es bestärkte darin die Auffassung, dass das »Wohl der Bundesrepublik Deutschland« in Gefahr sei. Die Aufarbeitung des Gesamtkomplexes CD/VB sei ein »hochgradig sensibles Thema«. Schutzwürdige Interessen von Op- fern, Zeugen und Beteiligten seien in Gefahr, falls Informationen aus den Ak- ten durch die Veröffentlichung der Dissertation an die derzeitigen Bewohner der Sektensiedlung gelangen würden: »Die Bewältigung des Komplexes CD/VB ist für die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Repu- blik Chile von essentieller Bedeutung. Angesichts der Sensibilität des The- mas ist hierfür unbedingte Vertraulichkeit insbesondere hinsichtlich perso- nenbezogener Daten und interner Entscheidungsprozesse im Auswärtigen Amt Voraussetzung. Eine Einsichtnahme in die Archivakten und die an- schließende Verwendung gewonnener Informationen zu einem anderen als dem vorbestimmten Zweck der Verwaltungsaufzeichnungen ist geeignet, diese Vertraulichkeit zu gefährden und damit der deutsch-chilenischen Zu- sammenarbeit schweren, möglicherweise irreparablen Schaden zuzufügen. § 5 Abs. 6 Nr. 1 BArchG steht einer Benutzung der begehrten Akten daher entgegen.«57 Des Weiteren führte das AA § 5.6.2 (schutzwürdige Daten Dritter) und § 5.6.5 (Einstufung eines Großteils der Akten als VS-NfD) an und berief sich auf den breiten gesetzlich zugesicherten Ermessensspielraum. Gegen diesen Bescheid erhob ich Klage beim Berliner Verwaltungsgericht.58

Das Klageverfahren beim Berliner Verwaltungsgericht In der Klagebegründung argumentierte meine Anwältin, dass der Ermes- sensspielraum, den das BArchG in § 5.5 dem AA einräumt, auf Null redu- ziert sei, da die in § 5.6 aufgezählten und vom AA angeführten Ausnahmen,

54 Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien. 55 Mögliche Auflagen sind die Aufnahme einer amtlichen Gegendarstellung in die Arbeit oder die Verpflich- tung zur Anonymisierung von Opferdaten und Daten unbeteiligter Dritter. 56 Das AA wies zu Beginn des Ablehnungsbescheides darauf hin, dass laut § 68 VwGO bei einer obersten Bun- desbehörde ein Widerspruchsverfahren nicht vorgesehen sei, vielmehr sei direkt Klage zu erheben. Aller- dings räumte es ein, dass der Ablehnungsbescheid mit keiner Rechtsbehelfsbelehrung versehen gewesen sei. 57 Ablehnungsbescheid des PA AA vom 13.10.2009. 58 Klageerhebung am 26.10.2009. Aktenzeichen des Verfahrens: VG 1 K 892.09.

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die einer Herabsetzung der 30-Jahre-Frist entgegen stehen könnten, in die- sem Fall nicht erfüllt werden. Die Beziehungen zu Chile seien 20 Jahre nach Ende der Pinochet-Diktatur nicht gefährdet. Der Fall werde seit über 40 Jah- ren in der Presse thematisiert. Für eine wissenschaftliche Bearbeitung der Fragestellung der Dissertation sei eine Einsicht in die Akten des AA uner- lässlich. Das AA entgegnete in der Klageerwiderung am 20. Mai 2010, es sei un- erheblich, ob tatsächlich eine Gefährdung der bilateralen Beziehungen vorliege, es genüge vielmehr eine Prognoseentscheidung des AA. Eine Ano- nymisierung der Daten Dritter durch Schwärzen stelle einen zu hohen Ver- waltungsaufwand dar: »Eine vollständige Anonymisierung der Akten (131 Archivbände im geschätzten Umfang von 26 000 Blatt) wäre aus verwal- tungsökonomischer Sicht nicht zu bewerkstelligen.«59 Persönliche Opfer- daten seien in höchstem Maße schutzwürdig.60 »Daher haben das Transpa- renzgebot und das Interesse des Klägers an der Forschung zurückzutreten.« Wie bereits im Widerspruchsverfahren gelangt das AA zu dem Schluss, »dass der Zugang aufgrund des Eingreifens der Tatbestände des § 5. Abs. 6 Nr. 1, 2 und 5 BArchG ausgeschlossen ist«. Am 11. Juni 2010 rief der berichterstattende Richter beide Seiten zu einem nichtöffentlichen »Termin zur Erörterung und zum Versuch einer gütlichen Beilegung des Rechtsstreits« zusammen. Das AA bot jedoch keinerlei gene- relle Herabstufung der Schutzfrist an. Vereinbart wurde auf Vorschlag des Richters Folgendes: »Das AA ist bereit, auf konkrete Anfragen des Klägers zu bestimmten Ereignissen, die nach Möglichkeit nach Datum und Gegenstand präzisiert sind, das Archivmaterial durchzusehen und zu prüfen, ob dort Be- stände sind, die insbesondere den politischen Meinungsbildungsprozess wi- derspiegeln. Diese Dokumente werden sodann geprüft, ob einer Herausgabe Gründe entgegenstehen. Falls das nicht der Fall ist, wird das Material dem Kläger in Kopie zugänglich gemacht.«61 Das Verfahren sollte während der Einigungsbemühungen ruhen. Ich übergab dem AA eine auf Basis meiner bisherigen Forschung erstellte Liste mit etwa 60 zeitlich eingegrenzten Ereignissen ab 1980 und bat um Einsicht in die betreffenden Aktenvorgänge. Das AA teilte nach zehnwöchiger Prü-

59 Ein Problem des Streitens über von einer Behörde geheim gehaltenes Aktenmaterial ist die Feststellung des Streitgegenstandes an sich. Während das AA hier von 131 Aktenbänden spricht, habe ich (erst nach dieser Klageerwiderung) eine aus den Findbüchern erstellte Tabelle mit 177 Aktenbänden mit direktem Bezug zur CD im Titel eingereicht, die ich einsehen möchte. Ein noch undurchschaubarer Sachverhalt besteht in mei- nem IFG-Verfahren, da zu noch nicht archivierten Behördenakten keine Findmittel eingesehen werden kön- nen. Das AA macht hier über das Volumen des relevanten Aktenbestandes widersprüchliche Angaben. 60 Das wirkliche Interesse des AA am Schutz der Opferdaten ist fragwürdig. Im Dezember 2010 hat sich die Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad in einem offenen Brief an Außen- minister Westerwelle gewandt, die nicht stattfindende Aufarbeitung beklagt und eine Aktenfreigabe für mein Promotionsvorhaben gefordert. Ähnliche Forderungen an das AA stellt die Not- und Interessensge- meinschaft seit ihrer Gründung im Jahr 1988. 61 Verwaltungsgericht Berlin, Abschrift der nichtöffentlichen Sitzung vom 11.06.2010.

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fung mit, »dass die vorgelegte Liste bedauerlicherweise nicht geeignet ist, die gewollte sinnvolle Eingrenzung tatsächlich zu erreichen«. Sie sei zu um- fangreich und zu unbestimmt und solle daher »reduziert und konkretisiert« werden.62 Von dieser Antwort enttäuscht und in der Hoffnung, dass die Dis- kussionen und Entwicklungen nach dem inzwischen veröffentlichten Be- richt der Historikerkommission dem Gerichtsverfahren eine neue Dynamik verleihen werden, schlug ich dem AA eine generelle Herabsetzung der Schutzfrist für Unterlagen bis zum Jahr 1998 vor.63 Andernfalls würde ich eine Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens beantragen.64

Fazit: Transparenz statt Einzelfallprüfung

Der Umgang mit Akten war bei bundesdeutschen Behörden der Nachkriegs- zeit bisher restriktiv, es sei denn, eine Transparenz wurde zwangsverordnet, war politisch gewollt oder sollte der eigenen Rolle vorteilhaft sein. Eine Ent- scheidung über Ausnahmen lag dabei immer im Ermessen der Behörde. Die Ausübung eines Ermessensspielraums wird durch die Gesetzgebung ermög- licht und ist lediglich durch langwierige (und kostspielige) Klageverfahren überprüfbar. Das Beispiel meines ›Kampfes um die Akten‹ zeigt dies: Zwei Jahre nach Antragstellung gab es beim Gericht erst in einem der beiden Fälle einen Erörterungstermin, bis zu einem Urteil dürften weitere Monate ins Land ziehen, und schließlich könnte durch Berufung und Revision das Ver- fahren um weitere Jahre verlängert werden. Diese Akteneinsichtsgesuche über den Verwaltungs- und Klageweg sind folglich aus einer individuellen Kosten-Nutzen-Abwägung heraus nicht sinnvoll und wurden daher in den letzten Jahrzehnten von Wissenschaftler_innen nur wenig praktiziert. Die von der Historikerkommission geäußerte Kritik hat das AA und seine Sonderrolle in der Archivpolitik in Frage gestellt und im AA bereits Wirkung gezeigt: Im Januar 2011 wurden dem Forscher Dr. Dieter Maier, der wie ich beim Berliner Verwaltungsgericht auf Akteneinsicht geklagt hatte, Akten mit einer Laufzeit bis 1998 vorgelegt. Dem Geschichtsstudenten Peter Hammer- schmidt wurden Bestände zum Fall Barbie (Laufzeit bis 1988) freigegeben. Die Journalistin Gaby Weber erhielt Einblick in VS-Bestandsverzeichnisse zum Fall Eichmann. Ob dieses Entgegenkommen in Einzelfällen sich mittel- fristig zu einer allgemein freizügigeren Aktenzugangspolitik ausweitet, bleibt abzuwarten. Das AA wird seine Ermessensspielräume und Einschät-

62 Schreiben der Rechtsabteilung des AA vom 06.10.2010. 63 Das Jahr 1998 wurde gewählt, da dies der Akteneinsicht des Klägers Dieter Maier entspricht, die ihm im Ja- nuar 2011 gewährt wurde. 64 Schreiben an das AA vom 22.02.2011.

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zungsprärogativen sicherlich nicht freiwillig aus der Hand geben, ohne poli- tisch und gerichtlich dazu gezwungen zu werden. Andere Behörden haben in den letzten Monaten ähnliche Historikerkom- missionen wie das AA angekündigt.65 Während dies Schritte in die richtige Richtung sind, stellen sie doch zugleich Versuche dar, die Deutungsmacht nicht gänzlich aus der Hand zu geben. Denn diese als »unabhängig« be- zeichneten Kommissionen werden von den Behörden berufen und ihr ver- traglich festgelegtes Mandat ist beschränkt.66 Es bleibt zu hoffen, dass die von der AA-Historikerkommission belebte Diskussion um Aktenzugang im AA und bei allen Bundesbehörden auch nach dem Abklingen der Debatte um Das Amt weitergeführt wird. Langfris- tiges Ziel sollte dabei ein Paradigmenwechsel sein – weg vom Paradigma der ermessensausübenden und den Einzelfall prüfenden Behörde, hin zu ei- nem Recht auf Transparenz und Behördenkontrolle, das der Forschung so- wie der Öffentlichkeit zusteht. Dieser Paradigmenwechsel sollte sich auch in einer Reform von BArchG und IFG niederschlagen. Um diese politische Debatte zu flankieren und mittelfristig einen Wandel in der Grundhaltung des PA AA und anderer Archive einzuleiten, müssen je- doch Präzedenzentscheidungen auf der juristischen Ebene bis hoch zum Bundesverwaltungsgericht erklagt werden. Da Kosten und Aufwand solcher Klageverfahren das Forschungsbudget einzelner Promotionsprojekte bei weitem übersteigen, sind hier wissenschaftliche und politische Institutionen gefragt, eigene Klagen zu führen oder Klagen einzelner Forscher_innen ge- zielt zu unterstützen. Nur so kann auch der eklatanten Ungleichheit der juri- stischen und ökonomischen Mittel entgegengetreten werden, denn Behör- den treten bei solchen Rechtsstreitigkeiten mit großen – steuerfinanzierten – Rechtsabteilungen an. Erst ein breiterer, rechtsverbindlicher Zugang zu den Akten kann dazu führen, dass das Schrifttum der Bundesrepublik nicht mehr als Sprengstoff- depot, sondern als Chance für eine offene Auseinandersetzung mit der Ge- schichte betrachtet wird. Auch und gerade weil eine Aktenfreigabe für Behörden oder einzelne ihrer Mitglieder nicht immer nur Schmeichelhaftes ans Tageslicht bringen wird, sollte breiterer Zugang rechtsverbindlich wer- den. Weniger Geheimhaltung ist im öffentlichen Interesse, wobei der Daten- schutz dabei auch nicht zu kurz kommen muss. Und das »Wohl der Bun- desrepublik Deutschland« wird dabei keinen Schaden nehmen. Ganz im Gegenteil.

65 Unter anderem wurden Historikerkommissionen des Bundesfinanzministeriums, des BND und des Verfas- sungsschutzes auf den Weg gebracht. 66 So beschränkt sich der Auftrag der im Februar 2011 berufenen Historikerkommission des BND auf die Auf- arbeitung der Jahre bis 1968.

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Epilog nach Redaktionsschluss

Letztlich wurde meine Hartnäckigkeit doch noch belohnt. Im Sommer 2011 ließ sich das AA beim Berliner VG auf zwei Vergleiche ein, die mir – unter Auflagen – einen weitgehenden Aktenzugang gestatten: Im BArchG-Fall darf ich nun ohne Laufzeitbeschränkung alle Akten der Botschaft Santiago de Chile einsehen, die einen CD-Bezug aufweisen.67 In der Auseinanderset- zung um die AA-Akten aus den Referaten auf Grundlage des IFG erhalte ich Einblick in den Gesamtbestand der Akten zur CD.68 Ich betrachte diese Vergleiche als Erfolg und als einen Schritt hin zu einer wissenschafts- und bürger_innenfreundlicheren Aktenzugangspraxis bei deutschen Behörden.

Verwendete Abkürzungen AA Auswärtiges Amt BarchG Bundesarchivgesetz BverwG Bundesverwaltungsgericht BT-DS Bundestagsdrucksache BStU Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR CD Colonia Dignidad IFG Informationsfreiheitsgesetz PA AA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes StUG Stasi-Unterlagen-Gesetz VB Villa Baviera VG Verwaltungsgericht VS Verschlusssache VS-NfD Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch VS-V Verschlusssache – Vertraulich VSA Verschlusssachenanweisung

67 Verwaltungsgericht Berlin, GZ: VG 1 K 892.09, Vergleichsprotokoll vom 29.07.2011. Es handelt sich hierbei um 85 Aktenbände. 68 Verwaltungsgericht Berlin, GZ: VG 2 K 80.10, Beschluss vom 10.08.2011 mit anschließender Zustimmungs- erklärung beider Parteien.

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GEWALT UND ERINNERUNG

Oliver Schupp

Der Verlust kommunistischen Begehrens. Entwurf einer geschichtsphilosophisch informierten und gedächtnistheoretisch begründeten Deutung der Brucherfahrung von ehemaligen Kommunist_innen in der Weimarer Republik

Eine bestimmte historische Erfahrung ist verloren gegangen. Die Ereignisse, von denen sie Zeugnis ablegt, sind gleichermaßen von den gesellschaftlichen Triebkräften der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt wie von dem Druck, der auf dem Bewusstsein der Hinterbliebenen lastete und das Erlebte vergessen ließ. Die Rede ist von den Brucherfahrungen einer Reihe von Aktiven und Sympathisant_innen der kommunistischen Bewe- gung im zeitlichen Rahmen der Weimarer Republik. Aufgrund der spezifi- schen politischen Konstellation nach dem Zweiten Weltkrieg ist ihnen die Weitergabe an nachfolgende Generationen lange Zeit verwehrt geblieben. Damit ist weiterhin unabgegolten, was als Erbe der historischen Arbeiterbe- wegung auf der Tagesordnung stehen müsste. In diesem Aufsatz will ich zum einen die Fragestellung meines Disserta- tionsvorhabens kurz anreißen und zum anderen den eigenwilligen For- schungsgegenstand der Autobiografie vorstellen.

I.

Um die Konstellation zu erschließen, die das Vergessen der Brucherfahrung begünstigt hat, habe ich zwei Zugänge gewählt. Zum einen geht es um die historische Frage der Entwicklung dominanter Erinnerungskulturen und zum anderen um das theoretische Problem, was Vergessen in kollektiven Zusammenhängen bedeutet. Beide Fragen können hier nur schlaglichtartig skizziert werden.

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Am Beginn meiner Untersuchung steht der Befund, dass das gegen- wärtige Bild der Arbeiterbewegung im kollektiven Gedächtnis nur einen verzerrten Ausschnitt von deren Rolle und Bedeutung im 20. Jahrhundert liefert. Besonders dasjenige, was Trägerin einer umfassenden emanzipatori- schen Erwartung war und in meiner Terminologie »kommunistisches Begeh- ren« heißt, ist praktisch vollständig absent. Es stellt sich daher die Frage, wo die Gründe für die verzerrte Präsenz lie- gen? Zum Zweck der Darstellung kann schematisierend konstatiert werden, dass die Erinnerungskultur in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrie- ges von zwei aufeinanderfolgenden Dispositiven gekennzeichnet war. Zunächst war die Erinnerungskultur durch die Logik der Systemkonkur- renz bestimmt und die Präsenz und Tradierung des kommunistischen Begehrens dadurch weitgehend blockiert. Da die binäre Struktur der Macht- blöcke den individuellen Erinnerungen eindeutige normative Zuschreibun- gen verpasste und sie durch die Pole Freund und Feind unter jeweils ge- gensätzlicher Vorzeichensetzung markiert wurden, war für eine politische Lebensgeschichte, die sich diesem Schema nicht fügte, kein Platz. Den gemeinsamen Bezugspunkt der konkurrierenden Erinnerungskultu- ren bildete der antifaschistische Kampf und daraus folgend der Anspruch, dessen legitime Erbfolge anzutreten. Bezogen auf die Erinnerungsdiskurse im geteilten Deutschland bedeutete dies: Im Westen wandelte sich der Anti- faschismus in Antitotalitarismus, was einerseits eine enorme Entlastung von der Aufarbeitung der eigenen politischen Vergangenheit leistete und dabei unterstützte, den Feind auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs zu ver- orten. Auf der anderen Seite: im Osten verknüpfte sich das Engagement für den sozialistischen Aufbau mit dem Anspruch, die einzige Garantie gegen die Wiederholung des Faschismus zu vertreten. Die Erinnerungen hatten sich hier der antifaschistischen Staatsdoktrin zu fügen. Demensprechend galten die autobiografischen Erinnerungen ehemaliger Kommunist_innen entweder als Zeugnisse von Menschen, die sich vom falschen Glauben be- freien konnten, oder als Renegatenliteratur. Das jeweilige Master Narrative bezog seine erinnerungsintegrative Kraft aus der zeitlichen Nähe zum Ereignis des Faschismus, das das gemeinsame erinnerungskulturelle Dispositiv begründete: Dadurch erschien es so, dass der ehemalige Feind nun nach dem Sieg über den Faschismus jeweils auf der anderen Seite in neuer Form wiederauferstanden war. Auf der einen Seite in Form des sozialistischen Einparteienstaats als totalitarismustheoretisch be- gründetes Pendant zum faschistischen Staat; auf der anderen Seite als Re- stauration des Staatsapparates mit starker personeller Kontinuität vom na- tionalsozialistisch gleichgeschalteten Staat zur BRD. Wenngleich nicht völlig unmöglich, war es dennoch sehr schwierig, die individuelle Erfahrung mit der kommunistischen Bewegung zu artikulieren, die sich der Integration in

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diese Großerzählungen widersetzte. Spätestens auf der Rezeptionsebene wa- ren die binären Deutungsmuster so dominant, dass eine Interpretation, die sowohl dem kommunistischen Begehren als auch der ernüchternden Erfah- rung mit der Entwicklung der kommunistischen Bewegung Rechnung tra- gen wollte, randständig blieb. Bereits vor dem Ende der Systemkonkurrenz begann ein konkurrierendes Dispositiv die Erinnerungen neu zu orchestrieren und sukzessive das Dispo- sitiv der Systemkonkurrenz abzulösen. Der dadurch gegründete neuere Er- innerungsdiskurs war gekennzeichnet von zwei Großnarrationen, die beide eine analoge Struktur aufweisen. Gemeinsam ist diesen Narrationen zum ei- nen, dass in deren Mittelpunkt die Erfahrung von Menschheitsverbrechen steht, und zum anderen sind in ihnen die Erinnerungsinhalte gemäß einer dichotomen Struktur geordnet, in der nur die Subjektpositionen des Opfers und Täters vorgesehen sind: Im Zentrum der ersten Erzählung steht die zivi- lisatorische Katastrophe des totalen Krieges und der Shoah. Den Mittelpunkt der zweiten Erzählung bildet der Stalinismus, dessen Auswirkungen in der Sowjetunion, aber vor allem innerhalb der Satellitenstaaten der SU nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die binäre Struktur des Freund-Feind-Sche- mas wurde somit durch ein Täter-Opfer-Schema abgelöst. In diesem Setting sind für die Arbeiterbewegung auch nur diese beiden Plätze vorgesehen. Entweder als Opfer der politischen Verfolgung und des Verbots im Nationalsozialismus oder als Bewegung, aus deren revolu- tionären Idealen der totalitäre Staatssozialismus erwachsen ist. Ihre Inszenie- rung als eigenständige, positive Wirkungskraft des 20. Jahrhunderts ist in diesem Rahmen unmöglich. Im Hinblick auf das kommunistische Begehren wiegt noch zusätzlich, dass die Arbeiterbewegung durch ihre Eingemeindung in die Gesellschaften des globalen Westens ihre Rolle verloren hat, Träger und Kommunikator ei- nes kommunistischen Begehrens zu sein. Die Eingemeindung der Arbeiterbewegung setzte bereits vor der Täter- Opfer-Strukturiertheit des vorherrschenden Erinnerungsdiskurses ein und unterlag der sozialintegrativen Kraft des Fordismus, welcher zentrale Forde- rungen der Arbeiterbewegung subsumieren konnte, indem ein breiter Wohl- stand, soziale Sicherheit und beschränkte politische Partizipation gewährt wurden. Zudem implodierte Anfang der 1990er Jahre mit dem Ostblock auch die letzte Instanz, die eine konkurrierende Erzählung über das Los und die Errungenschaften der Arbeiterbewegung stützte und dem Begehren eine symbolische Präsenz sichern konnte. Damit wäre die Entwicklung der vorherrschenden Dispositive vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart schlaglichtartig zusammen- gefasst. Für die intergenerationelle Weitergabe von diesbezüglichen Erfah- rungen war dies von einer beträchtlichen blockierenden Wirkung gekenn-

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zeichnet. Was es heißt, Kommunist zu sein, die Vorbehalte gegenüber dem Vorrecht der KPdSU nicht aufzugeben und deshalb mit dem Parteikommu- nismus brechen zu müssen, unterlag dem Prozess des sukzessiven Verges- sens.1 Damit der Befund des sukzessiven Vergessens über den Status einer Be- hauptung hinausgeht, will ich ihn zusätzlich mit gedächtnistheoretischen Überlegungen verknüpfen, deren Fokus auf dem Aspekt kollektiven Verges- sens liegt. Dies bildet den zweiten Zugang, der das Verschwinden der Erin- nerung an ein (spezifisch historisches) kommunistisches Begehren plausibili- sieren soll. Als grundlegend für das Feld gelten die Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis von Maurice Halbwachs.2 Aus seiner Perspektive ist das indivi- duelle Erinnerungsvermögen sozial bedingt. Nur im Rahmen eines kommu- nikativen Austauschs kann individuelles Gedächtnis und in diesem Zug individuelle Identität ausgebildet werden. Daraus resultiert, dass die Erinne- rungsinhalte einer gegenwartsbezogenen Prägung unterworfen sind. Sie verändern sich im Zuge der jeweiligen Anforderungen der Gegenwart, wer- den überlagert von neuen Erfahrungen, gegebenenfalls revidiert oder ver- worfen. Der Gegenwartsbezug bedeutet demnach auch, dass Erinnerung se- lektiv ist. Erinnert bleibt, was sich als funktional erweist. Vergessen wird, was unnütz geworden ist oder die Bewältigung des Alltags stört. An dieses Konzept des kollektiven Gedächtnisses knüpfen Aleida und Jan Assmann an und leisten eine Binnendifferenzierung des Begriffs.3 Während die Tradierung des Gedächtnisses für Halbwachs an direkte intergenera- tionelle Kommunikation geknüpft ist, wird es in ihrem Konzept zeitlich entgrenzt und räumlich entbunden: Es muss nicht auf die unmittelbare In- teraktion zwischen menschlichen Gedächtnisträgern, die miteinander kom- munizieren, beschränkt sein, sondern erfährt eine Erweiterung durch die Überlegung, dass kulturelle Gegenstände eine Erinnerungsweitergabe über einen längeren Zeitraum ermöglichen. »Verlust« im Sinne eines kollektiven Vergessens kann in diesem Zusam- menhang mithin verstanden werden als Teil soziokultureller Erinnerungs- praktiken. Das Problem dieser gedächtnistheoretischen Ansätze ist, dass un- terbelichtet bleibt, was Funktionalität und Gegenwartsbezug eigentlich bedeuten. Dass Erinnerung und Vergessen in ein komplexes und konfliktrei-

1 Aus der Perspektive der Forschung kann der momentanen Situation aber auch Positives abgewonnen wer- den: Zum einen sind nun Quellenmaterialien für die Forschung zugänglich, die zuvor nur einem ausge- wählten Kreis vorbehalten waren. Zum anderen besteht nun die Möglichkeit, Dokumente der Geschichte er- neut zu durchforsten und Erfahrungen offenzulegen, die zuvor immer dem binären Raster der Systemkonkurrenz untergeordnet waren; zentrale Facetten blieben deshalb ausgeblendet. 2 Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen [1925], Frankfurt am Main 1985; ders.: Das kollektive Gedächtnis [1950], Frankfurt am Main 1991. 3 Vgl. Aleida Assmann; Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988.

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ches Netz eingebunden sind, kann durch kulturtheoretische Bezüge vertieft werden, die auf die kulturkonstituierende Bedeutung von Vergessen hin- weisen. In den Kulturwissenschaften gilt Friedrich Nietzsches Zeitkritik als wich- tiger Zeuge für den Zusammenhang zwischen Vergessen und Kulturkonsti- tution bzw. Kulturvitalität. Nietzsche vergleicht in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachtheile der Historie für das Leben die leidvolle Existenz des Menschen mit der Idylle und Unmittelbarkeit der Tierwelt. Während Tiere mit ihrem Empfindungsvermögen an den Pflock des Augenblicks angebunden sind, besitzt der Mensch das schwere Los des Erinnerungsvermögens. Dies macht den Menschen zwar dem Tier überlegen, aber der Preis für diesen Besitz ist hoch: Nur der Mensch kennt Schwermut und Überdruss, von denen die wei- dende Tierherde nichts wissen kann. Seine Schlussfolgerung ist, dass es eine Verwendung »von historischen Sinnen [gibt], bei dem das Lebendige zu schaden kommt, und zuletzt zugrunde geht«4. In dem Moment, in dem die Erinnerung den Bezug zum Leben verliert, wird sie dem Menschen zur Last und stellt seine Entwicklung in Frage. Die Menschen sollen sich demnach der Historie so weit bedienen, wie ihre Kultur diese zum Leben benötigt. So- bald sie sich aber zum Selbstzweck verdinglicht, verliert sie ihre Berechti- gung. Vergessen ist also der Sinn als Korrektur, wenn die monumentalisti- sche und antiquarische Form der Geschichte ein lebensfeindliches Übermaß gewinnen. Auch für Sigmund Freud ist Vergessen von kulturkonstitutiver Bedeu- tung. In seiner kulturgenetischen Studie Totem und Tabu überträgt er das Trauma der ödipalen Urszene auf den phylogenetischen Ursprung von Zivi- lisation und Kultur. An den Ausgangspunkt stellt er die Annahme einer prähistorischen Urhordenexistenz der Menschheit, innerhalb welcher alle Mitglieder der Autorität des Vaters unterstehen, der alleine über die Frauen verfügt und bei Regelverbot die Söhne mit dem Tod oder Kastration bestraft. Der erste Schritt im Übergang zur Kultur wird vollzogen, indem die Brüder sich verbünden, den Vater ermorden und verspeisen. Infolge der Scham über den Regelverstoß, für die die Autorität des Vaters stand, etabliert sich eine neue Gesellschaftsordnung, in der Vatermord und Inzest tabuisiert sind. Der Urvater wird in den Rang einer diffusen Gottheit erhoben und der Tötungs- akt, der zur Etablierung der abstrakten Gebote geführt hat, die den gesell- schaftlichen Mitgliedern einen Triebverzicht abverlangten, verdrängt. Auch in der Dialektik der Aufklärung findet sich eine Figur des Vergessens, das in den Prozess der menschlichen Entwicklung eingeschrieben ist. Ausge- hend vom Zustand der Menschheit, der seine Ausprägung im Faschismus

4 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874]. In: Ders.: Kritische Studi- enausgabe, Bd. 1, Berlin, New York 1988, S. 243-334, hier: S. 250.

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und in der verwalteten Welt der Massendemokratien gefunden hat, er- blicken Theodor W. Adorno und Max Horkheimer eine regressive geschicht- liche Dynamik. Nicht, dass ab einem bestimmten Punkt eine rückschrittliche Entwicklung eingesetzt hätte, sondern dass die Regression dem Fortschritt selbst inhärent sei, lautet ihre geschichtsphilosophische Diagnose. Anstatt auf Freiheit und Emanzipation hinauszulaufen, verstärkt sich mit dem Fort- schritt die Verstricktheit der Individuen in Herrschafts- und Zwangsverhält- nisse. Wenngleich »die Freiheit in der Gesellschaft des aufklärenden Den- kens unabtrennbar ist«5, muss die Aufklärung das ihr immanent rückläufige Moment reflektieren, will sie sich dem Schicksal der Selbstzerstörung nicht hingeben. Die bisherige Entwicklung des aufklärerischen Denkens ist durch das Defizit gekennzeichnet, ihre verdinglichende und instrumentalisierende Schattenseite vergessen zu haben. Damit verflochten ist das Vergessen der ei- genen Herkunft, das im Mythos der Vorzeit begründet liegt, welcher bereits der Übermacht der Natur durch Ordnung, Organisation und Erklärung un- beholfen Herr zu werden versuchte. Daraus ziehe ich folgende Schlussfolgerungen: Auch wenn dem Verges- sen die Eigenschaft zukommt, notwendiger Bestandteil von kultureller Erin- nerung zu sein, ist ihm ein Moment von Gewalt zu eigen. Vergessen ist nie neutral, und ein bestimmtes Vergessen kann eine zentrale Bedeutung für die Konstellation gegenwärtiger Subjektidentitäten besitzen. Im Bezug auf mein Thema bedeutet dies, dass Erinnerungen kommunistischen Begehrens einer Entwicklung kollektiven Vergessens unterlegen waren und weiterhin unter- liegen. Vergessen ist, dass sich Kommunismus nicht nur als säkularisierte Religion mit Heilsversprechen und nicht nur als repressive, gewaltförmige und totalitäre Kehrseite der Geschichte der Arbeiterbewegung gezeigt hat, sondern ebenso identitätsstiftend und handlungsleitend die Möglichkeit der freien Assoziation von Individuen im Feld der politischen Praxis bewahrt hat. Um dieses vergessene Begehren offenzulegen, will ich autobiografische Schriften von deutschen Kommunist_innen untersuchen, deren zeitliche Kli- max in den Folgejahren von 1918 liegt. Es geht um Lebensgeschichten, die in diesem Zeitraum durch die Erfahrung eines Bruchs gekennzeichnet sind, die die Tätigkeit oder Sympathie für die Kommunistische Partei Deutschlands in Zweifel gezogen hat. Meine Erwartung besteht darin, dass sowohl die je- weils historisch spezifischen Gründe für das kommunistische Begehren als auch die Momente des Zweifels rekonstruiert werden können. Damit ver- bunden verfolge ich das Ziel, die spezifische Situation von Kommu- nist_innen sichtbar zu machen, die sowohl von dem Begehren als auch dem

5 Theodor W. Adorno; Marx Horkheimer: Dialektik der Aufklärung (1944). In: Theodor W. Adorno: Gesam- melte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1970 ff., S. 13.

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Zerwürfnis mit dem Parteikommunismus Zeugnis ablegen. Zusammenge- fasst geht es also darum, verschüttete und vergessene Erfahrungen offenzu- legen und die Gründe für das Vergessen zu reflektieren. Um die Gruppe von Autobiografen zu konturieren, die die spezifischen Erfahrungen durchlebt haben, habe ich die Bezeichnung »ehemalige Kom- munist_innen« gewählt. Weil diese Bezeichnung für sich einen weiten Inter- pretationsspielraum zulässt, will ich den Bezugspunkt, an den die Bezeich- nung andockt, explizieren. Ich schließe mich mit der Kategorie der ehemaligen Kommunist_innen an eine Differenzierung von Hannah Arendt an, ver- wende sie aber in einem anderen Sinne. Arendt unterscheidet in ihrem Essay »Gestern waren sie noch Kommu- nisten« aus dem Jahre 1951 zwischen ehemaligen Kommunist_innen und Ex-Kommunist_innen.6 Während Ex-Kommunist_innen sich nach ihrer »Be- kehrung« vornehmen, den Kommunismus bis zum »Endgefecht« zu bekämp- fen, haben sich die ehemaligen Kommunist_innen ins Privatleben zurück- gezogen und einen neuen Lebensabschnitt begonnen, ohne den vorherigen und die darin enthaltenen Hoffnungen vollständig zu negieren.7 Für Ex- Kommunist_innen steht der Kommunismus weiterhin im Zentrum ihres Le- bens und in gewisser Weise sehen sie sich aufgrund ihres Schicksals, den Schrecken des Kommunismus unmittelbar erfahren zu haben, dazu berufen, die freie Welt gegen den Totalitarismus an vorderster Front zu verteidigen. Arendt richtet ihr Augenmerk und ihre Kritik auf die Ex-Kommu- nist_innen und schenkt den ehemaligen Kommunist_innen kaum weitere Beachtung. Es bleibt nur angedeutet, dass sie dieser Gruppe wohlwollend gesinnt ist. Es verdiene Respekt, dass sie ihr öffentliches Leben gegen ein pri- vates eingetauscht haben. Der Rückzug ins Private trotze einen wesentlich höheren Verzicht ab als ein bloßer Seitenwechsel auf der politischen Bühne: »Die öffentliche Demütigung eines Bekenntnisses ist leichter zu ertragen als die vielen Demütigungen im Gefolge eines Berufswechsels. Aus dem Lichte der Öffentlichkeit zu verschwinden und ein Privatmann zu werden,

6 Bei Arendt ist freilich der queer-sensitive Unterstrich nicht zu finden. Dennoch halte ich es für berechtigt, ihn (abgesehen von wörtlichen Zitaten) weiterhin zu verwenden. Auch wenn die Frage der Geschlechtsiden- tität in den sprachlichen Ausdruck von Arendt keinen Raum gefunden hat, kann davon ausgegangen wer- den, dass sie ihrem Gedanken nicht grundsätzlich entgegensteht. 7 Vgl. Hannah Arendt: Gestern waren sie noch Kommunisten. Zur Erkenntnis einer gefährlichen Zeiterschei- nung [1953]. In: Dies.: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München 2000, S. 228-237, hier: S. 229. Eigentümlicherweise steht diese Einschätzung in Kontrast zu der Wertschätzung, die Arendt in ihren theoretischen Schriften dem politischen Handeln zukommen lässt. In »Über die Revolution« zitiert sie bei- spielsweise zustimmend einen Gründervater der Amerikanischen Revolution, für den das Politische der »Leidenschaft, sich zu unterscheiden und abzuheben«, und »dem Wunsch, nicht nur zu gleichen und gleich- zukommen, sondern sich auszuzeichnen«, Raum gibt. Es scheint so, dass aus ihrer Sicht ehemalige Kommu- nist_innen aufgrund ihrer vorgängigen Lebensgeschichte die Möglichkeit, einen Neu-Anfang auf der politi- schen Bühne zu versuchen, verwirkt haben. Vgl. Hannah Arendt: Über die Revolution [1965], München 1974, S. 86.

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ist ein erheblich einschneidenderer Entschluß, als im Rollenspiel der ›Welt- geschichte‹ die Rollen auszutauschen.«8 Arendt bringt damit aber auch zum Ausdruck, dass die gemachte Erfah- rung von ehemaligen Kommunist_innen in und mit der Bewegung zwar von persönlicher Relevanz sein mag, ein öffentliches Interesse ihr aber abzuspre- chen ist. Die spezifische Erfahrung, Teil einer revolutionären Bewegung ge- wesen zu sein und ohnmächtig miterleben zu müssen, wie sich das eigene, in institutionelle Zusammenhänge eingebundene Handeln verselbständigt und eine unintendierte Richtung einnimmt, scheint aus ihrer Perspektive be- langlos zu sein. Vermutlich unbeabsichtigt bestätigt Arendt dadurch die wirkmächtige und verhängnisvolle Setzung, die sie an anderer Stelle explizit kritisiert. Denn was aus ihrer Perspektive Kommunist_innen und Ex-Kom- munist_innen gemein haben, ist die verurteilungswürdige Weltsicht, die »die ganze Struktur unserer Zeit in einer extremen Zweiteilung« 9 sieht. Was Kommunist_innen und Ex-Kommunist_innen ein extrem polares Weltbild ist, das kennt unter gegensätzlichen Vorzeichen nur gut und böse, richtig und falsch, ohne dazwischen liegende Schattierungen. Indem Arendt selbst aber ehemaligen Kommunist_innen nur die Möglichkeit lässt, sich ins Pri- vatleben zurückzuziehen, ist auch aus ihrer Perspektive eine dritte Spre- cher_innenposition zwischen Kommunist_innen und Ex-Kommunist_innen nicht vorgesehen, die die dichotome Struktur der Sprechsituation aufbre- chen könnte. Es stellt sich aber die Frage, ob es nicht möglich oder sogar dringend angebracht ist, diese dritte Position begrifflich zu berücksichtigen und ihr dadurch Raum zur Artikulation zu bieten. Dadurch kann aufgezeigt werden, dass sich in diesem vergangenen Flüstern einerseits der traumati- sche Umschlag von revolutionärer Bewegung zu totalitärer Herrschaft re- flektiert, andererseits die Enttäuschungserfahrung nicht zum Anlass genom- men werden muss, dem kommunistischen Begehren abzuschwören. Walter Benjamins Diktum folgend, dass die feinen und spirituellen Dinge in den so- zialen Kämpfen der Geschichte sich der Vereinnahmung als Beute der Sieger entheben und »als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegt- heit in diesem Kampf lebendig [sind] und in die Ferne der Zeit zurück[wirken]«10, will ich in meiner Dissertation mein Gehör diesem leisen Flüstern ehemaliger Kommunist_innen zuwenden, die Zeugnis über ihre persönlichen Erfahrungen mit der kommunistischen Bewegung ihrer Gegen- wart ablegen.11

8 Arendt 2000 (s. Anm. 7), S. 230. 9 Ebd. 10 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte [1940]. In: Ders.: Erzählen, Frankfurt am Main 2007, S. 129-142, hier: S. 130. 11 Um weiter in Benjamins Aphorismus zu bleiben, besteht meine Hoffnung darin, dass die darin enthaltenen Erfahrungen zu den Momentaufnahmen gehören, die »immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen«. – Benjamin 2007 (s. Anm. 10), S. 130.

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Zum Abschluss will ich noch auf zwei Schwierigkeiten Bezug nehmen, die sich einstellen, wenn man die skizzierte Kategorie der ehemaligen Kom- munist_innen zum Zwecke der Sampleauswahl heranziehen will. Zunächst hat sich gezeigt, dass die Grenzverläufe zwischen den realen Lebensgeschichten, die sich anhand Arendts Unterscheidung analytisch scheiden lassen, sowohl gegenüber Kommunist_innen als auch gegenüber Ex-Kommunist_innen deutlich fließender sind. Die Biografien von Kommu- nist_innen aus dieser Zeit folgen häufig nicht der Kohärenz, die eine solche klare Einteilung ermöglicht. Gerade wenn eine autobiografische Nieder- schrift dies nahelegt, ist eine deutliche Skepsis angebracht. Die Autobiogra- fien, die am stärksten von klaren widerspruchslosen Entscheidungen und zweifelsfreier Hingabe am meisten dem Kohärenzkriterium entsprechen, wurden in der DDR publiziert, was im Regelfall von der »Schere im Kopf«, Zensur und einer Erinnerungsfunktionalisierung zeugt, mit der Publikatio- nen kommunistischer Autobiografien unmittelbar verknüpft waren. Hier liegt die Vermutung nahe, dass die Erinnerungen »glatt gebügelt« und ambi- valente Stellen aus den Autobiografieentwürfen vor der Veröffentlichung eli- miniert wurden. Die zweite Schwierigkeit resultiert aus dem spezifischen historischen Er- kenntnisinteresse und dem daraus resultierenden zeitlichen Fokus der Wei- marer Republik. Die ambivalente Erfahrung mit der KPD während der Wei- marer Republik ist in der Regel durch gewichtige Folgeerfahrung überlagert: Der Kampf gegen den Faschismus (und je nach weiterem Verlauf der Biogra- fie auch der anschließende Aufbau eines sozialistischen Deutschlands) besaß eine große emotionale Bindekraft, so dass die beginnende Entfremdung von der kommunistischen Bewegung in der Weimarer Republik praktisch nie zu einem faktischen Bruch geführt hat. Den Blick auf die geringe Zahl von Kommunist_innen zu beschränken, die während der Weimarer Republik aus der Partei ausgetreten sind oder ausgeschlossen wurden und darüber auto- biografisches Zeugnis ablegen, erscheint aus diesem Grund willkürlich und wenig hilfreich. Wenn dies aber kein Eingrenzungsmerkmal sein soll, muss einerseits die revitalisierende Kraft des antifaschistischen Kampfes (und ge- gebenenfalls des sozialistischen Wideraufbaus) und andererseits das trau- matisierende Ereignis, das nach langer Zeit der Latenz die Erinnerung an die Erfahrung mit dem Parteikommunismus der 1920er Jahre wachgerufen hat, Berücksichtigung finden. Dabei kann der spätere Bruch sowohl durch ge- schichtliche Großereignisse (Moskauer Schauprozesse, Aufstand des 17. Juni 1953, Niederschlagung des Volksaufstands in Ungarn 1956, Prager Frühling etc.) als auch individuelle Erlebnisse (Konfrontation mit dem repressiven Parteiapparat, Parteiausschluss, Folter, Haft) motiviert sein. Daraus folgt, dass sich die zwiespältigen Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik nicht so leicht erschließen lassen. Da sie in lebensge-

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schichtliche Verläufe eingebunden sind, die anschließend mit Situationen konfrontiert waren, die die Erfahrung mit der KPD in den 1920er Jahren buchstäblich in den Schatten stellt, konnten die ambivalenten Gefühle ge- genüber der parteiinternen Entwicklung überlagert werden. Dementspre- chend wurde die Motivation zur Kritik, die anstand, um den Zwiespalt auf- zulösen, entweder auf die lange Bank geschoben oder komplett verworfen. Autobiografien berichten über die 1920er Jahre deshalb immer gefärbt durch die Brille der nachfolgenden Erfahrung.

II.

Es deutet sich bereits an, dass die Analyse von Autobiografien nicht einfach ist, will man die darin enthaltenen Erfahrungen herausdestillieren. Die Sper- rigkeit des Untersuchungsgegenstands wird noch dadurch verstärkt, dass sich das Genre ebenfalls als sperrig erweist, was in der einschlägigen Litera- tur auch einmütig konstatiert wird.12 Nach der Konturierung meines Gegenstandes will ich nunmehr auf die Erschließung der Autobiografien eingehen. Autobiografien gelten zwar landläufig als bekenntnishafte Bildungs- und Entwicklungsgeschichten, Schlüssel zum Verständnis der Persönlichkeit des Autors und Form der Selbstdarstellung, der es gelingt, das eigene Leben in größere geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge einzuordnen und es so als kohärente Einheit zu präsentieren. Diese Sicht ist in der Forschung aber längst nicht mehr unwidersprochen. Stichwortgeber für die Auffassung von Autobiografie, die sich im Alltags- verstand niedergeschlagen hat und auch wissenschaftlich lange Zeit bestim- mend war, ist der Soziologe Wilhelm Dilthey. Den Schlüssel für seine Per- spektive liefert seine lebensphilosophische Erkenntnistheorie, die die Autobiografie für eine herausragende Form der Selbst- und Lebensdeutung erklärte. In Autobiografien werde auf herausragende Weise von der Ver- schränkung von Individualgeschichte und allgemeiner Geistesgeschichte Zeugnis abgelegt und damit die Hermeneutik des Verstehens in der Praxis angewendet. Dementsprechend galten Autobiografien als authentische Form der historischen Überlieferung, wurden als Quellen- und Belegmate- rial der geschichtswissenschaftlichen Forschung zugeordnet und ihnen ein großer Wahrheits- und Objektivitätsgehalt zugeschrieben.13 Inzwischen aller-

12 Vgl. Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darm- stadt 1989; Michaela Holdenried: Autobiographie, Stuttgart 2000; Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiogra- phie, Stuttgart, Weimar 2000. 13 »War die Autobiographie am Anfang der Autobiographie Quelle und Beleg für die Allgemeingeschichte und musste sie auch noch in ihrer individuellsten Ausprägung die Wahrheitsvorschrift der Historiographie be- folgen, so sind die Verfahren der oral history und auch der sozialgeschichtlichen Biographieforschung späte

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dings gelten dieses Autobiografiekonzept und das darin enthaltene Subjekt- verständnis als problematisch. Im Zuge der Subjektkritik des sogenannten lingustic turn, der in den 1970er Jahren die Autobiografieforschung erreichte, wurde die Darstellungsform nicht mehr als neutral verstanden und deshalb selbst zum Thema.14 Die Kritik des Subjekts als (bewusster) Schöpfer der ei- genen Geschichte wurde im Bereich der Autobiografieforschung zur Kritik des Subjekts der eigenen Geschichtsschreibung. Hier steht sowohl die Ver- antwortlichkeit des Subjekts als auch sein Bezug auf die Erinnerung zur Dis- position. Kernfragen sind nunmehr: Was kann noch als Lebensgeschichte gelten, wenn das Autorensubjekt, das für die Wahrhaftigkeit bürgen soll, zur Disposition steht? Wovon schreibt der Autobiograf, wenn die Grenze zwi- schen gelebter Erfahrung, Authentizität und Fiktionalität verschwimmt und eine Grauzone der Unentscheidbarkeit sichtbar wird? Ähnlich den angrenzenden Bereichen der gesellschafts- und kulturwis- senschaftlichen Forschung befindet sich durch die Kritik des Gegenstands auch die Autobiografieforschung noch im Zustand der Verunsicherung. Allerdings muss aus meiner Sicht die Gegenstandskritik nicht automatisch zum Gegenstandsverlust führen, wie von poststrukturalistischer Warte aus proklamiert wird. Eine Sensibilisierung für die Konstruiertheit von Subjekt und Referenz heißt nicht, dass wissenschaftliche Erkenntnis nunmehr un- möglich ist. Dass Erlebnisse dem Schreiben der Autobiografie vorangingen, also von einer Referenz des autobiografischen Textes ausgegangen werden muss, stellt eine grundlegende perspektivdefinierende Annahme dar. Umge- kehrt wird im Zusammenhang dieser Dissertation die Autobiografie auch nicht als bloße Darstellung missverstanden, sondern auch der konstruktive und formierende Aspekt der Schreib- und Rezeptionsprozesse gesehen. Autobiografie wird in diesem Sinne daher als Text verstanden, der versucht, die Lebensgeschichte als gegliederte und organisierte Einheit zu erzählen. Die Fragmente erlebter Biografie werden vom Autobiografen im Rahmen der Niederschrift der eigenen Lebensgeschichte einer Prüfung unterzogen und in diesem Zug gedeutet. Im Zuge dieser Interpretation ordnet und se- lektiert der Autor die Erinnerungsfragmente und verleiht ihnen hierdurch (retroaktiv) Sinn. Wichtige Erinnerungen aber, die den autobiografischen Schriften (insbesondere bei den Autobiografien ehemaliger Kommunisten) zugrunde liegen, sind häufig überlagert durch spätere Erfahrungen, die die

Erben dieser Auffassung, obschon mit dem Problembewusstsein gegenüber der Konstruiertheit auch der ›objektiven‹ Geschichte ausgestattet.« – Holdenried 2000 (s. Anm. 12), S. 22 f. 14 Dies erfasste auch die Geschichtswissenschaften insgesamt. Seitdem Hayden White die Geschichtsschrei- bung des 19. Jahrhunderts untersucht und aufgezeigt hat, dass sie selbst einer Struktur der Geschichtener- zählung folgt, hat sich in die Geschichtswissenschaft die Sensibilität dafür eingeschlichen, dass der objektive Anspruch der geschichtlichen Darstellung nicht länger haltbar ist. Vgl. Hayden V. White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe [1973], Baltimore u. a. 1997.

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zuvor gemachten unter Umständen relativieren oder verdrängen. Was für die Autobiografieproduktion gilt, gilt gleichermaßen auch für die Rezeption. Sie findet immer im Rahmen historisch gebundener, situativer Zusammen- hänge statt, die die Deutungsmuster prägen.

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Esther Abel

Peter Scheibert – ein Osteuropahistoriker im »Dritten Reich«. ›Wissenschaftliche‹ Aufgaben im Sonderkommando Künsberg1

Der 1995 verstorbene Osteuropahistoriker Peter Scheibert, der von 1961 bis 1981 den Marburger Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte innehatte, stellt sich der Nachwelt als eine Figur deutlicher Ambivalenzen dar. Seine persönliche Geschichte und sein Werdegang als Wissenschaftler sind nicht zuletzt deshalb ein interessanter Forschungsgegenstand, weil an seinem Institut und darüber hinaus noch während seiner aktiven Dienstzeit Ge- rüchte über sein Leben und sein Handeln während des Zweiten Weltkrieges existierten. Demnach sei er Mitglied der Waffen-SS gewesen und habe sich in Osteuropa aktiv am Kunstraub beteiligt. Dies wurde jedoch nie schriftlich festgehalten, geschweige denn wissenschaftlich untersucht. Das auch nach dem Tod Scheiberts fortgeführte Gemunkel entbehrte jeder empirischen Grundlage und bildete den Anlass, der Sache auf den Grund zu gehen. Im Folgenden soll nach einem kurzen Abriss über Peter Scheiberts Werdegang seine Mitarbeit im Sonderkommando Künsberg (ab hier: SSK) beleuchtet werden.

Herkunft und akademischer Werdegang

Peter Scheibert entstammte einer protestantischen Offiziersfamilie. Er wurde als dritter von vier Söhnen des preußischen Generalstabsoffiziers Friedrich Wilhelm Scheibert und seiner aus dem Berliner Großbürgertum stammen- den Mutter Johanne, geborene Prinz, am 3. Mai 1915 in Berlin-Lichterfelde geboren.2 Peter Scheibert nahm im Wintersemester 1933/1934 sein Studium der Ge- schichte, Kunstgeschichte, Philosophie und Slawistik auf, das er in Berlin, Breslau und Königsberg vorantrieb. Zu den für seine Laufbahn wesentlichen

1 Das Sonderkommando Künsberg wurde nach seinem Leiter, Eberhard Freiherr von Künsberg, benannt. Der Jurist, der bereits 1928 der NSDAP beigetreten war, war seit März 1939 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Auswärtigen Amt tätig, wo er bereits ein halbes Jahr später als Legationssekretär der Abteilung Protokoll zugeteilt wurde. 2 Vgl. Inge Auerbach; Hans Lemberg (Hrsg.): Peter Scheibert zum Gedächtnis. Nachrufe, Erinnerungen, Wür- digungen, Marburg 1997, S. 7.

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Förderern zählten Otto Hoetzsch, bei dem Scheibert studierte, und sein Dok- torvater Hans Uebersberger. Scheibert sah sich »aus der Schule von Otto Hoetzsch stammend«3, dessen Russlandbild nicht konform ging mit dem der nationalsozialistischen Machthaber. Anders als zu Hoetzsch baute Scheibert kein persönliches Verhältnis zu Uebersberger auf, der nicht nur der erste natio- nalsozialistische Rektor in Wien wurde4, sondern auch eindeutig jenen Ostfor- schern zuzuordnen ist, die eine rassistische Lebensraumpolitik verfolgten.5 Das Dissertationsthema Scheiberts lautete »Staat und Volk in Finnland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts«6. Er griff aus diesem Thema Untersu- chungen zur Entwicklung Finnlands unter Alexander I. und Nikolaj I. heraus, die für den Komplex »Russische Außenpolitik« relevant waren. Die Untersuchungen wurden in den von Uebersberger herausgegebenen Jahr- büchern für Geschichte Osteuropas veröffentlicht.7 Gabriele Camphausen be- wertet diese auf Scheiberts Dissertation beruhenden Beiträge in ihrem sehr differenzierten und kritischen Werk als »bemerkenswert nüchtern«8. Zu die- ser Ansicht gelangte auch der Entnazifizierungsausschuss, der im Juli 1949 feststellte: »Der öffentliche Kläger weist darauf hin, dass er die Doktorarbeit durchgelesen und keine politischen Tendenzen festgestellt habe, es handele sich um eine rein wissenschaftliche Arbeit«.9 Im Namen der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin bewerteten Scheiberts Prüfer Uebersberger, Schüssler und Schweinfurth seine Dissertation am 20. Juli 1939 mit »Magna cum laude«.10

Im Auswärtigen Amt

Vermutlich durch die Beziehungen seines Doktorvaters Uebersberger zu Franz Alfred Six und damit der »Archivkommission« des Auswärtigen Am- tes11 konnte Scheibert in selbigem beruflich Fuß fassen und sah dementspre-

3 Erwin Oberländer (Hrsg.): Geschichte Osteuropas. Zur Entwicklung einer historischen Disziplin in Deutsch- land, Österreich und der Schweiz 1945–1990, Stuttgart 1992, S. 61. 4 Vgl. Gerd Voigt: Rußland in der deutschen Geschichtsschreibung 1843 bis 1945, Berlin 1994, S. 242; Chris- toph Kleßmann: Osteuropaforschung und Lebensraumpolitik im Dritten Reich. In: Peter Lundgreen (Hrsg.): Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1985, S. 350-383, hier: S. 359. 5 Vgl. Kleßmann (s. Anm. 4), S. 359. 6 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (ab hier: PA-AA): Personalakte 13107 (Scheibert, Peter), Lebens- lauf. 7 Vgl. Peter Scheibert: Die Anfänge der finnischen Staatswerdung unter Alexander I. In: Jahrbücher für Ge- schichte Osteuropas, Nr. 4, 1939, S. 351-430; ders.: Finnland zur Zeit Kaiser Nikolaus’ I. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Nr. 5, 1940, S. 142-188. 8 Gabriele Camphausen: Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung im Dritten Reich 1933–1945, Frankfurt am Main 1990, S. 284. 9 Niedersächsisches Staatsarchiv, Nds. 171 Hannover, 19132 (Entnazifizierungsakte), Protokoll der Verhand- lung vom 25.07.1949, Beweisaufnahme zur Sache. 10 Promotionsakte Peter Scheiberts, Archiv der Humboldt-Universität Berlin, Littr. 713 No. P4 Vol., 1939, Sit- zung am 20.07.1939.

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chend vorerst von einer universitären Laufbahn ab. Vom 1. November 1939 bis zu seiner Einberufung in das SKK im Juli 1941 war Scheibert in der Kom- mission zur Auswertung erbeuteter Akten 12 des Auswärtigen Amtes (ab hier: AA) als »wissenschaftlicher Hilfsarbeiter« tätig. Diese Kommission unter- stand der Personal- und Verwaltungsabteilung.13 In dieser Kommission wurden von Oktober 1939 bis 1940 Akten und Do- kumente aus Warschau, Oslo, Frankreich, Belgien, Luxemburg und den Nie- derlanden verzeichnet. Mit der Auswertung niederländischer Akten war auch Scheibert zeitweise betraut.14 Seit dem 1. November 1940 trug die Kom- mission die Bezeichnung »Archivkommission«, erhielt eigenen Referats- status und war bis Mitte 1942 Hans-Adolf von Moltke, dem letzten Botschaf- ter in Warschau und späteren Botschafter in Madrid, als Sonderbeauftragtem des Reichsaußenministers unterstellt.15 Für die Beschlagnahmung der Akten stand das neu gegründete SKK zur Verfügung, eine Organisation des Aus- wärtigen Amtes, die unter dem Befehl des Reichsaußenministers stand. Laut Befehlssituation waren politisches Aktenmaterial, landeskundliche Daten und militärisch-geographische Karten in den besetzten Gebieten sicherzu- stellen.16 Dass das SKK ein Geheimkommando war, zeigt sich darin, dass in den Quellen sämtliche Kommandobefehle und interne Dienstanweisungen als »Geheime Kommandosache« deklariert sind.17 Auch das AA wollte sich nicht zu erkennen geben: »Sobald Objekte aufgegeben oder freigegeben wer- den, sind alle Siegelmarken auf das sorgfältigste zu entfernen. Die Siegel- marken dürfen nicht in den Gebäuden zurückgelassen werden.«18

Im Sonderkommando Künsberg

Die Beschäftigung mit dem SKK, das am Westfeldzug sowie am Russland- feldzug beteiligt war, macht deutlich, wie wichtig es ist, zwischen national- sozialistischem Kulturgutraub in Westeuropa und in Osteuropa zu differen-

11 Vgl. Gideon Botsch: Politische Wissenschaft im Zweiten Weltkrieg. Die »Deutschen Auslandswissenschaf- ten« im Einsatz 1940–1945, Paderborn 2006. 12 Vgl. Auswärtiges Amt: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Historischer Dienst, München, Band IV (in Arbeit), schriftliche Mitteilung aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts. 13 Vgl. Martin Kröger; Roland Thimme: Das politische Archiv des Auswärtigen Amts im Zweiten Weltkrieg. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr. 47, 1999, S. 243-264, hier: S. 248. 14 Vgl. Auswärtiges Amt (in Arbeit) (s. Anm. 12). 15 Vgl. ebd. 16 PA-AA-R 27574: Stellung und Aufgabe: AA, OKW. OKH, geh., 1940-1942, Einsatzplan S. 2, Künsberg, 20.10.1940; vgl. Ulrike Hartung: Raubzüge in der Sowjetunion. Das Sonderkommando Künsberg 1941–1943, Bremen 1997; Anja Heuss: Kunst- und Kulturgutraub. Eine vergleichende Studie zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frankreich und der Sowjetunion, Heidelberg 2000. 17 Bundesarchiv Potsdam (ab hier: BAP), Zentrales Staatsarchiv Potsdam (ab hier: ZSTA), Film Nr. 14188, Prot. K 273/41, Nitsch, 17.06.1941, hier zitiert nach: Hartung 1997 (s. Anm. 16), S. 17. 18 BAP, ZSTA Potsdam, Film Nr. 6311, Aufnahme 838550-552, Kommandobefehl Nr. 22, Künsberg, 05.11.1941.

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zieren. In Westeuropa, vor allem in Frankreich und Holland, wurden im Auf- trag Hitlers, Görings und Goebbels vorrangig private, meist jüdische Samm- lungen geplündert, in Osteuropa dagegen vorrangig öffentliche Bibliotheken und Archive.19 Die ideologische Komponente ist bei der Unterscheidung von Kulturgutraub in Ost- oder Westeuropa von großer Bedeutung. Wenn in Westeuropa materiell hochwertige Werke beschlagnahmt wurden, so diente dies zunächst als Symbol für den sicher geglaubten Sieg über das jeweilige Land sowie der Demonstration von Deutschlands vermeintlicher Überlegen- heit. Beides ist selbstverständlich auch mit einem grundlegenden ideologi- schen Motiv verbunden.20 In der Sowjetunion ergibt sich ein völlig anderes Bild. Bei allen Diskussionen und Erörterungen über den Feldzug, den Deutschland gegen seine östlichen Nachbarn führte, ist es wesentlich, sich vor Augen zu halten, dass dies kein herkömmlicher Krieg war, der »nur« auf militärische Unterwerfung zielte. Absicht war die kulturelle und physische Vernichtung der Völker. Der »Lebensraum«, dessen Schaffung Ziel der Er- oberungen im östlichen Europa war, sollte deutsch dominiert sein, das vor- gefundene kulturelle Erbe entweder für Zwecke des Reichs verwendet oder zerstört werden.21 Der Unterschied ist also in der ideologischen Motivation zu sehen, die in Westeuropa unter ganz anderen Vorzeichen stand als in Ost- europa. Sollte in Westeuropa »nur« Deutschlands vermeintliche Überlegen- heit dargestellt werden, indem materiell wertvolle Gegenstände konfisziert wurden, so galt der Kunst- und Kulturgutraub in Osteuropa der »Feind- forschung«, der Erforschung und explizit der Vernichtung des Bolschewis- mus und des »slawischen Untermenschen« sowie der Eroberung »deutschen Lebensraums«. Die Aktivisten im Kunstraub handelten auf der gleichen ras- senideologischen Grundlage, wenn auch mit unterschiedlichen Zielrichtun- gen. Der Kunst- und Kulturgutraub war eine wesentliche Säule im national- sozialistischen Konzept des Zweiten Weltkrieges und seiner Durchführung. Dies muss in eine Beurteilung der nationalsozialistischen Kunst- und Kultur- gutrauborganisationen wie des SKK immer mit einbezogen werden. Der dortige Befehl lautete entsprechend: »Akten über militärische Bündnisse wa- ren ebenso willkommen wie Akten über ideologische Schulung der Roten Armee [...]. Im Zuge des totalen Krieges sollte der Gegner nicht nur mi- litärisch niedergerungen, sondern auch in seiner ideologischen Motivation erkannt und gebrochen werden.«22

19 Vgl. Marlene Hiller: Bücher als Beute. Das Schicksal sowjetischer und deutscher Bibliotheken als Folge des Zweiten Weltkrieges. In: Nordost-Archiv, Nr. 4, 1995, S. 9-27; vgl. Anja Heuss: Der Kunstraub der National- sozialisten. Eine Typologie. In: kritische berichte, Nr. 2, 1995, S. 32-43; vgl. Heuss 2000 (s. Anm. 16), S. 106 f. 20 Vgl. Heuss 1995 (s. Anm. 19), S. 35. 21 Vgl. Hiller 1995 (s. Anm. 19), S. 9. 22 Anja Heuss: Die »Beuteorganisation« des Auswärtigen Amtes. Das Sonderkommando Künsberg und der Kulturgutraub in der Sowjetunion. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr. 4, 1997, S. 535-556, hier: S. 539.

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Für die Art und Weise der Beschlagnahmung gab es ebenfalls deutliche Anweisungen: »Nur der sofortige Zugriff erhält wichtiges Material für die politische Kriegsführung. Das Einsatzkommando ist keine kämpfende Truppe, doch hat es mit allen Mitteln gegebenenfalls unter Waffenanwen- dung sich in den Besitz der notwendigen politischen Unterlagen zu set- zen.«23 Ein wesentlicher Schritt in der Geschichte des SKK war die Eingliederung in die Waffen-SS. Sie wurde mit Wirkung vom 1. August 1941 vollzogen.24 Künsberg hatte Ribbentrop schriftlich um Erlaubnis gebeten, die Eingliede- rung seines Sonderkommandos in die Waffen-SS beantragen zu dürfen.25 Der Vorteil war unübersehbar ein logistischer: Der Anschluss an die SS gewähr- leistete schnelles Handeln und optimierte den Informationsfluss.26 Mit der Eingliederung in die Waffen-SS ging jedoch eine gewisse Unklarheit bezüglich der Weisungsgebundenheit einher: Die Anweisung zur Beschlagnahmung von politischem Material konnte nur vom Reichsaußenminister gegeben werden. Als Einheit der Waffen-SS unterstand das SKK jedoch in militäri- schen Dingen der Weisung des SS-Führungshauptamtes. Das SKK befand sich also im Schnittpunkt der Kompetenzen. Das SKK bestand bei Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion aus drei Einsatzkommandos, die jeweils einer Heeresgruppe zugeordnet waren und sich aus 95 Mann zusammensetzten. Mit Nachschubkolonnen, Instandset- zungsstaffel und einigen weiteren Sachbearbeitern des AA hatte das Unter- nehmen eine Kapazität von 339 Mann.27 Nahezu alle waren Angehörige der Waffen-SS. Mit Ausnahme des Wehrsoldes wurden die gesamten Kosten für das SKK aus dem Kriegskostenfond des AA bestritten.28 Ziel der Einsatzkom- mandos war es, mit den ersten Truppen Moskau und Leningrad zu errei- chen. Um in jedem Fall in Moskau oder Leningrad an der Spitze der erobern- den Truppe einzumarschieren, wurden sie auf alle drei Heeresgruppen, nämlich Nord, Mitte und Süd, verteilt.29 1942 kam das Einsatzkommando Süd B (Wolga) hinzu, das in Stalingrad eingesetzt werden sollte. Im Einsatzkommando Nürnberg, das der Heeresgruppe Mitte zugeteilt war, war Scheiberts Rolle überschaubar. Das Kommando hatte 1941 den Auf- trag erhalten, in den Archiven des Moskauer Parteisekretariats und des Le- ningrader Militärbezirks sowie im Zentralarchiv nach Akten zu suchen, die für Finnland von Interesse sein könnten. Hintergrund war eine Anfrage des

23 PA-AA-R 27554: Einsatzkommando Hamburg, Dienstanweisung für die Vornahme von Durchsuchungen in eroberten bzw. besetzten Feindstädten, 25.07.1941. 24 Vgl. Heuss 1997 (s. Anm. 22), S. 541. 25 PA-AA-R 27574: Bezugnahme auf Künsbergs Schreiben vom 02.01.1941 durch Ribbentrop, 08.01.1941. 26 BAP, ZSTA Potsdam, Film 8375, V. Rintelen an Ministerialdirektor Schroeder, Berlin, 05.11.1942, zitiert nach Hartung 1997 (s. Anm. 16), S. 101. 27 PA-AA-R 27575: Aufstellung von Künsberg, 30.01.1942. 28 Vgl. Heuss 2000 (s. Anm. 16), S. 314. 29 PA-AA-R 27556.

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finnisches Presseattachés Martola über Hilfe bei der Sicherstellung finni- scher Akten30 und Kunstwerke in den besetzten Ostgebieten.31 Der Leiter des Einsatzkommandos, SS-Hauptsturmführer Nitsch, plante, mit Künsberg zusammen den Leiter des Finnischen Staatsarchivs, Prof. Blomstedt, aufzu- suchen und mit ihm die Wünsche der Finnen durchzusprechen. Hierzu wurde Peter Scheibert gerufen, der durch seine Studienaufenthalte in Finn- land nicht nur die finnische Sprache beherrschte, sondern überdies Blom- stedt persönlich kannte. Er sollte nach einem ersten Treffen mit Martola nach Helsinki reisen, um mit Blomstedt die »Einzelheiten der finnischen Mitbetei- ligung zu beraten«32. Die Abmachung beinhaltete, die »Sicherstellung« finni- scher Akten und Kunstwerke zu gewährleisten und im Gegenzug politisches und militärisches Material verschiedener Forschungsinstitute in Murmansk von den Finnen zu erhalten.33 Deutlich umfangreicher waren Scheiberts Aufgaben im Einsatzkom- mando Stettin (zur Heeresgruppe Nord gehörig), das vom 15. Juli 1941 an den Decknamen Hamburg erhielt.34 Hier war Scheibert für die Archivkom- mission des AA verantwortlich und betätigte sich außerdem als Dolmet- scher.35 War das Einsatzkommando Stettin auch ausgiebig im Baltikum tätig, so hatte die Einnahme von Leningrad doch Priorität. Dr. von Hehn vom Geo- graphischen Dienst des Auswärtigen Amtes wurde am 23. Juli 1941 von Künsberg schriftlich angewiesen, folgende Objekte sicherzustellen: »Das rus- sische Außenministerium und seine Archive, das russische Seehandelskom- missariat, das Deutsche Generalkonsulat, die Konsulate der Feindstaaten und die Kunstschätze der Eremitage«.36 Der Auftrag an Hehn, auch Kunstwerke – unter anderem in Moskau und Leningrad – abzuführen, ging zwar auf eine Weisung Ribbentrops zurück, stand aber in direktem Widerspruch zur Absprache Künsbergs mit dem Oberkommando des Heeres. Auf Künsbergs Einwand hin, dieses habe die Weisung gegeben, nur außenpolitisch relevantes Material abzutransportie- ren, nahm Ribbentrop seine Forderung zurück.37 Es gibt in der Literatur so- wie in den Quellen keinen Hinweis darauf, dass Kunstwerke der Eremitage vom SKK sichergestellt worden sind. War die Einnahme von Leningrad zwar zunächst für das Einsatzkom- mando Stettin das vorrangige Anliegen gewesen, durchkämmte das Einsatz- kommando anschließend dennoch Wilna, Libau, Volmar, Narwa und Dorpat

30 Zuletzt hatte Finnland politische Akten im »Winterkrieg« 1939 an die UdSSR verloren. 31 Vgl. Heuss 2000 (s. Anm. 16), S. 327. 32 PA-AA-R 27558: Notiz Künsberg: Zusammenarbeit mit Finnland, 22.07.1942. 33 Ebd.; vgl. Heuss 2000 (s. Anm. 16), S. 328. 34 PA-AA-R 27554: Kommandobefehl, 14.07.1941. 35 PA-AA-R 27554: Telegramm Haubolds, 22.07.1941; vgl. Hartung 1997 (s. Anm. 16), S. 122. 36 PA-AA-R 27554: Bericht vom 25.07.1941. 37 PA-AA-R 27579: Kunstgegenstände 1940-1941.

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auf dem Weg nach Reval. In den meisten Städten fand sich nur Propaganda- material, in Reval aber wurden Dokumente aus dem estnischen Außenmini- sterium entdeckt sowie der russisch-estnische Flottenvertrag vom 11. Okto- ber 1939 mit allen Geheimklauseln und zahlreiche weitere politische Akten aus den Jahren 1932 bis 1939.38 Insgesamt wurden etwa 15 000 Generalstabs- karten, Landkarten und Seekarten sowie mehr als sechs LKW-Ladungen Ak- ten vom Einsatzkommando Stettin/Hamburg aus den baltischen Staaten ab- transportiert.39 Bei diesen Einsätzen in den baltischen Staaten war Peter Scheibert in sei- ner Eigenschaft als Mitarbeiter für die Archivkommission beteiligt, was die Unterlagen zu folgenden Einsätzen belegen: Ein Telegramm Haubolds, des Leiters des Einsatzkommandos Stettin/Hamburg, vom 17. Juli 1941 besagt, Scheibert sei mit weiteren Mitarbeitern zum Erwarten der Kolonne in Ko- wno geblieben, nachdem Kowno »vollständig aufgearbeitet« sei.40 In diesem Telegramm äußert Haubold sich dahingehend, dass das Vorgehen gegen Reval und Petersburg (sic!) nur sehr schleppend vorangehe und mit einer Einnahme Petersburgs (sic!) nur zu rechnen sei, wenn genügend Infanterie vor Ort wäre.41 In Wilna beschlagnahmte das Einsatzkommando die Bibliothek der Roten Armee mit politischen Broschüren und Generalstabskarten. Am 22. Juli tele- grafierte Haubold, er sei unter anderem mit Scheibert »zwecks Nachlese« von Riga nach Wilna gefahren, da bis zum Einsatz in Petersburg (sic!) noch einige Tage Zeit blieben.42 In einem Bericht vom 25. Juli wird Scheibert erst- mals als Dolmetscher erwähnt.43 In diesem Bericht ist aufgeführt, dass Schei- bert Akten des litauischen Außenministeriums begutachtete und die für das AA relevanten Materialien aus den gesamten beschlagnahmten politischen Akten in Absprache mit dem Sicherheitsdienst aussortierte. Diese Akten wa- ren nicht vom SKK, sondern vom Sicherheitsdienst beschlagnahmt worden.44 In Leningrad schließlich stellte das Einsatzkommando fest, dass die Zaren- schlösser Gatschina, Pawlowsk und Peterhof bereits größtenteils evakuiert waren. Jedoch war im Alexanderschloss in Puschkin (Zarskoje Selo) die Pri- vatbibliothek des letzten Zaren Nikolaus noch fast vollständig vorhanden. Sie umfasste 10 000 Bände und reichte bis ins 18. Jahrhundert zurück. Die Bi- bliothek wurde zum Stützpunkt in Siverskaja abtransportiert, wo sie »ge- sichtet, gezeichnet und verpackt« wurde. Von dort aus wurde sie weiter nach

38 PA-AA-R 27003: Druckstück Nr. 26: Meldungen vom Einsatz in den baltischen Ländern, 1941. 39 Vgl. Heuss 1997 (s. Anm. 22), S. 545. 40 Mit »vollständig aufgearbeitet« dürften hier entsprechend des Akteninhalts die abgeschlossene Auswertung aller Akten des Belgischen Konsulats und der Russischen Gesandtschaft gemeint sein. PA-AA-R 27554: Tele- gramm Nr. 2, 16.07.1941. 41 Ebd., Telegramm Nr. 3, 17.07.1941. 42 Ebd., Telegramm Nr. 8, 22.07.1941. 43 Ebd., Bericht über die Lage des bisherigen Einsatzkommandos Stettin, 25.07.1941, S. 1. 44 Ebd.

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Berlin gebracht.45 In den Schlössern Gatschina und Pawlowsk wurden noch weitere 27 500 Bände sichergestellt, die ebenfalls über Siverskaja und Reval nach Berlin gebracht wurden.46 In den Akten über die Einsätze in Leningrad fanden sich keine expliziten Hinweise auf eine Beteiligung Scheiberts, aller- dings auch nicht darauf, dass er aus dem Einsatzkommando ausgeschieden wäre. Da er Mitglied dieses Einsatzkommandos war, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass er nicht an allen Einsätzen beteiligt gewesen war. Das Einsatzkommando Potsdam (Heeresgruppe Süd), das den Auftrag hatte, politische Akten in der Ukraine sicherzustellen, erreichte am 17. Okto- ber 1941 Odessa.47 Der dortige Fund wurde am 10. November 1941 dem Ar- chiv des Fürsorgekomitees für das Russlanddeutschtum gemeldet: »Das Gebäude des ehemaligen deutschen Konsulats in Odessa wurde vom Kom- mando sichergestellt und als Dienstsitz eingerichtet. [...] Nach mehrtägigem Suchen gelang in Odessa am 20.10. Auffindung des von der Abteilung Deutschland besonders dringend gewünschten Archivs des Fürsorgekomi- tees für das Rußlanddeutschtum. [...] Ihr Abtransport erfordert 8 LKW- Ladungen. Dieser Fund bedeutet das Wichtigste, was bisher in Russland er- reicht wurde, und ist für die Frage des Rußlanddeutschtums von ausschlag- gebender Bedeutung. Entgegen der früheren Auffassung, dieses Archiv der Sammlung Leibbrandt48 als Leihgabe zu überlassen, wird vorgeschlagen, sie als eigenen Archivbestand im Eigentum des Auswärtigen Amtes zu belas- sen, denn die Sammlung Leibbrandt ist, gemessen an diesem Archiv, ein ver- schwindend kleiner Körper und das Amt sollte die Gelegenheit, den größten und besten Archivbestand des Rußlanddeutschtums zu besitzen, nicht vor- beigehen lassen. Das Archiv kann dann zum Kristallisationspunkt aller Ruß- landarchive im Reich werden, die es an Bedeutung weit überflügelt.«49 Dieser Bericht spricht für sich. Er zeigt einerseits die vollständige Invol- vierung des SKK in die »Lebensraum«-Politik der Nationalsozialisten und andererseits die enge Verknüpfung der Wissenschaftsinstitute mit dem AA und seinem Sonderkommando. Es gibt in den Akten und in der Literatur keinen direkten Hinweis darauf, dass Peter Scheibert im Einsatzkommando Potsdam gearbeitet beziehungs- weise am Einsatz in Odessa teilgenommen hätte. Doch existiert ein Schrei- ben vom 1. Dezember 1942, in dem Sonderdrucke über die Einsätze auf der Krim und in der Ukraine angekündigt werden. Dieses Schreiben ist adres-

45 Hartung 1997 (s. Anm. 16), S. 47. 46 Vgl. Heuss 2000 (s. Anm. 16), S. 319. 47 Vgl. Hartung 1997 (s. Anm. 16), S. 36 f. 48 Die Sammlung Leibbrandt war nach der Definition ihres Gründers, Emil Meynen, eine »zentrale For- schungsstelle für das Deutschtum Osteuropas«. Schwerpunktmäßig sollte die deutsche Ansiedlung im Ge- biet der Sowjetunion legitimiert werden. – Vgl. Mechthild Rössler: Wissenschaft und Lebensraum. Geogra- phische Ostforschung im Nationalsozialismus, Hamburg 1990, S. 127. 49 PA-AA-R 27575: Meldung an RAM über Einsatz in Kiew, Odessa, Krim, Charkow, 10.11.1941, S. 4 f.

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siert an die »Fachführer der Dienststelle Hardenbergstraße« und ist von »SS- Untersturmführer Dr. Scheibert« mitunterzeichnet, zusammen mit »SS-Haupt- sturmführer Patzak«, »SS-Obersturmführer Karasek«, »SS-Untersturmführer Schmiedeln« und »WHA [wissenschaftlicher Hilfsarbeiter] Dr. Remmersen«50. Scheibert war also zumindest mit der Auswertung und Publizierung der vom Einsatzkommando Potsdam sichergestellten Materialien befasst. Im Einsatzkommando Süd B (Wolga) war Scheibert als »Sachbearbeiter Politik« eingesetzt.51 Die Befehlsgrundlage für das Einsatzkommando Wolga war kurz und eindeutig: »Das Vorkommando hat die Aufgabe, Anschluss an den über Stalingrad voraussichtlich nach Norden schwenkenden Flügel zu erreichen und Stalingrad zu durchsuchen.«52 Die Tatsache, dass Scheibert in diese Einsätze involviert war, zeigt folgende Meldung, die am 17. August 1942 an Künsberg ging: »Hauptsturmführer Siebert mit Dr. Scheibert am 16. morgens zum endgültigen Einsatz über Starobelsk, Millerowo Richtung Stalingrad abgegangen.«53 Bis zu seinem Rückzug am 14. Oktober 1942 er- beutete das Einsatzkommando Wolga in Stalingrad zahlreiche wirtschaftli- che und landeskundliche Bücher.54

Kooperation trotz Ablehnung? Die Frage nach dem Verhältnis Scheiberts zur Waffen-SS

Während seiner Tätigkeit im Einsatzkommando Süd B (Wolga) handelte sich Peter Scheibert durch allerlei unbedachte Äußerungen ein Untersuchungs- verfahren ein. Dieses Verfahren soll als Ausgangspunkt für den Versuch dienen, Scheiberts Einstellung zum nationalsozialistischen System zu unter- suchen sowie seinen Eintritt in die Waffen-SS zu diskutieren. Das Untersu- chungsverfahren mit dem Vorwurf der Wehrkraftzersetzung basierte darauf, dass Scheibert seinen Vorgesetzten im SKK Korruption und andere Verfeh- lungen vorgeworfen hatte. Diese wurden von den Betroffenen bestritten.55

50 PA-AA-R 27557: Betr.: Streuung der Sonderdrucke, 01.12.1942. 51 Hartung 1997 (s. Anm. 16), S. 126; Bestand PA-AA-R 27557. 52 Ebd., Befehl Nr. 1, 01.08.1942. 53 PA-AA-R 27557: Meldung Nr. 100, Ostenhof an Künsberg, 17.08.1942; laut Marschbefehl vom 03.08.1942 soll- ten die Mitarbeiter mit dem Flugzeug von Kiew nach Stalingrad befördert werden. Meldung o. Nr. durch Meinel vom 17.08.1942. 54 Vgl. Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« von 1931-1945, Baden-Baden 1999, S. 488. 55 BAB, Film 1636 3/4, SK I/12b 1691/42. Unter anderem warf man Scheibert folgende Behauptungen vor: Bei einem nächtlichen Fliegerangriff hätten sich Nitsch und Künsberg unter den Betten verkrochen »und am nächsten Morgen fluchtartig mit dem Fahrzeug den Standort der Einheit verlassen, weil ihnen der Aufent- halt dort zu gefährlich gewesen sei«; Künsberg habe auf Kreta eine bestimmte Anzahl von Lebensmitteln er- beutet, die er sich persönlich mit Hilfe von gecharterten Flugzeugen nach Berlin transportieren ließ, dekla- riert als Akten des AA; aus Frankreich seien LKWs mit Kognak und Sekt nach Deutschland befördert worden, erneut deklariert als Akten des AA. Ebd., Anlagen 3, 6-11. Sieben von 15 Gegenständen des Unter- suchungsverfahrens, alle von nahezu identischem Charakter wie die genannten, habe ich in meiner Magis- terarbeit stellvertretend ausgewertet.

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Während des Verfahrens versuchte Scheibert entweder seine Aussagen zu leugnen oder zu rechtfertigen. Alle Anlagen sind auf den 21. Oktober 1942 datiert und von SS-Hauptsturmführer Siebert unterzeichnet.56 Auf alle erho- benen Vorwürfe folgte jeweils eine Stellungnahme Scheiberts, in welcher er seine Behauptungen zumeist zu relativieren versuchte, etwa indem er sie als Anekdote abtat57, die Entstehung seiner Behauptungen schilderte58 oder den Vorwurf ganz abstritt. 59 Einen wichtigen Stellenwert im Streit zwischen Scheibert und den Verfahrensleitern nimmt der Gegenstand von Scheiberts Nichtsoldatensein ein. In seiner Stellungnahme erklärte er: »Selbstverständ- lich sind dergleichen kritische Äußerungen durchaus unmilitärisch, wenn ich allerdings auch zu bedenken bitte, daß ich nicht Soldat bin und nicht als Führer ausgebildet wurde.«60 Prompt reagierte SS-Hauptsturmführer Siebert in seinem Schreiben vom 11. Dezember 1942 folgendermaßen darauf: »Wenn Scheibert seine Äußerun- gen mit der Angabe des Nichtsoldatenseins bemänteln will, so muss ich be- merken, dass Scheibert eine so gute Kinderstube und Bildung (alte Soldaten- familie) genossen hat, um zu wissen, dass er die ihm zugetragenen Gerüchte über Vorgesetzte und vorgesetzte Dienststellen nicht als Tatsachen weitertra- gen darf.«61 Allerdings hatte Scheibert bereits am Ende seiner Stellungnahme vom No- vember 1942 andere Töne angeschlagen, die durchaus von Unterordnung und Fügsamkeit zeugen: »Ich nehme alle meine Äußerungen mit dem Aus- druck meines höchsten Bedauerns zurück und verpflichte mich vor allem zur Aufrechterhaltung strengster Loyalität und Korrektheit für die Zukunft. Vor allem will ich versuchen, den Schaden, der durch meine Handlungs- weise dem Kommando und dem Ruf einzelner Führer erwachsen ist, wieder gutzumachen.«62 Die Frage, ob dies als aufrichtige Loyalität zur SS und ihren Tugendidea- len zu werten ist oder eher als ein verständlicher Versuch, das Strafmaß ge- ring zu halten, muss unbeantwortet bleiben. Jedenfalls heißt es im Ab- schlussbericht: »Dr. Scheibert räumt ein, dass er aus einem ihm angeborenen Hang zur Schwatzhaftigkeit und zur Erzählung von Klatschgeschichten sich habe dazu verleiten lassen, Äußerungen, deren Grundlage er selbst nicht genügend nachgeprüft habe, weiterzugeben. Er gibt zu, dass er dies nur ge- tan habe, um sich interessant zu machen und um eine witzige Unterhaltung

56 Ebd. 57 Ebd., zu Anlage 6, S. 33. 58 So geschehen in der Stellungnahme zu Anlagen 8 und 9, in der er angibt, »unvorsichtigerweise Gerüchte wiedergegeben« zu haben. Ebd., S. 53. 59 Ebd., S. 11. 60 Ebd., Stellungnahme Scheiberts, 13.11.1942, S. 62 f. 61 Ebd., Schreiben Siebert an Künsberg, 11.12.1942. 62 Ebd., Stellungnahme Scheiberts, 13.11.1942, S. 64.

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zu führen, behauptet aber, sich dabei nicht bewusst gewesen zu sein, dass er das Ansehen des Bataillons, seiner Führer und seines Kommandeurs damit schädigen konnte.«63 Letztlich wurde ein gemildertes Strafmaß angelegt, da Scheibert sich so- wohl im Jahre 1941 im Einsatz in den baltischen Ländern als auch im Jahre 1942 in Stalingrad durch »Unerschrockenheit und Mut bewährt« habe. Die Angelegenheit wurde mit einem einfachen Verweis beigelegt.64 An dieser Stelle soll deshalb der Versuch unternommen werden, Schei- berts Einstellung zum Verlauf des Russlandfeldzuges und zur SS-Ideologie im Allgemeinen zu untersuchen. Vorausgeschickt sei, dass eine solche Dis- kussion aufgrund der problematischen Quellenlage sehr schwierig ist. Ein wesentliches Indiz darf hier jedoch nicht fehlen: das autobiographische Werk Jugend in Berlin von Nicolaus Sombart, in dem er sich an seine Freundschaft mit dem gut zehn Jahre älteren Peter Scheibert um 1940 erinnert. Seine Erin- nerung an Scheiberts Eintritt in die Waffen-SS ist eindeutig formuliert und gibt keine Anzeichen auf Unfreiwilligkeit und Zwang zu erkennen. Es muss jedoch auch angemerkt werden, dass das Erscheinen dieses Buches 1984 auf- grund der zu diskutierenden Passage zum Zerwürfnis zwischen den beiden Männern geführt hat. Scheibert sah die Tatsachen falsch wiedergegeben.65 Die Bedeutung dieses Zitats liegt darin begründet, dass Sombarts Sicht der Dinge der einzige näher ausgeführte Hinweis auf Scheiberts Einstellung ist, der zur Verfügung steht. Sombart schrieb 1986: »Eines schönen Tages teilte er [Scheibert] mir mit, er hätte sich entschlossen [sic!], in die Waffen-SS einzu- treten. Ich mache mir wahrscheinlich falsche Vorstellungen von dieser For- mation, es gäbe da in den hohen Rängen hochintelligente und kultivierte Leute, die bewußt auf die Bildung einer europäischen Elite hinarbeiteten, eine Art neuen Adel, die Aristokratie der Zukunft. Den vulgären National- sozialismus verachteten sie, Hitler werde als Übergangserscheinung tole- riert. [...] Leute wie wir, sagte er, müßten jetzt da hinein, um der Entwicklung den richtigen Vector zu geben. [...] Natürlich lag die Zukunft Deutschlands im Osten. Natürlich müsse man sich die geistigen Reserven des russischen Volkes zunutze machen. [...] Mein neuer Freund steigerte sich immer mehr in die Idee hinein [...]. Ich spürte, daß es ihm wesentlich war, mich zu überzeu- gen und zu gewinnen. Womit unterhielt er mich? Mit Männerbundphantas- men. Ich sah mich nicht im schwarzen Waffenrock. Ich hatte andere Infor- mationen. Für mich stand ziemlich fest, daß diese mutmaßliche Elite der

63 Ebd., betrifft: Verfahren gegen Dr. Scheibert, 30.11.1942. 64 Ebd. 65 Gespräch mit Inge Auerbach in Marburg am 23.05.2007; Gespräch mit Dagmar Scheibert und Reinhard Eise- ner am 26.04.2007 in Berlin. Auf eine mündlich erbetene Konkretisierung der Angaben, etwa durch Briefe oder Notizen, reagierte Nicolaus Sombart ablehnend; auf mehrfach schriftlich wiederholte Anfragen konnte er aus gesundheitlichen Gründen nicht eingehen. 66 Nicolaus Sombart: Jugend in Berlin 1933-1943. Ein Bericht, Frankfurt am Main 1984, S. 115 f.

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Zukunft eine Verbrecherorganisation war. [...] Mein neuer Freund hat seine Absicht wahrgemacht und ist in die SS eingetreten.«66 Welches Bild der SS steckt dahinter? Nach vorangegangenem Zitat be- schreibt Scheibert sie in bemerkenswerter Weise, wenn er sagt, dort arbeite- ten »kultivierte Leute« auf die »Bildung einer europäischen Elite« hin, eine Art »neuen Adel«. Bemerkenswert darum, weil die SS sich genauso ver- stand: als eine »auserlesene Oberschicht«, einen »neuen Adel«67. Eckart Conze nennt den Eliteanspruch im Selbstverständnis der SS und ihr Neua- delskonzept sogar einen »integralen Bestandteil der [...] Gesellschaftsvorstel- lungen«68. Auf den Säulen von Rassen- und Lebensraumideologie baute die SS ihr Konzept als gesamtgesellschaftliche Elite auf; eine Terminologie, die Scheibert kritiklos übernahm. Dabei suggeriert Sombarts Beschreibung der damaligen Situation, dass Scheibert, »sich immer mehr in diese Idee hinein- steigernd«, genau zu wissen meinte, wovon er redete. Ob die Idee, sich »die geistigen Reserven des russischen Volkes zunutze« zu machen, im Zusam- menhang mit einer rassistischen Vernichtungspolitik zu sehen ist, hängt da- von ab, ob Scheibert die Aneignung der »geistigen Reserven« mit nationalso- zialistischer Besatzungspolitik, also perspektivisch auf »deutschem Boden«, verbunden sehen will. Eine entsprechende Positionierung umgeht Scheibert jedoch, indem er in diesem Zusammenhang das in der Waffen-SS stets pro- pagierte »geschichtliche Recht auf Ostsiedlung« ignoriert, das nicht zuletzt aus dem SS-Leitbild des Ritterordens resultierte.69 Ebenso ignoriert – oder umgeht – Scheibert die enge Verbindung zwischen »Ostsiedlung« und SS- Rassenideologie. Wenn er das Hinarbeiten »auf die Bildung einer europäi- schen Elite«, also eine Elite innerhalb Europas70, positiv hervorhob, so konnte ihm doch nicht entgangen sein, dass der Elitegedanke der SS nicht von ihrer Vernichtungspolitik zu trennen war. Scheibert selbst wird zitiert, die Zukunft Deutschlands liege im Osten. Er kann ebenso wenig übersehen haben, dass der Expansionsdrang der NS- und speziell der SS-Ideologie ausschließlich in Verbindung mit dem »Lebensraum«-Gedanken stand, der wiederum mit der Vorstellungswelt völkischer Rassenhygieniker verknüpft war. Geschah Scheiberts Eintritt in die Waffen-SS nun aus einer naiven, fehlge- leiteten Vorstellung, dort mit »intelligenten und kultivierten Leuten« der »Entwicklung den richtigen Vector« geben zu können, oder erfolgte er unter Duldung und Billigung des rassistischen Superioritätsgedankens? Fest steht,

67 Rede Heinrich Himmlers vor den Führern der SS-Standarte »Deutschland«, 08.11.1937, zitiert nach Eckart Conze: Adel unter dem Totenkopf. Die Idee eines Neuadels in den Gesellschaftsvorstellungen der SS. In: Eckart Conze, Monika Wienfort (Hrsg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Böhlau 2004, S. 151-176, hier: S. 151. 68 Ebd., S. 152. 69 Bernd Wegner: Hitlers politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933-1945, Paderborn 1982, S. 50. 70 Auch hier bewegt sich Scheibert sehr nah an Himmlers Terminologie, der die SS als »Führungsschicht für ganz Europa« bezeichnete. Conze 2004 (s. Anm. 67), S. 151.

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dass ein Beleg über die Freiwilligkeit seines Eintritts existiert, aber keiner, der das Gegenteil bezeugt. Beim Versuch, das Sombart-Zitat mit dem Untersuchungsverfahren gegen Scheibert in Zusammenhang zu bringen, um der Beurteilung Scheiberts näher zu kommen, ist es hilfreich, einen Blick auf seine rückblickende Ein- schätzung zur Durchführung des Krieges und der Umsetzung der NS-Ideolo- gie zu werfen. In seinen »Autobiographischen Skizzen« schreibt er in den 1990er Jahren: »Die deutsche Niederlage war durch den deutschen Unver- stand, den Mangel an Augenmaß bedingt.«71 Das impliziert, dass der Feld- zug bei anderer Kriegsführung hätte anders ausgehen können, und lässt eine grundsätzliche Verurteilung des Eroberungskrieges und des NS-Systems sowie der Ideologie der Waffen-SS vermissen. Deutlich wird Scheiberts Prägung durch seine Herkunft aus einer preußi- schen Offiziersfamilie in der nächsten Äußerung: »Allmählich dämmerte mir, daß es alle möglichen solche ›Gruppen‹ [wie das SKK] in der Armee gab, die keinerlei Daseinsberechtigung hatten und in einer normalen wohlge- ordneten Heeresverfassung gar nicht erst hätten entstehen können.«72 In diesem Ende des 20. Jahrhunderts niedergeschriebenen Zitat wird sehr deutlich, dass es Scheibert kaum um eine fundamentale Kritik am NS-System gegan- gen sein kann, verhält er sich doch mit keinem Wort zur Expansionswut der Nationalsozialisten und zum rassistischen Weltbild, auf dem diese gründete. Auch gibt es in den ausgewerteten Quellen keinen Hinweis, dass dies während Scheiberts Zeit im SKK anders gewesen wäre. Im Gegenteil: die Ge- genstände des Untersuchungsverfahrens gegen ihn implizieren einen bür- gerlichen Wertekodex, die Anschuldigungen seitens Scheibert, sollte er sie so geäußert haben, wie ihm vorgeworfen wurde, richteten sich gegen Korrup- tion und Betrügereien Einzelner, taugten jedoch nicht zur Zerstörung, Er- schütterung oder auch nur Blockierung des SKK oder der Waffen-SS und ih- rer Machenschaften. Was also lässt sich über Scheiberts politische Grundhaltung letzten Endes sagen? Sombart schreibt 1995 seinen Nachruf auf Scheibert in einer Weise, die man als politische Charakterisierung beschreiben könnte: »Er war alles andere als ein Weltbürger und hielt auch nichts vom Weltfrieden. Er war ein Mann nach dem Herzen der Rechten. Patriot, Nationalist, Preuße mehr als Deutscher. Als typisch deutscher Professor gehörte er zum Prototyp jener deutschen Männer, deren Idiosynkrasien das deutsche Denken so tief – und man muß sagen – so verhängnisvoll geprägt haben. Mit anderen Worten: Er war stockkonservativ mit einem stark antiliberalen Affekt.«73

71 Peter Scheibert, Autobiographische Skizzen, S. 22. 72 Ebd., S. 23; Hervorhebung – E. A. 73 Nicolaus Sombart: Gelehrter vom alten Schlage. Zum Tode von Peter Scheibert. In: Junge Freiheit, Nr. 15, 14.04.1995, S. 12.

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Die Beurteilung, Scheibert sei »Preuße mehr als Deutscher« gewesen, be- stärkt noch einmal die obige Wertung seiner Äußerung über eine »wohlge- ordnete Heeresverfassung« und über die deutsche Niederlage, die durch »Mangel an Augenmaß« bedingt gewesen sein soll. »Stockkonservativ«, »nach dem Herzen der Rechten« und »Nationalist« gewesen zu sein, bedeu- tet zwar nicht zwangsläufig, dass von einer NS-Affinität gesprochen werden kann, eignet sich aber auch kaum als Beleg für das Gegenteil. Abschließend muss also festgehalten werden: Es kann keine eindeutige Aussage über Scheiberts innere Nähe oder Distanz zum Nationalsozialismus gemacht werden. Von Dritten als »konservativ« bezeichnet zu werden oder sich auch selbst so zu bezeichnen, genügt nicht, um daraus eine negative oder positive Einstellung zur NS-Ideologie abzuleiten. Allerdings belegen die diskutierten Aktenfunde auch nicht das Gegenteil; sie geben keinerlei grundsätzliche Verurteilung des Krieges und des NS-Systems sowie der Ideologie der Waffen-SS zu erkennen und zeugen in dem Untersuchungsver- fahren von einem bürgerlichen Wertekodex, dem Scheibert anzuhängen schien. Ein solcher ist jedoch mitnichten mit einer Gegnerschaft zum Natio- nalsozialismus gleichzusetzen. Fest steht vielmehr, dass Scheibert wie alle Kriegsteilnehmer des Ostfeldzuges mit seiner Tätigkeit in all seinen Einsät- zen im SKK dessen Arbeit und damit diejenige des Regimes und den auf ras- senideologischer Grundlage stattfindenden Ostfeldzug unterstützt hat.

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Roman Fröhlich

Der Einsatz von Gefangenen aus den Lagern der SS bei deutschen Unternehmen am Beispiel Heinkel und HASAG. Ein Vergleich

Einleitung

Die »Hugo Schneider AG« (HASAG), die im Zweiten Weltkrieg vor allem Armeebedarf produzierte, sowie die »Ernst Heinkel Flugzeugwerke GmbH«, später »Ernst Heinkel Aktiengesellschaft« (EHAG), die im Bereich der Flug- zeugindustrie das größte Kontingent an Konzentrationslagergefangenen (KZ-Gefangenen) der SS beschäftigte, gehörten zu den Arbeitgebern, die im »Dritten Reich« die meisten Gefangenen aus KZ und »Zwangsarbeitslager für Juden« (ZAL) einsetzten. Ernst Heinkel, Eigentümer der gleichnamigen Flugzeugwerke, war seit 1933 Mitglied der NSDAP. Als Generaldirektor der HASAG fungierte ab 1932 der SS-Sturmbannführer und NSDAP-Ange- hörige Paul Budin. Beide Firmen befanden sich ab 1933 in einer Wachstums- phase, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs anhielt. Anhand des Ver- gleichs von zwei der größten Profiteure der Gefangenenzwangsarbeit in der Privatwirtschaft soll verdeutlicht werden, dass die Unternehmensstrategien bei der Beschäftigung von Gefangenen aus den Lagern der SS sehr unter- schiedlich sein konnten und wesentlich von den Interessen der Firmen be- stimmt waren. Der Aufsatz fokussiert weniger auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der einzelnen Gefangenen, die in den genannten Unternehmen zu Arbeit ge- zwungen wurden. Diese Bedingungen waren bei den verschiedenen Firmen sehr unterschiedlich.1 Auch zwischen den Lagern derselben Firma differier- ten sie teilweise erheblich. Signifikante Aussagen darüber setzen eine tiefer- gehende, kleinteilige Analyse voraus, die dieser Artikel nicht leisten kann. Sowohl für die HASAG als auch für den Heinkel-Konzern steht eine solche detaillierte Untersuchung noch aus.2 Für alle im Folgenden berücksichtigten Lager der SS kann allerdings grundsätzlich gelten, dass die Arbeit für die

1 Vgl. Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gast- arbeiter, Flüchtlinge, Bonn 2003, S. 180. 2 Eine genaue Untersuchung dieser Unterschiede steht für die Firma Ernst Heinkels noch aus und wird der- zeit vom Autor im Rahmen seiner Dissertation bearbeitet. Martin Schellenberg hat einen Aufsatz zu den Außenlagern des KZ Buchenwald an den Standorten der HASAG veröffentlicht, aus dem die Unterschiede hervorgehen: Martin Schellenberg: Die »Schnellaktion Panzerfaust«. Häftlinge in den Außenlagern des KZ Buchenwald bei der Leipziger Rüstungsfirma HASAG. In: Dachauer Hefte Nr. 21, 2005, S. 237-271.

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Gefangenen einen bestrafenden, für nahezu alle auch einen demütigenden Charakter sowie teilweise tödliche Folgen hatte. Die zur Arbeit Gezwunge- nen erhielten keinerlei Lohn, der auch nur ansatzweise als angemessenen gelten kann. Die Begleitumstände der Zwangsarbeit waren für viele von ih- nen unerträglich. Von den Einsatzträgern und ihren Helfer_innen wurden Arbeitsunfälle, Folgeschäden durch die Arbeit und selbst der Tod der Gefan- genen bewusst in Kauf genommen. Im Folgenden werden neben den KZ an den Standorten der Unternehmen im »Reichsgebiet«3 auch jene im »Generalgouvernement« berücksichtigt. HASAG, EHAG und viele andere deutsche Unternehmen wurden nicht nur »unmittelbar zu Profiteuren des Konzentrationslagersystems [...]«4. Sie profi- tierten auch von der Verfolgung der europäischen Jüdinnen und Juden außerhalb des KZ-Systems. ZAL wurden Bestandteil der Firmenstandorte im »Generalgouvernement«. Zu den Gefangenen aus den Lagern der SS, die von der Privatindustrie zur Arbeit gezwungen wurden, gehörten auch jene, die im Laufe von 24 Stunden ein Stammlager des KZ-Systems verließen, um nach der Arbeit in einem Betrieb außerhalb des KZ dorthin zurückzukehren. Auch diese Form des Gefangeneneinsatzes soll berücksichtigt werden. Gefangene der SS wurden ab 1940 an private Unternehmen verliehen. Um den Gefangeneneinsatz bei der HASAG und beim Heinkel-Konzern besser fassen zu können, ist eine genaue zeitliche Einteilung hilfreich. Dies soll an- hand des folgenden Phasenmodells5 geschehen: 1. Phase vom Beginn des Krieges bis Herbst/Winter 1941. Sie ist gekenn- zeichnet durch den Blitzkrieg. Im System der Gefangenenlager der SS kommt es zur Zunahme von Mordaktionen und Zwangsarbeit. 2. Phase: Winter 1941/1942 bis Mai 1943: In dieser Zeit beginnt der Abnut- zungskrieg. Mordaktionen und Zwangsarbeit werden zu zentralen Elemen- ten der Gefangenenlager der SS. 3. Phase: Mai 1943 bis Sommer 1944: Die Doktrin des »totalen Krieges« wirkt sich aus. Mordaktionen und Gefangenenzwangsarbeit nehmen deut- lich zu. Das System der SS-Konzentrationslager setzt sich bei SS-Gefan- genenlagern durch.

3 Unter dem Begriff »Reichsgebiet« sollen im Folgenden Deutschland und all jene Teile Europas verstanden werden, die bis zum 01.09.1939 von diesem annektiert oder wie im Falle Österreichs unter Zustimmung ei- nes Großteils der dortigen Bevölkerung eingegliedert wurden. Daher wird der Begriff im Folgenden in An- führungszeichen verwendet. 4 Andreas Heusler: Zwangsarbeit in der NS-Kriegswirtschaft. Zur Genese eines Forschungsgenres. In: Volk- hard Knigge; Rikola-Gunnar Lüttgau; Jens Christian Wagner (Hrsg.): Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg. Begleitband zur Ausstellung, Weimar 2010, S. 198. 5 Die Basis für dieses Modell bilden die Phasen, wie sie von Ulrich Herbert und Karin Orth dargelegt wurden. – Vgl. Ulrich Herbert: Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der »Weltanschauung« im Nationalsozialismus. In: Ders. (Hrsg.): Europa und der »Reichseinsatz«. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 387; vgl. Karin Orth: Das Sys- tem der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999, S. 21.

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4. Phase: Sommer 1944 bis April 1945: »Jäger-« und »Rüstungsstab« ge- winnen an Bedeutung. Die KZ und die letzten ZAL im Osten werden aufge- löst. Beides beeinflusst die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Gefange- nen bis zum Ende des KZ-Systems.

Der Vergleich

Erste Phase: Vom Beginn des Krieges bis Herbst/Winter 1941 Nachdem die beiden Firmen bereits zwischen 1933 und 1939 durch die Rüs- tungsförderung stark wachsen konnten, traten sie in eine weitere Expan- sionsphase ein, als Deutschland den Zweien Weltkrieg begann: Erstens scheuten sie nicht davor zurück, Fabriken im überfallenen und besetzten Teil Polens kommissarisch zu leiten. Ernst Heinkel übernahm das Flugzeugwerk in Mielec, die HASAG bis 1940 ein Werk in Skarz˙ysko-Kamienna und an- dere. HASAG und Heinkel erkannten das Entwicklungspotential, das die hinzugewonnen Betriebe bargen. Personal und Finanzen wurden investiert, um die Werke zu sichern und auszubauen. Zweitens wuchsen die Konzerne im »Reichsgebiet« weiter. Bis zum Win- ter 1941 hatte Ernst Heinkel unter anderem die »Heinkel-Werke GmbH« in Oranienburg (HWO) vom »Reichsluftfahrtministerium« (RLM) übernom- men.6 Die HASAG, deren Stammsitz Leipzig war, erhielt 1939 beträchtliche Summen vom Oberkommando des Heeres.7 So konnte zum Beispiel der Aus- bau des Standortes Meuselwitz abgeschlossen werden.8 Zur Auslastung der Produktionsanlagen fehlten HASAG und Heinkel- Konzern Personal. Bereits 1940/41 war die Luftfahrtindustrie »Vorreiter bei der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte [...]«9. Der Heinkel-Konzern ging zudem eigene Wege. Wann genau die Unternehmensleitung und die SS bezüglich der Beschaffung von Arbeitskräften in Kontakt kamen, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Erste Erwähnungen eines Einsatzes von Gefan- genen aus dem nahen KZ Sachsenhausen auf dem Gelände der HWO lassen sich für 1940 nachweisen. Ehemalige KZ-Gefangene berichteten, dass sie im Rahmen eines Arbeitskommandos des KZ Sachsenhausen im HWO Bau- arbeiten verrichten mussten.10 Davor waren solche Gruppen ausschließlich

6 Vgl. Adalbert Keil: Urkunde über den Erwerb des HWO durch Ernst Heinkel, vom 12.11.1940, DM/HeA (Deutsches Museum/Heinkel-Archiv), FA 009/0298. 7 Vgl. Schellenberg 2005 (s. Anm. 2), S. 241. 8 Vgl. Mustafa Haikal: Die Standorte der Firma im Zweiten Weltkrieg. In: Leipzig-Halle GmbH (Hrsg.): Leip- zig Permoserstraße. Zur Geschichte eines Industrie- und Wissenschaftsstandorts, Leipzig, 2001, S. 76 f. 9 Vgl. Lutz Budraß: Der Schritt über die Schwelle. Ernst Heinkel, das Werk Oranienburg und der Einstieg in die Beschäftigung von KZ-Häftlingen. In: Klaus Neitmann; Winfried Meyer (Hrsg.): Zwangsarbeit in Berlin und Brandenburg während des Zweiten Weltkrieges, Potsdam 2001, S. 139. 10 Vgl. unter anderem: Harry Naujoks: Versuch einer Chronologie des Konzentrationslagers Sachsenhausen 1936–1945. 1958/9, ITS/ Arolsen (Internationaler Suchdienst, Arolsen), 82353610-82353667, S. 12; Polizei-

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in Unternehmen der SS tätig gewesen. Bezüglich der Beschäftigung von Ge- fangenen im privaten Baubereich kann von einer Vorreiterrolle des Heinkel- Konzerns gesprochen werden. Im Laufe der Zeit hat sich das bei der HWO eingesetzte Arbeitskommando als eines unter vielen Sachsenhausener Ar- beitskommandos etabliert.11 Die HASAG ging bei der Beschaffung von Arbeitskräften anders vor. Sie versuchte, den Mangel an Personal an ihren Produktionsstandorten im »Reichsgebiet« unter anderem durch die Deportation ihrer polnischen Beleg- schaft aus den Werken des »Generalgouvernements« dorthin zu kompen- sieren. »Dokumente belegen, dass schon im Frühjahr 1941 Transporte aus Skarz˙ysko-Kamienna die Messestadt [Leipzig] erreichten«12. Doch die von HASAG und Heinkel-Konzern betriebenen Maßnahmen zur Beschaffung von Arbeitskräften reichten nicht aus. Der Bedarf nach immer mehr Soldaten in der »Wehrmacht«, die anhaltende Deportation von Jüdinnen und Juden aus Deutschland – die erfolgte, selbst wenn sie in rüstungswichtigen Betrieben arbeiteten – und die Verzögerungen beim Zwangsarbeiter_innen-Einsatz von Zivilist_innen und Sodat_innen aus der Sowjetunion verschärften den Mangel an Arbeitskräften weiter.13

Zweite Phase: Winter 1941/1942 bis Mai 1943 Im Winter 1941/42 kam die deutsche Offensive in Russland zum Stillstand. Der Blitzkrieg begann sich mehr und mehr zu einem Abnutzungskrieg zu wandeln. Einerseits kam damit der Nachschub an Zwangsarbeiter_innen ins Stocken, da keine neuen Gebiete überfallen und besetzt wurden. Anderer- seits stieg die Zahl der Einberufungen weiter an. »In diesem Zusammenhang gerieten die KZ, die scheinbar über ein unerschöpfliches Potential an Gefan- genen verfügten, als Arbeitskräftereservoir für die Kriegswirtschaft in den Blick.«14 Doch noch bevor die Grundlagen für den »Arbeitseinsatz« von KZ- Gefangenen im großen Stil in der Rüstungsindustrie geschaffen wurden, besorgte sich der Heinkel-Konzern erneut selbst Arbeitskräfte. Der Einsatz ausländischer Zwangsarbeiter_innen und das Arbeitskom- mando des KZ Sachsenhausen konnten die Personalnot im HWO nicht behe- ben.15 Zudem war der Konzern von den anstehenden Einberufungen beson-

direktion Worms: Vernehmungsniederschrift des G. B. vom 06.10.1967, in: LA NRW, Abt. Rheinland, LG Köln, 24 Ks 1/64 (Meyerhoff), Bd. XXXIV-M, Blatt 51 f. (Kopie in AS [Archiv Museum und Gedenkstätte Sachsenhausen], JD 21, unpaginiert); Aussage des J. S. vom 30.08.1961. AS, JD 1/26, Blatt 34-40; Vernehmung des J. P. vom 23.07.1960, in: StA Stade, Nr. 790, Bd. XV, JD 23 (Kopie in AS, JD 23 unpaginiert). 11 Vgl. Orth 1999 (s. Anm. 5), S. 175 f. 12 Mustafa Haikal: Von der Petroleumlampe zur Panzerfaust. In: Leipzig-Halle GmbH 2001 (s. Anm. 8), S. 47. 13 Vgl. Herbert 2003 (s. Anm. 1), S. 167; Jens-Christian Wagner: Zwangsarbeit im Nationalsozialismus – Ein Überblick. In: Knigge; Lüttgau; Wagner 2010 (s. Anm. 4), S. 185. 14 Orth 1999 (s. Anm. 5), S. 163. 15 Vgl. Heinz Meschkat: Aktennotiz vom 06.12.1941, DM/HeA, FA 001/0860.

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ders schwer betroffen. Im »Generalgouvernement« war die geplante Einbin- dung des Heinkel-Werkes Mielec in die Fertigung des deutschen Standard- bombers He 177 und dessen Zulieferproduktion bei der dünnen Personal- decke kaum möglich.16 Im Rahmen einer Besprechung am 17. Februar 1942 im RLM wurde in Anwesenheit Ernst Heinkels der folgende Lösungsweg für den Arbeitskräftemangel des Konzerns beschritten: Von der Firma Heinkel wurde vorgeschlagen, für die Standorte im »Generalgouvernement« »jüdi- sche Facharbeiter aus den Gettos zu beschäftigen«17. Als die SS am 9. März 1942 begann, nahezu die gesamte jüdische Bevöl- kerung von Mielec in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhard« zu ermorden, griff der Heinkel-Konzern auch zu. Jüdinnen und Juden der Ge- meinde wurden in einen Hangar des Flugzeugwerkes verschleppt. Der Lei- ter des dortigen Werkschutzes wählte 80 bis 90 Personen aus dieser Gruppe aus. Sie wurden auf dem Werksgelände in Baracken untergebracht und dann zur Arbeit in der Fabrik gezwungen.18 Ein ZAL entstand auf Initiative der Firma Heinkel.19 Noch im selben Monat sollte auch auf dem Gelände des HWO eine Gruppe von Gefangenen aus dem nahen KZ Sachsenhausen untergebracht werden, um dort zu arbeiten. Diese 400 KZ-Gefangenen wurden jedoch gleich wieder abgezogen.20 Die Einrichtung eines KZ-Lagers am Produk- tionsstandort war erst einmal gescheitert. Der sich daraus ergebende Liefer- verzug des HWO war nicht der einzige Dämpfer für das Unternehmen in der ersten Jahreshälfte 1942. Schwere Luftangriffe auf das Stammwerk in Rostock machten eine Verlagerung nötig. Am 1. Mai 1942 erhielt das Unter- nehmen vom RLM Anweisung, nach neuen Standorten zu suchen.21 Wäh- rend für die Entwicklungsabteilung Wien-Schwechat in Betracht gezogen wurde, sollten im »Generalgouvernement« die Kapazitäten für den Serien- bau in Mielec ausgebaut und weitere Standorte geschaffen werden.22 Der dortige bauliche Aufwand für die Verlagerung war verhältnismäßig gering. Die Beschaffung neuer Arbeitskräfte schien für Ernst Heinkel ebenfalls kein großes Problem zu sein: »Außer Polen können vor allem gute Arbeitskräfte

16 Vgl. Karl Hayn: Protokoll vom 12.02.1942. DM/HeA, FA 001/0862; Heinz Meschkat: Aktennotiz betr. Be- sprechung beim Generalfeldmarschall Milch am 17.02.1942. DM/HeA, FA 001/0260. 17 Ebd. 18 Polnische Kriegsverbrecher Verbindungsgruppe Mannschaft : Übersetzung des Protokolls der Vernehmung des E. M vom 11.06.1947, BStU (Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats- sicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik), MFS HA IX/11 ZUV 35 Akte 14, Blatt 324. 19 Vgl. Mario Wenzel: Zwangsarbeitslager für Juden in den besetzten polnischen und sowjetischen Gebieten. In: Wolfgang Benz; Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Kon- zentrationslager. Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jungendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeu- nerlager, Zwangsarbeitslager, München 2009, Bd. 9, S. 133. 20 Vgl. Heinz Meschkat: Aktennotiz vom 17.03.1942. DM/HeA, FA 001/0257. 21 Vgl. Ausweich-Werkanlagen. 01.05.1942. DM/HeA, FA 001/0328. 22 Vgl. Ernst Heinkel: Brief vom 18.06.1942. Betrifft: Verlagerung, DM/HeA, FA 001/0260.

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aus der reichlich vorhandenen jüdischen Bevölkerung gewonnen werden. Unser Werk Mielec hat mit jüdischen Arbeitern sehr gute Erfahrungen ge- macht und beabsichtigt deren wesentliche Verstärkung.«23 Dieser Absicht stand die Ermordung der jüdischen Bevölkerung im »Ge- neralgouvernement« nur scheinbar entgegen. Das Personal des Heinkel- Werkes am Standort Mielec nahm bis zu dessen Evakuierung im Sommer 1944 ständig zu.24 Auch an weiteren dortigen Standorten stieg bis zum Be- ginn der Auflösung die Anzahl der beschäftigten Jüdinnen und Juden. Die HASAG setzte ab August 1942 ebenfalls Jüdinnen und Juden in ihren Werken im »Generalgouvernement« ein, deren Anzahl die vom Heinkel- Konzern ›Beschäftigten‹ bei weitem überstieg. Das Leipziger Unternehmen war einer der ersten privaten Rüstungskonzerne im Distrikt Radom, auf des- sen Betriebsgelände von nun an ZAL entstanden.25 Zuerst wurden Jüdinnen und Juden im Werk Skarz˙ysko-Kamienna zur Arbeit gezwungen. Weitere sollten folgen. So gelang es dem Unternehmen, die Personal-Lücken zu schließen, die durch die Deportation der polnischen Arbeiter_innen zu den Standorten im »Reichsgebiet« entstanden waren. Zugleich baute es seine Produktionsstätten im »Generalgouvernement« weiter aus. Als Hitler im September 1942 dem Vorschlag zustimmte, die jüdischen Facharbeiter_innen im »Generalgouvernement« zu belassen,26 war die Grundlage für eine län- gerfristige Beschäftigung von Jüdinnen und Juden in den dortigen Betrieben geschaffen. Die dafür zwischen SS und »Rüstungsinspektion« im Oktober 1942 verhandelten Auflagen27 stellten weder für die HASAG noch für den Heinkel-Konzern ein Problem dar, da sie Armeebedarf produzierten und die für sie arbeitenden Jüdinnen und Juden bereits in ZAL gefangen waren. Während die HASAG ihr Engagement im »Reichsgebiet« auf den Aus- und Umbau ihrer Werksanlagen beschränkte, war es dem Heinkel-Konzern Anfang August 1942 endgültig gelungen, auf dem Werkgelände der HWO ein Lager des KZ Sachsenhausen zu errichten. Einen Monat später gab das RLM die Richtung vor, in die sich der Einsatz von KZ-Gefangenen in der Luftfahrtindustrie zu entwickeln hatte: »Das RLM will diese Arbeitskräfte nicht auf die Industrie aufteilen, sondern eigene ›KZ-Werke‹ schaffen, die ausschließlich mit KZ-Häftlingen besetzt werden [...]. Als 1. KZ-Werk ist HWO in Aussicht genommen.«28 Zur selben Zeit setzte sich Speer bei Hitler

23 Ebd. 24 Vgl. Heinkel Zentralstatistik, ohne Datum, DM/HeA, FA 001/0344. 25 Vgl. Wenzel 2009 (s. Anm. 19), S. 150. 26 Vgl. Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion (Ministerbüro Speer): Besprechungspunkte aus der Führerbesprechung am 20., 21. und 22. September 1942, vom 29.09.1942, BArch (Bundesarchiv), R 3/1505, Blatt 62260. 27 Vgl. Dieter Pohl: Die großen Zwangsarbeiterlager der SS- und Polizeiführer für Juden im Generalgouverne- ment 1942-1945. In: Ulrich Herbert; Karin Orth; Christoph Diekmann (Hrsg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Frankfurt am Main 2002, Bd. 1, S. 419. 28 Hermann Ritter von Pfistermeister: Aktennotiz über Besprechung bei FL. Oberstabsing. Alpers, RLM am 17.09.1942, vom 18.09.1942, DM/HeA, FA 001/0261.

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mit seinem Vorschlag durch, KZ-Gefangene an den Standorten der Rüs- tungsindustrie zu beschäftigen, anstatt, wie von Himmler vorgesehen, die Produktion in die KZ zu verlegen.29 Damit war die Grundlage für die Expan- sion des KZ-Systems geschaffen. In den folgenden Jahren entstand eine Viel- zahl von KZ an den Produktionsstätten der deutschen Industrie. War die Arbeit der Gefangenen im HWO anfangs noch auf wenige Hallen begrenzt, so kamen mit der Zeit immer neue Teile des Werkes in den Stachel- drahtbereich. Immer mehr Gefangene der KZ rückten an die Stelle der Zivil- arbeiter_innen. Zu Hochzeiten im Juni 1944 waren nahezu 7 000 der 14 446 Arbeitskräfte und damit 48,2 Prozent aller Beschäftigten des HWO KZ- Gefangene. Die Vorbildfunktion des HWO bezüglich des Einsatzes von KZ- Gefangenen reichte über den Konzern hinaus.30

Dritte Phase: Mai 1943 bis Sommer 1944 Ab Mai 1943 zeichnete sich ab, dass der Einsatz von Gefangenen sowohl bei der HASAG als auch bei Heinkel zusehends Bestandteil des unternehmeri- schen Gesamtkonzepts wurde.31 Im Mai 1943 war die Umwandlung des HWO in ein »KZ-Werk« nahezu abgeschlossen.32 In den folgenden Monaten erwies sich diese Umstrukturierungsmaßnahme als Erfolg.33 Es scheint daher kaum verwunderlich, dass der Konzern weitere »KZ-Werke« einrichten wollte. Ab September 1943 finden sich Hinweise darauf: Der Verlagerungsbetrieb in Barth war als »KZ-Werk« geplant.34 Im November 1943 entstand dort auf dem Firmengelände ein Lager des KZ Ravensbrück.35 Die Umwandlung des Wien-Schwechater Betriebs in ein reines »KZ-Werk« scheint erst einmal nicht vorgesehen gewesen zu sein. Zwar trat ein Mit- arbeiter des Konzerns zur Beschaffung von KZ-Gefangenen mit Vertretern des »Wirtschaftsverwaltungshauptamts« (WVHA) der SS in Kontakt.36 Allerdings wurden in Wien-Schwechat zugleich Betriebsangehörige aus Ros-tock, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter eingesetzt.37 Der erste Trans-

29 Vgl.: Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion (Ministerbüro Speer): Besprechungspunkte aus der Führerbesprechung am 20., 21. und 22. September 1942, vom 29.09.1942 BArch, R 3/1505, Blatt 62257. 30 Im April 1943 kam eine Delegation der Heeresversuchsanstalt Peenemünde nach Oranienburg, um sich die Produktion mit KZ-Häftlingen genauer anzusehen. – Vgl. Rudolph: Aktennotiz vom 16.04.1943, Besichti- gung des Häftlingseinsatzes bei den Heinkel-Werken, Oranienburg 12.03.1943, BArch-MA (Bundesarchiv- Militärarchiv), RH 8/V.1210, Blatt 105-106. 31 Vgl. Rainer Fröbe: Der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen und die Perspektive der Industrie. 1943-1945. In: Herbert 1991 (s. Anm. 5), S. 356. 32 Vgl. Leistungsbericht des Werks Oranienburg 1942/43. 1943, He A Fa 001/0418. 33 Vgl. Budraß 2001 (s. Anm. 9), S. 151 ff. 34 Vgl. Heinz Meschkat: Protokoll vom 08.09.1943, Bert.: Besprechung am 07.09.1943 im Berliner Büro Ferti- gungsfragen, DM/HeA, FA 001/0906. 35 Vgl. Natalja Jeske: Das KZ-Außenlager Barth. Geschichte und Erinnerung, Kückenshagen 2010, S. 23. 36 Vgl. Heinz Meschkat: Protokoll vom 09.08.1943 der Direktionsbesprechung in Jenbach 07./08.08.1943, DM/HeA, FA 001/0871. 37 Vgl. Schaberger: Mitteilung vom 28.10.1943. Betr.: He 219 Fertigung Lagebericht, DM/HeA, FA 001/0906.

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port mit Gefangenen aus dem KZ Mauthausen erreichte am 31. August 1943 diesen Firmenstandort. Im März 1944 wurden dort die meisten Gefangenen in der kurzen Geschichte dieses Werkes beschäftigt: 2 194 Männer. Die Ge- samtbelegschaft des Werkes betrug zur selben Zeit 11 875 Personen.38 Das La- ger des KZ Mauthausen, in dem die Gefangenen untergebracht waren, be- fand sich inmitten des Fabrikgeländes.39 Luftangriffe im April und Juni 1944, die auch zahlreichen Gefangenen das Leben kosteten40, beschädigten das Werk stark. Eine weitere Nutzung des Standorts war vorerst nicht mehr möglich. Die erneute Verlagerung begann bereits nach dem ersten Luftan- griff im April.41 Es war geplant, die Fabrik auf Brauereikeller in Wien und Wien-Schwechat und in ein offen gelassenes Bergwerk zu verlegen. Bei der Vorbereitung der Keller wurden rund 200 Gefangene aus dem Lager in Wien-Schwechat herangezogen.42 Das Gros der notwendigen Bauarbeiten wurde nicht nur hier von anderen Stellen für die EHAG erledigt. Im »Generalgouvernement« blieb das Engagement des Konzerns hinter dem im »Reichsgebiet« zurück. Die Erwartungen, die die Firma in die dorti- gen Standorte gesetzt hatte, hatten sich nicht erfüllt.43 Die Entscheidung im Juli 1943, dort Teile der He 219 produzieren zu lassen, führte zwar noch ein- mal zu verstärkten Bemühungen der Firmenleitung.44 Der damit einher- gehende Zuwachs an Personal blieb aber weit hinter dem des Werks Wien- Schwechat zurück, das ebenfalls in die He 219-Produktion eingebunden war.45 Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Gefangenen der ZAL und KZ änderten sich 1943 in eine Reihe von Lagern zum Besseren, wofür der nicht zu behebende Mangel an Facharbeiter_innen eine Ursache gewesen sein kann, der sich in der Industrie zunehmend bemerkbar machte.46 Die Überle- benschancen der Gefangenen blieben jedoch gering. Von den Mordaktionen bei Auflösung der ZAL ab Sommer 1943 vor allem im östlichen Teil des »Ge- neralgouvernements« blieben die Lager an den Standorten von EHAG und

38 Vgl. Heinkel Zentralstatistik, ohne Datum, DM/HeA, FA 001/0344. – Ob unter den Zwangsarbeitern auch Frauen waren, geht aus der Quelle nicht hervor. 39 Vgl. RLM-GL/CB2/1 Nr. 16012/43gKd.: Lageplan Werk Wien Schwechat vom 30.07.1943, BArch-MA, RL 3/1511. 40 Allein beim zweiten Angriff sind 128 Gefangene ums Leben gekommen. Die tatsächliche Zahl der Opfer ist nicht bekannt. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass weitere Gefangene ihren Verletzungen erla- gen. – Vgl. Häftlinge, die anlässlich eines Fliegerangriffes am 26.06.1944 im Arbeitslager Schwechat getötet wurden, MMA (Mauthausen-Memorial Archive), B/53/4. 41 Vgl. Bertrand Perz: Wien-Schwechat. In: Wolfgang Benz; Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Ge- schichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Floßenbürg, Mauthausen, Ravensbrück, München 2006, Bd. 4, S. 459. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. Lutz Budraß: »Arbeitskräfte können aus der reichlich vorhandenen jüdischen Bevölkerung gewonnen werden.« Das Heinkel-Werk in Budzyn 1942-1944. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Zwangsarbeit im Nationalsozialismus in den besetzten Gebieten, Nr. 1/2004, S. 60. 44 Vgl. ebd., S. 62. 45 Vgl. Heinkel Zentralstatistik, ohne Datum, DM/HeA, FA 001/0344. 46 Vgl. Wenzel 2009 (s. Anm. 19), S. 135 zu ZAL; vgl. Hermann Kainburg: Die Wirtschaft der SS, Berlin 2003, S. 103.

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HASAG ausgenommen. Deren weiterem Ausbau stand trotz der fortschrei- tenden »Endlösung der Judenfrage« nichts im Wege. Ende Juni 1943 wurden in den Fabriken der HASAG im »Generalgouvernement« bereits 17 000 Jüdin- nen und Juden aus ZAL zur Arbeit gezwungen.47 Das Unternehmen erwei- terte bis Ende des Sommers 1943 seine Anlagen.48 Die Gefangenen der ZAL machten nahezu ein Drittel der Gesamtbelegschaft aus, über das – bis zur Auflösung der Lager – relativ autonom verfügt werden konnte. Die ZAL der HASAG wurden, im Gegensatz zu den ZAL bei der EHAG, nicht in KZ um- gewandelt und somit auch nicht der Zuständigkeit des Amt D des WVHA unterstellt. Als dieser Schritt im Februar 1944 bei den Heinkel-Werken im »Generalgouvernement« vollzogen wurde, war das Ende des Engagements der EHAG dort bereits eingeleitet. Die näher rückende Front machte die De- montage der Werke notwendig. Dabei waren für die EHAG vor allem Ma- schinen und Rohstoffe von Interesse.49 Der Vorstand der EHAG begann sich darüber Gedanken zu machen, wie die Werkzeugmaschinen und das Mate- rial für He 177 und He 219 ins »Reichsgebiet« kommen könnten.50 Das Enga- gement der Firma im »Generalgouvernement« war in der ersten Jahreshälfte 1944 vor allem durch diese Verlagerungen bestimmt. Ein guter Teil der Ma- schinen und des Materials gelangte dann auch ins »Reichsgebiet«.51 An den mindestens 4 750 männlichen und weiblichen Gefangenen52 aus den KZ an seinen Standorten im »Generalgouvernement« scheint der Konzern kein In- teresse gehabt zu haben. Gefangenengruppen von dort finden sich in keinem der KZ an den Heinkel-Standorten im »Reichsgebiet« wieder. Auch bei der HASAG scheint man sich im Frühling 1944 Gedanken über eine Verlagerung der Produktionsstätten aus dem »Generalgouvernement« gemacht zu haben. Im Mai 1944 begann der Vorstand, die Modalitäten für ei- nen KZ-Gefangeneneinsatz mit dem Lagerkommandanten des KZ Buchen- wald zu klären.53 Treffen Paul Budins mit Oswald Pohl sowie Budins Zusi- cherungen an Himmler, die SS mit Panzerfäusten zu beliefern, lassen darauf schließen, »dass die Planungen für den Gefangeneneinsatz bei der HASAG auf höchster Ebene geführt wurden«54. Vom Frühjahr 1943 bis Sommer 1944

47 Vgl. Eberhard Jäckel; Peter Longerich; Julius H. Schoeps (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfol- gung und Ermordung der europäischen Juden, München 1998, S. 596. 48 Vgl. Haikal 2001 (s. Anm. 8), S. 79. 49 Vgl. Wojciech Lenarczyk: Budzyn. In: Wolfgang Benz; Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Wewelsburg, Majdanek, Arbeitsdorf, Herzogenbusch (Vught), Bergen-Belsen, Mittelbau-Dora, München 2008, Bd. 7, S. 95. 50 Vgl. Brief vom 16.02.1944 an Karl Frydag, DM/HeA, FA 001/0366. 51 Vgl. Karl Frydag: Sonderbericht des Vorstandes an den Aufsichtsrat. 23.09.1944, DM/HeA, FA 001/0371. 52 Vgl. zu Mielec: Angelina Awtuszewska-Etterich: Mielec. In: Wolfgang Benz; Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Riga, Warschau, Kaunas, Vaivara, Plaszów, Klooga, Chelmo, Belzec, Treblinka, Sobibor, München 2008, Bd. 8, S. 296; zu Budzyn: Lenarczyk 2008 (s. Anm. 49), S. 90. (Hier wurde die Zahl der Gefangenen vom 15.03.1944 berücksichtigt.) 53 Vgl. Irmgard Seidel: Der Einsatz von KZ-Häftlingen in den Werken der Hasag In: UFZ- Umweltforschungs- zentrum Leipzig-Halle GmbH 2001 (s. Anm. 8), S. 87. 54 Schellenberg 2005 (s. Anm. 2), S. 243.

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hatten sich die Aktivitäten des Konzerns im »Reichsgebiet« auf Bautätigkei- ten an wenigen Standorten beschränkt.55 Das sollte sich nun ändern.

Vierte Phase: Sommer 1944 bis April 1945 Im Juni 1944 stattete Hitler Minister Speer mit weitreichenden Vollmachten aus, die zu einer letzten großen Umstrukturierung in der Rüstungsproduk- tion führten.56 Noch im selben Monat wurde beschlossen, den Bau der He 111 und der He 177 einzustellen. Damit verlor die EHAG ihre bis dahin wichtig- sten Produktionen.57 Das Unternehmen sah sich seit langem erstmals wieder mit einem Überschuss an Personal konfrontiert, das nun zielstrebig abgebaut wurde. Während die Werke Wien und Rostock ihre Arbeitskräfte innerhalb der Luftwaffenproduktion abgaben,58 traf dies nur auf einen Teil der Gefan- genen des HWO zu. Bevor der »Jägerstab« eingreifen konnte, waren die als Facharbeiter begehrten 1 000 KZ-Gefangenen von der SS abgezogen worden. Die Leitung des HWO hatte sich geweigert, für sie weiter Geld an die SS zu zahlen.59 Die im Frühjahr 1944 begonnenen Verlagerungen von Produktionsstand- orten des Konzerns größtenteils unter Tage wurden weiter forciert. Die KZ- Gefangenen mussten meist in Kellern oder Bergwerken arbeiten. Sie waren entweder in Lagern in unmittelbarer Nähe der Arbeitsplätze oder direkt an diesen untergebracht.60 Die Standorte, an denen die EHAG KZ-Gefangene einsetzte, waren auf das ganze »Reichsgebiet« verteilt. Dementsprechend unterstanden die KZ unterschiedlichen Hauptlagern und hatten größtenteils verschiedene Kommandanten. Bei Verlagerungen schreckte der Konzern nicht davor zurück, Produktionsstandorte zu übernehmen, die andere Fir- men wegen der zu erwartenden schlechten Bedingungen für die dort einge- setzten KZ-Gefangenen ablehnten. Während der Flugzeughersteller Hen- schel beispielsweise von einem Engagement im Stollen in Stassfurt absah, stellte das für die EHAG kein Problem dar.61

55 Vgl. Haikal 2001 (s. Anm. 8), S. 75-78. 56 Vgl. Erlass über die Konzentration der Rüstung und Kriegsproduktion vom 19.04.1944, Barch R3/3286. 57 Vgl. GL/C-PR: Aktenvermerk vom 30.06.1944. Betr.: Sofortsteigerung der Jäger Produktion durch Stillegung verschiedener Muster, vom 30.6.1944, BArch-MA, RL 3/946. 58 Vgl. Stenographische Niederschrift über die Jägerstab-Besprechung am 03.07.1944. BArch-MA, RL 3/9, S. 217-219. 59 Stenographische Niederschrift über die Jägerstab-Besprechung am 08.07.1944. BArch-MA, RL 3/9. – Bei den Gefangenen handelte es sich nur um männliche Gefangene, daher die rein männliche Form. 60 Vgl. unter anderem Bertrand Perz: Wien-Floridsdorf. In: Benz; Distel 2006 (s. Anm. 41), S. 448-453; Klaus Rei- xinger: Kochendorf. In: Wolfgang Benz; Barbara Distel: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozia- listischen Konzentrationslager, Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthof, München 2006, Bd. 6, S. 114 f. 61 Vgl. Lutz Budraß; Manfred Grieger: Die Moral der Effizienz. Die Beschäftigung von KZ-Häftlingen am Bei- spiel des Volkswagenwerkes und der Henschel Flugzeug-Werke. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Nr. 2/1993, S. 119-123.

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Einen letzten Erfolg konnte die EHAG im September 1944 verzeichnen. Der »Rüstungsstab« stimmte dem Bau des Jagdflugzeugs He 162 zu. »Wie die frühen Produktionspläne der He 162 deutlich belegen, wurde dieses Pro- jekt von Anfang an auf Zwangsarbeit ausgerichtet.«62 Die KZ-Lager an den Standorten, an denen die He 162-Produktion aufgezogen wurde, verzeichne- ten in der Folge steigende Gefangenenzahlen. Als die EHAG die Produktion in den Verlagerungsorten aufnahm, waren die baulichen Voraussetzungen zumindest provisorisch abgeschlossen. Vom Konzern selbst mussten kaum noch Bauarbeiten verrichtet werden. Die EHAG betrieb keine sogenannten Baulager. Der Gefangeneneinsatz bei Bauarbeiten scheint sich auf bestimmte Kommandos beschränkt zu haben.63 Keines der KZ, die ab 1942 an den Pro- duktionsstandorten der EHAG im »Reichsgebiet« entstanden, wurde früh- zeitig aufgelöst. Sie existierten bis zum Zusammenbruch des KZ-Systems. Die HASAG hat im Gegensatz zur EHAG von der Umstrukturierung der Rüstungsindustrie im Sommer 1944 von Beginn an profitiert. »Sie gehörte zu den wenigen Firmen, die noch in dieser Phase Baugenehmigungen für den Ausbau bestehender und sogar für die Errichtung neuer Werke erhielten.«64 Mit der Anordnung der »Schnell-Aktion Panzerfaust« im September 1944 wurde einem Produkt der HASAG einige Monate »absoluter Vorrang« ein- geräumt. Dies verlangte die Erschließung eines Arbeitskräftepotentials, auf das die HASAG bisher noch nicht zurückgegriffen hatte: Gefangene aus KZ. Während die EHAG im Juli 1944 bemüht war, sich von mehreren Tausend KZ-Gefangenen zu trennen, fing ihr Einsatz bei der HASAG im Sommer 1944 an. Ab Juni 1944 entstanden an sieben Standorten der HASAG im »Reichsge- biet« KZ-Lager zuerst für Frauen, dann für Männer. Alle wurden dem KZ Bu- chenwald untergeordnet. Die KZ-Gefangenen kamen vor allem über die KZ Ravensbrück und Buchenwald in die Lager an den Standorten der HASAG. »Innerhalb der Lager der HASAG wurden die Gefangenen mehrfach ver- legt. Kommandant des Leipziger Außenlagers am Stammwerk der HASAG war Wolfgang Plaul, der zugleich auch den Lagerführern der übrigen sechs HASAG-Außenlager vorgesetzt war.«65 Gleichzeitig gab die HASAG die Standorte im »Generalgouvernement« auf und errichtete diese an ihren Fabrikstandorten im »Reichsgebiet« neu.

62 Daniel Uziel: Der Volksjäger. Rationalisierung und Rationalität von Deutschlands letztem Jagdflugzeug im zweiten Weltkrieg. In: Andreas Heusler; Mark Spoerer; Helmuth Trischler (Hrsg.): Rüstung, Kriegswirt- schaft und Zwangsarbeit im »Dritten Reich«, München 2010, S. 80. 63 Vgl. unter anderem Jacob J.: Die weißen Autobusse oder als die Rettung der norwegischen und dänischen Häftlinge kam, ohne Datum, AS, P3 J., Jacob; Joseph Gelber: Zeitzeugenbericht Segment 67 ff., VHA (Visual History Archive), 42012. 64 Schellenberg 2005 (s. Anm. 2), S. 242. 65 Ebd., S. 245.

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Nicht nur die Maschinen wurden von der HASAG mitgenommen, auch Jü- dinnen und Juden aus den ZAL wurden dorthin verschleppt.66 Die Gefangenen gelangten teilweise direkt an die neuen Lagerstandorte. Als die ZAL der HASAG aufgelöst wurden, brachte sie auch Frauen und Kinder von dort in das KZ-Lager der HASAG in Leipzig. Der Konzern sah zum Beispiel in den Frauen aus Skarz˙ysko-Kamienna »[...] gut angelernte Kräfte, die über mehr Arbeitserfahrung verfügten als die übrigen Häftlings- frauen«67. Dies konnte ein Grund dafür sein, Jüdinnen und Juden, die bereits längere Zeit im »Generalgouvernement« von der HASAG zur Arbeit gezwun- gen wurden, an die neuen Lagerstandorte des Unternehmens zu holen. Der Einsatz von Gefangenen bei der HASAG unterschied sich in dieser Phase von dem bei der EHAG nicht nur durch die Übernahme von Gefange- nen aus den ZAL im »Generalgouvernement«, die Zuordnung aller KZ-Lager an HASAG-Standorten zu einem Hauptlager, dem KZ Buchenwald, und den Einsatz großer Gefangenengruppen beim Ausbau der Standorte im »Reichs- gebiet«. Auch die Zahl der bei der HASAG eingesetzten KZ-Gefangenen überstieg die bei der EHAG deutlich. Fünf Monate, nachdem die ersten Ge- fangenen der KZ in einem Lager bei der HASAG untergebracht waren, lag ihre Zahl bei über 10 000 Männern und Frauen. Das entsprach dem höchsten Gefangenenstand in allen Lagern an Heinkel-Standorten zusammen in der ersten Jahreshälfte 1944. Bis zum Jahresende 1944 stieg die Zahl der Gefange- nen bei der HASAG auf über 14 500 an. Sie nahm bis zum Ende des KZ-Sys- tems nicht mehr ab.68 »20 000 bis 22 000 Gefangene verschiedener Nationa- litäten gingen vom Sommer 1944 bis zum April 1945 durch die Arbeitslager der HASAG in Deutschland.«69 Ab April 1945 wurden die KZ an den Stand- orten der HASAG aufgelöst.

Schluss

Das Unternehmen Ernst Heinkels nahm im dunkelsten Kapitel der deut- schen Geschichte in der Privatindustrie eine Vorreiterrolle ein. Ein Kom- mando von KZ-Gefangenen zur Verrichtung von Bauarbeiten sowie Jüdin- nen und Juden aus einem eigens für die Firma geschaffenen ZAL wurden bei Heinkel früher als anderenorts in der Privatindustrie eingesetzt. Das HWO galt als erstes »KZ-Werk«. Je nach äußeren Umständen wurde auf Gefangene aus ZAL oder KZ zurückgegriffen. Solange der Konzern ein Interesse an ih-

66 Vgl. Jäckel et al. 1998 (s. Anm. 47), S. 596. 67 Irmgard Seidel: Leipzig-Schönefeld (Frauen). In: Wolfgang Benz; Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Buchenwald und Sachsenhausen, München 2006, Bd. 3, S. 499. 68 Vgl. Schellenberg 2005 (s. Anm. 2), S. 244. 69 Jäckel et al. 1998 (s. Anm. 47), S. 595.

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nen hatte, waren sie zumindest teilweise dem Einfluss der SS entzogen. Das galt jedoch nicht für den konkreten Alltag im Lager. Erlosch die Arbeitskraft der Gefangenen oder wurden Gefangene aus den Lagern der SS aufgrund der allgemeinen Geschäftslage des Unternehmens nicht mehr benötigt, konnte sich der Heinkel-Konzern schnell von ihnen trennen. Drohte ein Mangel an Arbeitskräften, war es für den Konzern möglich, erneut Gefan- gene aus den Lagern der SS zu bekommen. Der Einsatz von Gefangenen aus den Lagern der SS folgte bei der HASAG dem Vorgehen des Heinkel-Konzerns insoweit, wie es ihrer Unternehmens- strategie dienlich war. Auch der HASAG gelang es, die Jüdinnen und Juden aus dem direkten Mordprozess der SS herauszulösen und selbst über deren Schicksal zu bestimmen, wenn diese denn so arbeiten konnten, wie sich die Firmenleitung das vorstellte. Das war freilich für viele Gefangene keine Ret- tung. Immer neue Transporte mit Jüdinnen und Juden aus ganz Europa sorg- ten dafür, dass es der HASAG nie an Arbeitskräften mangelte. Als die Stan- dorte im »Generalgouvernement« aufgelöst wurden, war der Bedarf des Unternehmens an Arbeitskräften nach wie vor groß. Daher nahm es die Jü- dinnen und Juden aus den ZAL mit ins Reich. So konnte das Unternehmen an den Standorten im »Reichsgebiet«, die nun KZ-Gefangene einsetzten, frühzeitig mit Fachpersonal arbeiten. Die Firma expandierte weiter und setzte die Arbeitskraft der Gefangenen rigoros und oft ohne Rücksicht auf Verluste für ihre Interessen ein. Wie viele Gefangene aus den Lagern der SS durch die Arbeit bei HASAG und Heinkel-Konzern umkamen, lässt sich heute nur schwer ermitteln. Zu den ZAL liegen kaum Zahlen vor. KZ-Gefangene an den Firmenstandorten, die nicht mehr arbeiten konnten, wurden meist in die Hauptlager zurück- geschickt. Sterbeziffern dieser KZ geben daher nur einen Teil der tatsäch- lichen Opfer an. Auch über die an den Spätfolgen des Arbeitseinsatzes Ver- storbenen ist wenig bekannt.

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Katia Genel

Die sozialpsychologische Kritik der Autorität in der frühen kritischen Theorie. Max Horkheimer zwischen Erich Fromm und Theodor W. Adorno

Für das Problem der Autorität in den Werken der kritischen Theoretiker lässt sich ein stetes Forschungsinteresse feststellen. Der Begriff der Autorität spielt eine zentrale Rolle in den Schriften Max Horkheimers und den verschiede- nen gemeinsamen empirischen Untersuchungen des Instituts für Sozialfor- schung der 1930er und 40er Jahre. Es finden sich hier zwei oft verkannte oder wenigstens kaum beachtete Aspekte der kritischen Theorie: die Bedeu- tung der Schriften Horkheimers und die komplexe Zusammenarbeit des »Frankfurter Kreises« (das heißt des »inneren Kreises« um Friedrich Pollock, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno sowie der »Peripherie«, zu der Franz Neumann und Otto Kirchheimer zu zählen wären)1, die zu gemeinsamen Projekten geführt hat und sich in den Diskussionen der Zeit widerspiegelt. Obwohl und gerade weil die Bedeutung des Themas »Auto- rität« von den Kommentatoren dieser Zeit nicht immer gesondert herausge- hoben wurde.2 Da Autorität ein bestimmtes Thema der empirischen Forschungen war,3 erlaubt ihre Behandlung es, das interdisziplinäre Programm der kritischen Theorie genauer zu untersuchen. Anhand der Analyse der Autoritätskritik in den Schriften der kritischen Theoretiker, vor allem der von Horkheimer und Fromm, lässt sich zeigen, dass die gewünschte Interdisziplinarität des Pro-

1 Vgl. Axel Honneth: Kritische Theorie. Vom Zentrum zur Peripherie einer Denktradition. In: Ders.: Die zer- rissene Welt des Sozialen, Frankfurt am Main 1999, S. 25-72. Der hier entwickelte Ansatz will die Perspektive Honneths bezüglich einiger Aspekte verändern: Fromm wird als Teil des »Zentrums« betrachtet; zentral ist mithin nicht mehr die Alternative zu der funktionalistischen Analyse des inneren Kreises, sondern vielmehr die Durchsetzung eines sozialpsychologischen Ansatzes, der gegenüber anderen Ansätzen in der Gesell- schaftstheorie seine eigene politische Dimension hat. 2 Zur Bedeutung des Autoritätsthemas in der Geschichte der kritischen Theorie vgl. Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt am Main 1976; Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München, Wien 1986. Zum theoretischen Verfahren vgl. Helmut Dubiel: Wissenschaftsorganisa- tion und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1978; Alfons Söll- ner: Geschichte und Herrschaft. Studien zur materialistischen Sozialwissenschaft (1929–1942), Frankfurt am Main 1979. 3 Vgl. Erich Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches: Eine sozialpsychologische Untersuchung, Wolfgang Bonss (éd.), Deutsche Verlags-Anstalt 1980; Max Horkheimer (Hrsg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris 1936; Theodor W. Adorno; Else Frenkel-Brunswik; Daniel J. Levinson; R. Nevitt Sanford: The Authoritarian Personality, New York 1949.

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gramms auf einen sozialpsychologischen Ansatz reduziert wurde,4 dem ein gewisser Vorrang vor anderen möglichen disziplinären Kreuzungen zuge- sprochen wurde. Jedoch schützt diese Vormachtstellung den sozialpsychologi- schen Ansatz nicht davor, uneinheitlich zu sein. Die ursprüngliche Überein- stimmung von Horkheimer und Fromm hat im Verlauf der Zusammenarbeit Divergenzen und Polemiken – bis zum sogenannten »Revisionismus-Streit«5 – das Feld geräumt. Im Folgenden wird diese Komplexität des sozialpsycho- logischen Ansatzes untersucht, so wie sie bei Horkheimer zusammen mit Fromm und später mit Adorno entwickelt wurde; dies mit dem Ziel, die Pro- bleme der Kritik der Autorität aufzuzeigen.

Die Bedeutung der Kritik der Autorität in der frühen kritischen Theorie

Stetes Interesse Horkheimers für das Problem der Autorität Zunächst soll die Bedeutung des Autoritätsbegriffs für die kritische Theorie erläutert werden. Dieser Begriff wurde von den Begründern der kritischen Theorie umfassend problematisiert. Zu fragen ist jedoch, warum ausgerech- net dieser Begriff genutzt wurde, um zuerst die historische Lage der 1930er Jahre – das Erstarken des Nazismus – zu begreifen.6 Warum wurde später an ihm festgehalten, um den Faschismus in einem umfassenderen Sinne zu ana- lysieren?7 Horkheimer spricht von dem »autoritären Staat«, um die Tenden- zen zu totaler Herrschaft (in der stalinistischen UdSSR sowie im nationalso- zialistischen Deutschland) zu beschreiben.8 Bemerkenswert ist, auch wenn auf diesen Punkt hier nicht weiter eingegangen werden kann, dass sich auch bei Hannah Arendt Überlegungen zu Autorität und Autoritarismus finden lassen; jedoch mehr als Kontrastfolie zu ihrem eigenen Totalitarismusbegriff: Totalitarismus lasse sich nicht als Autoritarismus begreifen. Autoritarismus bezeichne ein politisches, hierarchisch strukturiertes Regime, während der

4 Zur Formulierung des Programms des Instituts für Sozialforschung vgl. Max Horkheimer: Die gegenwär- tige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung [1931]. In: Ders.: Sozi- alphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930-1972, Frankfurt am Main 1981, S. 33-46. Be- reits in diesem Text unterstreicht Horkheimer die Wichtigkeit der Analyse der »psychischen« Vermittlung zwischen den materiellen und kulturellen Sphären. 5 Adorno und Marcuse haben Fromms Theorie stark angegriffen. Sie kritisierten den Verlust des Freud’schen Kerns, das heißt das kritische Potential der Psychoanalyse. Fromm hat in seiner Theorie Freuds Trieblehre abgelehnt und wurde vom Kulturalismus geprägt. Adorno und Marcuse zufolge gibt die Psychoanalyse, die Fromm verteidigt, der Analytischen Therapie, die eine konformistische Anpassung an die Gesellschaft an- strebe, zu viel Gewicht. Vgl. Theodor W. Adorno: Die revidierte Psychoanalyse [1951]. In: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt am Main 1972, S. 20-42; Herbert Marcuse: Eros and Civilization: A Philosophical Inquiry into Freud, Boston 1955; zur Geschichte des Revisionismus vgl. Russell Jacoby: Social Amnesia: A critique of contemporary Psychology from Adler to Laing, New Brunswick 1997. 6 Vgl. Horkheimer 1936 (s. Anm. 3). 7 Vgl. Adorno 1949 (s. Anm. 3). 8 Vgl. Max Horkheimer: Autoritärer Staat. In: Autoritärer Staat. Die Juden und Europa. Aufsätze 1939–1941, Amsterdam 1967.

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Totalitarismus durch die Metapher der Zwiebel gefasst werde. 9 Arendt geht jedoch davon aus, dass der Verlust der Autorität den Boden für die Entwick- lung des Totalitarismus geliefert hat. Auch sie sieht, ähnlich wie Horkheimer, die Analyse des Totalitarismus (obwohl dieser eine neue, totale Herrschaft erzeugt habe)10 in einem umfassenderen Zusammenhang mit der Moderne. Sind Autorität und Autoritarismus die adäquaten Begriffe, um den Zu- sammenhang zwischen Herrschaft und Faschismus aufzuhellen? Man ver- steht unter Autorität die Macht, durch die man sich Glauben und Gehorsam sichert, Überlegenheit, durch die man sich Respekt verschafft, ohne auf Zwang oder Überredung zurückgreifen zu müssen. Autorität ist dieser »Zuwachs« (augere), der es erlaubt, freiwilligen Gehorsam zu erhalten, ohne Gewalt an- zuwenden, ohne zu argumentieren und ohne seine Anforderungen zu recht- fertigen.11 Die spezifische Charakteristik der Autorität ist demnach, dass sie Anerkennung einer bestimmten Ordnung voraussetzt. Deswegen situiert sich Autorität immer an der Grenze zur Herrschaft, weil diese Anerkennung immer unter Verdacht steht, mit ideologischen Mitteln erheischt worden zu sein. Die Phänomene von Autorität stellen infolgedessen eine Herausforde- rung an die kritische Methode dar. Während Arendt die Kategorie der Autorität in einer positiven Perspek- tive analysiert (Autorität stellt bei ihr eine Idee, gar mit idealem Charakter dar, die von Macht und Herrschaft zu unterscheiden ist),12 interessiert sich Horkheimer im Gegensatz dazu für das Problem der immer möglichen Transformation der Freiheit in einen Zwang und der ebenso immer mögli- chen Maskierung von etwas Illegitimen als Legitimes. Seine Perspektive ist die der dialektischen Veränderungen der Autorität. Die Phänomene, die sich als Autorität und tendenziell als Autoritarismus begreifen lassen, sind in ei- nem umfassenden Sinne »ideologische« Phänomene: Zustände, in denen Herrschaft naturalisiert wird – insbesondere die Akzeptanz der sozialen Herrschaft durch die psychischen Mechanismen der Individuen. Bei Auto- rität geht es weniger um eine legitime Quelle von Macht, die ein gemeinsa- mes Handeln erzeugen könnte (wie bei Arendt); es geht vielmehr um die

9 Arendt zufolge gibt es eine unselige und folgenschwere Verwechselung von Autoritarismus, Tyrannei und Totalitarismus, die aus der falschen Identifizierung von Autorität und Tyrannei, von legitimer Macht und Gewalt herrührt. Autorität sowie Autoritarismus müssen von anderen Machtformen begrifflich unterschie- den werden; vor allem vom Totalitarismus. Autoritarismus manifestiert sich durch eine Pyramidalstruktur, insofern die Quelle der Autorität immer eine äußere und obere Kraft ist, die die Macht begründet und be- grenzt. Autoritarismus beschränkt die Freiheit, ohne sie abzuschaffen; totalitäre Herrschaft hingegen schafft sie bis in die Sphäre der Spontaneität ab. – Vgl. Hannah Arendt: Authority in the Twentieth Century. In: Review of Politics, n°18 (4), 1956, S. 403-417; Hannah Arendt: What is Authority? In: Between Past and Future: Eight Exercises in Political Thought, New York 1993, S. 91-142. 10 Vgl. Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism [1951], New York 1973 (dt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2003). 11 Vgl. Arendt 1993 (s. Anm. 9). 12 Die Autorität bezeichnet die Quelle der Legitimität und bestimmt nach Arendt die Begründung, aus denen die Macht als gemeinsames Handeln entsteht.

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Mechanismen der Unterwerfung des Menschen, der freiwilligen und sogar unbewussten Knechtschaft.13 Die Kategorie der Autorität kann innerhalb der frühen kritischen Theorie in dieser Hinsicht verwendet werden, weil sie keine neutrale Kategorie ist. Sie nährt sich aus einem psychoanalytischen sowie nietzscheanischen Hin- tergrund, dem Marx’schen Denken und seiner Anwendung in der politi- schen Philosophie (mit der Kategorie des »Autoritarismus« bzw. »auto- ritären Staates«). Am präzisesten wurde der Begriff der Autorität durch die Verbindung der Analysen der psychoanalytischen Mechanismen mit der Theorie der kapitalistischen Gesellschaft. Mit Hilfe des Autoritätsbegriffs analysiert Horkheimer im Rahmen seiner »Theorie des historischen Verlaufs«14 den Prozess der Veränderung der öko- nomischen Struktur. Autorität ist zentral für die Bildung des psychischen und kulturellen Charakters, der zu Akzeptanz der ökonomischen Situation führt. Diese Ebene wird bei Arendt nicht wirklich berücksichtigt; sie ist äußerst skeptisch gegenüber psychologischen Erklärungsansätzen. Sie hat kein Interesse für ideologische Phänomene; sie sucht eher eine »reine« Ge- stalt der Autorität, die sie in der Römischen Geschichte verwirklicht findet. Mit der Kategorie der Autorität versucht Horkheimer erstens, den Faschis- mus als eine Form direkter Herrschaft zu verstehen, so wie sie für postlibe- rale Gesellschaften charakteristisch sei. Der Autoritätsbegriff zielt vermittels einer Identifikation mit dem Ideal (im Freud’schen Sinne) auf die Akzeptanz der Ordnung oder der Leader. Aber zweitens ermöglicht diese Perspektive eine umfassendere Analyse der Kultur, in welcher der Faschismus als Pro- zess der Zivilisation verstanden wird. In den 1940er Jahren analysiert Hork- heimer die Verbindung von Autorität und Rationalität in der Moderne bzw. den Wandel der Autorität durch den Rationalisierungsprozess. Wenn Ver- nunft als einer der möglichen Träger von Herrschaft gilt, so kann durch die verschiedenen Forschungsperspektiven der kritischen Theorie untersucht werden, wie Autorität durch den Rationalisierungsprozess ausgeübt wird und welche neuen Formen sie angenommen hat.

Die Autorität als Gegenstand einer interdisziplinären kritischen Theorie der Herrschaft Nun können wir die doppelte, grundsätzliche Bedeutung des Autoritäts- begriffs erkennen: Erstens liefert die Rekonstruktion der Autoritätstheorie der frühen kritischen Theorie ein komplexes Bild ihrer Herrschaftstheorie, das wesentlich vielschichtiger als das übliche Bild in der heutigen Rezeption

13 Étienne de La Boétie: Discours de la servitude volontaire ou Contr’un [1549], Paris 2002. 14 Vgl. Max Horkheimer: Vorwort. In: Zeitschrift für Sozialforschung (ZfS), Jg. 1, 1932, München 1980, S. I-IV.

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der Kritischen Theorie ist. Es ist üblich, die kritische Theorie der Herrschaft als bloße Behauptung einer totalisierenden und der Vernunft inhärenten Herrschaft zu begreifen, die totale Verdinglichung erzeugt. Wir haben hier eine qualitativ einzigartige Kategorie, die bestimmte Probleme benennen kann und bestimmte Phänomene an der Schnittstelle von Herrschaft und Freiheit (von dem Psychischen, Sozialen und Politischen) untersucht. Mit dem Autoritätsbegriff kann der Verdinglichungsprozess sowie die psycho- analytische Seite der gesellschaftlichen Phänomene erfasst werden. Zweitens ist Autorität eines der wenigen Themen, das während der ersten Jahre der Zusammenarbeit und des Exils zum Gegenstand des interdiszi- plinären Programms geworden ist. Richtet man die Aufmerksamkeit auf dis- ziplinäre Ansätze und nimmt die Autorität als geeigneten Gegenstand, um das interdisziplinäre Programm auf den Prüfstand zu stellen, so lassen sich zwei Probleme formulieren: a) der Vorrang des sozialpsychologischen Ansat- zes in der Behandlung der Frage der Autorität und die damit einhergehende Reduktion der Interdisziplinarität auf die Verschränkung von Soziologie und Psychologie; b) das Festhalten am Begriff der Autorität (vor allem im sozial- psychologischen Ansatz), um sehr unterschiedliche historische Situationen zu analysieren: den Niedergang der Arbeiterklasse, den Aufstieg des National- sozialismus und des Stalinismus, die faschistische Propaganda in der ameri- kanischen Demokratie, die Erziehung in Deutschland in der Nachkriegszeit. Dabei versteht die kritische Theorie sich selbst als überlegte Verarbeitung der historischen Erfahrung, wie Helmut Dubiel anmerkt.15 Hier zeigt sich, dass die Analyse Horkheimers eher in Richtung Zivilisationsproblematiken erwei- tert und die spezifisch historische Problematik in diese Zivilisationsanalyse integriert wurde. Dies ist der zweite Aspekt der Untersuchung: Autorität er- weist sich als eine sehr umfassende Kategorie, deren Anwendung eher für zi- vilisatorische als für geschichtliche Probleme geeignet erscheint.

Vorrang und Komplexität des sozialpsychologischen Ansatzes

In der kritischen Gesellschaftstheorie kann man leicht den Vorrang des sozial- psychologischen Ansatzes feststellen; sichtbar wird er zum Beispiel in den beiden wichtigsten empirischen Studien des Instituts für Sozialforschung: Die Studien über Autorität und Familie (1936) und Der autoritäre Charakter (1949). Der Rahmen der Analyse ist immer die objektive Ebene der ökonomi- schen und gesellschaftlichen Strukturen, aber die Sphäre der Psyche und der Kultur bestimmen die Ausrichtung der Gesellschaftstheorie noch maßgebli- cher. Es soll nun gezeigt werden, dass sich der sozialpsychologische Ansatz

15 Vgl. Dubiel 1978 (s. Anm. 2).

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von Horkheimer zu Fromm und Adorno verändert. Am Anfang der 1930er Jahre ist Fromm eine der wichtigsten Personen des Instituts; in den 1940er Jahren aber ist er zur Zielscheibe heftiger Angriffe seitens Adornos, Marcu- ses und auch Horkheimers geworden,16 obwohl dieser früher nicht nur Fromms Sozialpsychologie in das interdisziplinäre Programm integriert, sondern auch zehn Jahren lang eine stete Diskussion mit ihm als Theoretiker und Freund geführt hatte.17 Die Konsequenzen dieses Wandels sollen hier erörtert werden. Was auf dem Spiel stand, war nicht weniger als die Verbin- dung zwischen Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie.

Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Gesellschaft Warum ist diese Problematik wichtig? Eine theorieimmanente Erklärung für den Sinneswandel Horkheimers ist notwendig, weil sich der Großteil der wissenschaftlichen Beiträge zu diesem Thema meist nur auf die Polemik ge- gen den Revisionismus konzentriert und die eigenständige und begründete Entwicklung der Position Horkheimers nicht beachtet. Ein zweiter Grund liegt in der aktuellen Lesart der Kritischen Theorie: Die Perspektive Axel Honneths, welche die peripheren Ansätze in der kritischen Theorie nachzu- vollziehen versucht, hat zu einer Rehabilitierung des späten Fromm – als Al- ternative zu dem funktionalistischen Ansatz des inneren Kreises der ersten Generation – geführt.18 Obwohl ich einer solchen Aufwertung der Positionen Fromms nicht absolut zustimme, erscheint mir die Methode eines produk- tiven Vergleichs zwischen Zentrum und Peripherie fruchtbar, um die Pro- blemstellungen der kritischen Theorie zutage zu fördern – insbesondere die Probleme, welche die Autoritätskritik innerhalb des sozialpsychologischen Ansatzes aufwirft. Die Institutsgeschichte führte zu einem epistemologischen Problem vom Wesen und der Rolle der Sozialpsychologie in der Gesellschaftstheorie Hork- heimers. In den 1930er Jahren wird der Faschismus als Autoritarismus er- klärt, wobei Horkheimer, wie auch Fromm, die Erzeugung der autoritären Persönlichkeit durch die patriarchalische Familie betonte. Aber unterhalb der steten diskursiven Verwendung der Kategorie der Autorität bei Hork- heimer und des damit einhergehenden scheinbaren Vorrangs des sozialpsy- chologischen Ansatzes kann man eine wichtige Veränderung erkennen: In der Zusammenarbeit mit Adorno wird in der Folge der Niedergang der Au- torität und des Individuums (das heißt die Vorherrschaft eines schwachen

16 Vgl. Adorno 1951 (s. Anm. 5); Marcuse 1955 (s. Anm. 5). 17 Vgl. Max Horkheimer: Ernst Simmel and Freudian Philosophy. In: The International Journal of Psychoanaly- sis, Vol. 29, 1948, S. 110-113. 18 Honneth zufolge bietet Fromms Theorie eine Alternative zu dem geschlossenen Funktionalismus: Im Den- ken Fromms »bahnen sich kommunikationstheoretische Einsichten nicht im makrosoziologischen, sondern im mikrosoziologischen Bereich an«. Honneth 1999 (s. Anm. 1), S. 54.

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Ichs statt eines autonomen Individuums) konstatiert.19 Es geht nicht mehr um eine bloße Kritik der Autorität, sondern mehr um eine Kritik am Nieder- gang der Autorität als Bedrohung für die individuelle Autonomie. Man kann mithin zwei Modalitäten der Integration der Psychoanalyse in die Gesellschaftstheorie und zwei normative Auffassungen zur Autorität un- terscheiden: Autorität kann einerseits als Bestandteil einer psychischen Struktur verstanden werden, die sich in der Familie bildet und die die gesell- schaftliche Struktur der Autorität widerspiegelt. Autorität ist ein Teil der psychischen und patriarchalischen Mechanismen, die um die Erzeugung, Reproduktion und Perpetuierung der autoritären Gesellschaftsformen kon- kurrieren. Andererseits kann man auch die gesellschaftlichen und kulturel- len Mechanismen betonen, die zum Verlust der Autorität führen, und die Wirkung, die ein solcher Vorgang auf die Subjekte hat, untersuchen. Psycho- analyse wird in diesem Kontext genutzt, um die Verdinglichungsmechanis- men der Gesellschaft zu analysieren. Fromm hatte diese zweite Idee ebenfalls skizziert; er kommt aber in sei- nen späteren Schriften zu einer zunehmend existentiellen Auffassung vom Menschen, die grundsätzlich optimistisch bleibt.20 Horkheimer dagegen – unter dem Einfluss von Adorno und Benjamin sowie durch eine vertiefende Lektüre Freuds – kritisiert die Fromm’sche Beschreibung der Entfaltung des Menschen in der Gesellschaft. Seine Überlegungen gehen in die Richtung ei- ner Diagnose des Menschen in der Kultur (im Sinne von Zivilisation). Das Problem, das bei der Betrachtung des Verhältnisses von Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie auf dem Spiel steht, ist das des Antagonismus von Indi- viduum und Gesellschaft.

Zwei unterschiedliche Auffassungen und Gebräuche der Psychoanalyse Horkheimer, wie auch Adorno, wurde in Psychoanalyse durch den Professor Hans Cornelius ausgebildet. Psychoanalyse wird daher in einer erkenntnis- theoretischen Perspektive verwendet, gleichsam als Pendant zur kantischen Transzendentalphilosophie, die darauf zielt, die Aktivität des Subjekts in der Wahrnehmung und Erkenntnis aufzuzeigen. Die Psychologie wurde inso- fern in einem umfassenderen Sinne in die Programmatik des Instituts, insbe- sondere in die Herrschaftstheorie integriert, als Herrschaft durch kognitive Kategorien hindurch ausgeübt wird.21 Gleichzeitig aber ist die Psychologie als empirischer Ansatz sehr wichtig, der mit der Sozialphilosophie »dialek- tisch verschränkt« ist.22

19 Vgl. Theodor W. Adorno; Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947], Frankfurt am Main 1969; Max Horkheimer: The End of Reason. In: ZfS 9, 1941, S. 365-397; ders.: Eclipse of Reason [1947], New York 1992. 20 Vgl. Erich Fromm: Escape from freedom, New York 1941.

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Fromm, nach Wilhelm Reich und Paul Federn, fügt zu diesem allgemei- nen Interesse spezifisch das an der Familie und dem sogenannten Charakter hinzu. Ziel ist es, die materialistische Theorie durch eine bisher fehlende psychologische Komponente zu korrigieren. Es geht um die Vertiefung der subjektiven Dimension des Marxismus, um einerseits die Ursachen des Scheiterns der proletarischen Revolution sowie andererseits den Anschluss der Massen an den Nazismus zu analysieren. Fromm definiert den Ideolo- giebegriff neu: als Mobilisierung von psychischen Trieben, die nicht auf die ökonomischen Interessen reduzierbar sind.23 Das Problem besteht darin, zu klären, wie sich die ökonomische Situation als Ideologie durch das Trieble- ben verändert; nur in diesem Rahmen sei Psychologie notwendig.24 Horkhei- mer systematisiert in »Geschichte und Psychologie«25 die Ideen, die aus der analytischen Sozialpsychologie Fromms stammen. Er kritisiert hier eine zu mechanistische Auffassung der Geschichte und möchte deren psychologi- sche Dimension aufzeigen, um zu erklären »[w]ie die psychischen Mechanis- men zustande kommen, durch die es möglich ist, dass Spannungen zwi- schen den gesellschaftlichen Klassen, die auf Grund der ökonomischen Lage zu Konflikten drängen, latent bleiben können«26. 1936 präzisiert Horkheimer in den Studien über Autorität und Familie: Nicht nur äußere Gewalt zwingt die Menschen, sondern – wie der Autoritätsbegriff zeigt – auch ihre eigene psy- chische Verfassung. Man muss also den historischen und psychologischen Typus, gleichsam den in der Familie gebildeten Charakter, der die Zustim- mung zum Kapitalismus erzeugt, analysieren. Wie also ist der Gesinnungswandel Horkheimers möglich geworden? Fromm und Horkheimer stimmten in Bezug auf den theoretischen Rahmen und die empirischen Forschungen überein, insofern die letzteren sich als praktische Anwendung dieses Rahmens begreifen lassen. Innerhalb dieser grundsätzlichen Einigkeit kann man trotzdem Trennlinien bemerken und ex- plizieren. Diese Divergenzen waren auf Grund der Struktur der institutionel- len Zusammenarbeit möglich, die es Horkheimer erlaubte, nur Aspekte der Theorie von Fromm zu übernehmen. Das impliziert aber, dass die Interdiszi- plinarität des Programms stets von einer Multidisziplinarität bedroht wurde: Die Theorie hat nicht immer die Ergebnisse der empirischen Forschungen in- tegriert, manchmal hat gar die Integration der spezialisierten Disziplinen im Medium der Philosophie eine wirkliche Interdisziplinarität ersetzt.27

21 Vgl. Max Horkheimer: Materialismus und Metaphysik. In: ZfS 2, 1933, S. 1-33. 22 Horkheimer 1931 (s. Anm. 4). 23 Vgl. Erich Fromm: Über Methode und Aufgabe einer analytischer Sozialpsychologie. In: ZfS 1, 1932, S. 28-54. 24 Vgl. ebd., S. 46. 25 Max Horkheimer: Geschichte und Psychologie. In: ZfS 1, 1932, S. 125-144. 26 Ebd., S. 136. 27 Vgl. Dubiel 1978 (s. Anm. 2), S. 137-147; Wolfgang Bonss; Axel Honneth: Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1982.

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Ein erster Grund für den späteren Wandel in der Kooperation von Hork- heimer und Fromm liegt in der Tatsache, dass die Übereinstimmungen zwi- schen den beiden teilweise negativ blieben, das heißt, dass sie nur in ihrer Kritik an Freud einig waren.28 Wenn die Freud’schen Analysen oder Begriffe in der kritischen Gesellschaftstheorie benutzt werden, so dienen sie wesent- lich einer kritischen Diagnose der Gesellschaft; gleichzeitig jedoch wurden sie für ihren Mangel an Geschichtlichkeit kritisiert. Horkheimer und Fromm möchten zeigen, dass die vorgeblich ahistorischen Triebe gesellschaftlich und geschichtlich gebildet sind. Horkheimer zufolge muss die Erklärungs- struktur der Charakterologie Anwendung finden, vorausgesetzt dass sie ein »psychologisierendes Schreiben der Geschichte« vermeidet.29 So gilt es am Ödipuskomplex, mit dem sich Fromm kritisch auseinandergesetzt hat, zu zeigen, dass die patriarchalische Gesellschaft dessen objektive Bedingung bzw. Voraussetzung für die Ausbildung des Über-Ichs darstellt, das als psy- chische Verinnerlichung von bestimmten ideologischen Instanzen einer be- stimmten Gesellschaft verstanden wurde. Die Kritik des Patriarchats und das damit einhergehende Interesse am Matriarchat gehen in dieselbe Rich- tung. Fromm stützt sich auf die Analyse matriarchaler Gesellschaften von Robert Stephen Briffault und Johann Jakob Bachofen und zeigt, dass die Triebe modifizierbar sind, wenn sie sich in einem anderen Typ von Gesell- schaft verwirklichen können.30 Schon in Horkheimers Analyse wird die Mut- terrolle anders betrachtet: Die Mutter stellt ein Prinzip der Liebe und des Schutzes gegen die Verdinglichungsprozesse der Gesellschaft dar – aber ihre Rolle ist in dieser Analyse schon intern durch die Verdinglichung bedingt und dadurch unterlaufen. Die Untersuchung der Rolle der Mutter dient also einer Genealogie des männlichen Subjekts und ermöglicht es, die Frage nach einer anderen Form von Subjektivität zu stellen: einer Subjektivität, die nicht mit einer abstrakten Autonomie ausgestattet und fähig ist, die Anderen an- zuerkennen. Die Einigkeit in Bezug auf den Rahmen maskiert schon in den 1930er Jahren feine Unterschiede, die sich auf die Verbindung zwischen Psy- choanalyse und Gesellschaftstheorie – und vor allem auf das Verständnis des Subjekts – beziehen und die sich daher als entscheidend erweisen. Sie wer- den maßgeblich in der Analyse der Autorität.

28 Vgl. Erich Klein-Landskron: Max Horkheimer und Erich Fromm. In: Michael Kessler; Rainer Funk (Hrsg.): Erich Fromm und die Frankfurter Schule, Tübingen 1992, S. 161-180. 29 Max Horkheimer [unter dem Pseudonym Heinrich Regius]: Dämmerung. Notizen in Deutschland, Zürich 1934, § 57. 30 Vgl. Erich Fromm: Robert Briffaults Werk über das Mutterrecht. In: ZfS 2, 1933, S. 382-385; ders.: »Die sozial- psychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie«. In: ZfS 3, 1934, S. 193-227.

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Die Wendung im sozialpsychologischen Ansatz: Scheinbare Kontinuität und Verschiebung der Begriffe In Bezug auf die Analyse der Autorität kann man oberflächliche Konvergen- zen feststellen, die aber leichte Divergenzen bzw. Spannungen überdecken. Gemäß der psychologischen Diagnose Fromms ist das Verhältnis zu einer ir- rationalen Autorität eine Pathologie der patriarchalischen Gesellschaft. In der historischen Diagnose Horkheimers ist dagegen die Feststellung einer zunehmenden Autorität der »Tatsachen«, das heißt einer neuen Form von Autorität, nur unter Rückgriff auf die Spannungen zwischen den gesell- schaftlichen Klassen, die sich in den sozialen Charakteren widerspiegeln, er- klärbar und gilt somit als durch die Zersetzung der Autorität in der Familie erzeugt. Fromm nahm teilweise eine vergleichbare Analyse vor – zum Bei- spiel in Bezug auf den »masochistischen Charakter«, den er bei Personen diagnostiziert, die sich durch Rationalisierungen der Ordnung der Tatsachen unterwerfen; zum Beispiel Gottes Willen oder ökonomischen Tatsachen.31 Fromm ist dieser eingeschlagenen Richtung der Analyse der Verdinglichung nicht gefolgt. Der wesentliche Unterschied liegt in der Auffassung von Subjektivität. Die Normativität des Subjekts, welches von Fromm in den Analysen der Au- torität aus dem Jahr 1936 verteidigt wurde, löst das Problem der Autorität durch ein starkes rationales Ego, das bei Fromm später als angepasst und in- tegriert beschrieben wird und fähig sein soll, die irrationale Autorität des Über-Ichs zu vermindern oder auszugleichen. Die Kritik Fromms an Freud, gleichsam dass dieser die produktiven Kräfte des Ichs nicht gesehen und die Anpassung des Ichs privilegiert habe, ist der Kern des Streits um die Rolle der Sozialpsychologie und vor allem um die richtige Subjekttheorie: Die Dia- lektik der Aufklärung enthält eine Art dialektische Genealogie einer solchen rationalen, naturbeherrschenden Subjektivität und versucht die Möglichkeit eines qualitativ verschiedenen Verhältnisses zur Natur aufscheinen zu las- sen. Bezüglich der Natur des Subjekts lässt sich also eine signifikante Oppo- sition feststellen. Zusätzlich kann man diese Frontstellung an der Verwen- dung des Charakterbegriffs nachvollziehen: Auch wenn Adorno diesen Begriff später noch verwendet,32 präzisiert er, dass der Charakter mehr ein »Narbensystem« als eine integrierte Totalität ausmacht.33 Neben dem Begriff des Charakters findet sich auch eine Wandlung in der Bedeutung des Adjektivs »autoritär«: In den 1940er Jahren bedeutete es nicht mehr »patriarchalisch«, sondern nunmehr das Ende der Autorität, das durch den Verdinglichungsprozess hervorgerufen wird. Deutlich zeigt sich dies in

31 Vgl. Erich Fromm: Zum Gefühl der Ohnmacht. In: ZfS 6, 1937, S. 95-118. 32 Vgl. Adorno 1949 (s. Anm. 3). Der deutsche Titel heißt: »Autoritärer Charakter«. 33 Vgl. Adorno 1951 (s. Anm. 5).

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Horkheimers Aufsatz »Authoritarianism and Family Today«34 aus dem Jahr 1949: Die »ideologische« Funktion der Familie ist eine Erziehung, die auf realistisches Verhalten gerichtet ist: auf soziale Herrschaft; die Familie kann kein autonomes Bewusstsein mehr erzeugen. Adorno bringt diesen Um- stand auf den Punkt; er schreibt, dass das Problem nicht mehr die Familie sei, sondern der Warentausch, die Kommodifizierung und Verdinglichung.35 Autorität bedeutet nicht mehr wie noch 1936 eine Beziehung zwischen den Polen Herrschaft und Unterwerfung, gleichsam zwischen etwas, das kollek- tive Autonomie verhindern oder ermöglichen kann, sondern sie wird zu ei- nem entscheidenden Bestandteil der Bildung von Subjektivität. Autorität wurde zuerst in einer sozialkritischen Perspektive gedacht, wobei es die Or- ganisation der Arbeit war, die durch die Enteignung der Arbeitsprodukte und die damit einhergehende Enteignung der Identität der Arbeiter das Pro- blem eines Autonomieverlusts erzeugt. Schließlich wurden Autorität und Autonomie zunehmend in einer kulturtheoretischen Perspektive gedacht – vor allem im Zusammenhang der nicht unproblematischen Diagnose vom Ende des Subjekts. Die Diagnose Horkheimers läuft nicht mehr auf eine Transformation der bürgerlichen Familie im Kapitalismus hinaus, sondern auf die Tragödie der Zivilisation. Die Zersetzung des Subjekts ist das Ergeb- nis des »Ende[s] der Verinnerlichung der Autorität«: Insofern als das Subjekt keine Autorität mehr verinnerlichen kann, kann es auch nicht mehr in der Revolte Autonomie ausbilden und verwirklichen. Diese Auffassung von Subjektivität wirft zwar Probleme auf;36 zumindest hat aber Horkheimer ver- sucht, sich real mit dem psychoanalytischen Subjekt auseinanderzusetzen, ohne es zu beschönigen. Der Pessimismus Horkheimers – durch seine Akzeptanz der Hypothese eines Todestriebs noch verstärkt – provoziert eine radikale Opposition zur Theorie Fromms. In Escape from Freedom 37 bleibt Fromm in einer optimisti- schen, Marx’schen Auffassung des Menschen verhaftet: Der menschliche Fortschritt ist als Entwicklung der Produktivkräfte der Menschen konzipiert; das Heil der Menschen läge in einer gelungeneren Anpassung bzw. in der Entfaltung der Potentiale des Individuums. Fromm betont die Rolle der Kul- tur und der interpersonellen Beziehungen. Er beschreibt die Entstehung des

34 Max Horkheimer: Authoritarianism and the Family Today. In: The Family: Its Function and Destiny, New York 1949, S. 359-374. 35 Vgl. Theodor W. Adorno; Walter Benjamin: Briefwechsel 1928-1940, Frankfurt am Main 1994: »[I]ch habe vor etwa drei Monaten in einem großen Brief an Horkheimer […] entgegen Fromm und besonders Reich, die Auffassung vertreten, daß die wahre ›Vermittlung‹ von Gesellschaft und Psychologie nicht in der Familie sondern im Warencharakter und dem Fetisch, daß der Fetischismus das eigentliche Korrelat der Verdingli- chung sei«. – Adorno an Benjamin, Brief 33, 5/6/1935, S. 124. 36 Für Kritik des Theorems einer »vaterlosen Gesellschaft« vgl. Jessica Benjamin: The End of Internalization: Adorno’s social psychology. In: Telos, 32, Summer 1977, S. 42-64; dies.: »Authority and the Family Revisited: or, A world without Fathers ?«. In: New German Critique, 13, Winter 1978, S. 35-57. 37 Fromm 1941 (s. Anm. 20).

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bürgerlichen Charakters ohne Bezug auf eine feste Triebstruktur (wie noch bei Freud), aber mit der Idee des Menschen als impulsivem Wesen, in des- sen Sozialisation ein historisch gebildetes Triebpotential am Werk ist. Der Mensch hätte »Furcht vor der Freiheit«, und um der individuellen Freiheit zu entkommen, flüchte er sich in den Autoritarismus, das heißt in die auto- ritäre Gemeinschaft oder in den Konformismus (konformistischer Automa- tismus). Fromm lehnt deutlich die Triebtheorie Freuds ab; der Todestrieb wird nur als destruktiver Trieb gesehen, während Horkheimer und Adorno den Thanatos als ein Prinzip betrachten, das im Dienst der Kultur steht. In dieser Verwendung der Zivilisationstheorie gründet das Problem des Anta- gonismus zwischen Individuum und Gesellschaft. An dieser Stelle mag sich die Engführung der kritischen Theorie aufspüren lassen: Die Triebe und vor allem die destruktive Seite des Menschen im Sinne der Freud’schen Psycho- analyse zu berücksichtigen, impliziert die unvermeidbare Destruktivität der Gesellschaft oder Kultur sowie in der Folge den Widerstreit zwischen Individuum und Gesellschaft zu betonen. Auf diese Weise setzen Horkhei- mer und Adorno die Freud’sche Problematik des Unbehagens in der Kultur fort. Fromm geht mithin von Freud zu Marx, Horkheimer macht dagegen den gleichen Weg in umgekehrter Richtung. Daraus ergibt sich eine Verschie- bung der Rolle der Psychoanalyse in der Gesellschaftstheorie: Sie ist nicht mehr eine komplementäre Disziplin, um ein soziales Unbewusstes bzw. eine ungedachte Dimension der sozialen Objektivität zu begreifen (der Charakter als Widerspiegelung der Hemmung der Produktivkräfte), sondern eine un- abhängige Disziplin: Quelle der Kritik einer optimistischen Auffassung vom Menschen. Die Diagnosen Horkheimers und Adornos konstatieren die Ent- stehung einer direkten Herrschaft, die das Scheitern der Autorität sowie die Unfähigkeit des Individuums zur Autonomie erzeugt. Horkheimer und Adorno haben eine Perspektive eröffnet, die den Spielraum der sozialen Transformation der Gesellschaft durch die kritische Gesellschaftstheorie be- schränkt. Die Divergenz findet sich also in dem anthropologischen Unterbau der Herrschaftstheorie und Autoritätstheorie: Die Gesellschaftstheorie von Fromm bleibt optimistisch, während die von Horkheimer zunehmend pes- simistischer wird. In diesem Kontext ist das Problem des sozialpsycho- logischen Ansatzes von Horkheimer deutlich geworden: das Risiko einer Hypostasierung der Herrschafts- und Autoritätsphänomene – als ob die Au- torität immer gewalttätig sei –, weil es in diesen um den Prozess der Kultur und Zivilisation geht. Das Risiko besteht in der Verabsolutierung eines psy- chologischen Typus. Die Lösung dieses Problems der Verabsolutierung liegt in der Verbindung des psychologischen Typus mit der bestimmten politi- schen Herrschaft. Die Autorität ist für die Bildung der Autonomie auf einer

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psychologischen Ebene notwendig, Autonomie ist jedoch nur in einem poli- tischen Rahmen denkbar. Die Kritik der Autorität ist mithin in der psycholo- gischen und moralischen Autonomie des Subjektes begründet, kann aber von bestimmten politischen Formen des Autoritarismus geschützt oder be- droht werden.

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Esther Denzinger

Nach dem Genozid. Erinnerungsprozesse und die Politik des Vergessens in Ruanda

Nach dem Genozid im Jahr 1994 lebt Ruanda heute mit dem Erbe der zu- rückliegenden Gewalt. Indem ich in meiner Arbeit die Prozesse des Erin- nerns, des Vergessens und des Verarbeitens untersuche, gehe ich der Frage nach den Kriegsfolgen und den Heilungschancen nach. Erinnerungen sind, indem sie vergangene Ereignisse rekonstruieren, bewahren und anerkennen, konstituierend für die Stabilität einer Nachkriegsgesellschaft. Mit welchen Strategien und Innovationen begegnet die ruandische Nachbürgerkriegs- gesellschaft den Folgen der Gewalt? Wie können in einer vom Krieg zerrisse- nen Gesellschaft dialogische Formen des Erinnerns gefunden werden, die schließlich Versöhnungsprozesse befördern? Der Genozid als Zäsur hat nicht nur das Land, seine Infrastruktur zer- stört, sondern auch das Leben der Menschen in zwei Hälften zerteilt – in die Zeit vor dem Genozid und in die Zeit danach. Es ist eine Zeitrechnung mit Verlusten. Über eine Million Menschen wurden während der 100 Tage des Genozids im Frühjahr des Jahres 1994 ermordet, Zehntausende wurden ver- letzt und traumatisiert, haben Angehörige, Freunde, Haus und Hof verloren. Die Opfer zählten vor allem zur Minderheit der Tutsi; aber auch Hutu, die dem Aufruf zum Morden nicht folgten, die sich aktiv widersetzten oder Tutsi zu schützen versuchten, fielen dem Genozid zum Opfer.1 Die Nachrichten von Massakern und Menschenjagden, die damals um die Welt gingen, stellten den Konflikt zunächst als plötzlichen Ausbruch einer archaischen Fehde zwischen zwei verfeindeten Ethnien dar. Tatsächlich wa- ren die Gewaltstrukturen weitaus komplexer. Das Morden und Foltern, das am 6. April 1994 in Kigali begann und sich im ganzen Land ausbreitete, war systematisch geplant. Der Genozid entzündete sich im Kontext eines Bürger- kriegs, der im Oktober 1990 mit dem Einmarsch der Tutsi-Rebellenarmee von Uganda aus begann. Seit über 30 Jahren im Exil lebende Ruander hatten sich zur Ruandischen Patriotischen Front (RPF) zusammengeschlossen. Sie for- derten mit Gewalt ein Rückkehrrecht, das ihnen der damalige ruandische Präsident Juvénal Habyarimana versagte. Die sich innerhalb Ruandas zu- spitzende Wirtschaftkrise sowie die seit Jahrzehnten schwelenden politi-

1 Vgl. Alison des Forges: Leave no one to tell the story. Genocide in Rwanda, New York 1999.

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schen und sozialen Konflikte brachten das ruandische Regime zusätzlich in Bedrängnis. Um ihre angeschlagene Autorität zu stärken, manipulierten po- litische Eliten gezielt ethnische Zuschreibungen. Sie bedienten und schürten ethnische Ressentiments, um Menschen für ihre Zwecke zu mobilisieren. Die Spaltung der Bevölkerung, Hass und Wut gegen die jeweils Anderen war die Folge einer Politik von korrupten Eliten, denen es um Machterhalt und Res- sourcenkontrolle ging.2 Auch nach dem offiziellen Kriegsende vom 18. Juli 1994 bestimmten Chaos und Leid die Situation. Von den damals knapp acht Millionen Einwohnern Ruandas war fast die Hälfte auf der Flucht. Hunderttausende suchten Schutz in den Nachbarländern, in Tansania, Uganda oder Burundi. Etwa 1,2 Millio- nen Menschen trieb es in die Flüchtlingslager nach Zaire/Kongo. Unter ihnen waren etliche Hutu-Extremisten – Soldaten der ehemaligen ruandischen Armee und Interahamwe-Milizen3 –, die einer Strafe entgehen wollten und sich unter die Flüchtlinge mischten, sie als menschliche Schutzschilder miss- brauchten.4 Instabilität und fehlende Sicherheit – die Angst vor Rache und Ver- geltung – beherrschten die Lage auch innerhalb Ruandas. Etwa eine Million Binnenflüchtlinge irrten durch das Land. Die Kriegsgräuel, das anhaltende Leid nach den traumatischen Erfahrungen von Gewalt und Verlust haben das soziale Gefüge der ruandischen Gesellschaft zerstört, das Zusammengehörig- keitsgefühl von Familien und Gemeinschaften untergraben.5 Unter der schwierigen Situation des gesellschaftlichen Wiederaufbaus lit- ten besonders die ruandischen Frauen. Die Abwesenheit der Männer – viele saßen in den Gefängnissen, waren auf der Flucht oder tot – belastete sie mit zusätzlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Ohne männlichen Schutz und entgegen traditionellen Geschlechterrollen waren sie gezwungen, neue Lebensperspektiven für sich und ihre Kinder zu entwickeln.6 Im ganzen Land, in Dörfern und Städten, organisieren sich seit Mitte der 1990er Jahre Frauen in Kooperativen.

2 Vgl. Anna-Maria Brandstetter; Dieter Neubert: Historische und gesellschaftliche Hintergründe des Konflikts in Ruanda. In: Peter Meyn (Hrsg.): Staat und Gesellschaft in Afrika. Erosions- und Reformprozesse, 1996; Forges 1999 (s. Anm. 1); Rita Schäfer: Frauen und Krieg in Afrika. Ein Beitrag zur Gender-Forschhung, darin: 3. Teil: Zentral und Ostafrika, Gender und Genozid in Ruanda, S. 267-312, Frankfurt am Main 2008. 3 Interharamwe bedeutet, aus dem Kinyarwanda übersetzt, »diejenigen, die zusammen halten«, oder »die- jenigen, die zusammen kämpfen«. Die Interharamwe war zunächst ein extremistischer Flügel der MRND, der Staatspartei Ruandas, die Anfang der 1990er Jahre, während der Regierungszeit des Staatschefs Juvénal Habyarimana gegründet wurde. Bald jedoch wurde die Interahamwe zu einer der wichtigsten Akteure der »Hutu-Power«, die die Ermordung der Tutsi propagierte und durchführte. 4 Die Soldaten und Milizen brachten die Flüchtlingslager bald unter ihre Kontrolle. Sie schlossen sich wieder zusammen, um Ruanda erneut anzugreifen. Dieser Bedrohung begegnete die ruandische Regierung mit der gewaltsamen Auflösung der Lager während des ersten Kongo-Krieges im Jahr 1996; vgl. Anna-Maria Brand- stetter: Erinnerung, Politik und Genozid in Ruanda. In: R. Kößler; P. Kunitz; W. Schulz (Hrsg.): Peripherie, Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, Sonderband 1: Gesellschaftstheorie und Provoka- tionen der Moderne, Münster 2005, S. 139-152; dies.: Erinnern und Trauern. Über Genozidgedenkstätten in Ruanda. In: Winfried Speitkamp (Hrsg.): Kommunikationsräume – Erinnerungsräume. Beiträge zur trans- kulturellen Begegnung in Afrika, München; Schäfer 2008 (s. Anm. 2). 5 Vgl. Brandstetter 2005 (s. Anm. 4); vgl. Schäfer 2008 (s. Anm. 2).

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Der Weg nach Remera-Rukoma führt über eine holprige Staubpiste, vor- bei an Eukalyptus- und Papayabäumen, lose verstreuten Klein- und Kleinst- gärten. Der Ortskern ist tagsüber von Fußgängern, Fahrradtaxen und Mo- pedfahrern belebt. Unter den Wohnhäusern und Kioskbuden sticht ein von hohen Mauern umfriedeter Backsteinbau hervor. Hier ist der Sitz von Sevota – Anlaufstelle für Kriegswitwen und Kriegswaisen, für Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, die Kinder geboren haben, die sie nicht wollten, die einfach da sind und jetzt großgezogen werden müssen. Godeliève Mukasarasi hat sich nach dem Genozid mit einigen Frauen ihres Dorfes zusammengetan. Gemeinsam die Toten zu betrauern, sich ge- genseitig zu trösten, war ursprüngliches Motiv zur Gründung von Sevota, erzählt die Überlebende und heutige Menschenrechtsaktivistin. Dass über Remera-Rukoma hinaus ihre Organisation mittlerweile landesweiten Zulauf erfährt, führt Godeliève auf Opferzahlen zurück, für die schier die Begriffe fehlen: Zwischen 250 000 und 500 000 Mädchen und Frauen wurden sexuell gefoltert, verstümmelt, zur Zwangsprostitution in Kriegsbordelle verschleppt.7 Die massenhaften Vergewaltigungen waren geplante Kriegstaktik. Häufig ermordeten Soldaten und Milizen die Tutsi-Männer eines Ortes zuerst. Ihre perfiden Exzesse umschrieben die Mörder verharmlosend mit Begriffen der alltäglichen Feldarbeit. Das Abmetzeln der Männer wurde als das »Abschla- gen von Büschen zur Freilegung von Ackerfläche« bagatellisiert. Die bruta- len sexuellen Übergriffe an Frauen wurden als »Ausrottung von Unkraut« und als das »Herausreißen der Wurzeln« bezeichnet. Tatsächlich zielte das, was mit den Vergewaltigungsopfern geschah, auf die völlige Vernichtung der feindlichen Volksgruppe. Jede Hoffnung auf eine Zukunft sollte zerstört, an der Wurzel herausgerissen werden.8 Frauen, die trotzdem überlebten, leiden bis heute an körperlichen und seelischen Verletzungen infolge der Vergewaltigungen. Über 70 Prozent der Kriegsvergewaltigten wurden mit dem HI-Virus angesteckt. Godeliève spricht über die verheerenden Folgen der Gewalt: »Bei uns lebt man von der Land-

6 Vgl. Catharine Newbury; Hannah Baldwin Aftermath: Women in Postgenocide Rwanda, Working Paper No. 303, Center for Development Information and Evaluation, Washington 2000. 7 Über diese Zahlen existieren nur Schätzungen. Viele Frauen wurden nach den Vergewaltigungen umge- bracht. Und bis heute verschweigen viele Überlebende die erlittenen Qualen – aus Scham, aus Angst vor Ra- che und vor Stigmatisierung. Vgl. zum Beispiel Amnesty International: Rwanda, Marked for death, Rape survivors living with HIV/AIDS in Rwanda, London 2004. 8 Vgl. Anne-Maria Brandstetter: Die Rhetorik von Reinheit, Gewalt und Gemeinschaft: Bürgerkrieg und Ge- nozid in Ruanda. In: Sociologus, Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie, Jg. 51, Berlin 2001, S. 148-184; vgl. Schäfer 2008 (s. Anm. 2). – Sexualisierte Gewalt war eine systematische Vernich- tungsstrategie, die zusätzlich noch symbolisch aufgeladen war. Wie Brandstetter in ihrem Artikel »Die Rhe- torik von Reinheit, Gewalt und Gemeinschaft« beschreibt, spielten bei der Entmenschlichung der Opfer Vor- stellungen von Reinheit und Unreinheit eine zentrale Rolle. Sexistische Zerrbilder, die Tutsi-Frauen und -Mädchen eine besondere Anziehungskraft zuschrieben – Konstrukte und Präferenzen, die noch auf die bel- gischen Kolonialherren zurückgingen –, wurden mit extremistischer Propaganda von der »bedrohten Hutu- Nation« aufgeladen. Der Propaganda zufolge sollte in einem »Reinigungsritual« das Volk der Hutu von den »verunreinigten« Tutsi »gesäubert« werden. Die Vernichtung der Tutsi, die teilweise rituell inszenierten Gewaltexzesse, zielten auf die Schaffung einer »gereinigten« Hutu-Identität.

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wirtschaft, aber mit dieser Krankheit können die Frauen keine schwere kör- perliche Arbeit verrichten, die Felder bestellen und das Vieh versorgen. Also haben sie nichts zu essen. Also sind sie hungrig und unterernährt. Und das hat zur Folge, dass die Aids-Medikamente nicht richtig wirken, die Frauen vertragen sie nicht. Viele wurden bei der Vergewaltigung außerdem mit Stöcken und Macheten geschlagen. Sie wurden verstümmelt und ihre Ge- schlechtsorgane schwer verletzt. Mit all diesen Handicaps sind sie auf Hilfe angewiesen.«9 Es sind die kleinen Schritte, die zählen, wenn die überlebenden Frauen in Ruanda das Leben ohne ihre Männer für sich und ihre Kinder neu zu gestal- ten beginnen. Godeliève Mukasarasis Organisation Sevota macht auf ihre Bedürfnisse sorgfältig abgestimmte Angebote: psychologische Einzel- und Gruppenberatungen, Fortbildungen in den Bereichen Gesundheit oder Frauen- und Kinderrechte helfen den Frauen, ihren Alltag wieder selbstbe- stimmt zu bewältigen. Zahllose Betroffene, die sonst schweigen, finden bei Sevota einen geschützten Raum, wo sie über ihre traumatischen Erlebnisse sprechen können. Eine Ehefrau will nicht, dass ihr Mann von ihrer Vergewal- tigung erfährt. Eine junge Frau möchte sich nicht für den Rest ihres Lebens darauf reduzieren lassen, ein Opfer zu sein. Sobald eine Frau ihre Vergewal- tigung in der Dorfgemeinschaft publik macht, muss sie mit ihrer Stigmatisie- rung rechnen. Die mit der Gewalt verbundene Schmach, das Entsetzen zer- reißt oft alle Beziehungen. Gegen diese Isolation setzt Sevota vor allem auf die solidarische Vernetzung der Frauen. Untereinander suchen und geben sie sich Halt und lebenspraktische Unterstützung. Sie legen ihr Geld zusam- men und geben einander Kleinstkredite aus. Sie helfen sich reihum bei der Feldarbeit, auch um die Kranken und Schwachen zu entlasten. Die gelebte Gemeinsamkeit wirkt heilend, sagen die Frauen, sie gibt ihnen Trost und Kraft. Consolata10, eine der Frauen von Sevota: »Wir können nicht die ganze Zeit weinen und im Schmerz verharren, wir müssen leben und wir müssen auch mit unseren Kindern gut leben. Während der Treffen hier bei Sevota wird uns Müttern erklärt, dass unsere Kinder keine Sünder sind, dass die Sünder vielmehr die Väter sind und dass unsere Kinder es nicht verdienen, wie Schuldige behandelt zu werden. Wir lernen auch, unseren Kindern die Wahrheit zu sagen. Mein Sohn fing nämlich irgendwann an, mir Fragen zu stellen: ›Wer ist mein Vater?‹ Zuerst bin ich ausgewichen, aber dann habe ich ihm die Wahrheit gesagt: ›Du wurdest während einer Vergewaltigung ge- zeugt, als ich in den Kongo fliehen wollte.‹ Von diesem Moment an sprach er nicht mehr mit mir. Inzwischen geht es ihm wieder besser. Er wünscht sich

9 Interview auf Französisch am 08.06.2008. Soweit nicht anders angegeben wurden die folgenden Interview- ausschnitte von der Verfasserin aus dem Englischen bzw. Französischen ins Deutsche übersetzt. 10 Der Name der Interviewten wurde anonymisiert.

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sogar, zu weiteren Treffen hierhin nach Sevota zu gehen. Und für mich kann ich sagen, dass ich angefangen habe, ihn ein bisschen zu lieben.«11 In Kigali, der Hauptstadt Ruandas, lassen sich nur noch wenige Spuren des Krieges finden. Die Straßen sind voller Menschen und Autos, zahlreiche Baustellen signalisieren Aufbruch, versprechen Wachstum. Im noch immer sichtbaren Ambiente einer afrikanischen Kleinstadt wachsen Banken und Bürokomplexe aus Stahl und Glas in den Himmel. Die Stadt scheint die Ver- gangenheit hinter sich lassen, am liebsten vergessen zu wollen. Längst ist in Kigali wieder normales Leben eingekehrt – nur finden sich viele Menschen darin nicht mehr zurecht. Nur wenige hundert Meter Luftlinie vom gepflegten und vorzeigbaren Stadtkern entfernt liegt in einer ruhigen Nebenstraße das Büro der Frauen- selbsthilfeorganisation Amizero. Täglich gehen hier Frauen aller Bevölke- rungsgruppen ein und aus. Es sind Frauen, die Arbeit suchen, junge Frauen, die allein für sich und ihre Geschwister sorgen müssen, Frauen, die kein Dach über dem Kopf haben, weil ihr Haus einem modernen Bürokomplex weichen musste. »Wir mussten bei weniger als Null beginnen. Bei Tausenden unter Null. Nicht nur, dass unsere Familien, unser Hab und Gut und unsere Existenz- basis zerstört waren, nein, das Schlimmste war der völlige Verlust des Ver- trauens, in uns selbst, in unser Land, in unsere Nachbarn, in die Zukunft. Also stand ich vor der Wahl: Entweder konnte ich mich selbst umbringen oder aufhören in der Vergangenheit zu leben und mich auf das Heute kon- zentrieren.«12 So begründet Florida Mukarubuga ihr Engagement für die Organisation Amizero, die sie seit acht Jahren zusammen mit Winnie Mupenpa leitet. Die eine der beiden Frauen hat Familienangehörige während des Genozids ver- loren, die andere lebt in der Nachkriegszeit ohne ihren Mann, dem eine Be- teiligung am Genozid vorgeworfen wird und der danach verschwunden ist. Wie bei Sevota, so geht es auch den Frauen von Amizero darum, trotz ihrer sich immer wieder bahnbrechenden Erinnerungen an Schuld und Leid, das Misstrauen zu überwinden und neue Kooperationsformen, Möglichkei- ten gegenseitiger Unterstützung zu finden. Winnie Mupenpa: »Mich interes- siert nicht, ob du die Frau eines Mörders oder eine Überlebende bist. Mich interessiert der Alltag der Frauen in diesem Land. Wir müssen neu lernen, uns als Schwestern zu empfinden und wieder Vertrauen ineinander auf- bauen. Nur durch Reden ist das nicht möglich.«13

11 Interview auf Kinyarwanda am 14.07.2008, übersetzt von Aloysie Uwizeyemariya. 12 Interview auf Französisch am 16.07.2008. 13 Interview auf Französisch am 20.06.2008.

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Am dringendsten, sagen Florida und Winnie, brauchen Kriegstraumati- sierte eine halbwegs stabile Lebensgrundlage. In Ruanda – ohnehin eines der ärmsten Länder der Welt – leben über 90 Prozent der Menschen als Selbst- versorger_innen von der Landwirtschaft. Sie leben von dem, was ihre oft nur Betttuch großen Felder an Essbarem für sie abwerfen. Erosion und Übernut- zung haben die landwirtschaftlichen Flächen und deren Erträge reduziert. Besonders Witwen und Waisen leiden unter Armut und Unterernährung. Und auch in der Stadt gibt es nur wenige Einkommensquellen. Die Arbeits- losigkeit ist hoch, viele schlagen sich mit einfachen Gelegenheitsarbeiten durch. Die Lebensmittelpreise sind in den letzten Jahren um ein Vielfaches gestiegen, genauso wie die Preise für Baustoffe. Viele Überlebende haben bis heute kein eigenes Dach über dem Kopf. Problematisch ist auch die ungenü- gende Infrastruktur des Gesundheitssystems. Längst nicht alle Menschen haben Zugang zu medizinischer Versorgung, auch nicht, um ihre Kriegs- wunden und Narben ausheilen zu können. Den Frauen von Amizero ist vor allem ihre Armut gemeinsam. Die Orga- nisation unterstützt Frauen darin, ihr Leben selbstständig zu gestalten, Schritte in die wirtschaftliche Unabhängigkeit zu unternehmen. Sie sichern sich ein kleines Einkommen, indem sie Haushaltsabfälle sammeln und Brennmaterial daraus herstellen. Andere bauen Gemüse an und verkaufen es. Wieder andere betreuen in dieser Zeit die Kinder. Regelmäßig lädt Ami- zero Frauen – aber auch Männer – zu Gesprächskreisen und Workshops ein. Schulungen über HIV/AIDS oder zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung ste- hen auf dem Programm, genauso wie Diskussionen über die Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen Frauen und Männern, die traditionelle Ge- schlechterrollen in Frage stellen und aufbrechen sollen. Was ursprünglich eine pragmatische Maßnahme zur Existenzsicherung war, hat sich in der Praxis auch als gemeinsame Erinnerungsarbeit erwiesen. Denn bei Amizero treffen Frauen der Täter wie der Opfer zusammen. Über das gemeinsame Tun schaffen sich diese Frauen einen Raum zur Auseinan- dersetzung und zu einem Dialog aus der Täter- wie aus der Opferperspek- tive. Die Vergangenheit zur Sprache zu bringen, das hat sich auch die ruandi- sche Politik auf die Fahne geschrieben. Die Nachkriegsregierung unter Führung der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) – deren Soldaten 1994 den Völkermord beendet hatten – beschwört den Bruch mit der auf ethnischen Hass gegründeten Vergangenheit und ruft den Neuanfang aus. Im Neuen Ruanda ist es erklärter politischer Wille, dass Täter und Opfer nicht verges- sen, nicht schweigen, sondern miteinander sprechen. Die Regierung hat um- fangreiche Programme entwickelt, die die gesellschaftliche Aufarbeitung des Genozids voranbringen, Versöhnung und nationale Einheit stiften sollen. Auch Bildungsprogrammen, Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut oder

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der Schwerpunktsetzung Gendermainstreaming misst die derzeitige Regie- rung ein besonderes Gewicht bei; sie sollen den Weg in eine friedlichere Zu- kunft weisen. Im ruandischen Parlament – und das ist weltweit bislang einmalig – liegt die politische Entscheidungsmacht mehrheitlich in den Händen von Frauen. Denn seit den Wahlen im September 2008 sind 55 Prozent der Parlamentsab- geordneten weiblich. Eine dieser Politikerinnen ist Aloysia Inyumba. Sie war die erste Frauen- und Familienministerin nach dem Genozid und ist heute Senatorin im ruandischen Abgeordnetenhaus: »Unsere Botschaft als Regie- rung heute ist, dass es mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen gibt als Unterschiede. Anders als das frühere Regime, sehen wir die Menschen nicht als Feinde. Wir bringen sie zusammen. Wir brauchen ihre Anstrengun- gen und ihren Beitrag, um dieses Land wieder aufzubauen. Was wir tun, ist bilden, vermitteln, erklären, und wir sehen Menschen als ein Potential, nicht als Last. Diese Versöhnungspolitik durchzieht alle Bereiche. In allem, was wir tun, muss sichergestellt sein, dass es gleiche Möglichkeiten für alle Ruan- der schafft. Das entspricht unseren Visionen und unseren Werten.«14 Der Imperativ »Erinnere Dich!« ist allgegenwärtig in Ruanda. Gedenkwo- chen, aufwändig gestaltete nationale Gedenkstätten und Zeremonien sollen alle Ruander in eine gemeinsame Trauer um die Opfer des Genozids einbin- den. Von Beginn an war diese offizielle Erinnerungspolitik allerdings heftig umstritten. Denn nicht alle Opfer fühlen sich als Opfer wahrgenommen und anerkannt. Bei den jedes Jahr im April stattfindenden Trauerwochen etwa wird der getöteten Tutsi gedacht, nicht aber der ermordeten Hutu. Doch auch viele Hutu sehen sich als Opfer von Krieg und Flucht. Im nationalen Erinnerungsraum finden ihre Erfahrungen allerdings keine Anerkennung. Und auch Überlebende stehen der offiziellen Erinnerungspolitik skeptisch gegenüber. Denn in der Regierung sind kaum Überlebende, sondern vor allem die nach dem Genozid aus dem Exil zurückgekehrten sogenannten Case-Load-Flüchtlinge15 vertreten. Viele Menschen fühlen sich ungewollt und zurückgewiesen im Neuen Ruanda.16 Um eine weitere Zersplitterung der Nation zu verhindern, wurde die Frage der ethnischen Identität in der offiziellen Sprachregelung kurzerhand zum Tabu erklärt. »Wir sind alle Ruander«, sagen heute Hutu wie Tutsi, Täter wie Opfer. Ob dieses auf Zukunft gerichtete Abkommen aber wirklich belastbar ist, bleibt fraglich. Zu sagen, »wir sind alle Ruander«, unterschlägt, dass Hutu oder Tutsi zu sein, im Krieg über Leben und Tod entschied. Auch in

14 Interview auf Französisch am 19.07.2008. 15 »Case-Load-Flüchtlinge« oder »Altflüchtlinge« – so werden die Menschen genannt, die in Reaktion auf die Massaker in Ruanda bereits ab 1959 in die Nachbarländer geflohen waren und nach dem Genozid mit ihren Kindern zurückkamen. Die Zahl der nach 1994 zurückgekehrten Tutsi wird auf ungefähr 600 000 geschätzt. – Vgl. Schäfer 2008 (s. Anm. 2). 16 Vgl. Brandstetter 2005 (s. Anm. 4).

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Ruanda bleibt die ethnische Zugehörigkeit relevant, zumal die Überleben- den heute wieder gezwungen sind, mit ihren früheren Peinigern Tür an Tür zusammen zu leben, sich mit ihnen zu arrangieren. Ohne Gerechtigkeit keine Versöhnung, so lautet ein Leitsatz der ruandi- schen Regierung. Hunderttausende Angeklagte überfüllten nach dem Geno- zid die ruandischen Gefängnisse. Um ihnen den Prozess machen zu können, wurden überall im Land, in einem beispiellosen Kraftakt, eine neue dezen- trale Form der Gerichtsbarkeit – die sogenannten Gacaca-Gerichte – instal- liert. In Amts- und Gemeindehäusern, auf Dorfplätzen, Wiesen und unter Bäumen versammeln sich seit Ende des Jahres 2002 einmal pro Woche Täter, Opfer, Zeug_innen und Laienrichter_innen.17 Minder schwere Verbrechen sollen direkt in den Gemeinden verhandelt werden. Im Gespräch zwischen Opfer und Täter soll dabei die Bestrafung mit der Versöhnung einhergehen. Auch mit sexualisierter Kriegsgewalt – die unter der Kategorie der schwer- sten Verbrechen zuvor vor dem Internationalen Tribunal im tansanischen Arusha verhandelt wurde – befassen sich heute die lokalen Laiengerichte. Es waren vor allem ruandische Politikerinnen, die sich dafür eingesetzt haben, das, was Frauen im Krieg erlitten haben, ans Licht zu bringen. Nicht im fer- nen Arusha, sondern vor Ort sollen die Verbrechen aufgearbeitet werden. Denn ohne eine umfassende Aufarbeitung der Folgen dieser Gewaltform für die Geschlechterrollen, so erklären diese Politikerinnen, ist ein friedliches Miteinander nicht möglich. Die Senatorin Aloysia Inyumba: »Wir Frauen im Parlament haben hart darum gekämpft, das Schicksal der Betroffenen zu ei- nem dringlichen Anliegen der Politik zu machen. Diese Grausamkeiten während des Genozids geschahen in aller Öffentlichkeit. Jeder wusste, wel- cher Nachbar welche Frau geschändet hat, es war kein Geheimnis. Genauso öffentlich haben wir nun mit diesen Verbrechen umzugehen. Wir meinen, es ist das Beste, darüber zu sprechen, uns, die Gesellschaft mit unserer Vergan- genheit zu konfrontieren. Wir versuchen, die Dorfgemeinden zu mobilisie- ren, mit einzusteigen in eine öffentliche Diskussion. Wir sagen ihnen: Wir werden die Kriegsverbrecher nicht einfach so davonkommen lassen!«18 Während die Regierung das Experiment Gacaca für alternativlose Opfer- politik hält, haben vor allem Betroffene viel dagegen einzuwenden, etwa dass die Überlebenden während der Gacaca-Verhandlungen ihren Peinigern schutzlos, ohne Anwalt gegenüberstünden. Die Menschenrechtsaktivistin Godeliève Mukasarasi: »Man verlangt einmal mehr von den Frauen, Rede zu stehen, ihr Leiden wieder zu erleben – und das direkt von Angesicht zu An- gesicht mit ihren Peinigern! Unsere Erfahrung ist, dass, wenn die Frauen an- fangen zu sprechen, ihre Erinnerungen zurückkehren, sind sie ihnen preisge-

17 Ende des Jahres 2010 wurden die letzten Gacaca-Verfahren eingestellt. 18 Interview auf Englisch am 19.07.2008.

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geben. Die Gefahr der Retraumatisierung ist sehr groß. Die Wunden können so nicht heilen. Die Frauen zahlen einen hohen Preis dafür, dass sie Aussa- gen machen, und was bekommen sie dafür zurück? Natürlich verlangen die Frauen eine Justiz, die Vergewaltigung verurteilt, aber sie verlangen mehr als das. Sie fordern Entschädigung, sie wollen wieder ein menschenwürdi- ges Leben führen. Das wäre soziale Gerechtigkeit.«19 Die politische Anerkennung des Opferstatus manifestiert sich für die Überlebenden nicht in einer materiellen Entschädigung. Viele Überlebende sind sich zwar darin einig, dass Geld kein Unrecht heilen kann, Vergebung kann damit nicht gekauft werden, aber, so sagen sie auch, es ist das einzige Mittel, das ihnen Besserung versprechen kann. Der staatlich eingerichtete Hilfsfond für Überlebende des Genozids – fünf Prozent des Bruttoinlandpro- duktes – kann die dringendsten Bedürfnisse nicht decken. Die ruandische Regierung konsolidiert sich, indem sie Kriegsthemen einerseits aufgreift und angeht, andererseits aber unterschlägt. Auch die während des Krieges begangenen Verbrechen der Ruandisch Patriotischen Front sind bis heute tabu. Sie werden in keinem gerichtlichen Verfahren be- handelt.20 Erinnern konstituiert auch Vergessen. Die Nation wird erneuert, der Staat gestärkt. Die offizielle Erinnerungspolitik ist eng an die Legitimation von Machtansprüchen und an Fragen nach der nationalen Identitätsstiftung gebunden.21 Die politische Aneignung von Erinnerungen birgt dabei das Risiko, eine Wahrheit festzuschreiben, in der die vielen Dimensionen des Erlebten untergehen. Ein zum Leitmotiv erhobener Satz in Ruanda ist: Haben wir denn eine Wahl? Noch herrscht Misstrauen und Vorsicht. Überlebende beurteilen Täter in der Nachbarschaft danach, ob deren Reue bloß vorgetäuscht ist oder, wie die Frauen sagen, wirklich aus dem Herzen kommt. Für viele Menschen in Ruanda hält »17 Jahre danach« der Nach-Krieg an.

Erinnern, Vergessen, Verarbeiten

Die Frage, wie auf den Trümmern zurückliegender Gewalt soziale und rechtsstaatliche Ordnung wieder hergestellt werden können, gewinnt insbe- sondere nach innerstaatlichen Konflikten heute zunehmend an Bedeutung. Meine Arbeit knüpft an aktuelle gesellschaftspolitische Fragen nach der Ver-

19 Interview auf Französisch am 28.06.2008. 20 Vgl. Peter Uvin: Difficult choices in the new postconflict agenda. The International Community in Rwanda. In: Third World Quaterly, Basingstoke 2001, S. 177-189. 21 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hoch- kulturen, München 1992.

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arbeitung von Gewalt an, die nicht nur in Ruanda, sondern auch in anderen Teilen Afrikas – zum Beispiel in Kenia oder Südafrika – einen hohen Stellen- wert in der öffentlichen Diskussion einnehmen. Im Nachhall auf traumatische Ereignisse werden die Erinnerungen der Tä- ter und Opfer, der Zuschauer und Beteiligten zu umkämpften Versionen von Wahrheit. Sie werfen Fragen nach Schuld und Verantwortung auf, können eine Quelle von Macht oder von Widerstand sein. Gegenstand der Auseinan- dersetzungen sind nicht nur die jeweils erinnerten Vergangenheiten. Die Ar- ten und Weisen, in denen die Vergangenheit aufgearbeitet, erinnert und inter- pretiert wird, spielen auch eine entscheidende Rolle, um Orientierungen für die Gegenwart und Zukunftsperspektiven zu entwickeln.22 Erinnerungen werden nicht durch geschlossene Kollektive bestimmt, sondern sie sind frag- mentiert, plural, wandelbar, fragil. Nationen als homogene Erinnerungsge- meinschaften existieren nicht. Was vielmehr existiert, ist eine Diskrepanz zwi- schen der von den staatstragenden Eliten gewünschten und repräsentierten nationalen Erinnerungskultur als kohärenter Einheit einerseits und den viel- fältigen Facetten gelebter Erinnerungen von Menschen andererseits.23 Der französische Soziologe Maurice Halbwachs wies bereits in den 1920er Jahren darauf hin, dass individuelle Erinnerungen immer schon sozial ge- prägt sind. Das individuelle und das kollektive Gedächtnis – das heißt im Sinne Halbwachs’: der innerhalb sozialer Gruppen erfolgende Bezug auf Vergangenes – bildet sich durch Kommunikation und durch Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen.24 Ereignisse werden also verortet und gedeutet, wenn sie auch innerhalb einer kollektiven Ordnung bedeutungsvoll sind. Offizielle Erinnerungsformen grundieren und begrenzen auch die Erinne- rungen einzelner Menschen. Individuelle Erinnerungen existieren nicht iso- liert. Sie berufen sich auf nationale Erinnerungen, bestätigen sie, geraten mit ihnen in Konflikt, widersprechen ihnen, fallen wieder auf sie zurück – es gibt kein Entkommen. Das Nebeneinander und Gegeneinander gleichzeitiger Er- innerungsfelder sorgt für eine Vielfalt von Perspektiven, aber auch für Span- nungen, Reibungen, Konflikte.25 Indem ich in meiner Arbeit die Rekonstruktion subjektiver Perspektiven mit der Analyse ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingen verknüpfe, möchte ich Einsichten in die für den ruandischen Kontext spezifischen For- men und Bedingungen der Gewaltverarbeitung sowie in deren genderspezi- fische Bedingungen gewinnen.

22 Vgl. z. B. Peter Burke: Geschichte als soziales Gedächtnis. In: Aleida Assmann; Dietrich Harth (Hrsg.): Mne- mosyne, Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1993, S. 289-304; Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2005. 23 Vgl. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. 24 Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen [1925], Frankfurt am Main 1985. 25 Vgl. Erll 2005 (s. Anm. 22); vgl. auch Assmann 2006 (s. Anm. 23).

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Für die Heilung von einem Genozid gibt es keine Rezepte, keine Routine. In der Erinnerungsarbeit der ruandischen Frauengruppen drückt sich der Versuch und das Bedürfnis aus, mit den in der Vergangenheit eingeschlosse- nen Gewalterlebnissen und ihrer Aktualisierung im gegenwärtigen Schmerz das je eigene Leben weiterzuleben und neu zu gestalten. Die ruandische Nachbürgerkriegsgesellschaft muss innovativ, erfinde- risch sein – ein Prozess, den ich in meiner Arbeit in einem Ausschnitt nach- zeichnen möchte.

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ANTISEMITISMUS UND RASSISMUS

Monika Urban

Die »Heuschreckenmetapher« im Kontext der Genese pejorativer Tiermetaphorik. Reflexion des Wandels von sprachlicher Dehumanisierung

»Defining Enemies, Making Victims: The origins of modern genocide, as well as its long-term consequences, are thus deeply rooted in a history of metaphors of evil, or, perhaps, of evil metaphors claiming to be history.« Omar Bartov1

Die Metapher der Heuschrecke, als Bezeichnung für Hedge Fonds, Private Equite Fonds und zum Teil ironische Beschreibung von Investmentbankern und Managern, wurde im April 2005 durch die Polemisierung »Heuschre- ckenschwärme« des ehemaligen SPD-Parteivorsitzenden Franz Müntefering während des NRW-Landtagswahlkampfs wieder in den öffentlichen Diskurs im deutschen Sprachraum eingeführt. Nach kurzer Auseinandersetzung um die Legitimität ihrer Verwendung2 etablierte sich die Metapher im kollekti- ven Bilderbestand und wurde vor allem im Kontext einer populistischen Ka- pitalismuskritik, die sich oftmals antiamerikanisch geriert, zu einem Ikon ei- ner Krise.

1 Omar Bartov: Defining Enemies, Making Victims: Germans, Jews, and the Holocaust. In: American Histori- cal Review, 103 Issue 1, 1998, 71-817, hier: S. 809. 2 Hier hatten vor allem jüdische Deutsche die Ursprungsbereiche der Ungeziefermetaphorik problematisiert (z. B. Michael Wolffsohn in BILD vom 12.05.2005), eine Kritik, die später von einigen linken Gruppen aufge- griffen wurde. Die Kritik an der Metaphernverwendung verweist auf eine problematische Bildtradition, da die Metaphorisierung von Kapitalakkumulation als Ungeziefer im Nationalsozialismus die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung legitimiert hatte. Häufig wird unter dem Begriff des »Strukturellen Antisemitismus« über die Legitimität der Heuschreckenmetapher debattiert – eine Auseinandersetzung, die auch in meiner Dissertation zur Heuschreckenmetapher. Studien zu ihren Herkunftsbereichen und ihrer Verwendung in der deutschen Presse Beachtung findet.

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Metaphern spielen generell eine große Rolle in unserer Sprachgemein- schaft und strukturieren als ein synchrones System von Sinn-Bildern maß- geblich den Diskurs.3 Sie sind Bestandteil einer »Kollektivsymbolik«, einer kollektiv verankerten stereotypen Bildlichkeit.4 Im Besonderen bei der Über- mittlung komplexer Analysen aus Spezialdiskursen – wie hier der Ökono- mie – in den Interdiskurs erscheint ein (vermeintlich) unmittelbares Verste- hen möglich. Dieses »Verstehen« basiert jedoch auf einer sehr selektiven und symbolischen Wissensintegration, bei der dies neue Wissen an strikte sozio- funktionale Grenzen einer »Sagbarkeit« geknüpft ist.5 Bei einer Betrachtung der Parallelmetaphern fällt jedoch auf, dass andere Schädlingsmetaphern in diesem »Reservoir« an Bildern nicht vorhanden sind. Dies ist keineswegs zu- fällig, sondern beruht auf einer historischen Tabuisierung von Schädlings- metaphorik in öffentlicher Rede. Nach 1945 wurden Metaphernverwendun- gen von Schädlingen und Parasiten außerhalb des »Felds des Sagbaren«6 situiert. Ein Tabu galt dabei auch für eine Metaphernverwendung im Zu- sammenhang mit Bildempfänger_innen, die im Nationalsozialismus nicht permanent als Ungeziefer bezeichnet wurden.7 Der kollektive Metaphern- bestand aktualisierte sich.8 Allerdings waren es die soziokulturellen Rück- stände – also die historischen Verwendungsweisen –, die an den Metaphern »kleben«, welche diskursive Kämpfe auslösten, etwa wenn Politiker_innen Studierende als »Parasiten« oder Schriftsteller als »Schmeißfliegen«9 bezeich- neten. Vor 1945 gehörten pejorative Tiermetaphern, unter anderem auch die Metapher der Heuschreckenschwärme, zu den prägnanten kulturtypologi- schen Bildern – vor allem in judenfeindlicher Rhetorik, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde. Jede Epoche und jeder Sprachraum verfügt über einen je spezifischen Be- stand von pejorativen Tiermetaphern, der nicht aus dem zahlenmäßigen Vorkommen von bildspendenden Tieren resultiert, sondern auf eine »initiale Kodifizierung«10 zurückzuführen ist. Hier handelt es sich um Zuschreibun-

3 Vgl. Jürgen Link: Einleitung. In: Wulf Wülfing (Hrsg): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen, Stuttgart 1984, S. 7-14. 4 Vgl. Jürgen Link; Rolf Parr: Projektbericht: diskurs-werkstatt und kultuRRevolution. Zeitschrift für ange- wandte diskurstheorie. In: Forum: Qualitative Sozialforschung, Volume 8, No. 2, Mai 2007, S. 4. 5 Vgl. Jürgen Link: Das Gespenst der Ideologie. In: Moritz Baßler; Bettina Gruber; Martina Wagner-Engelhaaf (Hrsg.): Gespenster. Erscheinung Medien Theorien, Würzburg 2005, S. 335-357. 6 Vgl. Siegfried Jäger: Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse, Opladen 2007, S. 95. 7 Einer permanenten Dehumanisierung durch Schädlingsmetaphern unterlagen neben Juden und Jüdinnen auch weitere mehr oder weniger stark konstruierte Gruppen wie »Asoziale«, Roma und Sinti, politisch An- dersdenkende, Menschen mit Einschränkungen, aber auch Homosexuelle und russische Kriegsgefangene, ebenso wie Teile der osteuropäischen Bevölkerung. 8 Vgl. Jobst Paul: Von Menschen und Schweinen. Der Singer-Diskurs und seine Funktion für den Neo-Rassis- mus. In: Zur Erinnerung: Tier-Metapher und Ausgrenzung, DISS-Texte Nr. 13, Duisburg 1992, S. 30-43, hier: S. 32. 9 Franz Joseph Strauß und Edmund Stoiber bezeichneten zum Beispiel Walter Jens und Martin Walser als Rat- ten und Schmeißfliegen. Vgl. Bernd Poerksen: Die Konstruktion von Feindbildern. Zum Sprachgebrauch neonazistischer Medien, Wiesbaden 2000, S. 174.

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gen an Tiere, wie zum Beispiel der Fuchs sei schlau und listig, das Schwein jedoch dreckig und unmoralisch. Zuschreibungen, die keine Auskunft über das instinktgeleitete Verhalten von Tieren geben und arbiträr, das heißt nicht naturgebunden, sondern konventionsbedingt sind.11 Die Tiermetaphern des abendländischen Denkens sind Teil narrativer Strukturen und besitzen eine lange Tradition, die oftmals bis ins Alte Testament zurückreicht.12 Die Tradie- rungslinien der Zuschreibungen lassen sich durch die unterschiedlichen literarischen Epochen und Gattungen wie zum Beispiel Parabeln, Fabeln, Märchen, Bestiarien, Spottpostkarten, über Sprichwörter, Karikaturen, Apo- logien und rhetorische Figuren verfolgen.13 Dabei modifizieren sich die De- notationen (explizite Formulierungen) und Konnotationen (indirekt herge- stellter Sinn) abhängig von ihrem soziokulturellen Kontext.14 Durch den Wandel eines soziokulturellen Kontextes in der deutschen Sprachgemein- schaft hat sich auch der Motivvorrat aktualisiert bzw. sind andere Bildemp- fänger Ziel pejorativer Metaphorisierungen geworden.

Genese der Tiermetaphorik in judenfeindlichen Diskursfragmenten

Judenfeindschaft bedurfte immer Bilder, die in den Köpfen wie abrufbare Codes imaginierter und vertrauter Vorstellungen funktionieren.15 Die Anzahl der Tiere, die sich für pejorative Metaphernverwendungen eignen, ist be- grenzt. Grob lassen sie sich in drei Gruppen einteilen: in allegorische Tiere (z. B. Hydren, Vampire, Drachen), »höhere« (z. B. Schweine, Affen, Geier) und »niedere« Tiere (z. B. Nagetiere, Insekten und Schlangen).16 Die Skripte17

10 Francesca Rigotti: Die Macht und ihre Metaphern. Über die sprachlichen Bilder der Politik, Frankfurt am Main 1994, S. 137. 11 Bereits die Tierbilder in homerischen Gleichnissen beschreiben weniger die Eigenschaften der Kreaturen als vielmehr das Bild, das sich die Menschen von den Tieren gemacht haben. Vgl. Harried Ritvo: The Animal Estate: The English and Other Creatures in the Victorian Age, Cambridge 1987, S. 4. – Diese sich über die Epochen wandelnde Aneignung von Natur bezeichnet Rigotti als »kulturelle Morphologie des Tierbildes«. Vgl. Rigotti 1994 (s. Anm. 10), S. 117. 12 Vgl. Simone Roggenbuck: Die Wiederkehr der Bilder. Arboreszenz und Raster in der interdisziplinären Ge- schichte der Sprachwissenschaften, Tübingen 2005, S. 11. 13 Relativ konstante Verknüpfungen von Bildspendern und Skripten erleichtern es, neue Gegenstände in einen Diskurs zu integrieren. Die Tiermetaphern appellieren an einen allgemeinen Schatz an Wissen, Stereotypen und sich selbst bestätigenden Mythen – »animals are good to think«. Claude Lévi-Strauss: Totemism, Har- mondsworth 1973, S. 161 f. 14 Ein großartiges Beispiel für eine solche Metamorphose liefert Ulrich Enzensberger anhand der Entwicklung der Metapher des Parasiten. Galt in der Antike ein Parasit noch als ehrenwerter Beamter am Tisch eines gut situierten Bürgers, wurden seine Züge in den folgenden Jahrhunderten negativ bewertet, er wurde zum un- produktiven Wucherer in der Neuzeit und durch die Biologisierung in der Moderne zum Parasiten am Volkskörper, bis er im Nationalsozialismus dem stärker zitierten Schädling zunehmend Platz machte. Vgl. Ulrich Enzensberger: Parasiten, Frankfurt am Main 2001. 15 Vgl. Wolfgang Benz: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, München 2001, S. 11. 16 Diese Einteilungen in höhere und niedere Tiere ziehen Höher- bzw. Minderwertigkeit nach sich – es sind Be- wertungsschemata, die aus kulturellen Konventionen hervorgehen. 17 Das Skript einer Tiermetapher umfasst die Wortfelder, die sich logisch an die Metaphernverwendung ansch- ließen: »Die Parasitenmenschen wuchern […], wie die Parasitenthiere, am meisten und ungenirtesten im

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dieser Tiere folgen einem »tierischen Konservatismus«18, der eine strikte Rangordnung der Tiere sowie die potentiellen Bildempfänger_innen vorsieht. Im deutschen Sprachraum begannen die Identifizierung des Fremden und seine Abwertung als Tier im Mittelalter.19 Die mittelalterlichen Tierfiguren hatten eine spezifische Funktion: sie verwiesen durch Symbolisierung und Personalisierung auf eine übergeordnete Bedeutung Gottes. Die Bibelexe- gese und -allegorese bildeten das »Reservoir«, über das die Bedeutungen der Bilder decodiert wurden.20 Im Besonderen waren es Tiere, die als unrein, stin- kend oder giftig galten, die »Juden«21 durch eine Metaphorisierung abwerten sollten, wie zum Beispiel Kröten, Ziegenböcke, Schlangen oder Schweine. Bei der Metaphernverwendung stand die Lehre der Juden und Jüdinnen als teuflisch im Zentrum.22 Eine vermeintliche Affinität mit dem Teufel wurde zum Beispiel durch das Reiten auf einer Ziege zum Ausdruck gebracht – es war der Kontakt mit dem Tier, der den Menschen »unrein« machte. Diese Motive waren an ein »problem setting« und entsprechende Handlungs- appelle geknüpft,23 die einem religiös motivierten Antijudaismus entspra- chen: Juden und Jüdinnen wurden wegen ihrer angeblichen »Unreinheit« aus ganzen Landstrichen vertrieben und immer wieder auch als Hunde tot- geschlagen.24 Mit dem Paradigmenwechsel der Neuzeit etablierten sich solche antijüdi- schen Topoi, Stereotype und Tiermetaphern, die heute als Basis des moder- nen Antisemitismus gelten.25 Zusätzlich zu den religiös motivierten Topoi traten Metaphorisierungen mit Bildern des Betrugs, des Geldwuchers und der Aufschneiderei hinzu.26 Diese Skripte stellten vor allem solche Tiere zur

Schmutz und in den Zuständen der Ungesundheit.« – Eugen Duehring: Die Judenfrage als Frage des Ras- sencharakters und seiner Schädlichkeit für Existenz und Kultur der Völker. Mit einer gemeinverständlichen und denkerisch freiheitlichen Antwort, Leipzig 1930, S. 8. 18 Alfred Opitz: »Adler« und »Ratte«. Schriftstellerisches Selbstverständnis und politisches Bewußtsein in der Tiermetaphorik Heines. In: Heine-Jahrbuch 20 (1981), S. 22-54, hier: S. 35. 19 Vgl. Boria Sax: Animals in the Third Reich. Pets, Scapegoats, and the Holocaust, New York, London 2000, S. 21. 20 Bereits im Alten Testament symbolisieren Tiere Gefahr oder eine Bedrohung des Kollektivs als Strafe Gottes, wie z. B. in den ägyptischen Plagen. Im Mittelalter ist es die Bibelexegese, die u. a. auch mit solchen Bildern die Bedingung für eine allegorische Deutung der Wirklichkeit schafft, also alles als Zeichen einer Heils- geschichte interpretiert. Die Skripte der metaphorisch eingesetzten Tiere wurden außerdem durch enzyklo- pädische Traditionen und Fabeln beschrieben, die viel apokryptisches Material verwendeten. 21 »Juden« sind hier absichtlich in Anführungen gesetzt, um hervorzuheben, dass es sich um eine Konstruktion handelt: »Der Antisemitismus macht den Juden.« Vgl. Michael Daxner: Der Antisemitismus macht Juden. Gegenreden, Hamburg 2007. 22 Im Gegensatz zu dem modernen Antisemitismus ist die mittelalterliche Judenfeindschaft eher mit einem Kampf gegen Ketzerei vergleichbar und wurde im Vergleich weniger stark bebildert. 23 Über eine Metaphernverwendung kann nicht nur ein unbekannter Gegenstand interpretiert werden, es können mit ihr auch Problemsituationen und ein Handlungsbedarf kreiert werden. Metaphern können poli- tische, soziale, ökonomische und kulturelle Vorstellungen widerspiegeln, wenn auch nur solche, die sprach- lich ausgedrückt werden. Vgl. Nicoline Hortzitz: Der »Judenarzt«. Historische und sprachliche Untersu- chungen zur Diskriminierung eines Berufsstands in der frühen Neuzeit, Heidelberg 1994, S. vi. 24 Nicht nur Juden und Jüdinnen wurden mit diesen Tieren im Mittelalter metaphorisiert, auch als abweichend markierte Körper wie Frauen oder Andersgläubige wurden so abgewertet. 25 Vgl. Hortzitz 1994 (s. Anm. 23), S. 115. 26 Vgl. ebd., S. 133.

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Verfügung, die wir heute unter den Fabeltieren subsumieren, wie Hund, Fuchs oder Wolf.27 Über die Skripte der Tiermetaphern konnten Juden und Jüdinnen nicht nur als religiös bedrohlich28 und gesundheitsschädlich29, son- dern auch als ökonomisch gefährlich illustriert werden. Ab dem 17. Jahrhun- dert wurde in diesem Kontext das Bild des blutsaugenden Vampirs populär, der mit dem Blut die Lebens- und Produktivkraft der ChristInnen abzapfte.30 Ab dem späten 18. Jahrhundert zeichnete sich ein wissenschaftlicher Fort- schritt in der Medizin und Biologie ab.31 Parallel vollzog sich eine Gleichset- zung der Natur mit etwas Niederem, der Kultur Gegenübergestelltem, was die Wirkung der Tiermetaphorik verstärkte. Juden und Jüdinnen wurden nun als Krankheitserreger, Viren und Bazillen metaphorisiert. Dies korre- spondierte mit der neuen Vorstellung eines organisch gewachsenen Volks- körpers,32 der von körperfremden Bazillen bedroht wurde, mit denen ent- sprechend nicht zu verhandeln sei, sondern die es als Hygienemaßnahme zu vernichten galt. Diese Rhetorik besaß eine große Schlagkraft, da die Maßnah- men der »Volkshygiene« nicht nur versuchten, die Ungezieferplagen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu meistern, sondern auch als Ar- gument in Vertreibungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen herangezogen wurden.33 Zeitgleich wurden die Skripte der Tiermetaphern durch eine »ras- sisch« begründete Andersartigkeit ergänzt, die den neuen Antisemitismus auszeichnete. Die bildlichen Metaphorisierungen zeigen ab Ende des 19. Jahr- hunderts Tiere, die durch eine große gebogene Nase, krumme Beine, platte Füße oder dunklem Haarwuchs als jüdisch markiert wurden.34

27 Fabeln gehörten in der Neuzeit zu den beliebtesten Medien um Moralvorstellungen, aber auch versteckte Gesellschaftskritik zu formulieren. Tierfiguren sind hier nicht mehr nur Projektionsfläche menschlicher Er- fahrungen oder Vorstellungen, sondern auch Ausdruck einer Zensur des Sagbaren. Ebenso durch in diesem Fall religiöse Zensur motiviert, finden sich in den Vogelkopf-Haggada Darstellungen, mit denen ein religiö- ses Bilderverbot umgangen wurde. Vgl. Peter Ortag: Für politische Bildung, in: Ders. (Hrsg.): Jüdische Kul- tur und Geschichte. Ein Überblick [1995], Potsdam 2009, S. 22. 28 Im Mittelalter wird der jüdische Glauben als eine Bedrohung der christlichen Gesellschaft interpretiert. Diese Bedrohung des christlichen Glaubensgebäudes wird durch die Säkularisierung auf andere Bereiche ausgeweitet, diese Ausweitung vollzieht sich auch durch die Anwendung von Bildern. 29 In Mittelalter und Neuzeit, also schon vor ihrer Metaphorisierung als Viren und Bazillen, wurden Juden und Jüdinnen über den Vorwurf der Brunnenvergiftung für Seuchen wie die Schwarze Pest verantwortlich ge- macht. Aber auch mittels Ritualmordbeschuldigungen und des Vorwurfs der Hostienschändung konnte un- terstellt werden, dass die christliche Bevölkerung durch die jüdische in ihrer Umgebung Schaden nehmen würde. Vgl. Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vor- urteile, Reinbek 1991, S. 351-368. 30 Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, S. 112. 31 Vgl. Enzensberger 2001 (s. Anm. 14), S. 142. 32 Vgl. Rainer Erb; Werner Bergmann: Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Inte- gration der Juden in Deutschland 1780–1860, Berlin 1989, S. 196. 33 Vgl. Julia Schäfer: Vermessen – gezeichnet – verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918–1933, Frankfurt am Main 2004, S. 139. 34 Die »Judennase« findet ihren Ursprung in Teufelsdarstellungen. Bereits im Mittelalter wurde dem Teufel eine große, gebogene Nase gezeichnet, die zur damaligen Zeit als hässlich galt. Auch der unangenehme Geruch des Teufels, der in mittelalterlichen Illustrationen daher auch als stinkendes Tier – als Schwein oder Ziegenbock – dargestellt wurde, erscheint wieder in judenfeindlichen Zuschreibungen. Vgl. Schmidt 1991 (s. Anm. 29), S. 163.

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Mittelalterliche Tiermetaphorisierungen von unreinen, unkultivierten, stinkenden Schweinen oder Bären wurden in neue rassistische Argumentati- onsstrategien eingebettet35 und bestanden synchron zu neueren Picturae wie Rabe, Geier, Spinne und Ungeziefer, die die als bedrohlich erlebten ökonomi- schen und sozialen Umstrukturierungen in der beginnenden Moderne jüdi- schen Individuen als Verursachern oder Inkarnation der Bedrohung zu- schrieben. Im Nationalsozialismus sind es keine neuen Tiere, die die vermeintliche Bedrohung durch Juden und Jüdinnen bebilderten, sondern eine insgesamt sehr düstere synchrone Metaphorik, die sich durch häufige Bildbrüche und spezifische Folgen in den Wortfeldern auszeichnete.36 Es manifestierten sich Bilder von Überschwemmungen und Plagen durch Schädlinge, die zwar auf eine lange Tradition zurückblicken konnten, sich hier jedoch in ungewohnter Dichte präsentierten. Auch sind es spezifische Begriffe wie »zersetzen«, die ab den 1920er Jahren in den Skripten von Ungeziefer- und Schädlingsmeta- phern dominierten.37 Im postfaschistischen Deutschland waren die Grenzen dehumanisieren- der Metaphorik sehr eng gesteckt.38 Jenseits einer rechten Presse39 sind es im medialen Diskurs Metaphern der Ströme und der Technik, die neue Bedro- hungsszenarien illustrieren.40 Aber auch Funktionsträger_innen werden stellvertretend für ökonomische Prozesse als Tiere metaphorisiert. Hier do- minieren Fische und Vögel als metaphorisierte Tiere, die in ihren Skripten im Nationalsozialismus über weniger Vernichtungsimplikationen verfügten, obwohl sie regelmäßig auf der »Humorseite«, aber auch den Titelseiten des »Stürmer« zu sehen waren. Wortkomposita wie Miet-, Finanz-, Geld- oder Kredithai haben sich nach 1945 sowohl in Boulevardmedien wie linken De- moplakaten einer Beliebtheit erfreut.41

35 Vgl. Georg Heuberger; Helmut Gold (Hrsg.): Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten, Neustadt 1999, S. 55. Andere Tiermetaphern, in denen Juden und Jüdinnen als Bären versinnbildlicht werden, gehen auf Namenspolemiken zurück, die unter anderem Karikaturen von Juden und Jüdinnen als Zootiere, Hirsch, Wolf oder Löwe motivieren. Siehe »Grosse Menagerie«. In: Ebd., S. 144; siehe auch »Ein Millionär aus Liebe«. In: Michaela Haibl: Zerrbild als Stereotyp. Visuelle Darstellung von Juden zwischen 1850 und 1900, Berlin 2000, S. 329. 36 Vgl. Renate Schäfer: Zur Geschichte des Wortes »zersetzen«. In: Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, Bd. 3, Vol. 18, 1962, S. 40-80, hier: S. 67. 37 Vgl. ebd., S. 69 ff. 38 Natürlich hat sich nicht nur die Sprache, sondern auch das Erklärungsmuster gewandelt. Die Erscheinungen eines erneuerten Antisemitismus sind vielfältig und werden unter dem Oberbegriff des sekundären Antise- mitismus subsumiert. Vielfach sind Begriffe umkämpft, im Besonderen hinsichtlich der Frage, ob Formen der Kritik an Israel unter dem Begriff des strukturellen Antisemitismus zu fassen sind. 39 In neorassistischer Abschottungsrhetorik finden sich viele Tiermetaphern, die im Nationalsozialismus be- liebt waren, darunter auch Kleinsttiermetaphern. 40 Vgl. Holger Oppenhäuser: Fritz Bauer Institut, Jahrbuch für Antisemitismusforschung (Hrsg.): Neue Juden- feindschaft. Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus. In: Jahr- buch 2006 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Antisemitismus im Diskurs der extremen Rechten, Frankfurt am Main 2006, S. 103-127, hier: S. 40. 41 Aber natürlich findet sich der Hai als Metapher für kapitalistische Ausbeutung nicht nur in antisemitischen Kontexten, auch Brecht versinnbildlicht Unterdrückungsverhältnisse über eine Analogisierung des Men-

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Wirkungsmacht pejorativer Tiermetaphorik

Wie ich im zweiten Abschnitt gezeigt habe, ist eine sprachliche Bildlichkeit kulturspezifisch und abhängig vom jeweiligen soziokulturellen Kontext. Lässt sich trotzdem etwas Allgemeingültiges über die Wirkmächtigkeit von pejorativen Tiermetaphern sagen? Sprachwissenschaftler_innen haben herausgearbeitet, dass sich die Po- tenz und Bedeutung von Metaphern in der Sprache gewandelt haben, aber sie grundsätzlich ein »surplus de sens«42 bereitstellen können, das ihnen er- möglicht, nicht nur komplexe Gegenstände oder Zusammenhänge als leicht durchschaubar darzustellen, diese zu klassifizieren bzw. zu bewerten, son- dern auch Handlungsimplikationen zu übermitteln. Eine denotierte oder konnotierte Implikation ist als Erweiterung der Verweisungsdimension zu bewerten, ihre semantischen Grenzen können neu gezogen und über eine Metaphorisierung kumuliert werden.43 Nicht alle Analogieschlüsse sind bei der Interpretation einer Metapher zwingend, es ist der diskursive Kontext, der richtungweisend wirkt. Für pejorative Tiermetaphern, vor allem die der Moderne, gelten einige Funktionen als dominant:

Identifzierung Eine Metapher kann den Charakter der eigentlichen Sprache verlieren. Dies geschieht nicht spontan, sondern wird über kontinuierliche Wiederholungen evoziert – einen »Gewöhnungsprozess«.44 Dies ist kein ausschließlich mo- dernes Phänomen. Bereits bei Aristoteles wurden versklavte Menschen wie Lastentiere ausgepeitscht, damit sie schneller arbeiteten. Diese Behandlung ergab sich daraus, dass ihre Funktion und ihr Wert dem eines Lastentiers entsprach. Die diskursive Zuschreibung deckte sich mit einer nicht-sprachli- chen Praxis. Neben kontinuierlichen Zuschreibungen konnten auch spontane Erhebungen auf Tiermetaphern zurückgreifen. Während der Hepp-Hepp- Pogrome 1819 liefen Antisemit_innen durch die Straßen, grölten Parolen wie »Haut die Hunde zusammen, wenn sie sich wehren« und ließen diesem Bild entsprechende Taten folgen.45 Durch Wiederholung der Zuschreibungen an die Tiere und kontinuierliche Projizierung auf Menschengruppen waren die Interpretationsvorgaben im kollektiven Bildergedächtnis allzeit abrufbar.

schen mit dem Hai in dem Gedicht »Wenn Haifische Menschen wären«. Dank für diesen Tipp geht an das DoktorandInnen-Kolloquium der Rosa-Luxemburg-Stiftung. 42 I. A. Richards: Speculative Instruments, London 1955, S. 153. 43 Vgl. Paul Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. In: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Theorie der Metapher, Darmstadt 1996, S. 356-378, hier: S. 370. 44 Nicoline Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft. In: Julius H. Schoeps; Joachim Schlör: Bilder der Juden- feindschaft. Antisemitismus – Vorurteile und Mythen, Berlin 1999, S. 19-40, hier: S. 26. 45 Vgl. Brigitta Mogge: Rhetorik des Hasses. Eugen Dühring und die Genese seines antisemitischen Wortschat- zes, Neuss 1977, S. 18.

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Alexander Bein beschreibt, wie durch Wiederholung ein »Gespür für ihre Metaphorizität«46 verloren gehen kann. Ab Ende des 19. Jahrhunderts gerät der Bildempfänger in der judenfeindlichen Rhetorik in den Hintergrund, bis schlussendlich in nationalsozialistischer Rhetorik Juden und Jüdinnen als Bildempfänger_innen aus den Diskursfragmenten fast vollständig entfernt waren.47 Die sprachliche Dehumanisierung kulminierte im Nationalsozialis- mus in einer Identifizierung von Juden und Jüdinnen als Schädlinge48, die Metaphorisierung wich einer unmetaphorischen Gleichsetzung.49

Persuasivität Im Gegensatz zum rein nominativen (benennenden) Sprechen übermitteln expressiv-metaphorische Sprachbilder ein »Surplus«, sie interpretieren, kön- nen persuasiv wirken, also einer Überredung dienen und Kritik vorwegneh- men. Dies vollzieht sich über einen spontanen Verstehenseffekt, einem »flash of insight«50, mit dem ein System an Implikationen transportiert wird. Bei Metaphern aus einem religiösem Kontext wie zum Beispiel der Heuschre- ckenmetapher sind es zudem die lang tradierten Dualismen von Heiligem und Unreinem, von Eigenem und Fremden, durch das sie weiteres anschau- liches Potential verwirklichen.51 Diese Dichotomien finden sich dann in an- deren Kontexten, beispielsweise in politischen oder sozialen Konflikten wie- der, ohne den ehemaligen historischen Kontext zu explizieren.52 Ebenso wurden Tiermetaphern als idealisierende Modelle von Moral und Ordnung verwendet, indem Motive mit Werten und ethisch-sittlichen Normen ausge- stattet waren, etwa in Fabeln oder auch zur Illustration von Staatstheorien. Metaphern konnten so Gegenstände oder Verhaltensweisen an Werte knüp- fen, deren Verbindung sich vorher nicht aufdrängte.53

46 Alexander Bein: »Der jüdische Parasit«. Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage. In: Vierteljahreshefte zur Zeitgeschichte, Jg. 13, 2. Heft/April 1965, S. 121-149, hier: S. 148. 47 Vgl. Victor Klemperer: Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. LTI (Lingua Tertii Imperii), Darmstadt 1966, S. 23 f. 48 Vgl. Schäfer 1962 (s. Anm. 36), S. 61. 49 Vgl. Bein 1965 (s. Anm. 46), S. 129. 50 Max Black: Metaphors are no arguments, my pretty maiden. In: Proceedings of the Aristotelian Society, Vol. LV, S. 273-294, hier: S. 277 f. 51 Dieses dichotome Potential entfaltet sich zum Beispiel in Verwendungen der Heuschreckenmetapher im Zuge von Übernahmen wie im März 2011 bei der Beteiligung von Oaktree an Beluga Shipping. Das krisen- hafte Potential einer heimischen Ökonomie wird durch das Szenario einer von Gott gesandten Plage mystifi- ziert. 52 Vgl. Silke Wenk; Insa Eschebach: Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz. In: Insa Eschebach; Sigrid Jacobeit; Silke Wenk (Hrsg.): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des national- sozialistischen Genozids, Frankfurt am Main 2002, S. 13-40, hier: S. 21. 53 Der deutsche Adler als nationales Symbol transportiert z. B. einen edlen und erhabenen Charakter auf das Kollektiv. Vgl. Steve Baker: Picturing the Beast. Animals, Identity and Representation, Manchester 1993, S. 83.

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Naturalisierung Metaphern erfreuen sich nicht nur wegen ihrer Dekorativität einer besonde- ren Beliebtheit, sie sind außerdem eine gute Vorlage, um neue Erfahrungen zu interpretieren und Unbekanntes in ein vertrautes Gefüge zu integrieren. Dabei reflektieren Tiermetaphern die Mythen eines Kulturkreises, die ver- meintlich auf Erfahrungen zurückgehen. Wie oben gezeigt wurde, funktio- nieren sie unabhängig von den Tieren; lediglich unsere kulturellen Konven- tionen lassen diese arbiträren Zuschreibungen als naturgegeben erscheinen. Durch Verwendungen vertrauter Symbole aus dem Bereich der Natur kann Unbekanntes codiert und Technisches und Soziales naturalisiert werden. So funktionieren Tierbilder, wie zum Beispiel »die großen Fische fressen die kleinen«, als »begriffliche Objektivierung« oder »Objektivierung der Ge- schichte in mythischer Form«54.

Entlastung Pejorative Tiermetaphern und ihre Skripte lassen sich in die Kategorie der »Konfliktsymbolik«55 einordnen, sie dramatisieren eine Situation und spielen andere Gegenstände in ihrer Gefährlichkeit herunter. Sie vermögen zu emo- tionalisieren, ohne dabei einen sprachlogischen oder argumentativen Gehalt zu besitzen.56 Den Symbolen kommt die Aufgabe zu, Feindbilder aufzu- bauen, Innen und Außen zu codieren bzw. das Eigene gegenüber dem Ande- ren abzusetzen. Dabei wird dem Anderen durch die Metaphorisierung als Tier sein Subjektstatus aberkannt und eine Verhandlungsposition verwei- gert.57 Die Handlungsappelle, die durch eine Metaphorisierung ausgespro- chen werden, orientieren sich entlang des Mensch-Tier-Verhältnisses, das seit dem Buch Moses dem Subjekt eine Verfügungsgewalt über das Tier zu- spricht. Durch eine Abstraktion vom »Anderen« als Subjekt kann eine Ver- sachlichung des Tötens erfolgen, die moralische Widerstände vernebelt. Dies vollzieht sich im Besonderen mittels Diskursfragmenten, in denen die »An- deren« als Masse, als Plage oder als Befall von Kleinsttieren, Viren etc. imagi- niert werden.

54 Rigotti 1994 (s. Anm. 10), S. 122. 55 Jäger 2007 (s. Anm. 6), S. 39. 56 Vgl. Paul 1992 (s. Anm. 8), S. 32 f. 57 Ein oft zitiertes Beispiel für die Aberkennung eines Verhandlungsstatus ist ein Ausspruch Lagardes: »Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.« – Paul de Lagarde: Ausgewählte Schriften, München 1934, S. 239.

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Legitimierung Siegfried Jäger macht unter Bezugnahme auf Foucault deutlich, dass Rede- weisen, die stark von solchen »Konfliktsymbolen« geprägt sind, »oft auf Aussagen [verweisen], die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimm- ten Gesellschaft nicht sagbar sind, da es besonderer »Tricks« bedarf, wenn man sie doch äußern will«58. Pejorative Tiermetaphern sind folglich nicht als ästhetische Trope zu bewerten, sondern eine Kombination von »Auslöse- signal und ästhetischem Gebilde«, von dem ausgehend »ein gewaltästheti- sches Klima« entsteht, »in welchem der aufgerufene Affekt und die aufgeru- fene gewaltsame Tat in fiktionale Deutungsschemata eingebettet werden können und dann die moralische Auslotung von Denken und Handeln ent- lasten«59. Metaphern besitzen zwar eine giftige Potenz, sie entfalten diese Wirkung jedoch nur in doktrinär-pseudowissenschaftlichen Diskursen, wenn die Voraussetzungen von Gewöhnung und Identifikation gewährleis- tet sind. Für die Wirkung der Metapher ist also der Zusammenhang zwischen der sprachlichen Konstitution in Texten, der gesellschaftlichen Institutionalisie- rung von Wissen und der mitgenerierten sozialen »Wirklichkeit« ebenso re- levant wie soziale, rechtliche, juristische und politische Dispositive. Dieses politische und soziokulturelle Setting ist nicht nur die Grundlage einer Aus- bildung und Interpretation von pejorativen Tiermetaphern, sondern auch ein entscheidender Faktor für ihre Wirkmächtigkeit.

Metaphorik und Vernichtung Das äußerst komplexe Verhältnis von Sprache und Handlung wird im Be- sonderen in den Auseinandersetzungen über die Bedeutung der sprach- lichen Dehumanisierung auf dem Weg zur Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen diskutiert. Hier stehen sich zwei unterschiedliche Positio- nen gegenüber. Alexander Bein hat bereits Mitte der 1960er Jahre versucht zu zeigen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der sprachlichen De- humanisierung und einer Vernichtung als Tiere gab. Im Nationalsozialismus hätte die Identifizierung von Juden und Jüdinnen als Parasiten im Kontext einer immer dichteren und düsteren Metaphorik die sprachliche Dehumani- sierung verstärkt.60 Innerhalb der Bildfelder der pejorativen Tiermetaphern seien die Handlungsappelle formuliert worden, denen nicht-sprachliche

58 Jäger 2007 (s. Anm. 6), S. 34 f. 59 Paul 1992 (s. Anm. 8), S. 31. 60 Auf bildlicher Ebene vergleicht Boria Sax den Zusammenhang von Praktiken der Vernichtung mit Vorstel- lungen von Massentierhaltung bzw. Schlachtungen. Auch für ihn stellt sich ein direkter Zusammenhang zwischen Bezeichnung als Vieh und dem Umgang mit den zu vernichtenden Personen dar. Vgl. Sax 2000 (s. Anm. 19), S. 150 f.

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Entmenschlichung und Vernichtung folgten: »So wie man im Mittelalter in ihnen [den Juden und Jüdinnen] den Antichrist und Satan erschlug und ver- brannte, so war die Methode des Vergasens in den Hitlerschen Mordlagern die logische Konsequenz, nachdem sich die Vorstellung von den Juden als Parasiten und Schmarotzer, Ungeziefer und Bazillen endgültig als herr- schende durchgesetzt hatte. Waren die Juden wirklich Parasiten, Bazillen und Ungeziefer, so war nicht nur geboten, sie auszurotten, es lag auch nahe, diese Ausrottung mit den Mitteln durchzuführen, mit denen man Bazillen und Ungeziefer vertilgt: mit Giftgas.«61 Diesem direkten Zusammenhang zwischen der Form der Vernichtung und der Zuschreibung als Tier widerspricht Bernhard Pörksen.62 Auch wenn der von den Metaphern ausgehende Blick einen Zusammenhang als unmit- telbar erscheinen lässt, ist für Pörksen die Wahl der Waffen nicht aus den Metaphern ableitbar – es gäbe keinen Beleg für einen inneren Zusammen- hang zwischen Ungeziefermetaphorik und der Vernichtung von Juden und Jüdinnen mit Zyklon B. An keinem Beispiel könne gezeigt werden, dass die Metaphorisierung einen unmittelbaren Einfluss auf die Vernichtungstechnik gehabt hätte.63 Die Wahl der Vernichtungswaffen könnte ebenso pragmati- scher Natur und an Effizienz orientiert gewesen sein.64 Meines Erachtens ist die Frage nicht, ob die Täter_innen wirklich davon ausgingen, dass sie Ungeziefer vernichteten, da durch Auschwitz deutlich geworden ist, dass sie den zu Tode verurteilten Personen die Funktion und den Wert von Ungeziefer beimaßen. Vielmehr stellt sich mir über den Dis- sens von Bein und Pörksen hinausgehend die Frage nach der Wirkungs- macht von Sprache und damit nach dem Verhältnis von Sprache und Nicht- sprachlichem, nach einer Beschreibung und Erklärung der Zusammenhänge von Sprache bzw. Sprechen, Macht und Subjekten.

61 Bein 1965 (s. Anm. 46), S. 148. 62 Vgl. Bernd Pörksen: Die Konstruktion von Feindbildern. Zum Sprachgebrauch neonazistischer Medien. Wiesbaden, 2000, S. 189 f. – Auch Sarah Jansen wendet sich gegen die von Bein aufgestellte These des Zusammenhangs von Metaphern und Vernichtung. Sie nennt diesen Zusammenhang eine nachträglich kon- struierte zwangsläufige Entwicklungslogik. Für sie ist stattdessen die Entstehungsgeschichte des Schädlings auch die Grundvoraussetzung für die Möglichkeitsbedingungen und -räume des Genozids. Vgl. Sarah Jan- sen: »Schädlinge«. Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840-1920, Frankfurt am Main 2003, S. 19. 63 Vgl. Pörksen 2000 (s. Anm. 62), S. 190. 64 In seiner Analyse neonazistischer Metaphernverwendungen wendet Pörksen jedoch ein, dass die Au- tor_innen in der Logik der Tiermetaphorisierungen verbleiben und diesen entsprechend auch Handlungs- appelle formulieren. Vgl. ebd., S. 190.

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Fazit

Anhand meiner Ausführung über die Genese pejorative Tiermetaphorik möchte ich zeigen, dass nicht nur die Praxen in ihrem soziokulturellen Kon- text die Wahl der Metaphern motiviert haben, sondern auch die Metaphern selbst einen Einfluss auf die jeweiligen Deutungsmuster sozialer und politi- scher Prozesse sowie der Praxen besitzen: Sie erreichen einen Effekt der Ge- wöhnung an eine Dehumanisierung von Bevölkerungsgruppen und führen oftmals zur Identifizierung des Bildempfängers mit dem Bildspender. Pejo- rative Metaphern besitzen eine persuasive Wirkung, sie naturalisieren die Interpretationsmuster, die in den Skripten der Metaphern transportiert wer- den, können psychisch entlastend wirken und wurden als Legitimierungs- strategien von Handlungen eingesetzt, die ohne metaphorische Zuschrei- bung moralische Widerstände hervorgerufen hätten. Nicht die pejorativen Tiermetaphern, sondern der Diskurs und sein soziokultureller Kontext be- stimmen darüber, welche Handlung legitimiert oder welcher Gegenstand auf eine spezifische Art interpretiert werden soll. Dass den Ungeziefermeta- phern des Nationalsozialismus eine solch katastrophale Wirkung zuge- schrieben wird, hängt unmittelbar damit zusammen, dass Juden und Jüdin- nen nicht nur sprachlich dehumanisiert wurden, sondern juristisch, politisch und sozial. Insofern wäre ein Wörterbuch der Metaphern eine unsinnige An- gelegenheit, wie bereits Paul Ricœur bemerkte.65 Um am Schluss den Bogen zum Eingangszitat zu schlagen, ließe sich daher folgern, dass die Geschichte pejorativer Metaphern darauf verweist, mit welchen Strategien wir uns seit jeher der Komplexität von Erfahrungswelten verweigern. Und dies gilt nicht zuletzt auch für Metaphern von Heuschreckenschwärmen, mit denen öko- nomische Prozesse mystifiziert werden.

65 Vgl. Ricœur 1996 (s. Anm. 43), S. 361.

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Tanja Kinzel

Was sagt ein Bild? Drei Porträtaufnahmen aus dem Ghetto Litzmannstadt

Auf einem Foto aus dem Ghetto Litzmannstadt1 ist ein Soldat zu sehen, der einen Juden mit Mütze, Bart und Kaftan fotografiert. Der Fotografierte steht allein auf einem großen Platz, im Hintergrund sieht man ein Auto und ein niedriges Holzhaus, es handelt sich um den Baluter Ring, den zentralen Um- schlagplatz des Ghettos. Während der fotografierende Soldat angeschnitten, seitlich von hinten am linken Bildrand zu sehen ist, befindet sich der fotografierte Mann in der Mitte des Bildes. Er steht aufrecht, die Arme am Körper und blickt Richtung Kamera. Die Gewalt der Aufnahmesituation ist dem Bild immanent: Der Fotografierte ist der Kamera und dem Blick des Sol- daten sowie dessen Willkür gleichermaßen ausgeliefert. Dieses Bild gehört zu einer Serie von Fotografien, die die Entstehungssituation von Aufnahmen der Propagandakompanie (PK) der Waffen-SS 1940 im Ghetto Litzmannstadt dokumentieren.2 Die PKler haben dort bei einer gemeinsamen Tour fotogra- fiert und sind sich dabei immer wieder (versehentlich) ins Bild gekommen oder haben sich beim Fotografieren gegenseitig aufgenommen. Für Porträtfotos wurden meist osteuropäische, orthodoxe Juden ausge- wählt, die den stereotypen Vorstellungen der Nationalsozialisten entspra- chen. Aber die Betroffenen wussten, wie ein Bericht von Ida Gliksztajn Rapa- port Jarkoni aus Lublin zeigt, sehr wohl, warum wer fotografiert wurde und wofür diese Fotos gedacht waren: »Wenige Tage nach der deutschen Beset- zung tauchten überall in den Straßen deutsche Soldaten mit Fotoapparaten auf und zogen durch die Straßen. Sie suchten nach charakteristischen ›jüdi- schen Typen‹ im alten Ghetto und in den kleinen jüdischen Straßen. Sie woll- ten nur die Armen, Alten und Verrückten fotografieren, die Menschen in ›besonders schönen‹ – heißt in zerrissenen, zerlumpten – Kleidern.«3 Neben der selektiven Auswahl war es eine Umkehrung des Abbildungs- prinzips durch die nationalsozialistische Propaganda, auf der die Fotos aus

1 Zur Bezeichnung der Stadt verwende ich die jeweilige historisch korrekte Bezeichnung: Vor dem Krieg hieß die Stadt ´Lód´z, nach dem Einmarsch der Deutschen wurde sie kurzzeitig Lodsch genannt. Am 11. April 1940 folgte die Umbenennung der Stadt in Litzmannstadt, benannt nach dem deutschen General und bekennen- den Nazi Karl Litzmann (1850-1936). 2 Bundesarchiv (BA) Bild 101III-Schilf-003-24. 3 Zitiert nach: Archiv der Gedenkstätte Majdanek, Israelischer Bericht, S. 10, Übersetzung ins Englische Robert Kuwalek, Weiterübersetzung ins Deutsche T. K. Den Hinweis verdanke ich dem Historiker Robert Kuwalek.

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den Ghettos gründeten4: Zunächst wurden die Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht und ihrer lebensnotwendigen Grundlagen beraubt. Von den Menschen in Armut und Elend machten die PK-Fotografen Aufnahmen, die in den Massenmedien vervielfältigt wurden.5 Dort wurden die Ghettos oftmals als die natürliche Lebensgrundlage der jüdischen Bevölkerung dar- gestellt.6 Zur Verbreitung dieser Bilder trugen auch der unter Wehrmachts- soldaten und SS-Männern beliebte »touristische« Ausflug in das Ghetto und das Fotografieren der beobachteten Straßenszenen bei.7 Diesen dienten die Aufnahmen der PK-Fotografen häufig als visuelle Vorlagen: Bilder von alten, verarmten Männern mit Pejes, Bart, Kaftan und Hut sowie zerlumpten, bet- telnden oder in den Ghettostraßen sterbenden Kindern und Erwachsenen gehörten neben Fotos vom Handel/Markt und vom Friedhof zu den belieb- testen Motiven.8 Etwas anderes ist auf Fotografien zu sehen, die von Juden und Jüdinnen selbst im Ghetto aufgenommen wurden. Die fotografische Dokumentation der Ereignisse war eine Form des geistigen und kulturellen Widerstandes im Ghetto.9 Der hebräische Begriff »amida« (»sich gegen jemanden erheben«, »standhalten«) bezeichnet Widerstandsaktionen wie das Hineinschmuggeln von Lebensmitteln in das Ghetto, die Organisation von Suppenküchen, pädagogische und kulturelle Aktivitäten, politische Arbeit sowie religiöse Zusammenkünfte.10 Von vielen dieser Aktivitäten gibt es Fotos, die unter ge- heimen Bedingungen entstanden sind und eine Binnenperspektive aufzei- gen. Sie geben Einblicke in die verschiedenen Formen des kulturellen Wider- standes im Ghetto sowie in den Alltag und die Lebensbedingungen der Ghettoisierten, die Organisation der Zwangsarbeit und die Deportationen. In diesem Text werde ich exemplarisch am Beispiel von drei Porträtauf- nahmen untersuchen, wie sich die unterschiedlichen Perspektiven von drei Fotografen, die im Ghetto Litzmannstadt tätig waren, in den Aufnahmen niedergeschlagen haben. Meine These ist, dass sich Konstruktion, Fokussie-

4 Vgl. Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Ham- burg 2001, S. 104. 5 Vgl. Gertrud Koch: Die Einstellung ist die Einstellung. Zur visuellen Konstruktion des Judentums, Frankfurt am Main 1992, S. 173. 6 Siehe »Europas Pestherd: Das polnische Ghetto«. In: Illustrierter Beobachter 1939, Folge 31, S. 1206-1207 (NS-Bildbericht über das ´Lód´zer Ghetto) und »Im Ghetto von Lublin«. In: Berliner Illustrierte Zeitung vom 05.12.1940, S. 1289-1291 (NS-Bildbericht über das Lubliner Ghetto), et al. Landesarchiv Berlin. 7 Vgl. Knoch 2001 (s. Anm. 4), S. 105. 8 Vor allem im Warschauer Ghetto waren zahlreiche Soldaten mit der Kamera unterwegs. Einige haben ihre Fotos viele Jahre später veröffentlicht, so beispielsweise Joe Heydecker, Heinrich Jöst und Joachim Gerke. Vgl. Janina Struk: Photographing the Holocaust: Interpretations of the Evidence, London 2004, S. 76 ff. 9 Jüdische Historiker und Philosophen haben schon früh davor gewarnt, dass ihre Geschichte in Vergessen- heit geraten oder gar aus dem Gedächtnis der Menschheitsgeschichte getilgt werden könnte. Eine Konse- quenz aus dieser Sorge war die Dokumentation. Vgl. Dirk Rupnow: Vernichten und Erinnern. Spuren natio- nalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen 2005, S. 32. 10 Vgl. Yehuda Bauer: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen, Frankfurt am Main 2001, S. 154.

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rung und Ästhetik entsprechend der jeweiligen Perspektive, die die Fotogra- fierenden einnehmen – verstanden als persönlicher, politischer und sozialer Hintergrund –, unterscheiden. Untersucht wird dementsprechend, inwiefern sich die unterschiedlichen Motivationen und Interessen der Fotografen in ihren Aufnahmen ausgedrückt haben, bezogen auf die fotografierten The- men, Subjekte und Ausschnitte, den jeweiligen Stil und die Ästhetik der Fotografien und auf fototechnische Aspekte. Grundlage der Analyse ist die Einsicht in den Konstruktionscharakter von Fotografien.

Einige theoretische Anmerkungen zur Fotografie

Entgegen der weit verbreiteten Alltagsannahme, Fotografien würden die Wirklichkeit einfach »nur« abbilden, hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Fotografierenden ihre Fotografien maßgeblich gestalten11: Blickwinkel, Ausleuchtung, Tiefenschärfe, die Wahl des Ausschnitts, die Ästhetik und der Stil bestimmen Komposition und Konstruktion der Fotografien.12 Nicht alle Entscheidungen werden bewusst getroffen, sie bewegen sich innerhalb von Kompetenzen, Erwartungen, Hintergrundüberzeugungen und situations- bedingten Möglichkeiten sowie deren Wahrnehmungen und Deutungen. Aber Gestaltungsmöglichkeiten und Intention der Fotografierenden sind nicht allein ausschlaggebend für das, was auf der Aufnahme zu sehen ist: Ein wesentliches Merkmal der Fotografie ist, dass die Kamera auch das auf- nimmt, was nicht beabsichtigt war.13 So kann beispielsweise Zufälliges in das Bild kommen, die Subjekte können sich anders als gewünscht präsentieren, der intendierte Moment kann verpasst werden. Der/die Fotograf/in ist kein/e Maler/in – es gibt ein Verhältnis zu den Dingen und Personen, die sich im Augenblick der Fotografie vor der Kamera befinden: Im Entstehungsmoment der Fotografie überlagern sich verschiedene Blickachsen: 1) Die Perspektive der fotografierenden Person auf die fotografierte/n Person/en, 2) die per- spektivischen Achsen der Fotografierten aufeinander und 3) die Perspektive der Fotografierten in ihrem Verhältnis zum/r Fotografen/in.14 Zwischen al- len Beteiligten bestehen verschiedene Beziehungs- und Machtverhältnisse. Gleichzeitig ist das Fotografierte von den Betrachter/innen nicht unbedingt entschlüsselbar. Viele Symbole und Zeichen sind sozial, kulturell und histo-

11 Mit dem »visual turn« in den Geisteswissenschaften hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Bilder histori- sche, kulturelle und soziale Wahrnehmungsmuster und Sehweisen prägen und Geschichtsdeutungen trans- portieren. Vgl. Gerhard Paul: Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 7-36, hier: S. 21 ff. 12 Vgl. Ulrike Pilarczyk; Ulrike Mietzner: Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005, S. 139. 13 Vgl. Dagmar Barnouw: Seeing and believing. The »Thin Blue Line« of Documentary Objectivity. In: Com- mon Knowledge 4 (1995), S. XII ff. 14 Vgl. Pilarczyk; Mietzner 2005 (s. Anm. 12), S. 43.

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risch spezifisch und deshalb nur mit Hilfe von Wissen über den jeweiligen Kontext rekonstruierbar. Um als historische Aussage gelesen werden zu kön- nen, müssen sie deshalb in ihrem Entstehungskontext interpretiert werden. Es bedarf einer methodischen Vorgehensweise, die die verschiedenen Ebe- nen des fotografischen Prozesses in die Analyse einbezieht.

Methodisches Vorgehen – qualitative Fotoanalyse

Um die Bilder zu analysieren, greife ich auf verschiedene Ansätze zurück und verwende sie als eine Methode, die ich qualitative Fotoanalyse nenne. Diese umfasst fünf Analyseschritte: 1) Kontexte: Zunächst sind die Entstehungszusammenhänge der Fotogra- fie zu rekonstruieren. Dieser Schritt ist von zentraler Bedeutung nicht nur für das Wissen darüber, wer zugeschaut, Abzüge bestellt hat etc., sondern auch, um etwas über den Gebrauch des Fotos herauszufinden (persönliches Album, Serie, Auftragsarbeit, private Fotografie etc.) und so die Perspektive der Fotografierenden zu erhellen.15 Der Frage nach den unmittelbaren Ver- wendungskontexten wird anhand zeitgenössischer Textquellen (vor allem Tagebücher, Korrespondenzen et al.) nachgegangen. 2) Bildinhalt: Auch der Bildinhalt wird einer genauen Analyse unter- zogen. Neben der Frage, was fotografiert wurde, spielt die Frage, was nicht fotografiert wurde, eine zentrale Rolle. Die Auslassungen verweisen auf in- tendierte Botschaften des gewählten Bildausschnittes und geben Aufschluss über den/die Fotografen/in.16 Zudem werden technische Qualität, Kon- struktion und Ästhetik der Fotografien untersucht. 3) Spuren des Materials: Anhand der Beschaffenheit des materiellen Trägers der Fotografie und seiner objektimmanenten Spuren lassen sich häufig Er- kenntnisse über die Herstellungszusammenhänge und Produktionsweisen der Fotografien gewinnen. Durch den Vergleich von Stempeln, Beschriftungen und anderen Spuren können Auftraggeber, Fotografen, Kameratyp, verwen- dete Filmsorten und Arten der Filmentwicklung rekonstruiert werden.17 4) Vergleich: Um die Fotografien aus dem Ghetto Litzmannstadt mit Blick auf die Perspektiven der Fotografierenden zu analysieren, unterziehe ich sie einem kontrastierenden Vergleich, der auch die Kontexte und die Beweg-

15 Vgl. Miriam Arani: Fotografien als Objekte – die objektimmanenten Spuren ihrer Produktions- und Ge- brauchszusammenhänge. Vortrag, gehalten auf der 2. Tagung Fotografie der deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Berlin 2004, S. 8 (unveröffentlichtes Manuskript). 16 Vgl. Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialisti- schen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998, S. 15. 17 Vgl. Arani 2004 (s. Anm. 15), S. 6.

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gründe zu fotografieren, die gewählten Bildmotive, die Konstruktion, die Ästhetik und die Qualität der Aufnahmen mit einbezieht. 5) Bilder lesen: Abschließend zeige ich verschiedene Möglichkeiten auf, die Fotografien zu interpretieren.

Porträtfotografien aus dem Ghetto Litzmannstadt

Porträtaufnahmen eigenen sich besonders gut für eine qualitative Analyse, weil sie oftmals hochgradig ideologisch kodiert sind. Anhand von drei Por- trätaufnahmen von Walter Genewein, dem Finanzverwalter der deutschen Ghettoverwaltung, Mendel Grosman, einem Fotografen aus dem Ghetto, und aus dem Album von einem gewissen Steiner, dessen Vorname nicht be- kannt ist und der vermutlich Polizist war, sollen nun die Perspektiven auf die Ghettobewohner/innen anhand von Unterschieden und Überschneidun- gen in der Konstruktion, der Ästhetik und dem Stil der Aufnahmen heraus- gearbeitet werden. Das Ghetto Litzmannstadt gehörte nach dem Warschauer Ghetto zu den größten und am längsten bestehenden Ghettos: Es bestand von April 1940 bis September 1944. In der Zeit seines gesamten Bestehens waren dort über 200 000 Menschen auf vier Quadratkilometern ohne Kanalisation mehrheit- lich in Holzhäusern eingesperrt. Organisatorisch unterstand das Ghetto der zivilen deutschen Ghettoverwaltung unter der Leitung des Bremer Kauf- mannes Hans Biebow, der deutschen Polizeiaufsicht und der von den Deut- schen eingesetzten »jüdischen Selbstverwaltung«, dem Judenrat, dem seit Oktober 1939 Mordechai Chaim Rumkowski vorstand.18 Das Interesse der deutschen Ghettoverwaltung, das Ghetto ökonomisch auszubeuten, korre- lierte mit der Entscheidung Rumkowskis, auf Arbeit als Überlebensstrategie zu setzen. Nach der Devise »Unser einziger Weg ist Arbeit« versuchte er das Überleben einer Mehrheit der Ghettobewohner/innen zu sichern. Diese Strategie war umstritten, da sie Arbeitsunfähige, insbesondere Kinder, Alte und Kranke, ausschloss und damit dem Tod preisgab. Zugleich war die Fo- kussierung auf Arbeit ein wesentlicher Faktor für das lange Bestehen des Ghettos. 90 Prozent der Aufträge kamen von der deutschen Wehrmacht, aber auch deutsche Unternehmen wie Neckermann, AEG, Karstadt und Leine- weber profitierten von der jüdischen Zwangsarbeit.19 Spätestens seit der De-

18 Vgl. Israel Gutman: Introduction: The Distinctiveness of the ´Lód´z Ghetto. In: Isaiah Trunk: ´Lód´z Ghetto. A History, Bloomington, 2006, S. xxix-ivii, hier S. xxxiv. 19 Vgl. Andrea Löw: Das Ghetto Litzmannstadt – eine historische Einführung. In: Sascha Feuchert; Erwin Leib- fried; Jörg Riecke (Hrsg.): Die Chronik des Ghetto Lodz/Litzmannstadt. Supplemente und Anhang, Göttin- gen 2007, S. 145-165, hier: S. 155.

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portation und Ermordung der Alten, Kranken und Kinder im September 1942 bis zur endgültigen Liquidierung im August 1944 war das Ghetto ein reines Arbeitsghetto, eine Art »Juden-Zwangsarbeitslager«20. Die Ausrich- tung auf Zwangsarbeit hat maßgeblich zu den regen fotografischen Aktivitä- ten im Ghetto beigetragen.

Die Aufnahmen von Walter Genewein: Beamter der deutschen Ghettoverwaltung, Amateurfotograf

So stand auch die fotografische Tätigkeit von Walter Genewein mit der Fokussierung auf Zwangsarbeit in Zusammenhang. Walter Genewein war Leiter der Finanzabteilung der deutschen Ghettoverwaltung. Er fotografierte sehr aktiv und in Farbe, über 400 Dias und zahlreiche weitere Aufnahmen von ihm sind erhalten.21 Genewein war Amateurfotograf, seine Kamera stammte wahrscheinlich aus dem Bestand des von den Juden und Jüdinnen beschlagnahmten respektive »angekauften« Eigentums.22 Mehrere Schreiben aus dem Bestand der Korrespondenz der Ghettoverwaltung belegen, dass es sich bei seinen Bildern um Dienstaufnahmen handelte.23 Die Mehrheit seiner Aufnahmen zeigt die Menschen an den Produktions- und Werkstätten sowie die dort hergestellten Produkte und gibt einen Einblick in Aufbau und Orga- nisation des Ghettos (Post, Ordnungsdienst, Feuerwehr, Gericht et al.). Seine Aufnahmen vermitteln ein positives Bild der Situation, das Ghetto erscheint als ein für die deutsche Zivilverwaltung zu nutzender »Produktionsfaktor«. Angesichts der unterschiedlichen Interessen der nationalsozialistischen Führung, der SS und der deutschen Wehrmacht sollten sie vermutlich zur Unterstützung der Argumente für den Erhalt der profitablen Ghettowirt- schaft dienen.24 Denn für die Mitglieder der deutschen Ghettoverwaltung ergaben sich aus ihrer Tätigkeit verschiedene Vorteile: Sie besaßen die Mög- lichkeit, Karriere zu machen und sich zu bereichern, und blieben von der

20 Julian Baranowski: Die Liquidierung des Ghettos Litzmannstadt 1944. In: Lodzer Judaica in Archiven und Museen. Aufsätze und Berichte aus ´Lód´z, Jerusalem, Washington und Frankfurt am Main, hrsg. vom Mu- zeum Historii Miasta ´Lodzi, Marek Budziarek; ´Lód´z, S. 47-54, hier: S. 47. 21 Die Dias wurden 1987 in einem Antiquariat in Wien in einem Holzkoffer gefunden und vom Jüdischen Mu- seum Frankfurt gekauft, Abzüge der Bilder befinden sich weltweit in verschiedenen Archiven, vor allem gibt es zeitlich zu den Dias leicht versetzte Fotoabzüge im United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington. 22 Vgl. Schreiben von Biebow an Rumkowski vom 12.09.1940, Archiwum Pa´nstwowe w ´Lódzi (AP´L), ´Lód´z, GV/29373, Bl. 1058, das den Ankauf von Fotoapparaten betrifft, »für die bei mehreren Stellen Interesse vor- handen ist«. 23 Vgl. Schreiben von Genewein an Agfa vom 12.08.1941, 18.08.1941 und 05.09.1941, AP´L, ´Lód´z, GV/30221, Bl. 0902, 0903 und 0904. Vgl. auch Notiz von Biebow an Czarnulla, dem Leiter der Beschaffungsabteilung für Wehrmachtsaufträge vom 03.09.1941, AP´L, ´Lód´z, GV/29221, Bl. 0997 (Bestellung »für die Kamera Gene- wein«). 24 Vgl. Florian Freund; Bertrand Perz; Karl Stuhlpfarrer: Bildergeschichten – Geschichtsbilder. In: Jüdisches Museum Frankfurt (Hrsg.): »Unser einziger Weg ist Arbeit«, Wien 1990, S. 50-58, hier: S. 58.

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Front verschont.25 Aber Genewein fotografierte nicht nur unter dieser Maß- gabe. Einige seiner Aufnahmen entsprechen auch den typischen Motiven der Wehrmachtssoldaten: Sie zeigen den Markt und Handel im Ghetto und Por- träts von osteuropäischen Juden.

»Ghetto Ostjuden« – eine Porträtaufnahme von Walter Genewein

Ort: Ghetto Litzmannstadt; Fotograf: Walter Genewein; Jahr: 1940–1944; Quelle: USHMM, Washington (United States Holocaust Memorial Museum), Abzug, Photograph # 95085A (Titel des USHMM: »Close- up portrait of two bearded Jewish men in the Lodz ghetto«).

Im Dia-Bestand von Genewein gibt es zwölf Motive, denen er den Titel »Ghetto Ostjuden« gegeben hat. Fotoabzüge aus dem Bestand des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) zeigen zum Teil dieselben Motive, allerdings leicht zeitversetzt aufgenommen – so auch eine Nahauf- nahme von zwei Männern mit Hüten, Bart und Pejes, die hintereinander ver- setzt vor einer Hauswand mit vergitterten Fenstern stehen. Beide sind auf Brusthöhe fotografiert, bei dem hinteren Mann ist der gelbe Stern sichtbar. Auf dem Abzug aus dem USHMM schaut keiner der beiden in die Kamera, der Kopf des hinteren Mannes ist zur Seite gedreht, so dass er im Profil zu sehen ist. Der vordere Mann schaut in Richtung Kamera, hat aber die Augen niedergeschlagen. Sie stehen beide so, dass sie vom Sonnenlicht geblendet

25 Vgl. Löw 2007 (s. Anm. 19), S. 155.

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werden, das heißt, Genewein fotografiert mit der Sonne. Die Perspektive ist Close up, fast frontal, mit leichter Aufsicht. Die technische Qualität der Bil- der ist amateurhaft: Sie sind bei Tageslicht aufgenommen, leicht überlichtet und besitzen keine Tiefenschärfe. In der Konstruktion der Bilder ist die In- szenierung deutlich anwesend: Der Fokus liegt auf dem Profil und der Fron- talansicht der beiden Männer. Auch die Anordnung ist nicht zufällig: Das Licht fällt besonders auf die Bärte, Nasen und Hüte. Der Charakter der Foto- grafie ist der eines ethnografischen Porträtbildes: Es geht um die Merkmale der beiden Personen – Hut, Bart und Nasen. Der Hintergrund ist weitgehend ausgeblendet, Eisengitter und Tür verweisen auf ein Haus. Eine Entkontex- tualisierung findet auch im Bildaufbau statt: Zwischen den beiden Männern, aber auch in Bezug auf den Fotografen, gibt es keinerlei Interaktion. Als Be- trachtende werden wir dadurch in eine distanzierte Position versetzt – das Bild weckt kein Interesse für die Abgebildeten als Individuen (was ist ihre Geschichte, wo befinden sie sich etc.), da es keine emotionale Verbindung mit den dargestellten Personen gibt. Es scheint sich um eine Zwangssitua- tion zu handeln, es gab offensichtlich eine Regieanweisung an die Männer, sich so aufzustellen. In den Bildern geht es um eine Inszenierung von Fremd- heit. Die fotografierten Personen stellten Objekte dar, die als »Exemplare« ei- nes Typus Differenzen veranschaulichen sollten.26 Die beiden vorgestellten Aufnahmen könnten, wie auch die übrigen, ähnlich aufgebauten Porträtfo- tos von Genewein, für eine Sammlung »jüdischer Typen« gedacht gewesen sein. Es ist möglich, dass diese Bilder aus der Anfangszeit des Ghettos stam- men oder aber deportierte Juden aus den kleineren Ghettos der Umgebung zeigen, da der jüdischen Ghettopolizei im Rahmen einer Aktion befohlen wurde, alle Juden im Ghetto zu rasieren, das Tragen von Pejes wurde unter- sagt.27 Insofern könnte auch Voyeurismus ein Motiv gewesen sein, vermut- lich sah Genewein im Rahmen seiner neuen Tätigkeit zum ersten Mal ortho- doxe Juden – die meisten Juden in Deutschland waren assimiliert. Eventuell war diese Sammlung aber auch für ein geplantes – jedoch nie realisiertes – Ghettomuseum vorgesehen, mit dessen Einrichtung Genewein 1941 betraut wurde: Es sollte drei Bereiche umfassen: 1) einen für kultische, religiöse, 2) einen für profane und kriminelle und 3) einen für wirtschaftliche und ver- waltungstechnische Ausstellungsgegenstände.28 Die Bilder könnten für den ersten Bereich, der das osteuropäische Judentum zum Gegenstand haben sollte, gedacht gewesen sein. Mit seiner fotografischen Tätigkeit ging es Ge- newein vermutlich auch darum, seine eigene Stellung innerhalb der deut- schen Ghettoverwaltung zu sichern und ein gewisses Prestige zu erlangen.29

26 Vgl. John Pultz: Der fotografierte Körper, Köln 1995, S. 20 ff. 27 Vgl. Freund et al. 1990 (s. Anm. 24), S. 57. 28 Vgl. Schreiben von Genewein an Ribbe vom 11.10.1941, AP´L, ´Lód´z, GV/29216, Bl. 304 und Schreiben von Biebow an Ribbe vom 23.09.1941, AP´L, ´Lód´z, GV/29221, Bl. 0916.

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Mendel Grosman: Ghettobewohner, professioneller Fotograf

Auch innerhalb des Ghettos gab es rege fotografische Aktivitäten. Zwischen 1940 und 1944 wurden über 11 700 Aufnahmen in offiziellem Auftrag von jü- dischen Ghettofotografen gemacht.30 Die beiden Fotografen Mendel Gros- man und Henryk Ross waren zu gleicher Zeit mit versteckter Kamera unter- wegs. Grosman war Amateurfotograf und Autodidakt, er hatte sich das Fotografieren selbst beigebracht. Bis zum deutschen Überfall auf Polen hatte er sich einen Namen als Kunstfotograf gemacht und besaß weitreichendes Renommee. Im Ghetto arbeitete er für das »Photographische Referat«, das laut Ghetto-Enzyklopädie im Juli 1940 zusammen mit dem »Graphischen Büro« innerhalb der »Statistischen Abteilung« eingerichtet wurde und bis April 1944 bestand.31 Die offizielle Aufgabe der Fotografen war es, Fotogra- fien für die Kennkarten der Ghettobewohner/innen anzufertigen.32 Aus er- haltenen Akten wird jedoch deutlich, dass das »Photo-Referat« in der Zeit seines Bestehens immer umfangreichere Aufgaben zugeteilt bekam, so bei- spielsweise auch den Auftrag, für die deutschen Behörden Fotografien von den Werkstätten und allen anderen wirtschaftlichen Einrichtungen des Ghet- tos sowie der Ghettoorganisation zu machen.33 Die jüdischen Fotografen hat- ten dadurch beachtliche Handlungsspielräume und zugleich das Fotomaterial an der Hand, um privat und versteckt zu fotografieren. Das private Fotogra- fieren war allerdings nicht ohne Risiko möglich: Ende 1941 verbot Rum- kowski jegliche persönliche oder private Fotografie im Ghetto – entweder aus Angst vor der Verbreitung von in seinen Augen nicht verbreitungswürdigen Fotografien, wie beispielsweise Bildern, die Hunger, Armut und Deportatio- nen zeigen, oder aus Angst vor der Entdeckung dieses Bildmaterials durch die Deutschen. Am 8. Dezember 1941 schrieb Rumkowski an Grosman: »Hier- durch gebe ich Ihnen zur Kenntnis, dass Sie Ihren Beruf nicht zu Privat- zwecken ausüben dürfen und dass Sie sofort Ihr Geschäft zu liquidieren

29 Das scheint ihm gelungen zu sein: Im November 1941 schlägt sein Vorgesetzter Hämmerle ihn für das Kriegsverdienstkreuz vor. Vgl. AP´L Schreiben von Hämmerle an Biebow vom 24.11.1942, GV/ 29280, Blatt 0394. 30 Die Bilder befinden sich als Kontaktabzüge in verschiedenen Alben im Staatsarchiv ´Lód´z, Fotoabzüge befin- den sich weltweit in verschiedenen Archiven, u. a. in Yad Vashem, Jerusalem, Wiener Library, London, YIVO, New York. 31 Vgl. Sascha Feuchert; Erwin Leibfried; Jörg Riecke (Hrsg.): Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt 1942, Göttingen 2007, S. 621. 32 Vgl. Sascha Feuchert; Erwin Leibfried; Jörg Riecke (Hrsg.): Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt 1944, Göttingen 2007, S. 249. 33 Die Aufforderung erging vom Chef der deutschen Ghettoverwaltung Biebow an den »Ältesten der Juden« Rumkowski und wurde im Verlauf des Jahres 1940 erfüllt. Biebow hatte geschrieben: »Ich lege überhaupt Wert darauf, dass alle die Dinge bildlich festgehalten werden, welche Zeugnis vom Wirtschaftsleben und da- mit von der Organisation im Getto ablegen, d. h. z. B. Krankenhauseinrichtungen, Krankentransporte, Ret- tungsstationen, Büroräume ihres Wirtschaftsamtes [...]. Ich glaube, dass diese Stichpunkte genügen werden, um Ihnen Anhaltspunkte zu geben.« – Schreiben von Biebow an Rumkowski vom 29.06.1940, AP´L, ´Lód´z, GV/29372, Bl. 0316.

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haben. Ihre fotographischen Arbeiten erstrecken sich lediglich auf die Tätig- keit in der Abteilung, in der Sie beschäftigt sind. Alle fotographische Privat- betätigung ist Ihnen somit strengstens untersagt.«34 Grosman ließ sich dadurch jedoch nicht von seiner fotografischen Tätig- keit abbringen. Immer wieder bestellte er in der »Statistischen Abteilung« des Ghettos zusätzliche Filme für seine geheime Arbeit, indem er angab, die Filme, die er für seine offizielle Arbeit verwendete, seien defekt gewesen. Durch die Löcher in den Taschen seines Mantels machte er Aufnahmen, ohne dabei gesehen zu werden.35 Zahlreiche dieser Aufnahmen sind erhalten.

Der Vater – ein Porträtfoto von Mendel Grosman

Ort: Ghetto Litzmannstadt; Fotograf: Mendel Grosman; Jahr: 1940-1944; Quelle: GFH, Israel (Beit Lo- hamei Haghetaot/Ghetto Fighters’ House Archive), Abzug, Catalog No. 3665 (Titel des GFH: »Shmuel Grosman, father of the photographer Mendel Grosman, lying on his bed in winter, in the Lodz ghetto«).

Auf einer der vielen Porträtaufnahmen, die Mendel Grosman im Ghetto ge- macht hat, ist ein alter Mann mit Bart und einer dunklen Kappe auf dem Kopf zu sehen, der in eine helle Decke oder ein Laken gehüllt ist. Die Auf- nahme ist von schräg oben auf den vermutlich sitzenden Mann hinunter ge-

34 Kopie des Originals aus dem Bestand von Moshe Zilbar, Haifa. 35 Vgl. Arieh Ben-Menachem: Mendel Grosman – the Photographer of the ´Lód´z Ghetto. In: Zvi Szner; Alexan- der Sened: Mendel Grosman. With a Camera in the Ghetto, Tel Aviv 1970, S. 99-109, hier: S. 103.

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macht worden, so dass nur sein Kopf im Profil und die Decke im Bild sind. Vermutlich weiß der Mann, dass er fotografiert wird – er schaut jedoch nicht in die Kamera, sondern fast versunken geradeaus; es könnte sich gleicher- maßen um einen Schnappschuss wie um eine Inszenierung handeln. Die Nahaufnahme ist qualitativ hochwertig, ausreichend belichtet und scharf. Stilistisch entspricht das Bild einem kunstvollen Porträtfoto aus einer unge- wöhnlichen Perspektive. Hintergrund und Kontext der Situation sind zwar ausgeblendet, die Decke verweist aber möglicherweise auf ein Bett. Durch die Nähe, die ungewöhnliche Perspektive und die scheinbare Ruhe oder Ver- sunkenheit des Mannes besitzt das Bild einen persönlichen Charakter. Der nahe und intime Blick auf den Fotografierten weckt die Neugier des Betrach- tenden: Wer ist der Mann und was ist mit ihm? Ist er krank oder müde? Warum ist er in Laken gehüllt? Wo und in welcher Situation befindet er sich? Bei dem Bild handelt es sich um ein Foto von Mendel Grosmans krankem Vater. Bis kurz vor dessen Tod hat er zahlreiche Aufnahmen von ihm ge- macht – sie stellen eine Art Hommage, aber auch ein Eingeständnis dar. Das Bild gehört zu den zahlreichen Aufnahmen, die Grosman von seiner Familie im Ghetto gemacht hat. Die zentrale Funktion dieser Bilder war die persön- liche Erinnerung. Grosman selbst erlebte die Befreiung nicht mehr. Nach der Auflösung des Ghettos wurde er nach Auschwitz deportiert und kam von dort nach Königswusterhausen. Auf dem Todesmarsch aus diesem Lager wurde er vermutlich von einem SS-Mann erschossen. Seine Bilder können bis heute Geschichten vom Leben, Überleben und dem Sterben im Ghetto er- zählen. Sie liegen abseits der großen Erzählungen, weil sie den Alltag der Fo- tografierten fokussieren.

Die Alben Steiner – vermutlich Polizist und Amateurfotograf

Steiners fotografische Tätigkeit stand nicht mit den erhofften Effekten der fotografischen Dokumentation der Zwangsarbeit in Verbindung, sondern vielmehr mit seiner polizeilichen Arbeit. Im Fotoarchiv des Z˙ ydowskiego Instytutu Historycznego (Z˙ IH) in Warschau gibt es zwei Alben, die hand- schriftlich von Steiner gezeichnet sind.36 Das eine Album enthält eine Wid- mung an den »Herrn Polizeipräsidenten Albert zur Erinnerung an unsere Zusammenarbeit bei der Lösung der Judenfrage in Litzmannstadt«. Das an- dere Album trägt den Titel »Die Polizei greift durch« und ist ebenfalls »Mei- nem lieben Kameraden W. Albert zum 8. September 1942« gewidmet. Es ent-

36 Steiner hat nicht nur das Album angelegt, sondern war auch der Fotograf, wie sich anhand der Signierung seiner Bilder auf der Rückseite rekonstruieren lässt. – (Gespräch mit Jan Jagielski am 3. April 2009 im Foto- archiv des Z˙ IH.)

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hält »Eine Artikelserie aus der Lodzer Zeitung vom November und Dezem- ber 1939, illustriert mit Bildern Lodzer Juden aus der Zeit des Polenstaates«. Bei der Artikelserie handelt es sich um eine Kolumne, in der über »jüdischen Wucher«, »Schleichhandel«, Taschendiebstahl und andere »typisch jüdische« Verbrechen berichtet wurde. Illustriert ist das Album mit Aufnahmen von Juden und Jüdinnen aus ´Lód´z/Litzmannstadt »aus der Zeit vor der Besatzung und aus der Ghettozeit«. Über Steiner ist leider nichts bekannt, unklar ist, ob er Albert unterstand oder nicht. Der Kontext dieser Alben ergibt sich aus dem Arrangement und der Kommentierung der Bilder: Sie dokumentieren die Tätigkeit der Polizei im Ghetto. Die Themen entsprechen insgesamt den von Wehrmachtsdoldaten und SS-Männern bevorzugt gewählten Motiven: Straßen- und Marktszenen aus dem Ghetto, Porträts, Bilder von den Absper- rungen. Die Qualität der Bilder ist mittelmäßig: Viele sind überbelichtet und unscharf. Wie die Anordnung und Kommentierung der Bilder nahelegt, geht es in dem Album um eine Erfolgsgeschichte: Die Geschichte der erfolgreichen Verfolgung und Vernichtung der Juden und Jüdinnen von Litzmannstadt.

»Ein halbes Jahr später sitzt er hinter Stacheldraht« – ein Porträt aus dem Album Steiner

Ort: Ghetto Litzmannstadt, Fotograf: Steiner; Jahr: 1940-1942; Quelle: Z˙ IH, Warszawa (Z˙ ydowski Insty- tut Historyczny/Jüdisches Historisches Institut), Foto aus dem Ordner: ´Lód´z Album ´L2A (Beschriftung im Album: »Ein halbes Jahr später sitzt er hinter Stacheldraht«).

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In den Alben von Steiner sind nur wenige Porträtfotografien enthalten. Im ersten Album gibt es zwei Porträts, die dem Jahr 1937 zugeordnet sind. Das einzige Porträt, das vermutlich aus der Ghettozeit stammt, ist in dem Album »Die Polizei greift durch« enthalten. Auf dem Bild ist ein älterer Mann mit Hut und Bart bis zur Brust vor einem mit Stacheldraht bespanntem Holzzaun zu sehen. Im Hintergrund bzw. auf der anderen Seite des Zaunes befindet sich eine Gruppe von Jungen mit Schirmmützen, bei einem von ih- nen ist der gelbe Stern zu sehen. Alle Jugendlichen und der Mann schauen in Richtung des Fotografen, die Augen des Mannes blicken allerdings an die- sem vorbei. Es handelt sich um eine frontal aufgenommene Nahaufnahme, der Fotografierende befindet sich auf Augenhöhe mit dem Fotografierten. Der Hut des Mannes ist angeschnitten, so dass der Fokus zentral auf dem Gesicht des Mannes liegt. Das Bild ist leicht überbelichtet, die Jungen im Hintergrund sind unscharf, was allerdings gewollt sein könnte. Das Foto ist bei Tageslicht entstanden, der Fotograf arbeitet mit der Sonne: Das Licht liegt auf den eingefallenen Wangen, der Nase und dem Bart des Mannes. Es han- delt sich – ebenso wie bei den Aufnahmen von Genewein – um ein inszenier- tes Bild im ethnografischen Stil. Allerdings ist der Hintergrund hier nicht ausgeblendet, sondern beinhaltet viele Informationen: Der Stacheldrahtzaun und die Jungen mit dem gelben Stern sind nicht zufällig im Bild. Der Mann weiß, dass er fotografiert wird, er wird vermutlich nicht freiwillig fotogra- fiert. Als Betrachtende teilt man die Perspektive eines sezierenden, analyti- schen Blicks – es ist keine emotionale Verbindung mit der dargestellten Per- son vorgesehen. Dadurch wirkt das Bild beunruhigend, kann aber auch Mitleid mit dem fotografierten Mann evozieren. Bei der Fotografie handelt es sich um ein Porträt mit Hintergrund- und Kontextinformationen. Es geht nicht nur um den fotografierten Mann, sondern um eine Gesamtaussage, die Interpretation des Fotografen ist stark im Bild anwesend. Die Inszenierung von ›Fremdheit‹ ist visuell mit Absonderung bzw. Abtrennung verbunden. Das Foto ist mit dem Kommentar versehen »Ein halbes Jahr später sitzt er hinter Stacheldraht«. Auch die im Album folgende Aufnahme von der Zwangsarbeit in einer Polsterwerkstatt ist untertitelt: »Noch ein halbes Jahr später arbeitet er für Deutschlands Aufstieg...«, das anschließende Foto von einer Beerdigung ist kommentiert mit: »... und begräbt seine Toten«. Das letzte Bild zeigt ein Konzert in einem Parteiversammlungssaal mit einem runden Emblem, in dem ein Adler mit dem Hakenkreuz zu sehen ist, der auch das Zentrum des Bildes – gleich aufgehenden Sonnenstrahlen – ein- nimmt. Darunter steht: »Die deutsche Polizei kann stolz ihren Sieg über Juda feiern.... Sie hat durchgegriffen!!« Es handelt sich um eine diffamierende Montage von Fotos, Artikeln und zynischen Kommentaren, die ausreichend Aufschluss geben über Steiner und seine Weltsicht.

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Fazit

Die Analyse der verschiedenen Porträts zeigt deutlich, inwiefern sich die Interessen und Motive der Fotografierenden auch in ihren Bildern niederge- schlagen haben. Das geschlossene Weltbild von Steiner spiegelt sich in einem dichten Porträtfoto voller Informationen, die in die Aussage münden: Die Juden, als Fremde, dem Volkskollektiv nicht Zugehörige, gehören hinter Sta- cheldraht – abgesondert von der übrigen Bevölkerung. Um anderen mögli- chen Interpretationen vorzubeugen, wird das Foto mittels der Bildunterschrift vereindeutigt und damit im Sinne seiner rassistischen Aussage festgelegt. Die Konstruktion der Fremdheit findet durch die fotografische Betonung be- stimmter Merkmale des Mannes statt. Das unkontrollierbare Moment im Bild ist der Blick des Mannes, der an dem Fotografen vorbeiführt und so dem Bild eine Offenheit für andere mögliche Interpretationen geben könnte. Dadurch vergrößern sich allerdings die Distanz und der fehlende Bezug zwischen Foto- graf und Fotografiertem. In diesem Punkt verhält es sich bei den Aufnahmen von Genewein ähnlich: Die Blicke der beiden fotografierten Männer weichen dem Fotografen aus. Auch die Fremdheit ist nach ähnlichen Mustern gestaltet. Allerdings geht es bei seinen Bildern nicht um eine Gesamtaussage. Durch die Isolierung der beiden Männer aus ihrem Lebenszusammenhang und jedem Bezug zueinander erhält das Bild einen ethnografischen Charakter. Die Dar- stellung der Männer als »Typen« steht im Vordergrund und verweist auf die voyeuristische Neugier des Fotografen, den die Juden vor allem als produk- tive Arbeitskräfte interessieren. Ganz anders ist das Bild von Grosman auf- gebaut. Zwar geht auch hier der Kontext nicht aus der Aufnahme hervor – allerdings verweist das Laken auf Krankheit, Müdigkeit oder Schwäche. Der Fotografierte schaut zwar nicht zur Kamera, sondern blickt ruhig geradeaus. Dennoch entsteht durch die nahe Perspektive der Kamera der Eindruck von Nähe und Empathie. In dem Bild kommt zudem die technische und künstleri- sche Begabung des Fotografen zum Ausdruck. Dieses Bild entspricht dem An- liegen, all das im Ghetto zu fotografieren, was zum Leben und Alltag der Men- schen gehörte – und das waren auch Krankheit und Tod. Ben-Menachem berichtet, dass viele Menschen im Ghetto Mendel Grosman kannten und von ihm fotografiert werden wollten. So erzählt er von einer Familie, die einen Wa- gen mit Exkrementen an Grosman vorbeizog. Dieser griff nicht zur Kamera, weil er die Degradierung dieser Menschen nicht festhalten wollte. Der Vater hielt jedoch an und bat ihn darum, ein Foto zu machen: »Let it remain for the future, let know others how humiliated we were«.37 Erst daraufhin machte Grosman das Bild. Für heutige Betrachter/innen besteht der Wert dieser Bilder in ihrer Erinnerungsfunktion. Sie geben fragmentarische Einblicke in die viel- fältige Lebenswelt des Ghettos. 37 Ben-Menachem 1970 (s. Anm. 35), S. 103.

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Antje Krueger

»Keine Chance pour Wohnung – C’est pas possive!« Sprachliche Zwischenwelten als kulturelles Produkt des Migrationsprozesses

Das Ethnologisch-Psychologischen Zentrum (EPZ) Zürich

Im Ethnologisch-Psychologischen Zentrum (EPZ) Zürich fanden bis zum Ende des Jahres 2005 Asylsuchende in schweren psychosozialen Krisen sta- tionäre Betreuung.1 Verteilt auf drei Wohnhäuser im Stadtbereich lebten Frauen und Männer unterschiedlicher Herkunft und Alters gemeinsam in kleineren Wohneinheiten und wurden dort tagsüber in ihrem Alltag »nieder- schwellig«2 begleitet. Das EPZ galt als Auffangbecken sogenannter »schwieriger Fälle«, die die Abläufe in den Durchgangszentren und Anlaufstellen der Gemeinden »stra- pazierten«3. Gleichsam verhinderten statusrechtliche Bedingungen (kein ge- sicherter Aufenthalt) die Aufnahme der Klientel in den allgemeinen wohn- und gesundheitsversorgenden Sektor. Im EPZ war es aus asylpolitischen und ökonomischen Rahmenbedingungen nicht möglich, einen gesicherten Betreuungszeitraum oder eine 24-stündige Anwesenheit der MitarbeiterIn- nen zu gewährleisten. Abschiebungen konnten zwangsläufig ein unerwartetes Ende der Betreuung bedeuten. Die Häuser des EPZ stellten einen »Über- gangsort«4 dar, einen Raum zwischen der Flucht und dem sicheren Aufent- halt in der Schweiz, der weder den Asylsuchenden noch den Betreuenden große Handlungsmöglichkeiten ließ. Beide Seiten waren gezwungen, die prekäre Situation sowie das psychische Leid auszuhalten. Unter diesen Be- dingungen entwickelten die MitarbeiterInnen des EPZ eine Betreuungsform,

1 Finanzielle und politische Probleme, mit denen das EPZ in den letzten Jahren immer wieder zu kämpfen hatte, wirkten sich insbesondere in den Jahren 2005 und 2006 erheblich auf den Arbeitsalltag des Zentrums aus und bedingten letztlich zum Januar 2007 eine endgültige Schließung des Projekts. Seitdem gibt es kein stationäres Angebot mehr – allerdings wird versucht, den Bedarf der Hilfesuchenden über eine ambulante sozialtherapeutische Betreuung (ASB) aufzufangen. – Vgl. zum Schließungsprozess: Heidi Schär Sall; Peter Burtscher: Ethnopsychoanalyse im Ethnologisch-Psychologischen Zentrum (EPZ) der Asylorganisation Zürich. Ein ethnopsychologischer Selbstversuch. In: Journal für Psychoanalyse, Heft 2, Giessen 2006, S. 67-85. 2 Der Begriff »niederschwellig« stammt aus der Sozialarbeit und bezeichnet einfache, unkomplizierte Kon- takt- und Zugangsmöglichkeiten zu BetreuerInnen und Hilfestellungen. Im Falle des EPZ bedeutete dies, dass die MitarbeiterInnen Büros im Erdgeschoss der Wohnhäuser hatten und während der Präsenzzeiten auch ohne Termin für alle KlientInnen ansprechbar waren. 3 Vgl. EPZ-Papier: Die Foyers 96: Ein Modell; vom 4.9.1995, S. 2. 4 Vgl. Heidi Schär Sall: Überlebenskunst in Übergangswelten. In: Dorotheé Ninck Gbeassor; Heidi Schär Sall; David Signer; Daniel Stutz; Elena Wetli: Überlebenskunst in Übergangswelten. Ethnopsychologische Betreu- ung von Asylsuchenden, Berlin 1999, S. 77-107.

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die konzeptionell Methoden und Erkenntnisse aus der Ethnologie und der Psychoanalyse verbindet.5 Sie versuchten, vom Gegebenen auszugehen und die von den BewohnerInnen auf sozialer, medizinischer, politischer, religiö- ser oder juristischer Ebene präsentierten Probleme (nach Marcel Mauss die »totalen« Dimensionen des Menschen6) in erster Linie wahrzunehmen.7 Neben aktiven fürsorgerischen Handlungen (zum Beispiel Hilfe bei der Anmeldung zu einem Beschäftigungsprogramm) schien insbesondere das Anerkennen der prekären Bedingungen, mit denen die Asylsuchenden kon- frontiert waren, einen bedeutenden Effekt auf die jeweilige Lebenssituation der BewohnerInnen zu haben. So schreiben Elena Wetli und Danielle Bazzi: »Menschen in Krisensituationen zu begleiten, heißt zunächst einmal ihre Ohnmacht wahrzunehmen und sie gemeinsam eine Weile auszuhalten. Das Aushalten und Mittragen, das Wahrnehmen und Wissen, stellt die Anerken- nung der inneren Dimension des Migrantenschicksals dar, und ist etwas, das wirkt!«8 Im Rahmen meiner Dissertationsforschung9 untersuche ich unter ande- rem die Wirkung des vom EPZ angewendeten Ansatzes auf die KlientInnen. Hierbei geht es mir nicht um ein katamnestisches Verfahren, also nicht um die Skizzierung des jeweiligen Gesundungsprozesses und einer Symptom- überprüfung, wie sie ein rein psychologischer Blickwinkel nahelegen würde. Das Ziel ist vielmehr die Erforschung der subjektiven Sicht der BewohnerIn- nen auf ihren Aufenthalt und ihre Betreuung. Im Folgenden werde ich mich insbesondere dem Aspekt der Verständi- gung im Interviewprozess widmen. Nach grundsätzlichen Überlegungen zur Sprache als machtvollem Instrument in der Forschung mit Asylsuchen- den möchte ich anhand der Begegnung mit Frau Tekin10, einer ehemaligen

5 In Anlehnung an die ethnologische Methode der »teilnehmenden Beobachtung« (Malinowski) beschreiben die MitarbeiterInnen ihre Arbeit auch als »an-teilnehmende Beobachtung«. Psychoanalytisch orientierten sie sich an den Konzepten des »holdings« sowie des »Übergangsraums« (Winnicott) und des »containments« (Bion). Im Rahmen der psychoanalytisch orientierten Supervision wurde auch der Bearbeitung von »Über- tragungs- und Gegenübertragungsphänomenen« (Freud) eine große Bedeutung zugesprochen. Vgl. Chri- stoph Ackermann; Peter Burtscher; Amr Mohamed; Heidi Schär Sall; Alexander Sölch; Daniel Stutz; Elena Wetli; Regina Zoller: Das Therapie- und Betreuungsmodell des EPZ sowie Standards für die niederschwel- lige Betreuung und Therapie psychisch kranker und traumatisierter Personen des Asylbereichs. Studie im Auftrag des Bundesamtes für Flüchtlinge – BEF, Bern-Wabern, Zürich 2003. 6 Vgl. Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1968. 7 Vgl. Ackermann et al. 2003 (s. Anm. 5). 8 Danielle Bazzi: Asyl geben. Ein Nachwort. In: Ninck Gbeassor et al. 1999 (s. Anm. 4), S. 134. 9 Aufgrund der unter Anm. 1 skizzierten Probleme war ich gezwungen, mein ursprüngliches Forschungs- konzept immer wieder zu überdenken und den veränderten Bedingungen anzupassen. Die geplante teil- nehmende Beobachtung des Betreuungsalltags musste bereits zu Beginn des ersten Forschungsaufenthaltes aufgegeben werden. Aus den gegebenen Umständen entwickelte sich die Idee, den EPZ-Ansatz zu rekon- struieren und seine Wirkung maßgeblich über die unterschiedlichen Gespräche mit KlientInnen, Mitarbeite- rInnen des EPZ und Personen des politischen und institutionellen Umfelds kennenzulernen, nachzuvollzie- hen und zu analysieren. Von November 2005 bis Mitte 2007 habe ich bei mehren Aufenthalten in Zürich 30 Interviews geführt und versucht, dabei auch die veränderten politischen Bedingungen und die Wechsel der Betreuungsformen (von einem stationären zu einem ambulanten Angebot) aufzunehmen. 10 Name, Herkunft und Aufenthaltsdauer meiner Gesprächspartnerin wurden anonymisiert.

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Bewohnerin des EPZ, aufzeigen, wie Migrationsprozesse sprachliche Zwi- schenwelten produzieren können, die einerseits als kreative und kulturelle Leistung angesehen werden können – andererseits aber auch dazu führen können, dass MigrantInnen nur noch mit großer Anstrengung verstanden werden. Abschließend versuche ich, Frau Tekins sprachliche Praxis in die Be- trachtung asylpolitischer Strukturen und die erfahrene Betreuung im EPZ einzuordnen.

Auswahl der GesprächspartnerInnen Die Bedeutung von Sprache in der Forschung mit psychisch belasteten Asylsuchenden

Schon zu Beginn meiner Forschung deutete sich an, dass die Auswahl mögli- cher GesprächspartnerInnen unter den ehemaligen BewohnerInnen des EPZ nicht nur entlang ihres jeweiligen psychischen Zustands, sondern auch ent- lang sprachlicher Verständigungsmöglichkeiten erfolgen musste. Ich selbst konnte neben meiner Muttersprache Deutsch sehr gut Englisch sprechen und verfügte über einen ehemals guten, aber über die Jahre in Vergessenheit geratenen Wortschatz der französischen Alltagssprache. Die meisten Klien- tInnen waren durch ihren Aufenthalt in der Schweiz damit konfrontiert, die landesübliche Sprache zu erlernen, um sich im Alltag zurechtzufinden. Die Asylorganisation Zürich (AOZ) förderte diese Lernprozesse, indem sie die Asylsuchenden zu Sprachkursen aufforderte und diese Leistung im Sinne des »Prinzips der Gegenseitigkeit« auch honorierte.11 Je nach Aufenthalts- dauer, aber auch abhängig von der psychischen Verfassung und dem jeweili- gen Sprachtalent, konnten die Asylsuchenden des EPZ entsprechend eher weniger oder sehr flüssig Deutsch sprechen. Je nach Herkunft und Bildungs- stand verfügten sie zusätzlich über Englisch- und/oder Französischkennt- nisse. All jene, deren Heimat in den ehemaligen Kolonialgebieten lag (hier vor allem diverse afrikanische Staaten), beherrschten von Geburt an neben ihrer jeweiligen Muttersprache auch die koloniale Sprache des öffentlichen Systems fließend. Da es (im Rahmen meiner Forschung) keine Gelder gab, die es ermöglicht hätten, DolmetscherInnen hinzuzuziehen, einigte ich mich mit den Mitarbei-

11 Die AOZ war die Trägerinstitution des EPZ. Die Vorgaben der AOZ mussten in den verschiedenen Betreu- ungsangeboten der Organisation umgesetzt werden. Dazu gehörten auch die Richtlinien des Modells »Im Austausch. Das Prinzip der Gegenseitigkeit in der Arbeit mit Asylsuchenden«. Das Modell sah vor, dass die Asylsuchenden für die standardisierte Betreuung und Unterbringung Gegenleistungen erbringen mussten. Wurden diese nicht erbracht, wurde die Leistung seitens der AOZ gekürzt – bei über die Standarderwartung hinausgehenden Gegenleistungen erhielten die Betroffenen auch zusätzliche Leistungen. Die aktive Mitar- beit im Spracherwerb wurde beispielsweise mit einer intensiveren Beratung hinsichtlich einer Arbeitsplatz- suche etc. honoriert. – Vgl. Broschüre AOZ: Im Austausch. Das Prinzip der Gegenseitigkeit in der Arbeit mit Asylsuchenden. Ziele. Grundlagen. Instrumente, Zürich 2001.

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terInnen des EPZ darauf, vor allem diejenigen KlientInnen nach ihrer Inter- viewbereitschaft zu fragen, die auf Deutsch, Englisch oder Französisch mit mir sprechen wollten. In diesem Sinne konnte kein Gespräch in der jeweili- gen Muttersprache der Asylsuchenden geführt werden. Ein Umstand, der die Beziehungsgestaltung, aber auch den Verlauf der Gespräche auf unter- schiedliche Weise beeinflusste. So mussten sich nicht nur beide Seiten auf mögliche Verständigungsschwierigkeiten einstellen. Als Forscherin ent- wickelte ich zunehmend auch ein Bewusstsein dafür, was ich mit meiner Herkunft aus Deutschland auch auf sprachlicher Ebene symbolisierte: Ich teilte die Sprache des Asylaufnahmelandes Schweiz und mutete ihnen man- gels Übersetzungskräften eine Situation zu, in der sie sich unter Umständen sprachlich unterlegen fühlten. Auch diejenigen, die auf Englisch oder Fran- zösisch mit mir sprachen, mussten auf ein Kommunikationsmittel zurück- greifen, was ihnen zwar vertraut war, aber dennoch auch politisch belegt ist: die Sprache der ehemaligen kolonialen UnterdrückerInnen – oder, wie Mou- ralis (1984) es nennt, dem »fait colonial« oder der »culture coloniale«12 –, die »dem kolonisierten und sprachlich dominierten Afrikaner nur einen be- schränkten Blick auf die Wirklichkeit« gestattet.13 Da sich alle ehemaligen BewohnerInnen des EPZ in einer Situation befan- den, die von ihren psychischen Belastungen, dem prekären Aufenthaltssta- tus, aber auch diskriminierenden, rassistischen Erfahrungen in der Schweiz geprägt war, war es von großer Bedeutung, potentielle Ungleichheitsfakto- ren in der Interviewsituation zu reflektieren und im Analyseprozess zu bear- beiten.

Verständigung im Interviewprozess

Viele der ehemaligen BewohnerInnen sahen in den Gesprächen eine Chance, jemandem ihre Geschichte und ihre Ansichten zu erzählen, und erklärten sich gerne bereit, mich zu treffen. Von den elf Gesprächen führte ich letztendlich eines auf Englisch und ei- nes auf Französisch. Die anderen Gespräche fanden hauptsächlich in deut- scher Sprache statt, wobei auch hier Verständigungsprobleme oft durch den Rückgriff auf französische und englische Wörter gelöst wurden. In einem Fa- milieninterview sprangen alle Anwesenden, hier besonders die Kinder, als ÜbersetzerInnen ein, wenn einmal die Worte fehlten. Zudem erleichterte der Einsatz von Gesten und Mimik beiden Seiten, Worte zu unterstreichen, zu verstärken und manchmal auch zu ersetzen.

12 Bernard Mouralis: Littérature et Développement, Paris 1984. 13 Johann Galtung zitiert nach Khadi Fall: Koloniale Sprache als kulturelle Gewalt. Die Frankophonie hat die Gesellschaft gespalten. In: eins Entwicklungspolitik, Nr. 18-19, 2006, S. 40-42.

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Methodisch legte ich mich auf eine sehr offene narrative Interviewform fest, die mehr Erzählimpulse als konkrete Leitfragen beinhaltete. Durch die offene Gesprächsgestaltung konnten meine InterviewpartnerInnen erst ein- mal erzählen. Auch wenn so eine Kommunikation stattfinden konnte, in der beide Seiten größtenteils verstanden, um was es ging, wurde doch jedes Ge- spräch von Unsicherheiten und Angst vor Verständigungsproblemen beglei- tet. In fast allen Fällen wurde thematisiert, dass die fehlende gemeinsame Sprache eventuell ein Problem für das Interview darstellen könnte. In der Regel entschuldigten sich die Personen gleich zu Beginn dafür, dass sie »schlecht« Deutsch sprechen würden und ich sie vielleicht nicht verstehen könnte. Manche entschuldigten sich auch im Verlauf des Gespräches, wenn sie an wichtigen Stellen keine adäquaten Worte fanden. Auf den ersten Blick schien es so, als ob die betroffenen Personen Angst hatten, dass mir ihre Aus- drucksmöglichkeiten für so ein, ich nenne es mal »offizielles und wichtiges« Forschungsinterview, nicht ausreichen könnten. Da aber immer wieder deut- lich wurde, dass die Gesprächsoption als Rederaum für Probleme und An- sichten wertgeschätzt wurde, lässt sich dieses Vorgehen auch als Wunsch in- terpretieren, verstanden zu werden. Sicherlich hätten viele von ihnen in ihrer eigenen Sprache andere Worte gefunden, vielleicht auch komplexere Zusam- menhänge erzählen können. Doch gerade in der Auswertung der Protokolle und Transkriptionen zeigte sich, dass eigentlich alle GesprächspartnerInnen genügend Kommunikationsmittel aufbringen konnten, wenn sie über per- sönlich bedeutende Themen berichteten. Oft wurde ein wichtiger Punkt von dem keineswegs rhetorischen Nachsatz »Verstehst Du?« begleitet und zeigte immer wieder, dass es besonders an diesen Stellen ein großes Bedürfnis da- nach gab, dass ich auch das Richtige verstand und bestätigte. Zum Teil wurde anschließend darauf bestanden, dass ich diesen einen Satz oder eine Aussage protokollierte. Trotzdem blieb das Vorgehen ambivalent. Nach der Transkription der ers- ten Interviewmitschnitte wurde deutlich, dass auch ich hin und wieder un- sicher war, ob ich wirklich verstanden hatte, was gesagt wurde. Zum Teil wiederholte ich Aussagen in meinen Worten und wartete auf einen bestäti- genden Ausdruck, um mich abzusichern. Teilweise bot ich Worte an oder griff interpretierend ein. Dieses führte manchmal dazu, dass mir vorschnell recht gegeben wurde, ohne dass es den Tatsachen entsprach, wie sich bei der Betrachtung des weiteren Interviewverlaufs herausstellte. An dieser Stelle zeigten sich Praxen des Nichtverstehens, die jedem Urlauber und jeder Ur- lauberin, in jedem Fall aber der Mehrheit der Asylsuchenden bekannt sind: Das Nicken, das »ja, ja«-sagen, damit das eigene sprachliche Defizit nicht auffällt – eine Strategie, die sich von der Interviewsituation auf die allge- meine Situation der Asylsuchenden übertragen lässt. Im Alltag, in der Be- treuung, besonders allerdings in Asylverfahren und Anhörungen spielt das

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Beherrschen der Sprache des Aufnahmelandes eine große Rolle. Es ist, wie oben beschrieben, nicht nur eine Leistung, die honoriert wird, sondern gilt gesetzlich verankert als Integrationsanforderung und stellt damit neben an- deren Dingen eine Grundbedingung für einen gesicherten Aufenthalt dar. Das vorschnelle Bestätigen verweist also auch auf einen Erfahrungswert aus dem Alltag der Asylsuchenden. Es ist festzuhalten, dass auch Räume, in denen es primär darum geht, den Asylsuchenden die Möglichkeit zu bieten, ihre Sicht der Dinge aufzunehmen und von ihren Erfahrungen zu berichten (wie zum Beispiel in den Inter- views), mannigfaltig von Fragen der Ausschließung und einem Kampf um Anerkennung durchzogen sind. Die Forscherin reproduziert sowohl durch ihre sprachliche Dominanz als auch die daraus resultierende Deutungsmacht Situationen der Ungleichheit. Hierüber gilt es, sich gerade im Auswertungs- prozess immer wieder gewahr zu werden. In Anlehnung an Gayatri Spivaks Aufsatz »Can the Subaltern speak?«14 und Hito Steyerls Adaptionen für den europäischen Raum15 sollte die Frage, »was passiert, wenn jemand, der oder die als subaltern, also als unterprivilegiert, bezeichnet wird, spricht«16, die Analyse des Feldes also beständig begleiten. Diese Erkenntnis versuchte ich in den folgenden Interviewgesprächen stärker einzubeziehen und darauf zu achten, weniger Deutungen anzubie- ten. Überdies war es mir im gesamten Auswertungsprozess des Interview- materials wichtig, die ungleichen Positionen aller Sprechenden mitzudenken und in die Analyse einzubinden. Im Folgenden werde ich anhand der Wortschöpfungen von Frau Tekin auf eine besonders auffällige Sprach-Praktik eingehen, die sich deutlich von der Praxis meiner anderen InterviewpartnerInnen abhebt. An diesem Beispiel möchte ich verdeutlichen, wie das mehrfache Migrieren sprachliche Spuren hinterlässt, die einerseits als Ausdruck kreativer Raumaneignung verstanden werden können, andererseits aber auch zu Ausschluss und Abwertung führen.

» C’est pas possive!« – Der erster Kontakt mit Frau Tekin

Schon im Kontaktgespräch mit einer Mitarbeiterin des EPZ und Frau Tekin, einer Armenierin, die lange in Frankreich gelebt hatte, bevor sie vor etwa 20 Jahren in der Schweiz um Asyl suchte, fiel mir auf, dass ich Frau Tekin kaum verstehen konnte. Manchmal fragte ich in den konkreten Situationen

14 Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern speak? In: Cary Nelson; Lawrence Grossberg (Hrsg.): Mar- xism and the Interpretation of Culture, Chicago 1988, S. 271-313. 15 Vgl. Hito Steyerl; Encarnación Guitiérrez Rodríguez (Hrsg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2003. 16 Ebd., S. 7.

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nach, wartete aber mit den meisten Fragen ab, bis ich mit der Mitarbeiterin wieder alleine war17: »Sie [die Mitarbeiterin] entwirrt ein wenig das Unver- ständliche und erklärt, dass Frau Tekin lange in Frankreich im Gefängnis ge- wesen sei und dort Französisch gelernt hätte. Eher so ein Gossenfranzösisch mit viel Slang – man könne es kaum verstehen, auch weil sie viele Wörter merkwürdig abkürzen würde. Sie und ihr Kollege hätten lange gebraucht, um sie zu verstehen. Wenn ich im Anschluss an das Interview Probleme mit dem Band hätte, könnten sie mir sicher helfen, die Dinge zu übersetzen.«18 Bei einem Pausengespräch im EPZ am nächsten Tag teilten mir auch an- dere MitarbeiterInnen mit, dass Frau Tekin »sprachliche Besonderheiten« praktizieren würde: »Er [ein Mitarbeiter] erzählt, dass es eventuell sprach- lich schwierig für mich werden könne, weil sie so ein Mischmasch sprechen würde aus Französisch und Deutsch – dass sie statt ›possible‹ immer ›pos- sive‹ sagen würde: ›C’est pas possive‹. Er bringt noch andere Beispiele, und auch ein anderer Mitarbeiter erwähnt, dass sie statt ›Körper‹ oder ›corps‹ im- mer ›mein Korb‹ sagen würde, es könne also wirklich schwierig werden, dem Gespräch gut zu folgen.«19

Gespräch mit Frau Tekin

Ich konnte im Rahmen des Kontaktgesprächs, also schon vor meinem tat- sächlichen Interview, einen persönlichen Eindruck von Frau Tekins Kom- munikationsform gewinnen. Durch die kurzen Gespräche mit den EPZ- MitarbeiterInnen war ich darüber hinaus einerseits auf einen eventuell unverständlichen Sprach-»Mischmasch« vorbereitet, lernte andererseits aber auch schon einige der Schlüsselwörter ihres besonderen Vokabulars kennen, die mir später auch in der direkten Unterhaltung mit Frau Tekin halfen, den Sinn ihrer Aussagen zu verstehen. Im gesamten Gespräch griff Frau Tekin grundsätzlich auf mehrere Sprachen zurück. Die meisten Sätze bestanden aus deutschen, französischen und züridütschen Vokabeln und wurden ab und an durch englische Begriffe – zumeist durch das Fragewort »Why?« und das Pronomen »me« – und eben um die genannten kreativen Wortschöpfun- gen ergänzt: »Non, gestern… ca c’est… ich immer denken, ich gehen Ar- menien, Armenien, elles nicht bezahlen pour mein Essen, elles nicht bezah-

17 Ich arbeite sowohl mit Interviewtranskripten als auch mit Feldnotizen, die ich im Feldforschungstagebuch festgehalten habe. Da ich einen ethnopsychoanalytischen Forschungsansatz verfolge, kommt gerade den Notizen eine besondere Bedeutung zu. Die Ethnopsychoanalyse geht davon aus, dass in den subjektiven Notizen unbewusste Informationen über das Beziehungsgeschehen und die Beschaffenheit des Feldes ent- halten sind, die durch ein Deutungsverfahren bewusst und damit analysierbar gemacht werden können. Die jeweilige Quelle ist in den Fußnoten vermerkt. 18 Feldforschungstagebuch: Kontaktaufnahme mit Frau Tekin am 14.12.2006. 19 Feldforschungstagebuch: Kaffeegespräch im EPZ vom 15.11.2006.

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len pour meine Zähne. Ich storbe gehen Armenien. Storbe! Sofort! Sicher zu Armenien nicht, Armenien nicht helfen. Ici, alle helfen pour me, viele Jahre ich bin da… immer geben pour me … Elle fragen, gehen Armenien, ich stor- ben! Sicher storben, gehen zur Straße, why? Machen pût, für Geld machen pût! Parce que Armenien machen keine Geld, keine Sozial… nicht gleich wie Suisse, nicht gleich Deutschland, nicht gleich Frankreich… da nicht.«20 Ich stieg relativ schnell auf die Vermischungen der Sprache ein, wechselte selbst zwischen deutschen und französischen Sätzen hin und her und hatte entgegen der Befürchtungen im Vorfeld kaum Probleme damit, Frau Tekin zu verstehen. Manchmal sprach Frau Tekin allerdings Wörter auch einfach mit einer Akzentmischung mehrerer Sprache aus, was mir besonders am Bei- spiel des Wortes »Mädchen« große Schwierigkeiten bereitete. Es klang einer- seits wie die Intonation des französischen Wortes »maître«, andererseits sprach Frau Tekin das ch in Form einer switzerdütschen Lautverschiebung aus, die aus dem eher weich gesprochenen, fast zischenden ch einen racha- len bzw. verlaren Silbenlaut formt.21 Lange Zeit war ich verwirrt, und fragte mich, was Frau Tekin mir da von einem »Meister« bzw. »Chef« erzählte, bis ich aus dem Kontext erschließen konnte, dass sie sich auf ihre Tochter, auf »ihr Mädchen« bezog, und konnte ihr dann wieder folgen.

Sprachliche Zwischenwelten als kulturelles Produkt des Migrationsprozesses

In den Sprach- und Kulturwissenschaften wird sich seit langem mit Prozessen der Sprachvermischungen auseinandergesetzt. Vor allem in den Postcolonial Studies entwickelte sich ein eigenes Forschungsfeld, welches Konzepte der Vermischung explizit auf Sprachtheorien oder auf dekonstruktivistische An- sätze, die sich an solchen orientieren – zum Beispiel Derridas Begriff der »differánce« –, bezieht.22 Im Konzept der »Hybridität«23 zeigt sich, so Stuart Hall, der »Stellenwert von Geschichte, Sprache und Kultur für die Konstruk- tion von Subjektivität und Identität an sowie die Tatsache, dass jeder Diskurs platziert, positioniert und situativ ist und jedes Wissen in einem Kontext steht«24. Andere AutorInnen sprechen angesichts dieser Verwobenheiten auch von Chancen einer sprachlichen und praktischen, kreativen und viel-

20 Ausschnitt aus dem Interview mit Frau Tekin am 15.12.2006; »pût machen« steht hier für Prostitution bzw. sich prostituieren. 21 Vgl. Wörterbuch zur schweizerdeutschen Sprache, Berlin 2010. 22 Vgl. Edward Said: Orientalismus, Frankfurt am Main 1979 [orig.: Orientalism, London 1978]; Spivak 1988 (s. Anm. 14); Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 [orig.: The location of culture, London 1994]. 23 Vgl. Bhabha 2000 (s. Anm. 22). 24 Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Argument-Sonderband 226, Hamburg 1994, S. 21; Hervor- hebung – A. K.

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fältigen Aneignung neuer Räume, die einer »Melange«25, einem »kulturellem Synkretismus«26 oder einer »Kreolisierung«27 gleichkäme.28 Seine ursprüngliche Bedeutung bezieht das Wort »Kreol« aus dem lateini- schen »creare« (schaffen, erschaffen) und bezeichnet den kreativen Akt, aus verschiedenen Einzelkomponenten etwas Neues, Vermischtes zu gestalten. Walter Drossard führt in seinem Aufsatz »Sprachliche Zwischenwelten« 29 unterschiedliche Formen dieser Akte auf. Mit dem sogenannten code-switch- ing beschreibt er die Fähigkeit, innerhalb eines Gespräches, beispielsweise in einem Dialog zwischen türkischen MigrantInnen der zweiten oder dritten Generation, zwischen komplett türkischen und komplett deutschen Äuße- rungen zu wechseln, ohne dass es den Redefluss verändert. In dieser Form wird also von Satz zu Satz oder von Abschnitt zu Abschnitt zwischen den Sprachen »geswitscht« bzw. geschaltet.30 Frau Tekin praktiziert eine Sprachmischung, die dagegen eher dem Mo- dell des »code-mixing« entspricht: Lexikalische Elemente der Zweitsprache werden in die eigene Sprache aufgenommen oder Formelemente (Suffixe) der Muttersprache an deutsche Wörter gehängt. Es kommt auch vor, dass deutsche Ausdrucksweisen analog in die Muttersprache übersetzt und in die Sätze integriert werden.31 Zu diesen Code-Mix-Formen gibt es unterschied- liche Untersuchungen. Als eine der ersten ist wohl der Aufsatz »Schule -de bugün çok langweilig -di« von Yüksel Pazarkaya32 zu nennen, in dem der türkisch-deutsche Sprachwissenschaftler und Literat seine Forschungen zum deutsch-türkischen Sprachkontakt vorstellt. Mittlerweile ist der sprach- liche Untersuchungsrahmen auch aufgrund veränderter Migrationsgruppen immer größer geworden. Waren in den 1980er Jahren vor allem die Praktiken türkischer und italienischer »Gastarbeiterkinder« beobachtet worden, gilt es heute, eine fast unüberblickbare Vielfalt an sprachlicher Kreativität zu erfas- sen. Der ungarische Sprachwissenschaftler Csaba Földes legte eine sehr um- fassende Analyse vor, die neben der Ausdifferenzierung spezifischer Code-

25 Salman Rushdie: Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981–1991, München 1992, S. 458. 26 Massimo Canevacci: Image Accumulation and Cultural Syncretism. In: Theory, Culture and Society, Nr. 9.3, 1992, S. 12-15. 27 Ulf Hannerz: Transnational Connections. Culture, People, Places, London 1996. 28 Vgl. Mark Terkessidis: Globale Kultur in Deutschland oder: Wie unterdrückte Frauen und Kriminelle die Hybridität retten. In: Andreas Hepp; Rainer Winter (Hrsg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen 1999, S. 237-252; vgl. auch Encarnación Guitiérrez Rodríguez: Repräsentation, Sub- alternität und postkoloniale Kritik, in: Steyerl; Guitiérrez Rodríguez 2003 (s. Anm. 15), S. 17-37. 29 Werner Drossard: Sprachliche Zwischenwelten. In: IABLIS Jahrbuch für europäische Prozesse, 1. Jg. 2002: Migration: Die Erzeugung von Zwischenwelten. http://www.iablis.de (http://tinyurl.com/6jre52x); 25.03.2011). 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. ebd. 32 Yüksel Pazarkaya: Schule -de bugün çok langweilig -di [(die) Schule in heute sehr langweilig war]. Beobach- tungen zum »Deutschland-Türkischen«. In: Ders.: Spuren des Brots. Lage der ausländischen Arbeiter, Zürich 1983; vgl. auch ders.: Beobachtungen zum »Deutschland-Türkischen«, Bonn 1983.

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Modelle auch Aneignungsformen neuartiger Kreolsprachen dokumentiert, die mitunter sogar als Muttersprache fungieren können.33 Die beschriebene sprachliche Praxis von Frau Tekin ist also nicht nur ein individuelles Phänomen, sondern Ausdruck einer kulturellen Praxis sprach- licher Aneignung im Rahmen von Migrationsprozessen.34 Anders als bei den beschriebenen Beispielen fällt allerdings auf, dass Frau Tekin weder im Kon- taktgespräch noch in der Interviewsituation auf Vokabeln ihrer Mutterspra- che zurückgreift. Das von ihr über die Jahre entwickelte »code-mixing« be- zieht sich ausschließlich auf Zweit-, Dritt- und eigentlich auch auf Viert- bzw. Fünft-Sprachen. Versatzstücke ihrer eigenen Sprache lassen sich ver- mutlich in der Anwendung grammatikalischer Übertragungen finden, die besonders den Satzaufbau und den Stellwert von Subjekten, Verben und Ob- jekten bestimmen (sogenannte Interferenzen35). Anders als in den zitierten Beispielen zur Ausformung neuer Sprachkulturen hat Frau Tekins Spracher- werb insofern einen sehr individuellen, persönlichen Charakter und be- schreibt nicht das Phänomen einer Gruppe oder Community. Die unterschied- lichen Anlaufstellen ihres Migrationsprozesses – Frankreich und die Schweiz, in denen jeweils offizielle und Alltagssprachen praktiziert werden –, aber auch ihre Situation als Einzelmigrierende haben sprachlich Spuren hinterlassen und dazu geführt, dass Frau Tekin eine Sprache spricht, die sie sich in dieser Form mit niemand anderem angeeignet hat und somit auch mit keiner anderen Per- son teilt. Kombiniert mit den Wortneuschöpfungen, die Frau Tekin in ihren Wortschatz integriert hat, kreolisiert sie quasi eine Sprache, die bereits eine Art Kreolsprache ist – in dieser Hinsicht ein wirklich kreativer Prozess und Aus- druck einer sehr »bewegten« Lebensgeschichte. Drossard kommt in Hinblick auf diese sehr individuellen Interferenzen zu dem Schluss, »dass jeder Einzelne, der zur Kommunikation außer seiner ei- genen Sprache eine zweite Sprache benutzt, über seine eigene kleine sprach- liche Zwischenwelt verfügt, die nicht immer im großen Rahmen erklärbar ist«36. Auch bei Frau Tekin führt ihr persönliches Sprach-Misch-Gebilde dazu, dass sie zum Teil nicht verstanden wird.37 Die Vermischung von Spra- che(n) bedeutet in diesem Fall also, anders als es hybriden Handlungsstrate-

33 Vgl. Casba Földes: Kontaktdeutsch: Zur Theorie eines Varietätentyps unter transkulturellen Bedingungen von Mehrsprachigkeit, Tübingen 2005. 34 Hier ist es wichtig herauszustellen, dass Frau Tekin aufgrund unaushaltbarer Bedingungen mehrfach ge- flüchtet bzw. migriert ist und in den jeweiligen Stationen um Asyl gesucht hat. Die sprachliche Aneignung fand insofern immer unter prekären Bedingungen statt. Intellektuelle MigrantInnen oder ins Land gerufene ArbeitsmigrantInnen werden diese Art der sprachlichen Zwischenwelten wahrscheinlich ganz anders ge- stalten oder vielleicht auch gar nicht erfahren. 35 Vgl. dazu ausführlicher Drossard 2002 (s. Anm. 29). 36 Ebd. 37 An dieser Stelle ist es interessant festzuhalten, dass in der Schweiz sowohl Schwitzerdütsch, Deutsch als auch Französisch gesprochen werden. Obwohl Frau Tekin vor allem auf Vokabeln der lokal praktizierten Sprachen zurückgreift, wird sie schlecht verstanden. Ein Hinweis darauf, dass sich nicht viele die Mühe ma- chen, Frau Tekin verstehen zu wollen.

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gien zugesprochen wird, keine dynamische Öffnung von Gestaltungsmög- lichkeiten, sondern gleicht eher einem Verharren in der Zwischenwelt, die im Fall von Frau Tekin unter Umständen zu einer kommunikativen Ohn- macht führen kann.

Sprache als Beziehungsraum

Die MitarbeiterInnen im EPZ haben sich über die Jahre der Betreuung darauf eingelassen, die besondere Sprache der Frau Tekin zu lernen und sie so zur gemeinsamen Sprache werden zu lassen. Ein Prozess, der viel Geduld auf beiden Seiten benötigte, aber auch dazu geführt hat, dass Kommunikation möglich wurde. Ich selbst durfte an diesem Sprachschatz teilhaben. Ich wurde praktisch von den EPZ-MitarbeiterInnen, mit einer »Vokabelliste« ausgestattet, in die besondere Sprachwelt von Frau Tekin entlassen und kam dort tatsächlich zurecht. Allein die Information, dass es Situationen des Nicht-Verstehens geben würde und dass mich Wortschöpfungen irritieren könnten, haben einen Raum des Einlassens und sensiblen Wahrnehmens geöffnet, der dazu beigetragen hat, dass ich Frau Tekins Geschichte hören konnte. Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel allerdings auch, wie viel Energie aufgebracht werden muss, bis sich ein Kommunikationsraum entfalten kann. Auch ich komme nicht umhin zu sagen, dass ich gegen Ende des Inter- views keine Lust und Kraft mehr hatte, sprachliche Transferleistungen zu er- bringen, wie ich in den Feldforschungsnotizen vermerkte: »Anfangs war ich im Gespräch noch sehr geduldig, doch nach ca. einer 3/4 Stunde war auch bei mir die Luft raus, irgendwann saß ich nur noch da und dachte, na, jetzt reicht es auch und: wie schaffe ich es nun, das Gespräch zu beenden. Ich hörte nur noch mit halbem Ohr hin, fragte auch nicht mehr wirklich nach, wenn ich Sätze nicht mehr verstand, und wollte, dass das Gespräch jetzt zu Ende war. Während ich im Laufe der Begegnungen mit Frau Tekin seit ges- tern immer wieder große Anteilnahme, Verständnis und Bedauern verspürt habe, ging mir der ständige Sprachwechsel, aber auch ihr Beharren und stän- diges Wiederholen ihrer Sorge um Wohnung und Permit38 zum Ende hin wirklich auch auf die Nerven.«39 Die Ethnopsychoanalyse geht davon aus, dass jede Forschungsperson ihre eigene Geschichte, das heißt soziale, geschlechtliche und kulturelle Merkmale ihrer Identität, in die Gesprächssituation und -dynamik einbringt und dadurch den Verlauf bewusst und unbewusst steuert. Wie Devereux es ausdrückt, »verzerrt« jede/r ForscherIn das eigene Material entsprechend

38 Frau Tekin verwendete diesen Begriff für ihre Aufenthaltsbewilligung. 39 Feldforschungstagebuch zum Interview mit Frau Tekin am 15.12.2006.

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der subjektiven Geschichte und der davon ausgehenden Wahrnehmung.40 Das heißt, wahlweise ist die Forschungsperson in ihrer Wahrnehmung zum Beispiel spezifisch sensibilisiert oder eher resistent gegenüber bestimmten Sachverhalten. Gleichzeitig sagen konkrete Reaktionen auf die Forschungssi- tuation und die Begegnung auch etwas über die latenten Strukturen der un- tersuchten Verhältnisse aus. Der Gesellschaftsbezug stellt einen bedeutenden Aspekt der ethnopsychoanalytischen Herangehensweise dar.41 Sie geht da- von aus, dass Individuum und Gesellschaft verwoben sind und subjektiv erscheinende Reaktionen immer auch ein Verweis auf kulturell objektive Handlungs- und Denkstrukturen sind.42 Auf der methodischen Ebene bewir- ken die explizite Einbeziehung emotionaler Regungen und die Aufdeckung der psychischen Strukturen und Vorgänge der Forschungsperson sowohl die »Entzerrung« individueller Wahrnehmungs- und Handlungsmuster (und da- durch möglicher manipulativer und suggestiver Elemente) als auch eine Ver- anschaulichung von verinnerlichten gesellschaftlichen Normen und Werten.43 Die Art und Weise, wie in unserem Interview meine Bereitschaft und Ge- duld zur Neige gehen, ich nur noch genervt darauf hinarbeite, dass Frau Te- kin endlich die Wohnung verlässt und ich meine Ruhe habe, verweist ent- sprechend nicht nur auf meine individuelle Erschöpfung. Analysiert man diese subjektive Reaktionsweise hinsichtlich des gesellschaftlichen Kontex- tes, stellt man fest, dass ähnliche Verhaltensweisen auch in der Praxis asyl- rechtlicher Institutionen beobachtet werden können. Die Abläufe in asyl- rechtlichen Institutionen sind oft von Zeitknappheit und ökonomischen Mängeln beeinflusst. Selten gibt es in Anhörungen eines Asylverfahrens überhaupt die Möglichkeit, lebensgeschichtliche Besonderheiten ausführlich darzustellen. Sprachprobleme, die den Ablauf verlangsamen, werden oft als störend und nervend empfunden, und diese Empfindung wird auf den An- tragsteller übertragen. Selbst wenn DolmetscherInnen hinzugezogen wur- den, wird es schwierig, wenn es nicht gelingt, den Sinn der Aussagen sofort zu erfassen. Auch in der Betreuungsarbeit von Asylsuchenden ohne gesi- cherten Status, die in der Regel mit einem geringen Personalschlüssel geleis-

40 Vgl. Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften [1967], Frankfurt am Main 1992. 41 Vgl. Paul Parin; Fritz Morgenthaler; Goldy Parin-Matthey: Der Widerspruch im Subjekt, Hamburg 1978. – So nahm der Ethnopsychoanalytiker Paul Parin in den 1950er und 60er Jahren Bezug auf das Marx’sche Gesell- schaftsverständnis, nachdem eine Gesellschaft nicht etwa eine Summe von Individuen ist, sondern vielmehr »die Summe der Beziehungen und der Verhältnisse, worin diese Individuen zueinander stehen«. – Ebd., S. 42. – Parin erklärt, dass menschliches Verhalten vor allem auf gesellschaftliche Verhältnisse und Beziehun- gen zurückzuführen ist und sich diese »gerade dort, wo das Individuum irrational oder unbewusst handelt« zeigen. – Ebd. 42 Vgl. Maya Nadig; Anne-Françoise Gilbert; Maria Gubelmann; Verena Mühlberger: Formen gelebter Frauen- kultur. Ethnopsychoanlytische Fallstudien am Beispiel von drei Frauengenerationen des Zürcher Oberlan- des. Forschungsbericht an den Nationalfonds, Schweiz 1991, S. 10 f. 43 Vgl. hierzu ausführlicher Antje Krueger: Die Ethnopsychoanalytische Deutungswerkstatt. In: Ulrike Frei- kamp; Matthias Leanza; Janne Mende; Stefan Müller; Peter Ullrich; Heinz-Jürgen Voß (Hrsg.): Kritik mit Me- thode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik. Reihe: Texte der RLS, Bd. 42, Berlin 2008, S. 127-145.

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tet werden muss, gibt es kaum Kapazitäten, sich auf einen langsamen und langatmigen Verständigungsprozess einzulassen. KlientInnen mit besonde- ren Sprachstrategien werden auch hier als zeitraubend und belastend emp- funden. Nicht mehr das eigentliche schwierige Verstehen ist dann das Pro- blem, sondern mehr und mehr dieser Mensch, der sich nicht auszudrücken vermag. Nur allzu gern möchten die Verantwortlichen, dass die Anstrengun- gen ein Ende nehmen, die Person also bald aufhört, sich zu erklären, und am besten wieder geht. Unbemerkt bleiben in diesem Prozess allerdings die An- strengungen und Bemühungen der Asylsuchenden, die nach Worten ringen, um ihre Geschichte verständlich zu machen.

Schlussbemerkung: Kreative Sprachadaptionen versus kommunikative Ohnmacht

Am Beispiel von Frau Tekin wird deutlich, dass ihre Sprachadaptionen Spie- gel der sprachlichen Räume ihrer Migrationsgeschichte sind. Sie verweisen auf eine Art Multilingualität, die insbesondere unter sprachwissenschaft- licher Betrachtung als Akt kreativer Aneignung und Selbstermächtigung angesehen werden kann. Andererseits zeigt sich hier in einem besonderen Maße, dass solche »crossover«-Strategien keineswegs außerhalb macht- durchdrungener Räume entstehen und zudem in ebensolchen reproduziert und abgewertet werden. Frau Tekins sprachliche Aneignungen sind Pro- dukte von Flucht, Gefängnisaufenthalt und einem Leben ohne gesicherten Aufenthaltsstatus. Sie sind unter den »Bedingungen von Ausbeutung, Un- terdrückung, Sprachlosigkeit und zahlreichen inneren Widersprüchen«44 ent- standen und werden unter denselben Bedingungen praktiziert. Die Adap- tion unterschiedlicher Sprachelemente führt nicht dazu, dass Frau Tekin vielfach verstanden wird, sondern leider dazu, dass sie in den meisten Berei- chen ihres Lebens kein sprachliches Gegenüber findet. Die ethnopsychoanalytische Analyse und Deutung des Materials und der Interviewbeziehung verweist auf mögliche gesellschaftliche Praktiken der Abwertung und Ablehnung von Asylsuchenden. Das Bewusstmachen dieser Strukturen sensibilisiert einerseits für gesellschaftliche Ausschlusspraktiken – in diesem Fall wird deutlich, dass Asylsuchende, die der Sprache des Auf- nahmelandes nicht mächtig sind, als zeitraubend und störend empfunden werden und es weniger Bereitschaft gibt, ihnen zuzuhören. Andererseits lie- fert die Analyse deutliche Hinweise auf die Spezifität der Betreuung im EPZ und die Bedeutung von Anerkennungspraxen45 für das (Über-)Leben der Be-

44 Terkessidis 1999 (s. Anm. 28). 45 Vgl. hierzu Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, Frankfurt am Main 1992.

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troffenen: Die Arbeitsweise der EPZ-MitarbeiterInnen unterscheidet sich deutlich von der gängigen Praxis anderer Institutionen des Asylsystems. Sie brachten Zeit und Geduld auf, Frau Tekins Sprache zu erlernen und gemein- sam einen Verständigungsweg zu finden. Damit erkannten sie auch die Spu- ren ihres schwierigen Migrationsprozesses an. Hier zeigt sich ein Betreuungs- anspruch, der trotz aller ökonomischen Missstände versucht, eine Beziehung zu den Betroffenen aufzubauen.46 Frau Tekin hat mir im Interview viel von den Missachtungen, die sie in ihrem Leben von institutioneller Seite erfahren hat, erzählt und deutlich gemacht, wie schwer es ihr fällt, unter den ausgren- zenden und stigmatisierenden Bedingungen zu überleben. Der geduldige und wertschätzende Kontakt zu den BetreuerInnen des EPZ hat sie dabei unterstützt, die Ohnmacht und Verzweiflung, die aus ihrer prekären asyl- rechtlichen Situation resultieren, auszuhalten. So sagte sie mir: »kann nicht leben ohne diese Büro… ich sterben, ich weiß, gestorben«47.

46 Vgl. hierzu ausführlicher: Antje Krueger: Leben in der »organisierten Desintegration«. Ist Anerkennung eine Konstruktion? In: Claudia Czycholl; Inge Marszolek; Peter Pohl: Zwischen Normativität und Normalität. Theorie und Praxis der Anerkennung in interdisziplinärer Perspektive, Essen 2010, S. 155-174. 47 Interview mit Frau Tekin im November 2006.

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RELIGION UND SÄKULARISIERUNG

Polina Serkova

Subjektivierungstechniken in der Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts

Die Problematik der Frühneuzeitforschungen ist eng mit dem verbunden, was verschiedene Forschergenerationen als Entdeckung des Individuums1, Erwachen der Persönlichkeit2, Entstehung der Identität3 oder Self-fashioning4 bezeichneten. Mit Hilfe dieser Bezeichnungen versucht die Geschichtswis- senschaft, eine Gesamtheit von Entwicklungen zu beschreiben, die zu einer Vorstellung über ein gewisses Selbst führen. Dieser Prozess ist von der Ent- stehung der europäischen Kultur der Neuzeit untrennbar. Die Frage nach der Entstehung des modernen Individuums stand seit dem 19. Jahrhundert im Mittelpunkt der Kulturgeschichte der Frühen Neu- zeit. Das Modell der Entdeckung des Individuums wurde seitdem wesentlich korrigiert und kritisiert; die Problematik selbst bleibt bis heute aktuell. Im Mittelpunkt der aktuellen Forschung steht nicht mehr die Frage nach der Entstehung, sondern nach der sozialen Konstruktion der Identität. Der vor- liegende Artikel soll anhand der Analyse von Erbauungsbüchern des deut- schen Protestantismus des 17. Jahrhunderts einen Beitrag zur Diskussion um die Entstehung der neuzeitlichen Subjektivität leisten. Theoretische Grundlagen für die Analyse bilden Konzeptionen der Macht und des Subjekts von Michel Foucault. Unter Macht versteht Foucault nicht die Regierungsmacht als Gesamtheit der Institutionen und Apparate und auch nicht eine Unterwerfungsart oder ein allgemeines Herrschaftssystem, das von einem Element, von einer Gruppe gegen die andere aufrechterhalten wird, sondern zunächst: »die Vielfalt von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren, das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, ver-

1 Vgl. Richard van Dülmen: Die Entdeckung des Individuums. 1500–1800, Frankfurt am Main 1997. 2 Vgl. Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860. 3 Vgl. Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1994. 4 Vgl. Stephen Greenblatt: Renaissance Self-fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1984.

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kehrt […] und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hege- monien verkörpern«5. Somit stellt Macht für Foucault nicht nur ein repressives und unter- drückendes, sondern auch ein strategisch-produktives Prinzip dar. Produktiv ist dieses Prinzip der Macht auch für die Formierung der Sub- jektivität. Schließlich geht es Foucault, wie er in einem seiner späteren Inter- views sagt, nicht um die Macht, sondern um das Subjekt. Er versucht in sei- nen Arbeiten, »eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden«6. Fou- cault relativiert den Begriff »Subjekt«, stattdessen spricht er über die Subjek- tivierung: »Ich werde Subjektivierung einen Prozess nennen, durch den man die Konstitution eines Subjekts, genauer, einer Subjektivität erwirkt, die of- fensichtlich nur eine der gegebenen Möglichkeiten zur Organisation eines Selbstbewusstseins ist.«7 In seinen frühen Arbeiten versucht Foucault zu zeigen, wie das Subjekt sich durch Praktiken der Unterwerfung konstituiert, wie die Techniken der Macht die Formierung des Subjekts fördern. In einer späteren Phase ist in Foucaults Arbeiten allerdings eine »Rückkehr des Subjekts« zu verzeichnen. Seine letzten Arbeiten widmet Foucault dem Thema der Sorge um sich und den Praktiken des Selbst, in denen sich das Subjekt auf aktive Weise konstitu- iert. Foucault geht jedoch davon aus, dass die Praktiken des Selbst nicht von dem Individuum selbst erfunden werden, sondern dass es sich dabei um be- stimmte »Schemata« handelt, »die es in seiner Kultur vorfindet und die ihm vorgegeben, von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner Gruppe aufge- zwungen sind«8. Die Problematik der Macht bleibt somit für Foucault nach wie vor aktuell, aber der Akzent wird mehr auf ihre individualisierenden Strategien gesetzt. Michel Foucault stellt fest, dass der moderne westliche Staat ein altes Machtverfahren geerbt hat, welches er als Pastoralmacht bezeichnet. Diese Form von Macht hat ihren Ursprung in der christlichen Kirche und zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: Der Inhaber der Pastoralmacht präsentiert sich nicht als Herrscher, Fürst oder Richter, sondern vielmehr als Hirte. Diese Form von Macht kümmert sich nicht nur um die Gemeinschaft als Ganzes, sondern um jedes Individuum; sie begleitet es sein ganzes Leben lang. Diese Macht ist bestrebt, das Bewusstsein des Einzelnen zu kennen und zu lenken.9

5 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Frankfurt am Main 1977, Bd. I: Der Wille zum Wissen, S. 113 f. 6 Ders.: Warum ich die Macht untersuche. Die Frage des Subjekts. In: Ders.: Botschaften der Macht. Der Fou- cault-Reader. Diskurs und Medien, Stuttgart 1999, S. 161-171, hier: S. 161. 7 Ders.: Die Rückkehr der Moral. In: Ders.: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 239-252, hier: S. 251. 8 Ders.: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit. In: Ebd., S. 253-279, hier: S. 266.

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Seit dem 18. Jahrhundert hat sich diese Form von Macht, laut Foucault, von der Institution der Kirche auf die politische Institution Staat übertragen. Dabei haben sich ihre Zielsetzungen verwandelt: Sie strebt nicht mehr an, das Heil des Einzelnen im Jenseits zu sichern, sondern kümmert sich um das Wohl des Individuums im Diesseits. Da Michel Foucault die Übertragung des Pastoralprinzips von der Kirche auf die weltliche Macht im 18. Jahrhun- dert vollendet sieht, können wir davon ausgehen, dass Pastoralmacht im 17. Jahrhundert von Kirche und Staat in enger Zusammenarbeit ausgeübt wurde. Deswegen kann man das 17. Jahrhundert als die Zeit der Pastoral- macht par excellence betrachten. Ich möchte in dem vorliegenden Artikel zei- gen, wie das Prinzip der Pastoralmacht in der Erbauungsliteratur funktio- niert und die Konstitution der Subjektivität beeinflusst.

Begriff und Funktionen der Erbauungsliteratur

Die große Formenvielfalt der Erbauungsliteratur macht eine allgemein gül- tige Definition des Phänomens problematisch. In gewisser Weise ließe sich die Erbauungsliteratur zwischen Theologie und Frömmigkeit, also zwischen Wissenschaft des Glaubens und Praxis des Glaubens ansiedeln, wobei sie diese beiden Bereiche miteinander verbindet. Rudolf Mohr formuliert dies so: »Erbauungsliteratur [...] enthält einerseits von der Theologie ausgehende frömmigkeitserzeugende Impulse, andererseits theologiekritische Momente und ein affektives und emotionales Gegengewicht zu ihr.«10 Die Erbauungs- literatur ist also religiöse Literatur, aber keine gelehrte Literatur. Sie umfasst keine Dogmatiken, Polemiken oder Ähnliches, sondern Gebet- und Gesang- bücher, Predigtensammlungen, Trostbücher und vergleichbare Werke. Das 17. Jahrhundert kann man als klassische Epoche der Erbauungslitera- tur betrachten. Damals war die Nachfrage nach Erbauungsbüchern so groß, dass man von Massenproduktion sprechen kann. Im 17. Jahrhundert machte die Erbauungsliteratur die Hälfte aller Bücher mit religiösem Inhalt und ein Viertel der gesamten Buchproduktion aus.11 Der Erfolg der Erbauungslitera- tur in dieser Epoche lässt sich zum Teil mit der apokalyptischen Grundein- stellung erklären. Das 17. Jahrhundert wird in der Geschichtsschreibung das Zeitalter der Krise genannt. Es wird durch das allgemeine Gefühl der Unsi- cherheit und der Instabilität des Lebens charakterisiert.12 Der Tod durch

9 Vgl. ders.: Subjekt und Macht. In: Ebd., S. 81-104, hier: S. 88 f. 10 Rudolf Mohr: Erbauungsliteratur II. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 10, Berlin, New York 1982, S. 43- 50, hier: S. 43. 11 Vgl. Hartmut Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus, Stuttgart 1980, S. 116. 12 Vgl. Sabine Holtz: Die Unsicherheit des Lebens. Zum Verständnis von Krankheit und Tod in den Predigten der lutherischen Orthodoxie. In: Hartmut Lehmann; Anne-Charlott Trepp (Hrsg.): Im Zeichen der Krise. Re- ligiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999, S. 135-157.

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Krieg, Naturkatastrophen und Krankheiten war allgegenwärtig. Für viele Menschen waren die Bücher das einzige therapeutische Mittel, das ihnen bei der Überwindung ihrer Angst und der Unsicherheit ihres Lebens half.13 Eine weitere, nicht weniger wichtige Ursache für die Entstehung und Ver- breitung der protestantischen Erbauungsliteratur im 17. Jahrhundert war die Krise des Protestantismus selbst. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wurde der Protestantismus endgültig zur »rechten Lehre«, zur Orthodoxie: Die Grundlagen der Lehre wurden zusammengefasst, Dogmatiken geschrieben und Institutionen der lutherischen Konfession entstanden. Aber neben die- ser scheinbaren Stabilisierung wurden gleichzeitig Tendenzen sichtbar, die es erlauben, über eine Krise zu sprechen: die Frömmigkeitskrise.14 Diese hing wesentlich mit dem Umstand zusammen, dass die Theologie, die sich in je- ner Zeit hauptsächlich auf die Dogmatik und die Polemik konzentrierte, die christliche Lebensweise, die Frömmigkeit, vernachlässigt hatte. Innerhalb der Orthodoxie wurde die Notwendigkeit der Reform mehr und mehr bewusst. Der kirchlichen Reformation sollte eine Reformation des Lebens folgen. Die Notwendigkeit der Reformierung von Lehre und Leben im 17. Jahrhundert verursachte eine anthropologische Wende in der protestan- tischen Theologie. Unter Reformation des Lebens wurde zum großen Teil die Veränderung der Lebensweise des Individuums verstanden, die Förderung seiner Frömmigkeit von außen und von innen.15 Die Frömmigkeit hat sich teilweise von der Institution der Kirche emanzipiert und wurde auf andere Institutionen, wie das Haus oder die Schule, verteilt. Sie wurde somit Teil des Alltags. Sie forderte und förderte ein neues Menschenbild, eine Gestalt des frommen Individuums, des wahren Christen. Eine wichtige Rolle bei der Konstitution dieses Individuums spielten die Erbauungsbücher. Deren Ver- fasser waren zum größten Teil dieselben Theologen, die die Reformen propa- gierten. Die Erbauungsliteratur sollte ein wichtiges Instrument der »Refor- mation des Lebens« mit Hilfe der »Erneuerung des Menschen« werden.16 Verschiedene Buchtitel zeigen uns, was das Wort »Erbauung« für diese Epoche bedeutete. Arndts Wahres Christentum zielt auf »Seelen-Heil und See- ligkeit« der Christ_innen und soll »ihrer Andacht« dienen.17 Sein Gebetbuch

13 Vgl. Lehmann 1980 (s. Anm. 11), S. 114 f. 14 Vgl. Winfried Zeller (Hrsg.): Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts, Bremen 1962 (= Klassiker des Pro- testantismus, Bd. 5); ders.: Die »Alternde Welt« und die »Morgenröte im Aufgang«. Zum Begriff der »Fröm- migkeitskrise« in der Kirchengeschichte. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, hrsg. von Bernd Jaspert, Marburg 1978, S. 1-13. 15 Vgl. Hans Leube: Die Reformideen in der lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924; Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1995. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Johann Arndt: Johann Arndts, General-Superintend. des Fürstenthums Lüneburg, Fünff geistreiche Bücher vom Wahren Christenthum heilsamer Busse, herztlicher Reue und Leid über die Sünde, und wahrem Glauben, auch heiligen Leben und Wandel der rechten wahren Christen, auch wie ein wahrer Christ Sünde, Tod, Teufel, Hölle, Welt, Creutz und alle Trübsal durch den Glauben, Gebet, Geduld, Gottes Wort und himm- lischen Trost überwinden soll: und dasselbe alles in Christo Jesu: Allen Christen zu ihrer SeelenHeil und Se-

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Paradiesgärtlein übernimmt das mittelalterliche Bild von der Seele als Garten. Dementsprechend soll das Buch dazu dienen, die christlichen Tugenden in die Seele »zu pflanzen«, aber auch zur »Erneuerung« und »Erweckung«, zur »Danksagung« und zum »Trost« sowie, schließlich, zu »Heiligung, Lob und Preiß des Namen Gottes« beitragen.18 Johann Gerhards Postilla hat die Aufga- ben der »Fortpflanzung des wahren Glaubens, Übung der reinen Liebe, Be- kräftigung der lebendigen Hoffnung«. Ihr Ziel ist die »Erneuerung des in- wendigen Menschen, Erweckung wahrer Gottseligkeit und eines heiligen Christlichen Lebens«.19 Scrivers Gottholds zufällige Andachten sind ebenfalls auf »Übung der Gottseligkeit« gerichtet, »Ehre Gottes« und »Besserung des Gemüts« sind ihre angestrebten Ziele.20 Unter Berücksichtigung der individuellen Unterschiede sehen wir fast überall die gleichen Stichwörter: Seele, Andacht, Übung, Gottseligkeit, Er- neuerung, Erweckung, Trost, Stärkung, Besserung, Aufmunterung. Diese Konnotationen vereinigt der Begriff Erbauung. Sie stimmen mit den Zielen der reformwilligen protestantischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts über- ein: Individualisierung und Verinnerlichung des Glaubens sowie Förderung einer christlichen Lebensweise. Anders gesagt, diese Bücher sollen den Men- schen zur Andacht veranlassen und konkrete Anweisungen zum frommen Leben geben. Trotz der großen Zahl von Erbauungsbüchern und deren Verfassern wer- den in der Forschung einige von ihnen als »klassische Werke« und »klassische Autoren«21 der Erbauungsliteratur eingestuft. Darunter fallen jene Bücher, die am häufigsten in den Inventurlisten vorkommen, in den Leichenpredig- ten erwähnt werden, auf eine große Resonanz bei Zeitgenossen stoßen sowie eine nachweisbare Wirkungsgeschichte in der protestantischen Frömmigkeit des 17. und 18. Jahrhunderts haben. Wie Untersuchungen der Bestände von Privatbibliotheken zeigen, weist die Auswahl der Titel und Autoren trotz regionaler und sozialer Unterschiede eine erstaunliche Übereinstimmung

ligkeit insonderheit Lehrern und Predigern wie auch allen Christlichen Haus-Vätern zu ihrer Andacht Nütz- lich und hochnöthig zu lehren und zu gebrauchen [...], Frankfurt am Main, Leipzig 1686. 18 Vgl. Johann Arndt: Paradiß Gärtlein voller Christlicher Tugenden, wie dieselbige in die Seele zu pflantzen durch andächtige, lehrhafte und tröstliche Gebet zu Erneuerung des Bildes Gottes, zur Ubung deß wahren lebendigen Christenthumbs [...] zu Erweckung deß neuen Geistlichen Lebens, zur Danksagung für allerley Wohlthaten Gottes, zum Troßt in Creutz und Trübsal, zur Heiligung, Lob und Preiß des Namen Gottes [...], Soest 1625. 19 Vgl. Johann Gerhard: Postilla: das ist Außlegung und Erklärung der Evangelischen Texte, so durch gantze Jahr an den Sontagen und vornehmen Festen, auch der Aposteltage gepredigt werden: mit sonderm Fleiß zu Fortpflanzung des wahren Glaubens, Ubung der reinen Liebe, Bekrefftigung der lebendigen Hoffnung, Er- neuerung des inwendigen Menschens, Erweckung wahrer Gottseligkeit und eines heiligen Christlichen Le- bens, Jena 1616. 20 Vgl. Christian Scriver: Gottholds Zufälliger Andachten vier Hundert: bey Betrachtung manchereley Dinge der Kunst und Natur, in unterschiedenen Veranlassungen zur Ehre Gottes, Besserung des Gemüths, und Ubung der Gottseligkeit geschöpffet, Leipzig, Magdeburg 1679. 21 Rudolf Mohr: Erbauungsliteratur III, 3. Klassiker der lutherischen Erbauungsliteratur. In: Theologische Real- enzyklopädie 1982 (s. Anm. 10), S. 57-62.

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auf. Am meisten kommen Bücher von Johann Arndt, Heinrich Müller, Johann Gerhard, Benjamin Schmolck, Christian Scriver, Johann Habermann, Johann Friedrich Starck und Walentin Wudrian vor.22 Auch wenn jeder dieser Autoren natürlich seine Besonderheiten, seine Lieblingsthemen und seinen persönlichen Stil hat, so stehen diese individuellen Unterschiede für die vor- liegende Untersuchung nicht im Fokus des Interesses. Wichtiger sind die Ge- meinsamkeiten, denn Erbauungsbücher sollen hier nicht als Einzeltexte, son- dern als diskursive Formation betrachtet werden, d. h. als eine Gesamtheit der Aussagen, die bestimmte Normen vermitteln, bestimmte Rahmen geben, innerhalb derer ein Subjekt sich konstituieren kann. Diese Subjektivierung vollzieht sich in der Erbauungsliteratur einerseits durch die Sprache, die auf intensive Lektüre und emotionale Überzeugung der Leser_innen zielt, andererseits durch bestimmte inhaltliche Schwer- punkte, die den Leser_innen verschiedene Modelle für die Identifizierung anbieten.

Sprachliche Techniken der Subjektivierung in der Erbauungsliteratur

Die Lektüre dieser Bücher ist als eine Übung in Frömmigkeit anzusehen. Dementsprechend verweist der Begriff »Erbauungsliteratur«, den die vorlie- gende Arbeit verwendet, nicht auf literaturwissenschaftliche Gattungsmerk- male, sondern vielmehr auf einen bestimmten mystischen Lesetypus.23 Die Frühe Neuzeit ist eine besondere Periode in der Buchkultur. Als eine Art Übergangsperiode wird sie dadurch charakterisiert, dass das Buch, mit Bezug auf die Begriffe Walter Benjamins, obwohl es schon technisch repro- duzierbar geworden ist, seine sakrale »Aura« noch nicht verloren hat.24 Ge- nau diese Kombination ist eine Voraussetzung dafür, dass das Buch zu ei- nem unheimlich wirksamen Instrument der individualisierenden Macht in der Frühen Neuzeit geworden ist. Rolf Engelsing hat in seinem Werk Der Bürger als Leser die für die Erfor- schung der Geschichte des Lesens der Neuzeit wichtige Dichotomie zwi-

22 Vgl. Etienne François: Das religiöse Buch als Nothelfer, Familienreliquie und Identitätssymbol im protestan- tischen Deutschland der Frühneuzeit (17.–19. Jahrhundert). In: Ursula Brunold-Bigler; Hermann Bausinger (Hrsg.): Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur, Bern 1995, S. 219-230, hier: S. 219 f.; Hans Medick: Weben und Überleben in Laichingen. 1650–1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996; Patrice Veit: Die Hausandacht im deutschen Luthertum. Anweisun- gen und Praktiken. In: Ferdinand van Ingen; Cornelia Niekus Moore (Hrsg.): Gebetsliteratur der Frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktionen und Formen in Deutschland und den Niederlanden, Wiesbaden 2001, S. 193-206, hier: S. 194. 23 Zum »mystischen« Lesen vgl. Michel de Certeau: La fable mystique. XVIe-XVIIe siècle, Paris 1982. 24 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Berlin 2010; vgl. auch bei Ernst Robert Curtius mit Verweis auf Goethe: In den Zeiten von Shakespeare »erschien ein Buch noch als ein Heiliges« – Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, Mün- chen 1978, S. 307.

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schen dem »intensiven Lesen«, das im Mittelalter vorherrschte, und dem diesen Lesetypus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ablösenden »ex- tensiven Lesen« als neuzeitlicher Form des Lesens formuliert. Das »intensive Lesen« konzentriert sich, laut Engelsing, auf wenige Bücher, die wiederholt gelesen werden. Der Leser »las […] seine Bücher nicht durch, sondern er lebte sie durch und suchte sich immer wieder dasselbe zu vergegenwärti- gen«25. Das »extensive Lesen« besteht im schnellen, einmaligen Lesen vieler Bücher. Linguistische und philologische Textanalysen26 zeigen, dass die Verfasser ihre Erbauungsbücher daraufhin ausrichteten, die Leser_innen sich in den Text vertiefen zu lassen und ihnen so zu ermöglichen, den Text innerlich, persönlich wahrzunehmen, den Inhalt des Buches also nicht kritisch, son- dern emotional anzunehmen. Durch solche Verinnerlichung mussten die Le- ser_innen die Gedanken des Buches als eigene, aus dem Grund des Herzens ausgehende Gedanken, betrachten. Gleichzeitig wurde die Vorstellung von diesem Herzensgrund von den Texten selbst gestaltet und so ein Beitrag zur Subjektivierung und Individualisierung geleistet. Die Techniken, die dabei eingesetzt wurden, kann man insgesamt als Meditation bezeichnen, die auf Individualisierung und Emotionalisierung der zentralen Thesen der christli- chen Lehre zielt. Das wichtigste, das intensive Lesen und die Meditation fördernde herme- neutische Verfahren in der Erbauungsliteratur ist die Anwendung (applicatio). Es besteht darin, dass der Inhalt der Bibel, der heiligen Geschichte und der christlichen Lehre für den konkreten Leser/die konkrete Leserin in sei- nem/ihrem konkreten Leben als sinnvoll und bedeutsam interpretiert wird. Diese Interpretation bringt das Buch näher zu dem Rezipienten/der Rezipi- entin, hebt die Distanz zwischen dem Text und dem Leser/der Leserin, zwi- schen der Lehre und den Menschen auf und fördert als Ergebnis ihre/seine Identifizierung mit dem Inhalt des Textes im Verlauf der Lektüre. Eine weitere wichtige Technik, die die Identifizierung der Leser_innen mit dem Text ermöglicht, stellt die Rhetorik dar. In der Erbauungsliteratur finden wir verschiedene für die barocke Stilistik typische Merkmale: bildliche Ver- gleiche, Metaphern, Emblematik, rhetorische Fragen, Dichotomien, Antithe- sen, Paradoxa. Aber rhetorische Mittel in der Erbauungsliteratur sind nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern als Mittel zum Zweck dem allgemei- nen Ziel der Erbauung unterworfen. Die Pronomina, die in der Erbauungs- literatur verwendet werden, müssen der Identifizierung dienen, indem sie die Vertiefung der Leser_innen in den Text durch die Anwendung (applicatio) fördern.

25 Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500–1800, Stuttgart 1974, S. 183. 26 Vgl. Oliver Pfefferkorn: Übung der Gottseligkeit. Die Textsorten Predigt, Andacht und Gebet im deutschen Protestantismus des späten 16. und 17. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2005.

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Das wichtigste Pronomen in der Erbauungsliteratur ist das Pronomen »ich«. Ein Zitat von Heinrich Müller, in dem ein Übergang vom belehrenden »Du« zur Ich-Form gemacht wird, soll das veranschaulichen: »Auß diesem allem erkennest du, meine Seele, wie gering aller Feinde Macht für Gott ist [...]. Verfolgen sie deine Seele und wollen deinen Geist verzagt machen? Höre, wie dir Gott selbst im Herz einspricht bey dem Propheten: Fürchte dich nicht, du Würmlein Jacob, dann, ich bin bei dir. Bin ich in den Augen meiner Feinde ein Würmlein das leicht zertretten ist, will ich mich doch nicht fürchten. Weil Gott bey mir ist, wird mich der Feind mit aller seiner Macht nicht zertretten.«27 Und, an einer anderen Stelle: »Nun, liebster Vater, weil du mein Tröster bist, will ich für Menschen nicht erschrekken. Hast du den grossen Himmel über uns zur Decke ausgebreitet, so wirst du auch mich armes Würmlein wol schützen«.28 Die Verwendung dieses Pronomens verweist dabei nicht auf den Autor, sondern dieses »Ich« gehört dem Leser/der Leserin. Dieses appli- kative Ich hat die hermeneutische Funktion der Anwendung, indem es die Aussagen in dem Text als eigene Gedanken des Lesers bzw. der Leserin mar- kiert.29 Dem Ziel der Meditation dienen auch strukturelle und inhaltliche Wieder- holungen, wie wir in den obengenannten Zitaten aus Müllers Creuz- Buß- und Bet-Schule sehen konnten. Die Texte übertragen keine neuen Informatio- nen, sondern wiederholen schon bekannte. Sie vergegenwärtigen immer wieder dieselben loci (theologische Gemeinplätze), damit der Leser/die Le- serin sie sich einprägen und sich damit identifizieren kann.

Inhaltliche Identifikationsmodelle in der Erbauungsliteratur

In den Texten kann man ein bestimmtes Menschenbild erkennen, das in der Erbauungsliteratur konstruiert und dem Leser/der Leserin für seine/ihre Identifikation angeboten wird. Die Ausgangsthese für die Analyse der inhalt- lichen Identifikationsmodelle in der Erbauungsliteratur ist die dialektische Bedeutung des Wortes »Subjekt«: »vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein«30. Demensprechend ist die Analyse bestrebt, die verschiedenen Möglichkeiten aufzuzeigen, die die Erbauungs-

27 Heinrich Müller: Creuz- Buß- und Bet-Schule, vorgestellet von David im CXLIII. Psalm und der Gemeine Christi zu S. Marien in Rostock in zweyjährigen Bet-Stunden geöffnet [...], Frankfurt, Leipzig 1687, S. 219. 28 Ebd., S. 208 f. 29 Zur »applicatio« als wichtigem hermeneutischen Prinzip vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Me- thode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960; zur Rolle der »applicatio« bei der Identifizierung des Lesers mit dem Text vgl. Christian Moser: Buchgestützte Subjektivität. Literarische For- men der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne, Tübingen 2006. 30 Foucault 1999 (s. Anm. 6), S. 166.

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literatur für die Konstituierung des Subjekts anbietet. Diese Möglichkeiten, oder die möglichen Subjektmodelle, sind in zwei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe zeigt die Formen, in denen ein Subjekt als Unterworfene_r kon- struiert wird. Ein Subjekt wird von der Erbauungsliteratur als Sünder_in, Patient_in, Schüler_in formiert, der/die einer Führung, einer Unterstützung, einer Disziplinierung bedarf. Die zweite Gruppe zeigt dagegen die Rahmen, in denen ein Subjekt sein eigenes Ich, sein Selbst konstruieren kann – die Techniken des Selbst. Es ist eine gewisse Vereinfachung, denn beide Techniken existieren nicht getrennt voneinander. Sie sind zwei Seiten ein und desselben Prozesses.

Kontrolle und Abhängigkeit – ein Subjekt als Unterworfene_r

Das Menschenbild, das in der Erbauungsliteratur immer wieder vorkommt, regelmäßig wiederholt wird, ist die Vorstellung vom Menschen als verdorbe- nem, schwachem, sündhaftem Wesen, das sich selbst nicht helfen kann, sich in Not befindet und auf Hilfe angewiesen ist. Erbauungsliteratur formiert dieses unmündige, unselbständige, hilflose Subjekt und bietet sich gleichzei- tig als Ratgeber, Führer, Freund an. »Wie ein Wandersmann, so lange er auff einem breiten geraden Wege wandelt, getrost und sicher fortgehet und an keinen Führer gedencket. Wann er aber durch Ab- und Nebenwege, in dicke wüste Wälder und Wildnüssen und also in augenscheinliche Gefahr seines Lebens kommen, anhebet seine Sicherheit zu beklagen und ängstiglich nach einem Wegweiser zu seufzen und zu verlangen, also ist es auch bewandt mit einem Creuzträger.«31 – schreibt Heinrich Müller in der Dedicatio zu seinem Buch Creuz- Buß- und Bet- Schule. Der Mensch wird hier als Wanderer in Dunkelheit und Nebel darge- stellt, der einen Wegweiser sucht. Auf sich alleine gestellt, ist der Mensch auf seinem in der Regel schwierigen Lebensweg unsicher und zum selbständi- gen Handeln unfähig. Er braucht jemanden oder etwas, der oder das ihm den Weg zeigt. In einem weiteren Buch von Müller finden wir eine ganze Reihe der Meta- phern und Vergleiche, mit deren Hilfe er diesen Zustand des Menschen als »geführten«, »getriebenen«, von einer äußeren Kraft »gezogenen« beschreibt: »Er [Christus] wird euch in alle Wahrheit führen, wie einer einem Blinden nicht allein den Weg zeiget, sondern auch bey der Hand hinauf führet. As- saph nennets Leiten: du leitest mich mit deinem Rath, wie eine Mutter ihr Kind bei den Armen leitet. Paulus nennets Treiben: die der Geist Gottes trei- bet, die sind Gottes Kinder, wie der Wind ein Wasser oder eine Flamme

31 Müller 1687 (s. Anm. 27), S. 2.

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kräfftig forttreibet. Die Braut im Liede Salomonis nennets Ziehen: Zeuch mich dir nach, so lauffen wir; wie man ein Hündlein an der Ketten nach sich zeucht«32. Diese führende, leitende Kraft sei demnach Gott. Er lasse den Menschen »nicht allein [...] sinnen, rinnen, tichten, trachten, rathen, sorgen, sondern als dein Ober-Vormund, der dein Herz mit allen seinen Kräfften in seiner Hand hat, nach seinem Willen alles richte zu deinem Heyl. Gleich wie man ein klei- nes Kind nicht gern allein gehen läst, sondern leitet es bey der Hand, so thut dir Gott auch«.33 Die Pastoralmacht, die die innigsten Gedanken eines Menschen zu ken- nen sucht, kommt hier ganz deutlich ans Licht. Das stimmt überein mit der christlichen Metapher vom Menschen als Kind und von Gott als Vater, die häufig in der Erbauungsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts vorkommt. Die Metapher wird im Pastoraldiskurs weiterentwickelt und zeigt einige De- tails. So führen viele Bücher das Stichwort »Schule« im Titel, zum Beispiel, die Geistreiche Passions-Schule von Johann Michael Dilherr oder oben zitierte Creuz- Buß- und Bet-Schule von Heinrich Müller. Der Mensch ist also unmündig, er braucht eine Erziehung, eine Unterwei- sung, manchmal sogar Zucht und Strafe. Aber ein Mensch wird nicht nur von Gott wie von einem strengen Vater bestraft und erzogen, sondern auch wie von einer Mutter geliebt: »Gleich ist die Seele einem krancken Kinde, dem man bald hieher, bald dorthin sein Bette machet, aber man bette es wo man wil, so hats doch die allerbeste Ruhe in dem Schooß und bei den Brü- sten seiner Mutter«34. Das nächste Bild, das wir ebenfalls in diesem Abschnitt finden, ist das ei- nes Menschen als Patient_in. Der Mensch wird in den Texten oft als leiden- des, krankes Wesen dargestellt, das einer medizinischen Behandlung bedarf. Es wurde bereits erwähnt, dass die Erbauungsliteratur im Zeitalter der Krise eine wichtige Trostfunktion übernimmt. Die Verfasser der Erbauungstexte sind sich dieser therapeutischen Funktion bewusst. So vergleicht Johann Gerhard in seinen Meditationes sacrae Theologie mit Medizin. Beide sind für ihn die praktischen Wissenschaften, die einen Menschen aus seinen körperli- chen und seelischen Leiden befreien wollen. »Hüte dich aber vielmehr treu- lich für dem schweren Fall der Sünden; bistu aber je gefallen, so lauffe bey- zeiten zu dem himlischen Seelenartzt Jesu Christo«35 – schreibt Johann Michael Dilherr.

32 Heinrich Müller: Göttliche Liebes-Flamme, oder Auffmunterung zur Liebe Gottes durch Vorstellung dessen unendlichen Liebe gegen uns. Mit vielen schönen Sinnenbildern gezieret und drey nötigen Registern verse- hen. [...], Frankfurt am Main 1676, S. 337 f. 33 Ebd., S. 50 f. 34 Ebd., S. 358. 35 Vgl. Johann Gerhard: Meditationes sacrae (1606–1607), lateinisch-deutsch, hrsg. von Johann Anselm Steiger, Bd. 2, Stuttgart-Bad Cannstadt 2000, S. 351 f.

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Der Grund für die Hilflosigkeit des Menschen wäre also sein Sündenfall. Aber es gäbe eine Lösung. Nach Johann Arndt »ist uns der Sohn Gottes nicht allein als der Schatz unserer Erlösung vorgestellet, sondern als unser Doctor, Magister, Prophet, Hirte, Lehrer, Licht«36. Der Mensch muss in seinem alltäg- lichen Leben und in seinen Gedanken demnach Jesus Christus folgen. Die Erbauungsliteratur soll ihn auf diesem Weg begleiten und ihm diesen Weg zeigen.

Die Techniken des Selbst: interiorisierende Strategien in der Erbauungsliteratur

Die Erbauungsliteratur bietet auch Rahmen für die Selbstvertiefung, für die Konstituierung des eigenen »Ich« als etwas Innerliches, Ganzes, als etwas Wertvolles und Einzigartiges. Diese interiorisierenden Strategien schaffen die Vorstellung von »Herzensgrund«, »Seelentiefe«, von einem inneren Kern, in dem das Wesen eines Individuums bestehen sollte. So schreibt Arndt im dritten Teil des Buches Vom wahren Christentum, dass: »unser höch- ster und bester Schatz, das Reich Gottes, nicht ein auswendiges, sondern ein inwendiges Gut ist, welches wir stets bey uns tragen, verborgen vor aller Welt [...]; dazu wir auch keiner großen Kunst, Sprachen oder vieler Bücher bedürfen, sondern ein gelassen, Gott ergeben Herz [...]. Was suchen wir aus- wendig in der Welt, dieweil wir inwendig in uns alles haben, und das ganze Reich Gottes mit allen seinen Gütern? In unserm Herzen und Seele ist die rechte Schule des Heiligen Geistes, die rechte Werkstatt der Heiligen Drey- einigkeit, der rechte Tempel Gottes, das rechte Bet-Haus im Geist und in der Wahrheit.«37 Ein_e Christ_in soll, laut Arndt, wenigstens ein Mal am Tag »ein Stättlein suchen, oder eine Zeit erwählen, einzukehren in den Grund deines Her- zens39. Das Ziel dieser Übung ist, die Seele auf die Ewigkeit zu konzentrie- ren, Distanz zur Welt zu gewinnen und das eigene »Ich« von dieser Welt zu trennen. Die Identitätsbildung des »wahren Christen« in Opposition zur »Welt«, zum »Äußerem« war die wichtigste interiorisierende Strategie in der Erbauungsliteratur.

36 Johann Michael Dilherr: Herrn Johann Michael Dilherrns Betrachtung des heilsamen Leides Jesu Christi des Sohns Gottes. Nebst dessen Anmerckungen über diese Betrachtung. In: Ders.: Geistreiche Passions-Schule [...] Anietzo mit grossen Fleiss zusammen getragen [...] zum ersten Mahl in Druck gegeben, Frankfurt am Main 1688, S. 92. 37 Johann Arndt: Johann Arnds weiland General-Superintendenten des Fürstenthums Lüneburg vier Bücher vom Wahren Christenthum, das ist von heilsamer Busse, herzlicher Reue und Leid über die Sünde und wah- ren Glauben, auch heiligem Leben und Wandel der rechten wahren Christen; nebst desselben Paradies-Gärt- lein. Unveränderter Abdruck, Berlin 1860, S. 208. 38 Ebd., S. 379. 39 Ebd., S. 387.

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Heinrich Müller schreibt in seinem Buch Göttliche Liebesflamme: »Du schwimmest in dem ungestümmen Welt-Meer, darumb must du dein Her- tzens-Kästlein, wie Noah seine Arca, inwendig und außwendig wol verpichen, sonst möchte das Honig-süsse Welt-Wasser hinein dringen, und das Hertz Schiffbruch leiden.«40 Hier verwendet Müller eine alttestamentarische Meta- pher, um zu veranschaulichen, wie man das Herz vor der Welt schützen soll. Mit dem Herz oder mit der Seele wird in der Erbauungsliteratur oft das »Ich« des Menschen identifiziert. Die Verfasser der Erbauungsbücher wen- den sich in den Vorreden oft an die Seele oder an das Herz des Lesers bzw. der Leserin. Im 17. Jahrhundert, besonders an seinem Ende, bekommt »das Herz« die Wichtigkeit eines zentralen theologischen Konzepts. Das merkt man in Müllers Göttlicher Liebesflamme. Das Buch ist voller Herzmetaphern, wie »Tempel des Herzens«, »Türe des Herzens« oder »Musik des Herzens«, die zusätzlich in emblematischen Kupferstichen visualisiert werden. Meh- rere Emblemata, die ein brennendes Herz darstellen, kommen in dem Buch vor. Sie zeugen davon, dass Müller an den Menschen vor allem als an ein emotionales Wesen appelliert. Genau im Herz beginnt, laut Müller, die Ent- stehung eines »wahren Christen«: »Wann der inwendige Mensch recht ge- ordnet ist, so ordnet sich der außwendige Mensch fein von ihm selbst in Worten und Wercken. Wes das Hertze voll ist, des gehet der Mund über (Math. 12 v. 34). Aus einem geneigten Hertzen gehen holdselige freundliche Worte und Sitten« 41. Zudem vergleicht Müller das Herz mit einem Buch, das dem Menschen ein moralisches Gesetz vorgibt: »Da trägstu ein lebendiges Buch in dem Grunde deines Hertzens, das würde dir alles reichlich gnug sa- gen, was du dem Nächsten thun solltest, und würdest keiner andern Bücher und Lehrer bedürffen«42. Hier lassen sich sogar die Anfänge der Emanzipa- tion eines Individuums von äußerem Wissen beobachten, die erst in späteren Epochen deutlich wird.

Fazit

In den Erbauungsbüchern kann man einen dialektischen Prozess der Subjek- tivierung verfolgen. Sie versuchen, die Menschen dazu zu bringen, sich als Sünder_innen, als Kinder und als Patient_innen, aber auch als einzelne Per- sönlichkeiten mit einer tiefen inneren Welt zu konstituieren. Dieser dialekti- sche Prozess, dessen Umrisse hier dargestellt wurden, war kennzeichnend für die Frühe Neuzeit insgesamt und hatte eine große Bedeutung für die Herausbildung der neuzeitlichen Identität.

40 Müller 1676 (s. Anm. 32), S. 304. 41 Ebd., S. 1203. 42 Ebd., S. 1145.

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Marziyeh Bakhshizadeh

Frauenrechte und drei Lesarten des Islam im Iran seit der Revolution 1979

Über das Verhältnis zwischen Islamischen Richtlinien und der Gleichberech- tigung von Frauen wird heutzutage viel diskutiert. Zahlreiche Bücher und Artikel wurden und werden zu dem Thema veröffentlicht. Die Frage, ob die Gleichberechtigung der Frauen als ein sehr wichtiger Teil der Menschen- rechte mit den islamischen Richtlinien vereinbar ist, ist nach wie vor aktuell. Dies gab mir auch die Motivation, meine Doktorarbeit über diese Frage- stellung zu schreiben. Ich habe den Iran als mein Forschungsfeld ausge- wählt, weil das Land seit der Revolution von 1979 durch die Gesetze des Islam geprägt ist und angeblich nach islamischen Gesetzen und Vorschriften re- giert wird. Der Iran bietet also einen Zugang, um in der Praxis die Stellung von Frauen in einem vom Islam geprägten Land zu untersuchen. Um die Auffassung der beherrschenden Lesart des Islam im Iran in Bezug auf die Gleichberechtigung der Frauen nachzuvollziehen, lässt sich die De- batte über die Ratifizierung der CEDAW (Konvention zur Abschaffung jeder Form von Diskriminierung der Frau) heranziehen. Im Jahr 2002 gab die da- malige Regierung unter Präsident Khatami bekannt, dass sie die CEDAW- Konvention grundsätzlich akzeptieren würde, wenn sichergestellt sei, dass ihre Bestimmungen nicht im Widerspruch zu islamischem Recht stünden. Die Konvention wurde daraufhin als Gesetzesvorlage im Parlament zur Dis- kussion gestellt. Schließlich wurde sie allerdings – eben wegen des Wider- spruchs zu den islamischen Gesetzen – durch den Wächterrat abgelehnt. Der Wächterrat hat die Aufgabe, alle vom Parlament vorgelegten Beschlüsse auf ihre Übereinstimmung mit den Prinzipien des Islam und der Verfassung der Islamischen Republik Iran hin zu überprüfen.1 Als Begründung für die Ablehnung der Konvention erklärte der Vorsit- zende des Wächterrats: »Die vollkommene Gleichberechtigung von Frau und Mann gleicht dem Trampeln auf den wichtigsten islamischen Bestim- mungen und bedeutet letztendlich den Verzicht auf die essentiellen Bestim- mungen des Korans.«2

1 Verfassung der Islamischen Republik Iran, Artikel 94. http://www.islam.de (http://tinyurl.com/64oa5ae; 18.02.2011). 2 Brief Nr. 303972-82 am 18.08.2003. http://www.rangaranggroup.com (http://tinyurl.com/3vunmq7; 25.05.2010); eigene Übersetzung.

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Ein Vergleich zwischen den Paragrafen der CEDAW-Konvention und de- nen der Zivilrechte im Iran verdeutlicht, dass die Frauenrechte in den Zivil- rechten mit den Paragrafen der Konvention unvereinbar sind.3 Allerdings lässt dies die Frage unbeantwortet, ob es tatsächlich die islamischen Richtli- nien sind, welche die Diskriminierung der Frauen und die Ungleichheit zwi- schen Frauen- und Männerrechten legitimieren.

Die Muslime und die neue Welt

Der Islam hat viele Richtlinien für jede Dimension des Lebens und zur Erlö- sung und Seligkeit der Menschen im Diesseits und Jenseits. Diese Richtlinien heißen Fiqh, gleichbedeutend mit der islamischen Rechtswissenschaft.4 Ein Blick auf die historische Bedeutung der islamischen Rechtswissen- schaft (Fiqh) macht deutlich, dass diese immer wieder die Hauptrolle in der Differenzierung der verschiedenen geistigen Strömungen in der islamischen Welt gespielt hat. Bevor die Muslime Bekanntschaft mit der westlichen Kul- tur und dem modernen Lebensstil gemacht hatten, war ihr Leben geprägt vom traditionellen Brauchtum. Hier kam der islamischen Rechtswissen- schaft (Fiqh) eine sehr wichtige Rolle zu. Sie hatte einerseits eine spirituelle und immaterielle Aufgabe, die Seligkeit der Menschen im Jenseits zu ge- währleisten, und andererseits war sie Grundlage aller Gesetze und somit Ga- rant der sozialen Ordnung.5 In einer Gesellschaft, in der es keine vielschichtigen kulturellen, politi- schen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen gab, waren das religiöse und das gesellschaftliche Leben eine Einheit. Fiqh war für alle Lebensaspekte maßgebend und ausreichend.6 Durch den Kontakt und die Auseinanderset- zung der islamischen Welt mit der westlichen Moderne, durch Invasion, Ko- lonisation und durch die nach Europa gesandten Student_innen und Intel-

3 Beispiele für Gesetze, die nicht nur im Iran seit der Revolution von 1979, sondern in vielen islamischen Län- dern gültig sind und Anwendung finden, sind etwa: Mädchen sind ab dem neunten Lebensjahr strafmün- dig; Frauen erhalten nur die Hälfte des Schmerzensgeldes im Vergleich zu Männern; Frauen erhalten nur die Hälfte des Erbteils im Vergleich zu Männern; Frauen können vor Gericht nicht als Zeuginnen auftreten, ihre Aussagen haben keine rechtliche Gültigkeit; eine Frau hat kein Recht, einen Nicht-Muslimen zu heiraten; eine Frau ist auf die Zustimmung ihres Ehemanns bei Erwerbstätigkeit oder einer Reise angewiesen; Frauen haben nicht dasselbe Scheidungsrecht wie Männer; Frauen haben nicht dasselbe Sorgerecht wie Männer; Polygamie ist ausschließlich Männern erlaubt; Frauen droht Steinigung bei Ehebruch; Frauen haben nicht das Recht, Richterin zu werden; Frauen haben nicht das Recht auf freie Bekleidungswahl, sie sollen sich bedecken. Vgl. Shirin Ebadi: Hoquq-e zan dar qawânin-e Irân [Frauenrechte in den Gesetzen der islami- schen Republik Iran], Teheran, Ganje Danesh, 2006, S. 66-140; eigene Übersetzung. 4 Vgl. Hasan Yousefi Eshkevari: Feqh, extelâfât-e feqhi wa taqirpaziri-e ahkâm [Fiqh, die Unterschiede in Fiqh und die Modifizierbarkeit der rechtlichen Regelungen]. http://www.talar.shandel.org (http://tinyurl.com/6yawynx; 09.04.2011); eigene Übersetzung. 5 Vgl. Mohammad Mojtahed Shabestari: Naqdi bar qerâat-e rasmi az din [A critique of the official reading of religion], Tehran 2006, S. 11; eigene Übersetzung. 6 Vgl. ebd., S. 12.

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lektuellen, lernten die islamischen Länder – nicht unumstritten – eine neue Weltanschauung kennen: die Aufklärung. 7 Die Menschen sahen sich mit ei- nem neuen Lebensstil konfrontiert, der Probleme mit sich brachte, die der is- lamischen Rechtswissenschaft (Fiqh) bis dahin völlig unbekannt waren. Die Religion, die einst die gesamte Gesellschaft lenkte, verlor nach und nach ihren Einfluss auf andere institutionelle Bereiche (wie etwa Wirtschaft, Wis- senschaft oder Recht) und auf die Lebensführung des Einzelnen.8 Jeder dieser Bereiche wurde nun als voneinander unabhängig begriffen, und allmählich begannen Intellektuelle und Eliten sich für die wissenschaft- lichen Denkrichtungen und Fortschritte wie zum Beispiel für Demokratie und Menschenrechte in der Gesellschaft zu interessieren. Unterschiedliche islamische Strömungen allerdings reagierten auf die neuen Entwicklungen und Änderungen auf ihre je eigene Weise. Bei der Zuordnung der verschie- denen islamischen Strömungen kann als Indikator »der Einklang von Fiqh mit Zeit und Raum« zugrunde gelegt werden. Basierend auf diesem Indika- tor lässt sich ein Spektrum konzipieren, in dem sich auf der einen Seite die Fundamentalen9, in der Mitte die Reformer und auf der anderen Seite die Sä- kularen befinden. Jede Strömung hat eigene Ansichten entwickelt, die sich in Bezug auf ihre Vorstellung und Definition von Religion und Scharia (reli- giöse Gebote) von denen der anderen Strömungen unterscheiden. Erst unter Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Sichtweisen macht es Sinn, die Entwicklung der Frauenrechte im Islam zu thematisieren.

Die Fundamentalen

Für sie ist der Islam die Sammlung von Lehren, die von Gott zur Erlösung und Seligkeit der Menschen dem Propheten offenbart wurden. Diese Lehren dienen dem Ziel, Gerechtigkeit im Diesseits und Jenseits zu schaffen und die Gläubigen zur immerwährenden Seligkeit zu führen. Nach Ansicht der Fun- damentalen ist der Islam auf ewigen, unverrückbaren Rechtsbestimmungen gegründet, die nicht in Frage gestellt, nicht modifiziert werden können und immer und von jedermann befolgt werden müssen. Die Ziele der Religion sind nicht modifizierbar, das heißt, sie können nicht Gegenstand philosophischer oder theologischer Diskurse sein; vielmehr sind sie durch den Koran und die Überlieferung endgültig festgelegt.10 Weil der

7 Vgl. Djamshid Behnam: Irâniân wa andishe-ye tajadod [Iraner und der Gedanke der Modernität], Tehran 2004, S. 4-5; eigene Übersetzung. 8 Vgl. Mojtahed Shabestari 2006 (s. Anm. 5), S. 13; eigene Übersetzung. 9 Ich bezeichne diese Strömung des Islam im Folgenden als die »Fundamentalen«, um sie von den »Funda- mentalisten« zu unterscheiden. Denn der Begriff »Fundamentalisten« wird heute überwiegend verwendet, wenn von den Taliban und von Al-Qaida die Rede ist. 10 Vgl. Ayatollah Abdolah Javadi Amoli: Falsafe-ye Hoghuquq-e bashar [The Philosophy of Human rights], Qom 2007, S. 106-107; eigene Übersetzung.

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Prophet selbst sich ihnen unterworfen hat, gelten sie als gerecht und haben für immer Bestand und Gültigkeit.11 Die Fundamentalen »lehnen die Gleich- berechtigung von Mann und Frau ab und operieren stattdessen mit dem Be- griff der Komplementarität der geschlechtsspezifischen Rechte und Pflich- ten«12. Ihrer Meinung nach basiert diese Auffassung auf der »Natürlichkeit« des Scharia-Rechts: »Obwohl Männer und Frauen vor Gott gleich sind, hat ihnen die Schöpfung unterschiedliche Rollen zugewiesen, die durch die Fiqh-Regeln zum Ausdruck kommen.«13 So sind Haushalt, Gebären, Kinder- erziehung und alle Rollen, die mit der Privatsphäre zu tun haben, als Frau- enrolle und alles, was mit der öffentlichen Sphäre zu tun hat, als Männerrolle definiert. »Die Frauen sollen versuchen, die ihnen angeborenen Fähigkeiten entsprechend ihrer eigenen Natur ohne blinde Nachahmung der Männer zu entfalten. Bei der Entwicklung der Menschheit fallen ihnen viel wichtigere Aufgaben zu als den Männern.«14 Nach Ansicht der Fundamentalen ist es erforderlich, dass auch Rechte, Pflichten und Strafen geschlechtsspezifisch geregelt sind, zumal Mann und Frau in vieler Hinsicht nicht identisch seien und ihre Umwelt auch nicht gleichartig sei.15 Unterschiedliche Rechte und Pflichten bedeuten demnach keine Ungleichheit oder Ungerechtigkeit; richtig verstanden sind sie die Es- senz der Gerechtigkeit. Nach Auffassung der Fundamentalen geben die Scharia-Vorschriften nicht nur den göttlichen Entwurf für die Gesellschaft vor, sondern sie sind auch im Einklang mit der menschlichen Natur ver- fasst.16 In diesem Sinne transzendieren die islamischen Regeln Raum und Zeit. Die Fundamentalen sind der Überzeugung, dass das islamische Regel- werk für Frauen wie für Männer zu jeder Zeit gilt und auch in der Zukunft gelten muss, da es auf dem »natürlichen System der Schöpfung« basiert.

Die Reformer

In ihrer Definition und Zielsetzung von Religion gleichen die Reformer den Fundamentalen, aber mit dem Unterschied, dass die Reformer dem einzel- nen Menschen in einem begrenzten Rahmen das Recht auf Selbstbestim- mung und freiheitliche Gestaltung des Lebens zugestehen.17 Reformer spre-

11 Vgl. Ayatollah Mohammad Taghi Mesbah Yazdi: Andisheha-ye bonyadin eslami [The Fundamental Thought of Islam], Qom 2007, S. 22-23; eigene Übersetzung. 12 Ziba Mirhosseini: Neue Überlegungen zum Geschlechterverhältnis im Islam. In: Mechthid Rumpf; Ute Ger- hard; Mechtild M. Jansen (Hrsg.): Facetten islamischer Welten. Geschlechterordnungen, Frauen- und Men- schenrechte in der Diskussion, Bielefeld 2003, S. 69. 13 Ebd., S. 69. 14 Ayatollah Morteza Motahari: Stellung der Frau im Islam, Bonn 1982, S. 36. 15 Ebd., S. 26. 16 Vgl. Mirhosseini 2003 (s. Anm. 12), S. 68. 17 Vgl. Katajun Amirpur: Unterwegs zu einem anderen Islam. Texte iranischer Denker. In: Christian W. Troll SJ, Rotraud Wielandt (Hrsg.): Modernes Denken in der islamischen Welt, Freiburg im Breisgau 2009, Bd. 4, S. 18.

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chen sich für eine Historisierung der Offenbarung aus. Das bedeutet, dass sie die Offenbarung als ein geschichtliches Phänomen begreifen, das sich zu ei- ner bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, unter bestimmten gesell- schaftlichen Bedingungen ereignet hat. »Deshalb sind die meisten Gebote Antworten auf gesellschaftliche Fragen der Zeit Muhammads und nicht eins zu eins auf die Gegenwart anwendbar. In der Konsequenz meinen sie, dass man notwendigerweise zwei Aspekte der Offenbarung zu unterscheiden hat: einerseits den Kern der göttlichen Botschaft und andererseits die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.«18 Viele Regeln aus der Zeit des Propheten, obgleich im Koran oder in der Überlieferung erwähnt, sind – nach Auffassung der Reformer – sogenannte sekundäre Regeln und müssen auf ihre Rationalität und Gerechtigkeit in der heutigen Gesellschaft hin überprüft werden. Die Vordenker_innen dieser Gruppe haben sich zum Ziel gesetzt, die Stellung der Frau im Islam neu zu beleuchten und die islamischen, frauen-orientierten Gesetze genauer zu klären. Um die Stellung der Frau neu zu definieren bzw. um islamische Al- ternativen in Bezug auf die Frauenrechte zu entwickeln, lesen und interpre- tieren die Reformer die heiligen Texte neu. In diesem Zusammenhang stellen sie fest, dass bei der Auslegung der Rechte zwei unterschiedliche Perspekti- ven eine Rolle spielen: »Die eine wird von der Offenbarung (Wahy) inspiriert, die andere steht unter dem Einfluss der jeweils zeitgebundenen Gesell- schaftsordnung. Während die erste eine egalitäre Stimme ist und die Gerech- tigkeit des Islam ausdrückt, ist die zweite eine patriarchalische Stimme, in der soziale, kulturelle und politische Ideologien zum Ausdruck kommen. Je mehr sich die Texte des Fiqh von der Zeit und dem Geist der Offenbarung entfernen, desto stärker wird ihre patriarchalische Stimme.«19 Bildung und Beruf, das Scheidungsrecht und Fragen des Kopftuchs sind die Hauptthemen, mit denen Reformer sich im Hinblick auf Frauenrechte befassen und zu denen sie unterschiedliche Positionen definieren. Verschie- dene von Reformern verfasste Texte lassen erkennen, dass sie die Gleichbe- rechtigung von Frauen und Männern zwar in manchen Bereichen (zum Bei- spiel was den Zugang zu Bildung und Beruf angeht) befürworten, sie aber gleichzeitig in anderen Bereichen (zum Beispiel in Bezug auf das Schei- dungsrecht) ablehnen.20 So akzentuiert die reform-orientierte Strömung den Einklang der islami- schen Richtlinien mit Zeit und Raum. Ihrer Meinung nach ist dieser Einklang aber nur bei sekundären Richtlinien legitim und nicht etwa bei Grundricht-

18 Roman Seidel: Mohammad Modschtahed Schabestari. Die gottgefällige Freiheit. In: Katajun Amirpur; Lud- wig Ammann (Hrsg.): Der Islam am Wendepunkt. Liberale und Konservative Reformer einer Weltreligion, Freiburg im Breisgau 2006, S. 78. 19 Mirhosseini 2003 (s. Anm. 12), S. 57. 20 Vgl. ebd., S. 69.

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linien. Die Reformer erwähnen dabei nicht, ob es überhaupt bestimmte Quellen oder Regeln zur Bestimmung der Grenze zwischen Grundricht- linien und sekundären Richtlinien gibt. Reformer versuchen, die islamischen Richtlinien in Bezug auf Frauen- rechte den sekundären Richtlinien zuzuordnen, um damit eine zeitgemäße und vernünftige Interpretation vorzulegen. Dennoch bezeichnen viele An- hänger dieser Gruppe diskriminierende Richtlinien – wie etwa Hijab (die Be- deckung bzw. Verschleierung der Frau) – als Grundrichtlinien, die nicht mo- difizierbar sind.21

Die Säkularen

Diese Strömung besteht sowohl aus gläubigen Denker_innen, die ihre eigene Definition vom Islam haben, als auch aus denjenigen, die keinen Glauben an eine bestimme Religion haben. »Für die Gläubigen ist der Glaube die völlige Hingabe in das Dasein Gottes, Glaube ist die Geborgenheit in Gott und demnach ein innerer Akt der Begegnung zwischen Mensch und Gott. Der Glaube ist eine bewusste Ent- scheidung für den Halt in Gott, die auf der inneren Freiheit des Menschen beruht. Der inneren Freiheit muss auch eine äußere Freiheit entsprechen. Denn die innere Entscheidung für Gott kann dem Menschen nicht von außen aufgezwungen werden. Sämtliche religiösen Dogmen, die dem Menschen vorschreiben, was er zu glauben hat und was nicht, sind daher keine Weg- weiser zum wahren Glauben, sondern Barrieren, die die freie Entfaltung des Glaubens behindern. Sobald eine Gruppe, die über großen politischen und gesellschaftlichen Einfluss verfügt, das Entscheidungsmonopol darüber, was im religiösen Sinne wahr und was falsch ist, für sich beansprucht und somit eine offizielle Lesart der Religion entsteht, wird die Religion instrumentali- siert und ihres Kerns, des Glaubens, beraubt.«22 Nach säkularer Auffassung ist das moderne gesellschaftliche Leben auf neue Wissenschaften wie Philosophie, Politik, Jura oder Soziologie angewie- sen. Die Fiqh ist weder in der Lage soziale Fakten zu analysieren, noch die neuen politischen und menschlichen Werte wie Freiheit und soziale Gerech- tigkeit zu verwirklichen, noch auf die Beziehungen der Menschen unterein- ander einzuwirken. So ist – nach Ansicht der Säkularen – Fiqh kein Bestand- teil des Glaubens und weder heilig noch ewig.23 Die säkular-orientierten Gläubigen sind der Überzeugung, dass Men- schenrechte, die Gleichberechtigung der Frauen und demokratische Systeme

21 Vgl. Mehdi Mehrizi: Hejab [Bedeckung], Teheran 2008. 22 Seidel 2006 (s. Anm. 18), S. 79. 23 Vgl. Mojtahed Shabestari 2006 (s. Anm. 5), S. 19; eigene Übersetzung.

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mit dem Geist des Islam vereinbar sind, und »zwar nicht, weil sie direkt und explizit durch Koran und Prophetentradition vorgegeben worden wären oder weil der Koran ausdrücklich die Demokratie fordert, sondern weil sie eine vernünftige und zeitgemäße Deutung von gerechter Herrschaft sind. Ihre Verwirklichung ermöglicht es, politische und gesellschaftliche Rahmen- bedingungen zu schaffen, in denen ein freier und mithin wahrhafter Glaube gefördert und nicht behindert wird.«24 Die Säkularen bekennen sich zur Gleichberechtigung der Frauen als ei- nem unverzichtbaren Teil der Menschenrechte. Sie sind der Überzeugung, dass die Gesetze, die das Verhältnis zwischen den Geschlechtern regeln, nicht den islamischen Richtlinien entstammen. Für die Säkularen ist der Glaube also nicht identisch mit den islamischen Richtlinien (Fiqh). Es sieht so aus, dass durch diese Lesart des Islam die Gleichberechtigung der Frauen erreicht werden könnte. Deshalb ist es wichtig, wenn vom Islam und von islamischer Strömung gesprochen wird, deutlich zu machen, wel- che islamische Orientierung gemeint ist. Das Thema bedarf in der Zukunft weiterer intensiver wissenschaftlicher Studien und umfangreicher Diskus- sion und Aufklärung, ohne dass Islamphobie und die Angst vor anti-mus- limischem Rassismus die Auseinandersetzung behindern. Dies sollte von allen politischen und religiösen Gruppierungen, von Fundamentalen bis hin zu islamophoben Kritiker_innen als eine Herausforderung betrachtet werden.

24 Seidel 2006 (s. Anm. 18), S. 80.

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NATUR UND TECHNIK

Susanne Mansee

Am Strand. Zur Genese eines Sehnsuchtsraumes

»Voulez-vous etre beau, fort et en bonne santé?«1

Kein Seebad könnte sich als solches definieren, wenn es nicht direkt am Meer positioniert wäre. Ein ausgedehnter breiter, weicher, weißer Sand- strand zählt heute zu den wichtigsten natürlichen Voraussetzungen für ein Seebad, um dieses auf der Attraktivitätsskala der touristischen Destinatio- nen möglichst hoch einzuordnen. Die Frage, wie der Strand zu einem favori- sierten Urlaubsziel des modernen Massentourismus werden konnte, welche imaginativen Bezüge, Symboliken, kulturellen Praktiken sich mit ihm und seinen elementaren Komponenten verbinden und wie sich diese entwickel- ten, ist Gegenstand dieses Beitrags. Über Jahrhunderte begegnete die europäische Bevölkerung, vorzugsweise christlich-religiöser Prägung, dem Meer und seinen Küsten mit Ablehnung.2 Zwischen 1750 und 1840 kommt es dem französischen Kulturhistoriker Alain Corbin zufolge zu einem radikalen Umschlagen der affektiven Beziehungen der europäischen Bewohner zum Meer und seinen Stränden, zu Praktiken, die einen Aufenthalt am Strand begleiten, und zu den körperlichen Empfin- dungen, die an diesem Ort und in den ihm zugesprochenen Verhaltensmus- tern ausgelöst werden.3 Die Körperkulturbewegung im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts und die an sie anschließende Begeisterung für den sportlich trainierten, sonnengefärbten, gesunden, leistungsstarken Kör- per der Weimarer Republik initiierten Prozesse, die bis heute maßgeblich das Urlaubs- und Freizeitverhalten mindestens der europäischen und angloame-

1 Edmond Desbonnet, französischer Bodybilder und Sportstudiobesitzer (1868–1953), zitiert nach: Bernd We- demeyer-Kolwe: Der neue Mensch. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004, S. 313. 2 Vgl. dazu u. a. Alain Corbin: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750–1840, Frank- furt am Main 1994, S. 13-35. 3 Vgl. ebd., S. 10 sowie generell die Darstellung Corbins.

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rikanischen Kulturkreise bestimmen. Ab den 50er Jahren des 20. Jahrhun- derts, so schreibt Dieter Richter, vollzieht sich die »massenhafte touristische Hinwendung zu Meerlandschaften«, avanciert der Strand zur »klassische[n] Landschaft des modernen Massentourismus«4.

Strand

»Materiell besteht der Strand aus Luft, Wasser und Sand, den bewegten Ele- menten einer zeitlos alten geologischen Formation. Ebbe und Flut verändern täglich sein Gesicht, in der Regel ohne dass sich etwas nachhaltig ändert. Sonne, Wolken, Stürme und Regen wechseln sich ab, außer Seevögeln und winzigen Strandtieren ist hier niemand zu Hause.«5 Der Ort ist banal. Er ist der unkultivierte, unkultivierbare Ort schlechthin.6 Spuren jeglicher menschlichen Tätigkeit vernichten Wellen und Wind. Der Strand ist – per se – ein leerer Ort, eine »gepflegte[n], gastliche[n] Wüste«7. Die Romantik am Beginn des 19. Jahrhunderts stilisierte die Meeresküsten zum Hort der Selbstfindung.8 Der Aufenthalt an diesem ungeprägten Ort gewährt Formen der Introjektion, schafft Raum für die Empfindungen der Elemente am eigenen Körper »mit allen [seinen] fünf Sinnen«, wie Corbin schreibt.9 »Das Schauspiel der Leere eines grenzenlosen Ozeans beschwört jenes gegenstandslose Gefühl herauf, das ein imaginäres Eintauchen ermög- licht. Die Meeresmonotonie macht schläfrig, lädt lockend zum Versinken ein.«10 Alle Grenzen scheinen zu verschwimmen, und der Träumer willigt in einen Zustand der Regression und der Vergänglichkeit ein11: »Und Hanno Buddenbrook zog wieder tief und mit stiller Seligkeit den würzigen Atem ein, den die See zu ihm herübersandte, und grüßte sie zärtlich mit den Au- gen, mit einem stummen, dankbaren und liebevollen Gruße. […] Und was folgte, war alles frei und leicht geordnet, ein wunderbares, müßiges und pflegsames Wohlleben, das ungestört und kummerlos verging: der Vormit- tag am Strande, während droben die Kurkapelle ihr Morgenprogramm erle- digte, dieses Liegen und Ruhen zu Füßen des Sitzkorbes, dieses zärtliche und träumerische Spielen mit dem weichen Sande, der nicht beschmutzt, dieses mühe- und schmerzlose Schweifen und Sichverlieren der Augen über

4 Dieter Richter: Das Meer. Epochen der Entdeckung einer Landschaft. In: Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung, Bd. 2, Köln 1998, S. 10-31, hier: S. 10. 5 Alexa Geisthövel: Der Strand. In: Alexa Geisthövel, Habbo Knoch (Hrsg.): Orte der Moderne. Erfahrungs- welten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, New York 2005, S. 121-130, hier: S. 121. 6 Vgl. Corbin 1994 (s. Anm. 2), S. 28, S. 30 f., besonders S. 162, S. 202, S. 260 f. 7 Geisthövel 2005 (s. Anm. 5), S. 121; vgl. Corbin 1994 (s. Anm. 2), S. 220. 8 Vgl. Corbin 1994 (s. Anm. 2), S. 214. 9 Ebd., S. 215. 10 Vgl. ebd., S. 217. 11 Vgl. ebd., S. 218.

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die grüne und blaue Unendlichkeit hin, von welcher, frei und ohne Hinder- nis, mit sanftem Sausen ein starker, frisch, wild und herrlich duftender Hauch daherkam, der die Ohren umhüllte und einen angenehmen Schwin- del hervorrief, eine gedämpfte Betäubung, in der das Bewußtsein von Zeit und Raum und allem Begrenzten still selig unterging ...«12 Heute weiß man, dass die hohe Konzentration ionisierten Sauerstoffs an den Meeresküsten diese Benommenheit hervorruft, die Romantiker schrie- ben sie dem stetigen Auf und Ab des mütterlichen Ozeans zu. Die qualitative Kumulation räumlicher, zeitlicher und körperlicher Entgrenzung mündet fast in ein Verschwinden von Raum und Zeit für denjenigen, der sich ihr aus- liefert: »Es gibt auf Erden eine Lebenslage, gibt landschaftliche Umstände (wenn man von ›Landschaft‹ sprechen darf in dem uns vorschwebenden Falle), unter denen eine solche Verwirrung und Verwischung der zeitlich- räumlichen Distanzen bis zur schwindeligen Einerleiheit gewissermaßen von Natur und Rechtes wegen statthat, so daß denn ein Untertauchen in ihrem Zauber für Ferienstunden allenfalls als statthaft gelten möge. Wir mei- nen den Spaziergang am Meeresstrande … Du gehst und gehst … du wirst von solchem Gange niemals zu rechter Zeit nach Hause zurückkehren, denn du bist der Zeit und sie ist dir abhanden gekommen …«13 Dieter Richter wertet diesen Textauszug als Beleg für die »Erfahrung der Vernichtung von Raum und Zeit«, die Erfahrung einer »wundersame[n] Verlo- renheit«, der »Rückkehr ins Vor-Bewußte, Prä-Zivilisierte«14. Seebäder ihrer- seits unterstützen in ihrer Erscheinung den Eindruck des Flüchtigen: Ohne eine »ordentliche Siedlungsstruktur« stehen die Häuser »wie die Strandkörbe« »provisorisch, saisonal, fast ambulant« auf Dünensand15, dem selbst flüch- tigen, ortsungebundenen Treib-Stoff, und vermitteln einen leicht melancholi- schen Hauch von Vergänglichkeit. Gleichsam vermögen sie die Zeit zu bewah- ren und zum Stillstand zu bringen: »Palaststädten gleich, wie gestrandet an den Ufern der Zeit, liegen diese Orte in einem gleichermaßen zeitlos-ideellen wie neu erfundenen Vorstellungsraum, nicht wirklich vergangen und nicht wirklich von heute, dort, wo die Wirklichkeit selbst verschwimmt. Außer Kraft gesetzt erscheint mit einem Mal das unbeugsame Gesetz der Zeit.«16

12 Thomas Mann: Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Berlin (Ost) 1974, S. 603 f. 13 Thomas Mann: Der Zauberberg, 1924, zitiert nach Richter 1998 (s. Anm. 4), S. 23. 14 Vgl. Richter 1998 (s. Anm. 4), S. 22. 15 Vgl. Gerd Neumann: Wilhelminische Bäderarchitektur. Verglaster Klassizismus zwischen Bretterbude und Schinkel. In: Bauwelt: Bauen für Glück und Muße, Jg. 68, Nr. 22, 1977, S. 716-719, hier: S. 716. 16 Catherine Sauvat; Erica Lennard: Damals in Marienbad. Die schönsten Heilbäder Europas, München 2000, S. 7. – Dieses Zitat bezieht sich auf die klassischen binnenländischen Kurbäder, in deren Traditionslinie aller- dings Seebäder zu verorten sind. – Vgl. dazu: Ursula Quecke: Von Badekarren und Schaluppen. Zur Geschichte des Seebadens an Nord- und Ostseeküste. In: Susanne Grötz, Ursula Quecke (Hrsg.): Balnea. Architekturgeschichte des Bades, Marburg 2006, S. 123-137; insbesondere S. 128. Zu strukturellen Gemein- samkeiten von Kur- und Seebädern vgl. Alexa Geisthövel: Promenadenmischungen. Raum und Kom- munikation in Hydropolen 1830-1880. In: Alexander C. T. Geppert, Uffa Jensen; Jörn Weinhold (Hrsg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 203-229.

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Für Wiebke Kolbe stellt sich der Strand als »liminoide[r] (Erfahrungs-) Raum«17 für ein spezifisch modernes Körper- und Subjektbewusstsein dar. Ausgezeichnet »durch grundsätzliche Andersartigkeit« ermöglicht er »alltags- überschreitende Erfahrungen«18. Die liminoide Beschaffenheit des Strand- erlebens nährt die Physiognomie des Ortes mit seinem Übergangscharakter zwischen allen vier Elementen, an welchem sich diese berühren und durch- dringen, wo Meer und Land, ohne dass der Übergang starr und unverbrüch- lich definiert wäre, aneinanderstoßen. Der Strand schafft einen »Ort der Unbestimmtheit«19, des »erträumten Anderen«20, der dank seines liminalen Charakters zu »nichtalltäglichen sozialen Praktiken und Erfahrungen gera- dezu einzuladen scheint«21. Dazu zählen Verhaltensformen der Muße, des Spiels, subjektive Sinnes- und Körperempfindungen der psychischen und physischen Entgrenzung, die regressive Empfindungs- und Verhaltensmus- ter auslösen. Kolbe überträgt den Liminoiditätsbegriff des Kulturanthropo- logen Victor Turner, welcher grundsätzlich touristisches Reisen als kulturelle Praxis moderner industrieller Gesellschaften umfasst, auf den Strandurlaub, dem sie »besonders deutliche Merkmale liminoider Erfahrungsräume«22 un- terstellt. Touristisches Reisen bei Turner ist geeignet, »konstruktive Gegen- erfahrungen zum Alltag [zu ermöglichen], die als grösserer Freiraum erlebt würden und mit grösserer zwischenmenschlicher und körperlicher Nähe so- wie der Auflösung fester Rollen und Identitäten einhergingen«23. Der Strand scheint prädestiniert, dem Alltag zugeordnete Praktiken und Selbstsichten temporär aufzugeben, da er sowohl der touristischen Sphäre zuzuordnen ist als auch ob der topographischen Qualitäten des Ereignisraumes. Die Qua- lität des Grenzganges ist eine mehrfache: Der von Corbin wiederholt als limes24 bezeichnete Ort wird strukturiert durch die transitorische Verfasstheit des Ortsraumes wie des Erlebnisraumes Freizeit bzw. Urlaub innerhalb einer »dual gedachten Ordnung von Arbeit und Freizeit«25, wie sie sich als Denk- modell im Laufe des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert hat. In dieser gilt der Strand »unhinterfragt als Ort des Letzteren« und gewinnt die Qualität des Synonyms für Ferien und ein freies Leben.26

17 Vgl. hier wie im Folgenden Wiebke Kolbe: Strandurlaub als liminoider (Erfahrungs-) Raum der Moderne? Deutsche Seebäder im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Hans-Jörg Gilomen; Beatrice Schumacher; Laurent Tissot (Hrsg.): Freizeit und Vergnügen vom 14. bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2005, S. 187-199, hier: S. 188. 18 Vgl. ebd., S. 189. 19 Ebd. 20 Geisthövel 2005 (s. Anm. 5), S. 125. 21 Kolbe 2005 (s. Anm. 17), S. 189. 22 Ebd., S. 188. 23 Ebd.; zum Liminoiditätskonzept Turners vgl. Victor Turner: Variations on a theme of liminality. In: Sally F. Moore; Barbara G. Myerhoff (Hrsg.): Secular Ritual, Amsterdam 1977, S. 36-52. 24 Vgl. Corbin 1994 (s. Anm. 2), u. a. S. 23, S. 30, S. 196. 25 Beatrice Schumacher: Freizeit, Vergnügen und Räume. Einleitung. In: Gilomen; Schumacher; Tissot 2005 (s. Anm. 17), S. 133-141, hier: S. 135. 26 Ebd.

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Arbeit

Ein beeindruckender Beleg für das hohe Maß dessen, wie sehr der Strand nicht mit Arbeit im etablierten soziologischen Sinne konnotiert ist, gelingt – unter der Hand – dem Historiker Cord Pagenstecher in einer tourismus- und wahrnehmungsanalytischen Untersuchung der privaten (Urlaubs-)Foto- alben eines Berliner Bäckerehepaares aus den Jahren 1942 bis 1982.27 Pagen- stecher zeigt auf, wie stark vor allem in den Anfangsjahren des Massentou- rismus der Urlaub, dieser Zeit-Raum der legitimierten ›Faulheit‹, an die ihrerseits legitimierende Kontrastfolie der alltäglichen Arbeitswelt gebunden bleibt. Pagenstecher konstatiert das »Fortwirken eines verinnerlichten Ar- beitsethos« im Urlaub durch die Verrichtung »symbolischer Arbeit« in Form der penibel geführten Urlaubschronik.28 Während fotografische Dokumentation und ästhetisch-thematische Auf- bereitung der Fotos ausnahmslos alle Urlaubsstationen des Bäckerehepaares begleiten, setzt am Ufer des Meeres, im weichen Strandsand, das sonst so sorgfältig geführte Reiseprotokoll aus. Die Urlaubsfotos der jeweils 14 Tage an der See ab 1970 werden undatiert, ordnungslos ins Album geklebt. Pagen- stecher sieht darin den Strandurlaub als »›zeitlose‹ Zeit«29 genossen, gleich- zeitig schrumpft aber auch die Verrichtung der »symbolischen Arbeit« auf ein Mindestmaß. Selbst die Motive der Fotos vermitteln nicht mehr aktive Aneignung der touristischen Welten, in denen das Paar sich bewegt, sondern ›faulenzendes‹ Ausruhen im Campingstuhl am Strand. In einer Untersuchung eines typisch deutschen Strandmöbels – der Strand- burg – werten Kimpel und Werckmeister dieses ephemere Bauwerk ebenfalls als einen Akt von mehr oder weniger sinnerfüllter Arbeit. Die Autoren deuten den Strandburgenbau als Resultat des Bedürfnisses der Strandbesucher, den Urlaubs- und Strandraum einerseits symbolisch anzueignen und andererseits den empfundenen Widerspruch zwischen vom bürgerlichen Arbeitsethos ge- prägten Alltag und schwer aushaltbarem Müßiggang zu überbrücken.30

Spiel

Mit dieser Zuordnung übersehen die Autoren allerdings den wichtigsten Aspekt im Hantieren mit Schippe, Eimer und Gießkanne im Sand: den des Ludischen: »Buddeln und Deichen und Graben im weichen, sauberen Sand,

27 Cord Pagenstecher: Antreten zum Lotterleben. Private Fotoalben als Quelle einer Visual History des bundes- deutschen Tourismus. In: Gilomen; Schumacher; Tissot 2005 (s. Anm. 17), S. 201-220. 28 Vgl. ebd., S. 202, S. 207. 29 Ebd., S. 214. 30 Vgl. Harald Kimpel; Johanna Werckmeister: Die Strandburg. Ein versandetes Freizeitvergnügen, Marburg 1995, S. 37-43.

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Burgenbau für die flüchtige Ewigkeit« sind Tätigkeiten, die am Strand »Kin- der mit der Ernsthaftigkeit von Erwachsenen und Erwachsene mit der spie- lerischen Leichtigkeit von Kindern […]«31 betreiben. Der Strand als »unermeßlicher Sandkasten« erlaubt die »zeitweise Rück- kehr in die Kindheit«32, und angeblich seien die Deutschen vor allen anderen europäischen Küstennationen für diese Verhaltensmodifikation besonders befähigt, da sie über das Sozialisations- und Lernmodell Sandkasten in Gär- ten, Hinterhöfen und auf Spielplätzen verfügten, der »spielerische[n] Vor- stufe zum Ernstfall am Strand«33. »Es ist kein Zufall, daß gerade in Deutsch- land, dem Land mit dem ausgeprägtesten romantischen Kindheitskult, das Strandleben die spezifischen Formen der Sandaktivitäten angenommen hat«, schreibt Dieter Richter.34

Meer

Auch das Meer, zweite zentrale ortsräumliche Komponente, nimmt die Strandbesucher gastlich auf. Während der Entstehungszeit der Seebäder im England des 18. Jahrhunderts gelang die ›Zähmung‹ der unberechenbaren Wassermassen. Corbin schreibt: »Das Wellenbad ist Bestandteil der Ästhetik des Sublimen: Es impliziert, daß man sich dem stürmischen Wasser aussetzt, jedoch ohne ein reales Risiko; daß man so tut, als würde man verschlungen, um sich an der Täuschung zu ergötzen; daß man die Welle mit voller Wucht auf sich zukommen läßt, aber stets mit den Füßen auf dem Boden bleibt. Für den notwendigen Schutz wird Vorsorge getroffen.«35 Der Raum des ›Als-Ob‹ ist ein Spiel-Raum im wörtlichen Sinne. Kein anderes Element vermag den Körper so seiner Erdenschwere zu ent- heben wie das Liquide. Enthusiastische Schwimmer verehrten das Meer – wie beispielsweise Lord Byron (1788–1824), der, durch einen Klumpfuß körperbehindert, vom Wasser getragen, seiner irdischen Unbeweglichkeit entfliehen konnte.36 Ähnliche Erfahrungen begründeten die Karriere von Annette Kellermann, der australischen Meisterin im Schwimmen und Turm- springen von 1902, die durch das Schwimmen die Folgen einer Poliomyelitis kompensierte.37 Zahllose literarische Beispiele beschwören die befreiende, lösende kinästhetische Erfahrung des (Meer-)Bades respektive des Schwim-

31 Richter 1998 (s. Anm. 4), S. 26 f. 32 Ebd., S. 27. 33 Kimpel; Werckmeister 1995 (s. Anm. 30), S. 48. 34 Richter 1998 (s. Anm. 4), S. 27. 35 Corbin 1994 (s. Anm. 2), S. 102. 36 Vgl. Charles Sprawson: »Ich nehme dich auf meinen Rücken, vermähle dich dem Ozean«. Eine Kulturge- schichte des Schwimmens, Hamburg 2002, S. 114. 37 Vgl. ebd., S. 46 f.

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mens. Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 30er Jahre hinein scheinen das Schwimmen und der Schwimmsport außerordentliche Popularität zu ge- nießen, beide werden in Literatur und Film ausgiebig thematisiert. Schwimm- sportler wie Johnny Weissmüller stiegen in den Rang von Stars auf.38 Seit die Strandbesucher der deutschen Strände die Freibadeerlaubnis direkt vom Strand aus durchsetzen konnten (erstmals 1923 im Seebad Bansin39), entfiel auch der begrenzende Wasserkasten der bis dahin der Benutzungspflicht un- terliegenden hölzernen Badeanstalten. Einem Schwimmausflug im Meer wa- ren keine Barrieren mehr gesetzt. Die Heilwirkung des Meerwassers ist seit dem Erscheinen der ersten Abhandlungen der Badeärzte bekannt und kann auch bei Hufeland, einem frühen Verfechter des Meerbades in seiner [Die] Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1798) nachgelesen werden. Über den therapeutischen Nutzen breitet sich die Wiedergeburtssymbolik des Wassers.40

Körper

Der periphere Strandraum bietet seinerseits Raum für eine soziale Randposi- tion: die Nacktheit41. Ende des 19. Jahrhunderts gab die Freikörperkultur- Bewegung den entscheidenden Anstoß für die Auflösung wilhelminischer Bekleidungs- und Körpernormen. Das Bedürfnis nach einer Rückkehr des durch zivilisatorische Einflüsse degenerierten Körpers zu einer als natürlich und gesund empfundenen Körpersprache beinhaltete auch die Trennung von einengenden Kleidungsvorschriften und den Aufenthalt des unbeklei- deten Körpers im Freien. Reform- und Körperkulturbewegungen suchten die enge körperliche Nähe zur Natur – bzw. zu dem geographischen Raum, der im Gegensatz zur (Groß-)Stadt als Natur begriffen wurde. Dennoch be- fanden sich die ersten und zahlenmäßig häufigsten Gelände der FKK in ur- banen Zentren, das erste Licht-Luft-Bad entstand 1901 in Berlin am unteren Kurfürstendamm.42 In der Zeit des Kaiserreichs von noch zahlenmäßig klei- nen Gruppen unter streng hygienischen, den Idealen der Körperbildung un-

38 Vgl. ebd., u. a. S. 273, S. 278, S. 282 f. – In Sprawsons Darstellung wird deutlich, dass vor allem die amerika- nische Gesellschaft und der Film aus den Hollywood-Studios dem Schwimmen und seinen Protago- nist_innen dergestalt Bedeutung einräumten. Dennoch verweisen kulturgeschichtliche Darstellungen der Weimarer Republik explizit auf deren ›Amerikanisierung‹, so dass, ohne dass Sprawson dies thematisieren würde, von einer ähnlichen Wertschätzung des Schwimmsports in der deutschen Gesellschaft dieser Zeit ausgegangen werden kann. – Vgl. Frank Becker: Amerikanismus in Weimar. Sportsymbole und politische Kultur 1918-1933, Wiesbaden 1993, S. 24 ff.; Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1987, S. 177, S. 178 ff. 39 U. a. Egon Richter: Bansin. Die Geschichte eines Weltbades, Rostock 1990, S. 30 f. 40 Vgl. Christoph Hennig: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt am Main 1999, S. 30. 41 Vgl. Oliver König: Nacktheit. Soziale Normierung und Moral, Opladen 1990, u. a. S. 29 f., S. 31, S. 39. 42 Vgl. Dieter Wildt: Sonnenkult. Von der vornehmen Blässe zum nahtlosen Braun, Düsseldorf, Wien, New York 1987, S. 50 f.

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terworfenen Aspekten ausgeübt, breitet sich nach Abdankung der wilhelmi- nischen Monarchie und ihrer Leitbilder die Praxis des Licht-Luft-Bades nachgerade epidemisch aus. Nach dem Ersten Weltkrieg werden die Deut- schen »luftbadewütig«43. Randzonen der Binnenseen und Flüsse, die Ufer der Meere füllen sich mit wenig bekleideten bis nackthäutigen Besuchern.44 Keine andere europäische Nation konnte ein derartiges kulturelles Bedürfnis nach entblößtem Aufenthalt in der Natur verzeichnen: »Der Sonnenkult ist die einzige Mode, die die Deutschen der Welt geschenkt haben […] – und die Welt akzeptiert diese Mode bis heute mit Lust.«45

Sexualität

Im Ergebnis dieser Entwicklung kommt es an den Meeresstränden zu einer brisanten Kollision zweier Wertparadigmen. Nicht erst zum romantischen Erbe gehört die Besetzung des Wassers bzw. des Meeres mit dem Weiblichen und Erotischen. Der psychoanalytische Diskurs und zahllose literarische Bil- der greifen die romantischen Zuschreibungen auf, konnotieren das Meer mit dem Weiblichen, Psychischen, Irrationalen und Sexuellen.46 Die Seebäder selbst wurden seit ihrer Entstehung erotisch besetzt, bereits zu einer Zeit, als ausschließlich die Imagination der notwendigen Entkleidung der Körper zum Zwecke des Meerbades erotische Phantasien weckte, da Sittengebote die strikte Trennung der Geschlechter forderten und immense Aufwendun- gen betrieben wurden, vor allem den weiblichen Körper vor unerwünschten Blicken im wahrsten Sinne des Wortes ›abzuschirmen‹.47 Die Seebäder bedie- nen sich diese Images und spielen damit, schon früh setzten sie zu Werbe- zwecken die Abbildungen junger Frauen in Badebekleidung ein.48 Nun wären Strand bzw. Badeurlaub dank ihres liminalen/liminoiden Charakters geeignet, im Ausleben der kollektiven Vorstellungen den eroti-

43 Ebd., S. 51; bei Wildt bereits auf den Wilhelminismus bezogen. 44 Nach dem Ersten Weltkrieg wird das »erste amtlich zugelassene Revier zum nackten Sonnen und Baden« an den Meeresküsten am Strand von Sylt eingerichtet. – Vgl. ebd., S. 60. 45 Ebd., S. 12. 46 Vgl. u. a. Kolbe 2005 (s. Anm. 17), S. 189; Hartmut Böhme: Umriß einer Kulturgeschichte des Wassers. Eine Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt am Main 1988, S. 7-42, hier: S. 25 ff.; Inge Stephan: Weiblichkeit, Wasser und Tod. Undinen, Melusinen und Wasserfrauen bei Eichendorff und Fouqué. In: Ebd., S. 234-262; Corbin 1994 (s. Anm. 2), S. 218. 47 Vgl. u. a. Kolbe 2005 (s. Anm. 17), S. 192; Corbin 1994 (s. Anm. 2), S. 107. – »Abschirmen« bezieht sich auf die Jalousie des englischen Badekarrens, der auch an den deutschen Nord- und Ostseeküsten in Betrieb war. Die Markise wurde wie ein Schirm vor den Austritt ins Wasser gehängt und verdeckte den/die Badende(n) voll- ständig. – Vgl. u. a. Horst Prignitz: Wasserkur und Badelust. Eine Badereise in die Vergangenheit, Leipzig 1986, S. 106, S. 130; Sarah Howell: The Seaside, London 1974, S. 21 f.; Quecke 2006 (s. Anm. 16), S. 125 f. 48 Vgl. Kolbe 2005 (s. Anm. 17), S. 190; ferner Ute Harms: »Moderne Susannen«. Das Bild der Badenden in der Genrekarikatur der Jahrhundertwende. In: Bärbel Hedinger; Michael Diers (Hrsg.): Saison am Strand. Bade- leben an Nord- und Ostsee – 200 Jahre, Herford 1986, S. 34-38; Eva Büchi: Als die Moral baden ging, Frauen- feld 2003, S. 115 ff.

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schen Implikationen auch zu folgen. Man könnte erwarten, dass mit wach- sender Präsenz wenig bekleideter Körper am Strand ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erotische Wunschvorstellungen und Erwartungen in einen Aufenthalt in einem Seebad und an dessen Stränden sich Geltung verschaf- fen. Paradoxerweise führt aber auch die Zunahme nackter Haut an den Mee- resufern nicht zu einer Eruption sexuell triebhaften Verhaltens. Die theoretischen Diskurse der Körperkulturbewegung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts entwickelten ein Bild des nackten Körpers, das diesen sowohl versachlichte als auch mit einem unschuldigen Naturzustand gleichsetzte, und trennten ihn strikt von Sexualität.49 Die FKK- Bewegung im Wilhelminismus war dem ständigen Zwang unterlegen, sich zu legitimieren: »Nacktheit wurde in der wilhelminischen Öffentlichkeit nur toleriert, wenn sie völlig asexuell war.«50 Dem Dilemma zwischen dem Be- dürfnis nach körperlicher Entblößtheit im Freien und der Verurteilung durch prüde wilhelminische Moralvorstellungen entgingen die Anhänger der FKK durch das Überstreifen eines ›Lichtkleides‹.51 Die Kultur der Weimarer Repu- blik (er-)findet neue Strategien, den nackten Körper, der über die Ineinsset- zung von Gesundheit, Natürlichkeit, Nacktheit und Schönheit begriffen wird, von der Sexualität abzulösen. Sie erfährt eine ähnliche Versachlichung und Ökonomisierung wie alle Bereiche des privaten und gesellschaftlichen Lebens.52 Die »sachliche[n] Zwecksetzung« der Entkleidung des Körpers bei Sport und Gymnastik verhindert jede erotische Konnotation53, und die sport- liche Nacktkultur wollte sich als regelrechtes »Abwehrmittel gegen das Fri- vole« verstanden wissen.54 Der wilhelminischen Prüderie wurde nun eine übermäßige Betonung des Sexuellen zugeschrieben, die gerade durch das verschämte Verbergen des weiblichen Körpers diesen in die »Dünste des Erotischen« einhüllte.55 Durch die Befreiung des Körpers im sportlichen Zeit- alter sollte das Geschlechtliche den Reiz des »Verbotene[n]« und des »Heim- lich-Sündig-Reizvolle[n]« verlieren und damit seine Macht über Denken und Gefühle.56 Das bevorzugte körperliche Erscheinungsbild der 1920er Jahre betont Geschlechtslosigkeit bzw. das Körperschema der prä-adoleszenten Lebensphase. Besonders der weibliche Körper soll dem Ideal der jungfräu-

49 Vgl. Büchi 2003 (s. Anm. 48), S. 103 f.; Michael Andritzky: Einleitung. In: Michael Andritzky; Thomas Rau- tenberg (Hrsg.): »Wir sind nackt und nennen uns Du«. Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern. Eine Ge- schichte der Freikörperkultur, Gießen 1989, S. 4-9, hier: S. 5; Viktoria Schmidt-Linsenhoff: »Körperseele«. Freilichtakt und Neue Sinnlichkeit. In: Ebd., S. 124-129, hier: S. 127 f. 50 Büchi 2003 (s. Anm. 48), S. 103. 51 Vgl. Hans Peter Duerr: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1, Frankfurt am Main 1994, S. 152 f.; Büchi 2003 (s. Anm. 48), S. 104. 52 Vgl. Becker 1993 (s. Anm. 38), S. 29, S. 333 ff. 53 Ebd., S. 320. 54 Herbert Sellke: Vom Sport zur Kunst. Betrachtungen über künstlerische Körpererziehung, Stuttgart 1926, zitiert nach Becker 1993 (s. Anm. 38), S. 320. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 318 f., zitiert nach Frank Matzke: Jugend bekennt: So sind wir!, Leipzig 1930, 4.-6. veränderte Aufl.

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lichen Körpersilhouette entsprechen.57 Das Frauen-Ideal der 1920er Jahre fa- vorisiert den gebräunten, schlanken, »halb knabenhaften« Leib »nach dem Maßstab ihrer Zeit busen- und hüftenlose[r] erste[r] Sonnenhüpferinnen«58. Eine solche Auffassung von nackter, entsexualisierter Körperlichkeit wirkt auf den sozialen Umgang der Geschlechter an ausgewiesenen Orten der Kör- perpräsentation, wie der Strand es ist, zurück. In der ›Natur an der Grenze‹ fin- det sich der nackte Mensch selbst im unschuldigen Naturzustand wieder, prä- oder entsexualisiert, quasi vor dem Sündenfall. Dem addiert sich eine erlernte Fähigkeit, sein Gegenüber nicht einmal als nackt wahrzunehmen – Erving Goffmann bezeichnet diese Kulturtechnik als den »bekleideten Blick[s]«59. Dieser garantiert zusätzlich einen unbekleideten, dennoch ge- schützten Aufenthalt am Strand. Der Blick, der über die anderen Strandbesu- cher oder Badenden hinweg oder durch sie hindurch gleitet, sieht, aber nimmt nicht zur Kenntnis.60

Reinheit und Unschuld

Der Besucher des modernen Strandes darf also in einen Zustand heiterer, gelöster, zeitenthobener, regressiver, ludischer, verantwortungsfreier, asexu- eller Selbstvergessenheit eintauchen, darf buddeln, spielen, im Sand man- schen, ohne dass weder sein Tun noch die Elemente ihn beschmutzen würden – Strandsand macht höchstens ein bisschen sandig und lässt sich problemlos nach dem Strandbesuch aus den Falten des Körpers und der Kleidung klop- fen. Der Strand ist ein sauberer Ort, auch im symbolischen Sinne. Die Ästhe- tik des Seebades bezieht ihre Referenz auch aus dem Funktionsensemble wasserbezogener Reinigungstechniken, wie sie die bürgerliche Hygiene- bewegung des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts hervor- brachte. In Salonbädern, erbaut im klassizistischen Stil, dem ›Stil des Rei- nen‹61, vollzog der bürgerliche Nutzer ein Ritual der körperlichen Reinigung zu Diensten der Göttin Hygieia.62 Der Funktionsraum der Seebäder öffnet die Begrenzung der Mauern und überträgt die Symbolik des Reinigungs- bades in die neoklassizistische Umrahmung des Badeortes mit dem Meer als

57 Vgl. Ulrike Thoms: Körperstereotype. Veränderungen in der Bewertung von Schlankheit und Fettleibigkeit in den letzten 200 Jahren. In: Clemens Wischermann; Stefan Haas (Hrsg.): Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung, Stuttgart 2000, S. 281-307, hier: S. 302 f. 58 Vgl. Wildt 1987 (s. Anm. 42), S. 37. 59 Geisthövel 2005 (s. Anm. 5), S. 127. 60 Vgl. Duerr 1994 (s. Anm. 51), S. 121. 61 Vgl. Manuel Frey: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland. 1760–1860, Göttingen 1997, S. 167. 62 Vgl. ebd., S. 224; Gleichsetzung von körperlicher Reinigung und Gottesdienst in diesem Kontext ebenfalls bei Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt am Main 2001, S. 261.

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entgrenztem Wasserbassin. Dominierende Farbe dieser ›Architektur des Rei- nen‹ ist das Weiß, welches als »Farbe des Lichts«, »christliches Symbol der Vollkommenheit«, »Zeichen des Anfangs und der Erneuerung« im bürgerli- chen Reinlichkeitskonzept Reinheit auch im Sinne des »Unvermischten, der Trennung des Guten, Schönen und Nützlichen vom Schlechten, Häßlichen und Überflüssigen« ausdrückt.63 Wie sollte sich ein Besucher eines Seebades beschmutzen können? Und selbst wenn – das reinigende Wasser wäscht allen Unrat ab. Selbst der erotischen Besetzung des Meeres darf sich der (männliche) Badende ungefährdet aussetzen: Folgt man der (aufwendigen) Argumentation Klaus Theweleits (die ich an dieser Stelle nicht nachvoll- ziehe), kann im Meerbad die entgrenzende Erfahrung sexueller Vereinigung unschuldig ausgelebt werden, denn: »Auf der Seite der Koppelung erotische Frauen/Wasser können wir jetzt endlich sehen, welche Frau es ist, die die bürgerlichen Männer mit der Entgrenzungssehnsucht in den Meeren, Quel- len, Brandungen ihrer poetischen Produktionen haben fließen lassen. Es ist die entgrenzte reine Frau, die erotische ›schmutzige‹ bleibt auch hier ausge- schlossen.«64 Bereits bei Wiebke Kolbe erfuhr der Strand die Kennzeichnung eines Raumes ausgeprägter subjektiver, wie inzwischen verdeutlicht werden konnte, positiver Körpererfahrungen. Jenseits codierten Verhaltens erwach- sener Sexualität gestattet der Strand die libidinöse Besetzung der umgeben- den Elemente Wasser, Wärme, Sand und Wind, die als »Liebkosung[en]«65 sinnlich wahrgenommen werden können. Den Sand zwischen den Fingern zu spüren – wie Hanno Buddenbrook –, die Sonnenstrahlen auf der entblöß- ten Haut, sich vom Wasser tragen zu lassen, gewähren brachliegende Ge- nüsse, nachdem die bürgerliche Kultur der Moderne die körperlichen Sinne- sempfindungen zunehmend disziplinierte und unterdrückte.66 Bevorzugte zu seiner Entstehungszeit das romantische Empfindungsmodell noch die Einsamkeit, um sich dieser Selbsterfahrung ganz ausliefern zu können, steht die mit dem Anwachsen des Tourismus einhergehende Enge an den Strän- den der hohen Gefühlsqualität des Ortes nicht entgegen. Praktiziert von wei- testgehend urban sozialisierten Schichten war (und ist) es möglich, die in der drangvollen Bevölkerungsdichte der Großstädte erlernte Verhaltenstechnik

63 Vgl. Frey 1997 (s. Anm. 61), S. 215. 64 Klaus Theweleit: Männerphantasien, Reinbek bei Hamburg 1980, Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, S. 437. – An diesem Zitat wird deutlich, wie männlich codiert der Blick auf den Strandraum mit den ihn prägenden Elementen und Wahrnehmungen ist. Aktuelle Studien zu einer geschlechtsspezifischen Differen- zierung liegen nicht vor. Ansätze finden sich bei Wiebke Kolbe: Körpergeschichte(n) am Strand. Bürgerliches Seebaden im langen 19. Jahrhundert. In: Wiebke Kolbe; Christian Noack; Hasso Spode (Hrsg.): Voyage. Jahr- buch für Reise- und Tourismusforschung, Bd. 8: Tourismusgeschichte(n), München, Wien 2009, S. 23-34. Der Beitrag stellt Stranderleben, im Wissen um die Problematik, daher idealtypisch dar und berücksichtigt Gen- deraspekte nicht. 65 Vgl. Corbin 1994 (s. Anm. 2), S. 226. 66 Vgl. König 1990 (s. Anm. 41), S. 40 ff.

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der »intime[n] Anonymität«67 in diesen Freizeitraum zu übertragen: der andere wird trotz unmittelbarer körperlicher Nachbarschaft nicht wahrge- nommen, er kann aus dem Bewusstsein ausgeblendet werden. Ohne die Fähigkeit zum Genuss am eigenen Körper wäre jedoch die posi- tive Erfahrung der unterschiedlichen sinnlichen Reize am Strand und im Meer nicht herstellbar.

Körperkonzepte

Arthur E. Imhof unterteilt die menschliche Geschichte in körperfreundliche und körperfeindliche Abschnitte.68 Als körperfeindlich kursieren in jedem Fall die christlichen Traditionen seit Augustinus, mit der Verdammung des sündigen Fleisches zugunsten der unsterblichen Seele.69 Mit Aufklärung und Säkularisierung gerät der Körper als Träger und Medium des irdischen Le- bens in den Fokus der Aufmerksamkeit. Mit der Interpretation von ›körper- freundlich‹ als ›körperzugewandt‹, dem Körper im Konzept der bürgerlichen »souci de soi«70 den Vorrang einräumend, lässt sich sowohl der bürgerlichen Hygienebewegung (17./18. Jahrhundert), der Lebensreformbewegung, be- vorzugt ihrer Unterströmung der Körperkulturbewegung (19./20. Jahrhun- dert), als auch der Sport- und Fitnessbewegung der Weimarer Republik diese Attributierung zuerkennen. Gleichwohl verbergen sich hinter allen drei körperbezogenen Konzepten ideelle Inhalte, die den Körper eher zu ei- nem Funktionsträger in der Umsetzung sozialer Wertvorstellungen bestim- men. In der Weimarer Republik übernimmt der Sport leitmotivische Funk- tion im Streben nach Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Kraft, Schönheit und damit Überlebensfähigkeit. Leistungsanspruch und Kontrolle der körperli- chen und emotionalen Vermögen setzen ihn parallel zu einer nach Prinzipien des Fordismus und Taylorismus organisierten Arbeitswelt und erzwingen unter deren Paradigma die »Ökonomie der Kräfte«71. Die Gleichsetzung des Körpers mit einer ›hocheffizienten Maschine‹ evoziert einen Umgang mit dem Körper, der fast schon wieder als körperfeindlich bezeichnet werden kann: »Echter Sportgeist ist die aggressive Einstellung eines Menschen zu seinem eigenen Körper, wobei er anhand bestimmter schwer zu erreichender Leistungen die Linie seines natürlichen Körperwiderstandes durch seinen

67 Vgl. Geisthövel 2005 (s. Anm. 5), S. 126, S. 127. 68 Vgl. Arthur E. Imhof: Zusammenfassung und Schlusswort des Herausgebers. In: Ders. (Hrsg.): Der Mensch und sein Körper. Von der Antike bis heute, München 1983, S. 263-268. 69 Vgl. Hartmut Galsterer: Mens sana in corpore sano – Der Mensch und sein Körper in römischer Zeit. In: Im- hof 1983 (s. Anm. 68), S. 31-45, insbesondere S. 43 f.; Frey 1997 (s. Anm. 61), S. 44 ff. 70 Vgl. Sarasin 2001 (s. Anm. 62), S. 23. 71 Vgl. Becker 1993 (s. Anm. 38); Frank Becker: Der Sportler als »moderner Menschentyp«. In: Wischermann; Haas 2000 (s. Anm. 57), S. 223-243, hier: S. 230.

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Willen zurückzudrängen versucht. Die einmal erzielte Sportleistung ist keine bleibende, sondern eine, die immer neu aus den feindlichen Trägheits- gesetzen des Körpers, aus seiner Neigung zum Nachlassen vorgetrieben werden muss.«72 Im System der Körpermaschine ist jede affektive Regung, jede Irrationa- lität oder seelische Unangepasstheit einer Störung gleichzusetzen – und nicht von ungefähr verschwindet die emotionale und sinnliche Seite der Selbstwahrnehmung in einen Bereich ›on the margin‹73, an den Strand, der ob seiner Verfassung noch als natürlich anerkannt wird und ob seiner sozia- len und geographischen ›Randposition‹ die Flucht aus rational verfasster Alltagswelt erlaubt. Hier, an diesem unbestimmten Ort, darf ›Mensch‹ ein- fach sein und genießen, ohne einem Leistungsgedanken folgen zu müssen, kann desgleichen doch körperlich aktiv sein, so er es will: ob grabend oder spielend im Sand oder schwimmend, Sport treibend, dessen Ausübung am Strand selbst den Charakter des Ludischen erhält. Die Tradition des Seebades als Ort der Heilung gewährt einen anstren- gungsfreien Surplus zur angestrebten Gesunderhaltung des Körpers in der Natur, alle vorhandenen mikroklimatischen Komponenten tragen dazu bei: Da ist neben heilendem Meerwasser und ›guter Luft‹ auch die wärmende Sonneneinstrahlung, deren ultravioletter Bestandteil ›B‹ (UV-B) die Haut- bräunung in Gang setzt und – so Mensch sich ihr nicht übermäßig aussetzt – Atmung, Kreislauf, Stoffwechsel und Drüsenfunktionen aktiviert.74 Da das Individuum also gar nicht körperlich aktiv werden muss und trotzdem posi- tive Effekte für Gesundheit und Schönheit erfährt, kann es sich frei entschei- den – zur Aktivität oder zur Ruhe, zum Spiel oder zum Sport, mehr noch: Ruhe und Aktivität fallen in eins, Sport am Strand bedeutet Spiel, Arbeit passiert um ihrer selbst willen und erzeugt Produkte, die, so flüchtig wie der ganze Aufenthalt am Ort, die Beschaffenheit des Ortes selbst, keine nach- trägliche Verantwortung erzwingen, da Wind und Meer sie in absehbarer Zeit wieder eingeebnet haben werden. Am modernen Strand wird scheinbar Unvereinbares zur Versöhnung gebracht: Erholung und geruhsames Nicht- stun, welche trotzdem »Arbeit am Selbst«75 sind und in Form gebräunter Haut und gestärkter Gesundheit entsprechende Ergebnisse zeitigen, die Rückkehr zu kindlichen, spielerischen Aktivitäten, ohne dass die Würde des erwachsenen Subjekts dabei verletzt oder beschmutzt würde‚ das Ausleben libidinöser Besetzungen der umgebenden Elemente, ohne tatsächlich in die

72 Marieluise Fleißer: Sportgeist und Zeitkunst. Essay über den modernen Menschentyp, 1929, zitiert nach Becker 2000 (s. Anm. 71), S. 231. 73 Vgl. Rob Shields: Places on the margin. Alternative geographies of modernity, London, New York 1991, zi- tiert nach Kolbe 2005 (s. Anm. 17), S. 189. 74 Froh jubelt ihr beim kleinsten Lichtstrahl. In: Der Spiegel 32/1985. http://www.spiegel.de (http://tinyurl.com/66cwvjv; 16.02.2011). 75 Vgl. Geisthövel 2005 (s. Anm. 5), S. 128.

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Rituale erwachsenen und damit codierten sexuellen Verhaltens gezwungen zu sein. Umgeben sieht sich der Strandbesucher von einem Ambiente des Seebades als einer »Kreuzung aus Grandhotel und Kleinstadt«, in dem »Ur- banität und Abgeschiedenheit, Erlebnis und Entschleunigung«76 aufeinan- dertreffen. Fast könnte man meinen, die ›Inseln der Seligen‹, das irdische Paradies, vermutet in den grauen Nebeln der Nordmeere77, hätten an den vormals so gemiedenen Küsten Nordeuropas ihre reale Verortung gefunden. Diese positiven Zuschreibungen trägt der ›Ort an der Grenze‹ bis heute.

76 Ebd., S. 126. 77 Vgl. Michel Mollat du Jourdin: Europa und das Meer, München 1993, S. 245.

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Ercan Ayboga

Talsperren und ihr Rückbau

Einleitung und Grundlagen

In den letzten drei Jahren hat der Rückbau von Talsperren auch in Deutsch- land stattgefunden. Diese Vorgehensweise mag vielen TalsperrenbauerInnen und -betreiberInnen paradox erscheinen. Doch kein von Menschen errichte- tes Bauwerk muss für die Ewigkeit stehen, und sein Rückbau kann bei Erfül- lung bestimmter Bedingungen in verschiedener Hinsicht sinnvoll sein. Be- trachtet wird hier der teilweise oder komplette Rückbau einer bestehenden Talsperre, wodurch es zur Aufhebung oder Einschränkung der ursprüngli- chen Funktionen der Stauanlage kommt. Nach der 2004 überarbeiteten DIN 19700-111 sind Talsperren Stauanlagen, die über den Querschnitt des gestauten Wasserlaufes hinaus den Talquer- schnitt abriegeln. Der International Commission on Large Dams (ICOLD)2 zufolge werden sie zum einen in große (höher als 15 Meter oder ein Stau- raum größer als 1 000 000 m3) und zum anderen in mittlere und kleine Tal- sperren eingeteilt. Zu unterscheiden sind sie von Flusssperren (zum Beispiel Wehre), die dagegen nur das Fließgewässer abschließen. Querbauwerk ist der Oberbegriff für Flusssperren und Talsperren. Menschliche Gesellschaften bauen seit Jahrtausenden Talsperren, um das gestaute Wasser nutzen zu können. Mit dem 20. Jahrhundert wurde ange- sichts steigender Bevölkerungszahlen, kontinuierlichen Wirtschaftswachs- tums und der technischen Kapazitäten begonnen, systematisch Talsperren- anlagen zu errichten. Diese Entwicklung erreichte in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt. Nach ICOLD-Angaben wurden mindestens 50 000 große Tal- sperren als Reaktion auf die Nachfrage nach Strom und Wasser errichtet. Während heutzutage vor allem in den Industriestaaten kaum noch Talsper- ren errichtet werden, geht der Bau in anderen Teilen der Welt intensiv weiter. Gründe für den Bau waren und sind vor allem Stromerzeugung, Bewässe- rung, Trinkwasserversorgung, aber auch die Zugänglichkeit für die Schiff- fahrt und der Hochwasserschutz.

1 Vgl. Arbeitsausschuss NAW II 0 »Stauanlagen« des Normenausschusses Wasserwesen (NAW): Stauanlagen – Teil 11: Talsperren, Juli 2004. 2 Vgl. International Commission on Large Dams – ICOLD: Dams & the World’s Water, an educational book that explains how dams help to manage World’s Water, 2007. http://www.talsperrenkomitee.de (http://tinyurl.com/6g4j9d6; 11.05.2011).

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Zweifellos bringen Talsperren seit vielen Jahrzehnten der gesellschaftli- chen Entwicklung einen nicht zu unterschätzenden Nutzen. In einem Groß- teil der Staaten könnten wir uns die sozioökonomische Entwicklung ohne Talsperren kaum vorstellen. So erzeugten Wasserkraftwerke in Zusammen- hang mit Talsperren 2008 weltweit ca. 16 Prozent des gesamten Stroms, und bewässerte Flächen tragen zu einem Drittel der landwirtschaftlichen Pro- duktion bei.3 Die sozialen und ökologischen Wirkungen jedoch wurden in der Vergan- genheit kaum betrachtet. Talsperren haben mehr als die Hälfte der Flüsse der Welt fragmentiert und radikal verändert. Globale Schätzungen legen nahe, dass 50 bis 90 Millionen Menschen durch den Bau von Stauseen umgesiedelt wurden; zumeist landeten sie in den Armensiedlungen von Großstädten.4 In dem Maße, wie die negativen Auswirkungen deutlicher, Entscheidungspro- zesse in vielen Ländern offener und partizipativer wurden und das ökolo- gisch-soziale Bewusstsein der Gesellschaften sich erhöhte, wurde die Ent- scheidung, eine Talsperre zu bauen, auch immer häufiger angefochten. Die enormen Investitionen und die weitreichenden Auswirkungen von Talsper- ren, insbesondere von großen Talsperren, entflammen vor allem seit Beginn der 1990er Jahre Konflikte hinsichtlich der Auswirkungen – sowohl was be- stehende Anlagen als auch in Planung befindliche betrifft.

Rückbau von Talsperren

Daher berücksichtigen viele der heutigen Untersuchungen zum Bau, Betrieb und zur Sanierung von Talsperren und zur Renaturierung von Fließgewässer auch ökologische und soziale Problemstellungen. Dem liegen Forschungs- ergebnisse der vergangenen Jahrzehnte zugrunde, die neue Erfahrungen und Erkenntnisse über die Auswirkungen von Talsperren auf die abioti- schen5, chemischen und biotischen6 Eigenschaften von Fließgewässeröko- systemen generiert haben. Aber auch solche, die Auswirkungen von Talsper- ren auf die sozialen, kulturellen und ökonomischen Strukturen menschlicher Gesellschaften in den Fokus gerückt haben.7 Auf Basis dieser Ergebnisse wurde die Diskussion über die Bewirtschaf- tung der Wasserressourcen aus einer neuen Perspektive geführt. In diesem

3 Vgl. UNESCO: The United Nations World Water Report 3: Water in a Changing World, 2009. http://www.unesco.org (http://tinyurl.com/cgaloa; 11.05.2011). 4 Vgl. Weltkommission für Staudämme: Staudämme und Entwicklung: ein neuer Rahmen zur Entscheidungs- findung, 2000. http://www.dams.org (http://tinyurl.com/5umx3a3; 11.05.2011). 5 Damit sind Zustände und Entwicklungen gemeint, die sich nicht auf Lebewesen beziehen. 6 Hiermit sind Zustände und Entwicklungen erfasst, die sich auf Lebewesen beziehen. 7 Vgl. Ercan Ayboga: Rückbau von Talsperren. In: Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V. (DWA) (Hrsg.): Weiterbildendes Studium Wasser und Umwelt, Hydraulik und Wasserbau, Wei- mar 2009. http://www.uni-weimar.de (http://tinyurl.com/5sbqa3m; 11.05.2011).

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Rahmen wurde ab den 1980er Jahren in den Industriestaaten die Forderung nach Renaturierung von Fließgewässerökosystemen wesentlich offener ge- stellt. Durch den gesellschaftlichen Druck und die veränderte Betrachtungs- weise wurden Gesetze beschlossen, die zum einen eine verbesserte Partizi- pation und Umsiedlungspraxis von Betroffenen und zum anderen eine Verminderung der ungewünschten abiotischen, chemischen und biologi- schen Folgen bezwecken sollen – ohne jedoch die wasserwirtschaftlichen Funktionen der Talsperren und Stauseen bedeutend einzuschränken. So be- gann in den Industriestaaten systematisch die Renaturierung der Fließ- gewässerökosysteme. In Rahmen dieser Entwicklung wurden in den Indus- triestaaten unzählige Wehre mit Fischwanderhilfen bestückt oder rückge- baut, was als die Vorstufe zum Rückbau von Talsperren bezeichnet werden kann.

Gründe für den Rückbau von Talsperren

Je nach Talsperre und ihren Standortbedingungen können ein oder mehrere Gründe für den Rückbau ausschlaggebend sein.

Wirtschaftlichkeit Obwohl Talsperren typischerweise für eine Laufzeit von 50 Jahren ausgelegt werden, können sie bei geeigneter Unterhaltung und periodischen Sanie- rungsmaßnahmen wesentlich länger betrieben werden. In diesem Sinne wer- den seit Jahrzehnten viele Talsperren saniert. Doch stellt sich bei einigen Tal- sperren, deren wasserwirtschaftliche Funktion aus verschiedenen Gründen wegfällt und bei denen ein erheblicher Investitionsbedarf für die Erhaltung und Sanierung notwendig wird, die Frage, ob aus ökonomischen Gründen ein Rückbau in Erwägung gezogen werden sollte. Somit ist der Rückbau von Talsperren auch als eine Maßnahme zur Lösungsfindung für alternde Tal- sperren zu verstehen, von denen kein oder kaum Nutzen mehr ausgeht. In der Vergangenheit wurden viele kleine Talsperren und andere kleine Stauanlagen errichtet, um Wasser für industrielle oder agrarwirtschaftliche Produktion, aber auch für Mühlen- oder Sägebetrieb zur Verfügung zu stel- len. In anderen Fällen veralteten früh errichtete Wasserkraftanlagen ange- sichts der Entwicklung von regional größeren und effizienteren Produktions- anlagen von elektrischer Energie. Wenn nun die alten Industrieanlagen oder Nutzungen nicht mehr vorhanden sind, fallen bei weiterer Existenz der Stau- anlage Ausgaben an, die sich aus Instandhaltung und Versicherung ergeben. In einigen Regionen können bei reduziertem Nutzen Forderungen nach Wiederherstellung des Fischereiwirtschaftszweiges (zum Beispiel Aufzucht

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von Lachsen) auch ein entscheidender Faktor für den Rückbau von Talsper- ren sein.8 Verschiedene Studien zeigen, dass in vielen Fällen des teilweisen oder kompletten Wegfalls des Nutzens einer Talsperre die Kosten für den kompletten Rückbau deutlich weniger als die Umrüstung für einen neuen Zweck oder die notwendige Sanierung betragen können.9

Sicherheitsaspekte Wie alle Bauwerke altern auch Talsperren. Verschiedene Vorgänge führen zur Verringerung der Standsicherheit und Unsicherheit im Betrieb, wenn nicht entsprechende Instandhaltungsmaßnahmen durchgeführt werden. Sind diese nicht ausreichend, entstehen vor allem bei Hochwasser oder Erd- beben große Risiken des Bruchs und damit Katastrophen für die unterstrom lebende Bevölkerung; Fauna und Flora werden ebenfalls beeinträchtigt. Seit dem Bau von Talsperren kommt es immer wieder zum Versagen von Tal- sperren durch Bruch. In den Industriestaaten ist die Zahl der Toten und der Schäden durch Talsperrenkatastrophen seit den 1980er Jahren stark zurück- gegangen. Die Zahlen aus Entwicklungsländern sind nach wie vor auf ho- hem Niveau. Zuletzt starben am 27. März 2009 in Indonesien 99 Menschen durch den Bruch einer Talsperre nach heftigen Regenfällen.10 Eine große Be- völkerungsdichte in überschwemmungsgefährdeten Gebieten erhöht die Ka- tastrophengefahr.

Ökologische Gründe Die Renaturierung von Fließgewässerökosystemen ist bei den Talsperren- Rückbauprojekten nach der Wirtschaftlichkeit der wichtigste Grund. Seit den 1980er Jahren wird ökologischen Themen auch auf judikativer Ebene Rechnung getragen, und es werden immer höhere Standards für den Schutz und die Renaturierung von Umwelt und Gewässer gesetzt. So wurde gefordert, bedrohte Tiere und Pflanzen im Fließgewässerökosystem zu schützen, die Wasserqualität und gleichzeitig den Hochwasserschutz zu ver- bessern. Um dies zu erfüllen, war es unter anderem notwendig, ausgebaute und begradigte Fließgewässer zu renaturieren und die Einleitung von Schadstoffen zu begrenzen. Diese Forderungen sind Teil einer Perspektive, die nach einem verbesserten Gleichgewicht zwischen ökonomischer Ent- wicklung und Umweltschutz sucht.

8 Vgl. European Rivers Network (ERN): Dam Decommissioning. French pilot experiences and the European context. Rivernet Project. http://www.rivernet.org (http://tinyurl.com/6ysrwgr; Frankreich, 13.12.2009). 9 Vgl. Ayboga 2009 (s. Anm. 7). 10 Vgl. Agence France Press – AFP (2009): Mehr als 90 Leichen nach Dammbruch in Indonesien geborgen. News, 29.03.2009.

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Aus biotischer Sicht ist die Wiederherstellung der Durchgängigkeit von Fließgewässern der wichtigste Aspekt. Denn die Lebensgemeinschaften11 der Tiere und Pflanzen im und am Fließgewässer sind durch die Ortsverände- rungen der Organismen geprägt, und Gewässer haben eine wichtige Auf- gabe als Vernetzungsstrukturen und Korridore. So verspricht man sich vom Rückbau einer Talsperre oder anderer Querbauwerke die Wiederbelebung der Artengemeinschaften. Besonders bei bedrohten Fischarten kann dieser Aspekt zu einem wichtigen Beweggrund für die Entscheidung zum Rückbau einer Talsperre werden.12

Soziokulturelle Gründe Parallel zu den gestiegenen gesellschaftlichen Forderungen nach Umwelt- schutz wird der Schutz bzw. die Restaurierung von Kulturgütern in der Ge- sellschaft vorangetrieben. Als kulturelles Erbe gilt heute viel mehr als nur die Bewahrung einiger Denkmäler. Nicht nur historische Bauwerke, sondern auch an gewisse Orte gebundene Traditionen und Zeremonien gehören dazu. Die Wiederherstellung eines Gebietes in den weitgehend historisch- ursprünglichen Zustand durch den Rückbau einer Talsperre kann von der Gesellschaft erwünscht sein. Dies kann mit bedeutenden sozialen und kultu- rellen Werten oder Nutzungen, die von diesem Gebiet vor dem Bau der Tal- sperre ausgingen, zusammenhängen. Vor allem für indigene Menschen oder ethnisch-religiöse Minderheiten kann dieser Aspekt eine sehr wichtige Rolle einnehmen. Der Rückbau der US-Talsperren Glines Canyon und Elwha ist unter anderem deshalb geplant, weil die lokalen Indigengemeinschaften jah- relang eine politische Kampagne für den Wiederzugang zu ihren früheren kulturellen Orten führten.

Freizeit und Erholung In Bezug auf Freizeit und Erholung an gestauten Gewässern ist es grund- sätzlich nicht leicht zu entscheiden, ob der Rückbau einer Talsperre positive oder negative Auswirkungen haben wird. Einige Stauseen ermöglichen di- verse Freizeitangebote wie zum Beispiel Bootsfahrten und Angelfischerei. Sich wandelnde Wertevorstellungen gegenüber frei fließenden Gewässern erhöhen jedoch auch das Interesse an Boots-, Kanu- und Kajakfahrten im Wildwasser sowie an Spaziergängen, Wanderungen und Sportfischerei an Flüssen.

11 Lebensgemeinschaften werden auch Biozönosen genannt. Sie sind eine Gemeinschaft von tierischen und pflanzlichen Organismen in einem abgrenzbaren Lebensraum. 12 Vgl. Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V. (DWA) (Hrsg.): Weiterbildendes Studium Wasser und Umwelt, Hydraulik und Wasserbau: Durchgängigkeit von Fließgewässern, Weimar 2005. http://www.uni-weimar.de (http://tinyurl.com/6emearc; 11.05.2011).

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Überblick zu Rückbauprojekten und rechtliche Rahmenbedingungen

Der Rückbau von Talsperren hat zunächst in den USA, Kanada und Frank- reich in den 1990er Jahren stattgefunden. Da in den Industriestaaten schon ab Ende des 19. Jahrhunderts Talsperren – heute liegt die Zahl aller Talsper- ren im Millionenbereich – errichtet wurden, liegt es nahe, dass die Frage nach dem Rückbau zuerst in den Industriestaaten auf die Tagesordnung ge- kommen ist. Bei näherer Betrachtung der Rückbauprojekte stellen wir fest: Bis heute sind fast nur Talsperren bis zu einer Höhe von etwa 25 Meter rückgebaut worden, was daran liegt, dass sie zunächst zahlenmäßig gegenüber größeren Talsperren (errichtet insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg) deutlich überwiegen, sie oft im Durchschnitt um einige Jahrzehnte älter als die größe- ren Talsperren und somit auch weniger standsicher sind. In Europa fanden die ersten bekannten Rückbaumaßnahmen in Frank- reich statt.13 Auf der Loire und ihren Nebenflüssen wurden im Rahmen des Plan Loire Grandeur Nature sechs ältere – zumeist kleine und mittlere – Tal- sperren mit hohen Sedimentationserscheinungen14 entfernt, damit vor allem Lachse wieder stromaufwärts laichen können.15

13 Vgl. Roberto Apple: French pilot experiences and the european context, Frankreich 2000. http://www.rivernet.org (http://tinyurl.com/6ysrwgr; 11.05.2011). 14 Sedimente sind Feststoffe (Geschiebe und feine Anteile), die ein Fließgewässer mit sich führt. In Stauseen setzen diese sich zumeist ab, weil die Geschwindigkeit sehr gering ist. 15 Vgl. Denis Aelbrecht: Lessons learned from Dam Removal Experiences in France, Electricite de France (EDF) presentation at Hydrovision Conference – Portland, Paris 2006.

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Abbildung 1: Sprengung der Talsperre St. Etienne auf einem Nebenfluss der Loire, rückgebaut 1998

Quelle: European Rivers Network (ERN), http://www.rivernet.org/general/dams decommissioning_fr_poutes/imgs_sons_video/stet3.jpg (11.05.2011)

In Deutschland wurden in den Jahren 2006 und 2007 zwei Talsperren (Tal- sperre Krebsbach in Ost-Thüringen und Untere Herbringhauser Talsperre bei Wuppertal/Nordrhein-Westfalen16) komplett rückgebaut. Der von beiden Talsperren ausgehende Nutzen entfiel bereits Jahre zuvor, die Standsicher- heit war bei großen Hochwasserereignissen nicht mehr gegeben, und die Sa- nierung wurde von den beiden öffentlichen TalsperrenbetreiberInnen nicht für sinnvoll gehalten.17 Im Jahre 2000 wurde die für die Staaten der Europäischen Union verbind- liche Europäische Wasserrahmenrechtlinie von der Europäischen Gemein- schaft (EG-WRRL) beschlossen. Ihr Ziel ist es, die Wasserpolitik stärker auf eine nachhaltige und umweltverträgliche Wassernutzung auszurichten. Als Umweltziel für die Oberflächengewässer ist das Erreichen eines guten öko- logischen und chemischen Zustandes innerhalb von 15 Jahren nach Inkraft- treten der Richtlinie festgelegt. Dazu sollen die Mitgliedstaaten alle Ober-

16 Vgl. Ercan Ayboga: Rückbau der Talsperre Untere Herbringhauser. Telefongespräch von Ercan Ayboga mit Herrn Rainer Roggatz von den Wuppertaler Stadtwerken, Weimar 27.08.2009. 17 Vgl. Thüringer Fernwasserversorgung: Der Rückbau der Talsperre Krebsbach – Das erste Projekt seiner Art in Deutschland. http://www.thueringer-fernwasser.de (http://tinyurl.com/66gohfl; 11.05.2011).

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flächenwasserkörper schützen, verbessern und sanieren.18 Mit diesen Forde- rungen an den Zustand der Gewässer gewinnt die Renaturierung und Revi- talisierung von europäischen Fließgewässern an Bedeutung. Da in Europa die nationalen Wasserhaushaltsgesetze an die EG-WRRL angepasst werden, bildet sie die wichtigste gesetzliche Grundlage für den Rückbau von Tal- sperren.19 Zur Einstufung des ökologischen Zustands von Fließgewässern werden biologische, hydromorphologische, chemische und allgemeine physikalisch- chemische Qualitätskomponenten sowie spezifische Schadstoffe betrachtet. Zu den hydromorphologischen Komponenten20 gehört unter anderem die Durchgängigkeit des Fließgewässers.21 Es gibt jedoch auch Ausnahmen: Künstliche und erheblich veränderte Ge- wässer, worunter Stauseen fallen, können die ökologischen Kriterien der EG-WRRL nicht erfüllen. Deshalb wird für sie lediglich ein ökologisches Po- tential angenommen, dessen Kriterien niedriger angesetzt sind als die für ei- nen guten ökologischen Zustand. Als ausschlaggebende Begründung dient der oft zitierte sozioökonomische Nutzen für die Gesellschaft. Konkret heißt das: wenn eine Talsperre relativ viel Strom oder Trinkwasser liefert, kann von ihrem Rückbau oder der Anbringung von Fischwanderhilfen abgesehen werden. Doch die nach wie vor weitverbreitete Unterbrechung der Längsdurch- gängigkeit der Gewässer durch Querbauwerke stellt nach einer Bestandsauf- nahme im Rahmen der EG-Wasserrahmenrichtlinie die häufigste Ursache dafür dar, dass das Erreichen der Ziele der Wasserrahmenrichtlinie als un- wahrscheinlich eingeschätzt wird.22 In diesem Sinne kann der Rückbau von sowohl weiteren kleinen Querbauwerken als auch kleinen und mittleren Tal- sperren gefordert werden, um so die Durchgängigkeit wiederherzustellen und die gewässerökologische Qualität zu erhöhen.

18 Vgl. Europäische Gemeinschaft: Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik (Wasserrahmenrichtlinie), AB1, L 327 vom 22.12.2000, S. 1-73. 19 Vgl. Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V. (DWA) (Hrsg.): Weiterbildendes Studium Wasser und Umwelt: Durchgängigkeit und Habitatmodellierung von Fließgewässern, Weimar 2005. 20 Darunter werden die Art und Weise der Sohlstruktur, der Uferbefestigung, des Sohlsubstrates sowie in ge- wissem Umfang auch die angrenzende Aue verstanden. 21 Vgl. Sten Meusel: Weiterentwicklung der stoffbezogenen Maßnahmenplanung zur Umsetzung der EG-Was- serrahmenrichtlinie am Beispiel des Einzugsgebietes der Ilm, Weimar 2008. 22 Vgl. European Environmental Bureau: 10 years of the Water Framework Directive: A Toothless Tiger? A snapshot assessment of EU environmental ambitions. July 2010. http://www.eeb.org (http://tinyurl.com/66xxtxw; 10.05.2011).

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Varianten und Möglichkeiten des Rückbaus

Abhängig vom bautechnischen Zustand der jeweiligen Talsperre und seiner historischen Bedeutung, den Kosten der Entfernung des Absperrbauwerks, den finanziellen Kapazitäten der EigentümerInnen, den Auflagen der jewei- ligen Genehmigungsbehörde, den anliegenden Kommunen, den zu erwar- tenden biotischen und abiotischen Folgen können folgende Möglichkeiten des Rückbaus von Talsperren in Erwägung gezogen werden: Kompletter Rückbau: Der komplette Rückbau von Talsperren ist die radi- kalste Lösung, denn sie bedeutet die Aufhebung der physischen Hindernisse für das fließende Wasser und die Wiederherstellung der Durchgängigkeit. Damit wird die weitgehende Renaturierung des Fließgewässerökosystems bewirkt.23 Teilweiser Rückbau: Unter Umständen ist es besser, Talsperren nicht kom- plett, sondern nur teilweise rückzubauen. Diese Option bedeutet, dass die Höhe des Absperrbauwerks um einen gewissen Betrag reduziert wird, so dass auf jeden Fall ein gewisser Stauraum erhalten bleibt. Es können ver- schiedene Gründe für den teilweisen Rückbau vorliegen: a) Eine für den Rückbau vorgesehene alte Talsperre könnte unter Denkmalschutz stehen, weshalb neben Flankenresten auch die Querabsperrung in gewisser Höhe erhalten wird. b) Ein kleines Staubecken soll beibehalten werden, damit ein mit dem Bau der Talsperre geschaffenes wertvolles Feuchtgebiet erhalten bleibt. c) Überreste einer Talsperre können dazu dienen, einen Teil des im Stauraum akkumulierten Sediments zu stabilisieren. d) Für den Fall von Hochwasserereignissen können Reste einer Talsperre als Pufferzone dienen. Beim Vergleich der Häufigkeit zwischen komplettem und teilweisem Rückbau von Talsperren kann festgestellt werden, dass viel häufiger die Tal- sperren komplett rückgebaut werden. Ein erster Vergleich zeigt, dass 79 Pro- zent aller rückgebauten Querbauwerke komplette Rückbauten waren.24

Sedimentbewirtschaftung

Bei Betrachtung der Konzepte und Vorgehensweisen zum Rückbau von Tal- sperren muss zwischen der physischen Entfernung des Querbauwerks und der Sedimentbewirtschaftung unterschieden werden. Die Sedimentbewirt- schaftung ist in der Regel viel bedeutender als die Entfernung des Absperr-

23 Vgl. Thüringer Fernwasserversorgung: Rückbau der Talsperre Krebsbach – das erstige derartige Vorhaben in Deutschland, Erfurt 2008. http://www.thueringer-fernwasser.de (http://tinyurl.com/683g68q; 14.07.2011). 24 Vgl. National Cooperative Highway Research Program: A Summary of Existing Research on Low-Head Dam Removal Projects, USA 2005, NCHRP Project 25-25 – Task 14; done by ICF Consulting and Woodlot Alternatives Inc.

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bauwerks, denn sie bestimmt in entscheidender Weise die Auswirkungen auf das Gerinne stromabwärts und entscheidet oft darüber, wie das Absperr- bauwerk physisch rückgebaut wird. Es gibt für die Sedimentbewirtschaftung nach dem Rückbau einer Tal- sperre grundlegend drei Möglichkeiten25: Bei der Option des natürlichen Sedimenttransports durch Erosion wird das im Stauraum akkumulierte Sediment an Ort und Stelle gelassen, so dass es nach der Entfernung des Absperrbauwerks erodieren, sich stromabwärts be- wegen und neu absetzen kann. Dabei bildet sich im Stauraum ein zunächst sehr dynamisches Gerinne, das erst nach einer gewissen Zeit ein Stadium des Gleichgewichts erreicht. Die Menge des herausgelösten Sediments im Verhältnis zum gesamten akkumulierten Sediment hängt von verschiedenen Bedingungen ab. Diese Option ist nicht die passende Wahl, wenn das akku- mulierte Sediment in hohem Maße mit Schadstoffen kontaminiert ist, die Schifffahrt davon betroffen wird oder wenn besonders bedrohte Arten unter- strom geschützt werden sollen. Die Möglichkeit der Stabilisierung des Sediments kann auch in einigen Fäl- len in Betracht kommen. Dabei wird das akkumulierte Sediment im Stau- raum durch das Anlegen von größeren Steinen auf das zu stabilisierende Se- diment oder durch Techniken des Bioingenieurwesens bzw. die Revegetation von Flächen im Stauraum stabilisiert. Die Möglichkeit der Ausbaggerung des gelagerten Sediments schließt haupt- sächlich die Ausbaggerung des akkumulierten Sediments vor und/oder nach der Entleerung des Stauraums und die Entsorgung oder Wiederbenut- zung des Sediments ein. Diese Option kommt zur Anwendung, wenn zum Beispiel stromabwärts problematische Auswirkungen auf die Transportka- pazität des Fließgewässers und kritisches Habitat zu erwarten sind. Diese Vorgehensweise kann kostspielig sein.26 Sedimentfallen (Aufweitung des Gerinnes in einem Fließbereich in ein brei- tes Becken) im Unterstrom können aus dem Stauraum erodierende Sedi- mente sammeln und ihre Entfernung somit erleichtern. Durch die deutlich geringere Geschwindigkeit können Teile des Sediments sich hier absetzen.27 Die mögliche Ausbaggerung des Sediments hat die geringsten Auswir- kungen auf das Gerinne stromabwärts, aber die höchsten finanziellen Auf- wendungen. Im Gegensatz dazu steht der natürliche Sedimenttransport durch Erosion mit den geringsten Kosten. Manchmal kommt es zu einer Kombination der verschiedenen Möglichkeiten.

25 Vgl. Task Committee on Guidelines for Retirement of Dams and Hydroelectric Facilities: Guidelines for the Retirement of Dams and Hydroelectric Facilities, New York 1997. 26 Vgl. Yantao Cui et al.: Dam Removal Express Assessment Models (DREAM), Part 2: Sample runs/sensitivity tests. In: Journal of Hydraulic Research, Jg. 44, Nr. 3, 2006, S. 308-323. 27 Vgl. Task Committee 1997 (s. Anm. 25).

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Beim natürlichen Sedimenttransport durch Erosion kann der Rückbau des Querbauwerks in einem Schritt oder stufenweise durchgeführt werden. Dies wird in Betracht gezogen, wenn die Sedimentmenge zu groß ist und bei der Freisetzung besser kontrolliert werden soll.

Auswirkungen des Rückbaus

Mit dem Rückbau von Talsperren treten unmittelbar Veränderungen sowohl stromauf- als auch stromabwärts auf. Diese sind zum Teil eine Aufhebung der Wirkungen, die durch den Bau der Talsperren erzeugt wurden, und ge- hen bis zur Einstellung eines neuen Gleichgewichts weiter. Dabei bestimmen die oberstrom der rückgebauten Talsperre eintretenden abiotischen Verände- rungen die Umgestaltungen stromabwärts.28 Umfassendes Wissen über die abiotischen Auswirkungen ist ein wichtiger Schlüssel für das Verstehen der Auswirkungen auf die Biotik.

Abiotische Auswirkungen Durch den Rückbau der Talsperre wird in erster Linie die Durchgängigkeit des Fließgewässers wiederhergestellt. Damit kehrt das Abflussregime weit- gehend zu der Situation zurück, die vor dem Bau der Talsperre bestand. So sind wieder Hochwasserereignisse und Niedrigwassermengen im Fließ- gewässer stromabwärts und für den Stauraum zu erwarten. Saisonale Über- flutungen führen zur Reaktivierung von Auen und somit zu verstärkten late- ralen Austauschprozessen. Dieser Aspekt der lateralen Interaktion hat für Fließgewässer in der Furkationszone und der Mäanderzone eine größere Be- deutung als im gestreckten Oberlauf.29 Auch wird die Einengung des Gerin- nes stromabwärts durch ausbleibende oder deutlich geringere Hochwässer rückgängig gemacht, und die ökologische und hydraulische Komplexität des Gerinnes kann wieder zunehmen. Der Rückbau der Talsperre stellt den ursprünglichen Sedimenthaushalt weitgehend wieder her, das Gerinne stromabwärts bekommt den notwendi- gen Eintrag von Sedimenten und verbindet die verschiedenen Fließgewässer- gebiete zu einem kontinuierlichen Sedimenttransportsystem. Für Stauräume mit einem engen Talquerschnitt bzw. enger Talaue und relativ großer Durch- flussmenge gilt, dass nach dem Rückbau der Großteil des im Stauraum abge- lagerten Sediments bewegt wird. Im Fall eines breiten Stauraums bleibt ein

28 Vgl. Martin Doyle et al.: Dam removal in the United States. Emerging Needs for Science and Policy. In: EOS, Nr. 84 (4), 2003, S. 29-33. 29 Vgl. DWA 2005 (s. Anm. 12).

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erheblicher Teil des angehäuften Sediments im Stauraum übrig, wenn er nicht ausgebaggert wird.30 Die Mobilisierung von großen Mengen an gebundenem Sediment aus dem Stauraum kann sich negativ auf Gewässerlebensgemeinschaften strom- abwärts auswirken. Eine Gefahr ist die Bedeckung von Fließgewässerab- schnitten stromabwärts mit Sedimenten. Diese zusätzlichen Ablagerungen werden jedoch im Laufe der Zeit abtransportiert, und es stellt sich eine natür- lichere Verteilung der Sedimente ein.31 Neben groben Sedimenten können auch gelöste feine Sedimente für ei- nige Jahre eine Suspension im Gerinne stromabwärts verursachen, was sich wiederum negativ auf die Wasserqualität und Gewässerlebensgemeinschaf- ten auswirken kann. Die Ablagerungen führen zur Abnahme der Sohlen- eigung, wodurch der Korndurchmesser des Substrats im Fließgewässer stromabwärts in der Regel verfeinert wird. Darüber hinaus werden schadstoffkontaminierte Sedimente – die im Stau- see ankommenden Herbizide, Pestizide und Schwermetalle werden nämlich hier gebunden – freigesetzt und stromabwärts transportiert. Dies kann sich für die Wasser- und Sedimentqualität der Abschnitte stromabwärts negativ auswirken. In diesem Fall wäre eine Ausbaggerung dieser kontaminierten Sedimente oder ein stufenweiser Rückbau zu überlegen.32 Der Rückbau von Talsperren stellt einen Wassertemperaturhaushalt her, der dem natürlichen vor dem Talsperrenbau nahesteht. Denn aus Stauseen wird meistens Wasser mit relativ niedrigeren Temperaturen freigelassen, was sich negativ auf die Lebewesen im und am Wasser auswirkt. Zudem be- steht die Gefahr einer Übersättigung (Supersaturation) mit Sauerstoff für eine kurze Dauer. Dies kann durch eine schnelle Entleerung des Stauraums verursacht werden, was zum Tod von Fischen und Insekten führen kann.33

Biotische Auswirkungen Der Rückbau von Talsperren hat kurz- und langfristige Auswirkungen auf die Fließgewässerlebensgemeinschaft. Wenn durch diesen natürliche Abflus- sverteilungen wiederhergestellt werden, verbessert sich die Biodiversität und die Dichte von aquatischer Fauna im Allgemeinen. Zum Beispiel zeigt

30 Vgl. Timothy J. Randle; Blair Greimann: Dam Decommissioning and Sediment Management. Chapter 8. Bureau of Reclamation: Erosion and Sedimentation Manual, November 2006. S. 2-3. http://www.usbr.gov (http://tinyurl.com/5s94wwr; 11.05.2010). 31 Vgl. Heinz Center for Science, Economies and the Environment: Dam Removal Research – Science and De- cision Making, Washington DC 2002. 32 Vgl. David Hart et al.: Dam Removal: Challenges and Opportunities for Ecological Research and River Re- storation. In: Bioscience, Jg. 52, Nr. 8, 2002, S. 669-681. 33 Vgl. American Rivers: The Ecology of Dam Removal – A summary of Benefits and Impacts, 2002, S. 6-8. http://www.americanrivers.org (http://tinyurl.com/6gqqyff; 03.04.2011).

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die rückgebaute Talsperre Dead Lake in Florida/USA, dass die Anzahl der Arten sich verdoppeln oder gar verdreifachen kann.34 Es ist möglich, dass in den Auen und in den Ufergebieten neue wertvolle Feuchtgebiete entstehen: Durch die regelmäßige saisonale Überschwem- mung dieser Gebiete wird das Pflanzenwachstum unterstützt, die landein- wärts liegenden früheren Feuchtgebiete werden wieder belebt und kleine kurzlebige Teiche für die Laichung von Wassertieren geschaffen. Nach dem Rückbau von Talsperren geht im Allgemeinen eingeführte fremde, an stehende Gewässer angepasste Fauna nach Anzahl und Diver- sität deutlich zurück und die einheimische natürliche, fließende Gewässer vorziehende Fauna breitet sich aus.35 Es gibt nur wenige Informationen über die Auswirkungen des Rückbaus von Talsperren auf Organismen des Benthos36, insbesondere auf den Makro- zoobenthos. Es kommt nicht nur zur Veränderung von Habitatbedingungen, sondern auch zu Veränderungen des Typs der Primärproduktion. Eine Unter- suchung zu Krebsen zeigt, dass mittelfristig die Arten und Mengen des Bent- hos nach einem vorübergehenden Rückgang spürbar wieder zunehmen.37 In Fließgewässern mit mehreren Talsperren ist die Durchgängigkeit oft kaum wieder herzustellen; denn der von anderen Talsperren ausgehende kombinierte Effekt der Verhinderung der Wanderung von aquatischen Orga- nismen bleibt erhalten.

Das Talsperren-Rückbauprojekt Krebsbach

Das zweite Talsperren-Rückbauprojekt Deutschlands, die Talsperre Krebs- bach, wurde im thüringischen Landkreis Greiz durchgeführt. Die 18,5 Meter hohe Anlage wurde 1964 errichtet, um Brauchwasser für eine Uranaufberei- tungsanlage zu entnehmen.38 Im Jahr 1985 wurde die Brauchwasserentnahme eingestellt. So blieb nur die Funktion des kurzzeitigen Hochwasserpuffers. Aufgrund anhaltender Probleme bei Hochwasserereignissen und weiterer wesentlicher Standsi- cherheitsmängel war dennoch ein Versagen des Absperrdammes möglich. Durch Retentionsberechnungen wurde ermittelt, dass die Talsperre auch nicht als Hochwasserrückhaltebecken zu nutzen sei. Um all diese Defizite

34 Vgl. Doyle et al. 2003 (s. Anm. 28). 35 Vgl. American Rivers 2002 (s. Anm. 33). 36 Unter Benthos werden die am Gewässerboden lebenden Lebewesen definiert. Mit Makrozoobenthos wer- den die mit dem Auge erkennbaren Kleintiere verstanden. 37 Vgl. Andrew F. Casper et al.: Ecological responses of zoobenthos to dam removal on the Kennebec River, Maine, USA. In: Arch. Hydrobiol, Jg. 158/4, 2006, S. 541-555. 38 Vgl. Quent Mehlhorn; Markus Ottenbreit; Bruno Walter: Veranlassung, Verlauf und Erfahrungen des Plan- feststellungsverfahrens zum Rückbau der Talsperre Krebsbach. In: Wasserwirtschaft, Nr. 95, 2005, S. 73-78.

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beheben zu können, wären sehr hohe Aufwendungen erforderlich gewesen, und somit war die Talsperre nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben. Die Be- treiberin, die Thüringer Fernwasserversorgung, entschloss sich letztendlich für den Rückbau. Im Zuge des Rückbaus sollten auch weitere Verbauungen entfernt und eine Verbesserung der Wassergüte durch eine Reduzierung der Abwassereinleitung im Oberlauf erzielt werden, um somit ein natürliches Gewässer im »guten Zustand« entsprechend den Anforderungen der Eu- ropäischen Wasserrahmenrichtlinie entstehen zu lassen.39

Abbildung 2: Talsperre Krebsbach vor dem Rückbau

Quelle: Thüringer Fernwasserversorgung, Erfurt, 2006

Nach dem Planfeststellungsbeschluss konnten die Arbeiten zum Rückbau der Talsperre Krebsbach im März 2007 beginnen. Zunächst hob man ein Se- dimentationsbecken unterhalb des Absperrbauwerks aus, und zeitgleich wurde begonnen, den Fisch-, Amphibien- und Muschelbestand abzufischen,

39 Vgl. Thüringer Fernwasserversorgung (TFW): Rückbau der Talsperre Krebsbach, Erfurt 2006.

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umzusetzen und die Entleerung voranzutreiben. Danach konnten die Ab- brucharbeiten beginnen. Die Hanganschlüsse und ein Dammbasisplateau, einen Meter über dem ursprünglichen Geländeniveau, blieben erhalten. Das gewonnene Material wurde für den linken Talhang am Rand des Stauraumes und andere kleinere Bauwerke im Stauraum wiederverwendet. Nun konnte der Grundablass abgebrochen werden und somit der Krebsbach als offenes Gerinne neu verlegt werden. Im ehemaligen Stauraum wurde ein mäandrie- rendes Bachbett mit einer Länge von 1,35 Kilometer angelegt (doppelt so lang wie der ursprüngliche Stauraum). Ebenso wurden zwei Flutmulden und ein regulierbares Amphibienlaichgewässer angelegt. Dann wurden die anderen Anlagen der Talsperre entfernt. Zusätzlich zu den Abrissarbeiten mussten eine Straßenbrücke im Bereich des ehemaligen Absperrbauwerks, eine Fußgängerbrücke im ehemaligen Stauraum und ein Wartungsweg zur Erschließung und Pflege der neuen Talaue neu errichtet werden. Nach den Neupflanzungen von Stecklingen, Büschen und Bäumen konnte die Rück- baumaßnahme im Dezember 2007 beendet werden.40 Die Sedimentablagerungen besaßen im Mittel eine Mächtigkeit von 0,30 bis 0,35 Meter. Grobsediment ist vor allem am wasserseitigen Dammfuß zum Liegen gekommen. Mit etwa 800 Tonnen gab es einen relativ geringen Sedi- menteintrag, so dass Sedimentbewegungen bei den Betrachtungen keine wichtige Rolle spielten. Verschiedene Schadstoffe bedurften wegen Nicht- Überschreitung kritischer Grenzwerte keiner besonderen Behandlung.41 Beim Rückbau der Talsperre Krebsbach wurde entschieden, eine künstli- che Neugestaltung des ehemaligen Stauraumes durchzuführen. Die Gründe dafür liegen im Schutz der Bevölkerung unterhalb der ehemaligen Talsperre vor Hochwasserereignissen. Der neue Bachlauf wurde bewusst mäandrie- rend angelegt, um somit laufbedingt ein möglichst großes Retentionsvermö- gen zu erschaffen. Aufgrund eines starken Längs- und Quergefälles hätte sich der Lauf des Krebsbaches bei natürlicher Sukzession voraussichtlich am rechten Talhang orientiert. Eine Ausbildung von Mäandern oder Schlänge- lungen und eine mögliche Retention von Hochwasser wären dadurch weit- gehend auszuschließen. Weiterhin wurde entschieden, Wasserbauwerke in den Bachlauf zu integrieren und zwar zehn Sohlgleiten. Diese Bauwerke wurden als notwendig erachtet, um einen Bachlauf mit geringem Gefälle herzustellen, da im Stauraum ein Gesamthöhenunterschied von 9 Meter zu überwinden ist. Zur Sicherung des Gerinnes vor einer kompletten Bachlauf- Änderung in Richtung rechter Talhang wurden sechs Erosionsschutzbuhnen am nördlichen Talrand vorgesehen.

40 Vgl. ebd. 41 Vgl. ebd.

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Das angelegte Gerinne und die genannten Bauwerke setzen dem Bach erhebliche Grenzen für eine natürliche Entwicklung. Dennoch gibt es im Bachgerinne und in der neuen Bachaue gewisse Möglichkeiten für eine Ei- gendynamik: Da auf eine beidseitige Bepflanzung entlang des Bachlaufes verzichtet wurde, ist es möglich, dass dieser sich in einem gesetzten Rahmen auch verlagern kann.42

Ausblick

Der Rückbau von Talsperren kann immer mehr als eine Möglichkeit zur Re- naturierung von Fließgewässern oder als eine Möglichkeit zum Umgang mit unwirtschaftlich gewordenen Talsperren bezeichnet werden. Die bisherigen Auswirkungen infolge des Rückbaus von Talsperren sind im Hinblick auf die Fließgewässerlebensgemeinschaften und abiotischen Grundlagen überwiegend als positiv zu bewerten. Negative Folgen sind meistens von kurzer oder mittlerer Dauer, soziokulturelle Auswirkungen werden als positiv wahrgenommen. Wirtschaftliche Analysen bleiben jedoch weiterhin schwierig. Mit dem Rückbau sehr großer Talsperren gibt es bisher kaum Erfahrungen, so dass hier sehr vorsichtig agiert wird. Eine im Februar 2011 durchgeführte Umfrage43 unter den größten elf Tal- sperrenbetreiberInnen in der BRD ergab, dass momentan keine weiteren Rückbauprojekte geplant sind. Dies liegt zum einen daran, dass die von Tal- sperren ausgehenden sozioökonomischen Nutzen oftmals hoch sind – diese nehmen mit steigender Talsperrengröße parallel zu. Zum anderen sind die Zunahme der Hochwassergefahren und die Nachfrage nach Wasserkraft aufgrund veränderter klimatischer und energiepolitischer Rahmenbedin- gungen ein zusätzlicher Faktor. Selbst wenn die ursprüngliche Nutzung wegfallen sollte, werden oft neue Möglichkeiten herangezogen. Dies war bei der Ronstorfer Talsperre im Ein- zugsgebiet des Flusses Wupper in Nordrhein-Westfalen der Fall, so wurde aus einer Brauchwassertalsperre eine Freizeittalsperre.44 Solange ein Nutzen besteht oder Ersatz dafür gefunden wurde, werden die Talsperren auch im- mer wieder saniert. Auch wenn zurzeit keine weiteren Projekte für den Talsperrenrückbau in Deutschland geplant sind, ergab die oben genannte Umfrage auch, dass die TalsperrenbetreiberInnen den Rückbau von Talsperren als eine Option in die

42 Vgl. ebd. 43 Vgl. Ercan Ayboga: Interview mit 9 der 11 größten TalsperrenbetreiberInnen in Deutschland zum Kenntnis- stand, zu den Erfahrungen und Planungen rund um das Thema »Rückbau von Talsperren«, Februar 2011. 44 Vgl. Ercan Ayboga: Gespräch mit Manfred Schleising vom Wupperverband über den Rückbau von Talsper- ren, 22.02.2011.

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zukünftigen Überlegungen miteinbeziehen. Es ist also davon auszugehen, dass es unter den jetzigen Rahmenbedingungen in der BRD in den kommen- den Jahren zu keinen Rückbauprojekten in zweistelliger Anzahl kommen wird. Dabei werden sich die meisten Rückbaufälle wahrscheinlich auf Bau- werke mit bis zu einer Höhe von ca. 25 bis 30 Meter konzentrieren. In Staaten wie Frankreich, USA und Kanada gibt es eine Reihe von Tal- sperren, die wegen des Schutzes von bedrohten Fischarten rückgebaut wur- den. Und auch hohe Sedimentationsraten können ein Grund für diese Ent- scheidung sein. So gibt es zum Beispiel in China, Indien, der Türkei und den USA Regionen mit großen Stauraumverlusten, die zu ernsthafter Reduzie- rung der Nutzbarkeit führen.45 Darüber hinaus ist es in alten Industrieregio- nen – wie zum Beispiel in Ostdeutschland – vorstellbar, dass große Talsperren rückgebaut werden, wenn die Bevölkerungszahl weiter rapide zurückgeht und die Trinkwassertalsperren daher nicht mehr benötigt werden. Beide Rückbauprojekte in Deutschland haben gezeigt, dass der Aspekt der Wirtschaftlichkeit der Stauräume nicht im Zentrum der Überlegungen stand, aber doch für eine Reihe von Talsperrenrückbauprojekte wichtig sein kann. Bisher haben bei den hydromorphologischen Betrachtungen die sedi- mentologischen Auswirkungen stromabwärts im Vordergrund gestanden. Doch in Regionen mit dichter menschlicher Besiedlung an Fließgewässern steigt bei exzessiver Freisetzung von Sedimenten und erhöhtem Hochwas- serrisiko die Gefährdung. Hier gewinnt die Stauraumbewirtschaftung nach dem Rückbau an Bedeutung.

45 Vgl. Desmond E. Walling; Bruce Webb: Erosion and Sediment yield: a global overview. In: Erosion and Sedi- ment Yield: Global and Regional Perspectives (IAHS Proceedings & Reports), Exeter 1996, S. 3-21.

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MEDIEN

Peter Bescherer

Ganz unten im Kino. Eisenstein, Pasolini und die politische Subjektivität des Lumpenproletariats

Die Linke tut sich schwer mit der »Unterschicht«. Sie gehöre nicht zum hand- lungsrelevanten Kern der Arbeiterklasse, so die in der Tradition der Strömung dominierende Auffassung. Mit dem Verdikt des »Lumpenproletariats« wur- den randständige Klassensegmente und unterschichtete Gruppen als konter- revolutionär (weil bestechlich), für den Grundwiderspruch kapitalistischer Gesellschaften irrelevant (weil unproduktiv) und nicht organisierungsfähig (weil ohne die »schulende« Erfahrung der Industriearbeit) abgeurteilt. Ihre Ursprünge mögen diese Einschätzungen in der Konsolidierungsphase einer mächtigen ArbeiterInnenbewegung und in den Zeiten engagiert betriebener Klassentheorie haben. Die Selbstversicherung widerständig-proletarischer Identität unter Abgrenzung von politisch zweifelhaften Lumpenproletariern zieht sich jedoch durch die Geschichte linker Politik und kritischer Gesell- schaftstheorie bis heute. So weist die soziologische Prekarisierungsforschung (als Variante kritischer Gesellschaftstheorie, die sich mit der »neuen sozialen Frage« vorrangig beschäftigt) in ihrem Kategoriengebrauch Parallelen zum Stereotyp des handlungsunfähigen Lumpenproletariats auf. Zumindest gilt das dort, wo sie Lohnarbeit und politische Subjektivität so miteinander verknüpft, dass eine »arbeiterliche Identität« geradezu zur Voraussetzung politischer Opposition gemacht wird, jedenfalls aber allen, die keiner regel- mäßigen Beschäftigung nachgehen und nicht sozial integriert sind, abge- sprochen wird, politische Handlungsfähigkeit entwickeln zu können. Den »Überflüssigen« und »Entkoppelten«, die dauerhaft entweder keiner oder keiner gesellschaftlich nützlichen und anerkannten Lohnarbeit nachgehen (also einer historisch-spezifischen Form von »Arbeit«), unstetig Beschäftig- ten, SchulabgängerInnen, die von einem Praktikum zum nächsten wechseln, modernen TagelöhnerInnen, illegal Beschäftigten, LeiharbeiterInnen – ihnen allen fehle die »Identität durch Arbeit«1. Die ökonomische übersetze sich in 1 Robert Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000, S. 360.

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eine politische Nutzlosigkeit und lasse die Betroffenen Auswege in einem »gefühlsmäßigen Radikalismus«2 suchen; sie hätten nur die »Wahl zwischen Resignation und sporadischen Gewaltausbrüchen«3. Wenn auch mit jeweils anderen Begriffen lässt sich diese »dunkle Seite« der Emanzipationsbemühungen immer wieder finden. Man könnte meinen zu Recht, denn tatsächlich sind die Versuche, unter den Marginalisierten das neue »revolutionäre Subjekt« zu finden, wenig überzeugend. Das sollte aber kein Grund dafür sein, dass sich das Gros der Befreiungstheorien und -prak- tiken so wenig von der Kritik an ihrem produktivistischen Subjektverständ- nis in Frage stellen lässt und etwa die Eigenlogik von Armutsprotesten so wenig ernst nimmt. Die Vorstellung vom Lumpen- oder soziologischer: Subproletariat im lin- ken Imaginären möchte ich anhand zweier Filme untersuchen4: Streik von Sergej Eisenstein und Accattone von Pier Paolo Pasolini.5 Eisenstein und Pasolini waren marxistische Intellektuelle in Russland bzw. Italien. Eine Un- tersuchung ihrer Filme ist deshalb besonders interessant, weil hier eine dop- pelte Repräsentationsbeziehung vorliegt: Zum einen repräsentiert und ge- staltet das Medium Film seinen Gegenstand, das Subproletariat. Als linke Intellektuelle hatten die Regisseure zum anderen einen Wirkungsanspruch und unterbreiteten ein Deutungsangebot, so dass es sich auch um eine Form politischer Repräsentation in dem Sinne handelt, dass die Filme zu und für die AdressatInnen der Linken sprechen. Ich werde zunächst beide Filme vorstellen und die jeweilige Darstellung des Subproletariats kommentieren. Dabei werde ich in die persönliche und politische Biographie und künstlerischen Ansprüche kurz einführen – wo sonst ein naiver Kurzschluss von Leben und Werk zu vermeiden ist, rechtfer- tigt die unterstellte Wirkungsintention die Frage, was der Autor uns denn »damit« habe sagen wollen. In einem zweiten Schritt werde ich die Darstel- lung des Subproletariats in beiden Filmen so zuspitzen, dass ein deutlicher Gegensatz sichtbar wird. Schließlich will ich drittens in kursorischer Art mögliche Schlussfolgerungen für die kritische Theorie der Gesellschaft skiz- zieren.

2 Pierre Bourdieu: Algerische Skizzen, Berlin 2010, S. 302. 3 Castel 2000 (s. Anm. 1), S. 359 f. 4 Für eine inspirierende Untersuchung der Debatten über »Unterschichtliteratur« in der deutschen Sozial- demokratie Ende des 18. Jahrhunderts vgl. Rebekka Habermas: Wie Unterschichten nicht dargestellt werden sollten. Debatten um 1890 oder »Cacatum non est pictum!«. In: Rolf Lindner; Lutz Musner (Hrsg.): Unter- schicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der »Armen« in Geschichte und Gegenwart, Freiburg, Berlin, Wien 2008, S. 97-122. 5 Im Kontext einer Analyse des Lumpenproletariats-Komplexes im Werk von Marx und Engels wird Eisen- steins Film erwähnt bei Robert L. Bussard: The »Dangerous Class« of Marx and Engels. The Rise of the Idea of the Lumpenproletariat. In: History of European Ideas, vol. 8, no. 6, 1987, S. 675-692; Pasolinis Arbeiten wurden häufig in den Kontext von Diskussionen über das Lumpenproletariat gerückt; für einen jüngeren Versuch vgl. Fabio Vighi: Pasolini and Exclusion. Zˇizˇek, Agamben and the Modern Sub-Proletariat. In: Theory, Culture and Society, vol. 20, no. 5, 2003, S. 99-121.

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Klappe, die Erste: Sergej Eisensteins Streik

Der russische Regisseur und Filmtheoretiker Sergej Eisenstein ist bekannt geworden durch den 1925 anlässlich des Jubiläums der Revolution von 1905 gedrehten Film Panzerkreuzer Potemkin. Ein Jahr zuvor entstand Streik, Ei- sensteins erster Langfilm, der einen Arbeitskampf im vorrevolutionären Russland zum Thema hat. Hier markiert der Regisseur das Bedürfnis, die Grenzen des Theaters (vor allem die Statik des Raums) zu überwinden bzw. überhaupt eine neue Form des Kunstschaffens im Medium des Films zu er- proben. Dabei standen nicht länger dem Kunstwerk äußerliche Kriterien, wie die Biographie oder Psychologie des Autors, im Zentrum. Stattdessen ging es um die Kunsthaftigkeit des Kunstwerks und um den strukturellen Verweisungszusammenhang seiner Elemente (Bilder, Szenen). Eisensteins Weg zu Theater und Film führte über das Ingenieurstudium, die Beschäfti- gung mit analytischer Geometrie und die Arbeit als Bühnenbildner für eine Theatergruppe der Roten Armee. Der Formalismus im dramaturgischen und filmischen Schaffen mag ihm also schon deshalb nahegelegen haben. Was ihn jedoch vor allem motivierte, war »eine mediale Eigenschaft des Films – totale Erfassung der äußeren Welt – mit einem neuen Gesellschaftsgefühl zu- sammenlaufen [zu lassen]«6. Die Montage der Filmbilder ist für Eisenstein Ausdruck und Vermittlung tayloristisch organisierter Produktionsweisen, derer sich auch der Sowjetstaat bediente. So schreibt er dem Film die Auf- gabe der »Qualifizierung und Ausstattung der Massen für ihr Alltagsleben«7 zu. Zugleich sind seine frühen Filme eine Veranschaulichung marxistischer Geschichtsphilosophie, die die Revolution von 1917 als Keim veränderter ge- sellschaftlicher Verhältnisse weltweit begreift. Die Kunst der sozialistischen Gesellschaft müsse mit der Illusion einer kohärenten Erzählung brechen und stattdessen Widersprüche, Gemachtheit und Veränderbarkeit der Wirklichkeit zu Bewusstsein bringen. Die Wirkung der Szenen dürfe durch keine Hand- lung oder Figurenpsychologie getrübt werden. Die Montage als solche ent- falte eine »emotions- und bewusstseinsproduzierende Kraft, die der ›überra- schenden‹ und konfrontierenden Zusammenstellung innewohnt«8. Darüber hinaus ist Eisensteins filmischer Ansatz politisch fundiert: es geht nicht nur um die Potenzierung der Wahrnehmungsmöglichkeiten, sondern um die »Abkehr von bürgerlichen Darstellungsweisen, die sich auf subjektive Erfah- rungen weniger Figuren stützen, die eine ihren Charakter enthüllende Fabel durchleben«9. Und schärfer noch: um die »Formung des Zuschauers in einer

6 Felix Lenz: Sergej Eisenstein. Montagezeit. Rhythmus, Formdramaturgie, Pathos, Paderborn 2008, S. 47. 7 Sergej M. Eisenstein: Schriften Bd. 1, München 1974, S. 216. 8 Hans-Joachim Schlegel: Eisensteins Weg von der »Revolutionierung des Theaters« zum Revolutionsfilm. Eine Einführung in »Streik«. In: Eisenstein 1974 (s. Anm. 7), S. 7-30, hier: S. 23. 9 Lenz 2008 (s. Anm. 6), S. 52.

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gewünschten Richtung«10. Dementsprechend gibt es in Eisensteins Filmen keine Individualhelden und -heldinnen, die sich in Intrigen verstricken; ein- zelne Figuren werden lediglich als Typen dargestellt. Die Filme werden do- miniert von einem Massenhelden, dem Proletariat, das dem Zuschauer einen Auftrag erteilt. Zu den Widrigkeiten, die sich dem Massenhelden in den Weg stellen, gehört neben der Repression durch das Zusammenspiel von Kapitalisten, Polizei und zaristischen Truppen sowie innerer Zermürbung der kämpfen- den ArbeiterInnen der Verrat durch das von der Unternehmensleitung ange- heuerte Lumpenproletariat. Der Streik, dessen Zustandekommen, Verlauf und Niederschlagung im Film modellhaft dargestellt sind, verliert durch die Aktion einer Gruppe clownesk in Szene gesetzter »Crashkids« vollends seine Legitimation und kann daraufhin durch die herbeigerufenen Soldaten blutig niedergeschlagen werden. Streik besteht aus sechs Kapiteln, die sich einer dreiteiligen Grunddrama- turgie zuordnen lassen: nachdem sich der Antagonismus zwischen Arbei- terInnen und Kapitalisten praktisch manifestiert hat, folgt eine erste Phase des Streiks, die durch die Zuspitzung von Konflikten und Gewalt gekenn- zeichnet ist, und schließlich die Liquidation des Streiks.11 Das erste Kapitel schildert den Alltag in der Fabrik. Der Schauplatz der kommenden Ausein- andersetzungen wird vorgestellt mitsamt den Ausdrucksformen des laten- ten Konflikts – die Arbeiter konspirieren, die Aufseher kontrollieren, der Di- rektor und die Shareholder (typisiert mit Schmerbauch, Zigarre, Frack und Zylinder) beauftragen Spitzel (typisiert durch Tiermetaphern). Die Streikvor- bereitungen verdichten sich nach einem Aufruf der Bolschewisten; überall unter den Arbeitern wird agitiert. Das zweite Kapitel (»Der Anlass zum Streik«) spitzt die Situation zu: einem Arbeiter wird das Werkzeug gestohlen, die Fa- brikleitung glaubt ihm jedoch nicht, von den Aufsehern wird er verhöhnt, und der Manager macht den Bestohlenen selbst zum Dieb. Der betroffene Arbeiter nimmt sich daraufhin das Leben. Erst posthum, vermittelt durch eine Szene, die einer Kreuzabnahme ähnelt (Abb. 1), setzt die Solidarisierung ein (die Darstellung verläuft also vom Individuum zum Kollektiv – Eisen- stein sah darin die Abgrenzung zum westlichen Film): ein Aufseher wird verprügelt und der Streik ausgerufen. Die Maschinen werden gestoppt, die Arbeiter werfen ihre Werkzeuge beiseite, verlassen die Fabrikhallen und stürmen ein Lagerhaus, bevor sie zum Büro des Direktors ziehen, um ihren Streik zu erklären und zwei Aufseher in die Kloake der Fabrik zu stoßen. Das dritte Kapitel zeigt zunächst die Wirklichkeit gewordene Arbeiterutopie: die Fabrik steht still, es ist Sommer, die Kinder spielen, die ArbeiterInnen

10 Eisenstein 1974 (s. Anm. 7), S. 217. 11 Vgl. Lenz 2008 (s. Anm. 6), S. 58.

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können ausschlafen, Familienleben und Müßiggang zwischen einfachen Holzhütten und weiten Wiesen, Rauchen, Essen und Trinken stehen im Mit- telpunkt. Der Antagonismus wird auch in der Bebilderung scharf ausge- drückt: dem Direktor schmeckt der Wein nicht, es ist dunkel und kalt in sei- nem verwaisten Büro. Die Versammlung, auf der die ArbeiterInnen ihre Forderungen ausarbeiten, wird parallel montiert mit einer nächtlichen Bera- tung der Aktionäre (wiederum unter heftigem Zigarrerauchen, in Sessel ge- fläzt und reichlich Alkoholika zu sich nehmend), die einen Polizeieinsatz veranlassen. Die »schwarzen Schafe« in der Familie der ArbeiterInnen, die am Ende des Kapitels beim Glücksspiel gezeigt werden, leiten zur Darstel- lung der Zermürbung der Streikenden über. Diese ist Thema des vierten Kapi- tels (»Der Streik zieht sich hin«): Hunger, Geldprobleme, Ehestreitigkeiten bestimmen nun den Alltag. Hinzu kommen die Bespitzelung, Verfolgung, Verhaftung und Misshandlung eines Arbeiterführers. Die anderen be- schließen dennoch die Fortsetzung des Streiks. Das fünfte Kapitel (»Die Pro- vokation«) bringt das Lumpenproletariat ins Spiel. Die zaristische Polizei heuert die BewohnerInnen eines Schrottplatzes am Stadtrand für eine Aktion an, die den Streikenden weiter zusetzen soll (Abb. 2). Die schrulligen Sub- jekte, die da buchstäblich aus ihren Löchern gekrochen kommen (Abb. 3), werden im Gegensatz zum tendenziell realistisch dargestellten Kollektiv der ArbeiterInnen, aber ähnlich den Kapitalisten und den Aktionären, karikiert und als marionettenhaft und schrullig gezeichnet.12 Sie lassen sich dafür be- zahlen, ein Weingeschäft zu plündern, was die von einem Treffen kommen- den ArbeiterInnen zum Saufen verleiten und die Legitimation des Streiks weiter schwächen soll. Engagiert plündern und saufen die Lumpen, Schnaps- flaschen in jeder Hand abwechselnd zum Mund führend (Abb. 4). Sie ver- suchen die Umstehenden zum Mitmachen zu bewegen (Abb. 5), was die »richtigen« ArbeiterInnen oder zumindest ihre Anführer natürlich sofort als Provokation durchschauen. Die Feuerwehr kommt nicht, um den gelegten Brand zu löschen, sondern treibt die ArbeiterInnen in einem Wasserwerfer- einsatz avant la lettre in die Enge. Die betrunkenen Plünderer werden von herabstürzenden Gebäudeteilen erschlagen. Das sechste Kapitel zeigt in bru- talen Bildern die Niederschlagung des Streiks und die Ermordung der Arbei- terInnen durch zaristische Truppen (Abb. 6). Dabei wird der Märtyrertod aus dem zweiten Kapitel wiederholt, die anschließende Aktion aber den Zu- schauern überantwortet: »Eisensteins Revolutionsfilme sind Passionsge- schichten, die ihren Akzent auf die Aktion der Nachfolger legen.«13

12 Vgl. Schlegel 1974 (s. Anm. 8), S. 25. 13 Lenz 2008 (s. Anm. 6), S. 57.

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Abbildung 1: Abbildung 2: »Kreuzabnahme« nach Arbeiter-Selbstmord Anwerbung von Provokateuren

Abbildung 3: Abbildung 4: Lumpen kommen aus ihren Löchern gekrochen »Provokatives« Besäufnis

Abbildung 5: Abbildung 6: Animation zum Plündern Der Streik wurde blutig niedergeschlagen

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Klappe, die Zweite: Pier Paolo Pasolinis Accattone

Fast 40 Jahre nachdem Eisenstein Streik fertiggestellt hatte, drehte Pier Paolo Pasolini seinen ersten Film Accattone. Bereits zuvor war er in Italien als »her- metischer Lyriker und als Romancier des Lebens in den Slums um Rom«14 bekannt geworden. Der Gegenstand ergibt sich aus Pasolinis persönlicher wie politischer Biographie. Geboren wurde er 1922 in Bologna als Sohn eines Leutnants der faschistischen Armee Mussolinis und einer Grundschullehre- rin. Die Familie führte ein nomadisches Leben, wohnte in verschiedenen norditalienischen Städten. Der schlechten Beziehung zum brutalen Vater stand die zeitlebens enge Beziehung zur Mutter gegenüber. Der Geburtsort der Mutter im nordöstlichen Friaul brachte Glück in die unglückliche Kind- heit; hier verlebte der junge Pasolini die Sommermonate, unternahm erste lyrische Versuche und entdeckte seine Homosexualität. Das Städtchen Ca- sara war eine Konstante durch die vielen Umzüge und die Kriegswirren hin- durch. Nach Abschluss des Studiums in Bologna ließ sich Pasolini gemein- sam mit seiner Mutter – der Vater befand sich in Kriegsgefangenschaft, der Bruder war bei Kämpfen zwischen Partisanen getötet worden – endgültig in Casara nieder und arbeitete als Volksschullehrer, dann als Lehrer an einer staatlichen Schule. Daneben schrieb er Gedichte im friaulischen Dialekt, den sowohl Faschisten wie Linke ablehnten und den er der kulturellen Hegemo- nie der katholischen Kirche zu entziehen suchte. Zudem engagierte er sich in der KPI. Zum Zweck des Erhalts und der Anerkennung der friaulischen Sprache initiierte Pasolini verschiedene publizistische Projekte. 1949 kam es zu einem Skandal um seine Person wegen angeblicher »obszöner Handlun- gen«. Pasolini verlor seine Anstellung als Lehrer, und die KPI veranlasste ein Ausschlussverfahren – seine populare, auf den Alltagsverstand bezogene Einstellung, das Interesse an der »archaischen« Kultur des Landvolkes und seiner Sprache waren der etablierten politischen Linken ohnehin suspekt. In Rom, wohin Pasolini mit seiner Mutter flüchtet, beginnt eine Zeit mate- rieller Unsicherheit und existenzieller Verlorenheit. Pasolini teilt die Situa- tion unzähliger ImmigrantInnen aus dem Süden, die einer vorindustriellen Kultur entstammen. Bei Gelegenheitsarbeiten (etwa auch als Mitautor von Drehbüchern von Fellini), vor allem aber auf seinen Streifzügen an die Stadt- ränder macht er die »Entdeckung des Subproletariats als revolutionäre Ge- gengesellschaft«15. Implizit parallelisiert Pasolini die römischen borgate mit der Einfachheit und Ursprünglichkeit des Lebens im Friaul, die Sprache der Straße mit dem Dialekt der Bauern. »Pasolini ging davon aus, dass die arm-

14 Wolfram Schütte: Kommentierte Filmographie. In: Hans-Klaus Jungheinrich (Hrsg.): Pier Paolo Pasolini, München 1977, S. 103-196, hier: S. 104. 15 Alberto Moravia: Der Dichter und das Subproletariat. In: Jungheinrich 1977 (s. Anm. 14), S. 7-12, hier: S. 7.

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seligen und erniedrigten Vororte noch lange jungfräulich und intakt neben den sogenannten vornehmen Vierteln weiter bestanden haben würden, bis die Zeit endlich reif geworden wäre für die Zerstörung der letzteren und eine allgemeine Wiedergeburt.«16 Dieses antibürgerliche Weltbild nimmt dort politische Formen an, wo Pasolini die aufziehende Konsumgesellschaft und das Vertrauen, das ihr von den unteren Klassen entgegengebracht wird, geißelt. Gegen die linke Hoffnung auf eine »Stimmzettelrevolution« und den Aufklärungsoptimismus fordert er zur Bewahrung der Vergangenheit auf: »Die Kenntnis von der Anatomie der kapitalistischen Produktion und Re- produktion würde, da waren sich die Klassiker eigentümlich sicher, eine Revolution ermöglichen«, aber Pasolinis »tief liegender, nie in dieser Form geäußerter Verdacht, der moderne Industriearbeiter sei tendenziell bereits ein sozialer Homunculus«, widerspricht dieser Vorstellung.17 Dieser themati- sche Komplex schlägt sich zunächst in zwei Romanen – Ragazzi di Vita von 1955 und Una vita violenta von 1959 – nieder und schließlich in Pasolinis ers- ten Filmen Accattone (1961) und Mamma Roma (1962). Der Anspruch der Filme ist im Vergleich zu den elaborierten Überlegungen Eisensteins zunächst naiv: es geht Pasolini um die »Sprache der Wirklichkeit«, die er im Film hofft wie- dergeben zu können. In diesem Sinne greift er Elemente des Neorealismus auf – so die statische Kamera, das Drehen an Originalschauplätzen und mit Laienschauspielern aus dem abgebildeten Milieu. Auf einer zweiten Bedeu- tungsebene entwickelt Accattone hingegen eine »mythisierende Tendenz«18, die über den sozialdokumentarischen Anspruch hinausweist. »Accattone« bedeutet so viel wie Bettler oder Schmarotzer. Das ist der Name, mit dem Vittorio in der verslumten Vorstadt, die Schauplatz des Films ist, von anderen Entwurzelten, Arbeitslosen und Gelegenheitsgaunern geru- fen wird. Accattone lebt getrennt von Frau und Kind mit Maddalena, die als Prostituierte für ihn anschaffen geht. Er wird eingeführt als Müßiggänger, der ebenso risikofreudig wie verzweifelt und selbstmitleidig seine Zeit mit Karten- spielen, auftrumpfenden Reden und herausfordernden Wetten verbringt: so behauptet er, auch mit vollem Magen von der Ponte Sant’Angelo in den Tiber springen zu können. Das bringt ihm eine Mahlzeit ein und steigert seine Repu- tation (»Jetzt weißt du, wer Accattone ist«). Die waghalsige Wette kann aber auch als Selbstmordversuch gedeutet werden (von dem es weitere im Laufe des Films gibt) und wird durch den Schauplatz und die Inszenierung mytho- logisch überformt (Abb. 7 und 8) – von Anfang an schlägt Pasolinis Film die

16 Ebd., S. 10. 17 Peter Kammerer: Pasolini und die italienische Krise. Eine Arbeitshypothese. In: Prokla, Jg. 25, Heft 98, 1995, S. 123-129, hier: S. 126 f. 18 Schütte 1977 (s. Anm. 14), S. 106.

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Brücke zwischen Tragödie im subproletarischen Milieu und Passions- geschichte (etwa auch durch Bachs Matthäuspassion als Leitmotiv und wei- tere intermediale Verweise). Die Erzählung gewinnt an Spannung, nachdem Maddalena von den Freun- den ihres früheren Zuhälters, den sie an die Polizei verraten hatte, misshandelt wurde, es aber bei einer polizeilichen Gegenüberstellung nicht wagt, die wahren Täter zu identifizieren. Sie landet wegen Falschaussage im Gefäng- nis. Um sich irgendwie über Wasser zu halten, sucht Accattone zunächst den Kontakt zu seiner ehemaligen Familie, die aber nichts von ihm wissen will (Abb. 9). Da er offensichtlich auch nicht tiefer in die Machenschaften des Lumpenproletariats geraten will, schlägt Accattone das »Angebot« Ballilas, Mitglied einer Bande von Dieben zu werden, aus (»Spar dir deine Rettungs- versuche, ich fühl’ mich wohl in meinem Dreck«). Zufällig lernt er Stella ken- nen, zwischen beiden entwickelt sich eine echte Liebesbeziehung. Vittorio (Stella nennt Accattone bei seinem bürgerlichen Namen) will zunächst dar- auf verzichten, Stella zur Prostituierten zu machen, um an Geld zu kommen. Der Versuch, einer regulären Beschäftigung nachzugehen (Abb. 10), scheitert jedoch. Die Arbeit macht Accattone körperlich schwer zu schaffen, von sei- nen Freunden wird er aufgezogen (»Accattone, der Schwerarbeiter«) und fängt daraufhin eine Prügelei mit ihnen an. Schließlich träumt er in der fol- genden Nacht vom Tod Accattones, den er als Vittorio betrauert (Abb. 11). Daraufhin gibt er es auf, ehrlich werden zu wollen, und drängt Stella nun doch zur Prostitution. Selbst Tochter einer Prostituierten, ist Stella jedoch »vorbelastet« und zeigt sich für das Gewerbe ungeeignet. Unterdessen hat die eifersüchtige Maddalena, die im Gefängnis von Accattones »Neuer« hört, ihn an die Polizei verraten. Während Accattone gemeinsam mit Balilla und Cartagine einen Diebstahl begeht, wird er gestellt. Bei der anschließenden Verfolgungsjagd kommt er ums Leben. Sein Tod (Abb. 12) wird abermals mythologisch überhöht. Accattones letzter Satz – »Jetzt geht’s mir besser« – deutet auf seine Erlösung aus der Kette von Selbstbeschuldigungen und Ver- zweiflungstaten hin. Ballilas an dieser Stelle demonstrativ falsch ausgeführte Bekreuzigungsgeste weckt jedoch Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Stilisie- rung Accattones zum Heiligen und könnte als Distanzierung vom real exi- stierenden Christentum im Nachkriegsitalien gedeutet werden. Pasolini lässt es letztlich offen, ob Accattone bloß Zuhälter und Gauner oder eben auch mehr ist bzw. worin dieses »mehr« besteht.

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Abbildung 7: Abbildung 8: Ein Zuhälter, der sich durchzuschlagen weiß ...... oder doch ein Heiliger?

Abbildung 9: Abbildung 10: Verstoßen und verzweifelt »Das Anstrengen überlass' ich lieber dir«

Abbildung 11: Abbildung 12: Der Traum von der eigenen Beerdigung Der reale Tod – »Jetzt geht's mir besser«

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Schärfer bitte: Kontrastierende filmische Darstellung des Lumpenproletariats

Trotz seiner avancierten künstlerischen Methoden, die Eisenstein später in Konflikt mit dem Parteiapparat der russischen Kommunisten bringen soll- ten, präsentiert sein Film eine marxistisch-orthodoxe Sicht aufs Proletariat. Mit der Passion des bestohlenen und verhöhnten Arbeiters, der »Kreuz- abnahme« nach seinem Selbstmord und der anschließenden Quasi-Kom- munion seiner KollegInnen zur kämpfenden Klasse wird eine Beerbung des religiösen Heilsversprechens durch die proletarische Bewegung nahegelegt.19 Unterstrichen wird diese Deutung noch durch den Abspann des Films, in dem der auferstandene Selbstmörder die ZuschauerInnen daran gemahnt, dass die gemeuchelten ArbeiterInnen »blutige Narben am Körper des Prole- tariats« hinterlassen haben, die ihnen Lehre und Auftrag sein sollen. In er- neuter Kommunion wird an das Publikum appelliert, das unvollendete Werk der Revolution fortzusetzen. Das größte Hindernis ist dabei natürlich der »Staat des Kapitals«, der sich gegen die Ausgebeuteten verschworen hat (genial in Szene gesetzt durch die Telefonkette zwischen Fabrikdirektor, Bür- germeister, Militär, Polizei). Aber große Teile des Films verwendet Eisenstein auch darauf, die Gefahr zu schildern, die der Disziplin und Moral der Revo- lutionäre von Seiten lumpenproletarischer Provokateure droht. Sie leben auf einem Schrottplatz am Rande der Stadt, dort wo man Katzen grillt und auch sonst für jeden derben Spaß zu haben ist – solange die Kasse stimmt. Sie sind verunstaltet, ihre Bewegungen unkoordiniert, im Grunde genommen sind sie kaum ernst zu nehmen; im Gegensatz zum »Körper des Proletariats« ist jener des Lumpenproletariats unheilig, kreatürlich, ihr Tod im Suff eine höhere Fügung. Kurz: von politischer Subjektivität oder widerständischem Handeln kann hier nicht die Rede sein. Die Lumpenproletarier führen ein moralisch zweifelhaftes Leben, ebenso aus Not wie aus Gewissenlosigkeit lassen sie sich kaufen und in die Pläne der Reaktion einspannen. Ihre Aktion ist dilett- antisch ausgeführt, im Vollrausch versäumen sie den geordneten Rückzug und kommen durch den selbst gelegten Brand zu Tode. Auch Pasolini stellt das Milieu der borgata nicht eben als Keimzelle der so- zialen Revolution dar. Accattones Situation ist ausweglos, seine Nöte werden nicht verschwiegen und sein rücksichtsloses und unsolidarisches Verhalten (für einen Teller Spaghetti setzt er bereitwillig Freundschaften aufs Spiel; sei- nen Sohn bestiehlt er, um Stella Schuhe kaufen zu können) wird nicht be- schönigt. Wenn hier auf subtile Art Widerspruch gegen die bürgerliche Welt angemeldet wird, dann ist dieser Widerspruch keinesfalls eine saubere An- gelegenheit, Armut und eine gewisse Verderbtheit sind anscheinend auch

19 Vgl. Lenz 2008 (s. Anm. 6), S. 57.

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für Pasolini nicht voneinander zu trennen. Und doch sind die Unterschiede zu Eisensteins Darstellung allgegenwärtig. So zeigen etwa Accattone, Mad- dalena, Stella und andere eine auffallende körperliche Präsenz: es sind schöne und in ihren Bewegungen keineswegs unsichere Menschen. In der Eingangssequenz werden die Zuhälter und Kleinganoven sich sonnend, mit nacktem Oberkörper, schmatzend und lachend gezeigt. Accattone gewinnt seine Wette mit einem perfekten Kopfsprung. Sicher, wir wissen nicht, wie die Figuren reagieren würden, sollten sie vor die Wahl zwischen proletari- scher Solidarität und – womöglich lukrativer – Kollaboration mit dem bür- gerlichen Lager gestellt sein. Es geht Pasolini nicht darum, die Subproletarier als Revolutionshindernis vorzuführen, er berichtet vor allem aus der Innen- perspektive des Milieus, Situationen des Kontakts mit dem (kämpfenden) Proletariat, wie er in Streik im Mittelpunkt steht, finden im Grunde genom- men nicht statt. Accattone ist kein Täter wider die Klassensolidarität, aber auch keineswegs bloß Opfer der Verhältnisse. Von Pasolinis Bezugnahme aufs Lumpenproletariat wurde gesagt, dass sie »absurd wird, wenn man diese Kategorie soziologisch, anstatt eben theo- logisch begreift«20. Tatsächlich wird der Einspruch gegen das von Eisenstein entworfene Bild revolutionärer Subjektivität vor allem auf der zweiten, my- thischen Bedeutungsebene manifest. Das heißt, es kann nicht darum gehen, zu entscheiden, wer von beiden – Eisenstein oder Pasolini – in der Inszenie- rung des Lumpenproletariats »Recht hat«. Auf der »materiellen« bzw. sozial- dokumentarischen Ebene bleibt Pasolinis Kritik begrenzt, erst in Verbindung mit den religiösen Überhöhungen gewinnt sie an Kraft. So haben etwa die Kreuzigungsszenen in Accattone eine ganz andere Bedeutung als in Streik. Nicht das Proletariat wird heilig gesprochen, sondern der Zuhälter Accat- tone durchlebt eine Passionsgeschichte (wovon die kommunistische Partei Italiens und der Katholizismus übrigens gleichermaßen empört waren). Be- züglich der Figurendramaturgie läuft Pasolinis Film dem Eisensteins genau entgegen: Accattone wird als Mitglied einer Gruppe eingeführt, isoliert sich aber im Laufe des Films immer stärker von seiner Umwelt. In der borgata wird er ausgeschlossen (von seiner ehemaligen Frau und deren Familie) oder schließt sich selbst aus (die Prügelei mit den Freunden); der Alptraum nach seinem ersten (und einzigen) Lohnarbeitstag verdeutlicht, dass auch die Konversion von Accattone zu Vittorio unmöglich ist. Erst der Tod befreit ihn von der verzweifelten Suche nach Identität. So kann zwar »Accattones Wunsch, ein anderer zu werden – nämlich ein kleinbürgerlicher Sieger (Vit- torio), der nach den Sternen (Stella) greift –, als strafbare Verfehlung erschei- nen, die er mit dem Tode büßt«21. Im Sinne der mythischen Überhöhung han-

20 Kammerer 1995 (s. Anm. 17), S. 129. 21 Schütte 1977 (s. Anm. 14), S. 108.

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delt es sich jedoch um eine Erlösung: »Jetzt geht’s mir besser« heißt, Accat- tone leidet nicht länger unter der Last, weder hier (im Subproletariat) noch dort (im verbürgerlichten Proletariat) seinen Platz finden zu können. Weil sein Leben »der völlige Verlust des Menschen« ist, kann sein Tod als die »völlige Wiedergewinnung des Menschen« erscheinen, seine Passion besitzt »einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden«22. Diese an den »philosophischen« Begriff des Proletariats beim frühen Marx angelehnte Deutung von Pasolinis Subproletariat kann gegen die marxistische Tradition, für die in diesem Kontext Eisensteins Film steht, mobilisiert werden.23 In ver- gleichbarer Weise lassen die Bezüge auf Malerei und Literatur eine politische Dimension erkennen. So ist es natürlich unwahrscheinlich, dass die Zuhälter aus den heruntergekommenen Vierteln in den Worten Dantes sprechen (so wie einer von Accattones Freunden am Anfang des Films), immerhin aber zeigt Pasolini einmal mehr an, dass er die Religion den Sonntagsreden ent- reißen will. Die revolutionäre Indienstnahme der auf- und abgeklärten Indu- striearbeiterInnen, so Pasolinis politische Botschaft, kommt an Motiven, die die Menschen seit zweitausend Jahren umtreiben, nicht vorbei. Soziale Bezie- hungen können vielleicht nicht so einfach »auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt«24 werden. Und dass sie »nicht aus der Vergangenheit schöp- fen«25 solle, ist für die soziale Revolution vielleicht ein überzogener, unrealisti- scher Anspruch. Das Verhaftetsein in Traditionen, lokale, familiäre Bindungen, die Gravitationskräfte des Milieus – alles, was Marx dem Lumpenproletariat zugeschrieben hat – sind für Pasolini mehr als »buntscheckige Bande« (Marx), die zerstört gehören; vielleicht sind sie sogar eine Kraft der Kritik und Opposition.26

To be continued ...

Mit filmischen Mitteln entwirft Pasolini eine Vorstellung der politischen Sub- jektivität des Lumpenproletariats, die ihren vollen Kontrast zum »Modell« Eisensteins nur dann gewinnt, wenn man die Vermittlung auf eine zweite, vor allem religiöse Ebene berücksichtigt. Ähnlich könnte eine »Korrektur« der kritischen Gesellschaftstheorie aussehen. Verstreut über ihre Bildungsge-

22 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1958, S. 278-391, hier: S. 390. 23 Vgl. Vighi 2003 (s. Anm. 5), S. 101. 24 Karl Marx; Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 459-493, hier: S. 465. 25 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 8, Berlin 1960, S. 111- 207, hier: S. 117. 26 Vgl. Y. Michal Bodemann; Willfried Spohn: The Organicity of Classes and the Naked Proletarian. Towards a New Formulation of the Class Conception. In: Insurgent Sociologist, Jg. 13, Heft 3, 1986, S. 10-19.

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schichte finden sich durchaus Beiträge, die das stereotype Bild vom Lum- penproletariat kritisch hinterfragen; zumeist jedoch, indem sie der Behaup- tung, Marginalisierte und Angehörige der »Unterschichten« seien unfähig zu politischer Artikulation, mit dem Versuch begegnen, das Gegenteil zu be- weisen. Eine Herausforderung der kritischen Gesellschaftstheorie liegt also etwa darin, die Marx’schen Annahmen über die Mobilgarde, die an der Nie- derschlagung der 1848er Revolution in Paris maßgeblich beteiligt war, sach- lich zu überprüfen. Denn dass ihre Soldaten »größtenteils dem Lumpen- proletariat an[gehörten]« und die Truppe von daher »ein Rekrutierplatz für Diebe und Verbrecher aller Art«27 gewesen sei, lässt sich schon durch eine Analyse ihrer soziodemographischen Zusammensetzung anzweifeln.28 Die klassische Auffassung vom Lumpenproletariat bei Marx und Engels kann darüber hinaus für begriffliche und konzeptuelle Widersprüche im Ge- brauch der Kategorie29 beanstandet werden. Auch andere Wiedergänger der »Lumpenproletariats-These« (konterrevolutionär, unproduktiv, nicht organi- sierungsfähig) müssen sich für ihre Aneignung des Stereotyps kritisieren lassen. So wäre etwa gegen Adornos Verurteilung des Jazz – für ihn »ein sozia- les Randphänomen, das vom Lumpenproletariat herkam [...] und vollkom- men aufgesaugt worden«30 ist – die Bedeutung der Musik für die Herausbil- dung und Entwicklung der Schwarzenbewegung zu betonen.31 Und wo die neuere soziologische Prekarisierungsforschung in den französischen ban- lieues nur einen »Aufstand der Verzweiflung«32 sieht, lassen sich durchaus Momente der Organisierung beobachten.33 Über diese Versuche einer empirisch und sozialhistorisch informierten Kritik hinaus kann aber die Hinterfragung des Lumpenproletariats-Topos, hierin Pasolini vergleichbar, auch die Ebene wechseln und somit die Kon- zepte der kritischen Gesellschaftstheorie selbst einer Prüfung unterziehen. Es lässt sich nämlich zeigen, dass vermittels der Kritik an konventionalisier- ten Vorstellungen revolutionärer Subjektivität und der Problematisierung

27 Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 7, Berlin 1960, S. 9-107, hier: S. 26. 28 Vgl. Mark Traugott: The Mobile Guard in the French Revolution of 1848. In: Theory and Society, Jg. 9, Heft 5, 1980, S. 683-720. 29 Begrifflich: Einerseits sei das Lumpenproletariat eine »vom industriellen Proletariat genau unterschiedene Masse« (Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich [s. Anm. 27], S. 26), andererseits wird behauptet, mit der Mobilgarde »stand dem Pariser Proletariat eine aus seiner eigenen Mitte gezogene Armee« (ebd.) ge- genüber. Konzeptuell: Während in den politischen Analysen das Lumpenproletariat eine bedeutende, wenn auch unrühmliche Rolle spielt, engt der Strukturierungsvorschlag im Kapital die Gruppe auf einen vernach- lässigenswerten Faktor auf einer Stufe unterhalb der »industriellen Reservearmee« ein. Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 1968, S. 673. 30 Theodor W. Adorno: Neunzehn Beiträge über neue Musik. In: Gesammelte Werke, Bd. 18, Frankfurt am Main 1997, S. 57-87, hier: S. 72. 31 Vgl. etwa Philippe Carles; Jean-Louis Comolli: Free Jazz – Black Power, Frankfurt am Main 1973. 32 Robert Castel: Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues, Hamburg 2009, S. 17. 33 Vgl. Mario Candeias: Von der Anomie zur Organisierung. Die Pariser Banlieue. In: Robert Castel; Klaus Dörre (Hrsg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frank- furt am Main, New York 2009, S. 369-379.

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stereotyper Bilder vom »Lumpenproletariat« für die Theorieproduktion grundlegende Fragen aufgeworfen werden. So bilden etwa frühsozialisti- sche (Weitling) und anarchistische (Bakunin) Theorien noch immer einen Stachel im Theoriekorpus von Marx und Engels, nicht zuletzt in Hinblick auf das Lumpenproletariat. Ebenso können die von Horkheimer und Adorno mit Skepsis beobachteten Spekulationen Benjamins und die von ihnen arg- wöhnisch zur Kenntnis genommene »Randgruppentheorie« Marcuses her- angezogen werden für eine Inventur kritischer Gesellschaftstheorie. Schließ- lich stellen auch (post-)operaistische Überlegungen zu »gesellschaftlichem Arbeiter« und »Multitude« ein mögliches Korrektiv dar. Die von diesen »he- terodoxen« kritischen Theorien inspirierte Debatte um das Lumpenproleta- riat wirft Fragen auf, die die Tragweite des Klassenbegriffs ebenso betreffen wie Annahmen aus der Bewegungsforschung und das Verständnis von Poli- tik. Diese Konzepte dürfen nicht leichtfertig über Bord geworfen werden. Gerade in Hinblick auf das Lumpenproletariat geizt der Poststrukturalismus nicht mit seinen Reizen – das Lumpenproletariat markiere den »Einbruch des Heterogenen in die Dialektik der Klassen« und demonstriere die Unver- meidbarkeit von Exklusionsprozessen in einer politisch-agonistischen Ge- sellschaft.34 Zwar scheint es richtig, das Spektrum politischer Akteure um nicht-klassengebundene soziale Bewegungen und spezifische Armenbewe- gungen35 zu erweitern, doch muss das nicht zwangsläufig zur Überwindung des Klassenbegriffs führen. Der »philosophisch eingefärbte« Begriff des Pro- letariats beim frühen Marx meinte nicht nur IndustriearbeiterInnen und »band gerade deswegen die Perspektive der proletarischen Emanzipation und Befreiung noch nicht an die Entwicklung des Kapitals«36. Nicht nur be- züglich ethnozentrischer Vorannahmen ist eine »historische Neubestim- mung der Welt-Arbeiterklasse«37 unter Einbeziehung des Lumpenproleta- riats mehr als angebracht. Die Aufstände der Prekären in Frankreich und in Griechenland, flankiert von den Diskussionen um »Überflüssige« und »Leistungsverweigerer«, stel- len auch die Linke vor Probleme: wie »politisch« geht es dort nun eigentlich zu, und welches Maß an Emanzipation darf man »von denen« erwarten?

34 Das erklärt jedoch nicht, weshalb es seit gut zweihundert Jahren politischer Moderne regelmäßig zum Aus- schluss der »Unterschicht« aus der bürgerlichen und des »Lumpenproletariats« aus der »respektablen« pro- letarischen Welt gekommen ist. 35 Vgl. Edward P. Thompson: Die »moralische Ökonomie« der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert. In: Ders.: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1980, S. 67-130; Arno Herzig: Unterschichtenprotest in Deutschland 1790-1870, Göttingen 1988; George Rudé: Die Volksmassen in der Geschichte. Unruhen, Auf- stände und Revolutionen in England und Frankreich 1730–1848, Frankfurt am Main, New York 1979; Fran- ces Fox Piven; Richard Cloward: Aufstand der Armen, Frankfurt am Main 1986. 36 Ahlrich Meyer: Eine Theorie der Niederlage. Marx und die Evidenz des 19. Jahrhunderts. In: Marcel van der Linden; Karl Heinz Roth (Hrsg.): Über Marx hinaus, Berlin, Hamburg 2009, S. 311-333, hier: S. 319. 37 Vgl. Marcel van der Linden: Plädoyer für eine historische Neubestimmung der Welt-Arbeiterklasse. In: Hans-Günter Thien (Hrsg.): Klassen im Postfordismus, Münster 2010, S. 357-378.

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Den neoliberalen Klagen, Hartz-IV-Empfänger seien arbeitsscheu und kultu- rell verwahrlost, halten wir – möglichst historisch und empirisch belegbar – nicht selten entgegen, wie gerne auch Langzeitarbeitslose einen noch so mie- sen Job hätten und wie sie ihre »employability« erhöhen, um ihn auch zu be- kommen. Woher eigentlich der Produktivismus in unseren Selbstbildern? – Was Marcuse den fordistischen Gesellschaften seiner Zeit attestierte, ist auch für uns nicht abgegolten: »Wenn die Errungenschaften des Leistungsprin- zips seine Institutionen übertreffen, dann wenden sie sich auch gegen die Richtung, die die Produktivität genommen hat – gegen die Unterwerfung des Menschen unter seine Arbeit. Aus dieser Versklavung befreit, verliert die Produktivität ihre repressive Macht und kann die freie Entwicklung indivi- dueller Bedürfnisse fördern.«38

38 Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1957, S. 155.

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Nils Brock

Ansichtssache ANTenne. Überlegungen zu einer medienethnographischen Untersuchung des Radiomachens

»Radio is an authoritarian form of communication. […] All reform talk is a little bit like moving the deck chairs on the Titanic.« Robert Horvitz

»Das Radio ist […] das demokratischste aller Kommunikationsmedien.« Claudia Buono

»[The futurists sang] the praises of the radio as the medium of universal love and sympathy among men. […] But the ambiguity was already here at the beginning.« Franco Bifo Berardi1

Radio war und ist eine Projektionsfläche, auf welcher nicht nur gesellschaft- liche Erwartungen in dieses Medium eingeschrieben, sondern zugleich auch Aussagen über dessen Bestandteile und Relationen versammelt werden. Mal wird Radio als technisch vermittelte Kommunikation zwischen Sender_in(nen) und Hörer_innen beschrieben, mal werden von seiner auditiven Qualität be- stimmte Wirkungen (love, sympathy) abgeleitet. Mal erscheint Radio als un- tergehendes autoritäres Dampfboot, mal als mediales Flagschiff im Dienste der Demokratisierung. Nicht nur in den Medienwissenschaften, sondern auch in weiteren sozialwissenschaftlichen Disziplinen drohe das Medium je- doch, »gerade aufgrund seiner Popularität und der damit verbundenen, ge- radezu inflationären Verwendung semantisch entgrenzt, jede theoretische Schärfe zu verlieren«2. In sozialwissenschaftlicher Perspektive wird dieser potentiellen Beliebigkeit oft mit Strategien begegnet, welche Medien de- skriptiv beispielsweise als neu, taktisch, alternativ, souverän, radikal oder auto- nom bezeichnen.3 Dabei ist nicht immer gewährleistet, dass eine theoretische

1 Die beiden ersten Zitate entstammen von mir geführten Interviews vom 17.08.2010 bzw. 13.05.2010. Robert Horvitz ist Mitbegründer der Stiftung Open Spectrum Foundation, Claudia Buono ist Mitarbeiterin im bra- silianischen Ministerium für soziale Entwicklung und Ernährungssicherheit. Zum Zitat von Franco Bifo Ber- ardi vgl. http://www.generation-online.org/p/fp_bifo7.htm (12.12.2010). 2 Stefan Münker; Alexander Roesler: Was ist ein Medium? Frankfurt am Main 2008, S. 11. 3 Vgl. Roberto Igarza: Nuevos medios. Estrategias de convergencia, Buenos Aires 2008; Rita Raley: Tactical Media, Minnesota 2009; Chris Atton: An Alternative Internet. Radical media, Politics and Creativity, Edin- burgh 2004; Geert Lovink: Hör zu – oder stirb! Fragmente einer Theorie der souveränen Medien, Berlin 1992;

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Auseinandersetzung mit dem Medienbegriff über beschreibende Attribute hinaus erfolgt. Findet eine solche statt, wird schnell deutlich, was für kom- plexe Prämissen mitunter mitschwingen, wenn von Medien die Rede ist: »Wenn wir von Medien sprechen, meinen wir damit die Kulturindustrie, das heißt, Radio- und Fernsehsender (offenes oder Pay-TV), Zeitungen, Zeit- schriften und Kino, allesamt Träger der sogenannten Massenkommunika- tion.«4 Damit hat eine theoretische und oft auch normative (Be-)Setzung des Me- dienbegriffs stattgefunden. Solche Strategien sind sicherlich begründbar, müssen sich jedoch die Frage gefallen lassen, ob sie Medien nicht als bloße »empty signifiers«5 benutzen, die als formbare Restgrößen weiteren Theore- tisierungen angepasst werden. »Medien bestimmen unsere Lage«6, werden selbst jedoch selten als etwas betrachtet, das mehr als ein Mittel ist. Im Fol- genden wird deshalb eine Strategie aufgezeigt, welche es erlaubt, Medien im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Forschungsfrage theoriegeleitet und methodologisch transparent zu operationalisieren. Es soll deutlich gemacht werden, welcher analytische Gewinn in einer Untersuchung von Medien als aktiver sozialer Größe zu erwarten ist, statt diese nur als Mittel gesellschaft- licher Zwecke zu begreifen. Medienethnographische Arbeiten7 stellen für ein solches Vorhaben einen wichtigen Ausgangspunkt dar, da sie sich der bisher kritisierten begrifflich- konzeptionellen Ambivalenz auf reflexive Art und Weise nähern. Sie suchen im Rahmen einzelner Forschungsansätze – wie zum Beispiel Aneignungs- studien, Rezeptionsstudien und Studien der Medienproduktion – nach neuen perspektivischen Zugängen. Dabei sind die Auseinandersetzungen mensch- licher Subjekte mit weiteren Elementen medialer Prozesse in vielfältigen Figurationen beschrieben worden, sei es beim alltäglichen Kampf um die Fernbedienung, als Fan-Filmemacher_innen oder bei der aktiven Rezeption und Umdeutung von Populärkultur im Süden.8 Materielle Artefakte hingegen erfahren selten so viel analytische Auf- merksamkeit. Sie bleiben gemeinsam mit allen nicht als Subjekte charakteri-

John Downing: Radical Media: Rebellious Communication and Social Movements. Thousand Oaks, London, New Delhi 2000; Andrea Langlois; Frederic D. Dubois (Hrsg): Autonomous Media Activating Resistance & Dissent, Montreal 2005. 4 Venício de Lima: Mídia. Crise política e poder no Brasil, São Paulo 2006, S. 52 (Übersetzung – N. B.). 5 Ernesto Laclau: Politics and the Limits of Modernity. In: Thomas Docherty (Hrsg.): Postmodernism: A Reader, New York 1993. 6 Friedrich Kittler: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 3. 7 Vgl. Dorle Dracklé: Vergleichende Medienethnographie. In: Andreas Hepp; Friedrich Krotz; Carsten Winter (Hrsg.): Globalisierung der Medienkommunikation. Eine Einführung, Wiesbaden 2005. 8 Vgl. David Morley: Television, Audiences and Cultural Studies, London 1992; Henry Jenkins: Fans, Blog- gers, Gamers: Media Consumers in Digital Age, New York 2006; Rainer Winter: Im Reich des Ungewissen. Aneignungen von Populärkultur im Süden: Rambo bei den Aborigines, JR bei den Arabern. In: Jungle World Ausgabe 40, 29.09.1999.

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sierbaren Entitäten9 als abrufbare Ressource auf der Objektebene liegen. Ihnen wird pauschal ein Werkzeugcharakter attestiert, der sich allein durch die Bewegungen ihrer Nutzer_innen differenziert. Wenn medienethnogra- phische Arbeiten sich jedoch als Korrektiv von »Studien der Makroprozesse« verstehen und »Theorien über […] Medien durch ihre empirische Fragestel- lung heraus[fordern wollen]«10, dann sollten sie auch in der Lage sein, die stummen Objekte methodologisch genauer in den Blick nehmen. Wie diese Leerstelle genauer problematisiert und gefüllt werden kann, steht im Zen- trum des vorliegen Textes und ist zugleich ein wichtiger methodologischer Anspruch meines Promotionsprojekts.

Eine Kritik des sozialwissenschaftlichen Medienbegriffs

Zur Gewährleistung einer symmetrischen Betrachtung11 aller an Medien be- teiligten Akteur_innen und Entitäten ist es zunächst unumgänglich, sich ei- nigen theoretischen Hindernissen zu stellen, die im Folgenden kurz benannt werden sollen. Ein erster Problemkomplex entfaltet sich dabei im Rahmen der sogenannten »[t]echnikdeterministische[n] Sichtweisen«12. Diese fußen auf der Vorstellung, Technik entwickle sich evolutionistisch und unabhängig von sozialen Prozessen.13 Aus medientheoretischer Sichtweise ist dieser To- pos zum Beispiel deutlich in McLuhans14 Überlegungen zur künstlichen Ausweitung des menschlichen Körpers zu finden.15 Solcherlei Erklärungsmuster gelten zwar als »überwunden«16, ob dies je- doch tatsächlich zutrifft, ist vor allem in zwei Punkten anzuzweifeln. Nicht weit entfernt von McLuhans funktionalistischer Esoterik17 bewegt sich zum einen die Vorstellung einer »revolución tecnologica«, welche nicht emanzi- pativ, sondern eher konservativ als »ideología tecnocrática futurológica« an- gelegt ist, um entlang technischer Organisationsformen Sachzwangargu- mente für deren soziale Nutzung zu postulieren.18 Zum anderen produzieren viele Arbeiten, welche Veränderung von Medientechnik dokumentieren, un-

9 »Der Mensch erscheint […] als ein Wesen, umringt von all dem, was sich nicht genauer erklären lässt […].« – Hubert Dreyfuss; Paul Rabinow zitiert nach Michel Foucault: Tecnologías del yo. Y otros textos afines, Barce- lona 2008, S. 24 (Übersetzung – N. B.). 10 Dracklé 2005 (s. Anm. 7), S. 204. 11 Vgl. Bruno Latour: Nunca fuimos modernos. Ensayo de antropología simétrica, Buenos Aires 2007. 12 Nina Degele: Einführung in die Techniksoziologie, Stuttgart 2002, S. 23 ff. 13 Vgl. u. a. Langdon Winner: Autonomous Technology: Technics-out-of-Control as a Theme in Political Thought, Cambridge, London 1977; Nicholas Negroponte: Being Digital, New York 1995. 14 Vgl. Marshal McLuhan: Understanding Media: The Extensions of Man, Cambridge, London 1994. 15 Vgl. Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat. In: Sybille Krämer (Hrsg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt am Main 1998, S. 73-94. 16 Degele 2002 (s. Anm. 12), S. 28 ff. 17 Chris Horrocks: McLuhan y la Realidad Virtual, Barcelona 2005, S. 22. 18 Manuel Castells: Innovación, libertad y poder en la era de la información. In: Dênis de Moraes (Hrsg.): Sociedad Mediatizada, Barcelona 2007, S. 175.

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gebrochene Erzählungen von »Siegermaschinen«19 und knüpfen eine schein- bar kausale Kette technologischer Höherentwicklung. Solche Vorstellungen lassen sich zwar ironisch unterlaufen, wie in Zielins- kis medientechnischem Bild eines »gigantic rubbish heap«20, der sich nur in spezifischen Nutzungszusammenhängen (media worlds) rekonstruieren lässt. Auf nicht-materieller Ebene greift diese Kritik jedoch nicht, und gerade dort lässt sich eine zunehmende mathematische Ausdeutung des Medienbegriffs (zum Beispiel in Algorithmen) beobachten, der mitunter explizit als eine me- diale Verselbständigung gegenüber menschlichen Akteur_innen dargestellt wird.21 Auf diese Weise droht jedoch in zunehmendem Maße die Beschrei- bung der Medien als vermittelnde Größe, als eines spezifischen »Dazwi- schen[s]«22, welches unterschiedliche deskriptive Entitäten (zum Beispiel Menschen, Artefakte, Zeichen) in ein Verhältnis setzt, verloren zu gehen. Als »sozialer Determinismus«23 lassen sich demgegenüber all jene theore- tischen Positionen zusammenfassen, welche trotzig die rationale Beherrsch- barkeit von Technik veranschlagen. Doch auch aus dieser Perspektive haben medientheoretische Betrachtungen viel zu verlieren: Werden Medien mit Werkzeugen gleichgesetzt, werden sie nämlich zu Mitteln und sind nicht länger »Mittler von etwas«24. Dabei trifft sich Artikel 19 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, der das Recht »Meinungen [...] über Medien [...] zu verbreiten«, garantiert, mit der virulenten Bezeichnung Neuer Medien »as tool[s] for social change«25. Das Medium zerfällt stets in einen »Typus von technologischen Artefakten«26 und einen zentralen Handlungsträger27. Ein »knowing subject«28 agiert unter Zuhilfenahme unterschiedlicher, zu Ob- jekten reduzierter Entitäten – zum Beispiel einer Antenne. Das Zustande- kommen der Handlung auf der Objektseite wird hingegen kaum genauer untersucht.

19 Christian Kassung; Albert Kümmel-Schnur: Wissensgeschichte als Malerarbeit? Ein Trialog über das Weißeln schwarzer Kisten. In: Georg Kneer; Markus Schroer; Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Bruno Latours Kol- lektive, Frankfurt am Main 2008, S. 170. 20 Siegfried Zielinski: Deep Time of the Media. Toward an Archaeology of Hearing and Seeing by Technical Means, Cambridge, London 2002, S. 2. 21 Vgl. Ernst Wolfgang: Merely the Medium? Die operative Verschränkung von Logik und Materie. In: Mün- ker; Roesler 2008 (s. Anm. 2), S. 170 ff. 22 Wolfgang Hagen: Metaxy. Eine historiosemantische Fußnote zum Medienbegriff. In: Münker; Roesler 2008 (s. Anm. 2), S. 21. 23 Donald Mackenzie; Judy Wajcman: The Social Shaping of Technology, Buckingham 1985. 24 Krämer 1998 (s. Anm. 15), S. 83. 25 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/New_media (14.10.2010). Es geht nicht darum, die strategische Nut- zung von Blogs oder Webradios in Frage zu stellen, sondern auf die Grenzen dieser Perspektive hinzuwei- sen, welche für die operative Beschreibung von Handlungszielen durchaus berechtigt ist, für eine mediale Begriffsentwicklung jedoch nur einen sehr begrenzten Beitrag leisten kann. 26 Krämer 1998 (s. Anm. 15), S. 76. 27 Hier wird die maskuline Form beibehalten, weil dieser zentrale Handlungsträger auch männlich konnotiert ist. 28 Adele Clarke: Situational Analysis. Grounded Theory after the Postmodern Turn, Thousand Oaks, London, New Delhi 2005, S. Xxixi.

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Auch wenn diesen Objekten teilweise zugestanden wird, »[to] exist in dif- ferent, potentially infinite versions«29 , bleibt das Problem, dass ihre weiteren Darstellungen perspektivisch von einem transzendenten Subjekt aus ent- wickelt werden. Einzelne Objekte bei der Betrachtung von Medien auf an- dere Art in den Blick zu nehmen, lässt sich jedoch nicht dadurch erreichen, »Subjektivität auf Dinge zu übertragen oder Menschen als Objekte zu behan- deln oder Maschinen als soziale Akteure zu betrachten, sondern die Subjekt- Objekt-Dichotomie ganz zu umgehen und stattdessen von der Verflechtung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen auszugehen.«30 Eine mögliche Umgehung scheinen diskurs- oder dispositivanalytische Ansätze zu bieten.31 Beiden ist eine stärkere Betonung relationaler Beschrei- bungen gemein. Disjunktive Unterscheidungen werden zurückgestellt, und die oft vor einer Untersuchung stattfindende und nicht explizierte Konstruk- tion von Subjekten und weiteren Entitäten wird problematisiert. Dabei nei- gen Diskursanalysen jedoch dazu, Medien vor allem auf einer textuellen Ebene zu rekonstruieren und materielle Artefakte erneut zu vernachlässigen. Aus Radio wird das »Radiophone«32. Dieser Kritik, nicht-diskursive Ele- mente nicht adäquat analysieren zu können, nehmen sich Dispositivanaly- sen an. Vor allem »Mediendispositive«33 konzeptualisieren dabei Zugänge, welche ein spezifisches Medium möglichst vollständig entlang seiner vielfäl- tigen Elemente und Beziehungen erfassen wollen.34 Dabei stellt sich jedoch schnell die Frage nach der theoretisch-empirischen Umsetzbarkeit eines sol- chen »klassisch maskuline[n] Panoramablick-Fantasma[s]«35. Alles beschrei- ben zu wollen, reproduziert den universellen Gestus disjunktiver Unter- scheidungen36 auf relationaler Ebene. Hagens Vergleich des deutschen und US-amerikanischen Radiodispositivs beispielsweise überführt die detaillier- ten Untersuchungen radiomedialer Prozesse letztendlich erneut in zwei ver- allgemeinernde Radiomodelle (Staatsfunk und Kommerzradio), deren Re- präsentativität in ihrer nationalen Setzung problematisch bleibt.37 Eine Alternative zu einem solchen Alles-Sehen-Wollen bietet eine per- spektivische Annäherung, welche die dargelegten Kritikpunkte konsequent

29 Lev Manovich: Avant-garde as Software. http://www.manovich.net/DOCS/avantgarde_as_software.doc (24.12.2010); Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge, London 2001. 30 Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main 2000, S. 236 f. 31 Vgl. Siegfried Jäger: Kritische Diskursanalyse, Münster 2004; Andrea D. Bührmann; Werner Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008; Michel Foucault: L’ordre du discours, Paris 2007. 32 José Luis Fernández (Hrsg.): La construcción de lo radiofónico, Buenos Aires 2008. 33 Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart 2003, S. 186 ff. 34 Vgl. Michel Foucault: Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 119 f. 35 Tristan Thielmann: Der EDAK Navigator: Tour de Force durch die Mediengeschichte der Autonavigations- systeme. In: Kneer; Schroer; Schüttpelz 2008 (s. Anm. 19), S. 207. 36 Vgl. Erhard Schüttpelz: Der Punkt des Archimedes. Einige Schwierigkeiten des Denkens in Operationsket- ten. In: Kneer; Schroer; Schüttpelz 2008 (s. Anm. 19), S. 248. 37 Vgl. Wolfgang Hagen: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA, München 2005.

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im Rahmen einer medienethnographischen Studie operationalisiert. Die Frage nach der universellen Beschaffenheit eines Medium (oder eines spezi- fischen Mediendispositivs) wird zurückgestellt hinter eine empirische Re- konstruktion zirkulierender medialer Repräsentationen dieses Mediums, in diesem Fall des Radios. »The ambiguity was already there at the beginn- ing«38 – bleibt darzustellen, wie sie sich die Mehrdeutigkeit und Vielgestal- tigkeit von Radio analytisch einfangen lässt.

Medienethnographie als Akteur_innen-Netzwerk-Studie39

»Follow the Actors«40 – diese nahezu leitmotivische Prämisse der Ak- teur_innen-Netzwerk-Theorie (ANT) soll auch im Folgenden genutzt wer- den, um entlang eines Beispiels ihre Relevanz für medienethnographische Untersuchungen zu verdeutlichen. Die Betrachtung konzentriert sich auf das Antennenmodell NO-AR41 als vermittelnde_n Akteur_in des brasilianischen Freien Radios Sorda.42

Akteur_innen Wenn hier eine Antenne als Akteur_in bezeichnet wird, dann nicht deshalb, weil sie eine inhärente politische Qualität verkörpern würde43, sondern weil ihr innerhalb spezifischer Beziehungen, an denen sie selbst als Mediator_in beteiligt ist, eine bestimmte Rolle zukommt. Die Aushandlungen sozialer Rollen und Konstruktionen von Realitätsbezügen werden nicht exklusiv einem_einer Akteur_in zugeschrieben, sondern als Effekt eines bestimmten Verhältnisses aufgefasst, welches eben auch unter der obligatorischen Ver- mittlung44 von technischen Objekten45 wie Antennen zustande kommt.

38 Berardi (s. Anm. 1). 39 Der von mir eingefügte queer-sensitive Unterstrich verweist auf eine reflexive Lücke dieser theoretischen Strömung, die sich ansonsten gerade für Verundeutlichungen und Auflösungen kategorischer Trennungen zwischen gesellschaftlichen, natürlichen und technischen Kategorien auszeichnet. Andererseits hat die Theorie trotz dieses Mangels einen Beitrag für über maskuline Akteurs- und Aktantenbegriffe hinaus- führende und auch als explizit queere Analyseeinheiten nutzbare Konzepte wie Hybride und Cyborg geleis- tet. – Vgl. Degele 2002 (s. Anm. 12), S. 106 f. 40 Michel Callon; Bruno Latour: Unscrewing the big Leviathan: How do actors macro-structure reality and how sociologists help them to do so. In: Karin Knorr; Aaron Cicourel (Hrsg.): Advanced Social Theory and Methodology: Toward an Integration of Micro and Macro Sociologies, London 1987, S. 277-303. 41 NO-AR-Antennen sind Akteur_innen, die ich während der Feldforschung in Brasilien aufgespürt habe. NO- AR übernimmt eine aktive Rolle bei der Artikulation unabhängiger Radios und lässt sich innerhalb spezifi- scher Handlungspotentiale (vgl. S. 12) beschreiben. Im Folgenden wird NO-AR die operative Auflösung von Objekten innerhalb eines Forschungsprojekts illustrieren. 42 Beide Namen wurden anonymisiert. 43 Vgl. Langdon Winner: Do Artifacts have Politics? In: Langdon Winner (Hrsg.): The Whale and the reactor: a search for limits in an age of high technology, Chicago 1986, S. 19-39. 44 Der Begriff der Vermittlung deutet einen überindividuellen und nicht subjektzentrierten Handlungsbegriff an, welcher daran interessiert ist, soziale und mediale Prozesse nicht a priori an die Aktivität nur einer onto-

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Somit gibt bereits die An- oder Abwesenheit einer NO-AR-Antenne Hin- weise darauf, auf welche Weise sich ein Radiokollektiv in seiner Beziehung zum brasilianischen Mediengesetz, der Regulierungsbehörde, aber auch in seinem Selbstverständnis artikuliert46, da die Antenne aktiv an der Konstruk- tion einer spezifischen medialen Artikulation beteiligt ist. Aus eben solchen Verweisungszusammenhängen gewinnen ANT-Studien ihre Unterschei- dungskraft. Akteur_innen werden erzählt, beschrieben, erneut beschrieben, ohne eine dauerhafte, feste konzeptionelle Form oder Funktion anzuneh- men, welche außerhalb eines bestimmten Verhältnisses Bestand hätte. Für eine analytische Erschließung des Radiomediums verspricht die Ver- wendung eines solchen Akteur_innenbegriffs im Hinblick auf mindestens drei Dimensionen eine differenziertere Darstellung. Zunächst umgeht er die bereits kritisierten Unterscheidungen auf den Ebenen Ding/Handlung, Sub- jekt/Objekt beziehungsweise Technik/Gesellschaft. Gerechtfertigt wird die- ses Vorgehen mit dem Hinweis, dass globale Unterscheidungen den Nach- weis ihrer allgemeinen Relevanz und Anwendbarkeit auf ontologischer Ebene schuldig bleiben. Ein Blick auf die NO-AR-Antenne hilft, den Vorteil solcher Beschreibungen für die vermeidbare doppelte Trennung in »la tech- nique [...] complètement réiffiée«47 und gesellschaftliche Handlungsträge- r_innen zu erahnen. Senden als Technik muss nicht länger ausschließlich als eine Anordnung von Sendetechnik oder die Tätigkeit des Sendens erklärt werden. Anstatt etwas zu verkörpern, vermittelt der Akteur NO-AR inner- halb eines Beziehungsnetzwerks, in dem ein Signal artikuliert wird. Des Weiteren erlaubt die ANT eine genaue Deskription des Verhältnisses zwischen den Akteur_innen im Akt der Verknüpfung und rekonstruiert die- ses nicht erst im Nachhinein als ›festes‹ Verbindungsnetzwerk. Ak- teur_innen vermitteln sich und zugleich ihr Verhältnis zu weiteren Ak- teur_innen. Folglich wäre ein Kabel, welches eine Verbindung zwischen einem Sender und einer NO-AR-Antenne herstellt, nicht nur ein technisches Artefakt, welches zwei Knotenpunkte der Signalverarbeitung verknüpft, sondern ein_e weitere_r Akteur_in. Alle drei beschriebenen Entitäten wer- den folglich als potentielle Akteur_innen analysierbar. Schließlich übernimmt die bereits erwähnte Prämisse, Akteur_innen zu folgen, eine klärende Rolle bei der Auseinandersetzung mit externen Refe-

logischen Größe (z. B. menschliche Subjekte) zu koppeln. Zugleich werden damit auch kausale Zuschrei- bungen auf der Objektebene zurückgewiesen und eine offenere Annäherung an die spezifischen Rollen von nicht-menschlichen Entitäten innerhalb sozialer Beziehungen vorgeschlagen. 45 Vgl. Madeleine Akrich: Comment decrire les objets techniques? In: Techniques et Culture, No. 9, 1987, S. 49-64. 46 Der Begriff des (Radio)kollektivs umfasst an dieser Stelle alle beteiligten Entitäten und nicht allein menschli- che Akteur_innen. Deshalb wird im Folgenden auch oft von Artikulationen die Rede sein – ein Versuch, auf sprachlicher Ebene neben den Vermittlungen einen weiteren nicht subjektbezogenen Handlungsbegriffs zu etablieren, welcher sich in diesem Fall jedoch stärker an die spezifischen Vermittlungen des Sendens richtet. 47 »Vollständig verdinglichte Technik« (Übersetzung – N. B.). Michel Callon: Pour une Sociologie des Contro- verses Technologiques. In: Fundamenta Scientiae, 12 (4), 1881, S. 381-399, hier: S. 384.

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rent_innen. Artikulationen des Radiomediums und einzelner Akteur_innen werden dokumentiert und in ihrer Differenz beschrieben. Das Qualitätskrite- rium entstört (homologisado) lässt sich beispielsweise zunächst als Bezeich- nung nachverfolgen, welche eigentlich lediglich aussagt, dass eine spezifi- sche Sendeanlage keine Interferenzen außerhalb einer bestimmten Frequenz erzeugt. Die brasilianische Regulierungsbehörde ANATEL verwendet den Begriff jedoch pauschal, um genehmigte Sendeanlagen von nicht genehmig- ten zu unterscheiden, denen sie eine »amateur_innenhafte« inferiore techno- logische Qualität unterstellt. Nicht genehmigte Antennen wie NO-AR und zugehörige Sender werden jedoch teilweise ebenfalls in Serie hergestellt und darauf geprüft, keine Interferenzen zu erzeugen. Diese Sendeanlagen wer- den seitens bestimmter Akteur_innen (z. B. Radioamateur_innenhandbuch, Elektrotechniker_innen) ebenso als »entstört« beschrieben. Eine Untersu- chung sollte demnach nicht a priori das Unterscheidungsmerkmal »entstört« einführen, um damit ausschließlich ein als qualitativ hochwertiger geltendes Serienprodukt zu charakterisieren, da sonst die implizite Wertung der Regu- lierungsbehörde übernommen wird, welche diese Razzien in nicht-geneh- migten Radios und die Beschlagnahmung der Sendetechnik rechtfertigt. Vielmehr wird eine differenziertere Beschreibung dieser Kontroverse unter Verfolgung aller beteiligten menschlichen und nicht-menschlichen Akteu- r_innen angestrebt, da vieles darauf hindeutet, dass die Schließung unab- hängiger Radios durch staatliche Akteur_innen nicht auf inhaltlich-diskur- siver Ebene legitimiert wird, sondern entlang einer politischen Konstruktion technologischer Fakten.48

Hybride und Netzwerke Der durch ANT-Konzepte inspirierte Blick auf Medien ist keineswegs daran interessiert, die denkbare Unterscheidung von Menschen und Nicht-Men- schen zu negieren. Vielmehr möchte er sie als polarisierende Reduktion sichtbar machen, die nicht als abrufbares Kategorienpaar am Anfang einer Beobachtung steht, sondern das Ergebnis einer Abstraktion bildet. Um diese Prämisse sowohl operativ zu belegen als auch empirisch nutzbar zu machen, müssen zunächst verdinglichte, nicht-menschliche Anteile an Medien über ihre kausalen und instrumentellen Rollen als Intermediäre49 hinaus in ihrer Hybridität (das heißt in der Umgehung von disjunktiven Unterscheidungen

48 Vgl. u. a. Akrich 1987 (s. Anm. 45), S. 53; Latour 2007 (s. Anm. 11), S. 106. 49 In der ANT wird zwischen Vermittlern/Mediatoren und Intermediären unterschieden. Während die beiden ersten Begriffe synonymisch auf nicht-kausale Erklärungen sozialer Prozesse und Handlungen verweisen, beschreiben Intermediäre eben solche Größen, denen eine feste Rolle nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip eingeschrieben ist. – Vgl. Latour 2007 (s. Anm. 11), S. 89; Bruno Latour: Reensamblar lo social. Una introduc- ción a la teoría del actor-red, Buenos Aires 2008, S. 243.

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von Menschen und Nicht-Menschen) sichtbar gemacht werden.50 Eine NO- AR-Antenne lässt sich zunächst schwerlich als etwas beschreiben, das mehr als ein Mittel zur Signalerzeugung ist. Denn die Vermittlungen, welche sie darüber hinaus innerhalb eines Radios artikuliert, sind eher dann beobacht- bar, wenn sie die Rolle eines solchen Intermediärs, also eines schlichten Mit- tels, nicht erfüllt: ihre fehlerhafte Ausrichtung muss im Verhältnis zu Sig- nalmodulationen und -transformationen analysiert und verbessert werden, ihr Betrieb ohne Genehmigung macht es notwenig, sie vor einer anstehen- den Razzia zu verstecken, ihr Betrieb mit Genehmigung nötigt sie dazu, all- zeit die Tests der Kommunikationsbehörde bestehen zu können. Somit gilt es die Verweisungszusammenhänge, welche es erlauben, Akteur_innen relatio- nal und über kausale Beziehungen hinaus analysierbar zu machen, zunächst einmal aufzuspüren. All jene Entitäten, die in ihrer Darstellung über die informationellen Kate- gorien Input und Output hinaus geführt werden51, lassen sich dann als Ak- teur_innen untersuchen, die »Personen, Artefakte und Zeichen«52 koppeln, oder – unter Verzicht auf diese ontologische Topoi – als Vermittler_innen weiterer Akteur_innen in Erscheinung treten. Bereits dieser Verweis eines_- einer Akteur_in auf immer weitere Akteur_innen deutet auf das Fraktal- modell53 hin, welches Akteur_innennetzwerken theoretisch zugrunde liegt. Als solches ist es »reducible neither to an actor alone nor to a network. An ac- tor-network is simultaneously an actor whose activity is networking hetero- geneous elements and a network that is able to redefine and transform what it is made of.«54 Die Hybridität von Akteur_innen gründet sich damit nicht nur in der Transgression dichotomer Kategorien, sondern auch in der potentiellen Ent- faltbarkeit von Akteur_innen innerhalb eines Netzwerks infiniter Ak- teur_innen: Eine NO-AR-Antenne ist stets an eine Reihe weiterer Ak- teur_innen gekoppelt, welche sie beispielsweise vor dem Durchbrennen schützen. Dazu gehört unter anderem ein spezielles Relais, welches seiner- seits auf eine Bauanleitung sowie spezifische für die Herstellung notwen- dige Materialen und (in diesem speziellen Beispiel) einen Ingenieur ver- weist. Letzterer wiederum lässt sich schließlich in ein vierjähriges Studium der Mikroelektronik, einen Amateurfunker, ein Mitgliedsbuch einer evange- likalen Freikirche, einen Internetversandhandel und einen dreifachen Famili- envater auffächern.

50 Vgl. Latour 2008 (s. Anm. 49), S. 90. 51 Vgl. Kassung; Kümmel-Schur 2008 (s. Anm. 19), S. 155. 52 Thielmann 2008 (s. Anm. 35), S. 181. 53 Vgl. Andreá Belliger; David J. Krieger: ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk- Theorie, Bielefeld 2006, S. 43. 54 Michel Callon: Society in the Making: The Study of Technology as a Tool For Sociological Analysis. In: Wiebe Bijker; Thomas Hughes; Trevor Pinch (Hrsg.): The Social Construction of Technological Systems, Cambridge 1987, S. 93.

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Die hier benannten Größen erlauben in ihrer Heterogenität gerade solche Vermittlungen in den Blick zu nehmen, die bei zu starken Kategorisierungen im Vorfeld verstellt bleiben. Dazu gehört auch die Unterscheidung von Mi- kro- und Makroakteur_innen. Diese sind für Medienstudien insofern äußerst relevant, da Kategorien wie alternatives, marginales oder etabliertes Radio be- reits naturalisierende Einordnungen vornehmen, anstatt Unterschiede der Ebene, Größe und Reichweite als Effekte von »battles of negotions«55 zu be- schreiben. Die auf diese Weise hergestellten Vermittlungen sind jedoch nicht ohne weiteres dokumentierbar, da Makroakteur_innen Strategien ent- wickeln, ihre Assoziationen in »black boxes«56 genannten Intermediären (vgl. Fußnote 47) zu verbergen. Ein Beispiel für eine solche Black Box stellt die Er- mittlung der Einschaltquote eines Radiosenders und alle daraus gezogenen Schlüsse bezüglich seiner Legitimität oder seines Marktwerts dar.57 Eine medienethnographische Untersuchung ist deshalb beispielsweise daran in- teressiert, den nicht-objektiven Charakter von Messinstrumenten in ihre Be- trachtungen einzubeziehen und auf diese Weise eine »Schwarze Kiste« zu »weißeln«.58

Handlungspotentiale und Übersetzungen Beim Versuch, die Entitäten eines Akteur_innen-Netzwerks von dichotomen Zuschreibungen wie aktiv/passiv, Subjekt/Objekt zu befreien, entstehen leicht Missverständnisse, wenn es darum geht, Handlungsinstanzen zu be- schreiben. Das liegt vor allem daran, dass ANT weder kategorisch-zentrale Handlungsinstanzen definiert noch ein intentionales Paradigma einzu- führen gedenkt. Um kompatibel mit den Konzepten von Vermittlung und Vermittlern zu sein, lässt sich Handeln eher als ein Handlungspotential (agency) konzeptualisieren, zu dem sich unterschiedliche Entitäten relational befähigen. Die Konzeptualisierung einer solchen agency rechtfertigt sich vor allem in einer kritischen Abgrenzung zum Interaktionsbegriff.59 Zum einen stellen ANT-Studien in Zweifel, ob die synchrone Betrachtung zweier Individuen es erlaubt, die vollständige Handlungsdimension sichtbar zu machen.60 Zum anderen erlaubt die bereits dargelegte Unterscheidung zwischen Interme- diären und Mediatoren auch eine Kritik am Konzept der kommunizierten

55 Callon; Latour 1987 (s. Anm. 40), S. 279. 56 Zu einer ideengeschichtlichen Einordnung des Black-Box-Konzepts vgl. Kassung; Kümmel-Schur 2008 (s. Anm. 19), S. 155 f.; vgl. auch Gavin Kendall; Gary Wickham: Using Foucault’s Methods. Introducing Qua- litative Methods, Los Angeles, London, New Delhi, Singapore 2009, S. 73 f. 57 Vgl. Cécile Méadel: Quantifier le public. Histoire des mesures d’audience de la radio et de la télévision, Paris 2010. 58 Kassung; Kümmel-Schur 2008 (s. Anm. 19), S. 155 f. 59 Vgl. Hans-Georg Soeffner: Beiträge zu einer Soziologie der Interaktion, Frankfurt am Main 1994. 60 Vgl. Latour 2008 (s. Anm. 49), S. 286.

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Botschaft als eines transportierten Containers. Die Annahme, diese ohne De- formationen zu erfahren, verbirgt die Vermittlungsprozesse zwischen Sen- der und Empfänger bzw. einzelnen individuellen Handlungsinstanzen. Hier tut sich eine neue Black Box auf, in der überindividuelle Vermittler_innen wie (Aus-)Sprache, Schallwellen, elektromagnetische Felder, Radioempfänger verschwinden. Handeln fasst Latour eher als einen Knoten vieler unterschiedlicher Handlungspotentiale auf, die langsam zu entwirren sind.61 Wir – damit seien an dieser Stelle alle menschlichen Individuen angesprochen – seien bei- spielsweise nie alleinige Urheber unseres Handelns im Sinne eines bewus- sten Agierens. Eine Universitätsdirektorin zum Beispiel, die sich in ihrem Verhältnis zu einem Freien Radio auf dem Campus als hin- und hergerissen charakterisiert, liefert damit Hinweise auf konkurrierende Handlungspoten- tiale, an denen sie als Akteurin beteiligt ist, diese aber nicht notwendigerweise selbst so bestimmen würde.62 Zunächst ist sie an eine »amtliche Melde- pflicht« gebunden, die sie als Person öffentlichen Rechts dazu anhält, Ver- stöße gegen das staatliche Rundfunkgesetz zu melden. Zum anderen ist sie aus moralischen Gründen spendenfreudige Menschenrechtlerin und steht für ein »Recht auf Meinungsfreiheit« ein. Und schließlich muss sie auch die poli- tische Balance wahren, wie ihr ihr_e Sekretär_in in Hinblick auf die anstehen- den Rektoratswahlen angeraten hat. Wenn sich Handlungspotentiale in einer menschlichen Figuration, das heißt einer Person, lediglich kreuzen, ist bereits angedeutet, dass diese zwi- schen verschiedenen Entitäten verteilt werden. Um diese Differenz operatio- nalisieren und analytisch nachvollziehen zu können, ist es notwendig, den Verlauf einer agency entlang einzelner Akteur_innenfigurationen (zum Bei- spiel Zeichen, Menschen, Dinge et cetera) nicht nur als Rollenzuweisung, sondern auch bezüglich ihrer formalen Übergänge und somit für die Artiku- lation und Stabilisierung eines Netzwerks zu beschreiben. Diese weitere ana- lytische Ausdifferenzierung der Handlungspotentiale wird in der ANT als Übersetzung bezeichnet.63 Der analytische Fokus ist darauf ausgerichtet, die involvierten Entitäten genauer in einer Bewegung zu erfassen, einem »pro- cess of making connections, of forging a passage between two domains, or simply as establishing communication [...] an act of invention brought about through combination and mixing varied elements«64.

61 Vgl. ebd., S. 70. 62 Die im Folgenden erwähnten Handlungspotentiale erheben keinen Anspruch auf eine vollständige Opera- tionlisierung und haben lediglich Beispielcharakter. 63 Vgl. Latour 2008 (s. Anm. 49), S. 158. 64 Steven D. Brown, zitiert nach Darryl Cressman: A Brief Overview of Actor-Network Theory: Punctualiza- tion, Heterogeneous Engineering & Translation. http://www.sfu.ca/cprost/docs/A%20Brief%20Overview%20of%20ANT.pdf (21.12.2010).

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Ausgehend von der Hypothese, die Legitimität eines Radios sei als ein be- stimmtes Handlungsprogramm analysierbar, ließen sich folgende Überset- zungen explizieren: Artikel 21 der Menschenrechtserklärung, zitiert in einem Aufruf des Weltverbands der Community Radios (AMARC) und interpretiert als ein Recht auf Community Radio, kann als ein Skript weiterverfolgt wer- den, in dem bestimmte Akteur_innen und Handlungspotentiale beschrieben werden. Dieses Skript wird wiederum von heterogenen Ensembles realisiert. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass ein solches Skript keinen allumfassen- den »blue-print-approach«65 liefert, sondern eher die Artikulation bislang nicht beschriebener Kopplungen vermittelt, welche sich zu einer charakteri- stischen Signalerzeugung unter der Beteiligung spezifischer Akteur_innen verdichten.66 Um diesen Verbund an Momenten, in denen agency entlang unterschied- licher Entitäten übersetzt wird, operativ besser zu fassen, organisieren viele ANT-Studien ihre Beobachtungen entlang von »Operations-« und »Überset- zungsketten«. Diese Ketten hat Nitsch als »vier Aspekte« konzeptualisiert, um die Analyse medialer Probleme zu erleichtern67: Er betrachtet zunächst den Aspekt der »Interferenz«, welche die Ausdeutung »kollektiver Aktanten« in einem Übersetzungsprozess in den Blick nimmt. Ein »offenes Mikrofon« ist beispielsweise ein_e solche_r Akteur_in, welche_r sich in einer Überset- zungskette des Handlungsprogramms »Partizipation« analysieren ließe. Ein weiterer Aspekt setzt sich mit der »Komposition« der Übersetzungen innerhalb eines heterogenen Ensembles auseinander. Damit werden einem Radiokollektiv beispielsweise Vermittlungen innerhalb von »Unterprogram- men« zugestanden, welche bei ihrer weiteren Entfaltung zusätzliche Ak- teur_innen sichtbar machen, falls dies im Rahmen einer bestimmten For- schungsfrage eine Stabilisierung68 von Akteur_innen oder Auskünfte zu deren Beziehungen verspricht. Wenn sich ein Radiokollektiv beispielsweise auch als Audiosignal oder Webseite im Internet artikuliert, lohnt es sich ge- gebenenfalls, dieses Unterprogramm zu öffnen, um weiteren daran beteilig- ten Akteur_innen auf die Spur zu kommen. Dieser Aspekt lässt sich jedoch auch in entgegengesetzter Richtung dar- stellen. Eine Vermittlung heterogener Elemente wird in diesem Fall als eine »Invisibilisierung« innerhalb einer Übersetzungskette zusammengefasst, denn auch in einer Reduktion kann eine Übersetzung nachgezeichnet wer-

65 Richard Rottenburg: Far-Fetched Facts. A Parable of Development Aid, Cambridge, London 2009, S. 73. 66 Als weiteres Beispiel sei auf Latours Deskription von Macht als Übersetzung verwiesen. – Vgl. Latour 2008 (s. Anm. 49), S. 122. 67 Wolfram Nitsch: Dädalus und Aramis. Latours symmetrische Anthropologie der Technik. In: Kneer; Schroer; Schüttpelz (Hrsg.): Bruno Latours Kollektive, Frankfurt am Main 2008, S. 224 f. 68 Akteur_innen sind innerhalb der ANT keine unveränderlichen, außerhalb eines Netzwerks existierenden Größen. Vielmehr ist ihre Existenz relationaler Art. Akteur_innen werden vielfältig stablisiert bzw. suchen sich zu stabilisieren. Die Dokumentation solcher Stabilisierungen (z. B. entlang von Strategien, Reziprozität) eröffnen eine weitere epistemologische Ebene der ANT. – Vgl. Callon; Latour 1987 (s. Anm. 40), S. 283 f.

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den. Wenn zwei Radiokollektive beispielsweise von ihrer »Hörer_innen- schaft« sprechen, lohnt es, genauer nachzufragen, wer damit gemeint ist – vor allem dann, wenn damit das Medienmachen legitimiert wird. Schließlich ist die bereits angesprochene »Delegation« als ein vierter wich- tiger Aspekt zu nennen. Diese definiert Nitsch als »die Auslagerung von menschlichen Handlungsprogrammen in nicht-menschliche Wesen«69. Damit ist eine reziproke Bewegung beschrieben, welche die ANT anfangs stark in dem Verhältnis Technik und Sozietät thematisierte,70 die aber auch zur Kenn- zeichnung von Übergängen herangezogen werden kann, die nicht auf diese Dichotomie zurückweisen, dafür aber »Widerstände« während der Überset- zungen verdeutlichen, die sowohl auf menschlicher als auch nicht-menschli- cher Seite auftreten können. Analog zu Nitschs Analyse eines automatischen Türöffners ließe sich auch im Fall des Senderbegriffs ein »metaphorischer Merkmalsaustausch« ausmachen, der als ständige Verhandlung unterschied- licher Akteur_innen rekonstruierbar ist. Das Verhältnis von dem, was menschliche Akteur_innen vorschreiben und was nicht-menschliche Wesen den menschlichen wiederum einschreiben, kann dann innerhalb einer spezi- fischen Vermittlung betrachtet werden.

Schlussbetrachtung

Unter Rückgriff auf all die bis hierher beschriebenen methodischen Ak- teur_innen der ANT ist die Grundlage für eine weitere Operationalisierung des Radiobegriffs im Rahmen einer medienethnographischen Studie gelegt worden. Ein solches »Denken in Operationsketten« macht es möglich, die Frage nach dem Medium als eine ständige Übersetzung zwischen Theorie- entwicklung, Forschungsdesign und Forschungsgegenstand zu artiku- lieren. Eine solche, innerhalb der ANT »Setting« genannte Kopplung71 beein- flusst auch die angestrebten Aussagen zum Radiomedium. Sie sollten im Rahmen seiner explizierenden Übersetzungsketten und Handlungspoten- tiale von weiteren in einem Setting verfolgten Vermittlungen wenn auch nicht ablösbar, so doch unterscheidbar sein. Eine solche Relation zu gewähr- leisten bedeutet, die Entfaltung des Radiobegriffs in allen Dimensionen der ANT72 als einen reziproken Austausch mit der Forschungsfrage zu etablie- ren. Werden Antworten in Bezug auf die spezifischen Artikulationen unab-

69 Nitsch 2008 (s. Anm. 67), S. 225. 70 Vgl. Cressman (s. Anm. 64). 71 Vgl. u. a. Belliger; Krieger 2006 (s. Anm. 53), S. 32; Latour 2008 (s. Anm. 49), S. 181 f., S. 197. 72 Vgl. Belliger; Krieger 2006 (s. Anm. 53), S. 39 f.

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hängiger Radios73 in Brasilien gesucht, dann wird perspektivisch ein radiales Akteur_innen-Netzwerk beschrieben, welches eben diese Antworten sicht- bar machen kann. Eine für das Setting erschöpfende Definition des Radiomediums liegt die- sem Verständnis nach erst mit Abschluss der Untersuchung vor. Wann diese wiederum zu Ende ist, hängt von einer erfolgreichen Beschreibung des Set- tings ab, welches zur Beantwortung der Forschungsfrage beiträgt. Alle Pha- sen des dafür veranschlagten Übersetzungsprozesses sollten mittels der vor- geschlagenen Operationalisierung zirkulierend entlang der beschriebenen Verkettungen durchlaufbar und nachvollziehbar sein. Im hier anklingenden Konjunktiv wird deutlich, dass ANT-Studien als ein in Text übersetztes Experiment konzipiert sind, ein zu Papier gebrachtes La- boratorium, welches nicht außerhalb und entkoppelt von den beobachteten, entfalteten und beschriebenen Entitäten steht, sondern als eine weitere Dele- gation innerhalb des gemeinsamen Settings zu verstehen ist. Experimente müssen scheitern können, um nicht von vornherein selbsterfüllende Prophe- zeiungen darzustellen. Die Verifizierbarkeit begründet sich jedoch nicht in der Bestimmung harter Fakten oder der Postulation universeller Definitio- nen (zum Beispiel der eines Radios). Vielmehr ist die erfolgreiche Deskrip- tion von Beziehungen im Blickwinkel einer bestimmten Forschungsfrage Ziel solcher medienethnographischen Experimente.

73 Unabhängig drückt dabei zum einen eine Abweichung von dem im brasilianischen Mediengesetz definier- ten Radiobegriff aus, zum anderen dient er als sensibilisierendes Konzept zur Annährung an sogenannte Freie und Community Radios. – Vgl. Dioclécio Luz: A arte de pensar e fazer Rádios Comunitárias, Brasilia 2007; vgl. Arlindo Machado; Caio Magri; Marcelo Masagão: Rádios livres – A reforma agrária no ar, São Paulo 1986.

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LITERARISCHES FELD

Ena Mercedes Matienzo León

El político como fabulador. Los artificios del discurso político en los inicios de la literatura latinoamericana entre la ficción literaria y la utopía política en El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno de Felipe Guamán Poma de Ayala

Introducción

El libro El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno fechado en 1615 es, por su composición, por el ideario propuesto y por su posterior e increíble hallazgo, un libro excepcional. Su autor, el cronista indígena Felipe Guamán Poma de Ayala, natural de Ayacucho, Perú, escribió el códice por casi treinta años con la finalidad de relatar la historia de la invasión y conquista española del Perú. La composición de este libro destaca por poseer de 1189 páginas ma- nuscritas y 398 dibujos que apoyan el mensaje del texto. El conjunto de ideas expuestas en el manuscrito consiste en contar la historia de los incas antes de la invasión y conquista ibérica, denunciar los abusos cometidos por los españoles – en palabras del cronista »dar larga quenta en la manera que han sido tratados los naturales destos reynos despues que fueron conquistados y poblados despañoles«1 – y proponer una nueva organización y administra- ción del estado colonial español en el Perú a fines del s. XVI y principios del s. XVII. Esta nueva organización política debería, por una parte, detener el etnocidio que se iniciaba con la política de saqueo de bienes y la mortandad debido a epidemias y al genocidio indígena, y por otra, proponer un buen gobierno o como afirma el cronista Guamán Poma, que »los dichos caciques

1 Este extracto pertenece a la carta que el cronista Felipe Guamán Poma de Ayala le envió al rey de España el 14 de febrero de 1615 desde Santiago de Chipao, Ayacucho-Perú. Esta carta se conserva en el Archivo Gene- ral de las Indias en Sevilla, España. La transcripción fue hecha por Guillermo Lohmann Villena en el artículo titulado: Una carta inédita de Huamán Poma de Ayala, editado en el Boletín de la Biblioteca Nacional, Año II, N° 8, Lima, Diciembre de 1945, pág. 388-390. La cita de esta carta ha sido extraída del libro El cronista indio Felipe Huamán Poma de Ayala de Raúl Porras Barrenechea, Lima 1948, pág. 74-75.

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principales sean de los grandes señores deste rreyno«2 y no forasteros españoles. El hallazgo de este importante manuscrito es historia reciente y merece una breve reseña: El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno, concluído en los primeros años del s. XVII, fue hallado en 1908 en la antigua colección de la Biblioteca Real de Dinamarca, lugar en el que hasta el día de hoy se encuen- tra3. El responsable de este inédito develamiento fue el Dr. Richard Pietsch- mann, quien en su breve visita a este recinto tuvo la oportunidad de revisar la antigua colección y encontrar un manuscrito que hasta entonces había pa- sado desapercibido. Éste pertenecía a la antigua colección real y estaba es- crito, en parte con letra muy apretada, sobre un papel de pequeño formato. La crónica ilustrada de Guamán Poma fue difundida a través de un estudio crítico del Dr. Pietschmann en el décimo octavo Congreso Internacional de Americanistas celebrado en Londres en 1912. Posteriormente, este texto crítico fue incluído como prólogo en la primera edición impresa en facsímil fotográfico de la crónica de Guamán Poma de Ayala4. Esta importante publi- cación fue el resultado de una primera etapa de difusión y edición en el am- biente académico europeo de la primera mitad del s. XX. A partir de 1970, los estudios sobre El Primer Nueva Córonica y Buen Gobierno 5 fueron numerosos y fructíferos. Éstos abarcan desde el enfoque histórico-antropológico de Juan Ossio6, el primer estudio filológico-literario de Rolena Adorno7, hasta el estu- dio desde la noción de texto cultural de Mercedes López-Baralt8, para citar los tres más importantes y que han concluido en tesis académicas. Los estu- dios realizados en relación a Nueva Corónica han sido importantes y exten- sos, no obstante se debe buscar nuevas luces en torno al concepto de saber, ficción y violencia, con la finalidad de comprender mejor la historia intelec- tual de América de Indias en el s. XVII.

2 Felipe Guamán Poma de Ayala: El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno. Edición crítica de John V. Murra y Rolena Adorno. Traducciones y análisis textual del quechua por Jorge L. Urioste, México 1980, pág. 904. 3 Rolena Adorno, la más importante estudiosa de la crónica de Guamán Poma, afirma que posiblemente el manuscrito circuló en el siglo XVII en la corte española y en ambientes aristocráticos, pues es hallado siglos después en la Biblioteca Real de Dinamarca. Adorno afirma que es posible que un coleccionista diplomático danés haya obtenido este códice en el siglo XVII, pues existía el interés en la Europa protestante por libros que describiesen la Leyenda Negra de la crueldad, el oscurantismo intelectual y la tiranía política de España en su política de difusión del catolicismo en América. Rolena Adorno: Guamán Poma y su crónica ilustrada del Perú colonial: un siglo de investigaciones hacia una nueva era de lectura, Copenhagen 2001, pág. 50-51. 4 Felipe Guamán Poma de Ayala: Nueva Coronica y Buen Gobierno (Codex péruvien illustré). Reproduction facsimile, édité par l'Institut d'Ethnologie de l'Université de Paris, París 1936. 5 De aquí en adelante el título será abreviado como Nueva Corónica. 6 Juan Ossio: The Idea of History in Felipe Guamán Poma de Ayala. Thesis for the Degree of Bachelor of Let- ters, Linacre College, University of Oxford 1970. 7 Rolena Adorno: The Nueva Corónica y Buen Gobierno of Felipe Guaman Poma de Ayala. A Lost Chapter in the History of Latin American Letters. Tesis para optar al título de Doctor por la Universidad de Cornell, Ithaca, New York 1974. 8 Mercedes Lopez-Baralt: Policulturalidad de códigos semióticos en el arte de Guamán Poma. Tesis para optar al título de Doctor por la Universidad de Cornell, Ithaca, New York 1981.

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Primera aproximación hacia el estudio de El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno

El estudio filológico sobre el texto Nueva Corónica se originó a partir de una lectura sobre la estética andina en las imágenes de la crónica de Felipe Gua- mán Poma de Ayala9. Este primer acercamiento al texto no sólo permitió explicar el concepto de belleza en las imágenes, sino abrir interrogantes sobre la estructura verbal castellana y reconocer un saber y un sistema de narración no estrictamente europeos. A partir de esta inquietud por el len- guaje del cronista indígena y el sustrato quechua o aymara que desordena la lengua impuesta, se planteó en un ensayo la presencia de una escritura ora- lizada en Nueva Corónica10. Sin embargo surgían interrogantes sobre el origen del manuscrito indígena, la influencia literaria y los conocimientos y lecturas previas que manejaba el autor11. Este proceso de reflexión se extendía con preguntas sobre cómo el autor había manejado la historia de sus ancestros y qué posición tomaba ante las instituciones que sostenían la estructura política y social de la conquista española. A partir de este conjunto de inter- rogantes se intentó entender cómo el cronista peruano había construído un discurso en el que la ficción y la historia se asociaban, de qué manera des- cribía y criticaba al nuevo estado colonialista español, cuál era su posición como autor indio al elaborar un discurso que une dos tradiciones culturales opuestas – la precolombina y la europea – y cómo proponía un nuevo orden político y moral ante el injusto sistema impuesto por la conquista.

La ocupación española de América y sus fábulas

Después de dos meses y medio de haber abandonado el puerto de Palos de la Frontera en Huelva, España, Cristobal Colón describe el lunes 17 de se- tiembre de 1492 en su Diario de Navegación12 que el hallazgo de »yervas de

9 Verónica Cereceda: Aproximaciones a una estética andina: de la belleza al tinku. En: Tres reflexiones sobre el pensamiento andino por Thérese Bouysee Cassagne (Editora), La Paz 1989. 10 En el ensayo titulado La escritura oralizada en Nueva Crónica y Buen Gobierno de Felipe Guamán Poma de Ayala intenté demostrar la existencia de un discurso oral de tradición andina en la escritura de la crónica de Guamán Poma, reflexionando sobre cómo la escritura le otorgó el carácter de perennidad y permanencia al saber andino y desarrollando el concepto de escritura y poder que propone Ángel Rama en su libro La Ciu- dad Letrada, Montevideo 1984. Este ensayo fue escrito en el año 2002 y se encuentra inédito. 11 Con amplia lucidez Rolena Adorno planteó en 1978 que El Primer Nueva Crónica y Buen Gobierno era una fuente excelente para analizar el clima intelectual en las primeras décadas de la colonia. Demostró con un acucioso trabajo de investigación que de los doce libros publicados en Sudamérica que aparecieron en los úl- timos quince años del siglo dieciséis, Guamán Poma tenía conocimiento de la mayoría de ellos, en especial de aquellos dedicados a asuntos religiosos y teológicos, entre ellos »Symbolo Catholico Indiano« de Luis Jerónimo de Oré y »El tratado de las doce dudas« de Bartolomé de las Casas. Rolena Adorno: Las otras fuentes de Guamán Poma: sus lecturas castellanas. En: Histórica, Vol. 2, Nr. 2, Lima Diciembre de 1978, pág. 137-148. 12 Cristóbal Colón: Diario de navegación y otros escritos. Estudios preliminares de Joaquín Balaguer, Ramón Menéndez Pidal. Notas: Carlos Esteban Deive, Santo Domingo, República Dominicana 1994.

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ríos, en las cuales hallaron un cangrejo bibo«13 era indicio de que en el po- niente la tierra firme estaba pronta a llegar y añade el Almirante: »espero en aquel Alto Dios, en cuyas manos están todas las victorias, que muy presto nos dará tierra«14. Entre el desasiego y la fe, América es descubierta y ocu- pada y la historia de este continente se iniciará desde las providenciales in- vocaciones de un comandante de origen genovés descritas en un diario hasta la llegada a tierra firme, pensando que arribaban a las Indias. El jueves 11 de octubre 1492, fecha del desembarco, mientras se realizaba la ocupación de los territorios, se registraban los acontecimientos bajo la pluma de un escribano. Es en este momento que se inicia la nominalización del mundo hallado. Lo que es la isla Guanahaní en lengua aborigen, los ocupantes la fundan como San Salvador, y las dos siguientes islas halladas las fundarán como Santa María de Concepción y Fernandina, nombres de origen español. El tabaco, que es una planta desconocida para los nuevos colonizadores, es descrita por Cristóbal Colón como »tierra bermeja hecho en polvo y después amassada, y unas hojas secas, que debe ser una cosa muy apreciada entre ellos, porque ya me trajeron en San Salvador de ellas en presente«15. Al describir Cristobal Colón una naturaleza totalmente nueva, le serán insuficientes las referencias europeas: »Aquí son los peces tan disformes de los nuestros, que es mara- villa...de las mas finas colores del mundo, azules, amarillos, colorados y de todas colores, y otros pintados de mil maneras [...] que no hay hombre que no se maraville y no tome gran descanso a verlos.« 16 Agrega además múltiples descripciones de los habitantes del mundo des- cubierto »gente muy fermosa; los cabellos como sedas de caballo, y los ojos muy hermosos y no pequeños; y ellos ninguno prieto, salvo de la color de los canarios«17. Este nuevo espacio que nacía frente a los ocupantes fue nomina- lizado y designado bajo las subjetividades de los foráneos, trastocando los nombres de los lugares aborígenes por palabras castellanas, reformulando y proponiendo denominaciones en la vegetación, fauna y paisaje. En este con- texto de trastorno y cambio, se va escribiendo la historia del Nuevo Mundo, envuelta de ausencias, ficciones y fábulas. Se define fábula como ficción que encubre una verdad y fabular como la acción de contar fábulas o trastocar la realidad. Al autor de este tipo de rela- tos se le denomina fabulador y es quien posee un clarísimo ingenio para ima- ginar o inventar un escenario nuevo. Los primeros documentos elaborados en los inicios de la ocupación española de América estuvieron caracterizados por narrar lo acontecido agregando siempre una buena dosis de creatividad,

13 Ibid., pág. 99. 14 Ibid., pág. 99. 15 Ibid., pág. 115. 16 Ibid., pág. 117. 17 Ibid., pág. 111.

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pues eran insuficientes los referentes propios para describir los lugares que hallaban. El cronista, responsable de este relato, debía emprender el trabajo de nominalización del Nuevo Mundo. ¿Cuánto de »fábula«, es decir, cuánto de tergiversaciones nominales, de silencios intencionales, de trastornos semánticos y de reformulaciones ficcionales contienen los primeros docu- mentos elaborados en los inicios de la literatura latinoamericana? Tzvetan Todorov, lingüista y teórico literario que posee una producción extensa de estudios sobre historia del pensamiento y análisis cultural, ha escrito un libro que responde a esta ininteligible nominalización del Nuevo Mundo, titulado La conquista de America. El problema del otro18. Este interesante estudio explica el descubrimiento que el Yo hace del otro y describe el encuentro de los habi- tantes del Nuevo Mundo con los foráneos españoles, reconociéndose distin- tos, reconociéndose en el rol del »otro«. Aunque este libro se centra en la dis- cusión del Yo como individuo, permite reflexionar sobre la fábula, el relato ficticio y los puentes que se construyen hacia los primeros registros docu- mentales de América, como lo son las Crónicas de Indias.

El político como fabulador Los artificios del discurso político en los inicios de la literatura latinoamericana

Se define artífice como la persona que ejercita su habilidad para alcanzar un objetivo. El artífice posee dones para imaginar, planificar, construir y ejecutar grandes proyectos o bien para revertirlos. Las acciones que ejecuta »el inven- tor« o »el artifice«, son denominadas artificios, elucubraciones que con inge- nio se imponen. El artífice o inventor surge ante circunstancias de extrema dificultad, ante carencias de arquetipos o ante un inefable hallazgo. En los inicios de la invasión y ocupación española del Nuevo Mundo, escribanos, notarios y cronistas elaboraron discursos que se ubicaban entre el mito y la historia. En base a estos documentos se organizó desde la península espa- ñola un régimen colonial con los datos de los cronistas informantes. El des- cubrimiento de América originó la toma de decisiones políticas sobre un referente que no se conocía. Esta situación llevó a varios cronistas a elaborar verdaderas historias sobre el mundo hallado, crónicas en las que muchos de ellos fabularon en torno a nuevas y mejores naciones, con una permanente vocación utópica. Los discursos que estos artífices construyeron se ubican en los intersticios de la ficción literaria y la fábula política. Los cronistas que describían el Nuevo Mundo impulsaban con sus relatos la búsqueda del Paraíso o la realización de la ejemplar nación platónica. El estudio de Juan

18 Tzvetan Todorov: La conquista de América. El problema del otro, México 1984.

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Durand Luzio19 explica el contexto excepcional en el que nace la literatura en Hispanoamérica: »El relato del navegante tiene una particularidad especial: junto con detallar la esplendorosa realidad de las tierras halladas, pone de manifiesto el rico legado de tradiciones y leyendas que, en cierto modo, las había prefigurado [...] Por el ambiente de rasgos tan positivos, evocadores de paisajes bíblicos admirados por el Almirante, éste llegó a creerse en las cer- canías del Paraíso Terrenal [...] Aparecía la región en la cual realizar la repú- blica ejemplar añorada por el Renacimiento, en la cual revivirían ideales ago- tados por los resquebrajamientos de una sociedad que padecía crisis, íntima y pública, hacia fines del siglo XV [...] En medio de este clima comienza a desarrollarse la literatura de Hispanoamérica.«20 Este ansiado proyecto platónico de nación feliz produjo una creación pre- meditada del Nuevo Mundo, pues se veía en éste a una región en la cual se podría llevar a cabo la justicia más igualitaria, una libertad mejor entendida, una felicidad más completa y mejor repartida entre los hombres y mujeres, una soñada república: una Utopía21. Aunque la realidad no correspondía muchas veces a esa naturaleza idealista, permaneció en los primeros fabula- dores de América el ánimo utópico de hacer política, de fundar un nuevo mundo, de crearlo y refundarlo bajo el sueño de la tierra idealizada. Esta vocación fabulosa describe la realidad circundante en las primeras crónicas escritas en América. Según Durand Luzio: »[América] se prestaba como un campo de experimento de los más altos ideales de la humanidad como nunca antes se había ofrecido. Su presencia física vino a alentar las más au- daces quimeras, ya que su encuentro era producto de una cultura que, añorándola, la había prefigurado.«22 El importante escritor cubano Alejo Carpentier afirma que la historia de América es una crónica de lo real maravilloso23. Lo real existía en la violencia y ferocidad de la conquista, en el empeño por destruir para construir su pro- pio imperio, en la miseria que deja la ambición y la avaricia, en la disconfor- midad y la protesta; y lo maravilloso se concebía en lo fabuloso, en el pensar un nuevo mundo, en edificarlo mediante la vocación de fabulador, en inten- tar subvertir la ruina común. Españoles y amerindios describían y recreaban en sus crónicas los acontecimientos históricos de la fundación de América, denunciando las inequidades propias de un sistema colonial y proponiendo un buen gobierno. Nueva Corónica ficcionalizó el referente con clara intención utópica y posi- ciona a su autor como un escritor que preferió el territorio de lo fabuloso y lo

19 Juan Durán Luzio: Creación y Utopía. Letras en Hispanoamérica, San José de Costa Rica 1979. 20 Ibid., pág. 7 y 8. 21 Ibid., pág. 11. 22 Ibid., pág. 12. 23 Alejo Carpentier: Tientos y diferencias y otros ensayos, Barcelona 1987.

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legendario24. Aunque como él afirma en la Carta del Autor »Muchas veses dudé, Sacra Católica Real Majestad, azeptar esta dicha ympresa y muchas más después de averla comensado me quise bolber atrás, jusgando por te- meraria mi entención«25, el cronista decidió continuar con este gran proyecto cultural. La primera barrera que tuvo que enfrentar fue representar a sus lec- tores el mundo referencial nuevo, naciente. Este empeño hizo que Guamán Poma ficcionalizara la realidad, la reinventara para hacerla más legítima ante los lectores europeos y los lectores próximos a él: indios cristianos e infieles. El siguiente diálogo imaginario extraído de Nueva Corónica resume su pro- puesta política, su discurso utópico; un discurso salvador frente a la con- quista española: »PREGVNTA SV MAGESTAD: Dime, autor Ayala, que me aués contado tantas cosas lastimosas. No enbío a mis jueses y justicias a hazer mal y daño y a rrobar. Dime agora, autor Ayala, ¿cómo se podrá rreme- diar? […] RESPONDE EL AVTOR: Quitar que no ayga corregidor y castigar a los dichos padres y curas de las dichas doctrinas por una culpa. Los dichos ca- ciques principales sean de los grandes señores deste rreyno.«26

Epílogo: Breve reflexión sobre el escritor indígena y la tradición literaria europea

La madrugada del martes 4 de agosto 2009 regresaba de Santiago de Chipao (Ayacucho-Perú), pueblo natal del cronista Felipe Guamán Poma de Ayala, hacia Lima. El trayecto de quince horas en ómnibus me permitió observar la geografía abrupta y accidentada de la zona y pensar que los Andes no eran el medio idóneo para un escritor. Rodeado de enormes montañas y sin contar con un recinto material para el acto de escribir, como lo es una biblioteca, o un ambiente especial para la publicación y la crítica, como la tradición litera- ria europea nos propone, en este caso Santiago de Chipao destaca por ser un pueblo de campesinos pobres y pastores de altura. Reconocer este pueblo como el origen de Nueva Corónica me planteó un problema que directa- mente no es asunto que deba resolver en este artículo, no obstante es impor- tante integrarlo a modo de reflexión final: la literatura escrita por un indí- gena. Se denomina escritor indígena al autor de textos que incluye personajes, temas y paisajes relacionados a los Andes, además de mantener un tono

24 Juan Durán Luzio plantea en su estudio que en los inicios de la literatura en Hispanoamérica existe un com- promiso utópico y una búsqueda del paraíso perdido en el Nuevo Mundo. Desde esta perspectiva analizará las obras de escritores hispanoamericanos como Garcilaso de la Vega, Domingo Faustino Sarmiento, José En- rique Rodó, Rubén Darío y García Márquez, para citar a los más importantes. 25 Felipe Guamán Poma de Ayala: El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno, México 1980, pág. 5. 26 Ibid., pág. 902 y 904.

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social y político reivindicativo. Generalmente el escritor indígena no es un indígena, sino más bien un escritor que ha nacido en la ciudad y que vive en ella, educado en una universidad, que habla y escribe en español y no en len- gua indígena. Que si aquellos escritores serían »verdaderos representantes« de la literatura indígena fue el gran debate que se produjo en la década de los cincuenta del s. XX en la crítica literaria de países denominados andinos, entre ellos Ecuador, Perú y Bolivia. En el caso del Perú, la crítica literaria fue severa con muchos de ellos, determinando cuáles eran los fidedignos repre- sentantes y cuáles de ellos no pertenecían a esta categoría. En su examen in- cluían la procedencia del escritor y cómo esta condición era reflejada en el lenguaje de la obra y en su composición, considerando en su evaluación las inquietudes políticas que poseía el autor. Este debate enfrentó a escritores como al indigenista peruano José María Arguedas y al escritor argentino Ju- lio Cortázar a mediados de la década de los sesenta. Mario Vargas Llosa lo calificó como el enfrentamiento entre el nativismo y el cosmopolitismo27. Ac- tualmente este debate se encuentra en el olvido. Sin embargo quisiera elabo- rar dos breves preguntas a modo de reflexión: a) ¿Es posible la formulación y la creación de un libro en condiciones normalmente precarias para el acto de escribir? En el caso del cronista Guamán Poma: ¿Cómo fue posible que el au- tor escribiera un documento de más de mil páginas en un contexto social y cultural que hasta hoy presenta una profunda precariedad material? b) ¿Es un acto excepcional producir un libro en estas condiciones o es la literatura canónica la que crea formas y estructuras excluyentes de producción litera- ria? Mi respuesta es que cuánto más difícil se presenten las condiciones para el acto de escribir, mientras más endebles sean las estructuras para su pro- ducción, la literatura aparecerá vital en los extramuros del canon literario.

27 El debate entre Arguedas y Cortázar se realizó mediante cartas publicadas en revistas latinoamericanas como la Revista Casa de las Américas (La Habana), Marcha (Montevideo) y Life en español (Nueva York) entre los años 1967 y 1969. La historia de este debate se encuentra bien documentada en el libro de Mario Vargas Llosa: La utopía arcaica. José María Arguedas y las ficciones del indigensimo, México: 1996.

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Cordula Greinert

Subversives Brausepulver. Heinrich Manns Tarnschriften gegen den Nationalsozialismus

Wer 1939 im nationalsozialistischen Deutschen Reich eine Tüte Limonaden- pulver der Marke Cola. Citron. Kristallisierter Fruchtsaft öffnete, konnte darin unter Umständen etwas finden, das zumindest der damaligen deutschen Zensur keineswegs schmeckte: Heinrich Manns Aufruf »Einig gegen Hitler!«1 Als sogenannte Tarnschrift wurde die 23-seitige kleinformatige Broschüre in nachgemachten Päckchen des handelsüblichen Brausepulvers versteckt und illegal verbreitet (vgl. Abb. 1). Dieses spezielle Phänomen der verkleideten Literatur ist vor allem aus der Zeit von 1933 bis 1945 bekannt; von Heinrich Mann sind für die Jahre von 1935 bis 1939 insgesamt 22 eigene und 3 mitunter- zeichnete Texte in 20 verschiedenen Tarnungen nachgewiesen.2

Abb. 1: Umschlag und erste Seiten der Tarnschrift Cola. Citron. Kristallisierter Fruchtsaft mit Heinrich Manns Text »Einig gegen Hitler!«

Quelle: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, RY 1/I2/8/27.

1 Heinrich Mann: Einig gegen Hitler! In: Cola. Citron. Kristallisierter Fruchtsaft, o. O. [August 1939], S. 2-23. 2 Vgl. Brigitte Nestler: Heinrich Mann-Bibliographie, Bd 1: Das Werk, Morsum/Sylt 2000; Heinz Gittig: Biblio- graphie der Tarnschriften. 1933 bis 1945, München et al. 1996.

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In diesem Artikel werden zunächst – aufbauend auf der bisherigen For- schung3 – Tarnschriften als Phänomen der Zensurgeschichte analysiert und systematisch verortet: als spezifisch subversive Form des Widerstands gegen Publikations- und Distributionsverbote. Im Anschluss daran werden Hein- rich Manns Publikationen in diesem Medium untersucht und seine Rolle bei ihrer Veröffentlichung beleuchtet.

Tarnschriften

Tarnschriften sind ein Phänomen verkleideter Literatur4. Eine vom unerlaub- ten Inhalt des Buches differierende Umschlaggestaltung soll diesen nach außen tarnen. In seiner bis heute maßgeblichen Studie über Illegale antifaschis- tische Tarnschriften 1933 bis 1945 schlägt Heinz Gittig folgende Definition vor: »Man bezeichnet als Tarnschriften jene Druckerzeugnisse, die unter einem harmlosen, unverfänglichen Umschlagtitel, zum Teil mit fingiertem Impres- sum (Verlag, Drucker, Druckort und -jahr) als Absicherung gegen polizeili- chen Zugriff und zum Schutze der Verbreiter und Leser, antifaschistische Schriften enthalten.«5 Dies ist dahingehend auszuweiten, dass Tarnschriften bereits zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges und der Französischen Revolution bekannt wa- ren6 und sich somit nicht per se als antifaschistisch einstufen lassen.7 Bezeich-

3 Die Forschungsliteratur zu Tarnschriften umfasst neben Einträgen in Lexika eine Handvoll bibliographi- scher und buchkundlicher Untersuchungen sowie einzelne Darstellungen in Verlagsgeschichten. – Vgl. Mo- nika Estermann: Tarnschriften. In: Ursula Rautenberg (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Buches, Stuttgart 2003, S. 479; dies.: Verkleidete Literatur. In: Ebd., S. 514; Gittig 1996 (s. Anm. 2); ders.: Illegale antifaschisti- sche Tarnschriften 1933 bis 1945. 87. Beiheft zum Zentralblatt für Bibliothekswesen, Leipzig 1972; ders.: Anti- faschistische Schriften im Tarnumschlag. In: Hans Marquardt (Hrsg.): 100 Jahre Reclams Universal-Biblio- thek. 1867-1967. Beiträge zur Verlagsgeschichte, Leipzig 1967, S. 412-423; Harro Kieser: Tarnschriften. In: Severin Corsten, Stephan Füssel; Günther Pflug (Hrsg.): Lexikon des gesamten Buchwesens, Bd. 7, Stuttgart 2007, S. 348; Günther Pflug: Verkleidete Literatur. In: Ebd., Bd. 8, Stuttgart 2008, S. 62; ders.: Verschleierung von Texten. In: Ebd., S. 96; Georg Ruppelt: Thomas Mann im Teebeutel. Die Tarnschriften-Sammlung der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Hameln 2007; ders.: »Die Kunst des Selbstrasierens«. Tarnschriften ge- gen die nationalsozialistische Diktatur, Hameln 2002; ders.: »Die Kunst des Selbstrasierens«. Getarnte Schrif- ten gegen die nationalsozialistische Diktatur. In: Der Zensur zum Trotz. Das gefesselte Wort und die Freiheit in Europa. Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel 1991, S. 181-191. 4 Hierbei handelt es sich um Schriften, »bei denen die Herkunft, und hier in erster Linie die Verfasserschaft, bisweilen aber überhaupt ihr wahrer Charakter quasi verhüllt ist«. – Friedrich Nestler: Einführung in die Bibliographie. Auf der Grundlage des Werkes von Georg Schneider völlig neu bearbeitet, Stuttgart 2005, S. 194. 5 Gittig 1972 (s. Anm. 3), S. 11. – Ruppelt beschreibt Tarnschriften detaillierter: »[S]ie sind kleinformatig, man kann sie in einen Briefumschlag stecken und verschicken, sie sehen ›unverfänglich‹ aus und haben einen harmlosen Titel, sie sind tatsächlich erschienenen Schriften äußerlich oft angepasst, sie enthalten etwas an- deres als der Umschlag, später auch Titel und erste und letzte Seiten zunächst erwarten lassen.« – Ruppelt 2007 (s. Anm. 3), S. 7. 6 So Gittig 1971 (s. Anm. 3), S. 52; Estermann 2003 (s. Anm. 3), S. 479. 7 In der erweiterten Neuauflage seiner Bibliographie schreibt Gittig konsequenterweise von »antifaschisti- sche[n], demokratische[n] und gegen den Krieg gerichtete[n] Texte[n]«. – Gittig 1996 (s. Anm. 2), S. XI.

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nenderweise tauchen sie immer in Zusammenhängen politischen Wider- stands auf. So firmierte August Bebels Werk Die Frau und der Sozialismus zur Zeit des von 1878 bis 1890 geltenden Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Be- strebungen der Sozialdemokratie in einer Ausgabe als Statistik. 5. Heft von Ernst Engel und in einer anderen als Berichte der Fabrik-Inspektoren 1883 mit ent- sprechender Titelgestaltung.8 Auch während des Ersten Weltkrieges kursier- ten Tarnschriften,9 aber erst im nationalsozialistischen Deutschen Reich ab 1933 kamen sie systematisch und in großem Umfang zum Einsatz. Für jene Zeit gilt grundlegend: »Die Zensur während der nationalsoziali- stischen Diktatur war die wohl weitreichendste in der Zensurgeschichte.«10 Die schon im Juli 1933 zu einem total(itär)en Kontrollapparat ausgebauten Zensurmaßnahmen sahen bei Zuwiderhandlungen neben Haft- auch Todes- strafen wegen Hochverrats vor. Um diese Konsequenzen zu vermeiden und die Entdeckung oppositioneller Texte zu erschweren, boten sich Schriften, die äußerlich nicht als verbotene Publikationen zu erkennen sind, offenbar als geeignetes Medium an. In der erweiterten Neuauflage seiner Bibliogra- phie verzeichnet Gittig für die Zeit von 1933 bis 1945 insgesamt 1 024 Tarn- schriften.11 Den Großteil hiervon brachten KPD und Komintern in Umlauf, aber auch SPD und katholische Organisationen gaben Tarnschriften heraus und stellten hierfür materielle und personelle Ressourcen zur Verfügung.12

Herstellung von Tarnschriften Finanziert wurden Tarnschriften mit Geldern dieser Organisationen, durch Spenden sowie den legalen Verkauf im Ausland und den illegalen Verkauf oder das Verleihen gegen Gebühr im Inland.13 Bei der Herstellung konnte zu- mindest die KPD zunächst auf ihren seit 1932 verstärkt aufgebauten illegalen Druckapparat im eigenen Land zurückgreifen. Aber auch legale Druckereien im In- und Ausland produzierten verbotene Schriften.14 Im Wesentlichen lassen sich drei Verfahren zur Herstellung von Tarn- schriften ausmachen. Regional eingesetztes Material wurde meist mittels

8 Vgl. Forschungsgemeinschaft »Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse um die Befreiung der Frau« an der Pädagogischen Hochschule »Clara Zetkin« Leipzig (Hrsg.): Die Frau und die Gesellschaft, Leipzig 1974, S. 25. 9 Vgl. Marquardt 1967 (s. Anm. 3); Abbildungen 61 und 62 zwischen S. 166 und 167. 10 Bodo Plachta: Zensur, Stuttgart 2006, S. 170. – Weitere Einblicke bietet: Sebastian Graeb-Könneker (Hrsg.): Literatur im Dritten Reich. Dokumente und Texte, Stuttgart 2001, S. 27-36. 11 Vgl. Gittig 1996 (s. Anm. 2), S. IX. 12 Den Anteil der von KPD und Komintern herausgegebenen Tarnschriften wird auf nahezu 80 Prozent bezif- fert. – Vgl. Gittig 1972 (s. Anm. 3), S. 15; Ruppelt 1991 (s. Anm. 3), S. 181. Die bekannteste und auflagenstärk- ste Tarnschrift (40.000 Exemplare), Die Kunst des Selbstrasierens. Neue Wege männlicher Kosmetik, beinhal- tete jedoch das Prager Manifest des Exil-Vorstandes der SPD vom Januar 1934. http://library.fes.de/library/netzquelle/rechtsextremismus/pdf/tarnschrift.pdf (20.03.2010). Eine katholi- sche Tarnschrift beschreibt Ruppelt 1991 (s. Anm. 3), S. 189. 13 Vgl. Gittig 1972 (s. Anm. 3), S. 82. 14 Vgl. ebd., S. 31, S. 39, S. 45 f.

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Kleinoffset- oder Hektographierverfahren von einer mit Schreibmaschine angefertigten Matrize abgezogen. Dies erforderte wenig Aufwand, war aber auch riskant, da kriminalistisch leicht zu ermitteln. Eine andere Methode für lokales oder regionales Material nutzte Druckstöcke, die zuvor aus stark ver- kleinerten Klischees von abfotografierten Schreibmaschinentexten herge- stellt wurden. Landesweit zu verbreitendes, zentral koordiniertes Material wurde jedoch überwiegend im Hochdruckverfahren mit Druckplatten her- gestellt und meist im Ausland gesetzt und gedruckt.15 Diese verschiedenen Verfahren wurden auch für die Tarnumschläge ver- wendet. Einfachere Titel wurden oft nach Originalvorlagen neu gesetzt, an- spruchsvollere fotografisch reproduziert. Dabei wurden für Tarntitel fast ausschließlich deutsche Originalpublikationen verwendet, die möglichst po- pulär und weit verbreitet waren. Die Vor- und Endtexte hingegen wurden manchmal frei erfunden.16 Typische Tarnungen orientierten sich an Büchern der Verlage Reclam oder Insel und anderen Schriften im Oktavformat sowie an Werbebroschüren, Faltblättern, Stadtplänen und Gebrauchsanweisungen. Auch Zeitungen kur- sierten in getarnter Form. Zudem wurden Dünndruckhefte mit blankem Titel in Tüten von Brausepulver, Philateliesets, Tomatensamen, Tee- oder Shampooproben versteckt.17

Verbreitung von Tarnschriften Waren die Tarnschriften im Ausland hergestellt, so mussten sie ins Deutsche Reich hineingeschmuggelt werden. Für den Transport wurden verschieden- ste Möglichkeiten genutzt. Auf dem Landweg kamen neben dem Schmuggel über die »grüne Grenze« vor allem klassische Verstecke wie Stoffballen, Kof- fer oder Reserveräder in Frage, aber auch unter Zügen wurden Tarnschriften befestigt. Ferner boten sich Grenzflüsse und Seehäfen an. So wurden Publi- kationen dem Strom mitgegeben, auch Schiffe eigneten sich als Verstecke. Zudem fanden Tarnschriften per Ballon ihren Weg ins Deutsche Reich. Ei- nige Tarnschriften wurden gezielt per Post an bestimmte Adressat_innen verschickt. Nicht zuletzt ergaben sich im Ausland selbst Gelegenheiten, Tarnschriften »unters Volk« zu bringen. So lagen an grenznahen niederländi- schen Verkaufsständen oder in dänischen Gastwirtschaften Exemplare aus.18 Nicht immer gelang der Transport über die Grenze jedoch wie geplant: So lagerten beispielsweise noch Ende 1935 3 000 Exemplare der zum Pariser

15 Vgl. ebd., S. 41 f. 16 Vgl. ebd., S. 45 f. 17 Vgl. die Beispiele bei Gittig 1996 (s. Anm. 2) und Ruppelt 2007 (s. Anm. 3). 18 Vgl. Gittig 1996 (s. Anm. 2), S. 52-71; Babette Gross: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, Stuttgart 1967, S. 9.

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Schriftstellerkongress im Juni des Jahres als Tarnschrift herausgegebenen Broschüre Deutsch für Deutsche in Straßburg.19 Im Deutschen Reich angelangt, erfolgte die Weiterverbreitung der Tarn- schriften nach dem Schneeballprinzip, wobei die KPD darauf achtete, das Transportnetz strikt von der Parteiorganisation zu trennen. Die weitere Ver- teilung erfolgte zum einen willkürlich durch Liegenlassen der Schriften in Straßenbahnen und Gaststätten oder durch Austauschen mit legalen Publi- kationen in Kinos und Bahnhofsbuchhandlungen. Zum anderen wurden Tarnschriften zielgerichtet an Sympathisant_innen verteilt, beispielsweise durch persönlichen Kontakt oder über Zwischenlager in Leihbüchereien, Wäschereien sowie Friseurläden.20 Die Nutzung von Decknamen, das Be- schränken der Kontakte auf ein Minimum an Personen sowie die klare Tren- nung der verschiedenen Zuständigkeiten reduzierten dabei zwar die Hand- lungsmöglichkeiten, waren in der konkreten historischen Situation zum Schutz aller Beteiligten allerdings dringend geboten.

Wirksamkeit von Tarnschriften Angesichts der Risiken für Verbreiter_innen von Tarnschriften stellt sich in Bezug auf deren Wirksamkeit die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Dies ist bis heute umstritten.21 Ihre größte Verbreitung erfuhren Tarn- schriften in Industriezentren und Großstädten, was zum einen in den Orga- nisationsstrukturen des illegalen Widerstands begründet war, zum anderen in den Verbreitungsbedingungen, die des Schutzes durch die Anonymität in der Masse bedurften. Die Auflagen von Tarnschriften sind kaum nachzuwei- sen, werden aber auf durchschnittlich 10 000 Stück geschätzt.22 Inhaltlich versorgten Tarnschriften ihre Leser_innen mit Informationen über die Situation im Deutschen Reich, aber auch in anderen Ländern, nicht zuletzt den besetzten. Sie thematisierten vor allem antisemitische und anti- demokratische Verfolgungen und Verhaftungen, Maßnahmen zur Kriegsvor- bereitung oder wirtschaftliche Missstände. Die Tarnschriften bildeten somit ein Korrektiv zu den offiziellen deutschen Medien. Darüber hinaus enthielten sie auch politische Propaganda wie Manifeste, Reden und Aufrufe oder stellten konkrete Möglichkeiten des Widerstands dar, um das antifa- schistische Potenzial der Bevölkerung zu mobilisieren.

19 Vgl. Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Wolfgang Klein; Anne Flierl; Volker Riedel, Bd. 6, Februar 1933 bis 1935, hrsg. von Wolfgang Klein, mit Vorarbeiten von Werner Herden, Bielefeld 2009, S. 788. 20 Vgl. Gittig 1972 (s. Anm. 3), S. 71, S. 78. 21 Im Sinne einer historischen Zensurwirkungsforschung hält Lokatis die Zeit für eine systematische Erfor- schung des »heimlichen Lesens« im Dritten Reich für zu spät. – Vgl. Siegfried Lokatis: Lesen in der Diktatur. Konturen einer Zensurwirkungsforschung. In: Ders.; Ingrid Sonntag (Hrsg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008, S. 11-23, hier: S. 12 f. 22 Vgl. Gittig 1972 (s. Anm. 3), S. 27.

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Offenbar genügte dies den staatlichen Behörden, um mit aller Macht ge- gen die Herstellung und Verbreitung von Tarnschriften vorzugehen. Die Presse im Deutschen Reich beschrieb das Phänomen im Vergleich zu den Exilzeitungen sogar als »erheblich gefährlicher und wichtiger«23.

Subversive Zensurumgehung Aufbauend auf diese deskriptiven Ausführungen zu Tarnschriften soll nun eine theoretische Verortung – als spezifisch subversive24 Form des Zuwider- handelns gegen Publikations- und Distributionsverbote – vorgenommen werden. Im Kontext der Literaturwissenschaft sind vor allem die Verfahren der Ironie und Parodie als subversive Strategien – im Sinne eines Unterlaufens von Konventionen, Erwartungen, Dogmen und (Un-)Sinn – bekannt.25 In kulturwissenschaftlichen Analysen zum Verhältnis von Kunst und Poli- tik werden Taktiken von Sinnzersetzung, Verkleidung und Maskierung – hierunter wären Tarnschriften einzuordnen –, Übertreibung und Parodie, Umkehrungen, Stellvertreteraktionen sowie Hybridität als subversiv be- schrieben.26 Für die Verortung des Phänomens der Tarnschriften soll hier auf die ideengeschichtliche Konzeption von Johannes Agnoli aus seiner Vorlesung zur (Geschichte der) Subversiven Theorie aufgebaut werden: »Alle Subversion verweist auf ein unzweideutiges Prinzip, das Prinzip Widerstand. [...] Ge- schichtlich läuft daher alle subversive Theorie, vor allem in politicis, auf das Recht auf Widerstand hinaus.«27 Da dieses Recht von allen Zensurumge- hungsstrategien in Anspruch genommen wird, sind sie in diesem Sinne alle als subversiv anzusehen. Ein weiterer Aspekt, den Agnoli benennt, gilt ebenfalls für diverse For- men des Widerstands gegen Zensur: »Die historische Bedeutung der Subver- sion liegt darin beschlossen, daß sie der radikalen Veränderung vorarbeitet

23 Zitiert nach Ruppelt 1991 (s. Anm. 3), S. 182. 24 Zur Begriffsgeschichte vgl. Kurt Röttgers; Wilhelm Goerdt; Hans-Dieter Gondek: Subversion. In: Joachim Ritter [†]; Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1998, Bd. 10, 1998, Sp. 567-572. – Zu sprachlichen Bedeutungsunterschieden vgl. Elisabeth Ehrenberger: Einige Bemer- kungen zur Herkunft und zur Verwendung des Wortes ›subversiv‹ in verschiedenen europäischen Spra- chen. In: Karol Sauerland (Hrsg.): Das Subversive in der Literatur, die Literatur als das Subversive, Torun 1998, S. 7-14. 25 Vgl. Peter Uwe Hohendahl: Geschichte, Opposition, Subversion. Studien zur Literatur des 19. Jahrhunderts, Köln 1993, S. 13. 26 Vgl. Mark Terkessidis: Karma Chamäleon. Unverbindliche Richtlinien für die Anwendung von subversiven Taktiken früher und heute. In: Thomas Ernst; Patricia Gozalbez Cantó; Sebastian Richter; Nadja Sennewald; Julia Tieke (Hrsg.): SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 27-45. – Unter Hybridität versteht Terkessidis dabei, ausgehend von den Prämissen Homi Bhabhas über die Ambivalenz kultureller Identität(en), die bewusste Inszenierung von Uneindeutigkeit(en) bzw. »Verdopplung«. – Ebd., S. 36 f. 27 Johannes Agnoli: Subversive Theorie. »Die Sache selbst« und ihre Geschichte. Eine Berliner Vorlesung, hrsg. von Christoph Hühne, Freiburg 1996, S. 21.

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und als Ferment der Emanzipation wirkt.«28 Die Intention, die nationalsozia- listische Herrschaft zu stürzen, ist nicht nur Tarnschriften, sondern auch Flugblättern und sonstigen Publikationen der antifaschistischen Publizistik der Jahre 1933 bis 1945 klar zu entnehmen. Aufrufe zu Widerstand und revo- lutionären Erhebungen in allen diesen Medien sind nicht zuletzt von Hein- rich Mann überliefert.29 Doch Tarnschriften sind in einem sehr spezifischen Sinne subversiv. Zum einen geben sie sich – im Unterschied zur offenen Form des Flugblatts – nicht sofort als illegal und widerständig zu erkennen. Zum anderen zeigt sich ihr verbotener Inhalt nach den ersten Seiten immer unzweideutig, an- ders als bei sonstigen Verkleidungen wie einem fingierten Impressum, einer verschleierten Autor_innenschaft oder bei Werken der Schlüsselliteratur30, deren subversiver Gehalt sich nur durch spezielles Wissen erschließen lässt. Agnoli fasst dies so: »Subversion aber will sich enträtseln lassen, ins Offene treten.«31 Darüber hinaus sind Tarnschriften als immanent subversiv zu verstehen. Sie spiegeln Agnolis These, dass sich »die Subversion, die sich gegen das System richtet, [...] unmöglich einer systematischen Definition fügen«32 kann. So folgte die Auswahl der Tarnumschläge keinem System – es wurde nicht für eine bestimmte Art von Texten immer eine bestimmte Maskierung ver- wendet. Hierdurch wurde die Gefahr der Entdeckung reduziert, ohne den Wirkungskreis einschränken zu müssen – potenziell konnten Tarnschriften die bestehende Ordnung somit besser unterlaufen. Nicht zuletzt war auch die Art und Weise ihrer Verbreitung spezifisch subversiv. Der Schmuggel als konspirative Methode der Illegalität tritt hier in einer speziellen Form – der eines Netzwerkes statt der einer Zentrale – in Erscheinung, um die Gefahren der Verfolgung zu umgehen. In diesem Sinne zeichnen sich Tarnschriften ebenfalls als spezifisch subversive Form des poli- tisch-ästhetischen Widerstands gegen Publikations- und Distributionsver- bote aus.

Heinrich Manns »Dünndruck-Manifeste«

Nach dieser Verortung von Tarnschriften im Kontext illegaler Publikationen soll nunmehr am Beispiel Heinrich Manns die Rolle eines Verfassers von Tarnschriften betrachtet werden. Neben den Themen seiner verschiedenen

28 Ebd., S. 23. 29 Vgl. Nestler 2000 (s. Anm. 2). 30 Bei der Schlüsselliteratur wird nicht die Form, sondern der Inhalt einer Publikation verschlüsselt. – Vgl. Georg Schneider: Die Schlüsselliteratur, 3 Bände, Stuttgart 1951-53. 31 Agnoli 1996 (s. Anm. 27), S. 19. 32 Ebd., S. 20.

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Texte ist in diesem Zusammenhang interessant, ob es sich bei ihnen um Nach- drucke oder um Erstveröffentlichungen handelte und wie sie überhaupt zu- stande kamen. Hieraus lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, welchen Stel- lenwert ein Autor wie Heinrich Mann dieser Publikationsform beimaß. Das entsprechende Register in Gittigs Bibliographie verzeichnet 648 Au- tor_innen,33 einige davon pseudonym oder anonym. Eine Art »Bestenliste« lässt sich auf dieser Grundlage allerdings kaum erstellen, da einige Texte sat- zidentisch in verschiedenen Maskierungen erschienen, andere Tarnschriften mehr als einen Text derselben Verfasser_innen enthielten und da getarnte Zeitschriften sowie von mehreren Personen unterzeichnete Aufrufe nicht für das Register ausgewertet wurden. Es sei jedoch darauf verwiesen, dass Heinrich Mann hier mit 14 Texten in 14 Tarnungen an 15. Stelle rangiert, als erster Schriftsteller, gleichauf mit Herbert Wehner, alias Kurt Funk.34 Heinrich Mann war also einer der produktivsten Tarnschriftenautoren sei- ner Zeit. Auf der Materialgrundlage der im Entstehen und Erscheinen begrif- fenen Kritischen Gesamtausgabe von Heinrich Manns Essays und Publizistik lassen sich für die Jahre 1934 bis 1939, wie bereits erwähnt, insgesamt 22 eigen- händige und 3 von Heinrich Mann mitunterzeichnete Texte in 20 verschiede- nen Tarnungen ausmachen.35 Und so schrieb der Autor im Mai 1939 an seinen Bruder Thomas: »Meine Dünndruck-Manifeste zähle ich nicht mehr.«36

Inhalte und Formen von Heinrich Manns Tarnschriften Der erste Text Heinrich Manns, der 1934 für eine Tarnschrift verwendet wurde und die Gleichschaltung der Literatur im Deutschen Reich themati- sierte, war ein Erstdruck und erschien in einer seltenen Gestaltungsvariante – der dem Original zum Verwechseln ähnlichen Zeitschrift Der Schriftsteller (vgl. Abb. 2).37 Herausgegeben wurde sie von dem im Pariser Exil neu ge- gründeten Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS), der sie »an eine größere Zahl von Schriftstellern in Deutschland«38 versandte. Die 1910 ge- gründete Verbandszeitschrift des SDS behielt auch im Exil die originäre Jahr-

33 Insgesamt verzeichnet Gittigs Verfasser_innenregister 725 Namen, in 77 Fällen handelt es sich jedoch um Verweise auf Klarnamen von Pseudonymen. – Vgl. Gittig 1996 (s. Anm. 2), S. 243-251. 34 Vor Heinrich Mann finden sich die Politiker_innen Georgi Dimitroff, Wilhelm Pieck, Ernst Fischer, Josef Sta- lin, Walter Ulbricht, Johann Koplenig, Wilhelm Florin, Klement Gottwald, Dimitri Manuilski, Otto Bauer, Palmiro Togliatti, Dolores Ibarruri, Oskar Großmann und Franz Dahlem. Als Schriftsteller_innen folgten ihm Thomas Mann, Bertolt Brecht, Gustav Regler, Oskar Maria Graf, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger und andere. – Vgl. Gittig 1996 (s. Anm. 2), S. 243-251. 35 1972 zählte Werner Herden sechs Texte Heinrich Manns in acht verschiedenen Tarnungen. – Vgl. Werner Herden: Streitschriften im Tarngewand. Zur antifaschistischen Publizistik Heinrich Manns. In: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie, 1972, Heft 45, S. 1-5. 36 Thomas Mann; Heinrich Mann: Briefwechsel 1900–1945, hrsg. von Hans Wysling, Frankfurt am Main 1995, S. 307. 37 Heinrich Mann: Das weiss eigentlich jeder. In: Der Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, [Paris], Jg. 22, Heft 3, August 1934, S. 1-2; vgl. Mann 2009 (s. Anm. 19), S. 379-381 und 926 f. 38 Dieter Schiller; Karlheinz Pech; Regine Herrmann; Manfred Hahn: Exil in Frankreich, Leipzig 1981, S. 138.

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gangszählung bei, um den Geltungsanspruch des SDS gegenüber der gleich- geschalteten Organisation im Deutschen Reich anzuzeigen. Selbst die Umbe- nennung 1936 in Der deutsche Schriftsteller wurde im Exil nachvollzogen. In dieser fingierten Zeitschrift erschienen drei weitere Texte Heinrich Manns, als dieser dem Vorstand des SDS angehörte. Sie widmeten sich – im Sonder- heft zu Spanien – dem dortigen Bürgerkrieg und der Volksfront39 sowie – im Sonderheft zum 5-jährigen Jubiläum des SDS – dem Tode Ernst Barlachs40. Das Geschehen blieb den deutschen Behörden nicht verborgen. In einer Bei- lage zur August-Ausgabe 1934 druckte die Exil-Redaktion folgende Stellun- gnahme des deutschen Rundfunks ab, die das Risiko für Verbreiter_innen von Tarnschriften nochmals klar benennt: »In der letzten Zeit wird in Deutschland vielfach eine Zeitschrift ›Der Schriftsteller‹ verbreitet. Sie ist in ihrer äußeren Aufmachung genau der hier in Deutschland erscheinenden Zeitschrift glei- chen Namens nachgeahmt. Liest man aber den Inhalt, so stellt man fest, dass es sich um eine von Pariser Emigranten herausgegebene Hetzschrift handelt. Alle Volksgenossen werden hiermit darauf aufmerksam gemacht und gebeten, diese Hetzzeitschrift, wo sie auftaucht, nicht nur anzuhalten, sondern auch für die sofortige Verhaftung ihrer Verbreiter zu sorgen.«41

Abb. 2: Titelblatt der Tarnausgabe der Zeitschrift Der Schriftsteller mit Heinrich Manns Text »Das weiss eigentlich jeder«

Quelle: Deutsche Nationalbibliothek, Exilpresse digital, http://deposit.d-nb.de/ online/exil/exil.htm (20.03.2010).

39 Heinrich Mann: Es ist möglich, den Frieden zu erhalten. In: Der deutsche Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller, Sonderheft: Spanien, Berlin [fingiert], Juli 1937, S. 10; ders.: Schlusswort. In: Ebd., S. 12. 40 Heinrich Mann: Die groessere Macht. In: Der deutsche Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes deut- scher Schriftsteller, Sonderheft zum Jubiläum des SDS, Paris, November 1938, S. 2. 41 Als Quelle war vermerkt: »Aus den ›Tagesnachrichten‹ des GÖBBELS-RUNDFUNK«. In: Der Schriftsteller 3/1934 (s. Anm. 37), Beilage Nr. 1.

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Der chronologisch zweite Tarntext von Heinrich Mann, der sich, wie schon der erste, mit der Gleichschaltung des intellektuellen Lebens im Deut- schen Reich auseinandersetzte, erschien – als einziger des Autors – in einer klassischen Buchmaske: als ein Band der Miniaturbibliothek des Leipziger Verlags für Kunst und Wissenschaft Albert Otto Paul. Diese Anthologie um- fasste 46 weitere Beiträge von Schriftsteller_innen und firmierte unter drei verschiedenen Tarntiteln: Deutsch für Deutsche, Deutsche Volkskunde und Deutsche Mythologie.42 Herausgeber war wiederum der SDS, diesmal in Zu- sammenarbeit mit der Deutschen Freiheitsbibliothek, als deren Präsident Heinrich Mann fungierte. In einer 30-seitigen Gebrauchsanweisung für die Dollina, eine damals ge- bräuchliche Kamera, erschienen sowohl ein bereits zuvor publizierter Text Heinrich Manns über Bemühungen in der Emigration um die Bildung einer Volksfront als auch zwei Appelle des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront, dem Heinrich Mann vorstand, neben neun sonstigen Texten. 43 Fünf weitere Tarnschriften in der beliebten Tourismusverkleidung ver- breiteten neben fünf Appellen Heinrich Manns auch den dritten von ihm mitunterzeichneten Text. So gab das Faltblatt Todtnauberg. Höhenluftkurort. Wintersportplatz Heinrich Manns ursprünglich anlässlich des 1. Mai geschrie- bene Worte zum Freiheitskampf der deutschen Bevölkerung als einzigen Text wieder (vgl. Abb. 3).44 Auszüge aus seiner Rede auf der Tagung des Aus- schusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront am 10. und 11. April 1937 in Paris, die in Gänze bereits in der Tarnausgabe der Zeitung Der deut- sche Schriftsteller45 abgedruckt worden war, erschienen zusammen mit fünf sonstigen Beiträgen im 8-seitigen Reiseführer durch Kopenhagen.46 Als Erst- druck verbreitete ein vom Aktionsausschuss deutscher Oppositioneller her- ausgegebenes Faltblatt unter dem Titel Die Dolomiten. Das Paradies des Alpi- nismus, der Hochgebirgskuren, des Sommer- und Winter-Sports Heinrich Manns Aufruf gegen die geplante Umsiedlung von 250 000 Tiroler Einwoh- ner_innen.47 Hier handelte es sich nochmals um eine Einzelpublikation – ebenso wie bei der deutschen Fassung seiner französisch gehaltenen Rede auf der Internationalen Konferenz für die Verteidigung der Demokratie, des

42 Heinrich Mann: Die erniedrigte Intelligenz. In: Deutsch für Deutsche [= Deutsche Volkskunde = Deutsche Mythologie], Leipzig [1935], S. 120-127; vgl. Mann 2009 (s. Anm. 19), S. 99-108 und 787-796. 43 Heinrich Mann: Seid einig! In: Gebrauchsanweisung für die Dollina, Dresden [1937], S. 5-7; Der gemeinsame Aufruf. In: Ebd., S. 3-5; Aufruf an das deutsche Volk! In: Ebd., 22-23. 44 Heinrich Mann: An alle Deutschen. In: Todtnauberg. Höhenluftkurort. Wintersportplatz, o. O. [1938], [S. 3-4]. 45 Vgl. Mann Juli 1937 (s. Anm. 39), S. 10. 46 Heinrich Mann: Einheitlich handeln! In: Reiseführer durch Kopenhagen, o. O. 1938, S. 6. 47 Heinrich Mann: Deutsche! Hitler verkauft Euch! In: Die Dolomiten. Das Paradies des Alpinismus, der Hoch- gebirgskuren, des Sommer- und Wintersports, o. O. [Juli 1939], S. 2-5. – Ein kürzlich erschienener Sammel- band zu diesem Thema griff den Titel des Textes auf und widmete ihm einige Seiten: Günther Pallaver; Leo- pold Steurer (Hrsg.): Deutsche! Hitler verkauft Euch! Das Erbe von Option und Weltkrieg in Südtirol, Bozen 2011, S. 124-131.

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Friedens und der menschlichen Person am 13. Mai 1939 in Paris in Wagons- Lits/ Cook. Weltorganisation für Reisen. Schnelle Zugverbindungen zwischen den wich- tigsten Städten Europas. Sommer 1939.48 Darüber hinaus versteckte der Um- schlag Besuchen Sie den zoologischen Garten ved Roskildeveij. Straßenbahn Linie 6 und 20 den 9-seitigen Werbeprospekt Der deutsche Tourist. Information für Deutsche. In diesem befanden sich neben sieben weiteren Artikeln auch Heinrich Manns Ausführungen zur Stärke der Volksfront gegenüber der fa- schistischen Front und ein vom ihm mitunterzeichneter Text, der anlässlich der Rheinlandbesetzung vor Hitlers Kriegspolitik warnte.49 Letzterer war be- reits zuvor in einer anderen Tarnung, dem 4-seitigen Faltblatt Reisen Sie mit offenen Augen durch Norwegen?, verbreitet worden.50

Abb. 3: Vor- und Rückseite der Tarnschrift Todtnauberg. Höhenluftkurort. Wintersportplatz mit Heinrich Manns Text »An alle Deutschen«

48 Heinrich Mann: Wehrt Euch! In: Wagons-Lits/Cook. Weltorganisation für Reisen. Schnelle Zugverbindun- gen zwischen den wichtigsten Städten Europas. Sommer 1939, o. O. [1939], S. 2-5. 49 Heinrich Mann: Fuerchtet Euch nicht! In: Besuchen Sie den zoologischen Garten ved Roskildeveij. Straßen- bahn Linie 6 und 20, Kopenhagen, 20. Mai 1936, S. 3; Eine Deklaration der deutschen Opposition. Zur Rhein- landbesetzung und zu Hitlers Kriegspolitik. In: Ebd., S. 1-2. 50 Seid einig, einig gegen Hitler! In: Reisen Sie mit offenen Augen durch Norwegen?, [Oslo 1936], S. 3-4.

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Quelle: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, RY 1/I2/8/27.

In fünf weiteren Umschlägen oder Verpackungen sind versteckte Texte Heinrich Manns überliefert. Der neutrale Umschlag eines Aufrufs von Müt- tern aus dem republikanischen Spanien an deutsche Mütter zur Beendigung der deutschen Beteiligung am dortigen Krieg, der ein Vorwort Heinrich Manns enthielt, deutet auf diese Art der Verbreitung hin.51 Zwei dringende Appelle an die deutsche Bevölkerung, sie möge Hitler und das nationalso- zialistische Regime stürzen, waren Erstveröffentlichungen, die zu Heinrich Manns Lebzeiten nicht wieder publiziert wurden: Der eine befand sich in dem Philatelieset 100 timbres – stamps – Briefmarken.52 Er war im Auftrag des Komitees des Deutschen Freiheitssenders 29,8 von Heinrich Mann verfasst und zudem von Lion Feuchtwanger, Gustav Regler und Rudolf Leonhard unterzeichnet worden. Der andere war im Brausepulverpäckchen Cola. Citron. Kristallisierter Fruchtsaft verborgen und entstand im Auftrag des Ak- tionsausschusses deutscher Oppositioneller, in dessen Schriftenreihe er er- schien.53 Die Schriftenreihe der Deutschen Opposition wiederum gab zwei weitere Tarnschriften mit Texten Heinrich Manns heraus, diesmal als Nach- drucke: Ein Artikel über den Einmarsch deutscher Soldaten in Prag wurde zusammen mit acht weiteren Beiträgen aus einer Nummer der von dort nach Paris (weiter-)emigrierten Neuen Weltbühne in einer Teeprobe der Marke Lyon’s Tee. Rot Etikett versteckt.54 Zudem wurden sieben Texte aus Heinrich Manns 1939 erschienener Essaysammlung Mut, die den Widerstand ver- schiedener Bevölkerungsgruppen im Deutschen Reich und im Exil themati- sierten und zu ihrer Einheit aufriefen, als Broschüre in einer Verpackung des Fotopapiers Agfa. Lupex. Hart glänzend. Hard glossy verbreitet.55 Als letzter bekannter Text Heinrich Manns in einer Tarnschrift erschien das Vorwort zu diesem Essayband in zwei Tarnausgaben der Deutschen Volks-Zei- tung: Das Wochenblatt und Die Neue Presse.56 Somit sind es Tarnausgaben von Zeitungen, die Heinrich Manns Wirken auf diesem Gebiet rahmen. Vergleichend fällt auf, dass die Anzahl der jährlich herausgegebenen Tarnschriften von 1933 bis 1935 rasch zu-, danach aber wieder abnahm, 57

51 Heinrich Mann: Deutsche Mütter! In: Die Mütter des republikanischen Spaniens sagen den deutschen Müt- tern: Kein einziges Menschenopfer mehr! [Innentitel], o. O. [1937], S. 7-12. 52 Heinrich Mann; Lion Feuchtwanger; Gustav Regler; Rudolf Leonhard: Deutsche Arbeiter! Ihr seid die Hoff- nung! In: 100 timbres – stamps – Briefmarken, o. O. [1939], S. 3-14. 53 Mann 1939 (s. Anm. 1). 54 Heinrich Mann: Die deutschen Soldaten. In: Lyon’s Tee. Rot Etikett, o. O. [1939], S. 7-13. 55 Heinrich Mann: Anklage; Christenverfolgung; Ueber Goethe; Das Heer und das Volk; Die deutsche Opposi- tion; Die Widerstände; Der eigenen Kraft bewusst sein! In: Agfa. Lupex. Hart glänzend. Hard glossy, Berlin [1939]. Bereits 1936 war eine Tarnschrift in der Maskierung AGFA-Lupex verbreitet worden. Sie enthielt aber keinen Text Heinrich Manns. – Vgl. Gittig 1996 (s. Anm. 2), S. 100. 56 Heinrich Mann: Unser Wort. In: Das Wochenblatt (Die Neue Presse. Deutsche demokratische Wochenzei- tung), Paris, Jg. 1, Nr. 2 (Nr. 5), 19. Februar 1939, S. 4. 57 Vgl. Gittig 1996 (s. Anm. 2).

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während Heinrich Mann erst ab 1936 in dieser Publikationsform nennens- wert aktiv wurde und dies dann bis zum Kriegsausbruch 1939 blieb. Inhaltlich betrachtet, wurden vor allem solche Texte Heinrich Manns ge- tarnt im Deutschen Reich verbreitet, die die nationalsozialistische Diktatur und die Möglichkeiten des Widerstandes gegen sie oder aber den Spani- schen Bürgerkrieg zum Gegenstand hatten. In diesem Kontext konzipierte Heinrich Mann die Idee einer Volksfront nicht nur als deutschen, sondern als europäischen, vor allem deutsch-französischen Zusammenhalt. Rhetorisch waren viele seiner Texte als Aufrufe oder Anklagen formuliert. Somit ent- sprachen sie den Tarnschriftenzielen von Information und Mobilisierung der deutschen Bevölkerung. In diesem Bereich ist die Auswahl der Texte exem- plarisch für Heinrich Manns Themen und Stil zu jener Zeit. Im Hinblick auf sein gesamtes publizistisches Schaffen im französischen Exil bilden die Tarn- schriftenbeiträge jedoch keinen repräsentativen Ausschnitt ab, denn seine kulturgeschichtlichen Essays, seine Glückwünsche, Nekrologe, Porträts und Rezensionen sowie seine Einschätzungen der Situation in Frankreich er- schienen nicht in diesem Medium. Zudem fällt auf, dass Heinrich Manns publizistisches Engagement im Be- reich der Tarnschriften eng mit seinen politischen Aktivitäten in der Emigra- tion zusammenhängt. Gleich zu Beginn lassen sich mit dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller und der Deutschen Freiheitsbibliothek institutionelle Verbindungen ausmachen. Als Heinrich Mann im Spätsommer 1935 Vorsit- zender des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront wurde, finden sich dessen Anliegen in seinen Tarntexten wieder. Nach dem Schei- tern der Volksfront schrieb er für das neu einberufene Komitee des Deut- schen Freiheitssenders 29,8 sowie im Namen des 1939 gegründeten Aktions- ausschusses deutscher Oppositioneller, denen er ebenfalls angehörte.

Heinrich Manns Einfluss auf die Entstehung und Verbreitung von Tarnschriften Hieraus ergibt sich die Frage, inwiefern Heinrich Mann gezielt die sich ihm bietenden Veröffentlichungsmöglichkeiten verschiedener Organisationen, in denen er mitwirkte, nutzte, um seinen publizistischen Texten öffentliche Wirkung zu verschaffen, oder aber ob diese Organisationen nicht seine Texte ohne Rücksprache für ihre Zwecke verwendeten. Vorgekommen ist offenbar beides. Aufgrund der schwierigen Quellenlage lässt sich der Entscheidungs- prozess über die Verwendung eines Textes als Tarnschrift leider nur in weni- gen Fällen nachzeichnen. Die Korrespondenz Heinrich Manns mit Paul Merker, Mitglied der KPD- Auslandsleitung in Paris, ist diesbezüglich aufschlussreich. In mehreren Briefen wird das Erscheinen von Tarnschriften diskutiert. So schlug Heinrich Mann Merker am 1. Mai 1938 vor, seinen Artikel anlässlich des Feiertages für

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eine Tarnschrift zu verwenden: »Er wuerde auf 4 kleinen Duenndruck-Seiten das Dringlich-Aktuelle wohl enthalten. Der erste Satz waere fortzulassen. Die Ueberschrift waere: ›DEUTSCHE! Euer Freiheitskampf hat begonnen‹.«58 Letztlich wurden daraus zwei Seiten des Prospektes Todtnauberg. Höhenluft- kurort. Wintersportplatz mit dem Titel »An alle Deutschen«. Ein Belegexem- plar wurde dem Verfasser zugesandt.59 Für die Verbreitung des Aufrufs an deutsche Arbeiter in der Tarnschrift 100 timbres – stamps – Briefmarken60 wurde Heinrich Mann explizit um seine Zustimmung gebeten. Merker schrieb: »Wir halten den Aufruf fuer sehr wertvoll und wirksam und wuerden uns freien [!], wenn seine Verbreitung durch Radio und als Broschuere in der vorliegenden Fassung unter Ihrem Namen vorgenommen werden koennte.«61 In seiner Antwort schlug Hein- rich Mann vor, dass nicht er, sondern das Komitee des Freiheitssenders un- terzeichnen sollte. Das angebotene Honorar lehnte er ab: »Der Druck von 10 000 Ex. kostet Geld. Dafür verwenden Sie gefälligst auch das Honorar, be- sonders wenn kein Einzelner den Aufruf verantwortet.«62 Auch in diesem Fall kündigte Merker ihm Belegexemplare an.63 Von der Tarnschrift Agfa. Lupex. Hart glänzend. Hard glossy ist eine Aus- gabe erhalten, auf der Heinrich Mann handschriftlich vermerkte: »erh. Juli 39/Mut«64. Am 3. April 1939 hatte Merker ihn nachträglich über das Erschei- nen der Tarnschrift informiert. In Anbetracht einer notwendigen Auswei- tung des Adressat_innenkreises von illegalen Aufrufen, insbesondere um bürgerliche Schichten, ließ er ihn wissen: »Wir haben uns deshalb auch er- laubt, einen Auszug aus Ihrem wertvollen Buch ›Mut‹ für das Land heraus- zubringen, das in Verbindung mit dem Osterpost-Versand zur Verbreitung gelangen soll. Ich glaube, dass wir für diese Massnahme mit Ihrer Zustim- mung rechnen können.«65 Heinrich Mann unterstrich »Ihrer Zustimmung«, notierte am Briefrand mit Bleistift »ja« und erkundigte sich in seiner Ant- wort, welche der von Merker erwähnten noch zu schreibenden Broschüren von ihm erwartet würden, und machte Vorschläge, welche seiner Texte dafür

58 Heinrich Mann an Paul Merker, 01.05.1938, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO), RY 1/I2/3/422, Blatt 96. 59 Vgl. Paul Merker an Heinrich Mann, 03.07.1938, Archiv der Akademie der Künste (AdK), Heinrich-Mann- Archiv (HMA) 2103, Blatt 1. 60 Vgl. Mann; Feuchtwanger; Regler; Leonhard 1939 (s. Anm. 52). 61 Paul Merker an Heinrich Mann, 21.01.1939, SAPMO, RY 1/I2/3/426, Blatt 19-22, hier: Blatt 19. 62 Heinrich Mann an Paul Merker, 25.01.1939, ebd., Blatt 24. 63 Paul Merker an Heinrich Mann, 22.02.1939, University of Southern California, Feuchtwanger Memorial Li- brary (FML), Heinrich Mann Collection, Box 6, File 16, 1 Blatt, 1 Seite. 64 Gittig 1996 (s. Anm. 2), Mikrofiche-Edition, Fiche 933. 65 Paul Merker an Heinrich Mann, 03.04.1939, FML, Heinrich Mann Collection, Box 6, File 16, 6 Blatt, 6 Seiten, hier: Seite 5. 66 Heinrich Mann an Paul Merker, 11.04.1939, SAPMO, RY 1/I2/3/426, Blatt 44.

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geeignet seien. Zum Honorar schrieb er: »Das [...] wollen Sie nach den Ver- hältnissen bemessen. Ich denke an 1 000 Francs, bestehe aber nicht darauf.«66 Darüber hinaus erwähnt der erste offizielle Rundbrief des Aktionsaus- schusses deutscher Oppositioneller, auf dessen Briefkopf Heinrich Mann als Präsident vermerkt ist, das Erscheinen der Tarnschrift Lyon’s Tea.67 Andere Hinweise in sonstigen Schreiben sind nicht immer eindeutig zuzuordnen. In diversen Fällen muss davon ausgegangen werden, dass Heinrich Mann nicht über die Verwendung seiner Texte in Tarnschriften informiert wurde. Auf- grund der verfügbaren Korrespondenz und seines Prinzips »einer möglichst weitgehenden Streuung der Veröffentlichungen«68 ist allerdings anzuneh- men, dass er sein Einverständnis gegeben hätte. Eine beträchtliche Anzahl seiner Veröffentlichungen in diesem Medium sind Erstdrucke.

Fazit

Bereits zu Zeiten der Weimarer Republik stellte ein Klassiker der Zensurfor- schung fest: »So lange man Bücher druckt, hat man Bücher verboten, und so lange man Bücher verbietet, haben findige Schriftsteller, Verleger und Drucker Mittel und Wege gefunden, hinter die Schule des Gesetzes zu ge- hen, dem Zensor ein Schnippchen zu schlagen und den Fangeisen der Poli- zei zu entrinnen.«69 Unter den Bedingungen von Nationalsozialismus und Exil haben Tarn- schriften ein bis dahin wie seitdem unbekanntes Ausmaß an Verbreitung er- lebt. Obwohl ihre Wirksamkeit umstritten ist, stellen sie eine interessante, heute weitgehend unbekannte Strategie intellektuellen Widerstands dar. So- wohl ihre Verkleidung als auch ihre Verbreitung kennzeichnen sie als spezi- fisch subversive Form des Unterlaufens von Zensurmaßnahmen. Sie spie- geln den Versuch, trotz allem Widerstand zu leisten, gleichzeitig aber die Risiken für alle Beteiligten so gering wie möglich zu gestalten. Inwiefern diese Strategie an anderen Orten wie auch zu anderen Zeiten aufgegriffen wurde oder wird, ist bisher kaum erforscht. Heinrich Mann, der sich schon in der Weimarer Republik für Kunst- und Pressefreiheit sowie gegen den aufkommenden Nationalsozialismus positio-

67 Vgl. Aktionsausschuss Deutscher Oppositioneller [Hermann Budzislawski] an unbekannt, o. D. [nach 28.04.1939], ebd., Blatt 4-5, hier: Blatt 4. 68 Wolfgang Klein: Zum vorliegenden Band. In: Mann 2009 (s. Anm. 19), S. 726-746, hier: S. 738. 69 Heinrich Hubert Houben: Polizei und Zensur. Längs- und Querschnitte durch die Geschichte der Buch- und Theaterzensur, Berlin 1926, S. 41. 70 Vgl. Heinrich Mann: Die Zensur III. Gesprochen bei einer Kundgebung der Deutschen Liga für Menschen- rechte [1931]. In: Ders.: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel, Bd. 5: 1930 bis Februar 1933, hrsg. von Volker Riedel, Bielefeld 2009, S. 119-121. 71 Heinrich Mann: Im Reich der Verkrachten [1933]. In: Mann 2009 (s. Anm. 19), S. 52-57.

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niert hatte,70 äußerte sich auch im Exil von Anfang an mit entschiedener Klar- heit gegen das nationalsozialistische »Reich der Verkrachten«71. Er engagierte sich in diversen politischen Kontexten der Emigration, die eine Einigung al- ler antifaschistischen Kräfte anstrebten, und war auch publizistisch in dieser Hinsicht sehr aktiv. Diese Kombination prädestinierte ihn zum Tarnschrif- tenautor par excellence. Vergleichende Studien zu anderen Tarnschriftenau- tor_innen dürften viel Potenzial für neue Erkenntnisse bieten.

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Julia Killet

Maria Leitners Reportagen aus Nazi-Deutschland

Maria Leitner zählte bisher zu den verschollenen Schriftsteller_innen des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk hat bis heute in der Forschung faktisch keine wis- senschaftliche Beachtung gefunden. Der Forscherin Helga Schwarz ist es zu verdanken, dass die Person Maria Leitner nicht ganz aus dem Blick der Öf- fentlichkeit geriet: In mühsamer Forschungsarbeit rekonstruierte sie seit den 1960er Jahren die Biografie der Schriftstellerin und gab 1985 beim Ostberli- ner Aufbau-Verlag den Roman Elisabeth, ein Hitlermädchen heraus.1 Trotzdem bestehen nach wie vor Lücken in der Biografie und Bibliografie Maria Leit- ners: Ihr Nachlass ist nicht überliefert. Erst 2009 konnten die Todesumstände der Schriftstellerin geklärt werden. Darauf soll hier in biografisch-histori- scher Perspektive eingegangen werden. Unter einem literaturwissenschaft- lich-analytischen Aspekt sollen zudem einige ausgewählte antifaschistische Reportagen von Maria Leitner Gegenstand der Untersuchung sein.

Biografische Vorbemerkungen

Maria Leitner wird als Tochter eines jüdischen Bauunternehmers am 19. Ja- nuar 1892 in der zum ungarischen Teil der österreichisch-ungarischen Dop- pelmonarchie gehörenden Komitatshauptstadt Varaschd (heute Varazˇdin, Kroatien) geboren. Sie wächst in Budapest auf und flüchtet nach dem Fall der ungarischen Räterepublik 1919 über Wien nach Berlin. Im Auftrag des Ullstein-Verlages reist sie zwischen 1925 und 1928 durch Nord- und Süda- merika, nimmt dort 80 verschiedene Stellen an, um in Sozialreportagen au- thentisch über Arbeitsbedingungen in der Neuen Welt zu berichten. Im Jahr 1930 veröffentlicht sie ihren Reportageroman Hotel Amerika.2 Das Buch wird drei Jahre später von den Nationalsozialisten verboten. Als in der Nacht auf den 28. Februar 1933 in Berlin der Reichstag brennt und gegen viele Kommunist_innen Haftbefehl erlassen wird, befindet sich auch Maria Leitner in großer Gefahr. Adolf Hitler ordnet kurz nach dem

1 Maria Leitner: Elisabeth, ein Hitlermädchen. Erzählende Prosa, Reportagen und Berichte, hrsg. von Helga W. Schwarz, Berlin 1985; Helga W. Schwarz: Maria Leitner – eine Verschollene des Exils? In: Claus-Dieter Krohn (Hrsg.): Exilforschung, Bd. 5, München 1987, S. 123-134; dies.: Internationalistinnen. Sechs Lebens- bilder, Berlin 1989; dies.: Maria Leitner – eine Verschollene des Exils? In: Ziehharmonika. Literatur, Wider- stand, Exil, Jg. 15, Nr. 3, 1998, S. 27-30. 2 Maria Leitner: Hotel Amerika, Berlin 1930.

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Reichstagsbrand an: »Es gibt jetzt kein Erbarmen; wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht. Das deutsche Volk wird für Milde kein Verständ- nis haben. Jeder kommunistische Funktionär wird erschossen, wo er ange- troffen wird. Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht aufgehängt werden. Alles ist festzusetzen, was mit den Kommunisten im Bunde steht. Auch gegen Sozialdemokraten und Reichsbanner gibt es jetzt keine Schonung mehr.«3 In den Stunden nach dem Reichstagsbrand werden in Berlin ca. 200 kom- munistische Funktionär_innen und linke Journalist_innen verhaftet. Maria Leitner ist als Jüdin und Kommunistin doppelt gefährdet und muss erneut flüchten. Über das Saarland, Wien und Prag erreicht sie 1936 Paris. Dort wird sie Mitglied im Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS). Jeden Mon- tagabend versammeln sich die Mitglieder des SDS im Café Mephisto am Boulevard St. Germain/Ecke Rue de Seine. Dort gestaltet Maria Leitner am 5. April 1937 einen Autor_innenabend und liest aus ihrem 1932 erschienenen Reportageroman Eine Frau reist durch die Welt.4 Für das Jahr 1935, bevor sie im Pariser Exil eintrifft, gibt es weder biografi- sche noch bibliografische Funde. Es ist anzunehmen, dass Maria Leitner in diesem Jahr illegale Recherchereisen in das faschistische Deutschland unter- nimmt, um Reportagen über die Kriegsvorbereitungen der Nationalsozia- list_innen zu schreiben. Bis heute ist unbekannt, wer ihr hilft, über die Grenze zu gelangen, unerkannt durch Deutschland zu reisen und dort Infor- mationen zu sammeln. Auch ist unklar, wo genau sie sich in Deutschland aufhält und wer sie bei ihren Recherchen finanziell unterstützt. Die detail- lierten und authentischen Beschreibungen der Zustände in Nazi-Deutsch- land in ihren Reportagen und ihrem Roman Elisabeth, ein Hitlermädchen so- wie das Einarbeiten von dokumentarischem Material, wie Liedpassagen, Fahnensprüchen und propagandistischen Bildungseinheiten, lassen darauf schließen, dass Maria Leitner vor Ort gewesen sein muss. Ihr eben erwähnter Roman erscheint 1937 in der Pariser Tagezeitung.5 Es ist »einer der ersten literarischen Versuche, die nationalsozialistische Ideologie in ihren Auswirkungen auf die Jugend«6 zu beschreiben. Maria Leitner er- zählt darin die Geschichte einer jungen Schuhverkäuferin, die dem National- sozialismus begeistert folgt. Elisabeth verliebt sich in den SA-Mann Erwin und muss sein Kind abtreiben, weil das junge Paar mittellos ist und sie zum gleichen Zeitpunkt zum Arbeitsdienst für Mädchen eingezogen wird. Dort

3 Zitiert nach Sven Felix Kellerhoff: Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalls, Berlin 2008, S. 32 f. 4 Zitiert nach Albrecht Betz: Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre, München 1986, S. 305. 5 Maria Leitner: Elisabeth, ein Hitlermädchen. Roman der deutschen Jugend. In: Pariser Tageszeitung, Jg. 2, Nr. 315, 22. April 1937, bis Nr. 367, 21. Juni 1937. 6 Christa Gürtler: Über Maria Leitner (1892-1942). In: Literatur und Kritik, Nr. 343/344, 2000, S. 103.

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erlebt sie den härtesten Drill und erkennt mit dem Selbstmord einer Freun- din die Lüge des Nationalsozialismus.

Reportagen aus Nazi-Deutschland

Die Reportagen aus Nazi-Deutschland, die von 1936 bis 1939 in der Mos- kauer Exilzeitschrift Das Wort, in der Pariser Tageszeitung, der Prager Zeit- schrift Die neue Weltbühne und in der New Yorker Exilzeitschrift Deutsches Volksecho erscheinen, recherchiert Maria Leitner unter Todesgefahr, denn sie reist illegal nach Deutschland. Wahrscheinlich tarnt sie sich als amerikani- sche oder ungarische Touristin. Nur in einer Reportage gibt sie auf die Frage, woher sie denn komme, die Antwort: »Aus Amerika«7. Vielleicht besitzt sie noch einen gültigen (Reise-)Pass aus der Zeit ihrer Amerika-Reisen, der auf eine amerikanische oder ungarische Form ihres Namens – Lightner oder Lé- kai – ausgestellt ist.8 Eventuell gelingt es Maria Leitner, einen der nieder- ländischen, belgischen oder französischen illegalen Grenzgänge der KPD zu benutzen, die für »Kuriere sowie zum längeren Einsatz in Deutschland be- stimmte Funktionäre«9 gedacht sind. Im Mittelpunkt ihrer antifaschistischen Reportagen stehen die Kriegsvor- bereitungen der Nationalsozialist_innen und die kulturellen Veränderungen unter der NSDAP. In den Augen der Gestapo gelten diese Enthüllungen als Hochverrat. Die gründlichen Recherchen und genauen Angaben in ihren Reportagen lassen darauf schließen, dass die Journalistin Verbindungen zu Kontaktper- sonen in Wissenschaft und Wirtschaft Hitlerdeutschlands – zum Beispiel di- rekt bei der I. G. Farben – haben muss. Vermutlich leistet sie in dieser Zeit Widerstands- und Aufklärungsarbeit mit einer Gruppe oder Organisation im Untergrund und erhält dadurch genauere Kenntnisse über die Situation in Deutschland. Weiterführende Informationen dazu konnten bisher nicht ge- funden werden. Durch ihre Publikationen vermittelt sie dem Ausland – vor allem jedoch der deutschsprachigen Emigration – wesentliche Einblicke in die Verhält- nisse im faschistischen Deutschland. In ihrer Reportage Reinsdorf 10, der ers- ten, die im Wort erscheint, weist sie auf die Verstrickungen zwischen den Konzernen und der Reichswehr hin: »Reinsdorf gehört zu jenen Städten, in denen der Krieg unterirdisch vorbereitet wird. Unterirdisch im doppelten

7 Maria Leitner: Besuch bei Heinrich Heine. In: Das Wort, Jg. 3, Heft 1, 1938, S. 154 f. 8 Vgl. Schwarz 1989 (s. Anm. 1), S. 103. 9 Beatrix Herlemann: Die Emigration als Kampfposten. Die Anleitung des kommunistischen Widerstandes in Deutschland aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden, Königstein im Taunus 1982, S. 74. 10 Maria Leitner: Reinsdorf. In: Das Wort, Jg. 1, Heft 2, 1936, S. 54 f.

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Sinne. Reinsdorf gehört zu jenen technischen Wundern, die eine schreckliche Zukunft vorbereiten.«11 Maria Leitner erkennt bereits 1935, auf einer ihrer illegalen Reisen, dass in Reinsdorf zum Krieg aufgerüstet wird. In diesem Jahr fordert eine schwere Explosion in dem geheimen Rüstungsbetrieb bei Wittenberg viele Opfer. In der Wort-Reportage ist zu erkennen, dass Maria Leitner kurz nach dem Er- eignis vor Ort gewesen sein muss. Denn die Bewohner_innen und Arbei- ter_innen, die sie für ihre Reportage interviewt, sind noch immer sehr erregt und betroffen über den Vorfall in der Fabrik. Die Leser_innen werden von Maria Leitner direkt in das Geschehen hineingezogen: »Die Welt hat die Ka- tastrophe schon halb vergessen. Reinsdorf, ach ja, war da nicht eine Spreng- stoffexplosion? Viele Tote und Verwundete?«12 Die Arbeiter_innen können sich noch gut an den Unfall erinnern. Ein Arbeiter berichtet: »[a]lles, was ich anhatte, meine Kleider, meine Wäsche, meine Schuhe, meine Strümpfe, alles mußte ich wegwerfen«13. Den Nationalsozialist_innen ist daran gelegen, das Unglück so schnell wie möglich zu vertuschen. Als Entschädigung werden den Arbeiter_innen »eine Ehrenurkunde und 25 Mark«14 überreicht. Davon müssen sie neue Kleider kaufen. Doch nicht nur das unwürdige Verhalten der Konzerne, die gemeinsame Sache mit der nationalsozialistischen Regierung machen, deckt Maria Leit- ner auf. Sie zeigt auch, dass der Westfälisch-Anhaltischen Aktien-Gesell- schaft (WASAG), zu der auch die Sprengstofffabrik Reinsdorf gehört, nur am Profit, also dem schnellstmöglichen Absatz der Munition gelegen ist: Der Sprengstoff wird an »Freund und Feind« verkauft, »ganz wie bei dem großen Kollegen Krupp«15, dem die WASAG Konkurrenz machen will: »Der Haupt- kunde für Sprengstoff und Giftgase ist die Reichswehr«16. Das Wohl der Arbeiter_innen spielt für die Fabrikbesitzer_innen und die Nationalsozia- list_innen auch hier wieder keine Rolle. Das zeigt Maria Leitner deutlich am Ende der Reportage, indem sie die pathetischen Worte Görings zitiert, der am Grab der Opfer sagt: »Das ist das Große, Leidtragende und Angehörige, daß heute nicht mehr umsonst der deutsche Mensch in den Tod geht, son- dern daß jeder einzelne damit ein großes Opfer am Altar des Vaterlandes niederlegt.«17 Aus Maria Leitners Sicht müssen die Arbeiter_innen sterben, damit die NSDAP heimlich den Krieg vorbereiten kann. Ähnliche Enthüllungen bringt Maria Leitner in ihrer Artikelreihe über die I. G. Farben18. Ihre Reportage über das Farben-Werk in Höchst legt die Vermu-

11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Maria Leitner: IG-Farben. In: Das Wort, Jg. 2, Heft 1, 1937, S. 56-57, hier: S. 57. 16 Leitner 1936 (s. Anm. 10), S. 55. 17 Ebd. 18 Leitner 1937 (s. Anm. 15).

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tung nahe, dass sie Kontakte zu den Arbeiter_innen oder sogar zur »Führer- schicht«19 haben muss. Dies lässt sich schließen aus den ausführlichen Ge- sprächen, die sie darstellt. Normalerweise ist es den Angestellten untersagt, mit außenstehenden Personen zu reden, denn die internen Vorkommnisse im Betrieb unterliegen strengster Geheimhaltung: »Niemand darf darüber sprechen! Die Werksangehörigen müssen sich schriftlich verpflichten, über alles zu schweigen, was sie in der Fabrik erfahren.«20 Alle Angestellten haben sich an die Regel gehalten, »aber die Stummen haben es doch verraten«21. Mit diesem Zitat eines Höchst-Arbeiters weist Maria Leitner auf das große Fischsterben hin: »Die Fische am Main, Karpfen und Schleie, gediehen gut. Plötzlich, von einer Stunde zur anderen, setzte das Fischsterben ein. Ein Fischsterben, wie man es noch nie und nirgends gesehen hat. [...] Zufällig fand an dem nächsten Sonntag in ganz Deutschland ein großes Wett- und Preisangeln statt. Vier Stunden lang saßen Hunderte Angler an den Ufern des Mains. Nicht einem gelang es, auch nur einen einzigen Fisch zu fangen. [...] [H]atten sie voll Grauen einen Blick in die Zukunft der Menschheit ge- tan? Denn für sie, die Menschen, ist das ja Gift bestimmt. [...] Nur ein Tröpf- chen davon gelangte in den Main, welch ungeheure Mengen aber werden in den Höchster Farbwerken zusammengebraut! Wie aber, wenn es seinem Zweck entsprechend gegen die Menschen gerichtet werden sollte? Würde das Leben auf unserem Planeten von einem Tag zum nächsten aufhören wie in den Gewässern des Mains?«22 Die Autorin weist mit erstaunlicher Voraussicht bereits damals darauf hin, welchem Zweck die erneute Produktion von Giftgas dienen wird, denn als Zeitzeugin des Ersten Weltkrieges weiß sie um die Gräuel, die durch Gift- gase an den Kriegsfronten angerichtet wurden. 1925 wird im Genfer Proto- koll die Anwendung von Giftgasen ausdrücklich verboten. Maria Leitner nutzt das Stilmittel des Dialogs: In ihren Reportagen lässt sie Angestellte des Betriebes und Augenzeug_innen zu Wort kommen, um die Leser_innen für die Dramatik der heraufziehenden Gefahr zu sensibili- sieren. Hierzu schreibt der Historiker Friedrich G. Kürbisch: »Mehrere Reportagen wirkten auf mich wie erfunden, weil der Handlungsablauf mir wie gewollt erschien.« Nach gründlichen Nachrecherchen der Reportagen aus Nazideutschland räumt er jedoch ein: »nichts war fiktiv, alles hat ge- stimmt«23.

19 Ebd., S. 58. 20 Ebd., S. 57. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Friedrich G. Kürbisch: Arbeiterbewegung und Arbeiterdichtung. Referate. Gehalten in Attersburg (Burgen- land) am 4. und 5. September 1980 im Rahmen eines gleichnamigen Symposiums. Beiträge zur Geschichte der Sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Sudeten-, Karpaten- und Donauraum. Folge 4, München 1981, S. 85-103, hier: S. 99.

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Maria Leitner will mit diesen Enthüllungen gegen die Euphorie für den Nationalsozialismus kämpfen. Sie zeigt, dass die Beschäftigungspolitik der NSDAP der Kriegsvorbereitung dient und die Arbeitsbedingungen un- menschlich sind. Hintergrund ist der von der NSDAP angestrebte Vierjah- resplan, auf dessen Grundlage innerhalb von vier Jahren die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die militärische Aufrüstung der deutschen Wirtschaft bis zur »Kriegsfähigkeit« erreicht werden sollen.24 In der Reportage Brief aus dem Dritten Reich25 zeigt Maria Leitner, wie die Nationalsozialist_innen die Kultur für ihr Kriegs-Vorhaben instrumentalisie- ren. So besucht sie eine Ausstellung der nationalsozialistischen Organisation »Kraft durch Freude« (KdF) mit dem bezeichnenden Titel »Gebt mir vier Jahre Zeit«, der sich auf eben diesen Vierjahresplan bezieht: »Der Volks- genosse sollte das Gruseln lernen bei der Verkommenheit des ›verjudeten‹ Theaters unter Jeßner, Reinhardt, der Bergner, Kortner. War das nicht ein Zei- chen des Unterganges, daß die Manns, Feuchtwanger, Frank, Döblin, Freud, Bredel usw. in Deutschland erscheinen durften? War es nicht grausig, daß es Buchgemeinschaften gab, eine Volksbühnenbewegung, Theater- und Kon- zertabonnements für Arbeiter, Wanderfahrten und anderes mehr? Daneben wird denn auch gleich die wunderbare Wandlung und Läuterung sichtbar: ›Kraft durch Freude‹.«26 In dieser Reportage setzt Maria Leitner wieder auf einen ironischen Stil, vor allem im Hinblick auf ihren Vergleich. Sie stellt die Zensur und Vernich- tung der fortschrittlichen Kunst- und Literatur-Szene, die sich nun in der Emigration befindet, der KdF-Propagandastatistik gegenüber, die auf der Ausstellung mit allen Einzelheiten präsentiert wird. Sie beweist, dass selbst die »befristeten Zahlen« bei genauer Betrachtung die Kläglichkeit der »an- geblichen Kulturmission«27 ans Tageslicht kommen lassen. Maria Leitner kri- tisiert auch, dass die Mitglieder Theater-, Konzertbesuche und Reisen neben dem Mitgliedsbeitrag extra bezahlen müssen – »viel Geld für einen Erwerbs- losen oder schlecht verdienenden Arbeiter!«28. Aber nicht nur die Eintrittsgelder schrecken die Deutschen von dem Be- such des Theaters ab, wie Maria Leitner in ihrer Reportage Braune Theater- schau29 verdeutlicht. Denn im Mittelpunkt der Theaterstücke stehen immer die nationalsozialistische Propaganda und die Einstimmung auf den Krieg: Den »vom ›Führer‹ so inbrünstig verehrten Dietrich Eckart«, nennt Maria Leitner den »Nazi-Lessing«30. Sein Stück Der Tyrann fällt durch, »der Zu-

24 Dietmar Petzina: Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart 1968. 25 Maria Leitner: Brief aus dem Dritten Reich. In: Das Wort, Jg. 2, Heft 10, 1937, S. 93. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Maria Leitner: Braune Theaterschau. In: Das Wort, Jg. 3, 1938, Heft 12, S. 151. 30 Ebd.

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schauerraum blieb gähnend leer«, denn »der ›Tyrann‹ entpuppte sich als ein etwas grantiger, komischer, vom Autor allerdings todernst genommener Fa- milienvater aus einer Vorkriegszeit, wie es sie nie gegeben hat«31. Um einen verbotenen Dichter geht es in der Reportage Besuch bei Heinrich Heine32. Maria Leitner berichtet über ihren Besuch im Heine-Zimmer in Düs- seldorf, wo sie sich als Touristin ausgibt, »die [...] aus Amerika kommt und nichts davon ahnt, wie es in Deutschland zugeht«33. Das Heine-Zimmer sei nun dem Nationalhelden Albert Leo Schlageter34 gewidmet, zu dessen Ruhm in Düsseldorf »ewige Feuer«35 brennen. Maria Leitner macht darauf auf- merksam, dass »das Heine-Zimmer [...] nicht erst jetzt in den Hinterraum verbannt worden ist: es war auch in den Zeiten der Republik ein halbverbor- genes Zimmer, dessen man sich ewig schämte«36. Bei Maria Leitner löst diese Verleumdung des deutsch-jüdischen Dichters, dessen Werk in 100 Sprachen übersetzt wurde, Empörung aus: »All diese Völker dachten, es sei ein deut- scher Dichter, den sie in ihrer Sprache lasen, und den sie liebten ... Das Dritte Reich will sie eines anderen belehren.«37 Das Zimmer ist abgeschlossen und wird von einem älteren Herrn für Maria Leitner geöffnet, der zum Schluss eingesteht: »Das alles hat keinen Sinn.«38 Heinrich Heine prophezeit schon 1821: »Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher / Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen«39, und nahm damit die Bücherverbrennungen sowie die weiteren Verbrechen des Nationalsozialismus vorweg. In seiner Rezension des 2004 erschienenen Bu- ches Reisen ins Reich lobt Andreas Mertin die Reportage: »Maria Leitners Be- such bei Heinrich Heine [...] ist höchst aufschlussreich, was die Veränderung der Normalität angeht.«40 Heinrich Heine erscheint in Maria Leitners Repor- tage als Symbolfigur: Für sie ist der revolutionäre Schriftsteller der Prophet der deutschen Verhältnisse, in denen das freie Wort unterdrückt wird. Außerdem ist Maria Leitners Situation und die ihrer Schriftstellerkol- leg_innen mit dem Leben Heinrich Heines vergleichbar, denn auch er muss Vertreibung, Exil und Zensur in Deutschland erfahren.

31 Ebd. 32 Mary L. [Maria Leitner]: Besuch bei Heinrich Heine. In: Das Wort, Jg. 3, Heft 1, 1938, S. 145. 33 Ebd. 34 Albert Leo Schlageter (1894-1923) war ein deutscher Freikorpskämpfer. Er wird nach seinem Tod an der Golzheimer Heide in Düsseldorf zur Märtyrerfigur der Deutschnationalen in der Weimarer Republik und der Nationalsozialisten in der Zeit des Deutschen Reiches. 35 Leitner 1938 (s. Anm. 32). 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Heinrich Heine: Almansor. Eine Tragödie. Zuerst komplett erschienen in Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo, Berlin 1823. 40 Andreas Mertin: Lektüren XIX. Aus der Bücherwelt. In: Magazin für Theologie und Ästhetik, Heft 33, 2005. http://www.theomag.de/33/am144.htm (05.10.2010).

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Von Maria Leitners zahlreichen im Exil von 1934 bis 1939 geschriebenen Artikeln, die nur zum Teil in der Exilpresse veröffentlicht wurden, sind 34 Artikel erhalten. Offensichtlich wird es für sie immer schwieriger, nach Deutschland einzureisen, sei es aus Geldmangel, sei es, dass ihre Kontakt- möglichkeiten schwinden, denn sie greift immer seltener die Situation im fa- schistischen Deutschland auf. Stattdessen schreibt sie über den Schauspieler Jean Gabin41, über die Meisterspionin Yoshiko Momoaki42 und über den Wirt- schaftsberater der NSDAP, Walter Funk43.

Maria Leitners Tod

Maria Leitners materielle Lage in Paris wird immer bedrohlicher. Dies ist ihrem Briefwechsel mit der Hilfsorganisation American Guild for German Cul- tural Freedom44 aus den Jahren 1938 bis 1941 zu entnehmen.45 Nachdem sich Oskar Maria Graf und Anna Seghers bei der American Guild mit der Bitte um ein Stipendium für Maria Leitner einsetzen, erhält sie geringe finanzielle Un- terstützungen in unregelmäßigen Abständen. Über ihre schlechten Lebens- bedingungen und ihre schriftstellerischen Vorhaben schreibt sie am 16. April 1940 an den Vorsitzenden der American Guild, Hubertus Prinz zu Löwen- stein: »Das [Geld] ist für mich wirklich eine Hilfe, ja eine momentane Le- bensrettung. [...] Ich bin seit einem halben Jahr fast ständig krank. Es begann mit einer schweren Grippe, und in einer ungeheizten Dachkammer, hun- gernd, ist es schwer wieder gesund zu werden, besonders, wenn sich oben- drein die Weltgeschichte auch in unserem bescheidenen Privatleben bemerk- bar macht. Aber trotz allem, oder vielleicht auch deshalb habe ich sehr viel gearbeitet. Ich freue mich deshalb ganz besonders von Ihnen zu hören und die Verbindung mit Ihnen aufnehmen zu können, und ich wäre Ihnen ausser- ordentlich dankbar, wenn Sie mir Auskunft über die literarischen Möglich- keiten in Amerika geben könnten. Mein österreichischer Roman ist fast fer-

41 Maria Leitner: Jean Gabin – das Leben eines Volksschauspielers. In: Pariser Tageszeitung, Jg. 3, Nr. 719, 22. Juni 1938, S. 4. 42 Maria Leitner: Yoshiko Momoaki. Leben und Tod der Meisterspionin von Japan. In: Pariser Tageszeitung, Jg. 3, Nr. 716, 19./20. Juni 1938, S. 5. 43 Maria Leitner: Walther Funk. In: Die neue Weltbühne, Prag, Jg. 34, Nr. 48, 1938, S. 1520 f. 44 Am 4. April 1935 wird die American Guild for German Cultural Freedom von Hubertus Prinz zu Löwen- stein und Volkmar von Zühlsdorff gegründet. Sie suchen in Amerika und Europa Sponsoren für die Hilfsor- ganisation, um im Exil lebende Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu unterstützen. Die prominentesten Vertreter der Organisation sind Thomas Mann, Bruno Frank und Lion Feuchtwanger. Im März 1941 wird die American Guild nach einem Streit zwischen Thomas Mann und Prinz zu Löwenstein, der daraufhin austritt, eingestellt. – Vgl. Werner Berthold: Deutsche Intellektuelle im Exil. Ihre Akademie und die ›American Guild for German Cultural Freedom‹. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 in der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main 1993. 45 Die Briefe zwischen Maria Leitner und der American Guild sind die einzigen handschriftlichen Dokumente, die von der Schriftstellerin erhalten sind. Sie liegen im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main.

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tig, nachdem ich ihn wiederholt umgemodelt habe, scheint mir die jetzige Fassung gelungen. Ausserdem habe ich ein Buch in Arbeit, das ich englisch zu schreiben versuche und in dem ich meine Erlebnisse aus Amerika, als Ar- beiterin, Hotelangestellte, Kellnerin usw., erzähle. [...] Meinen Sie, dass diese Arbeit in Amerika interessieren könnte? Dann habe ich ein Theaterstück über das Leben der Flüchtlinge geschrieben. Auch schreibe ich verschiedene short-stories in Englisch. Um aber all diese Arbeiten druckfertig herzustellen und durchzufeilen, sind meine Lebensbedingungen zu ungünstig. Bestände die Möglichkeit, einige dieser Arbeiten in amerikanischen Magazins [!] un- terzubringen? Bitte, lieber Prinz, schreiben Sie mir so bald wie irgend mög- lich, und seien Sie mir nicht böse, dass ich so viele Fragen an Sie richte. Und noch einmal, seien Sie vielmals bedankt für Ihre Hilfe.«46 Wie der Brief zeigt, hofft Maria Leitner, nach Amerika ausreisen zu kön- nen. Trotz ihrer schlechten Lebenssituation hat sie Ideen für ihre schriftstelle- rische und journalistische Arbeit. Leider ist der autobiografische Roman über ihre Jugend in der Doppelmonarchie bis heute nicht aufgefunden wor- den und auch das Theaterstück über das Leben der Flüchtlinge nicht. Wahr- scheinlich sind die Schriften auf der Flucht aus dem Internierungslager Camp de Gurs, in das sie 1941 kommt, verloren gegangen oder nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris beschlagnahmt worden. Aus dem Internierungslager in den Pyrenäen flieht Maria Leitner über Toulouse nach Marseille. Von dort aus schreibt sie verzweifelte Briefe an die American Guild in New York und versucht ihr Möglichstes, um eine Ausrei- segenehmigung nach Amerika zu erhalten. Sie hofft auf eine Verbindung zu dem US-amerikanischen Schriftsteller Theodore Dreiser, dessen Sekretärin sie zwei Jahre zuvor in Paris war.47 Im April 1941 öffnet ein Angehöriger des Oberkommandos der Wehrmacht einen an »Miss Maria Leitner – Poste prin- cipale restante/Toulouse«48 adressierten Brief der American Guild vom De- zember 1940 und sendet ihn nach New York zurück. Wie Briefe belegen, ist Maria Leitner zu dieser Zeit wieder auf der Flucht, um einer erneuten Inter- nierung zu entgehen. Obwohl die American Guild nur noch bis Anfang 1941 besteht, ist ihr Sekretär Volkmar von Zühlsdorff weiter um die Rettung Ma- ria Leitners bemüht. Er leitet ihre Angelegenheit an das Emergency Rescue Committee, das Exiled Writers Committee und das American Committee to Save Refugees weiter.49 Sein Einsatz bleibt jedoch vergeblich. Ihren vermutlich letzten Brief sendet Maria Leitner am 31. Juli 1941 an Hubertus Prinz zu Löwenstein, der ihn an Alfred Kantorowicz in New York weiterleitet – mit dem Vermerk: »Bitte helfen Sie!«50 Das letzte Mal wird Ma-

46 Maria Leitner an American Guild, Brief vom 16.04.1940, Deutsches Exilarchiv. 47 Maria Leitner an American Guild, Brief vom 12.08.1940, ebd. 48 American Guild (Volkmar von Zühlsdorff) an Maria Leitner, Brief vom 04.12.1940, ebd. 49 Volkmar von Zühlsdorff an Maria Leitner, Brief vom 20.03.1941, ebd. 50 Berthold 1993 (s. Anm. 44), S. 511.

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ria Leitner im April 1941 von Anna Seghers in Marseille gesehen. Anna Se- ghers erinnert sich, dass sie sich über Fluchtmöglichkeiten ausgetauscht hät- ten.51 Danach verliert sich ihre Spur. In Beschreibungen über Maria Leitner werden Vermutungen geäußert, sie sei auf der Flucht über die Pyrenäen oder bei dem Versuch, die spanische Grenze zu erreichen, gestorben.52 Wie Forschungen in Marseille ergeben ha- ben, stirbt Maria Leitner am 14. März 1942 in Marseille – so ist es auf der Sterbeurkunde verzeichnet – in einer Psychiatrie. Zu diesem Zeitpunkt ist die Schriftstellerin gerade 50 Jahre alt. In ihrer Krankenakte53 ist verzeichnet, dass Maria Leitner sich in der Psy- chiatrie als 48-jährig, ledig und als Flüchtling aus dem Elsass registrieren lässt. Seit dem 28. November 1940 wohne sie in einem Hotelzimmer an der Rue des Petites Maries 40, direkt in der Nähe des Nordbahnhofs, und zahle eine Miete von 35 Francs wöchentlich. Ihren Unterhalt verdiene sie mit Fran- zösisch-Unterricht. Verwandte oder Bekannte, die für den Unterhalt und die Verpflegung im Krankenhaus aufkommen könnten, ermitteln die Behörden nicht.54 Genau ein Jahr nach ihrem Einzug in das Hotel an der Rue des Petites Ma- ries 40, am 28. November 1941, wird sie von der Geschäftsführerin Pascale Blanche und zwei weiteren Gästen angezeigt: Sie leide an Verfolgungswahn, würde nachts bei jedem Geräusch aufschrecken und damit den anderen Gäs- ten ihre Ruhe rauben, heißt es in dem Protokoll der Staatspolizei Marseille.55 Seit sie sich in diesem Zustand befinde, gehe sie auf dem Treppenabsatz spa- zieren, sie schließe ihr Zimmer nicht mehr ab und singe laut. Auch die Versu- che seitens der Geschäftsführerin, sie zu beruhigen, hätten keine Wirkung gezeigt. Diese Angaben werden von dem Zimmermädchen Carli Pierine und dem Gast Alexander Schreiber bestätigt.56 Noch am gleichen Tag wird Maria Leitner in die Psychiatrie am Boulevard Baille eingewiesen. Nach fünf Monaten stirbt sie am 14. März 1942, obwohl ihr am Tag ihrer Einweisung von einem Arzt noch ein körperlich stabiler, wenn auch geistig angeschlagener Gesundheitszustand attestiert wird.57 Das Drängen der Vichy-Behörden ist ebenfalls in der Akte verzeichnet, die bei der Psychiatrie anfragen, wer die Kosten für den Flüchtling übernehmen soll. Als Todesursache wird Cachexie avec carence, körperliche Erschöpfung, in ihre Krankenakte notiert.58

51 Anna Seghers an Helga Schwarz, 14.02.1978, Privatarchiv Helga Schwarz. 52 Vgl. Eva Maria Siegel: Lesestoffe von der Peripherie. Zur Kunst der Reportage oder Filme, die man im Kino nicht zu sehen bekommt. In: Claus-Dieter Krohn; Lutz Winkler (Hrsg.): Exil, Entwurzelung, Hybridität. Exil- forschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 27, München 2009, S. 123-134, hier: S. 107. 53 Centres psychiatriques divers: Dossiers administratifs individuels des malades (classement par ordre al- phabétique à l’année de sortie). 1942. Lef-Ly, Archives Départementales des Bouches-du-Rhône, 175.W.30. 54 Vgl. ebd. 55 Vgl. ebd. 56 Vgl. ebd.

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Fazit

Es sind die Ereignisse des frühen 20. Jahrhunderts, die Maria Leitner zur Re- volutionärin werden lassen. Als Jüdin und Kommunistin ist sie gezwungen, ein zweifaches Exil, zunächst in Deutschland, dann in Frankreich zu erleben. Ihre literarischen und journalistischen Texte sind für sie Waffe im Kampf ge- gen Unterdrückung und Ausbeutung. Dasselbe gilt für ihre Reportagen aus Nazideutschland, in denen sie auf die Verstrickungen zwischen Industrie und nationalsozialistischer Staatsführung hinweist und zudem wichtige De- tails über die Kriegsvorbereitungen der Nationalsozialist_innen aufdeckt. Im Vordergrund steht die Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Ihre Form des Widerstands ist das Schreiben, ihr eigenes Leben ist dabei zweitrangig. Wie viele andere Widerstandskämpferinnen bleibt Maria Leitner ledig. Sie geht offensichtlich auch keine sonstige Beziehung ein und hat keine Kinder. Für ihre selbstgestellte Aufgabe, als sozialkritische und antifaschistische Schriftstellerin aufzuklären, bleibt sie somit unabhängig. Die umfassende Rekonstruktion der Biografie der Autorin vor dem Hintergrund der kulturel- len Felder Budapest, Berlin und Paris sowie die Betrachtung ihres literari- schen Werkes haben das Bild einer emanzipierten Frau offenbart, die auch unter den bittersten Lebensbedingungen am Schreiben festgehalten und die aktuellen sozialen Diskurse mit kritischem Blickwinkel in ihren Reportagen und Romanen aufgegriffen hat.

57 Vgl. ebd. 58 Vgl. ebd.

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Jens Mehrle

Sozialistischer Realismus 1978. Zu einem Vorschlag von Peter Hacks

»Mein Ziel ist, die sozialistische Literatur zu erfinden und durchzusetzen. Den leichteren Teil der Sache, den ersten, habe ich erreicht.«1

Ein alter Hut?

Am 5. Mai 1978 schlug der Dramatiker Peter Hacks in einem Gespräch der von ihm initiierten Arbeitsgruppe Ästhetik an der Akademie der Künste der DDR vor, den sozialistischen Realismus als Staatsästhetik einzuführen. In der Tautologie, etwas, das seit Jahrzehnten staatlich sanktionierte Literatur- theorie in der DDR war,2 eben dort einzuführen, bestand eine mehrfache Pro- vokation: Der verantwortlichen Kulturpolitik wurde so unterstellt, das aller- orten Verkündete existiere nicht. Jene Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die mit dem Begriff Normen und Repressionen verbanden und die ihn zu dieser Zeit bereits seit langem tunlichst umgingen, mussten den Vorschlag als Drohung auffassen.3 Zudem galt auch Hacks selbst, der in den 60er Jah- ren mit seinen Gegenwartsstücken Die Sorgen und die Macht und Moritz Tas- sow4 erhebliche Schwierigkeiten mit Partei und Staat bekommen hatte, zu je- ner Zeit nicht als ein Vertreter oder Verteidiger des sozialistischen Realismus, sondern allenfalls als anachronistischer, sich an der Klassik orientierender Goetheaner. Im Gespräch bekundet der Kulturpolitiker Alexander Abusch seine Sym- pathie für den Vorschlag. Er meint aber, der sozialistische Realismus dürfe nicht eingeführt, sondern müsse als »wichtigste Strömung«5 gefördert wer-

1 Peter Hacks: Werke, Bd. 13: Auskünfte für Amerika 1976, Berlin 2003, S. 214-219, hier: S. 219. 2 Vgl. folgende Feststellung: »Die Literatur und Kunst des sozialistischen Realismus hat sich endgültig als die Hauptlinie des Literatur- und Kunstfortschritts der Menschheit in der Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus erwiesen.« – Lemma: sozialistischer Realismus. In: Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin 1978, S. 833. 3 Von einer »allergischen Reaktion« bei einigen Mitgliedern der Sektion Literatur schon auf die Ankündigung der Debatte spricht Sektionssekretär Günther Rücker in der Akademie am 12.01.1978. – Sektionssitzungspro- tokoll. In: Archiv der Akademie der Künste, Archiv der AdK der DDR, Sign. 892, S. 25. 4 Peter Hacks: Werke, Bd. 3: Die Sorgen und die Macht [UA: 1960], Moritz Tassow [UA: 1965], Berlin 2003, S. 5-82 und S. 85-202. 5 Gespräch über sozialistischen Realismus heute (05.05.1978). In: Thomas Keck; Jens Mehrle (Hrsg.): Berlini- sche Dramaturgie. Gesprächsprotokolle der von Peter Hacks geleiteten Akademiearbeitsgruppen, Berlin 2010, Bd. 3: Ästhetik, S. 153-229, hier: S. 180.

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den, womit er aus dem Vorschlag, sie einzuführen, die Frage nach der Hege- monie dieser Ästhetik herausliest. Hacks’ Hinweis, die Entscheidung für das Thema sei völlig unabhängig von einem in dieser Zeit auflebenden Interesse am sozialistischen Realismus gefallen,6 lässt es lohnend erscheinen, den Blick gerade auf dieses Interesse und damit auf den Zusammenhang zwischen Po- litik und Kultur in diesem konkreten historischen Moment zu werfen.

Quellenstudium

Die Runde des Gesprächs der 1978 neu begründeten Arbeitsgruppe Ästhetik besteht zum einen aus den Mitgliedern der bereits seit 1972 existierenden Ar- beitsgruppe Dramatik. Es sind dies der Dramatiker Helmut Baierl, die Dreh- buchautoren Wolfgang Kohlhaase und Benito Wogatzki, die Dramatikerin Anna Elisabeth Wiede sowie der Literaturwissenschaftler Werner Mitten- zwei. Eigens für die Debatte zum sozialistischen Realismus7 hinzugeladen sind der Literaturwissenschaftler Robert Weimann sowie mit dem Kultur- politiker Alexander Abusch, dem Philosophen Wolfgang Harich und dem Verleger Wieland Herzfelde drei Zeitzeugen, die auf verschiedene Weise selbst kommunistische Parteigeschichte schrieben. Die meisten der Disku- tanten betreten unvermutetes Neuland, gerade was das zu sichtende Mate- rial angeht. Das Protokoll des 1. Allunionskongresses der Sowjetschriftsteller 1934, der den sozialistischen Realismus als Staatsästhetik proklamierte, war in der DDR bis auf wenige Auszüge nicht veröffentlicht worden.8 Die Theo- rien von Georg Lukács wurden seit 1956 nicht mehr ernsthaft diskutiert. Anders als bei den sowjetischen Konzeptualisten, die zu dieser Zeit eben- falls auf den sozialistischen Realismus zurückgriffen, um ihn zu überwinden, richtet sich das Interesse der Arbeitsgruppe nicht auf eine Dekonstruktion jener Formen des sozialistischen Realismus, die Boris Groys als »Gesamt- kunstwerk Stalin«9 fasste. Es ist eher auf die Programmatik dieser Ästhetik

6 So erklärte Hacks: »Als wir vor einem knappen Jahr an irgendeiner Stelle in der südlichen Mark Branden- burg beschlossen, diese Frage heute zu stellen, schien sie eine einigermaßen abwegige Frage. Inzwischen treffe ich andere Personen, die sich auch dafür interessieren.« – Ebd., S. 156. 7 Zur Debatte gehören auch die Gespräche: Zur Konzeption des sozialistischen Realismus 1934 (30.01.1978) und Zur Realismustheorie von Georg Lukács (13.03.1978). – Vgl. ebd., S. 7-79 und S. 81-151. 8 Grundlage der Diskussion bildet daher der bei Suhrkamp erschienene Band: Hans-Jürgen Schmitt; Gode- hard Schramm (Hrsg.): Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller, Frankfurt am Main 1974. – Noch 1983 nennt Hacks dieses Protokoll auf eine Umfrage des Kulturministers Hans-Joachim Hoffmann nach den zehn wichtigsten Büchern überhaupt. Er charakteri- siert es dort als »ästhetische Jahrhundertdebatte«. – Peter Hacks: Umfrage des Ministers. Zehn Schritte auf dem Weg zum Leseland. Brief an das Kulturministerium vom 11.09.1983. In: Deutsches Literaturarchiv Mar- bach, Nachlass Peter Hacks. 9 »Von Stalin kann man sich nicht befreien, ohne ihn zumindest ästhetisch zu wiederholen, und so begreift die neue russische Kunst Stalin als ästhetisches Phänomen, um ihn zu kopieren und auf diese Weise loszuwer- den.« – Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München 1988, S. 130.

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selbst gerichtet als auf ihre Gestalten. Kritische Distanz zum ästhetisch Un- gelungenen vieler dem sozialistischen Realismus zugerechneter Werke ist allgemeiner Konsens des Gesprächs. Aus den historischen Dokumenten ent- nehmen die Teilnehmer der Debatte aber, dass diese später als kunstfeindlich geltende Ästhetik im Moment ihrer Proklamation gerade die Eigenständig- keit der Kunst verteidigte. Hacks findet in den Voraussetzungen des Kon- gresses von 1934 den konsolidierten nachrevolutionären Sozialismus als Be- dingung für eine solche Ästhetik und in den innenpolitischen Kämpfen den Grund für die philosophische Höhe, von der aus ein ästhetisches Programm formuliert werden konnte,10 ohne dass er über den sich anschließenden Exi- tus der sowjetischen Literatur hinwegsehen würde.11 Daraus, dass verschie- dene Redner des Kongresses betonten, die künftige Literatur habe am klassi- schen Erbe anzuknüpfen, schließt Hacks, sozialistischer Realismus sei aktualisierter klassischer Realismus.12 In der Diskussion zur von Georg Lukács in den 30er Jahren entwickelten Realismus-Theorie streitet Hacks mit Werner Mittenzwei darüber, ob diese Ästhetik nur Ausdruck für ein Zurückweichen in einer Übergangsphase sei oder generelle Bedeutung für die Rettung der Literatur im 20. Jahrhundert habe. Er findet in Lukács’ Realismustheorie und in dessen Kampf gegen alle Varianten der Moderne sämtliche Kriterien seines Konzepts einer sozialisti- schen Klassik und eine Grundlegung des eigenen Kampfes gegen die Ro- mantik. Vernachlässigt wird hier, dass die Geburt des sozialistischen Realis- mus auch eine Wiedergeburt der Romantik als revolutionäre Romantik war,13 die Lukács später als das »verkörperte schlechte Gewissen des Naturalis- mus«14 und das »ästhetische Äquivalent des ökonomischen Subjektivismus«15 brandmarkte.

10 Im Statut des Verbandes der Sowjetschriftsteller heißt es: »Der sozialistische Realismus, die Grundmethode der sowjetischen Literatur und Literaturkritik, erfordert vom Künstler eine wahrheitsgetreue, konkret-histo- rische Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Höherentwicklung. Wahrheitstreue und histori- sche Konkretheit der künstlerischen Darstellung muß mit den Aufgaben der ideologischen Umgestaltung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus verbunden werden. Der sozialistische Realismus sichert dem künstlerischen Schaffen außerordentliche Möglichkeiten in Bezug auf die Entwicklung schöpfe- rischer Initiative und die Wahl mannigfaltiger Formen, Methoden und Genres.« – Schmitt; Schramm 1974 (s. Anm. 8), S. 390. 11 So erklärte Hacks im Gespräch über die Konzeption des sozialistischen Realismus 1934 am 30.01.1978: »Wir wollen doch nicht vergessen, daß die gesamte sowjetische Literatur bis zum Tage dieses Kongresses ge- schrieben worden ist. Danach ist kein Stück mehr rausgegangen, keine Zeile mehr rausgekommen. Also die- ser Höhepunkt der Theorie des sozialistischen Realismus war das Ende der sozialistischen Literatur.« – Keck; Mehrle 2010 (s. Anm. 5), S. 56. 12 »Wenn aber die Klassik eine Form des Realismus ist, dann könnte das Wort des sozialistischen Realismus, wenn es so verstanden werden sollte, wie ich versucht habe, es zu definieren, nämlich als der nicht proleta- rische, nicht tendenzielle, nicht revolutionäre und nicht kritische Realismus, sondern – klassische Realismus, im Grunde wäre es eine Wiederholung des klassischen Realismus unter den neuen gesellschaftlichen Bedin- gungen.« – Ebd., S. 72. 13 Auf Lukács’ Kritik an der revolutionären Romantik weist einzig Helmut Baierl hin. – Vgl. ebd., S. 127. 14 Georg Lukács: Werke, Neuwied 1971, Bd. 4: Die Gegenwartsbedeutung des kritischen Realismus [1957], S. 590 f. 15 Ebd.

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Beide Rückblicke ermunterten Hacks, das untersuchte ästhetische Pro- gramm zu aktualisieren. Sein Interesse daran war schon nach den Romantik- Klassik-Diskussionen im Jahr zuvor entstanden.16 Als er im Frühjahr 1977 in der letzten Sitzung der Arbeitsgruppe Dramatik seine Theorie der Klassik vorstellte, hatte Wolfgang Kohlhaase gefragt, ob nicht die Verbindung von klassischer Haltung und gegenwärtigem Stoff das eigentliche Abenteuer der Kunst im Sozialismus sei. Hacks antwortete, er sehe den gegenwärtigen Stoff nicht als Bedingung für gegenwärtige klassische Kunst, gestand aber zu, das sei das »gattungsmäßig gesehen kühnste«17. In seinem Essay Der Fortschritt in der Kunst hatte er 1976 hoffnungsvoll geschrieben: »Wir finden in unserer Gegenwart Ansätze von Kunstfähigkeit, mehr als Goethe vorfand. Sie gilt es auszuproben und zu erweitern.«18 Es war ihm insofern nicht nur wichtig, das Konzept des sozialistischen Realismus hinsichtlich einer erhofften Kulturpo- litik auf seine Tragfähigkeit zu untersuchen, sondern auch als anzustreben- den Literaturstil der Gegenwart.

Krise der 70er Jahre

Die Richtung der von Hacks erhofften neuen Politik zeigt der zustimmende Hinweis am Beginn seines Vortrags auf einen Artikel des Literaturwissen- schaftlers Hans Koch. Zwei Wochen zuvor, unmittelbar vor dem VIII. Schrift- stellerkongress im Neuen Deutschland erschienen, wurden darin Werke von Christa Wolf, Werner Heiduczek, Heiner Müller sowie ein Artikel des Litera- turwissenschaftlers Hans Kaufmann in der Akademiezeitschrift Sinn und Form kritisiert.19 Koch forderte unter mehrfachem Hinweis auf die Dialektik, die Schwierigkeiten des Sozialismus als überwindbare zu zeigen und sich den Zentren der Entwicklung zuzuwenden statt den Randbezirken. Die Tendenz, wofür Hacks Kochs Artikel als ein erfreuliches Indiz nimmt, ist vielen Schreibenden Anlass zu Befürchtungen.20 Seit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann und ihren Folgen 1976 beklagten sie das

16 In den Erinnerungen an seine Gespräche mit Hacks notiert André Müller: »22.-27. September 1977 [...] Im übrigen halte er darauf, es sei wirklich an der Zeit, Lukács zu rehabilitieren, den er gerade neu gelesen habe. [...] Er überlegt auch, ob er in der Akademie nicht einmal über ›Sozialistischen Realismus‹ sprechen solle. Man könne den Begriff ja mit unserem heutigen Wissen neu überdenken.« – André Müller sen.: Gespräche mit Hacks. 1963-2003, Berlin 2008, S. 170. 17 Gespräch über die Theorie der Klassik am 18.04.1977. In: Keck; Mehrle 2010 (s. Anm. 5), Bd. 2: Dramatik II, S. 311. – Zuvor sagt Hacks: »Ich glaube, das einzige Argument, das dafür spricht, zu sagen: Wollen wir doch mal probieren, ob wir zeitgenössisches Material auf klassische Weise verarbeiten, wäre die unglaublich opti- mistische Hoffnung, daß unsere Gesellschaft grundsätzlich und prinzipiell vertrauenswürdiger sei als jede vor uns gewesene. Diese Idee ist so absurd, daß ich sie teile, und ich habe es bekanntlich dreimal versucht und werde nicht aufhören, es zu versuchen.« – Ebd. 18 Peter Hacks: Der Fortschritt in der Kunst 1976. In: Ders. 2003 (s. Anm. 1), S. 234. 19 Hans Koch: Kunst und realer Sozialismus. Zu einigen Fragen der Entwicklung unserer Literatur. In: Neues Deutschland, 15./16.04.1978, S. 4. 20 Sektionssekretär Günther Rücker versichert Wilhelm Girnus, dem Chefredakteur von Sinn und Form, in ei-

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Ende der liberalen Kunstpolitik, die im Zuge des VIII. Parteitags 1971 als Weite, Vielfalt und Ende der Tabus proklamiert worden war. 21 Diese Politik hatte die mit dem Machtantritt Erich Honeckers eingeleitete Stärkung des Parteiapparats gegenüber der Wirtschaft flankiert. Das Programm der Ein- heit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die das Bündnis zwischen Partei und Bevölkerung erneuern sollte,22 hatte die Ulbricht’sche ökonomische Reform- politik der 60er Jahre liquidiert. Anwachsende Schwierigkeiten in der Wirt- schaft führten nun jedoch – Mitte der 70er Jahre – zu einer Reaktivierung von Elementen der früheren Politik,23 zu internen Diskussionen, sogar zu offenen Angriffen gegen Honecker.24 Der Erfolg der weltweiten diplomatischen An- erkennung und die außenpolitischen Verflechtungen der DDR im Rahmen der Politik der friedlichen Koexistenz zeitigten unerwünschte innenpoliti- sche Wirkungen. Der sozialdemokratischen Offensivstrategie Wandel durch Annäherung25 setzte die DDR eine Defensivstrategie entgegen, für die neben anderem kennzeichnend war, dass man das Ziel eines sozialistischen Ge- samtdeutschlands aufgab und den Staatssicherheitsapparat ausbaute. Infolge dieser Politik bildete sich eine literarische Opposition heraus, die zwar auf dem Boden des Sozialismus die Verhältnisse kritisierte, den Schritt in die Dissidenz gegenüber der Staatsmacht und dem eigenen Gewissen als Handlungsoption aber stets bereithielt. Damit befand sich diese Literatur selbst in der Tradition einer funktionalisierten, politische Zwecke verfolgen- den Kunst, was sich noch im Diktum Heiner Müllers, Kunst habe die Wirk- lichkeit unmöglich zu machen,26 zeigt. Viele dieser Schriftstellerinnen und

nem Brief vom 24.04.1978, er stehe hinter Kaufmanns Artikel. – Vgl. Sektionssitzungsprotokoll (s. Anm. 3), S. 78. – Girnus selbst berichtet am 04.05.1978, also am Tag vor dem Gespräch in der Arbeitsgruppe, von einem Treffen mit Politbüromitglied Kurt Hager und Erich Honecker in dieser Sache. – Vgl. ebd. S. 84. 21 So verkündete Erich Honecker auf einer ZK-Tagung: »Wenn man von den festen Positionen des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils – kurz gesagt: die Fragen dessen, was man die künstlerische Meisterschaft nennt.« – Erich Honecker: Zu aktuellen Fragen bei der Verwirklichung der Beschlüsse des VIII. Parteitages. Schlußwort auf der 4. Tagung des ZK der SED am 17.12.1971. In: Ders.: Re- den und Aufsätze, Berlin 1975, Bd. 1, S. 427. 22 Auf wichtige Aspekte dieses Konzepts verweist Sebastian Gerhardt: »Insbesondere die industriellen Bezie- hungen sollten im Sinne einer Verwirklichung der Ideale moralischen Wirtschaftens reorganisiert werden. An erster Stelle stand dabei eine Aufwertung der Rolle der Gewerkschaften, denen über ihre erweiterten Kompetenzen bei der Ausarbeitung und Realisierung der Sozialpolitik hinaus auch ein größerer Einfluß bei der Lohngestaltung zugewiesen wurde.« – Sebastian Gerhardt: Politbürokratie und Hebelwirtschaft in der DDR. Zur Kritik einer moralischen Ökonomie, Berlin 1997, S. 28. 23 So revidierte 1977 der ZK-Beschluss über den Aufbau einer mikroelektronischen Industrie einen entgegen- gesetzten von 1973, mit dem die von Ulbricht besonders unterstützte Förderung der Elektronik beendet worden war. 24 Ein im Januar 1978 im Spiegel veröffentlichtes Manifest eines angeblichen Bundes Demokratischer Kommu- nisten Deutschlands, dem Hermann von Berg und andere DDR-Funktionäre zuarbeiteten, richtete sich ins- besondere gegen Honecker. Vgl. Dominik Geppert: Störmanöver. Das »Manifest der Opposition« und die Schließung des Ost-Berliner »Spiegel«-Büros im Januar 1978, Berlin 1996. 25 Dieses Konzept, erst in den 70er Jahren unter der SPD/FDP-Regierung der BRD verfolgt, ging auf einen Vor- trag Egon Bahrs von 1963 zurück. Darin hieß es u. a.: »Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjetunion zu schaffen. Sie sind nicht in Ost-Berlin zu bekommen, nicht gegen die Sowjetunion, nicht ohne sie.« – Egon Bahr: Sicherheit für und vor Deutschland, München 1990, S. 12.

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Schriftsteller sahen in der historischen Romantik und deren Enttäuschung über die französische Revolution wie über die Zustände in Deutschland zu Be- ginn des 19. Jahrhunderts eine Parallelerscheinung zu eigenen Erfahrungen.27 Wenn Hacks in der Romantik-Debatte an der Akademie 1976 die Forde- rung erhob, nicht die Romantik, sondern die Klassik zu beerben, entsprach das nicht einfach nur dem bis dahin verbindlichen Erbe-Kanon, sondern ver- teidigte er damit auch die Eigenart der Kunst gegen die Tendenz der Vermi- schung von Kunst, Leben und Politik. Die gegenüber seinen Kontrahenten in dieser Debatte, Franz Fühmann und Stephan Hermlin, gebrauchte Zuspit- zung – Realismus oder Antirealismus – verlieh der Auseinandersetzung die politische Dimension und hob unausgesprochen bereits auf den sozialisti- schen Realismus ab.28 Dass sich Partei und Staat in der zunehmenden ökono- mischen, politischen und auch ideologischen Bedrängnis auf das philosophi- sche Arsenal des Marxismus produktiv besinnen könnten, ist eine Hoffnung, die sich in Hacks’ Vorschlag manifestiert.

Versuchte Aneignung

Die Idee, eine Kunstrichtung als Staatsästhetik einzuführen, hat zwei wider- sprüchlich ineinander verschränkte Komponenten: Der Begriff eines Stils oder gar einer Epoche bezeichnet Kunstwerke, die ihm oder ihr zuzuordnen wären. Eine Kunstpolitik hätte erst Bedingungen für deren Entstehen und deren Rezeption zu schaffen. Sozialistischer Realismus ist für Hacks, anders als in den Lehrbüchern dieser Ästhetik, keine Methode, sondern ein Stil, der aber – aufgrund man- nigfacher Abirrungen von seinem eigentlichen Wesen – noch keine Epoche gebildet hat. Hacks benennt Strömungen, von denen er meint, sie gehörten nicht zu diesem Stil oder hätten ihn in Verruf gebracht.29 Dieses Ausschluss-

26 »Am Verschwinden des Menschen arbeiten viele der besten Gehirne und riesige Industrien. Der Konsum ist die Einübung der Massen in diesen Vorgang, jede Ware eine Waffe, jeder Supermarkt ein Trainingscamp. Das erhellt die Notwendigkeit der Kunst als Mittel, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.« – Heiner Mül- ler: Material, Leipzig 1989 [Mühlheimer Rede 1979], S. 100. 27 So meint Franz Fühmann: »Die Widersprüche der Arbeitsteilung und der als entfremdet nicht mehr unmit- telbar gesellschaftlich sinnvollen Arbeit, des Warencharakters aller Werte und des Fetischcharakters ver- dinglichter Menschensubstanz bilden den Schlüssel zur Romantik. [...] Ich halte die Modelle der Romantik und die E.T.A. Hoffmanns auch heute und hier noch durchaus für tauglich.« – Franz Fühmann: Ernst Theo- dor Amadeus Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste der DDR (24.01.1976). In: Ders.: Essays, Ge- spräche, Aufsätze 1964-1981, Rostock 1983, S. 216-238, hier: S. 236 f. 28 Bereits Lukács hatte erklärt: »Es ist unmöglich, den sozialistischen Realismus wirkungsvoll aus- und weiter- zubilden, ohne den prinzipiellen Gegensatz von Realismus und Antirealismus theoretisch zu Ende zu führen.« – Lukács 1971 (s. Anm. 14), S. 561. 29 »Der Sozialismus hat, seit es ihn gibt, bereits eine Menge Stile hervorgebracht: den vorrevolutionären kriti- schen Realismus, nach der Oktoberrevolution den linken Modernismus, hiernach den Ideal-Naturalismus der Stalinzeit, hiernach die neotolstoijanische kunstfeindliche Sektiererei des Bitterfelder Weges.« – Keck; Mehrle 2010 (s. Anm. 5), S. 157.

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verfahren lässt einen anderen Begriff hervortreten, der sich an der Proklama- tion von 1934 durch Nikolai Bucharin30 und an jenem von Georg Lukács orientiert: Sozialistischer Realismus fordere, wie sonst nur die Klassik, die Identität von Wahrheit, Schönheit und Tiefe. Da diese Ästhetik von Philoso- phen und Politikern erfunden worden sei,31 trügen Politik und Philosophie Verantwortung und hätte das Politbüro der SED, als Institution des gegen- wärtig höchsten gesellschaftlichen Bewusstseins, der Ästhetik die philoso- phischen Prämissen zu setzen.32 Die Erfolglosigkeit vergangener Kulturpolitik zeige sich am schmerzlichsten im Ausbleiben des Schriftstellernachwuchses sowohl nach dem 11. Plenum von 1965 als auch nach dem VIII. Parteitag von 1971. Einer Verhinderung von Kunst durch eine repressive oder liberalisti- sche Kunstpolitik sei durch Verstetigen eines Übergangszustandes zu begeg- nen – das »eingefrorene Tauwetter«33. Partei und Regierung sollten ihren phi- losophischen Standpunkt bekunden, hätten aber diese Ebene nicht zu verlassen und nicht in die poetische Praxis einzugreifen. Ein Beispiel für Ent- schiedenheit auf der theoretischen und Zurückhaltung auf der praktischen Seite sei der gerade erschienene Artikel Hans Kochs. Hacks baut bei dieser Gelegenheit die alten Rezepte in für ihn akzeptable ästhetische Kategorien um: statt »positiver Held« – »initiatorischer Held«; statt »kollektiver Schaffensprozeß« – »apriorische Kollektivität«; statt »Per- spektive« – »Dialektik zwischen Realität und Ideal« sowie »historische Ein- ordnung in den Weltverlauf«; statt »Verständlichkeit« – »ein Publikum [...] intendieren«; statt »Volkstümlichkeit« – »hohe Volkstümlichkeit«; statt »Pri- mat der Fabel« – »Wechselwirkung zwischen Handeln und Charakter«; statt »das Typische« – »das jeweilige Versteck des Wesens [auffinden]«; statt »An- tiformalismus« – »Forderung nach Form«; statt »Optimismus« – »subjektive Verzweiflung [nicht] als ein Weltgesetz [hinstellen]«; statt »Parteilichkeit« – »Verantwortung für außerästhetische Wirkung«34. Gültig bleiben sollen un- verändert die »Forderung nach dem Epochenwerk« und die »Aufhebung

30 Dieser führte aus: »Wir müssen zu einer großen Literatur, zu einer gewaltigen Literatur, zu einer durch ihren Inhalt machtvollen Literatur gelangen. Zu einer wirkenden Literatur, zu einer Literatur, die auch durch ihre Meisterschaft als ein hoher Berggrat in der Geschichte der Menschheit und der Geschichte in der Kunst ragen wird!« – Nikolai Bucharin: Referat über Dichtung, Poetik und die Aufgaben des dichterischen Schaf- fens in der UdSSR. In: Schmitt; Schramm 1974 (s. Anm. 8), S. 345. 31 Den Begriff zog Stalin im Mai 1932 kurz nach dem ZK-Beschluss über die Auflösung der RAPP den alterna- tiv vorgeschlagenen Begriffen proletarischer und kommunistischer Realismus vor, als der von der RAPP ge- prägte Begriff der dialektisch-materialistischen Methode ersetzt werden sollte. – Vgl. Hans Günther: Die Verstaatlichung der Literatur, Stuttgart 1984, S. 11 f. 32 »Wir wissen auch alle, was eine Politik ist. Aber die einzigen Menschen, die noch versuchen, das zusam- menzubringen, das ist diese Partei und ihre Chefs und ihre Denker. Ob sie klug sind oder nicht klug sind, das ist nicht die Frage; ob sie tief oder nicht tief sind, das ist nicht die Frage. Sie sind die einzigen. Und des- wegen sage ich: Die Partei steht bei mir für das Wort Philosophie, weil das sich so verhält, daß wir nichts Besseres anzubieten haben.« – Keck; Mehrle 2010 (s. Anm. 5), S. 227. 33 Ebd., S. 172. 34 Ebd., S. 168 f.

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der Tradition«35. Hacks interpretiert hier normative Forderungen als An- sprüche und Erlaubnisse, zuweilen sogar die Aussagen der Normen umkeh- rend. Dennoch sollen die solcherart reformulierten Standards des sozialisti- schen Realismus, da sie nur »nach Maßgabe des konkreten Falls«36 anwend- bar seien, nicht von der Politik verwendet werden dürfen. »Zielrichter«37, die über das Gelingen der literarischen Werke urteilen, könnten einzig aus den Reihen der Kunst selbst kommen, etwa aus der Akademie der Künste. Bei völligem Ausschluss von Politik, Bürokratie und Demokratie aus den poeto- logischen Fragen der Ästhetik plädiert er aber für einen öffentlichen Mei- nungsstreit über die »Güte von Kunstwerken«38. Unter Bezug auf Goethe schließlich, solle es bei der Einführung des sozialistischen Realismus um etwas Positives gehen, dem durch Ironie die Eigenschaft des Problems erhal- ten bleibe. Einer Handlung auch den Raum der Ironie, der ihre mögliche Ver- geblichkeit oder Vergänglichkeit einschließt, zuzubilligen, ist eine Forde- rung, die sich aus dem Charakter von Hacks’ Denkmethode selbst herleitet, der aber in politischer Praxis schwer zu entsprechen ist. Obwohl die Ebene der ästhetischen Kriterien des Hacks’schen Aneignungsversuchs auch poli- tisch konträre Positionen zuließe, hätte die gleichzeitig der Kulturpolitik zu- gewiesene Funktion, über das Kriterium des Realismus zu wachen, politi- sche Auseinandersetzungen von ästhetischer Relevanz zur Konsequenz.

Folgen

Zur Staatsästhetik sieht Hacks in seinem Vortrag aber keine Alternative. Er hält die Forderung nach einer Gesellschaft, die den sozialistischen Realismus »so automatisch, so autochthon«39 hervorbringe, dass Kunstpolitik überflüssig werde, für utopisch. Eine in dieser Richtung zu erwägende Legalisierung der »Geheimbünde«40 und der daraus folgenden Institutionalisierung der wider- streitenden literarischen Fraktionen in eigenen Theatern und Zeitschriften sei unmöglich, da die literarischen Fraktionen den politischen entsprächen und es in der DDR nicht möglich sei, politische Parteien zuzulassen.41 Im Gespräch herausgefordert, entwirft er dann ein Bild von der aktuellen Lage der DDR-Gesellschaft. Die beiden staatstragenden Fraktionen, die Pro-

35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 174. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 166. 40 Ebd. 41 Er meint hier im Unterschied zu den existierenden Parteien der Nationalen Front auch bürgerliche Parteien, die die sozialistischen Verhältnisse infrage stellen würden.

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duzenten, worunter er eigentlich die Technokratie versteht, und der Appa- rat, womit er den Partei- und Staatsapparat meint, befänden sich nicht im produktiven Gleichgewicht. Es gebe derzeit vielmehr eine »Diktatur des Ap- parats«42, woraus dessen eigene Ohnmacht resultiere. Während er die litera- rischen Fraktionen der Produzenten und des Apparats erlauben würde, seien die anarchistische und liberalistische Fraktion in der Literatur, deren soziale Träger er nicht nennt, zu verbieten; sie seien konterrevolutionär. Damit widerspricht er der eigenen Maßgabe an den Staat, er solle unlieb- same Richtungen entmutigen, nicht aber verhindern.43 Der Widerspruch fällt umso mehr auf, als Hacks gleichzeitig den konsolidierten, von keiner Kon- terrevolution mehr vollständig zu beseitigenden Sozialismus, der in der DDR bestehe, seiner Ästhetik voraussetzt. Die sehr gegensätzlichen Rollen des Apparats, der in Hacks’ Modell sowohl selbst Fraktion als auch die Frak- tionen vermittelnde Instanz ist, verweisen – auch wenn man den Apparat selbst als fraktioniert denkt – auf ein strukturelles Problem der Gesellschaft und in Hacks’ Modell. So kollidiert auch seine Forderung nach dem öffent- lichen Streit über die Kunst mit seiner Metapher vom »eingefrorenen Tau- wetter«. Doch in Anbetracht der konkreten politischen Situation erscheint der Vor- schlag einer Einführung des sozialistischen Realismus als Weg, um über- haupt die Grundlage für einen Streit zu schaffen. Wenn nämlich Öffentlich- keit in wechselseitig funktionierender Kommunikation besteht, so hatte sich der Kunstdiskurs der DDR in verschiedene voneinander getrennte Diskurse gespalten, die, obwohl ihre Akteure oft der gleichen Partei und dem gleichen Verband angehörten, keine funktionierende Öffentlichkeit mehr bildeten. Dem offiziellen Diskurs, auf dessen Ebene etwa der Artikel Hans Kochs im Parteiblatt agierte, stand ein inoffizieller, zunehmend an gesellschaftlichem Einfluss gewinnender Diskurs der literarischen Opposition gegenüber. Der inoffizielle Diskurs wurde in Büchern, literarischen Zeitschriften und Thea- tern geführt und konnte auch die Öffentlichkeit der BRD als Plattform nut- zen. Diese »Geheimbünde« waren längst nicht mehr geheim und illegal. Die Defensivstrategie der Partei, der literarischen Opposition, statt sich mit ihr auseinanderzusetzen, partielle Freiräume zu gewähren, um sie einzuhegen, schwächte die Position der sozialistischen Literatur. Der inoffizielle be- stimmte zunehmend auch den offiziellen Diskurs, zumal der dort agierende Staat sich weder ästhetisch kompetent zeigte, noch seine Macht entschieden mehr gebrauchte. Bezeichnender Ausdruck der skizzierten Lage war der drei Wochen nach dem Gespräch tagende VIII. Schriftstellerkongress der DDR. Dort fanden

42 Keck; Mehrle 2010 (s. Anm. 5), S. 223. 43 »Der Staat hat eine Meinung, er bekundet sie, er vertritt sie, aber er greift nicht zum Beil. Er entmutigt falsche Meinungen, aber er verhindert sie nicht radikal.« – Ebd., S. 173.

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sich Spuren des Gesprächs der Arbeitsgruppe in den Reden von Benito Wogatzki 44 und Wolfgang Kohlhaase45. Wesentliche Vertreter der literari- schen Opposition, Christa Wolf, Franz Fühmann und Ulrich Plenzdorf, fehl- ten jedoch, was die Legitimität des Kongresses als Schriftstelleröffentlichkeit in Frage stellte. Es zeigte sich in ihrem Fehlen aber auch der mögliche Weg einer Trennung, vor der beide Seiten zurückschreckten. Stephan Hermlin etwa suchte beharrlich, in den offiziellen Diskurs jenen der literarischen Op- position einzuführen, indem er auf dem Kongress seine Position als spätbür- gerlicher Schriftsteller und Kommunist verteidigte. Alexander Abusch, jener im Gespräch der Arbeitsgruppe mit Hacks sympathisierende, einstmals mächtige Kulturpolitiker war es dann, der nach langen Jahren der Divergen- zen mit Hermlin nun auf dem Kongress gegen den Widerstand von Vertre- tern der literarischen Opposition dessen Abwahl aus dem Vorstand betrieb, jedoch ohne Erfolg.46 Die Schlichtung dieses Kampfes der Fraktionen zu Gunsten der literarischen Opposition, von der nicht das veröffentlichte Pro- tokoll, aber ein Tagebucheintrag Volker Brauns berichtet,47 zeigt Politik wie Autorschaft weiterhin eher taktisch als programmatisch agierend. Partei und Staat hatten die Hegemonie im Kunstdiskurs längst eingebüßt. Diese mit einer Staatsästhetik wieder zu erobern, die den Kontakt zwischen

44 Wogatzki sagt dort: »Ich meine, eine gut geschriebene Geschichte mit hinreißenden Lebenstönen muß doch nicht verlogen sein, nur weil sie eine Fabel hat. Und wenn nun darin sogar richtige Charaktere vorkommen in außergewöhnlichen Situationen, so muß mich das doch nicht wegführen vom tiefen, ehrlichen Gedanken. Im Gegenteil – ich finde: Gestaltung guter Geschichten kann nicht nur nicht schaden, sie ist auch gar nicht einfach. Es handelt sich vielmehr um jene hohe Volkstümlichkeit, der ich mich gern verschreibe.« – Neue deutsche Literatur, Nr. 8, 1978, S. 24 f. 45 Kohlhaase erzählt über seine Großmutter: »Denn ihr Wunsch, besser auszusehen, der, wie gesagt, mit einer Fälschung zu betrügen gewesen wäre, entsprang auch einem Bedürfnis nach Emanzipation, das sich an alle Kunst richtet, an das Schöne als Utopie, als größere Möglichkeit, als Ideal. Sich an ihre Jugend erinnernd, aus Rebellion gegen den Tod, aus Eitelkeit vielleicht, hatte meine Großmutter eine schönere Idee von sich, und damit hatte sie etwas Wichtiges, Menschliches, das auf einem Bild von ihr mit zu sehen sein müßte.« – Ebd., S. 73. 46 Als dann am 07.06.1979 neun Autoren aus dem Berliner Bezirksverband der Schriftsteller mit Zustimmung der großen Mehrheit seiner Mitglieder ausgeschlossen wurden, handelte es sich auch da nicht um eine pro- grammatische Trennung, sondern um einen repressiven Akt des Apparats. 47 Braun notierte: »1.6.78/auf dem schriftstellerkongreß verliest hermlin eine erklärung gegen die niederträch- tige rede naumanns im zk. am morgen des dritten tags empfiehlt bauer stimmungsmacherisch den berliner genossen, genau zu überlegen, wem von den autoren bei der wahl des vorstands die stimme zu geben sei. auf dies signal reckt sich der kleine alte finsterling abusch und verlangt die streichung hermlins von der wahlliste, der daraufhin in einer zweiten kurzen rede, wie sie das pult der volkskammer noch nicht vernom- men hat, selbst um seine eleminierung bittet. in solchen beschämenden augenblicken tritt das naturell unse- res autorenpacks wie ein ekler ausschlag zutage. ein feiges schweigen, eine höhnische zufriedenheit. gegen den willen bauers, der mich für mein bloßes wortmelden rügt, gehe ich an das pult und erkläre: ich wisse, daß gestern abend hermlin von einem präsidiumsmitglied nahegelegt wurde, nicht wieder zu kandidieren, weil er in der jetzigen atmosphäre nur herzinfarkte bekomme. ich hätte daraufhin hager und kant etwa fol- gendes wissen lassen: wenn hermlin im vorstand nicht mehr geduldet würde, wäre das eine intoleranz, die ich niemals ertragen könnte. im fall er also gestrichen wird oder die mehrheit gegen ihn stimmt, bitte ich, mich auch zu streichen. daraufhin werden nun zwei namen durchgestrichen. – aber zwei stunden später wird der kongreß unterbrochen, und es geschieht etwas beispielloses: hager und ragwitz ersteigen das geräumte präsidium und annullieren alles geschehene. die finstere fraktion sitzt mit langen gesichtern. in ei- nem hochgefühl fahre ich abends im wagen nach frankfurt am main.« – Volker Braun: Werktage. 1977–1989, Frankfurt am Main 2009, S. 142.

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Büros und Ateliers sucht, sich höchster philosophischer und künstlerischer Maßstäbe bedient und die Trennung von Fraktionen nicht scheut,48 war das Ansinnen von Hacks. Der Vorschlag konnte, weil nie erprobt, weder gelin- gen noch scheitern. Als Produzent von Literatur hielt Hacks die Ästhetik des sozialistischen Realismus auch nach dem Ende der DDR für ein anzustre- bendes Ziel. »Linke Kunst«, schrieb er 2001 auf eine Umfrage der Zeitschrift konkret, »trägt auch den Namen Sozialistischer Realismus. Sie ist heiter, för- dert die antiimperialistische Revolution und erhält anschließend den Stalin- preis.«49 Eine sich neu konstituierende sozialistische Bewegung steht auch jenseits der Staatsmacht noch immer vor der Frage, ob Sozialismus eine sozialisti- sche Kunst erfordert und wie diese zu befördern wäre. Der Begriff des sozia- listischen Realismus, das zeigt Hacks’ Aneignungsversuch, ist reicher als sein schlechter Ruf vermuten lässt. Er könnte der Gesellschaft und der Kunst von Nutzen sein.

48 Hacks meinte: »Ich denke, daß ein gewisser Grad von Geschiedenheit die Dinge auch heiterer machen kann.« – Keck; Mehrle 2010 (s. Anm. 5), S. 167. 49 Peter Hacks: Am Ende verstehen sie es. Politische Schriften 1988–2003, Berlin 2005, S. 94.

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Maria Becker

»Von der Zensur der Partei in die Zensur des Marktes?« Literarische Selbstverwirklichung renommierter Kinder- und JugendbuchautorInnen der DDR vor und nach 1989

DDR-Kinder- und JugendbuchautorInnen als ZeitzeugInnen kulturpolitischer Ereignisse

Kinder- und JugendbuchautorInnen der DDR sind nach den gesellschaftspo- litischen Prozessen der Umbruchsjahre 1989/1990 einer tiefgreifenden Ver- änderung ihrer Arbeitssituation ausgesetzt. Zweifelsohne stehen auch die AkteurInnen des erwachsenenliterarischen Bereichs grundlegenden Erneue- rungen in Produktion und Distribution gegenüber, doch erweisen sich die daraus resultierenden Konsequenzen als weniger konfliktär. Barbara Beßlich fasst die wende- und nachwendezeitliche Berufssituation bekannter und we- niger bekannter SchriftstellerInnen der DDR-Literaturszene wie folgt zusam- men: »Für die weniger bekannten Autoren der zweiten Garde, die in der DDR von staatlicher Förderung gelebt hatten und nun ihre bisherige mate- rielle Basis vernichtet sahen, wurde diese Umstellung zum Existenzkampf. Aber auch für die bereits etablierten Autoren bedeutete die Wiedervereini- gung eine Erschütterung ihres künstlerischen Selbstverständnisses und eine Gefährdung ihres bisherigen sozialen Status.«1 Der zentrale Unterschied zwischen dem allgemeinen Literatursystem und dessen Subsystem Kinder- und Jugendliteratur2 nach 1989 spiegelt sich augenscheinlich in dem Status ihrer LiteratInnen wider. So sind es nicht nur Kinder- und JugendbuchautorInnen der »zweiten Garde«, denen der Zu- gang zu westdeutschen Verlagen immer stärker versperrt bleibt, sondern auch solche LiteratInnen, die dem renommierten AutorInnenkreis des sozia- listischen Staats angehörten. Das Ende der DDR bewirkt für die ostdeutsche Kinder- und Jugendlitera- turszene den völligen Zusammenbruch: Schon kurz nach der Wende wird die DDR-KJL in den neuen Bundesländern als so verwerflich oder redundant empfunden, dass sich Buchhandlungen nahezu ausschließlich an westdeut- schen Erzeugnissen orientieren, DDR-Lektüren aus Schulen verschwinden,

1 Barbara Beßlich; Katharina Grätz; Olaf Hildebrand: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. In: Dies. (Hrsg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006, S. 7-18, hier: S. 14. 2 Nachfolgend wird der Begriff Kinder- und Jugendliteratur durch KJL ersetzt.

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Verlage oder Handelsgesellschaften Millionen Bücher auf Müllkippen ent- sorgen oder sogar verbrennen.3 Fast die Hälfte aller Bibliotheken in der DDR werden geschlossen (hauptsächlich in Betrieben, aber auch in Gemeinden und Städten)4, alte Bücherbestände gezielt entsorgt5. Vor allem aber komplet- tieren größere kulturpolitische Handlungen die Verdrängung ostdeutscher KJL: Im Rahmen administrativer Maßnahmen erfolgt die Auflösung des Mi- nisteriums für Kultur, und verschiedene Organisationen verlieren ihre Exis- tenzberechtigung, darunter der Schriftstellerverband der DDR und das DDR-Zentrum für KJL. Die ehemaligen volkseigenen Betriebe (VEB) werden von der Treuhandgesellschaft systematisch in die Privatwirtschaft überführt und von westdeutschen Verlagen oder interessierten Personen aufgekauft und dann zum Teil geschlossen. Mit dem Verkauf des Kinderbuchverlags Berlin, der in der DDR eine monopolartige Stellung hatte, gehen die Aufhe- bung längerfristig angelegter Verträge sowie ein Abbruch bereits bestehen- der Verhandlungen über potentielle Neuerscheinungen einher. Die Kontakt- aufnahme zu Verlagen der alten Bundesländer stellt sich als äußerst diffizile Angelegenheit heraus, da sich diese wenig risikobereit zeigen, ihre absatz- sicheren AutorInnen durch »fremde« DDR-AutorInnen zu ergänzen oder so- gar auszuwechseln.6 Der Erfolg ihrer Bücher ist nicht einschätzbar genug. Im Jahr 1995 akzentuiert Steffen Peltsch für den kinder- und jugendlitera- rischen Bereich der DDR betont hoffnungsvoll: »ALLE schreiben, schreiben weiter, schreiben irgendwas zwischen Tulpenknittelversen und Memoiren.«7 Doch eine gelungene, weil erfolgreiche oder umfassende Systemintegration (gemessen an Auflagenzahlen, Nachauflagen, Erfolg) gelingt nur wenigen für junge Leser schreibenden Schriftstellern wie Peter Abraham oder Gunter Preuß. Einige schreiben heute vereinzelt für eine kleine Gruppe von Interes- sentInnen weiter, viele ziehen sich – zumindest aus dem kinder- und jugend-

3 Vgl. Grit Wolfgramm; Markus Wolfgramm: Verdammte und geliebte Kinderliteratur. Mit Sichtweisen von Benno Pludra zur Kinderliteratur in der DDR. In: Ute Geiling; Friederike Heinzel (Hrsg.): Erinnerungsreise – Kindheit in der DDR. Studierende erforschen ihre DDR-Kindheiten, Baltmannsweiler 2000, S. 139-151. 4 Vgl. Claudia Lux: Probleme beim Aufbau einer neuen Identität in ostdeutschen Bibliotheken. http://archive.ifla.org/IV/ifla64/140-157g.htm (02.03.2011). 5 Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Bibliothekswesen (1990 von der »Gemeinsamen Bildungskommission« ge- bildet; eingesetzt, um die Entwicklung der Öffentlichen Bibliotheken der DDR systematisch und mit klaren Empfehlungen zu begleiten) geht zunächst davon aus, dass 10 Prozent der Kinder- und Jugendbuchbe- stände »ausgewechselt« werden müssten. 1992 wird festgestellt, dass diese Zahl überschritten worden sei (ohne konkrete Angaben). – Siehe Bund-Länder-Arbeitsgruppe Bibliothekswesen: Abschlussbericht 1990– 1992. Empfehlungen und Materialien, Berlin 1993. – Exemplarisch gibt Dreßler für das Bundesland Sachsen- Anhalt an, dass Anfang 1993 etwa ein Drittel bis die Hälfte der Kinderbuchbestände erneuert wurden. – Vgl. Irmgard Dreßler: Veränderungen in Leseverhalten und Bibliotheksbenutzung von Kindern 1988/1993. In: Steffen Rückl (Hrsg.): Medienverhalten und Bibliotheksnutzung vor und nach der Wende. Untersuchungen 1988/1993 im Regierungsbezirk Magdeburg, Berlin 2000, S. 95-112, hier: S. 102. 6 Vgl. Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendbuchmarkt – Entwicklungen, Probleme, Prognosen. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien, Jg. 45, Nr. 3, 1993, S. 146-170. 7 Steffen Peltsch: Schwuba oder die neuen Konditionen. DDR-Kinderbuchautoren zwischen Anpassung, Resi- gnation und Optimismus. In: 1000 und 1 Buch. Das Magazin für Kinder- und Jugendliteratur, Nr. 3, 1995, S. 6-12, hier: S. 6.

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literarischen System – vollständig zurück. Die kulturpolitischen Ereignisse der Wendezeit beenden nicht nur berufliche Karrieremuster, sondern effizie- ren auch einen eklatanten Stopp der Entwicklung einer ehemals erfolgrei- chen, auch im Westen Deutschlands gewürdigten Literatur. Seit der deutschen Wiedervereinigung existieren zahlreiche theoretische Abhandlungen und einzelne Untersuchungen, in denen die KJL der DDR speziell in ihren literarischen Strukturen analysiert wird. Im Jahr 2006 er- scheint das Standardwerk Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/ DDR. Von 1945–1990 als Teilband der Reihe Handbuch zur Kinder- und Jugend- literatur.8 Doch in beinahe allen einschlägigen Untersuchungen der Germa- nistik werden gesellschaftliche Hintergründe nur insoweit behandelt, wie es die Interdependenz von Text und Kontext erfordert. Die AutorInnen als Zeit- zeugInnen kulturhistorischer Ereignisse bleiben unberücksichtigt. Im Rah- men des Dissertationsprojekts findet eine Gruppe von sechs LiteratInnen Be- achtung, die als renommierte AkteurInnen der KJL-Szene agierten und als ZeitzeugInnen wichtige Informationen über literaturgeschichtliche und lite- ratursoziologische Geschehnisse bieten: Christa Kozˇik, Jutta Schlott, Peter Abraham, Uwe Kant, Wolf Spillner und Günter Saalmann. Mit der über- geordneten Forschungsfrage, welche Faktoren die Stabilität ihrer System- integration vor und nach 1989/1990 zentral beeinflussen, erfolgen eine re- konstruktive Fallanalyse, der Vergleich individueller Lebensläufe und eine zusammenfassende Theoretisierung der gewonnenen Ergebnisse. Auf diese Weise wird ein Einblick in bedeutsame historische Ereignisse offeriert, der letztendlich auch zu einem veränderten, erweiterten oder sogar neuen Text- verständnis der DDR-KJL verhelfen kann.

Der Fallvergleich

Im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen erfolgt eine ausschnittweise Darlegung des Fallvergleichs der sechs in die Dissertation einbezogenen Kinder- und JugendbuchautorInnen, die anhand der Erfahrungen und sub- jektiven Sichtweisen der Autorin Christa Kozˇik exemplifiziert und konkreti- siert wird. Die LiteratInnen weisen innerhalb des Subsystems KJL der DDR einen ho- hen literarischen Status auf, der unter anderem an Prämierungen, Wertschät- zungen der DDR-Literaturkritik, hohen Auflagenzahlen oder Nachauflagen ersichtlich wird. Ihnen ist unter anderem gemeinsam, dass sie aufgrund der veränderten Systemausrichtung nach 1989/1990 einen Wegbruch ihres bis

8 Rüdiger Steinlein; Heidi Strobel; Thomas Kramer (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR. Von 1945 bis 1990, Stuttgart, Weimar 2006.

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dahin renommierten Ansehens verzeichnen sowie ihre kinder- oder jugend- literarischen Tätigkeiten einschränken müssen. Wie aus den Forschungser- gebnissen hervorgeht, ist die Arbeitssituation der renommierten AutorInnen vor und nach 1989/1990 vorrangig durch die folgenden Bezugsfelder deter- miniert: a Lenkung literarischer Prozesse b Berufsprofil c Achtung des Autors Nachfolgend wird die inhaltliche Zusammensetzung dieser drei For- schungsaspekte ausschnittweise beleuchtet und konkretisiert.

Literarische Lenkungsprozesse

Textbezogene Lenkungsmechanismen in der DDR und der BRD haben alle sechs AutorInnen als zensurähnliche Interventionen erfahren, deren Rigi- dität sie nach 1989/1990 – als Resultat des systemkonstitutiven Merkantilis- mus – stärker wahrnahmen.

Literarische Lenkungsprozesse im Handlungssystem KJL der DDR Aufgrund der Geschlossenheit des DDR-Kommunikationssystems bestehen klare Interferenzen zwischen den erfahrenen Lenkungsmechanismen und dem grundsätzlichen literarischen Profil der sechs AutorInnen, das bei Christa Kozˇik, Günter Saalmann, Jutta Schlott und Wolf Spillner – zumindest partiell – zivilisationskritisch geprägt ist. Exemplarisch lässt sich bei Christa Kozˇik eine stetige Verstärkung ihres kritischen Textpotentials konstatieren. In ihrer 1980 veröffentlichten Erzählung Moritz in der Litfaßsäule moniert die Autorin das hohe erzieherische Leistungsverständnis der DDR, in Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983) plädiert sie für die Offenheit und Akzeptanz von Andersartigkeit und Fremdheit. Die kritische Textgestaltung kulminiert in ihrer zuletzt in der DDR produzierten und 1990 erschienenen real-phantasti- schen Erzählung Kicki und der König (1990), in welcher die sprechende Katze Kicki den König des Maienlandes dazu anleitet, die fatale politische Lage seines Landes zu erkennen und zu reformieren. Aufgrund ihrer Fähigkeit, die Wahrheit riechen zu können, ernennt der König diese zu seiner persönli- chen Beraterin. Kicki prangert existente Missstände an, öffnet ihm die Augen und unterstützt ihn bei den politischen Erneuerungen. Dabei zeigen sich dem erwachsenen Leser – als zweitem Adressaten – die Parallelen zwischen der Figur des Königs und dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker mehr als offensichtlich. Analog stellt sich der Hinweis auf das System der DDR in seltener Auffälligkeit und Vehemenz dar. Auf symbolischer Ebene

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erinnert das Maienland an die DDR, die gesellschaftlichen Missstände ver- weisen auf die im realsozialistischen Staat. So lässt Kozˇik Kicki bereits ein- gangs verkünden: »König, es stimmt, die Unfreundlichkeit im Lande wächst. Es wird viel gefeiert und wenig gelächelt. Stifte einen Orden und nenne ihn ›Schleife der Freundlichkeit‹. Schaffe deine vielen Leibwächter und Kam- merdiener ab. Das Mißtrauen im Lande darf nicht wachsen. Lass dich nicht dauernd fotografieren. Dein Bild muß nicht jeden Tag auf der ersten Seite sein, sonst nutzt sich dein Gesicht ab! Schaff die vielen Schilder im Lande ab. Die gute Sache wächst in den Herzen der Menschen und nicht auf dem Pa- pier. Fahre bei deinen Besuchen im Lande nicht nur die Straßen, die man dir vorschreibt. Dort wird immer alles poliert und geputzt. Manchmal streichen sie sogar den Rasen grün an und die Birkenstämme weiß. Fahre die anderen Wege, dann weißt du, wie es wirklich aussieht im Lande. Sieh dir die Lan- desblätter genauer an, sie schreiben zu viele Halbwahrheiten.«9 Das auch in Jutta Schlotts, Günter Saalmanns oder Wolf Spillners Werken eklatant hervorstechende Konfliktpotential basiert auf der literarischen An- passung an bestehende Systemmöglichkeiten. So verleiht Christa Kozˇik dem König des Maienlandes sympathische Charakterzüge, indem sie ihn als lie- benswürdig und lernfähig beschreibt. Auch im Falle verlagsinterner oder -externer Kontroversen suchen die AutorInnen die Ultima Ratio nicht in einem (verlags-)politischen Eklat. Sie verteidigen die literarische Textbrisanz gegen negierende Urteile des Verlags oder einschlägiger GutachterInnen, sie handeln aktiv – zum Beispiel durch die eigeninitiative Suche nach alternativen Lö- sungsmöglichkeiten – und offenbaren eine ausdauernde Strategie, die sich daran zeigt, dass sie eine Retardation des Veröffentlichungsprozesses akzep- tieren. Bereits im Jahr 1990 formuliert Christa Kozˇik in einem Interview über den Veröffentlichungsprozess ihres Manuskripts Kicki und der König (1990): »Ich war dann ziemlich böse und verbittert, als die Produktion des Buches im Verlag nicht voranging. [...] Es gab ein Bösachten. Es gab eben Leute, die sich dafür hergaben, unliebsame Manuskripte für den Verlag abzublocken. Mir wurde vorgeworfen, es ziele zu offensichtlich auf DDR-Verhältnisse.«10 Eigeninitiativ wendet sich Kozˇik aufgrund der offenkundigen Stagnation an den stellvertretenden Minister für Kultur Klaus Höpcke, der die Veröf- fentlichung ausdrücklich bejaht und vorantreibt. In einem Interview erinnert sich dieser lachend: »[...] manchmal wirkt so was eben auch, wenn der Ober- macker dann sagt: ›Nee nee, das ist schon in Ordnung.‹ Dann hören sie da- mit auf, nicht?«11

9 Christa Kozˇik: Kicki und der König, Berlin 1990, S. 15 f. 10 Leonore Brandt: Kicki und der König. Gespräch mit der Kinderbuchautorin Christa Kozˇik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Sonntag, 02.09.1990, S. 6. 11 Klaus Höpcke; Maria Becker: Das Ministerium für Kultur und Kinder- und Jugendliteratur. Interview (un- veröffentlichtes Manuskript), Berlin 04.02.2010.

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Die AutorInnen begreifen die erfahrenen Textinterventionen nicht als de- gradierenden oder als einen ihre Literatur beeinträchtigenden Vorgang. Ver- lagsinterne Konfrontationen finden in Auseinandersetzung mit Personen statt, die ihnen positiv vertraut sind. Textinterne Beschränkungen ermög- lichen noch immer die Veröffentlichung von Literatur nach selbst gesetzten Maßstäben, ein Prozess des Aushandelns, den Kozˇik so beschreibt: »Wer ein hohes Maß an zivilem Ungehorsam hatte und das auch begründete, der fand auch in höheren Ebenen [...] Verbündete. Das ist ja immer so, dass [...] also viele Zeitungen oder Medien oder auch Menschen, die wollen das Bild er- zeugen, wir waren alle nur unter dem Dogma. Das stimmte nicht.«12 In diesem Kontext verweisen auch Klaus Höpcke und die ehemalige Chef- lektorin des Kinderbuchverlags Berlin, Katrin Pieper, im Jahr 2010 rück- blickend auf die Existenz literarischer Freiräume, die sie unter anderem mit dem – im Vergleich zur Erwachsenenliteratur – zwangsläufig geringeren Po- tential der konfliktären Schlagkraft von KJL im Allgemeinen sowie dem für das Ressort KJL in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Minis- terium für Kultur zuständigen Richard Müller im Besonderen begründen. In einem Interview beschreibt Pieper Müller als Mitarbeiter, der »kommunika- tiv genug war, seine Position darzulegen, zu revidieren, zu verteidigen«13. Auch Klaus Höpcke bezeichnet ihn als engagiert und zugänglich: »Richard war richtig mit der Kinderliteratur verheiratet, nicht? Und hat sich wirklich gekümmert um die Autoren. [...] Wie er ihre Interessen wahrgenommen hat, ihre Sorgen auch erkannt hat, Bescheid wusste. Ja. Richard, das war ein guter Mann.«14 Auch Kozˇik hebt die Bedeutung Müllers heraus: »Es ist nicht immer so, dass da solche fiesen Typen saßen [...].«15 Kontroversen zwischen Kinder- buchverlag Berlin und Ministerium für Kultur stellen sowohl Höpcke als auch Pieper nicht in Abrede, doch weisen sie diesen keinen maßgeblichen Charakter des gesamten, recht engen, Verhältnisses zu. Pieper bezeichnet be- stehende Konfliktsituationen als »Ärgerlichkeiten« und fasst die Bindung als »problemlos, zuweilen auch hilfreich, in keinster Weise literaturverhin- dernd«16 zusammen. Literarische Lenkungsprozesse können im Rahmen eines erweiterten Zen- surbegriffs unter anderem auch durch Auftragsarbeiten definiert werden. Li- terarische Aufträge gelten als gängiges Verfahren der literarischen Produk- tion innerhalb des Kinderbuchverlags Berlin, mit denen auch die sechs AutorInnen konfrontiert werden. Dabei nehmen sie zum einen die Themen-

12 Christa Kozˇik; Maria Becker: Autorinneninterview (unveröffentlichtes Manuskript), Potsdam 20.09.2007. 13 Katrin Pieper; Maria Becker: Der Kinderbuchverlag. Interview (unveröffentlichtes Manuskript), Berlin 03.02.2010. 14 Höpcke; Becker 2010 (s. Anm. 11). 15 Kozˇik; Becker 2007 (s. Anm. 12). 16 Pieper; Becker 2010 (s. Anm. 13).

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schwerpunkte als unpolitisch wahr, zum anderen erfahren sie die Verteilung und Annahme als fakultatives Verhältnis.

Literarische Lenkungsprozesse im Handlungssystem KJL der BRD Eines der aus den Interviews gewonnenen Leitthemen der sechs AutorInnen umfasst die literarische Lenkung innerhalb des Handlungssystems KJL der BRD. Allgemeine literarische Lenkungsprozesse können hier in direkte (zum Beispiel in Form konkreter Texteingriffe) und indirekte (zum Beispiel in Form thematischer Verlagspräferenzen) Lenkungsprozesse differenziert werden. Die LiteratInnen betrachten diese als grundsätzlich vergleichbar mit dem be- stehenden Zensursystem der DDR – und partiell als stärker restriktiv. Denn verschwunden sind nun die noch in der DDR bestehenden Möglichkeiten des Aushandelns literarischer Konflikte. Gegenwärtig sehen sie sich in ein mer- kantiles Interaktionsfeld integriert, das Anpassung verlangt bzw., bei verwei- gerter Anpassung, eine gelungene Systemintegration ausschließt. Desgleichen verweist Katrin Pieper, die nach 1989/1990 weiterhin als Lektorin tätig ist, auf das veränderte Verhältnis zwischen Verlag und AutorInnen: »Es hört sich alles individueller an, aber letztendlich hat jeder Verlag sein Profil und will die Au- toren genau in den Kasten reinkriegen, wo sie hingehören, wenn sie ein Buch schreiben. Und da höre ich dann auch mit Entsetzen, dass die Lektoren dort sagen: Ach das gefällt uns nicht, schreiben sie das mal um. Diese Formulie- rung war vor der Wende im Kinderbuchverlag undenkbar. Ich hätte nicht sagen können, es gefällt mir nicht, [...] mal abgesehen jetzt von Qualität.«17 Eine signifikante Erfahrung der AutorInnen bezieht sich auf die allge- meine Verlagskritik an DDR-typischen Begriffen (zum Beispiel Konsum, Pioniergruppe) in neuverlegten Kinder- und Jugendbüchern, mit der eine Substitution oder Streichung einschlägiger Termini einhergeht. Dass jene Textänderungen nicht nur auf der Intention beruhen, das Leseverständnis kindlicher RezipientInnen erleichtern zu wollen, sondern auch auf den ver- meintlich ideologischen Bezugsrahmen zielen, macht Christa Kozˇik bereits an einer in den 1980er Jahren bestehenden Möglichkeit der Lizenzveröffent- lichung ihres phantastischen Kinderbuchs Der Engel mit dem goldenen Schnurr- bart (1983) deutlich. Unter anderem wird Kozˇik dazu angehalten, die Figur des DDR-Kosmonauten Sigmund Jähn durch den amerikanischen Astronau- ten Neil Armstrong zu ersetzen. Analog fällt die Namensgebung »Rotes Rat- haus« aufgrund des angeblich politischen Ursprungs – der faktisch historisch begründet ist – entsprechenden Beschränkungsmaßnahmen zum Opfer, die Kozˇik als »Bevormundung« und »arrogante Überheblichkeit«18 deklariert. Die Vertragsverhandlungen brechen daraufhin ab.

17 Ebd. 18 Kozˇik; Becker 2007 (s. Anm. 12).

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Die erfahrenen Grenzsetzungen stoßen insbesondere bei den AutorInnen Christa Kozˇik, Jutta Schlott und Wolf Spillner auf prononcierte Ablehnung. Christa Kozˇik stellt sich offenkundigen Texteingriffen bestmöglich entgegen, um ihren Anspruch auf literarische Selbstverwirklichung weiterhin erhalten zu können. Einschränkungen akzeptiert sie dann, wenn eine weitestgehende Identifikation mit – oder zumindest Akzeptanz – der jeweiligen Verlagsfor- derung vorliegt bzw. motivationale Faktoren wie der Wunsch nach kinder- literarischer Systemintegration oder monetäre Gesichtspunkte ihrem persön- lichen Anspruch auf literarische Selbstverwirklichung übergeordnet sind. Der Streichung DDR-spezifischer Begriffe versucht sie mit unterschied- lichem Erfolg vehement entgegenzuwirken: »Das musste dann eben alles aktualisiert werden.«19 Indirekte literarische Lenkungsprozesse wehrt Kozˇik konsequent ab. So behält sie auch nach 1989/1990 ihr literarisches Profil (»Zivilisationskritik«) bei und nimmt das mangelnde Interesse bzw. die Zurückweisung durch einzelne Verlage in Kauf. Kozˇik reflektiert: »So wie ich das jetzt eben oft erlebt habe nach der Wende: ›Schreiben Sie doch mal so eine Serie.‹ Zack zack. [...] So was kann ich nicht. Das will ich auch nicht. [...] Denn die Bücher, die die Kinder in die Hand kriegen, wenn sie klein sind, die prägen ja oft für das ganze Leben.«20 Als kontrastierendes Beispiel sticht hier insbesondere der Autor Peter Abraham hervor, der die erfahrenen Mechanismen als subtile Eingriffe be- zeichnet: »Es ist nicht so, dass ich ein völlig anderes Buch geschrieben habe. Aber es wurde dann immer so gelenkt, nicht?«21 Abraham affirmiert entspre- chende Maßnahmen aufgrund finanzieller Faktoren und seines stark ausge- prägten Wunschs auch nach 1989/1990 im KJL-System konstant veröffent- lichen zu können – eine Entscheidung, aus der – im Unterschied zu den anderen fünf AutorInnen – zumindest partiell eine literarische Unzufrieden- heit hervorgeht. So betont er wie folgt: »Das ist so wie nach einem äh/ nach ein/ nach einem durchsoffenen Nach/ äh Abend ja? Am nächsten Morgen kommt dann eben auch die Nachwirkung ne. Und dann ist das raus. Und dann denkt man: Na ja. Warum hast du diese Scheiße eigentlich reinge- schrieben ja? Warum hast du aus einem Krokodil einen Hasen gemacht.«22

Berufsprofil

In der DDR erfahren die AutorInnen aufgrund fester Verlagsanbindungen, Auflagen- und Honorargarantien, günstiger Vertragsbedingungen oder Pri- vilegien eine positive Wertschätzung in ihrem Beruf. Die nachwendezeitliche

19 Ebd. 20 Ebd. 21 Peter Abraham; Maria Becker: Autoreninterview (unveröffentlichtes Manuskript), Potsdam 21.09.2007.

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Situation ist bei einigen LiteratInnen insbesondere durch finanzielle Ein- bußen und Unsicherheit bestimmt. Christa Kozˇik verliert im Jahr 1991 ihre Anstellung bei der DEFA (Deutsche Film AG), sowohl ihr Gedichtband Tau- sendundzweite Nacht als auch ihre kinderliterarischen Texte Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983) und Kicki und der König (1990) zählen zu jenen Ti- teln, die aufgrund des geringen Gebrauchswerts auf Müllhalden entsorgt werden.23 Im Jahr 2001 kritisiert Kozˇik: »In einer Wegwerfgesellschaft wird alles zur Wegwerfware. [...] Aus geachteten Schriftstellern wurden plötzlich ›Müll-Literaten‹. Das war keine Qualitätsfrage, sondern einzig eine Markt- und Machtfrage. [...] Unwerte Literatur – unwerte Literaten. [...] Was für eine absurde, brutale Art von Zensur!«24 Der Verlust der bis dahin bestehenden Anbindung an den Kinderbuchver- lag Berlin und die Absenz neuer Kontakte führen bei vielen AutorInnen zu einer verstärkten Konzentration auf Lesereisen, die zum Beispiel Christa Ko- zˇik exemplarisch als »Möglichkeit des Überlebens«25, aber auch als Zeitver- lust hinsichtlich des Schreibens neuer Texte sowie als klare physische und psychische Belastung beschreibt. Die wahrscheinlich markanteste Veränderung nach 1989/1990 liegt in der Notwendigkeit eines aktiven Verhaltens, das sich in der aktiven Initiierung von Verlagskontakten ausdrückt. Einige der AutorInnen wie Jutta Schlott und Wolf Spillner lehnen diese Vorgehensweise ab. Andere dagegen akzep- tieren die neuen Arbeitsbedingungen, nehmen diese aber vor allem auf- grund der häufig geringen Resonanz primär negativ wahr. Die konsequente Anpassung an das neue Berufsprofil hängt stark mit der jeweiligen Toleranz- grenze im Kontext motivationaler Faktoren (zum Beispiel finanzieller Art) zusammen. Christa Kozˇik zeigt eine intensive Bemühung um die Veröffentli- chung ihrer Manuskripte bzw. ein eigenaktives Herantreten an Verlage – eine Situation, die sie als »Kämpfen«26 beschreibt. Kozˇik weigert sich, ihr literarisches Profil (zum Beispiel durch thematische Veränderungen) den heutigen Marktbedingungen anzupassen. In der stark zivilisationskritisch angelegten Fortsetzung ihrer phantastischen Erzählung Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983) versetzt sie die Figur des Engels in die aktuelle Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der BRD. Sehr bewusst fügt Kozˇik ihre Handlungsfiguren in ein schwieriges soziales Umfeld ein: Vater Karl wird durch die Wende arbeitslos, die Mutter ist täglich 16 Stunden als Kell- nerin tätig. Um die Familie finanziell unterstützen zu können, nutzt Engel

22 Ebd. 23 Vgl. Siegfried Lokatis: Die Hauptverwaltung des Leselandes. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 11, 2009, S. 23-31. 24 Christa Kozˇik: Erinnerung an ein Bücherdorf. In: SchriftZüge. Brandenburgische Blätter für Kunst und Lite- ratur, Nr. 1, 2001, S. 27-28, hier: S. 27. 25 Kozˇik; Becker 2007 (s. Anm. 12). 26 Ebd.

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Ambrosius seine Andersartigkeit für kommerzielle Werbezwecke. In der Schlussgestaltung inszeniert die Autorin eine deutliche Anspielung auf den ausländerfeindlichen Brandanschlag in Mölln 1992: Aus einem brennenden Haus rettet Ambrosius ein türkisches Mädchen, übergibt dieses den anwe- senden Menschen und fliegt für immer fort. Nach eigenen Schätzungen er- hält das bislang unveröffentlichte Manuskript 18 Verlagsabsagen, die Kozˇik in der Thematik begründet sieht: »Das ist zu bitter. [...] Die sagen mir dann glatt: ›Wissen Sie, wenn Sie über einen Schutzengel schreiben würden...‹ Ne? Nee, will ich nicht.«27 Aufgrund des nur geringen Systemerfolgs sinkt Kozˇiks Motivation, sich weiterhin bzw. dauerhaft um eine Integration in das KJL- System der BRD zu bemühen: »Man traut sich kaum noch, was wegzu- schicken, weil man immer Angst vor den Absagen hat.«28

Achtung des Autors/der Autorin (Umgangsformen)

Die sechs Kinder- und JugendbuchautorInnen der DDR nehmen eine expli- zite Veränderung ihrer Berufsrolle wahr, welche insbesondere die Achtung des Autors/der Autorin meint. Während die sechs LiteratInnen den verlags- internen Umgang innerhalb des Kinderbuchverlags Berlin als positiv be- schreiben, sind ihre Erfahrungen nach 1989/1990 gänzlich andere. Die Bezie- hung zu MitarbeiterInnen des Kinderbuchverlags ist vor allem geprägt durch gegenseitigen Respekt bzw. ein freundliches Klima sowie eine als fair wahrgenommene Zusammenarbeit. Die LiteratInnen beurteilen die Interak- tionen mit den ihnen übergeordneten, zensurverantwortlichen Personen wie dem Verlagsleiter Fred Rodrian oder der Cheflektorin Katrin Pieper als för- derlich oder zumindest nicht nachteilig für den eigenen literarischen Ent- wicklungsprozess. Dieses Faktum trifft auch auf solche AutorInnen zu, deren Texte neuralgische Stoffe bzw. Themen offenbaren. Sie beschreiben verlagsinterne Auseinandersetzungen als ärgerliche Konfrontationsbegeg- nungen, die sich dennoch in ein respektvolles und freundliches Verlagsklima einbetten. Auch Christa Kozˇik fühlt sich in ihrer Systemposition nicht miss- verstanden oder diskreditiert: »Das ist ja von einem Verlag eine große Mühe, die er sich gibt, seine Autoren irgendwie auch familiär zu binden.«29 Auch auf dem bundesdeutschen Kinder- und Jugendbuchmarkt sind die bestehenden Umgangsformen durch positive Erfahrungen determiniert (zum Beispiel Stipendien), doch herrscht eine klare Dominanz der Wahrneh- mung negativer Faktoren vor, die beinahe ausschließlich auf Interaktionen mit dem Verlagswesen beruhen:

27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd.

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a Verweigerung der Rückgabe von Buchrechten an ehemaligen DDR-Texten b Keine Rückmeldungen (zum Beispiel in Bezug auf mehrfache c postalische Anschreiben zwecks Rückerhalt von Buchrechten) d Fehlerhafte Honorarabrechnungen e Unzureichende Informationspolitik (zum Beispiel in Bezug auf den f Verkauf des Kinderbuchverlags Berlin 1992) g Durch Despektion geprägtes Gegenübertreten (partiell in Verbindung mit einer Missachtung des vorherigen literarischen Status) Vor allem diejenigen AutorInnen, die sich umfassend bzw. aktiv um eine Systemintegration bemühen, weisen einen hohen Erfahrungswert bezüglich negativ determinierter Umgangsformen auf. Christa Kozˇiks erinnerungsprä- gendste Erfahrung ereignet sich im Rahmen einer Vertragsverhandlung um das bereits in der DDR erfolgreich verlegte phantastische Kinderbuch Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983, insgesamt 3 Auflagen, Auflagen- höhe 20 000). Weil der Verlag den Buchtitel als verkaufshemmend einschätzt, soll dieser durch einen neuen substituiert werden – eine Situation, die Kozˇik wie folgt erinnert: »Ja aber Frau Kozˇik. Wir müssen einen besseren Titel fin- den. Die Praktikantin sitzt schon dran, hat schon bessere Titelvorschläge.«30 Christa Kozˇik beurteilt den entsprechenden Hinweis als anmaßend und bricht die bestehenden Verhandlungen ab: »Für mich ist der Fakt demütigend: eine Praktikantin findet einen ›besseren‹ Titel als die Autorin des bekannten Buches.«31 Alle sechs AutorInnen äußern in Abwägung ihrer persönlichen Grenzen (Akzeptanz der Umgangsformen, Verteidigung des literarischen Selbstverständnisses) aktive Handlungsstrategien, die insbesondere bei Christa Kozˇik, Jutta Schlott und Wolf Spillner abweisende Reaktionen um- fassen.

Zusammenfassung

Ein Blick auf die Restriktionen des kinder- und jugendliterarischen Buch- markts macht die Subtilität der gegenwärtigen Arbeitsbedingungen offen- kundig. Im Jahr 2006 betont der Zensurforscher Bodo Plachta, dass sich »zensurähnliche Eingriffe [...] in Redaktionen, Lektorate oder Gremien un- terschiedlichster gesellschaftlicher Institutionen«32 verlagern würden. Also tatsächlich »Von der Zensur der Partei in die Zensur des Marktes?«33 In sei- nem Beitrag »Das Wechselspiel von Selbstzensur und Literaturlenkung in

30 Ebd. 31 Christa Kozˇik: Verlagskorrespondenzen 2003-2004 (unveröffentlicht). 32 Bodo Plachta: Zensur, Stuttgart 2006, S. 218. 33 Peltsch 1995 (s. Anm. 7), S. 12.

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der DDR« hebt Manfred Jäger die essentielle Rolle der Literaten und ihre Selbsttätigkeit im Zensursystem der DDR hervor: »Am Ende lief alles auf Selbstzensur hinaus, denn der Urheber des Textes mußte billigen oder billi- gend in Kauf nehmen, was ihm mit sanftem oder kräftigem Druck vorge- schlagen wurde. Auch in der konkreten Auseinandersetzung um ein Manu- skript, ja um ein einzelnes Wort, setzte sich formell Selbstzensur fort.«34 Jägers Argumentation bietet die Möglichkeit einer denkwürdigen Paralle- lisierung der Systemkonstitution der KJL in der DDR und BRD, die sich in der Begrenzung literarischer Schaffensprozesse ausdrückt – einerseits partei- politisch, andererseits marktwirtschaftlich determiniert. Die starke Abhän- gigkeit von den gegenwärtig bestehenden Marktanforderungen und die da- mit zwangsläufig einhergehende Form der Selbstzensur sieht auch Horst Heidtmann in seiner Analyse des aktuellen Kinderbuchmarkts als gegeben an: »Politisches und/oder ästhetisches Engagement kann sich ein Autor nur noch erlauben, wenn dies mit ohnehin im Markt vorhandenen oder sich ab- zeichnenden Trends einhergeht. Ambitionierte Autoren stellen ihr Engage- ment zurück, müssen notgedrungen Serien [...] über Kinderdetektive, Pferde oder erste Liebe schreiben. Themenvorschläge oder Manuskripte werden – natürlich – abgelehnt, wenn die Verleger sie für nicht hinreichend trendkon- form halten, ungeachtet ihrer literarischen Qualität.«35 Die sechs AutorInnen nehmen die literarischen Beschränkungen als eine neue Form der Zensur wahr und vergleichen diese mit ihren persönlichen Eindrücken im Handlungssystem KJL der DDR. Einschlägige Sichtweisen und Erfahrungen werden durch die Konfrontation mit neuen Anforderun- gen des kinder- und jugendliterarischen Berufsprofils sowie veränderten Umgangsformen komplettiert, die sich in einer nur geringen Achtung des Autors/der Autorin erschließen. Die diffizilen Integrationsbedingungen schaffen Systemfremdheit und begründen den faktischen Systemausschluss eines Großteils renommierter Kinder- und JugendbuchautorInnen der DDR.

34 Manfred Jäger: Das Wechselspiel von Selbstzensur und Literaturlenkung in der DDR. In: Ernest Wichner; Herbert Wiesner (Hrsg.): »Literaturentwicklungsprozesse«. Die Zensur der Literatur in der DDR, Frankfurt am Main 1993, S. 18-49, hier: S. 36. 35 Horst Heidtmann: Der Kinder- und Jugendbuchmarkt. In: Malte Dahrendorf (Hrsg.): Kinder- und Jugend- literatur. Material, Leipzig 1995, S. 8-16, hier: S. 11 f.

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BILDUNG

Bettina Schmidt

Brüche, Brüche, Widersprüche … Begleitende Forschung emanzipatorischer politischer Bildungsarbeit in der Schule1

Einleitung

Das Bildungssystem in Deutschland ist dadurch gekennzeichnet, dass sehr gegensätzliche Ansprüche miteinander korrelieren: demokratische Ansprüche an Chancengerechtigkeit und inklusive Bildung, der pädagogische An- spruch, den individuellen Lern- und Entwicklungsprozess jedes einzelnen Kindes zu fördern, sowie Anforderungen an das Schulsystem, die mit den Begriffen der Selektion, Qualifikation und Legitimation gefasst werden und die Funktion der gesellschaftlichen Reproduktion erfüllen. Hinzu kommt, dass Schule zunehmend für den Ausgleich gesellschaftlicher Missstände in Verantwortung gezogen wird. Die aktuelle Entwicklung hin zu international vergleichbaren Bildungsstandards verläuft diametral zum zunehmenden Druck an die »autonomen« Einzelschulen, sich durch ein besonderes Schul- profil im Wettbewerb mit anderen Schulen zu beweisen. Die widersprüchlichen Erwartungen, Positionen und Entwicklungen fin- den ihren Niederschlag in den Alltagserfahrungen der Subjekte in Schule. Die Frage, welche Widersprüche von den Subjekten erlebt werden und welche Möglichkeiten sie haben, sich innerhalb des Systems Schule handelnd zu und in diesen Widersprüchen zu verhalten, steht im Zentrum meiner Dissertation. Im Rahmen dieses Artikels stelle ich in erster Linie mein Forschungsvor- haben sowie den aktuellen Stand meiner Forschung vor. Daran anschließend diskutiere ich die Frage, in welcher Form sich strukturelle Widersprüche in Positionen und im Handeln von Subjekten an Schule – ich eingeschlossen – realisieren und verstetigen.

1 Dieser Artikel ist in ähnlicher Form bereits veröffentlicht in: Rudolf Leiprecht (Hrsg.): Diversitätsbewusste Soziale Arbeit, Schwalbach/Ts 2011. Der hier vorliegende Artikel zeichnet sich durch »mehr Aktualität«, also die Darstellung des Prozesses der Begleitforschung bis zu ihrem Abschluss aus.

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Beschreibung des Forschungsvorhabens

Gegenstand und Fragestellung Im Zentrum meines Vorhabens stehen die Erfahrungen eines vom Bund ge- förderten Projektes, welches mit Methoden des Anti-Bias-Ansatzes (Anti- Diskriminierungsarbeit) und des Betzavta-Konzeptes (Programm zur Demo- kratie-, Menschenrechts- und Toleranzentwicklung) unter Einbeziehung der Perspektive der Kinderrechte mit Schüler_innen, Lehrer_innen, Hortmitar- beiter_innen und Eltern an vier Grundschulen in einer Großstadt in Deutsch- land umgesetzt wurde. Das Projekt steht zwar im Zentrum meines Vorhabens, wird von mir aber nicht in Form einer Wirkungsanalyse untersucht. Vielmehr konstituiert das Projekt das Forschungsfeld, in dessen Rahmen ich nach den Möglichkeiten der Erweiterung der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen der Sub- jekte von Schule frage. Mich interessieren die subjektiven Handlungsmöglich- keiten sowie die strukturellen Begrenzungen in der (Mit-)Gestaltung in Schule in der Form, wie sie von den am Projekt beteiligten Subjekten erlebt und erfah- ren werden. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die je subjektiven Begründungen, mit denen das eigene Handeln im schulstrukturel- len Rahmen erklärt wird. Denn in subjektiven Begründungen wird Bezug genommen auf die umgebenden Bedingungen, die für das eigene Handeln Be- deutung erhalten. Mein Gegenstand ist also weder das Projekt noch die Pro- jekthandelnden als solche, sondern deren subjektives Erleben ihrer schuli- schen Lebensumwelt. Ich orientiere mich am Subjektbegriff der Kritischen Psychologie, demnach die Subjekte weder als durch gesellschaftliche Bedin- gungen vollkommen determiniert noch als absolut frei, losgelöst von den sie umgebenden Bedingungen gefasst werden. Diese Konzeption ermöglicht es mir, Subjekte in ihrer jeweiligen Verstrickung in gesellschaftliche Verhältnisse und ihrer Beteiligung an deren Aufrechterhaltung ebenso in den Blick zu neh- men wie die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten. Das Ziel meiner Arbeit umfasst drei verschiedene Dimensionen: Die erste Zieldimension war konkret auf die kritisch unterstützende Begleitung des Projektes durch die Initiierung und Gestaltung von Räumen zur gemeinsa- men Reflexion der eigenen Praxis mit den Projektbeteiligten gerichtet. Die zweite Zieldimension bezieht sich auf Schlussfolgerungen, die von dem kon- kreten Projekthandeln zu verallgemeinern versuchen, wie politische Bil- dungsarbeit – mit dem Anti-Bias-Ansatz – an Schule strukturell behindert und strukturell ermöglicht wird. Die dritte Zieldimension umfasst die Ein- ordnung der Erfahrungen aus Projekt und Forschung in den Kontext von (Debatten zu) aktuellen Prozessen der Schulentwicklung. Meine Forschung stelle ich mit diesen unterschiedlichen Zieldimensionen also nicht nur in den »Dienst wissenschaftlicher Erkenntnis«, sondern beanspruche idealerweise

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ebenfalls, politisch-praktische Veränderungsprozesse zu begleiten bzw. zu unterstützen.

Theoretischer Rahmen Ich beabsichtige – entsprechend der Grounded Theory – von meinen Feld- erfahrungen und Daten ausgehend theoretische Aussagen zu treffen. Den damit verbundenen Anspruch der Offenheit gegenüber Feld und Daten ver- stehe ich nicht als Einladung zur Leugnung bestehender Vorerfahrungen und -kenntnisse, sondern vielmehr als Anregung, existierende Vorbegriffe in ihrer Bedeutung für die eigene Perspektive mit zu reflektieren und den theo- retischen Bezugsrahmen, in dem ich mich scheinbar selbstverständlich be- wege, transparent zu machen. In meiner Forschung erachte ich insbesondere meine praktischen und theoretischen Erfahrungen mit dem Anti-Bias-Ansatz als relevant, meine persönlichen Erfahrungen im Schulalltag als Schülerin und als nebenamtliche Mitarbeiterin sowie theoretische Auseinandersetzun- gen im Rahmen meines Studiums, z. B. mit Rassismusforschung, feministi- schen Theorien, postkolonialen Studien, Kritischer Psychologie etc. Diese Auseinandersetzungsgrundlage spiegelt sich einerseits in den theoretischen Bezugspunkten wider, die sich allein aus der Wahl meines For- schungsfeldes ergeben: subjektorientierte Bildungsarbeit, Schulentwick- lung(sdebatten), Anti-Diskriminierung, Demokratie und Kinderrechte. An- dererseits beeinflusst dieser Erfahrungshintergrund mehr oder weniger offensichtlich meine Haltung zu und meinen Blick auf (Bildungsarbeit an) Schule. Die dargestellten Positionierungen (Tabelle 1) sind ein Versuch, die Vorannahmen zu skizzieren, mit denen ich meine Forschung begonnen habe. Die hier versuchte Transparenz von Voreingenommenheiten stellt nur ei- nen kleinen Ausschnitt einer notwendigen Selbstreflexivität im Forschen dar. Hier ermöglicht sie mir, mein Forschungshandeln und meine Interpretati- onsleistungen in einem begrenzten Maße kontinuierlich kritisch auf meine Deutungsmuster und Positionen hin zu hinterfragen und den Blick für alter- native Interpretationsmöglichkeiten zu öffnen.2 Konkret verdeutlicht diese Rekonstruktion meinen vorwiegend kritisch-skeptischen Blick auf Schule und gibt mir Gelegenheit, ihn dahingehend zu erweitern, dass gerade auch die gegebenen Möglichkeiten im Schulsystem für mich sichtbarer werden. Demgegenüber sehe ich durch das Ausblenden bestehender Voreingenom- menheit die Gefahr, dem vielfach kritisierten Mechanismus zu unterliegen, bereits vorbestimmte Erkenntnisse zu erzielen.

2 Meine Perspektive und mein Handeln sind auch durch Bilder und Annahmen beeinflusst, die mir nicht (im- mer) zugänglich oder bewusst sind – wie etwa die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, die aus meiner privilegierten Position als Forschende im Rahmen gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse allgemein und im wissenschaftlichen Feld insbesondere resultieren und diese aufrechterhalten.

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Tabelle 1

1. Wahrnehmung von Schule als Teil eines diskriminierenden Bildungs- systems, was sich beispielsweise in Strukturen wie der Viergliedrigkeit ebenso ausdrückt wie im Umgang mit Mehrsprachigkeit. 2. Annahme, dass aktuelle neoliberale Tendenzen der Schulentwicklung Bil- dungsprozesse nicht gerechter, sondern ausschließender und spaltender gestalten. 3. Einsicht in und Empathie für die Situation von Lehrenden in Schule, die all- täglich vor der Herausforderung stehen, die Spannung widersprüchlicher gesellschaftlicher und pädagogischer Ansprüche auszutarieren und Hand- lungsspielräume im Rahmen erlebter struktureller Zwänge zu nutzen. 4. Wahrnehmung vielfältigen Schüler_innen-Verhaltens – welches medial ausgiebig diskutiert, aber selten in Zusammenhang mit der Verände- rungsnotwendigkeit von Schulstrukturen gebracht wird – als Widerstand gegen ihr Unterdrücktwerden als Lernende und die kontinuierliche Er- fahrung der Unterlegenheit als »noch-nicht-Erwachsene« (Adultismus). 5. Kritik an Maßnahmen politischer Bildungsarbeit an Schule, die unter dem Label »Gewaltprävention«, »antirassistisch«, »interkulturell«, »Demokratie- förderung«, »Gegen Rechtsextremismus« o. Ä. gefördert werden und auf einmalige Arbeitseinheiten mit Schüler_innen zu ihrem sozialen Mitein- ander in der Klasse und an ihren vermeintlich »falschen« Einstellungen beschränkt bleiben, ohne dass Ausgrenzungsstrukturen mit in den Blick genommen werden – der Widerspruch wird nicht transparent gemacht. 6. Anerkennung von Schule als einem sehr bedeutungsvollen Lebensraum für die einzelnen Subjekte in der Gesellschaft und die Hoffnung, dass Schule ein Ort sein kann, in dem alle gleichermaßen die Möglichkeit er- halten, ihre je individuellen Lernprozesse in ihrem Tempo zu gestalten und dabei Unterstützung erfahren.

Methodische Anlage Die methodische Grundlage meiner Forschung ist die subjektwissenschaft- liche Forschung (1). Darüber hinaus fungieren die Grounded Theory (2) sowie die Handlungsforschung (3) als weitere Orientierungspunkte, auf die ich Be- zug nehme. (1) In Abgrenzung zur Fokussierung der traditionellen Psychologie auf die Bedingtheit der Menschen beansprucht die aus der Kritischen Psycholo- gie (KP) hervorgegangene subjektwissenschaftliche Forschung, die objektive Bestimmtheit und die subjektive Bestimmung von Menschen in der Form zu berücksichtigen, dass sie Menschen nicht nur als den eigenen Lebensverhält- nissen unterworfen, sondern auch als diese produzierend begreift und somit

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der Möglichkeit der Veränderung von Bedingungen Rechnung trägt.3 Die methodischen Konsequenzen dieses Anspruches werden in der Abgrenzung zu experimentell-statistischen Untersuchungsverfahren der traditionellen Psychologie deutlich, die sich darauf beschränken, Menschen in ihrer Reak- tion auf bestimmte Bedingungen zu untersuchen (Bedingungs-Ereignis-Ana- lyse). Die subjektwissenschaftliche Kritik bezieht sich auf das Ausblenden der Subjektivität zu Gunsten wissenschaftlicher Objektivität, welcher das Kriterium der Gegenstandsadäquatheit entgegengehalten wird. Gegenstand einer subjektwissenschaftlichen Forschung sind nicht die Subjekte selbst, sondern die Welt, wie sie von den Subjekten erfahren wird, also die subjek- tive Bedeutung konkreter Lebensumstände und die Möglichkeiten und Be- hinderungen einer bewussten Einflussnahme auf sie.4 Objektivität bedeutet dann die Objektivierung des Subjektiven aller am Forschungsprozess Betei- ligten.5 Diese werden von den Forschenden nicht als Be- oder Erforschte ob- jektiviert, sondern als Mitforschende aktiv in die Analyse einbezogen.6 In Form einer Bedingungs-Bedeutungs-Begründungsanalyse wird von konkre- ten Handlungsproblematiken ausgegangen und der Fokus auf die subjekti- ven Handlungsbegründungen gerichtet, über die rekonstruierbar wird, wel- che Bedingungen für das eigene Handeln Bedeutung erlangen und zu Prämissen des eigenen Handelns werden.7 Eine Orientierung für eine solche Analyse ist in der vierschrittigen ideal- typischen Entwicklungsfigur8 konzipiert, die den subjektwissenschaftlichen Anspruch auf Einheit von Praxis und Erkenntnisgewinn zum Ausdruck bringt (Tabelle 2).9

3 Vgl. Morus Markard: Die Entwicklung der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft. Theoretische und methodische Fragen, Vortrag in Erlangen am 24. Februar 2000, S. 29 ff. http://www.kritische-psycholo- gie.de (http://tinyurl.com/6zmmroz; 01.01.2011); Klaus Holzkamp: Der Mensch als Subjekt wissenschaft- licher Methodik, Vortrag in Graz, März 1983, S. 4 f. http://www.kritische-psychologie.de (http://tinyurl.com/6artotc; 01.01.2011). 4 Vgl. Ute Osterkamp: Anmerkungen zur kritischen Psychologie als Subjektwissenschaft. In: Sonderpiranha, Berlin 2000, S. 36. 5 Vgl. Klaus Holzkamp: Selbsterfahrung und wissenschaftliche Objektivität: Unaufhebbarer Widerspruch? Grundsatzreferat, Marburg 1984, S. 10. http://www.kritische-psychologie.de (http://tinyurl.com/68orz6g; 01.01.2011). 6 Vgl. Morus Markard: Einführung in die Kritische Psychologie, Hamburg 2009, S. 276. 7 Vgl. Morus Markard: Kritische Psychologie. Methodik vom Standpunkt des Subjektes. In: FQS, Vol. 1, No 2, Art. 19, Berlin 2000, Abs. 11 ff. http://www.qualitative-research.net (http://tinyurl.com/5r83dxh; 01.01.2011). 8 Diese Entwicklungsfigur kann in jeder der Instanzen auch scheitern, was in der Stagnationsfigur systemati- siert und gleichermaßen als bedeutungsvoll für wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn anerkannt ist. Vgl. Johannes Geffers: Alles typisch? Typus, Typologie, Typen der Verallgemeinerung, empirische Typenbildung und typische Möglichkeitsräume. In: Huck; Lorenz et al.: Abstrakt negiert ist halb kapiert. Beiträge zur mar- xistischen Subjektwissenschaft, Marburg 2008, S. 264 f. 9 Vgl. Klaus Holzkamp: Über den Widerspruch zwischen Förderung individueller Subjektivität als For- schungsziel und Fremdkontrolle als Forschungsparadigma, Vortrag in Leipzig 1990. http://www.kritische-psychologie.de (http://tinyurl.com/6k6686l; 01.01.2011); vgl. Markard 2009 (s. Anm. 6), S. 282 ff.

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Tabelle 2

1. Identifizierung problematischer Situationen durch die qualifizierte Forschende. 2. Rückvermittlung an die mitforschenden Subjekte; gemeinsames Erkennen alternativer Möglichkeiten zur Problemüberwindung. 3. Umsetzung (Realitätsüberprüfung an der Praxis). 4. Gemeinsame Reflexion.

Ziel subjektwissenschaftlicher Forschung ist zum einen die Erweiterung der Verfügung über die Lebensbedingungen im Sinne realer Veränderungen von Verhalten und Verhältnissen. 10 Zum anderen geht es um Aussagen vom ver- allgemeinerten Subjektstandpunkt über gesellschaftlich vermittelte Hand- lungsmöglichkeiten, was mit dem Begriff der Möglichkeitsverallgemeine- rung11 umschrieben wird.12 (2) Die Grounded Theory Methode (GTM) verstehe ich weniger als konkre- tes Forschungsverfahren, vielmehr als Forschungsstil, der sich im Rahmen qualitativer Sozialforschung zunehmend etabliert hat.13 Mit der Darstellung dessen, wie ich mir die Kriterien der theoretischen Sensibilität und der »re- flektierten Offenheit«14 angeeignet habe, bin ich bereits darauf eingegangen, inwiefern die GT als Forschungsstil für meine Arbeit bedeutungsvoll ist. Meine Orientierung an dem Forschungsverfahren der GT findet sich in einem spiralförmigen Forschungsprozess von Erhebung und Auswertung wieder, in dem eine datenverankerte Theorie entwickelt wird. Darüber hinaus stel- len das spezifische Kodier-15 sowie das Samplingverfahren16 für mich wesent- liche Bezugspunkte der GTM dar. Über diese Kriterien der GTM hinaus erachte ich die bereits angespro- chene Subjektivität/Reflexivität als wesentliche Voraussetzung für einen Forschungsprozess im Sinne der GTM, die sich in Methodologie, Methoden- anwendung und der generierten Theorie wiederfinden sollte.17

10 Vgl. Osterkamp 2000 (s. Anm. 4). 11 Vgl. Geffers 2008 (s. Anm. 8). 12 In der KP wird nicht von Häufigkeits-, sondern von struktureller Verallgemeinerung gesprochen: Der Ein- zelfall stellt eine spezielle Form eines allgemeinen Falles dar. Die besonderen Bedingungen des Einzelfalles werden berücksichtigt. – Vgl. Holzkamp 1984 (s. Anm. 5), S. 12. 13 Zur Entwicklung und Rezeption der GT vgl. Günter Mey; Katja Mruck: Grounded Theory Methodologie – Be- merkungen zu einem prominenten Forschungsstil. In: Dies. (Hrsg.): Grounded Theory Reader, Köln 2007, S. 17. 14 Franz Breuer: Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis, Wiesbaden 2009, S. 29. 15 In der GTM werden unterschiedliche Kodierphasen differenziert. Vgl. ebd., S. 74 ff. Zu den Unterschieden bei Strauss und Glaser vgl. Mey; Mruck 2007 (s. Anm. 13), S. 25 ff. 16 Mit theoretischem Sampling ist der fortlaufende Prozess der Datenerhebung gemeint, in dem entschieden wird, welche Daten als nächste erhoben oder erneut ausgewertet werden. Vgl. auch Inga Truschkat; Manu- ela Kaiser; Vera Reinartz: Forschen nach Rezept? Anregungen zum praktischen Umgang mit der Grounded Theory in Qualifikationsarbeiten. In: FQS. Volume 6, No. 2, Art. 22, 2005, Abs. 20 und 41 ff. 17 Vgl. Mey; Mruck 2007 (s. Anm. 13), S. 13 f.; Breuer 2009 (s. Anm. 14), S. 115 ff.

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Breuer beschreibt die Aufgabe von Forschenden als ständige Hin- und Herbewegung zwischen einem »Sich-Einlassen« auf die Kontakte im Feld als Person und einem »Distanz-Nehmen« (Dezentrierung) zum Feld in der Rolle als Forschende.18 Die GTM fasst Forschen als konkrete Tätigkeit, bei der die forschenden Personen als Subjekte dieser Tätigkeit in einem interaktiven Verhältnis mit den Beteiligten stehen. Die GT grenzt sich vom wissenschaft- lichen Ideal der Objektivität der Erkenntnis ab und betont demgegenüber die Subjektgebundenheit der Erkenntnis, welche durch Reflexion einbe- zogen, statt zu leugnen versucht wird. Eine Grundannahme ist, dass Wirk- lichkeit nicht beobachtet werden kann, ohne dass sie durch die eigene Anwe- senheit beeinflusst ist. »Störungen« im Feld und an den Beobachtenden sind zu reflektieren, um sie nutzbar zu machen für den subjektiven Erkenntnis- gewinn.19 Die dargestellten Aspekte der KP und der GT sind für mein Vorhaben re- levant und handlungsleitend. Die Anschlussfähigkeit der beiden Ansätze er- gibt sich aus mindestens vier gemeinsamen Grundannahmen, an denen ich mein Vorgehen orientiere (Tabelle 3).20

Tabelle 3

• Beide Forschungsrichtungen betonen die Gegenstandsadäquatheit im Gegensatz zur wissenschaftlichen Objektivität als zentrales Kriterium der Forschung. • Beide Forschungsrichtungen beschreiben zirkuläre Forschungsprozesse, verstanden als Wechselbewegungen von Datenerhebung und Datenauswertung. • Beide Forschungsrichtungen betonen die aktive Rolle der Menschen und fokussieren auf den Zusammenhang von Bedingungen, Bedeutungen und Handeln. • Beide Forschungsrichtungen sind durch die Orientierung am Prozess, der eine enge Verknüpfung von Theorie, Methodologie und Praxis vorsieht, gekennzeichnet.

(3) Als subjektwissenschaftliche Forschung lässt sich mein Vorhaben auch im Rahmen von Aktions- und Handlungsforschung verorten. In Schule beson- ders verbreitet ist eine Aktionsforschung, die sich allerdings in zweierlei Hinsicht von meinem Forschungsvorgehen und -anspruch unterscheidet:

18 Vgl. Breuer 2009 (s. Anm. 14), S. 140. 19 Ebd., S. 123 f. Zu Notwendigkeiten und Grenzen von wissenschaftlicher Reflexivität vgl. Pierre Bourdieu: Narzißtische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexivität. In: Eberhard Berg; Martin Fuchs (Hrsg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt am Main 1995, S. 365-374. 20 Eine Diskussion von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Möglichkeitsverallgemeinerung in der Kriti- schen Psychologie und der GTM findet sich bei Markard 2009 (s. Anm. 6), S. 295 ff.

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Erstens wird Aktionsforschung häufig in der Form eingesetzt, dass die Leh- renden selbst ihren Unterricht beforschen; zweitens zielt eine solche Aktions- forschung darauf, Abläufe in Schule zu erleichtern, nicht aber Strukturen zu verändern. Im Gegensatz zur subjektwissenschaftlichen Handlungsfor- schung steht die Aktionsforschung damit eher im Dienste der Institution und zielt weniger auf die Kritik und Veränderung von Verhältnissen. Ulrike Schneider stellt die »Integrationsstrategie« der Aktionsforschung der »Eman- zipationsstrategie« der Handlungsforschung in der KP gegenüber.21 Im wissenschaftlichen Feld in Deutschland wird Handlungsforschung nach einer breiten Rezeption in den 1970er Jahren wegen fehlender theoreti- scher Reflexion sowie aufgrund des doppelten Forschungsanspruches von wissenschaftlicher Erkenntnis und Praxisveränderung kritisiert. Auch wenn ich mich in meiner Forschung in aus diesem Doppelanspruch folgenden Loyalitäts-, Interessens- und Rollenkonflikten befand, nehme ich diese Kritik auch als ein Festhalten an vermeintlichen Objektivitätsansprüchen und Legi- timationsbemühungen wahr. Für mich erscheint die Positionierung zur Handlungsforschung damit nicht nur durch das Erleben der benannten Schwierigkeiten herausfordernd, sondern auch durch die notwendige Recht- fertigung dieser Forschung im wissenschaftlichen Feld. Mit ihren ebenfalls politischen und emanzipatorischen Absichten ist die Handlungsforschung für mein Vorhaben in jedem Fall eine wichtige Grund- lage. Für eine abschließende Positionierung sind für mich neben den For- schungsarbeiten von Ulrike Schneider die von Bernd Hackl22 relevant, da sie die Handlungsorientierung der Kritischen Psychologie im Feld von Schule und Erziehungswissenschaft zu konkretisieren und dem kritisierten Fehlen theore- tischer Konzepte der Handlungsforschung etwas entgegenzusetzen vermögen.

Vorgehen und Stand meiner Forschung

Im Frühjahr 2009 habe ich meine forschende Tätigkeit im Feld aufgenom- men. Von einer sehr offenen Herangehensweise in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung der Begleitung des Projektes entwickelte ich im Forschungs- prozess zwei entscheidende Fokussierungen: Erstens habe ich zwar an allen Standorten Beobachtungen durchgeführt, meinen Fokus alsbald aber auf einen Standort und eine Klassengemeinschaft gerichtet. Die Konzentration

21 Ulrike Schneider: Sozialwissenschaftliche Methodenkrise und Handlungsforschung. Methodische Grund- lagen der Kritischen Psychologie 2, Frankfurt am Main 1980, S. 22. – Ich spreche im Folgenden mit Ulrike Schneider daher von Handlungsforschung, um dieser Differenzierung Rechnung zu tragen. 22 Vgl. Bernd Hackl: Forschung für die pädagogische Praxis. Texte zur Schultheorie und Unterrichtsforschung, Innsbruck 1994; Helene Babel; Bernd Hackl: Deliberative Erkenntnisgewinnung. Wie kann Schulentwick- lungsforschung an Komplexität und Widersprüche der schulischen Handlungssituation angepasst werden?, 2004. http://homepage.univie.ac.at (http://tinyurl.com/5wuhq9z; 01.06.2011).

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auf einen Standort resultierte aus meinem Forschungsanspruch und -design, Praxisprozesse intensiv zu begleiten, was als Einzelperson nicht an verschie- denen Standorten in der gleichen Zeitspanne leistbar war. Zweitens gewannen die Reflexionen mit den Mitarbeiter_innen des Pro- jektteams als Mitforschenden an Bedeutung, unter anderem weil in diesem Verhältnis tatsächlich von einem gemeinsamen Forschungsinteresse gespro- chen werden kann. Außerdem liefen in diesen Reflexionen ihre verschiede- nen Praxis- und Projekterfahrungen zusammen und ermöglichten es, sowohl konkrete und strukturelle Handlungsalternativen anzudenken als auch ver- allgemeinernde Überlegungen in Bezug auf politische Bildungsarbeit (insbe- sondere Anti-Bias-Arbeit) in Schule zu entwickeln. In geringerer Intensität habe ich dennoch auch die Kinder und in Schule tätigen Pädagog_innen als Expert_innen für ihre Subjektpositionen in Schule angesprochen und auch hier gewonnene Erkenntnisse begrenzt in die Reflexion mit dem Projektteam einfließen lassen. Meine konkrete kritisch-unterstützende Begleittätigkeit des Projektes (Ziel 1) fand demnach auf zwei Ebenen statt: Auf der Ebene der Praxisbeglei- tung organisierte ich Reflexionsgespräche und Rückmeldemöglichkeiten mit der Absicht, dass meine Theoretisierungen sowie gemeinsam mit den Mit- forschenden gewonnene Einsichten in die Praxis Eingang finden. Auf der Ebene der Projektbegleitung ging ich ausschließlich mit dem Projektteam in die Reflexion mit der Absicht, dass hier gewonnene Erkenntnisse in weitere Projektplanungen sowie die eigene außerschulische Bildungspraxis an Schule einfließen. Im Folgenden werde ich mein Vorgehen darstellen, welches sich im Prozess Erhebung und (gemeinsamer) Auswertung entwickelt hat und durch das ständige Hin und Her von »im Feld sein« und »aufs Feld blicken« – auch mich im Feld! – gekennzeichnet war. Ausgangspunkt meiner Praxisbegleitungen waren teilnehmende Beob- achtungen in Unterrichtseinheiten, Projektwochen und bei Projektschul- tagen. Die Beobachtungsprotokolle wertete ich mit Hilfe des offenen Kodierens aus und wählte für Reflexionsgespräche mit den beteiligten Pädagog_innen Auszüge aus, anhand derer sich Problematiken aus der jeweiligen Praxis aufgreifen und reflektieren ließen. Auf der Grundlage der gemeinsamen Probleminterpretation wurden Handlungsmöglichkeiten für die Praxis formuliert. Die beteiligten Pädagog_innen erprobten diese an der Wirklichkeit, während ich das gemeinsame Reflexionsgespräch in Hin- blick auf formulierte Handlungsmöglichkeiten und Begründungsmuster auswertete. An einem Standort wurden in einem abschließenden Rück- meldungsgespräch die praktischen Erfahrungen der Pädagog_innen den theoretisch formulierten Handlungsvorsätzen gegenübergestellt und das (Nicht-)Gelingen auf Schwierigkeiten bzw. Gelingensbedingungen hin befragt.

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Der Prozess der Projektbegleitung begann mit dem Abschluss der pädago- gischen Praxis des Projektes. Spätestens seit diesem Zeitpunkt hat das Pro- jektteam auch Gespräche mit dem Träger über Möglichkeiten der Projekt- weiterführung aufgenommen. Diese Dimension berücksichtigte ich zwar, stellte sie aber nicht in den Mittelpunkt meiner Analyse. Vielmehr konzen- trierte ich mich auf die Arbeit mit dem Projektteam im Rahmen zweier aus- führlicher Projektreflexionsgespräche (PRG). Im ersten PRG arbeiteten wir ebenfalls mit Auszügen aus meinen Beob- achtungsprotokollen. Ich wählte Sequenzen aus, die konkrete Handlungs- problematiken so wiedergaben, wie sie von den Beteiligten selbst benannt oder von mir als »projekttypische Problematiken« herausgearbeitet wurden. Zunächst wurde das Bedingungsgefüge des Projekthandelns bestimmt, in- dem das Team Ansprüche, Erwartungen, Strukturen, Normalitätsvorstellun- gen, Regeln etc. reflektierte, die für sie möglicherweise handlungsleitend im Projekthandeln waren, und sie den Begriffen Kind, Schule, Projekt und Sonsti- ges zuordnete. Anschließend betrachteten wir einzelne Beobachtungssequen- zen daraufhin, welche Bedingungen in konkreten Situationen tatsächlich be- deutungsvoll waren. So konnten wir Widersprüche herausarbeiten, die sich im Projekthandeln ergeben haben, sowie erste Umgangsmöglichkeiten an- denken. Von kleinen Praxissequenzen und Momentaufnahmen ausgehend, gelangten wir in einem allmählichen Distanzierungsprozess zu einer Kon- textualisierung dieser Momentaufnahmen sowie zu einer Perspektivener- weiterung auf Handlungsproblematiken – ein für alle sehr anregender und weiterführender Prozess. Das zweite PRG fand drei Monate nach Projektabschluss statt und wurde von mir auf der Grundlage der Auswertung aller bereits erhobenen Daten (Beobachtungsprotokolle, Gesprächstranskripte) vorbereitet. Ausgangs- punkt der gemeinsamen Reflexion waren hier Widersprüche und Dilemmata auf verallgemeinerter Ebene. Zu Beginn stellte ich dem Projektteam meine Perspektive auf die ambivalente Position des Projektes innerhalb des schuli- schen Spannungsfeldes von »Differenzierung/Partizipation« als eine Mög- lichkeit vor, um auf die eigene Praxis zu gucken und zu hinterfragen, welche Konsequenzen das eigene Handeln hat und wofür es funktionalisiert wer- den kann. Konkreten Widersprüchen aus der Projektpraxis wendeten wir uns anschließend in Form eines Memoryspiels zu. Das Projektteam disku- tierte die von mir herausgearbeiteten Widersprüche und bestimmte, ob die- ser Widerspruch vorwiegend im Verhältnis von Projekt und Schule, von Pro- jekt und Kind oder Schule und Kind anzusiedeln ist. In meiner weitergehenden Auswertung werde ich meinen Fokus mit Hilfe des Modells verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung aus der Anti- Bias-Arbeit auf Handlungsbegründungen in widersprüchlichen Praxissitua- tionen richten, sie auf typische Begründungsmuster hin hinterfragen und

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Alternativen andenken. Meiner bisherigen Untersuchung folgend, ist die Re- flexion der eigenen Verstrickung in Herrschaftsverhältnisse und der Beteili- gung an deren Aufrechterhaltung gerade auch in Bezug auf die in Schule eingeschriebene adultistische Machtasymmetrie bedeutungsvoll – unbe- quem, aber notwendig und weiterführend. Mit dem Projektteam werde ich ebenso wie mit den beteiligten Päda- gog_innen und Kindern nicht mehr zu Erhebungs-, sondern ausschließlich zu Rückkopplungszwecken zusammenkommen.

Widerspruchsrealisierungen im Subjekthandeln

Abschließend möchte ich beispielhaft verdeutlichen, inwiefern ich über die Analyse von Widersprüchen das Vermittlungsverhältnis von subjektivem Handeln und strukturellen Bedingungen zunehmend begreife. Die Fokussie- rung auf Widersprüche verstehe ich als eine mögliche Aufmerksamkeitsrich- tung neben anderen, die ich allerdings für besonders bedeutungsvoll und wei- terführend (nicht nur) im Kontext Schule halte. Sie ermöglicht es, Problemen in der Praxis nicht durch möglichst schnelle geradlinige Prozesse einer ver- meintlichen Lösungsfindung zu begegnen, die kurzfristig zwar Erleichterung verschaffen, strukturelle Ursachen aber unberührt lassen. Vielmehr kann durch das Herausarbeiten situationsinhärenter Widersprüche zu einer Rein- terpretation des Problems gelangt werden. Erst auf diese Weise wird es mög- lich, Veränderungen über ein bestehendes Verhältnis subjektiver Eingebun- denheit/Begrenztheit in strukturelle/n Bedingungen hinaus zu denken.23

Schule In den PRG wurden vom Projektteam verschiedene Widersprüche formu- liert. Neben projektinternen Widersprüchen – wie zum Beispiel Produkt- und Ergebnisorientierung versus Prozess- und Bedürfnisorientierung – wurden Widersprüche benannt, die für das Projekt im System Schule zum Ausdruck kommen. Ein Beispiel dafür ist die Ermutigung zur freien Meinungs- und Gefühl- säußerung im Projekt, die der Bewertungslogik der Schule entgegensteht: Das Projekt bemüht sich um Partizipation, indem darauf verwiesen wird, dass alle Meinungen und Gefühle willkommen sind und es kein »Richtig« und »Falsch« gibt. Durch den sanktionierenden Blick in Schule, der differen- ziert, kontrolliert und bewertet, werden diese Bemühungen ausgebremst und Kinder erhalten widersprüchliche Signale.

23 Vgl. Hackl 1994 (s. Anm. 22), S. 79.

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Das Projekt wurde in Anwesenheit und unter Einbeziehung von Lehrer _innen im Rahmen des Schulalltages auf dem Schulgelände durchgeführt. Von einer Perspektive, die vom Spannungsverhältnis von Differenzierung und Partizipation ausgeht, stellt sich zunächst die Frage, wer im Rahmen der Projektpraxis eigentlich an wessen Praxis partizipieren oder sich vielmehr von der je anderen Praxis differenzieren und abgrenzen will und kann und welche Konsequenzen das für wen hat: Will das Projektteam mehr in die schulischen Abläufe eingegliedert werden? Möchte die Lehrerin mehr an den Projekteinheiten beteiligt sein? Oder bemühen sich die jeweiligen Vertre- ter_innen von Projekt und Schule vielmehr darum, am je eigenen Verständ- nis von Lernprozessen und -arrangements festzuhalten? Welche Konsequen- zen hat das für das Erleben der Kinder? Aus dieser Perspektive lassen sich erstens Ambivalenzen in der Rolle der Lehrerin in der Projektarbeit berücksichtigen, der es im gewohnten Schul- setting unter Umständen kaum möglich erscheint, sich von ihrem in der Institution verankerten Bewertungs- und Disziplinierungsauftrag zu verab- schieden und gewohnte Handlungsmuster abzulegen. Zweitens können Widerstand und Abwehr von Seiten der Kinder auf die- sen strukturellen Widerspruch zurückgeführt werden. So etwa, wenn das Projektteam mit Kindern z. B. Ausgrenzung thematisiert und sie ermutigt, auch damit verbundene Gefühle zu benennen. Während sich einige Kinder auf die Erweiterung des gewohnten schulischen Themen- und Aktions- spektrums einlassen und mutig über eigene Erfahrungen und Gefühle be- richten können, haben andere Kinder Schwierigkeiten damit, ein in Schule (gezwungenermaßen) angeeignetes Lernverhalten aufzugeben, wenn Lern- arrangements im Schulgebäude stattfinden und die Lehrerin als erste Bewer- tungsinstanz im Schulalltag anwesend ist. Kämpfe um Anerkennung der Erwachsenen, die Antizipation von Erwartungen und die Orientierung an sozial erwünschten Antworten sowie Rückzug und defensiv reproduzieren- des Lernen sind Strategien, die so lange unumgänglich erscheinen, wie die alltägliche Erfahrung von Leistungsdruck und Bewertung ungebrochen bleibt. Die demokratischen und antidiskriminierenden Inhalte und An- sprüche des Projektes können von den Schüler_innen in diesem Zusammen- hang kaum anders bearbeitet werden, als dass ihnen in diesen gewohnten Handlungsmustern begegnet wird. Drittens führt die Reflexion dieses Widerspruches im Spannungsfeld von Differenzierung/Partizipation auf der Ebene des Projektes zu einem weite- ren zentralen Widerspruch: der Projektanspruch auf Implementierung und Nachhaltigkeit in Schule steht dem Anspruch gegenüber, alternative Lerner- fahrungen zum schulischen Lernen zu ermöglichen. Mittlerweile erachte ich das Handeln des Projektes weniger als fehlende Positionierung, sondern vielmehr als notwendig widersprüchlich, um Veränderungsprozesse in einem

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von Widersprüchen gekennzeichneten Schulsystem anzustoßen. Denn eine außerschulische Bildungsarbeit, die sich ausschließlich darauf konzentriert, alternative Lernerfahrungen zum Schullernen zu ermöglichen, ist kaum in der Lage, im System Schule überfällige Veränderungsprozesse anzustoßen. Demgegenüber läuft eine (noch) stärkere Integration außerschulischer Bil- dungsarbeit in schulische Abläufe und Strukturen Gefahr, sich zunehmend von eigenen Ansprüchen an emanzipatorische Bildung zu entfernen. Meines Erachtens zeichnet sich das Projekt gerade durch den doppelten Anspruch aus, wertschätzend-anerkennend und kritisch-verändernd in Schule zu wir- ken. Das Projekt versuchte, die beteiligten pädagogischen Fachpersonen als diejenigen, die langfristig in den jeweiligen Institutionen arbeiten, mitzuneh- men bzw. gemeinsam mit ihnen eine Praxis zu gestalten. In den PRG formu- lierte Handlungsmöglichkeiten bezogen sich insbesondere auf eine umfas- sendere Ausgestaltung dieser Zusammenarbeit mit den Pädagog_innen in Schule. Hier besteht die Herausforderung, existierende Machtasymmetrien zu reflektieren und auf dieser Grundlage über Haltung, Struktur und Kon- zept im gemeinsamen Handeln ins Gespräch zu kommen. Darüber hinaus ist eine Diskussion darüber bedeutungsvoll, inwiefern den Beteiligten – pädagogischen Fachpersonen wie Kindern – die Widersprüche des Projekt- handelns transparent und so gemeinsam reflektierbar gemacht werden, so dass ihnen Alternativen zum gewöhnlichen Verhalten des Bewertens, Korri- gierens und Kontrollierens einerseits und der Anerkennungskämpfe und des Widerstandes andererseits ermöglicht werden.

Forschung Ich begleitete ein Projekt, das mit der Anti-Bias-Perspektive einen kritischen Blick auf schulische Lernprozesse und umfassende Veränderungsansprüche beinhaltet. Im Rahmen meiner Beobachtungen und distanzierten Reflexio- nen auf das Projekthandeln nehme ich wahr, dass es für die Subjekte im Pro- jekt nicht immer möglich zu sein scheint, sich diese Ansprüche im konkreten Handeln in der spezifischen Projektstruktur, innerhalb des Systems Schule zu bewahren. Meine Erfahrung in der Rolle als Beobachtende ist, dass es relativ »einfach« ist, dieses zu beobachten, zu kritisieren und zu beurteilen. Bemühe ich mich um eine kritische Reflexion meines eigenen Forschungs- vorgehens, stelle ich allerdings fest, dass ich in die gleichen »Fallen tappe«. Insbesondere an meiner Forschungseinheit mit den Kindern lassen sich drei Widersprüche in meiner Position bzw. meinem Forschungshandeln verdeut- lichen. Erstens erkenne ich an mir ebensolche Mechanismen der Ergebnisorien- tierung, Instrumentalisierung der Kinder oder des Rückgriffs auf schulisch »bewährte Disziplinierungsmaßnahmen«, wie ich sie als Gefahren im Pro-

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jekthandeln wahrnehme und sie meinem Bemühen um eine antidiskriminie- rende bzw. antiadultistische Grundhaltung entgegenstehen. Ich frage mich, wie es möglich ist, der Starre des Systems nicht dadurch zu begegnen, dass eigene Beweglichkeit im Sinne des »Ablassens von Ansprüchen« auf Kosten der Kinder bewiesen, sondern eben diese Beweglichkeit vom System gefor- dert wird. Wie kann ich mich in meiner Forschung davor schützen, von Schule vereinnahmt zu werden? Und wie kann ich Praxisprozesse nicht nur erleichtern, sondern kritisch in Frage stellen und verändern? Zweitens machte ich in meiner Forschung mit den Kindern auch prakti- sche Erfahrungen mit schulstrukturellen Begrenzungen in den Beteiligungs- möglichkeiten von Kindern und damit verbundenen »Fallen« für Erwach- sene, welche theoretisch in verschiedenen Reflexionen mit dem Team und weiteren Beteiligten bereits mehrfach kritisch thematisiert worden waren. So gibt es in Schule weder einen Ort für die Bedürfnisartikulation von Kindern und die Formulierung von Wünschen an den Umgang von Erwachsenen mit ihnen noch einen Raum, wo die Kinder sich austauschen, vernetzen und selbst organisieren können. Mit diesen fehlenden strukturellen Räumen ein- her geht die Verantwortung von Erwachsenen, nur solche Prozesse anzure- gen, die auch begleitet und strukturell verwirklicht werden können, welche ich in meinem Forschen mit den Kindern nicht einzuhalten vermochte. Aus diesem Grund war es mir in der forschenden Arbeit mit Kindern drit- tens nicht möglich, es bei der Thematisierung von Bedürfnissen und Wün- schen von Kindern zu belassen, sondern ich sah mich in der Verantwortung dafür, diese ernst zu nehmen und Kinder dabei zu unterstützen, sie in die Schule hineinzutragen. Dieses Dilemma veranschaulicht mit meinem For- schungsvorgehen verbundene, unterschiedlich offen thematisierte oder auch kaum zugängliche Rollen-, Interessens- und Loyalitätskonflikte. In der For- schungssituation mit den Kindern wird deutlich, wie meine wissenschaft- lichen Ansprüche als Forschende mit meinen Ansprüchen als Pädagogin korrelieren, emanzipatorische Veränderungsprozesse anzustoßen. Diese Er- fahrungen können als Bestätigung der Kritik an praxisorientierter Forschung aufgefasst werden, derzufolge das Ziel praktischer Veränderungen innerhalb einer wissenschaftlichen Forschung zur Einschränkung des wissenschaftli- chen Erkenntnisgewinnes führt. Trotz dieser Erfahrung und des darin ge- wachsenen Bewusstseins über die Begrenzung meines Forschungshandelns, meiner Perspektive und Einflussnahme sowie die vielfältigen Widersprüche in meinem Handeln halte ich an meinem praxisbezogenen Vorgehen fest. Denn auch meine Position ist sehr vielfältig und widersprüchlich: So wie ich meine Erfahrungen in meinem politischen Wirken auch mit Hilfe theoreti- scher Konzepte reflektiere und als Bildungsarbeitende immer Gefahr laufe, durch meine Fachsprache Einzelne auszuschließen, so trage ich in meine Forschung auch meine Erfahrungen als Bildungsarbeitende mit politischen

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Ansprüchen hinein. Das Bemühen um eine stärkere Trennung von Wissen- schaft und Praxis (allein in meiner Person) würde möglicherweise zwar die vermeintliche »Reinheit wissenschaftlicher Erkenntnis« schützen, diese aber nutzlos für die Praxis machen. Meine Forschung beruht auf »dem Zusam- menspiel zwischen Produktion und Gebrauch von Erkenntnissen«24 und zielt darauf, mit der vorherrschenden Hierarchie von »erkennenden For- schenden« und »Erkenntnisse umsetzenden Praktiker_innen« und einer dementsprechenden gesellschaftlichen Wertigkeit zu brechen. So wie das Mitforschende-Verhältnis die beteiligten praktizierenden Subjekte in den Prozess der Erkenntnisgewinnung einbezieht, so ermöglicht die kontinuier- liche Selbstreflexion als Forschungshandelnde, die eigene mehr oder weni- ger erkenntnisbasierte Praxis nicht aus dem Blick zu verlieren.

Ausblick

In meiner Analyse versuche ich das Vermittlungsverhältnis von Subjekt und Gesellschaft innerhalb der Organisation Schule zu spezifizieren. Meine in Praxis verwobene Analyse stellt die Auseinandersetzungsgrundlage bereit, um vor dem Hintergrund aktueller Schulentwicklungsprozesse und -debat- ten Schlussfolgerungen für die außerschulische politische Bildungsarbeit an Schule zu ziehen. Einerseits ist zu diskutieren, inwiefern die Ansprüche des Anti-Bias-Ansatzes, auf allen Ebenen als Querschnittsaufgabe von Einrich- tungen zu wirken, in der Organisation Schule umgesetzt werden können. Andererseits stellt sich die Frage, welche Chancen und Grenzen das Setting außerschulischer Bildungsarbeit impliziert bzw. welche alternativen Kon- zepte der Begleitung von Schulprozessen möglich oder nötig wären. Bislang kann ich drei Einsichten in bedeutungsvolle Notwendigkeiten in der Arbeit an Schule als Zwischenergebnisse kundtun, die sich direkt aus meinen Forschungserfahrungen ergeben: Die Betrachtung von Widersprüchen und Handlungsproblematiken in der schulischen Praxis hat gezeigt, dass es erstens einer strukturellen Aner- kennung und Wertschätzung von Reflexionsräumen für die pädagogisch Handelnden bedarf. Erst diese distanzierte »In-Blick-Nahme« auf die eigene Praxis ermöglicht das Hinterfragen vorherrschender Deutungsmuster und deren Verinnerlichung in eigene Denk- und Handlungsschemata. Zweitens ist eine Klärung von Seiten der Erwachsenen unabdingbar hinsichtlich der eigenen Verstrickung in adultistische Machtverhältnisse, wie sie in Schule als wesentliche Legitimationsgrundlage für das gesamte Organisationshandeln

24 Ole Dreier: Allgemeinheit und Besonderheit von Erkenntnis. In: Huck; Lorenz et al. 2008 (s. Anm. 8), S. 346.

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institutionalisiert sind. Drittens ist jeder Ansatz und jedes Bemühen um Par- tizipation und Beteiligung von Kindern von Seiten der Schule nur dann ernst zu nehmen, wenn gleichzeitig ein »Raum für selbstbestimmte Räume« für Kinder in Schule ja weniger »geschaffen« als vielmehr »gelassen« wird, um überhaupt Möglichkeiten für Kinder zu bieten, sich austauschen, organisie- ren und eigene (politische) Interessen bündeln und vertreten zu können.

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KÖRPER – MACHT – IDENTITÄT

Anja Trebbin

Vergesellschaftete Körper. Zur Rolle der Praxis bei Foucault und Bourdieu

Bourdieu wandte sich von der Philosophie ab, um mit leidenschaftlicher Hingabe sozialwissenschaftlich zu arbeiten. Foucault hingegen gab das phi- losophische Feld nie auf. Während Bourdieu die gesellschaftliche Gegenwart untersuchte, wählte Foucault weitgehend historische Gegenstände. Kann es sinnvoll sein, beide Denker unter einer leitenden These aufeinander zu be- ziehen? Hat nicht Bourdieu selbst immer wieder auf die Differenzen zu Fou- cault hingewiesen?1

Ein sinnvoller Vergleich?

Trotz aller Unterschiede zwischen Foucault und Bourdieu zeigen sich Paral- lelen, die es erlauben, ihre theoretischen Ansätze zueinander ins Verhältnis zu setzen. Verschiedene Verknüpfungen wären denkbar: ihre Vorstellungen von Macht, ihre politischen Ansichten oder ihr Bezug auf die Tradition der Wissenschaftsphilosophie. Auffällig ist auch die ähnliche Rolle, die Praxis in beiden Ansätzen spielt. Auf dieser Beobachtung gründet folgende These: Foucault und Bourdieu beziehen sich auf Praxis – die soziale Praxis spezifi- scher Gesellschaften –, um zu erklären, wie ein Subjekt generiert wird. Beide Theoretiker sind anhand der Weise vergleichbar, in der sie Praxis in ihr Den- ken einbeziehen und mit Prozessen der Subjektkonstitution in Beziehung setzen. Eine These, die zunächst Widerspruch provozieren mag: Ist es nicht so, dass Foucault und Bourdieu sich dem gesellschaftlich situierten Einzelnen mit ganz verschiedenen Ansätzen nähern? Beschäftigt sich Foucault nicht eher auf philosophische Weise mit dem Subjekt, während es Bourdieu ganz

1 Vgl. Staf Callewaert: Bourdieu, Critic of Foucault: The Case of Empirical Social Science against Double- Game-Philosophy. In: Theory, Culture and Society, 2006, Nr. 23, S. 73-98.

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soziologisch um den sozialen Akteur2 geht? Das ist richtig, widerspricht aber nicht dem eben Gesagten. Terminologisch gesehen gibt es tatsächlich kein Subjekt bei Bourdieu. Doch auch wenn er sich stattdessen auf den Akteur (acteur) bezieht, verwirft er die Subjektkategorie nicht vollständig,3 sondern verabschiedet diese Idee in ihrer transzendentalen Bedeutung kantischer Tradition. Im Habituskonzept erscheint Subjektivität als Ergebnis gesell- schaftlicher Praxis: »Der Habitus ist die sozialisierte Subjektivität.«4

Subjekt und Akteur als Effekte der Praxis

Zentral für den Entstehungsprozess der sozialisierten Subjektivität – und das gilt sowohl für Foucault als auch für Bourdieu – ist die Verbindung, die Praxis und Körper miteinander eingehen. Hier liegt der Schlüssel zum Ver- ständnis der Ähnlichkeiten: in der Vorstellung eines durch gesellschaftliche Praxis erzeugten Subjekts bzw. Akteurs – und zwar durch eine Praxis, die sich auf den Körper bezieht. Der Geist wird erst durch die Indienstnahme der somatischen Dimension erreicht. Wird Subjektivität als wesentlich prak- tisches Verhältnis bestimmt, so liegt hierin die Zurückweisung der Gleichset- zung von Subjektivität und Selbstbewusstsein (Descartes) sowie derjenigen von Subjektivität und Selbstbestimmung (Sartre). Der Subjektstatus ist dann primär auf Handeln und Können gegründet und weniger auf Bewusstsein.5 Ein derartiges Subjektivitätsverständnis bricht nicht nur mit den Model- len von Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, sondern ebenso mit de- terministischen Vorstellungen: Die Entstehung von Subjektivität unterhalb von Reflexionsprozessen bedeutet keinesfalls, dass Subjekt und Akteur kon- ditionierte Entitäten wären. Das in praktischen Vollzügen generierte Gesell- schaftsmitglied befindet sich sowohl bei Foucault als auch bei Bourdieu zwar fernab der Höhen luziden Selbstbewusstseins und reiner Willensfreiheit, ohne aber deshalb in die Niederungen des Determinismus hinabzufallen. Subjektivität erscheint bei Foucault als Handlungsfähigkeit, die sich in zweierlei Modi äußern kann: Einmal in der Ausführung einer Vorgabe (Fou- caults Untersuchungsschwerpunkt in den siebziger Jahren) und zudem in

2 Ich habe mich entschlossen, es in diesem Text bei der ausschließlich männlichen Schreibweise zu belassen und zwar aus folgendem Grund: »Akteur« ist ein feststehender soziologischer Begriff, der in meinem Text auch meist in einer sehr abstrakten Weise verwendet wird. Alle Formen, die sich bemühen, den sprachlichen Androzentrismus zu umgehen, wirken meines Erachtens extrem konstruiert und machen die entsprechen- den Sätze noch mal verwirrender und umständlicher. Ich möchte hier der einfacheren Lesbarkeit den Vor- zug geben, aber dennoch betonen, dass ich mir der Problematik bewusst bin. 3 Wie es hingegen im als »postmodern« bezeichneten Denken vorkommt. Vgl. Rupert Guth: Moraltheologie und die (post)moderne Signatur der Gegenwart, Berlin 1999, S. 12. 4 Pierre Bourdieu; Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main 1996, S. 159. 5 Vgl. Christoph Menke: Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz. In: Axel Honneth; Martin Saar (Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frank- furt am Main 2003, S. 287.

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der Führung seiner selbst (Schwerpunkt in den frühen achtziger Jahren). Bei- des ist miteinander verbunden. Denn bereits die Ausführung setzt eine gewisse Fähigkeit zur Selbstführung voraus. Hier liegt das Scharnier verbor- gen, mit dessen Hilfe Foucault sich in den achtziger Jahren einem autopoieti- schen Subjekt zuwenden kann.6 Bourdieu bricht seinerseits mit der Konzep- tion des Habitus als generativer Struktur mit der streng strukturalistischen Idee eines hermetischen Kausalzusammenhangs von Struktur und Hand- lung. Anders als in Parsons’ Rollentheorie wird Gesellschaft von Bourdieu nicht als dem Individuum entgegengesetzte Größe gedacht. Stattdessen ist der Einzelne von Beginn an in den praktischen Gesellschaftszusammenhang ein- gebunden. Dem menschlichen Handeln wird eine spezifisch körperliche Qualität zuerkannt, und gesellschaftliche Ordnung entsteht auf dieser Basis nicht vornehmlich durch kognitive Entwürfe, sondern performativ, das heißt in der sozialen Praxis selbst, in die der Körper unmittelbar eingebunden ist.7 Auf diesem Weg wird er zum Speicher gesellschaftlicher Gepflogenheiten.8 So erscheint folgende These plausibel: Die Vorstellung, dass Subjektivie- rungsprozesse wesentlich praktisch ablaufen, bezieht die Gesellschaft mit ein und besitzt somit politische Implikationen und Konsequenzen. Verlegen Konzeptionen, die ihr Primat beim freien Willen ansiedeln, die Heraus- bildung von Subjektivität auf die Ebene eines von äußeren Bedingungen weitgehend unabhängigen mentalen Prozesses9, so begreifen Foucault und Bourdieu die subjektbildende Praxis als Ort gesellschaftlicher Auseinander- setzungen. Dies zeigt sich ganz offensichtlich am Beispiel des habituell situ- ierten Akteurs bei Bourdieu. Dies gilt ebenso offensichtlich für das durch disziplinierende Praktiken generierte Subjekt bei Foucault.10 Doch gleicher- maßen – und hier wird die Ebene des Evidenten verlassen – beansprucht das ethische Subjekt der Selbstpraxis, wie es Foucault in den achtziger Jahren anhand seiner Untersuchungen der klassischen und der römisch-hellenisti- schen Antike zutage fördert,11 einen politischen Status: Die Idee einer Ästhe- tik der Existenz, ins Werk gesetzt durch Praktiken und Übungen der Selbst- formierung, darf nicht als Rückzug aus der Gesellschaft verstanden werden,12

6 Vgl. ebd., S. 286. 7 Zum Beispiel Begrüßungspraktiken, Tischsitten, das Einnehmen von Körperhaltungen usw. 8 Vgl. Beate Krais; Gunter Gebauer: Habitus, Bielefeld 2002, S. 75. 9 Sartre hingegen blendet die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Konstitution von Subjektivität voll- kommen aus: »Der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, existiert nur in dem Maße, in welchem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen.« Jean-Paul Sartre: Ist der Exis- tentialismus ein Humanismus? In: Jean-Paul Sartre: Drei Essays, Frankfurt am Main 1989, S. 7-51, hier: S. 22. 10 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1976. 11 Vgl. ders.: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt am Main 2004. 12 Vgl. ders.: Regierung seiner selbst und der anderen (ein unveröffentlichtes Dossier). Auszüge. In: Foucault 2004 (s. Anm. 11), S. 655-657.

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wie es in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen ist.13 Es geht kei- neswegs um eine esoterische Hinwendung zum Ich, sondern um die Ausein- andersetzung mit der in Körper und Seele eingeschriebenen Bio-Macht.14 Während der antike Grieche sich gegenüber den Verlockungen der Lüste zu behaupten hatte, soll sich das moderne Subjekt zu den Effekten der moder- nen Macht selbstbestimmt ins Verhältnis setzen.15 Die Selbstbearbeitung ist als Reaktion der Subjekte auf ihr So-Gewordensein aufzufassen, auf ihre Prä- gung durch die sie umgebenden Strukturen. Damit werden auch Phä- nomene von Subjektivität auf die Ebene des Politischen transportiert, die an- sonsten weit unterhalb dieser angesiedelt werden.16

Zwei Formen praktischer Subjektivität bei Foucault

Foucaults Beschäftigung mit ethischen Fragen negiert keineswegs die Rele- vanz seiner Machtanalytik der Vorjahre. Stattdessen ergänzt sie Letztere um eine neue Facette. Auch seine neue Weise, Subjektivierung zu denken, berücksichtigt die Situierung der Individuen in machtgesättigten Räumen. Allerdings kann sich das Subjekt nun reflektiert gegenüber den von diesen Strukturen ausgehenden Anforderungen und Zugriffen verhalten. Eine fas- zinierende Wendung: Denn Foucault findet hier Wege, ein Subjekt zu den- ken, das in seinen Konstitutionsprozess gestaltend eingreifen kann, aber dennoch jenseits voluntaristischer Entwürfe zu verorten ist. In beiden Werkkontexten Foucaults – der Machtanalytik der siebziger Jahre sowie der späteren Hinwendung zur Selbstethik – erweist sich Praxis als Medium der Subjektkonstitution. Diese übergreifende Größe nimmt in besonderen Praktiken und Übungen Gestalt an. Die Verschiedenheit dieser Praktiken im Rahmen von Fremd- und Selbstkonstitution ist dabei nicht der springende Punkt. Eine Praktik kann identisch sein, wichtiger ist das Ver- hältnis, in dem sich das Subjekt ihr gegenüber befindet. In den machtgeleiteten Analysen der siebziger Jahre ist die übende Praxis ein Instrument zur Normierung und Disziplinierung, wobei Norm und Dis- ziplin den Körpern auf einer vorbewussten Ebene eingraviert werden sollen. Ziel ist nicht, einen kognitiven Zugriff auf bestimmte Regeln zu schaffen, sondern deren Internalisierung auf leiblicher Ebene: »Die Übung (exercise) ist [...] jene Technik, mit der man den Körpern Aufgaben stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnen. Indem sie

13 Vgl. Clemens Kammler: Michel Foucault. Eine kritische Analyse seines Werks, Bonn 1986, S. 203. 14 Zum Begriff der Bio-Macht siehe Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999, S. 286. 15 Vgl. Hans-Herbert Kögler: Michel Foucault, Stuttgart 2004, S. 175. 16 Vgl. Martin Saar: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt am Main 2007, S. 339.

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das Verhalten auf einen Endzustand hin ausrichtet, ermöglicht die Übung eine ständige Charakterisierung des Individuums.«17 In diesem Zusammenhang bildet die Formation der Übungen, vermittels derer der Körper in bestimmte Kreisläufe (Arbeits-, Militär- oder Schuldiszi- plin) eingebunden wird, »ein Element in einer politischen Technologie des Körpers und der Dauer«18, die auf eine nie abgeschlossene Unterwerfung zielt. In den achtziger Jahren ergänzt und bereichert Foucault seine bisherigen Überlegungen: Im Zuge seines Rückgangs in die Antike entwickelt er eine Perspektive auf Subjektivität, die Subjektivierung nicht mehr mit Unterwer- fung gleichsetzt.19 Nach wie vor bezieht er sich auf Praxis, diesmal in Gestalt der Selbstpraktiken im Kontext der antiken Lebenskunst: »Keine Technik, keine berufliche Fähigkeit kann ohne Praxis (pratique) erworben werden; und man kann nicht einmal die Lebenskunst, die techne tou biou, ohne eine askesis erlernen, die als eine Selbstbelehrung (un apprentissage de soi par soi) betrachtet werden muss: [...] zu all den Formen, die dieses Lernen (apprentis- sage) annahm (und welche die Formen der Enthaltsamkeit, des Auswendig- lernens, der Gewissensprüfung, der Meditationen, des Schweigens und des Hörens auf andere einschloss), scheint die Schrift – die Tatsache, für sich und für die anderen zu schreiben – es eines Tages, wenn auch recht spät, ge- schafft zu haben, eine wichtige Rolle zu spielen.«20 Im Gegensatz zu den disziplinierenden Praktiken und Übungen geht es hier nicht darum, das Subjekt äußeren Normen und Zwecken kompatibel zu machen: Durchaus mit Mühen und Anstrengungen verbunden, ist die techne tou biou ein nie endender Prozess der Einübung von Fähigkeiten zur Selbst- führung. Das Subjekt entschließt sich eigenständig dafür, diesen Weg – der sich jenseits von Dekreten, Regeln oder Gesetzen vollzieht – zu beschreiten.21

Bourdieu: Eine Theorie der Praxis

»Praxis« ist die Klammer, die Foucaults Subjektkonzepte der siebziger und achtziger Jahre zu einem Ganzen mit zwei komplementären Teilen verbin- det. Während Foucault Praxis im Sinne von Praktiken behandelt und deren Auswirkungen untersucht, erhält Praxis in Bourdieus Werk – neben dieser

17 Foucault 1976 (s. Anm. 10), S. 207 f. 18 Ebd., S. 209. 19 Man beachte im Französischen die gleiche etymologische Wurzel: sujet – Subjekt, assujettissement – Unter- werfung. 20 Michel Foucault: Schriften, Bd. 4, Nr. 326: Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Arbeit, Frankfurt am Main 2005, S. 489. 21 Vgl. Foucault 2004 (s. Anm. 11), S. 404-406.

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auch von ihm berücksichtigten Ebene22 – noch eine andere Bedeutung: Ihre Funktionsweise und spezifische Logik wird zum wissenschaftlichen Gegen- stand, zum Gegenstand einer Theorie. Die philosophischen und soziologischen Standpunkte in Frankreich las- sen sich für die Zeit, in der Bourdieu begann wissenschaftlich zu arbeiten, in zwei Hauptgruppen gliedern: Solche, die den einzelnen sozialen Akteur (in philosophischer Terminologie: das Subjekt) in den Vordergrund stellen, und jene, für die der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang (die objektiven Strukturen) von primärem Interesse ist. Bourdieus Intention ist es nun, zwi- schen den beiden hieraus resultierenden Erkenntnisweisen einer subjektivis- tischen Philosophie einerseits und einer objektivistischen andererseits zu vermitteln. Während die erkenntnistheoretische Position des Subjektivismus auf Gegebenheiten gerichtet ist, die unmittelbar mit den Erfahrungen sozia- ler Akteure verbunden sind (Praktiken, Wahrnehmungen, Gedanken), zielt die objektivistische Erkenntnis auf Sachverhalte ab, die relativ unabhängig von den Subjekten bestehen (objektive Strukturen, Systeme).23 Diesen Dualis- mus gilt es nach Bourdieu als falsches und erkenntnishemmendes Konstrukt zu überwinden.24 Der Subjektivismus besitzt seiner Auffassung zufolge einen lediglich vor- wissenschaftlichen Status, da er über eine Beschreibung der Praktiken, Wahrnehmungen und Erfahrungen der Akteure nicht hinaus käme. Den- noch erscheint ihm die subjektivistisch geleitete Einsicht bewahrenswert, dass die Primärerfahrungen sozialer Akteure in der Erfassung von Wirklich- keit zu berücksichtigen sind. Der reine Objektivismus nämlich negiert, was für Bourdieu evident ist: Strukturen müssen hergestellt werden – die Sicht- weisen, Klassifikationen und Interpretationen der Akteure sind konstitutiver Bestandteil der sozialen Welt.25 So entwickelt er in Entwurf einer Theorie der Praxis seine praxeologische Erkenntnistheorie, die dieser Auffassung Rech- nung trägt.26 Die praxeologische Herangehensweise macht auf die Grenzen jeder theo- retischen Erkenntnisform aufmerksam, sei sie nun subjektivistisch oder ob- jektivistisch.27 Sowohl die subjektivistische als auch die objektivistische Per-

22 Michel de Certeau bestimmt eine Differenz zwischen Foucault und Bourdieu mit einer recht schematischen Formulierung: »What interests Bourdieu is the genesis, ›the mode of generation of pratices‹; not as in Fou- cault, what they produce, but what produces them.« – Michel de Certeau: The Practice of Everyday Life, Ber- keley 1984, S. 58. – Das stimmt so nicht: Foucaults Untersuchungen richten sich durchaus auch darauf, wie bestimmte Praktiken entstehen konnten. Welche Ereignisse gingen zum Beispiel der Einsperrung der Wahn- sinnigen voraus? Und auch Bourdieu interessiert sich seinerseits für die Effekte symbolischer Praktiken – etwa die Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen. 23 Vgl. Markus Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung, Hamburg 2005, S. 39. 24 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1987, S. 49, S. 52. 25 Vgl. Bourdieu; Wacquant 1996 (s. Anm. 4), S. 26. 26 Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976, S. 146 ff. 27 Vgl. Bourdieu 1987 (s. Anm. 24), S. 52.

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spektive verbleibt im Bereich der Theorie: Das wissenschaftliche Paradigma definiert ihre Anwendbarkeit. Die Wissenschaft isoliert die epistemologisch- theoretische Praxis von den alltäglichen Handlungsanforderungen. Diese Gegenüberstellung zweier Modalitäten von Praxis bringt den Gegensatz zweier Erkenntnisweisen mit sich: Auf der einen Seite die wissenschaftliche »theoretische«, auf der anderen Seite die »praktische«, die für soziale Ak- teure im Vollzug ihrer alltäglichen Praxis charakteristisch ist. Bourdieu stellt sowohl Subjektivismus als auch Objektivismus der praktischen Erkenntnis gegenüber, die in den alltäglichen Anforderungen der sozialen Welt veran- kert ist.28

Der Habitus als strukturiertes und strukturierendes Dispositionssystem

Die praxeologische Theorie der Praxis stellt jedoch nur ein erstes theoreti- sches Werkzeug dar, das zur Überwindung des Dualismus von Subjektivis- mus und Objektivismus zwar notwendig, aber keineswegs hinreichend ist.29 Denn die Genese der Eigenlogik von Praxis und der entsprechend ausgerich- teten praxeologischen Erkenntnis bleibt hier noch unklar. Um diese Problem- stellung zu meistern, entwickelt Bourdieu den Begriff des Habitus, das Kern- stück seines theoretischen Gesamtgebäudes.30 Folgende Triade verdeutlicht die Stellung, die dem Begriff zukommt: ex- terne, gesellschaftliche Strukturen – interne Habitusstrukturen – Zusammenfallen von Struktur und Habitus in der Akteurspraxis (Entäußerung der Habitusstruktu- ren im Handeln, welches die Produktion oder Reproduktion von Strukturen be- wirkt).31 In dieser Dialektik fungiert der Habitus »als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis«32. Dabei wird er einerseits von den objektiven sozialen Strukturen strukturiert, andrerseits filtert er die äußeren Einflüsse und bringt schließlich die soziale Praxis der Akteure hervor. So kann Bourdieu seine Habituskonzeption als eine »Theorie des Erzeugungsmodus der Pra- xisformen«33 kennzeichnen. Der Habitus generiert nicht nur Praktiken, sondern auch entsprechende Wahrnehmungs- und Urteilsschemata. Bourdieu entwirft hiermit gleichzei- tig eine »Theorie der praktischen Erkenntnis der sozialen Welt«34. Der Habi- tus wirkt nicht nur als handlungserzeugendes Prinzip, sondern auch als eines, das die Wahrnehmungen und Gedanken strukturiert. Das Habitus-

28 Vgl. ebd., S. 49. 29 Vgl. Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main 2001, S. 70-74. 30 Vgl. Bourdieu; Wacquant 1996 (s. Anm. 4), S. 154; sowie Schwingel 2005 (s. Anm. 23), S. 59. 31 Vgl. Schwingel 2005 (s. Anm. 23), S. 76 f. 32 Pierre Bourdieu: Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis. In: Zur Soziologie der symboli- schen Formen, Frankfurt am Main 1970, S. 125-158. 33 Bourdieu 1976 (s. Anm. 26), S. 164. 34 Ebd., S. 148.

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konzept enthält damit sowohl eine Handlungs- als auch eine Erkenntnis- theorie soziologischer Prägung.35 Hiermit ist die Koordinate bestimmt, die der Habitus in Bourdieus Ge- samtarbeit einnimmt. Doch was bedeutet er inhaltlich? Bourdieu schreibt: »Der Habitus ist ein sozial konstituiertes System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und kon- stant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist.«36 Diese Textstelle ist keines- wegs hinreichend, um ein Verständnis des Habituskonzepts zu entwickeln, aber immerhin signifikant, um auf ein bestimmtes Moment aufmerksam zu machen: »durch Praxis erworben und auf praktische Funktionen ausgerich- tet« – Praxis fungiert beim Aufbau der Habitustheorie als Schlüsselkategorie, und zwar in einer Weise, die in vielen Punkten den Überlegungen Foucaults zum Disziplinarsubjekt ähnlich ist.

Disziplinarsubjekt und Akteur – keine fundamentale Differenz

Bourdieu schreibt: »Die strengsten sozialen Befehle richten sich nicht an den Intellekt, sondern an den Körper, der dabei als ›Gedächtnisstütze‹ behandelt wird.«37 Und Foucault erklärt, dass sich mit der Entstehung der Disziplinen38 eine Politik der Zwänge formiere, »die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren«39. In der Forschung wurde diese Ähnlichkeit bereits punktuell aufgenommen: »Das Habituskonzept findet sich versteckt auch in Foucaults Theorie: Wenn Bour- dieu festhält, dass der Habitus durch investierte Arbeit des Akteurs, durch ›Einübungsarbeit‹ entsteht, kann dieser Inkorporierungsprozess sozialer Strukturen aus der Perspektive Foucaults als Disziplin bzw. Disziplinierung beschrieben werden.«40 Zwar fügt die Autorin einschränkend hinzu, dass Foucaults Überlegun- gen zu den Disziplinen nicht alle Facetten abdeckten, die der Habitus als das differenziertere Modell zu erklären beanspruche. Dennoch zielen ihr zufolge Foucault und Bourdieu auf denselben Punkt ab: Gesellschaftliche Strukturen schreiben sich dem Körper vermittelt durch Übung ein und wirken damit identitätsbildend.41

35 Vgl. Schwingel 2005 (s. Anm. 23), S. 60. 36 Bourdieu, Wacquant 1996 (s. Anm. 4), S. 154. 37 Bourdieu 2001 (s. Anm. 29), S. 181. 38 In Überwachen und Strafen definiert Foucault die Disziplinen als »Methoden, welche die peinliche Kon- trolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen und sie geleh- rig/nützlich machen«. – Foucault 1976 (s. Anm. 10), S. 175. – Die Übung ist eine der disziplinarischen Tech- niken. Zu den anderen Formen vgl. ebd., S. 172-292. 39 Ebd., S. 176. 40 Laura Kajetzke: Wissen im Diskurs. Ein Theorienvergleich von Bourdieu und Foucault, Wiesbaden 2008, S. 76. 41 Vgl. ebd., S. 76 f.

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Dieser Punkt bildet in der Untersuchung Laura Kajetzkes nur einen Neben- aspekt. Hier jedoch ist er essentiell: Das Nachdenken darüber, wie Subjekte sich bewusst und kritisch zu ihrer Vergesellschaftung verhalten können, be- dingt eine genaue Analyse ihres Konstitutionsprozesses und der daraus re- sultierenden Beschaffenheit. Wenn Foucault und Bourdieu diese beiden Größen ähnlich bestimmen, liegt es nahe zu überprüfen, wie sich die in ihren jeweiligen Entwürfen anvisierten »Gegen-Handlungen« zueinander verhal- ten und ob sich die jeweiligen Konzeptionen wechselseitig ergänzen können. Bourdieu allerdings verwehrt sich dagegen, dass seine Rezipienten Asso- ziationen zu Foucault herstellen könnten: »Obwohl ich nicht viel von der ty- pisch akademischen Übung halte, die darin besteht, alle mit der vorgelegten Analyse konkurrierenden Theorien Revue passieren zu lassen, um sich von ihnen abzusetzen [...], möchte ich doch auf den großen Unterschied hinwei- sen, der zwischen der Theorie der symbolischen Gewalt als jener Verken- nung, die auf der unbewussten Anpassung der subjektiven an die objektiven Strukturen beruht, und Foucaults Theorie der Herrschaft als einer Diszipli- nierung oder Dressur besteht [...].«42 Doch m. E. ist Bourdieu bei der Einschätzung seiner eigenen Theorie nicht konsequent: Denn woraus resultiert die »unbewusste Anpassung«, wenn nicht aus den Strategien des Habitus, die sich intuitiv den ungeschriebenen Funktionsgesetzen des sozialen Raums anpassen? Und das bedeutet: in letz- ter Instanz aus dem Habitus selbst, der sich in Bourdieus eigenen Worten aus einem System von »wie unauslöschliche Tätowierungen eingebrannten Dis- positionen«43 zusammensetzt. Die Herstellung eines solchen tief im Körper verankerten Systems ist ebenso das Ziel der Disziplinen Foucaults. Den Unterschied, den Bourdieu als prinzipiell darstellt, sehe ich eher als situativ. Er äußert sich anhand der sozialen Situationen, auf die beide Denker jeweils ihr Augenmerk richten: Während Bourdieu vor allem den gesell- schaftlichen Alltag im Blick hat, geht es bei Foucault meist um soziale Extreme: das Gefängnis, die pädagogische Anstalt, die Klinik. So scheinen Foucaults Disziplinen die Individuen extremer zu unterwerfen, als die sym- bolische Gewalt es vermag. Foucault geht es hierbei jedoch darum, beson- ders eindringliche Beispiele zu finden – die aber dennoch etwas über das Funktionieren der Gesellschaft als solcher aussagen sollen.

Selbstbestimmtes Handeln und Widerstand

Nicht nur das disziplinierte Subjekt, sondern auch der Habitusbegriff wirft die Frage nach der Möglichkeit von selbstbestimmtem Handeln auf. Der Ha-

42 Bourdieu; Wacquant 1996 (s. Anm. 4), S. 203. 43 Bourdieu 2001 (s. Anm. 29), S. 181.

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bitus repräsentiert die Inkorporierung äußerer Strukturgesetze, die die ko- gnitiven Strukturen der Individuen besetzen und fortan deren Handlungs- logik prägen. Liegt hier ein Modell vor, das die Strukturen lediglich in das Innere der Akteure verlagert?44 Vorsicht: Eine solche Deutung würde die feine Justierung dieses Ansatzes verfehlen, der sich zwar in einem epistemo- logischen Raum jenseits des phänomenologischen Subjektentwurfs befindet, einem einseitigen Reduktionismus oder Determinismus aber genauso fern- steht. Wie oben gezeigt, funktioniert der Habitus nicht so, dass er einfach nur die äußeren Einflüsse zu Handlungen gerinnen ließe, die dann notwendig reproduktiv wirken müssten. Er filtert vielmehr die Einflüsse der Strukturen und bringt erst dann Handlungen hervor. Er besitzt eine »kreative Kapa- zität«, die als ars inveniendi45 angelegt ist. Eine präzise Lektüre der Schriften Bourdieus muss jenem in der Vergangenheit immer wieder geäußerten De- terminismus-Vorwurf46 eine Absage erteilen. Wenn Bourdieu den Kreislauf von Struktur, Habitus und Handeln als ge- wöhnlich reproduktiv beschreibt, dann wertet er lediglich empirisch gewon- nene Ergebnisse aus.47 Dennoch – oder gerade deshalb – ergibt sich an dieser Stelle die Frage nach den Chancen für die Individuen, ihre strukturelle Umge- bung zu verändern. Denn schließlich zeugt Bourdieus immenses politisches Engagement von der Überzeugung, dass es sich lohnt, den Kampf aufzuneh- men! Wie also können die habitualisierten Schemata reflektiert, modifiziert oder sogar überwunden werden? Bourdieu bestimmt den politischen Kampf als »Kampf um die Bewah- rung oder Veränderung der Sicht der sozialen Welt durch die Bewahrung oder Veränderung der Wahrnehmungskategorien der Welt und durch die Arbeit an der Bildung eines common sense, der als Wahrheit der sozialen Welt erscheint«48. Die Aufgabe, die vor allem den soziologischen Intellektuellen (als denjenigen, die sich professionell mit gesellschaftlichen Wahrnehmungs- kategorien befassen) im Rahmen solcher Auseinandersetzungen zukommt, besteht Bourdieu zufolge darin, all jene Gestaltungsmöglichkeiten aufzu-

44 Vgl. Schwingel 2005 (s. Anm. 23), S. 69 f. – Schwingel stellt diese Frage und verneint sie eindeutig. Effi Böhlke hingegen scheint sich tendenziell an dieser Interpretationsrichtung zu orientieren, auch wenn sie die Bedeutung des Konzeptes der symbolischen Macht (das mit dem Habitusbegriff verbunden ist) für linkes Denken herausstellt. – Vgl. Effi Böhlke: Das Konzept der symbolischen Macht oder: (Wie) ist nach Bourdieu Autonomie möglich? In: Effi Böhlke; Rainer Rilling (Hrsg.): Bourdieu und die Linke. Politik – Ökonomie – Kultur, Berlin 2007, S. 63-77, insbesondere S. 75-77. 45 Bourdieu; Wacquant 1996 (s. Anm. 4), S. 154. 46 Vgl. z. B. Max Miller: Systematisch verzerrte Legitimationsdiskurse. Einige kritische Überlegungen zu Bour- dieus Habitustheorie. In: Klaus Eder (Hrsg.): Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Aus- einandersetzung mit Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt am Main 1989, S. 191-220, vor allem S. 202. 47 Vgl. Bourdieu 1976 (s. Anm. 26), S. 182; sowie ders. 1987 (s. Anm. 24), S. 117. – Parallel aber benennt Bour- dieu verschiedene Ausnahmen, in denen der Reproduktionskreislauf gestört wird – und das sind Fälle, die in modernen Gesellschaften öfter vorkommen. 48 Philippe Fritsch: Einführung. In: Pierre Bourdieu: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 17.

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decken, die von den alltäglichen Begriffen zugedeckt werden. Das Wirkungs- feld der Intellektuellen erstreckt sich so vor allem auf die Sprache. Nach Bourdieu haben sie sich darum zu bemühen, den Beherrschten »eine Sprache anzubieten, die es ihnen ermöglicht, ihre Erfahrungen zu verallgemeinern, ohne sie tatsächlich vom Ausdruck ihrer eigenen Erfahrungen auszuschlie- ßen, was hieße, sie nochmals zu enteignen«49. Stattdessen sollen die soziolo- gischen Intellektuellen den Beherrschten bei der »Darstellung ihrer ›ureigen- sten Perspektive‹«50 behilflich sein, indem sie ihnen Mittel zur Verfügung stellen, die einen Bruch mit den herrschenden Vorstellungen ermöglichen. Bourdieu betont immer wieder, dass eine Bewusstwerdung der Unter- drückung nicht hinreichend ist, um daraus automatisch Politisierung ablei- ten zu können. Unterordnung ist nach Bourdieu nämlich nicht als bewusster Akt zu verstehen, »der durch die Überzeugungskraft richtiger Ideen bekämpft werden kann; […] sondern ein unausgesprochener, praktischer Glaube, den die aus der Dressur des Körpers hervorgehende Gewöhnung ermöglicht«51. Zwar kann und muss Aufklärung für Bourdieu ihren Beitrag leisten, »doch nur eine wahre Arbeit der Gegendressur, die ähnlich dem athletischen Trai- ning wiederholte Übungen einschließt«, vermag »eine dauerhafte Transfor- mation der Habitus zu erreichen«52. An dieser Stelle bricht der Soziologe im Text ab. Der Aspekt wird nur gestreift. An anderer Stelle nimmt er den Ge- danken wieder auf und schreibt, symbolisches Handeln könne »körperlich verankerte Glaubensinhalte, Positionen und Triebe nicht ausmerzen, die den Aufforderungen des humanistischen Universalismus […] gar nicht erreich- bar sind«53. Mehr dazu erfährt der Leser jedoch auch hier nicht. Folgendes fällt auf: Zwar legt Bourdieu großen Wert auf die Feststellung, dass die sozialen Strukturen ihre Machtwirkungen ganz wesentlich in jedem einzelnen Körper entfalten, seine Vorstellung von sozialen Kämpfen jedoch siedelt er vornehmlich in der symbolischen Sphäre an. Bourdieu spricht zwar über den Körper, aber das Verhältnis, das der Akteur zu seinem Körper, zu sich selbst einnimmt (oder einnehmen könnte), kommt bei ihm nicht vor. Und so lässt sich vermerken: Da Bourdieu das Handeln der Akteure in Bezug auf ihr Selbstverhältnis nicht diskutiert, gerät bei ihm eine denkbare Wider- standsebene – nämlich jene Dimension der Selbstethik, wie sie sich bei Fou- cault eröffnet – gar nicht erst in den Blick. In diesem Zusammenhang bezieht Kögler Foucault und Bourdieu aufeinander: »Während der ›Habitus‹ die durch Sozialisation eingeimpften Schemata des Denkens, Sprechens und Handelns bezeichnet, die das Subjekt in objektive Herrschaftsverhältnisse

49 Pierre Bourdieu: Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1993, S. 63. 50 Bourdieu: Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, S. 30. 51 Bourdieu 2001 (s. Anm. 29), S. 220. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 231.

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einspannen, erfasst der Begriff des ›Ethos‹ bei Foucault die zu diesen verin- nerlichten und habitualisierten Strukturen bewusst eingenommene Haltung der Distanz, der Kritik und des gewollten Überwindens.«54 Zwar wird in dieser Überlegung das komplexe Habituskonzept auf einen einzigen Aspekt reduziert, dennoch kann diese Gegenüberstellung heuristisch fruchtbar gemacht werden: Denn tatsächlich, so meine These, thematisiert Foucault mit seinen späten Untersuchungen der Selbstethik und Selbstbear- beitung eine Möglichkeit, über die Festschreibungen des Habitus hinauszu- gelangen. Foucault unterscheidet drei Formen gesellschaftlicher Kämpfe: diejenigen gegen Herrschaft ethnischer, religiöser und sozialer Prägung, weiterhin die gegen wirtschaftliche Ausbeutung und endlich den Widerstand gegen alles, was den Einzelnen an eine Identität fesselt und dadurch seine Unterwerfung sicherstellt. Dieser dritten Form des Kampfes kommt nach Foucault heute vorrangige Bedeutung zu.55 Sie richtet sich gegen die Festschreibung der In- dividuen auf einen substantiellen Seinsmodus. Dieser Einschätzung passt Foucault sein Nachdenken über Gegenwehr an: »Wir müssen neue Formen von Subjektivität suchen und die Art von Individualität zurückweisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt.«56 Damit stellt er der Macht die Selbst-Politik in Form einer anti-universalistischen Selbstethik gegenüber. Die Wiederaneignung der eigenen Subjektivität ist demnach ein Mittel gegen die Objektivierung durch die Staatsvernunft. Was für eine Vorstellung von widerständiger Praxis entwirft Foucault? Und wie genau ist die Weise zu bestimmen, in der er sich in diesem Kontext auf die Selbstpraxis der Antike bezieht? Die antike Existenzästhetik stellt bei Foucault keine konkrete Alternative dar, sondern steht für die grundsätz- liche Gestaltbarkeit und Transformierbarkeit von Selbstbezügen.57 Es ist der antike Zusammenhang zwischen selbstethischer Praxis und Subjektivierung, der Foucault zum Entwurf von Widerstandsoptionen gegen die moderne Macht inspiriert hat. Für die gesellschaftliche Gegenwart favorisiert er das Konzept der Le- bensform. Der Grundgedanke hierbei besteht darin, den Einfluss der Bio- Macht auf das eigene Dasein durch dessen bewusste Gestaltung zurückzu- drängen. Die Kreation einer solchen Lebensform ist wesentlich mit dem Aufbau von Beziehungen verbunden – mit gemeinschaftlichen Lebensent- würfen, die soziale Hierarchien durchkreuzen und so in Frage stellen kön-

54 Kögler 2004 (s. Anm. 15), S. 175. 55 Foucault 2005 (s. Anm. 20), Nr. 306: Subjekt und Macht, S. 275. 56 Ebd., S. 280. 57 Vgl. Martin Saar: Nachwort: Die Form des Lebens. Künste und Techniken des Selbst beim späten Foucault. In: Daniel Defert; François Ewald (Hrsg.) unter Mitarbeit von Jacques Lagrange: Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 331.

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nen. Kern der Idee ist, die nach innen gerichtete, machtgeleitete Identifika- tion durch eine nach außen gewandte Existenzpraxis abzulösen.58 Foucault illustriert seine Überlegungen oft am Beispiel der schwulen Subkultur: »Schwul sein heißt in meinen Augen nicht, sich mit den psychologischen Merkmalen und sichtbaren Masken des Homosexuellen zu identifizieren, sondern den Versuch zu machen, eine Lebensform zu entwickeln.«59 Sind Foucaults Ausführungen zu Existenzästhetik und Selbstbearbeitung der Subjekte hinreichend, um daraus befriedigende Antworten auf die Frage nach praktikablem Widerstand gegen Fremdbestimmung ableiten zu kön- nen? Kann ein Widerstandsansatz funktionieren, der zwar auf die Verände- rung der gesamtgesellschaftlichen Situation abzielt, seinen Ausgangspunkt aber im Alltag des Einzelnen nimmt? Mit Blick auf Bourdieu lässt sich hier weiterfragen: Ist die Möglichkeit ei- ner gezielten Arbeit an sich selbst, die doch wesentlich durch ein Mindest- maß an materieller Sicherheit sowie durch freie Zeit und hohe Fähigkeit zur Selbstreflexion bedingt ist, nicht ihrerseits von der Positionierung der Sub- jekte (beziehungsweise Akteure) im sozialen Raum abhängig? Kann solch eine Stilisierung der Existenz dann nicht auch unbeabsichtigt zur verstärkten Distinktion und Zementierung sozialer Unterschiede beitragen?

Foucault und Bourdieu – ein komplementäres Verhältnis

Foucault stellt in seinen Texten, Vorlesungen und Interviews, die sich mit Selbstethik und Lebensform befassen, keine kohärente Programmatik vor. Zum einen handelt es sich bei diesen Überlegungen um Ansätze, deren Aus- arbeitung sein früher Tod verhinderte, zum anderen jedoch lag Foucault nichts ferner, als ein normatives ethisches Programm aufzustellen. Seine Ent- würfe – so meine ich – lassen sich mit Hilfe der theoretischen Instrumente Bourdieus aufgreifen, der Kritik unterziehen und gewinnbringend weiter- entwickeln. Es geht um deren Rückbindung an Raum und Feld, an die Expli- kation des bei Foucault implizit Bleibenden: Nur wenn mit der Betonung autokreativer Lebensführung zugleich die gerechtere Verteilung von Bil- dungschancen, ökonomischen Ressourcen sowie rechtlichen und politischen Ansprüchen einhergeht, kann die Existenzästhetik überhaupt in einem brei- ten gesellschaftlichen Rahmen verwirklicht werden. So kann die Selbstpraxis in keinem Fall die Last einer umfassenden politi- schen Handlungsstrategie tragen. Foucaults Existenzästhetik mit ihrer pri- mären Orientierung an der Selbstbearbeitung des Subjekts muss als »ethi-

58 Vgl. Anja Trebbin: Michel Foucaults Weg in die Antike. Zur Bedeutung der Selbsttechniken für den Wider- stand gegen die moderne Macht, Berlin 2007, S. 119-134. 59 Foucault 2005 (s. Anm. 20), Nr. 293: Freundschaft als Lebensform, S. 203 f.

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sche Kehrseite einer gesellschaftskritischen Praxis« verstanden werden, »die den gleichen Zugang für alle zu den Ressourcen und die objektive Vertei- lung von Bildungschancen für ein selbstbestimmtes Leben im Auge zu be- halten hat«60. Ein Blick auf die Theorie der Kapitalformen bei Bourdieu un- terstreicht ganz besonders die Bedeutung von Wissen und Bildung für die Chancen von Selbstbestimmung: Bildung wird hier als kulturelles Kapital, mit dessen »Investition« sich ein Akteur im sozialen Raum positioniert, zum Schlüssel der Analyse sozialer Ungleichheit.61 Hier zeigt sich, dass die politischen Handlungskonzeptionen Foucaults und Bourdieus zwar durchaus verschieden sind, ihre Differenz aber nicht grundsätzlich ist, sondern eine komplementäre: Bourdieus Arbeiten bieten Anregungen, um Foucaults Überlegungen zu sozialem Widerstand kritisch zu prüfen und heuristisch gewinnbringend zu exploitieren. Umgekehrt be- fasst sich Foucault mit Aspekten, die Bourdieu vernachlässigt. Das Komple- mentärverhältnis beider Ansätze begründet das Fundament, auf dem mit Foucault und Bourdieu über alternative politische Handlungsformen nach- gedacht werden kann. Es geht um Chancen für ein Engagement, das weder im Bereich reiner Immanenz verbleibt, indem es die ökonomischen und so- zialen Strukturen des Status quo als quasi naturgegebene Prämisse annimmt, das aber ebenso alle Formen eines messianischen Utopismus vermeidet, der in ein fernes Jenseits verlegt, was doch hier und heute zur Realität werden soll.

60 Kögler 2004 (s. Anm. 15), S. 176. 61 Vgl. Kajetzke 2008 (s. Anm. 40), S. 19.

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Nadine Heymann

Play Gender im Visual Kei. Dynamiken an der Schnittstelle zwischen Europäischer Ethnologie und Queer Theory

Einleitung

»Ich bin so ein Mittelding.« So beschreibt sich Hiroki, als wir uns an einem sonnigen Frühlingstag über Körper, Geschlecht, Begehren und vor allem über Visual Kei, eine Subkultur, die originär aus Japan kommt, unterhalten. Hiroki ist achtzehn und seit ungefähr vier Jahren »Visu«, so eine der gängig- sten Selbstbezeichnungen der Protagonist_innen im Visual Kei.1 Aber was ist eigentlich Visual Kei, und warum spricht Hiroki in Bezug auf geschlechtliche Verortung von sich selbst als »Mittelding«? Anatomische Körper befinden sich als kulturelle Konstrukte immer schon in einem vorstrukturierten, binären Rahmen von Geschlechtlichkeit. Judith Butler betont bereits in Das Unbehagen der Geschlechter2, dass es keinen natür- lichen, unbezeichneten, nicht sexuierten Leib gibt, der vor oder außerhalb des Diskurses zu finden sei. Was aber hat Diskurs mit Wirklichkeit zu tun? Wie lässt sich in diesem Rahmen die Abweichung (Devianz) von der Bina- rität der Geschlechter denken? Diese Fragen werden auch berührt, wenn man den Blick auf die Subkul- tur Visual Kei richtet und theoretische Konzepte empirisch zu füllen ver- sucht. Und so stellt sich in meiner Forschungsarbeit die Frage, welche Pra- xen von Körper und Geschlecht es im Visual Kei in Deutschland gibt und ob diese Praxen eine heteronormative, dichotome Geschlechterordnung irritie- ren und von dieser abweichen können. In queertheoretischen Ansätzen geht es darum, die Selbstverständlichkeit der binären, hierarchisch angeordneten Geschlechter, die Selbstverständlich- keit heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit fortwährend zu hinterfragen. Die Queer Theory hat Heteronormativität als machtvolle gesellschaftliche Struktur dechiffriert, die Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität, Kör- pern und Identitäten, Familie, Nation oder Klasse durchzieht. In der hetero-

1 Mit wachsendem Medienhype und zunehmender Ausdifferenzierung der Szene distanzieren sich jedoch auch einige Visus von diesem Begriff, bezeichnen sich eher als »J-Rock-Fan« oder verweigern gar eine Selbstbezeichnung und -kategorisierung. Um dem Visuellen auch in diesem Text gerecht zu werden, enthält er zwei Fotografien von und mit Protagonist_innen. Siehe Abbildung 1 und 2. 2 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991.

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normativen Matrix werden Geschlechter und Sexualitäten entlang der Linie Abnormalität – Normalität angeordnet.3 Mit einem queeren Blick auf Irrita- tionen von Körpern, Begehren und Geschlechtern ergeben sich methodologi- sche und forschungsethische Implikationen, auf die ich im zweiten Teil des Textes genauer eingehen werde. Ich gehe den Dynamiken einer etablierten und doch nicht selbstverständlichen methodologischen Schnittmenge nach und möchte damit zu weiteren Diskussionen und Theoretisierungen der eth- nografischen Analyse von Körpern, Geschlecht und Begehren anregen. Doch zunächst möchte ich die Subkultur Visual Kei beschreiben, die auch in meine eigenen heteronormativen Blickgewohnheiten interveniert und so mein In- teresse geweckt hat. Das Herzstück meiner empirischen Forschung macht eine anderthalb- jährige Feldforschung aus, in der ich am Leben der Visus in Deutschland teil- nahm, Konzerte, Treffen und Buchmessen besuchte, viel Zeit mit ihnen im Internet verbrachte und mir eine schier endlose Zahl japanischer Musik- videos anschaute,4 da gerade Musik, Outfit, Medien, Symbole und Rituale Marco Höhn zufolge zentrale Szeneaspekte darstellen.5 Meist wird über Vi- sual Kei ausschließlich in popkulturellen Medien berichtet, durch die ich zunächst auch auf diese Subkultur aufmerksam geworden bin. Kurze Zeit später konnte man auch einige Visus in Berlin entdecken, und als Referentin für politische Bildungsarbeit hatte ich in meinen Workshops Kontakt zu Ju- gendlichen, die sich als Visual-Kei-Fans zu erkennen gaben.

Visual Kei – eine translokale Subkultur

Visual Kei ist eine Subkultur, die eigentlich aus Japan kommt und sich um die Jahrtausendwende auch in Deutschland etabliert hat. Das englische »Vi- sual« steht für optisch, sichtbar oder visuell, weil es in erster Linie auf die äußere Erscheinung und das Styling ankommt. Und »Kei«, das japanische Kanji-Zeichen, steht für Herkunft oder System. So ließe sich Visual Kei erst einmal als »visuelles System« übersetzen. Damit ist aber noch nicht geklärt, wie Visual Kei aussieht oder was die Inhalte, Themen, Motive, Ideale und Motivationen der Protagonist_innen dieser Szene sind. Obwohl in Japan schon seit 20 Jahren verbreitet, war Visual Kei in Europa lange Zeit unbekannt. Mit dem seit einigen Jahren anhaltenden »globalen

3 Vgl. Christian Klesse: Heteronormativität und qualitative Forschung. Methodische Überlegungen. In: Bet- tina Fritzsche et al.: Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht, Wiesba- den 2007, S. 35-51; Annamarie Jagose: Queer Theory. Eine Einführung, Berlin 2001; Butler 1991 (s. Anm. 2). 4 Insgesamt habe ich während der teilnehmenden Beobachtung und den durchgeführten Interviews rund 600 Seiten Transkription und Feldnotizen generiert, auf denen die Darstellung beruht. 5 Vgl. Marco Höhn: Visual Kei. Eine mädchendominierte Jugendkultur aus Japan etabliert sich in Deutsch- land. In: Gabriele Rohmann (Hrsg.): Krasse Töchter. Mädchen in Jugendkulturen, Berlin 2007, S. 45-54.

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Japanpop-Boom«6 ist diese Subkultur schließlich auch nach Europa gekom- men.7 Im Verlauf dieses Kulturtransfers bereicherten Animes und Mangas8 ebenso wie Gameboy und Playstation die Lingua Franca der globalen Jugend- kultur.9 Die Abenteuer der Helden von Pokemon, Sailormoon und Dragon Ball beschäftig(t)en die Vorstellungswelten von Kindern und Jugendlichen auf der ganzen Welt und eben auch von zukünftigen Visus in Deutschland. Die weltweite Rezeption japanischer Popkultur wurde durch das spezielle Inter- esse subkultureller Gruppen eingeleitet.10 Die Digitalisierung der Unterhal- tungsmedien und der Kommunikationstechnologien boten den eher frag- mentierten und isoliert operierenden Fangemeinden neue Möglichkeiten zum Austausch. Das Internet wurde zur zentralen Plattform für die interne Kommunikation und Zirkulation von Mangas, Animes und Fernsehserien. Obwohl Mangas für die hier untersuchte Subkultur nicht irrelevant sind, stehen sie im Gegensatz zur Musik nicht im Zentrum. Sowohl für Musik aus Japan als auch für Visual Kei haben vor allem die Möglichkeiten des Web 2.0 zur Vernetzung und Selbstdarstellung den Weg für eine Rezeption in Deutsch- land geebnet. Gemeinsam ist beiden die Signatur der Globalisierung, und so ist es vielleicht das erste Mal, dass sich eine Jugendkultur weltweit virtuell verbreitet und nicht in der Subkultur einer Großstadt entsteht. Im Rahmen der Globalisierung kommt zur territorialen, lokalen Kultur eine deterritoriale, translokale (Medien-)Kultur hinzu, die den direkten Be- zug zu bestimmten geografischen oder sozialen Territorien verloren hat.11 Auch Visual Kei kann als translokale Subkultur bezeichnet werden, deren vielfältige Vergemeinschaftungsformen sowie deren Sinn und Bedeutung weit über lokale Bezüge hinausweisen und in deterritorialen kommunikati- ven Verbindungen ausgehandelt werden, während die Relevanz für die ein- zelnen Individuen aber weiterhin auf lokaler Ebene zu suchen ist: »Die Kon- zepte der Konnektivität und Deterritorialisierung helfen also zu fassen, dass einerseits die Vorstellung territorial rückbezüglicher Abgeschlossenheit kommunikativer Räume nicht mehr haltbar ist, gleichzeitig Lokalität als Re- ferenzkategorie nicht sinnvoll aufgegeben werden kann. Menschen leben als physische Wesen zwingend an bestimmten Orten, die ihren Lebensmittel- punkt darstellen. Es ist das Lokale, d. h. solche Netzwerke von erreichbaren

6 Vgl. Wolfram Manzenreiter: Die Mangatisierung der Welt: Japans Populärkultur, Kulturdiplomatie und die neue internationale Arbeitsteilung. In: Japan Aktuell, Nr. 4/2007, S. 3. 7 Es handelt sich hier jedoch nicht ausschließlich um ein popkulturelles Phänomen, so waren Mangas schon einmal das Schwerpunktthema der Frankfurter Buchmesse, und an den Wänden europäischer Museen hän- gen Manga-Panels. 8 Mangas sind japanische Comics, die als animierter Film Anime genannt werden. 9 Vgl. Manzenreiter 2007 (s. Anm. 6); Miyuki Hashimoto: Visual Kei Otaku Identity. An Intercultural Analysis. In: Intercultural Communication Studies, Nr. XVI:1, 2007, S. 87-99. 10 Vgl. Manzenreiter 2007 (s. Anm. 6), S. 8. 11 Vgl. Höhn 2008 (s. Anm. 5); Andreas Hepp: Netzwerke der Medien. Medienkulturen und Globalisierung, Wiesbaden 2004.

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Lokalitäten, das in dem kommunikativen Netzwerk der Konnektivität für den Einzelnen bzw. die Einzelne der primäre Fokus des Alltags ist.«12 Solch eine kommunikativ-konnektiv hergestellte, also imaginierte Ge- meinschaft ist auch Visual Kei. Im Kern des Visual Kei steht der J-Rock, der als Sammelbegriff für po- puläre japanische Musik die verschiedensten Stile wie Pop, Rock und Metal umfasst. J-Rock entstand schon in den 1980er Jahren in Japan und wurde dort mit der Etablierung einiger populärer Bands wie zum Beispiel X Japan, D’erlanger, Buck-Tick oder Color erfolgreich. Der Begriff Visual Kei nimmt Be- zug auf einen Slogan von X Japan: »Psychedelic violence crime of visual shock«. Anfang bis Mitte der 1990er Jahre stieg die Popularität von Visual Kei in ganz Japan an, und die Albumverkäufe einiger Visual-Kei-Bands begannen Rekordsummen einzuspielen. 1992 versuchte X Japan auch Einfluss auf den europäischen und amerikanischen Musikmarkt zu nehmen, aber es dauerte noch weitere acht Jahre, bis Visual Kei auch außerhalb Japans Popularität und Aufmerksamkeit erlangte. Mit dem kommerziellen Erfolg der Bands geht meist auch ein Wandel in der äußeren Erscheinung einher, um so ein breiteres Publikum zu erreichen. X Japan zum Beispiel war bekannt für seine extrem hohen Frisuren und ausgefallenen Kleider, haben sich jedoch mit wachsender Aufmerksamkeit für ein weniger schrilles Auftreten entschieden. J-Rock-Bands wurden sowohl auf musikalischer als auch auf ästhetischer Ebene durch westliche Glamm-Rock-Künstler_innen, wie Twisted Sister oder David Bowie, aber auch von Death Rock, New Wave oder Post-Punk inspi- riert. Dies führte dazu, dass teilweise auf einem Album recht unterschiedli- che musikalische Stile zu finden sind. Aber auch vom japanischen Kabuki- Theater, in dem alle Rollen von Männern gespielt werden, die wiederum stark geschminkt sind, wurden Anleihen übernommen. Neben der Musik steht daher auch die visuelle Erscheinung der Musi- ker_innen als stilprägender Faktor im Vordergrund. Besonderes Merkmal der Visual-Bands: die Musiker_innen sehen oft feminin oder androgyn aus, tragen extreme Frisuren, Make-ups und Kostüme. Einige der Musi- ker_innen, wie zum Beispiel Mana, Gackt oder hide, sind mit dieser ästheti- schen In-szenierung zu Superstars und Modells geworden. Hier schließt auch die individuelle Selbstinszenierung der Visus aus Deutschland an: Beim Cosplay13, einer Inszenierungspraxis des Visual Kei, die vor allem aus der Manga- und Animeszene kommt, versucht man die Vorbilder der jeweiligen J-Rock-Band so originalgetreu wie möglich zu ko- pieren. Aber auch ohne ein Cosplay orientieren sich die jugendlichen Prota- gonist_innen im Alltag an ihren Vorbildern aus Japan. Sie tragen ebenfalls

12 Andreas Hepp: Translokale Medienkulturen. In: Andreas Hepp; Martin Löffelholz (Hrsg.): Gundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation, Stuttgart 2002, S. 874. 13 Abgeleitet aus dem englischen »costume« und »play«.

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außergewöhnliche Frisuren, schminken sich, haben oft Piercings und Tattoos und ziehen ausgefallene Kleidung an, die aus Japan kommt oder selbst- gemacht ist. Diese Inszenierung als »extrem« ist ganz bewusst gewählt: Aus dem Verständnis heraus, abseits der Mehrheitsgesellschaft zu stehen, ver- orten sich viele Protagonist_innen als nicht-normal und wählen Körper- praxen, die gesellschaftlich als »extrem« wahrgenommen werden. Dies tun erstaunlicherweise alle Visus, egal ob sie sich als »Junge«, »Mädchen«, als »Mittelding« oder ganz anders verstehen. Die meisten Visus verstehen sich als »Mädchen« oder »Mittelding«, das heißt als transgeschlechtlich. »Jun- gen« sind eher unterrepräsentiert. Und das ist ziemlich bemerkenswert, denn bisher sind die meisten Jugendkulturen zugleich auch Jungenkulturen, in denen die Mädchen nur am Rande vorkommen.

Abbildung 1: Abbildung 2: »Ich bin so ein Mittelding.« Play Gender

Fotografin: Sara Scharff; http://www.hiro-photography.de

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Ein Spezifikum des Visual Kei ist also die ästhetische Selbstinszenierung mit Betonung androgyner Erscheinungsformen, in der Geschlecht für Außenste- hende nicht mehr in einem System der Zweigeschlechtlichkeit verortet wer- den kann, Konzeptionen von Körper und Geschlecht fluide werden. Die Pro- tagonist_innen spielen mit verschiedenen Selbstbildern und erfinden sich immer wieder neu: Play Gender – das Spiel mit den Geschlechtern. Auch Körper erscheinen als unendlich form- und veränderbar, Blicke der Betrach- tenden werden irritiert. Zwar gibt es inzwischen einige Veröffentlichungen, die sich mit androgyn konnotierten Subkulturen wie zum Beispiel Gothic befassen, und selbst die Subkultur-Forschung hat nach hartnäckiger Kritik die »Mädchen« entdeckt. Es gibt jedoch in der Europäischen Ethnologie kaum deutschsprachige Stu- dien, die sich unter queerer Perspektive einer Subkultur widmen, in der auch Trans-Personen zu Wort kommen. Auch eine wissenschaftliche Unter- suchung, die sich umfassend mit Visual Kei befasst, fehlt bislang. Mit meiner empirischen Arbeit setze ich an dieser Leerstelle in der Forschung an und be- trachte die Subkultur Visual Kei aus queertheoretischer Perspektive. In einer Forschungsarbeit, die einen ethnografischen Zugang zu einer mädchendominierten Subkultur sucht und diese durch eine heteronormativ- kritische Brille zu betrachten versucht, entsteht unweigerlich auch eine spe- zifische methodologische Fragestellung: Wie sind dekonstruktivistischer Ansatz und empirische Forschung miteinander vereinbar? Welche Anforde- rungen ergeben sich daraus für das Forschungsdesign und die Anwend- barkeit qualitativer ethnografischer Methoden? Und wie können sich An- nahmen der Europäischen Ethnologie und der Queer Theory gegenseitig befruchten, wo gibt es Schnittstellen? Im Folgenden diskutiere ich deshalb die methodologischen und forschungsethischen Implikationen, die sich aus dem Anspruch einer kritischen Wissensproduktion ergeben.

Studying Queer

Fast alle Forschungen im Kontext der Queer Theory beschäftigen sich mit der Analyse diskursiver Formationen. Den meisten der grundlegenden Arbeiten liegt eine Diskurskritik zugrunde, man bedient sich vor allem des von Jac- ques Derrida geprägten philosophischen Konzeptes der Dekonstruktion oder einer durch Michel Foucault angeregten kritischen Genealogie.14 Vor allem Wissenschaftler_innen, die sich auf die Erforschung von Bedeutungs- konstruktionen in alltäglichen persönlichen Lebenswelten und interpersona-

14 Vgl. Paula Saukko: Doing research in cultural studies. An introduction to classical and new methodological approaches, London 2003.

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len Begegnungen konzentrieren, werfen der Queer Theory einen realitätsfer- nen, abstrakten Theoriefetischismus vor.15 Auch wenn sich das dekonstruktivistische Subjektverständnis der Queer Theory mit Annahmen interpretativer qualitativer Forschung reibt16, heißt das nicht, dass empirische ethnografische Forschung unvereinbar mit post- strukturalistischer Theorie ist. Dekonstruktion und Diskursanalyse haben nicht zwingend eine Reduktion sozialer Praxen auf die Textebene zur Folge. Hier kann man sich direkt auf Derrida beziehen, der darauf bestanden hat, diskursive Deutungen mit ihren institutionellen Rahmungen zu verbinden und so dekonstruktive und institutionelle Kritik zusammenzuführen: »What is hastily called deconstruction is not [...] a specialised set of discursive pro- cedures [...] [but] a way of taking a position, in its work of analysis, concern- ing the political and institutional structures that make possible and govern our practices [...] Precisely because it is never concerned only with signified content, deconstruction should not be separable from this politico-institu- tional problematic.«17 Derrida folgend, gilt es hier vor allem die Brüche zwischen Theorie und Lebenspraxis sichtbar zu machen und so eine ethnografische und historische Kontextualisierung zu leisten. Damit gilt es auch, die Methodenfrage offen- zuhalten, um so qualitative Interviews, Gruppendiskussionen, teilnehmende Beobachtung, dokumentarische Forschung und so weiter mit einer For- schung zu vereinen, die diskursanalytische Fragen in den Blick nimmt. Und obwohl text- und diskursanalytische Zugänge bisher den größten Anteil ei- nes queeren Forschungsansatzes ausmachen, kann meiner Meinung nach ge- rade eine ethnografische Analyse Inkohärenzen und Ambivalenzen deutlich machen, die zentral für ein queeres Verständnis sind. Mit dem Methoden- spektrum, welches in der Europäischen Ethnologie zur Verfügung steht, können insbesondere fluide Konstruktionen von Körper und Geschlecht, Momente der Disruption, Irritationen und Grenzverwischungen sichtbar ge- macht werden. Wenn man sich mit Annahmen der Queer Theory auf ethno- grafische Pfade begibt, kann dies zu einer Weiterentwicklung auf methodo- logischer, forschungspraktischer und inhaltlicher Ebene führen.

15 Vgl. Stevi Jackson: Heterosexuality in Question, London 1999; Ken Plummer: The Past the Present and Futu- res of the Sociology of Same-Sex Relations. In: Peter M. Nardi (Hrsg.): Social Perspectives in Lesbian and Gay Studies, London 1998, S. 605-614. 16 Vgl. Klesse 2007 (s. Anm. 3). 17 Jacques Derrida: Mochlos, or the conflict of the faculties. In: Ders.: Eyes of the University, übersetzt von Jan Plug, Stanford 2004, S. 110.

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Herrschafts- und wissenschaftskritische Forschungsperspektive Sandra Harding hat mit ihrem Ansatz der »Strong Objectivity«18 dargelegt, dass erst eine Selbstpositionierung der Forschenden es ermöglicht, For- schungstexte zu kontextualisieren und auf einer informierten Grundlage zu beurteilen. »Strong objectivity requires that we investigate the relation bet- ween subject and object rather than deny the existence of, or seek unilateral control, over this relation«.19 Die Stigmatisierung einer solchen Forschungs- praxis von Seiten traditioneller Wissenschaftsdiskurse als unwissenschaft- lich verschleiere den historisch und soziologisch kontextuellen Charakter allen Wissens. Ganz ähnlich argumentiert Donna Haraway: Für sie stellt Ob- jektivität weniger ein erkenntnistheoretisches als vielmehr auch ein politi- sches Problem dar. Sie betont in ihrem Artikel »Situiertes Wissen«20, dass dieses immer partiell und von der jeweiligen Positionierung im gesellschaftli- chen Kontext abhängig sei. Um eine Forschungsarbeit und das daraus hervor- gehende Wissen kontextualisieren zu können, fordert sie, dass systematisch verschiedene Perspektiven eines untersuchten Phänomens zusammenge- bracht, verglichen und kritisch bewertet werden. So kann eine »starke Objek- tivität« erreicht werden. Die Offenlegung der subjektiven Positionierung der Forschenden zu ge- sellschaftlich relevanten Machtverhältnissen um Geschlecht, Sexualität, Klasse, race21 und Behinderung erweist sich als wichtiger Bestandteil einer machtkritischen und reflexiven Forschungspraxis. Es war und es ist ein zen- traler Aspekt innerhalb der Akademisierung feministischer Kämpfe, die Auf- merksamkeit auf die hegemonialen (Selbst-)Verhältnisse zu lenken und die eigene Position zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Dieser An- satz geht über die mittlerweile übliche Positionierung zu Beginn eines For- schungstextes als »weiß, christlich sozialisiert, heterosexuell et cetera« hin- aus. Diese ritualisierten Privilegierungsbekenntnisse, die sich häufig in Einleitungen zu wissenschaftlichen Texten finden, stehen als Symbol ohne Transformationspotential und gehen oftmals mit einer Annahme von Ein- deutigkeit, der Reproduktion einer binären Logik oder der Ausblendung an- derer Positionierungen einher. Eine solche Perspektive auf kritische Wissens- produktion greift also meines Erachtens zu kurz. Ich möchte als Forscherin sowie als politische Person versuchen, kritisch zu reflektieren, auf welche Art und Weise meine eigene Subjektivität in die Herrschafts- und Machtverhältnisse eingebunden ist, die meine Forschungs-

18 Sandra Harding: Whose Science? Whose Knowledge? Thinking from women’s lives, Ithaca 1991. 19 Ebd., S. 152. 20 Donna Haraway: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Sabine Hark (Hrsg.): Dis-Kontinuitäten. Feministische Theorie, Wiesbaden 2007, S. 305-322. 21 Ich verwende hier das englischsprachige race, weil es das Machtverhältnis genauer benennt und nicht kolo- nialer Propaganda oder dem Nazi-Regime zuzuordnen ist.

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arbeit strukturieren. Insbesondere die Arbeit mit qualitativen Methoden, die mich in engen Kontakt mit Personen und Gruppen bringt, erfordert ein kriti- sches Bewusstsein darüber, wie ich den Protagonist_innen gegenüber dis- kursiv und materiell verortet bin. Soziale Unterscheidungen um die Katego- rien Gender, Klasse und Begehren waren konstitutiv für die Begegnung mit den Personen im Visual Kei – so wie sie konstitutiv für alle Lebens- und Be- ziehungspraxen sind. Das bedeutet für mich zu bedenken, dass diese nicht erst im Akt der Repräsentation oder Darstellung eine Bedeutung erlangen. Sie strukturieren vielmehr als differenzierender Diskurs und materielle Dif- ferenz den gesamten Forschungsprozess bis hin zum Forschungsdesign und den Interaktionen mit den Protagonist_innen. Von Bedeutung ist an dieser Stelle auch der Hinweis von Shulamit Rein- harz, die argumentiert, dass es nicht das eine kohärente Selbst im For- schungsprozess gibt, dass wir nicht nur »das Selbst ins Feld bringen, […] sondern das Selbst auch im Feld erschaffen«22. Obwohl wir verschiedenste Positionierungen mit uns bringen, lassen sich ihr zufolge drei Grundmuster des Selbst herauskristallisieren: ein forschungsbezogenes Selbst, ein mitge- brachtes Selbst (das Selbst, das historisch und sozial unsere persönlichen Standpunkte begründet) und ein situiertes Selbst. Der Hinweis auf die Kon- struktion des Selbst im Forschungsfortgang zeigt, wie sehr auch ich als Per- son in prozesshafte machtvolle Strukturen verwoben bin und auch meine ei- gene Verortung nicht fixiert und kohärent ist. Unter dem Stichwort »Krise der Repräsentation und Legitimation« disku- tiert die Europäische Ethnologie ähnliche Aspekte seit Jahren. Meines Erach- tens können die Schlussfolgerungen aus dieser Debatte in der poststruktura- listischen und feministischen Wissenschaftskritik fruchtbar gemacht werden. So wird davon ausgegangen, dass Beobachtungen niemals objektiv sind, sondern vielmehr sozial in den Welten der Protagonist_innen und der For- scher_innen lokalisiert werden. Zudem ist die gelebte Erfahrung bereits durch Texte und Diskurse geprägt, so dass Forscher_innen lediglich eine In- terpretation der Interpretation wiedergeben können. Sprache, Praxen, Dis- kurse und Texte spiegeln nicht Erfahrungen wider, sondern schaffen sie im- mer wieder neu.23 Diese Krise der Repräsentation mündet zwangsläufig in eine Krise der Legitimation, da traditionelle Vorstellungen von Validität, die eine Forschung bezüglich ihrer Korrespondenz zur Wirklichkeit bewerten, infrage gestellt und verworfen werden. Diese Auffassung hatte weitreichende Folgen für die Praxis ethnografi- scher Forschung: Eine wesentliche Implikation ist, dass die Erfahrungen und Perspektiven, die in Forschungsarbeiten beschrieben und analysiert werden,

22 Shulamit Reinharz: Who am I? The need for a variety of selves in the field. In: Rosanna Hertz: Reflexivity and voice. London 1997, S. 3 (Übersetzung – N. H.). 23 Vgl. Norman K. Denzin: Interpretive ethnography. Ethnographic practices for the 21st century, London 1997.

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keine unabhängige Wirklichkeit wiedergeben, sondern erst durch den Pro- zess des Schreibens und Forschens hervorgebracht werden. Diese Verschie- denheit der textuellen Repräsentation unterschiedlicher Erfahrungen und damit auch die Rolle der Forscher_innen im Feld – sowie deren Einfluss auf das untersuchte Feld – werden in ethnografischen Forschungsarbeiten seit mehr als zwei Jahrzehnten thematisiert, offengelegt und reflektiert.24 Das Nachdenken über Repräsentation und Legitimation von Forschung korrespondiert mit Debatten, die im Umfeld der herrschaftskritischen de- konstruktivistischen Queer Theory geführt werden. Gerade wenn man sich aus queertheoretischer Perspektive auf empirisches Terrain wagt, eine Ver- knüpfung von Queer Theory und Praxis sucht, ist man plötzlich mit ganz neuen Problematiken konfrontiert und muss überlegen: Was bedeutet es ei- gentlich, mit einem queeren Blick zu forschen, was ist studying queer? Zu die- sen Fragestellungen gibt es für die queer-feministische Methodologie inter- essante Anregungen und Überlegungen in der Europäischen Ethnologie, die fruchtbar gemacht werden können.25 Gleichzeitig bin ich der Auffassung, dass insbesondere die Herrschafts- und Wissenschaftskritik, die von der Queer Theory ausgeht, eine wichtige Erweiterung des ethnografischen Blickes sein kann. Queere Ansätze problematisieren viel stärker Kategorienbildung und die Vielzahl der Ordnungen, die sich in Wissenschaft und Alltag einge- schrieben haben. Ausblendungen, Normalisierungen und Ausschlüsse könn- ten so sichtbarer gemacht, politische Dimensionen akademischen Schreibens aufgedeckt werden, und es könnte vor allem eine geschlechtersensible For- schungspraxis angeregt werden. Wie das konkret in einer ethnografischen Forschung aussehen kann und welche Fragen sich dabei entwickeln, möchte ich im Folgenden erläutern.

Feldforschung als queere Forschungspraxis? Für meine (Feld-)Forschung unter queerer Perspektive bedeutet dies, dass meine Beziehung zu den Protagonist_innen und zu meinem Forschungs- thema an sich schon eine wichtige und interessante Datenquelle ist. Die Ak- teur_innen im Feld sind nicht »rohe«, prätheoretische Quellen der Praxis, sondern vielmehr aktive Produzent_innen ihrer eigenen Interpretationen, die mit den meinen konkurrieren. Deshalb geht es mir in meiner Arbeit vor allem darum, Innenperspektiven und Positionierungen der Repräsen- tant_innen offenzulegen, sie als handelnde, nicht als passive Personen zu er- fassen. Eine harmonische, dialogische Forschung ist jedoch auch ein Ideal- bild von Feldforschung. Meist kommt es durchaus zu Problemen und

24 Vgl. Saukko 2003 (s. Anm. 14); Denzin 1997 (s. Anm. 23). 25 Ich denke hier vor allem an Überlegungen zu Reflexivität, Subjektivität und Validität.

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Konflikten zwischen Forscherin und Protagonist_innen, die jedoch oftmals nicht offengelegt werden. Derzeit gibt es beispielsweise in meiner Forschung einen Interpretations- konflikt: In der Analyse der Forschungstagebücher und Interviews trat ganz deutlich eine Narration hervor, von der ich wusste, dass sie den Protago- nist_innen Unbehagen bereitet und ich mit einer leichtfertigen Interpretation einige Visus verärgern und auch verletzen würde. Im Falle eines Interpretati- onskonfliktes ist natürlich die entscheidende Frage, wer letztendlich die Macht hat durchzusetzen, was in einem Forschungstext gesagt und publi- ziert wird. An dieser Stelle wird ganz deutlich, dass Forschungsbeziehungen nicht egalitär sind und ich mich als Forscherin in einer machtvollen Position befinde. Dieses Machtverhältnis gilt es zu reflektieren und nachfolgend in den Dialog mit den Protagonist_innen zu treten, sie über Interpretations- ansätze und Forschungsverlauf zu informieren und Rücksprache zu halten. Ich habe versucht, die hierarchische Distanz zwischen Forscherin und »Be- forschten« zu verringern und damit eine Art Co-Produktion von Wissen zu- sammen mit den Protagonist_innen zu leisten, denn nur so ist eine konsen- suelle, dialogische Forschung auf informierter Grundlage möglich, die ganz im Sinne einer queeren Forschungspraxis ist. Dazu ist es auch nötig, Sprache als Machtmittel zu reflektieren, das eine solche Co-Produktion und Aus- handlung von verschiedenen Interpretationen ermöglichen oder verhindern kann. Denn nur wenn die Sprache der Forschenden den erforschten Subjek- ten zugänglich und verständlich ist, können diese sich sinnvoll auf sie bezie- hen und in Aushandlungsprozesse eintreten. In der wechselseitigen Bezug- nahme von queertheoretischen und ethnografischen Ansätzen gilt es also, die oft sehr abstrakte, theoretische und damit auch exklusive Sprache der Queer Theory zu übersetzen und zugänglicher zu machen. Eine weitere Ebene dieser notwendigen Reflexion auf Sprache als Macht- mittel wird durch die Frage eröffnet, ob meine Erhebungsmethoden, das Auswertungsverfahren, die Analyseschritte und die Sprache meiner Texte ei- ner queeren Forschungspraxis gerecht werden (können). Ein Großteil der ethnografischen Forschung zu Geschlecht folgt normalisierenden und aus- schließenden Mustern, und eine Forschung, die »deviante/andere« Sexuali- täten untersucht, bringt Kategorien wie lesbisch, schwul und bisexuell oftmals auch erst hervor. Auch ich muss mich fragen, ob ich mit der Adressierung der Protagonist_innen als »Mädchen/Frauen«, »Jungen/Männer« oder »he- terosexuell/bisexuell/homosexuell«, auch wenn diese von ihnen selbst ge- setzt wird, zu einer Normalisierung beitrage und bestimmte Kategorien ver- festige. Diese Problematik im Blick, war es mir schon in der Anlage des Forschungsdesigns wichtig, eine nicht-normative Frage nach Geschlecht zu stellen und mit meinem Verhalten und meiner Adressierung der Protago- nist_innen, die Möglichkeit für alle Positionierungen zu Geschlecht und Be-

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gehren möglichst offenzuhalten. Dies führte zu zahlreichen Überlegungen schon im Vorfeld der Teilnehmenden-Beobachtung: Wie spreche ich die Leute eigentlich an? Wie kann ich über Geschlecht und Begehren reden, ohne dabei mit normativen Begrifflichkeiten Grenzen zu schaffen? Welche Rolle spielt dabei meine eigene Verortung und Körperlichkeit, wie positioniere ich mich in intersubjektiven Begegnungen? Welche Facetten meines Selbst werden in den Begegnungen mit den Protagonist_innen transportiert, und wie wirken sich diese aus? Ich habe versucht, Kategorisierungen und sprachliche Setzungen zu redu- zieren, in meinen Adressierungen an die Protagonist_innen sehr vorsichtig und sparsam zu sein. Dennoch greife ich auf manchen Ebenen auf eine Be- nennung und Kategorisierung zurück, um bestimmte Sachverhalte über- haupt greifbar zu machen, eine Sprache dafür zu haben. Diese Adressierun- gen habe ich jedoch erst verwendet, wenn die Forschungspartner_innen sich selbst mir gegenüber verortet haben. Wenn sich zum Beispiel eine Person mir gegenüber als weiblich und bisexuell verortet hat, habe ich sie im Fol- genden mit genau diesen Begrifflichkeiten angesprochen und konnte dann auch genauer fragen, was sie denn mit »weiblich« oder »bisexuell« genau meint, was sie darunter versteht und wie diese Kategorien auf ihren Alltag einwirken. Für einen queeren Forschungsansatz ist es also wichtig, sich normativer Bezeichnungspraxen bewusst zu sein und diese, soweit es geht, zu öffnen und als Forscherin beständig zu reflektieren, welche Begrifflichkeiten in der Arbeit zugrunde gelegt werden, die wiederum Identitäten und Kategorien (re-)produzieren. So gelingt es auch, dem prozesshaften Charakter von Selbstpositionierungen gerecht zu werden, der sich in pluralen, fluiden und kontingenten Identitäten ausdrückt. Ich bin der Meinung, dass eine solche Perspektive nicht nur für Forschungen zu Geschlecht und Sexualität sinnvoll ist, sondern auch für ethnografische Forschung im Allgemeinen fruchtbar gemacht werden sollte, um normative, unkritische Zuschreibungen in ge- schlechtliche oder sexuelle Kategorien zu vermeiden.

Schluss

Ein empirischer Zugang, der die Frage der Positionierung ernst nimmt, ermöglicht eine direkte Interaktion und einen Anschluss zu den Protago- nist_innen der Forschung. Und dies in einer Art und Weise, die weniger aus- beuterisch, weniger objektivierend und politisch relevanter ist. Das gene- rierte Wissen über Visual Kei und die Praxen darin entstand und entsteht in einem Aushandlungsprozess zwischen Forscherin, Protagonist_innen und epistemischer Gemeinschaft.

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In meiner Forschung bin ich an die Schnittstellen von Europäischer Eth- nologie und Queer Theory gestoßen, vor allem in methodologischen und for- schungsethischen Fragen. Diese Schnittstelle kann sowohl für die Theorie als auch für die Praxis fruchtbar gemacht werden. Für die Queer Theory leistet sie eine ethnografische und historische Kontextualisierung, ein Sichtbarma- chen von Brüchen zwischen Theorie und Lebenspraxis. Mit dem Methoden- spektrum, welches in der Europäischen Ethnologie zur Verfügung steht, können besonders fluide Konstruktionen von Körper und Geschlecht, Mo- mente der Disruption sowie Irritationen und Grenzverwischungen sichtbar gemacht werden. Die Schnittstelle könnte wiederum für die Europäische Ethnologie dazu beitragen, Fragen der Repräsentation und Legitimation weiterzudenken und vermehrt normative, politische oder moralische Verankerungen zu reflektie- ren. Die Problematisierung von Kategorien und Ordnungen, die sich in Wis- senschaft und Alltag eingeschrieben haben, trägt dazu bei, Normalisierungen und Ausschlüsse sichtbarer zu machen, politische Dimensionen akademi- schen Schreibens aufzudecken und vor allem eine geschlechtersensible For- schungs- und Schreibpraxis anzuregen.

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Britta Pelters

Die doppelte Kontextualisierung genetischer Daten. Gesundheitliche Sozialisation am Beispiel der Familie Schumacher-Schall-Brause

Das Wissen von den »Genen«1 ist ein verkörpertes, gesundheitsbezogenes ›Verbindungswissen‹, das Formen sozialer Vergemeinschaftung beeinflusst, in seiner Wahrnehmung aber auch von diesen beeinflusst wird. Gesundheit kann daher als sozial geteiltes Erb-Gut verstanden werden, worauf zudem sowohl die Praxis der Stammbaumerhebung als auch die gewöhnliche fami- lienbezogene Abfragepraxis des Hausarztes hinweisen. Der ›Besitz‹ von DNA- Sequenzen ist kein personales Alleinstellungsmerkmal, obwohl aus diesem in der Regel eine personalisierte Verantwortung abgeleitet wird. Diese ver- langt den auf Optimierung getrimmten Mitgliedern der »Gesundheitsgesell- schaft«2 eine gewinnbringende Verwaltung ihres Gesundheitspotenzials unter Zuhilfenahme des Gesundheitsmarktes ab. Im Gegensatz zu dieser isolationistischen Sicht auf Gesundheit soll anhand des Falls der von fami- liärem Brust- und Eierstockkrebs betroffenen Familie Schumacher-Schall- Brause3 eine Gesundheitssozialisation dargestellt werden, die in der Span- nung von Wissen und Gemeinschaft erfolgt. Grundsätzlich lassen sich zwei Formen ›genetisierter‹ Kollektive unter- scheiden: Aus der traditionellen Fokussierung der Humangenetik auf fami- liär vererbte Erkrankungen ergibt sich die biologische Verwandtschaft – vulgo: die Familie – als relevante Gruppe.4 Diese Gemeinschaft soll im Fol- genden näher beleuchtet werden. Vor dem Hintergrund des humangeneti- schen Trends zur Gegenwarts- statt zur Vergangenheitsanalyse, der bei- spielsweise durch verstärkte epigenetische Forschung und Sequenzanalysen

1 Der Gen-Begriff ist ein höchst zweifelhafter. Er repräsentiert letztlich eine Arbeitsdefinition, die aber durch ihre beständige Verwendung im (populär-)wissenschaftlichen Rahmen zur gesellschaftlich und individuell wirksamen ›Realität‹ geworden ist. Der Begriff »Gen« stellt jedoch eine Setzung dar, die je nach Kontext et- was völlig anderes bezeichnen kann. – Vgl. Silja Samerski: Die verrechnete Hoffnung: Von der selbstbe- stimmten Entscheidung durch genetische Beratung, Münster 2002. – Er soll jedoch im Weiteren aufgrund seiner Geläufigkeit Verwendung finden. 2 Vgl. Ilona Kickbusch: Die Gesundheitsgesellschaft. Megatrends der Gesundheit und deren Konsequenzen für Politik und Gesellschaft, Hamburg 2006. 3 Die Fallrekonstruktion basiert auf einem Familieninterview mit der Großmutter Johanna Schumacher (zum Zeitpunkt des Interviews 70 Jahre alt), ihren Töchtern Lydia Schall (51) und Anke Brause (45) sowie der En- kelin Lisa Aziza Schall (23), Einzelinterviews mit den drei zuletzt genannten Frauen, einer Analyse des Ge- nogramms sowie des Kontaktablaufs. 4 Vgl. Regine Kollek; Thomas Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft: gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests, Frankfurt am Main 2008.

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zum Ausdruck kommt, bieten sich darüber hinaus die als Biosozialitäten5 besprochenen neuen Kollektive von Sequenzinhaber_innen – vulgo: Patien- tenselbsthilfegruppen – als neue peer groups an. Beide Kollektive verweisen letztlich auf eine Tendenz zur gesundheitlichen Vergemeinschaftung. Die Relativierung der persönlichen Gesundheit im Sinne einer Vulnerabilisierung bezüglich eines speziellen Krankheitsereig- nisses ist demnach verknüpft mit einer zweiten sozialen ›Relativierung‹, die sich jedoch eher als Relationierung bezeichnen lässt: relative health und health relatives gehören untrennbar zusammen. Diese doppelte Relativierung bein- haltet eine doppelte Kontextualisierung6, da ein Testresultat sowohl als ›Ge- sundheitsinformation‹ mit vorhandenen persönlichen gesundheitlichen Deutungsmustern in Beziehung gesetzt werden muss als auch als ›Ausweis‹ einer bestimmten Familienzugehörigkeit gelesen wird und daher eine Über- arbeitung bereits bestehender familialer Beziehung7 initiiert. Dies verweist auf zwei Gewissheiten, die mit einem positiven Gentestre- sultat verbunden sind: Zum einen existiert eine als körperliches Merkmal verstandene Information, die als potenziell gesundheitsgefährdend für die getestete Person gedeutet wird. Zum anderen handelt es sich um eine so- ziale, im vorliegenden Fall familienspezifische und damit familien(re-)defi- nierende Information. Die Auswirkungen dieser Deutungserweiterungen des Gen-Wissens stehen nachfolgend im Fokus, weshalb auch von Wissens- folgenabschätzung statt von Risikofolgenabschätzung zu sprechen ist. Beide Kontextualisierungsdimensionen stehen darüber hinaus – wie oben bereits erwähnt – nicht unverbunden nebeneinander, sondern beeinflussen sich ge- genseitig. Dieser Komplex soll nun anhand des angekündigten Fallbeispiels aus dem Bereich des sogenannten »Brustkrebsgen-Tests« und des damit ver- bundenen familiären Brust- und Eierstockkrebses erläutert werden.

»Brustkrebsgene« und Co.

Die Gene BRCA1 und 2 sind als »Brustkrebsgene« bekannt geworden (BRCA = BReast CAncer). Sie bezeichnen DNA-Sequenzen, deren Variabilität mit dem familiär gehäuften Auftreten bestimmter Krebsarten assoziiert wird: Bei Frauen sind dies vor allem Brust- und Eierstockkrebs, bei Männern Prostata-

5 Vgl. Paul Rabinow: Artifizialität und Aufklärung. Von der Soziobiologie zur Biosozialität. In: Ders.: Anthro- pologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung, Frankfurt am Main 2004, S. 129-152. 6 Dies geschieht vor dem Hintergrund der jeweiligen biografischen Situation als drittem Kontext, der jedoch hier nicht weiter berücksichtigt werden soll. 7 Letzteres wurde an anderer Stelle als Refamiliarisierung beschrieben. – Siehe Britta Pelters: Zurück in die Zukunft. In: GID 188, Juni 2008, S. 46-49. – Allgemein formuliert sind DNA-Sequenzen als Ausweis einer Gruppenzugehörigkeit mit der Notwendigkeit der Neudefinition sozialer Beziehungen verknüpft, was dann konsequenterweise als Resozialisierung zu bezeichnen wäre.

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und Hoden-, aber auch Brustkrebs. Es ist zulässig zu sagen, dass die je fami- lienspezifische Sequenz-Variante für die familiäre Häufung der Krebsfälle verantwortlich ist, diese jedoch nicht die Ursache individueller Krebserkran- kungen darstellt. Die Ursache bleibt weiterhin unbekannt. Konnte die fami- liär krebsverantwortliche DNA-Sequenz festgestellt werden, so lassen sich auch bislang gesunde Familienangehörige auf deren Vorhandensein testen. Dies wird als prädiktiver, das heißt vorhersagender Test bezeichnet, da ein medizinisch positives Testergebnis, also das Vorliegen der familienspezifi- schen Variante bei der getesteten Frau, mit einer erhöhten Erkrankungs- wahrscheinlichkeit bis zum 70. Lebensjahr verbunden wird. Im vorliegenden Fall wurde den positiv getesteten Frauen ein Risiko von bis zu 80 Prozent für Brustkrebs und bis zu 60 Prozent für Eierstockkrebs mitgeteilt.8 In Deutsch- land existieren zwölf Zentren für familiären Brust- und Eierstockkrebs, die sowohl den molekulargenetischen BRCA-Test9 als auch verschiedene Früh- erkennungs- und Präventionsmöglichkeiten für BRCA-positive Frauen an- bieten. Letztere umfassen halbjährliche intensivierte Früherkennungsunter- suchungen (Mammographie, Ultraschall, MRT), prophylaktische Entfernung der (noch gesunden) Brüste und Eierstöcke und (seltener) Chemopräven- tion. In den Zentren sind Humangenetiker_innen, Gynäkolog_innen und Psycholog_innen bzw. Psychoonkolog_innen miteinander vernetzt und ko- operieren bei Beratungen und Untersuchungen.10

Die BRCA-positive Familie Schumacher-Schall-Brause (SSB)

Um die doppelte Kontextualisierung, das heißt die Entwicklung des Famili- ensystems und der persönlichen gesundheitlich-körperlichen Deutungs- muster sowie die Vernetzung dieser Bereiche, adäquat darzustellen, wird nun die Geschichte der von Krebs betroffenen Familie SSB rekonstruiert und an gegebenen Punkten durch die Darstellung transaktionaler Prozesse er- gänzt, die einzelne Frauen in ihrem Verhältnis zur Familie betreffen. Als Fa- milie gilt dabei der im Alltag aktuelle und als relevant erlebte Familienteil in horizontaler zeitlicher Ausrichtung sowie der als relevant erinnerte und wahrgenommene historische Familienteil in vertikaler Ausrichtung.

8 Diese Zahlen können jedoch je nach zugrunde gelegter Studie stark variieren. Eine Wahrscheinlichkeits- spanne von 37-87 Prozent für Brust- und 16-60 Prozent für Eierstockkrebs für beide Gen-Orte lässt sich fest- stellen. – Vgl. Anja Mehnert; Corinna Bergelt; Uwe Koch: Prädiktion genetischer Brust- und Ovarialkrebs- diagnostik. Manual zur Beratung ratsuchender Frauen, Stuttgart 2003. 9 Der BRCA-Testprozess besteht aus der Trias Beratung – Test – Beratung. 10 Vgl. Ansgar Gerhardus u. a.: BRCA – Erblicher Brust- und Eierstockkrebs. Beratung – Testverfahren – Kos- ten, Heidelberg 2005.

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Die Basis: Familientraditionen Die den familiären Handlungshintergrund bestimmende Interaktionslogik wird zum einen durch die bäuerliche Familientradition des Großvaters Karl- Herbert gebildet, zum anderen durch die bürgerlich orientierte Handwerks- familie der Großmutter Johanna. Zunächst bestimmt die patriarchale, bäuer- liche Abstammungslinie Karl-Herberts das Familienmilieu, das sich daher durch Arbeitsleistung, Traditionsorientierung, Reziprozität sowie durch eine Familiengemeinschaft ohne (soziale) Rückzugsmöglichkeit ausgezeichnet haben dürfte. Diese männliche Machttradition wird zusätzlich durch den männerzentrierten ›Familienfluch‹ des eingeschränkten Stammhalterüberle- bens betont und führt zu einer pyramidalen Familienstruktur mit Karl-Her- bert an der Spitze. In den Punkten Leistung und reziproke Gemeinschaft treffen sich die beiden Traditionen. Hinsichtlich der Forderung nach Privats- phäre unterscheiden sie sich jedoch maßgeblich. Die am bürgerlichen Ideal orientierte Handwerksfamilie begreift Familie als intimen Rückzugsort, während in der bäuerlichen Familie ein Rückzug in die Privatsphäre den ge- meinsam zu erbringenden Arbeitsleistungen entgegenstehen würde. Dieser Unterschied ist für den Umgang mit dem familialen Krebs wesentlich.

1975 und Folgejahre: Krise durch Krankheit Die Erkrankungen und die krebsbedingten Tode der Urgroßmutter sowie zweier Schwestern Johannas in den 1960er und 70er Jahren tragen dazu bei, dass die erwachsenen Frauen der Familie SSB sich während der Krebser- krankung um diese Verwandten kümmern und selbst frühzeitig mit gynäko- logischen Vorsorgeuntersuchungen beginnen. Bei einem dieser Arztbesuche wird bei Johanna 1975 Eierstockkrebs dia- gnostiziert, was zur operativen Entfernung der betroffenen Organe führt. Ihr Mann Karl-Herbert rechnet daraufhin offensichtlich mit Johannas Tod und fordert seine Töchter Lydia und Anke auf, ihn und den Haushalt zu versor- gen. Diese weigern sich. Mit der Genesung Johannas entspannt sich die Si- tuation, bis diese 1985 erneut, diesmal an Brustkrebs, erkrankt und ihr eine Brust entfernt wird. 1997 kommt es zu einer dritten Krebserkrankung Johan- nas, einem Hautkrebs an der Nase, der jedoch undramatisch verläuft. Wäh- rend Lydia sich als Ansprechpartnerin und Unterstützerin Johannas in den Krebsperioden etabliert und Johanna selbst, »ohne zu jammern«, gegen die Krankheit kämpft, agiert Karl-Herbert meistenteils öffentlich bloßstellend und privat abwertend gegenüber seiner Frau. Er entwickelt selbst verschie- dene Krankheiten (Schlaganfall, Diabetes) sowie eine Tendenz zu deren The- matisierung, was jedoch innerfamiliär wenig ernst genommen wird.

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Familiale Konsequenzen In der Krebs-Periode wird Krebs als Thema der Familie SSB und als zweiter ›Familienfluch‹ neben dem des Stammhalterüberlebens relevant. Es kommt zu einer Änderung der Mitgliederpositionen und einer Neubestimmung der familialen Beziehungsstruktur: Durch das Scheitern von Karl-Herberts egoisti- schem, patriarchalem Stammhalter-Anspruch gerät die auf ihn fixierte pyra- midale Familienstruktur ins Wanken. Nun rückt Johanna ins Zentrum fami- liärer Bemühungen und damit auch ins Zentrum der Beziehungsstruktur, die nun eher einem ›familiären Sonnensystem‹ gleicht. Auf der horizontalen Zeitebene der Gegenwart bildet sich ein ›Krebsmatriarchat‹, in dem Johanna aufgrund der – mit familiärer Unterstützung – überstandenen drei Krebser- krankungen die Position der vulnerablen Gesundheitsikone einnimmt. In dieser Umgruppierung der Beziehungsstruktur spiegelt sich die Entschei- dung für den aus Sicht der Beteiligten wichtigeren ›Familienfluch‹ und da- mit die zentrale Verkörperung von Familie: Krebs. Dies führt auch auf der vertikalen Zeitachse zu einer Umorientierung der Familienausrichtung im Sinne einer neu etablierten weiblichen Traditionslinie, die an die Stelle der patriarchalen Tradition tritt.

Karin Jonas † 1974 Agatha † 1979

Elfriede Lydia † 1980

Karl Herbert Johanna

Rose Anke

Abbildung 1: Familiale Positionseffekte durch die familiäre Krebserkrankung

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Darüber hinaus wird die historische Interaktionslogik an die Herausforde- rungen der multiplen Krebserkrankungen angepasst. Auf der Basis einer Orientierung an den Prämissen Reziprozität, Arbeitsleistung und familiäre Privatsphäre entstehen Gesundheitsleitlinien zum Umgang mit Krebs, die aus der familial aufgewerteten Tradition Johannas und der familial abgewer- teten Karl-Herberts resultieren.

Gesundheitsikone Johanna: Gesundheitsfeindbild Karl-Herbert: vorbildliches Verhalten abgelehntes Verhalten

Leistungsorientierung und -pflicht passiver Kontrollverlust (Vorsorge!): folgsamer Pragmatismus offensichtliches Leiden und Leidenschaftslosigkeit

Veröffentlichungsverbot Veröffentlichungsgebot, Chance zur öffentlichen Anerkennung

altruistische Familiensolidarität Egoismus und Reziprozität

Ausgehend von diesen Prinzipien der Interaktionslogik (vor allem der Vor- sorgeorientierung und der Verantwortungsübernahme), die insbesondere von den Kindern gefordert und zum Teil auch erfüllt wurden, sowie von der strukturellen Entwicklung innerhalb der Familie SSB lassen sich Aussagen zum damaligen Familiensystem machen. Einerseits führt die Beurteilung der Kohärenzdimension zur Feststellung einer hohen familialen Verstrickung, da generationale Grenzen überschritten werden und die Bindung an ein ›fa- miliales Innen‹ betont wird. Die Krebserkrankung führt folglich zur Entfal- tung zentripetaler Kräfte. Leitlinie der Familienorganisation – die soge- nannte Leitdifferenz – ist Bezogenheit, nicht Autonomie. Andererseits ist das Familiensystem durch eine relative Starrheit und geringe Adaptabilität ge- kennzeichnet, da das traditionelle familiäre Handlungsrepertoire lediglich leicht verändert auf die neue Situation angewandt und kaum durch neue, adäquatere Handlungsansätze ergänzt wird. Als allgemeines Handlungsziel kann die Stabilisierung der Familie konstatiert werden, die sich im Speziel- len in dem Bemühen realisiert, die Familie ›gesund‹ zu halten. Damit wird Gesundheit zu einem in der Familie organisierten Gut. Hohe Kohärenz und geringe Adaptabilität ermöglichen jedoch gleichzeitig die Ausbildung von ›Pufferzonen‹, um einen individuellen Handlungs- und Deutungsraum zu gewährleisten, ohne das Familiensystem zu gefährden. Dadurch wirkt das

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Vorhandensein von Pufferzonen wiederum stabilisierend auf das gesamte Familiensystem zurück. Demzufolge existieren verschiedene krebsbezogene Deutungsmuster, die individuell jeweils bevorzugt werden. Allen Familienangehörigen gemein ist eine familiäre Deutung von Krebs als einmaliges, nicht chronisches Ereignis sowie Handlungsanlass und Lebensbe- bzw. -verhinderung. Der Erkran- kung und ihrem zerstörerischen Potenzial kann jedoch durch geradezu ritu- alisierte Vorsorgebesuche aktiv zuvorgekommen werden. Individuelle Deu- tungsmuster umfassen einerseits die relativ oberflächlichen Ansätze der Körperform als prädiktives Stigma und der Altersgrenze, die ein maximales Erkrankungsalter von 40 Jahren als schützenden Schwellenwert fixiert. Diese Deutungsmuster verweisen erneut auf die eher geringe reflexive Tendenz der Familie, die im wörtlichen und übertragenen Sinn an der Oberfläche bleibt. Andererseits steckt in dem von Johanna abgelehnten Deutungsmuster der ›Krebspersönlichkeit‹11 ein deutliches Ja zur Familie und ein Nein zur individuellen Verantwortung, was wiederum auf die hohe Kohärenz des Fa- miliensystems hinweist.

Verzahnung familialer und individueller Deutungen am Beispiel Lydias Die diversen Krebserkrankungen haben bereits zu Kontextualisierungen ge- führt, die nicht nur familiale Positionseffekte zur Folge haben, sondern auch die inkorporierte Gesundheitsdeutung betreffen, wie das Beispiel Lydias belegen soll. Lydia hat durch Krebs eine als unvermeidlich empfundene Annäherung an ihre Herkunftsfamilie erfahren. Dieser ›Zwang‹ kann als Er- gebnis eines Regelkreises beschrieben werden, indem sich familiär akzep- tierte, persönliche Körperdeutungen und familiale Beziehungen ergänzen: Ausgehend vom familiär akzeptierten Deutungsmuster der Körperform, scheint Lydia eine Unbeteiligtheit bezüglich der Krebserkrankungen zu be- sitzen, da sie mit ihrem »Spielzeugbusen« – im Gegensatz zum »Mords- busen«12 – eine als protektiv geltende Körperform aufweist. Dies stärkt folg- lich ihre Abgrenzung vom Krebsthema. Ihre scheinbare Unbeteiligtheit führt dazu, dass Lydia auch in emotional fordernden Situationen als vermeintlich distanzierte Unterstützerin und Ansprechpartnerin von anderen Familien- angehörigen bemüht und Krebserfahrungen ausgesetzt wird. Darüber hin- aus legen sowohl das väterliche als auch das mütterliche Verhalten eine Identifikation mit dem (von Krebs betroffenen) weiblichen Familienteil nahe,

11 Dieses vor allem in den 1980er Jahren in der Medizin verbreitete Deutungsmuster besagt, dass gewisse ›Per- sönlichkeitsmerkmale‹ Krebs begünstigen. Es ist als Erklärungsansatz sehr kritisch zu sehen, da oftmals eine Ursachen-Folgen-Verwechslung nicht ausgeschlossen werden konnte. – Vgl. Reinhold Schwarz: Die Krebs- persönlichkeit. Mythos und klinische Realität, Stuttgart, New York 1994. 12 Familieninterview SSB, S. 2.

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in dem beide Elternteile Lydia in einer weiblichen Rolle ansprechen. Beide Faktoren zusammen erschweren somit die emotionale Abgrenzung, was im folgenden Zitat zum Ausdruck kommt: »Da hend mir d’Elfriede dann b’sucht . ha, da war der ganze Rücke offe (angeekelt). mei Mutter hat sie mal dreht! . wo i dort war, un sie- mei Mutter ›komm, hilf sie mir rumdrehe‹, ja? . un die lupft die un da isch des ganze Fleisch hat rausguckt . sa ›Mamma, mir wird schlecht‹! [lauter] . i bin naus, bin im Gang g’sesse in [Stadt] im Kranke- haus, mir wars elend, Krankeschweschter hat mi a’guckt, isch aber weiter gelaufe . un na bi i .zum Uffzug . des näschte was i g’merkt hann, das Leut wegsprunge sin, da bin i ohnmächtig worde, mitt im Krankehaus, Leut si noch wegsprunge, also muss Bsuch gewese sei, weil die: hann bloß e (1?) sehe un es näschte Mal bin i wieder uffgewacht unte bei Keller . i sag bei die Leiche unte, im Krankhaus! bin i zwei Mal! ohnmächtig g’wese, niemand, gar niemand! [laut] hat mir irgendwie geholfe.«13 Dieses traumatische Erlebnis führt somit zu einem körperlichen Gefähr- dungsgefühl, das jedoch – aufgrund des Verbots, emotionale Betroffenheit zu äußern – ›privat‹ bleibt, statt ›familienöffentlich‹ zu werden.14 Im Familienumfeld ergibt sich somit für Lydia eine Spannung zwischen ihrem ›öffentlichen‹, dem Deutungsmuster nach ›krebsabweisend‹ gestalteten Körper und ihrem ›privaten‹ Körper, den sie durch ihre Krebsangst als gefähr- det erlebt. Diese körperliche Ambivalenz zwischen Stärke und Vulnerabilität spiegelt die Ambivalenz zwischen Unterstützung und Verletzbarkeit als mög- lichen familiären Erfahrungen und inkorporiert diese familiale Möglichkeit- sambivalenz geradezu. Vor dem Hintergrund der familialen Gesundheitsre- geln sowie der Beschaffenheit des familialen Systems trägt diese Spannung zu einer steigenden Abhängigkeit von der Herkunftsfamilie und gleichzeitigen Annäherung Lydias an diese bei, die – auch aufgrund ihres ›invasiven Charak- ters‹ – von ihr zunehmend mit Krebs und unvermeidbarem Zwang gleichge- setzt wird, was wiederum distanzierend auf Lydias Verhältnis zu ihrer Familie wirkt. Diese Ambivalenz Lydias zwischen Nähe und Distanz zur Herkunftsfa- milie führt zu ihrem Verweilen auf der familialen Grenze (siehe Abbildung) bei gleichzeitigem Aufbau eines ›Sozialkontos‹ durch Lydias Engagement für die Familie, das im Ernstfall von Krebs eine familiäre Unterstützung, das heißt ein Engagement der Familie für Lydia, sichern soll. Lydia kommt so zu einem distanzierten Anschluss an ihre Herkunftsfamilie und deren Gesundheitsmy- thos – ein Anschluss, der allerdings beständig Arbeit erfordert, um nicht in die eine oder andere Richtung ›abzurutschen‹.

13 Lydia Schall, Einzelinterview, S. 3. Die Punkte im Zitat beschreiben die Länge von Sprechpausen, beginnend mit einem Punkt für eine kurze Pause und so weiter. Das „(1?)“ bezieht sich auf ein akustisch nicht verstan- denes Wort. Die Kursivschreibweise verweist auf besonders betonte Wörter bzw. Passagen, eine Erläuterung der Betonung erfolgt nachgestellt in eckigen Klammern. 14 Diese Entwicklung dürfte durch Lydias teilweise postadoleszente Periode instabiler Beziehungen verschärft worden sein, um kurz auf die biografische Komponente hinzuweisen.

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Ab 2004: die BRCA-positive Familie Ein erster prädiktiver molekulargenetischer BRCA1-Test erbringt 1999 ein negatives Ergebnis bei Johanna und damit der gesamten Familie SSB. 2003 wird der Familie SSB der BRCA2-Test angeboten. In Kleingruppen gehen die SSBs nacheinander zum Test, der bei Johannas Tochter Anke sowie bei Ly- dias Kindern Lisa und Daniel positiv ausfällt. Anke konzentriert nach kurzem Schock ihre Aufmerksamkeit auf die Durchführung einer prophy- laktischen Eierstockentfernung und beginnt mit der intensivierten Früher- kennung. Im Gegensatz dazu wird die eigentlich test- und wissensunwillige Lydia am Tag, nachdem ihren Kindern die positiven Resultate mitgeteilt wurden, von ihrer Tochter Lisa von deren positivem BRCA-Status in Kennt- nis gesetzt. Damit ist Lydia klar, dass auch sie BRCA-positiv sein muss. Ly- dia holt den BRCA2-Test nach, um auch zur intensivierten Früherkennung zugelassen zu werden. Sie lässt sich schließlich, wie ihre Schwester Anke, die Eierstöcke entfernen. Ab Herbst 2004 fahren Anke, Lydia und Lisa gemein- sam zu den Früherkennungsuntersuchungen, was von ihnen als »Ausflug«15 beschrieben wird.

Familiale Konsequenzen Die vertikale Umorientierung der familialen Beziehungsstruktur von der väterlich-männlichen zur mütterlich-weiblichen Traditionslinie, die bereits durch die familieninterne Bestimmung des ›Krebsfluchs‹ als familial rele- vante Verkörperung eingeleitet wurde, wird durch den positiven BRCA2- Test bestätigt. In der horizontalen Perspektive findet eine Wandlung des ›Krebsmatriarchats‹ statt: Der Teil der Verwandtschaft, der (auch) im Alltag durch Besuchs- und Arbeitsroutinen erlebbar ist und als Familie adressiert wird, wird nun durch den Status BRCA-positiv bestimmt. Damit findet eine Verbreiterung der familialen Betroffenheits- bzw. Bezugsstruktur statt, da die Zuspitzung auf eine aktuell von Krebs ›betroffene‹ Frau zugunsten einer Fokusausweitung auf mehrere potenziell ›betroffene‹ BRCA-positive Frauen aufgegeben wird. Aus dem ›Krebsmatriarchat‹ wird die BRCA-positive Familie.

15 Familieninterview, S. 8.

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Agatha † 1979 Karin Vater † 1974 Elfriede Lydia † 1980

Daniel Mutter * 1973 Jonas

Lisa Anke * 1983

Rose

Abbildung 2: Die Familie SSB nach dem positiven BRCA-Test 2005

Auf der Handlungsebene erfolgt eine Ausdifferenzierung der familialen Ge- sundheitsleitlinien, deren Grundprinzipien jedoch im Wesentlichen gleich bleiben. Das Regelwerk kann nun wie folgt ausformuliert werden: • Krebsursachen bzw. -erkrankungen stellen Handlungsaufgaben dar, die durch eine (re)aktiv-pragmatisch Strategie zu bewältigen sind. Das Grund- prinzip besteht darin, gemäß einer ›Alles oder Nichts‹-Regel dann zu han- deln, wenn die Notwendigkeit besteht, und sich nicht verrückt zu machen. (Theoretisierende) Auseinandersetzungen oder Reflexion sind hingegen we- der hilfreich noch angeraten. • Gesundheit bzw. Gesundung ist durch ausdauernde Leistung, nötigen- falls durch Kampf zu erhalten/wiederzuerlangen. Jede Person hat mit ihrer ›Körper-Maschinerie‹ verantwortungsvoll umzugehen. Dies beinhaltet das Handling von Ernährung, Bewegung und Stress und bezieht sich insbeson- dere auf die Pflicht, regelmäßig an medizinischen Vorsorgeuntersuchungen teilzunehmen. • Es ist angezeigt, in sozialen Kontexten seine visuelle und emotionale Präsentation zu kontrollieren. Insbesondere Betroffenheit wie Leiden, Angst oder Schwäche, aber auch Freiheits- oder Selbstbestimmungssehnsüchte sind nicht zu äußern.

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• Es besteht die Pflicht zum kollektiven familialen Krisenmanagement in- klusive der Verhinderung öffentlicher Exposition. Im Fall einer eigenen Krise beinhaltet dies den Rückzug aus dem potenziell bloßstellenden außerfami- liären in ein fürsorgliches innerfamiliäres Umfeld. Im Fall der Krise eines an- deren Mitglieds beinhaltet dies die Notwendigkeit familialer Solidarität sowie eine primäre Verantwortung zur Bewältigung der Krise, die bei der Herkunftsfamilie liegt. Das BRCA-Testresultat verstärkt die Verstrickung und Erstarrung des Familiensystems SSB, indem es durch die Verbreiterung der familialen Auf- merksamkeit auf mehrere Personen bei gleichbleibend hohen Anforderun- gen an das Gesundheitshandeln und die rollenförmige Funktionsaufteilung (beispielsweise als durchhaltende Gesundheitsikone) den Druck zum ge- sundheits- und damit familienkonformen Verhalten im Sinne des ›einen ver- antwortungsvollen und gesunden Familienkörpers‹ erhöht. In der damit präventiv-funktional zu nennenden Familie SSB existiert folglich eine starke Forderung nach Familien-Compliance. Zugleich wird dies mit real erlebter Unterstützung kombiniert, was die Bewertung der gesteigerten familialen Deutungsmacht und ›Vereinnahmung‹ und einen möglichen Widerstand da- gegen sehr ambivalent machen muss. Die Individuation und Selbstbestim- mung der Einzelnen wird dadurch extrem erschwert, was besonders in der Unausweichlichkeit des BRCA-Tests sowie der nachfolgenden Aktivität des ›Vorsorge-Ausflugs‹ deutlich wird. Dies dürfte den oben genannten Trend zur Nutzung von familieninternen ›Pufferzonen‹ anstelle einer Abnabelung von der Familie stärken und sichert zugleich den Fortbestand der BRCA-po- sitiven Familie. Die Kontextualisierung bedeutet in diesem Fall folglich ein ›Mehr desselben‹ im Sinne einer Fortsetzung der spezifischen Umgangswei- sen mit und Wahrnehmungsweisen von Krebs, die auf den Erhalt der Fami- lie ausgerichtet sind. BRCA und Krebs werden so zu familialen Synonymen.

Lisas genetisch verschärftes Drama der Adoleszenz Für Lisa ist der familiäre Krebs, schon seit sie sich entsinnen kann, Teil der Familie. Als einziges und ersehntes Mädchen wird sie darüber hinaus schon früh von ihrer Mutter Lydia in deren Körperstrategien (wie beispielsweise Diäten) einbezogen und in eine Art ›Weiblichkeitswettbewerb‹ verstrickt. Dies führt zur Entwicklung eines ambivalenten und häufig von Konkurrenz geprägten Verhältnisses zu Lydia, das bis heute anhält. In der Pubertät ent- wickelt Lisas Körper eine »Mordsbusen«-artige Brust, die sie als unnormal empfindet und durch die sie in die ›Krebstraditionslinie‹ eingereiht wird. Mit 14 Jahren durchlebt Lisa schließlich eine halbjährige Periode der Mager- sucht, während der sie sich mit ihrer Cousine ein ›Abnahmeduell‹ liefert. Hierin drückt sich das von ihr entwickelte ›Körper-Optimierungsprojekt‹

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aus, in dessen Rahmen sie durch Willen und (Wett-)Kämpfe zur Körper- und Lebenskontrolle zu gelangen sucht. Es ist ein Projekt, das zumindest in sei- ner Umsetzung als Magersucht scheitern muss, da das Ringen um Autono- mie in der Magersucht vielmehr zu verstärkter Bevormundung führt.16 Das positive BRCA-Testergebnis ereilt die damals 20-Jährige an einer so- genannten critical life junction, an der sie gerade beginnt, mit Verlobung und Studienbeginn einen eigenen Lebensentwurf zu realisieren. Das positive Te- stergebnis verstärkt Lisas Ringen um Autonomie, das nun aber nicht mehr aus der Familie hinaus, sondern in sie hinein weist. Mit anderen Worten: Die Identifikation mit der familiären Variation führt zu Lisas Identifikation mit der Familie. Eine deterministische Gen-Deutung, durch die sie sich selbst als »X-Men«17 und damit als unwiederbringlich mutiert und unnormal betrach- tet, wird ergänzt durch eine Alternativlosigkeit in Bezug auf die anderen Deutungsmuster (Körperform, Altersgrenze), die für Lisa als im Sinne der Altersgrenze zu junge und zudem »mordsbusige« Frau keine Entlastung bringen können. Zudem bindet sie das ›Familienerbstück‹ BRCA2 unwider- ruflich an ihre Herkunftsfamilie, der sie – als einzige der positiv Getesteten – keine Wahlfamilie als alternativen Sozialraum entgegensetzen kann. Damit erscheinen durch den BRCA-Test sowohl (Herkunfts-)Familie als auch Krebs als quasi unvermeidliche Naturkräfte, was wiederum Lisas wider- ständigen Willen herausfordert: Einerseits kämpft die anscheinend gedanklich bereits Erkrankte mittels Kampfsport »für meinen Körper gegen den Krebs«18, andererseits profiliert sie sich innerhalb der Familie als aggressiv mahnende Gesundheitsautorität. Gerade Letzteres hat einen Doppeleffekt: Die gelin- gende Präsentation als Autorität fungiert als Selbststabilisierung Lisas, welche die Gefahr für Leib und Lebensentwurf bannt, aber zugleich auch die familiale Autorität stabilisiert, da deren Handlungslogik nicht infrage gestellt wird. Dies steigert die ›Unausweichlichkeit‹ der Herkunftsfamilie als Garant von Auto- rität und bezogener Autonomie, was gerade die Entwicklung eines aus der Herkunftsfamilie herausführenden eigenen Lebensentwurfs verhindert. Das folgende Zitat präsentiert die für Lisa im positiven BRCA-Testresultat liegende Lebensentwurfsgefahr, das Angstpotenzial und damit das genetisch ver- schärfte Drama der Adoleszenz: als Entscheidung zwischen einem möglichen Fortbestand der Familie und dem eigenen Weiterleben: »Also ich denk immer, der schlimmschte Fall wär für mich, wenn ich jetzt schwanger werd und ein Eierstockkrebs krieg gleichzeitig!, des! isch für mich des al-, des wär für mich des schlimmschte, weil dann müsste ich mich womöglich entscheiden, ob ich jetzt das Kind will oder leben will oder irgendwie sowas halt! [amüsiert]«19

16 Vgl. Salvador Minuchin: Familienkaleidoskop, Reinbek bei Hamburg 1988. 17 Einzelinterview, S. 4. 18 Lisa Schall, Familieninterview, S. 3. 19 Dies., ebd., S. 15.

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Im Gegensatz zu Lisa zeigen sowohl Anke als auch Lydia einen entspann- teren Umgang mit dem Testergebnis und lassen sich in ihren Lebensentwür- fen nicht wesentlich infrage stellen. Sie behalten darüber hinaus neben dem ›neuen‹ naturwissenschaftlich-medizinischen Gen-Deutungsmuster auch ihre je ›angestammten‹ Deutungsmuster von Krebs, was auch als Wider- stand gegen die Deutungsmacht und Normen der Biomedizin gewertet wer- den kann.

Fazit

Im vorliegenden Text wurde gezeigt, dass individuelle Deutungen des Sta- tus ›BRCA-positiv‹ als Ergebnis eines doppelten Kontextualisierungsprozes- ses zu verstehen sind, der auf einer komplexen wechselseitigen Beeinflus- sung des familialen und des Wissenskontextes beruht und in dessen Rahmen sowohl familiale Strukturen und Systeme als auch gesundheitliche Deu- tungs- und Handlungsmuster ›überarbeitet‹ und gegebenenfalls revidiert werden müssen. Dabei handelt es sich um einen kreativen Prozess, bei dem neben der Kontrolle der mit der genetischen Datenlage verbundenen Krank- heitsdrohung immer auch die durchaus widerständige eigene Lesart der ge- sundheitlichen Körperbeziehung bewahrt wird. Der Erhalt abstrakter medi- zinischer Informationen bedingt demnach keine einfache ›Überschreibung‹ vorhandener Deutungs- und Handlungsmuster, sondern setzt einen komple- xen Verhandlungsprozess zwischen den beiden Kontexten (Wissen und Fa- milie) in Gang. Vor dem Hintergrund der gegenseitigen Bedingung und Modifikation von familialer Struktur einerseits und Deutungs- und Hand- lungswissen andererseits kommt es dabei zu einer (revidierten) ›Einschrei- bung‹ familialer Macht- und Konkurrenzverhältnisse in die eigene Körper- lichkeit. Daraus folgt, dass die vermeintlich individuelle Körperbeziehung tatsächlich immer einen Körper in Beziehung beschreibt. Auch Gesundheit stellt damit letztlich ein genuin soziales Projekt dar, dessen Entscheidungsbasis folglich eben nicht – wie dies immer noch im Zu- sammenhang mit genetischer Beratung anklingt20 – einem isolationistisch verstandenen Autonomiebegriff folgt. Es ist daher die Forderung nach dem Konzept einer ›relationalen Autonomie‹21 zu stellen, das die Klient_innen konsequent als relationale Wesen begreift und Solidarität als zentralen Wert

20 Vgl. Deutsche Gesellschaft für Humangenetik e.V.: Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Human- genetik e.V. 2007, zitiert nach http://www.medgenetik.de (http://tinyurl.com/6g32cao; 29.09.2009). 21 Für die genetische Beratung hat dies Anne Donchin zu formulieren versucht; vgl. Anne Donchin: Autonomy and Interdependence: Quandaries in Genetic Decision Making. In: C. Mackenzie; N. Stoljar (Ed.): Relational Autonomy. Feminist Perspectives on Autonomy, Agency, and the Social Self, New York 2000, pp. 236-258.

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fokussiert. Das Ubuntu-Konzept22 beschreibt genau diese Dopplung und wäre damit ein geeigneter Ausgangspunkt für weitere diesbezügliche Explo- rationen, die auch der Reflexion der professionellen beraterischen Rolle zu- träglich wären. Darüber hinaus wäre es angesichts dieser empirischen Befunde an der Zeit, einen Gesundheitsbegriff sowie ein darauf aufbauendes Gesundheits- konzept zu entwickeln, welche die immer subjektive23, jedoch nie individu- elle, sondern soziale Konstruktion von Gesundheit als wissensbasiertes ›Be- wertungs- und Zuweisungsresultat‹ fokussieren. Dies würde eben nicht nur der kontrollfixierten ›Checklisten-Mentalität‹ biomedizinischer Prägung mit ihrem Präventionismus24 und Optimalismus in die Hände spielen. Hier wird die folgende von Butlers Geschlechtskonzept25, Foucaults Gouvernmenta- lität26 und dem bei Franke27 vorgestellten Labelling-Modell inspirierte Defi- nition vorgeschlagen: Gesundheit ist ein kontextbezogenes ›Label‹, das auf performative Art und Weise interaktiv realisiert und reaktualisiert wird. Die- ses ›Label‹ wird als eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung betrach- tet, eine bestimmte Lebenssituation als einen bestimmten Gesundheitsstatus zu interpretieren. Diese Entscheidung wiederum basiert auf einem ›Bewer- tungsfilter‹, in dem alle gesundheitsbezogenen interpretativen und operatio- nalen Dispositionen und Kompetenzen zur Geltung kommen, die im Rah- men interaktiver Erfahrungen in verschiedenen sozialen Zusammenhängen erworben wurden und somit ›Bewertungsspuren‹ hinterlassen haben. Damit wird die Konstruktion von Gesundheit zu einem ständig fortlaufenden krea- tiven und subjektiven Prozess, der sowohl vom jeweiligen sozialen Kontext als auch von den viablen und intelligiblen Fähigkeiten der Person abhängt.

22 Vgl. Dion A. Forster: Identity in Relationship: The ethics of ubuntu as an answer to the impasse of individual consciousness. In: CW du Toit (ed): The impact of knowledge systems on human development in Africa, Pre- toria 2007, pp. 245-289.; Dirk J. Louw: Ubuntu and the Challenges of Multiculturalism in Post-Apartheid South Africa. In: Question: An African Journal of Philosophy, Volume XV, No. 1-2 2001, p. 15-36. 23 Vor dem Hintergrund des Artikelinhalts wird die Vorstellung einer ›objektiven‹, rein zahlenmäßigen Erfas- sung von Gesundheit als nicht sinnvoll erachtet. 24 Vgl. Peter Ulrich: Überwachung und Prävention. Oder: Das Ende der Kritik. In: Leipziger Kamera (Hrsg.): Kontrollverlust. Interventionen gegen Überwachung, Leipzig 2009, S. 57-67. 25 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991. 26 Vgl. Thomas Lemke: Gouvernmentalität. In: Marcus S. Kleiner (Hrsg.): Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt am Main 2001, S. 108-122. 27 Vgl. Alexa Franke: Modelle von Gesundheit und Krankheit, Bern 2006.

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EMANZIPATION UND UTOPIE

Andrea Scholz

Indigene Rechte, entzauberte ›Wilde‹ und das Dilemma engagierter Ethnologie

Die Anerkennung territorialer Rechte gehört zu den wichtigsten Anliegen indigener Bewegungen, da gesicherte Territorien als essentielle Vorausset- zungen für das Überleben von Indigenen1 angesehen werden. In folgender Phrase kommt diese Überzeugung zum Ausdruck: »We indigenous people and our lands are the same. To destroy one is to destroy the other.«2 Die Ar- beitsgruppe zu indigenen Themen der UN äußert sich in einer vor wenigen Jahren ausgegebenen Presseerklärung ähnlich zum Thema und bezieht sich dabei gleichzeitig auch auf die angebliche Nachhaltigkeit indigener Land- nutzung: »Through their deep understanding of and connection to the land, indigenous communities have managed their environments sustainable for generations. In turn the flora, fauna and other resources available on indige- nous lands and territories have provided them with their livelihoods and had nurtured their communities.«3

1 Ich verwende den Terminus Indigene im Sinne der gängigen, von Martínez Cobo formulierten und im Zu- sammenhang mit UN-Konventionen und anderen internationalen Erklärungen in der Regel eingesetzten Definition für indigene Völker. Dieser liegen ihr Minderheitenstatus, ihre Abstammung von der vorkolonia- len, im Fall Venezuelas prähispanischen Bevölkerung, ihr darauf basierendes Selbstverständnis als Gruppe und besondere kulturelle Merkmale (zum Beispiel eigene Sprache, besonderes Wissen) zugrunde. – Vgl. José R. Martínez Cobo: Study of the problem of discrimination against indigenous populations, Vol I-V, New York 1987; vgl. auch Rodolfo Stavenhagen: Derecho indígena y derecho humano en América Latina, Mexico 1988. – Ich halte die Sammelbegriffe Indígena beziehungsweise Indigene für essentialisierend und verwende sie daher nur, wenn es aus dem Kontext heraus erforderlich ist (zum Beispiel wenn von Indígenas als politi- schen Akteuren im Nationalstaat gesprochen wird). Der in Deutschland geläufigen Auffassung, Indigener sei die politisch korrektere Version von Indianer muss entgegengesetzt werden, dass der Terminus während der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten geprägt wurde. Deren Eliten vertraten ein bürgerlich- liberales Ideal der Gleichheit, das der indigenen Bevölkerung in den meisten Fällen nicht zugute kam, da es ihnen das Recht, anders zu sein, aberkannte. 2 Stefano Varese: The New Environmentalist Movement of Latin American Indígenous People. In: S. B. Brush; D. Stabinsky (Hrsg.): Valuing local knowledge: indigenous people and intellectual property rights, Washing- ton D.C. 2006, S. 122-142. 3 United Nation Permanent Forum on Indigenous Issues: Indigenous Peoples’ Lands, Territories and Natural Resources, New York 2007; vgl. auch Noeli Pocaterra: El sentido indígena de la tenencia de la tierra, Caracas 1989.

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Was auf dem Papier so harmonisch und logisch klingt, bereitet in der rechtlichen und politischen Praxis große Probleme, denn die Anliegen indi- gener Völker 4 stehen ökonomischen Interessen und damit nach Meinung vieler auch dem Wohl der jeweiligen Nationen im Weg. Aufgabe einer enga- gierten Ethnologie sollte es also sein, die Konflikte, die mit der Umsetzung indigener Territorialrechte verbunden sind, aufzudecken und die Indigenen in ihren Anerkennungskämpfen zu unterstützen.5 Am Beispiel der Kari’ña von Imataca zeige ich, dass ein solches Vorgehen nach Lehrbuch aus der Distanz sinnvoll erscheint, aber in der komplexen Le- bensrealität ›echter‹ Indigener nicht einfach zu verwirklichen ist. Trotz Refle- xion und guter Absichten ist die Ethnologie gezwungen, ihre Rolle und letzt- lich auch ihre Legitimierung im postkolonialen Machtgefüge immer wieder am Einzelfall zu hinterfragen.

Indigene Territorien in Lateinamerika

In Lateinamerika ist das Thema der indigenen Territorien wie kein anderes im Zusammenhang mit den Ureinwohner_innen in den letzten Jahrzehnten umkämpft und diskutiert worden. Das ist nicht verwunderlich, denn zum einen sind die Auffassungen darüber, welche Konsequenzen eine umfas- sende Anerkennung dieser Territorien nach sich zieht, diametral entgegen- gesetzt. Zum anderen sind die Nationalstaaten in diesem sensiblen Bereich gezwungen, Kontrolle abzugeben. Im Gegensatz zu anderen, weniger kon- trovers diskutierten indigenen Anliegen wie Armutsbekämpfung, Förde- rung von Sprache und Kultur und Ähnlichem lassen sich die Protagonis- t_innen mit Absichtserklärungen, Versprechungen und paternalistischen Wohltaten nicht vertrösten, sondern stellen konkrete Forderungen in Form kollektiver Eigentumstitel und damit verbundener Autonomierechte. Die Inhalte und Zielrichtungen indigener Forderungen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten allerdings grundlegend gewandelt.6 Bis in die spä-

4 Rechte auf Territorien sind Völkern zugehörig (im Sinne von sozialer beziehungsweise politischer Kontrolle, Rechte auf Land sind darin inbegriffen), während Rechte auf Land im Sinne physischen Besitzes Individuen oder einzelnen Siedlungen zustehen. In Bezug auf indigene Völker (der Begriff »Völker« ist dabei nicht im Sinne des Völkerrechts, sondern im Sinne der ILO-Konvention 169 zu verstehen) ist es daher grundsätzlich angebracht, von Territorien zu sprechen, auch wenn diese Definition per se problematisch ist, da sie in ihrer extremen Auslegung mit dem territorialen Vorrecht des Nationalstaats in Konflikt kommen kann. – Vgl. Erick Gutierrez: Dispositivo teleinformático para el análisis y discusión de problemas en Venezuela. Insegu- ridad territorial, Caracas 2006; Luis Bello: Derechos de los pueblos indígenas en el nuevo ordenamiento ve- nezolano, Kopenhagen 2005. 5 Vgl. zum Beispiel Jeffrey Sluka; Antonius C.G.M. Robben: Fieldwork in cultural anthropology: An introduc- tion. In: Dies.: Ethnographic fieldwork. An anthropological reader, Oxford 2007, S. 1-28; Shannon Speed: At the crossroads of human rights and anthropology: towards a critically engaged activist research. In: Ameri- can Anthropologist 2006, Bd. 108 (1), S. 66-76. 6 Vgl. José Bengoa: La emergencia indígena en América Latina, Santiago de Chile 2007.

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ten 1960er Jahre war die indigene Bewegung in Lateinamerika von Campesi- nos (Kleinbauern) dominiert, die häufig große Bevölkerungsgruppen in ihren Ländern stellten, wie zum Beispiel die Quechua und Aymara im Hoch- land von Bolivien und Peru und die Nahua und Maya in Mexiko und Zen- tralamerika. Die Kämpfe dieser ländlichen sozialen Bewegungen waren ver- bunden mit der Problematik des Großgrundbesitzes, den Forderungen nach Agrarreformen und – als Antwort von Staatsseite – mit meist erfolglosen Versuchen, mithilfe eigens dafür geschaffener Institutionen und Projekte die Entwicklung in ländlichen Regionen zu forcieren. Mit der Expansion der Nationalstaaten in die vormals isolierten tropi- schen Tieflandgebiete und dem unvermeidlichen Zusammenprall ökonomi- scher Interessen mit indigenen Anliegen begann sich die Tieflandbevölke- rung politisch zu artikulieren. Konfrontiert mit der Exploitation der Wälder und der Bodenschätze sowie mit der Kolonisierung ihrer Territorien, besan- nen sich viele Tieflandgruppen auf ihre Identität als Indígenas. Die sich neu herausbildende indigene Bewegung brachte Themen in die Debatte ein, die in den Forderungen der Kleinbauern nicht präsent gewesen waren: Territo- rium, Selbstverwaltung, Autonomie und insbesondere die Verbindung zwi- schen indigenen Territorien und Umweltschutz. Im Diskurs der indigenen Organisationen der 1950er und 1960er Jahre hatten ökologische Fragen noch keine Rolle gespielt, stattdessen war viel von Ausbeutung und der grausa- men Vergangenheit die Rede gewesen. Das neue Selbstverständnis ließ sich dagegen gut mit den ökologischen Besorgnissen der westlichen Gesellschaf- ten und den daraus resultierenden Anliegen der Umweltbewegungen kom- binieren.7 Datieren lässt sich der entscheidende Moment der Verschmelzung der beiden Diskurse mit dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro 1992. Den Indi- genen als ›Hüter_innen der Umwelt‹ wurde eine symbolische Macht verlie- hen, für die der Diskurs der Ausbeutung und Opferrolle niemals hatte sorgen können. Es etablierte sich eine gut gebildete, eloquente indigene Führungs- riege, die den Diskurs über indigene Territorien und Umwelt perfekt be- herrschte und damit international präsent sein konnte. Auch wenn die pan- indianischen Sprecher_innen vielfach als abgehoben und von der Basis entfremdet kritisiert wurden8, lassen sich die symbolischen Erfolge der neuen Bewegung nicht leugnen. Sowohl auf der internationalen Ebene als auch in den einzelnen Nationalstaaten fanden entscheidende Fortschritte in der Anerkennung indigener Rechte in Form internationaler Konventionen und Verfassungsänderungen statt. Der Regelung der territorialen Frage kam dabei eine Schlüsselfunktion zu.

7 Vgl. ebd., S. 80. 8 Vgl. Beth A. Conklin: Body paint, feathers and vcrs: aesthetics and autenticity in Amazonian activism. In: American Ethnologist 1997, Bd. 24 (4), S. 711-737; Beth A. Conklin und Laura R. Graham: The shifting middle ground. Amzonian indians and eco-politics. In: American Anthropologist 1995, Bd. 97 (4), S. 695-710.

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Aufgegriffen wurde die Verbindung von indigenen Anliegen und Um- weltthemen auch von der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) zum Bei- spiel fördert im Rahmen eines internationalen Programmes zum Schutz des Regenwaldes auch ein Projekt zur Sicherung indigener Territorien.9 In Venezuela wurde kurz nach dem Amtsantritt der als links gerichtet be- kannten Regierung unter Hugo Chávez im Jahr 1999 eine neue Verfassung verabschiedet, die in Bezug auf die territorialen Rechte der indigenen Bevöl- kerung als fortschrittlich und emanzipatorisch gilt.10 Diese Tatsache ist im Erdölland Venezuela besonders bemerkenswert, da dort seit Jahrzehnten eine ausgeprägte Rentenlogik herrscht, nach der der Staat im Namen der Na- tion die Rohstoffe ausbeutet und die Erlöse mehr oder weniger gerecht an die Bevölkerung verteilt. Bei der Vergabe von territorialen Rechten in roh- stoffreichen Gegenden an zahlenmäßig unbedeutende Bevölkerungsgrup- pen11 sind Konflikte vorprogrammiert. Von dementsprechend kritischen beziehungsweise geradezu ängstlich geführten Debatten war die Verabschie- dung der neuen Verfassung begleitet. Die Anerkennung größerer indigener Territorien wurde als Bedrohung und Hemmnis für Entwicklung gesehen, insbesondere für die wirtschaftliche Entwicklung, die das Wohl der Nation garantieren sollte. Die Argumentation unter dem Verweis auf die historische Schuld, die Chávez den Indigenen begleichen wollte, und auf die originären Rechte, die ihre Legitimation aus der Situation vor der Kolonisierung und Staatsgründung schöpfen sollten, traf bei konservativen Sektoren der Bevöl- kerung auf wenig Verständnis.12 Vor allem in militärischen Kreisen gab es Fraktionen, die vor dem Zugeständnis jeglicher indigenen Autonomierechte warnten, da ihnen die nationale Integrität in Gefahr schien.13 Derlei Wider- stände führten zwar dazu, dass die Verfassung modifiziert wurde. Im Grundsatz trat sie aber mit all ihren fortschrittlichen Ideen – einschließlich der erweiterten Rechte der Indígenas – in Kraft. In den Folgejahren wurden die inhaltlichen und zeitlichen Zielvorgaben der Demarkierung und Aner- kennung indigener Territorien in Form von Gesetzen und Ausführungsbe- stimmungen präzisiert. Der Prozess der Umsetzung aber verläuft seit seinem Beginn äußerst schleppend. Statt über konkrete Handlungsstrategien zu be- raten, diskutieren die zuständigen Behörden über »Kultur« und »Tradition«, deren Vorhandensein die Indigenen beweisen müssen, bevor sie ihre Rechte

9 Vgl. GTZ: Projeto integrado de proteção às populações a terras indígenas da Amazônia legal, Eschborn 2007. 10 Vgl. René Kuppe: Indianische Rechte und Partizipation im Rahmen eines plurikulturellen und multiethni- schen Staates. In: Indiana 2002, Bd. 17/18, S. 105-133. 11 Der Anteil der Indigenen an der venezolanischen Gesamtbevölkerung beträgt nur gut 2 Prozent. 12 Vgl. Alexander Mansutti: Pueblos Indígenas y Constituyente en Venezuela (1999). In: Revue Internationale de Droit des Peuples Autochtones, 2000, Bd. 2, S. 35-49. 13 Vgl. El Nacional, 06.11.1999.

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beanspruchen können.14 An diesem Vorgehen wird deutlich, wie in den Aus- einandersetzungen um indigene Rechte in doppelter, spiegelbildlicher Weise Essentialismus zum Einsatz kommt. Bei den Indigenen und ihren Verbünde- ten in den Kreisen der Entwicklungshelfer_innen und Umweltschüt- zer_innen ist der Essentialismus eine Strategie der Resistenz beziehungs- weise der Unterstützung im Kampf um Rechte. Das Bild der ›edlen Wilden‹ als Umweltschützer_innen soll dabei helfen, territoriale Rechte einzufor- dern. Seitens des Staates kommt der Essentialismus hingegen einem Rassis- mus gleich, da ein Bild der Indigenen und ihrer Traditionen verlangt wird, das in vielen Fällen diskriminierend wirkt und die Jahrhunderte lang andau- ernde Strategie der erzwungenen Assimilierung und der Vertreibungen der Indigenen von ihren Territorien negiert.15 Diese Problematik, die sich durch konkrete Interessenkonflikte hinsichtlich der Landnutzung (Viehzüchter oder Ressourcenökonomie versus Indigene) beständig verschärft, trägt zwei- fellos dazu bei, dass bis heute in Venezuela nur ein sehr geringer Prozentsatz des indigenen Landes als solches anerkannt wurde. Die Auseinandersetzun- gen gewinnen mit den Jahren, die ungenutzt verstreichen, an Schärfe und forderten im Oktober 2009 sogar Todesopfer.16 Abgesehen von der symboli- schen Ebene ändert sich für die venezolanischen Indigenen bislang wenig an den seit Jahrhunderten etablierten Machtverhältnissen.

Die Kari’ña von Imataca

Im Fall der Kari’ña von Imataca17, die zum großen Teil in einer Reserva Fore- stal18 im Osten des Bundesstaats Bolívar leben, sind die Ausgangsbedingun- gen für eine erfolgreiche Demarkierung und Anerkennung ihres Territori- ums besonders ungünstig. Ihr Siedlungsgebiet ist in Konzessionen für kommerzielle Holznutzung unterteilt. Außerdem sind die ausgedehnten Wälder und goldreichen Flussläufe für den illegalen Kleinbergbau höchst at- traktiv. An den westlichen Rändern der Reserva wird Rinderzucht betrieben.

14 Interview der Autorin mit Vertreter_innen des Technik-Teams für Demarkierung, Ministerio del Poder Po- pular para el Medio Ambiente, im Oktober 2008. 15 Vgl. Charles R. Hale: Activist research vs. cultural critique: Indigenous land rights and the contradictions of a critically engaged anthropology. In: Cultural Anthropology 2006, Bd. 21 (1), S. 96-120. 16 Vgl. Texte über die Vorfälle auf der Webseite der Menschenrechtsorganisation PROVEA unter http://www.derechos.org.ve (03.01.2011). 17 In den Bundesstaaten Anzoátegui, Sucre und Monagas in Venezuela leben auch Kari’ña, die sich allerdings aufgrund historischer Faktoren in vielem von den Imataca-Kari’ña unterscheiden. Wenn ich im Folgenden den Terminus Kari’ña gebrauche, beziehe ich mich dabei nur auf die Kari’ña von Imataca. 18 Der Terminus Reserva Forestal bezeichnet ein Waldschutzgebiet unter staatlicher Verwaltung. Im Gegensatz zu Nationalparks sind solche Zonen zur kommerziellen Nutzung unter Aufsicht des Umweltministeriums freigegeben. Territoriale Rechte indigener Gruppen können nach der neuen Gesetzeslage geltend gemacht werden. Die Reserva Forestal Imataca umfasst 3,2 Millionen Hektar und entspricht damit der Größe Baden- Württembergs.

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Die für Weideflächen abgeholzten Gebiete werden, zum Leidwesen der Kari’ña und der lokalen Umweltbehörde, ständig weiter ausgedehnt. Den Ostrand bildet die von Venezuela nicht anerkannte Grenze zum Nachbar- land Guyana. Abgesehen von den schwierigen externen Faktoren sind auch bestimmte Charakteristika, die den Kari’ña zugeschrieben werden, für den Anerkennungskampf nicht ideal. Die Kari’ña gelten als fragmentiert, unzu- reichend organisiert und an politischen Themen wenig interessiert. Als Erben der zum Zeitpunkt der Eroberung durch die spanischen Kon- quistadoren berüchtigten Kariben lebt ein Teil der Kari’ña schon seit Jahr- hunderten in der Region. Bei der Ankunft der Europäer zählten sie circa 100 000 Menschen. Sie übten erbitterten Widerstand gegen die Spanier aus und machten sich als Verbündete der Holländer, als Kannibalen und Skla- venhändler einen Namen.19 Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts mussten sie sich der Eroberung und Missionierung beugen und zogen sich in kleiner werdenden Gruppen in unzugängliche Gebiete, größtenteils jenseits der Grenze, zurück. In Venezuela tauchten die Kari’ña erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen eines Zensus in der Region Imataca wieder auf. Aus Erzählungen geht hervor, dass ein gewisser Kontakt zur Außenwelt auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestand, als sich die Kari’ña als Balatá20- Sammler verdingten. Später wurden die Gruppen von Missionaren aufge- sucht. Regelmäßige Kontakte mit Fremden existieren erst seit den 1990er Jah- ren und finden bis heute zumeist nur sporadisch statt. Die Zahl der heute in der Region lebenden Kari’ña ist schwer zu benen- nen. Der Zensus spricht von knapp tausend, andere Schätzungen gehen von 5 000 bis 6 000 Personen aus. Die Schwankungen haben unter anderem mit der großen Mobilität der Siedlungen zu tun, die im Zuge des Brandrodungs- und Wanderfeldbaus, aber auch aufgrund der Goldsuche, häufig verlegt werden. Außerdem leben die Kari’ña in Streusiedlungen, deren einzelne Häuser von der Sandpiste aus, die in das Waldgebiet hineinführt, in der Re- gel nicht sichtbar sind. Das Bedürfnis, sich über die Kernfamilie hinaus sozial und politisch zu organisieren, scheint bei den Kari’ña nur gering aus- geprägt. Zwar führte die regionale indigene Organisation in den 1990er Jah- ren zur Verbesserung der politischen Artikulationsfähigkeit die Figur des Capitán ein. Heute gibt es einen solchen in jeder Siedlung und darüber hin- aus einen gemeinsamen Capitán General. Diese Capitanes besitzen aber kein- erlei Autorität, ebenso wenig kommt ihnen die Rolle übergreifender Integra- tionsfiguren zu. Allgemein lässt sich zwischen den Siedlungen eine Tendenz zur Abgrenzung und negativen Identifikation beobachten. Zwar ist man sich der Gemeinsamkeiten (geteilte Sprache, gemeinsamer Unterschied zur

19 Vgl. Neil L. Whitehead: Lords of the tiger spirit. A history of the caribs in colonial Venezuela and Guyana, Dordrecht 1988. 20 Das ist eine Kautschukart.

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Mehrheitsbevölkerung) bewusst, aber die Differenzen (dialektale Abwei- chungen, unterschiedliche Migrationsgeschichten, differierende Praktiken des Alkoholkonsums) sind für das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Klein- gruppe und einer bestimmten Siedlung mindestens ebenso bedeutsam. In der Kleinstadt Tumeremo, die ihrem Siedlungsgebiet am nächsten liegt, sind die Kari’ña relativ häufig anzutreffen. Dort gelten sie als scheu, abwei- send und verwahrlost. Häufig vergleicht man sie mit den im gleichen Bun- desstaat weiter südlich lebenden Pemón, die im Gegensatz zu den Kari’ña als zivilisiert, intelligent und fleißig bezeichnet werden. Nicht nur die Be- wohner_innen von Tumeremo, auch indigene Aktivist_innen und venezola- nische Wissenschaftler_innen sprechen im Zusammenhang mit den Kari’ña fast ausschließlich über soziale Probleme wie Bildungsmangel, Alkoholkon- sum, Gewalt, schlechte Gesundheitssituation, hohe Geburtenrate oder man- gelnde Organisationsfähigkeit. Entwicklungsexpert_innen in der Region kla- gen über den fehlenden Willen der Kari’ña, technische Neuerungen, zum Beispiel in der Landwirtschaft, zu übernehmen. Die von Außenstehenden wahrgenommenen sozialen Probleme der Ka- ri’ña gehen einher mit einer Lebensweise, die vordergründig authentisch und im perfekten Einklang mit der natürlichen Umwelt anmutet. Die große Mehrheit der Kari’ña lebt ›traditionell‹ von den Erträgen der Landwirtschaft, der Jagd und des Fischfangs und verfügt über ein umfassendes Wissen hin- sichtlich der dafür notwendigen Techniken. Gleiches gilt für den Hausbau und die materielle Kultur (zum Beispiel Werkzeuge zur Weiterverarbeitung des bitteren Manioks, der wichtigsten Anbaupflanze). Auf den zweiten Blick machen die Schlichtheit der materiellen Kultur und der Pragmatismus im Umgang damit deutlich, dass sich ›Tradition‹ und ›Kultur‹ einer indigenen Gruppe nicht von ihrer Kontaktgeschichte mit den Eroberungsmächten tren- nen lassen; denn vermutlich stehen viele soziale und ökonomische Aspekte, die heute für die Kari’ña typisch sind, in einem historischen Zusammenhang mit erzwungener Migration und dem Rückzug in die Wälder, der in fle- xiblen, äußerst mobilen Kleingruppen erfolgte.21 Im Gegensatz zu anderen indigenen Gruppen im tropischen Tiefland Lateinamerikas schlagen die Ka- ri’ña aber aus ihrer ›nachhaltigen‹ Lebensweise und ihrer besonderen Ver- bindung zur Natur kein politisches Kapital. Generell scheinen sie zu einer Außendarstellung als ›edle Wilde‹ nicht willens oder nicht in der Lage zu sein, sondern zeigen sich als marginalisierte, desintegrierte und an ihren Rechten wenig interessierte Gruppe. Ihr Beispiel fordert also dazu auf, das gefällige Bild der heldenhaften Indi- genen im Kampf um ihre Emanzipation und die Erhaltung des Tropenwal-

21 Vgl. Eduardo Viveiros de Castro: Images of Nature and Society in Amazonian Ethnology. In: Annual Review of Anthropology 25, 1996, S. 194.

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des zu dekonstruieren und das dahinter stehende Geflecht postkolonialer Machtbeziehungen und Abhängigkeiten zu analysieren. Um das Verhalten und das politische Handeln der Kari’ña zu erklären, reicht ein einfacher Ver- weis auf die traumatisierende Wirkung von Eroberung und Flucht nicht aus. Denn die Erfahrung der Eroberung ist allen indigenen Gruppen in Latein- amerika gemeinsam, hat aber in der Folge höchst unterschiedliche Phä- nomene hervorgebracht.

Postkoloniale Machtverhältnisse

An den Widersprüchen zwischen dem allgemeinen Diskurs um das Thema der indigenen Territorien und der tatsächlichen Lebensrealität der Kari’ña wird deutlich, dass die Untersuchung des Anerkennungsprozesses indige- ner Territorien bei den lokalen und translokalen Machtverhältnissen in La- teinamerika ansetzen muss. Denn diese Machtverhältnisse sind dem konkre- ten Problem der Umsetzung von Rechten vorgelagert und schließen die grundsätzliche Frage nach der Stellung indigener Minderheiten in bürger- lichen Staaten mit ein. Das Erstarken indigener Bewegungen und die Durch- setzung von einigen Forderungen, aber auch das zähe Überleben der Kari’ña im kolonialen und postkolonialen Ringen zeigen, dass Machtstrukturen nicht alles durchdringen und unter bestimmten Bedingungen sogar durch aktives Handeln transformiert werden können. In meiner Dissertation ver- folge ich einen praxistheoretischen Ansatz zur Klärung des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher Struktur, menschlichem Handeln und den Be- dingungen von Reproduktion und Transformation sozialer Systeme.22 Dabei arbeite ich heraus, wie Machtstrukturen und bewusster und unbewusster Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse theoretisch gedacht und em- pirisch erkannt werden können.23 Ein essentialistischer Begriff von indigener Kultur ist ein wichtiger Be- standteil der Diskussion um indigene Territorien. Wie wir gesehen haben, wird er von den Indigenen selbst verwendet, um territoriale Rechte einzu- fordern. Aber auch Regierungen, die ihre indigenen Bürger_innen dazu ver- pflichten wollen Authentizität nachzuweisen, gebrauchen diesen Begriff, ge-

22 Vgl. zum Beispiel Sherry Ortner: Theory in anthropology since the sixties, Comparative Studies in Society and History 1984, Bd. 26, S. 126-166; dies.: High religion, Princeton 1989; dies.: Anthropology and social theory, Durham 2006; Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt am Main 1976; Marshall Sahlins: Der Tod des Kapitän Cook, Berlin 1986. 23 Vgl. hierzu Andreas Reckwitz: Die Reproduktion und Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommen- tar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler. In: Karl Hörning; Julia Reuter: Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 40-54; Judith Butler: Die Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2004; James Scott: Dominance and the art of resistance. Hidden transcripts, New Haven 1990; Homi Bhabha: The location of culture, London 1994.

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nauso wie Umweltschützer_innen und andere Unterstützer_innen indigener Rechte, die zeigen wollen, wie gut diese Kultur mit den eigenen Vorstellun- gen und Zielen harmoniert. Die Kritik am hier jeweils verwendeten Kultur- konzept ist in der ethnologischen Theoriediskussion hinlänglich bekannt. Denn der Essentialismus geht an den globalisierten Realitäten indigener Gruppen vorbei und bietet überdies einen Nährboden für rassistische Ste- reotype, die bestimmten Gruppen angeblich kulturell determinierte Verhal- tensweisen zuordnen.24 Ein dynamisches, an der Praxis ausgerichtetes Ver- ständnis von Kultur bietet eine Alternative. Die Untersuchung von Kultur als Praxis setzt nicht bei abstrakten kognitiven Mustern an, sondern bei der Art und Weise, wie kulturelle Prägungen im Alltag zur Anwendung kommen.25 Kultur wird dabei nicht als von gesellschaftlicher Realität entkoppelt, son- dern als Element in politischen Prozessen verstanden.26 In postkolonialen Kulturtheorien wird der Begriff der Praxis in der Regel als doppelte Analysekategorie verwandt: einerseits, um zu ergründen, wie kolonialistische Denk- und Handlungsweisen in einer Gesellschaft verankert sind, und andererseits, um zu zeigen, dass soziale Praxis immer auch Spiel- räume für Subversivität gegenüber der herrschenden Ordnung beinhalten kann.27 Bhabha als einer der führenden Vertreter postkolonialer Theorie zeigt konkrete Gelegenheiten für Widerstand der kolonisierten Subjekte auf, die sich aus Ambivalenzen in der diskursiven Konstruktion der Anderen ergeben.28 Mit Skepsis begegnet Bhabha außerdem einer unkritischen Zelebrierung plu- rikultureller Identitäten und Realitäten. Der sogenannte Multikulturalismus tendiere dazu, Machtverhältnisse zu verschleiern, »indem er Kulturen in der Essenz als gleichwertig konstruiere, während der kulturelle Relativismus Differenzen immer in Relation zum normativen Zentrum setze und damit die Autorität der hegemonialen Kultur verstärke«29. Demzufolge ist das neue Staatsverständnis des multikulturellen Miteinanders in lateinamerikani- schen Staaten, darunter Venezuela, kritisch zu hinterfragen. Als Alternative zum Begriff der Interkulturalität, der die Prämissen des essentialistischen Kulturbegriffs unverändert weiterführt, bietet sich der von Welsch geprägte Begriff der Transkulturalität an. Denn Kultur als Praxis manifestiert sich in vielfältigen Verflechtungen und Überschneidungen von Lebensformen, wie Welsch selbst auf den Punkt bringt: »To sum this up: Cultural determinants

24 Vgl. Ortner 2006 (s. Anm. 22), S. 12. 25 Vgl. Hörning; Reuter 2004 (s. Anm. 23), S. 9 f. 26 Vgl. Ortner 2006 (s. Anm. 22), S. 13. 27 Vgl. Julia Reuter: Postkoloniales Doing Culture. Oder: Kultur als translokale Praxis. In: Hörning; Reuter 2004 (s. Anm. 23), S. 240. 28 Vgl. Bhabha 1994 (s. Anm. 23), S. 117; vgl. auch Bart Moore-Gilbert: Postcolonial theory. Contexts, practices, politics, London 1997. 29 Maria do Mar Castro Varela; Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005.

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today – from society’s macro level through to individuals’ micro level – have become transcultural. The old concept of culture misrepresents cultures’ actual form, the type of their relations and even the structure of individuals’ identities and lifestyles. Every concept of culture intended to pertain to today’s reality must face up to the transcultural constitution.«30 Wie verortet sich die Ethnologie als Wissenschaft vom »kulturell Frem- den«, die vornehmlich Texte über »den Anderen« produziert, in dem Zusam- menhang von Kultur, Transkulturalität und Machtverhältnissen?

Agency als Deutungsmacht und die Rolle der Ethnologie

Die sogenannte Writing-Culture-Debatte rüttelt seit den 1980er Jahren an den Grundfesten der Disziplin. Es geht um die Frage, ob und wie das Fremde in den Kategorien des Eigenen angemessen dargestellt werden kann. Darüber hinaus wird die Beziehung zwischen Forscher_in und Beforschten reflek- tiert, also nicht nur die Repräsentation der Ergebnisse, sondern auch die Phase der Datenerhebung, die Feldforschung. Ausgangspunkt dieser Refle- xion ist die grundsätzlich zwischen Forscher_in und Beforschten bestehende Asymmetrie, die zugleich die jeweilige Handlungsmacht (Agency) der betei- ligten Akteure bestimmt und begrenzt. »Die kulturelle Aneignung des Anderen ist in einen spezifischen Interak- tionszusammenhang verwoben, der, wie im Fall der kolonialen und postko- lonialen Verhältnisse besonders offensichtlich, von Beziehungen politischer und ökonomischer Herrschaft und Abhängigkeit beziehungsweise Unter- drückung strukturell geprägt ist.«31 Als sich die Ethnologie in den Zeiten der Aufklärung und des Kolonialis- mus als eigenständiges Fach etablierte, bestand ihre Aufgabe darin, Informa- tionen über unbekannte Andere zu sammeln und zu ordnen. Die sogenannte Globalisierung und die Emanzipation der ehemaligen Forschungsobjekte haben den ursprünglichen Gegenstand des Fachs gründlich in Frage ge- stellt.32 Über lange Zeit als selbstverständlich hingenommene Fremdbilder wurden spätestens mit der Erstveröffentlichung von Saids Orientalism33 und der sich anschließenden Diskussion als exotisierende Konstruktionen ent- larvt. In den 1970er und 80er Jahren, der Blütezeit der postmodernen Refle- xion, wurde die Beziehung zwischen Forscher_in und Beforschten dann

30 Wolfgang Welsch: Transculturality: the puzzling form of cultures today. In: Mike Featherstone; Scott Lash: Spaces of Culture: City, Nation, World, London 1999, S. 194-213. 31 Eberhard Berg; Martin Fuchs: Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt am Main 1993, S. 11. 32 Vgl. Sibylle Niekisch: Kolonisation und Konsum, Bielefeld 2002. 33 Edward Said: Orientalism, London 2003.

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grundlegend hinterfragt34. Dabei kamen neue Formen der Feldforschung und des ethnologischen Schreibens auf, verbunden mit der Forderung rezi- prok und partizipativ zu arbeiten, bis hin zur Idealvorstellung, mit der eth- nologischen Forschung nicht nur zur wissenschaftlichen Erkenntnis, son- dern auch zum Wohl der beforschten Personen beizutragen.35 An den strukturellen Rahmenbedingungen, unter denen ethnologische Wissensproduktion zustande kommt, konnten die Reflexionen wenig än- dern. Auch die gut gemeinte Absicht, partizipativ und reziprok zu forschen, ändert realistisch gesehen nichts an bestehenden Machtverhältnissen und (nicht vorhandenen) Wahlfreiheiten. Radikal kritisch gesehen ist ethnologi- sche Forschung also eine Form des Neokolonialismus und Imperialismus und dürfte in dieser Form nicht mehr stattfinden. Statt der Tendenz zur Selbstauflösung sehen Sluka und Robben allerdings einen Trend zur Versöhnung der postmodernen Diskussion mit der klassi- schen Ethnologie in Form eines »compassionate trend«36. Scheper-Hughes postuliert eine »good-enough-ethnography«, die sich, statt sich einer ewig kritischen Nabelschau zu widmen, wieder um die Probleme der Anderen kümmert, diesmal jedoch im vollen Bewusstsein der eigenen Unzulänglich- keiten. Zuhören und Hinsehen könne, begleitet von der nötigen Sensibilität, einen solidarischen Akt ausmachen. Sich zu verschließen bedeute hingegen Indifferenz gegenüber wichtigen Themen wie Gewalt, Genozid, Trauma und Anerkennungskämpfen.37 Empathie als Basis für einen Dialog zwischen For- scher_in und Beforschten, aber auch als Erkenntnisgrundlage, spielt eine zentrale Rolle im neuen ethnologischen Selbstverständnis.

Feldforschung

Zu Beginn meiner Feldforschung in Venezuela stellte sich heraus, dass der Prozess der Demarkierung und Anerkennung indigener Territorien bei Wei- tem nicht so gut vorangekommen war, wie es die Lektüre der Gesetzestexte und Stellungnahmen der Regierung vermuten ließen. In der Region Imataca waren, abgesehen von einem kurzen Sondierungsbesuch der regionalen Demarkierungskommission, noch keine konkreten Schritte unternommen worden.

34 Vgl. Berg; Fuchs 1993 (s. Anm. 31), S. 19. 35 Vgl. Sluka; Robben 2007 (s. Anm. 5); vgl. auch Bourdieus Kritik am Narzissmus der ethnologischen Selbst- reflexion und der Rolle der kritischen Intellektuellen. Pierre Bourdieu: Narzißtische Reflexivität und Wissen- schaftliche Reflexivität. In: Berg; Fuchs 1993 (s. Anm. 31), S. 365-374. 36 Sluka; Robben 2007 (s. Anm. 5), S. 22 f. 37 Vgl. Nancy Scheper-Hughes: The primacy of the ethical. Propositions for a militant anthropology. In: Cur- rent Anthropology 1995, Bd. 36 (3), S. 409-420.

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Bei meinem ersten Aufenthalt in der Gegend wurde ich von der indigenen Organisation des Bundesstaates Bolívar FIEB (Federación de Indígenas del Estado Bolívar) und dem Capitán General des Kari’ña-Sektors gefragt, ob ich bereit sei, die Kari’ña bei ihrer Demarkierung zu unterstützen. Zum damali- gen Zeitpunkt war mir noch nicht klar, dass der Capitán General nicht die Ka- ri’ña als politische Gruppe vertritt, sondern vor allem die Bemühungen von außen repräsentiert, die Kari’ña effektiv zu organisieren. Also nahm ich das Angebot gerne an, da ich glaubte, mein Ideal, die Forschung mit einem kon- kreten Nutzen für die Indigenen zu verbinden, auf diese Art verwirklichen zu können. Zunächst besuchte ich verschiedene Siedlungen der Kari’ña und stellte dabei mit Erstaunen fest, dass das Interesse für das Thema der Territo- rien, der Leidensdruck durch die sogenannten Ressourcenkonflikte und die Bereitschaft, im Anerkennungskampf aktiv zu werden, nicht oder nur in sehr geringem Maß vorhanden waren. Nur in einer Siedlung (Pozo Oscuro) wurde mein Angebot, bei der Demarkierung zu helfen, gerne angenommen. Also führte ich gemeinsam mit der Gruppe dort ein Demarkierungsprojekt durch, mit dem Ziel einen Antrag zu formulieren, der bei der zuständigen Kommission eingereicht werden sollte. Die Ergebnisse der Demarkierungsarbeit führte ich in einem Demarkie- rungsantrag für die Gruppe in Poszo Oscuro zusammen. Der Antrag wurde schließlich an den Präsidenten der FIEB übergeben, da diese Organisation alle Anträge von indigenen Gruppen des Bundesstaats sammelt und an die zuständige Kommission weiterreicht.

Ergebnisse und offene Fragen

Schon zu Beginn der Feldforschung wurde mir klar, dass, dass die Kari’ña von selbst nicht auf die Idee gekommen wären, ihre Grenzen zu bestimmen und damit ihr Territorium zu demarkieren. Innerhalb der Kari’ña-Gemein- schaften ist der Privatbesitz von Land unbekannt; ebenso wenig gibt es Ei- gentumskonflikte zwischen den Siedlungen. Auch Ressourcenkonflikte mit externen Akteuren spielten zum Zeitpunkt meines Aufenthalts keine große Rolle. Einzig die ständigen Konflikte mit Viehzüchtern sorgten für Aufre- gung unter den Kari’ña, insbesondere in Pozo Oscuro. Diese nur circa 15 Ki- lometer von Tumeremo entfernt liegende Siedlung blickt auf eine nun bald zwanzigjährige Konfliktgeschichte mit ihren Nachbarn zurück. Nach zahl- reichen territorialen Verlusten konnte die Gruppe mit der Unterstützung einiger Personen aus Tumeremo vor wenigen Jahren eine Invasion rückgän- gig machen und erlebte damit einen bedeutenden Erfolg, der die Themen »Angst vor Landverlust« und »Notwendigkeit der Sicherung von Rechten« im Bewusstsein verankerte. Die Grenzverläufe der Siedlung Pozo Oscuro re-

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sultieren alle aus Negativerfahrungen wie Konflikt, Vertreibung, Flucht und Verlust. Generell handelt es sich bei Pozo Oscuro um die Gruppe mit den meisten Außenkontakten, sowohl in Form von ›Unterstützung‹ (Missionare, Ent- wicklungsexpert_innen) als auch in Form von Rassismus und Gewalt. Insge- samt sind die Kontakte eher negativ, denn auch im Falle der Unterstüt- zer_innen sind sie von Missverständnissen und beidseitigen Vorwürfen geprägt. Für den Kontakt mit der Außenwelt fehlt es den Kari’ña – aus Sicht der Anderen – an Führungspersonen. Außenstehende gehen von hierarchi- schen Organisationsformen aus, das Nicht-Vorhandensein eindeutiger An- sprechpartner_innen sorgt für größte Irritation. Hinzu kommt der Mangel an formaler Bildung, der die Kommunikation stark erschwert. Die zweifelhafte Rolle der staatlichen Institutionen im Demarkierungs- prozess offenbart sich auf allen Ebenen. In den zuständigen Behörden traf ich überwiegend auf schlecht informierte, demotivierte Mitarbeiter_innen, die insbesondere den Mangel an finanziellen Ressourcen beklagten. Meine Arbeit mit den Kari’ña zeigte mir deutlich, dass für den Prozess der Demar- kierung und Anerkennung indigener Territorien wesentlich mehr personelle und finanzielle Mittel notwendig wären, als momentan bereitstehen. Für die Selbstdemarkierung, wie ich sie mit der Gruppe in Pozo Oscuro vornahm, wird Wissen vorausgesetzt, das bei indigenen Gruppen in der Regel nicht vorhanden ist (zum Beispiel für die Bedienung eines GPS-Empfängers, für die Verarbeitung von Geodaten oder für das Niederschreiben der Daten). Außerdem werden die Indigenen durch die Art und Weise, wie sie ihren An- spruch begründen sollen, in einen Essentialismus hinsichtlich ihrer eigenen Kultur hineingezwungen. Die Vertreter_innen indigener Organisationen, vor allem diejenigen in höheren Ämtern, können keinen Druck auf die Behörden ausüben, da sie sich in einem Dilemma zwischen Loyalität zur Regierung, dem Interesse am Erhalt ihrer eigenen Position und den Verpflichtungen ge- genüber der Basis befinden. Die Regierung Venezuelas setzt sich dem Vor- wurf aus, die Indigenen für symbolische Zwecke zu benutzen, ohne ihnen die von der Verfassung vorgesehene Anerkennung zuteil werden zu lassen. Statt auf eine Regelung der so wichtigen territorialen Frage hinzuarbeiten, nimmt man der indigenen Bewegung durch den Multikulturalismus-Dis- kurs und durch Zugeständnisse in anderen Bereichen (zum Beispiel Bildung, politische Beteiligung) den Wind aus den Segeln. In dieser kurzen Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse meiner Feldforschung wird deutlich, dass der Marginalisierung indigener Gruppen in Lateinamerika allein durch Gesetzesänderungen nur unzureichend begeg- net werden kann. Dies gilt in besonderem Maße für eine Gruppe wie die Ka- ri’ña, der schon allein der Akt der Grenzziehung fremd ist, da Landeigentum in ihrem kulturellen Kontext keine Rolle spielt. Zudem befinden sie sich seit

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Jahrhunderten in der Defensive. Nur aufgrund der spezifischen historischen Konstellation der Gruppe in Pozo Oscuro machte hier das Verfassen eines Demarkierungsantrags überhaupt Sinn. Es ist bezeichnend, dass dieser Sinn auf einer Geschichte von Vertreibung und Konflikten beruht. Man muss sich fragen, ob das Zugeständnis von originären Rechten an in- digene Gruppen im bürgerlichen Staat überhaupt möglich ist, oder ob es sich dabei nicht um Konstruktionen handelt, die letztlich die weiter bestehenden postkolonialen Machtverhältnisse kaschieren. Denn auch unter reformierten Verfassungen werden die Indigenen einem System unterworfen, das ihnen keine eigenständige Subjektposition (Agency) zugesteht, sondern sie viel- mehr auf bestimmte Charakteristika und Rollen festlegt und so ein Mitspra- cherecht auf Augenhöhe verhindert. Im Fall der Kari’ña wird das besonders deutlich, da sie sich das System nicht einmal zunutze machen. Damit will ich die möglicherweise positiven Effekte von Verfassungsänderungen zugun- sten der Indigenen nicht generell anzweifeln. Sicher ist aber, dass der politi- sche Wille zur Umsetzung entscheidend ist. Außerdem möchte ich ins Be- wusstsein rufen, dass zwischen originären Rechten und staatlicher Autorität, wie sie in Venezuela praktiziert wird, eine grundsätzliche Unvereinbarkeit besteht. Meine eigene Rolle als Feldforscherin und Verbündete der Kari’ña im Kampf um ihr Territorium sehe ich in diesem Zusammenhang kritisch. Mit meinem Projekt habe ich einerseits sicherlich zur Emanzipation der indige- nen Gruppe beigetragen, insbesondere auch, indem ich Jüngere motivierte, sich für die Demarkierung und Beantragung eines Landtitels einzusetzen. In gewisser Weise habe ich also einen sinnvollen Beitrag im Sinne einer gesell- schaftspolitisch engagierten Ethnologie geleistet.38 Andererseits handelte ich damit innerhalb eines Systems, das einer grundsätzlichen Kritik unterzogen werden muss. Um den formalen Ansprüchen zu genügen, habe ich mit dem Duktus des von mir verfassten Demarkierungsantrags einem Essentialismus Vorschub geleistet, der den Kari’ña fremd ist. Unweigerlich bewegte ich mich also im oben kurz angesprochenen Dilemma engagierter Ethnologie.

38 Vgl. ebd.

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Tanja Ernst

Transformation liberaler Demokratie. Dekolonisierungsversuche in Bolivien

Das liberal-repräsentative Demokratiemodell trat seinen weltweiten Sieges- zug mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges an. Doch erst mit dem Zusam- menbruch der staatssozialistischen Systeme in Osteuropa und dem Ende ideologischer Blockbildung nahm es die Gestalt eines expliziten Leitbildes an, das sich global als normativer und empirischer Bewertungsmaßstab für die neuen oder noch jungen Demokratien durchsetzte. Folglich waren Weg und Ziel demokratischer Transitionsprozesse in den Staaten der Peripherie nie offen.1 Der vorliegende Beitrag unterzieht liberal-demokratische Grund- annahmen einer kritischen Prüfung. Am Beispiel Bolivien wird exemplarisch illustriert, dass in anderen gesellschaftlichen Kontexten berechtigte Zweifel sowohl an der Funktionsfähigkeit als auch der Legitimation liberaler Demo- kratie bestehen. Eine ernst gemeinte Dekolonisierung erfordert somit auch die Dekolonisierung der Demokratie in Theorie und Praxis.

Soziale Ungleichheit und Demokratie

Liberale Demokratietheoretiker_innen gehen implizit oder explizit davon aus, dass freie Wahlen und offener Wettbewerb die Politik unter innergesell- schaftlichen Legitimationsdruck setzen beziehungsweise die Interessen der Mehrheit Berücksichtigung finden und die soziale Gleichheit sich schritt- weise erhöht.2 Empirisch betrachtet entzieht sich (nicht nur) das Beispiel Lateinamerika dieser Grundannahme liberal-demokratischer Reflexion. Der Subkontinent vereint eine im Kontext der ehemaligen Zweiten und Dritten Welt einmalige Erfolgsgeschichte demokratischer Entwicklung mit einem nicht minder be- eindruckenden Spitzenplatz in der globalen Statistik sozialer Ungleichheit.3

1 Vgl. Thomas Carothers: The End of the Transition Paradigm. In: Journal of Democracy, Jg. 13, Nr. 1, 2002, S. 5-21; sowie Jochen Hippler (Hrsg): Die Demokratisierung der Machtlosigkeit – Politische Herrschaft in der Dritten Welt, Hamburg 1994. 2 Vgl. Wolfgang Merkel; Mirko Krück: Soziale Gerechtigkeit und Demokratie: Auf der Suche nach dem Zu- sammenhang. In: Internationale Politikanalyse: Globalisierung und Gerechtigkeit, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S. 6. http://www.library.fes.de (http://tinyurl.com/5w4d2uj; 09.09.2010). 3 Vgl. Ingrid Wehr: Die theoretische Aufarbeitung des Third Waves Blues in Lateinamerika: »Bringing the citizen back in«. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Nr. 4, 2006, S. 59.

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Große Teile der Bevölkerung (oft sogar die Mehrheit) bleiben trotz formaler Gleichheit politisch, gesellschaftlich und ökonomisch ausgeschlossen.4 Die Persistenz der eklatanten Ungleichheitsverhältnisse seit der mehr als drei Jahrzehnte währenden Re-Demokratisierungsphase zeigt, wie stark die In- teressen einer privilegierten Minderheit und ungleiche Besitzverhältnisse die Spielregeln der politischen Sphäre und die wesentlichen Richtungsentschei- dungen innerhalb der lateinamerikanischen Gesellschaften prägen. Wie groß die Diskrepanz zwischen formaler Gleichstellung, dem Fortwirken sozio- ökonomischer Benachteiligung und asymmetrischer Machtverhältnisse auch unter demokratischen Vorzeichen bleibt, soll hier nur exemplarisch am Bei- spiel des Wahlrechtes verdeutlicht werden. Letzteres wird allgemein als ver- lässlichstes Instrument betrachtet, wenn es darum geht, weitgehend unab- hängig von der sozialen Lage eine annähernd gleichberechtigte politische Entscheidungsbeteiligung gewährleisten zu können.5 Die Frage, warum es in Bolivien – wo die Mehrheit bis heute arm und indigen ist – mit der Wahl Evo Morales erst 30 Jahre nach der Wiedereinführung der Demokratie zu einem tief greifenden Politik- beziehungsweise Machtwechsel kam, ist aus liberal- demokratischer Perspektive nicht leicht zu beantworten. Die faktische Ein- führung des universellen Wahlrechtes – im Falle Boliviens bereits 1952 – war und ist eben nicht gleichbedeutend damit, dass alle dieses Recht auch glei- chermaßen in Anspruch nehmen können. Erkenntnisse der politischen Parti- zipationsforschung und Länderstudien zur Wahlbeteiligung verweisen neben sozioökonomischen und Bildungsbarrieren darauf, dass die Betreffen- den Kenntnisse über ihre Rechte und das Funktionieren des politischen Sys- tems haben müssen.6 Wer wählen will, muss in der Regel eine Geburts- urkunde besitzen, um weitere offizielle Dokumente beantragen und sich ins Wahlregister einschreiben zu können. Die Beschaffung dieser Ausweisdoku- mente ist – vor allem in abgelegenen Regionen – häufig mit einem hohen Zeit- und Kostenaufwand und viel Bürokratie verbunden. Personen, die nicht lesen oder schreiben können, der Amtssprache nicht mächtig sind oder bereits schlechte Erfahrungen mit dem oft diskriminierenden Umgang der Behörden gemacht haben, wägen ab, ob sich der Aufwand für sie lohnt. In Bolivien lag die Wahlbeteiligung 1982 – zu Beginn der demokratischen Tran- sition – bei 65 Prozent und pendelte sich zwischen 1989 und 1997 – trotz

4 Vgl. Heinrich W. Krumwiede: Armut in Lateinamerika als soziales und politisches Problem. In: ApuZ, B 38-39, 2003, S. 14-19. http://www.bpb.de (http://tinyurl.com/5vvp2zp; 14.10.2010). 5 Vgl. Armin Schäfer: Die Folgen sozialer Ungleichheit für die Demokratie in Westeuropa. In: Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft, Nr. 4, 2010, S. 133. http://www.springerlink.com (http://tinyurl.com/6holfwm; 03.11.2010). 6 Vgl. hierzu u. a.: Jorge Enrique Horbath: Pobreza y elecciones en Colombia. Algunos hallazgos para reflexio- nar. In: Espiral. Estudios sobre Estado y Sociedad, Jg. X, Nr. 29, 2004, S. 204; sowie Ricardo de Sáenz Tejada: Democracias de posguerras en Centroamérica: política, pobreza y desigualdad en Nicaragua, el Salvador y Guatemala (1979–2005), México D.F. 2007.

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Wahlpflicht – im Durchschnitt bei 54 Prozent ein.7 Aus den Daten der Volks- zählung von 1992 wird ersichtlich, dass in den ländlichen Regionen Bolivi- ens nur 52,8 Prozent der Männer und lediglich 37,8 Prozent der Frauen die notwendigen Papiere besaßen, die zur Wahlregistrierung berechtigten.8 Hinzu kam das Problem, dass sich gerade indigene Wähler_innen durch die traditionellen Parteien und ihre Programme häufig nicht vertreten fühlten. So ging die Wahlbeteiligung zwischen 1985 und 1997 vor allem in mehrheit- lich von Indigenen bewohnten Wahlkreisen zurück: Nur rund 40 Prozent der Wahlberechtigten machten hier im Durchschnitt von ihrem Stimmrecht akti- ven Gebrauch.9 Und schließlich sind auch die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechtes als Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht, die genaue Zuschneidung der Wahl- kreise und weitere institutionelle Designs entscheidend. Diese wurden nicht von subalternen Gruppen oder in ihrem Interesse entwickelt, beeinflussen aber, wie die abgegebenen Stimmen nach der Wahl tatsächlich gezählt und gewichtet werden.10 So illustriert das Beispiel der lateinamerikanischen Re-Demokratisierungs- prozesse, dass die Orientierung am Allgemeinwohl oder der Mehrheit in so- zial stark polarisierten Gesellschaften für politische Mandatsträger_innen keineswegs rational oder opportun erscheint. Schließlich verfügt die Mehr- heit nicht über die notwendigen Ressourcen, den Zugang und ausreichen- den Einfluss, um spürbaren Druck auszuüben. Demgegenüber kann die Miss- achtung vitaler Interessen ökonomisch potenter Bevölkerungsgruppen schnell zur politischen Selbstentmachtung führen. Hinzu kommt, dass sich die sys- tematische Aushöhlung demokratischer Prinzipien in Lateinamerika zur Vorbedingung eines von den Eliten gestützten Transitionsprozesses ent- wickelte. Ohne den Widerstand derjenigen, die im Untergrund gegen die la- teinamerikanischen Militärdiktaturen kämpften, schmälern zu wollen »[…] ergab sich die (Wieder)Einführung der Demokratie in den meisten Ländern aus paktierten Zugeständnissen derer, die vorher an der Macht waren und an ihr beteiligt bleiben wollten«11. In der Folge wurden demokratische Aus- handlungsprozesse durch technokratische Expertise und elitäre Führungs- zirkel ersetzt, welche die Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas und damit zentrale polit-ökonomische Richtungsentscheidungen jeglicher Form

7 Vgl. Raúl L. Madrid: The Indigenous Movement and Democracy in Bolivia, Denton 2007, S. 4 f. http://www.psci.unt.edu (http://tinyurl.com/66lzqn5; 13.09.2010). 8 Vgl. Esteban Ticona; Gonzalo Rojas Ortuste; Xavier Albó (Hrsg.): Votos y Whiphalas. Campesinos y pueblos originarios en democracia, La Paz 1995, S. 184. 9 Vgl. Raúl L. Madrid: The Indigenous Movement and Democracy in Bolivia, Denton 2007, S. 5 f. http://www.psci.unt.edu (http://tinyurl.com/66lzqn5; 13.09.2010). 10 Vgl. hierzu u. a. Manfred Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung, Opladen 2000, S. 275-281. 11 Klaus Meschkat: Einleitung. In: Ingo Bultmann; Michaela Hellmann; Klaus Meschkat; Alvaro Díaz; Jorge Rojas Hernández (Hrsg.): Demokratie ohne soziale Bewegung? Gewerkschaften, Stadtteil- und Frauenbewe- gung in Chile und Mexiko, Unkel, Rhein, Bad Honnef 1995, S. 17 f.

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der parlamentarischen Mitsprache oder Kontrolle und öffentlichen Mei- nungsbildung entzogen. Hinzu kam die systematische Demobilisierung kri- tischer gesellschaftlicher Kräfte. Die geringe Durchlässigkeit des politischen Systems sicherte zudem die schwache Vertretung von Mehrheitsinteressen beziehungsweise die starke Rolle der traditionellen Parteien, in denen die so- ziale Herkunft der Mandatsträger_innen die enge Bindung zwischen Politik und Privilegierten fortsetzte.12 Trotz fairer und freier Wahlen und erweiterter politischer Freiheiten beschränkte auch die fehlende materielle Basis die Teil- habe großer Teile der Bevölkerung. Folglich wurde und wird die Funktions- logik von Mehrheitsentscheidungen durch tiefer liegende Herrschafts- und Besitzstrukturen unterhöhlt. Die Erkenntnis, dass materielle Aspekte wie Einkommensarmut und Existenznot sowie ökonomische Abhängigkeiten die Artikulation und Vertretung demokratischer Rechte substanziell begrenzen, ist keineswegs neu.13 Sie sollte innerhalb der liberalen Demokratietheorie (an)erkannt und theoretisch-konzeptionell entsprechend reflektiert werden. Das Festhalten an formaler Gleichheit ohne die (Wechsel)Wirkungen von mul- tiplen Ungleichheiten und die sich dadurch (re)produzierenden Herrschafts- verhältnisse in den Blick zu nehmen, bedeutet, undemokratische Prozedere sowie gesellschaftliche Asymmetrien zu legitimieren und zu stabilisieren. Dazu passt auch, dass der demokratietheoretische Mainstream Armut und sozialer Ungleichheit in jüngster Vergangenheit wieder mehr Aufmerk- samkeit schenkt, dabei aber lediglich politische Destabilisierungseffekte und Nachteile für die Volkswirtschaft im Blick hat.14 So scheint es in den Haupt- strömungen der Debatten weiter kaum Interesse zu geben, die demokrati- schen Folgen sozialer Ungleichheit und polit-ökonomischen Bedingungen von gesellschaftlicher Teilhabe ernsthaft zu reflektieren. Gleichzeitig herrscht eine schon fast reflexartige Ablehnung gegenüber allen demokratischen Al- ternativen vor, die versuchen neue Pfade jenseits des liberal-repräsentativen Erfahrungshorizontes zu beschreiten.

12 Vgl. Jonas Wolff: Demokratisierung als Risiko der Demokratie? Die Krise der Politik in Bolivien und Ecua- dor und die Rolle der indigenen Bewegungen, HSFK-Report 6/2004, S. 21 f. http://www.hsfk.de (04.09.2010) (http://tinyurl.com/6enw6z6; 17.07.2011). 13 Vgl. hierzu u. a. Hermann Heller: Staatslehre, Leiden 1934; Thomas H. Marshall: Citizenship and Social Class. In: Ders.; Tom Bottomore (Hrsg.): Citizenship and Social Class, Chicago 1992, S. 3-51; Barrington Moore: Social Origins of Dictatorship and Democracy: Lord and Peasant in the Making of the Modern World, Boston 1966; Dietrich Rueschemeyer; Evelyne Huber; John D. Stephens: Capitalist Development and Democracy, Cambridge 1992. 14 Vgl. Francis Fukuyama: La experiencia latinoamericana. In: Journal of Democracy en Español, Jg. 1, 2008, S. 158 f. http://www.journalofdemocracyenespanol.cl (http://tinyurl.com/6fwq7or; 29.08.2010).

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Postkoloniale Kritik einer globalen Blaupause

Historisch und ideengeschichtlich entstammt der Begriff der Herrschaft des Volkes der griechischen Polis. Die Tatsache, dass indigene Gruppen und an- dere Kulturen sich positiv auf den westlich geprägten Demokratiebegriff be- ziehen und Demokratie aktiv einfordern, illustriert zwei Dinge: Zum einen pochen die nach wie vor Ausgeschlossenen auf grundlegende Rechte bezie- hungsweise fordern die Einlösung des universalen Versprechens von Frei- heit, Gleichheit und egalitärer Teilhabe; zum anderen zeigt sich hier die Deu- tungshoheit des eurozentristischen Diskurses. Wer gehört werden will, kommt nicht umhin, die Begriffe und Spielregeln der dominanten Kultur und die entsprechenden Diskurse zu beherrschen. Diesem strukturellen Zwang können sich die Subalternen nicht entziehen.15 Trotzdem wäre es un- zutreffend, diesen Zwang ausschließlich als Vereinnahmung und Einhegung indigener Forderungen zu interpretieren. Denn mit der Betonung eigener demokratischer Praxen stellen indigene Gruppen die Hegemonie liberaler Demokratie gleichzeitig in Frage und präsentieren traditionsverbundene Or- ganisations- und Entscheidungsstrukturen als demokratischere Alternative. So erklärt sich der weltweite Siegeszug der liberalen Demokratie keines- wegs aus ihrer funktionalen Überlegenheit, sondern ist ein Ausdruck der global existenten Machtasymmetrien und konkreter ökonomischer und poli- tischer Interessen des »Westens über den Rest«16. Ideologisch gründet der Universalitätsanspruch zudem auf der Vorstellung, dass liberale Demokratie das evolutionistisch-rationale Endprodukt der menschlichen Zivilisationsge- schichte insgesamt sei. Ignoriert wird dabei, dass es die gewaltsamen kolo- nialen Eroberungen und die imperiale Politik der kapitalistischen Industrie- staaten waren, die den Grundstein für diese Hegemonie legten, welche erkenntnistheoretisch und ideengeschichtlich keineswegs ausschließlich, aber doch maßgeblich durch griechisch-römische sowie christlich-abendlän- dische Denktraditionen dominiert wurde.17 Für lateinamerikanische Intellek- tuelle wie Aníbal Quijano ist diese bis heute aufrechterhaltene Dominanz ein Ausdruck der Kolonialität der Macht 18, für Enrique Dussel bedeutet sie das Verleugnen der Transmodernität und für Walter Mignolo zeigt sich hierin die

15 Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008. 16 Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg 1994. 17 Dabei unterschlägt die europäische Geschichtsschreibung zumeist, dass die Philosophen der griechischen Antike ihre Anregungen und Erkenntnisse vielfach aus den Hochkulturen Ägyptens und Phöniziens über- nahmen. – Vgl. hierzu u. a. Samir Amin: L’Eurocentrisme: critique d’une idéologie, Paris 1988; Martin Ber- nal: Black Athena. The fabrication of ancient Greece 1785-1985. Afroasiatic Roots of Classical Civilization, New Brunswick 1987. 18 Quijano unterscheidet begrifflich zwischen der Kolonisierung (colonialismo), die den Tatbestand der Erobe- rung und Existenz einer Kolonialverwaltung meint, und der Kolonialität (colonidad), welche die Fortdauer kolonialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse über den Akt gewaltsam-militärischer Eroberung hinaus

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Geopolitik des Wissens. Quijanos Konzept der Kolonialität der Macht zielt dar- auf, dass sich die koloniale Machtausübung nicht auf die offensichtlichen Zwangsakte und die direkte ökonomische, politische sowie militärische Un- terwerfung der ehemaligen Kolonien beschränken lasse, sondern auch auf kognitiver, erkenntnistheoretischer und ideologischer Ebene gewirkt habe und weiter wirke. Er streicht heraus, dass die Idee der Rasse, die hierarchi- sche Klassifizierung der eroberten Bevölkerungen entlang von kulturellen und rassistisch-phänomenologischen Zuschreibungen, zentral war, um den brutalen Akt der Kolonisierung zu legitimieren sowie die innergesellschaft- lichen Machthierarchien und die asymmetrischen Beziehungen zwischen Zentren und Peripherien festzuschreiben. Damit aber sei der Kolonialismus nicht als bedauerliche Begleiterscheinung von Moderne und Kapitalismus zu verstehen, sondern er war konstitutiv, um die internationale Arbeitstei- lung, die weltweite Sicherung der kapitalistischen Akkumulation und die moralisch-ideologische Überlegenheit der europäischen Moderne und ihres Entwicklungs- und Zivilisationsverständnisses durchzusetzen.19 Enrique Dussel bestreitet mit seinem Konzept der Transmoderne zudem das kulturelle und erkenntnistheoretische Monopol der einen dominanten Moderne und übte früh Kritik am universalistischen Anspruch der europäi- schen Philosophie der Vernunft. Dussel begreift die Entstehung der Moderne als einen weltumspannenden Prozess. Zu diesem hätten die ausgeschlossenen Barbaren beigetragen, auch wenn ihr Beitrag als solcher nicht anerkannt werde.20 Aus Sicht der postcolonial studies führten der von Europa ausgehende Siegeszug der kapitalistischen Ökonomie und die Grenzziehungen zwischen moderner und kolonialer Welt nicht dazu, die strukturell heterogene Welt, die Vielfalt lokal und regional existenter Realitäten einfach auszulöschen. Doch wurden die lokalen und regionalen gesellschaftlichen Entwicklungen ab einem gewissen Punkt mit der Geschichte des Westens verschränkt sowie der dominanten europäischen Geschichtsschreibung semantisch einverleibt und somit weitgehend unsichtbar gemacht.21 Mignolo und andere postkolo- niale Autor_innen bezeichnen das als Geopolitik des Wissens und fordern dazu auf, die abendländischen Denktraditionen über Grenzdenken beziehungs- weise epistemologische Grenzgänge zu demaskieren und aufzubrechen.

meint und die ökonomische, politische, aber auch erkenntnistheoretische Fortsetzung kolonialer Einfluss- nahme in formal unabhängigen Staaten bezeichnet. Quijanos Hauptthese lautet, dass die Idee der Rasse zen- tral war, um den Akt der Kolonisierung zu legitimieren und die internen Machtstrukturen sowie die asym- metrischen Beziehungen zwischen den europäischen Kolonialmächten und ihren Kolonien festzuschreiben. 19 Vgl. Aníbal Quijano: Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina. In: Edgardo Lander (Hrsg.): La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinomericanas [1993], Buenos Aires 2000, S. 201-246. 20 Vgl. Enrique Dussel: Europa, modernidad y eurocentrismo. In: Lander 2000 (s. Anm. 19). http://www.bibliotecavirtual.clacso.org.ar (http://tinyurl.com/6x6jco6; 20.12.2010). – Göran Therborn und Shalina Randeria prägten für diese Perspektive sehr viel später den Begriff entangled modernities. 21 Vgl. Walter Mignolo: Local histories/global designs. Coloniality, subaltern knowledges and border thinking, Princeton 2000.

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Demokratie und kulturelle Differenz

Festzuhalten bleibt, dass andere Kulturen und Weltregionen eine eigene Ge- schichte sozialer Organisations-, Herrschafts- und Entscheidungsstrukturen haben, die sich mit dem Begriff demokratisch umschreiben lassen.22 Selbst der liberale Demokratietheoretiker Robert Dahl bezeichnet Demokratie als eine der ältesten Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation.23 So hätte Füh- rerschaft in segmentierten Gesellschaften wie Jäger- und Sammlergruppen des Konsenses bedurft, und Entscheidungen seien vorwiegend über gemein- same Diskussionsprozesse hergestellt worden. Anthropologische Untersu- chungen ergänzen, dass diese demokratischen Ursprungsformen im Kern auf der Abwesenheit sozialer Ungleichheiten beziehungsweise dem Faktor der politischen Gleichheit, der begrenzten Größe der Gemeinschaften, der zentralen Rolle von Familie und Verwandtschaftsnetzen und auf dem weit- gehend gleichen Zugang zu Ressourcen, Land, Technik und Werkzeugen basier(t)en.24 Im Unterschied zum liberalen Selbstverständnis knüpfen tradi- tionsverbundene Formen politischer Selbstorganisation hier an. Der territo- riale Bezugspunkt indigener Entscheidungs- und Organisationspraxen ist in der Regel die lokale Ebene. Aufgrund der Heterogenität und Dynamik indigener Lebensformen lassen sich die zahlreichen Formen der Selbstorga- nisation und Alltagspraxen der Entscheidungsfindung allerdings nur in ge- neralisierender Form beschreiben. Ich bezeichne sie als eingeschränkt direkt- demokratisch. Direktdemokratisch, da in der Regel die Vollversammlung alle relevanten, die Gemeinschaft betreffenden Entscheidungen fällt und hier auch die indigenen Autoritäten bestimmt werden. Eingeschränkt, da in der Regel das Geschlecht, das Alter und der Familienstand, aber auch der Besitz über den Zugang zu Ämtern mitbestimmen. Obwohl sich geschlechtliche Diskriminierungen zu verändern beginnen, wird Frauen bisher häufig nur eine untergeordnete Rolle zugestanden. In der Regel ist es der Mann, der die Interessen des Haushalts nach außen ver- tritt. Entscheidungen werden im gemeinschaftlichen Dialog getroffen und

22 Vgl. hierzu u. a. Harald Mey: Ansatz zu einer intermediär-interkulturellen Soziologie der Demokratie am Beispiel der Problematik von Subsidiarität und Opposition. In: Gert Pickel; Susanne Pickel; Jörg Jacobs (Hrsg.): Demokratie. Entwicklungsformen und Erscheinungsbilder im interkulturellen Vergleich, Frankfurt (Oder), Bamberg 1997, S. 55-68. 23 Vgl. Robert A. Dahl: Democracy and its critics, New Haven 1989, S. 232. 24 Vgl. Marvin Harris: Introducción a la antropología general, Madrid 1990, S. 309. – Obwohl die andinen Agrar- und Handelsgesellschaften grundsätzlich eine ganz andere Entwicklung nahmen und über Arbeits- teilung und zunehmende Spezialisierungen gesellschaftliche Schichtung und Hierarchisierung sowie Herr- schafts- und staatliche Machtstrukturen herausbildeten, stellte sich die lokale Situation in den andinen Hochebenen anders dar. Aufgrund der extremen Witterungsbedingungen, des Reliefs und der ertragsarmen Böden, war und ist das Überleben hier nur im Kollektiv möglich, und die internen Organisations- und Ent- scheidungsmuster ähneln bis heute den oben beschriebenen. – Vgl. u. a. Jürgen Golte: Die indigene Bevölke- rung Lateinamerikas um 1500. In: Friedrich Edelmayer; Margarete Grandner; Bernd Hausberger (Hrsg.): Die Neue Welt. Süd- und Nordamerika in ihrer kolonialen Epoche, Wien 2001, S. 41-60.

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bedürfen des Konsensus. Die poststrukturalistische Kritik an deliberativen Demokratienentwürfen25 beziehungsweise die Erkenntnis, dass in allen ge- sellschaftlichen Aushandlungsprozessen keineswegs nur Sachverstand und das rational beste Argument konkurrieren, sondern direkt und indirekt In- teressen, Affekte und Machtasymmetrien wirken, gilt selbstverständlich auch für indigene Gruppen. Weder die relative materielle Gleichheit noch das Konsensprinzip sind ausreichende Garanten dafür, dass der Prozess der kommunikativen Aushandlung machtfrei abläuft.26 Im Gegensatz zur liberalen Demokratie existiert in indigenen Kontexten keine Professionalisierung der politischen Interessenvertretung. Die Über- nahme von Funktionen gleicht einer hierarchischen Stufenleiter und bedeutet vor allem soziales Prestige. In erster Linie wird die Übernahme von Ämtern jedoch als Pflicht beziehungsweise Dienst an der Gemeinschaft verstanden und ist nicht an bestimmte Fähigkeiten oder besondere Sachkenntnisse, wohl aber an Alter und Erfahrung gebunden. Neben dem Rotationsprinzip gilt das imperative Mandat. Handelt jemand gegen die von der Basis getrof- fenen Entscheidungen, besteht jederzeit die Möglichkeit der Abberufung. Die zeitaufwendige und über die Verpflichtung zur Ausrichtung ritueller Akte und Festlichkeiten auch kostenintensive Amtsübernahme wird zudem nicht entlohnt.27 Weitere Elemente, die liberal-demokratischen Vorstellungen nicht ent- sprechen, sind der oft bestehende Zwang zur Teilnahme an Versammlungen, Gemeinschaftsarbeiten, an Protesten und an deren Finanzierung, der soziale Druck, Ämter zu übernehmen, das Fehlen von Rechtsgarantien für Minder- heiten wie beispielsweise Homosexuelle oder die Alternativlosigkeit der heterosexuellen Eheschließung, will man als vollwertiges Mitglied der Ge- meinschaft anerkannt werden. Von zentraler Bedeutung sind zudem die reli- giös-rituellen Aufgaben, die indigene Autoritäten übernehmen, Funktionen, die im säkularisierten westlichen Demokratieverständnis gänzlich fehlen. Indigene Führungspersonen, die ihre Gemeinschaften nach außen vertre- ten beziehungsweise formale politische Funktionen übernehmen, werden zwangsläufig mit modern-westlichen Verbands-, Entscheidungs- und Kom- munikationsstrukturen konfrontiert. Das erzeugt Konflikte und Wider- sprüche. Denn erwartet wird in der Regel eine Politik im direkten Interesse

25 Vgl. Chantal Mouffe: Das demokratische Paradox, Wien 2008. 26 Das lässt sich – keineswegs nur in indigenen Kontexten – unter anderem sehr gut am Beispiel geschlechtli- cher Diskriminierung, Benachteiligung und Ausgrenzung verdeutlichen. – Vgl. u. a. Marisol de la Cadena: Women are more Indian:. ethnicity and gender in a community near Cuzco. In: Larson Brooke; Olivia Harris; Enrique Tandeter (Hrsg): Ethnicity, markets, and migration in the Andes. At the crossroads of history and anthropology, Durham, N.C., London 1995, S. 329-348, sowie I. S. R. Pape: This Is Not a Meeting for Women. The Sociocultural Dynamics of Rural Women’s. Political Participation in the Bolivian Andes. In: Latin Ame- rican Perspectives, Jg. 35, Nr. 6, 2008, S. 41-62. 27 Das heißt, man muss sich diese Zeit im Dienste der Gemeinschaft auch leisten können bzw. darauf sparen, da man ein Jahr kaum aktiv zum Familieneinkommen beitragen kann und zusätzliche Ausgaben hat.

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der Basis. Diese Haltung führt in politischen Auseinandersetzungen jenseits des lokalen Rahmens häufig zu Maximalforderungen und dem Beharren auf den jeweiligen Partikularinteressen. Eine Person, die außerhalb der Gemein- schaft die Interessen der eigenen Gruppe erfolgreich vertreten will, muss zu- dem Spanisch sprechen können, sollte mit den Spielregeln der dominanten Kultur vertraut sein, Durchsetzungsvermögen besitzen und das notwendige Verhandlungsgeschick mitbringen. Fähigkeiten und Kompetenzen, die für ein traditionelles indigenes Amt meist keine Rolle spielen. Diese Gleichzeitigkeit und Überlagerung unterschiedlicher demokrati- scher Praxen und Funktionslogiken verweist auf einen wichtigen Punkt: Trotz der Spezifika und Unterschiede indigener Organisationsstrukturen und Ent- scheidungsfindungsprozesse sollten kulturelle Unterschiede weder als sta- tisch betrachtet noch essentialisiert werden. Ethnische Identitäten sind nicht als biologisches Wesen oder Faktum zu verstehen, sondern lassen sich viel- mehr als eine gesellschaftliche Positionierung sowie soziales Konstrukt28 begreifen oder auch als Prozesse der Identifizierung und Kategorisierung29 umschreiben. Die Identität eines jeden Individuums setzt sich aus verschie- denen, sich überlagernden Eigen- und Fremdzuschreibungen zusammen. Gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen sind Teil der Herausbildung, Gewichtung und (Re)Interpretation unterschiedlicher individueller und kol- lektiver identitätspolitischer Aspekte. So können neben Ethnizität weitere Differenzkategorien, wie Klasse oder Geschlecht, aber beispielsweise auch Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, sexuelle Ausrichtung, Alter oder regionale Bindungen ein Individuum und seine jeweiligen Lebenspha- sen unterschiedlich stark prägen.30 Das bedeutet, dass kein Subjekt und kein Kollektiv eine homogene, fest gefügte beziehungsweise prinzipiell in sich (ab)geschlossene Identität besitzt.31 Identitäre Zuschreibungen sind immer relational, partiell sowie temporär und somit grundsätzlich wandelbar. Die Pluralität verschiedener Subjektpositionen sollte dabei nicht als Nebeneinan- der und Koexistenz, sondern eher als Unterwanderung und Überlagerung einiger Positionen durch andere oder auch als mögliche Verschiebung und Modifizierung von subjektbezogenen Prioritäten gedacht werden.32 Das be- deutet allerdings nicht, dass Identitätssuche und -fixierungen in einem vor- gesellschaftlichen Machtvakuum oder losgelöst von sozioökonomischen Strukturen, symbolischen Ordnungen, gesellschaftlichen Institutionen, so- zialen Praxen und historisch-spezifischen Momenten stattfinden. Prozesse

28 Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg 1994, S. 29. 29 Rogers Brubaker: Ethnizität ohne Gruppen, Hamburg 2007, S. 68 f. 30 Vgl. Juliana Ströbele-Gregor: Indigene Völker und Gesellschaft in Lateinamerika. Herausforderungen an die Demokratie. Indigene Völker in Lateinamerika und Entwicklungszusammenarbeit, Eschborn 2004, S. 6. 31 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 210. 32 Vgl. Chantal Mouffe: Algunas consideraciones sobre una política feminista. In: La Época, Jg. IX, Nr. 426, 2010, S. 11-13.

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der Selbst- und Fremdzuschreibung, das heißt der Kategorisierung des Eige- nen und des Fremden, erfolgen weder beliebig noch bewegen sie sich außer- halb kollektiver Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Vielmehr entstehen sie in Interaktion mit gesellschaftlich dominanten Diskursen. Sie sind also nur in ihrem historisch-spezifischen Kontext und der Entwicklung der Ge- sellschaft insgesamt zu verstehen. So gilt es im Sinne Bourdieus, Identitäten als vergesellschaftet zu denken und dementsprechend zu analysieren. Das bedeutet, soziale Handlungen als Handeln des Individuums und als gesamt- gesellschaftlich und feldspezifisch vorstrukturierte, aber potentiell verän- derbare gesellschaftliche Praxis zu begreifen. Letztere wird oft macht- und gewaltvoll hergestellt und ist in diesem Verständnis nicht nur soziale Kon- struktion, sondern materiell existent.33 Hieraus folgt, Ethnizität nicht als frei verfügbare, strategisch beliebig einsetzbare Ressource zu konzeptualisieren. Vielmehr ist die Geschichte und Gewaltförmigkeit, die Ethnizität herstellt und festschreibt, mitzudenken.34

Dekolonisierte Demokratie?

Auf einer Fläche, die dreimal so groß ist, wie die Deutschlands, leben in Boli- vien rund 10,4 Millionen Einwohner_innen. Große Teile des Landes sind bis heute schwach besiedelt, infrastrukturell schlecht erschlossen oder nur bei günstiger Wetterlage erreichbar. Da der kolonialen Eroberung und Herrschaft weder die vollständige Durchdringung des östlichen Tieflandes noch die Reorganisation der Anbau- wirtschaft im Hochland nach den Mustern der Alten Welt gelang35 und der bolivianische Staat seit seiner formalen Unabhängigkeit 1825 bis heute vie- lerorts erst spät und zum Teil bis heute kaum präsent ist, konnten sich lokal und regional viele indigene Traditionen36 erhalten. Ohne dabei den Anspruch auf präkoloniale Authentizität einlösen zu wollen, unterscheiden sich die vielfältigen lokalen usos y costumbres deutlich von westlich geprägten, bei- spielsweise gewerkschaftlichen Funktions- und Entscheidungsfindungslogi- ken, mit denen sie oft konkurrieren, aber auch koexistieren oder sich überla- gert haben.

33 Vgl. hierzu Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. In: Ders. (Hrsg.): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Staatstheorie, Hamburg, Berlin, 1977, S. 108-153; vgl. Jens P. Kastner: Staat und kulturelle Produktion. Ethnizität als symbolische Klassifikation und gewaltge- nerierte Existenzweise. In: Michael Schultze; Jörg Meyer; Britta Krause; Dietmar Fricke (Hrsg.): Diskurse der Gewalt – Gewalt der Diskurse, Frankfurt am Main 2005, S. 113-126. 34 Vgl. Kastner 2005 (s. Anm. 33), S. 113 f. 35 Vgl. Golte 2001 (s. Anm. 24), S. 43, S. 47. 36 Dazu zählen sowohl sprachliche als auch religiös-rituelle, gewohnheitsrechtliche sowie kollektive Formen des Wirtschaftens und auch lokale Praxen der Selbstorganisation und Entscheidungsfindung.

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Kommunitäre Produktionsformen und interne Verteilungsmechanismen, die auf Reziprozität und Solidarität beruhen, sowie die bereits skizzierten Formen und Logiken der Entscheidungsfindung und soziopolitischen Orga- nisation sind bis heute vor allem territorial verankert. Ihre konkrete Ausge- staltung wurde und wird durch historisch-spezifische Entwicklungen sowie die Besonderheiten des geographisch-klimatischen Kontextes und unter- schiedliche Formen menschlicher Aneignung der Natur mit geprägt. Angesichts der kulturellen Vielfalt und Heterogenität erscheint es aus ei- ner kritischen demokratietheoretischen Perspektive wenig sinnvoll, national ein einheitliches demokratisches System westlicher Provenienz etablieren zu wollen. Stattdessen sollte auf unterschiedlichen politisch-administrativen Ebenen (national, regional und lokal) sowie im Kontext indigener Territorien verstärkt über Möglichkeiten der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher demo- kratischer Vorstellungen, Prozedere und Funktionslogiken nachgedacht werden.37 Das beinhaltet, indigene Entscheidungspraxen und Rechtsvorstel- lungen anzuerkennen, unterschiedliche, demokratisch legitimierte Abstim- mungsverfahren zuzulassen und ihr Zusammenwirken auf den verschiede- nen politisch-administrativen Ebenen zu erproben. Dieser in Bolivien jüngst begonnene Suchprozess nach demokratischer Pluralität38 steht noch am An- fang und wird nur graduell fortschreiten beziehungsweise keineswegs linear erfolgen.

Indigene Selbstbestimmung

Eine Möglichkeit, den bolivianischen Staat zu dekolonisieren und von unten zu demokratisieren, ist zweifelsfrei die Einlösung der langjährigen Forde- rungen indigener Völker nach kultureller Selbstbestimmung und territoria- ler Selbstregierung. Mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung im Februar 2009 wurden beide Rechte konstitutionell festgeschrieben.39 Politisch umkämpft und bislang unerprobt bleiben sowohl Fragen der konkreten Umsetzung der Autonomien als auch die Reichweite beziehungs- weise die Vermittlung und Interaktion zwischen indigenen Autonomien und dem fortbestehenden liberal-repräsentativen Kommunalsystem einerseits

37 Vgl. Boaventura de Sousa Santos: Democracia de alta intensidad. Apuntes para democratizar la Democracia, Corte Nacional Electoral de Bolivia, La Paz 2004, S. 46. 38 Pluralität beziehungsweise Pluralidad meint interkulturelle Akzeptanz von Diversität und Differenz, in die- sem konkreten Falle die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher demokratischer Verfahren und Vorstellungen. Pluralität bezeichnet qualitativ somit etwas anderes als die Forderungen nach einer pluralen, gruppenbezo- genen Interessenvertretung von Seiten der Pluralismus-Vertreter_innen innerhalb der liberalen Demokratie- theorie. 39 Vgl. hierzu die Artikel 1, 2, 30, 269, 289, 290, 291 I., 292, 294 II. der neuen bolivianischen Verfassung; sowie Art. 2 Absatz 2 b) und Art. 7 des Gesetzes Nr. 1257 (ILO-Konvention 169) und Art. 3 u. 4 des Gesetzes Nr. 3760 (Deklaration der Vereinigten Nationen über die Rechte indigener Völker).

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sowie den zukünftigen Autonomien auf regionaler und departamentaler Ebene andererseits. Fest steht, dass indigene Autonomien – mit der Anerkennung indigener Organisations- und Entscheidungsstrukturen sowie Rechtsvorstellungen – über eine politische Dezentralisierung und fiskale Dekonzentration zentral- staatlicher Ressourcen deutlich hinausweisen. Neben der Anerkennung von eigenen Werten und Normen sowie der Be- wahrung und Förderung kultureller Traditionen geht es bei den Diskussio- nen um indigene Autonomie aber immer auch um konkrete sozioökonomi- sche Verbesserungen. So haben die internen Diskussionen im Vorfeld der am 6. Dezember 2009 in zwölf Stadt- und Landkreisen abgehaltenen Referen- den40 über die Einführung indigener Autonomien gezeigt, dass produktive Projekte und eine bessere Planung sowie Investition knapper Ressourcen sowohl von indigenen Führungspersonen als auch der Basis als zentral er- achtet werden, um die herrschende Armut zu überwinden, lokale Zukunfts- perspektiven zu eröffnen und die Abwanderung und permanente oder tem- poräre Arbeitsmigration in Städte und Nachbarländer zu verringern. Intensiv diskutiert wird dabei beispielsweise, ob und wie die indigenen Autoritäten neben ihren religiös-rituellen Aufgaben eine effiziente und trans- parente öffentliche Planung und Verwaltungsarbeit gewährleisten können oder wie sie – da sie oft nicht über das notwendige technisch-administrative Wissen verfügen – die Arbeit von bezahltem Fachpersonal effektiv kontrol- lieren können. Indigene Autonomie wird dabei nicht als Abspaltung und Rückkehr zu einem vormodernen Urzustand aufgefasst, sondern es wird eine territorial begrenzte Selbstregierung angestrebt, die auf eigenen kultu- rellen Werten fußt und die strukturellen materiellen und immateriellen Be- nachteiligungen, die als koloniale Schuld betrachtet werden, merklich ver- bessern will. Die Protagonist_innen indigener Autonomien betrachten deren Realisierung als historische Chance auf die Befreiung aus kultureller Unter- drückung, sie sehen aber auch die Gefahren.41

40 Parallel zu den landesweiten Neuwahlen am 06.12.2009 wurde in einer ersten Pilotphase in 12 Stadt- und Landkreisen über die Einführung von indigenen Autonomien abgestimmt. In 11 dieser Stadt- und Land- kreise wurde mehrheitlich dafür gestimmt. 41 Eigene Erhebungen zeigen, dass vor allem vermehrte Korruption in den eigenen Reihen sowie interne Fragmentierungsprozesse aufgrund von Streitereien über die Verteilung von Ressourcen befürchtet werden. Darüber hinaus wird immer wieder das oft fehlende technisch-administrative und haushaltspolitische Fach- wissen thematisiert und eine Wiederholung beziehungsweise Fortsetzung der Schwierigkeiten und Ineffi- zienzen befürchtet, die im Kontext des 15-jährigen Kommunalisierungsprozesses zutage traten. Eine weitere Angst besteht darin, dass der Staat sich aus seiner sozialen und ökonomischen Verantwortung zurückzieht und den indigenen Gemeinschaften lediglich die Selbstverwaltung der lokal herrschenden Armut überlässt.

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Nicht Alternativen zur Demokratie, sondern demokratische Alternativen

Das Beispiel Bolivien zeigt, dass sowohl materielle als auch immaterielle Voraussetzungen demokratischer Teilhabe und Repräsentanz existieren, die den liberalen Grundsatz der formalen Rechtsgleichheit beständig untergra- ben. Eine postkolonial-materialistische Perspektive hilft, die historisch- spezifische Entstehung zwischenstaatlicher sowie innergesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufzuzeigen und die universelle Gültig- keit von scheinbar rational überlegenen Leitbildern grundlegend in Frage zu stellen. Für Bolivien gilt es, die Komplexität und die Ambivalenzen, die sich aus der kulturellen Diversität des Landes, der Gleichzeitigkeit und wechselseiti- gen Durchdringung prä- und (post)kolonialer Einflüsse sowie der Vermi- schung und Überlagerung indigener Alltagspraxen mit okzidentalen Institu- tionen und Funktionslogiken ergeben, demokratietheoretisch stärker zu reflektieren. So zielt die hier formulierte Kritik nicht darauf, die Bedeutung demokrati- scher Werte an sich sowie sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Rechte für alle Menschen in Zweifel zu ziehen, sondern sie stellt die Alternativlosig- keit einer bestimmten Form ihrer Institutionalisierung und ihres Funktionie- rens in Frage. Diese theoretische und empirische Engführung vergibt die Chance, Potentiale einer Substantialisierung von Demokratie zu erkennen und weiterzudenken. Gleichzeitig sollte eine pauschale Idealisierung lokaler Kollektive und traditioneller Lebensformen als demokratischere Alternative und quasi natürliches gesellschaftliches Gegenprojekt zur individualisti- schen kapitalistischen Moderne und Postmoderne vermieden werden. Auf der Basis des aktuellen bolivianischen Transformationsprozesses fordert der Beitrag vielmehr dazu auf, überfällige Diskussionen über die Erweiterung und Vertiefung liberaler Demokratie zu führen und über die Pluralität und Komplementarität demokratischer Alternativen – jenseits der bekannten Pfade – nachzudenken.

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Judith Vey

Freizeitprotest oder Beschäftigungstherapie? Hegemonietheoretische Überlegungen zu linken Krisen- protesten in Deutschland in den Jahren 2009 und 2010

Der vorliegende Artikel ist eher als »work in progress« anzusehen – ganz im Geiste der Vorläufigkeit der von Antonio Gramsci verfassten Gefängnishefte, auf die ich mich in meiner Argumentation hauptsächlich beziehen werde: Es werden mehr Fragen aufgeworfen und Richtungen aufgezeigt, in die weiter- gedacht werden kann, als Antworten gegeben. Die Überlegungen entsprin- gen einer ersten Auswertung des empirischen Materials, das ich im Rahmen meines Promotionsprojekts über linke Krisenproteste in Deutschland in den Jahren 2009 und 2010 erhoben habe, und thematisieren einige konzeptionelle wie theoretische Probleme, die sich bei der Auswertung ergeben haben. Um politischen Widerstand adäquat analysieren zu können, ist eine Kon- zeptionalisierung des Verhältnisses von politischem Protest zum herrschen- den System, des Verhältnisses der verschiedenen emanzipativen Praxen un- tereinander und generell eine Konzeptualisierung von Widerstand nötig. Der Hegemonieansatz von Antonio Gramsci stellt dabei ein hilfreiches Werk- zeug dar, um analysieren zu können, wie Hegemonie über die unsichtbare und doch extrem wirksame Macht des Konsenses hergestellt wird – ganz im Gegensatz zum allseits sichtbaren Zwang. Dieser Ansatz bietet – in Anleh- nung an die Diskurs- und Hegemonietheoretiker_innen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe – ein Instrumentarium, um soziale Realität verstehen und politischen Protest einordnen zu können. Was aber genau unter dem Begriff Hegemonie zu verstehen ist, ist seit seinem Auftauchen stets umkämpft, der Begriff ist eine »explizit politische Kategorie, stets Ausdruck ihrer Zeit«1. Ebenso steht es mit dem Begriff der Gegen-Hegemonie: Wie sehen gegen-he- gemoniale Praxen aus, und macht es überhaupt Sinn, von der Gegen-Hege- monie und von Gegen-Hegemonie an sich zu sprechen? In diesem Artikel möchte ich dieser Problematik besonders hinsichtlich der Konzeptionalisie- rung von Gegen-Hegemonie auf den Grund gehen. Das Paper ist in drei Abschnitte unterteilt: Im ersten werde ich kurz mein Verständnis von Hegemonie und sozialer Realität im Allgemeinen vorstel- len. Im zweiten werde ich auf die theoretische Konzeptionalisierung von Ge-

1 Andreas Merkens: Hegemonie und Gegen-Hegemonie als pädagogisches Verhältnis. Antonio Gramscis poli- tische Pädagogik. In: Hamburger Manuskripte 15, 2006, S. 4.

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gen-Hegemonie eingehen und meinen Gegen-Hegemoniebegriff erläutern. Im dritten Teil werde ich anhand von Praxisbeispielen Schwierigkeiten in der Anwendung des Hegemonieansatzes aufzeigen und diskutieren.

Hegemonie

»Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man so- gleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vor- geschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand […].«2 Mit dieser viel zitierten Passage aus den Gefängnisheften lässt sich das Wir- ken von Hegemonie relativ gut beschreiben: Nicht allein der Zwang, aus- geübt durch den Staat als politisches Bollwerk, als »eine Maschine, ein mi- litärischer oder polizeilicher Apparat oder eine Bürokratie«3, stützt die herrschenden bürgerlichen Verhältnisse, sondern vor allem das Moment des Konsenses der Regierten ist es, der die bürgerliche Hegemonie in der Gesell- schaft herstellt und stabilisiert. Doch wie kann es sein, dass die Subalternen ihrer Beherrschung nicht nur zustimmen, sondern auch noch aktiv an ihr teilnehmen? Gramsci zufolge geschieht dies auf der Ebene des Alltagsver- standes, über die Internalisierung der Kultur der herrschenden Klasse. Die herrschende Klasse hat ihre eigenen Interessen universalisiert und gibt sie als Allgemeininteresse aus, das heißt, die Regierten nehmen sie als ihre eige- nen wahr und handeln dementsprechend. Zu dieser ideologischen Struktur gehören nicht nur die offensichtlichen kulturellen Institutionen, wie die Medien, Bildungseinrichtungen, Künste etc., sondern auch die vermeintlich objektiven Strukturen, wie die Architek- tur, die Anlage von Straßen und die Straßennamen selbst.4 Doch auch hin- sichtlich der Medien hat Gramsci einen erweiterten Begriff: Nicht nur die herkömmlichen Medien, wie Tages- und Wochenzeitungen, sondern auch »politische Zeitungen, Zeitschriften jeder Art, wissenschaftliche, literarische, philologische, populärwissenschaftliche usw., unterschiedliche Periodika bis zu den Mitteilungsblättern der Kirchengemeinden«5 zählen zu den Produ- zent_innen von Hegemonie. Hegemonie wird demnach vor allem über die

2 Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Bd. 4, hrsg. von Klaus Bochmann; Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1992, S. 873 f. 3 Alex Demirovic: Politische Gesellschaft – zivile Gesellschaft. Zur Theorie des integralen Staates bei Antonio Gramsci. In: Sonja Buckel; Andreas Fischer-Lescano (Hrsg.): Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesell- schaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis, Baden-Baden 2007, S. 21-41, hier: S. 24. 4 Vgl. Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Bd. 2, hrsg. von Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991, S. 373. 5 Gramsci 1991 (s. Anm. 4), S. 373.

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kleinen, unsichtbaren Dinge des Alltags ausgeübt und nicht so sehr im Rah- men der politischen Gesellschaft, also des Staats und seiner Einrichtungen. Diese ordnet Gramsci tendenziell der Sphäre des Zwangs zu; die Sphäre der Hegemonieausübung hingegen ist die »der ›Zivilgesellschaft‹ [...], d. h. des Ensembles der gemeinhin ›privat‹ genannten Organismen«6. Die Zivilgesellschaft und die in ihr stattfindenden Aushandlungsprozesse finden also keineswegs auf einem herrschaftsfreien Terrain statt, sie ist nach Gramsci der Ort, wo die herrschende Klasse ihre Vormachtstellung (re-)pro- duziert. Diese Sichtweise steht im krassen Gegensatz zu linksliberalen An- sätzen, wie zum Beispiel dem von Jürgen Habermas, die die Zivilgesellschaft als herrschaftsfreien Ort der Deliberation verallgemeinerungsfähiger Interes- sen konzeptionalisieren.7 Die Hegemonialwerdung selbst beschreibt Gramsci als einen mehrstufi- gen Prozess, von der korporativ-ökonomischen Phase der berufsgruppen- spezifischen Einheit über die Interessensolidarität zwischen allen Mitglie- dern einer gesellschaftlichen Gruppe auf ökonomischem Gebiet bis hin zu der Überschreitung der eigenen korporativen Interessen und Verallgemeine- rung der Interessen.8 Zusammenfassend lässt sich resümieren: »Es handelt sich [bei Hegemo- nie] um die Erlangung einer stabilen Situation, in der bestimmte politische Gruppen in der Lage sind, ihre Interessen in einer Art und Weise zu artiku- lieren, dass die anderen gesellschaftlichen Gruppen diese Interessen als ein Allgemeininteresse ansehen – Hegemonie im Sinne eines aktiven Konsenses der Regierten.«9 Mittels dieser neuen politischen Logik kann die Wirkweise von Herr- schaft besser verstanden und analysiert werden, da sie aufzeigt, dass westli- che kapitalistische Gesellschaften nicht einfach revolutioniert werden kön- nen, indem die Regierungsmacht übernommen wird. Stattdessen ist ein langer Kampf, in Gramscis Worten ein »Stellungskrieg«10, in der Zivilgesell- schaft notwendig. Gramsci bringt damit eine völlig neue Logik in die Analyse mit ein, von der aus sich politische Kämpfe auf eine ganz andere Art und Weise begreifen lassen, nämlich auf der kulturellen Ebene des Alltagsverstands. Hegemonie wird bei Gramsci jedoch noch wortwörtlich als Vorherrschaft begriffen, in dem Sinne, dass man (zumindest analytisch) eine herrschende und eine beherrschte Klasse unterscheiden kann und die herrschende die ei-

6 Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Bd. 7, hrsg. von Klaus Bochmann; Wolfgang Fritz Haug; Peter Jehle, Hamburg 1997, S. 1502. 7 Vgl. Demirovic 2007 (s. Anm. 3), S. 28. 8 Vgl. Gramsci 1997 (s. Anm. 6), S. 1559 ff. 9 Josha Wullweber: Hegemonie, Diskurs und Politische Ökonomie. Das Nanotechnologie-Projekt, Baden- Baden 2010, S. 33. 10 Gramsci 1992 (s. Anm. 2), S. 873.

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genen Interessen der anderen Klasse mittels Universalisierung ›unterjubelt‹. Die gegenseitige (auch identitäre) Verschränkung von Herrschenden und Subalternen und ihre subjekt- und realitätskonstituierende Wirkung bleiben im Dunklen. Hegemonie erscheint infolgedessen bei Gramsci als etwas Ne- gatives. Denn in seiner Konzeption stehen sich immer noch zwei Klassen ge- genüber. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe weisen daher darauf hin, dass seine Konzeption einen »verborgene[n] essentialistische[n] Kern«11 enthält: »Man sollte glauben, dass hier alle Bedingungen für das, was wir die demo- kratische Praxis der Hegemonie genannt haben, vorhanden sind. Nichts- destoweniger beruht die ganze Konstruktion auf einer letztlich inkohärenten Konzeption, die nicht imstande ist, den Dualismus des klassischen Marxis- mus vollständig zu überwinden. Für Gramsci muss es [...] in jeder hegemo- nialen Formation immer ein einziges vereinheitlichendes Prinzip geben, und dies kann nur eine fundamentale Klasse sein.«12 Mithilfe der Hegemoniekonzeption von Laclau und Mouffe lässt sich die- ses Top-down-Verständnis von Hegemonie auflösen. Sie greifen Gramscis Hegemonieansatz auf und übertragen ihn auf die generelle Produktion so- zialer Wirklichkeit. Denn erst durch den temporären Ausschluss und die Un- denkbarmachung von anderen Realitäten kann Sinn fixiert und damit so- ziale Wirklichkeit geschaffen werden. Hegemonie ist damit weder positiv noch negativ konnotiert, sondern der wesentliche Bestandteil von Sinnpro- duktion und sozialer Wirklichkeit. Laclau und Mouffe geben Gramscis He- gemonieansatz damit eine poststrukturalistische Wendung: »Jede gesell- schaftliche Ordnung ist politischer Natur und basiert auf einer Form von Ausschließung. Es gibt immer andere unterdrückte Möglichkeiten, die aber reaktiviert werden können. Die artikulatorischen Verfahrensweisen, durch die eine bestimmte Ordnung etabliert und die Bedeutung der gesellschaftli- chen Institutionen festgelegt wird, sind ›hegemoniale Verfahrensweisen‹.«13 Soziale Wirklichkeit ist infolgedessen immer hegemonial konstituiert, das heißt andere Realitäten werden zumindest temporär ausgeschlossen. Die Frage, welche soziale Realität sich als hegemonial etablieren kann – also ob sich beispielsweise das neoliberale Weltbild und die damit zusammenhän- genden Vergesellschaftungsformen durchsetzen oder ob doch auch andere Realitäten denk- und lebbar werden –, ist daher immer umkämpft. Dieser ganzheitliche Blick, der Diskurse, Praktiken, Strategien und Herrschaftsver- hältnisse nicht voneinander trennt, ermöglicht es, Realität auf eine ganz an- dere Weise zu begreifen und gegen-hegemoniale Perspektiven zu eröffnen.

11 Ernesto Laclau; Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2006, S. 105. 12 Ebd., S. 104 f. 13 Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt am Main 2007, S. 27.

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Das bedeutet auch, dass bei jedem politischen Kampf und jeder sozialen Praxis im Allgemeinen die jeweilige soziale Realität mitverhandelt wird: Sie wird entweder reproduziert oder durch neuen Sinn ersetzt. Die Kritik an Stuttgart 21, egal ob sie nur als eine Kritik an einem Bauprojekt artikuliert wird oder weitergehende Kritik beinhaltet, basiert auf einem spezifischen Zugang zur sozialen Realität. Dementsprechend werden bestimmte andere Welten immer temporär ausgeschlossen. Die Welt wird jedoch nicht nur durch sprachliche Akte geschaffen, sondern vermittels jeglicher sozialen Pra- xis. Die Möglichkeit eines Generalstreiks oder eines politischen Streiks bei- spielsweise liegt in Deutschland immer noch überwiegend außerhalb des demokratischen Horizonts, während die Aktionsform des zivilen Ungehor- sams bis zu einem gewissen Grad akzeptiert ist. Auf diese Weise werden Handlungs- und Aktionsformen ermöglicht oder eben auch verunmöglicht und im wahrsten Sinne des Wortes Fakten geschaffen.

Gegen-Hegemonie

»[Jeder] geschichtliche Akt kann nur vom ›Kollektivmenschen‹ vollzogen werden, setzt also die Erreichung einer ›kulturell-gesellschaftlichen‹ Einheit voraus, durch die eine Vielzahl auseinanderstrebender Willen mit heteroge- nen Zielen für ein und dasselbe Ziel zusammengeschweißt werden, auf der Basis einer (gleichen) und gemeinsamen Weltauffassung (einer allgemeinen oder besonderen, transitorisch – auf emotionalem Wege – wirkenden oder permanenten, deren intellektuelle Basis so verwurzelt, assimiliert, gelebt ist, daß sie zur Leidenschaft werden kann). Da es so geschieht, scheint die Be- deutung der allgemeinen Sprachfrage auf, das heißt des kollektiven Errei- chens ein und desselben kulturellen ›Klimas‹.«14 Gramsci verfügt über eine relativ klare Vorstellung von Gegen-Hegemo- nie: Über den modernen Fürsten – zu seiner Zeit die Partei, heute möglicher- weise die globalisierungskritischen Bewegungen –, der die widerständigen Kräfte vereint und eine »kulturell-gesellschaftliche Einheit« erzeugt, wird ein neues »kulturelles Klima« geschaffen. Es geht also vor allem um die Zu- sammenführung einer »Vielzahl auseinanderstrebender Willen mit hetero- genen Zielen« zu einem Ziel und dessen Verallgemeinerung. Poststruktu- ralistisch gesprochen: Es bildet sich eine Äquivalenzkette, die partikulare Forderungen verbindet, so dass sich verallgemeinerbare, universale Forde- rungen herausbilden. Auf diese Weise verbinden sich soziale Kämpfe und etablieren eine Gegen-Hegemonie, da sie die herrschende Ordnung kontinu- ierlich infrage stellen.

14 Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Bd. 6, hrsg. von Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1994, S. 1335.

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Auf die heutigen Kämpfe bezogen bedeutet das: Wenn die globalisie- rungskritischen Bewegungen hegemoniefähig werden wollen, müssen sie verschiedene Elemente emanzipatorischer Politik verbinden und dadurch ein neues gegen-hegemoniales kulturelles Klima erzeugen, das die hege- moniale Politik infrage stellt. Es bedarf also einer »neuen kulturellen Gram- matik«15. Die Umweltbewegung erkennt beispielsweise, dass nachhaltige Politik auch mit der Auflösung von Geschlechterregimen zusammenhängt, die Ak- tivist_innen des Schulstreiks engagieren sich gegen Abschiebung usw. Parti- kulare Kämpfe verbinden sich zu einem gemeinsamen Kampf, bilden eine Äquivalenzkette und ringen um eine andere Hegemonie. Der Begriff der Gegen-Hegemonie kann aber möglicherweise auch irre- führen. Denn er suggeriert zum einen, dass es sich vornehmlich um eine Ge- genbewegung handelt, die sich vor allem durch eine Negation des Bestehen- den auszeichnet. Dem ist jedoch nicht so, denn Gegen-Hegemonie bedeutet vor allem die Etablierung einer anderen, alternativen Hegemonie und nicht bloße Gegen-Kultur. Hinsichtlich der linken Krisenproteste in Deutschland, die ich untersuche, scheint es daher angebrachter, von linker Hegemonie zu sprechen, um die Richtung dieser anderen Hegemonie zu beschreiben. Was konkret der Inhalt dieser linken Hegemonie sein könnte, ist jedoch noch aus- zubuchstabieren. Zum anderen suggeriert der Begriff im Singular die Notwendigkeit einer Einheit der Kämpfe für deren Hegemoniefähigkeit. Dies steht natürlich im Gegensatz zur realen Vielfältigkeit der Kämpfe und wirft die Frage auf, in- wieweit für eine Verbindung und Verallgemeinerung der Kämpfe wirklich eine gewisse Äquivalenz der Kämpfe notwendig ist. Laclau und Mouffe identifizieren als vereinheitlichendes Prinzip die Existenz eines gemeinsa- men Antagonisten, eines Feindes, der den partikularen Kämpfen ein verein- heitlichendes Moment gibt. Welcher Art diese Verbindung ist, bleibt jedoch unklar. Es lässt sich bis zu diesem Punkt festhalten, dass es angebracht scheint, an- stelle des Begriffs Gegen-Hegemonie von linken Hegemonien zu sprechen.

Linke Hegemonien

Mit der von Laclau und Mouffe entwickelten Hegemonietheorie ist ein In- strument gefunden, mit dem soziale Bewegungen hinsichtlich ihres weltver- ändernden Potentials und ihres Verhältnisses zum herrschenden System

15 Oliver Marchart; Rupert Weinzierl: Radikale Demokratie und Neue Protestformen. In: Dies. (Hrsg.): Stand der Bewegung? Protest, Globalisierung, Demokratie – eine Bestandsaufnahme, Münster 2006, S. 8.

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analysiert werden können: Linke soziale Bewegungen müssen die herr- schende Ordnung infrage stellen und eine andere kulturelle Grammatik ent- wickeln, wenn sie eine alternative, linke Hegemonie etablieren wollen. Auf konkrete Protestbewegungen bezogen ergeben sich dabei einige Schwierigkeiten, die ich im Folgenden erörtern möchte. Bei den Krisenprote- sten in Deutschland in den Jahren 2009 und 2010 haben sich zahlreiche sehr unterschiedliche Gruppen zusammengeschlossen und sind gemeinsam auf die Straße gegangen. Am 28. März 2009 fanden sich 55 000 Menschen aus den unterschiedlichsten linken Kontexten – Gewerkschafter, Sozialprotest- und antikapitalistische Gruppen, Vertreter von Attac über Mitglieder der Linkspartei und der Grünen bis hin zu MigrantInnen-Organisationen sowie umwelt-, entwicklungspolitischen und kirchlichen Gruppen – in Berlin und Frankfurt am Main zusammen, um unter dem Motto »Wir zahlen nicht für eure Krise« für eine solidarische Gesellschaft zu demonstrieren. Dieser gemeinsame politische Aktivismus über politische Gräben hinweg wurde innerhalb der Bewegungen als positiv und neu hervorgehoben. Aber birgt diese breite gesellschaftliche Bündnisfähigkeit bereits das Potential ei- ner anderen Hegemonie? Und bedeutet das im Umkehrschluss, dass separat bleibende Gruppen und Aktionen nicht hegemoniefähig oder zumindest we- niger hegemoniefähig sind? Theoretisch formuliert: Was meint eigentlich ge- nau Universalisierung von Partikularismen und was zeichnet eine Äquiva- lenzkette außer der Entgegensetzung eines Antagonisten aus? Wie müssen Partikularismen miteinander verknüpft werden? Wie groß muss die Kongru- enz von Bedeutungen sein, damit sie universalisiert werden können? Welche Bedeutungsrealitäten müssen sich miteinander verknüpfen: Wofür ich de- monstriere oder auch die Art der Lebensführung? Reicht eine Art derselben Problemwahrnehmung, oder müssen es konkrete Praxen sein? All diese Fra- gen treffen auf denselben Kern: den Ort und die Art der Hegemonialwer- dung. Nancy Fraser plädiert in ihrem Buch Die halbierte Gerechtigkeit für die Not- wendigkeit einer Vielfalt von kleinen Öffentlichkeiten anstelle einer einzigen großen Öffentlichkeit.16 So unterschiedlich die Konzeptionalisierung von (Gegen-)Hegemonie im Sinne Gramscis und von Öffentlichkeit nach Fraser sein mag, so treffen ihre Überlegungen doch einen wichtigen Punkt, der in der Linken kontrovers diskutiert wird: die Frage, in welcher Form eine ge- meinsame linke Politik sinnvoll und notwendig ist. Die Linke argumentiert aus demokratietheoretischen Gründen für eine Vielfalt von Öffentlichkeiten, da auf diese Weise das »Ideal der partizipatorischen Gleichstellung«17 besser

16 Vgl. Nancy Fraser: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats, Frank- furt am Main 2001, S. 134. 17 Ebd., S. 136.

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zu erreichen sei. Aber aus hegemonietheoretischer Sicht stellt sich dennoch die Frage, ob es die vielen kleinen Praxen sind, die etwas verändern, oder die Arena der »großen« Politik und die damit zusammenhängenden Proteste dagegen – siehe Stuttgart 21, die Anti-Atom-Proteste oder auch der Schul- streik. Seitens der Großveranstaltungsprotestler_innen wird häufig argumen- tiert, dass die kleinen, alltäglichen widerständigen Praxen häufig nur »Be- schäftigungstherapie« seien und nicht wirklich etwas ändern könnten. Statt- dessen müsse auf der Ebene der »großen« Politik etwas verändert werden. Von der anderen Seite wird kritisiert, dass die Großproteste in ihrer Kritik zu kurz greifen und die Aktivist_innen nur Freizeitprotestler_innen seien, die in ihrem Alltag genauso konservativ und systemkonform leben wie die von ihnen kritisierten Menschen. Bei den Krisenprotesten wurde deutlich, dass das Angebot der Bildung ei- ner Äquivalenzkette auch scheitern kann: Den Protesten ist es bisher nicht gelungen, die Kämpfe ausreichend zu verbinden, so dass eine wirklich breite und nachhaltige Bewegung entstanden wäre. Woran liegt das? Auf den ers- ten Blick scheint es doch gelungen zu sein, verschiedene Kämpfe zusam- menzuführen. Eine Erklärung könnte sein, dass die Proteste es nicht geschafft haben, die Kämpfe auf die Ebene der Lebenswelt zu übertragen. Das bedeutet, dass sie zwar auf der sprachlichen Ebene die Kämpfe und den politischen Protest verbunden haben, aber nicht auf der Ebene des Alltagsverstandes. Sie haben bisher nur wenig neue Weltdeutungen eingebracht, ihre Adressaten waren überwiegend Vertreter_innen der politischen Gesellschaft. Doch um hege- moniefähig zu sein, bedarf es vor allem einer Veränderung der Art und Weise, wie die soziale Realität verstanden und gelebt wird, denn die hege- monialen Verfahrensweisen und die artikulatorische Praxis, von denen Laclau und Mouffe sprechen, sind nicht nur auf der sprachlichen Ebene an- gesiedelt; der Diskursbegriff umfasst alle gesellschaftlichen Praxen, also zum Beispiel auch die Art, wie ich esse, wo ich esse, was ich esse. Die vielen »klei- nen« linken Praxen und Gruppierungen müssen daher nicht weniger hege- moniefähig sein als Großveranstaltungen, solange sie verschiedene Kämpfe zusammendenken und miteinander verbinden. So können »kleine« politi- sche Gruppen, Lesekreise und sogar Lebensmittelkooperativen partikulare Kämpfe zusammenführen, indem sie verschiedene Macht- und Herrschafts- verhältnisse in ihrer Praxis zusammendenken. Im Falle der Lebensmittel- kooperative wären das zum Beispiel Umweltschutz und Nachhaltigkeit, Fairer Handel, weniger Ausbeutung durch Selbstverwaltung und Einkauf direkt bei den Erzeuger_innen etc. Was bedeutet das konkret für die Analyse von Hegemonie? Zum einen, dass die Verschränkung und Universalisierung von Weltdeutungen sich

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auch in einer Vielzahl von »kleinen«, organisatorisch separaten Praxen wie auch in »großen«, organisatorisch verbundenen Praxen vollziehen kann und ihre Wirkmächtigkeit nicht so sehr von deren (medialer) Sichtbarkeit ab- hängt. Beide Aktionsformen sind eine von vielen Seiten derselben Medaille. Zum anderen, dass eine scheinbare Partikularität bei genauerem Hin- sehen zahlreiche emanzipative Elemente verbinden und auf diese Weise linke Hegemonien vorantreiben kann – manchmal sogar besser als bei ge- ballten Großveranstaltungen. Eine kunterbunte Großdemonstration, auf der zwar viele verschiedene Kämpfe temporär gemeinsam artikuliert werden, kann manchmal weniger zur Etablierung einer alternativen Hegemonie bei- tragen als viele »kleine« emanzipative Alltagspraxen, weil diese verschiede- nen Kämpfe im Alltag unverbunden und isoliert bleiben. Bei der Analyse so- zialer Bewegungen müssen diese Aspekte miteinbezogen werden, um nicht zu voreiligen Schlüssen zu kommen. Auf die Hegemoniefähigkeit der Krisenproteste der vergangenen zwei Jahre bezogen könnte man schlussfolgern: Sie haben es zwar geschafft, Men- schen für eine gemeinsame Sache zu mobilisieren, diese Mobilisierung war jedoch nicht nachhaltig, da sie ihre Stoßrichtung und Handlungsebene vor allem auf die politische Gesellschaft konzentriert haben: Sie haben versucht, auf der Ebene des Staates und seiner Institutionen, also der Ebene des Zwangs und nicht der Ebene der Hegemonie, etwas zu verändern. Hegemonie wird aber vor allem auf der Ebene der Zivilgesellschaft und des Alltagverstandes ausgeübt. Und das bedeutet für die Hegemoniefähigkeit nicht nur eine not- wendige Verschränkung der Proteste mit Alltagspraxen, sondern vor allem eine Veränderung der kulturellen Grammatik, beispielsweise in Form von Begriffsarbeit und einer Veränderung der mit den Begriffen verbundenen Weltsicht. Denn für die Etablierung einer anderen Hegemonie müssen immer beide Sphären miteinbezogen werden – ganz im Sinne einer revolutionären Real- politik.

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Biographische Angaben zu den Autor_innen und Herausgeber_innen

Esther Abel studierte Osteuropäische Geschichte und Slawistik und befasst sich in ihrer Dissertation mit dem Thema: »Peter Scheibert – eine deutsche Karriere«. Der Promotionsstudiengang ist im Fach Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum angesiedelt. Kontakt: [email protected]

Ercan Ayboga studierte Bauingenieurwesen an der TU Darmstadt. Seit April 2007 promoviert er an der Bauhaus-Universität Weimar zu dem Thema: »Methoden und Modelle beim Rückbau von Talsperren«. Kontakt: [email protected]

Marziyeh Bakhshizadeh hat an der Universität Teheran (Iran) einen Bachelor im Fach Sozial- wissenschaft und einen Masterabschluss im Fach Soziologie erworben. Zurzeit promoviert sie im Fach Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum zum Thema: »Frauenrechte und drei Lesarten des Islam im Iran seit der Revolution 1979«. Kontakt: [email protected]

Maria Becker promoviert im Fach Literaturwissenschaft an der TU Dortmund. Der Titel ihrer Dissertation lautet: »›Der Kapitalismus muss gelernt werden ...‹. Bedingungen des literarischen Schreibens vor und nach 1989/1990 aus der Perspektive renommierter DDR-Autoren der Kinder- und Jugendliteratur«. Die Dissertation wurde bereits eingereicht. Kontakt: [email protected]

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Peter Bescherer hat Soziologie studiert. Zurzeit ist er mit der Fertigstellung seiner Dissertation über »Kritische Theorie der Lumpen – Pauper, Prekäre und Deklassierte in der kritischen Theorie der Gesellschaft« beschäftigt. Er ist Vorstandsmitglied der RLS Thüringen und Mitglied der Redaktion von Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften. Kontakt: [email protected]

Nils Brock studierte Politikwissenschaften, Kommunikations- und Medienwissen- schaften sowie Nordamerikastudien an der Universität Leipzig, dem Institut d’Etudes Politiques in Lyon und der Freien Universität Berlin. Er promoviert gegenwärtig innerhalb des Fachbereichs Politikwissen- schaften am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin und untersucht die medienpolitischen Vermittlungen unabhängiger Radios in Brasilien. Kontakt: [email protected]

Esther Denzinger studierte Ethnologie und Philosophie und promoviert zum Thema »Erinnern, Vergessen, Verarbeiten: Individuelle Überlebensperspektiven und soziale Transformationsprozesse in Ruanda nach 1994« am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin. Kontakt: [email protected]

Tanja Ernst studierte in Hannover Freiraum- und Landschaftsplanung, Soziologie, Politik und Geschichte und promoviert im Fach Politik an der Universität Kassel. Sie untersucht demokratietheoretische und -praktische Auswirkungen von sozialen Ungleichheiten am Beispiel Boliviens. Kontakt: [email protected]

Roman Fröhlich hat Wissenschaftliche Politik und Soziologie studiert und promoviert im Fach Politikwissenschaften am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin zur Zwangsarbeit von Gefangenen aus den Lagern der SS in den Heinkel-Flugzeugwerken. Kontakt: [email protected]

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Katia Genel hat Philosophie und Soziologie in Frankreich studiert. 2010 hat sie eine Promotion in Philosophie an der Universität Rennes 1 (Frankreich) und der Goethe-Universität Frankfurt am Main abgeschlossen. Der Titel ihrer Doktorarbeit ist »Autorität und Kritik. Der interdisziplinäre Ansatz zur Erforschung der Autorität in der frühen Frankfurter Schule«. Sie ist jetzt Maître de conférences in deutscher Philosophie an der Univer- sität Paris 1 Panthéon-Sorbonne. Kontakt: [email protected]

Cordula Greinert studierte Europäische Studien (Kultur- und Sozialwissenschaften) in Osnabrück, Amsterdam und Birmingham. Sie promoviert an der Universität Osnabrück im Fach Literaturwissenschaft über »Heinrich Manns Essayistik und Publizistik im französischen Exil von 1938 bis 1940«. Kontakt: [email protected]

Marcus Hawel studierte Soziologie, Sozialpsychologie und Deutsche Literaturwissenschaft in Hannover. Er promovierte über »Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland«. Er ist bildungspolitischer Referent im Studienwerk der RLS. Kontakt: [email protected]

Nadine Heymann studierte Europäische Ethnologie, Rechtswissenschaften und Erziehungs- wissenschaften. Sie promoviert an der Humboldt-Universität in Berlin am Institut für Europäische Ethnologie zu dem Thema: »Visual Kei: Praxen von Körper und Geschlecht in einer translokalen Subkultur«. Kontakt: [email protected]

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Alke Jenss studierte Politikwissenschaften und promoviert nach längeren Aufenthalten in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern an der Philipps-Universität Marburg (Institut für Soziologie) zum Thema »Transformation von Staat- lichkeit unter Bedingungen neoliberaler Globalisierungsprozesse« und vergleicht dabei die politischen Dynamiken in Kolumbien und Mexiko. Kontakt: [email protected]

Julia Killet promovierte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zu dem Thema: »Sozialkritik und linksintellektuelle Identität im Werk von Maria Leitner (1892–1942)«. Seit März 2011 ist sie als Bildungsreferentin für die RLS Bayern tätig. Kontakt: [email protected]

Tanja Kinzel hat Soziologie studiert und lebt in Berlin. Promoviert hat sie am Osteuropa- Institut der Freien Universität Berlin, ihre Dissertation trägt den Titel »Fotografien aus dem Ghetto Litzmannstadt. Die Perspektive der Fotografierenden«. Kontakt: [email protected]

Antje Krueger hat Kulturwissenschaften und Soziologie an der Universität Bremen studiert. Soeben hat sie dort ihre Dissertation mit dem Titel: »crazy people living building. Die ethnologisch-psychologische Betreuung von psychisch belasteten Asylsuchenden im EPZ Zürich« abgeschlossen. Kontakt: [email protected]

Susanne Mansee studierte Kultur- und Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitet derzeit an ihrer Promotion an der Humboldt-Universität zum Thema: »Seebadsaison. Die ›Kaiserbäder‹ auf Usedom. Geschichte im Mikrokosmos«. Kontakt: [email protected]

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Kai Marquardsen studierte die Fächer Soziologie, Sozialpsychologie und Kommunikations- wissenschaften. Seine Promotion zum Thema »Aktivierung und soziale Netzwerke. Die Dynamik sozialer Beziehungen unter dem Druck der Erwerbslosigkeit« im Fach Soziologie an der Friederich-Schiller-Universität Jena schloss er im Februar 2011 ab. Kontakt: [email protected]

Ena Mercedes Matienzo León studierte in Lima Pädagogik der Spanischen Sprache und Literatur und Anthropologie und promoviert derzeit im Fach Romanistik an der Universität Potsdam. Das Thema ihrer Promotionsarbeit lautet: »Die Gute Regierung als andine Fiktion. Zur Konzeption des Utopischen in der El Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno von Felipe Guamán Poma de Ayala«. Kontakt: [email protected]

Jens Mehrle ist Schauspielregisseur und promoviert an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig im Fach Dramaturgie. Der Arbeitstitel seiner Dissertation lautet: »Berlinische Dramaturgie. Zur Geschichte und zu den Ergebnissen der von Peter Hacks geleiteten Arbeitsgruppen an der Akademie der Künste der DDR«. Kontakt: Brennerstr. 48, 13187 Berlin

Benjamin Moldenhauer hat Soziologie, Kulturwissenschaft und Philosophie in Bremen und Wien studiert. Er promoviert zurzeit an der Universität Bremen zu Geschichte und Theorie des Horrorgenres. Kontakt: [email protected]

Mike Nagler promoviert im Fach Soziologie und Politik an der TU Darmstadt und der HTWK Leipzig zu dem Thema: »Der Einfluss lokaler Eliten auf die Privatisierung kommunaler Leistungen – Vergleichende Analyse eines Spannungsfeldes, dargestellt am Beispiel deutscher Großstädte«. Kontakt: http://www.mike-nagler.de

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Stefan Paulus promoviert an der TU Hamburg-Harburg in der Arbeits- und Geschlechter- forschung zu dem Thema: »Work-Life-Balance. Zur Konstruktion und Regulation von Geschlechterregimen« (Arbeitstitel). Kontakt: [email protected]

Britta Pelters studierte die Diplomstudiengänge Pädagogik und Humanbiologie. Ihre Promotion begann sie im Fach Gesundheitswissenschaft an der Universität Bielfeld zum Thema: »Brustkrebsgene im Kontext: Situiertes Wissen des Selbst in Beziehung«. Im Jahr 2011 wechselte sie ans Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo sie im Oktober ihre Dissertation einreichte, die nun den Titel trägt »Doing health: Die relational-familiale, situative und Wissenskontextualisierung eines positiven Brustkrebsgentestresultats als gesundheitssozialisatorischer Vorgang«. Kontakt: [email protected]

Isabella Margerita Radhuber studierte Sozialarbeit und Politikwissenschaft. Derzeit schreibt sie ihre Promotion in Politikwissenschaft über die Rolle der natürlichen Ressourcen im Staatstransformationsprozess in Bolivien an der Universität Wien. Kontakt: [email protected]

Matthias Richter-Steinke hat an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Studienfach Politikwissenschaft zum Thema »Auswirkungen von Privatisierungen auf Gewerkschaften. Die Privatisierung der europäischen Eisenbahnen am Beispiel der Deutschen Bahn im Kontext von Liberalisierung, Europäisierung und Globalisierung« promoviert. Zurzeit arbeitet er beim DGB. Kontakt: [email protected]

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Jan Sailer hat seine Doktorarbeit »Das ›gute Leben‹ im Kapitalismus – Aristotelische Gerechtigkeit und der Marxsche Bewertungsmaßstab« am Philosophischen Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg geschrieben. Er erforscht in Frankfurt am Main Ethik und Praxis der politischen Ökonomie des Finanzsektors. Kontakt: [email protected]

Bettina Schmidt promoviert an der Universität Oldenburg. Ihre Promotion umfasst die wissenschaftliche Begleitung eines Anti-Bias-Projektes an Grundschulen und trägt den Titel: »Subjekt – Macht – Schule: zur Vereinbarkeit von Subjektorientierung und Schulentwicklung«. Kontakt: [email protected]

Andrea Scholz studierte im Magisterstudiengang Ethnologie, Soziologie und Spanisch an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn. Dort promoviert sie zurzeit im Fach Ethnologie. Ihre Dissertation mit dem Titel »Kari'ña noonorü – wem gehört das Land? Territoriale Rechte, Ressourcenkontrolle und Deutungsmacht in der Reserva Imataca (Venezuela)« hat sie 2011 eingereicht. Kontakt: [email protected]

Oliver Schupp befasst sich in seinem Promotionsvorhaben an der Schnittstelle zwischen Politik-, Geschichts- und Kulturwissenschaften mit dem Vergessen kommunistischen Begehrens. Er ist Mitglied des Promotionskollegs »Demokratie und Kapitalismus«, das von der RLS finanziert wird und an der Uni Siegen angesiedelt ist. In Siegen ist er auch eingeschrieben als Promotionsstudent. Kontakt: [email protected]

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Polina Serkova hat in Moskau Kulturwissenschaft studiert. Sie promoviert an der Universität Duisburg-Essen im Fach Germanistik zum Thema: »Das Erbauungsschrifttum des deutschen Protestantismus und die Entstehung der Subjektivität im 17. und 18. Jahrhundert«. Kontakt: [email protected]

Jan Stehle hat Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin und der Universi- dad de Chile studiert und promoviert gegenwärtig an der Freien Universität Berlin in Politikwissenschaft zum Thema: »Deutsche Außenpolitik und Menschenrechte: Der Fall Colonia Dignidad 1961–2010«. Kontakt: [email protected]

Anja Trebbin studierte Philosophie und Neuere deutsche Literatur an der Freien Uni- versität Berlin. Jetzt promoviert sie – ebenfalls an der FU – in Philosophie. In ihrer Dissertation befasst sie sich mit der Rolle der Praxis in den Werken Foucaults und Bourdieus. Kontakt: [email protected]

Monika Urban ist diplomierte Sozialarbeitswissenschaftlerin, arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich 11 der Universität Bremen und promoviert an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg zu »Die Heuschrecken- metapher. Studien zu ihrer Genese und Verwendung in der deutschen Presse (2005–2011)«. Kontakt: [email protected]

Judith Vey hat Soziologie studiert, lebt in Berlin und arbeitet an ihrer Promotion zum Thema »Perspektiven einer Gegen-Hegemonie« an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Kontakt: [email protected]

480 Der vorliegende Band versammelt Aufsätze von Promotionsstipendiat_innen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die in den Jahren 2009 und 2010 ihre Dissertationsprojekte während inter- disziplinärer Doktorand_innenseminare der Stiftung vorgestellt und mit ihren Mitstipendiat_­innen diskutiert haben.

Der Anspruch dieses Bandes ist der einer engagierten Wissenschaft: Ein Großteil der Autor_innen versteht die eigene Arbeit als politisch engagierte Tätigkeit. Kritische wissen­schaftliche Texte, die davon ausgehen, dass soziale Verhältnisse als Machtverhält­ nisse zu beschreiben sind, stellen dabei keine scholastischen Übungen dar, Studienwerk Jahrbuch sondern Versuche, gerade in krisen­ dietz berlin haften Zeiten ein im weitesten Sinne rosa luxemburg stiftung kritisches Denken zu bewahren. 2 011 Dass viele der Autor_innen aus einer dezidiert kapitalismus­kritischen Perspektive heraus argumentieren, ist daher naheliegend.

Das Herausgeber_innenkollektiv

ISBN 978-3-320-02280-8

9 783320 022808 E 29,90 [D] www.dietzberlin.de 2 011

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