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Sendung vom 08.06.1998

Professor August Everding Theaterintendant im Gespräch mit Stephan Pauly

Pauly: Willkommen, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, ich begrüße Sie bei Alpha-Forum. Zu Gast ist heute August Everding, Staatsintendant, Professor, Theaterleiter, Theaterretter, Theaterbewahrer, begehrter Schauspiel- und Opernregisseur, Ehemann, Autor, Laudator, Moderator, Ordensträger, mehrfacher Präsident und Vater. Was sind Sie am liebsten? Everding: Alles das, was Sie gesagt haben, trifft zu, und ich bin alles zusammen am liebsten. Pauly: Bei Ihrer Geburt soll die Gardine Feuer gefangen haben? Everding: Ja, das war eine Notgeburt, und mein Vater hatte Kerzen angezündet, um zum heiligen Antonius zu beten. Da haben die Gardinen Feuer gefangen: Das war ein dramatisches Vorzeichen für mein Leben. Pauly: Das war ein furioser Auftakt. Was war das erste Theatererlebnis, an das Sie sich erinnern können? Everding: Das war ein Puppentheater, und das habe ich in , in Westfalen, in der Schauburg gesehen. Das hat mich tief beeindruckt. Vor allem die negativen, die bösen Gestalten haben mich beeindruckt. Pauly: Sie haben als Schüler einen „Hamlet“ gesehen, der nicht gut gewesen sein kann – aber er hat Sie verändert. Everding: Ja, nach dem Krieg kam ich zurück, und da mußte man zu Fuß zum nächsten Theater gehen - das war immerhin in Oberhausen -, weil es keine Verkehrsverbindung gab. Ich bin da hingegangen, um „Hamlet“ zu sehen: Das hat mich so tief beeindruckt, daß es wahrscheinlich mein Leben verändert hat. Als ich später Schauspieldirektor war und die Besetzung sah, habe ich gemerkt, daß das gar keine gute Besetzung gewesen war. Daraus habe ich viel gelernt: Es muß nicht immer die erste Qualität sein, die einem selbst Qualität vermittelt. Auch Qualität muß man erst lernen. Das sage ich immer zu den Chefarzt-Frauen, wenn sie in Gelsenkirchen aus einem Konzert kommen und sagen: „Ach Gott, nein, das war ja, ich weiß nicht. Ich hab' ja damals das Konzert mit Karajan gehört“. Ich weiß gar nicht, ob sie damals schon hören konnten, als sie Karajan gehört haben, denn auch Hören muß man lernen. Auch das gehört zur Bildung. Pauly: Lernen kann man eben auch in der Provinz, wie Sie oft betonen und auch selbst erfahren haben. Everding: Das ist so, weil die Provinz der Humus für uns ist. Wer nicht in Augsburg den Tristan gesungen hat, der wird ihn auch nie an der „Metropolitan“ singen, denn man muß sich ja auch einsingen und eine Rolle erst erlernen. Und das Publikum muß es auch lernen, denn irgendwo muß man ja anfangen, und Anfänger können eben noch nicht alles – auch Zuhörer können noch nicht alles. Pauly: Musikalisch haben Sie sehr früh angefangen. Ihr Vater war Organist, und Sie sind daher in einem musikalischen Umfeld aufgewachsen. Wie haben Sie denn damals Ihre Talente geordnet? Sie selbst haben Ghandi zitiert, der gesagt hat: „Laßt die Talente spielen, die Ziele ordnen sich dann von selbst“. Wie war das bei Ihnen, und was haben Sie Ihren Söhnen geraten? Everding: Jetzt werfen Sie schon die Jungen und den Vater durcheinander. Bei mir selbst habe ich nicht viel geordnet, ich habe das wild wuchern lassen. Ich habe sehr viel mit dem Harmonium gespielt und auch geschrieben. Da habe ich noch nicht viel geordnet, ich war ja auch noch nicht erwachsen: Ich bildete mich erst. Bei meinen Söhnen habe ich immer gehofft, daß noch mehr da sein wird. Ich habe das animiert und gesagt: "Schreibt, lest!" Ich habe ihnen Märchen erzählt, deren Ende ich weggelassen habe, damit sie es selbst erfinden, damit ihre Phantasie wächst. Denn Phantasie ist für mich das Größte, das ist für mich viel mehr als Wissen. Schauen Sie, wenn ich Prüfungen mache, dann prüfe ich nicht, ob diese jungen Menschen wissen, wann wer geboren ist – es schadet nicht, wenn sie es wissen. Aber viel wichtiger ist, Phantasie zu haben und etwas entwerfen zu können. Denn das Größte, was die Menschen besitzen, ist die Phantasie. Pauly: Da spricht Ihr pädagogischer Eros. Ihr Vater hatte schon in der Bottroper Zeitung eine Anzeige geschaltet, in der er schrieb, daß er gewissenhaften Unterricht zu zeitgemäßen Preisen erteilt. Da war doch schon Grund gelegt für das, was Sie heute in der Theaterakademie versuchen. Everding: Ja, in der Akademie versuche ich das. Aber zeitgemäße Preise heute? Damals waren das zwei Mark für eine Stunde Klavierunterricht. Heute sind das 20 Mark, oder ich weiß nicht, wie viel. Ja, wir haben es in der Akademie noch schöner: Wir brauchen gar keine Preise festzulegen, weil wir staatlich unterstützt werden. Nur die Akademie bekommt Subventionen. Unser Theater bekommt leider keine Subventionen. Es gibt ja schon drei Staatstheater. Das mit der Akademie ist wichtig, weil ich ja den Vergleich habe. Einer meiner Söhne studiert in Amerika, ich weiß, wie viel Geld das kostet, wenn die Ausbildung nicht vom Staat subventioniert wird. Pauly: Sie unterhalten ein schönes Juwel, das „“, für das Sie fast ein Leben lang gekämpft haben. Wie ist es denn letztlich zu der Wiedereröffnung gekommen? Und nun können Sie ja schon auf ein Jahr Spielzeit zurückblicken: Was können Sie verzeichnen, welche Bilanz können Sie ziehen? Everding: Ich war 20 Jahre lang beim Schauspiel, und die allererste Oper, die ich inszeniert habe, war die "Traviata". Das „Prinzregententheater“ lag brach, lag im Dunkeln, aber es gab dort einen Probenraum für die „Staatsoper“, an der ich diese "Traviata" inszeniert habe. In den Probenpausen bin ich immer durch dieses Theater gestrolcht und habe gesehen, welch ein Juwel dort vergammelt. Da hatte ich schon so etwas im Hinterkopf - aber ich wußte noch nicht, was ich einmal daraus machen werde. Als ich Generalintendant wurde, und man mich gefragt hat, wo ich mein Domizil haben möchte, habe ich gesagt: "Im ‚Prinzregententheater‘!" Es gab eine Bewegung in der Bevölkerung, die immer schon gesagt hat, daß dieses Theater wieder revitalisiert werden müßte. Wir haben dann Geld gesammelt, Kostüme verkauft, gebettelt, den Staat angefleht und alles Mögliche gemacht, bis das erste Geld da war, damit wir 1988 den Zuschauerraum wieder eröffnen konnten. Wir haben dann vor dem eisernen Vorhang und über dem abgedeckten Orchesterraum gespielt, getanzt, gelesen und alles Mögliche gemacht, um das Ziel, wieder ein Theater zu haben, nicht aus den Augen zu verlieren. Denn ein Theater, das keine Bühne hat, ist wie eine Kirche ohne Altar. Darum haben wir dafür gesorgt, daß es wieder eine Bühne gibt und auch einen Orchestergraben, in dem wir 126 Musiker unterbringen können, also eine vollendete Wagnerbesetzung. Am 8. November 1996 haben wir das Theater neu eröffnet. Die Auflage dabei war, kein Staatstheater zu haben, also ohne Subventionen auszukommen. Wir betreiben dieses Theater ohne Subventionen. Die Akademie, die dort auch spielt, bekommt Subventionen, aber das Theater bekommt keine. Und das ist schwer. Aber ich kann mit etwas Stolz nachweisen, daß wir seit dieser Wiedereröffnung 426 Aufführungen ohne öffentliches Geld gemacht haben. Im Akademietheater, das ich für die Akademie dazu gebaut habe, habe ich auch 140 Aufführungen gehabt und im Gartensaal auch 120. Aber ich schäme mich auch nicht, neben vielen Aufführungen auch Gäste einzuladen – oder auch Gäste einzuladen, die dafür bezahlen. Dort können Geburtstagsfeiern gemacht werden, der Metzgerverband Nordbayerns kann dort meinetwegen sein hundertjähriges Jubiläum feiern: Auch das gehört alles ins Theater, denn dieses Theater ist wirklich „omnibus“ – es soll für alle da sein. Pauly: Wenn Sie etwas auszeichnet, dann ist es sicherlich Ihre große Gabe und Fähigkeit, Menschen zu begeistern und in ein Vorhaben einzubinden. Das haben Sie gezeigt, indem Sie das „Prinzregententheater“ wiedereröffnet haben. Woher nehmen Sie die Kraft, so überzeugend und so mitreißend zu sein, daß man sich fast nicht wehren kann? Everding: Dazu muß man die Fähigkeit haben, zu überreden und im Überreden zu überzeugen und im Überzeugen zu verführen. Wenn man "Don Giovanni" inszeniert, dann weiß man, was das ist: Der verführt ja nicht bloß aufgrund seines Mannestums, sondern er überzeugt, überredet und verführt. Wenn man Menschen dazu bringt, daß sie nicht meinen, überredet zu sein, sondern daß sie selbst eigentlich die Idee hatten, die ich hatte: daß sie weggehen und sagen, da muß man doch etwas tun! Ich pflanze ihnen nicht ein, daß sie etwas für mich tun müssen, sondern es ist so, daß sie den Gedanken haben: „Ich will etwas tun“. Wenn es so ist, dann gehen sie auch befriedigt nach Hause und nicht im Gefühl, ausgenommen worden zu sein. Pauly: Das Herzstück des neuen „Prinzregententheater“ ist die Akademie mit der Akademiebühne. Was war Ihre Idee bei dieser Gründung? Da sollten ja verschiedene Sparten zusammengeführt werden. Everding: Vor 30 Jahren, als ich noch an den „Münchner Kammerspielen“ war, wußte ich, daß es in München für Schauspiel und Bühne wirklich wunderbare einzelne Ausbildungsstätten gibt. Aber man lernte einzeln. Da lernte man an der Universität Theaterwissenschaften, man hatte acht Semester studiert und wurde ins Theater geworfen. Das Theater aber wußte nicht, was es mit diesem Studenten machen sollte, und der Student wußte nicht, was er mit dem Theater machen sollte. Da habe ich gemerkt, daß es so etwas geben müßte, was ich in den USA und auch in Rußland kennengelernt hatte: ein zusammengefügtes Modell, bei dem wirklich junge Schauspieler mit jungen Regisseuren, jungen Bühnenbildnern und jungen Kostümbildnern, jungen Lichtdesignern und jungen Dramaturgen zusammen ein Werk erarbeiten und das auch zeigen müssen: Nicht nur theoretisch etwas lernen, sondern „learning by doing“. Darum zwingen, nein, überreden wir sie alle, daß sie auch schon während des Lernens Stücke zeigen: damit sie verrissen, vom Publikum bejubelt oder ausgebuht werden – auch das gehört zu unserem Beruf. Pauly: Es ist also das ganze Theater, das da erlebt werden soll. Everding: Ich habe letztens noch eine Klasse hinzugefügt: Sie ist fast eine der wichtigsten – ich habe nämlich eine Kritikerklasse hinzugefügt. Denn auch die Kritiker sollen etwas lernen. Pauly: Sie lernen jetzt von Ihnen, wie man Kritiken schreibt? Kritiken, mit denen Sie ja ein ganzes Leben lang leben mußten. Everding: Richtig. Es gibt Feinde von mir, und deren gibt es ja nicht wenige, die sagen, jetzt läßt er sich auch noch seine Kritiken schreiben. Nein, so ist es nicht. Statt dessen möchte ich, daß sie gelehrt bekommen, daß man das Stück erst einmal wirklich kennen, erst einmal erlesen muß und daß man als Kritiker nicht wie ein Regisseur auftritt und sagt: "So hättest du das inszenieren müssen!" Statt dessen muß er der Regie folgen und da die Schwächen und Vorteile sehen. Kritik ist nämlich notwendig und wichtig, aber eben nicht immer richtig. Ich habe dabei so ein Grunderlebnis gehabt: Als ich meine erste "Zauberflöte" inszeniert habe, war das wirklich wunderbar - die Gruberova war die “Königin der Nacht“. Der höchste Ton in dieser Rolle ist das hohe „f“. Dann schrieb aber eine Zeitung: „Wunderbar, die Gruberova hat das ‚f‘ hervorragend getroffen“. Die zweite Zeitung schrieb: „Schade, sie hat das ‚f‘ nicht getroffen“. Die dritte sagte: „Sie rangelte sich an das ‚f‘ heran“. Und wieder eine andere schrieb, sie wäre sogar ein bißchen höher gewesen. Pauly: „... und daß es schade ist, daß der Regisseur das Stück gar nicht gelesen hat“. Everding: Ja, ja. Und wenn dann die Kritik so skeptisch wird, dann weiß man, was man davon zu halten hat. Aber es gibt natürlich auch sehr gute Kritiken, von denen ich viel gelernt habe. Pauly: Und Sie haben gesagt, einer Ihrer größten Erfolge überhaupt bestünde darin, gegen die Kritik zu bestehen und trotzdem Erfolg zu haben. Everding: Habe ich das gesagt? Pauly: Das haben Sie gesagt. Everding: Ein guter Satz, ja. Pauly: Was träumen die Menschen, die zu Ihnen an die Akademie kommen? Was suchen sie, was erwarten sie sich von ihrer Ausbildung? Everding: Wie war das früher, wenn einer keinen Lehrmeister fand, der einen an der Hand nahm? Bei mir in den „Kammerspielen“ waren das Hans Schweikart und Fritz Kortner, die mich an die Hand nahmen. Oder wie war das bei Piscator: der nahm einen jungen Begabten an die Hand und führte ihn durch die verschiedenen Institutionen und machte etwas aus ihm. Das gibt es heute wenig, weil auch die Regisseure anders sind: Sie wollen sich selbst darstellen und nicht andere zur Darstellung verleiten. Darum ist es wichtig, daß ich in der Akademie die jungen Menschen durch die einzelnen Stationen in einem Theater hindurchführe, daß sie auch an den Staatstheatern lernen, was ein Handwerker ist und was eigentlich alles zum Theater gehört. Träumen sollen sie: „Ich werde ein ganz großer Regisseur“. Die Wirklichkeit wird sie dann schon rechtzeitig zurechtstutzen. Pauly: Verdi hat gesagt, es sei noch besser, eine neue Wirklichkeit zu erfinden. Das scheint ja zu motivieren. Everding: Ja, das ist Verdi: Es ist gut, eine Wirklichkeit zu haben, aber eine neue erfinden, das ist noch größer. Pauly: Wie erkennen Sie denn eine Begabung? Everding: Indem ich Phantasie zu finden versuche. Wenn ich einen Regisseur prüfe, dann frage ich ihn nicht, wann Verdi geboren wurde oder so etwas Ähnliches. Statt dessen hole ich meistens unter dem Schreibtisch ein ganz modernes Bild hervor, zeige ihm dieses Bild und sage zu ihm: "Guck dir's an! Hast du es gesehen?" Und dann nehme ich das Bild weg und sage zu ihm: "Jetzt stelle dieses Bild, das du gesehen hast, als theatralische Szene dar! Du hast hier Schauspieler sitzen, nimm sie dir und mache das ganze als Szene!" Ich sehe dann, ob er szenisch denken, ob er Bilder übersetzen und ob aus der Bildung vom Bild etwas Wesentliches werden kann. Das versuche ich. Dann lasse ich ihm auch noch eine Musik vorführen. Wenn er hinterher auch noch weiß, daß diese Musik von Grieck ist, schadet das nicht. Aber es hilft ihm auch nicht unbedingt, denn ich stelle ihm ja keine Quizfragen. Aber er muß, wenn er eine Musik hört, diese Musik in eine szenische Wirklichkeit transponieren können. So stelle ich Begabung fest. Bei Schauspielern achte ich darauf, ob sie atmen können, ob sie sprechen können, ob sie die technischen Voraussetzungen haben. Komisch, Sie erinnern mich gerade daran: Ich habe einen Regisseur geprüft, der ursprünglich katholischer Geistlicher werden wollte. Er wollte dann aber umsatteln und Regisseur werden. Ich dachte mir: Wie prüfe ich denn den? Ich habe zu ihm gesagt: „Halten Sie bitte eine Leichenrede auf Ihre Geliebte, die sich soeben umgebracht hat“. Ich meine, das ist eine Kombination für einen katholischen Geistlichen, die ziemlich überraschend ist. Pauly: Was tat er? Everding: Er stellte sich hin und hielt eine Rede auf seine tote Geliebte. Aber es war mir zu glatt, es war mir zu kabarettistisch. Ich habe dann gemimt, daß ich die tote Geliebte sei, und zu ihm hinauf geschrien: "Das stimmt ja gar nicht, was du da sagst!" Und er war fähig umzuschalten und plötzlich die neue Situation zu begreifen. So etwas gefällt mir eben. Pauly: Es geht also um die spontane Fähigkeit, szenisch denken und eine Situation auch aufgreifen zu können. Everding: "Spontan" ist ein gutes Wort, aber Kabarettisten sind auch spontan. Auch sie können sofort etwas entwickeln. Ich meine, wir Schauspieler müssen uns vorbereiten, wir müssen ein Stück nicht nur als Stück kennen. Wir müssen wissen, was in seiner Entstehungszeit politisch und wirtschaftlich los gewesen ist. Wenn wir wissen, aus welcher Zeit heraus das Stück entstanden ist, dann dürfen wir es umsetzen in eine andere Zeit. Wir müssen aber auch die Entstehungszeit kennen, wir müssen wissen, wer wann wo gelebt hat, was er angezogen hat und wer regiert hat. Dieses Second-hand-Wissen ist wichtig, um etwas prima darstellen zu können. Pauly: Das haben Sie in Ihrer Lehrzeit an den „Münchner Kammerspielen“ gelernt. Sie haben Ihre Lehrmeister schon genannt: Fritz Kortner und Hans Schweikart. Was bedeuten Ihnen diese beiden großen Regisseure, und was haben Sie von ihnen gelernt? Everding: Bei Fritz Kortner habe ich gelernt, daß die Arbeit, die Genauigkeit und der Fleiß über alles geht und daß man von einer Sache so besessen sein muß, daß es daneben nichts anderes mehr gibt. Man muß fast bis zur Humorlosigkeit besessen sein. Den Humor habe ich zwar behalten, aber ich habe schon erkannt, daß das wichtig ist. Bei Schweikart habe ich gelernt, was poetischer Realismus sein kann, denn ich bin ein Realist. Poetischer Realismus besteht darin, aus einer trockenen, nüchternen Sprache eine poetische Sprache zu machen. Bei Kortner erinnere ich mich an eine Szene: Ich war Assistent bei ihm und mußte Friedrich Domin, dem großen Münchner Schauspieler, assistieren oder für ihn einspringen und an seiner Stelle agieren, weil er irgendwie verhindert war. Ich weiß das nicht mehr so genau. Aber ich weiß noch genau, daß er als Pastor auf die Bühne kam und sich den Hut abnehmen mußte. Ich mußte das auch so machen, machte es aber nicht genau so, wie es eingeübt war, sondern eben ein bißchen tiefer. Da schrie Kortner: "Everding, hemmen Sie Ihren Spieltrieb!" Er wollte, daß man das ganz genau macht: Das war eben diese Genauigkeit. Heute ist vieles schludrig. Pauly: Wie bereiten Sie sich vor? Sehr exakt, wie man hört? Everding: Ja, ein Jahr, eineinhalb Jahre vorher beginne ich, mich vorzubereiten, indem ich erst einmal das Wort des Dichters und des Komponisten ganz ernst nehme: Nicht mein Wort ist wichtig, sondern das des Dichters. Dann aber lasse ich mich überflügeln – schreckliches Wort – von der Phantasie, die mich überkommt, wenn ich das lese: Was stimmig ist, schreibe ich auf. Dann prüfe ich es Takt für Takt: Wer soll wann, wie, wo, warum stehen und was, warum, wie, wo tun? Wenn ich das festgelegt habe, schreibe ich ein Regiebuch. Dann sage ich den Schauspielern und Sängern: „Bitte, tut erst einmal genau das, was ich möchte. Dann könnt ihr eure Wünsche äußern. Ich ändere auch, wenn ihr andere Wünsche habt, aber erst einmal tut bitte das, was ich mir vorgestellt habe“. Dann kommt ein Gebilde heraus. Pauly: Diese Methode ist bewährt, aber sie gilt zuweilen als unmodern. Everding: Ja, ja, natürlich. Modern ist, sich nicht mehr vorzubereiten, sondern sich der Phantasie zu überlassen und sich von den Schauspielern vorspielen zu lassen, damit man das Werk selbst auch kennenlernt. Verzeihung, aber das war natürlich ironisch gemeint. Pauly: Das braucht alles sehr viel Probenzeit und kostet sehr viel Kraft? Everding: Richtig. Es gibt auch Genies, die im Entwickeln schon etwas machen. Ich will das nicht desavouieren. Aber meistens ist es so, daß sie sich auf Einfälle verlassen. Ich habe aber sehr viele Einfälle erlebt, die Durchfälle wurden. Pauly: Sie sind mit 34 Jahren, also ganz jung, Intendant an den „Münchner Kammerspielen“ geworden. Sie haben es schon gesagt, Schweikart hat Sie angelernt, hat Sie eingewiesen. Everding: Darf ich da unterbrechen? Ich habe wirklich noch gelernt, wie man Intendant wird. Ich mußte Tarifrecht lernen, ich mußte Arbeitsrecht lernen, ich mußte Etatrecht lernen. Wenn man aber heute eine besonders skandalöse Inszenierung macht, dann wird man schon Intendant. Das Bewußtsein, daß ein Intendant ein Haus führen können, die Menschen motivieren und auch Recht sprechen muß und er den Etat nicht überziehen darf, ist oft verlorengegangen. Darum gibt es auch viele Miseren am Theater. Pauly: Schweikart hat gesagt, ein Intendant braucht eine Dichterstirn, aber auch vier derbe Pferdefüße. Everding: Richtig. Die Dichterstirn hat sich eingestellt, aber keine dichtere Stirn. Und von derben Pferdefüße habe ich selbst oft bemerkt, daß ich sie habe. Pauly: Die achtundsechziger Zeit war für Sie prägend. Sie haben zu Beginn der siebziger Jahre die „Kammerspiele“ geleitet, es gab den mittlerweile berühmten und in die Geschichtsschreibung eingegangenen "Vietnamdiskurs" von Peter Weiss, den Peter Stein, Ihr damaliger Assistent, inszeniert hat. Es kam zum Eklat. Everding: Ja, Peter Stein war mein Assistent, Flimm war mein Assistent, Heising und Giesing waren meine Assistenten. Aber die Geschichtsschreibung ist nicht genau. Wenn ich jetzt lese, was über die Zeit geschrieben wird, muß ich lachen. Es ist ein Vergnügen, wie falsch die Geschichte dargestellt wird. Wenn das in die Ewigkeit eingeht, weiß ich, was Geschichte ist: Nämlich eine subjektive Darstellung von subjektiven Menschen. Heute wird immer geschrieben, ich habe Stein entlassen oder ich hätte ihn weggeekelt. Nein. Er hat nach einer Aufführung im Theater für die Waffen des Vietcong Geld gesammelt. Das habe ich ihm als Intendant verboten. Ich lasse nicht für die Waffen des Vietcong und auch nicht für die „Caritas“ im Theater sammeln. Das soll er draußen machen. Er bestand aber darauf, und dann haben wir uns getrennt. Und seitdem sind wir nicht mehr ganz so gute Freunde. Pauly: Stein hat Ihnen damals, auch in der Presse, vorgeworfen: „Das ist eine schizophrene Haltung der Theaterleitung: Einerseits wollt ihr ein Agitprop- Stück, auf der anderen Seite erlaubt ihr die Durchsetzung nicht“. Sie haben geantwortet: Diskussion ist der Kern des Theaters, aber dabei muß es dann auch bleiben. Everding: Ja, wir taufen ja auch nicht nach einem religiösen Stück. Wenn wir Claudel aufgeführt haben, dann machen wir auf der Bühne keine Taufe. Wir kommunizieren auch nicht auf der Bühne: Das überlassen wir der Aktivität des Menschen, der bekehrt herauskommt oder eben nicht bekehrt herauskommt. Ich habe keine Agitprop-Stücke gemacht, ich habe Stücke gemacht, von denen ich überzeugt war, daß sie zu der Zeit richtig und notwendig waren – wie immer ihre Zielrichtung war. Aber Agitprop habe ich nie gemacht. Ich habe mich auch geweigert, politisiertes Theater zu machen: politisches Theater habe ich immer gemacht. Aber politisiertes Theater zu machen, halte ich für falsch. Damals wurde ich als reaktionär und als was weiß ich noch alles beschimpft. Für viele stehe ich ja heute noch in der Ecke. Darum habe ich auch bei uns im „Prinzregententheater“ eine Diskussion mit dem Thema gemacht: "Was darf Theater alles?" Diese Diskussion war vor einiger Zeit bei den "Id(e)en des März". Phantasie darf alles, es gibt keine Grenzen für die Phantasie. Aber das Theater darf noch längst nicht alles. “Es darf mein Herz begeistert nehmen“, aber es darf mich nicht motivieren, Rassist zu werden oder Ausländer umzubringen. Das könnte ja auch vom Theater ausgehen. Wir haben die Nazizeit erlebt, in der zu so etwas aufgefordert wurde. Das darf Theater nicht. Oder ich nenne immer als Beispiel: Wenn mir ein Regisseur einen "Fidelio" inszeniert, und zwar so, daß auf der Seitentreppe Pizarro mit Leonore schläft, dann würde ich das verbieten. Ich würde so ein Stück nicht herauslassen, weil das einfach falsch wäre, das ginge gegen den Geist dieses Stücks. Pauly: Hat Sie diese Zeit damals verletzt? Everding: Nein, aber traumatisch ist sie geblieben. Ich gehe heute noch über die Maximilianstraße und sehe wie damals Hunderte von Leuten stehen, die schreien: “Everding raus! Everding raus!“ Aber ich bin geblieben. Pauly: Sie haben sich damals vom Schauspiel weg und hin zur Oper orientiert. Lagen die Gründe auch in dieser Zeit? Everding: Nein. Ich war 20 Jahre lang beim Schauspiel gewesen, und ich war immer schon sehr musikalisch orientiert. Als mich Herr Hartmann fragte, der damalige Chef der „Staatsoper“, ob ich nicht einmal eine Oper inszenieren möchte, habe ich gesagt: "Wie kommen Sie denn darauf?" „Ja, ich habe doch Ihre Inszenierungen gesehen, und Sie sind doch musikalisch usw. Ich muß unbedingt einen neuen jungen Mann haben“. Ich weiß heute, nachdem ich schon so lange Intendant bin, daß er wahrscheinlich schon acht vorher gefragt hatte und ihm bis dahin alle abgesagt hatten. Ich blieb übrig. Ich habe die "Traviata" gemacht, und es war kein Flop. Dann hat mich Karl Böhm gebeten, mit ihm in Wien den "Tristan" mit der Nilsson zu machen. Das kam dann nach New York, und daraufhin habe ich das Theater etwas ruhen lassen und habe Oper gemacht – obwohl auch das Theater ist. Pauly: Sie haben als Regisseur eine große Opernkarriere gemacht – über 130 Inszenierungen in allen großen Häusern dieser Welt. Die Giehse hat Ihnen Verrat vorgeworfen, als Sie nach Bayreuth gegangen sind. Everding: Bayreuth war verständlicherweise für die Giehse ein solch unerträgliches Nest, daß man dort nicht hingehen konnte – obwohl dort längst schon Wieland Wagner war, der dieses Nest ausgeräumt hatte. Der Schutt aus der Nazizeit war weggebracht worden. Bayreuth hat sie mir übel genommen, obwohl ich mit ihr sehr viel gearbeitet habe und sie sehr verehre. Pauly: Sie haben einen "Tristan" in Wien gemacht, der sicherlich zu Wieland Wagner auch einen gewissen Gegenpol darstellte: Er war dialogorientierter, er war... Everding: ...sinnlich. Er war sinnlich, das war keine leergeräumte Bühne. Ich habe versucht zu zeigen, wohin Liebe führt, wenn man von ihr obsessiert wird: daß das eine Verklärung der Welt ist, daß Liebe ortlos und eine Utopie ist, daß sie „utopos“ ist und sich die Welt auf einmal verdreht. Als sie den Becher der Liebe getrunken haben, verändert sich die Welt. Übrigens habe ich mit Kollo einmal furchtbaren Krach bekommen. Ich habe ihm gesagt: „Wenn du den Trank trinkst, dann gehst du an die Seite und verendest wie ein Tier, und plötzlich spürst du die Liebeskräfte“. Er sagte: „Nein, ich trinke, und auf einmal liebe ich sie sofort“. Ich habe gesagt: „Dann hast du die Musik noch nicht richtig gehört. Hör doch mal zu, wie lange das dauert, ehe das sehrende Gift dich überfällt und bis du die Liebe gewärtigst“. Da haben wir uns eben getrennt. Auch so etwas gibt es am Theater. Pauly: Sie haben diese Theaterutopie "Tristan" auch zur Eröffnung Ihres „Prinzregententheaters“ gewählt. Ist das das Stück Ihres Lebens, zumindest ist es doch ein sehr wichtiges? Everding: Es ist ein wichtiges Stück, weil ich zu Wagner erst bekehrt worden bin. Als junger Mensch mochte ich Wagner überhaupt nicht. "He was abused by the Nazis", wie die Amerikaner sagen, er wurde mißbraucht. Mein Vater hat sich z. B. geweigert, bei einer Hochzeit "Treulich geführt" zu spielen. Er hat immer gemeint, das paßt nicht in die Kirche. Es war so, Liszt und Wagner waren mißbraucht, und ich mochte sie nicht. Dann habe ich gelernt, daß Wagner nicht nur ein großer Komponist, sondern der größte Musikdramatiker war, daß er wirklich fürs Theater geschrieben hat und nicht für den Konzertsaal. Er hat, wenn man ihn genau hören kann, die Regie schon mitkomponiert. Wenn man hören kann, weiß man: Da muß man sich hinsetzen, da muß man sich hinlegen. Ich ärgere mich, wenn das mißachtet wird. Es gab eine berühmte Aufführung, bei der am Schluß Tristan an der Seite liegt wie ein toter Körper, und Isolde in den Himmel fährt: Das ist falsch! In Wirklichkeit werden bei Wagner beide erlöst: durch die Liebe gehen sie beide gen Himmel. Pauly: Was ist die Aussage des Liebestodes? Ist das das Leben nach dem Tod? Everding: Ja, das ist richtig. Es ist so, daß einen die Liebe überlebt und überleben läßt – in einem anderen Leben, das nicht so tückisch ist wie dieses. Pauly: Sie haben eben schon kurz eine Inszenierung angedeutet, das ist die Inszenierung von Heiner Müller in Bayreuth. Am Ende ist Isolde in Gold strahlend vorne an der Bühne! Und bereits Minuten vorher liegt Tristan tot, verdeckt mit einem Pelz, auf der Erde. Professor Everding, warum trauen heute Regisseure der Botschaft dieses Stückes nicht mehr? Everding: Weil sie sich selbst mehr trauen – sie trauen sich aber als Interpretatoren zu viel zu. Sie glauben nicht, erst einmal hören zu müssen. Das klingt jetzt zu pauschal, aber es betrifft auch nur einige, nicht alle. Aber daß sie ihre eigene Meinung höher einschätzen, wogegen der Autor nicht genug gemeint hätte und das Publikum so dumm wäre, daß man es in pädagogischer Absicht belehren müsse, was es zu denken und zu fühlen habe, das halte ich für falsch, das meine ich gerade nicht. Pauly: Man muß also der Botschaft zuerst trauen und glauben, um das inszenieren zu können. Everding: Aber: Ich habe, glaube ich, acht- oder neunmal die "Zauberflöte" inszeniert und den "Tristan" auch sehr oft: Jedesmal, wenn es eine gute Oper ist, ist es eine Herausforderung, "it's a challenge", und fordert von mir eine neue Interpretation. Das heißt nicht, daß ich so genialisch bin und immer etwas Neues finde, sondern es heißt, daß die Oper so groß und gewaltig ist, daß sich mir immer eine neue Forderung stellt: ein neues Gesicht, ein neues Äußeres. Eine Oper ist dann wirklich gut, wenn das geschieht. Wenn man immer das gleiche machen muß, dann ist das nicht so. Daher mache ich eigentlich ungern Rossini: das sind Spielopern, bei denen das immer so motormäßig abläuft. Ich habe jetzt zum ersten Mal Donizetti gemacht. Pauly: Belcanto! Everding: Ja, das fiel mir schwer, weil da so wenig passiert und keine Aktion vorhanden ist. Auf einmal habe ich festgestellt, daß da sehr wohl Aktion vorhanden ist - es ist eine innere, eine seelische Aktion - und daß dort Werte gepriesen werden – Linda di Chamoneux –, die heute keine Werte mehr sind. Da wir aber gerade dabei sind, die Werte wiederzufinden, um mit unserem Bundespräsidenten zu sprechen – auch in der Bildung, er betont ja immer wieder, daß die Bildung der höchste Wert ist –, habe ich versucht, das zu klären: daß es noch Werte gibt, die es zu betonen und zu erhalten gilt. Pauly: Sie haben einmal gesagt, in der Ausbildung der jungen Studenten sei es wichtig, daß die Begabung da ist und der Fleiß, der hinzukommt und diese ausbildet, daß es aber auch wichtig sei, offen zu sein für Werte. Das klingt reichlich unmodern. Wie vermitteln Sie das den Studenten? Everding: Mit Werten meine ich nicht nur Sekundärwerte. Auch die sind wichtig, sicher. Sie wissen, die Sekundärwerte sind der Fleiß, die Pünktlichkeit usw. Es ist ganz gut für unseren Beruf, wenn man das ist. Aber dann kommen die Primärwerte, dann kommt das Bewußtsein darüber, daß es auch Wahrhaftigkeit – man traut sich ja schon gar nicht mehr, das alles zu sagen – und Ehrlichkeit gibt usw. Pauly: Da spielt auch die Frage der Konvention hinein und das Ansinnen, unkonventionell zu sein. Wenn man versucht, die heutige kulturelle Situation zu erfassen, dann sagen manche, daß das Konventionelle eigentlich uninteressant und wertlos ist. Auf der anderen Seite ist es so, daß das Unkonventionelle sehr oft nicht verstanden wird. Hier sind zwei Extreme vorhanden, die sich nur sehr schwer vermitteln lassen. Wo ist Ihre Position? Stehen Sie in der Mitte? Wollen Sie da stehen? Everding: Vorsicht! Wenn Sie das Wort "Konvention" benützen, dann belegen Sie es bereits, dann prämieren Sie es bereits, und zwar negativ. Denn wenn wir "Konvention" sagen, ist es doch so: Ich will kein konventioneller Regisseur sein, ich will keine Asche bewahren, sondern das Feuer entfachen. Aber diese Avantgarde, die sich als Avantgarde ausgibt, weil sie das "Gretchen" nackt darstellt: Davon halte ich nichts. Was heißt denn Avantgarde? Avantgarde heißt, vorzudringen in eine „terra incognita“, in der noch keiner gewesen ist, wo es mühsam und schwer ist, den Ackerboden zu pflügen und zu säen. Dort vielleicht erfolglos zu sein, aber etwas zu begründen, das später vielleicht einmal klassisch wird, das bedeutet für mich Avantgarde: Vor dem Troß und vor der Marketenderin da zu sein – das heißt „avant garde“. Pauly: Dann sind Sie ein Visionär wie Wotan, der zu Fricka in der "Walküre" sagt: „Nur Gewohntes magst du zu verstehen, ich möchte aber das finden, was noch nie sich traf“. Everding: Sie haben mir das vorweggenommen. Ich wollte das gerade zitieren, das ist ein toller Satz von Wotan. Ja, genau das ist es. Pauly: Und Fricka reagiert ungehalten. Everding: Ja, ungehalten. Pauly: Wenn Sie als Theologe denken: Trauert da der Theologe in Ihnen einer verlorenen Zeit nach, daß z. B. Tristan nicht getraut wird, daß Wahrhaftigkeit nichts mehr zählt? Everding: Sie müssen für unsere Zuschauer etwas differenzieren. "Als Theologe": Ich habe Theologie studiert, aber ich bin kein Theologe. Ich habe acht Semester bei Schmaus und bei Guardini studiert. Pauly: Aber das waren doch wirklich Größen, und Sie haben sogar eine Promotion begonnen. Sie waren also schon mit der Materie vertraut. Everding: Ja. Und Philosophie habe ich auch studiert. Aber ich habe Theologie nie studiert, um Geistlicher zu werden, sondern um in der Philosophie etwas weiterzukommen. Aber eines kann ich schon sagen, und das empfehle ich auch allen meinen Studenten: Es ist nicht schlecht, wenn man neben der Theaterwissenschaft noch ein anderes Studium betreibt, ein etwas grundlegenderes Studium. Es ist egal, ob man dann Jurist oder Mediziner ist. Wichtig ist, daß man um die Zusammenhänge des Lebens weiß, bevor man diese Zusammenhänge auf der Bühne darstellen möchte. Pauly: Wenn ich dennoch dem Theologiestudierten weiter auf den Zahn fühlen darf: Die Kirchen sind ja heute in einer ähnlichen Situation. Auch da ergibt sich eine Spannung zwischen dem Althergebrachten, das man bewahren und festhalten möchte, und der Forderung, modern und heutig zu sein. Auch da kommt es zu Problemen: Es ist schwierig, dabei eine Position zu finden. Befinden sich denn heute Theaterleute und Kirchenleute in einer unvermuteten Koalition? Everding: Modern müssen wir immer sein, nur nie modisch. Das wird zu oft verwechselt, denn Moden vergehen schnell. Das eine Jahr ist der lange Rock dran, dann ist wieder der kurze Rock dran usw. Modisch wollen wie also nicht sein, wir dürfen nicht dem Geschmack nachlaufen. Wenn Regisseure einem Geschmack nachlaufen, statt ihn zu bilden, dann verbilden sie. Das ist jetzt auch so der Fall mit der ganzen Geschichte um die Musicals. Ich habe Musicals gerne, ich habe auch viele inszeniert. Wenn aber ein Spielplan nur aus Musicals besteht, nur aus dem, was den Menschen gefällt, dann geht das nicht. Kultur ist nicht dazu da zu gefallen. Kultur regt auch auf, regt an, ist anstoßend und anstößig. Da besteht eine Ähnlichkeit zur Theologie. Gerade was wir jetzt auch im Kampf mit Rom erleben: Ich finde, daß das Beharren auf erkannten Wahrheiten schon eine Tugend ist. Aber die Wahrheiten differenzieren sich natürlich durch die Sprache und die Umwelt, in der man lebt. Aber wenn man die Wahrheit erkannt hat, wenn man erkannt hat, wie man zum Leben steht, dann kann man wegen modischer Einflüsse nicht plötzlich sagen, so ein bißchen Leben nehme ich weg oder so ein bißchen Leben mache ich später oder das Leben fängt ein bißchen später an. Dafür bin ich nicht. Pauly: Sie hatten eine Begegnung mit Kardinal Ratzinger zu seinem Geburtstag. Welche Eindrücke behalten Sie denn von dieser Begegnung im Gedächtnis? Everding: Ich ging mit dem Vorurteil hin, Ratzinger sei ein konservativer Reaktionär. Und dann legte man mir von Rom aus auch noch nahe, die Fragen vorher offenzulegen. Ich sagte nein, sonst komme ich nicht. Die Fragen nenne ich nicht vorher, ich will ja seine Eminenz selbst befragen. Das war dann aber sehr überraschend. Nicht nur, daß er druckreife Antworten gab – das war überwältigend für mich –, das Beeindruckendste war für mich vielmehr seine Antwort auf die Frage: "Eminenz, wie viele Wege gibt es zu Gott?" Ich erwartete die Antwort, "den über die Kirche!", aber statt dessen sagte er, „so viele Wege, wie es Menschen gibt“. Das hat mich tief beeindruckt. Eine weitere Antwort hat mich auch tief beeindruckt. Als ich ihn fragte: „Eminenz, sagen Sie doch, warum wird die Welt eigentlich nicht besser? Seit 2000 Jahren arbeiten sie daran, daß es etwas besser wird“. Da hat er mir sinngemäß geantwortet, daß das deshalb nicht geht, weil es keinen Fortschritt gibt. Es geht nicht von Null auf 2000 – das wäre ein sozialistisches Denken. Statt dessen ist es so, daß mit jedem Menschen die Geschichte neu anfängt und jeder Mensch seine eigene Geschichte macht. Darum fällt das immer wieder zurück, und darum wird immer wieder von neuem begonnen. Ein bißchen sind wir weiter gekommen, aber sehr viel noch nicht, dafür müßten wir noch lange leben. Das war meines Erachtens eine gute Antwort. Pauly: Ihr persönliches Verhältnis zum Christentum ist aufregend. Sie haben gesagt: „Das Christentum fasziniert mich auch deshalb, weil es gegen meine Natur ist“. Everding: Ja, da halte ich es mit Luther: Meine Natur ist verderbt! Denn wenn man der eigenen Natur folgt, ist es doch so, das fängt schon bei den Kindern an: Sie wollen nur Süßigkeiten essen. Das fängt schon an, wenn ich ihnen als Vater Spinat eintrichtere, damit sie auch Eisen zu sich nehmen. Später wollen die Menschen nur Süßigkeiten haben oder nur Kuchen essen, aber kein Schwarzbrot. Meine Natur z. B. ist so, ich darf das so hart sagen: Grindige Menschen, die so herumhängen, mag ich nicht. Ich muß meine Natur überwinden durch das Christentum, um in ihnen Christus zu sehen, denn das ist ja mein Nächster. Das fällt mir schon schwer. Pauly: Und die Kultur kann das eben auch. Everding: Das glaube ich ganz fest. Sie kennen meine Definition von Kultur. Ich splitte das Wort gerne auf und sage, es ist „Kult“: „Kult“ ist zweckfreies, sinnvolles Tun – wie im Kult, wie im Fest. Und es ist "ur": nicht von „urig“, sondern von „urbar machen“ – ich mache etwas urbar. Das habe ich soeben schon erwähnt: diese „terra incognita“ – ich breche karstigen Boden auf! Pauly: Einen Boden aufzubrechen, bedeutet Anstrengung. Wenn es um Zähmung und um Überwindung der Natur geht: Wo bleibt da die Lust beim Theater? Everding: Um an das eben Gesagte anzuknüpfen: Ich muß doch den inneren Schweinehund, den ich habe, den jeder von uns hat, zähmen. Und wir Deutschen wissen doch, was das ist, wenn man dem inneren Schweinehund mehr Gehör gibt und Raum läßt, als die kulturelle Seele erlaubt. Wenn ich den aber gezähmt habe und in ein Gleichgewicht komme, habe ich viel mehr Lust. Schauen Sie, ein Credo von mir ist: Mehr Wissen macht mehr Lust. Je mehr ich über Zusammenhänge und Hintergründe weiß, desto mehr Lust habe ich darauf. Früher hat man gesagt, zeig‘ den Kindern nicht, wie das hinter den Kulissen zusammenhängt. Aber das stimmt gar nicht. Je mehr ich den Kindern zeige, wo der Kasperl auftritt, aus welcher Kulisse er kommt, wo er geschlagen wird, desto mehr Freude haben sie, wenn sie das hinterher sehen, weil sie wissen, wie es passiert. Die Zusammenhänge zu kennen, ist daher schon sehr wichtig. Ich werde nie einen Computer begreifen, aber wenn ich einmal sehen könnte, was da wie in einem Menschenhirn passiert, dann wäre meine Lust unbeschreiblich. Pauly: Sie haben ja auch für Kinder ein Stück gemacht, "Peter Pan", mit einer großen, offenen und einsehbaren Bühne. Auch da konnte man sehen, wie etwas funktioniert. Was hat Sie denn an diesem Stück fasziniert, und wie ist das bei den Kindern angekommen? Everding: Ich hatte das vorher noch nie erlebt: Bei der Premiere haben die Kinder am Schluß so mitgesungen und mitgeschrien, daß ich den Schluß wiederholen mußte. Ich glaube, es hat Phantasie freigesetzt. Es war kein moralisches Stück, es war kein pädagogisches Stück, es hat aber Phantasie freigesetzt. Die Kinder kannten alle Peter Pan irgendwo her. Aber daß man fliegen kann, daß man über diese Welt wegfliegen kann in eine Welt von nirgendwo, wo man mit allen Jungs zusammen ist, das war schön für sie. Sie haben aufgelebt dabei, und ich möchte das Stück auch wieder aufnehmen. Pauly: Verführung zur Phantasie war das also. Sie haben natürlich nicht nur dieses Kinderstück gemacht, sondern auch große, schwierige Werke wie z. B. den "Ring des Nibelungen" von . Sie haben ihn in zwei Städten inszeniert, die man sich gegensätzlicher nicht vorstellen kann: in Warschau und in Chicago. Wie haben Sie dabei jeweils die Menschen zum „Ring“ verführt? Everding: Den "Ring" 1988/89 in Warschau zu machen, wo man noch nie einen "Ring" in deutscher Sprache gehört hatte, war ein Wagnis. Denn man wollte Deutsch nicht hören – aus guten Gründen. Dort habe ich eines gemacht: Ich habe versucht, die Geschichte zu erzählen, die wirkliche Geschichte, um die Menschen über die Geschichte Anteil nehmen zu lassen. Das hat sie interessiert. Es hat sie interessiert, wie die Götter miteinander kämpfen und was es mit den Riesen auf sich hat usw. Ich mußte es über die Geschichte spannend machen, nicht über meine Einfälle. In Chicago war es so, daß man den "Ring" schon gut kannte. Dort habe ich versucht, die Zuschauer durch eine strenge Form klar in die Funktion dieser Stücke einzuführen: Was war die Voraussetzung, wie begegnete man sich? Es war kein überladenes Bühnenbild, es war ein sehr strenges, fast japanisches Bühnenbild – auch die Kostüme waren so gemacht. So erzählt man jedes Stück für jede Stadt anders. Es ist nicht so, daß man sich nach dem Geschmack der Stadt richtet, aber man muß das jeweilige Publikum berücksichtigen. Man muß das Publikum auch gern haben und darf es nicht verachten. Pauly: Manchmal gibt es Regien, von denen der Zuschauer sagt: „Da war mir zu viel ‘Kopf’ auf der Bühne, ich komme in die Oper, und ich will Musik sehen, ich möchte dem folgen können, ich möchte das genießen können“. Wäre Ihnen das zu kulinarisch, oder können Sie das verstehen? Everding: Nein, der Mensch besteht, das gilt für uns alle, auch ganz besonders für mich, aus dem Kopf und dem Herzen. Er hat auch einen Bauch und Geschlechtsteile, er hat zwei Füße, mit denen er auf dem Boden der Wirklichkeit stehen muß. Dieses alles zusammen habe ich zu inszenieren und zu vermitteln: nicht nur den Kopf, nicht nur das Herz, weil es sonst ein sentimentaler Mist wird, und auch nicht nur den Bauch und auch nicht nur die Spermastücke, Entschuldigung, und auch nicht nur die Realität, auf der wir stehen. Ich muß den ganzen Menschen ansprechen und ihn widerspiegeln. Das versuche ich zumindest, es gelingt ja auch nicht immer. Pauly: Sie hatten für die Geschichte, für die Handlung des „Rings“ 14 Stunden Zeit - so lange dauert das. Auf der Expo 2000 haben Sie 20 Minuten für Deutschland. Wie machen Sie das? Everding: Den „Ring“ mit der Expo zu vergleichen, ist schon ein Wagnis von Ihnen. Im deutschen Pavillon wird eine Rotunde gebaut, und ich habe von Anfang an ganz klar gesagt, daß wir keine deutsche Geschichte von Karl dem Großen bis heute aufführen, ich will vielmehr diese elf Jahre von 1989 bis zum Jahr 2000 zeigen, denn das ist das Gran unserer Geschichte. Das wird in einem Film gezeigt, den zwei Amerikaner vorbereiten. Menschen kommen in eine große Rotunde herein und erleben deutsche Wirklichkeit – hoffentlich. Sie stehen auf einem großen Brett, das sich bewegt und mitfährt. Das ganze ist ein Adlerflug über die deutsche Wirklichkeit. Noch ist es nicht gemacht, aber wir planen es. Pauly: Im Jahr 2000 wird es so weit sein. Sie haben viele Dinge, die Sie hier in München machen, Sie haben Projekte wie die Expo, die Sie künstlerisch verantworten. Wie gelingt es Ihnen bei einer Inszenierung im Kopf zu trennen zwischen der Arbeit, dem Alltag und der künstlerischen Auseinandersetzung, die passieren muß? Everding: Das ist schwer, weil man sich ja für jedes Gebiet speziell vorbereiten muß. Man kann nicht zu lange schlafen, man darf auch nicht faul sein, man muß das trennen können. Sie kennen ja meinen alten Thoma-Spruch: Kunst kommt von „Können“, denn käme es von „Wollen“, hieße es Wullst – und das ist mir zu wenig. Aber viel mehr Arbeit macht mir z. B. der Präsident des „Deutschen Bühnenvereins“. Sie haben es ja schon erwähnt: 220 Theater zu obsorgen, mit den Schwierigkeiten, die Theater heute haben – immer weniger Geld, immer weniger Sponsoren. Die Sponsoren sollten ja auch durch die Steuer belastet werden, ich konnte das Gott sei Dank dem Bundesfinanzminister ein wenig ausreden. Pauly: Auch im Bereich des Sponsoring, auf das man häufiger ausweichen muß, ist es so? Everding: Ja, man ist darauf angewiesen. Das ist eine schwere Arbeit. Auch die Arbeit mit den Gewerkschaften ist schwer: Ich habe mit sieben Gewerkschaften Verträge abzuschließen. Das erfordert mehr Knochenarbeit als oft die Arbeit für eine Regie, denn die Regie macht auch Lust und Freude – das ist fast Erholung. Pauly: Sie haben regelmäßig an der „Met“ in New York inszeniert. 1984 kam das Angebot, dorthin als General-Manager zu gehen. Warum haben Sie dieses einmalige Angebot nicht angenommen? Everding: Weil in Deutschland das Geld, das ich in den USA bei reichen Damen „er- dinieren“, „er-essen“ müßte, vom Staat gegeben wird. Und mein ganzes Berufsleben lang nur dafür zu sorgen, daß ich meine Gelder bekomme, und nur fünf, sechs Monate im Jahr nur vier verschiedene Opern spielen zu können – hier spiele ich elf Monate lang 46 Opern –, das wäre nichts für mich. Ich beschimpfe oft und gerne Politiker, aber hier in Deutschland ist es Gott sei Dank einfach ein Fakt, daß die Theater öffentlich subventioniert werden: mit vier Milliarden Mark aus der öffentlichen Hand. Das ist eine Tat, die nicht genug zu loben ist. Pauly: Sie haben sich Ihre Freiheit bewahrt, Sie sind in München geblieben. Sie waren Generalintendant und dann Staatsintendant mit dem Sitz nun hier im „Prinzregententheater“. Was bedeutet München für Sie, was bedeutet Bayern für Sie, wie erholen Sie sich? Everding: Ich war dazwischen auch einmal Intendant in , ich habe die „Staatsoper“ in Hamburg in der Ära nach Liebermann geführt. Dann kam der Ruf nach München. Bei diesem Ruf nach München waren auch Glockenklänge mit dabei. Es waren nicht nur Kuhglockenklänge, sondern auch Klänge von Kirchen, vom Chiemsee, vom blauen Himmel. So aufs Äußerliche bedacht bin ich eben auch, das hat mich schon gelockt – auch das schöne, wunderbare Opernhaus. Ich bin Westfale: Westfalen sind dickhäutig - die Bayern auch -, aber sie sind dünnhäutig, wenn es darum geht, etwas zu zeigen, zu verlangen, Kultur zu machen. Das hat mich an Bayern gereizt. Ich bin jetzt seit 1951 hier, und ich bin gerne hier. Pauly: Sie haben eine Familie, vier Söhne. Was bedeutet der Rückzug in die Familie für Sie? Sind Sie gerne mit Menschen zusammen? Wie erholen Sie sich? Sind Sie nachts lieber einsam, um abzuschalten? Was bedeutet Ihnen der familiäre Umkreis? Everding: Das ist kein Rückzug. Das ist ein Zug, der viel zu selten stattfindet, wie meine Frau meint. Ich habe dafür einen Spruch: Wenn ich da bin, bin ich mehr da als andere, die immer da sind – weil ich dann sehr intensiven Kontakt zu meinen Kindern habe. Aber ich bin wenig da, das ist richtig. Vielleicht ist das ein Nachteil, den ich später bedaure, aber bis jetzt sind meine Söhne ganz gut geraten. Pauly: Einer ist in Ihre Fußstapfen getreten und ist Regisseur geworden. Was machen die anderen? Everding: Der zweite ist Rechtsanwalt in Brandenburg, er ist Regierungsrat und bei der Polizei – man höre und staune –, aber er will eben einmal Politiker werden. Der dritte ist Designer: Er hat in Pasadena Design studiert. Der vierte studiert gerade in San Francisco, weil er Filmproduzent werden will. Pauly: Er hat in San Francisco sicherlich auch Inszenierungen von Ihnen gesehen. Everding: Ja, in San Francisco habe ich meinen ersten "Don Giovanni" gemacht und später dann auch "Traviata". Pauly: Waren Sie für Ihren ältesten Sohn auch geheimer Ratgeber, als er angefangen hat zu inszenieren? Everding: Ja, und darunter leidet er heute noch, denn mit dem Namen ist es schwer in unserem Beruf. Manche lehnen ihn wegen des Namens ab, manche nehmen ihn wegen des Namens an, und das ist beides für einen jungen Mann sehr schwer. Ich habe gesagt, er sollte einen anderen Namen annehmen, dann wäre es leichter. Pauly: Das hat er aber aus guten Gründen nicht getan. Sie haben einmal als Ihre Vorbilder genannt: Thomas von Aquin, Guardini und Kortner. Das klingt wie der Wunsch nach dem gesamten Menschen: mittelalterliches Weltbild und Präzision, Sinnlichkeit bei Kortner und bei Guardini ein Zusammenführen von Kultur und Glauben. Everding: Ja. Man kann es nicht besser ausdrücken, als Sie es gerade gesagt haben: So meine ich das. Pauly: Barock sind Sie genannt worden: nicht nur „barocker Theaterfürst“, sondern auch „barocker Mensch“. Was heißt denn barockes Leben 1998? Everding: Das heißt das, was ich vorhin über den Menschen gesagt habe: Ein „barocker Mensch“ ist man nicht nur, wenn man füllig ist – ich war einmal sehr füllig –, nein, es ist dieses bewußte sinnliche Leben, das den Geist nicht ausschließt. Etwas, das geistig ist und gleichzeitig die Sinne nicht ausschließt, das heißt für mich "Barock". "Gotisch" ist streng, da ist alles nach oben gerichtet. Das Protestantische klebt dagegen nur humorlos am Boden. Barock aber ist eine Fülle des Lebens, die weiß und intensiv daran denkt, was danach kommt – die Barock-Poetik ist sehr todesbestimmt. Im Barock denken die Menschen an den Tod und leben auch mit dem Tod. Auch das gehört eben zum barocken Leben: mit dem Tod leben, aber das Leben leben. Pauly: Wenn Sie auf die berühmte Insel gehen müßten – wovor wir Sie alle bewahren wollen –, würden Sie einen zerbrochenen Spiegel, die Werke von Thomas Mann, Streichquartette und einen Rosenkranz mitnehmen, wie Sie einmal gesagt haben. Warum keine Oper, kein Libretto, kein Theaterstück? Everding: Die habe ich ja im Kopf, diese ganzen Bücher brauche ich nicht mitzuschleppen: Die habe ich im Kopf, und dort kann ich nachsehen. Ich wußte gar nicht mehr, daß ich auch den zerbrochenen Spiegel angegeben habe, aber das ist gut: Damit man nicht eitel wird oder bleibt, soll man im zerbrochenen Spiegel immer sein Zerrbild sehen können. Der Rosenkranz ist mir nun auch neu, aber das ist die Tätigkeit – das ist kein Murmeln – einer Besinnung: Man ist immer gebunden an ein Gesetz. Pauly: Wenn Sie auf Ihr reiches Leben zurückblicken: Wie möchten Sie das an die Nachwelt weitergeben – daran soll man nie zu früh denken oder doch? Schreiben Sie Memoiren? Führen Sie ein Tagebuch, das dann eines Tages veröffentlicht werden wird? Everding: Ich schreibe jeden Abend, bevor ich ins Bett gehe, mein Tagebuch. Ich kann nicht einschlafen, wenn ich das nicht geschrieben habe. Aber wissen Sie, warum das so ist? Das schreibe ich nicht, um es zu veröffentlichen: Das werde ich niemals tun – ich werde auch dafür sorgen, daß das nie geschehen wird. Nein, ich schreibe das, um den Tag „abzuschreiben“, „wegzuschreiben“: Erst wenn die Last – denn auf einen Intendanten kommt ja jeden Tag einiges zu – „weggeschrieben“ ist, kann ich neu anfangen. Ich möchte jeden Morgen neu anfangen. Das ist vielleicht auch das Geheimnis meiner Ehe, die nun schon 35 Jahre dauert, Gott sei Dank: Der nächste Morgen darf den Abend vorher nicht fortführen. Ein Tag muß abgeschlossen sein mit allem Krach und allem anderen. Man muß neu anfangen können, und man darf nichts auf den nächsten Tag übertragen. Pauly: Für die Neuanfänge wünschen wir Ihnen alles Beste, viele Stück zum Inszenieren, viele Theater zum Regieren, zum Instandsetzen, Bewahren und Fördern. Und natürlich viele Anlässe, an denen Sie reden und die Menschen zu dem verführen, für das gewinnen und von dem überzeugen können, für das Sie leben – für das Theater. Danke, August Everding, und Ihnen vielen Dank fürs Zusehen bei Alpha-Forum.

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