Dissertation Universität Trier, Fachbereich III 1
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Dissertation Universität Trier, Fachbereich III 1. Berichterstatter: Prof. Dr. Wolfgang Schieder 2. Berichterstatter: Prof. Dr. Christof Dipper Datum der letzten mündlichen Prüfung: 13. Februar 1997 Marita Knödgen Die frühe politische Nietzsche-Rezeption in Großbritannien, 1895-1914 Eine Studie zur deutsch-britischen Kulturgeschichte INHALTSVERZEICHNIS I. Einleitung 1 1. Nietzsche in Großbritannien 1 2. Stand der Forschung 2 3. Nietzsche und sein Leser 7 4. Methode und Vorgehensweise 15 II. Zwischen Viktorianismus und Moderne 20 1. Die Jahrhundertwende - eine Übergangszeit 20 2. Massengesellschaft, Arbeiterbewegung und große Depression 21 3. Parlamentsreform, Irland und Imperialismus 23 4. Bildungsreform, New Journalism und Decadence 27 5. Die Säkularisation der britischen Gesellschaft 29 6. Die Ankunft von Nietzsches Philosophie in England 30 III. Der Levy-Zirkel: Nietzsche und Sozialdarwinistischer Konservativismus 33 1. The Complete Works of Friedrich Nietzsche 33 2. Oscar Levy: Die Wiedergeburt der Aristokratie 44 3. Thomas Common: Die Organisation der Philosophen 52 4. Anthony Mario Ludovici: Die Verteidigung der Aristokratie 60 5. John Macfarland Kennedy: Eine Ideologie für die Tory-Party 68 6. Maximilian Alexander Mügge: Eugenik und Übermensch 73 7. Zusammenfassung 80 IV. Die Fabian Society: Nietzsche und Kollektivistischer Sozialismus 88 1. Die Fabian Society 88 2. George Bernard Shaw: Life Force und Superman 97 3. Herbert George Wells: Die Elite der Samurai 105 4. Holbrock Jackson: Die Fabier als Künstler-Philosophen 114 5. Zusammenfassung 120 V. The New Age: Nietzsche und Gildensozialismus 127 1. Eine Wochenzeitung für die Avantgarde 127 2. Alfred Richard Orage: Ein Forum für neue Philosophen 139 3. Herbert Read: Eine Philosophie des Anarchismus 151 4. Edwin Muir: Gegen die Moderne 157 5. Zusammenfassung 162 VI. Der Rhymer's Club-Savoy-Zirkel: Mit Nietzsche gegen das Viktorianische England 167 1. Der Club der Dichter und die dekadente Zeitschrift 167 2. William Butler Yeats: Mit Dionysos zu Irlands Unabhängigkeit 172 3. Arthur Symons: Mit Pater, Blake und Nietzsche gegen den Viktorianismus 181 4. Havelock Ellis: Eugenik und höhere Individuen 185 5. Zusammenfassung 191 VII. Zusammenfassung: Nietzsche zwischen Viktorianismus und Moderne 195 VIII. Bibliographie 205 1 I. EINLEITUNG Ein Attentat auf das Christentum wird ein ungeheures Aufsehen in England machen. (Friedrich Nietzsche an Helen Zimmern) 1. Nietzsche und Großbritannien Erst Jahre nach Friedrich Nietzsches geistigem Zusammenbruch erschienen die ersten Übersetzungen von Teilen seiner Werke in englischer Sprache. 1896, als The Case of Wagner als erster Nietzsche-Band in Englisch publiziert wurde, verwaltete schon seine Schwester Elisabeth Förster Nietzsche mit ihrem 1894 gegründeten Nietzsche-Archiv den "Nachlaß" ihres Bruders.1 Ein unmittelbarer Kontakt vom Autor Nietzsche bestand weder mit den Übersetzern, ausgenommen Helen Zimmern, noch mit den Lesern, die seine Bücher in der englischen Übersetzung kennenlernten. Es gab keine Klärung von sprachlichen Mißverständnissen zwischen Autor und Übersetzern, keinen brieflichen Kontakt zwischen Nietzsche und seinen britischen Lesern. Im Vereinigten Königreich wurde Friedrich Nietzsches Werk quasi posthum rezipiert. Die Art, wie seine Bücher in die englischsprachige Welt getragen würde, blieb zum einen den Nachlaßverwaltern im Nietzsche-Archiv und zum anderen denjenigen vorbehalten, die das Werk des deutschen Philosophen in den angelsächsischen Ländern verbreiteten. Nietzsche äußerte sich in seinen Werken wenig schmeichelhaft über die Engländer. Scharf kritisierte er die britischen Denker, seien es Bacon, Hume, Locke, Hobbes oder Carlyle. Für den Utilitarismus John Stuart Mills hatte er nur Verachtung übrig, und diese Geringschätzung galt dem gesamten englischen Volk.2 Trotzdem wollte Nietzsche auch in England gelesen werden. Er hoffte, daß seine Kritik an Deutschland und dem Christentum bei den Briten Anklang finden würde. Wie schwierig es war, seine Bücher zu übersetzen, wußte Nietzsche. In einem Brief an Helen Zimmern am 8. Dezember 1888 fragte er an, ob sie bereit sei, seine Bücher Ecce Homo und Antichrist zu übersetzen: Es ist kein dickes Buch, eine Sache von c(irca) 10 Bogen kleine Seiten. Aber es muß eine ausgezeichnete sorgfältige und delikate Arbeit sein: denn in sprachlichen Dingen giebt es gar (kein) größeres Meisterstück als dieses Ecce Homo. - Ein Attentat auf (das) Chr(istentum) wird in England ein ungeheures Aufsehen machen.3 Noch einmal wendet er sich an Helen Zimmern am 17. Dezember des gleichen Jahres: Sie würden mir einen großen Dienst erweisen, wenn Sie beifolgenden Aufsatz des Herrn Peter Gast unter dem Titel "Nietzsche contra Wagner" für eine der großen Reviews übersetzen wollten. Ich habe jetzt absolut nöthig, in England bekannt zu werden, denn meine nächsten Schriften - sie sind vollkommen druckfertig - sollen zugleich englisch, französisch und deutsch erscheinen. (...) Also habe ich für meine Aufgabe, die zu den allergrößten gehört, welche ein Mensch auf sich nehmen kann - ich will das Christenthum vernichten - Amerika, England und 1 Friedrich Nietzsche, The Case of Wagner, transl. by Thomas Common, London 1896. Noch zu Lebzeiten Nietzsches gründete seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche das Nietzsche-Archiv in Naumburg, das schon vor seinem Tod den "Nachlaß" verwaltete. Siehe dazu David Marc Hoffmann, Zur Geschichte des Nietzschearchivs, Berlin New York 1991, S.1- 21, S. 367-379. 2 KSA Bd. 5, S. 195; Bd. 3, S. 123; Bd. 9, S. 116, An. 392; Bd. 12, S. 362; Bd. 13, S. 60, 70, 583; Bd. 5, S. 195-196: Das ist keine philosophische Rasse - diese Engländer (...) Die englische Plumpheit und Bauern-Ernsthaftigkeit wird durch die christliche Gebärdensprache und durch Beten und Psalmensingen noch am erträglichsten verkleidet, richtiger: ausgelegt und umgedeutet; und für jenes Vieh von Trunkenbolden und Ausschweifenden, welches ehemals unter der Gewalt des Methodismus und neuerdings wieder als "Heilsarmee" moralisch grunzen lernt, mag wirklich ein Bußkrampf die verhältnismäßig höchste Leistung von "Humanität" sein, zu der es gesteigert werden kann: so viel darf man billig zugestehn. Über Nietzsches Einstellung zu Mill: Karl Brose, Nietzsches Verhältnis zu John Stuart Mill. Eine geisteswissenschaftliche Studie, Nietzsche-Jahresberichte 3 (1974), S. 152-174. 3 KG; Abt. III, Bd. 5, Friedrich Nietzsches Briefe, Januar 1887- Januar 1889, S.512. Einen Tag später schreibt Nietzsche and Peter Gast, ebda; S. 514: Auch für meine englische Übersetzung habe ich einen Gedanken: Miß Helen Zimmern, die jetzt in Genf, im nächsten Verkehr mit meinen Freundinnen Fynn und Mansouroff lebt. Sie kennt auch Georg Brandes - sie hat Schopenhauer den Engländern entdeckt: warum nicht erst recht dessen Antipoden? 2 Frankreich nöthig - Preßfreiheit in jedem Sinn...(...) Jetzt eben erscheint von mir etwas extrem Radikales Götzen-Dämmerung, Oder: wie man mit dem Hammer philosophiert. Ich sende es Ihnen zu - unter Umständen führen Sie dies Stück in England ein. Es ist antideutsch und antichristlich par exellence - sollte es damit nicht stark auf Engländer wirken? Meine Argumente sind ganz anderer Art, als je angewandt worden sind, - ich bin gar kein Mensch, ich bin Dynamit. Hoffentlich trifft mein Brief Sie in muthiger und kriegsgewohnter Verfassung? - ...4 Nietzsches "geistiges Attentat" auf das Christentum wollte 1888 in Großbritannien noch nicht gelingen.5 Von seiner "Sprengkraft" hatte das Werk Nietzsches eine Dekade nach seinen Attentatsplänen noch nichts verloren, als 1896 verschiedene Kreise in England begannen, sich für das "intellektuelle Dynamit" des deutschen Philosophen zu interessieren. Das Christentum war jedoch nur eines der Ziele, gegen das seine Verbündeten Nietzsches explosive Ideen einsetzen wollten. Das Schicksal, das dem Werk Friedrich Nietzsches um die Jahrhundertwende und im frühen 20. Jahrhundert in Großbritannien zuteil wurde, ist der Gegenstand dieser Dissertation. 2. Stand der Forschung Das Thema der frühen Nietzsche-Rezeption in Großbritannien hat bisher nur in der Literaturwissenschaft Beachtung gefunden. Gertrud von Petzold veröffentlichte 1929, ein Jahr, nachdem ihre Studie über Nietzsches Einfluß auf den schottischen Dichter John Davidson erschienen war, einen Aufsatz mit dem Titel Nietzsche in englisch-amerikanischer Beurteilung bis zum Ausgang des Weltkrieges.6 Petzold beschreibt die Geschichte der Übersetzungen, die Reaktionen auf Nietzsche in Zeitungen und Zeitschriften und schließlich auch die Auseinandersetzungen der philosophischen Fachkreise mit dem deutschen Philosophen für die Zeit bis 1918. Sie kommt dabei zu dem Schluß, daß Nietzsche in England auch auf dem Gebiet der Literatur wenig Beachtung gefunden habe. Eine ihm angemessene Wirkung habe er in England nicht erzielt. Die einzige Ausnahme sei der schottische Dichter John Davidson gewesen.7 Dieses Urteil widerlegt David S. Thatchers in seiner 1970 erschienenen Untersuchung. In Nietzsche in England 1890-1914. The Growth of a Reputation versucht Thatcher auch die versteckten Spuren Nietzsches in der englischen Literatur bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges aufzudecken. Offen eingestandener Einfluß sei nicht immer der tiefgreifendste, kaum wahrnehmbare Einflüsse dagegen könnten auf einen hohen Grad von Verarbeitung hinweisen, so die These David 4 Ibid., S. 536-537. 5 Erst viele Jahre später, nach der Jahrhundertwende, erschienen die Übersetzungen von Helen Zimmern, als erster Band Jenseits von Gut und Böse (Friedrich Nietzsche, Beyond