Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Schriften ausder MaxWeber Stiftung

Band 1

Herausgegeben vonder MaxWeber Stiftung –Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 MareikeKönig /OliverSchulz (Hg.)

Antisemitismus im 19. Jahrhundert ausinternationaler Perspektive

Nineteenth CenturyAnti-Semitism in InternationalPerspective

Mit 34 Abbildungen

V&Runipress

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Die BÐnde der Reihe „Schriften aus der Max Weber Stiftung“ dokumentieren die Ergebnisse der jÐhrlich stattfindenden Stiftungskonferenzen der Max Weber Stiftung. Im Jahr 2015 fand die Stiftungskonferenz am Deutschen Historischen Institut Paris statt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 2019, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Dieses Werk ist als Open-Access-Publikation im Sinne der Creative-Commons-Lizenz BY International 4.0 („Namensnennung“) unter dem DOI 10.14220/9783737009775 abzurufen. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung:  Ulrich Wyrwa

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2628-1910 ISBN 978-3-7370-0977-5

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Inhalt

Vorwort...... 9

Ulrich Wyrwa Zur Entstehung des Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts. Ursachen und Erscheinungsformen einer wahnhaften Weltanschauung .13

Antisemitismus, Ökonomie und Gesellschaft / Anti-Semitism, Economy,and Society Oliver Schulz Der ,jüdische Kapitalist‘. Anmerkungen zu Ursprung und Entwicklung eines antisemitischen Stereotyps im Frankreich der 1840er-Jahre..... 41

Nicolas Berg Kulturwirtschaftslehrengegen den Antisemitismusder Zeit:Die jüdischen Nationalökonomen Richard Ehrenberg,Hermann Levy und Julius Hirsch ...... 59

Marcel Stoetzler Durkheim’s and Simmel’s reactionstoantisemitism and their reflection in their views on modernsociety...... 83

Rezeption, Transfer und Vergleich / Reception, Transfers, and Comparison ÖzgürTüresay L’influence de l’antisØmitismeeuropØen sur le monde intellectuel ottoman dans les annØes 1880 et 1890 :lecas de La Nation israØlite d’Ebüzziya Tevfik ...... 103

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 6 Inhalt

Richard E. Frankel “NoJews, Dogs, or Consumptives.” Comparing Anti-Jewish Discrimination in Late-Nineteenth-CenturyGermany and the United States ...... 117

Kunstgeschichte, Medienund Populärkultur / Art History,Media, and Popular Culture Timo Hagen Synagogenbauund Ritualmord. Antisemitismus und jüdische Selbstverortung im siebenbürgischen Kronstadtum1900 ...... 127

HildegardFrübis Der ,Fall‘ Liebermann. Entangled histories –Antisemitismus und Antimoderne im Streit um dasGemälde Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1879) ...... 151

TuviaSinger Jews and Sinti in Ludwig Bechstein’s Folktale (Märchen)Collections...169

Nationalitätenkonflikte und antisemitische Gewalt / Nationality-Conflicts and Anti-Semitic Violence MiloslavSzabó Populistischer Antisemitismus.Zur Analyseder antisemitischen SemantikinOstmitteleuropa am Beispiel Ivan Frankos und Anton Sˇtefµneks ...... 185

Silvia Marton De la construction de l’État au racisme :judØophobie et antisØmitisme en Roumanie avantlaGrande Guerre ...... 203

Grzegorz Krzywiec The Lueger effectinfin-de-si›cle Catholic Poland:the ImaginaryJew,the Viennese Christian Socials,and the rise of Catholic anti-Semitism in EasternEurope ...... 227

Christlicher Antisemitismus /Christian Anti-Semitism Thomas Metzger Der Antisemitismus in Deutschland als Referenzrahmen:Transnationale Aspekte des Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus ...245

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Inhalt 7

Daniel VØri The TiszaeszlµrBlood Libel: Image and Propaganda ...... 263

Abwehr von Antisemitismus / Jewish responses and the struggle against antisemitism Damien Guillaume Vers ‘l’agitation antisØmitique ’comme phØnom›ne transnational : hostilitØ antijuive, Øquivoques libØrales et solidaritØ juiveinternationale de l’Affaire Mortara au Congr›sdeBerlin (1858–1878) ...... 293

Heidi Knörzer „In Schriftund Wort […] gegen alle antisemitischen Angriffe auftreten“: Der Kampf gegen den erwachenden Antisemitismus in der Allgemeinen Zeitung des Judentums und den Archives israØlites (1879–1900) ...... 317

Sebastian Voigt Erforderliche Reaktionen. Moritz Lazarus’ Erwiderung aufHeinrich von Treitschkes Unsere Aussichten (1879) und Bernard Lazares Auseinandersetzung mit ÉdouardDrumonts La France Juive (1886)...335

Autorinnen und Autoren ...... 355

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Vorwort

Die wissenschaftlicheBeschäftigung mit der Geschichte des Antisemitismus kann nachwie vor ein hohes Interesse fürsichbeanspruchen, und dies nichtnur vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland 1933 bis 1945 und der in dieser Zeit erfolgten Radikalisierung antisemitischen Denkens und Handelns, die im Zuge des Zweiten Weltkrieges aufweite Teile des europäischen Kontinents ausgeweitet wurde und auflokale Traditionen der Ju- denfeindschafttraf. Auch die Entwicklungender jüngstenJahregeben Anlass zu einer vertieften Beschäftigung mit der Geschichte und den Wurzeln des Juden- hasses. So leben in westeuropäischen Gesellschaften –oftmals in Kapitalis- muskritik oder Kritik an der israelischen Besatzungspolitik gekleidet –antise- mitische Einstellungen weiter.Beispiele fürdie besondereAktualitätdieses Themas sind zahlreiche Skandale, die in den Medien aufein großes Interesse stoßen und gleichsam immer wieder zu einem neuen ,Antisemitismusstreit‘ in der öffentlichen Debatte führen. Stellvertretend seien hier ausdem deutschen und französischen Kontext die Reden vonMartinWalser in der Frankfurter Paulskirche im Jahr 1998 und des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hoh- mann zum Tagder deutschen Einheit am 3. Oktober 2003 sowiedie immer wieder aufflammenden Skandale und Affären um den französischen Humoristen DieudonnØ und seine antizionistisch-antisemitischen Ausfälle genannt. Auch die Intensität, mit der die Kontroverse um eine vomFernsehsender ARTE im Jahr 2017 wegen handwerklicher Mängel zurückgewiesene Fernsehdokumentation überAntisemitismus in Europaund im Nahen Osten hochkochte, verweist auf die besonderen Sensibilitätder Thematik. Im östlichenEuropawiederum konnten nach dem Ende der kommunisti- schen Regime neben einem zum Teil sehr ausgeprägten Nationalismus auch traditionelle Formen der Judenfeindschaftauf zum Teil religiöser Grundlage neu aufleben. Beunruhigend an dieser Entwicklung ist, dass dortantisemitische Diskurse nichtauf Teile der Bevölkerung und bestimmte nationalistischeMilieus in der Opposition beschränkt sind, sondern auch aufdie Regierungspolitik unmittelbar einwirken können, wieBeispiele ausUngarnbelegen. In muslimi-

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 10 Vorwort schen Ländernund Gesellschaften schließlich werden antisemitische Inhalte unter Rückgriff aufeuropäische Traditionen (Protokolle der Weisen vonZion u.a.) und häufig vor der Folie des Nahostkonflikts verbreitet und erleben einen steigenden Zulauf. Infolge vonMigration kann diese Variante des Antisemitis- musinwestliche Gesellschaften zurückgetragen werden und lokale antisemiti- sche Strömungen verschärfen. Die Ausschreitungen während einiger,Pro-Gaza‘- Demonstrationen im Jahr 2014 und das Zusammenspielvon antisemitischen und zum Teil islamistischen Demonstranten einerseits und Teilen des linken politischen Milieus andererseits verdeutlichen dies ebenso eindrücklich wie Gewaltverbrechen gegen Juden in Frankreich in den letzten Jahren. Diese waren antisemitisch motiviertund griffen auch auf überkommenejudenfeindliche Stereotype wieder vermeintliche Reichtum der Juden als Motivfüreinen Raubüberfall aufein jüdisches Paar in CrØteil im Dezember 2014 zurück. Der Terrorangriff aufeinen jüdischen Supermarkt einen Tagnach den Anschlägen aufdie Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 oder der islamistische Anschlag aufeine jüdische Schule in Toulouse im Jahr 2012 sowie der gewaltsame Todder 85-jährigen Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll in ihrer Pariser Wohnung im März 2018 sind hier sicherlich die markantesten und medial am stärksten präsenten Beispiele. Diese Entwicklungen der letzten Jahre verweisen neben der ungebrochen bestehenden Existenz des Antisemitismus auch darauf, wiedieser immer wieder sein Gesichtverändernkann und mit abgewandelten Inhalten neu gefüllt wird. Eine vertiefte wissenschaftliche Auseinandersetzungmit ihm ist daher dringend notwendig.Das 19. Jahrhundert, in dem der ,moderne‘ Antisemitismus her- ausgebildet und die Grundlage fürdie Rassenideologie der Nationalsozialisten und die Shoah gelegt wurde, kann hier ein besonderes Interesse beanspruchen. Dies gilt ebenfalls fürdie internationaleDimensiondes Antisemitismus und Phänomenedes Transfers und der Verflechtung,zudenen ein erheblicher For- schungsbedarfbesteht. Ausdiesem Grunde organisierten die Institute der MaxWeber Stiftung –die Deutschen Historischen Institute London, Paris, Moskau, Rom, Warschau, Washington, das Deutsche Forum fürKunstgeschichte Parisund das Orient Institut Istanbul –gemeinsam mit dem Zentrum fürAntisemitismusforschung an der TU Berlin eine erste gemeinsame stiftungsweite internationale Konferenz. Diese fand unter dem Titel Antisemitismus im 19. Jahrhundertaus internatio- naler Perspektive vom 21. bis 23. Oktober2015 am DeutschenHistorischen In- stitut Parisstatt. Ausgewählte Beiträge waren im Anschluss an die Tagung auf dem gleichnamigen Tagungsblog1 veröffentlichtund der interessierten Fachöf-

1Antisemitismusim19. Jahrhundertaus internationaler Perspektive. URL: .

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Vorwort 11 fentlichkeit in einem Open-Peer-Review-Verfahren zur Diskussion gestellt worden. Die vonden Autorinnen und Autoren aufder Grundlage der Kom- mentare überarbeiteten Beiträge werden nunhier gedruckt und zeitgleich im Open Access aufperspectivia.net veröffentlicht. Wirdanken unseren Autorinnen und Autoren genauso wieVandenhoeck & Ruprechtfürdie Bereitschaft, sich an diesem Publikationsexperimentzubeteiligen, dem Verlag und dem Team von perspectivia.net fürdie umsichtige Vorbereitung der Online-und Druckpubli- kation sowiedem Team vonde.hypotheses fürdie Betreuung des Open-Peer- Reviews.

Paris, April2018 MareikeKönig und Oliver Schulz

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Ulrich Wyrwa

Zur Entstehung des Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts.Ursachen und Erscheinungsformen einer wahnhaften Weltanschauung*

„Es hilftnur emphatische Aufklärung.“ Theodor W. Adorno1

Neuer Antisemitismus?Antizionismus?Antijudaismus? Zur Begriffsverwirrung im 21. Jahrhundert

Am Anfang des 21. Jahrhunderts standen spektakuläre Gewaltakte, ausgeführt vonislamistischen Terroristen und legitimiertdurch ihre Religionsvorstellung. Ziel der Angriffe war zunächst die westliche Kultur und Lebensweise.2 Zugleich richtete sich der Furor aber gegen die islamische Welt selbst, gegen vermeintliche Abweichler,RenegatenoderApostaten. Angetrieben wurde er zudem voneinem Hass aufJuden und den Staat Israel. Antisemitismus war eine seiner Triebfe- dern.3 So begann das neue JahrhundertfürAmerika und Europamit der Er- fahrung vonfanatischer, religiöslegitimierter Gewalt, eine Erfahrung,die die Juden in Israel schon seit vielen Jahren machen müssen. Der Antisemitismus, wenn auch schwerlich ausEuropaverschwunden, zumal rechtsradikale Akteure immer wieder mit antisemitischen Gewalttaten hervorgetreten sind, trat nun auch als islamistischer AntisemitismusinEuropaauf.4 Das neue Zeitalter der

*Fürkritische Lektüre des Manuskripts und produktiveHinweise dankeich Werner Bergmann und Thomas Gräfe. 1Theodor W. Adorno,Zur Bekämpfungdes Antisemitismus heute (1962),in: Derselbe, Kritik. KleineSchriften zur Gesellschaft, Frankfurta.M.1971, S. 114. 2Zur zeitdiagnostischen Reflexionsiehe Giovanna Borradori, PhilosophyinaTime of Terror. Dialogues with JürgenHabermas and Jacques Derrida,Chicago/London 2003. 3Zur aktuellenEntwicklung des Antisemitismus in Europasiehe Werner Bergmann, Antise- mitismus im heutigen Europa. Die Erscheinungsformen, die Konflikte, in:Jahrbuch fürAn- tisemitismusforschung 23 (2014), S. 13–21;AntonyLerman, AntisemitismusinEuropa, in: DoronRabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hg.), Neuer Antisemitismus?Eine globale Debatte, Frankfurta.M.2005, S. 101–118. 4Zum Islamischen Antisemitismus:Emmanuel Sivan, Islamischer Fundamentalismus und Antisemitismus, in:HerbertA.Strauss/Werner Bergmann/Christhard Hoffmann(Hg.), Der

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 14 Ulrich Wyrwa

Gewalt und der terroristischen Bedrohung schürt Angst und EntsetzeninTeilen der Bevölkerung.Zudem verstärkt die öffentlicheAufmerksamkeit, die der Terror findet, die Ungewissheit, sie wirkt zusätzlich demoralisierend.5 Die Er- schütterung gehteinher mit moralischer Verunsicherung und politischen Selbstzweifeln.6 Angesichts dieser gesellschaftlichen Stimmungslage, dieser Verdüsterung des Horizonts, dieser Eintrübung des politischen Klimas ist nichts wesentlicher als Aufklärung,Aufklärung als Kritik an Ausschließlichkeitsansprüchen und fana- tischen Unfehlbarkeitsgebaren, als Zurückweisung vonmoralischem Wahn und Gewissenszwang,als „Kritik der paranoischen Vernunft“7.Mit den Fragen „Was geschiehtheute?Was passiertjetzt?“ zielt die Aufklärung aufAktualität.8Allein die Kritik der Gegenwartbieteteinen Ausgang ausder aktuellen politischen und sozialmoralischen Verwirrung. Die Kritik der Gegenwartwiederum kann nuraus der Kritik der Vergan- genheit hervorgehen. In diesem Sinn notierte MarcBloch unter den sein Leben bedrohenden Verhältnissen während der deutschen Besatzung Frankreichs in seinen Reflexionen überdie Geschichtswissenschaft, dass das „Unverständnis der Gegenwartgegenüber[…] zwangsläufig ausder Unkenntnis der Vergan- genheit“ entsteht.9 Die Geschichtswissenschaften habeneinen öffentlichen Auftrag.Ihre Bestimmungbestehtnichtzuletzt in der Aufklärung aktueller ge- sellschaftlicher Missstände und ideologischer Verblendung. Dieser Auftrag ist umso dringlicher beieinem Thema, das fürdie Juden Europas zu einer „tödli- chen Gefahr“ geworden ist, um Hannah Arendts Definition vonAntisemitismus zu zitieren.10 In kaum einem europäischen Land aber sind die islamistisch-terroristischen Gewalttaten und antisemitischen Anschläge mit einer solchen Heftigkeit in Er- scheinung getreten wieinFrankreich.11 Nirgendwo sonst in Europa habensie

Antisemitismusder Gegenwart, Frankfurt a. M./New Yo rk 1990, S. 84–98;Wolfgang Benz, Entwicklungen der Judenfeindschaft. Antijudaismus-Antisemitismus-Antizionismus, in: Derselbe(Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Ge- genwart, Bd. 8, Berlin/Boston 2015, S. 1–40, hier v. a. S. 19–28. 5EricHobsbawm, Öffentliche Ordnung in einem Zeitalter der Gewalt, in:Derselbe, Globali- sierung,Demokratieund Terrorismus,München 2009, S. 138–151, hier S. 149. 6Zur Kritik des westlichen Defätismus im Angesichtdes Terrors:Carlo Strenger,Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitungzur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin 2015. 7Manfred Schneider,Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft,Berlin 2010. 8Den Aspekt der Aktualitätbetont Michael Foucault in:Derselbe, Wasist Aufklärung?Was ist Revolution?, in:tageszeitung,02.07.1984. 9MarcBloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, München 1985,S.38. 10 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus,Imperialis- mus, totale Herrschaft, München/Zürich 1986 [zuerst 1951],S.38. 11 Michel Wieviorka, Der Antisemitismusheute, in:Mittelweg 36. Zeitschriftdes Hamburger Instituts fürSozialforschung 13/2 (2004), S. 30–32.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Zur Entstehung des Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts 15 einen solch tödlichen Ausgang genommen wieimJanuar 2015 in Paris. Die Spur der antisemitischen Gewalt, die sich durch Frankreich gezogen hat,begann aber nichterst mit dem Jahr 2015. Sie setzte bereits unmittelbar nach der Jahrhun- dertwende im Zusammenhang mit der Zweiten Intifada ein,12 und setzte sich in Sarcelles, CrØteil oder Toulouse fort, so dass allein in der ersten Hälfte des Jahres 2014 in Frankreich nach offiziellen Statistiken weit über500 antisemitische Vorfälle stattfanden.13 Der Schock überdie Ausbrüche vonGewaltgegenJuden saß so tief, dass es schwierig war,die treffenden Begriffe zu finden. So ist in Berichten und Kom- mentaren vomJanuar 2015 geradezu eine gewisse Begriffsverwirrung zu beob- achten.14 NebenAntisemitismus wird immer wieder synonym der Begriff An- tizionismus verwendet, dann wieder wird vonAntijudaismus oder Judaeophobie gesprochen.15 Zugleich wird der Vorwurfdes Antisemitismus in so inflationärer Weise erhoben, dass zu fragen ist, ob der Begriff nichtgar einen dramatischen Bedeutungsverlust erfahren hat. Da dasWortzudem als politische Waffe im Kampf um die öffentlicheMeinung instrumentalisiertwird,16 ist gefragtworden, ob der Begriff Antisemitismus weiterhin als eine hilfreiche analytische Kategorie zu gebrauchen sei.17 Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranickihatte das Wort Antisemitismus daher als eine „gefährlicheVokabel“ bezeichnet.18 Die Begriffsverwirrung beziehtsich indes nichtauf die Wahl des treffenden Substantivs, sondernauch aufdie Adjektive, die dem Wort Antisemitismus beigeordnet werden. Die am stärksten diskutierte Bestimmung ist die voneinem

12 Pierre-AndrØ Taguieff, La nouvelle judØophobie, Paris2002;Werner Bergmann, Verglei- chende Meinungsforschung zum Antisemitismus in Europaund die Frage nach einem „neuen europäischen Antisemitismus“, in:Lars Rensmann/Julius H. Schoeps (Hg.), Feind- bild Judentum. Antisemitismus in Europa, Berlin 2008, S. 473–507. 13 RobertWistrich, Summer in Paris, in:Mosaic Magazine,Oktober 2014. URL: (zuletzt aufgerufen am 23.05.2018). 14 Diana Pinto, Anti-Semitism between Reality and Obsession.Vortrag aufder Konferenz „ComparativeEuropean Perspectives on aChanging Diaspora“ im Jüdischen Museum Berlin, Dezember 2014. 15 Johannes Heil, „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“. Begriffe als Bedeutungsträger,in: Jahrbuch fürAntisemitismusforschung 6(1997), S. 92–114. 16 Moshe Zuckermann, „Antisemit!“. Ein Vorwurfals Herrschaftsinstrument,Wien 2010. 17 DavidEngel, Away from aDefinition of Antisemitism. An Essayinthe Semantics of Historical Description, in:JeremyCohen/Moshe Rosman (Hg.), Rethinking European Jewish History (The LittmanLibraryofJewish Civilization), Oxford/Portland 2009, S. 30–53;s.a.das Panel Antisemitism:AUseful Category of Analysis? im Rahmendes World Congress of Jewish Studies, Jerusalem 2013. 18 Marcel Reich-Ranicki, in:Das Beste was wirsein können, in:Frank Schirrmacher (Hg.), Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation,Frankfurta.M.1999, S. 323, Zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Dezember 1998.Diese Formulierung hat Georg Christoph Berger Waldenegg aufgegriffen:Derselbe, Antisemitismus:„eine gefährliche Vokabel?“Diagnose eines Wortes, Wien/Köln/Weimar 2003.

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„neuen“ Antisemitismus,19 aber damit nichtgenug. Da die Täter der spektaku- lärsten und gewalttätigsten Aktionen Muslime waren, wird voneinem musli- mischen Antisemitismus gesprochen.20 Andere Beobachter sprechen daher gar voneinem importierten Antisemitismus.21 Wieder anderen Kommentatoren zu Folge tritt im 21. Jahrhundertein globalisierter Antisemitismus in Erschei- nung.22 Der Verunsicherung überdie aktuellen Formen vonAntisemitismusent- sprichtsomit die Begriffsverwirrung,und im Mittelpunkt der semantischen Unklarheit stehtdie Wendung vomsogenannten neuen Antisemitismus.23 Die Frage, was das Neue am Antisemitismusdes 21. Jahrhunderts ist oder ob überhaupt voneinem neuen Antisemitismus die Rede sein kann,24 kann jedoch nurdurch die Bestimmung des ,alten‘ Antisemitismus, fürden sich der Terminus ,moderner‘ Antisemitismus durchgesetzt hat, erkanntwerden. NurimBlick auf das 19. Jahrhundert, in dem der moderne Antisemitismus entstanden ist, lässt sich erfassen, ob im 21. Jahrhundertein ,neuer‘ Antisemitismus in Erscheinung getreten ist. Der historische Ort, an dem sich der Antisemitismus herausgebildet hat, war das 19. Jahrhundertmit seinen fundamentalen Umbrüchen der Arbeitswelt, des sozialen Lebens und der politischen Ordnung.Mit der großen Transformation der Welt brachen die alten Lebensformen zusammen.25 Innerhalb vonnur we-

19 Taguieff, Nouvelle judØophobie (wie Anm. 12);Rabinovici/Speck/Sznaider (Hg.), Neuer Antisemitismus?(wieAnm. 3);Ulrich Bielefeld/Nikola Tietze, Neuer Antisemitismus oder neue Judeophobie,in:Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts fürSozialforschung 13/2 (2004), S. 8–10;PaulIganski/Barry Kosmin (Hg.), ANew Antisemitism?Debating Ju- deophobia in 21st-CenturyBritain, London2003. 20 Günter Jikeli, Antisemitismusund Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Europa. Ergebnisse einer Studie unter jungen muslimischen Männern (Antisemitismus: Geschichte und Strukturen, 7), Essen 2012;RobertWistrich, Muslimischer Antisemitismus. Eine aktuelle Gefahr (Studien zum Antisemitismus,2), Berlin 2011. 21 Klaus Manfrass, AntisemitismusinFrankreich. Muslime und Rechtsextreme sind im Hass vereint, in:Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton vom 20. April 2015. URL: (zuletzt aufgerufen am 23.05.2018). 22 RobertS.Wistrich, ALethal Obsession. Anti-SemitismFromAntiquitytothe Global Jihad, NewYork 2010;Daniel J. Goldhagen, The Devil thatNeverDies. The Rise and Threat of Global Antisemitism, NewYork 2013. 23 Dabei wird in der erregten aktuellen Diskussion übersehen, dass HerbertA.Strauss schon 1990 voneinem ,neuen‘ Antisemitismus gesprochen und ihn vom ,modernen‘ Antisemitis- mus abgegrenzt hat:HerbertA.Strauss, Einleitung –Vom modernen zum neuen Antise- mitismus,in:Derselbe/Werner Bergmann/Christhard Hoffmann(Hg.), Der Antisemitismus der Gegenwart, Frankfurta.M./New Yo rk 1990, S. 7–25, v. a. S. 14f. 24 Zur Kritik am Konzept des „neuen“Antisemitismus siehe Brian Klug, Interrogating New Anti-Semitism, in:Ethnic and Racial Studies 36/3 (2013),S.468–482. 25 Karl Polanyi,The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge vonGe- sellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurta.M.1978 [zuerst 1944].

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Zur Entstehung des Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts 17 nigen Generationen vollzog sich eine vollkommene Umwälzung der Lebenswelt und des Alltagslebens. Alte Gewissheiten lösten sich auf, und die angebliche Geborgenheit der Tradition und überlieferten Ordnung war zerstoben. Neue gesellschaftliche Konfliktfelder taten sich auf, und aufdiesen wurde heftig über die Deutung all dieser Umwälzungen gestritten.26 Nichtalle Zeitgenossen konnten sich aufdie neue Welt einstellen, nichtalle sahen die Möglichkeiten, die sich damit boten. In Momenten vonAngst vor Abstieg,Armut und Verelendung suchten die der alten Ordnung Verhaftetennach Verantwortlichen. Sie flüchteten sich in den scheinbaren Haltvon Traditionen und klammerten sich an die überlieferte moral economy,die sozialmoralischen Einstellungen der Menschen in der vorindustriellen Welt, in der nichtfürden Markt oder den Profit, sondern fürdie unmittelbare Befriedigung der Bedürfnisse und die Er- füllung sozialer Pflichten produziertwurde. So verteidigten sie alte moralische Ökonomie gegen die Zwänge der neuen politischen Ökonomie. Mit Neid und Missgunst sahen sie aufden Erfolg vonTeilen der zuvor verachteten und er- niedrigten jüdischen Bevölkerung.27 In einer Verkehrung vonUrsache und Wirkung gaben sie den Juden die Schuld an der Zerstörung der alten, angeblich so idyllischen Welt. Sie entwarfen eine paranoide Weltanschauung,die von Wahnbildungenund verzerrten Wahrnehmungen geprägt war und die vonag- gressivemMisstrauen bis hin zu Vorstellungen, einer Verschwörung ausgesetzt zu sein, reichte.28 In dieser wahnhaften Verkennung der Realitätwurden Juden zu Sündenböcken fürdie Zumutungen und Anforderungen der neuen kapitalisti- schen Marktwirtschaft, ihnen wurde, so Max Horkheimerund Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung,„das ökonomische Unrechtder ganzen Klasse aufgebürdet“.29 Werdie Entstehung des Antisemitismusbegreifen will, muss daher sowohl nach den sozio-ökonomischen Zusammenhängen und dem politischen Kontext, als auch nachden alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Situationen der anti- semitischen Akteure fragen.Die Ursachen des Antisemitismus lagen nichtinden Juden selbst,auch nichtinderen sozialen Aufstieg im Zuge der gesellschaftlichen

26 Zum Begriff der moral economy: Edward P. Thompson, Die ,moralische Ökonomie‘ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert(zuerst 1971), in:Derselbe, Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahr- hunderts, Frankfurta.M./Berlin/Wien 1980, S. 66–130. 27 AufNeid als wesentlichen Stimulus des Antisemitismus hatte schonein so aufmerksamer zeitgenössischer Beobachter wieLudwig Philippsonerkannt:Derselbe, Das judenfeindliche Treiben der Gegenwart, in:Allgemeine Zeitung des Judenthums 44 (28.10.1879). 28 Nathan W. Ackerman/Marie Jahoda, Anti-Semitism and Emotional Disorder.APsycho- analyticInterpretation (Social Studies Series, 5), NewYork 1950, S. 26–29. 29 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 204f.

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Umwälzung des 19. Jahrhunderts,30 sonderndarin, wieAntisemiten die „Ver- wandlung der Welt“31 wahrgenommen und gedeutet haben. Ausschlaggebend waren die Aversionen, mit denen sie aufdas Lebenineiner veränderten Ge- sellschaftreagierten. Bevor den Ursachen und Erscheinungsformen des Antisemitismus, wieer sich im 19. Jahrhundertherausgebildet hat, nachgegangen wird, sollen zunächst drei in der aktuellen Antisemitismusforschung immer wieder herangezogenen Erklärungsversuche kritisch hinterfragtwerden.

Zur Kritik der aktuellen Antisemitismusforschung

1. Die These von den religiösen Wurzeln des Antisemitismus

Im Kontext der aktuellen Debatten überdie Rolle der Religionen in der globa- lisierten Welt und der vielfach beschworenen „Wiederkehr der Götter“ wird erneut der religiöse Gegensatz zwischen Christentum und Judentum als we- sentliche Ursachedes Antisemitismus ausgegeben,32 bisweilen wird gar,wie etwa vonDavid Nierenberg,eine lange, 2000jährige Tradition eines westlichen Anti- judaismus konstruiert.33 So ist in der Antisemitismusforschung gleichsam eine Pendelbewegung zu beobachten, die vonder alten, die religiösen Wurzeln und die Kontinuitätder Judenfeindschaftbetonenden Richtung überden sozialge- schichtlich geprägten, die Bedeutung des gesellschaftlichen Wandels im 19. und 20. Jahrhundertunterstreichenden Ansatz wieder zurück zur Fokussierung auf die Religion und die Persistenz des Antijudaismus führt.34 So bereitwillig diese Thesen im Klima der neuen religiösen Aufladung des öffentlichen Raumes und der politischen Kultur auch aufgenommen werden, sie entziehen sich jedoch der Überprüfungdurch die Quellen und der Einbindung in den historischen Kon-

30 So die InterpretationvonAlbertS.Lindemann, Esaus’s Tears. ModernAnti-Semitismand the Rise of the Jews, Cambridge 1997. 31 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlungder Welt.Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (Historische Bibliothek der Gerda-Henkel-Stiftung), München 2009. 32 ZurThese von der„Wiederkehr derReligion“ sieheFriedrich Wilhelm Graf, DieWieder- kehr derGötter:Religioninder modernenKultur, München 2004;kritisch dazu:Herbert Schnädelbach, Religioninder modernen Welt.Vorträge,Abhandlungen, Streitschriften, Frankfurt a. M. 2009. 33 DavidNirenberg,Anti-Judaismus. Eine andereGeschichte des westlichen Denkens (Histo- rische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München 2015. 34 Steven Englund, De l’antijudaïsme à l’antisØmitisme, et à rebours, in:Annales. Histoire, Sciences sociales 69/4 (2014), S. 901–924;siehe auch Shulamit Volkov,MovementinaCircle: The Research of Anti-SemitismfromShmuel Ettinger and Back. ASurvey,in: Zion 76/3 (2011), S. 369–379. AufHebräisch. IchdankeTuvia Singer füreine englische Zusammen- fassung dieses Essays.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Zur Entstehung des Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts 19 text.35 Die spezifischenErscheinungsformen des Antisemitismus werden dabei ebenso ausgeblendet wiedessen Veränderungen und die Frage nachden Ursa- chen. Der Antisemitismus ist keine notwendige Folge eines religiösen Konflikts. Die Bedeutung der überlieferten christlichen Judenfeindschaftfürden Antisemi- tismus lag aber nichtzuletzt darin, dass Antisemiten diese als Legitimation für ihre Idiosynkrasien nutzten.36 So ist es zum Verständnis des Antisemitismus eher nötig, den Funktionswandel der Religioninder veränderten Welt zu erfassen und die daraus hervorgehende gesellschaftlicheDynamik aufdem kirchlichen Feldinden Blick zu nehmen. So zeigen auch die immer wieder als Beleg fürdie Persistenz religiöser Vor- urteile herangezogenen Ritualmord-Vorwürfe, wiesehr die Gerüchte vonSeiten antisemitischer Akteureals Mittel der Agitationinstrumentalisiertwurden.37 Es gehtnichtdarum, die Bedeutung der religiösen Überlieferung zu leugnen, mit der Metapher vonden christlichen Wurzelndes Antisemitismus aber wird die Problematiknichterfasst. Notwendig erscheintesvielmehr,zuden Quellen zurückzugehen und den Gebrauch der Sprache der Religion fürdie kirchliche Politik zu reflektieren.38

2. Die These vom nationalen Antisemitismus

Das zweite in der gegenwärtigen Antisemitismusforschung immer wieder her- angezogene Erklärungsmuster ist die These, dass der im 19. Jahrhundertent- standene Antisemitismus, wieespointiertKlaus Holz formulierthat, vor allem „durch seine Verknüpfung mit dem Nationalismus konstituiert“ sei.39 Außer

35 Siehe dazu Ulrich Wyrwa, The Language of Antisemitism in the Catholic Newspapers Il Veneto Cattolico –LaDifesa in Late Nineteenth CenturyVenice, in:Church Historyand Religious Culture 96 (2016), S. 346–369. 36 Grundlegend dazu:ChristhardHoffmann, Christlicher Antijudaismus und moderner An- tisemitismus.Zusammenhänge und Differenzen als Problemder historischen Antisemitis- musforschung, in:LeonoreSiegele-Wenschkewitz (Hg.), Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchlicheProgramme deutscher Christen (Arnolds- hainer Texte, 85), Frankfurta.M.1994, S. 293–317. 37 Hillel J. Kieval, Representation and Knowledge in Medieval and ModernAccounts of Jewish Ritual Murder,in: Jewish Social Studies. NewSeries 1/1 (1994),S.52–72. 38 Als mikrohistorischeStudie zur Formierung der Sprache des Antisemitismus durch die christlichen Kirchen s.:Ulrich Wyrwa, Gesellschaftliche Konfliktfelder und die Entstehung des Antisemitismus.Das Deutsche Kaiserreich und das Liberale Italien im Vergleich (Studien zum Antisemitismus in Europa, 9), Berlin 2015, S. 243–357;s.a.Ulrich Wyrwa, The Language of Antisemitism (wie Anm. 35). 39 Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, S. 12.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 20 Ulrich Wyrwa

Acht gelassen werden dabei die inneren Widersprüche und der agonale Cha- rakter dessen, was die Erfindung der Nation ausmacht. Das Bild der Nation war hochgradig umstritten,und um die Ausrichtung des nationalen Feldes wurden erbitterte Kämpfe ausgetragen. Auch war der Begriff der Nation im Laufe des 19. Jahrhunderts vielfältigen Wandlungen unterworfen. Die Auffassung,was eine Nation ausmacht, war mitnichten eine kohärenteund homogene Kon- struktion, sie war vondiversen, vielfach auch in sich widersprüchlichen Aus- grenzungs-und Einschließungsprozessen durchzogen, gerade auch hinsichtlich der Juden.40 Darüberhinaus handelt es sich beiden im 19. Jahrhundertneu gegründetenNationalstaaten keineswegs um die „Konstruktion der Nation gegen die Juden“, so der Titel eines vielzitierten Sammelbandes. Juden hatten vielmehraktiven Anteil am Aufbaudieser neuen Nationen.41 Nationalistisches Denken hatte gleichwohl entscheidenden Einflussauf die Herausbildung der Sprache des Antisemitismus, die Rede vonden Juden als einem fremden Elementtauchtinder antisemitischen Rhetorik immer wieder auf.42 Der Antisemitismus lässt sich aber nichteindimensional aufeinen natio- nalen Antisemitismusreduzieren, zumal Antisemiten umgekehrt, wenn auch erfolglos, versuchthaben sich transnational und europäisch zu organisieren.43

3. Antisemitismus und Rassismus

In Nachschlagewerken und Lehrbüchernwird der Antisemitismus vielfach als rassistischer Antisemitismus bestimmt, und die Begriffe Antisemitismusund Rassismus werden nahezu synonymverwendet.44 Magdiese Bestimmung ausder

40 Zum Nationalenals Konfliktfeld siehe:Wyrwa, Gesellschaftliche Konfliktfelder (wie Anm. 38), S. 53–127. 41 Erik Lindner,Patriotismus deutscher Juden vonder napoleonischen Ära bis zum Kaiserreich (Europäische Hochschulschriften. Reihe 3: Geschichte und ihreHilfswissenschaften,726), Frankfurta.M., Berlin/Bern1997;Shlomo Na’aman, JüdischeAspekte des deutschen Na- tionalvereins (1859–1867), in:Jahrbuchdes Instituts fürdeutscheGeschichte (Tel Aviv) 15 (1986), S. 285–308;Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und EmanzipationinFlorenz, Livorno, Berlin und Königsberg i. Pr.(Schrif- tenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts,67), Tübingen 2003, S. 365–401. 42 Siehe dazu vor allem den Abdruck der Quellen in:Karsten Krieger (Bearb.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition,2Bde.,München2003. 43 Ulrich Wyrwa, Die Internationalen Antijüdischen Kongresse von1882 und 1883 in Dresden und Chemnitz. Zum Antisemitismus als europäischer Bewegung, in:Themenportal Euro- päische Geschichte (2009), URL: (zuletzt aufgerufen am 10.05.2017). 44 Christian Geulen, Antisemitismus–Rassismus–Xenophobie:Zur Unterscheidung mo- derner Anfeindungsformen, in:Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 5(2006), S. 257–278.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Zur Entstehung des Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts 21 rückschauenden Perspektive und in Anbetrachtdes rassistischen Wahns im nationalsozialistischen Antisemitismusauch plausibel erscheinen, das Denken in der Kategorie Rasse und die Sprache des Rassismuswaren im 19. Jahrhundert nichtnotwendigerweise antisemitisch, wieumgekehrtantisemitisches Denken nichtzwingend rassistisch sein musste. Darüberhinaus bestanden in der Ver- wendung des Begriffs Rasse selbst unter den rassistischen Antisemiten genauso wieunter anti-antisemitischen Rassentheoretikernerhebliche Unterschiede. Schließlich haben im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts selbst jüdische Intel- lektuelle wieetwa Arthur Ruppin vonsich ausden Begriff der Rasseaufgegriffen und ihn positiv fürdie eigene Selbstzuschreibung gebraucht.45 In gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Debatten im Kontext der Aus- einandersetzungen überden Kolonialrassismus wird der Begriff zudem zu einem kulturellen Rassismus erweitert.46 Inflationärgebrauchtkann der Begriff Rassismus indes den konkreten politischen und historischen Kontext ebenso wie die Besonderheiten des rassistischen Antisemitismus nichtmehr fassen.

4. Kulturalistische Sackgassen

So produktiv die kulturgeschichtlichen Erweiterungen der Antisemitismusfor- schung nach den funktionalistischen Reduktionen sozialgeschichtlicher Studien auch waren, tendieren kulturalistisch angelegte Forschungen zum Antisemitis- musallzu leichtdahin, sozioökonomische Konflikte oder Machtverhältnisse auszublenden.47 In Sackgassen begibt sich die kulturalistisch orientierte Anti- semitismusforschung zumal dann, wenn sie mit einer ,Hermeneutik des Ver- dachts‘ arbeitet oder in teleologischen Kurzschlüssen meint, antisemitische Codes aufdecken zu können.48 Schließlich entgehen kulturalistische Arbeiten

45 John M. Efron, Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in Fin-de-Si›cle Europe, NewHaven,London1994. Zu Ruppinsiehe u.a. die Kontroverse:Amos Morris- Reich, Arthur Ruppin’s Conception of Race and the Middle East, in:Transversal:Zeitschrift fürJüdische Studien 7/2 (2006), S. 19–32;Etan Bloom, The „AdministrativeKnight“–Arthur Ruppin and the Rise of Zionist Statistics, in:The TelAvivUniversity Ye ar Book for German History35(2007), S. 183–203;Amos Morris-Reich, Ruppin and the Peculiarities of Race:A Response to EtanBloom, HistoryofEuropean Ideas 34/1 (2008), S. 116–119. 46 Etienne Balibar/Immanuel Wallerstein,Rasse. Klasse. Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg 32014. 47 Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner,Die Selbstabschaffungder Vernunft. Die Kulturwis- senschaften und die Krise des Sozialen (Wiener Vorlesungen im Rathaus. Edition Gesell- schaftskritik, 3), Wien 2007. 48 Unter dem Begriff ,Hermeneutik des Verdachts‘ soll hier nichteine kritische Interpretati- onsmethode zur Entschlüsselung vonTexten und Zusammenhängen im Sinne vonPaul Ricœur (Derselbe,Die Interpretation.Ein Versuch überFreud, Frankfurta.M.1969, S. 45–

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 22 Ulrich Wyrwa nichtimmer der Gefahr der Tautologie, etwa wenn sie als Ursachen des Anti- semitismusantisemitische Mentalitäten und Diskurse ausmachen.49 Die Ursachen des Antisemitismuskönnen also weder aufdie christliche Ju- denfeindschaft, die Konstruktion der Nation, das Denken in den Kategorien von Rassen oder aufantisemitische Mentalitäten reduziertwerden. Sie hängen vielmehrmit den sozialen Verwerfungen und mentalen Verunsicherungen der technisch-industriellen Welt zusammen.50 Mit den Krisen breitete sich Angst vor der Zukunftaus. Die gesellschaftlichen Umwälzungen wurden mitunter als Be- drohung wahrgenommen. Die Ursachen fürdie neue Feindseligkeit gegenJuden lagen aber nichtinden Prozessen selbst. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie diese erfahren und gedeutet sowievon wirkungsmächtigen Akteuren fürihre Mission ausgenutzt wurden.51

Die Große Transformation und der Antisemitismus

Die fürdie Entstehung des Antisemitismus im 19. Jahrhundertentscheidenden gesellschaftlichen Prozesse lassen sich in den Begriffen Fabrikarbeit, Konsum- gesellschaft, Kapital und Bankwesen, Urbanisierung,Bürgerlichkeit und bür- gerliche Lebensstile sowieMassenpolitik und -kommunikation bündeln. 1.) Hinsichtlich der Umwälzung der Arbeit ist fürdie Frage nach den Ursachen des Antisemitismus weniger die dasneue Zeitalter prägende Fabrikarbeit im engeren Sinne relevant, als vielmehr die mit dem Prozess der Industrialisierung einhergehende Auflösung der überlieferten Wirtschaftsgesinnung.52 In der vorindustriellen Welt wurde nichtfürden Markt oder Profit produziert, sondern fürdie unmittelbare Befriedigung der Bedürfnisse und die Aufrechterhaltung ständisch gebundener Lebensformen. Arbeit war eingebunden in die moralische Ökonomie, sie war bestimmt vontraditionellen Rechten und überlieferten Ge- bräuchen, und sie wurde vonreligiösen Praktiken und patriarchalischen Auto- ritätsverhältnissen zusammengehalten.

49) verstanden werden, sondernein Verfahren,das jede Quelle unter den Verdachtstellt,wie kodiertauch immer,antisemitische Einstellungen zu reproduzieren,die es geltezuentlarven. 49 Siehe dazu die Bemerkung vonThomas Gräfe in:Sozial.Geschichte Online 7(2012), S. 158. URL: (zuletzt aufgerufen am 24.05.2018). 50 Eric Hobsbawm,Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Frankfurt a. M. 1995 [zuerst 1987],S.18. 51 Zur Bedeutung vonPropaganda siehe:Theodor W. Adorno, Antisemitismus und faschisti- sche Propaganda [1946],in: Ernst Simmel (Hg.), Antisemitismus, Frankfurta.M.1993, S. 148–161. 52 Zu dem vor allem aufMax Weberund Werner Sombartzurückgehenden Begriff der Wirt- schaftsgesinnung siehe Friedrich H. Tenbruck, Die Rolle der Wirtschaftsgesinnung in der Entwicklung,in: Zeitschrift fürdie gesamte Staatswissenschaft 124/3 (1968), S. 569–585.

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Mit der Transformation vonder moralischen Ökonomie der traditionalen Subsistenzwirtschaftzur politischen Ökonomie der kapitalistischen Markt- wirtschaftlöste sich die Arbeitswelt vonihren kulturellen Einbindungen. All diese Veränderungen führten zu tiefen Verunsicherungen und heftigen Kon- flikten unter Zeitgenossen, und die Einführung der Gewerbefreiheit wurde zumal fürAngehörige des Mittelstandes zum Inbegriff der gesellschaftlichen Zerstörung.53 Zugleich sahensie, dass Juden mit Erfolg in das Feldder Ökonomie eintraten und die Möglichkeiten, die die Gewerbefreiheit bot, zu nutzen verstanden. Es profitierte somit jene Gruppe vonder neuen Ordnung,die zuvor als gesell- schaftliche Außenseiter verachtet und missachtet wurde. Eine der Ursachen des Antisemitismuslag somit im Zusammenprall kon- trärerWirtschaftsgesinnungen, einem „clash of economic mentalities“, wieder Historiker DavidPeal dies fürdie Agitationdes hessischen Antisemiten Otto Böckel herausgearbeitet hat.54 2.) Die Transformationen des 19. Jahrhunderts lassen sich sowohl unter dem Begriff der Fabrikarbeit als auch unter dem Begriff der Konsumgesellschaft bündeln.55 Die Umwälzungen dieser Epoche sind mit dem Begriff der Indu- strialisierung nur unzureichend beschrieben, sie bezogen sich nichtnur aufdie Produktion, sondernauch aufden Konsum. Mit der schon im 19. Jahrhundert einsetzenden Entstehung der Konsumgesellschafterhielt der Handel zentrale Bedeutung,dem in der vorindustriellen Welt teilweise das Stigma der Unehr- lichkeit anhaftete. Paradoxerweise handelte es sich genauumjenen Sektor,in den die jüdische Bevölkerung gerade wegen dieser negativen Zuschreibungen abgedrängtworden war.Indem historischen Moment, in dem der Handel zu einem zentralen Sektor der neuen Ökonomie wurde, schlug die wirtschaftliche Ausgrenzung der Juden dialektisch in einen Startvorteil in der entstehenden Konsumgesellschaft um. Der Erfolg jüdischer Händler rief den Neid derjenigen hervor,die sich vondiesem Wandel bedrohtfühlten oder Schwierigkeiten hatten sich dem kommerzialisierten Alltagsleben anzupassen. Nicht-jüdische Händler fürchteten zudem die Konkurrenz jüdischer Händler.Anknüpfend an die alten Werteder moralischen Ökonomie als auch an die überlieferte sozialmoralische

53 Die Bekämpfung der Gewerbefreiheit gehörtezuden zentralen Themendes Autors Otto Glagau, Der Bankerottdes Nationalliberalismus und die ,Reaction‘, Berlin 1878. 54 DavidPeal, Anti-Semitism and Rural Transformation in Kurhessen. The Rise and Fall of the Böckel-Movement, NewYork 1985, S. 102. 55 Zur Begriffsgeschichte des Konsums siehe Ulrich Wyrwa, Consumption and Consumer Society.AContribution to the HistoryofIdeas, in:Matthias Judt/Charles McGovern/Susan Strasser (Hg.), Getting and Spending. European and American Consumer Societiesinthe Twentieth Century(Publicationsofthe German Historical Institute), Cambridge/NewYork 1998, S. 431–447.

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Ausgrenzung der Juden warfen sie den Juden vor,die Ehre des alten Kauf- mannsstandes zu untergraben. 3.) Einen ähnlichen Prozess durchlief im 19. Jahrhundertjener Sektorder Ökonomie, aufden Juden in der vorindustriellen Welt aufgrund seiner religiösen Stigmatisierung ebenfalls abgedrängtworden waren:der Geldhandel.56 Mit der expandierendenIndustrie und der Entstehung vonAktiengesellschaften bildete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein neues Bankwesen heraus. Wiederum ist hier dieselbeDialektik zu beobachten. Dass Juden in der vorin- dustriellen Welt aufden Geldhandelabgedrängtworden waren und sie daher in diesem Bereich besondereErfahrungen und Kompetenzen erworben hatten, kam ihnen nunzuGute, und so war der Anteil vonJuden im Bankwesen des 19. Jahrhunderts überproportional hoch. Dies wiederum führte in den Phan- tasmagorien vonAntisemiten zu chimärischen Vorstellungen vonJuden, zu Verschwörungstheorien und Unterstellungen, dass Juden überglobal vernetzte Banken nach der Weltherrschaftstreben würden. Banken und Börsen standen so in der Sprache des Antisemitismus füralles Negative derveränderten Welt, und die Wortverbindungen „Bankjude“ und „Judenbanken“ wurden zu wirkmäch- tigen antisemitischen Schlagworten.57 4.) Mit diesen ökonomischen Umwälzungen ging der Prozess der Urbani- sierung und die Ausweitung städtischer Lebensformen einher,der vonzeitge- nössischen Beobachternmitunter als eine bedrohliche, die gewohnte Lebenswelt zerstörende Entwicklung wahrgenommen wurde.58 Die umhegten alteuropäi- schen Städte brachen auf, und mit dem rapiden Wachstum der Städte fielen die alten stadtbürgerlichen Lebenswelten in sich zusammen. Wiederum waren es die Juden, denen Antisemiten die Verantwortung füralle Übeldes großstädtischenLebens zuschoben. Ihnen wurde in der antisemiti- schen Agitation die Schuld am angeblichen moralischen Verfall in den Städten und an allen mit der Verstädterung verbundenen sozialen Problemen zuge- schrieben. Die Stadt zum Beispiel diffamierten antisemitische Akteure als „Judapest“, die sprachliche Assoziation an die Pestkrankheit bewusst ins Kalkülziehend.59

56 Wolfram Fischer,Wirtschaftund Gesellschaft Europas 1850–1914, in:Derselbe (Hg.), Eu- ropäischeWirtschafts- und Sozialgeschichte vonder Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg (Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 5), Stuttgart1985, S. 10–207, hier v. a. S. 172–178. 57 Auch in der Ausprägung dieser semantischen Verknüpfungen war Otto Glagautonangebend: Otto Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel, Leipzig 1876;Derselbe, Des Reiches Noth und der neue Culturkampf, Osnabrück 1879. 58 Clemens Zimmermann, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierungund Großstadtentwicklung, Frankfurta.M.1996. 59 Charles Kecskemeti, „Judapest“etVienne, in:Austriaca. Cahiers Universitaires d’Informa- tion sur l’Autriche 57 (2004), S. 35–52.

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5.) Nebenden ökonomischen Umwälzungen lassen sich weitere Aspekte der fundamentalen Veränderungendes ,langen 19. Jahrhunderts‘ im Begriff Bür- gerlichkeit bündeln und im Vordringen bürgerlicher Lebensstile fassen.60 Mit der Französischen Revolution brachen die alten Untertanenverhältnisse nichtnur in Frankreich auf. Nach und nach ging in weiten Teilen Europas ausder alteuro- päischen ständischen Gesellschafteine neue Gesellschaftvon Staatsbürgern hervor,programmatisch verkündet in der Erklärung der Menschen- und Bür- gerrechte. Damit aber mussten diese Rechte auch fürdie in der alteuropäischen ständischen GesellschaftimAbseits stehenden Juden gelten, das heißt, die Emanzipation der Juden wurde zur Conditio sine qua non der neuen Gesellschaft der Staatsbürger.61 So trat also in den europäischen Gesellschaften eine Dynamik hervor, die – wieesYosef Ye rushalmi formulierthat –darin bestand, dass die Menschen durch neue politische Bedingungen angehaltenwaren, Juden als gleichberechtigte Bürger anzuerkennen, durch die überlieferten Vorurteile aber gewohntwaren, sie zu missachten und als geächtete Außenseiter auszugrenzen.62 6.) Mit der Französischen Revolutionveränderte sichabernichtnur der Status der Staatsbürger;aus der revolutionärenSprache ging zugleich eine neue poli- tische Kulturhervor.63 AusUntertanen wurden politische Akteure. Immer wei- tere Teile der Gesellschaftwurden in die Politik hineingezogen. Eine der Ursa- chen des Antisemitismus ist daher in dieser Massenpolitisierung der Gesell- schaftund der Durchsetzung neuer Formen vonMassenkommunikation zu sehen, wobei vorallem die rasante Entwicklung des Pressewesensden antise- mitischen Akteuren ein wirkungsmächtiges Propagandainstrumentbot.64 Da Juden nunmehr,insbesonderenach der Revolution von1848, selbst als politische Akteure auftraten,65 erhoben Antisemiten den chimärischen, mit den realen

60 Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3. Bde.,München1988. 61 ReinhardRürup,Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürger- lichen Gesellschaft, Göttingen 1975;Vgl.Jan Weyand, Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensformation am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses, Göttingen 2016. 62 Yosef H. Ye rushalmi, Assimilierung und rassischer Antisemitismus.Die iberischen und die deutschen Modelle, in:Derselbe, Ein Feld in Anatot.Versuche überjüdische Geschichte, Berlin 1993, S. 53–80, hier S. 65. 63 Lynn Hunt,Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurfeiner politischen Kultur,Frankfurta.M.1989. 64 Siehe dazu den fulminanten Band:Michael Nagel/Moshe Zimmermann (Hg.), Judenfeind- schaftund Antisemitismus in der deutschen Presse überfünf Jahrhunderte. Erscheinungs- formen, Rezeption, Debatte und Gegenwehr (Presse und Geschichte:neue Beiträge, 73–74/ Die jüdische Presse: Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum, 14–15), 2Bde., Bremen 2013. 65 Jacob Toury,Die Revolution von1848 als innerjüdischer Wendepunkt, in:Hans Liebeschütz,

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Juden in keinerleiBeziehung stehenden Vorwurf, Juden würden nach der Macht strebenund sie würden die Medien sowiedie öffentliche Meinung beherrschen. Das Paradox in der Entstehung des Antisemitismus besteht darin, dass er zwar gegen die Politisierung der Gesellschaftgerichtet war,selbst aber als eine poli- tische Bewegung auftrat.66 Der Antisemitismus hat nichts mit den realen Juden zu tun, und die ent- scheidenden Ursachen lagen ebenso wenig in den sozialen Verwerfungen, öko- nomischen Umwälzungen und politischen Umbrüchen selbst.Entscheidend ist, wiediese totale Transformation der Welt wahrgenommen und interpretiert wurde, und welche Rolle Juden in diesem Prozess zugeschrieben wurde. Der Antisemitismus war keineswegs eine zwingende Folge der „Verwandlung der Welt“ und er musste ebenso wenig mit innerer Notwendigkeit ausden Wider- sprüchen der bürgerlich-industriellen Gesellschafthervorgehen.67 Grundlegend waren vielmehr die Deutungen der Umwälzung und die Frage, mit welchem Vokabular sie beschrieben wurde. So gehtesdarum zu erkennen, wieantise- mitische Akteuremithilfe dieser neuen Sprache an die Verunsicherung und sozialmoralischen Erschütterungenanknüpften, daraus soziales und politisches Kapital zu schlagen versuchten und sich bemühten, den Antisemitismuszueiner sozialen Kraftzuformen. Ziel der antisemitischen Akteure war es, die öffentliche Meinung zu bestimmen, das kulturelle Klima zu beeinflussen und die kulturelle Hegemonie zu erobern.68 Zudem war die Herausbildung des Antisemitismus kein gleichförmiger Pro- zess, der sich in allen Teilen Europas gleichmäßig entwickelte. Wiedie Indu- strialisierung nichtineinem Land begonnen hatte und vonanderen übernom- men wurde –sodie noch immer in Lehrbüchernund Nachschlagewerken viel- fach sich findende verfehlte Darstellung –sondern,wie Sidney Pollard gezeigt

Arnold Paucker (Hg.), Das Judentum in der Deutschen Umwelt 1800–1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation(Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, 35), Tübingen 1977, S. 359–376. 66 Werner Bergmann/UlrichWyrwa, The Making of Antisemitism as aPolitical Movement. Political HistoryasCulturalHistory(1879–1914), in:Quest. Issues in ContemporaryJewish History. Journal of FondazioneCDEC, 03.07.2012, URL: (zuletzt aufgerufen am 24.05.2018). 67 Vgl. dazu das Vorwortvon Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zur deutschen Ausgabe vonPaulW.Massing, Rehearsal for Destruction. AStudy of Political Anti-Semitismin Imperial Germany (Social Studies Series, 2), NewYork 1949;Derselbe, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus (Frankfurter Beiträge zur Soziologie, 8), Frankfurta.M.1959, S. V–VIII. 68 Zu dem vondem italienischen Politiker und Sozialphilosophen Antonio Gramsci geprägten Begriff der Hegemonie siehe Ines Langemeyer/Antonio Gramsci, Hegemonie, Politik des Kulturellen,geschichtlicher Block, in:Andreas Hepp/Friedrich Krotz/Tanja Thomas (Hg.), Schlüsselwerkeder Cultural Studies. Medien –Kultur –Kommunikation, Wiesbaden 2009, S. 72–82.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Zur Entstehung des Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts 27 hat, sich vorallem in bestimmten transnationalen Regionen entwickelte,69 so bildete sich auch der Antisemitismus vornehmlichauf regionaler beziehungs- weise lokaler Ebene heraus. In den verschiedenen Städten oder Regionen Eu- ropas herrschten jeweils besondere Bedingungen, die die Entwicklung des An- tisemitismus prägten oder auch ihr wirksam entgegenstanden.Eine Kartogra- phie des europäischen Antisemitismuswürde somit schwarze neben weißen Flecken zeigen und ebenso zahlreiche Graustufen enthalten. Undall diese Schattierungen würden sich darüberhinaus im Verlauf des ,langen 19. Jahr- hunderts‘ immer wieder verschieben. Die ersten Anzeichendieser neuen Judenfeindschafttratenbereits am Anfang des 19. Jahrhunderts hervor,gleichsam am Beginn des Zeitalters der Emanzi- pation der Juden, und genaudarin zeigte sichdie „Nachseite der Judeneman- zipation“, wieRainer Erb und Werner Bergmann diese Entwicklung beschrieben haben.70 Die mentale Großwetterlage,das kulturelle Klima aber war bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts noch vomFortschrittspathos und Zu- kunftsoptimismus bestimmt, die kulturelle Hegemonie hatten noch jene Kräfte, die die bürgerliche und staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden unterstütz- ten. Mit der „großen Beschleunigung“ des politischen und ökonomischen Wan- dels in den Jahrzehnten um 1900, so hat der Historiker Christopher A. Bayly diese Phase unter globalgeschichtlicher Perspektive charakterisiert, verlor die bür- gerlich-liberale Öffentlichkeit ihre Vorherrschaft.71 Die Panik der Jahrhundert- wende, Endzeitgefühle, Fin de Si›cle-Stimmung und Kulturpessimismus ver- änderten das kulturelle und politische Klima nachhaltig.Anzeichen fürdiesen gesellschaftlichen Umbruch zeigten sich bereits in den 1870er-Jahren, Initial- zündung fürdiesen kulturellen Umbruch war der europäische Börsenkrach von 1873.72 Auch wenn es sich beidieser ,Großen Depression‘ weniger um einen realen Einbruch der wirtschaftlichen Entwicklung handelte,73 brachen sozial-

69 Sidney Pollard, PeacefulConquest. The Industrialization of Europe, 1760–1970, Oxford/New York 1981. 70 Werner Bergmann/Rainer Erb,Die Nachtseite der Judenemanzipation.Der Widerstand gegen die Integrationder Juden in Deutschland1780–1860 (Antisemitismusund jüdische Geschichte, 1), Berlin 1989. 71 Christopher Bayly,Die Geburtder modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurta.M./New Yo rk 2008, S. 564–609. 72 FürDeutschlandsiehe die Pionierstudie vonHansRosenberg,GroßeDepression und Bis- marckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa(Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung,2), Berlin 1967. In der neuerenDiskussionwirdversucht, die Bedeutung der Gründerkrise zu relativieren:Henning Albrecht, Preußen, ein „Juden- staat“.Antisemitismusals konservative Strategie gegen die „Neue Ära“. Zur Krisentheorie der Moderne, in:Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), S. 455–481. 73 Zum WirtschaftswachstuminEuropasiehe Wolfram Fischer,Wirtschaftund Gesellschaft Europas 1850–1914, in:Ders. (Hg.), Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozial-

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 28 Ulrich Wyrwa psychologisch und mentalitätsgeschichtlich nundie optimistischen Zukunfts- erwartungen zusammen, und Juden wurden als Schuldige dafürausgemacht. Genauindiesem historischen Kontext,imHerbst 1879, ist der folgenreiche, das Ressentimentauf den Begriff bringende Neologismus geprägt worden. Nun kamen die bereits im Zeitalter der Emanzipation formulierten antisemitischen Ideen zum öffentlichen Durchbruch. In genaudiesem historischen Moment formierte sich der Antisemitismusals eine soziale und politische Bewegung und als gesellschaftliches Syndrom.74

Zur Phänomenologie des Antisemitismus Um die Besonderheiten des Antisemitismus, wieersichim19. Jahrhundert herausgebildet hat, zu erkennen, ist es nichtnur nötig, die Ursachen dieser neuen Form vonJudenfeindschaftfreizulegen, sondernauch seinespezifischen Er- scheinungsformen zu unterscheiden. Antisemitismusist kein selbstständig wirkendes historisches Subjekt, wieesessentialisierende Metaphernund sprachliche Wendungen, die von,dem Antisemitismus‘ sprechen, der wächst, anschwillt oder sich aufbäumt, unterstellen.75 Der Begriff Antisemitismus gehört zu jenen sprachlichen Neubildungen des 19. Jahrhunderts, die mit der Nachsilbe -ismus endend politische Absichten und weltanschauliche Orientierungen zum

geschichte, Bd. 5: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vonder Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1985, S. 117;zum Wirtschaftswachstum in Deutschland siehe Knut Borchardt, Wirtschaftliches Wachstumund Wechsellagen 1800–1914, in:Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts-und Sozialge- schichte, Bd. 2:Das 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976, S. 209;zur Kritik am Begriff der ,Großen Depression‘von Seiten der wirtschaftshistorischen Forschung siehe Hans-Werner Hahn,Die Industrielle Revolution in Deutschland (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 49), München 2005, S. 94f.;eswar gar vom „Mythos der Großen Depression“die Rede, vgl. Samuel B. Saul, The Myth of the Great Depression, 1873–1896 (Studies in Economic and Social History), Houndmills 21985;siehe auch Mathias Schmoeckel, ,Gründerkrise‘ und ,GroßeDepression‘. Zur notwendigen Revisioneiner Geschichtsdeutung, in:Zeitschriftder Savigny-Stiftung fürRechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 132 (2015), S. 251–322. 74 HansRosenberg,GroßeDepression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa (Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung,2), Berlin 1967; ReinhardRürup: Kontinuitätund Diskontinuitätder Judenfrage im 19. Jahrhundert. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus,in: Hans-UlrichWehler (Hg.), Sozialgeschichte heute. Festschrift fürHansRosenberg zum 70. Geburtstag (Kritische Studien zur Ge- schichtswissenschaft, 11), Göttingen 1974, S. 388–415;Werner Jochmann, Struktur und Funktion des deutschen Antisemitismus1878–1914, in:Werner E. Mosse/Arnold Paucker (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, 33), Tübingen 1976, S. 389–477. Zur neueren Aus- einandersetzung dazu siehe Albrecht,Preußen, ein „Judenstaat“ (wie Anm. 72). 75 Siehe dazu auch die Beobachtung vonTim Buchen, Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um 1900 (Studien zum Anti- semitismus in Europa, 3), Berlin 2012, S. 53f.

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Ausdruck brachten. Die Machtdieser Wortebestand darin, dass sie Menschen begeistern und die Emotionen ganzer sozialer Gruppen anregen konnten. Wie Richard Koebner in seiner Studie überSemantikund Geschichtsschreibung festgehalten hat, erzeugten diejenigen Ismus-Wörter „den größten Gefühls- schwall“, die sichauf politische Konflikte beziehen. „So hat in der Tatdie Nachsilbe-ismus eine führende Stellung in der Gestaltung politische Schlag- worte eingenommen“.76 Antisemitismus ist somit ein soziales Phänomen, das vonkonkreten Akteuren getragen war,und in spezifischen Situationen und bestimmten Konstellationen zum Ausdruck kam. Es trat zudem in verschiedenen Erscheinungsformen auf, wobei fürdie Zeit, in der sich der Antisemitismus herausgebildet hat, phäno- menologisch sechs Formen unterschieden werden können.

1. Antisemitismus als öffentlicheSprache

Der im Herbst 1879 geprägteBegriff Antisemitismus bündelte, um Reinhart Kosellecks Bestimmung aufzugreifen, „die Vielfalt geschichtlicher Erfahrung und eine Fülle vonSachbezügen in einen Zusammenhang,der als solcher nur durch den Begriff gegeben ist und wirklich erfahren wird“.77 Der Terminus ging in den folgenden Jahren in den allgemeinen Sprachgebrauch ein und verbreitete sich sehr rasch in allen europäischen Sprachen.78 Das Vokabular des Antisemi- tismus erstreckte sich semantisch aufzentrale gesellschaftliche Felder,wobei jeweils spezifischeWortverknüpfungen oder syntaktische Relationen zu beob- achten sind:dem Bereich der Wirtschaftetwa, in dem der Vorwurfdes Wuchers

76 Siehe dazu den nach wievor anregenden und instruktiven frühen Aufsatzvon Richard Koebner,Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung [1953],in: Derselbe, Ge- schichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende. Vorträge und Schriften ausdem Nachlaß (Schriftenreihe des Instituts fürDeutsche Geschichte, UniversitätTel Aviv,11), Gerlingen 1990, S. 260–274, hier S. 263. 77 ReinhartKoselleck, Richtlinienfürdas Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, in: Archiv fürBegriffsgeschichte 11 (1967), S. 81–99, hier S. 86f. 78 Siehe dazu Ulrich Wyrwa, Die Internationalen Antijüdischen Kongresse (wie Anm. 43);s.a. Marija Vulesica, Die Formierung des politischen Antisemitismus in den Kronländern Kroatien und Slawonien 1879–1906 (Studien zum Antisemitismus in Europa, 2), Berlin 2012, S. 83–85;Christoph Leiska,Das Geschrei des „Herrn vonGermanenstolz“: Dänisch-jüdische Intellektuelle und der moderne Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, in:Ulrich Wyrwa (Hg.), Einspruch und Abwehr.Die Reaktion des europäischen Judentums aufdie Entstehung des Antisemitismus(1879–1914) (Jahrbuchzur Geschichte und Wirkung des Holocaust 2010), Frankfurta.M./New Yo rk 2010, S. 114–130;Maciej Mosz´ynski, „A quarter of acentury of struggle“ of the Rola Weekly.„The greatalliance“against the Jews, in Quest. Issues in ContemporaryJewish History. Journal of FondazioneCDEC, 03.07.2012, URL: (zuletzt aufgerufen am 24.05.2018).

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 30 Ulrich Wyrwa und die Begriffe des Börsen- oder Warenhausjuden im Vordergrund standen, oder dem Felddes Sozialen,jenem Bereich, in dem die zentralen semantischen Neuerungen in der Sprache der Judenfeindschaftzubeobachten sind, insbe- sonderedas vonOtto GlagaugeprägteSchlagwort, „Die soziale Frage ist Ju- denfrage“79,das fortan einen zentralen Platzinder antisemitischen Rhetorik einnahm. Im Bereich Öffentlichkeit und Politik standen zunächst die Presse und der Journalismus im Vordergrund, bezeichnendeWortverknüpfungen waren etwa die zusammengesetzten Substantive Pressejuden oder Judenpresse. Der antisemitische Kern dieser Wortschöpfungen lag nichtdarin, dass zahlreiche Juden aufgrund der traditionellen und vielfach noch immer nichtaufgehobenen Berufsbeschränkungen allein aufdie freien Berufe angewiesenund damit tat- sächlich in relativ hoher Zahl als Journalisten etwa tätigwaren, sondern darin, dass Antisemiten unterstellten, Juden würden in ihrer Tätigkeit allein jüdische Interessenvertreten und diese zum Ausbauihrer Machtnutzen. Nebendem Journalismusstelltedie antisemitische Rhetorik eine enge semantische Ver- bindung mit dem Liberalismusher,die in verschiedenen Wortbildungen, in denen der Terminus Liberalismus semantisch mit dem Wort Jude verbunden wurde, zum Ausdruck kam.

2. Antisemitismus als politischeBewegung

Bezeichnenderweise tauchte der Neologismus erstmals im Namen der 1879 ge- gründeten Antisemitenliga auf, und so hatte sich der Antisemitismus seit seinem ersten Auftreten als politische Bewegung formiert.80 Der historische Kontext ihrer Gründung war genaudie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einset- zende Massenpolitisierung der europäischen Gesellschaften.81 Aufdie Grün- dungsphase des politischen Antisemitismus seit 1879, in der sich in Deutschland und Ungarndie ersten antisemitischen Parteien formierten, folgte eine bis zur Mitte der 1890er Jahrereichende Phase, in der auch in anderen europäischen Ländernantisemitische Parteien auftraten, so etwa in Frankreich die 1889 von

79 Glagau, Der Bankerottdes Nationalliberalismus (wie Anm. 53), S. 71. 80 Moshe Zimmermann, Wilhelm Marr.The Patriarch of Antisemitism (Studies in Jewish Hi- story), NewYork/Oxford1986;Derselbe, Aufkommen und Diskreditierung des Begriffs ,Antisemitismus‘, in:Derselbe, Deutsch-jüdische Vergangenheit. Der Judenhaß als Her- ausforderung, Paderborn2005, S. 25–39. 81 Diesen ZusammenhangbetonenauchRobertNemes undDanielUnowsky im Titel ihres SammelbandesSites of European Antisemitism in theAge of Mass Politics1880–1918 (The Tauber InstituteSeriesfor theStudy of European Jewry), Waltham(Mass.) 2014;Werner Bergmann/Ulrich Wyrwa, Introduction,in: Dieselben:MakingofAntisemitism(wie Anm. 66). URL: (zuletztaufgerufenam 24.05.2018).

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EdouardDrumontbegründete Ligue Nationale AntisØmitique de France.82 NebenFrankreich formierten sich vor allem in Rumänien antisemitische Par- teien, so die Liga pentruUnitatea Culturalaˇ atuturor Românilor,die Liga für kulturelle Einheit aller Rumänen, von1890 sowiedie Aliant¸ aUniversalaˇ Anti- semitaˇ von1895.83 Vonder Mitte der 1890er-Jahre bis 1914 zeigtsich ein widersprüchliches Bild. Während fürDeutschland in dieser Zeit ein Niedergang des politischen Anti- semitismuskonstatiertwerden kann, trat nun, ausgehend von Österreich, der Aufstieg des christlich-sozialen Antisemitismus in katholischen Ländernein.84 Zugleich formierten sich im Kontext eines neuen integralen Nationalismus weitere antisemitische Organisationen, etwa die 1899 vonCharles Maurras ge- gründete Action FranÅaise.85 Zusammenfassend ist hervorzuheben, dass der Antisemitismus als politische Bewegung keine einheitliche Entwicklung darstellte,erbot vielmehr das Bild von internen Kämpfenund Konflikten, wiesie etwa aufden nationalen und inter- nationalen Kongressen vonAntisemiten ausgetragen wurden.86 So standen sich konservative und anti-konservative,aristokratische und populistische, christ-

82 GrØgoireKauffmann, Edouard Drumont, Paris2008. 83 Carol Iancu,Jews in 1866–1919. From ExclusiontoEmancipation(East European Monographs, 449), NewYork 1996, S. 138–150:Dazu demnächst auch Iulia Onac,„In der rumänischen Antisemiten-Citadelle“. Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Rumänien 1878–1914 (Studien zum Antisemitismus in Europa, 13), Berlin 2017. 84 Peter Pulzer,Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich (1867–1914), Gütersloh [1964].Neuausgabemit einem Forschungsberichtdes Autors, Göttingen 2004;Bruce F. Pauley,Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus.Von der Ausgrenzung zur Auslöschung,Wien 1993;zur Entwicklung des christlich-sozialen Antisemitismusinanderen Teilen der Habsburgmonarchie siehe Marsha L. Rozenblit, Die sozialen Grundlagen des Antisemitismusinder Habsburgermonarchie 1848–1918,in: Hel- mut Rumpler/Peter Urbanitsch(Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX:So- ziale Strukturen:Von der feudal-agragrischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft, Teilb.1/2, Wien 2010, S. 1369–1481;FürKroatien-Slawonien siehe Vulesica, Die Formierung des politischen Antisemitismus Kroatien und Slawonien (wie Anm. 78), S. 274–289;das slowakische Oberungarn:MiloslavSzabó,„VonWortenzuTaten“. Die slowakische Natio- nalbewegung und der Antisemitismus 1875–1922 (Studien zum Antisemitismus in Europa, 6), Berlin 2014,105–128;FürUngarn:Rolf Fischer,Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn1867–1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Symbiose (Südosteuro- päische Arbeiten, 85), München 1988, S. 95–116. 85 LaurentJoly,Naissance de l’Action franÅaise. MauriceBarr›s, Charles Maurras et l’extrÞme droite nationaliste au tournantduXXesi›cle, Paris2015. 86 Zu den nationalen Antisemitenkongressensiehe Werner Bergmann, Antisemitentage, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, Berlin/Boston2011, S. 9–11;zuden internationalen Kongressen:Ulrich Wyrwa, Die Internationalen Antijüdischen Kongresse (wie Anm. 43);s.a.Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahredes Antisemitismus:Von der Bismarckzeit zu Hitler (Das Abendland,N.F., 32), Frankfurt a. M. 2003, S. 254–263.

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3. Antisemitismus als kulturelle Haltung

Wieesder zeitgenössische Beobachter Friedrich Naumann formulierthat,kam der Antisemitismus zugleich als Gesellschaftsstimmung zum Ausdruck.87 Auf dieser Ebene ist die Artikulationantisemitischer Einstellungen und Haltungen oft nurlatentund diffus, häufig auch zwiespältig und widersprüchlich. In kon- servativen politischen Milieus fungierte der Antisemitismuszudem, wie Shulamit Volkov herausgearbeitet hat,als kultureller Code, mit dessen Hilfe die Angehörigen dieses politischen Lagers ihre Zusammengehörigkeit signalisier- ten.88 In den verschiedenen soziokulturellen Milieus traten zudem unterschiedliche mentale Dispositionen zu Juden in Erscheinung,und am virulentesten waren die antisemitischen Ressentiments im Mittelstand.89 Ausschlaggebend hierfürwar, dass sich der Mittelstand in seinen moralischen Haltungen und kulturellen Werten in besonderer Weise vonder Durchsetzung der Marktgesellschafter- schüttertund bedrohtfühlte, und den Juden die Schuld daran zuschob.

87 Friedrich Naumann, Die Leidensgeschichte des deutschen Liberalismus (1908), in:Derselbe, Werke, Bd. 4: Schriften zum Parteiwesen und zum Mitteleuropaproblem,Köln/Opladen 1964, S. 291–316;auf diese treffende Beobachtung habe Nipperdey und Rüruphingewiesen: Thomas Nipperdey/ReinhardRürup,Antisemitismus,in: Otto Brunner/Werner Conze/ ReinhartKoselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe.Historisches Lexikon zur politisch- sozialen Sprache, Bd. 1, Stuttgart1972, S. 129–153, hier S. 149. 88 Shulamit Volkov,Antisemitismus als kultureller Code[1978],in: Dieselbe, Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, S. 13–36;siehe auch die Überlegungen Volkovs zur Aktualisierung dieses Konzepts:Dieselbe, Readjusting Cultural Codes:Reflections on Anti-Semitismand Anti-Zionism, in:The Journal of Israeli History25/1 (2006), S. 51–62. 89 Wiesehr antisemitische Akteureversuchten, den Mittelstand anzusprechen zeigt sich z.B. in der Rede des Reichstagsabgeordneten MaxLiebermann vonSonnenberg in der 82. Sitzung des deutschen Reichstags am 14. April1894. In:Stenografischen Berichte überdie Ver- handlungen des Reichstags. XI. Legislaturperiode, II. Session, Dritter Band,Berlin 1894, S. 2127–2130;auch als Sonderdruck erschienen:Max Liebermann vonSonnenberg,Rede überdie gemeinsamen Interessen des Mittelstandes, Leipzig 1894.

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4. Antisemitismus als soziale Praxis

Antisemitismus wurde ferner zu einem Phänomen des Alltagslebens und prägte die sozialenBeziehungen und die alltägliche Praxis.90 Im Unterschied zu den, dem Antisemitismusals Gesellschaftsstimmung zugrundeliegendenmentalen Dispositionen gehtesindieser Erscheinungsform um die realen Beziehungen vonJuden und Nichtjuden, dasalltägliche Verhalten in verschiedenen Lebens- bereichen. Im Fokus stehtdie Frage, inwiefernantisemitische Einstellungen in die praktische Bewältigung des Alltags und die alltäglichen Routinen eingehen. Die Felder des Alltags, in denen Juden und Nichtjuden sich begegneten, waren die Arbeitswelt und dasFreizeitleben, wobei hier vor allem das zivilgesell- schaftliche Engagementvon Interesse ist. Eher schwächer ausgeprägt war der Antisemitismus als soziale Praxis in der Arbeitswelt, die sozialen Beziehungen vonJuden und Nichtjuden waren in die- sem Bereich des Alltagslebens eher ausgeglichen.Invielen Branchen der Wirt- schaftwar die gegenseitige Anerkennung,das symbolische Kapital des Ver- trauens, geradezuVoraussetzung vongeschäftlichem Erfolg,und nichtjüdische Geschäftspartner vonJuden konnten nurerfolgreich wirtschaften, wenn sie auf eine vorurteilsfreie und unvoreingenommene Zusammenarbeit aufbauten.91 Anders sahen die Arbeitswelten in den Institutionen des Staates aus. Insbe- sondereanden Universitäten, im Justizdienst oder dem Militärwurde Juden in Teilen Europas der Zugang versperrt, so dass eine Begegnung vonJuden und Nichtjuden in diesem Bereich ausgeschlossen war.92 Im Bereich der Zivilgesellschaftwiederum zeigtsichein widersprüchliches Bild.93 Je nach sozialer Zusammensetzung,politischer Orientierung,zeitlichen

90 Zum Begriff der sozialen Praxis siehe Alf Lüdtke, Einleitung.Herrschaft als soziale Praxis, in: Derselbe(Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Stu- dien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fürGeschichte, 91), Göttingen 1991, S. 9–63. 91 Siehe z. B. fürdie Beziehungen vonjüdischen Viehhändlern und Bauern: Stefanie Fischer, Ökonomisches Vertrauen und antisemitische Gewalt. Jüdische Viehhändler in Mittelfranken 1919–1939 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, 42), Göttingen 2014. 92 Fürden preußischen Justizdienst siehe etwa:Barbara Strenge, Juden im preussischen Jus- tizdienst 1812–1918. Der Zugang zu den juristischen Berufen als Indikator der gesell- schaftlichen Emanzipation (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommissionzu Berlin, 81), München 1996. 93 Siehe dazu die stadtgeschichtlichen Studien zu Königsberg,Breslauund Krakau:Stefanie Schüler-Springorum, Die jüdische Minderheit in Könisberg/Preussen 1871–1945 (Schrif- tenreihe der Historischen Kommissionbei der BayerischenAkademie der Wissenschaften, 56), Göttingen 1996;Till vanRahden, Juden und andereBreslauer.Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt (1860–1925) (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 139), Göttingen 2000;Hanna Kozinska-Witt, Lokale Arenen der Aushandlungund der Kompromissschließung?Juden und Nicht-Juden im Krakauer Stadtparlament, in:Mathias Beer/Stefan Dyroff (Hg.), Politische Strategien na-

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Umständen und lokalen Besonderheiten traten erhebliche Unterschiede im Umgang vonJuden und anderen Bürgernhervor.Inweiten Teilen Europas lassen sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein vielfältige Formen gleichberechtigter Teilhabeamsozialen Lebender bürgerlichen Gesellschaften und städtischen Vereine beobachten. Mit dem allgemeinen Wandel des kultu- rellen Klimas wurden aber auch in den stadtbürgerlichen Vereinen antisemiti- sche Tendenzen stärker.

5. Antisemitismus als kirchliches Aktionsfeld

Auch wenn die Ursachen des AntisemitismusnichtinreligiösenKonflikten zu suchen sind, gehörten die Kirchen im 19. Jahrhundertdennoch zu entschei- denden Initiatoren des Antisemitismus.94 Die christlichenKirchen versuchten das im Prozess der Säkularisierung verlorene Terrain durch eine Politik der Rechristianisierung zurückzugewinnen und setztendabei bisweilen aufden Antisemitismus. In den Juden sahen sie nichtnur Profiteureder Säkularisierung, sondern auch deren entscheidende Protagonisten. Die christlichenKirchen beider Konfessionen haben vonsichaus an der Entstehung und Propagierung der neuen antisemitischen Sprache Anteil genommen. Katholiken und Protes- tanten waren nichtnur Mitläufer der antisemitischen Bewegung,sondern in wichtigen Aspekten sogar Vorläufer. Dem mehr oder weniger homogenen Katholizismusmit seinem Zentrumin Romstand ein gespaltenes protestantisches Lager gegenüber, in dem konser- vative und liberale Orientierungen im Konflikt lagen. Während der konservative

tionaler Minderheiteninder Zwischenkriegszeit (Buchreihe der KommissionfürGeschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa, 42), München 2013, S. 109–133. 94 Olaf Blaschke, Katholizismus und AntisemitismusimDeutschen Kaiserreich(Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 122), Göttingen 1997;David I. Kertzer,Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus, Berlin/München 2001;Wolfgang E. Heinrichs, Das Judenbild im Protestantismusdes deutschen Kaiserreichs. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne (Schriftenreihe des VereinsfürRheinische Kirchengeschichte, 145), Köln 2000;Olaf Blaschke/Aram Mattioli (Hg.), Katholischer Antisemitismusim19. Jahrhundert. Ursachen und Traditionen im internationalen Vergleich, Zürich2000;Vulesica, Die Formierung des politischen Antisemitismus Kroatien und Slawonien (wie Anm. 78), S. 274–289;Piotr Kendziorek, Aufder Suche nach einer nationalen Identität: PolnischeDebatten um die Judenfrage, in:Andreas Reinke/Katerˇina Cˇapkovµ/Michal Frankl/PiotrKendziorek/Ferenc Laczó,Die „Judenfrage“ in Ostmitteleuropa. Historische Pfade und politisch-soziale Kon- stellationen (Studien zum Antisemitismus in Europa, 8), Berlin 2015, S. 249–387, hier S. 328–335; Ferenc Laczó,Assimilation und Nation: Das „jüdische Thema“ in Ungarn. Eine interpretierendeGeschichte des langen 19. Jahrhunderts, in:Ibidem, S. 55–182,hier S. 141– 150.

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Flügel nachdrücklich antisemitische Positionen vertrat und vonihm folgen- schwere Impulse fürdie Herausbildung des Antisemitismusausgingen, stieß der Antisemitismus im liberalen Flügel eher aufUnverständnis und Ablehnung. Aufdem kirchlichen Aktionsfeld zeigte sich der Antisemitismus vor allem in den kirchengebundenen Zeitungen, und deren Sprache hat im Verlauf des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts die religiösen Motive der überlieferten christlich- religiösen Judenfeindschaftnach und nach hinter sich gelassen. Sowohl in protestantischen als auch in katholischenMedien dieser Zeitperiode lässt sich die allmähliche Verfertigung der Sprache des Antisemitismus beobachten, wobei die kirchlicheAgitation vor allem aufdie Rolle der Juden in der veränderten Welt zielte.95 Die orthodoxen Kirchen hingegen entwickelten keine eigenständige antise- mitische Rhetorik,96 und die Kirche in Russland spielte beider Herausbildung des russischen Antisemitismus und der antisemitischen Gewalt keine Rolle.97 Auch wenn in Rumänien zahlreiche orthodoxeGeistlicheinder antisemitischen Bewegung aktiv waren, oder in Bulgarien der Erzbischof vonPlovdivetwa eine antisemitische Zeitschriftherausgab und beidem Pogrom in Kjustendil 1901 aktiv war,nahmen die orthodoxen Kirchen als Institution auch in diesen Län- dernkeinen Anteil an der Formierung des Antisemitismus.98

6. Antisemitismus als physischeGewalt

Wenn eingangs die entscheidende Bedeutung des Jahres 1879 fürdie Heraus- bildung des Antisemitismushervorgehoben wurde, so muss fürAntisemitismus als physische und kollektiveGewalt festgehalten werden,99 dass nichtdas Jahr

95 Zur Entstehung der Sprache des Antisemitismus in kirchlichen Zeitungen vonBreslauund Venedig siehe Wyrwa, GesellschaftlicheKonfliktfelder (wie Anm. 38), S. 243–357. 96 John Anthony McGuckin(Hg.), The Encyclopedia of EasternOrthodox Christianity,Malden (Mass.) 2011, Bd. 1, S. 355;Paschalis M. Kitromilides, The Legacy of the French Revolution: Orthodoxyand Nationalism, in:Michael Angold (Hg.), EasternChristianity(The Cambridge HistoryofChristianity,5), Cambridge 2006, S. 229–249. 97 John D. Klier,Russians, Jews, and the Pogroms of 1881–1882, Cambridge 2011, S. 68. 98 FürRumänien demnächst Onac, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Rumä- nien 1878–1914 (wie Anm. 83);zur Rolle der orthodoxen Kirche fürden rumänischen Staat siehe Dietmar Müller,Staatsbürger aufWiderruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte 1878–1941 (Balkanologische Veröffentlichungen,41), Wiesbaden 2005, S. 286–296; für Bulgarien siehe Veselina Kulenska, Antisemitismus in Bulgarien am Ende des 19. Jahrhun- derts, Diss. Berlin 2017;Buch erscheintdemnächst;zur generellen Entwicklungder bulga- rischen orthodoxen Kirche siehe Kitromilides, The Legacy of the French Revolution:Or- thodoxyand Nationalism (wie Anm. 96), S. 240–244. 99 Generell zum Thema antijüdische Gewalt siehe ChristhardHoffmann/Werner Bergmann/

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 36 Ulrich Wyrwa

1879 die wichtigste Zäsur bildet, sondern das Jahr 1819, jenes Jahr in dem nach einer langen Phase, in der die Beziehungen vonJuden und Nichtjuden in Europa eher ausgeglichen und konfliktfrei waren, eine neue Form vonGewalt gegen Juden ausgebrochen ist.100 In jenem Jahr tauchte erstmals in Würzburg die neue antisemitische Parole „Hep-Hep“ auf, und die Unruhen, die unter diesem Schlachtrufgeführtwurden, breiteten sich in nur wenigen Wochen in weiten Teilen Süddeutschlands ausund griffen bis nach Oberungarnund Dänemark über. Auslöserdieser in kollektiver physischer Gewaltgegen Juden eskalierenden Protestwelle war immer wieder die Frage der Aufnahme vonJuden in die städ- tischen Bürgerschaften. Zu Beginn der Revolutionvon 1848 kamesnocheinmalzugewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden, die sich vorallem im Kontext der sozialen Pro- teste zeigten.101 Nachdem sichdiese Wellen der Gewaltgelegthatten, brachen im Zentraleuropa der 1880er-Jahreneue Akte vonGewalt gegenJuden aus; zumeist eine unmittelbare Folge des Auftretens vonantisemitischen Aktivisten. Weitaus grausamereFolgen hatte jedoch die Welle vonGewalt gegen Juden in Russland, die im Jahr 1881 nach der Ermordung des Zaren Alexander II. aus- brach.102 Mit diesen ging zudem der Begriff Pogrom in alle europäischen Spra- chen ein. Wenig später kamesdann auch im Habsburgischen Galizien zu ge- walttätigen Ausschreitungen gegen Juden,103 während Juden in Rumänien schon zuvor immer wieder Opfer vonkollektiver Gewalt geworden waren.104 Eine neue Qualitäterreichte die physische Gewalt gegenJuden mit dem Po- grom im bessarabischen Kischinew 1903 und den antisemitischen Ausschrei- tungen im Zuge der russischen Revolution von1905.105 Noch in den 1880er-

Helmut Walser Smith (Hg.), ExclusionaryViolence. Antisemitic Riots in ModernGerman History, Ann Arbor 2002. 100 Stefan Rohrbacher,GewaltimBiedermeier.Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815–1848/49) (Schriftenreihe des Zentrums fürAntisemitismusforschung Berlin, 1), Frankfurta.M./New Yo rk 1993;Jacob Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres 1819 (Zentrum fürAntisemitismusforschung:Reihe Dokumente, Texte, Materialien, 8), Berlin 1994. 101 ReinhardRürup, Der Fortschrittund seine Grenzen.Die Revolution von1848 und die europäischen Juden, in:Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.), Europa1848. Revolution und Reform(Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, 48), Bonn 1998,S.985–1005. 102 Klier,Russians, Jews, and the Pogromsof1881–1882 (wie Anm. 97);John D. Klier/Shlomo Lambroza (Hg.), Pogroms: Anti-Jewish Violence in ModernRussian History, Cambridge 1992. 103 Buchen, Antisemitismus in Galizien (wie Anm. 75). 104 Iulia Onac, The Brusturoasa Uprising in Romania,in: Robert Nemes/Daniel Unowsky, (Hg.), Sites of European Antisemitism in the AgeofMass Politics,1880–1918 (Tauber Institute Series for the StudyofEuropean Jewry), Waltham (Mass.) 2014, S. 79–93. 105 Edward H. Judge, OsterninKischinjow. Anatomie eines Pogroms (Jüdische Studien, 3),

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Zur Entstehung des Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts 37

Jahren beschränkten sichdie Ausschreitungen gegen Juden eher aufsymbolische Gewalt oder die Zerstörung vonEigentum vonJuden. Mord war in dieser Phase eher ein Sprechakt als seine reale Tötungsabsicht. Dies änderte sich im Jahr 1903: die Akte vonantisemitischer Gewaltwurden nun zu einer tödlichen Gefahr für die Juden.106

Neuer Antisemitismus –Alter Antisemitismus– Moderner Antisemitismus?

Nach diesem Überblick überdie sechs unterschiedlichen Erscheinungsformen des AntisemitismusimZeitalter seiner Entstehung ist abschließend aufdie ak- tuelle Begriffsverwirrungzurückzukommen sowieauf die Frage, wiedie ge- genwärtigen Erscheinungsformen des Antisemitismus begrifflich zu fassen sind und ob heute, im 21. Jahrhundert, voneinem ,neuen‘ Antisemitismus gespro- chen werden kann. Die grundlegenden semantischen Elemente und Wortbildungender Sprache des aktuellen Antisemitismus stammen noch immer ausdem 19. Jahrhundert. Im frühen 20. Jahrhundertkamen weitere Motive hinzu und bereits eingeführte wurden verstärkt. So verbreitete sich etwa das Motivder jüdischen Weltver- schwörung vor allem mit dem Ersten Weltkrieg und der damit einsetzenden Phase der Radikalisierung des Antisemitismus,107 bis dann mit der Russischen Revolutiondas neue Motivdes jüdischen Bolschewismus hinzukam.108 Im An- tisemitismus nach Auschwitz wiederum trat –zumal in Deutschland –das Motiv der Schuldabwehr auf.109 Im Kontext des Nahostkonflikts und vor allem nach dem Sechstagekrieg von1967 nahm die Sprache des Antisemitismus antizio-

Mainz 1995;Shlomo Lambroza, The Pogromsof1903–1906,in: Klier/Lambroza (Hg.), Pogroms:Anti-Jewish Violence in ModernRussian History(wieAnm. 102), S. 195–247. 106 Siehe dazu Helmut Walser Smith, Fluchtpunkt 1941. Kontinuitäten der deutschen Ge- schichte, Stuttgart2010, S. 132–188. 107 Werner Bergmann/UlrichWyrwa, Der Erste Weltkrieg und die Konflikte der europäischen Nachkriegsordnung (1914–1923) oder die Radikalisierung des Antisemitismus in Europa. Ein Forschungskolleg in:Portal Militärgeschichte, 14.04.2014, URL: (zuletzt aufgerufen am 24.05. 2018). 108 Joachim Schröder,Der Erste Weltkrieg und der „jüdische Bolschewismus“, in:Gerd Krumeich (Hg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, 24), Essen 2010,S.77–96;Ulrich Herbeck, Das Feindbild vom „Jüdischen Bolschewiken“. Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Rus- sischen Revolution, Berlin 2009. 109 Theodor W. Adorno,Schuld und Abwehr [1955],in:Derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 9: Soziologische Schriften II, Frankfurta.M.1997, S. 121–324;Derselbe,Zur Bekämpfungdes Antisemitismus heute [1962],in: Derselbe, Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurta.M.1971, S. 105–133.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 38 Ulrich Wyrwa nistische, gegen den Staat Israel gerichtete Züge an.110 Mit der iranischen Re- volution des Jahres 1979 setzte antisemitisch ausgerichtete Politisierung des Islam ein, die zu einer globalen Bewegung wurde,111 bis der Antisemitismus nach dem 11. September 2001 schließlich zum Momenteiner die gesamte westliche Zivilisation bedrohenden Gefahr wurde.112 Nebender antizionistischen Rhetorik und der Verdammung des Staates Is- rael, wirkungsmächtige Motive des antisemitischen Vokabulars der Gegenwart, bestehtder Grundwortschatz der aktuellen Sprache des Antisemitismus aber noch immer ausden Vokabeln, Chiffren und Bildern, die im 19. Jahrhundert gelegtworden sind. So findet sich in der aktuellen Situation das Motivdes reichen Juden und des jüdischen Wuchers ebenso wiedas der jüdischen Welt- verschwörung oder der Machtder Juden.113 In gleicherWeise bedientsich die Sprache des gegenwärtigen Antisemitismus der mit dem Börsen- und Bankwe- sen oder dem Journalismus verknüpften antisemitischen Motive. Der Antisemitismusdes 21. Jahrhunderts ist nichtneu, neu aber ist der Kontext. Gewandelt haben sich die Bezugspunkte, und es treten neue Akteure auf. Die Kritik der Gegenwartbedarfder Kritik der Vergangenheit;wer das vermeintlich Neue des Antisemitismus erkennen will, muss dem alten, id est dem sogenannten modernen Antisemitismus, nachgehen, das heißt, er muss den Blick aufdas 19. Jahrhundertrichten.

110 Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989 (Schriftenreihe des Zentrums fürAnti- semitismusforschung Berlin, 4), Frankfurta.M./New Yo rk 1997, S. 302–303; Volker Weiß, „Volksklassenkampf“ –Die antizionistische Rezeption des Nahostkonflikts in der mili- tanten Linken der BRD,in: TelAviverJahrbuch fürdeutsche Geschichte 33 (2005), S. 214–238; Lothar Mertens, Antizionismus:Feindschaftgegen Israel als neue Form des Antisemitismus,in: Wolfgang Benz (Hg.), Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils, München 1995, S. 89–100. Zu den innenpolitischen FolgeninIsrael siehe Michael Brenner,Israel. Traumund Wirklichkeit des jüdischen Staates. VonTheodor Herzl bis heute, München 2016, S. 162–174. 111 Henner Fürtig,Die Bedeutung der iranischen Revolution von1979 als Ausgangspunkt für eine antijüdisch orientierte Islamisierung, in:Jahrbuch fürAntisemitismusforschung 12 (2003), S. 73–98. 112 Manfred Berg,Der 11. September 2001 –eine historische Zäsur?In: ZeithistorischeFor- schungen/Studies in ContemporaryHistory, Online-Ausgabe, 8/3 (2011), S. 463–474, URL: (zuletzt abgerufen am 24.05.2018);Fürdie Entwicklung in Israel siehe Moshe Zimmermann, Die Angstvor dem Frieden. Das israelische Dilemma, Berlin 2010, S. 37–47. 113 Wesentliche Motive der Sprache des Antisemitismussind porträtiertinJulius H. Schoeps/ Joachim Schlör(Hg.), Antisemitismus.Vorurteile und Mythen, München 1995.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Antisemitismus, Ökonomie und Gesellschaft / Anti-Semitism,Economy, and Society

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Der ,jüdische Kapitalist‘. Anmerkungen zu Ursprung und Entwicklung eines antisemitischen Stereotyps im Frankreich der 1840er-Jahre

Am 15. Oktober1898 erschien in der dem Lager der Anti-Dreyfusards zuzu- rechnenden französischen Satirezeitschrift Psst…! eine antisemitische Karikatur des Zeichners Emmanuel PoirØ alias Caran d’Ache, die einen französischen Bauerninden Mittelpunkt stellt und den Unterschied zwischen dem vorrevo- lutionärenund dem industrialisierten Frankreich des ausgehenden 19. Jahr- hunderts thematisieren will. Unter der Überschrift„Pourquoi l’on afait 1789“ muss ein pflügender Bauer im oberen Bildteil („Avant“), der das Ancien RØgime darstellt, einen Adeligen tragen. Im unteren Bildteil („Aujourd’hui“) trägt der- selbeBauer einen Offizier, einen Intellektuellen und in oberster Position einen stark übergewichtigen und Zigarre rauchenden Börsenspekulanten mit einer deutlich vorspringenden Hakennase.1 Dieses bereits voll ausgebildete Stereotypverweist aufdie konstitutiveRolle, die Entwicklungen im 19. Jahrhundertfürdie Entstehung einer bis in die Ge- genwartfortwirkenden „Dialektik ausAntikapitalismus und Antisemitismus“2 haben sollten. Im 19. Jahrhundertentwickelte sich in unterschiedlichen Phasen in Europadas moderne kapitalistische Wirtschaftssystem heraus, das zu fun- damentalen Umwälzungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Struk- turen in den einzelnen Ländernführte. Gleichzeitig war das 19. Jahrhundertdas Zeitalter,indem die meisten europäischen Staaten ihrer jüdischen Bevölkerung sukzessivedie bürgerliche Gleichstellung gewährten, wobei Frankreich diesen Schritt bereits im Jahr 1791 vollzogen hatte und damit eine Pionierrolle in Eu- ropa einnahm.3 Die Emanzipation der Juden und ihr zunehmender wirtschaft-

1Psst…!, Nr.37vom 15.10.1898. 2Zur engenVerbindungvon Antikapitalismusund Antisemitismus vgl. George Lichtheim, Socialism and the Jews, in:Dissent, Juli/August 1968, S. 314–342, hier S. 315 und JerryZ. Muller,Capitalism and the Jews Revisited, in:Bulletin of the German Historical Institute 58 (2016), S. 9–23, hier S. 17;Vgl.außerdem MarcCrapez, Le socialisme moins la gauche. An- ticapitalisme, antisØmitisme, national-populisme, in:Mots 55 (1998), S. 74–94. 3Zur Emanzipation in Frankreich vgl. die ausführliche Studie vonDaniel Gerson zum Elsass, in der er auch aufden älteren Wuchervorwurfeingeht, der ab den 1840er-Jahren zunehmend vom

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 42 Oliver Schulz licher und gesellschaftlicher Aufstieg gingen einher mit den Auswirkungen der industriellen Revolution und des entstehenden Kapitalismus mit allen seinen sozioökonomischen Verwerfungen. Ein Teil der aufkommenden Kapitalismus- kritik richtete sich gegen Juden, die als alleinige Nutznießer dieser Entwick- lungen angesehen wurden.4 Die Kritik an Banken, Börsen und Spekulation bil- dete während des 19. Jahrhunderts ein festes Stereotyp des „jüdischen Kapita- listen“ heraus, das eine transnationale Dimension aufwies und sich insbesondere im Feindbild ,Rothschild‘ verdichtete. Zugleich handelt es sich beider Asso- ziation vonKapitalismus und Judentum um ein sich bis heute hartnäckig hal- tendes Feindbild mit weitreichenden Überlappungen zwischen dem linken und dem rechten politischen Lager.5 Die ungebrochene Faszination,die beispiels- weise die Chiffre,Rothschild‘ auch heute noch in antisemitischen Milieus aus- übt, zeugtebenso vonder Virulenz und Aktualitätdieser Vorstellungen wiedie Betonung der jüdischen Herkunftvon Führungskräften wichtiger Bankhäuser und Finanzinstitutionen sowieeine häufig antisemitisch konnotierte Globali- sierungskritik rechter und linker Provenienz.6 In der Personalisierung der Ka-

Stereotyp des jüdischen Bankiers ausParis abgelöst wurde:Daniel Gerson,Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass 1778 bis 1848 (Antisemitismus: Geschichte und Strukturen, 1), Essen 2006. Zum Wuchervorwurfimantisemitischen Diskurs im Elsass vgl. MichaelBurns, Emancipation and Reaction. The Rural Exodus of AlsatianJews, 1791–1848, in:Jehuda Reinharz (Hg.), Living With Antisemitism. ModernJewish responses, Hanover/London1987, S. 19–41, hier S. 25. 4Die Ablehnung der Judenemanzipation bediente sich in ihrer Argumentation häufig ökono- mischer Argumente. Im frühen 19. Jahrhundertwirdhier der allmähliche Übergang vom älteren Wuchervorwurfhin zum neuen Stereotypdes ,jüdischen Kapitalisten‘ deutlich. Er- kennbar war dies unter anderem im Rheinland, in dem in französischer Zeit ebenfalls das 1808 in Kraft getretene„Decret infâme“ gegolten hatte. Vgl. Eleonore Sterling, Der Kampf um die Emanzipation der Juden im Rheinland, in:KonradSchilling(Hg.), Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein, Ausstellungskatalog Kölnischen Stadtmuseum, 15. Oktober 1963 bis 15. Februar 1964, Köln 1963, S. 282–308, hierS.294. 5Zum Phänomen der Überlappungantisemitischer Stereotype vgl. unter anderem Jacques Picard, „Antisemitismus“ erforschen? ÜberBegriff und Funktion der Judenfeindschaft und die Problematik ihrer Erforschung, in:SchweizerischeZeitschrift fürGeschichte 47 (1997), S. 580–607, hier S. 586;vgl.außerdemJerry Z. Muller,Capitalism and the Jews, Princeton NJ 2010.Zur Assoziation vonKapitalismusmit dem Judentum im 19. Jahrhundertvgl.David Nirenberg, Anti-Judaism. The WesternTradition, NewYork/London 2013, S. 430–439. Zur frühen Stereotypenbildung am englischen Beispiel vgl. Frank Felsenstein, Anti-Semitic Ste- reotypes. AParadigmofOtherness in EnglishPopular Culture, 1660–1830 (Johns Hopkins Jewish Studies), Baltimore/London1995. 6Die Langlebigkeit dieser Stereotypehat Pierre Birnbaum am französischen Beispiel heraus- gearbeitet. Vgl.Pierre Birnbaum, Gen›se du populisme. Le peuple et les gros, Neuaufl. Paris 2010 [Paris 11979].ZuRothschild und zum Stereotyp des ,jüdischen Bankiers‘ vgl. außerdem Louis Bergeron, Der Mythos vom Bankier in Frankreich und seine Entwicklungim19. und 20. Jahrhundert, in:Georg Heuberger (Hg.), Die Rothschilds. Beiträge zur Geschichte einer europäischen Familie,Sigmaringen/Frankfurta.M.1994, S. 301–310 und Fritz Backhaus, Die Rothschilds und das Geld:Bilder und Legenden, in:Johannes Heil, BerndWacker (Hg.),

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der ,jüdische Kapitalist‘ 43 pitalismuskritik, die sich an einzelnen Personen jüdischer Herkunftwie bei- spielsweiseRothschild festmacht, zeigtsich zudem der Versuch,abstrakte und komplexeVerhältnisse herunterzubrechen und an Individuen festzumachen.7 Der vorliegende Beitrag setzt hier an und beschäftigtsich mit der Entwicklung in Frankreich in den 1840er-Jahren, die in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielte und die zudem die Bedeutung vonTeilen des linken politischen Spektrums fürdie Herausbildung des ,modernen‘ Antisemitismus aufzeigen kann.8 Konzentrieren wird er sich nichtzuletzt ausPlatzgründen aufden Jour- nalisten Alphonse Toussenel (1803–1885), der im Jahr 1845 mit dem Buch Les Juifs, rois de l’Øpoque. Histoire de la fØodalitØ financi›re einen Schlüsseltext an- tisemitischer Kapitalismuskritik veröffentlichte.9 Die Idee eines „Finanzfeuda- lismus“ oder eines neuen „Despotismus“, verkörpertunter anderem durch die Familie Rothschild, blieb nichtauf Toussenel beschränkt. So veröffentlichte der französischeSozialist Pierre Leroux (1797–1871) nur ein Jahr nachToussenel in der RevueSociale einen Artikelunter demselben Titel, in dem dessen Ideen aufgegriffen und wiederholt wurden.10 Undschließlich verdienen auch Veröf- fentlichungen außerhalb des frühsozialistischen Zirkels Beachtung,wie bei- spielsweisedie Pamphlete vonGeorges Mathieu-Dairnvæll (1818?–1854), der

Shylock?Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und christlicher Tradition,München 1997, S. 147–170. Zu den Rothschilds und ihren Aktivitäten als „neuer Form des Despotismus“ vgl. Julie Kalman,Rethinking Antisemitism in Nineteenth-CenturyFrance, Cambridge 2010, S. 128–154. 7Vgl.hierzu den leider sehr kurzen Beitrag vonSamuel Salzborn, Die Angst vor dem Ab- strakten. Antisemitismus und Antikapitalismus, in:derselbe, Antisemitismus.Geschichte, Theorie, Empirie (Interdisziplinäre Antisemitismusforschung,1), Baden-Baden 2014, S. 116–117. 8Die Erforschung des linken Antisemitismusist keineswegs neu, müsste aberintensiviert werden. Vgl.amBeispiel Frankreichs Michel Dreyfus, L’antisØmitisme à gauche. Histoire d’un paradoxe,de1830 à nos jours, Paris 22011;Michel Winock, La gauche et les Juifs, in: derselbe, Nationalisme, antisØmitisme et fascisme en France(Points. Histoire, 131), Neuaufl. Paris2004, S. 153–182 ;Catherine Fhima, La gauche et les Juifs, in:Jean-Jacques Becker/ Gilles Candar(Hg.), Histoire des gauches en France.Bd. 1: L’hØritage du XIXe si›cle, Paris 2004, S. 379–403. Vgl.außerdemfürDeutschland stellvertretend Lars Fischer,The Socialist Response to Antisemitism in Imperial Germany,Cambridge 2007 und den ,Klassiker‘ von EdmundSilberner,Sozialisten zur Judenfrage. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914, Berlin 1962. 9Jean-Philippe Schreiber interpretiertToussenels Buch als „intellektuelle Matrix fürdas gegen Spekulation gerichtete Denken“ im 19. Jahrhundert,das bereits vierzig Jahre vor Edouard Drumontund MauriceBarr›salle Grundzüge des ökonomischen Antisemitismusenthalten habe:Jean-Philippe Schreiber, LesJuifs, rois de l’Øpoque d’Alphonse Toussenel, et ses avatars. La spØculation vuecomme anti-travail au XIXe si›cle, in:Revue belge de philologie et d’histoire79/2 (2001), S. 533–546, hier 533. 10 Vgl. Pierre Leroux, LesJuifs rois de l’Øpoque, in:Revue sociale ou Solution pacifique du Probl›me du prolØtariat, janvier 1846, S. 49–58. Vgl.außerdem Edmund Silberner,Pierre Leroux’s Ideas on the Jewish People, in:Jewish SocialStudies 12 (1950) 4, S. 367–384, hier S. 368.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 44 Oliver Schulz unter dem Pseudonym„Satan“ veröffentlichte und sich vor allem an den Roth- schilds abarbeitete. In einem weiteren Abschnitt wird sich der Beitrag kurz mit Aspekten der Rezeption Toussenels in Frankreich und in Deutschland befassen und abschließend erste Perspektiven entwickeln fürein geplantes Forschungs- vorhabenzum Transfer antikapitalistischer Stereotype in Europa im 19. Jahr- hundert.11 Da die Beschäftigung mit Autoren wieCharles Fourier,Pierre-Joseph Proudhon, Alphonse Toussenel oder Pierre Leroux und dem antisemitischen Gehalt ihrer Schriften nichtneu ist,12 vergleichende und transnationale Aspekte bisher aber kaum im Zentrumdes Forschungsinteresses gestandenhaben, ist gerade beiVergleichenund in der Verflechtungsgeschichte ein besonderes in- novatives Potential fürdie Antisemitismusforschung zu erwarten.13 In metho- discher Hinsichtsoll dasauf den französischen Historiker Michel Espagne und andere zurückgehende Konzeptdes „Kulturtransfers“ zum Einsatz kommen.14 Anders als klassische komparatistische Ansätze, die häufig statisch und chro- nologisch synchronangelegtsind, hat der Kulturtransfer den Vorteil der grö- ßeren Offenheit, die es ermöglicht, Ungleichzeitigkeiten und phasenversetzte Entwicklungen in den Blick zu nehmen. Fürdie Frage, wann und wiewestliche Stereotype des ,jüdischen Kapitalisten‘ nach Russland gelangten und wiesie dort rezipiertwurden, ist ein solcher Ansatz hilfreich, da er die Temporalitäten in der Rezeption abbilden kann. Als ein weiterer Vorteil des Kulturtransfers ist na-

11 Aufdie Bedeutung der französischen Frühsozialisten hat Reinhard Rürup hingewiesen und die Frage nach ihrer Rezeption in Deutschlandals Desiderathervorgehoben. Vgl.Reinhard Rürup, Antisemitismus und moderne Gesellschaft:Antijüdisches Denkenund antijüdische Agitation im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in:Christina vonBraun/Eva-Maria Ziege (Hg.), Das bewegliche Vorurteil:Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg 2004, S. 81–101, hier S. 87–88. 12 Vgl. beispielsweise Micha Brumlik, Antisemitismus im Frühsozialismusund Anarchismus, in:derselbe/ DoronKiesel/Linda Reisch (Hg.), Der Antisemitismusund die Linke(Ar- noldshainer Texte, 72), Frankfurta.M.1991, S. 7–16;RobertS.Wistrich, Socialism and Judeophobia –Antisemitism in EuropeBefore1914, in:Yearbook of the LeoBaeck Institute 37 (1992), S. 111–145. 13 Vgl. Ulrich Wyrwa, Ausder Werkstatt des Vergleichs:Emanzipation und Antisemitismus in Deutschland und Italien, in:WerkstattGeschichte 16/46 (2007) 46, S. 65–73. Deutlich wird der Bedarfangenuin vergleichenden und transnationalen Ansätzen unter anderem daran, dass beispielsweise selbst Veröffentlichungenwie die vonRobertWistrich überradikalen Antisemitismus in Frankreich und Deutschland eigentlich keine vergleichenden Untersu- chungen sind, sondernLänderstudien aneinander reihen. Vgl.RobertWistrich, Radical Antisemitism in France and Germany (1840–1880), in:ModernJudaism 15 (1995), S. 109– 135. 14 Vgl. Michel Espagne/MichalWerner,Laconstruction d’une rØfØrence culturelle allemande en France. Gen›se et histoire(1750–1914), in:Annales. Économies, SociØtØs, Civilisations42/ 4(1987), S. 969–992;Michel Espagne, Sur les limites du comparatisme en histoireculturelle, in:Gen›ses 17 (1994), S. 112–121;Matthias Middell, La RØvolutionfranÅaise et l’Allemagne. Du paradigme comparatiste à la recherche des transferts culturels, in:Annales historiques de la RØvolution franÅaise 317 (1999), S. 427–454.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der ,jüdische Kapitalist‘ 45 türlich die fast schon banalzunennende Feststellung zu nennen, dass überdie Eröffnung einer transnationalen Dimension die Fallstudienaus einzelnen Län- dernbessereingeordnet werden können.15

Ökonomischer Antisemitismus bei Charles Fourier und in der fourieristischen Schule

Als Alphonse Toussenel im Jahr 1845 Les Juifs, rois de l’Øpoque vorlegte, konnte er aufeine lange Tradition aufbauen.16 Einerseits gab es in Frankreich einen ka- tholisch fundierten ökonomischen Antisemitismus und andererseits waren Charles Fourier und die aufihn zurückgehende Schule frühsozialistischer Denker und Autoren zum Teil sehr deutlichvon antisemitischen Einstellungen gegenüber,unproduktiven‘ Gewerbezweigen wiedem Handel oder der Speku- lation geprägt.17 Ein Beispiel fürFouriers Antisemitismusmag hier genügen:

„Tout gouvernement qui tientaux bonnes mœurs devrait yastreindreles Juifs, les obliger au travail productif, ne les admettre qu’en proportion d’un centi›me pour le vice ; une famillemarchande pourcentfamillesagricoleset manufacturi›res ;mais notre si›cle philosophe admet inconsidØrØmentdes lØgions de Juifs, tous parasites,mar- chands, usuriers, etc :[…]“18

Wichtigist hier neben der Erwähnung des Wuchers im Zusammenhang mit Juden die Charakterisierung des Handels als unproduktiv,daergenauso wieder Geldverleih oder die Spekulation vonder Arbeit Anderer lebe. Der produktive Gegenpol zur Welt der Spekulation sindLandwirtschaftund Fabrikarbeit, wobei mit der Verklärung der Landwirtschaftund des ländlichenRaums ein grund-

15 Dies kannauch ReinhardRürups Behauptung nuancieren, Russlandsei wegen der völlig anders gearteten Verhältnisse als Fallstudie fürvergleichende Ansätze ungeeignet. Während dies fürden klassischen Vergleich sicherlich zutreffend ist, ermöglichtder Kulturtransfer die Berücksichtigung retardierender Momente sowiemögliche Dreieckstransfers zwischen Frankreich, dem deutschsprachigen Raum und Russland. Christoph Nonn hat richtigerweise betont, dass ausforschungspraktischen Gründen bereitsder Vergleich vonAntisemitismus in zwei Ländern wohl nichtzuleisten sei. Daher kannder Zugriff über bestimmteStereotype wie,Wucher‘ oder,jüdischer Kapitalismus‘ ein guter Wegsein, um eine solche Untersuchung bearbeitbar zu halten. Vgl.Christoph Nonn,Antisemitismus (Kontroversen um die Ge- schichte), Darmstadt 2008, S. 114. 16 Dreyfus, AntisØmitisme à gauche (wie Anm. 8), S. 22–28.ZuToussenel vgl. außerdem Zvi Kaplan,ASocialist Drumont?Alphonse Toussenel and the Jews, in:Jewish History29(2015) 1, S. 39–55;Ir›ne Tieder,Alphonse Toussenel et l’antisØmitisme fouriØriste, in:Tsafon18 (1994), S. 35–43. 17 Vgl. bereits Edmund Silberner,French Socialism and the Jewish Question,1865–1914,in: Historia Judaica 16 (1954), S. 3–38. 18 Charles Fourier, Le Nouveaumonde industriel et sociØtaire, ou Invention du procØdØ d’in- dustrie attrayante et naturelle distribuØeensØries passionnØes, Paris1829–1830, S. 499.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 46 Oliver Schulz legender Aspekt antisemitischer Kapitalismuskritik enthaltenist. In diesem Zusammenhang sind auch Vorstellungen voneiner,moralischen Ökonomie‘ von Bedeutung, die als Gegenpol zu einer ,abstrakten‘kapitalistischen und markt- orientierten Wirtschafteingefordertwurde.19 Im Hinblick aufStereotype und Feindbilder zeigen sich Überlappungen in den graduellen Übergängen vom äl- teren Wuchervorwurfund den ,Hofjuden‘ hin zum ,jüdischen Kapitalisten‘ neuerer Zeit.20 Hier wäre es interessant, nichtnur die Übergänge beiden Ste- reotypen zu untersuchen, sondernauch die Realitätdes ,Wuchers‘. Tatsächlich wurde dieser Vorwurfimmer wieder erhoben und vornehmlich mit Juden as- soziiert, die dominierende Rolle vonNichtjuden im Geldverleih hingegen aus- geblendet. Hier könnte die Auswertung vonJustizakten (z.B. Prozesse wegen Wuchers) ein Wegsein, um die Praxis des Geldverleihs in bestimmten Regionen weiter zu erforschen.21 Hinsichtlich der ,Hofjuden‘, die fürdie Assoziation von Bankwesen und Judentum eine bedeutende Rolle spielten, und ihrer Stereoty- pisierung könnten ähnlicheFragen gestellt werden.22 Es ist keinesfalls überraschend, dass unmittelbar nach der napoleonischen Herrschaft Behörden in Deutschland die jüdische Emanzipation bekämpften und hierfürdas Argument bemühten, diese werde den Wucher zunehmenlassen und die christlichen Kaufleute in den Ruin treiben. Ein Beispiel ist das Rheinland im Jahr 1818, wo noch kurz zuvor die französische Gesetzgebung und darunter auch Napoleon Bonapartes „DØcret infâme“ gegolten hatte. Die Behörden in

19 Michael Behnen hat darauf hingewiesen, dasssich Konservative im Deutschland der Re- staurationszeit gegen die Kapitalisierung der Landwirtschaftausgesprochen hätten:Michael Behnen, Probleme des Frühantisemitismus in Deutschland (1815–1848), in:Blätter für deutsche Landesgeschichte 112 (1976), S. 244–279, hier S. 254. Derek Penslar hat die Wahrnehmung der Landwirtschaftund ihrer Rolle im 19. Jahrhundertfolgendermaßen charakterisiert: „[…] morality and civilization are consonantwith agriculture“. Derek Penslar,Shylock’s Children. Economics and Jewish Identity in ModernEurope, Berkeley/Los Angeles/London2001, S. 39. Zur moraleconomy vgl. ebda. und James C. Scott, The Moral Economyofthe Peasant. Rebellion and Subsistence in Southeast Asia, NewHaven/London 1976;John Bohstedt,The Politics of Provisions. FoodRiots, Moral Economy,and Market Transition in England, c. 1550–1850 (The History of Retailing and Consumption), Farnham/ Burlington 2010. Vgl. außerdem Edward P. Thompson, The Moral Economyofthe English Crowd in the 18th century, in:Past & Present50(1971), S. 76–136. 20 Vgl. am Beispiel des Elsasses Daniel Gerson,Die Kehrseite der Emanzipation (wie Anm. 3). Zum WuchervorwurfimElsass des 19. Jahrhunderts vgl. auch FranÅois Delpech, L’histoire des Juifs en France de 1780 à 1840. Etat des questions et directionsderecherche, in:Annales historiques de la RØvolution franÅaise 48 (1976),S.3–46, hier S. 34–38. 21 Vgl. Nonn,Antisemitismus (wie Anm. 15), S. 15. Michael Burnshat darauf hingewiesen, dass Wucher zwar stark vonNichtjuden geprägt,imDiskurs aber vor allem mit Juden assoziiert worden sei:Burns, Emancipation (wie Anm. 3), S. 25. 22 Lichtheim, Socialism (wie Anm. 2), S. 322. Zum ,jüdischen Bankier‘ in der französischen Literatur vgl. Bergeron(wieAnm. 6).

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Aachen nutzten das ,Wucher‘-Argumentgegen die jüdische Emanzipation, da diese die christlicheBevölkerung aufdem Land gefährde.23 Alphonse Toussenel griff ebenfalls aufden Begriff des ,Wuchers‘ zurück, um den neuen ökonomischen Kontext des 19. Jahrhunderts zu beschreiben, und belegtdamit die Kontinuitätder antijüdischen Feindbilder:

„Les moyens qu’emploie la fØodalitØ financi›re pour arriver à l’accaparementdela fortune publique,sont:le monopoleducommerce et de tout ce qui est industrie parasite, monopole de l’usure,dØguisØesous le nom de crØdit;monopole de la chicane, du notariat, de la presse et de toutes les hautes positions financi›res. On va voir qu’à chacune de ces fonctions sontadaptØes d’’innombrables privil›ges constituantune vØritable FØodalitØ.“24

UndEdouardDrumontschrieb gut 40 Jahrespäter in La France Juive: „A la vieille usure les Rothschild avaientsubstituØ les emprunts d’Etat[…]“25,was die Kontinuitätunterstreicht, die antisemitische Autoren zwischen vorkapitalisti- schem Wucher und dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts sahen. Die Börse und die Spekulation gerieten beiToussenel ebenfalls ins Visier:

„Malheureusement, les libØraux et les philanthropes qui frØquententlaBourse, qui honorentl’agiotage et excusentlafaillite, ontproscrit la loteriecomme un impôt immoral et funeste auxintØrÞts du peuple.Ils trouventparfaitementlØgitime qu’un banquier,qui joue à coup sßr, c’est-à-dire avec des dØspipØs, rØalise des bØnØfices de plusieurs millions sur une nouvelle de Bourse qu’il fait, et qu’il ruine centfamilles ;mais ils n’entendent pas qu’un pauvre ouvrier franÅais, favorisØ par le sort, gagne un château en Autriche ou une maison à Parissans ruiner qui que ce soit.Toutpour les juifs, tout par les juifs !“26

Inseiner Beschreibung und Kritik am Kapitalismus gehtAlphonse Toussenel sogar noch einen Schritt weiter,daerden Begriff „Jude“ nichtauf Juden im eigentlichen Sinne des Wortes beschränkt, sondern aufalle Personen anwendet, die im Handel und sonstigen ,unproduktiven‘ Sparten tätigsind. MichaBrumlik ist zuzustimmen, der Toussenels Antisemitismusals „ein[en] auskatholischem Traditionalismus gespeiste[n] Antimodernismus“ charakterisiertund damit die Übergangsstellungzwischen ,alter‘ katholischerJudenfeindschaftund ,neuem‘,

23 Sterling, Der Kampf um die Emanzipation (wie Anm. 4), S. 294. So beziehtsich ein antise- mitisches Pamphlet ausDüsseldorf ausdem Jahr 1819 aufdie angebliche Dominanz von Juden im Handel. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abt. Rheinland, Regierung Düsseldorf, Nr.1665. Auch im benachbarten Westfalen wurde die Emanzipation der jüdischen Bevöl- kerung abgelehntmit dem Argument, diese werdedie Christen in die Knechtschaftführen: Judenthum. Noch ein Wort an dasselbe, in:Hermann, Nr.93, 19.11.1816, S. 738–740. 24 Alphonse Toussenel, LesJuifs, rois de l’Øpoque. HistoiredelafØodalitØ financi›re,Paris 1845, S. 84. 25 EdouardDrumont, La FranceJuive, Bd. I, Paris1886, S. 353. 26 Toussenel, Juifs (wie Anm. 24), S. 290.

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ökonomisch grundiertem Antisemitismus betont.27 Toussenels Assoziation von Kapitalismus und Judentum enthält außerdem eine antiprotestantische Kom- ponente, die sich gegen protestantische Länder wieGroßbritannien, die Nie- derlande und Genf richtet: „Leconcessionnaire espØrØ duchemin de ferduNords’appelle le baronRothschild,leroi de la finance, un juif baronisØ par un roi tr›schrØtien. Si ce n’est pas lui qui obtientla concession, ce sera quelqueAnglais.“28 Dieser Aspekt ist auszweierlei Gründen vonbesonderer Bedeutung.Zunächst ist Toussenels Haltung zu Handel und kapitalistischer Wirtschaftmit ihrer Gleichsetzung des Begriffs „Jude“ mit jedweder Form vonkaufmännischer Be- tätigung nichtauf diesen Autoren und Frankreich beschränkt, sondern war auch in Deutschland zu finden, wo beispielsweiseder ältere Begriff des „Kornjuden“ ebenfalls nichtnur aufJuden im eigentlichen Sinne des Wortes angewandt wurde. Indem er den Bezug zum Judentum derartverallgemeinerte, trug Tous- senel entscheidend dazu bei, eine assoziativeVerbindung zwischen Handel, Wucher und Spekulation aufder einen Seite und Juden aufder anderen Seite herzustellen.29 Die deutliche antibritische Haltung in Toussenels Text korre- spondiertaußerdem mit der im Frankreich der 1840er-Jahre weit verbreiteten Anglophobie und verweist aufdas Zusammentreffen antisemitischer und na- tionaler Feindbilder: „L’Angleterre est l’impureBabel, est la grande boutique oœ se prØparentetsedØbitent avecun Øgalsucc›sles doctrines et les drogues vØnØneuses :etl’esprit de feu qui brßlØ les Peauxrouges et l’opium qui empoisonne les Chinois, et les principes qui fonts’armer citoyens contreconcitoyens, peuple contrepeuple, race contrerace.“30

27 Brumlik, Frühsozialismus (wie Anm. 12), S. 10–11. Zur katholischen Tradition vgl. Zosa Szajkowski, The Jewish Saint-Simonians and Socialist Antisemites in France, in:Jewish Social Studies9/1 (1947), S. 33–60, hier S. 33. 28 Toussenel, Juifs (wie Anm. 24), S. 22. Schreiber, Spekulation (wie Anm. 9), S. 539. Der Pro- testantismus wurde auskatholischer Sichtals materialistische und egoistische Form der Religion interpretiert, die das katholische ländliche Frankreich gefährde. Penslar,Shylock’s Children (wie Anm. 19), S. 44. 29 HansMedick, Die sogenannte „Laichinger Hungerchronik“. Ein Beispiel fürdie „Fiktion des Faktischen“ und die Überprüfbarkeit in der Darstellung vonGeschichte, in:Schweizerische Zeitschrift fürGeschichte 44 (1994), S. 111;Manfred Gailus, Die Erfindung des „Korn- Juden“.Zur Geschichte einesantijüdischen Feindbildes des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in:Historische Zeitschrift272 (2001),S.597–622. 30 Toussenel, Juifs (wie Anm. 24), S. 27. PhilippeDarriulat hat aufden Gegensatz im franzö- sischen Antikapitalismus der Romantikzwischen Frankreich aufder einen Seite und Großbritannien als Verkörperung des Bösen aufder anderen Seite hingewiesen, vgl. Philippe Darriulat,Les patriotes. La gauche rØpublicaineetlanation (L’univers historique), Paris 2001, S. 113, 143.

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Auch in überlieferungsgeschichtlicher Hinsichtist Toussenels Les juifs rois de l’Øpoque vonInteresse. Die zweite Auflage des Werks, die bereits 1847 erscheinen sollte, machte deutlich, dass der Autor im Milieu der fourieristischen Traditi- onslinie nichtauf einen unwidersprochenen Rückhalt zählen konnte, wenn es um seine judenfeindlichen Aussagen ging.Tatsächlich entbrannte mit der Ecole sociØtaire,die sein Buch in der Erstauflage von1845 nichtzuletzt wegen des Titels nichtohne Bedenken und nurmit einer zusätzlichen Erklärung veröffentlicht hatte, ein Streit, der unter anderem zu einem Verriss der zweiten Auflage durch Victor ConsidØrantinder Zeitung DØmocratiepacifique führte.31 Einen Nie- derschlag fanden die Auseinandersetzungen innerhalb der Ecole sociØtaire im Vorwortzur zweitenAuflage, das voneiner besonders aggressiven judenfeind- lichen Haltung gekennzeichnet war.Dortheißtes: „J’appelle,comme le peuple, de ce nom mØprisØ de juif, tout trafiquantd’esp›ces, toutparasite improductif, vivant de la substanceetdutravail d’autrui. Juif, usurier,trafiquant, sont pour moi synonymes“.32 Undvon Juden war dortauch als „une horded’usuriers et de lØpreux“ die Rede.33 Der Autor,der sich „den Ruhm, die Juden getötet zu haben“, zuschrieb,hielt der Ecole sociØtaire nichtnur vor, judenfreundlich zu sein, sondern auch dem Kapital zu wohlwollend gegenüberzustehen.34 Deutschfeindliche Strömungensollten im französischen Antisemitismus ebenfalls eine Rolle spielen, wobei ein typisches Stereotypder mit einem starken deutschen AkzentFranzösisch-sprechende Frankfurter Jude war.Die Anglo- phobie wiederum sollte auch im deutschen Kontext eine Rolle spielen und wurde beispielsweisevon Werner Sombartmit antisemitischen Einstellungen ver- mengt. AusToussenels Sichtwar das ländlicheFrankreich ein idyllischer Kon- trapunktzuIndustrie und Handel, und die Gegenüberstellung in seinen Texten drückt die Ablehnung der Moderne aus, die in seiner Kapitalismuskritik zum Ausdruck kam.35 Toussenel attackierte die Spekulation beim Eisenbahnbauund insbesonderedie Rolle der Rothschildshierbei. Diese Einstellung entsprach dem

31 Silberner,Sozialisten zur Judenfrage (wie Anm. 8), S. 34. Toussenel hielt ConsidØrant Op- portunismus vor.,vgl. Jonathan Beecher,Victor Considerantand the Rise and FallofFrench RomanticSocialism,Berkeley/Los Angeles/London 2001, S. 172. 32 Alphonse Toussenel, LesJuifs, rois de l’Øpoque. Histoire de la fØodalitØ financi›re,2Bde., Paris 21847, Bd. 1, S. I. 33 Toussenel, Juifs (wie Anm. 32), S. 2. 34 Dies gehtaus zwei Briefen Toussenels an Victor ConsidØrantund die Ecole sociØtaire hervor, vgl. Archives Nationales 10AS42 [eingesehen wurde Mikrofilm 681MI/74],dossier 3: Tous- senel 1841–1847 et s. d. Vgl.zudiesem Streit außerdemSilberner,Sozialisten zur Judenfrage (wie Anm. 8), S. 32 und Emile Lehouck,Utopie et antisØmitisme. Le cas d’Alphonse Tous- senel, in:1848, les utopismes sociaux. Utopie et action à la veille des journØes de FØvrier,hg. vonder SociØtØ d’histoiredelarØvolution de 1848 et des rØvolutionsduXIXe si›cle, Paris 1981, S. 151–160, hier vor allem S. 155–156. 35 Zum Antisemitismus in der Romantikvgl.außerdem Nicole Savy,Les Juifs des Romantiques. Le discoursdelalittØrature sur les Juifs de Chateaubriand à Hugo,Paris 2010.

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Zeitgeist, wieweitere französische Publikationen ausden 1840er-Jahren zeigen.36 Die Rothschilds sollten im Kontext der Revolutionvon 1848 zur konkreten Zielscheibedes Protests werden, als in Suresnes beiParis der Besitz vonSamuel Rothschild voneiner Menschenmenge geplündertund anschließend in Brand gesteckt wurde. Es wäre jedoch verfehlt, hinter diesem Ereignis lediglich Anti- semitismusals Motivauszumachen, denn Salomon Rothschilds Besitz wurde als ein Symbol der besitzenden Klassen im Frankreich der Julimonarchie ange- griffen, wiedie Plünderung des Besitzes vonKönig Louis-Philippe im benach- barten Neuilly-sur-Seine zeigt.37 Ein interessanter Aspekt in Toussenels Text bestehtaußerdem in der Ver- wendung des Adjektivs „gros“, wennvon Bankiers und Spekulation die Rede ist. Dies ist deswegen vonBedeutung,dadies auch in Karikaturen fürdie Charak- terisierung des ,jüdischen Kapitalisten‘ eingesetzt wird.Sozeigteine frühe englische Darstellung vonNathan Meyer ausdem Jahr 1817 Rothschild an der Londoner Börse als einen übergewichtigen Mann mit einem deutlich sichtbar hervorspringenden Bauch. Diese ikonographische Assoziation wurde häufig verwendet, und dies nichtnur,wennesumRothschild ging,sondernumBan- kiers und Kapitalisten im Allgemeinen.38

Weitere Angriffe gegen die Geldwirtschaft in den 1840er-Jahren: Pierre Leroux und Georges-MarieMathieu-Dairnvæll

Ein Jahr nach Toussenels Buch erschien in der Zeitschrift Revuesociale ein Artikelvon Pierre Leroux, der ebenfalls den Titel Les Juifs rois de l’Øpoque trug.39 In diesem wurden die Kernideen Toussenels erneut vorgetragen. So war Leroux der Meinung,die britische Regierung in Londonbefinde sich nichtinWest- minster oder in St James, sonderninder Bank of England in der City, die der

36 Vgl. [Georges-Marie Mathieu-Dairnvaell],Histoire Ødifianteetcurieuse de Rothschild Ier, roi des juifs, par Satan, Paris1846. Ein Beispiel fürdie spätere Anti-Rothschild-Literatur ist Antoine de Mor›s, Rothschild,Ravachol et Cie, Paris1892. 37 Vgl. Jean-Claude Rousseau, La mØsaventure Rothschild. FØvrier1848 à Suresnes, in:Bulletin de la SociØtØ historique de Suresnes 7(1972) 31, S. 13–27. Zur Interpretation dieser Angriffe als vornehmlich gegen Reiche gerichtet vgl. MauriceAgulhon,1848 ou l’apprentissage de la RØpublique 1848–1852 (Nouvelle histoire de la Francecontemporaine, 8), Paris2002, S. 59. Im Elsass 1848 machtAgulhon hingegen eindeutigAntisemitismus aus, als es zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung kam.Ibidem, S. 60. Zur antijüdischen GewaltimElsass 1848 vgl. Daniel Gerson, Die Ausschreitungen gegen die Juden im Elsass 1848, in:Bulletin des Leo Baeck Instituts 87 (1990), S. 29–44. 38 Vgl. Peter Dittmar,Die Darstellung der Juden in der populären Kunst zur Zeit der Emanzi- pation, München 1992. 39 Vgl. Anm. 10.

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Autor als „Sakristei der Börse“ bezeichnet. Hiermit sprichtder Autor zwei wichtige Aspekte an. Zum einen ist da die Vorstellung voneiner ArtGeheim- regierung durch die Finanzwelt, die im Hintergrund die Fäden ziehe und die Politik bestimme. Zum anderen weist Leroux der LondonerBörse und der Bank of England eine religiöse Dimension zu, wobei Münzen und Geldscheine das Sinnbild der „SeeleEnglands“ seien.40 Hier beruft sich der Autor aufdie zeit- typischen Ideen, wiesie ebenso vonKarl Marx vertreten wurden, der ja in der Geldwirtschafteinen neuen Fetisch ausmachte und in diesem Zusammenhang auch judenfeindlich argumentierte.41 Genauwie Toussenel definiertLeroux den Begriff „Jude“ im Sinne eines „jüdischen Geistes“, der charakteristisch fürdie Geldzirkulation sei, nichtje- doch das „jüdische Volk“ an sich bezeichne. Er beruft sich aufeine Definition der AcadØmie franÅaise,nach der der Begriff „Jude“ jeden bezeichne,der im Geld- verleih und Wucher tätigsei.42 Den „jüdischen Geist“ interpretiertLeroux schließlich als eine Form des Kampfes des Menschen gegen seine Mitmenschen: „L’esprit juif, l’esprit d’avarice et d’aviditØ,n’est pas autrechose qu’une des formes de la guerre que l’homme, dans son aveuglement, livre à son semblable.“43 Die gegen England gerichtete Argumentation vonLeroux findet sich auch in anderen Werken, in denen er den Vorwurferhebt, in der französischen Juli- monarchie seieszueiner Imitation des britischen politischen Systems gekom- men, die der Erneuerung des feudalen Systems diene, wobei die Geldwirtschaft diesen neuen Feudalismus ausmache.44 Diesen Gedanken, der ja ebenso bei Toussenel zentral ist, sprichtLeroux in seinem Artikel Les Juifs rois de l’Øpoque in gleicher Weise aus:

„[…]les capitalistesd’aujourd’hui sont les baronsd’une nouvelle fØodalitØ,ouplutôtde la derni›re phase de l’Øpoque fØodale, qui, malgrØ qu’on en dise,seprolonge encore aujourd’hui mÞme, apr›slachute presquecompl›tedelanoblesseetduclergØ“.45

Auch der in Vergessenheit geratene Autor Georges Mathieu-Dairnvæll beteiligte sich in den 1840er-Jahren an dieser Debatte, in der zunehmend die Rothschilds als Platzhalter insVisier genommen wurden. Er schrieb unter anderem unter Rückgriff aufdie Legenden um die Entstehung des Reichtums der Rothschilds:

„Avant1815, MM. Rothschild Øtaientdetr›sforts banquiers, apr›s1815, ils furentles maîtres de la banque. Ils avaientrenduservice auxrois par des emprunts dontles

40 Leroux, LesJuifs rois de l’Øpoque (wie Anm. 10), S. 49. 41 Vgl. Wistrich, Socialism and Judeophobia (wie Anm. 12), S. 111–145. 42 Leroux, LesJuifs rois de l’Øpoque (wie Anm. 10), S. 49. 43 Leroux, LesJuifs rois de l’Øpoque (wie Anm. 10), S. 52. 44 Vgl. Pierre Leroux, De la ploutocratie, ouDugouvernementdes riches, Neuausgabe, Paris 1848. 45 Leroux, LesJuifs rois de l’Øpoque (wie Anm. 10), S. 58.

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peuples payaient l’intØrÞt: pendantque la France Øtaitappauvrieetvaincue, ils triomphaient.Leur royautØ d’agiotage et de boursedate de 1815 et de Waterloo“.46

Mathieu-Dairnvæll attackierte den Eisenbahnbauund die damit verbundene Spekulation und nahm hierbei auch Bezug aufein Zugunglück aufder Nordbahn (Chemins de fer du Nord)imJuli 1846.47 Wiebei Pierre Leroux ging die Kritik an Rothschild und generellander Geldwirtschafteinher mit einer virulenten Kritik an den politischen VerhältnissenimFrankreich der Julimonarchie, die sichan bestimmten politischen Figuren wiedem umstrittenen FranÅois Guizot fest- machte.48

Die Rezeption Alphonse Toussenels inner- und außerhalb Frankreichs

Toussenels Angriffe gegen den Kapitalismus und die Rolle, die Juden ausseiner Sichtdarin spielten, begründeten eine Tradition im 19. Jahrhundert. Weitere Autoren ausdem linken politischen Spektrumwie Auguste Chirac oder Gustave Tridon griffen das Thema und die verwendeten Stereotype auf, wobei Chirac mit dem Titel Les Juifs Rois de la RØpublique sogar eine an die neue Zeit und Staatsform angepasste Formulierung als Titel fürsein Buch verwendete.49 Dies zeigtnichtnur die antisemitische Tradition vonTeilen der französischen Linken –zumindest vor der Dreyfusaffäre –auf, sondern wird besonders wichtig, wenn die Rezeption dieser linken Autoren durch rechte Antisemiten wieEdouard Drumontinden Blick genommen wird.50 WieJean-Philippe Schreiber betonthat, war Toussenels Interpretation des Kapitalismus nichtneu, da er Positionen Fouriers und noch ältereIdeen verwendete und fortschrieb.Drumonts Kapita- lismuskritik sollte ihrerseits eine Fortsetzungvon Toussenels Arbeit und eine Verbreitung seiner Ideen sein.51 Im Jahr 1886, als Drumonts Bestseller La France Juive zum ersten Mal erschien, wurde bezeichnenderweise die dritte Auflage von

46 Histoire Ødifiante (wie Anm. 36), S. 12. 47 Histoire Ødifiante (wie Anm. 36), S. 24–33. 48 Vgl. beispielsweiseGeorges-Marie Mathieu-Dairnvaell, Profil politique de M. Guizot. RØfutationdulivre „De la dØmocratieenFrance“ par Satan, Paris1849. 49 Dreyfus, AntisØmitisme à gauche (wie Anm. 8), S. 61–68. 50 Vgl. GrØgoireKauffmann, Edouard Drumont, Paris2008;Michel Winock, EdouardDrumont et Cie. AntisØmitisme et fascisme en France, Paris1982. 51 Schreiber,Spekulation (wie Anm. 9), S. 534. PhilippeDarriulat hat betont, dass Alphonse Toussenel fürEdouard Drumontder erste antisemitische Autor gewesen sei, vgl. Darriulat, Patrioten (wie Anm. 30), S. 148. Auch das Vichy-Regime solltesich Toussenels als ,Vorläufer‘ bedienen, vgl. Louis Thomas, Le prØcurseur. Alphonse Toussenel, socialiste national an- tisØmite (1803–1885), Paris1941.

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Toussenels Les Juifs rois de l’Øpoque veröffentlicht. Drumontcharakterisierte Kapitalismus folgendermaßen:

„Aujourd’hui, grâce au Juif, l’argentauquel le monde chrØtien n’attachait qu’une im- portance secondaireetn’assignait qu’un rôle subalterne est devenutoutpuissant. La puissance capitaliste concentrØedans un petit nombre de mains gouverne à son grØ toute la vie Øconomique des peuples, asservitletravail et se repaîtdegains iniques acquis sans labeur“.52

Die Vorstellung, dass Juden ökonomische Parasiten seien, die vonder Arbeit Anderer lebten, war auch vonAuguste Chirac im Jahr 1883 aufgegriffen worden, als er Les Juifs, Rois de la RØpublique veröffentlichte.53 Fürdiese Überlappung vonlinken und rechten antisemitischen Strömungen in der antisemitischen Kapitalismuskritik, die sicherlich hierüberihrebesondereResonanz und Sprengkrafterhielt, gibt es weitere Beispiele:H.Gougenot de Mousseaux, der die Vorstellung voneiner „Verschwörung vonJuden und Freimaurern“ themati- sierte, war gleichzeitig ein Anhänger der Ideen Toussenels und eine Inspiration fürDrumont, und generell war das späte 19. JahrhundertinFrankreich vondem Nebeneinander einer „revolutionärenRechten“ und einer „reaktionärenLinken“ gekennzeichnet, in denen sichAntikapitalismus, Nationalismus, Antisemitis- musund sozialistische Ideen vermischten.54 NationalistischeAutoren wie Maurice Barr›sund Jules GuØrin sollten sich dieser Interpretationen bedienen und die französische,nationale‘ Arbeit der Spekulation gegenüberstellen, die genauso wiedie Industrialisierung darauf abziele, Frankreich zu zerstören.55 Außerhalb Frankreichswurden Charles Fourier und seine Schüler ebenfalls rezipiert. Im deutschsprachigen Raum wurde Toussenels Buch zur Kenntnis genommen. Eine Rezension in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 18. November 1845 stellte Toussenels Ideen allerdings ironisch gebrochen dar als die „spaßhaftesten Ausfälle gegen Geld- und Börsenmenschen, und gegen die

52 Drumont, La France JuiveI(wie Anm. 25), S. XIV–XV. 53 Schreiber,Spekulation(wieAnm. 9), S. 535. Dreyfus, AntisØmitisme à gauche (wie Anm. 8), S. 61–62. 54 Schreiber,Spekulation(wieAnm. 9), S. 537. Zur „revolutionären Rechten“ und zur „reak- tionärenLinken“ vgl. Zeev Sternhell, La droite rØvolutionnaire (1885–1914). Lesorigines franÅaises du fascisme (L’Univers historique), Paris1978 und Marc Crapez, La gauche rØactionnaire. Mythes de la pl›be et de la race dans le sillage des Lumi›res (PensØepolitique et sciences sociales), Paris1997. Emmanuel Beau de LomØnie interpretierte DrumontsKapi- talismuskritikals „nationalen Antikapitalismus“,was erneut aufdie Überlappungen zwi- schen linkem und rechtem Antisemitismus hinweist. Vgl. Emmanuel Beau de LomØnie, EdouardDrumontoul’anticapitalismenational, Paris1968. Robert Wistrich wiederum sprichtvon „French national socialism at the turnofthe 20th century“ und betont das antisemitische ErbeAuguste Blanquis und seiner Anhänger,vgl.Wistrich, Radical Antise- mitism (wie Anm. 13), S. 118, 121. 55 Schreiber,Spekulation (wie Anm. 9), S. 537.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 54 Oliver Schulz abgeschmackte Staatswirthschaftder Neuzeit“. Der Autor der Rezension war zudem nichtzuerpichtauf die Einführung des Phalanst›re.56 Im Jahr 1851 wurden Teile vonToussenels Buch ins Deutsche übersetzt und in Erfurther- ausgegeben, eine zweite Ausgabefolgte im Jahr 1891. Der Herausgeber der ersten Auflage bezog sich aufdie napoleonische Zeit in Deutschland sowieauf die Reden Fichtes. Seine Absichtwar es, Auszüge ausToussenels Werk als Lesebuch fürdas deutsche Publikum zu veröffentlichen. Zugleich zielte die deutsche Übersetzung aber auch darauf ab,den preußischen Konstitutionalisten die Mängel eines konstitutionellen Systems am Beispiel der französischen Juli- monarchie und der Rolle der Finanzwirtschaftindieser zu zeigen.57 Hier wird vor dem Hintergrund der vollkommen anderen Verhältnisse in Deutschland eine Verschiebung in der Intention der Veröffentlichung deutlich. Frankreich er- scheinthier wieein Vorreiter in einer Entwicklung,die in Deutschland verhin- dertwerden sollte. Interessantist in diesem Zusammenhang eine Abhandlung des deutschen Junghegelianers Heinrich Bettziech alias Heinrich Beta, der auf die Rothschilds Bezug nahm und gleichermaßen Ideen ausToussenels Veröf- fentlichung und ausder Debatte überdie Geldwirtschaftinden 1840er-Jahren reflektierte:

„Die Herrschaft des Geldes ist die ausgebreitetste, absoluteste despotischste aller je dagewesenen Verknechtungen der Menschheit.[…] Das ist’s, was unabweisbarge- schehen muß:Entthronungdes Geldes, des Rothschildismus, des furchtbarsten Feti- schismus“.58

Beta kommentierte außerdem den Wucher,zieltmit seiner Kritik aber im Ge- gensatz zu Toussenel nichtspezifisch aufJuden:

„Wucher!Das ist die Gift- und Fangpflanze, die aufdem entsittlichten Boden des Menschenthums der Sonne des modernen Lebens, dem Gelde, am Ueppigsten entge- genwächst. Wuchergewächse!Sie haben bereits die Mutterpflanzen,auf denen sie entstanden, ausgesogen und ziehen nun ausden Leichnamen derselben den besten Dünger und die mächtigste Krallkraft, womit sie die Insekten, die sich aufihre Blätter setzen, in diese allseitig einschließen und darin aussaugen, aushungern. Früher waren Wucherer die Parias der gesitteten Welt,eine ehr-und schutzlose Kaste, der man allerchristlichstindas Gesichtkonnte spucken. Der Geldtyrann hatsie emancipirt und aufdie Höhen des Lebens neben sich placirt. Sie machen ein Haus, sie fahren in

56 Deutsche Allgemeine Zeitung,November18, 1845. Beim Phalanst›re handelt es sich um eine Artvon Kooperative,die vonCharles Fourierausgearbeitet und verfochten wurde. 57 Alphonse Toussenel, Das Königthum der Juden in Frankreich, oder Geschichte der Fi- nanzfeudalherrschaft. Eine Geschichte der französischen Volkszustände unter der consti- tutionellen Monarchie Ludwig Philipps, voneinem Franzosen selbstgegeben, und hier theilweiseund mit Zwischenbemerkungen ins Deutsche übertragen, Erfurt1851, S. 4. 58 Heinrich Beta, Geld und Geist. Versuch einer Sichtung und Erlösung der arbeitenden Volkskraft, Berlin 1845, S. 1–2.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der ,jüdische Kapitalist‘ 55

glänzendenEquipagen mit federbuschschüttelnden, besäbelten Lägern hinten drauf, sie sprechenfranzösisch,decoriren ihre Salons mit Gemälden, Statuen, Virtuosen, berühmtenMalern und Gelehrten, und zeichnensogar allerliebsteSümmchen für Wohlthätigkeits-Vereine“.59

Der erste Eindruck legtdaher nahe, dass es beiBeta zwar einen Bezug aufdie kapitalistische Wirtschaftsweise und ihre Folgen gab,dass aber nichtzwangs- läufig eine direkte Verbindung zwischen den französischen Frühsozialistenund diesem deutschen Autor vorliegt. Dennoch fällt der Rückgriff ausdem Pflan- zenreich ins Auge, in der die Giftpflanze als ,Parasit‘weitere, gegen Kapitalismus und Spekulation gerichtete Diskursewiderspiegelt. Die zuvor zitierte Rezension belegt, dass es eine Rezeption Toussenels in Deutschland gegeben haben muss, sie scheintaberleichtphasenversetzt und auch nichtsonderlich intensivgewesen zu sein, wieetwa der ironische Unterton in der DeutschenAllgemeinen Zeitung nahelegt.60 Schließlich scheintauch eine Deutungder kapitalistischen Wirtschaft und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Umwälzungen als spezifisch „jüdisch“ in Deutschland vorallem im konservativenund christlich-deutschen Antisemitismus vorzuherrschen, was aufländerspezifische Unterschiedeund phasenversetzte Entwicklungen in den europäischen Ländernhinweist. Am deutschen Fall ist interessant, dass die Chiffre ,Rothschild‘frühzeitig unter an- derem als Profiteur der napoleonischen Kriege dämonisiertwurde, sich diese Stereotypisierung aber noch mit den älteren Stereotypen wiedem Wuchervor- wurfund traditionellen Formen des Sozialprotests –beispielsweisewährend der Hep! Hep!-Unruhen 1819 oder im Zuge der Revolutionvon 1848 –mischte und damit in Teilen der Situation im Elsass ähnelte.61 Ein weiteresinteressantes Beispiel ausdem französischen sozialistischen Milieu, das aber bereits der folgenden Generation angehörteund fürKontakte sowieTransfers zwischen sozialistischen Milieus in Frankreich und in Russland vonBedeutung war,stellt der ehemalige Kommunarde BenoîtMalon (1841– 1893) dar.62 Dieser bezog sich ebenfalls positiv aufdie Schule Fouriers und

59 Beta, Geld und Geist (wie Anm. 58), S. 111. 60 Vgl. Anm 56. Vgl.außerdem LoïcRignol, Alphonse Toussenel et l’Øclair analogique de la science des races, in:Romantisme (2005), S. 39–53. 61 Behnen, Frühanstisemitismus (wie Anm. 19), S. 266, 277. Zu Rothschild als frühem antijü- dischen Feindbild in Deutschland vgl. Eleonore Sterling, Anti-Jewish Riots in Germanyin 1819. ADisplacementofSocial Protest, in:Historia Judaica 22 (1950), S. 105–142, hier S. 114, 117 Anm. 47. So wurde während der Hep!Hep!-Unruhen 1819 auch das Haus der Rothschilds in Frankfurta.M.angegriffen. Ebda.,S.126. 62 Zu Malons Antisemitismus vgl. Jean Lorcin, Surl’antisØmitisme de BenoîtMalon, in:Michel Cordillot/Claude Latta (Hg.), BenoîtMalon. Le mouvementouvrier,lemouvementrØpu- blicain à la fin du SecondEmpire, Lyon 2010, S. 261–286. Zu AlbertRegnard, einem Schüler Auguste Blanquis, und seinem Antisemitismus vgl. Dreyfus, AntisØmitisme à gauche (wie Anm. 8), S. 41, 49, 58–61.

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Toussenel, schätzte zugleich aber auch EdouardDrumont, womit er ein weiteres Beispiel fürdie bereits angesprochenen Überlappungen des linken und rechten Antisemitismus ist. So artikulierte er eine typische Kritik an Rothschild:

„Tout souriait en effet à ce momentaux hommes de bourse;l’astre funeste du premier Rothschild s’Øtait levØ,dØjàgrossi de la ruine publique. Grâce à ce redoutable Aski- nasim, les dØvorants avaientunroi de la race de David, un roi qui allait bientôt Þtre entourØ d’autantd’archiducs qu’un Habsbourg, d’autantdefeudataires qu’un ancien roi de France, et commanderdans plus de capitales que ne le put jamais un empereur romain“.63

Malonwar zudem international sehr gut vernetzt, da er Frankreich nach der Pariser Kommune 1871 verlassen hatte und sich unter anderem in der Schweiz aufhielt. Dortwurde er nichtnur Mitglied der vonMichail Bakunins Ideen inspirierten FØdØration Jurassienne und hatte Kontakt zu AnhängernBakunins, sondern traf auch Emigranten ausdem Russischen Reich, was ihm die Kon- taktaufnahme zu russischen Oppositionellen und zu polnischen Patrioten er- leichterte.64

Ausblick:westeuropäischeImpulse antisemitischer Kapitalismuskritik in Russland

BenoîtMalonist ein gutes Beispiel, um zum Abschluss dieses Artikels einige Gedanken zu entwickeln, welche Perspektivendie Erforschung der Transfers antikapitalistischer antisemitischer Stereotype zwischen Westeuropa und Russland besitzt. Gerade Osteuropabietet sich als besonders vielversprechendes Forschungsfeld an, da sich der Kapitalismus im Vergleich zu Westeuropa und den USA dortphasenversetzt durchsetzte. Zudem war er dortdurch eine do- minante Stellung jüdischer Unternehmer gekennzeichnet.65 Malonverehrte die russischen ,Narodniki‘ und war mit der ukrainischenOppositiongegen das zaristische Regime vertraut.66 Im Rahmen der Aktivitäten der vonihm heraus-

63 BenoîtMalon, Le socialisme intØgral II, Paris1890–1891, S. 230, 231, 240. 64 Zur FØdØration Jurassienne vgl. Jean Maitron, Histoire du mouvementanarchiste en France (1880–1914), Paris1951, S. 49–58.ZuMalons Kontakten zu russischen Emigranten vgl. Marc Vuilleumier,BenoîtMalon, Herzen et les premiers socialistes russes, in:Revue des Etudes slaves 83/1 (2012), S. 142. Michail Bakunin, der ebenfalls mit französischenAutorenwie Pierre Leroux oder Pierre-Joseph Proudhon befreundet war, äußerte sich im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit Karl Marx ebenfalls antisemitisch. Quantitätund Qua- litätvon Bakunins Antisemitismus bedürfen noch weitererErforschung. Ni Dieu, ni maître. Anthologie historique du mouvementanarchiste, Lausanne [o.J.],S.165. 65 Muller,Revisited (wie Anm. 2), S. 17–18. 66 Vuilleumier,BenoîtMalon (wie Anm. 64), S. 139–161, hier S. 149–151.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der ,jüdische Kapitalist‘ 57 gegebenen Revue socialiste bestanden ebenfalls Kontakte zu ukrainischen ,Na- rodniki‘ wieSergej Podolinskij, der auch in der Zeitschriftveröffentlichte. In einem Brief an die vonPetrLavrovherausgegebene Zeitschrift Vpered kritisierte dieser den vermeintlichen Philosemitismusdes Blattes und benutzt fürJuden die pejorativeBezeichnung „Zˇid“ anstatt„Evrej“ und sah den Hass gegen Juden für einen russischen Sozialisten als genauso unerlässlich an wieden Hass gegen die Bourgeoisie.67 In der Revue Socialiste wurden ebenfalls Artikelveröffentlicht, die die ,jüdische Frage‘ im Zarenreich behandeltenund Stellung bezogen. So hieß es in einem Artikelaus dem Jahr 1886, dass die jüdische Bevölkerung im Ansied- lungsrayonimRussischen Reich durch ihre wirtschaftlichen Aktivitäten die Pogrome von1881 in gewisser Weise heraufbeschworen habe.68 Die Rechtfertigung der Pogrome in dem genannten Artikelder Revue Socia- liste verweist aufeine weitere Schnittstelle:Sohatte ein Teil der ,Narodniki‘ die Pogrome 1881 begrüßtund dies mit einer wirtschaftlichen Ausbeutungder Bauerndurch Juden begründet, ein Argument, dass auch rechte Antisemiten im Russischen Reich bemühten. Die traditionellen Tätigkeiten vonJuden als Schankwirte, Mühlenpächter und in ähnlichen Berufen sowieihreMittlerstel- lung zwischen Stadt und Land spielten eine wichtige Rolle in dieser Kritik.69 Es ist interessantzusehen, wieinzunehmendem Maßeantikapitalistische Stereotype ausWesteuropa nach Russland einströmten und der ,jüdische Kapitalist‘ dem ,jüdischen Schankwirt‘ an die Seite treten und diesen letztendlich verdrängen konnte.70 In einem Artikel überden EisenbahnbauimRussischen Reich weist Alfred Rieber darauf hin, dass eine Gruppe slawophil eingestellterUnternehmer sich gegen den Bauvon Eisenbahnen durch „Juden und Ausländer“ gewehrt hätte. In den 1860er-Jahren versah eine russische ZeitschriftJuden, die fürdie französische Grande SociØtØ des Chemins de Ferrusses arbeiteten, mit der Be- zeichnung „jene schlauen Juden, die Könige Europas“, wobei es sich um eine deutliche Anleihe beiToussenel handelt.71 Diese Veränderungen weisenauf Rezeptions- und Transferprozesse zwischen Westeuropa und dem Russischen

67 Claudio Sergio Ingerflom, IdØologie rØvolutionnaire et mentalitØ antisØmite. Lessocialistes russes face auxpogromsde1881–1883, in:Annales. Économies, SociØtØs, Civilisations37 (1982), S. 439. 68 BenoîtMalon, La question juive, in:Revue socialiste (1886), S. 505–514. 69 Zur Mittlerfunktion vonJuden in der osteuropäischen Wirtschaftvgl.HeikoHaumann, Geschichte der Ostjuden, München 51999, S. 62–68. 70 Vgl. Robert Weinberg,„Look!Upthere in the sky:it’s avulture, it’s abat… it’s aJew“. Reflections on Antisemitism in Late Imperial Russia, 1906–1914, in:Eugen M. Avrutin/ Harriett Murray (Hg.), Jews in the East European Borderlands. Essays in HonorofJohn D. Klier (Borderlines:Russian and East European Jewish Studies), Boston2012, S. 167–186. 71 VglAlfredJ.Rieber,The Formation of La Grande SociØtØ des Chemins de Ferrusses, in: Jahrbücher fürGeschichte Osteuropas N. F. 21 (1973), S. 375–391, hier S. 388. Vgl.hierzu außerdem John Doyle Klier,Imperial Russia’s Jewish Question,1855–1881 (Cambridge Russian, Soviet and post-Soviet studies, 96), Cambridge 1995, S. 483 Anm. 14.

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Reich hin. Um die Quantitätund Qualitätdieser Austauschprozesse als auch die Überlappungen linker und rechter antisemitischer Strömungen im Zarenreich analysieren zu können, sind russische Zeitungen und Zeitschriften ausder Za- renzeit durchzusehen. Ein Schwerpunkt wird aufden Phasen krisenhafter Ver- dichtung 1881–1882, 1903–1905 und 1914–1917 liegen, als Krieg,Revolution und Pogrome dasZarenreich erschütterten. NebenZeitungen und Zeitschriften sind außerdem ausgewählte Nachlässe in Archiven und Bibliotheken ebenso wie Bestände zum russischen Exil durchzusehen, um diesen Transferprozessen nachzuspüren.72

72 Es ist bekannt, dass französische Autoren wieSaint-Simon, Fourier,Louis Blanc oder Proudhon in Russlandrezipiertwurden, vgl. Georges Sourine, Le fouriØrisme en Russie. Contribution à l’histoiredusocialismerusse, Th›se, Paris1936. Die konkrete Rezeption und der Transfer der antisemitischen Ideen dieser Autorensind hingegen weniger bekannt. Die Schweiz spielte eine wichtige Rolle fürdie Netzwerkbildungrussischer Sozialisten und als Rahmen fürdiesen Transfer.Vgl.erneut Vuilleumier,Malon (wie Anm. 66).Zur Rolle der Frauen in der russischen sozialistischen Emigrationinder Schweiz am Beispiel Zürichs vgl. J. M. Meijer,Knowledge and Revolution. The Russian ColonyinZuerich 1870–1873. A Contribution to the Study of Russian Populism (Publicationsonsocial history, 1), Assen 1955, S. 3. Genf erscheintunter anderem als Ort, an dem russischerevolutionäre Broschüren gedruckt wurden. Vgl. Wachtang Lolua, Die organisatorische Entwicklung der russischen sozialistischen Narodniki-Bewegung der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, Diss. Phil. Erlangen 1930, S. 30, 37.

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Kulturwirtschaftslehrengegen den Antisemitismus der Zeit: Die jüdischen Nationalökonomen RichardEhrenberg, Hermann Levy und JuliusHirsch

1. Einleitung:Das 19. Jahrhundert –ein „jüdisches Zeitalter“?

Der deutschbaltische Kulturhistoriker Viktor Hehn (1813–1890) hat in seinen Werken zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts mehrfach den TodGoethes 1832 zum Beginn des „jüdischen Zeitalters“ erklärt.1 Die so verknüpfte Zäsur grenzte die vergangene Größeder idealistischen Epoche in Deutschland gegen eine vermeintlich nurnochinökonomischen Kategorien denkende Gegenwart ab:Dem reinen Geist vonWeimar,der noch ganz dem Wahren, Guten und Schönen gehuldigthabe, sei mit dem Ableben des Nationaldichters die wich- tigste Instanz seiner Wirksamkeit abhandengekommen;der deutsche Idealis- mussei mehr und mehr voneinem Denken in Zweck- und Nutzen-Kategorien verdrängtworden.2 Dieser Gedankewar es auch, der im Verlauf des Berliner Antisemitismusstreits von1879/80zum Ausgangspunkt des Hauptangriffs gegen die Juden wurde, als Heinrich vonTreitschkeihnen „eine schwere Mit- schuld am schnöden Materialismus unserer Tage“ vorwarfund insgesamt eine „jüdische Haltung der Gegenwart“ ausmachte, „die jede Arbeit nurnochals Geschäft betrachtet und die alte gemütlicheArbeitsfreudigkeit unseres Volkes zu ersticken droht“.3 Die folgenden Ausführungen gehen vondieser nachgerade klassischen Überzeugung des wirtschaftlichen Antisemitismus aus, ohne ihreEntste-

1Etwain: Victor Hehn, Goethe und das Publikum.Eine Literaturgeschichte im Kleinen,in: derselbe, Gedanken über Goethe, Berlin 1887, S. 40;vgl.hierzu die Bemerkung von: Norbert Oellers, Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum, in:Otto Horch/Horst Denkler (Hg.), Conditio Judaica, Bd. 1, Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundertbis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 1988, S. 108–130, hier S. 112. 2Vgl.die Historisierung dieser Denkfigur beiMoritz Kronenberg,Geschichte des Deutschen Idealismus, 2Bde.,München 1909/1912;hierzu:Matthias Neumann, Der deutscheIdealismus im Spiegel seiner Historiker.Genese und Protagonisten,Würzburg 2008. 3Heinrich vonTreitschke, UnsereAussichten (1879), in:Karsten Krieger (Hg.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, Bd. 1, München 2003,S.6–16, hier S. 12.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 60 Nicolas Berg hungsgeschichtenachzuzeichnen. Der wissenschaftlicheund intellektuelle Aufwand, der um 1900 ein solches dichotomes Denken verfestigthat, stehtim Weiteren nichtimZentrum. Exemplarisch könnte man hierfüretwa die direkte Anknüpfung an die Formulierung vonHehn 1899 und an dessen Affirmation durch Houston StewartChamberlain in Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts weiterverfolgen, wodurch die Denkfigur noch einmalneu ideolo- gisiertwurde.4 Noch einschlägiger ist die Fortführung der ökonomischen Kritik Treitschkes an den Juden im Werk des Nationalökonomen Werner Sombart (1863–1941), dessen Begriffsprägungen generell in Bezug aufden jüdischen Anteil am modernen Wirtschaftsleben besonders wirkmächtigwaren.5 Sein Buch Die Juden und das Wirtschaftsleben von1911 und dessen Wirkungsge- schichte können fürdas Thema gar nicht überschätzt werden;die zeitgenössi- sche (und auch die spätere wissenschaftshistorische) Diskussion gehörenohne Zweifel zu den grundlegenden Debatten der deutsch-jüdischen Ideengeschichte. Sombarts Studie erhielt mehrereAuflagen, wurde in andere Sprachen übersetzt und erfuhr eine rasche Rezeption im In- und Ausland;insgesamt waren bis in die 1930er-Jahre hinein Zehntausende vonExemplaren verkauftworden. Der Ber- liner Nationalökonom hatte hier den Anteil vonJuden an wichtigen Entwick- lungsschritten des modernen Kapitalismus aufgezählt, die spezifisch histori- schen Gründe hierfürdargelegt, sowie–amEndedes zweiten und vorallem dann im dritten Teil des Buches, dem er die Überschrift„Wiejüdisches Wesen ent- stand“ gab –gemutmaßte religiöse und völkerpsychologische Ursachen über diesen Zusammenhang vor dem Leser ausgebreitet. Das Werk fand dabei eine auffällig begeisterte Leserschaftimassimilierten jüdischen Bürgertum, die vor allem dem ersten und zweiten Teil galt;der Tenor dieser Rezeption war eine Art vonDankbarkeit darüber, dass hier eine nichtjüdische Stimme und zudem eine anerkannte wissenschaftliche Autoritätden Anteil der Juden an der modernen Welt insZentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt hatte:„Sombarts Arbeiten zeigen die Bedeutung der Juden“, so drückte es etwa der jüdische Arzt und Demograph Felix Theilhaber 1916 aus; es sei gleichgültig,„ob die Juden

4Houston StewartChamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. 1. Hälfte (Volksausgabe), München 1907 [zuerst:1899],S.381. Das Zitatfindet sich am Beginn des umfangreichen fünftenKapitels „Der Eintritt der Juden in die Abendländische Geschichte“ (ebd.,S.378–546). 5Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911;zudiesem Buch:Nicolas Berg, Juden und Kapitalismus in der Nationalökonomie um 1900. Zu Ideologie und Ressen- timentinder Wissenschaft, in:Fritz Backhaus/Liliane Weissberg (Hg.), Juden. Geld. Eine Vorstellung. Katalog zur Ausstellung am Jüdischen Museum in Frankfurta.M.,Frankfurta.M. 2013, S. 284–307;Friedrich Lenger,Werner Sombarts Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911). Inhalt, Kontext und zeitgenössische Rezeption,in: Nicolas Berg (Hg.), Kapitalis- musdebatten um 1900. Überantisemitisierende Semantikendes Jüdischen (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur,6), Leipzig 2011, S. 239–253.

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Handel und Wandel in die Orte bringen, wohin sie kommen, oder ob sie ihn mit zur Blüte bringen. Jedenfalls ist dortEntwicklung, wo sie unbedrückt leben können“.6 Aufder anderen Seite konnte das Sombart-Buch als eine besonders ausführlichewissenschaftliche Beweisführung fürdie alte These und die Über- zeugung aller Antisemiten herangezogen werden, nach der die alte, ständische Welt ausden Fugen geraten war,weil –verkürzt gesprochen –der spekulierende ,Geist des Judentums‘ die Börse und das Warenhaus erfunden hatte.7 Dervorliegende BeitragsollzudieserVorgeschichte einenKontrapunkt setzen: Mitden in der heutigen Forschung kaum noch bekannten GelehrtenRichard Ehrenberg(1857–1921),HermannLevy(1881–1949) undJuliusHirsch(1882– 1961)werdenWerkund Wirken von drei zeitgenössischen jüdischenNational- ökonomen vorgestellt,die sich denselben Fragen und Phänomenender modernen Wirtschaft zuwandtenwie SombartoderTreitschke, dieaberalledreigänzlich andere Antwortenfanden. Keiner derGenannten formulierte eine analogeVöl- kerpsychologieoderKapitalismuskritik. Stattdesseninteressiertensie sich fürdie Vorteile dermodernen Wirtschaftsorganisation,fürPhänomene der ökonomi- schenBeschleunigung,fürInternationalisierung,Verflechtungund Arbeitsmi- gration,fürdie Chancendes freien Unternehmertumsund fürdie Zukunftder Weltwirtschaft.Füralledreiwar dieamerikanischeKonsumgesellschaft einVor- bild,keinSchreckensszenario, undalledreilasen dieGrundschriften des schot- tisch-englischen Wirtschaftsliberalismusals eininDeutschland noch nichtein- gelöstes Zivilisationsversprechen. DiesedreiWissenschaftler,someine These, arbeitetenanmehrals nuranfunktionalen Fragen der Ökonomie, sieformulierten ganzeKulturwirtschaftslehren,die von einemanderen Produktivitätsbegriff ausgingen, denn beiihnen wardas vermeintlicheProblem,wer als,produktiv‘ und werals ,unproduktiv‘zugeltenhabe, dasnoch fürSombart undfürdie meisten seiner Lesererkenntnisleitend war, nichtmehrzentralesArgumentationskriteri- um.Ehrenberg, Levy und Hirsch schrieben gegenden Wirtschaftsantisemitismus derZeitan. Sieverband,dassihnen auch praktische unternehmerischeErfahrung

6Felix A. Theilhaber,Die Juden im Weltkriege mit besonderer Berücksichtigung der Verhält- nisse in Deutschland, Berlin 1916, S. 27;zur innerjüdischen Rezeption Sombarts:Thomas Meyer, Zur jüdischen Rezeption vonWerner Sombart–Julius GuttmannsAntwort, in:Berg (Hg.), Kapitalismusdebatten (wie Anm. 4), S. 293–317. 7Zum Gesamtzusammenhang v. a.:Adam Sutcliffe,Anxieties of Distinctiveness. Werner Sombart’s The Jews and ModernCapitalism and the Politics of Jewish Economic History, in: RebeccaKobrin/Adam Teller (Hg.), Purchasing Power.The Economics of ModernJewish History(Jewish Cultureand Contexts), Philadelphia 2015, S. 238–257;Georg Kamphausen, Nationalökonomie –Denkstil und FachgeschichteimFin de Si›cle, in:Berg(Hg.), Kapita- lismusdebatten (wie Anm. 5), S. 95–114;Jerry Z. Muller,Capitalism and the Jews, Princeton N. J. 2010;Hartmann Tyrell, Kapitalismus,Zins und Religion beiWerner Sombartund Max Weber, in:Johannes Heil (Hg.), Shylock?Zinsverbotund Geldverleih in jüdischer und christlicherTradition, München 1997, S. 193–217.

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2. Richard Ehrenberg und die Produktivität des tertiären Sektors

Richard Ehrenberg war ein scharfer Kritiker des Kathedersozialismus;inwirt- schaftlichen Debatten zu Zeitfragen scheute er keine Auseinandersetzung.Er war in einer gläubigen jüdischen Familie aufgewachsen, ließ sich aber später protestantisch taufen.9 Schon als junger Mann hatte er Interesse an der wis- senschaftlichen Beschäftigung mit Wirtschaftsfragen, lerntedann zuerst das Bankgeschäft,später das Buchhändlermetier,war also selbst Kaufmann, ehe er sich in theoretischen Kontroversen äußerte. Nach der Berufsausbildung arbei- tete er ein Jahrzehntals SekretäramKöniglichen Kommerz-Kollegium in Altona, der Vorgängerin der heutigen Industrie- und Handelskammer.Seine Publika- tionstätigkeit zu wirtschaftlichen Themenbegann noch vorseinem Studium, das er in Göttingen, München und Tübingen absolvierte, und das er als Doktor der Staatswissenschaften mit Auszeichnung abschloss.Seine erste Schriftvon 1883 trug den Titel Die Fondsspekulation und die Gesetzgebung;eine weitere Ab- handlung widmete Ehrenberg1888 der Hamburger Handelsgeschichte.10 In dieser Zeit, so berichtete er im Rückblick, habeersich noch „im Sinne des Vereins fürSozialpolitik“ betätigt.11 1896 war er Augenzeuge des Streiks der Hafenarbeiter,der ihm aber nichtnur deren offenkundige Not, sondern auch den Blick „fürdie schwierige Lage der Unternehmer“ schärfte.12 Ein Jahr später

8Die folgenden Ausführungen präsentieren Forschungsergebnisse, die am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur –Simon DubnowinLeipzig,amDeutschen Historischen Institut in London, am Kulturwissenschaftlichen Kolleg der UniversitätKonstanz und während einer Gastprofessur am Fritz Bauer Institut an der Goethe-UniversitätinFrankfurt am Mainentstanden sind. Ichdankeallen Institutionen fürdie großzügige Förderung, die sie diesem Unternehmen geboten haben. Ein besondererDank fürden intensiven Austausch überdie Ideengeschichte der Ökonomie gilt JanEikeDunkhase (Berlin/Marbach/N.) und TimMeier (Leipzig). 9ZuBiographie und Werk Ehrenbergs:MartinBuchsteiner,„Ichstehe in der Wissenschaft allein“. Eine kritische Biographie, in:derselbe/Gunter Viereck (Hg.), Richard Ehrenberg (1857–1921), Rostock2008, S. 11–52;MartinHeilmann, RichardEhrenberg und die „Ka- thedersozialisten“, in:Ibidem, S. 53–86;Ralf Stremmel, RichardEhrenberg als Pionierder Unternehmensgeschichtsschreibung. Oder:Wie unabhängig kannUnternehmensgeschichte sein?, in:Ibidem, S. 143–188. 10 RichardEhrenberg,Die Fondsspekulation und die Gesetzgebung, Berlin 1883;derselbe, Wie wurde Hamburggroß.Die Anfänge des Hamburger Freihafens, Hamburg, Leipzig 1888. 11 RichardEhrenberg,Gegen den Katheder-Sozialismus!, H. 2/3, Berlin 1910, S. 42. 12 Ehrenberg, Gegen den Katheder-Sozialismus (wie Anm. 11),S.42; vgl. auch:derselbe, Der Aufstand der Hamburger Hafenarbeiter 1897, in:Jahrbücher fürNationalökonomie und

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Die jüdischen Nationalökonomen Ehrenberg, Levy und Hirsch 63 wurde Ehrenberg Professor der Staatswissenschaften in Göttingen. Hier sah er sich „innerlich genötigt,[sich] mit den schon seit Jahren immer wieder in [ihm] aufsteigenden Zweifeln an der Richtigkeit der nationalökonomischen Grundla- gen, so wiesie gelehrtwurden, auseinanderzusetzen“.13 Die Arbeit zur Spekulation, so Ehrenberg später,hatte beiihm den Wunsch geweckt, „eine Geschichte der grossen Geldmächte des 16. Jahrhunderts zu schreiben“; diese legte er später auch in Form vonzwei ausArchivquellen er- arbeitetenBänden zur Handels- und Finanzgeschichte der Fugger,sowie zur Entstehung des Börsen- und Geldhandels im 16. Jahrhundertvor.14 Außerdem befasste sich Ehrenberg mit Handelspolitik.15 Seine Interessen waren insgesamt aufFragen des Handels, der Finanzwirtschaft, des Konsums, der Seefahrtund des Transports sowieauf das Problem des Versicherungsschutzes gerichtet. Außerdem konzentrierte Ehrenberg seit 1905 seine Energie aufeine vonihm gestartete Initiative,industrielle Förderer zu gewinnen, um an der Universität Rostock ein „Institut fürexakte Wirtschaftsforschung“ zu finanzieren, ein Vorhaben, das beieinigen Kollegen Widerstände hervorrief, mit dem Thünen- Archiv aber zuletzt doch Realitätwurde.16 In seiner Arbeit plädierte Ehrenberg im Ganzen füreinen analytischeren und vorallem empirischeren Blickauf Ökonomie. Seine Grundüberzeugung lautete dabei, dass Handel und Dienst- leistungen in den Berufen des tertiären Sektors nichtunproduktiv,sondern Teil und Vollendung der Produktionund nurauf diese Weise auch angemessen zu verstehen seien. Schon der Titel seiner kleinen Schrift Der Handel. Seine wirtschaftliche Be- deutung, seine nationalen Pflichten und sein Verhältnis zum Staate (1897) ver-

Statistik 13 (1897), S. 641–658;derselbe, Straftaten im Hamburger Hafenstreik, in:Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 11 (1897), S. 513–520. 13 Ehrenberg, Gegen den Katheder-Sozialismus!(wieAnm. 11), S. 43. 14 RichardEhrenberg,Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Creditverkehr im 16. Jahr- hundert, 2Bde.,Jena 1896 (das Zitat überdie Ursprünge seiner Planung Bd. 1, S. X). 15 RichardEhrenberg,Hamburg und England im Zeitalter der Königin Elisabeth, Jena 1896; derselbe, Handelspolitik. Fünf Vorträge, gehalten im Verein fürVolkswirtschaftund Gewerbe zu Frankfurta.M., Jena 1900. 16 Zur wissenschaftspolitischen Ausrichtung des nach dem Landwirt, Ökonomen und Sozial- reformer Johann Heinrich vonThünen (1783–1850)benannten Thünen-Archivs (das dessen Nachlass enthält) vgl. die Darstellung in:Richard Ehrenberg,Sozialreformer und Unter- nehmer.Unparteiische etrachtungen, Jena 1904, S. 51–55;aus der Forschung:Angela Hartwig,Die Geschichte des RostockerThünen-Archivs, in:Buchsteiner/Viereck(Hg.), RichardEhrenberg (wie Anm. 9), S. 189–201;sehr kritisch war etwa der Leipziger Staats- wissenschaftler und Ökonom Karl Bücher,der den aufBefragungen basierenden methodi- schen Ansatz Ehrenbergs als „rohesVorstadium der eigentlich wissenschaftlichen Betäti- gung des Nationalökonomen“ bezeichnete, vgl.:Karl Bücher, Eine Schicksalsstunde der akademischen Nationalökonomie, in:Zeitschrift fürdie gesamte Staatswissenschaft 73 (1917), S. 255–292, hier S. 258.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 64 Nicolas Berg deutlicht, dass es ihm um eine grundlegende Darstellungder Thematik ging.17 Der gerade einmal hundertSeiten umfassende Text stellten den Versuch dar,die Produktivitätdes Handels theoretisch darzulegen und an Beispielen ausder Praxis empirisch nachzuweisen. Ehrenberg ging davonaus, dass die gegenwär- tige Bedeutung des Handels in der Volkswirtschaftals eine „umstrittene Frage“ aufgefasst werde. Er kritisierte hier,dass mit der These vonder „Unprodukti- vität“ des Handels regelrechtPolitik gemachtwerde. Seine prononcierte Kritik an der zeitgenössischen Volkswirtschaftslehre zielte aufderen dominierende Theorie ab,die „regelmäßig den Handel vonder Produktion sondert!“18 Doch es ging Ehrenberg dabei nichtnur um eine Polemik, sondernerwollte die Be- deutung des Handels ausseiner konkreten Funktion und gleichermaßen aus seiner Geschichte heraus begründen. Er verfolgte die Entwicklung des Zeitgeists der jeweils aktuellen Beurteilungen dessen, was der Handel fürdie Gesellschaft leistete, begann beider geläufigen antikenKritikamHandel und schilderte dann die mittelalterliche Blüte der städtischenMärkte und die Kritik hieran durch Kirche und Adel. Dann machte er den allgemeinen Handelsaufschwung im Eu- ropa des 16. Jahrhunderts und den Lobpreis des Handels durch merkantilisti- sche Ökonomen, sowiedessen bald darauf einsetzendephysiokratische Ge- genbewegung im 18. Jahrhundertzum Thema. Deren Ausläufer sah Ehrenberg bis in die handelskritische Gegenwartreichen, wofürerLehrsätze vonGustav Schmollerund Adolph Wagner anführte. Seine Schlussfolgerung lautete:

„Offenbar ist jene Knappheit der Natur an unmittelbar brauchbarenGüternkein so einfacher Begriff, wieesbeim ersten Anblick scheinen könnte;vielmehr handelt es sich dabei um eine vierfache Artvon Güterknappheit:die zur unmittelbaren Bedürfnis- befriedigung geeigneten Güter sind nichtingenügender Menge vorhanden;sie sind nichtinder fürdie Bedürfnisbefriedigung erforderlichen Beschaffenheit vorhanden; sie sind nichtamOrt ihres Bedarfs und endlich sind sie auch nichtzur Zeit ihres Bedarfs verfügbar“.19 Produktionund Distribution antworten beide aufein und dieselbeKnappheit, aufeinen gemeinsam zu beantwortenden Bedarf; sie sind, so das hier vorge- tragene Argument, in einem erweiterten Sinne das Zurverfügungstellen von zuvor überhaupt erst handhabbargemachten Gütern. Pointierter formuliert: Jede Antwortauf Güterknappheit ist Teil der „Produktion“, eine Unterscheidung zwischen dieser und einem Handel „an sich“ sei ein rein theoretisches Kon- strukt, das die Wirklichkeit gar nichtabbildet. Sein Credo lautete deshalb:

17 RichardEhrenberg,Der Handel. Seine wirtschaftlicheBedeutung, seine nationalen Pflichten und sein Verhältnis zum Staate, Jena 1897;die Schrift basierte aufeinem Vortrag,dessen Duktus sie in gedruckter Form beibehalten hat;sowendet sich der Autor etwa mehrereMale direkt an seine Zuhörer. 18 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17), S. 3. 19 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17), S. 24f.

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„Bleibt auch nureine vonihnen [gemeintsind die Aufgaben, die sich ausder Güterknappheit ergeben, N. B.] ungelöst“, so Ehrenberg,„so ist die Produktion nichtvollendet“.20 Während die herkömmliche Lehre Produktionals ,Schaffung vonWerten‘ definierte, dachte Ehrenberg Produktion vonder anderen Seite, von einem Bedürfnis her.Erwerbsarbeit wird in dieser Sichtweise immer dann produktiv,wenn sie „die Knappheit der Naturanunmittelbar brauchbaren wirtschaftlichen Gütern“ überwindet. Voneinem solchen Verständnis vonAr- beit ausgehend formulierte Ehrenberg dann seinen Produktionsbegriff, den er folgendermaßen erweitertdefinierte:„Produktion ist Überwindung vonna- türlicher Güterknappheit“,eine Definition, die den Handel in den Produktivi- tätsbegriff mit einschloss.21 Dieser Ansatz unterschied also nichtmehr kategorial zwischen Produktion und Zirkulation, sondernnur noch graduell zwischen verschiedenen Formen der Produktion, zu denen der Handel konstitutiv gehörte, weil auch er Teil der ökonomischen Antwortauf Güterknappheit darstellte.Mit dieser Position knüpfte Ehrenbergexplizit an die Konzepte des „Stoffwerts“, des „Formwerts“ und des „Ortswerts“ vonGüternan, die der Heidelberger ÖkonomKarl Knies bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführthatte. Ehrenberg überführte des- sen Grundgedanken in die moderne Diskussionumdie Frage nach der Han- delsproduktivität:Wenn der Handel am „Ortswert“ des Produkts teilhatte, dann war er auch an dessen Wertschöpfung insgesamt beteiligt.22 Ehrenberg argu- mentierttypologisch wenn er Knies weiterdachte und feststellte,dass man in der Wirtschaftgewöhnlich vier Berufsgruppen ausmachen könne, die in alltäglich gewordener Arbeitsteilung aufjeeine der verschiedenen Antworten aufGüter- knappheit spezialisiertseien:Urproduktion, Gewerbe, Handel und Spekulation. Die letzte der vier Berufsgruppen nannte Ehrenberg dabei pointiert„die eben- bürtige Schwester vonUrproduktion, Gewerbeund Handel“, führte sie beisei- nen Hörern, bzw.Lesernabermit der allergrößten Vorsichtein, ganz so,als verkünde er etwas Gefährliches oder gar Unstatthaftes:

20 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17),S.25. 21 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17),S.23f. 22 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17), S. 39f.:„Nurein Nationalökonomist mir bekannt, der in der Wertlehre bereits ähnliche Begriffe eingeführthat,wie sie mir als nötigerscheinen;das ist der alte Knies.“ Doch auch dieser,soEhrenberg weiter, habe seine „beiläufig“ gemachte Unterscheidung gar nichtausgearbeitet, ja selbstunterschätzt, einen kongenialen Nachfolger habeerspäter nie gefunden;auch EugenBöhm-Bawerk, der die Begriffe später aufgegriffen habe, maß ihnen keinen besonderen Wert bei, so Ehrenberg.Der Bezug aufKnies gilt:Karl Knies, Die politische Ökonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode [zuerst 1853],Braunschweig 1883;vgl.zur subjektiven Wertlehreeinführend:Birger P. Priddat (Hg.), Wert,Meinung, Bedeutung. Die Tradition der subjektiven Wertlehre in der deutschen Nationalökonomie vor Menger (Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, 3), Marburg1997.

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„Erschrecken Sie nicht überdas, was ich Ihnenjetzt sagen werde;ich möchte es Ihnen am liebsten verschweigen, denn es ist nichts geringeres, als die Legitimierung einer Thätigkeit, die alle Welt jetztzuhassen und zu verachten scheint, eines wahren enfant terrible der bürgerlichen Erwerbsarbeit;aberwas nützte es, wenn ich es Ihnenheute nichtsage? Überkurz oder lang müßte es ja doch ans Tageslichtkommen:die vierte Produktionsart, die ebenbürtige Schwester vonUrproduktion, Gewerbeund Handel ist die Spekulation.[…] Mein Gewissen gebietetmir dabei, Ihnen anzuvertrauen, daß dasjenige, was ich Ihnenhier überdie Spekulation sage, noch weniger zum gesicherten Bestande der Wissenschaft gehört,wie die Ihnenvorgetragene Lehre vonder Pro- duktivitätdes Handels.Wenn das, was ich Ihnen heute sage, in der Welt der deutschen Wissenschaftbekanntwird, so wird sich wohl zunächsthier und da einiges Schütteln der Köpfe ereignen, und namentlichwird man mir vorwerfen,daßich Ihnen […] solche noch nichtallgemein anerkannte Lehren vorgetragen habe“.23

Es waren die alten Begriffe, aber Ehrenberg interpretierte sie –nichtohne Skrupel –völlig anders. Denn in seiner Betrachtung unterteilten sich die vier Konzepte gerade nichtinjedoppelt antinomisch gegenüberstehende Prinzipien- Paare, vondenen das eine –Produktionund Gewerbe–die ,eigentlich‘ ökono- mischen Wertehervorbrachte, während das anderePrinzip –Handel und Spe- kulation –als lediglich verteuernder Zwischenschritt des Verteilens vonver- meintlich natürlich vorhandenen Wirtschaftsgüternden direkten Zugang zu diesen verhindereund stattdessen willkürliche Bedingungen fürVerkauf und Erwerb diktiere. Dass er mit seiner These vom produktiven Ortswertdes Han- dels eine Außenseiterposition vertrat, hatte Ehrenberg richtiggesehen. Den Handel eine „Produktionsart“ zu nennen und aufdiese Weise zu einer integralen Stufe der Wertschöpfungskette zu zählen, war in der Wissenschaftum1900 nicht Schulmeinung. Ehrenbergerntete vehementen Widerspruch. Zustimmung er- hielt er dagegen vonnur wenigen Kollegen, zu ihnen zählten –neben Julius Hirsch, vondem gleich die Rede sein wird –,Lujo Brentano,der ebenfalls vom Bedürfnis der Käufer her dachte, Heinrich Edgar Landauer und der Hamburger Handelsforscher Heinrich Sieveking.24

23 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17), S. 31f. 24 Lujo Brentano,Versuch einer Theorie der Bedürfnisse, München 1908;derselbe, Überden Wahnsinn der Handelsfeindlichkeit, München 1916;derselbe,Handel und Kapitalismus, in: RichardBräu/HansG.Nutzinger (Hg.), Lujo Brentano.Der wirtschaftende Mensch in der Geschichte [zuerst 1923],(Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, 32), Marburg2008, S. 231–270;Lujo Brentano,Ist der Handel an sich Parasit?[zuerst 1905],in: RichardBräu/HansG.Nutzinger (Hg.), Lujo Brentano.Der tätige Mensch und die Wissen- schaftvon der Wirtschaft. Schriften zur Volkswirtschaftslehreund Sozialpolitik (1877–1924) (Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, 24), Marburg 2006, S. 339–344; Lujo Brentano,Die Produktivitätdes Handels noch einmal [zuerst 1905],in: ebenda, S. 345–348;Edgar Landauer,Ueber die Stellungdes Handels in der modernen industriellen Entwicklung,in: Archiv fürSozialwissenschaft und Sozialpolitik 35 (1912), S. 879–892; Heinrich Sieveking, Entwicklung,Wesen und Bedeutung des Handels, in:Grundriß der

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Das war also die Positionvon Richard Ehrenberg:Erwollte die theoretische Grundidee des Handels verteidigtwissen, nichtnur seine Funktion. Seine Wirtschaftsgeschichtsschreibung kann heute als ein Versuch gedeutet werden, Erkenntnis überWirtschaftebennicht in völkerpsychologischen Kategorien zu gewinnen. Seine Erfahrungen als Jude waren hierfürkeineswegs irrelevant: Um den jüdischen Anteil an allgemeinen Entwicklungen anders als der Zeitgeist zu würdigen, musste er ihn jenseits der herkömmlichen ökonomischen Begriff- lichkeit formulieren. Er bemühtesich um einen neuen Empirismus, um ein neues Produktivitätskonzept und um die Erneuerung des Leistungsgedankens, der die Trennung in verschiedene Glaubens- oder Volksgruppen unterlief. Au- ßerdem zeigte er den unternehmerischen Kapitalismus auch dortamWerke, wo Juden überhaupt nichtbeteiligtwaren. Händler und Unternehmer beschrieb er als Gruppe sui generis, weder (marxistisch) als Klasse, noch (bürgerlich) als religiösgeprägtes Ausnahmekollektiv, vorallem aber betrachtete er Juden nicht als lediglich unproduktiveSpekulanten. Er zeichnete ihreBedeutung fürdie Allgemeinheit positiv, überihren Beitrag zum Zugewinn an Wohlstand. Unter- nehmertum war fürihn generell –darin näherte er sich ihrem gesellschaftlich- beruflichen Selbstverständnis an –eine Haltung zur modernen Welt, die es nicht zuließ,Unterschiedezwischen jüdischen und christlichen Protagonisten zu ziehen. Er richtete sich so diametral gegenWerner Sombarts aufJuden bezogene Thesen, denen zufolge der „kapitalistische Geist“ in erster Linie durch einen ungezügelten Erwerbstrieb der jüdischen Unternehmerzudefinieren sei und dies den Grund darstelle, warum gerade Juden eine besondereBegabungfürihn mitbrachten;eine solche Auffassung sei nichtmehr als „ein Hirngespinst“, so die Kritik vonEhrenberg.25 Sombarts einflussreiche Darstellung des vermeintlich spezifischen „jüdischen Reichtums“, der Voraussetzung fürdie Entstehung des Kapitalismus sei, erweise sich als reine Fiktion. Ihr Realitätsgehalt sei gering,da beiihm –wie es der Schriftsteller JakobWassermann aufden Punkt brachte –nur das „übliche Dutzend Namen […],einige europäische und einige ausder Wallstreet“, genanntwerde.26 Ehrenberg botlange vordem Ansinnen Sombarts, auseinigen wiederkehrenden jüdischen Namen ein ganzes Erklärungsmodell für

Sozialökonomik, V. Abteilung:Handel, Transportwesen, Bankwesen, Tübingen 21925;die damalige ,Produktivitäts-Debatte‘ reflektiertinsgesamt:Adolf Kamer,Beiträge zur Ge- schichte des Problems der Produktivitätdes Handels, Inaug.Diss.,Zürich1909;Joseph Burri, Die Stellungdes Handels in der nationalökonomischen Theorie seit Adam Smith, in: Zeitschrift fürdie gesamte Staatswissenschaft 69/4 (1913), S. 574–646; vgl. auch die Kom- mentare zu Ehrenberg bei:Georg Otto Schudrowitz, Die Entwicklung der Lehre vom Handel und Absatzund ihr Einfluß aufdie Betriebswirtschaftslehre, Inaug.-Diss. der Wirtsch.- und Sozialwissenschaftlichen Fakultätder Univ.Erlangen-Nürnberg 1968, S. 82–85. 25 RichardEhrenberg,Krupp-Studien, III, 1911, S. 156. 26 JakobWassermann, Die psychologische Situationdes Judentums, in:BernhardHarms (Hg.), Volk und Reich der Deutschen, Bd. 1, Berlin 1929, S. 441–455, hierS.444.

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3. Hermann Levy und die ökonomische Bedeutung von Immigranten

In Begriff und Konzept der vermeintlich fehlenden jüdischen Produktivitätwar inzwischen eine doppelte Ökonomisierungeingegangen. Eine solche Sichtweise basierte keineswegs ausschließlich aufder sozialen Lage jüdischer Arbeiter,also etwa aufder verbreiteten Armut osteuropäischer Einwanderer,sonderndiese Sichtbezog sich generellauf ihr wirtschaftliches Handeln, das im Lichte einer völkerpsychologischen Theoriebildung die Wahrnehmung jüdischer Existenz durch die gesellschaftliche Mehrheit insgesamt mehr und mehr prägte. Für Sombarts ökonomische Theorie hatte nurdas „Volumen vonUrstoffen“ Geltung, womit er Bergbauerzeugnisse und Landwirtschaftmeinte:Die Ökonomie eines Landes basierte aufder „Produktivitätder Urproduktion“, aufder „Produkti- vitätder Landwirtschaftund des Bergbaues“.27 Als ,jüdisch‘ wahrgenommene Berufe waren derartneophysiokratisch betrachtet also deshalb ,unproduktiv‘, weil sie gerade nichtauf dem Acker, in der Silbermine oder in der Kohlengrube stattfanden, sondernals Dienstleistung und Vermittlung, in Handelund Kom- munikation, in Presse und freien Berufen. Theorie und Terminologie von Sombartrückten Wirtschaftsformund Zugehörigkeit zu einem Volk eng zu- einander,wenn er der „ideenhaften“ Volksgemeinschaftden „interessenhaften Verband“ gegenüberstellte, der in seiner Deutungbereits den „Volkszerfall“ dokumentiere.28 Denn fürSombartbestand kein Zweifel daran, dass eine solche „interessenhafte Gesellschaft“ auch „unfruchtbar“, also unproduktiv sei, da in seinem System nurinder Gemeinschaft„echte Kultur“ möglich war;Interes- sengemeinschaften, so sein apodiktisches Urteil, seienapriori„kalt“.29 Folgt

27 Werner Sombart,Emporkommen,Entfaltungund Auswirkung desKapitalismusinDeutsch- land,in: Harms(Hg.),Volkund Reichder Deutschen, Bd.1(wie Anm.26),S.199–219,hier S. 212f. 28 Werner Sombart,Kapitalismus und kapitalistischer Geist in ihrer Bedeutung fürVolksge- meinschaft und Volkszersetzung, in:Harms (Hg.), Volk und Reich der Deutschen, Bd. 1(wie Anm. 26), 280–292, hier S. 280. 29 Sombart, Kapitalismus (wie Anm. 28), S. 291;diese Dichotomie des Werturteils basierte auf der Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) vonFerdinand Tönnies, deren Erstausgabe den Untertitel Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Cultur- formen trug;berühmt wurde sie dann mit der zweiten Auflage von1912 mit dem Untertitel Grundbegriffe der reinen Soziologie.

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30 Solche Thesenwiederum zogen dann auch die vielen innerjüdischen Appelle zur ,Rückkehr‘ zu einer vermeintlich natürlichen Arbeit nach sich, die ausheutigerSichteine eher irritie- rende Selbstpathologisierung darstellen, mit der innerjüdische Zeitdiagnosen die an sie herangetragenen Produktivitätsforderungen im Sinne Sombarts zu beantworten suchten: Diese Reaktion affirmierte das Axiom der „falschen“jüdischen Ökonomisierung als „In- teressengemeinschaft“, die nur durch eine Forcierung vonHandarbeit, Landbauund Bo- denbewirtschaftung wieder in eine „richtige Wirtschaftsform“ zurückverwandeltwerden könne, so dass auseiner „kranken“ wieder eine „gesunde“ Lebensgrundlagewerdenkönne; vgl. hierzu:Nicolas Berg, „Weg vom Kaufmannsstande!Zurück zur Urproduktion!“ Pro- duktivitätsforderungen an Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in:Nicole Colin/ Franziska Schößler (Hg.), Das nennen Sie Arbeit?Der Produktivitätsdiskurs und seine Ausschlüsse (Amsterdam German Studies), Heidelberg 2013,S.29–53. 31 Hermann Levy,Die Notder englischen Landwirte zur Zeit der hohen Getreidezölle, Stuttgart, Berlin 1902;derselbe, Soziologische Studien über das englische Volk, Jena 1920;derselbe, Die englische Wirtschaft. Handbuch der englisch-amerikanischen Kultur, Leipzig 1922. Im Ersten Weltkrieg veröffentlichte Levy auch mehrerenationalistische Kampfschriften, in denen der Kriegsgegner und seine Wirtschaftsambitionen attackiertund die deutschen Herrschaftsansprüche verteidigt werden, vgl.:Hermann Levy,Die neue Kontinentalsperre – Ist Grossbritannien wirtschaftlich bedroht?,Berlin 1915;derselbe, Unser Wirtschaftskrieg gegen England, Berlin 1916;derselbe, Die englische Gefahr fürdie weltwirtschaftliche Zu- kunftdes Deutschen Reiches, Berlin 1916.

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Jahre in erweiterter Form neu auflegen ließ.32 Hierin pries Levy den „weltge- schichtlich bedeutsamen Gesamtliberalismus“, den er vom weitläufig verun- glimpften „manchesterlichen Parteiliberalismus“ unterschieden wissen wollte.33 Bereits die erste Auflage der Schriftenthielt ein eigenes Kapitel überImmi- granten und ihren besonderen Beitrag zum englischen Wirtschaftsaufschwung, ein Argument, das im Kontext vonLevysGesamtwerk vonausschlaggebender Bedeutung wurde. Kurze Zeit später legte er den Aufsatz Der Ausländer –Ein Beitrag zur Soziologie des internationalen Menschenaustauschs vor, der eine Zusammenfassung seiner soziologischen Thesen zum ökonomischen Habitus vonEinzelnen, Gruppen und Nationalitäten in der Fremde darstellte.34 Denn Levy war beialler Hochachtung vor dem englischen Wegindie Moderne kei- neswegs der Meinung,dass der ökonomische Fortschritt vonEngländernalleine ins Werk gesetzt worden sei. Vielmehrerinnerte er häufig an die eigenständigen Beiträge vonHolländern, Italienernund Deutschen oder aber an die ökonomi- sche Kreativitätreligiöser Gruppen wieHugenotten, Protestanten oder Juden. Alle vonihm dabei beachtetenKollektive, ob national oder religiösdefiniert, hatten immer dann eine besonders auffällige und nachhaltige ökonomische Bedeutung,wenn sie ihre wirtschaftliche Tätigkeit nichtzuhause, am Ortder Geburt, sondern in der Fremde entfaltet hatten. So formulierte Levy mit seiner Verneigung vor der neuzeitlichen englischen ToleranzinreligiösenDingen und ihrer Fähigkeit zur Integration vonZuwandererneine weit ausgreifende Theorie ökonomischer Modernisierung,inder er den vorbildhaften Beitrag vonEin- wanderern füralle Volkswirtschaften zu allen Zeiten herausstellte. Nebender in seinen Schriften immer wiederkehrenden Beschäftigung mit der Entstehung und der Bedeutung der Ökonomie in England und Amerika interessierten ihn die Frage, „welche spezifischen KräfteproduktiverArt“35 ein Ausländer (oder eben auch eine Gruppe vonAuswanderern auseinem bestimmten Staat oder einer Region) in das Wirtschaftsleben des gewählten Ziellands neu einzuspeisen wusste. Als drittes großes Thema schließlich finden sich beiLevy Ansätze einer ideellen Begründung der Einheit der Weltwirtschaft, denn er war davon über-

32 Hermann Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus in der Geschichte der englischen Volkswirtschaft, Jena 1912;derselbe, Der Wirtschaftsliberalismus in England, Jena 1928. 33 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. 4. 34 Hermann Levy,Der Ausländer.Ein Beitrag zur Soziologie des internationalen Menschen- austauschs, in:Weltwirtschaftliches Archiv 2(1913), S. 273–298;die Nähe zu Georg Simmels Reflexionen überdie Figur des „Fremden“ ist evident, vgl.:Klaus Christian Köhnke, ,Der Fremde‘ als Typus und als historische Kategorie.Zueinem soziologischen Grundbegriff bei Georg Simmel, Alfred Schütz und RobertMichels, in:Berg(Hg.), Kapitalismusdebatten um 1900 (wie Anm. 5), S. 219–238. 35 Levy,Der Ausländer (wie Anm. 34), S. 274.

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36 Hermann Levy,Die Grundlagen der Weltwirtschaft. Eine Einführung in das internationale Wirtschaftsleben, Leipzig, Berlin 1924, S. 9. 37 Vgl. als Einführung in diese Grundlagendebatte der Soziologie:Wolfgang Schluchter/ Friedrich Wilhelm Graf (Hgg.), Asketischer Protestantismusund der „Geist“ des modernen Kapitalismus. MaxWeberund Ernst Troeltsch, Tübingen 2005. 38 Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München, Leipzig 1915. 39 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. VI. 40 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 144f. 41 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 13. 42 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 38. 43 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 15, 40.

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ergießen im Begriffe ist, weil keines vonihnen gegen die andringende Gefahr gepanzert ist durch die heldische Weltanschauung,die allein […] Rettung und Schutz verheißt“.44 Zudem hatte er in seinem Anti-Englandbuch auch vor der „Ausländerei“ in Deutschland gewarnt und sicheinen „Sturmwind“ herbeigewünscht, „der unser Land durchbraust“ und mit dem „Snobismus“ und „Geistreichelei“ „fortgefegt“ würden.45 Der genaugegenteilige Aufruf zu einer intellektuellen wie ökonomischen Verflechtung der Beziehungen zwischen beiden Ländern, wieLevy ihn vorund nach dem Ersten Weltkrieg äußerte, enthielt im Kontrast hierzu keine Denkfigur der wieimmer imaginierten „Reinheit“eines deutschen „Wesens“ oder deut- scher „Sinnesart“. Stattdessen findetsich beiihm aufrichtigempfundene Be- wunderung fürdie englische Toleranz und fürdas angelsächsische Elementdes common sense in Wirtschaftund Gesellschaft. England war fürLevy,lange bevor es fürihn persönlich zum rettenden Hafenwurde –1933 wurde er aufgrund seiner jüdischen Herkunftins Exil getrieben und konnte sich nach London retten,woerimJanuar 1949 starb –, ein Ortder Verheißung,ein Land, dessen Vorzüge in höchstem Maßeerstrebenswertwaren. Sein Interesse an den Grundlagendes Wirtschaftsliberalismusließ ihn die wirtschaftliche Vernunft der Engländer preisen, in der er eine unerschütterliche Kraftsah, die auch durch die Krisen der Gegenwartnichtinfrage gestellt werden konnte. „Liberalismus“ – das war fürihn das Gegenteil eines Schimpfworts und kein analog zur konti- nentalen Ablehnung gegen „Freihandel“ verwendeter Begriff. Der Begriff hatte fürihn mit der affektgeladenen Polemik gegendas „Manchestertum“ Englands nichts zu tun. Ehrenberg pries vielmehr das Geistesleben Englands im 17. Jahrhundert, eines Zeitalters, so die Pointe des Arguments, dessen geistige Bewegungen gar nichtauf das Wirtschaftsleben abzielten, sondern gerade „ab- seits“ davongeschahen und die somit die Ökonomie „nur indirekt beeinfluß- ten“.46 So war in London ein „eherner Bestand liberaler Gesinnung“47 fürLevy auch in der Gegenwartzuerkennen, denn dieser hatte sich überalle Konjunk- turen der Geschichte hinweg erhalten und war „tief in dem Bewußtsein der alten Kulturvölker verankert“.48 Seine Schriftendet mit den Worten: „DerGlaubeandie Rechte der Persönlichkeit, an die Notwendigkeit möglichsterEnt- faltung des Einzelnen, an seinebürgerliche Gleichberechtigung, die Toleranz gegen- überden Meinungen anderer,sei es politisch andersdenkender Gegner,sei es An-

44 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 14, 140, 145. 45 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 125. 46 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. VII;weiter heißtes hier:„Das 17. Jahrhundertist das Zeitalter der großen prinzipiellen Vorbereitung und Er- ziehung des englischenVolkes zur wirtschaftlichen Führerschaftspäterer Zeiten gewesen.“ 47 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. 5. 48 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. 5.

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derskonfessioneller,die soziale Gleichbewertung der Berufe, die Duldsamkeit gegen- überden Heiligtümernanderer Völker und Rassenund vieles in jener Richtung des Kulturliberalismus, was anderen Nationen heute noch nichtinFleisch und Blut über- gegangenist, wird selbst unter einer neuen sozialenVerfassung dem Engländer ver- bleiben. Denn es ist Bestandteil des Volkscharakters geworden“.49

Sein fester Glaubeandie Kraftdieses Erbes ließen ihn denn auch im englischen Alltag seiner Zeit Beispiele hierfürfinden:Imkulturliberalen Geist erkannte er den „Charakter indelebilis“ der Kultur Englands, eine Unzerstörbarkeit, die auch keine ökonomische Erschütterung je beenden könnte.50 Levy fasste unter „Kul- turliberalismus“ das zusammen, was aufdie geistigen Grundschriften des 17. Jahrhunderts zurückzuführen war und was nun„allgemeines Kulturgut des englischen Volkes“ geworden sei.51 Die Aufklärungsschriften Englands (Locke, Hume, Smith) seien alles andere als bloße„papierne Kulturgüter“, sondern „aus der Tiefe des sozialen Gefüges“ hervorgewachsen und zur Struktur der Gesell- schaftgeworden.52 Zu dieser Kultur zählte er die Selbstverantwortung,die Ab- neigung gegen Zentralismus und vorallem die Absenz politischer und ökono- mischer Doktrinen;injedweder Ideologie und in allen politischen Gesetzen mit überzeitlichen Ansprüchen sah Levy etwas „unliberales“ und dieser Ausdruck war fürihn identisch mit „unenglisch“. Als ein besonders aussagekräftiges Beispiel fürden Nachweis einer aufrichtigen englischen Liberalitätund Leis- tungsgerechtigkeit galtihm die Tatsache, dass in der britischen Kultur fürJuden der Aufstieg in die allerhöchsten Ämter möglich war,dass etwa –wie Levy hier mit doppeltem Stolz fürEngland und die Juden anmerkte –ein Isaac Rufus (1860–1935) als Sohn eines jüdischen Obsthändlers ausWhitechapel, dem im Osten der LondonerInnenstadt gelegenen Armenviertel, zunächst Jurist und Mitglied der Liberalen, dann Botschafter in Washington und Generalgouverneur und später sogar Vizekönig Indiens werden konnte.53 Gerade das die Mitglieder einzelner Nationen „am stärkstendifferenzierende Moment“, so Levy,nämlich

49 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. 128;nochpoin- tierter lautet diese Passageinder 2. Aufl.,S.185:„Dazu [gemeintsind die englischen „All- gemeineigenschaften, um die es in vielen Ländernbis vor kurzem sehr zu Rechtbeneidet wurde“,N.B.] gehört immer noch der Glaubeandie Persönlichkeit, an die Notwendigkeit der Entfaltung des Einzelnen, an seine unbedingte bürgerliche Gleichberechtigung, die Toleranz gegenüberMeinungen anderer,sei es politischer Gegner,sei es anders-konfessioneller,die soziale Gleichbewertung der Berufe u.a.m.“ 50 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus, (wie Anm. 32), S. 185. 51 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus, (wie Anm. 32), S. 183. 52 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus, (wie Anm. 32), S. 186. 53 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus, (wie Anm. 32), S. 186. Levy zitiert hier den JournalistenRudolf Kircher,Engländer,Frankfurta.M.1926:„Dieser jüdische Vizekönig stehtals ein Bahnbrecher vor seinem Volk. England […] scheute sich nicht, eine seiner großartigsten nationalen Aufgabenund sein prunkvollstes Amt in die Hände eines Rufus Isaacs zu legen.“

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54 Levy,Die Grundlagen der Weltwirtschaft(wieAnm. 36), S. 21f. 55 Levy,Die Grundlagendes ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. 113;vgl.auch derselbe, Das Immigrantenproblem,in: derselbe, Der Wirtschaftsliberalismus in England, Jena 1928,S.43–54. 56 Levy,Immigrantenproblem (wie Anm. 55), S. 43. 57 Levy,Immigrantenproblem (wie Anm. 55), S. 98f. 58 Levy,Immigrantenproblem (wie Anm. 55), S. 54. 59 Hermann Levy,Werner Sombart–the enigmatic Scholar,in:derselbe, Englandand Germany. Affinity and Contrast, Leigh-on-Sea 1949, S. 119–126; die Auseinandersetzungen mit Som- bartimWerk vonLevy erwähntauch Alexander Schug,Werbung und die Kultur des Kapi- talismus, in:Heinz-GerhardHaupt/Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurta.M./New Yo rk 2009, S. 355–369.

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4. Julius Hirsch und die Verwissenschaftlichung des Handels

Auch Julius Hirsch könnte man, nach einer Formulierung vonRainer Gries, als einen der „Experten der Moderne“ bezeichnen.60 Auch er war zuerst ein Prak- tiker, der sich vom Standpunkt des gelernten Kaufmanns ausdann, ähnlich wie Ehrenbergund Levy,wissenschaftlichen Themen des Handels zuwandte. Ihn interessierte beides:konkrete, tagesaktuelle Detailprobleme der Ökonomie sowieall jene übergreifenden Fragen, die den Einfluss des Kaufmannsstandsauf Wirtschaft, Gesellschaftund Kultur als solche betrafen. Zudem war sein Er- kenntnisinteresse mit einer politischen Beratertätigkeit verknüpft.61 Hirsch vereinte aufdiese Weise Sachkenntnis, theoretisches Wissen und Einsichten in die Funktionsweise wirtschaftspolitischer Steuerungsprozesse. In der Frühzeit der Weimarer Republik war er Staatssekretärimsozialdemokratischen Reichs- wirtschafts- und Ernährungsministerium unter Robert Schmidt, wo er an den Reparationsverhandlungen mit den Alliierten teilnahm, seinen Einfluss gegen die ausdem Krieg beibehaltenen Elemente einer zentral gelenkten Planwirt- schaftspolitik geltend machte und fürprivatwirtschaftliches Unternehmertum eintrat.Als Hochschullehrer arbeitete er zu Fragen, die das Fach in aufgewühlten politischen Zeitläuften vorfand, sprach dabei aber zu den Studenten nie von einer rein ökonomischen Warteaus, sondernversuchte stets gesellschaftliche Antworten aufdie Fragen der Zeit zu geben und wurde so zu einem Vermittler zwischen Wissenschaft, Wirtschaftspraxis und Öffentlichkeit. Hirschs Publikationen und Interventionen entwarfen ebenfalls das Bild eines wohltätigen Handels, denn diesen konzipierte er wieEhrenberg und Levy als eine genuine menschliche Kulturleistung. Dieses Plädoyer geriet ihm zu einer regelrechten Liebeserklärung an alle Formen der Gütervermittlung und des Gütertauschs und an die mit ihnen verbundenen Möglichkeiten einer allge- meinen Wertschöpfung.Das Ideal seines Kaufmanns waren nichtdie Fugger, sondern –ganz zeitgemäß und aufdie gegenwärtige Wirtschaftbezogen –der akademisch ausgebildete Betriebswirt. Ihn sah er zwar pragmatisch, aber nicht ohne Pathos als einen „Mittler zwischen Wirtschaftslehre und Wirtschaftspra- xis“ und wies ihm so einen die sozialen Spannungen des Gemeinwesensbe-

60 Rainer Gries,Die Geburtdes Werbeexperten ausdem Geist der Psychologie. Der „Motiv- forscher“ Ernest W. Dichter als Experte der Moderne, in:Hartmut Berghoff/JakobVogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwech- sels, Frankfurt a. M./New Yo rk 2004, S. 353–375. 61 Encyclopedia Judaica, Bd. 9, S. 126;zuHirsch:Bruno Rogowsky,Von der Artund dem Erfolg des Lebens und wissenschaftlichen Schaffens Julius Hirsch, in:Karl Christian Behrens(Hg.), Der Handel heute. In Memoriam Julius Hirsch, Tübingen 1962,S.1–29;Walter Le Coutre, Persönliche Erinnerungen an Julius Hirsch, in:Ebenda, S. 31–57.

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62 Die Formulierung ausdem unpaginierten Vorwortvon Julius Hirsch/Joachim Tiburtius, Wirtschaftslehre und Wirtschaftspraxis, Berlin 1931. 63 Julius Hirsch, Das Warenhaus in Westdeutschland, seine Organisation und Wirkungen, Leipzig 1910. 64 Julius Hirsch, Die Filialbetriebe im Detailhandel (unter besonderer Berücksichtigung der kapitalistischen Massenfilialbetriebe in Deutschlandund Belgien), Bonn 1913. 65 Vgl. in diesem Tenor:Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben (wie Anm. 5),

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Kaufhaus und Filialhandel zur Verkörperung eines aufdie Spitze getriebenen „händlerischen“ Geistes stilisierte und harsch kritisierte, zeigte Hirsch schlicht und analytisch die Vor- und Nachteile der beiden neuen Verkaufsformen und -wege aufund verwies dabei nüchternauf die Gefahren, die ein staatliches Verbot des Filialhandels mit sich brächte, da andernfalls ein verschleiertes Filialsystem und somit Scheinselbstständigkeit eintreten würde. Im Ersten Weltkrieg kämpfteHirsch zunächst an der Front. Nach einer Ver- wundung arbeitete er ab 1916 als Sachverständiger an der sogenannten Reichspreisstelle, einer volkswirtschaftlichen Abteilung des Kriegsernährung- samts. Er war hier Fachgutachter fürdie im Krieg drängende Frage der Höchst- und Richtpreise sowiedes Problems gerechter Handelsspannen vonganz ver- schiedenen Branchengütern, vorallem ausdem Bereich der Lebensmittelindu- strie. Zu seinen Aufgaben gehörtees, überhöhtePreise und Preistreiberei zu verhindern, also die strikte Einhaltung vonPreisgesetzenzugewährleistenund somit Wucher zu unterbinden. Als bereits praktisch erfahrener Diplom-Kauf- mann und noch junger Gelehrter wandte Hirsch die Lehre Eugen Schmalenbachs an, beidem er die Preisfestsetzung überdie Kostenkalkulation (die sogenannten „fixen Kosten“) gelernt hatte. Ebenso untersuchte er eine kriegsspezifische Form der Warenbewegung,nämlich den umstrittenen„Kettenhandel“, dessen aufden ersten Blick intrikates Phänomen der vermeintlich gänzlich willkürlichen Preisaufschläge er in einer Publikation ausdem Jahr 1916 darlegte.66 In mehreren Broschüren widmete er sich somit einmal mehr den Kernthemen des ökono- mischen Antisemitismus seiner Zeit. Denn wiezuvor beider Diskussionum Warenhausund Filialhandel galtesweiten Teilen der gebildeten Elite wieder allgemeinen Öffentlichkeit als ausgemacht, dass es hier,imals ,unproduktiv‘ betrachteten Zwischenhandelund unter Ausnutzung der allgemeinen Kriegsnot,

S. 178;derselbe, Das Warenhaus. Ein Gebilde des hochkapitalistischen Zeitalters, in:der- selbe, Probleme des Warenhauses. Beiträge zur Geschichte und Erkenntnis der Entwicklung des Warenhauses in Deutschland,Berlin 1928, S. 151–162;zum historischen Kontext jetzt: Paul Lerner,The Consuming Temple. Jews, DepartmentStores, and the Consumer Revolution in Germany, 1880–1940,Ithaca 2015;derselbe, Könige des Einzelhandels. JüdischeWaren- hausunternehmer und die Machtdes Konsums, in:Backhaus/Gross/Weissberg (Hg.), Juden. Geld. Eine Vorstellung (wie Anm. 5), S. 204–218;Mikael Hård, Marie-Christin Wede, „Ju- dengeschäfte“. Warenhäuser im urbanen Kontext 1876–1938,in: Andreas Hoppe (Hg.), Raum und Zeit der Städte. Städtische Eigenlogik und jüdische Kultur seit der Antike, Frankfurta.M./New Yo rk 2011 (Interdisziplinäre Stadtforschung, Bd. 12), S. 143–166;Ala- rich Rooch, Warenhäuser:Inszenierungsräume der Konsumkultur. Vonder Jahrhundert- wende bis 1930, in:Werner Plumpe (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiser- reich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, S. 17–30;eine Einführung in das Thema bietet auch:Helmut Frei, Tempel der Kauflust. Eine Geschichte der Warenhauskultur,Leipzig 1997. 66 Julius Hirsch, Der Kettenhandel als Kriegserscheinung [zuerst 1916], 2Berlin 1917;vgl.auch derselbe, Die Preisgebilde des Kriegswirtschaftsrechts, Berlin 1917.

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Juden waren, die Preissteigerungen künstlich herbeiführten, ohne jeglichen Mehrwertzwischen Kauf und Verkauf geschaffenzuhaben. Hirsch und seine Schüler führten Methoden zur Berechnung angemessener Gewinnzuschläge überdie Kostenkalkulation ein und gelangten so zu einer neuen betriebswirtschaftlichen Sichtauf die Preisfrage.67 Sein Ansatz stellteeine wirtschaftswissenschaftliche Innovation im Fach dar und lieferte empirische Kriterien fürdie Schlichtung eines ökonomischen Schlüsselkonflikts der Zeit. So konnte er aufeine nachgeradebuchhalterische Weise und lediglich anhand der jeweiligen Kostenaufschlüsselung des unternehmerischen Handelns zeigen, dass die Vergleichszahlen in allen Berechnungen meist Grundlegendes außer Acht ließen, etwa, dass beiden Gesellschaftsunternehmungen die Gehälter der Di- rektoren oder der Geschäftsführer eingerechnet worden waren, nichtaberbeim Einzelkaufmann. Hirsch ging dasThema also kaufmännischan, indem er rechnerische und intellektuelle Folgerungen aufder Basis vonselbst erhobenen Daten und Originalzahlen der Kosten und Erträge durchführte. So etablierte er das Berechnungsmodell der „kostenechten Preise“68,das seither zum gängigen Lehrwissen der Betriebswirtschaftzählt. Auch zur umstrittenen Thematik der sogenannten Handelsspanne äußerte sich Hirsch betriebswirtschaftlich.69 Es sei eine Tendenz der Moderne, so sein Argument, dass mehr und mehr die Rabatt- anstelle der Preisfrage verhandelt werde, dass also ein „Gebührenprinzip fürHandelsleistungen“ Einzug halte, „eine der eigentümlichsten Wandlungen unsererVertriebswirtschaft, die ganz unter der Hand vor sich gegangen ist“ und die er guthieß.70 Mengen-, Umsatz-, Muster-, Barzahlungs-, Treue-, aber auch Saison- oder Stufenrabattwie auch Exportprämien oder Einführungspreise seienallesamt Ausdruck einer ökono- mischen Aufwertung des Handelsprinzips gegenüberder Produktion. Hirschs Forschungenzeigten auf, dass eine solche Entwicklung international und re- gional erstaunlich ähnlich verlief, dass Handelsspannen in der Höhe kaum dif- ferierten und dass der Wettbewerb dafürsorge, alle künstlich hohen Preise umgehend zu regulieren.71 Eine Epoche exponentiell sich vermehrender neuer Waren, Produkte und Dienstleistungen, so sein Argument, benötige eine quantitativeund qualitativeAusweitung der Figur des Vermittlers, der neue

67 Als Beispiel fürdie Arbeit eines seiner Schüler vgl. HerbertKahn, Die neuere Entwicklung des Filialsystems im Lebensmittelhandel.Unter hauptsächlicherBerücksichtigung von Deutschland und Amerika, Inaug.-Diss. Berlin 1931;Kahn dankte Hirsch explizit:„Die Anregung zu dieser Arbeit erhielt ich Anfang 1925 vonHerrn Staatssekretärz.D.Prof. Dr. Julius Hirsch,dem ich fürseine Unterstützung […] zu Dank verpflichtet bin.“ (S. 231). 68 Le Coutre, Persönliche Erinnerungen an Julius Hirsch (wie Anm. 61), S. 35. 69 Julius Hirsch, Die Bestimmungsgründe der Handelsspanne, in:derselbe/Karl Brandt, Die Handelsspanne, Berlin 1931, S. 13–83. 70 Hirsch, Handelsspanne (wie Anm. 69), S. 32. 71 Hirsch, Handelsspanne (wie Anm. 69), S. 37.

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Waren in neue Gebietehineintrugund der somit auch neue Vertriebsformen zu erfinden hatte. Der Handel war kein zivilisierter Raub am so mühselig verdienten Einkommen des Einzelnen, sonderneine grundlegende Relaisstation mit räumlicher,zeitlicher,preislicher „Ausgleichsfunktion“ (Preismediation, Lage- rung und auch Kreditvergabe).72 So trat Hirsch nüchterndem Zentralvorwurf des Antisemitismusentgegen, indem er diesen mit den Mitteln der Wissenschaft beantwortete und somit die Zusammensetzung des Preises, die Logik der Han- delsspanne und zuletzt die Funktion der Spekulation ökonomisch rational darstellbar machte und aufdieser neuen Basis verteidigte. Waswar fürHirsch nundie Quintessenz des Handels, dieses so viele Emo- tionen und so großen Verdacht aufrührenden Phänomens?Erentschied sich zur Beantwortung dieser Frage füreinen universalistischen Standpunkt und be- schrieb seiner Funktion der „interpersonellen Übertragung“ als dasprimäre, das alles entscheidende Charakteristikum. Indem er nichtnach landläufiger Mei- nung den Transportoder die Mobilitätals Signumder Idee des Handels her- ausstellte, sondern dessen Vermittlung, also den Besitzerwechsel, abstrahierte er vonden dominierenden ideologischen Fragen der Zeit, die sich aufdie sekun- därenOrganisationsformen des Handels kaprizierten, etwa darauf, ob der ge- gebene Ausgangspunkt Aund der avisierte Zielpunkt Binder Regieeiner Firma oder aber in der Verantwortung verschiedener Personen oder Institutionen standen.73 Doch fürHirsch stand fest:Obdieser Mobilitäts- und Vermittlungs- akt, bzw.dieser Güter-und Warentransfer nuninberuflicherArbeitsteilung zwischen zwei selbstständigen Unternehmungen erfolgte oder aber in organi- satorisch-technischer Arbeitsteilung innerhalb vonTeilbetrieben großer Ge- samtunternehmen, sollte fürdie Definition der Sache selbst nichtausschlagge- bend sein. Mit seiner Definition war zugleich das ceterum censeo der zeitgenössischen Kapitalismus-Debatten unterlaufen worden, da die Entschlackung des Argu- ments aufdie Grundideedes Handels –ebendie Interpersonalitätdes Über- tragungsaktes und die Mobilitätvon Gütern, ihr Transportanden Ortdes Be- darfs, ihre möglichst rascheBewegung aufdie Menschen zu, die nichtzuihnen gelangenkönnen –keine inhaltliche Aussage darübermachte, ob der Handelsakt selbst privat-oder planwirtschaftlich organisiertwar,obermit kapitalistischen Gewinnabsichten verbunden war oder ob er sozialistisch durch Genossen- schaftsbetriebezentral organisiertwurde. ,Handel‘ war fürJulius Hirsch ganz offensichtlich etwasjenseits aller Ideologien, ein werttragender Oberbegriff, ein Wissenskonzept, vergleichbar mit ,Bildung‘ oder ,Demokratie‘. Er sah es auch

72 Hirsch, Handelsspanne (wie Anm. 69), S. 62. 73 Cohen, o. T. ,Rez. von:Heinrich Sieveking, Julius Hirsch, Grundriß der Sozialökonomik,in: Finanzarchiv 35 (1919),S.433.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 80 Nicolas Berg nichtdurch die etwas schlichte Banalitäteiner Empörung überhohe Preise im Allgemeinen oder durch den verständlichen Ärger überden schlechten Zustand einer Ware im Speziellen widerlegt. Seine Grundintention war,zuzeigen, dass weder die Idee noch die Praxis des Zwischenhandels ,jüdisch‘ waren, selbst wenn zu bestimmtenZeiten und an besonderen Orten Juden in diesem Bereich fak- tisch in hoher Prozentzahl vertreten gewesen waren oder die eine oder andere Branche dominiert haben mochten.74 Das Werk vonJulius Hirsch war das Ergebnis einer Handelswissenschaft, die er selbst ins Lebengerufen hatte und der er stets verpflichtet blieb;sein Hauptinteresse galt der gesteigerten Produktivitätimgesamtwirtschaftlichen Verlauf. ,Produktivität‘ wurde zum Schlüsselkonzept fürseinen Blick aufdie Wirtschaftinsgesamt. Er sah in der kulturellen Verdichtung,ineiner den Wert der Arbeit steigernden Verfeinerung der individuell ausgeführten Einzeltätigkeit den Ausweg ausden allgemeinen ökonomischen Gefahrenszenarien vonInfla- tion und Deflation. Davon überzeugt, dass in der nahen Zukunftder Sektor der Dienstleistungen wachsen und der allgemeine Konsum steigen, die Arbeitszeit insgesamt kürzer und die Freizeit immer wichtiger werden würde, ging es ihm mit Blick aufdie Wirtschaftvon morgen nichtumdie quantitative, sondern um eine qualitative Ausweitung des Arbeitsbegriffs. Er blickte mit ungebremster Begeisterung nach Amerikaund war davon überzeugt, dass eine Vier-oder gar Zweieinhalb-Tage-Arbeitswoche als Fortschritt in naher Zukunft zu erwarten sei.75 So konnte Hirsch mit dem kulturkritischen und antikapitalistischen Psy- chologismus vonErklärungsmustern, wiesie Sombartanbot, nichts anfangen; zu dessen scharfablehnender Wertung der Mentalitätdes Händlers insgesamt stand er ohnehin im diametralen Widerspruch. Es war fürHirsch weitaus evi- denter,den Kapitalismus ganz generell als Phänomen der modernen Zeit zu deuten, statt ihn als Objektivierung einer Völkerpsyche zu beschreiben.

74 Julius Hirschschrieb auch überdie ökonomische Krise der Juden im Osten Europas, vgl. derselbe, Die neuesten Veränderungen der jüdischen Wirtschaftslage in West- und Osteu- ropa, in:Neue jüdische Monatshefte 1(1916/17), 11 (10.03.1916), S. 306–311;12(25.03. 1917), S. 342–347;15/16 (10./25.05.1917), S. 472–482;derselbe, Wirtschaftliche Verwertung der brachliegenden ostjüdischen Arbeitskräfte, in:Neue jüdische Monatshefte, 1(10.10. 1916), S. 8–13. 75 Julius Hirsch, Das amerikanische Wirtschaftswunder,Berlin 1926;der folgende Satz als Beispiel fürden pro-amerikanischen TonHirschs:„Kritische Beobachter betonen gern, daß der Amerikaner keine Probleme sehe. In der Tat, wirtschaftliche Probleme siehteroft des- wegen nicht, weil er sie ebenschnell löst.“ (S. 216);hier auch die Formulierung vom „größten Wohlstand […],den ein Land seinem Volkejegeschenkt hat.“ (S. 256);auch:derselbe, Vorwort, in:PaulM.Mazur,Der Reichtum Amerikas. Seine Ursachen und Folgen, Berlin 1928, S. 9–22.

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5. Zusammenfassung

Dieser Überblick ist als Diskussionsvorschlag gedacht, die wissenschafts-, ideologie- und diskursgeschichtlichen Zusammenhänge vonvölkerpsychologi- schen Kapitalismustheorien in der Nationalökonomie zur Entstehung und Verbreitung des modernen Kapitalismus mit der Geschichte der Rezeption dieser Texte und Theorien in einer jüdischen Öffentlichkeit zusammenzuden- ken. Im Zentrum standen dabei drei jüdische Nationalökonomen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die das Werk vonWerner Sombartnichtnur gut kannten, sondernsichzudessen Oeuvre auch markantpositionierten und es zum Teil scharfablehnten;neben den hier betrachteten Persönlichkeiten von Richard Ehrenberg,Hermann Levy und Julius Hirsch wärenweitere zu nennen gewesen, etwa LevinGoldschmidt, der akademischeLehrer vonMax Weber76, GustavCohn, Moritz J. Bonn, SigbertFeuchtanger –ein Cousin des Schriftstel- lers –, Robert Liefmann oder Frieda Wunderlich. Die übergreifendeThese, die sich an eine solche wissenschaftshistorische Relektüre von ökonomischen Ar- beiten anschließt, lautet deshalb wiefolgt:In der Differenz zwischen den Thesen Sombarts aufder einen Seite, und den hier exemplarisch vorgestellten jüdischen Gelehrten aufder anderen, bilden sich verschiedene Produktivitätsbegriffe ab, die ganz unterschiedliche Gründe und Bewertungen des Anteils vonJuden an der Entwicklung der ökonomischen Moderne nach sich ziehen:Richard Ehrenberg pries die Produktivitätvon Handel und Dienstleistungen, Hermann Levy be- wunderte den englischen Liberalismusund hob die Bedeutung der Migranten fürdie Ökonomie eines Landes hervorund Julius Hirsch theoretisierte und verwissenschaftlichte den Handel und sah im Modell der amerikanischen Konsumwirtschaftdas Vorbild auch fürEuropa und Deutschland. Zu ihrer Zeit war aber die Wirkungsgeschichte vonSombarts Die Juden und das Wirt- schaftsleben zu mächtigund so überlagerte gerade eine antikapitalistische Schriftdie Ansichten Ehrenbergs, Levys und Hirschs, die den Kapitalismus als ,jüdisch‘ und Juden als Kapitalisten zu denunzieren beabsichtigte.77 Der vor- liegende Beitrag will auch deshalb an die vergessenenNationalökonomen er- innern, denn es gilt immer noch, den vonihnen vertretenen Begriff ökonomi- scher Produktivität, der sich vonden seinerzeit geläufigen Vorstellungen und

76 Vgl. Lutz Kaelber,Max Weber’s Dissertation, in:Historyofthe Human Scienc es 16 (2003), H. 2, S. 27–56. 77 Zur ideengeschichtlichen und ideologischenAffinitätder Deutschen zu antikapitalistischen Positionen vgl. etwa:Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen, hrsg.und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015 [zuerst 1938];Ludwig vonMises, Die Wurzeln des Anti- kapitalismus, Frankfurt/Main 1958;WolfgangHock, Deutscher Antikapitalismus. Der ideologische Kampf gegen die freie WirtschaftimZeichender großen Krise. Mit einem Vorwortvon Prof. Dr.Heinrich Rittershausen, Frankfurt a. M. 1960.

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Lehrmeinungen stark unterschied,neu zu würdigen und auch in unserer eigenen Gegenwart, die den Kapitalismus einmal mehr als bedrängendeMachtwahr- nimmt, noch einmal zu bedenken;die genannten Gelehrten haben ökonomische Begriffsklärung betrieben;sie haben den Versuch unternommen, die historische Last der vormodern-ständischen KonzepteimWirtschaftsdenken abzuwerfen und aufdiese Weise eine universalistische Perspektiveinein Fach eingespeist, das seinerzeit noch stolz darauf war,immer nationalistischer,völkischer –und auch antisemitischer –zuwerden.

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Durkheim’s and Simmel’sreactionstoantisemitism and their reflection in their views on modern society

If one ever asked oneself what sociologyisall about, one could do worse than consulting Auguste Comte’s 1822 manifesto, Prospectus des travaux scientifiques nØcessaires pour rØorganiser la societØ,the Plan of the Scientific Works Necessary for the Reorganization of Society.1 It sketches out the historical-structural task that the new discipline,whose name Comte later popularized, was supposed to fulfil, namely to end-but-preserve—as the Germans would say, aufzuheben—the Revolution: safeguard its achievements from reaction as well as from further revolutions. Sociologywould do so by separating the good bits of modernity from the bad bits. The former Comte sawasgrounded in asecular,macro- historical trend of European historyand civilization, the latter in the undis- ciplined hubris of troublemakers led astraybymetaphysicalnonsense peddled by the Enlightenment, or more precisely,bythe non-positivistic strand of the Enlightenment.Sociologywould study and understand the laws of historyand silence the metaphysical troublemakers. Sociology’s commitmenttomaking thatmessy thing called societysafe for modernity(the industrial-capitalist world system of nation states constituted and populated by modernindividuals) remained tricky.Spanners were thrown into the machineryleft, right, and centrebypeople whowere not so positive about the positivestate of society. Rather ironically,most of those whocontinued and developed the Comtean projectofsociologydid so by basing it on some of those ghastly metaphysical ideas from the Enlightenment, notably those of Immanuel Kant. Sociology, at least in France and Germany, emerged mostly as a set of differing blends of positivism and Kantian, or neo-Kantian, idealism. Even more ironic, though, is the factthatthere were some admirers and followersofat least some aspects of Comte’s philosophywho were rather hostile to the pro- gressivist, more liberal projectintowhich positivism as sociologyhad morphed

1Auguste Comte, Plan of the Scientific Work Necessaryfor the Reorganization of Society,in: Idem, Early PoliticalWritings (Cambridge Texts in the HistoryofPolitical Thought), Cam- bridge 1998, p. 47–144.

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2Michael Sutton, Nationalism,Positivism and Catholicism. The Politics of Charles Maurras and French Catholics 1890–1914 (Cambridge Studies in the Historyand TheoryofPolitics), Cambridge 1982;Olivier Dard, Charles Maurras. Le maître et l’action (Nouvelles biographies historiques), Paris2013. 3Onthe concept of Kulturkritik see Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseaubis Günther Anders, Munich 2007;Rita Aldenhoff, Kapitalismusanalyse und Kul- turkritik. Bürgerliche Nationalökonomen entdecken Karl Marx,in: Gangolf Hübinger/Wolf- gang J. Mommsen (ed.), Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurta.M.1993, p. 78–94, 218–222;Ludger Heidebrink, Der Kampf des Bürgers gegen sich selbst. Antinomien moderner Kulturkritik, in:Bernd Wirkus (ed.), Die kulturelle Moderne zwischen Demokratie und Diktatur.Die Weimarer Republik und danach, Konstanz 2007, p. 153–175;Johannes Heinssen, Historismus und Kulturkritik. Studienzur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert, Göttingen 2003. 4The sociologists tended to rejectMarxism as either aform of über-metaphysical magic thinking, as for example Simmel did whounderstooditasaform of Hegelianism, or,tothe contrary, as akind of über-utilitarianism corrosiveofsociety, as most others did. Both are partially correct perceptionsofthe Marxism of the time.

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5Marcel Stoetzler,Cultural Difference in the National State.FromTrouser-Selling Jews to Un- bridled Multiculturalism, in:Patterns of Prejudice42/3 (2008), p. 245–279; Marcel Stoetzler, The State, the Nation, and the Jews. Liberalism and the Antisemitism DisputeinBismarck’s Germany, Lincoln, London2008. 6Stephen Wilson,Ideologyand Experience. Antisemitism in Franceatthe Time of the Dreyfus Affair (The LittmanLibraryofJewish Civilization), Rutherford1982;Chad Alan Goldberg, Introduction to Emile Durkheim’s “Anti-Semitism and SocialCrisis,” in:SociologicalTheory 26,4 (2008), p. 299–321;Idem, The Jews, the Revolution,and the Old Regime in French Anti- Semitism and Durkheim’s Sociology, in:Sociological Theory29,4 (2011), p. 248–271;Pierre Birnbaum, The Anti-Semitic Moment: ATour of France in 1898. Translated by Jane Marie Todd, NewYork 2003;StevenEnglund, IllusionaryViolence:Another Look at the French Antisemitic “Riots” of 1898, in:Stefanie Schüler-Springorum/Michael Kohlstruck/Ulrich Wyrwa(ed.), Bilder kollektiver Gewalt –Kollektive GewaltimBild:Annäherungen an eine Ikonographie der Gewalt. FürWerner Bergmann zum 65. Geburtstag, Berlin 2015, S. 219–228. 7Marcel Stoetzler,Moritz Lazarus und die liberale Kritik an Heinrich vonTreitschkes liberalem Antisemitismus; in:Hans-JoachimHahn/Olaf Kistenmacher (ed.), Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft (Europäisch-jüdischeStudien. Beiträge, 20), Berlin/Boston2014, p. 98–120;MathiasBerek, Neglected German-Jewish Visionsfor aPluralistic Society:Moritz Lazarus, in:Leo Baeck Institute Ye ar Book 60 (2015), p. 45–59.

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8Emile Durkheim, L’individualisme et les intellectuels, in:Emile Durkheim:LaScienceSo- ciale et L’Action (Lesociologue, 18), Paris1970, p. 261–278;Idem, Individualism and the Intellectuals, in:Steven Lukes, Durkheim’s ‘Individualism and the Intellectuals’, in:Political Studies 18 (1969), p. 14–30, here p. 19–30;Emile Durkheim, Individualism and the In- tellectuals, in:RobertN.Bellah (ed.), Emile Durkheim on Morality and Society.Selected Writings (The Heritage of Sociology), Chicago 1973, p. 43–57. 9Stoetzler,The State, the Nation, and the Jews (see note 5);Stoetzler,MoritzLazarus (see note 7);Berek, Neglected German-Jewish Visions(see note 7). 10 Georg Simmel, Das Geld in der modernen Kultur,in: Heinz-Jürgen Dahme/DavidP.Frisby (ed.), Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1894–1900 (Gesamtausgabe, 5), Frankfurt a. M. 1992, p. 178–196;Georg Simmel, MoneyinModernCulture, in:David Frisby/Mike Featherstone(ed.), Simmel on Culture. Selected Writings (Theory, Culture & Society), London1997, p. 243–255. 11 Georg Simmel, The PhilosophyofMoney,ed. by DavidFrisby, translated by DavidFrisbyand TomBottomore,London 32004.

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12 Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, in:Revue Philosophique 24 (1887), p. 33–284;RobertAlunJones,The Positive Science of Ethics in France. German InfluencesonDe la division du travailsocial,in: Sociological Forum 9/1 (1994), p. 37–57. 13 Erik Grimmer-Solem, “EveryTrue Friend of the Fatherland.” GustavSchmoller and the “Jewish Question” 1916–1917, in:Leo Baeck Institute Ye ar Book 52/1 (2007), p. 149–163. 14 Theodor W. Adorno, Henkel, Krug und frühe Erfahrung, in:Rolf Tiedemann (Hg.), Theodor Adorno.Gesammelte Schriften, Bd. 11:Noten zur Literatur,Frankfurta.M.2003, p. 556–566. 15 Ottheim Rammstedt, Das Durkheim-SimmelscheProjekteiner “reinwissenschaftlichen Soziologie” im Schatten der Dreyfus-Affäre, in:ZeitschriftfürSoziologie 26/6 (1997),p.444.

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16 Rammstedt, Durkheim-SimmelscheProjekt (see note 15), p. 448. 17 See also Durkheim’s shorttext Anti-Semitism and Social Crisis. Emile Durkheim, Anti- Semitism and Social Crisis. Translated by Chad Alan Goldberg,in: Sociological Theory26/4 (2008), p. 321–323. This is not adeveloped theoretical text but ashortoccasional piece. Nevertheless,itclearly indicatesa‘Durkheimian’ theoretical perspectiveonantisemitism. Durkheim chooses anational frame of interpretation, opposing German and Russian anti- semitisms which are “chronic,” “traditional,” and “aristocratic” to French antisemitism which “constitutes an acute crisis, due to passing circumstances” (Durkheim, Anti-Semitism and SocialCrisis, p. 322). In France, it is the “superficial symptom of astate of social malaise”: “when society suffers, it needs someone to blame,” and it “naturally” uses “pa- riahs” “whom opinionalready disfavors” as “expiatoryvictims.” Durkheim adds that “se- condarycircumstances mayhaveplayed arole,” including “certain failings of the Jewish race.” These are not in fact causes, though, as they are “compensated by incontestable virtues,” and anyway, “the Jews lose their ethnic characterwith extreme rapidity.”The issue is a“serious moral disturbance” thatcannot be eradicated in the shortterm, but the govern- mentcan remindthe public of its morality by “repress[ing]severely all incitement to hatred” and by “enlightening the masses” (Durkheim,Anti-Semitism and Social Crisis, p. 323).

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Durkheim’s and Simmel’s reactions to antisemitism 89 least equally confidentdefense of modern, liberal civilization to Durkheim’s, while also sharing some of its ambiguities.

Durkheim’s Individualism and the intellectuals

Durkheim’s Individualism and the Intellectuals was aresponse to the article Apr›sleProc›s by Ferdinand Bruneti›re,18 ahighly regarded literarycriticand anti-Dreyfusard, that in turnhad been areaction to Zola’s J’accuse and the Manifesto of the intellectuals organized around the same time by agroup of scholars and writers.19 Bruneti›re’s article had made the points thatatleast ‘some Jews’ contributed to the emergence of antisemitism throughthe dominantrole they allegedly played in French societyand that the army was akeystone of social cohesion and national unity, and not as HerbertSpencer had it an anachronistic survivalofbarbarism in the age of industry and commerce. It culminated in a polemic against pompous intellectuals whospread individualism and anarchy, undermining the authorityofarmyand state. Bruneti›re was aphilosophical rationalist whohad been seen as an exponentofthe positivistic tendencyin literarycriticism,treating literaryhistoryasanevolutionaryprocess,20 and was famous for his attacks on what he sawasZola’s ‘scientific materialism’.Hehad already been the focus of amomentous debate when he denounced in an article of 1895 the materialistic spirit of modernscience,21 advocating the alignmentof science with religion. Around this time he had becomeanadmirer of Pope Leo XIII whose Thomism and accommodationist approach to the modernworld —such as in the 1891 encyclical Rerum Novarum—must have helped makethe notion of asynthesis of Comtean positivism and Catholicism that was then common on the French rightmore plausible. Bruneti›re’s position resonates with Comte’s ownattacks on individualism, although in Comte’s case these had been part of an anti-Protestant, rather than an anti-Jewish agenda. Durkheim’s rejoinder to Bruneti›re is written in the spirit of what Isuggest was the alternativesynthesis of positivism with Kantian idealism. At thelevel of the intendedmeaning,itisobvious that Durkheim argued against clericalism and in defence of the republic’sprofessed commitmentto‘the ideas of 1789’, whose Aufhebung—realization-cum-overcoming—positivism aimed to be.A reader wholooks for the ambivalences, contradictions and fissures in the text

18 Ferdinand Bruneti›re, Apr›sleProc›s, in:Revue des Deux Mondes 146 (1898), p. 428–446. 19 Steven Lukes, Durkheim’s ‘Individualismand theIntellectuals’, in:Political Studies18(1969), p. 14–30. 20 EltonHocking,Ferdinand Bruneti›re. The Evolution of aCritic(University of Wisconsin Studies in Language and Literature,36), Madison1936, p. 6, 37. 21 Hocking,Bruneti›re (see note 20), p. 6.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 90 Marcel Stoetzler will find most interesting,though, to what extentthe overlap between the two perspectivesproduces ambiguities in Durkheim’s position thatmirrorthose in Bruneti›re’s. To put it bluntly,the question is, how‘conservative’isDurkheim’s republicanism, and how‘liberal’ is Bruneti›re’s antisemitism?Itisevidentthat not only ‘individualism’ but also ‘positivism’ mean in this context different things to differentpeople. Durkheim’s effortinthis text to clarifyhis under- standing of the concept of ‘individualism’ arguably resulted from his own awareness of the ambiguities involved. Durkheim states that the contributions by Zola and Bruneti›re have shifted the debate from one of facts about Dreyfus to one of ‘principle’ and then picks one of the issuesaddressed by Bruneti›re:the relationship between in- dividualism and the nation. He eloquently bypasses the issue thatlies at an intermediate level between adiscussion of facts and one of principles, namely the antisemitic character of the Dreyfus affair,which Bruneti›re had discussed in the first of three sections of his Apr›sleProc›s. Durkheim implies therewith thathe understandsthe rejection of the individualism of ‘the intellectuals’ whoare said to be arrogant enough to questionthe reasoning of state and militaryhierarchyto be at the heartofthe antisemitism of the anti-Dreyfusards. He respondstothe denunciation of the ‘intellectuals’ and their individualism as hostile to stateand nation by turning the accusationonthe accuser:not individualism but those whodenounce it are anti-national. To this purpose he constructsaconcept of individualism that is, in the methodological sense of the term, non-in- dividualistic:not only is individualism, likeany other social fact, constituted by society, but it is also,for France at least, the decisivesocial factthat makes the national societycohere. Durkheim presents his principal argumentright at the beginning of the text, after the two introductoryparagraphs:“afirst ambiguity,”“une premi›re Øquivoque,” needs to be cleared up before all else:

“In order to prosecute individualism more easily, it has been confused with the narrow utilitarianism and the utilitarian egoism of Spencer and theeconomists. […] It is indeed an easy game to denounce as an ideal without grandeur this mean commer- cialism which reduces societytonothing more than avast apparatus of production and exchange, and it is exceedingly clear that all social life would be impossible if there did not exist interests superior to the interests of theindividuals. Nothing is moredeserved than that such doctrines are treated as anarchistic, and we can shakehands on this issue.”22

22 “Pourfaire plus facilementleproc›sdel’individualisme, on le confond avec l’utilitarisme Øtroitetl’ØgoïsmeutilitairedeSpenceretdes Øconomistes. […] On abeau jeu, en effet, à dØnoncer commeunidØal sans grandeurcecommercialisme mesquinqui rØduit la sociØtØà n’Þtrequ’un vaste appareil de production et d’Øchange, et il est trop clair que toute vie commune est impossible s’il n’existe pas d’intØrÞts supØrieurs auxintØrÞts individuels.Que

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Durkheim’s and Simmel’s reactions to antisemitism 91

The handshakeoffered by Durkheim is underwritten by the shared Comtean anti-individualism thatDurkheim modifies throughhis conception of aquasi- solidaristic formof, as it were, politically correct individualism that has gone throughaKantian-idealist reformulation. Durkheim goes on to argue that the anti-Dreyfusards attack the anarchistic-economistic-Spencerian conceptofin- dividualism in bad faith:they must knowthat it is an irrelevancynot even held by manyeconomists anymore. Durkheim probably had in mind here the Ka- theder-socialists of the ‘historical school’ around Schmoller whose historicist rejection of rationalism he had applauded earlier.23 Durkheim argues that the anti-Dreyfusards really attack what he proposes is the actual individualism prevalentinthe French Republic which is idealist rather than utilitarian. Durk- heim adds that their putting raisond’Øtat abovethe inviolable rights of an individual (such as Dreyfus) to fair legal processisinfactakin to the utilitarian doctrine of the greatest happiness of the greatest number which likewise fails to acknowledge the inviolabilityofindividual human rights. By contrast, the Kantian idealist individualism defended by Durkheim is one to which anotion of the generically human is sacred:

“Whoever makes an attempt on aman’s life, on aman’s liberty,onaman’s honor, inspires in us afeeling of horror analogousinevery waytothat which the believer experienceswhen he sees his idol profaned. Such an ethic […] is areligion in which man is at once the worshipper and the god.[…] This religion is individualistic […].”24

Durkheim claims that individualism in this sense is not only ‘a’ sortofreligion but it is ‘the’ religion for the modernperiod:“Not only is individualism distinct from anarchy, but it is henceforththe only system of beliefs which can ensurethe moral unityofthe country.”25 It is a“truism” that “onlyareligion can bring about this harmony.”However,“it is known todaythatareligion does not necessarily

de semblables doctrines soienttraitØes d’anarchiques, riendonc n’est plus mØritØ et nous y donnons les mains.” Durkheim, L’individualisme et les intellectuels (see note 8), p. 262; Durkheim, Individualism and the Intellectuals [Lukes] (see note 8), p. 20;Durkheim, In- dividualism and the Intellectuals [Bellah](see note 8), p. 44. 23 Amorethoroughdiscussionwould need to examine to what extentSpencer himself and the tradition of classical political economyinfactsubscribed to the bogeyman concept of in- dividualism that Bruneti›re and Durkheim construct. 24 “Quiconque attente à une vied’homme, à la libertØ d’un homme, à l’honneur d’un homme, nous inspireunsentimentd’horreur,detout pointanalogue à celuiqu’Øpreuve le croyand qui voit profaner [sic] son idole. Unetelle morale […] est une religion dontl’homme est, à la fois, le fid›le et le Dieu. […] cette religion est individualiste […]”; Durkheim, L’individualisme (see note 8), p. 265;Durkheim Individualism, Lukes(see note 8), p. 20f; Durkheim, In- dividualism, Bellah (see note 8), p. 46. 25 “Non seulementl’individualismen’est pas l’anarchie, mais c’est dØsormais le seul syst›me de croyances qui puisse assurerl’unitØ morale du pays”; Durkheim, L’individualisme (see note 8), p. 270;Durkheim Individualism [Lukes] (see note 8), p. 25;Durkheim, Individualism, Bellah (see note 8), p. 50.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 92 Marcel Stoetzler imply symbols and rites, properly speaking,ortemples and priests”26 :“essen- tially,itisnothing other than abodyofcollective beliefs and practices endowed with aspecial authority.”This authorityresults from the factthat “as soon as a goal is pursued by an entire people, it acquires, in consequence of this unan- imous adherence, asortofmoral supremacy”and “a religious character.” Durkheim recuperates therewith the conceptofthe religious from his opponents, along with thatofthe national, arguing that individualism “has penetrated our institutions and our customs, it hasbecome partofour wholelife, […] our entire moral organization,” thatis, it is central to French national culture and society.27 Durkheim writes that “all that societies requireinorder to hold together is that their members fix their eyes on the same end and come together in asingle faith.”28 This faith, to Durkheim, is individualism;ifsome misuse individualism for egoistic ends, this provesnothing against it. It is worth noting that Durkheim presupposes in this argumentthe existence of ‘a people’ (peuple) that is able unanimously to pursue ashared goal. This presupposition is reflected in the immediatelyfollowing statement, introduced with “from adifferentangle,” that for “a society” (clearly used here synonymous with ‘a people’) to be coherent(i.e.,todefine and ‘unanimously’ to pursue goals) there needs to exist “a certain intellectual and moral community.” Durkheim’s gloss onthe ‘truism’ is rather circular:religion (broadly understood) is needed to warrantmoral unity, but religion is also the resultofcommon goal-oriented action of ‘a people’ that in turnpresupposes the moral unitythat it is supposed to warrant. The most stable categoryinthis argument is actuallythe one that is least explicated, the ‘people’. Of religion Durkheim goes onto saythat it always changes so that “the religion of yesterdaycould not be the religion of tomorrow.”Hethen asks the question what new religion can replace the old onewhich Bruneti›re and others are artificially trying to resurrect.Durkheim’s argumentishere that “the only possible [religion] can only be the religion of humanity, of which the in- dividualistic ethic is the rational expression.” Here Durkheim switches from an idealist-normativeargumenttoapositivistic-factual one:hepresents what ac- tually is a(perfectly valid) liberal, Kantian-idealist normativeclaim—we ought

26 Durkheim,L’individualisme (see note 8), p. 270f; Durkheim Individualism, Lukes (see note 8),p.25; Durkheim, Individualism,Bellah (see note 8),p.51. 27 “Il apØnØtrØ nos institutionsetnos mœurs, il estmÞlØàtoute notre vie[…] toute notre organisationmorale”;Durkheim, L’individualisme (see note 8), p. 265;Durkheim In- dividualism [Lukes] (see note 8), p. 22;Durkheim, Individualism [Bellah] (see note 8), p. 46. 28 “[…] tout ce qu’il faut auxsociØtØspour Þtre cohØrentes, c’est que leurs membres aientles yeux fixØssur un mÞme but, se rencontrentdans une mÞme foi […]”; Durkheim, L’in- dividualisme (see note 8), p. 268;Durkheim Individualism [Lukes] (see note 8), p. 24; Durkheim, Individualism [Bellah] (see note 8), p. 49.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Durkheim’s and Simmel’s reactions to antisemitism 93 to promoteindividualism as the only formofquasi-religion thatmodernsociety needs—as if it was aconclusion arrivedatbyway of empirical observation: individualism positively is the religion of modernsociety. This movetransforms the normative-idealist demandintoascientific insight in the law-likenecessityof ahistorical realitythatone should not oppose, which is in keeping with the Comtean conception of what sociologyoughttodo: understand the laws of historysoastoadapt human agencytothem and sail with their winds. Durk- heim’s argumenthere is that societies grow and expand, circumstancesbecome more diverse and more mobile, and hence traditions and social practices need to “maintain astateofplasticityand instability,”while advanced division of labour also diversifies the contents of men’s minds:“the members of asingle social groupwill no longer have anything in common other than their humanity.”The “idea of the human person (personnne humaine)ingeneral,” althoughitis “given differentnuances according to the diversity of national temperaments,” is “thereforethe only idea which would survive,unalterableand impersonal, above the changing tides of particular opinions,”29 and “the sentiments which it awakens are the only ones to be found in almost all hearts”:

“Thecommunionofspirits can no longer be based on definite rites and prejudices, sincerites and prejudices have been swept away by the course of events. Consequently, nothing remains which men can loveand honorincommon if not man himself. That is howman has become godfor man and whyhecan no longer create other gods without lying to himself. […]The whole of individualism lies here;and that is what makes it a necessarydoctrine.”30

Durkheim’s argumentnot only collapses anormativeargument into an em- pirical one—the universalist, liberal normative ideal is posited as if it was a ‘necessary’ social reality anyway—but is also empirically dubious:‘general humanity’ is regrettably not at all the only thing modernindividuals acknowl- edge they share with others. Durkheim’s claim thatindividualism and the‘re- ligionofhumanity’ by necessitymust become the only possible quasi-religion in the moderncontext is a nonsequitur, and anormative, not to sayrather wishful thought. His further claim that “if there is one countryamong all others in which the individualist cause is truly national, it is our own” is likewise aclaim that the

29 Durkheim,L’individualisme(seenote8), p. 271f; Durkheim Individualism[Lukes](see note 8),p.26; Durkheim, Individualism [Bellah](seenote8), p. 51f. 30 “Lacommuniondes esprits ne peut plus se faire sur des rites et des prØjugØsdØfinis puisque rites et prØjugØssontemportØspar le cours des choses;par suite, il ne reste plus rienque les hommes puissentaimer et honorer en commun, si ce n’est l’hommelui-mÞme. Voilà com- mentl’homme est devenuundieu pourl’homme et pourquoi il ne peut plus,sans se mentir à soi-mÞme, se faire d’autres dieux. […] Tout l’individualisme est là;etc’est là ce qui en fait la doctrine nØcessaire”; Durkheim, L’individualisme (see note 8), p. 272;Durkheim In- dividualism [Lukes] (see note 8), p. 26;Durkheim, Individualism [Bellah] (see note 8), p. 52.

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Dreyfus affair itself disproved. Durkheim’s keyargumentthatthe unfair treat- mentofDreyfus constitutes an unpatriotic actrests on rather shaky foundations: Durkheim fails to give acompelling reason why, as the anti-Dreyfusards believe, nationalism, antisemitism or Catholicism,oracombination of all these could not just as well, or even more effectively,fulfil the function of being the ‘religion’ required by modernsociety. Acenturyand abit later,with the resurgence of religious ‘fundamentalisms’ of all sorts that are in practice strongly political affirmations of religion, it seems not toofar-fetched to conclude thatquite often religion is the ‘religion’ of modernsociety. Durkheim’s agreementwith the anti-Dreyfusards that societal cohesionmust be warranted by some sortofreligion would only work as the basisofananti- antisemitic argument if he was able to offer robust supportfor his claim that only “individualism properly understood”(to use the termTocqueville coinedina related context)can be thatreligion. Durkheim is in breach here of one of his own justly celebrated methodological premises:just because it is functionally and logically needed by society, it will not necessarily come about. There is much in Durkheim’s argument that Bruneti›re and other anti-Dreyfusards couldadopt without needing to cometothe anti-antisemiticconclusion that Durkheim suggests follows from it.

Simmel’s Money in modern culture

Simmel’s 1896 lecture Money in modernculture31 starts from areflection on modernity(Neuzeit)incontradistinction to the Middle Ages:while “in the Middle Ages ahuman being finds himself in compulsorymembership (bind- ender Zugehörigkeit)ofavillage (Gemeinde)oranestate, afeudal association or acorporation,”32 modernity, on the one hand, has giventhe personality “in- comparable inner and outer freedom of movement,” on the other it has given “equally incomparable objectivity” to “the material (sachliche)contents of life” to the effectthat “the things’ ownlaws(die eigenen Gesetze der Dinge)in- creasinglyassertthemselves (gelangenmehr und mehr zur Herrschaft)” as ob- jective laws—a notion that is not amillion miles from Durkheim’s concept of the faits sociaux. Simmel describes the contradictory effects of “the money econo- my”thathefinds central to the modernization process and plays out its positive and negativeeffects against eachother,ending on areligious note in a(perhaps

31 Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 178–196;Simmel, Moneyin modernculture (see note 10), p. 243–255. 32 Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 178;Simmel, Moneyinmodern culture (see note 10), p. 244.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Durkheim’s and Simmel’s reactions to antisemitism 95 surprising) efforttoreconcile the contradictions that his lecture takes accountof. The factthat Simmel puts money rather than, say, ‘divisionoflabour’ or ‘mode of production’ at the centreofthe modernization process puts his argument in direct competition with the Kulturkritik type of literature of the time, including manyantisemitic tracts, that tend to pointtomoney as the root of all the evils of moderncivilization. Simmel poses the question, here as elsewhereinhis work, howevilmoney really is. Althoughthere is no evidence thatSimmel deliberately ‘intended’ to confrontthatliterature, it seems reasonable to assume that his choice of focus reflects acertain spirit of the time to the effectthat Simmel’s argumentonmoney and modernitycan also be read as an anti-antisemitic argument, albeit in amore indirectfashion than Durkheim’s. One of the main lines of reasoning in Simmel’s lecture is that ‘the money economy’ enhances independence and autonomyofthe person and thus is a preconditionofmodernindividualisminDurkheim’s sense, but also makes possible new forms of unity. For example the “enormous successes”ofmodern trade unions have been made possible by the neutralityofmoney that“elimi- nates everything personaland specific” and unites people impersonally for a course of action. “Thus when one laments the alienating and separating effectof monetarytransactions, one shouldnot forget” that money “creates an extremely strong bond among the members of an economic circle”: money always “points to other individuals,” so that“the modernperson is dependentoninfinitely more suppliers and supply sources than was the ancientGermanic freeman or the later serf.”33 Simmel asserts that money “establishesincomparably more connections among people than ever existed in the days of feudalism or arbitrary unification (gewillkürten Einung)thatthe guild romantics (Associations-Ro- mantiker)most highly celebrate.”34 Simmel makes quite explicit here whom he argues against:those wholamentalienation, celebrateancientGermanic or other village communal life, Associations-Romantiker. Simmel defendsheremodern forms of association against Gemeinschaft (community)-style arguments. His argumentdiffers markedly fromthe wayinwhich Durkheim for example sought inspiration from medieval corporations for his proposition to create interme- diaryinstitutions between state and individual in the concluding chapter of Le Suicide35 and most famously in the 1902 preface to the second edition of De la divisiondutravail social.36

33 Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 182;Simmel, Moneyinmodern culture(see note 10), p. 246. 34 Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 183;Simmel, Moneyinmodern culture(see note 10), p. 246. 35 Emile Durkheim, On Suicide. AStudyinSociology, NewYork 1997. 36 Emile Durkheim,Preface to theSecond Edition. Some Remarks on Professional Groups,

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 96 Marcel Stoetzler

At the same time, Simmel seems to accept as validmanyobjections to modern culturethatwould also be put forward by romantic Kulturkritik such as that money produces alienation along with autonomy. Simmel makesatwo-pronged argument: “the conversion of apossession into money” is experienced as a liberation, as the value of that possession is not anymore “captured in one particular form” and can subsequently takeany arbitraryform, but it also produces “a vapidityoflife and aloosening of its substance.”37 Simmel relates to this “the restlessness and the dissatisfaction of our times”:

“Thequalitativeside of objectslose their psychological importance throughthe money economy;the continuously required estimation in terms of monetaryvalue eventually causes this to seem the only valid one;moreand more quickly one lives past the specific meaning of things that cannot be expressed in economic terms. Itsrevenge, as it were, is that dark,soverymodernfeeling that the core and meaning of life slips throughour fingers again and again, that definite satisfactions become ever rarer,that all the effort and activity is not actuallyworthwhile.”38 Equivalence with money devalues even “objects themselves.” Money is common; only the individual is noble;39 because money is equal to manythings, it “pulls the highest down to the level of the lowest.” Simmel backs up this argumentwith asentence thatcould be straight out of any kulturpessimistische polemic against democracy:it is “the tragedy of everylevelling process that it leads directly to the position of the lowest element. Forthe highest can always descend to the lowest, but anything lowseldom ascends to the highest level.” The main theoretical pointofSimmel’s lecture is thatthe ever increasing range of means thatlead to more means complicate modernlife and push life’s goals ever further out of sight,culminating in thatuniversal means, money.Due to its universality and ubiquity, Simmel argues, one “cannot ignore the frequent lamentthatmoney is the Godofour times.” This formulation goes back to Heinrich Heine whoadded (in the thirty-second dispatch of Lutetia)that

in:Steven Lukes(ed.), Emile Durkheim.The DivisionofLabor in Society, New Yo rk 2014, p. 8–32. 37 Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 186;Simmel, Money in Modern Culture (see note 10), p. 248. 38 “Die qualitative Seite der Objecte büßtdurch die Geldwirthschaft an psychologischer Be- tonung ein, die fortwährend erforderliche Abschätzung nach dem Geldwerthe läßtdiesen schließlich als den einzig gültigen erscheinen, immer rascher lebt man an der spezifischen, ökonomisch nichtausdrückbaren Bedeutung der Dinge vorüber, die sich nurdurch jene dumpfen, so sehr modernen Gefühle gleichsam rächt:daß der Kern und Sinn des Lebens uns immer vonneuem ausder Handgleitet, daß die definitiven Befriedigungen immer seltener werden, daß das ganze Mühen und Treiben doch eigentlich nichtlohne.”; Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 186;Simmel, MoneyinModernCulture(see note 10), p. 248–249. 39 Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 187;Simmel, MoneyinModern Culture (see note 10), p. 249.

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“Rothschild is his prophet.” In Heine, though,this was not a kulturkritischer ‘lament’ but asarcastic commentonJames Rothschild’s conspicuous wealth and in particular the exaggerated respectpaid to him by the ordinarymortals who visited him in his Parisoffice.40 Half acenturylater,inthe differentcontext of Simmel’s day, this much-quotedformulation had indeed becomea‘lament’ and had acquired awell-establishedantisemiticsubtext, and this seems to be what Simmel is pointing to. Simmel explores the homologyofmoney and Godinseveral directions in his efforttounderstand what makes it so plausible:God is, according to Nicholasof Cusa, “the coincidentiaoppositorum,” which means that “all the varieties and contrasts of the world reach unityinHim”; the idea of Godand, even more so, “the idea that we possess Him” creates arich mixture of feelings of peace and security, and the “feelings stimulated by money have apsychological similarity to this in their ownarena.” As the “equivalentofall values,” it “becomes the centreinwhich the most opposing,alien and distantthings find what they have in common and touch eachother.”41 Money,likeGod,grants “elevation over the individual” and inspires “trust in its omnipotence.”Likemagic, it can conjureup those lower,particular objects at anygiven momentbyre-metamorphosing into them:

“This feeling of securityand calm which the possession of moneyprovides,this con- victionofpossessinginitthe intersection of all values, constitutes psychologically,or, as it were, formally,the pointofcomparison that givesthe deeper justification to that complaintabout money as the Godofour times.”42

Simmel indicates here that in spite of its antisemitic subtext he aims not to dismiss the kulturkritische ‘lament’ but tries to discover its ‘deeper’ meaning. Next, Simmel argues that the money economymakes modernlife both ab- stractand petty: it necessitates “continuous mathematical operations in ev- erydaylife,” including the necessity constantly to reduce “qualitativevalues to quantitativeones” and anew extentof“exactness, sharpness and precision,”but also allows to calculatedifferences in value down to the penny, resulting in a

40 Heinrich Heine, Sämtliche Werke, vol. 4: Schriften zu Literatur und Politik II, Vermischtes, Munich 1972, p. 250. 41 Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 192;Simmel, Moneyinmodern culture (see note 10), p. 252. 42 “Diese Sicherheit und Ruhe, deren Gefühl der Besitz vonGeld gewährt, diese Ueberzeugung, in ihm den Schnittpunkt der Werthe zu besitzen, enthält so rein psychologisch, sozusagen formal, den Gleichungspunkt, der jener Klage über das Geld als den Gott unserer Zeit die tiefere Bedeutung giebt.” Simmel, Das Geld in der modernen Kultur(see note 10), p. 192; Simmel, Moneyinmodernculture(see note 10), p. 252.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 98 Marcel Stoetzler rather pettymentality.43 Likewise, the “factthat people carry around small de- nominations of money in their pockets” allows them anytime to purchase “all sorts of small articles, often on awhim,” increasing frivolityand a“pettystyle” of life.44 “The objective and indifferentcharacter” with which money “offers itself” to “the highest and the lowest actions” also induces ethical laxity: “Persons whoare otherwise honest mayparticipate in the most shady kinds of deceitful ‘promotions’, and manypeople are likely to behave more unconscientiously and with more dubiousethics in money matters than elsewhere.”45 The use of the term“promotions” (Gründungen)inthis passage seems to be a reference to the discourse on the so-called Gründerschwindel,astaple of the antisemitic literature of the 1870s in particular,when the economic crisis of 1873 to 1875—dubbed Gründerkrach—waslinked to the collapse of risky and sometimes fraudulent enterprises which in turnwere blamed by antisemites on Jewish involvement. Simmel concludes his lecture by emphasising that“the money economy” is internal to and aproduct of moderncultureasawhole: “Themonetarysystem [is] abranch from the same root that producesall the other flowers of our culture, [and]one can takeconsolation from this against the complaints raised particularlybythe preservers of spiritual and emotional values against the auri sacra fames and the devastation wroughtbythe financial system.The closer our un- derstandingcomestothat root, the moreapparentmust becomethe relations between the money economytonot only the dark sides but also to the subtlestand highest aspectsofour culture. Thus, likeall greathistorical forces, the moneyeconomymight resemble the mythicalspear that is itself capable of healing the wounds it inflicts.”46 Ending on this Rousseauean note, Simmel rules out arejection of modernityand the “money economy” thathesees as its defining featureasonly modernitycan

43 Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 192;Simmel, Moneyinmodern culture (see note 10), p. 253. 44 Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 192;Simmel, Moneyinmodern culture (see note 10), p. 253. 45 “So habensich Personen vonsonstiger persönlicher Ehrenhaftigkeit an den dunkelsten ‘Gründungen’ betheiligt, und viele Menschen verfahren eher in reinenGeldangelegenheiten gewissenloser und zweideutiger,als daß sie in anderen Beziehungensittlich Zweifelhaftes thäten.” 46 “Das Geldwesen [ist] ein Zweig der gleichen Wurzel, die alle Blüthen unserer Kultur treibt, [und man mag] daraus einen Trost gegenüberden Klagen schöpfen, die gerade die Pfleger der geistigen und gemüthlichen Güter überdie Auri sacra fames und überdie Verwüstungen des Geldwesens erheben. Denn je mehr die Erkenntniß sich jener Wurzel nähert, desto ersicht- licher müssen die Beziehungen der Geldwirthschaft, wiezuden Schattenseiten, so doch auch zu dem Feinsten und Höchstenunserer Kultur hervortreten, so daß es, wiealle großen geschichtlichen Mächte, dem mythischen Speer gleichen mag,der die Wunden, die er schlägt, selbst zu heilen im Stande ist.” Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 196;Simmel, Moneyinmodernculture(see note 10), p. 254f.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Durkheim’s and Simmel’s reactions to antisemitism 99 rightmodernity’s wrongs. Simmel adds that “the formation of economic life […] receives its character from the greatuniformtrends of historical life, whose ultimate sources and motives in turnare the divine secret (das göttliche Geheimniß).”47 Althoughitisimportanttorecognise that Simmel formulates here an argumentagainst anti-modern Kulturkritik,the rather cheesy meta- physical‘consolation’ he offers is unlikely to impress manyofthose whofeel driven towards it by the uglier sides of modernityand the “moneyeconomy.” Both Simmel and Durkheim similarly trytosquare the circle of defending modernsocietywhile acceptingquite afew of the kulturkritische ‘laments’ about modernityalso shared by antisemites.These include the notion that it is char- acterised by ‘Spencerian’ egotism, the abstractand soullessmechanics of the economic, and a‘sacred’ greed for material wealth all of which they argue need to be opposed. Durkheim chiefly works with adichotomyofidealist versus utili- tarian notions of individualism, Simmel more dialectically argues that the positiveand negativeaspectsofmodernity are inseparably interwoven with each other.Both suggest, though, thatmodernity’s sunnyside is bound to prevail, which Simmel suppurts by appealing to astraightforwardly metaphysical notion of a‘divine secret’, while Durkheim, in good positivist fashion recoiling from such open admission of reliance on non-sociological reasoning, suggests that there are positive, socio-historical reasons whymodernsocietynot only needs, but by necessityalso must and will produce the non-egotistical formofin- dividualism. Both interventionsintheir ownright are highly instructiveand fascinating when discussed in their respectivehistorical contexts but appear in retrospectas forms of whistling in the dark, albeit formulated eloquently and in good faith. Both are equally and in combination, though, partofthe intellectual culturethat from aperspective post-Holocaust must be said to have failed. No other per- spective is available, though:weare condemned to working within and with the debris of the civilization thatbroughtabout and was undone, but not terminated, by the Holocaust. Historyhas made historicism irrelevant: we do not have the luxuryoftaking our viewpointfrom anywhereother than adismaland dis- illusioned present. Social theorymust deal seriously and robustlywith reac- tionarycritiques of moderncapitalist civilization, including its ownblind spots and ambiguities lest it be,atbest, ineffective in the struggle against, at worst, recuperated by,the enemy. The right-wing critique of civilization can only be defeated throughacritique of the civilization modernhumans have created that turns its emancipatory promises against its failuretodeliver them. As in the texts by Durkheim and Simmel discussed in this chapter,critical study of classical

47 Simmel, Das Geld in der modernen Kultur (see note 10), p. 196;Simmel, Moneyinmodern culture(see note 10), p. 254f.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 100 Marcel Stoetzler sociological theorycan discover elements of such critique as well as the limits of a (post-) Enlightenmentthat was cut short.48

48 Iamtaking my cue here fromthe position developed by Horkheimer and Adorno, most eminently in their 1947 book, Dialectic of Enlightenment. On this see Marcel Stoetzler,‘It only needs all’: re-reading Dialectic of Enlightenmentat70, openDemocracy (June 24, 2017), URL: (last access April 28, 2018);‘DialecticofEn- lightenment. Philosophical Fragments’, in:Beverly Best/Werner Bonefeld/Chris O’Kane (eds.), 2018, The SAGE Handbook of FrankfurtSchool Critial Theory, vol.1,142–160 and ‘Wer aber vonder Geschichte des Subjekts nichtreden will, sollteauch vom Kapitalismus schweigen. Zur Radikalitätder Dialektik der Aufklärung’, in:Gunzelin Schmid Noerr/Eva- Maria Ziege, eds., 70 Jahre Dialektik der Aufklärung,Springer(in press).

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L’influence de l’antisémitisme européen sur le monde intellectuel ottoman dans les années 1880 et 1890 : le cas de La Nationisraélite d’Ebüzziya Tevfik

L’histoire de l’antisØmitisme dans l’Empireottoman reste un sujet de recherche relativementnØgligØ par l’historiographie. Cet Øtatdefait dØcoule d’un postulat erronØ selon lequel l’antisØmitisme ottoman, turc et araberØsulterait d’une rØ- action au progr›sdusionisme en Palestine. Cette littØraturerenvoie alors à la dØclaration de Balfour (1917), au mandat en Palestine (1922), à la propagande antisØmite nazie et ses diffuseurs locaux volontaires, Turcs et Arabes, dansles annØes 1930 et particuli›rementdurantlaSeconde Guerre mondiale et enfin, à la fondation de l’État d’Isralen1948. En un sens, la question de Palestine condi- tionne profondØment le champ de recherche universitairesur l’antisØmitisme dans le Moyen-Orient. L’histoire de l’antisØmitisme dans le monde musulman est ainsi souventpensØeetimaginØeenparall›le avec celle du sionisme. Cette dØ- marche est bien problØmatique en ce qu’elle renverse le lien de causalitØ qui existe dans l’espace europØen entrel’apparition d’un antisØmitismemoderne diffØrent de l’antijudaïsme chrØtien et la naissance du sionisme. Critiquantcetteapproche, je commencerai ici par la prØhistoire de l’antisØ- mitisme dans le mondemusulman mØditerranØen, c’est-à-dire par quelques notes sur l’antijudaïsme au Moyen-Orient. Puis je prØsenterai et analyserai la premi›re manifestation d’antisØmitisme moderne dans ces contrØes qui con- stitue mon objet d’Øtude, un livre en ottoman, intitulØ Millet-i isrâiliye (LaNation israØlite) et publiØ en 1888.

De l’antijudaïsme àl’antisémitisme

MÞme s’il est vrai que les principaux ØlØmentsdel’antijudaïsme, c’est-à-dire l’accusation portØecontreles juifs au sujet du meurtredeJØsus et de l’empoi- sonnementdes puits et les calomnies de sang n’existaientpas dans les sociØtØs musulmanes,cela ne veut pas dire non plus qu’il n’y avaitaucun prØjugØ ou sentimentd’hostilitØàl’Øgard des juifs. Au Moyen ffge, des rØactions antijuives survinrentaussidans le monde musulman. Parexemple, il est possible de trouver

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 104 Özgür Türesay des exemples d’un discours antijuif imbibØ des arguments de l’antijudaïsme, parmi les membres de l’Ølite politique ottomaneduXVIe et du XVIIe si›cle.1 Mais ces rares exemples conflictuels restentdifficilementcomparables à tous ceux qui avaienteulieu dans les sociØtØschrØtiennes.2 Cependant, il faut aussi rappeler que les prØmisses antijudaïques de l’anti- sØmitisme moderne existaient Øgalement dans la sociØtØ multiconfessionnelle qu’Øtait la sociØtØ ottomane. Si nous mettons l’accent sur le caract›re multi- confessionnel de l’Empireottoman, c’est parce que l’hostilitØ des communautØs chrØtiennes ottomanes, notammentcelle des Grecs orthodoxes,3 envers les po- pulations juives de l’empireest un phØnom›ne historique relativementconnu. Cette hostilitØ se concrØtisait dans les calomnies de sang ou de crimes rituels.4 Les calomniesdesang auraienteutendance à augmenter dans la seconde moitiØ du

1Marc DavidBaer,17. yüzyılda Yahudilerin Osmanlı I˙mparatorlug˘u’ndaki nüfuz ve mevkilerini yitirmeleri, dans :Toplum ve Bilim 83 (1999/2000), p. 202–220, notammentp.204–205, 208, 210–216 et 219–220 ;PµlFodor,AnAnti-Semite Grand Vizier ?The Crisis in the Ottoman- Jewish Relations in 1591–1592 and its Consequences, dans :PµlFodor,InQuest of the Golden Apple. Imperial Ideology, Politics, and MilitaryAdministrationinthe Ottoman Empire (Analecta Isisiana, 45), Istanbul 2000, p. 199–206, surtout p. 194, 197–199 et 206. 2Pour une vued’ensemble, voir Mark R. Cohen, Under Crescentand Cross :The Jews in the Middle Ages, Princeton1994. 3Voir à cet Øgard, BernardPierron, Juifs et chrØtiens de la Gr›ce moderne. Histoire des relations intercommunautaires de 1821 à 1945 (Histoire et perspectives mØditerranØennes), Paris2000 ; Rena Molho,Salonica and Istanbul :Social, Political and Cultural AspectsofJewish Life (Analecta Isisiana, 83), Istanbul 2005 ;Maria Efthymiou, Official Ideologyand LayMentality duringthe Greek Revolution :Attitudes towards the Jews, dans :Mina Rozen(dir.), The Last Ottoman Centuryand Beyond. The Jews in Turkey and the Balkans, 1808–1945, vol. 2, JØru- salem 2002, p. 33–43 ;StanfordJ.Shaw, Christian anti-Semitisminthe Ottoman Empire, dans :Belleten 54/211(1990), p. 1073–1149 et C¸ ag˘rı Erhan, Yunan Toplumunda Yahudi Düs¸ manlıg˘ı(SAEMK Stratejik Aras¸tırma ve Etu¨dler Milli Komitesi Aras¸tırma Projeleri dizisi, 4), Ankara 2001, surtout pour les documents d’archives translittØrØsdans les annexes. Si- gnalons aussi le VIIIe volume de l’ouvrage d’Avram GalantØ qui contientplusieurs passages sur ce sujet :Histoire des Juifs de Turquie, Istanbul (sans date). LesmØmoiresdes Ottomans juifs constituentune autresource importante sur l’antisØmitisme des communautØsgrecques de l’empire. Voir par exemple Sam LØvy,Salonique à la fin du XIXe si›cle, Istanbul 2000 ;Alex- andreToumarkine(dir.), MØmoires posthumes et inachevØes de Jacques Abravanel, Juif portugais, Salonicien de naissance, Stambouliote d’adoption, Istanbul 1999 ;Henri Nahum (dir.), Mis Memorias. UnaVida Ye na De Drama IPerikolos. Un commissaire de police ottoman d’origine juive à I˙zmir au dØbut du XXe si›cle. LesmØmoires de RafaelChikurel, Istanbul 2002. 4Pour les calomnies de sang dans l’empireentre 1861 et 1876, voir Moise Franco,Essai sur l’histoiredes IsraØlites de l’Empireottoman depuis les origines jusqu’à nos jours,Hildesheim/ NewYork 1973 [rØimprintdel’Ødition Paris1897],p.220–233 ;pour une Øtude de cas, Esther Benbassa, Le proc›sdesonneurs de tocsin. Uneaccusation calomnieuse de meurtrerituel à Izmir en 1901, dans :Abraham Haim (dir.), Societyand Community. Proceedings of the Second International Congress for Research of the Sephardiand Oriental Jewish Heritage 1984,JØrusalem 1991, p. 35–53 ;HenriNahum, Portrait d’une famille juivedeSmyrnevers 1900,dans :FranÅois Georgeon/PaulDumont(dir.), Vivre dans l’Empireottoman. SociabilitØs et relations intercommunautaires (XVIIe–XXe si›cles), Paris1997, p. 166–167.

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XIXe si›cle.5 L’une des plus fameuses calomnies de sang de l’histoire avait eu d’ailleurs lieu dans l’Empire ottoman:l’Affaire de Damas.6 En fØvrier 1840, la disparition d’un moinecapucin d’origine sarde nommØ Thomas de Campagniano avec son domestique à Damas gagna une dimension internationale suite à l’intervention du consulatfranÅais et du Minist›re des affaires Øtrang›res franÅais.Lorsqu’onpense que la SyrieØtait à cette Øpoque sous le contrôle de Mehmed Ali d’Égypte, l’intervention diplomatique franÅaise prend tout son sens. La diplomatie franÅaise voulut faire de cette disparition une affaire diplomatique contrelegouverneurd’Égypte. Lesrumeurssepropag›rent :la disparition du moine Tommaso ne serait-elle pas un crime rituel perpØtrØ par les juifs ?Les synagogues furentpillØes, les cimeti›resjuifs furentsaccagØs, les pogroms eurentlieu danslarØgion ainsi que l’arrestation des notables juifs de Damas. Finalement, quatredes notables arrÞtØsmoururentsous la torture, les autres qui avou›rent un crime qu’ils n’avaientpas commis furentcondamnØs à la peine capitale. Rien d’Øtonnant jusque-là.Cequi rendit fameuse cette affaire ordinairedans l’histoire europØenne et la transforma en l’Affaire de Damas,cefut sa dimension diplomatique et le dynamismequ’elle suscita dans l’opinion pu- blique juive aux États-Unis et en Europe, surtout en Angleterre,enAllemagne et au Danemark. Les Øchos de l’Affaire et la solidaritØ juivesans prØcØdentepro- voquØepar l’Affaire seraient à l’origine, selon Jonathan Frankel, non seulement de l’apparition en Europe, à la seconde moitiØ du XIXe si›cle, du mythe du “pouvoir juif ”mais aussi de la formation des premiers germes d’un mouvement proto-sioniste en Europe centrale.7 Rina Cohen qualifie l’Affaire de Damas pour sa partcomme “lebrouillonde l’AffaireDreyfus ”.8 Vu la publicitØ de l’Affaire, on pourrait penser qu’elle avaitpujoueruncertain rôle dans la multiplication des calomniesdesang à l’Øchelle de l’empire, dans la seconde moitiØ du XIXe si›cle. Cette multiplication semble ÞtreØgalement reliØeaux changements structurels survenus dans les relationsintercommunautaires en raison des rØformes ad- ministrative, juridique et politique introduites à partirdupremier quartduXIXe si›cle, à savoir les Tanzimat. Seloncette explication, l’Ømergence d’une con- currence Øconomique intense entreles chrØtiens et les juifsdel’empireaurait provoquØ des conflits interconfessionnels d’une nouvelle nature :conflits Øco-

5StanfordJ.Shaw, The Jews of the Ottoman Empireand the Turkish Republic, NewYork 1991, p. 196–206 ;Siren Bora, I˙zmir Yahudileri Tarihi, 1908–1923, Istanbul 1995, p. 81–95. 6Voir Jonathan Frankel, The Damascus Affair.“Ritual Murder ”, Politics, and the Jews in 1840, NewYork 1997, et RonaldFlorence, Blood Libel. The Damascus Affair of 1840, Madison 2004. 7JonathanFrankel, The Damascus Affair (voir note 6) ;JonathanFrankel, “Ritual Murder ”in the ModernEra. The Damascus Affair of 1840, dans :Jewish Social Studies 3/2 (1997), p. 1–16, ici p. 3–4 et aussi Rina Cohen, L’affairedeDamas et les prØmisses de l’antisØmitisme moderne, dans :Archives juives 34/1 (2001), p. 114–124. 8Cohen, L’affaire de Damas (voir note 7), p. 120.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 106 Özgür Türesay nomiques.9 Cependant, malgrØ l’existence des origines socio-Øconomiques d’un antagonisme judØo-chrØtien dans certaines rØgions de l’empire, les agressions chrØtiennes contreles juifs de la pØriodeantØrieure à 1908 devraient Þtreplutôt taxØes d’antijudaïsme et non d’antisØmitisme, car,toutenayantdes origines Øgalementsocio-Øconomiques et conjoncturelles, elles se manifest›rent comme un antagonismeplutôtreligieux. Autrementdit, elles s’exprim›rent exclusive- mententermes religieux.10 Mis à partl’antijudaïsme chrØtien, l’Øvolution de la questionjuive et la montØe de l’antisØmitisme en Europe et plus particuli›rementenFrance ainsi que les arguments socio-Øconomiques de l’antisØmitisme moderne avaienteuaussi un certain impact dans le monde ottoman. Dans la dØcennie 1890, l’Ølite impØriale et particuli›rementles hommes d’État ottomans se montraientfiers de l’absence de l’antisØmitisme dans leur pays et dØveloppaientundiscours sur la tolØrance ottomane envers les juifs. En d’autrestermes, subissantlediscours orientaliste et orientalisant de l’Occidentsur plusieurs plans, notammentcelui de la condition fØminine dans les sociØtØsmusulmanes ou encore le rØgime juridique inØgalitaire à l’Øgard des communautØsnon-musulmanes dansles États musulmans, ils s’Øvertuaient à trouver dans la prØtendueabsence de l’antisØmitismedans leur pays, un argument de supØrioritØ des Ottomans en terme d’humanisme par rapportaux sociØtØschrØtiennes.11 Or,en1888, c’est-à-dire deux ans apr›slapublication de La France juive d’ÉdouardDrumont, ouvrage qui amarquØ un tournantnon passeulementdans l’histoire de l’antisØmitisme europØen mais aussi dans l’histoire de l’Øditionen Europe puisqu’il s’agit d’un des premiers bestsellers de l’antisØmitismede l’Øpoque,12 un livreenturc ottoman intitulØ Millet-i isrâiliye paraît à Istanbul,la

9PaulDumont, Jewish Communities in Turkey during the Last Decades of the Nineteenth Centuryinthe Lightofthe Archives of the Alliance IsraØlite Universelle,dans :Benjamin Braude/Bernard Lewis(dir.), Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of aPlural Society,vol. I:The Central Lands, Londres/New Yo rk 1982, p. 221–225 ;Moshe Ma’oz, Changing Relations between Jews, Muslims, and Christians during the Nineteenth Century, with Special Reference to Ottoman Syriaand Palestine, dans :Avigdor Levy (dir.), Jews, Turks, Ottomans. AShared History, Fifteenth Through the Twentieth Century, Syracuse 2002, p. 111, 116–117 ;BernardLewis, Juifs en terre d’Islam, Paris1986, p. 196–197 et Avigdor Levy,The Sephardim in the Ottoman Empire, Michigan 1992, p. 115–116. 10 Pour la pØriodepost-1908, voir ÖzgürTüresay, Antisionisme et antisØmitisme dans la presse ottomane d’Istanbul à l’Øpoque jeuneturque (1909–1912). L’exemple d’Ebüzziya Tevfik, dans :Turcica. Revued’Øtudes turques 41 (2009), p. 147–178. 11 Pour des exemplesconcrets, voir Orhan Kolog˘lu, Ahmed MidhatveTercüman-ı Hakikat’te Yahudi Sorunu, dans :Osmanlı Aras¸tırmaları 13 (1993), p. 11–21. 12 Michel Winock, Nationalisme, antisØmitisme et fascisme en France, Paris1990, p. 118 :“La France juive n’Øtait pas le premier essai consacrØàla question juiveenFrance, mais les prØcØdents les plus notables avaient ØtØ des Øchecs. Cependant, l’ouvrage de Drumontva s’affirmer bientôtcomme le premier best-seller de l’antisØmitisme en France. Cette rØussite s’Øtend principalementsur les deux premi›resannØes de vente :1886 et 1887. Dans le ca-

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 L’influence de l’antisémitisme européen sur le monde intellectuel ottoman 107 capitale de l’empire, dans une collection de livre de poche qui vientd’ÞtrelancØe en 1886. Cette collection qui est devenue un grand succ›s Øditorial estintitulØ Kitâphâne-i Ebüzziya (LaBiblioth›queEbüzziya).13 Elle est dirigØepar Ebüzziya Tevfik (1849–1913), cØl›bre Øcrivain, journaliste mais aussi imprimeur-Øditeur du dernier quartduXIXe si›cle. Il est nØcessaire ici de donnerquelques informations biographiques sur l’auteur de ce livre, ouvrage qui montrequelle estl’influence de l’antisØmitisme europØen, principalementfranÅais,sur l’Ølite intellectuelle ottomane qui se vantait ouvertementd’ÞtredØmunie du flØau d’antisØmitisme.

Ebüzziya Tevfik (1849–1913):un publiciste polyvalent et polygraphe

Mehmed Tevfik, connud›s1876 sous le nom d’Ebüzziya Tevfik Bey, naquîten 1849 à Istanbul et mourut dans cettemÞme ville en 1913.14 Venantd’un milieu Øconomiquementmodeste, mais jouissant d’un statut social ØlevØ en raisondeses origines familiales, Ebüzziya Tevfik reÅut d’abord la formation typique d’un lettrØ ottoman de son temps :apr›squelques annØes d’Øducation primaire dans son quartier,ilentra au service de l’État d›sses huit ans. Autrementdit, il eut sa premi›re vØritable formation dansetpar les bureaux de l’administration centrale de la capitale. D’autre part,ilsuivitles cours publics de la SociØtØ ottomane des sciences (Cemiyet-i ilmiye-i osmâniye), une entreprise privØevouØe à la diffusion des connaissances occidentales au sein des jeunes habitants de la capitale otto- mane au dØbut des annØes 1860. C’est là qu’il fut initiØàun autreunivers culturel, celui du monde occidental. Il approfondit la connaissance livresque de la civi- lisation europØenne en apprenant le franÅais à la fin de la mÞme dØcennie. Cette langue constitua duranttoute savielevecteur principalqui lui permit d’accØder à la cultureoccidentale. Plus tard, à partirdelaseconde moitiØ des annØes 1870, grâce auxmultiples voyages effectuØsenEurope, Ebüzziya Tevfik se transforma en un membre de l’Ølite intellectuelle ottomane, comme on en voyait alors, à cheval entreOccidentetOrient. Cette dualitØ marqua toute sa carri›re et sa production intellectuelle.

talogue de la Biblioth›quenationale, on note pour 1887 une 145e Ødition ”. C’est Michel Winock qui souligne. GrØgoireKauffmann, auteur d’une monumentale biographie d’Édouard Drumont, prØcise de sa partque la premi›re Ødition du livre a ØtØ tirØe à 2000 exemplaires:GrØgoireKauffmann, Édouard Drumont, Paris2008, p. 104. 13 Sur cette collection, voir ÖzgürTüresay, Lespublications en sØrie dans les premi›resannØes du r›gnehamidien, dans :Nathalie Clayer/Erdal Kaynar (dir.), Penser,agiretvivredans l’Empireottoman et en Turquie (Collection Turcica, 19), Louvain2013, p. 114–121. 14 Sur ce personnage, voir ma th›se de doctorat non publiØe:ÖzgürTüresay, ×treintellectuel à la fin de l’Empireottoman. Ebüzziya Tevfik (1849–1913) et son temps, Paris2008.

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Dans la seconde moitiØ des annØes 1860, il entradans le milieu de la presse stambouliote.Ilseconsacra alors d’une partaujournalisme politique, et d’autre part, auxactivitØs Øditoriales. Cette premi›re Øtape du journalisme politique durantlaquelle il Øtait sous l’influence intellectuelle du p›re fondateur du jour- nalisme politique ottoman, NamıkKemal (1840–1888), son maîtrespirituel et ami, luivalut plus de trois ans d’exil, trente-huit mois passØs à Rhodes entre 1873–1876. Apr›sson retour d’exil, il se consacra à une impressionnante activitØ d’Øditeur et d’imprimeur.Avec ses collections de livres de poche, ses almanachs et sa revue littØraire, il joua alors un rôle majeur dans l’Ølargissementduchamp Øditorial ottoman et dans le dØveloppementd’une culturedel’imprimØ parmiles turcophones de l’Empire. Ce faisant, il rØvolutionna aussi l’artd’imprimer par la perfection des spØcimens sortisdes pressesdesacØl›bre entreprise,l’Imprimerie Ebüzziya, fondØeen1881.15 C’est aussi à cette Øpoque qu’il rØintØgraleservice public. Il cumulaalors les sinØcures. En tantque figure intellectuelle d’opposition avantson exil, sa con- versionetsasoumissionsymbolique à la personne du sultan absolutiste n’Øtait pas sans importance pourlenouveaurØgime politique. La naturedeses relations avec le sultan autocrateAbdülhamid II (r.1876–1909) Øtait fortcomplexe :apr›s plusieurs arrestations, Ebüzziya Tevfik fut de nouveauexilØ,cette fois-ci à Konya en 1900. Son second exil dura plus de huit ans :ilneput rentrer dans la capitale qu’apr›slarestauration de la constitution en juillet 1908. S’adaptant à la toute nouvelle conjoncture politique et, jouissantdugrand prestige acquis par ses huit ans d’exil sous l’ancien rØgime, il entraauparlementottomanentantque dØputØ du ComitØ Union et Progr›s(CUP), le principal acteur de la rØvolution. Il fut un dØputØ plutôtdiscret durantles sessions parlementaires. Cette Øpoque reste nØanmoins l’une des plus significatives de sa carri›re professionnelle et de son parcours intellectuel en raison de son retour au journalisme politique. De 1909 à sa morten1913, Ebüzziya Tevfik publia ainsi quelquescentaines d’articles sur toutes sortes de sujets, en faisantdelapolitique en tantque journaliste vØtØran, victime de l’ancien rØgime. Parmices Øcrits journalistiques, il convientdesignaler ici quinze articles sur le sionisme, parus entre1909–1912, auxquels il convientd’ajouter trois articles sur la franc-maÅonnerie, le dernier Øtablissantune certaine connexionentre la franc- maÅonnerie et le sionisme, notammentdans le cas des loges de Salonique. Il entama par ailleurs des polØmiques sur le sionisme avec trois personnalitØs politiques, trois juifsottomans, NesimMasliyah, dØputØ unioniste et animateur du journal ˙Ittihâd (L’Union), Nesim Russo,secrØtaire privØ d’hommes politiques

15 ÖzgürTüresay, L’Imprimerie Ebüzziya et l’artd’imprimer dans l’Empire ottoman à la fin du XIXe si›cle, dans :Geoffrey Roper (dir.), Historical AspectsofPrinting and Publishing in the Languages of the Middle East (Islamic Manuscripts and Books, 4), Leyde 2014, p. 193–229.

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Øminents comme Hüseyin HilmiPas¸aet CavidBey,etMoïse Cohen, futur idØologue du nationalisme turc. Parailleurs, il reproduisitdansson journal Yeni Tasvîr-iEfkâr (LaNouvelle Descriptiondes Opinions) des articles sur le sionisme parus dans d’autresjournaux de l’Øpoque et il ouvrit ses colonnes à ceux qui voulaients’exprimer sur le sujet. Sa campagne antisioniste, menØedans son journal quotidien et dans sa revue bimensuelle Mecmua-i Ebüzziya (LaRevue Ebüzziya) entre1909 et 1912, a profondØmentaffectØ son image posthume.16 Bernard Lewislequalifie de “premier auteurturc ouvertementantisØmite ”.17 Un autrehistorien, I˙lber Or- taylı, est un peu plus nuancØ lorsqu’il Øcrit qu’Ebüzziya Tevfik avait adoptØ apr›s 1908 une attitude antisØmite et antisioniste.18 À l’Øpoque mÞme, il Øtait taxØ d’antisØmitisme, accusation qu’il aobstinØmentetconstammentrejetØe. Selon une dØpÞche de l’ambassade britannique à Istanbul, datØedu27dØcembre 1909, Ebüzziya Tevfik estimait que “l’Empireottoman Øtait exploitØ par des banquiers juifs ”.19 L’intØrÞtd’Ebüzziya Tevfik sur la question juivenedatait pourtantpas des lendemains de la restauration de la constitution ottomane en juillet 1908. Entre 1882 et 1886, il publia dans sa revue Mecmua-i Ebüzziya quelques articles sur l’histoire des juifs. Il les rØunit parlasuite, en 1888, en format de livre de poche sous le titredeMillet-i isrâiliye qui est le premier livre publiØ en turc ottomansur les juifs. Ensuite, lors de l’Affaire Dreyfus il publia dans la mÞme revue quelques articles traduits du franÅais vers le turc ottoman ainsi que deux comptes-rendus sur l’Affaire dans sesalmanachs pour l’annØe1898 et 1899.20 Apr›sces mises en perspective biographiques, nous pouvons passer à l’Øtude du livre qui constitue notre objet d’Øtude.

Millet-i isrâiliye (1888) :lepremier livre antisémite ottoman ?

PubliØ en 1888, il s’agit d’un livre d’histoire de soixante-dix-huit pages, petit format, paru comme le soixante-sixi›me numØro de la collection de livre de poche appelØe Kitâphâne-i Ebüzziya.21 Le livresecompose de trois parties :

16 Türesay, AntisØmitisme et antisionisme (voir note 10). 17 Lewis, Juifs en terre d’Islam (voir note 9), p. 213 et 241. 18 I˙lber Ortaylı, Ottomanism and Zionism During the SecondConstitutional Period,1908– 1915, dans :Avigdor Levy (dir.), The Jews of the OttomanEmpire, Princeton1994, p. 534. 19 Neville J. Mandel, The Arabs and ZionismBefore World WarI,Berkeley/Los Angeles/Londres 1976, p. 100. 20 ÖzgürTüresay, L’AffaireDreyfus vuepar les intellectuels ottomans, dans :Turcica. Revue d’Øtudes turques 47 (2016), p. 235–256. 21 Ebüzziya Tevfik, Millet-i isrâiliye, Kostantiniye1305/1888. Je reprends ici en grande partie mon Osmanlı I˙mparatorlug˘u’nda antisemitizmin Avrupalı kökenleri üzerine birkaÅ not :

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 110 Özgür Türesay l’histoire du peuple juif, partiesans titre(pages 3–50);une partieintitulØepar un adage attribuØàBismarck “Chaque pays aleJuif qu’il mØrite ”(pages 50–57) et la derni›re partieintitulØe“une digression”(pages 58–78) oœ il exposequelques unes de ses rØflexions sur la question juive en Europe. Lestextes constituantle livre onttous ØtØ publiØsauparavantdans la revue Mecmua-i Ebüzziya.22 Le ton de ce petit livre de vulgarisation fut considØrØ comme plutôtbien- veillant à l’Øgard des juifs par Bernard Lewis.23 La lecture du livreneconfirme pas pourtantcet avis. La premi›re partiedulivre contientdes propos beletbien hostiles contreles juifs. Évoquantl’histoire ancienne du peuple juif, Ebüzziya Tevfik se rØf›re souvent à la Torah. Le ton de la narration historique de ces cinquante premi›res pages dØpasse parfois les limites d’une antipathie dØmodØe envers les juifs pour se rapprocher de l’antisØmitismemoderne.24 Citons simplementquelques exemples pourpouvoir donner une idØeprØcise sur la naturedeses propos :lavraie religion des juifs est le profit (p.19) ; l’immoralitØ est inhØrente à leur nature(p. 21) ;ils ontune ambition dØmesurØe d’accumuler l’argent(p. 25) ;ils ontdeux grands devoirs : Ølever leurs enfants et gagner de l’argentpar quelque moyen que ce soit (p.28–29) ;ils n’ontpas la vocation et la capacitØ de constituer un peuple ayantdes compØtences militaire, artistique et culturelle (p.30) ;aucun juif n’a plus le sentimentmilitaire qui est une des conditions nØcessaires du patriotisme (p.31) ;leurs r›gles religieuses sontcontradictoires, bizarresetabsurdes (p.32–33) ;lepeuple juif haïttous les autres peuples (p.34–35) ;c’est une petite nation barbare(p. 36) ;ils ramassent leur fortune par des tromperies et des fourberies (p.38). On comprend pourquoi le Grand Rabbin de l’Øpoque porta plainte aupr›sdu grand vizir, à deux reprises, en 1888 apr›slapublication du livreeten1898 lorsque la deuxi›me Ødition Øtait en prØparation,25 en raison du langage injurieux

Ebüzziya Tevfik ve Millet-i isrâiliye(1888), dans :Tarih ve Toplum Ye ni Yaklas¸ımlar 6(2007/ 2008), p. 97–115. 22 Kavm-i ben-iisrâil,dans:Mecmua-i Ebüzziya28(26 dØcembre 1882), p. 876–884;dans : Mecmua-i Ebüzziya29(10 janvier1883),p.910–916 ;dans:Mecmua-i Ebüzziya31(7fØvrier 1883), p. 973–978;Kavm-i ben-iisrâil :Kanßn-ıdînîve medenîlerine dâir,dans:Mecmua-i Ebüzziya30(24 janvier1883),p.939–942 ;Her memleketin kendisinelâyıkYahudi’si vardır, dans :Mecmua-iEbüzziya51(30 septembre1886),p.1613–1616 ;I˙stitrâd, dans :Mecmua-i Ebüzziya51(30 septembre1886),p.1616–1629. 23 Lewis, Juifs en terre d’Islam(voir note 9), p. 213. 24 Il serait intØressantdecomparer le ton du texte d’Ebüzziya Tevfik à l’article tout à fait neutre de S¸ emseddin Sami dans son encyclopØdie,publiØ quelques annØes plus tard:I˙brânîler, dans :Kamßsü’l-a‘lâm4(1311/1894), p. 3115–3118. 25 Mandel, The Arabs and Zionism(voir note 19), p. 99–100. Ebüzziya Tevfik dØcidederØØditer ce livre en 1898, probablementpour profiterdel’actualitØ de l’AffaireDreyfus, mais cette deuxi›me Ødition est retirØedelacirculation par une dØcisionministØrielle prisesuite à deux plaintes successives du Grand Rabbin de l’Øpoque. Il existe troisdocuments d’archives sur cet incident:BEO (Bâb-ı AliEvrak Odası), 1074/80533, 7Ramazan 1315=30 janvier 1898 ; BEO

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“Siles juifs ont ØtØ mal traitØsdepuis vingt-cinq si›cles par plusieurspeuples, et encore si cela continue aujourd’hui en Russie et en Allemagne, il faut chercher la cause dans leurspropres mœurs et croyances. Parce que selon leur conviction, le monde a ØtØ crØØ exclusivementpour eux. Qu’il soit tr›scivilisØ,intelligent et respectueux des droits des autres, peu importe, Øtant ØduquØ par ses parents avec cette conviction, un juif sacri- fiera,lorsqu’il aurait saisi l’occasion, toutesles vertus humaines pour son intØrÞtper- sonnel. ”26

Ces affirmations d’Ebüzziya Tevfik refl›tentune approche essentialiste de la question juive :l’hostilitØ contreles juifs qui existait chez tous les peuples depuis plus de deux mille ans serait provoquØepar la nature, par l’essence mÞme de leur religion. Autrementdit, le peuple juif serait victime de sa propre nature. Comme nous le constaterons un peu plus loin, ses rØflexionsenlamati›re n’Øtaientpas toujours de natureessentialiste. On pourrait suggØrerqu’Ebüzziya Tevfik ait simplementtraduit du franÅais des passages d’un livresur l’histoire des juifs. Il est difficile de dØterminer exactementses sources. Il donna nØanmoinsquelquesrØfØrences. Il cita ainsi un des passages du dictionnaire philosophique de Voltairequi portait sur l’histoire des juifs en France et les causes des mauvais traitements qu’ilssubissaientalors.27 Dans un autrepassage rØfutantl’idØeque les Égyptiens et les Grecs devaient beaucoup à l’hØritage culturel et scientifique juif, Ebüzziya TevfikserØfØra cette fois-ci à Philon d’Alexandrie.28 Ladeuxi›mepartiedulivre est consacrØe à ses rØflexions sur la question juive à partird’une phrase qu’il attribue à Bismarck :29 “chaque pays alejuif qu’il mØrite ”. Selon lui, cette phrase exprime une rØalitØ :n’ayantpas leur propre pays, les juifs essayaientdes’assimiler auxpeuples avec qui ils vivaient. Il souligne que cette constatation n’Øtait pas une critique contreles juifs à l’instar des propos tenus par les antisØmites en Allemagne et en France. Il translittØra le mot “an- tisØmite ”encaract›re arabeetdonna la traduction en turc ottoman comme “ muhâlifîn-i ben-i isrâil ”(littØralement:ceux qui sontcontreles enfants

(Bâb-ı AliEvrak Odası), 1079/80921, 22 Ramazan 1315=14 fØvrier 1898 ; MF.MKT. (Maarif Nezareti Mektubi Kalemi), 387/3, 18 S¸ evval 1315=12 mars 1898. 26 Tevfik, Millet-i isrâiliye (voir note 21), p. 48–49. 27 Tevfik, Millet-i isrâiliye(voir note 21), p. 45–47. Surles Øcrits antijuifs de Voltaire, voir LØon Poliakov,Histoire de l’antisØmitisme, vol.2:L’âge de la science, Paris1991, p. 31–40. Poli- akov parle pour le XIXe si›cle d’une “impØrissable inspiration voltairienne ”sur les discours des antisØmites, voir p. 293. 28 Tevfik, Millet-i isrâiliye (voir note 21), p. 35–36. Philon d’Alexandrie Øtait un philosophe juif hellØnisØ,nØàAlexandrie (20 avantJ.-C. et 45 apr›sJ.-C.). 29 Sur Bismarck et la question juive, voir Hannah Arendt, Lesorigines du totalitarisme. Sur l’antisØmitisme, Paris1998, p. 52, 82, 87 et 148.

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“Moi :Que se passe-t-il M. Rump ?Vous est-il arrivØ quelquemalheur ? Le libraire :Nesavez-vous donc pas quel dØsastre s’estabattusur mon pays ?Peut-il y avoir plus grand malheur ? Moi (en souriant) :Mais vous n’Þtes pas FranÅais. Pourquoi vous affliger ? Le libraire :Comment?Si je ne suis pas FranÅais, que suis-je alors ?

30 FranÅois de Fontenette, Histoire de l’antisØmitisme (Que sais-je ?, 2039), Paris 41993, p. 3–8. Notons aussi que bien qu’Øtantunmot relativementrØcent, le terme “antisØmite ” Øtait rapidementrØpandu. Ainsi, en 1889, le mot “antisØmite ”apparaissait dØjà dans le nom d’un parti politique. 31 Tevfik, Millet-i isrâiliye (voir note 21), p. 52. 32 Tevfik, Millet-i isrâiliye (voir note 21), p. 56–57.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 L’influence de l’antisémitisme européen sur le monde intellectuel ottoman 113

Moi :N’Þtes-vous pas juif ? Le libraire :Jevousdemande pardon, Monsieur !EnFrance,tout est FranÅais ”.33 Ebüzziya Tevfikpoursuit en dØcrivantsagÞne et sa honte d’avoir,par ignorance, insultØ un vØritable patriote.Ildit que cette erreur provenait d’une idØefausse crØØepar tout ce qu’il avait entendu depuis son enfance. Autrementdit, les prØjugØsantijuifstransmis parlesens commun. Il ajoute qu’il n’avait jamais plus pu retourner à cette librairie, et qu’il Øprouvait toujours de la honte pourcequ’il avait fait. Ce passage est intØressant pour plusieursraisons. D’abord, son attitude pendantlaconversation fournit un bonexemple concernantlaplace primordiale de l’appartenance religieuse dans la dØfinition identitaire d’un membre de l’Ølite ottomane de la fin du XIXe si›cle. En d’autres termes, on voit que l’appartenance religieuse prime sur les autres appartenances identitaires, elle reste dØterminante en dernier ressort. Mais la honte qu’Øprouve Ebüzziya Tevfik à cause de son attitude, montrequant à elle deux autres choses :d’une part, une apprØciation positiveconcernantl’idØedelanation civique articulØeautour du concept de la patrie commune et d’autre part, l’absence de l’intØriorisation de cette mÞme idØe. FormØ pendantl’âge des rØformes ottomanes(1839–1876), Ebüzziya Tevfik a ØtØ constammentexposØàla promotion du discours ottomaniste. L’idØalisation d’une idØeplutôtcivique de la nation inspirØedel’exemple franÅais faisait partie intØgrante de l’Øducation intellectuelle et civique de sa gØnØration. D’oœ sa honte d’avoir inconsciemmentinsultØ un “juif franÅais patriote ”. Mais le fait qu’il consid›re ce libraire franÅais d’abord comme un juif, en d’autrestermes, son rØflexe concernant la dØfinitiondel’identitØ nationale d’une personne par son appartenance religieuse, en dit long sur les limites d’une vØritable intØriorisation de la conception civiquedelanation. Apr›savoir relatØ cette conversation, Ebüzziya Tevfik commence à dØcrire la question juiveenAllemagne. Sa description dØbute dans un ton favorable aux juifs pours’insØrer tr›svite dans le registre antijuif :siles Allemands Øprouvent des sentiments antijuifs, c’est parce que les juifs spolientlepeuple de ses ri- chesses. Lesofficiers, qui sontsouventd’origine aristocratique, sontles pre- mi›res victimes des banquiers juifs. Leur endettementsetermine souventpar la spoliation de leur hØritage par leurs crØditeurs juifs… et cetera. Il dit qu’il avait eu ces informationsd’unofficier allemand haut gradØ qui se trouvait alors dans l’Empireottoman.Notons quand mÞme qu’il accuse plus les officiers allemands en question, qui dilapidentlafortune de leur p›re pour pouvoir vivreau-dessus de leurs moyens, que les banquiers juifs. Il conclut en disantque Bismarck avait raison et que l’Allemagne avait les juifs qu’elle mØritait. Il aborde ensuite la

33 Tevfik, Millet-i isrâiliye(voir note 21), p. 58. Nous citons ici la traduction franÅaise proposØe dans Lewis, Juifs en terre d’Islam(voir note 9), p. 241.

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Conclusion

Ladatedepublication de ce livre pourrait ne pas Þtrefortuite. Le dØbut des annØes 1880 s’Øtait caractØrisØpardes pogroms contreles juifs en Russie,enRoumanie et en Allemagneetune agitationantisØmitecommenÅait à se manifesterenFrance.34 Notons que le premier best-seller de l’antisØmitismeenFrance, La France juive d’ÉdouardDrumont, fut publiØ en avril1886 et Ebüzziya Tevfik signa la derni›re page de son livreenladatantdu15octobre 1886.35 Nous avonsdØjàØvoquØ que les deux derni›resparties du livrefurentpubliØes dans la revue Mecmua-i Ebüzziya en septembre 1886. Nous ne savons pas si Ebüzziya Tevfik avait lu le livrede Drumont. En plus, les parties historiques de Millet-i isrâiliye furentpubliØes en 1882–1883 et les deux derni›res parties seulementquelquesmois apr›slapa- rution de La France juive. Il paraîtdonc peu probable qu’il fßtdirectement influencØ par ce premier best-seller de l’antisØmitisme franÅais dans sa rØflexion sur la question juive. En revanche, en tantqu’un intellectuel ottomanfranco- phone qui baigne dans la culture politique franÅaise et qui suit quotidiennement la presse franÅaise, il est bien probable qu’il fßtaucourantdel’Ønorme succ›s

34 Poliakov,Histoire de l’antisØmitisme (voir note 27), p. 289–290. 35 Sur le livre en question,voir Winock, Nationalisme, antisØmitisme et fascisme en France (voir note 12), p. 117–144 et Poliakov,Histoire de l’antisØmitisme (voir note 27), p. 290–292. Sur le personnage et son antisØmitisme, on se reportera à Kauffmann, Édouard Drumont (voir note 12).

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 L’influence de l’antisémitisme européen sur le monde intellectuel ottoman 115

Øditorial de La France juive qui avait dØjà fait sa 145e Ødition en 1887.36 Autrement dit, on pourrait imaginer que cette rØussite Øditoriale ait pu inciter Ebüzziya Tevfik à rØunir ses Øcrits sur les juifs pour les publier comme un livredepoche. Mais on ne pourrait que l’imaginer,onneposs›de aucune preuve formelle sur ce point. Sa dØmarche est intriguante dans la mesure oœ il utilise les argumentssocio- Øconomiques de l’antisØmitisme moderne. Jusqu’à la troisi›me partiedulivre, son argumentation reste dans les limitesdeceque l’on peut appeler commedes sentiments antijuifs centrØssur l’altØritØ :lepeuple juif Øtait diffØrentdes autres peuples à cause de la diffØrencereligieuse, historique et culturelle. Dans cette partiedulivre, ses rØflexionssur la question juiverestentessentialistes. Notons aussi que son rØcit ne contientgu›re les prØmisses antijudaïques, c’est-à-dire religieuses, de l’antisØmitisme moderne. Il faudrait peut-ÞtreprØciser que sa qualification des r›gles de la religion juive comme “contradictoires, bizarreset absurdes ”necorrespondait pas auxprØmisses antijudaïques de l’antisØmitisme moderne :les accusations de meurtrerituel, d’empoisonnementdepuits, l’as- sassinat de JØsus, et cetera. Quant à son raisonnementsur la question juiveenAllemagne, en construisant une explication qui s’appuie sur des facteurs socio-Øconomiques, autrementdit en faisant entrer en jeu les ØlØments sociologiques de l’antisØmitisme, celui-ci se rapproche encore plus de l’antisØmitisme moderne. En revanche, en partant de la phrase de Bismarck, il quitte son approcheessentialiste de la question juive et il essaye de la relativiser :endØcrivantbri›vementl’histoire des juifs de l’Espagne, de l’Italie, de l’Autriche-Hongrie, de la Russie et de la Roumanie, il entreprend de dØmontrer que les jugements nØgatifs sur le peuple juif, les propos antijuifs du sens commun ØtaientdØterminØspar les circonstances historiques de chaque pays. En d’autrestermes, sonapproche à la questionjuivechange radicalement au cours du livre, parti de l’essentialisme, il passe au relativisme historique. Pourquoi ce changementd’approche ?Probablement, plusieurs facteurs yont jouØ.D’abord, les diffØrentes parties du livreavaientapparemment des sources diverses et Øventuellement, les approches utilisØes dans ces sources divergeaient. Nous ne savons pas s’il yavait des parties directementtraduites auxcôtØsde parties enti›rementrØdigØes par lui. Cela pourrait expliquer les diffØrentes ap- proches adoptØes dans ce livre. D’autre part, les textes constituantlapremi›re partiefurentpubliØspour la premi›re fois en 1882–1883 et ceux des deux der- ni›res parties, en 1886. Il se trouve que ses rØflexions sur la question juiveavaient ØvoluØes durantcettepØriode. Il ne se serait pas rendu compte de ce changement

36 Winock, Nationalisme, antisØmitisme et fascisme (voir note 12), p. 118. GrØgoireKauffmann parle de 62 000 exemplaires vendu en un an, voir Kauffmann, Édouard Drumont(voir note 12), p. 127.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 116 Özgür Türesay et aurait rØuni ses divers Øcrits sur la question juivepourles publier comme un livre de poche, une Ødition non rØvisØe, si l’onpeut dire. Enfin, il ne faut pas non plus oublier qu’il s’agit d’un livredepoche et non d’un travail scientifique. L’incohØrence de certains propos ou l’usage des approches diverses ne devrait pas forcØment Øtonner. Pourconcluresur ce livre, retenons qu’Ebüzziya Tevfik Øtait bien au courantde l’Øvolutiondel’antisØmitisme europØen. Son discours s’apparente auxdiscours antisØmites de l’Øpoque ;une certaine influence europØenne,nØfaste, en la ma- ti›re est indiscutable. Mais il faut Øgalementsegarder d’assimiler les propos antijuifs ou lØg›rementantisØmites de Millet-i isrâiliye auxpropos antisØmites europØens de la fin du XIXe si›cle. Des diffØrences de taille existentendernier ressort. Ebüzziya Tevfiksecontente de rØpØter des prØjugØsantijuifs en mettant l’accentsur les prØtendus capacitØsetl’habiletØ des juifs en mati›re Øconomique. En d’autrestermes, il utilise les arguments socio-Øconomiques de l’antisØmi- tisme. Cependant, ses propos ne comportentaucune dimension politique et ne refl›tentpas vraimentune visionraciale du monde.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 RichardE.Frankel

“No Jews, Dogs,orConsumptives.” Comparing Anti-Jewish Discrimination in Late-Nineteenth-CenturyGermany and the United States

In the late nineteenth century, prominentvoiceswarned of the danger posedbya ‘flood’ofJewish immigrants fromEasternEurope. Political and religious figures described amysterious conspiracy directed by international Jewish financiers aimed at world domination. Jews found themselves increasingly excluded from hotels, resorts, countryclubs, and residential neighborhoodswhile facing limits on access to higher education and jobs.They alsocame under physical assault. While this might sound likethe situation in Imperial Germany,itisactually a description of the United States of America. Both countries, it turns out,expe- rienced adramatic wave of anti-Semitism during the 1880s and 1890s. Most scholars, however,donot see the two cases as comparable. While some see anti- Semitism in the Kaiserreich as having prepared the ground for the Holocaust, manyhavecome to see the anti-Jewish atmosphere in the United States during the same periodasanunfortunate, though ultimately harmless expressionofa broader American nativism. This paper is an effortatre-thinking some of our assumptions about anti-Semitism. By placing the scholarship on anti-Semitism in both countries side by side, this paper seeks to challenge such anotionof exceptionalism throughacomparative and transnational analysisofanti-Sem- itism in Germanyand the United States that looks forward, not back throughthe lens of the Holocaust. In anumber of additional ways, the similarities in the experiences of Germany and the United States in the latter third of the nineteenth centuryare rather striking.They involved the integration of both countries into agrowing process of globalization while at the same time they were dealing with fundamental questions of national self-definition. Both were entering an intense periodof industrialization, with all the disruptions that attend such dramatic trans- formations. This rapid industrialization was accompanied by afinancial and economic crisis that began in 1873 and would continue, with varying intensity, for the next two decades. This also coincided with anearly simultaneous rightward political shiftwith Bismarck’s ‘Second founding of the empire’ and the US government’s ending of Reconstruction some twelveyears after the CivilWar.

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With both countries just emerging from militaryconflicts, each fought over fundamental questions about the nature of each nation, this periodmarkeda liminal phase in the developmentofnotions of Germanness and Americanness. In addition agrowing global migration of labor throughand to both countries made the process of self-definition thatmuch more intense. As millions of Jews and other laborers were on the move, talk of expulsion and exclusionwas en- tering the national dialogue. As aformoflocal exclusion, Iwould argue thatanti- Jewish discrimination, which became an increasingly widespread phenomenon not just in Germanyand other European countries, but in the United States as well, should be understood within this broader context of globalization and nationalization. German Jews experienced emancipation in stages during the nineteenth century, earlier in some states and later in others, with full legal equalitycoming with unification in 1871. This did not, however,translate into equalityofop- portunityascertain areas remained, if not off-limits, then certainly less than welcoming to Jews. These well-known areas included the officer corps, gov- ernmentservice, universities, and the judiciary. It is importanttoremember that these restrictions were typically not official, legal barriers, but rather the resultof tradition and continued resistance to complete equality. In the case of the ju- diciary, for example, Prussia dropped its lawbarring Jews from becoming judges in 1866. Still, by 1914 there were some two hundred Jewish magistrates, none of whom had achance of promotion.1 There was also no lawbarring Jews as can- didates for career officer positions in the Prussian army.But the anti-Jewish prejudice that inspired the militaryleadership’s refusal to accept Jews as officers was of amore traditional variety, based on common negativestereotypes about Jews’ abilities (or lack thereof) in the militarysphere. Untillate in the historyof the empire, it was typically not the product of blind or fanatical ideological hatred. And while Prussia remained closed to Jews, things were somewhat better in Bavaria and Saxony wherethey could becomereserve officers up untilthe turn of the century, and even, in rare cases, active officers.2 With regardtogovernment service, highpolitical office was nearly as unattainable as acareer officer position in the Prussian army,and those few whodid makeit, likePaulKeyser and BernhardDernburg (of Jewish descent), faced significantresistance and criti- cism.3 Still, it should be remembered that Catholics faced only slightly better odds of attaining such positions. Of the ninetytop political posts in the Reich between 1888 and 1914—Reich Chancellor,Reich State Secretaries, and State

1Hans-UlrichWehler,Deutsche Gesellschaftsgeschichte, vol. 3: Vonder ‘Deutschen Doppel- revolution’ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, Munich 1995, p. 1065. 2Wolfram Wette, The Wehrmacht. History, Myth, Reality,Cambridge 2006, p. 31–33. 3Wehler,Deutsche Gesellschaftsgeschichte (see note 1), p. 1027–1028.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 “No Jews, Dogs, or Consumptives.” Comparing Anti-Jewish Discrimination 119

Ministers—only seven were Catholic.4 It’s been noted that anti-Semitism in America never prevented Jews from entering the middleclass. It’s importantto remember thatitdid not do so in Germany,either.Ifthe traditional professions provided limited opportunities, many Jews entered the so-called ‘free pro- fessions’ in large numbers and became successful journalists, physicians, sci- entists, as well as businessmenand bankers. In other areas Jews also made adjustments based on varied levels of acceptance and rejection. Jewish acceptance into the associational life of Germanyactuallypreceded the formal emancipationthatcame with Bismarck’s unification. For the first half of the nineteenthcentury, most clubs refused them membership.Inresponse, Jews founded their ownclubs and created asocial worldthat, in manyrespects, paralleled that of Gentile society. Starting in the 1850s, however,most clubsin Berlin, Königsberg,Frankfurt, Breslau, and other cities opened themselves up to Jewish membership.One example of this would be the SchlesischeGesellschaft fürVaterländische Cultur. Founded in 1803, by the 1850s Jews were not only members, but were playing leading roles in the club.Manyofthe new clubs founded at this pointfeatured Jews as founding members, including the Bre- slauer Dichterschule—“the gathering place of literarylife in the city.”5 With the anti-Semitic wave of the 1880s, resistance to this trend of openness appeared in the formofefforts to exclude Jews from cultural and civic organizations—efforts that ultimately failed.But the growth of an anti-Jewish atmosphere did leave its mark. In Breslau, for example, Till vanRahdennotes that “associational life had becomepolarized over the ‘Jewish question’” during the last decades of the nineteenth centuryasantisemitism had diffusedintowhat Shulamit Volkov has called a“cultural code.”6 One particular formofdiscrimination thatgrewinsignificance during the last decades of the nineteenth centuryinGermanyiswhat came to be known as ‘resortantisemitism’. Perhaps the most famous example of this phenomenon is the case of Borkum in the NorthSea, which even came complete with its own antisemitic song. People there hung signs on their homes that read, ‘Jews and dogs maynot enter!’ and ‘This house is Jew-free, damned shall everyJew be!’ (“Dieses Haus ist judenrein, verdammt soll jeder Jude sein!”)7 The existence of publicly self-declared “judenfrei” resorts is certainly anoteworthyphenomen- on, and as Frank Bajohr points out,itreflected some of the social bases of anti-

4Wehler,Deutsche Gesellschaftsgeschichte (see note 1), p. 1027. 5Till van Rahden, Jews and Other Germans. Civil Society,Religious Diversity,and Urban Politics in Breslau, 1860–1925(George L. Mosse Series in ModernEuropean Culturaland Intellectual History), Madison 2008, p. 71. 6van Rahden, Jews and Other Germans (see note 5), p. 79. 7Quoted in Frank Bajohr,“Unser Hotel ist judenfrei”. Bäder-Antisemitismusim19. und 20. Jahrhundert,Frankfurta.M.2003, p. 13.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 120 Richard E. Frankel

Semitism in late nineteenth-centuryGermany, where elementsofthe lower middle class (Mittelstand)found themselves falling behind in arapidly changing social and economic environment. They watched as some of the newly eman- cipated Jews made dramatic advancesupthe social ladder into the higher ranks of the Bürgertum. And so it played out at the nation’s resorts—places where people made public displays of their social standing,including the newly arrived ‘parvenus’ of the Jewish faith. Jealous of Jewish success, lower middle-class Germans found ahomeinthe newer,simpler (less ‘ostentatious’) resorts such as Borkum, located near the more established (and tolerant) resortofNorderney.In fact, manyofthe new and openly antisemitic resorts were located in the im- mediate vicinityofolder establishmentswhere Jews remained welcome.There developed, as Frank Bajohr described it, “a silentcoalition of jealousy” between anti-Semitic resortvisitors and the owners of certain resortestablishments.8 Interestingly enough, as newly immigrated Jews fromEasternEurope began to arrive at German resorts after the turnofthe century, they brought out equal revulsion among anti-Semites, but of an oppositenature. Rather the flamboy- ance and ostentatiousness of the ‘parvenu’ drawing their ire, here the rhetoric focused on filth, poor manners, and general appearance—this latter issue leading some inns, for instance, to ban the Caftan.9 Thesituation forJewsinthe United Statesinvolvedsomenotable differences from that of theirco-religionists in Germany.Ofcourse, in theU.S.there wasno formal emancipation. Theideaofseparationofchurchand stateenshrined in the Bill of Rights meant that on thefederal levelJewsenjoyedequal rights with their fellow Christiancitizens from thestart.Onthe statelevel,however,political rights were extended to Jews slowly,overthe course of acentury,withNorthCarolinaand NewHampshire doingsoonlyafter theCivil War.10 Across thecountry,negative images anddescriptionsofJewswerecommon, whetheronstage or in print. Still, despiteuncoordinated discriminationinplaces, by mid-centurythe smallpop- ulationofSephardic andmainlyGermanJewswerebecomingincreasingly suc- cessfulintheir careers, steadily moving up thesocialladder, andfinding accept- ance in many areasofpolitics andsociety,including business andsocialclubs.This wouldbegintochangeinthe late 1870s, andoverthe twodecades that followed,the placeofJewsinAmericagrewincreasinglyprecarious. It was social discrimination in the 1870s, in fact, that seemed to indicate anew and potentially troubling situation for Jews in the United States. No doubt the most famous instance of discrimination against Jews during those years involved the banker Joseph Seligman and the refusal of HenryHilton’s Grand UnionHotel

8Bajohr, Bäder-Antisemitismus (see note 7), p. 35. 9Bajohr, Bäder-Antisemitismus (see note 7), p. 37–42. 10 NorthCarolina in 1868 and NewHampshire in 1877.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 “No Jews, Dogs, or Consumptives.” Comparing Anti-Jewish Discrimination 121 in Saratoga, NewYork, in 1877, to serve him. While it is widely cited,itwas by no means the first such case. One year earlier ahotel in NewJersey placed an ad in the NewYork Tribune declaring,“Jews are not admitted.”11 Twoyears after the Seligman case the Manhattan BeachCorporation in Coney Island, NewYork announced it would no longer accept Jewish guests. Itspresident, Austin Corbin, explained his thinking behind the new policy. “Wedonot likeJews as aclass,” he said. “Asarule they makethemselves offensive.They are adetestable and vulgar people.”12 As John Higham noted, the decade that followed would see discrim- ination against Jews at hotels and resorts “spread likewildfire” across NewYork and NewJersey.13 As Jews started purchasing hotels in this region,competition grew fierce, with non-Jewish hotels posting signs and publishing adsinnews- papers and magazines announcing,for example, “NoDogs. No Jews. No Con- sumptives.”14 The wildfire of anti-Semitic discrimination would not remain contained along the East Coast and in the coming years Jews could read ads in the Chicago Tribune,for example, making clear apreference for a‘Christian’ or ‘Gentile’ clientele. Of course, social discrimination extended beyond the realm of America’s vacationspots to other areas of life. As German Jews in America grew wealthier and rose into the middle classthey soughtnot only to vacationwhere well-off Gentiles vacationed, but alsotojoin them in their social clubs and on the boards of significantcultural institutions. The response was increasingly one of rejection. In the 1880s and for the re- mainder of the century, for example, Jews found themselves unwelcome at the Union League Club in NewYork and excluded from the boards of directors of the Metropolitan Museum of Art, the NewYork Public Library, and the NewYork Zoological Society.15 “By the end of the century,”John Higham notes,“Jewish penetration into the most elite circles in the East had becomealmost impossibly difficult.”16 Asimilar process of exclusionunfolded in Portland, Oregonstarting in the late 1860s and in San Francisco soon after the turnofthe century.17 Also in the South, Jews were banned fromclubs of which they had once been members, including the Gentleman’s Driving Club in Atlanta and the Boston and Pickwick Clubs in NewOrleans.18

11 John Higham, Send These to Me.Immigrants in Urban America, Baltimore1984, p. 127. 12 Corbin quoted in Leonard Dinnerstein,Antisemitism in America, NewYork 1994,p.40. 13 Higham, Send These to Me (see note 11), p. 128. 14 Naomi W. Cohen, Encounter With Emancipation. The GermanJews in the United States, 1830–1914, Philadelphia 1984, p. 250. 15 Morton Rosenstock, Louis Marshall, DefenderofJewish Rights, Detroit 1965,p.17. 16 Higham, Send These to Me (see note 11), p. 130. 17 RobertW.Charny, Patterns of Tolerationand Discrimination in San Francisco.The CivilWar to World WarI,in: California History73/2 (1994), p. 138–139. 18 Eric L. Goldstein, The PriceofWhiteness. Jews, Race, and American Identity,Princeton 2006, p. 54.

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While it was becoming increasingly clear that growingnumbers of Gentiles did not wanttovacation near or socialize with American Jews, another trend revealed agrowing desire to avoid living in proximitytoJews. From the East Coast to the West, whole neighborhoodsworked to preventJewsfrom moving in. They accomplished this throughanumber of techniques,including informal agreements among neighbors and formal obligations included in the verydeeds to the property themselves. Such ‘restrictive covenants’ barredthe owner from selling to particular groups, with Jews figuring prominently among the un- desirables. In Baltimore, the entryofJews into aneighborhood resulted in the complete disappearance of its former Gentile residents. Antero Pietala, in his recentstudy of housing discrimination in that city, attributes this to “Balti- moreans’ embedded aversion to Jews.”19 Sales to Jews in Roland Park, just north of Baltimore stopped in 1913—aban that would continue for the next fifty years. Manyother communities followed suit with the help of real estate brokers and throughprivate agreements among homeowners.20 Opportunities for elite education for Jews began to narrowduring this period. Privateschools—especially girls’ schools—started rejecting Jewish applicants in the 1880s. At the university level, the well-publicized efforts of HarvardUni- versity to limit Jewish enrollment tends to drawpeople’s attention to the 1920s, but an anti-Jewish cultureinacademia had alreadydeveloped by the late nine- teenth century. An 1878 article in the Yale News,for instance, entitled Old Clothes Men described Jews as “human vermin,” “vultures,” and “scourges,” while de- picting one as “a remarkable creature,” a“dangerous beast,” and a“rapacious usurer.”21 Awell-known collegiate song fromthe early twentieth centuryin- cluded the lines,

“Oh Harvard’s runbymillionaires, And Yale is runbybooze, Cornell is runbyfarmers’sons, Columbia’s runbyJews, So give acheer for Baxter Street, Another one for Pell, And when the little sheenies die, Their souls will go to hell.”22

Whatsuch an atmosphere meant for Jewish studentscan be seen in the case of Josiah Moses, whoentered Clark Universityasagraduate studentin1899. De-

19 AnteroPietala, NotinMyNeighborhood.How Bigotry ShapedaGreat American City, Chicago 2010, p. xi. 20 Pietala, Neighborhood (see note 19), p. 36. 21 Dan A. Oren, Joining the Club.AHistoryofJews and Yale, NewHaven 1985, p. 18. 22 Oren,Joining the Club (see note 21), p. 40.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 “No Jews, Dogs, or Consumptives.” Comparing Anti-Jewish Discrimination 123 spite an impressiverecord he could not find aposition. In an efforttoimprove his chances he changed his name from Moses to Morse in 1907, two and ahalf years after receiving his PhD.Throughhis letters of recommendation, his advisor, known to be aliberal and tolerantindividual, tried to help Morse overcomethe stigma of his Jewishness, thoughindoing so,healso revealed manyofthe anti- Jewish prejudices common in academia. In one, for example, he described him as having “none of the objectionable Jewish traits. He is sandy-haired, has no Jewish features, is genial, popular with students and colleagues, knows his place and keeps it and is extremely loyal to his superiors.”23 Individuals far more prom- inentthan Moses also felt the sting of academic anti-Semitism. Oscar Straus, for example, whowould later serve as Theodore Roosevelt’s SecretaryofCommerce from 1906 to 1909 (the first Jewever appointed to acabinet position), found himself barredfrom his college’s undergraduate literarysocietyin1867. And since the fraternities at CityCollege of NewYork had closed their doors to Jews in 1878, Bernard Baruch, financier and later advisor to PresidentWoodrow Wilson, whoattended in the 1880s could not gain entry.24 Discrimination might seem asomewhat benignexpressionofanti-Semitism, certainly when compared with what was to come in the 1930s and 1940s. Butthe stigmatizing effects of groups being set apartinvarious ways could have life-and- death implications. The migration of Jews from EasternEuropetoGermanyand the United States in the late nineteenth centurywould help stimulate anti- Semitism in both countries. In particular,the association of Jews with disease led to all kindsofspecial measures being taken in both countries to deal with the perceived danger of these exotic migrants from the east. Concerns over disease led American officials to develop awhole setofcriteria to determine whocould enter the country, with those falling shorthaving to returntoEurope. This led first German officials and then German shipping firms to establish an entire infrastructure aimed at facilitating the movementofJews fromeast to west and then on to the United States. Special medical inspection and sanitizing facilities, closed trains, sealed-off stations, and separate housing for Jewish transmigrants servedtofurther stigmatize this population.25 Back in the U. S.,Jewish immi- grants faced measures not applied to other groups uponarrival. On February13,

23 Shelly Tennenbaum, The Vicissitudes of Tolerance. Jewish Faculty and Students at Clark University, in:Massachusetts Historical Review 5(2003), p. 12–13. 24 Dinnerstein,Antisemitism in America(see note 12), p. 38;Irving Howe, World of Our Fathers. The Journey of East European Jews to Americaand the Life They Found and Made, NewYork 1976,p.281. 25 See Nicole Kvale Eilers, EmigrantTrains. Jewish Migration throughPrussia and American Remote Control, 1880–1914, in:Tobias Brinkmann (ed.), Points of Passage. Jewish Trams- migrants from EasternEuropeinScandinavia, Germany, and Britain 1880–1914, NewYork 2013, p. 63–84.

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1892, for example, Dr.William Jenkins, health officer of the Port of the Cityof NewYork decreed that all East European Jews were to be detained and quar- antined regardlessoftheir portofdeparture. The following day, the US Nevada arrivedinNew Yo rk harbor.Despitenoevidence of Typhus, thirty Russian Jews were immediately placed in quarantine. At the same time, ninety-three Scan- dinavians as well as others whohad traveled side by side with Jews in steerage were immediatelyallowed to go.26 From the ‘polite’ discrimination of the Grand Union Hotelin1877 to physical abuse fromNew Yo rk’s public health officials in the 1890s, antisemitism would ultimately makelittle distinction between as- similated and unassimilated, Germanand Eastern European Jews, both in Im- perial Germanyand the United States. In his study of ‘resortantisemitism’, FrankBajohr argued that‘judenrein’ vacation spots provided German antisemitic propaganda an already-existing example of ‘Jewish-free zones’ and thereforeatleast to some degreehelped preparethe ground for Nazi efforts at exclusion after 1933.27 Of course, there was agreatdeal more that was required to produce aThird Reich, much less a Holocaust. And in the late nineteenth century, no one would have imagined Germans carrying out such an atrocitysome four decades later.Looking for- ward, anti-Jewish discrimination in nineteenth-centuryGermanyappears any- thing but exceptional. It fit into amuch larger context that extended across the Atlantic. In fact, such exclusionwas far more prevalentinthe United States before the First World Warthan in Germanyprior to the ThirdReich. Presumably they also provided Americans with an already-existingexample of ‘Jewish-free zones’. Might this meanthat the ground was also prepared for some potential future anti-Jewish campaign in the United States?Certainly the decades that followed the outbreak of the First World Wardid little to diminishsuch apo- tential. And yet scholars routinely downplaythe significance of American an- tisemitism in relation to that of Germanyspecifically and Europe more broadly. Whatwe’ve seen here is that throughcomparative and global perspectiveswecan recognize aneed to reevaluatesuch assessments in order to develop abetter understanding of anti-Jewish prejudice in the late nineteenth and early twentieth centuries.

26 HowardMarkel, Quarantine!East European Jewish Immigrants and the NewYork City Epidemicsof1892, Baltimore1997, p. 73–74. 27 Bajohr, Bäder-Antisemitismus (see note 7), p. 166.

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Synagogenbau und Ritualmord.Antisemitismus und jüdische Selbstverortungimsiebenbürgischen Kronstadtum1900

Im August 1901 erschien im siebenbürgischen Kronstadt(rum. Bras¸ov,ungar. Brassó), einem regionalen Zentralortimäußersten Südosten Österreich-Un- garns, unter dem Titel „Wer kauftKinder?“ folgende Pressemeldung:

„Seit einigen Tagen gehtein Individuum in Kronstadt herum, welches Kinder kauft, welches viele Leute gesehen haben wollen,und welches trotzalledem niemand der Polizei näher bezeichnenkann;der Preis fürein Kind, sagtman, beträgt10.000 K[ronen].–Achtgeben Eltern, die Sache ist gar nichtspaßhaft!Die Welt munkelt und munkelt überdiesen Fall rechtfatal;sie sagt: …Ahasver ginge um.“1

In ironisch-gebrochenem Tonerhalten wirhier Kenntnis voneinem Gerücht, das im Sommer 1901 die Öffentlichkeit in KronstadtinAtem hielt. Der in der Stadt zu Besuch weilende jüdische Geschäftsreisende Sigmund Singer sei dabei ertappt worden, wieerversuchthätte, einen kleinen christlichen Jungen zu entführen, um einen Ritualmord zu begehen. Angespielt wird in der Meldung aufzwei antijüdische Legenden mit jahrhundertelangerTradition:Erstens aufdiejenige vom Ewigen Juden Ahasver,der,als Strafe fürseinMitwirken an der Passion Christizuewiger Wanderschaftverdammt, zum Sinnbild fürdie –auf diese Weise als nicht-sesshaft, nicht-integrationsfähig und fremd deklarierten –Juden wurde.2 Zweitens aufRitualmordbeschuldigungen,wonach Juden Morde an christlichen Kindernbegehen würden, um ihr Blut fürrituelle Zwecke zu ver- wenden.3

1Meldungdes Kronstädter Wochenblatts,zitiertnach:N.N., Unsere-Ritual-Mordsgeschichte, in:Kronstädter Zeitung 65/185 (13.08.1901), S. 2. 2Avram AndreiBa˘leanu, Der ewige Jude. Kurze Geschichte der Manipulation eines Mythos, in: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör(Hg.), Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus,Vor- urteile und Mythen, Augsburg 1999, S. 96–102. 3Johannes T. Gross, Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871–1914)(Technische UniversitätBerlin. Zentrum fürAntisemitismusforschung:Reihe Dokumente, Texte, Materialien, 47), Berlin 2002;HelmutWalser Smith, Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002, S. 100–154 [Übers. der englischen Ausgabe, NewYork/London 2002].

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In der Presse wurde berichtet, der Beschuldigte sei voneiner aufgebrachten Menge bedrängtund geschlagen worden, allein das Einschreiten städtischer Autoritäten habeihm das Lebengerettet. Im Anschluss wurde Singer,der den Jungen lediglich nachdem Weggefragthatte, eine Woche vonder Polizei fest- gehalten, ehe die Haltlosigkeit der gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen zweifellos feststand.4 In der Zwischenzeit entspann sich in der Lokalpresse eine Debatte überden ,Fall‘ und die Ritualmordgerüchte, die im Rahmen dieses Beitrags nachvollzogen werden sollen, um Auskunft überFormen,Motiveund Ursachen vonAntisemitismus in Kronstadtzuerhalten. In diesem Zusammen- hang ist die Einschätzung der Kronstädter Zeitung,wonach der Aufruhr mit der unmittelbar bevorstehenden Einweihung der neuen Synagoge der neologen jü- dischen Gemeinde Kronstadts „in innigem Zusammenhang“ stehe, vonbeson- derem Interesse.5 Tatsächlich versammelten sich am Tagder Festnahme Singers mehrerehundertPersonen vor dem Neubau, um diesen zu attackieren, was nur durch den Einsatz vonPolizeigewalt verhindert werden konnte.6 Dem offenbar hohen Symbolwertdes Gebäudes in der Wahrnehmung der Zeitgenossen soll daher zunächst aufBasis einer Architekturanalyse nachgegangen werden, um aufdiese Weise Auskunft überjüdische Selbstverortungsstrategien in einem schwierigen gesellschaftlichen Umfeld zu erhalten.7 Dabei wird nach den Be- weggründen fürdie Wahl der zur Anwendung gebrachten gestalterischenMittel gefragt, wobei zu berücksichtigen ist, dass hierfüramEnde des 19. Jahrhunderts ein alle Epochen und Regionen umfassendes Repertoire an architekturhistori- schen Verweisen zur Verfügung stand, mittels derer unterschiedlichste sozio- kulturelle Konnotationen aufgerufen werden konnten. Das heute in Rumänien gelegene Kronstadt gehörteum1900 zum Königreich Ungarninnerhalb der Habsburger Doppelmonarchie. Die Bevölkerung der Stadt setzte sich jedoch nur zu rund einem Drittel ausethnischenUngarn(Magyaren) zusammen, je ein weiteres Drittel stellten Rumänen und die deutschsprachigen Siebenbürger Sachsen.8 Die Magyaren waren zumeist römisch-katholischer oder

4N.N., Eine geheimnisvolle Geschichte, in:Kronstädter Zeitung 65/184 (12.08.1901), S. 2; N. N.,Der Jude Singer,in: Kronstädter Zeitung 65/192 (22.08.1901), S. 2; N. N.,Inafacerea Evreului „Singer“, in:Gazeta Transilvaniei 64/175 (22.08.1901), S. 2. 5N.N., Eine geheimnisvolle Geschichte (wie Anm. 4), S. 2. 6N.N., Eine geheimnisvolle Geschichte (wie Anm. 4), S. 2. 7Diesem Beitrag liegen Auszüge auseiner Fallstudie der Dissertation Gesellschaftliche Ord- nungsvorstellungen in der siebenbürgischen Architektur um 1900 zugrunde, mit der der Autor 2016 am Institut fürEuropäische Kunstgeschichte der Ruprecht-Karls-UniversitätHeidelberg promoviertwurde. 8Harald Roth, Bras¸ov,in: Ders. (Hg.), Handbuch der historischen Stätten –Siebenbürgen, Stuttgart2003, S. 37–43, hier 39, 43;AndreasSchöck, Brassó,Bras¸ov,Kronstadt1850–1918. Beiträge zur Stadtentwicklung,Bevölkerungs- und Berufsgruppenstruktur, Diss. Berlin 1995 (Typoskript), S. 59.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Synagogenbau und Ritualmord. Antisemitismus und jüdische Selbstverortung 129 evangelisch-reformierter Konfession, die Sachsen Lutheraner,die Rumänen größtenteils griechisch-orthodoxen Glaubens. Juden war es erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts erlaubt, sich in Kronstadtniederzulassen, ihre Zahl hatte seitdem stark zugenommen, gleichwohl machten sie 1900 nur etwa 1,3 bis 3,5 Prozentder Stadtbevölkerung aus.9 Die sich formierende jüdische Glau- bensgemeinde spaltete sich 1877 in eine orthodoxeund eine reformorientierte (neologe) Gemeindeauf.10 Die Gemeinde vollzog damit die Spaltung des unga- rischen Judentums nach, zu der es 1870/1871 in Folge des Allgemeinen Jüdischen Kongresses in Pest von1868/1869 gekommen war.Die Neologen maßen nichtnur religionsgesetzlichen Vorgaben einen geringeren Stellenwertfürdas Gemein- deleben bei, sie plädierten auch füreine stärkereIntegration in die christlich- bürgerliche Gesellschaftund zeigten sich der staatlicherseitspropagierten ein- heitlich-magyarischen Nationalkultur gegenüberempfänglicher.11 Die neologe Kronstädter Gemeinde, „IsraelitischeKultusgemeinde“ genannt, beauftragte kurz vorder Jahrhundertwende den führenden Synagogenbauspe- zialisten Ungarns, den jüdischen Budapester Architekten LipótBaumhorn,12 mit dem Entwurfdes Synagogenneubaus.13 Die Planungen waren unter dem Ge- meindevorstandEmanuel(Mano) Kupferstich (1898–1901) aufgenommen

9Die diesbezüglichen Angaben variieren,vgl.EduardGusbeth, Das Gesundheitswesen in Kronstadt in den Jahren 1899 und 1900. Dreizehnter Jahresbericht, Kronstadt 1901;Sami Fiul/Carmen Manat¸e/Viorica Oprea, Comunitatea evreilor din Bras¸ov.Secolele 19–20, Bras¸ov 2007, S. 30f.;Schöck, Brassó,S.60(wieAnm. 8). 10 Fiul/Manat¸e/Oprea, Comunitatea evreilor (wie Anm. 9), S. 40f. 11 Walter Pietsch, Zwischen Reformund Orthodoxie. Der Eintrittdes ungarischen Judentums in die moderne Welt, Berlin 1999, S. 14f.,80, 85f. 12 Ruth Gruber/GyörgySzego˝/AndrµsHadik/Zsuzsa Toroyni(Hg.), BaumhornLipót ØpítØsz. 1860–1932, Ausstellungskatalog, Magyar Zsidó Mfflzeum, Magyar ÉpítØszeti Mfflzeum Bu- dapest, Budapest 1999; gnes IvettOszkó,Synagogen und Wohnhäuser um 1900. Bemer- kungen zum Stil vonLipótBaumhorn, in:Actahistoriae artium Academiae Scientiarum Hungaricae 49 (2008), S. 536–547. 13 Der Kronstädter neologen Synagoge wurde bislang noch keine eigene Publikation gewidmet, der Bauwirdjedochineinigen Überblickswerken knappbehandelt:Fiul/Manat¸e/Oprea, Comunitatea evreilor (wie Anm. 9), S. 129–136;Gruber/Szego˝/Hadik/Toroyni (Hg.), BaumhornLipót(wieAnm. 9), S. 15;Rudolf Klein, ZsinagógµkMagyarorszµgon1782–1918. Fejlo˝dØstörtØnet, tipológia Øs ØpítØszeti jelento˝sØg. Synagogues in Hungary1782–1918. Ge- nealogy, Typologyand Architectural Significance, Budapest 2011, S. 251–257;Lucian Schwarz/Aristide Streja, Sinagogi din România, Bukarest 1996, S. 125. Akten und Pläne zum Synagogenbauaus den Beständen der städtischen Baugenehmigungsbehörde lagernim Kronstädter Staatsarchiv:STAK, Fd. 1: Prima˘riaBras¸ov,Dosar II 1900/260:„Tempelbauder Israelitischen Kultusgemeinde, Waisenhausgasse 31–35“ (1900–1906), Magistratszahl 06063. WeitereInformationen zum Bauplanungsprozess könnteder Fond „Comunitateaneologa˘“ des nicht öffentlich zugänglichen Gemeindearchivs (Arhiva comunita˘t¸ ii evreilordin Bras¸ov) enthalten,wobeiallerdings die einschlägigen Jahrgangsakten möglicherweisenicht über- liefertsind, zumindest aber nichtinder Monographie zur jüdischen Geschichte Kronstadts berücksichtigt wurden, vgl. Fiul/Manat¸e/Oprea, Comunitatea evreilor (wie Anm. 9), S. 258.

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14 Fiul/Manat¸e/Oprea, Comunitateaevreilor (wie Anm. 9), S. 22, 27f.,92–94, 147, 176. Leider erlaubt die Quellenlage kaum Aussagen zu den internen Entscheidungsfindungsprozessen hinsichtlich der Synagogengestaltung.Grundsätzlich kann jedochdavon ausgegangen wer- den, dass die letztgültige Entscheidungs- und Budgetgewaltbei der Gemeinde bzw.dem von ihr gewählten Vorstand lag,während der als Dienstleister auftretende Architekt und der von der Gemeinde angestellteRabbiner als fachliche bzw.spirituelle Autorität(lediglich) kon- zeptionelle Vorschläge einbringen konnten. Zum Verhältnis vonRabbiner und Vorstand in jüdischen Gemeinden des 19. Jahrhunderts siehe AndreasBrämer,Rabbiner und Vorstand. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Deutschland und Österreich 1808–1871 (Asch- kenas. Beiheft, 5), Köln/Weimar/Wien 1999;Gerald Lamprecht, Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde vonGraz vor dem Ersten Weltkrieg (Schriften des Cen- trums fürJüdische Studien, 8), Innsbruck/Bozen/Wien 2007, S. 166f. 15 Angaben zu den Vorgängerbauten, überderennäheresAussehen nichts bekanntist, bieten: Fiul/Manat¸e/Oprea, Comunitatea evreilor (wie Anm. 9), S. 88, 129;Gusbeth, Das Gesund- heitswesen (wie Anm. 9), S. 19f. 16 Gusbeth, Das Gesundheitswesen(wieAnm. 9), S. 20f. 17 STAK, Fd. 1, Dosar II 1900/260 (wie Anm. 13), Magistratszahl 06063, Bogen 10.

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Abb. 1: Kronstadt,Stadtzentrum mit neologer Synagoge, evangelischer Stadtpfarrkirche A. B., Rathaus, rumänischer orthodoxer Pfarrkirche der InnerenStadtund römisch-katholischer Stadtpfarrkirche (v.l.n.r.) nalbaubasilikalen Schemas, an dessen Hauptfassade rote Sichtziegelflächen mit weißen Gliederungs- und Dekorelementen ausKunststein und Stuckkontras- tieren. Rot-weiß gebänderte Wandvorlagen gliederndie Fassade in zweiflach gedeckte äußereund einen giebelbekrönten mittleren Abschnitt (Abb.3–4). Letzterer wird nahezu zur Gänze durch einen weiten Blendbogen geöffnet, der oberhalb des Hauptportals ein großes Maßwerkfenster aufnimmt. Im Inneren (Abb.5)ist dasLesepult (hebr. Bimah)inForm einer Estrade vonseinem tra- ditionellenStandortimZentrum des Raums nach Osten unmittelbar vor den Thoraschrein (hebr. Aron Hakodesch)gerückt und so gestaltet, dass es auch für Predigten genutzt werden kann. Dies entsprichtebenso wiedas Vorhandensein einer Sängerempore im Osten, die zumindest zeitweilig auch als Orgelempore genutzt wurde,18 der reformorientierten Ausrichtung der Gemeinde, die dem-

18 Eine historische Aufnahme, Klein, ZsinagógµkMagyarorszµgon(wieAnm. 13), S. 257, Abb. 4.327, zeigt die Emporemit einer nichterhaltenenOrgel, die Ähnlichkeiten zu In- strumenten der Firma Wegensteinaus der Zeit um 1940 aufweist,vgl.die „Orgeldatei der Evangelischen KircheA.B.inRumänien“, URL: (zuletzt aufgerufen am 19.05.2018). Möglicherweise wurdedieses Exemplar als Ersatz füreine 1940 durch die Eiserne Garde zerstörteVorgängerin angeschafft, vgl. Fiul/Manat¸e/Oprea, Co-

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Abb. 2: Neologe Synagoge, Kronstadt, LipótBaumhorn, 1900–1901:Ansichtvon der Waisen- hausgasse nach eine am christlich-protestantischen Wort-und Gemeindegottesdienst orientierte Liturgie gefeiertzuhaben scheint.19

munitatea evreilor (wie Anm. 9), S. 132. Die Baueingabepläne fürden Synagogenneubau verzeichnen allerdings keine Orgel, so dass unklar bleibt, ob eine solche vonBeginn an vorhanden war,STAK, Fd. 1, Dosar II 1900/260, (wie Anm. 13), Magistratszahl 03896, 1a–j, „Brassóiizr.Templom, LipótBaumhorn, Budapest,Oktober 1899“. 19 Zu den Auswirkungen der Liturgiereform aufdie Raumstruktur und Ausstattung vonSyn- agogen s. Andreas Brämer/MirkoPrzystawik/Harmen H. Thies (Hg.), ReformJudaism and Architecture (Schriftenreiheder BetTfila-Forschungsstelle fürjüdische Architektur in Eu- ropa, 9), Petersberg 2016;Aliza Cohen-Mushlin/Harmen H. Thies (Hg.), Synagoge und Tempel. 200 Jahre jüdische Reformbewegung und ihreArchitektur.Synagogue and Temple. 200 Ye ars of Jewish ReformMovementand ItsArchitecture, Ausstellungskatalog Berlin (Kleine Schriften der Bet-Tfila-Forschungsstelle fürJüdische ArchitekturinEuropa, 4), Petersberg 2012;Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert(1780–1933) (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, 8,1–2), 2Bde.,Hamburg 1981, Bd. 1, S. 148;KatrinKessler,Ritus und

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Abb. 3: Neologe Synagoge, Kronstadt, LipótBaumhorn, 1900–1901:Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts

Abb. 4: Baueingabeplan, Neologe Synagoge, Kronstadt, LipótBaumhorn, 1899:Aufriss der Hauptfassade

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Abb. 5: Neologe Synagoge, Kronstadt, LipótBaumhorn, 1900–1901:Innenraum, Blick zum Thoraschrein

Die Synagoge präsentiertsich bautypologisch als eine Verschmelzung zweier Gestaltungsprinzipien:Einerseits knüpftsie an Evokationen des Salomonischen Tempels an, die im Synagogenbaudes 19. Jahrhunderts sehr beliebt waren.20 Ausgehend vom „IsraelitischenBethaus in der Wiener Vorstadt Leopoldstadt“, auch genanntLeopoldstädter Tempel (1856–1858, Abb. 6), der auch konkretes Vorbild fürden Kronstädter Bauwar,verbreitete sichdieser Gestaltungsmodus in der gesamten Habsburgermonarchie und darüberhinaus.21 Beim Entwurfdes

Raum der Synagoge. Liturgische und religionsgesetzliche Voraussetzungen fürden Syn- agogenbauinMitteleuropa(Schriftenreihe der Bet-Tfila-Forschungsstelle fürJüdische Ar- chitektur in Europa, 2), Petersberg 2007,S.51, 132;Carol Herselle Krinsky,Synagogues of Europe. Architecture, History, Meaning (Architectural HistoryFoundation Books, 9), Cambridge (Massachusetts)/London 1985, S. 65f. 20 Klein, ZsinagógµkMagyarorszµgon(wieAnm. 13), S. 252. 21 Klein, ZsinagógµkMagyarorszµgon(wieAnm. 13), S. 578–580;Hannelore Künzl, Islamische

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Abb. 6: Leopoldstädter Tempel, Wien, Ludwig Förster,1856–1858

Wiener Baus orientierte sich dessen Architekt Leopold Förster an der Schilde- rung des Tempels im Alten Testament, was die Wahl des basilikalen Typus mit erhöhtem Mittelschiff und der den mittleren Fassadenabschnitt flankierenden Wandvorlagen als Reminiszenz an die dorterwähnten Säulen Jachim und Boas bedingte.22 In Ermangelung genauerer Kenntnisse überdas Aussehen des Salo- monischen Tempels und die jüdische Baukunst des Altertums im Allgemeinen rekurrierte Förster beider näheren Ausgestaltung des Leopoldstädter Tempels vorrangig aufarabisch-islamischeArchitektur.Der christliche Wiener Architekt sah dies durch die ,orientalische‘ Herkunftder Juden gerechtfertigt.23 Entspre- chend lässt sich die dreiteilige Synagogenfrontmit dem weit geöffneten mittleren Abschnitt und den mit ihren Laternenaufsätzen minarettartiggestalteten Pfeiler als Zitatdes sogenannten Liwan-Motivs ausder persisch geprägten Moschee- bautradition lesen (Abb.7).24 Die rot-weißeBänderung spielt aufmaurische

Stilelemente im Synagogenbaudes 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Judentum und Umwelt, 9), Frankfurt a. M. 1984, S. 215, 241–257. 22 Ludwig Förster,Das israelitische Bethaus in der Wiener VorstadtLeopoldstadt, in:Allge- meine Bauzeitung. Österreichische Vierteljahrschriftfürden Öffentlichen Baudienst 24 (1859), S. 14–16 und Tf. 230–235, hier 14f. 23 Förster,Bethaus (wie Anm. 22), S. 14. 24 Künzl, Islamische Stilelemente (wie Anm. 21), S. 226f.

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Bauten an, die ungeachtet ihrer geographischen Herkunftals ,orientalisch‘ gal- ten.25

Abb. 7: Jama Masjid, Delhi, Mitte 17. Jahrhundert

Andererseits ist eine Orientierung an oberitalienischen Kirchenbauten des Spätmittelalters wieMadonna dell’Orto in Venedig zu erkennen (Abb.8). Auch dieser Bauverfügt übereine durch Wandvorlagen mit Aufsätzen gegliederte dreiteilige Ziegelfassade, die Öffnungsrahmungen sind rot-weiß gebändert. Der bekrönende Giebel und das Säulenportal zählen zu den markanten Gemein- samkeiten beider Bauten, die die Kronstädter Synagoge vom Vorbild des Leo- poldstädter Tempels abrücken und ihr einen gewissen ,kirchischen‘ Charakter verleihen. Letzterer wird durch eine Rezeption gotischer Formen gestützt – besonders prominentimMaßwerk des zentralen Fensters, aber beispielsweise auch in den wiederkehrenden Passmotiven des Stuckdekors. Die Gotik galt vielen Zeitgenossen –christlichen wiejüdischen –als der christliche Stil

25 Dazu passt, dass Zeitgenossen den Terminus ,maurisch‘ nichtineinem geographisch-his- torisch klar umgrenzten Sinne verwendeten, sondernfürBaustile, die islamischeArchitektur vom maurischen SpanienimWesten bis zum indischen Mogulreich im Ostenzum Vorbild hatten,Miles Danby, MoorishStyle, London1995, S. 14, zitiertnach Ivan Davidson Kalmar, MoorishStyle. Orientalism, the Jews and Synagogue Architecture, in:Jewish Social Stu- dies 7/3 (2001), S. 68–100, hier S. 69. Eine engeregeographisch-historische Bezugnahme war also nichtintendiert. Insbesonderelassen sich kaum konkrete Anleihenbei den maurischen Synagogen der sephardischen Juden in Spanien feststellen, Kalmar, Moorish Style, S. 69f.; Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland (wie Anm. 19), S. 258, 290f. Diese waren der Öffentlichkeit kaum bekanntund zudem nach der Reconquista christianisiertworden. Den Aschkenasim boten sie kaum Anknüpfungspunkte und bezüglich des mit dem ,maurischen Stil‘ intendierten ,Orient‘-Verweises konnten sie keinen Mehrwertliefern, Krinsky,Syn- agogues of Europe(wieAnm. 19), S. 84f.

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Abb. 8: Humiliatenkirche Madonna dell’Orto,Venedig:Fassade, 1460–1464fertiggestellt

Synagogen im vomBudapester Architekturhistoriker Rudolf Klein so benannten „Salomonischen Tempel-Typus“ waren beireformorientierten Gemeinden be- liebt, die sich mit (wirtschaftlichem) Erfolg in die christliche Mehrheitsgesell- schaftintegrierten.27 Diese Gemeinden projizierten die messianische Verhei- ßung einer Rückkehr nach Israel (verbunden mit dem Wiederaufbaudes durch die Babylonier zerstörten Salomonischen Tempels) aufihre gegenwärtige Lage in der Diaspora.28 Die beisolchen Gemeinden häufig zu beobachtende Verwendung

26 Kalmar,Moorish Style (wie Anm. 25), S. 75f. 27 Klein, ZsinagógµkMagyarorszµgon(wieAnm. 13), S. 578–580. 28 Der schwedische Architekturhistoriker Fredric Bedoire erklärt das besondereEngagement jüdischer Akteure in Architektur und StädtebauZentraleuropas um 1900 auch mit einer solchen, vom Neukantianismus Hermann Cohensinspirierten Haltung optimistisch-

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 138 Timo Hagen islamischer Stilformen ist dem Anthropologen Ivan Davidson Kalmar zufolge nichtals Gestus der Abgrenzung zu verstehen, sondern vielmehrals Versuch, den im christlichen Bürgertum vorherrschenden Orientalismus-Diskurs, der Juden dem als rückständig betrachteten Orientzurechnete, umzudeuten. Durch rechtlicheEmanzipation und wirtschaftlichen Erfolg selbstbewusst gewordene Gemeinden hofften, aufdiese Weise ein romantisierendes Bild vomJuden als noblem Orientalen und Stütze der westlichenGesellschaftetablierenzukön- nen.29

Abb. 9: Synagoge in der Schmalzhofgasse,Wien-Mariahilf,Max Fleischer,1883–1884:Aufriss Hauptfassade

Synagogen, die sich am christlichen Kirchenbauorientierten und gotisierende Stilelemente verwendeten, wieder sogenannte Schmalzhoftempel in Wien-Ma- riahilf (1883–1884, Abb. 9),30 zu dem der Kronstädter Baueinige deutliche Par-

selbstbewusster Gegenwartsbezogenheit, Fredric Bedoire, The Jewish Contribution to Mo- dernArchitecture 1830–1930, Jersey City (NJ)/Stockholm 2004, S. 378–381 [Übers. der zweiten schwedischen Ausgabe2003]. 29 Kalmar,MoorishStyle (wie Anm. 25), S. 71f.,84, 87;vgl.auch:Sergey R. Kravtsov,Archi- tecture of ,New Synagogues‘ in Central-Eastern Europe, in:Brämer/Przystawik/Thies (Hg.), ReformJudaism and Architecture (wie Anm. 19), S. 47–78, hier S. 61f. 30 Sonja Beyer, Neo-Gothic Synagogues in German-speaking Areas. Max Fleischer’s Synagogue in the Schmalzhofgasse in Vienna, aResult of its Urban Environment?,in: Aliza Cohen-

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Synagogenbau und Ritualmord. Antisemitismus und jüdische Selbstverortung 139 allelen aufweist, wurden ebenfalls vorrangig vonzur Akkulturation bereiten Reformgemeinden in Auftrag gegeben. Mittels baulicher Analogien wurde so die Gleichrangigkeit des Judentums mit dem Christentum proklamiert, selbstbe- wusst die Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung der rechtlichen Emanzipation zum Ausdruck gebracht.31 Deutschnationale Konnotationen, die mit der Gotik seit der Romantikbisweilen verbunden wurden,32 spielten im zeitgenössischenWiener Sakralbau, wo gotisierende Formen namentlich im katholischen Kirchenbauzur Anwendung kamen, eine untergeordneteRolle. In Kronstadtwurden die beiden großen, aufdas Mittelalter zurückgehendengo- tischen Kirchender Stadt vonsächsisch-evangelischen Gemeinden Augsburgi- schen Bekenntnisses (A. B.)genutzt, 1891–1892 hatte sich die magyarisch-re- formierte Gemeinde eine neugotische Pfarrkirche errichten lassen. Anders als diese drei Kirchen verfügt die Kronstädter neologe Synagoge allerdings nicht überdasjenige Bauteil, welches im zentraleuropäischen Kontext als besonders kirchentypisch galt –einen Glockenturm. Bezeichnend ist, dass staatsrechtlich nichtvoll anerkannten Religionsgemeinschaften, zu denen lange auch die christlicheOrthodoxie zählte, der Bauvon Glockentürmen im Kronstädter Stadtzentrumbis Mitte des 19. Jahrhunderts untersagtwar –sie sollten im Stadtbild unsichtbar und unhörbar bleiben.33 Ein solches Verbot existierte Ende des 19. Jahrhunderts allerdings nichtmehr,1899 war am Marktplatz, unweit der Synagoge, die Pfarrkirche der rumänischen orthodoxen Gemeinde der Inneren Stadt geweihtworden, die übereinen Kuppelhelm und einen Glockenturmauf- satz verfügt (Abb.1). Auch die Spitzbogenform, die gleichsam als Signet des christlich konnotierten gotischen Stils galt, kam nichtzur Anwendung.Im Synagogeninneren (Abb.5)finden sich mit Kleeblatt- und Zackenbögen For- men, die sowohl aufislamische wieauf gotische Vorbilder zurückgeführtwerden können (Abb.7,10), während der Hufeisenbogen als prominentestesMotiv des ,maurischen Stils‘ fehlt.Die Gemeinde vermied also eindeutige Festlegungen auf eine der beiden Gestaltungsstrategien und wählte stattdessen eine ,hybride‘ Lösung,die Raum fürunterschiedliche Deutungen ließ. Es stellt sich die Frage, inwieweit hierfürdas spezifische gesellschaftliche Umfeld in Kronstadtursächlich gewesen sein könnte –zumal der BauimŒuvre

Mushlin/Harmen H. Thies (Hg.), Jewish Architecture in Europe(Schriftenreihe der Bet- Tfila-Forschungsstelle fürJüdische Architektur in Europa, 6), Petersberg 2010, S. 329–336; Ursula Prokop,Zum jüdischen Erbeinder Wiener Architektur.Der Beitrag jüdischer Ar- chitektInnen am [sic!]Wiener Baugeschehen 1868–1938, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 27–30. 31 Vgl. Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland (wie Anm. 19), Bd. 1, S. 233, 248, 441; Krinsky,SynagoguesofEurope(wieAnm. 19), S. 86. 32 Vgl. mit Bezug aufden Synagogenbau: Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland(wie Anm. 19), Bd. 1, S. 233–235. 33 Vgl. Vasile Oltean, Configurat¸iaistorica˘ s¸ iBisericeasca˘ aBras¸ovului (sec. XIII–XX), Her- mannstadt 2010, S. 249.

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Abb. 10:Evangelische Stadtpfarrkirche A. B.,Kronstadt, genannt„Schwarze Kirche“: Westportal seines Architekten einen Sonderfall darstellt:Die Synagogen, die nach Ent- würfen LipótBaumhorns in den Jahren zuvorinFiume(kroat. Rijeka,1895), Großbetschkerek (serb. Zrenjanin,ungar. Nagybecskerek,1896),Temeswar-Fa- brik (rum. Timis¸oara-Fabric,ungar. Temesvµr-Gyµrvµros,1897–1899) und Sollnock (ungar. Szolnok,1898–1899) errichtet worden waren, sind allesamt durch eine im Stadtbild wirkungsvolle Zentralkuppel gekennzeichnet, viele weisen zudem eine Doppelturmfassade auf. Dies trifftauch aufdie 1898 bis 1899 entworfene und 1900 bis 1903 erbaute Synagoge in Szegedin(ungar. Szeged)zu, die als Hauptwerk Baumhorns gilt (Abb.11). DassGlocken in der jüdischen Liturgie nichtbenötigt werden, ein Turm mithin im Synagogenbauseiner Kernfunktion entbehrt, genügt folglich als Erklärung fürden Verzichtauf solche Bauglieder in Kronstadtnicht. Im Jahr 1894 –und damit vor dem Bauder Synagoge –war in der Zeitung der siebenbürgisch-sächsischen Bevölkerung Kronstadts, der Kronstädter Zeitung, ein Beitrag erschienen,der sich füreinen „geläuterten und vonklaren politi-

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Abb. 11:Synagoge Szegedin, LipótBaumhorn, 1900–1903 schen und nationalökonomischen Erwägungen ausgehenden Antisemitismus“ ausgesprochen hatte. Dieser sollte „im staatlichen und wirtschaftlichen Leben den zersetzenden und korrumpierenden Einfluß des Judentums eindämmen“. Ausgeklammertwerden sollte dabei allerdings„das Gebiet der Religion und der rein menschlichen Beziehungen“ zwischen Juden und Nichtjuden. Außerdem wurde klar zwischen alteingesessenen und zugezogenen jüdischen Familien in Kronstadtunterschieden und zwar,weil letztere besonders fürdie Magyarisie- rung eintreten würden. Deshalb habejeder Sachse einen „Stich insAntisemiti- sche“.34 Der hier beschriebene Antisemitismus baute aufdreierlei Ängste:1.) die Angst, dass sich jüdische Konkurrenz negativauf die als Einheit begriffene siebenbürgisch-sächsische Wirtschaftauswirken könnte. Zu dieser Angst vor dem Verlust wirtschaftlicher Eigenständigkeit trat 2.) die Angst vor dem Verlust sprachlicherund kultureller Eigenständigkeit der Siebenbürger Sachsen durch staatliche, angeblich vonder jüdischen Bevölkerung beförderte Maßnahmen zur Etablierung einer Vorrangstellungmagyarischer Sprache und Kultur–die De- batte um die sogenannte Magyarisierung stellt einen der interethnischen Hauptdiskurse in Siebenbürgen um 1900 dar.Damit in Zusammenhang stand

34 N. N.,Das Judentum, in:Kronstädter Zeitung 58/96 (26.04.1894), S. 1f.

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3.) Xenophobie:Die Angst vor Überfremdung, nichtdurch orthodoxe„Ostju- den“, wieessonst häufig der Fall war,35 sondern durch magyarisierte Juden aus den außersiebenbürgischen (westlichen) Landesteilen Ungarns. In den voran- gegangenen Jahrzehnten hatten die Sachsen ihreStellung als bevölkerungs- stärkste Gruppe der Stadt an die Magyaren verloren.36 Die gleichen Motive finden sich auch einige Jahrespäter wieder,als im Vorfeld der Synagogeneinweihung die Vorwürfegegen Sigmund Singer erhobenwurden. Ausgangspunkt der Ritualmordgerüchte und Schauplatz der Attackeauf Singer war die ObereVorstadt (rum. S¸ chei,ungar. Bolgµrszeg), ein Stadtteil mit überwiegend rumänischer Bevölkerung,dessen Bewohner zu überdrei Viertel (Industrie-)Arbeiter,Dienstboten und Tagelöhner waren;die Zahl der dort ansässigen Selbstständigen ging im späten 19. Jahrhundertdeutlich zurück.37 Man möchte also annehmen, dass eine prekäre wirtschaftlicheLage und man- gelnde Bildung in vielen Fällen die Bereitschaftförderte, den Gerüchten Glauben zu schenken und an den Ausschreitungen mitzuwirken.38 Zudem dürften ,tra- ditionelle‘, religiösverwurzelte antijüdische Ressentiments durch angebliche „Ritualmordfälle“,39 wiedenjenigen im nordungarischen Tisza-Eszlµrvon 1882/ 1883 und die sogenannte „Konitzer Mordaffäre“inWestpreußen vomWinter 1900,40 die ein langanhaltendes überregionales Medienechogenerierten, Auf- trieb erhalten haben. Im Kronstädter Stadtteil Bartholomae(rum. Bartolomeu, ungar. Brassóbertalan)war bereits 1715 ein Jude infolge vonRitualmordbe-

35 Vgl. Rolf Fischer,Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn 1867–1939. Die Zer- störung der magyarisch-jüdischen Symbiose (Südosteuropäische Arbeiten, 85), München 1988, S. 48f.;Gross, Ritualmordbeschuldigungen (wie Anm. 3), S. 202;Daniel Tollet, L’ac- cusation de crime rituel, en Europe, au XIXe si›cle (1800–1914). Unesource inØpuisable de l’antisØmitisme, in:LadislauGyØmµnt/Maria Ghitta (Hg.), Dilemele conviet¸uirii. Evrei s¸ i neevrei înEuropacentral-ra˘sa˘riteana˘ înainte s¸ idupa˘ Shoah. Dilemmes de la cohabitation. Juifs et non-juifs en Europecentrale-orientale avantetapr›slaShoah, Cluj-Napoca 2006, S. 25–35,hier 26f. 36 Roth, Bras¸ov(wie Anm. 8), S. 39, 43;Schöck, Brassó (wie Anm. 8), S. 40, 58f. 37 Vgl. Schöck, Brassó (wie Anm. 8), S. 140. 38 Rolf Fischer zufolge wurdenbei antisemitischen Ausschreitungen in Ungarn fast nurAn- gehörige unterer sozialer Schichten aktenkundig, Vertreterder Intelligenz beschränkten sich hingegen darauf, solche Ausschreitungen durch antisemitische Agitation anzustacheln, Fi- scher,Entwicklungsstufen des Antisemitismus (wie Anm. 35), S. 91. 39 AlbertLichtblau, Die Debatte überdie Ritualmordbeschuldigungen im österreichischen Abgeordnetenhaus am Ende des 19. Jahrhunderts, in:Rainer Erb (Hg.), Die Legende vom Ritualmord.Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden (Zentrum fürAntisemi- tismusforschung:Reihe Dokumente, Texte, Materialien, 6), Berlin 1993, S. 267–293, hier 267–70;Fischer,Entwicklungsstufen des Antisemitismus (wie Anm. 35), S. 42–50. 40 Gross, Ritualmordbeschuldigungen (wie Anm. 3), insb.S.89–145, 159–173, 191–193; Christoph Nonn, Eine Stadt suchteinen Mörder.Gerücht,Gewaltund Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002;HelmutWalser Smith, Die Geschichte des Schlachters (wie Anm. 3).

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Synagogenbau und Ritualmord. Antisemitismus und jüdische Selbstverortung 143 schuldigungen festgenommen worden.41 Ausdem zweiten Viertel des 19. Jahr- hunderts sind nichtweniger als sieben Fälle vonRitualmordbeschuldigungen in Siebenbürgen bekannt, obgleich die Regierung 1792 die Bischöfe aller Konfes- sionen angewiesen hatte, den Klerus zu instruieren, dass dieser die Gläubigen vonder Haltlosigkeit solcher Beschuldigungen überzeuge.42 Die sächsische Kronstädter Zeitung distanzierte sich 1901 zwar vordergrün- dig vonden „blödsinnigen“ Ritualmordgerüchten und schrieb sarkastisch, das „Judenjüngelchen Singer“sei eben „mit dem falschen Gesichtzur falschen Zeit am falschen Ortgewesen“; sie nahm die Angelegenheit jedoch zum Anlass, um einen vorgeblich aufgeklärten ökonomischen Antisemitismus zu propagieren.43 Die staatliche Liberalisierung der Wirtschaft, der österreichisch-ungarische Zollkrieg mit Rumänien und die verspätet einsetzende Hochindustrialisierung hatten zu erheblichen Verwerfungen gerade im rumänischen Handel und sächsischen Gewerbeder Stadt geführt.44 Die Kronstädter Zeitung rief zum Boykott jüdischer Geschäfteauf und begründete dies in einem „Christenblut“ betitelten Artikelwie folgt: „Es ist etwas Wahres daran, daß die Juden ,Chris- tenblut‘ abzapfen, um ihren Tempel bauen zu können“, wenngleich dies nur sinnbildlich, nichtimwörtlichen Sinne gelte.45 Der Synagogenbauwird hier also

41 Nadia Badrus, Das Bild der Siebenbürger Sachsen über [sic!] die Juden. Einige Anhalts- punkte, in:Konrad Gündisch/WolfgangHöpken/MichaelMarkel (Hg.), Das Bild des anderen in Siebenbürgen. Stereotypeineiner multiethnischen Region (Siebenbürgisches Archiv,33), Köln/Weimar/Wien 1998, S. 85–107, hier S. 93f.;LadislauGyØmµnt,Evreii din Transilvania. Destin istoric. The Jews of . AHistorical Destiny, Cluj-Napoca 2004, S. 171. 42 GyØmµnt,Evreii din Transilvania (wie Anm. 41), S. 207;Fiul/Manat¸ e/Oprea,Comunitatea evreilor (wie Anm. 9), S. 130f. 43 N. N.,Unsere-Ritual-Mordsgeschichte, S. 2(wieAnm. 1). 44 Friedrich Lexen, Zur wirtschaftlichen Entwicklung Kronstadts in den letzten 50 Jahren, Kronstadt 1912, S. 6f.,9f.;Maja Philippi, Kronstadt. Bras¸ov.Das Bild einer siebenbürgischen Stadt im 19. Jahrhundert, in:Helmut Jäger (Hg.), Probleme des Städtewesensimindustri- ellen Zeitalter (Städteforschung.Reihe A: Darstellungen, 5), Köln/Wien 1978, S. 273–315, hier S. 278–280;Schöck, Brassó (wie Anm. 8), S. 107–136;Gerald Volkmer,Gründerzeit im Karpatenbogen. Das siebenbürgische Burzenland und die Herausforderung der Industria- lisierung 1867–1918, in:Gründerzeit.Jahrbuch des Bundesinstituts fürKultur und Ge- schichte der Deutschen im Östlichen Europa21(2013), S. 27–66, hier S. 40–43, 45, 61. Zum daraus resultierenden Wirtschaftsnationalismus beiRumänen und Sachsen siehe jüngst StØphanie Danneberg,Wirtschaftsnationalismus lokal. Interaktion und Abgrenzung zwi- schen rumänischen und sächsischen Gewerbeorganisationeninden siebenbürgischen Zentren Hermannstadt und Kronstadt, 1868–1914(Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa, 10), Göttingen 2018. 45 N. N.,„Christenblut“, in:KronstädterZeitung65/188 (16.08.1901), S. 1. Der Titel nimmt möglicherweise aufeinige der außerordentlich zahlreichen Schriften Bezug, die um 1900 zum Themader Ritualmordbeschuldigungen erschienen, etwa KunibertErbsreich, Brauchen die Juden Christenblut?, Berlin 1882;Germanicus,Die Juden und das Christenblut. Ge- schichtliche Beiträge zur Frage des jüdischen Blutrituals, Leipzig 1892,vgl.Groß,Ritual- mordbeschuldigungen (wie Anm. 3), S. 186, 190.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 144 Timo Hagen instrumentalisiert, um die wirtschaftliche und materielle Ausnutzung des „Wirtsvolkes“ durch „schmarotzerhafte“ Juden zu belegen, diese als Profiteure des Umbruchs auszuweisen. Während also die ersten Beschuldigungengegen Singer in Form eines Ge- rüchts von„einfachen Leuten“erhoben wurden, sorgte die bürgerliche Presse für deren Weiterverbreitung in Form antisemitischer Agitation. Alssolche wurde die Meldung im Kronstädter Wochenblatt seitens des örtlichen Oberstadt- hauptmanns bewertet, der,nachdem sich die Vorwürfeals haltlos herausgestellt hatten, die Staatsanwaltschaft ersuchte, einen Presseprozess gegen die Zeitung einzuleiten.46 Die BrassóiLapok (Kronstädter Blätter), eine ungarischsprachige Lokalzei- tung,die voneinem jüdischen Druckereibesitzer verlegt wurde, reagierte aufden ,Christenblut‘-Artikelder Kronstädter Zeitung mit einer Erwiderung,eskam zu einem Schlagabtausch zwischen beiden Blättern, im Zuge dessen sich diese wechselseitig als „Antisemitenblatt“ und „Judenblatt“ betitelten.47 Die rumä- nischsprachigeTageszeitung Gazeta Transilvaniei (Siebenbürgische Gazette) beschimpftedie BrassóiLapok,die die Schuld an den Ausschreitungen vor allem beider rumänischen Bevölkerung und Priesterschaftsah,als „jüdisch-magy- arisches Chauvinistenblatt“.48 Die Kronstädter Zeitung betonte, es seien auch „ungarische niedereSchichten“ an den Ausschreitungen beteiligtgewesen.49 Das Blatt boykottierte die Einweihungsfeier der Synagoge, weil die Einladung nurauf Ungarisch verfasst war und mokierte sich überdie „Judenfreundschaft“ des örtlichen magyarischen Männergesangsvereins, der daran mitwirkte.50 Hier wird deutlich, dass der antisemitische Diskurs an der pluriethnischen ,Peri- pherie‘ Ungarns zu guten Teilen ein ,Nebenkriegsschauplatz‘ der Auseinander- setzungen um die Etablierung des ungarischen Staatskonzeptseines einheitli- chen Nationalstaats unter magyarischen Vorzeichen war. Vordiesem Hintergrund ist eine weitere, bislang noch nichtangesprochene Komponente des Gestaltungskonzepts der Synagoge vonbesonderem Interesse: Punktuell lassen sich am BauAnleihen an Entwürfedes BudapesterArchitekten ÖdönLechner beobachten, mit denen dieser einen ,ungarischen Nationalstil‘ zu etablieren trachtete.51 Lechner wollte damit einen Beitrag zur Sicherung des

46 N. N.,Proces de pressa˘,in: Gazeta Transilvaniei 64/184 (03.09.1901), S. 3. 47 N. N.,Kronstädter magyarische Judenfreundschaft, in:Kronstädter Zeitung65/193 (23.08.1901), S. 1. 48 N. N.,„Prindet¸i pe Jidan!“, in:Gazeta Transilvaniei 64/170 (14.08.1901), S. 2f., hier S. 3; N. N.,„Prindet¸i pe Jidan!“, in:Gazeta Transilvaniei 64/171 (15.08.1901), S. 2f.,hier S. 3;N. N., Cercetarea înafacerea Evreului Singer,in: Gazeta Transilvaniei 64/177 (24.08.1901), S. 3. 49 N. N.,„Christenblut“(wieAnm. 45), S. 1. 50 N. N.,Kronstädter magyarische Judenfreundschaft(wieAnm. 47), S. 1. 51 Jµnos Gerle, Lechner Ödön(Az ØpítØszet mesterei), Budapest 2003;Zsombor JØkely (Hg.),

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Synagogenbau und Ritualmord. Antisemitismus und jüdische Selbstverortung 145

Fortbestands des Ungarntumsleisten,52 daserinsbesondereinden gemischt- ethnischenRegionen des Landes als gefährdet erachtete. Die daher notwendige Magyarisierung der,Nationalitäten‘ (so der zeitgenössische Begriff fürethnische Minderheiten) Ungarns könne mittels einer allgemeinverständlichen,davisuell erfassbaren Formensprache, die dann unbewusst adaptiertwerde, wesentlich leichter erfolgen als aufsprachlichemWege.53 Lechners Stilkonzepthob –unter anderem durch Anleihen beipersischerund indo-islamischer Architektur–stark aufeine mythisch überhöhteethnische Herkunftder Magyaren ausdem ,Orient‘ ab.54 Besonders anschaulich wird dies an dem in hellem Weiß gehaltenen Atrium seines Kunstgewerbemuseums in Budapest von1893–1896,dessen umlaufende Arkadengalerien Zackenbögen und reicher Stuckdekor in den Bogenzwickeln schmücken (Abb.12). Baumhorn, der während einer Tätigkeit im Büro vonLechner und dessen Partner Gyula Pµrtos selbst am Baudes Museums mitgewirkt hatte,55 ließ diesen Raumeindruck augenscheinlich in seinen Entwurffürden Innenraum der Kronstädter Synagoge einfließen. Auch am Außenbaulassensich Zitate ausLechners Œuvre ausfindig machen, wiez.B.die Ziegelöffnungsrahmungen und Ziegelbänder aufPutz- grund an den Seitenfassaden. Lechners Konzept eines orientalisierenden Nationalstils war durchaus um- stritten, stieß aber insbesonderebei neologen jüdischen Architekten und Auf- traggebernauf Zustimmung:56 Das Postulat einer orientalischen Herkunftder Magyaren war dazu geeignet, magyarisch-jüdische Gemeinsamkeiten zu un- terstreichen;die positiveUmdeutung der Fremdverortung der Juden im Orient konnte aufdiese Weiseumso leichter gelingen.57

ÖdönLechner in Context. Studies of the InternationalConference on the Occasion of the 100th AnniversaryofÖdönLechner’s Death, Budapest 2015. 52 Seine Agenda fasste Lechner 1906 in der bekannten Schrift Eine ungarische Formensprache existiert nicht, aber es wird sie geben zusammen, ÖdönLechner, Magyar formanyelvnem volt, hanem less, in:Mu˝vØszet 5(1906), S. 1–18, englische Übersetzungin: Katalin Keserü (Hg.), Amodernizmus kezdetei KözØp-Európa ØpitØszetØben. Lengyel,cseh, szlovµkes magyar ØpitØszetiirµsok a19–20. szµzad fordulójµról. The Beginnings of Modernism in Central European Architecture.Polish, Czech, Slovak and Hungarian Architectural Writings at the Turn of the 20th Century, Budapest 2005, S. 146–154, hier S. 146f. 53 Keserü,Amodernizmus kezdetei (wie Anm. 52), S. 148f.;siehe auch AnthonyAlofsin, When Buildings Speak. ArchitectureasLanguage in the Habsburg Empireand ItsAftermath, 1867–1933, Chicago 2006, S. 132f.;Rudolf Klein, The Hungarian Jews and Architectural Style, in:Anna Szalai (Hg.), In the Land of Hagar.The Jews of . History, Society and Culture,Tel Aviv 2002, S. 165–172, hier S. 165f. 54 Alofsin, When Buildings Speak(wieAnm. 53), S. 132; kosMoravµnszky,Competing Vi- sions. Aesthetic Invention and Social Imagination in Central European Architecture 1867–1918. Cambridge (Massachusetts)/London1998, S. 225. 55 Oszkó,Synagogen und Wohnhäuser(wieAnm.12), S. 537. 56 Vgl. Bedoire, The Jewish Contribution (wie Anm. 28), S. 365, 367, 369f. 57 Es scheintkein Zufall, dass mit dem Turkologen Hermann VµmbØry ausgerechnet ein zum

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Abb. 12:Kunstgewerbemuseum Budapest, ÖdönLechner,1893–1896:Atrium

Einige Anhaltspunkte hinsichtlich der Haltung der Kronstädter neologen Ge- meinde zum ungarischen Staat und zu ihrem gesellschaftlichen Umfeld in der Stadt bietet der Festakt anlässlich der Synagogenweihe:Inseiner aufUngarisch gehaltenen Weiherede hob der Rabbiner der Gemeinde „die ungarische patrio- tische Gesinnung der Kronstädter Israeliten“ hervor.58 Durchaus als eine poli- tische Stellungnahme kann aufgefasst werden, dass die Feier aufden 20. August,

Protestantismus übergetretenerungarischer Jude einer der Hauptvertreterder Theorie einer orientalischenVerwurzelung der Magyarenwar.„In der Beschäftigung mit fremden Kulturen spiegelte er gleichsam das eigeneAbtastenseiner ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit: Die Suche nach den Wurzeln der eigenen Sprache war fürihn das Bindeglied zur Schaffung einer imaginierten orientalischen Heimatder Ungarn–und der Juden.“ Peter Haber, Sprache, Rasse, Nation. Der ungarische Turkologe rmin VµmbØry,in: Ders./Erik Petry/ Daniel Wildmann (Hg.), Jüdische Identitätund Nation. Fallbeispiele ausMitteleuropa(Reihe Jüdische Moderne, 3), Köln 2006, S. 19–49, hier S. 48;siehe ferner Klein,ZsinagógµkMag- yarorszµgon (wie Anm. 13), S. 597. 58 N. N.,Tempelweihe,in: Abendblatt des Pester Lloyd 48/189(21.08.1901), S. 2.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Synagogenbau und Ritualmord. Antisemitismus und jüdische Selbstverortung 147 den Gedenktag zu Ehren des Hl. Stephan vonUngarnals dem höchsten unga- rischen Nationalfeiertag,terminiertwurde und nichtetwa aufden zweiTage zuvor begangenen Geburtstag vonKaiser Franz Joseph I.,den höchsten Feiertag des Habsburgerreichs.59 Entsprechend wurde beidem Festakt nichtdie Kaiser- hymne, sondernder Himnusz,die (damals noch nichtoffizielle) ungarische Nationalhymne gesungen.60 Ein bis datoinder Stadt unbekannter Vorgang war es, dass die in Kronstadtstationierte HonvØd-Kompagnie, ein königlich unga- rischer Truppenverband innerhalb der bewaffneten Macht Österreich-Ungarns, anlässlich der Einweihung militärische Ehren abhielt. Während wichtige örtliche Vertreter des Staates und des Militärs dem Festakt beiwohnten, findeninden Berichten überdie Einweihung weder städtische noch kirchliche Honoratioren Erwähnung.Gleichwohl wurde dasWeihegebet, möglicherweise in Reaktionauf die in der Kronstädter Zeitung geäußerte Kritik, in gedruckter Form zugleich in allen drei Sprachen der Stadt verteilt. Zudem wählte Rabbiner Rosenbaum in seiner Auslegung vonJesaja 56, 7: „denn mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker“ dezidiertWorte transethnischer und religionsüberschreitender Einheit. Im neuen Tempel solle eine „Doktrinder Humanitätund Zivilisation“ propagiertwerden.61 Er segnete das Land und die Stadt mit all ihren Einwohnern. Offensichtlich ist hier das Bemühen mit Blick aufdie Ereignisseder vorange- gangenen Tage, Vorbehalte gegenüberder jüdischen Gemeinde abzubauen. Dass Rosenbaum auch die Toleranz der Stadt hervorhob,wie die Gazeta Transilvaniei betonte, kann in diesem Zusammenhang als geschickte Forderung ebensolcher interpretiertwerden.62 Nimmt man nochmals den Synagogenbauinden Blick, so erscheintesbe- merkenswert, dass Komponenten ausdem Œuvre ÖdönLechners zwar rezipiert wurden, man aufein allzu eindeutig-plakativesZitieren seines ethnisch argu- mentierenden ,Nationalstils‘ jedoch verzichtete:Wie gesehen standen etwa für die Zackenbögen zwei alternativeDeutungsmöglichkeiten zur Verfügung,auf die beietwaigen negativenReaktionen verwiesenwerden konnte. Auch der fürviele vonLechners Bauten charakteristische farbige Keramikdekor,bei dessen Ent- wurfsich der Architekt an Motivenaus der ländlich-vernakulären,Volkskunst‘

59 Zum Verhältnis der beiden Feiertage als Foren fürLoyalitätsbekundungen gegenüberNation und Monarchie siehe rpµdvon Klimó,Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860–1948) (Südosteuropäische Ar- beiten, 117), München 2003, S. 115. 60 N. N.,Inaugurarea templului israelit, in:Gazeta Transilvaniei 64/175 (22.08.1901), S. 3. Dem Berichtsind auch die folgenden Zitate entnommen. 61 Es ist bemerkenswert, dass der Grazer Rabbiner Moritz Güdemann 1892 beider Weihe der dortigen Synagoge in einem gleichfalls nichtunproblematischen gesellschaftlichen Umfeld eine ganz ähnliche Botschaft zu vermitteln suchte und dabeiebenfalls vonJesaja 56, 7 ausging. Lamprecht, Fremd in der eigenen Stadt (wie Anm. 14), S. 187. 62 Lamprecht, Fremd in der eigenen Stadt (wie Anm. 14), S. 187.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 148 Timo Hagen orientierte, welche ihm als Hort ungarischer Eigenartgalt,63 findetsich in Kronstadtnicht.64 Es scheintgut möglich, dass der vonsächsischer und rumä- nischer Seite geäußerte Vorwurf, Juden würden einer magyarischen Hegemonie Vorschub leisten, diese ,Vorsichtsmaßnahmen‘ motivierte. Ebenso wäre zu vermuten, dass auch die eigentümliche Überblendung von orientalisierendem Tempel und gotisierender Kirche im Synagogengebäude auf die antisemitischen Strömungen vorOrt reagierte. Wiedargelegt, handelt es sich um eine Kombination zweier in reformorientierten jüdischen Kreisen verbrei- teter architektonischer Selbstverortungsstrategien, denen beiden ein starkes jüdisches Selbstbewusstsein, eine unbedingte Gegenwartsbezogenheit,Zu- kunftsoptimismus und der Wille zur Integration in die christliche Mehrheits- gesellschaftzuGrunde liegen.65 Beide streben nach gesamtgesellschaftlicher Anerkennung der bereits erlangten rechtlichen Gleichstellung. Der Tempeltypus formuliertkonfessionelle Eigenständigkeit, seine orientalisierenden Stilformen wollen die jüdische Fremdverortung im ,Orient‘ mit positiven Konnotationen versehen. Die Orientierung am mittelalterlichen Kirchenbaudes Westens sucht ihre Ziele hingegen durch demonstrativeSelbstverortung im ,Abendland‘zu erreichen –konfessionelle Gleichrangigkeit hat am BauVorrang gegenüber konfessioneller Eigenständigkeit. Die Artund Weise,wie die Kombination beider Strategien erfolgt, nämlich mittels ambivalenter Gestaltungsmodi und Motive,uneindeutiger Bezugnah- men und unter Verzichtauf plakative Elemente, die abbreviaturhaftfüreinen Typus oder Stil stehen könnten (,Kirch‘-turm,Hufeisenbogen, Spitzbogen etc.), zeugtallerdings voneiner Eintrübung des Zukunftsoptimismus. Hier scheintein Bedenken mitzuschwingen, dass beide Strategien fürsich genommen vonnicht- jüdischer Seite negativ ausgelegtwerden könnten:Die eine als mangelnder Wille zur Integration, die andere als Anmaßung.Auch fürdas zunächst widersinnig erscheinendeVorgehen der Gemeinde, die einen renommierten, fürseine spektakulären Bauten bekannten Architekten engagierte, diesen dann jedoch einen untypischen, im Stadtbild vergleichsweise wenig in Erscheinung tretenden Bauerrichten ließ,könnte ein eingetrübter Zukunftsoptimismus eine Erklärung sein.

63 Keserü,Amodernizmus kezdetei (wie Anm. 52), S. 148. 64 Ein Beispiel füreine Umsetzung solcher Motive im Synagogenbaustellt die im Stil Lechners durchgestaltete Synagoge in Maria-Theresiopel (serb. Subotica,ungar. Szabadka)von Jakab & Komor von1901–1902 dar. 65 Dass fürdie Kronstädterneologe Gemeinde der Protestantismus ein größeres Identifikati- onspotential besaß als die christliche Orthodoxie, legtnichtnur das Innenraumkonzept der Synagoge und die Rezeption im lokalen Kontext protestantisch konnotierter gotischer Stil- elemente nahe, sondernu.a.auch der im Kontext des Baumhornschen Œuvres ungewöhn- liche Verzichtauf einen Kuppelhelm –ein Motiv, das in Kronstadt nur an orthodoxen Sa- kralbauten anzutreffen war.

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Gleichwohl wurde die Synagoge zum Stein des Anstoßes, die Rezeption des Bauwerks zu einer Triebfeder der Affäre Singer.Die Kronstädter Zeitung stellte gar die Frage, ob im Falle eines Nicht-Einschreitens der Autoritäten und einer weiteren Eskalation der Ausschreitungen vondem Neubau„noch ein Stein auf dem anderen geblieben wäre“.66 Es scheint, als hätte bereits die Tatsache, dass sich die im Stadtzentrum errichtete Synagoge nicht,unsichtbar‘ machte–etwa als niedriges Gebäude in einem vollkommen geschlossenen Hof oder in Gestalt eines Bürgerhauses –gemeinsam mit ihrem durchaus monumentalen und reich gestalteten Äußeren ausgereicht, um sie zum Gegenstand antisemitischer Ar- gumentationen werden zu lassen. „Es ist etwas Wahres daran, daß die Juden ,Christenblut‘ abzapfen, um ihren Tempel bauen zu können“67 –sohatte die Kronstädter Zeitung geschrieben und damit ihren Lesern den in als krisenhaftempfundenen Zeiten entstandenen prachtvollen Neubauvor Augen gerufen, seine Errichtung aufBasis wirt- schaftlicher Ausnutzung der christlichen Bevölkerung implizierend. Dem Mob, der versuchte, die Synagoge zu attackieren, dürften sich die komplexen Bezüge und Andeutungen der Architektur ohnehin nichterschlossen haben. Sein Zornkonntewohl schon deswegen aufden Baugelenkt werden, weil dieser unweit der Oberen Vorstadt mit ihrem niedrigen Sozialniveau errichtet wurde –dem Stadtteil, in dem wohl nichtzufällig die Ritualmordgerüchte ihren Ausgang nahmen.

Abbildungsnachweis

Abb. 1: Kronstadt, Stadtzentrum mit neologer Synagoge, evangelischer Stadtpfarrkir- che A. B.,Rathaus, rumänischer orthodoxer Pfarrkirche der Inneren Stadt und römisch-katholischer Stadtpfarrkirche (v.l.n.r.) (Foto:TH, 2011, CC-BY-NC-SA 4.0). Abb. 2: Neologe Synagoge, Kronstadt, LipótBaumhorn, 1900–1901:Ansichtvon der Waisenhausgasse(Foto:TH, 2011, CC-BY-NC-SA 4.0).

66 N. N.,„Christenblut“ (wie Anm. 45), S. 1. Die BrassóiLapok hatten berichtet, beidem Aufruhr sei neben „Manmuss die Juden totschlagen wieHunde!“ und „Erhängt alle Juden!“ auch „Reißtdie Synagoge nieder!“ zu hörengewesen, was die Gazeta Transilvaniei ent- schieden dementierte, N. N.,Inafacerea Evreului „Singer“, in:Gazeta Transilvaniei 64/174 (18.08.1901), S. 5. Tatsächlich war 1836 beioffenen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung in Fogarasch (rum. Fa˘ga˘ras‚,ungar. Fogaras,knapp70kmnordwestlich von Kronstadt)die dortige Synagoge zerstört worden,LadislauGyØmµnt,Evreii din Transilvania (wie Anm. 41), S. 205. 1862 wurde die Synagoge im siebenbürgischen Neumarkt am Mie- resch (rum. Tîrgu Mures‚,ungar. Marosvµsµrhely)verwüstet, LadislauGyØmµnt,Evreii din Transilvania (wie Anm. 41), S. 231. 67 N. N.,„Christenblut“(wieAnm. 45), S. 1.

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Abb. 3: Neologe Synagoge, Kronstadt, LipótBaumhorn, 1900–1901:Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts („Brassóizsinagóga elölro˝l“, MILEV,accessed No- vember 30, 2016, ). Abb. 4: Baueingabeplan, NeologeSynagoge, Kronstadt, LipótBaumhorn,1899:Aufriss der Hauptfassade (STAK, Fd. 1, Dosar II 1900/260 [wie Anm.13],Magistratszahl 03896, 1a-j;Foto:TH, 2011, CC-BY-NC-SA 4.0). Abb. 5: Neologe Synagoge, Kronstadt,LipótBaumhorn,1900–1901:Innenraum, Blick zum Thoraschrein (Foto:TH, 2011, CC-BY-NC-SA 4.0). Abb. 6: Leopoldstädter Tempel, Wien, Ludwig Förster,1856–1858 (Wilhelm Lübke, Carl vonLützow[Hg.],Denkmäler der Kunst. Zur Übersichtihres Entwicklungs- ganges vonden ersten künstlerischen Versuchen bis zu den Standpunkten der Gegenwart, Bd. 2: Denkmäler der romantischen Kunst, Stuttgart 31879, S. 137, Tf. LVIII). Abb. 7: Jama Masjid,Delhi, Mitte 17. Jahrhundert (Foto:ArneHückelheim, 2010, , CC-BY-SA 3.0). Abb. 8: Humiliatenkirche Madonna dell’Orto,Venedig:Fassade, 1460–1464 fertigge- stellt (Foto:TH, 2013, CC-BY-NC-SA 4.0). Abb. 9: Synagoge in der Schmalzhofgasse, Wien-Mariahilf, Max Fleischer,1883–1884: Aufriss Hauptfassade (Max Fleischer:Der isr.TempelimVI. BezirkeWiens, in: Der Bautechniker.Centralorgan fürdas österreichische Bauwesen 4[1884], H. 40, S. 503–505, hier S. 505;Vorlage:ANNO/Österreichische Nationalbibliothek: ). Abb. 10:Evangelische Stadtpfarrkirche A. B.,Kronstadt, genannt„Schwarze Kirche“: Westportal (Foto:TH, 2008,CC-BY-NC-SA 4.0). Abb. 11:Synagoge Szegedin, LipótBaumhorn, 1900–1903 (Foto: Ferenc Somorjai, 2011, ,CC-BY-SA 3.0). Abb. 12:Kunstgewerbemuseum Budapest, ÖdönLechner,1893–1896:Atrium (Foto: Kathleen Conklin, 2003, ,CCBY2.0).

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Der ,Fall‘ Liebermann. Entangled histories –Antisemitismus und Antimoderne im Streitumdas Gemälde Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1879)

Aufder Internationalen Kunstausstellung in München 1879 präsentierte der Berliner Maler Max Liebermann sein Gemälde Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Abb.1)und sah sich daraufhin vehementen antisemitischen Angriffen ausge- setzt.

Abb. 1: Max Liebermann, Der zwölfjährige Jesus im Tempel,1879, Ölauf Leinwand, 149,6 x 130,8 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr.HK-5424

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Schon währendder Eröffnung der Ausstellungam20. Juli nahm Prinz Leopold Anstoß an demBildund ließ es in einNebenkabinett hängen.Damit begannein Skandal, derweit über Münchenhinausgetragenwurde undder biszueiner DebatteimbayerischenLandtag am 15.Januar1880führte.1 In seiner Darstellung bezog sich Liebermannauf dieGeschichtevon JesusimTempel, wiesie im Lukas- Evangelium geschildertwird:2 Entsprechend demGesetzpilgern dieElternmit ihremSohn, dersomit ein Sohn desGesetzes (Bar-Mizwa)ist,zur Feierdes Pes- sachfestes nach Jerusalem.ErstamAbendder Rückreisebemerkendie Eltern,dass ihrSohninder Stadtzurückgebliebenwar.NachdreiTagen derSuche finden sie ihnwieder im Tempel,woermittenunter denGelehrten sitzt, ihnenzuhört und Fragen stellt,sodassalleangesichtsseinesVerstandesverwundertsind.

Das Gemälde. Entstehungsprozess und Bildtraditionen

Im Zentrum der Bildkomposition stehen drei Figuren, die in der Mitte des hochformatigen Gemäldes angeordnet sind. Die drei Gestalten bilden einen zum Betrachter hin geöffneten Halbkreis, der schon durch die Lichtführung her- vorgehoben ist. Zu sehen ist der Jesusknabe, gekleidet in ein weißes Gewand,und zwei Schriftgelehrte im Tallit, die ihm aufmerksam zuhören. Sie befinden sich in einem Raum, der sich in der rechten Bildhälfte in die Tiefe öffnet. Zu erkennen sind ein Leuchter,Bankreihen und Lesepulte, die aufeinen Synagogenraum schließen lassen. Weitere Figuren sind links im Bildhintergrund aufder Wen- deltreppe und zwischen den Bankreihen rechts angedeutet. Rechts und links, jeweils vom Bildrand überschnitten, zeigen sich zwei weitere, aufrechtstehende Figuren, die sichinaufmerksamen Posen der kleinen Gruppe zuwenden. Be- sonders prominentinden Blick fällt die rechte, als Rückenfigur dargestellte Gestalt. In ihrem schwarzenbodenlangenMantel und der mit Pelz verbrämten Mütze erinnertsie an die Darstellung osteuropäischer Juden, wiesie beispiels-

1Das Gemälde wurde 1911 vonAlfredLichtwark, dem damaligen Direktor der Hamburger Kunsthalle,fürdie Sammlungen angekauft. Zur Zeit des NS wanderte das Bild zuerst ins Depot und wurde dann 1941 verkauft.Aus Anlass der Wiedererwerbung des Gemäldes 1989 durch die Hamburger Kunsthalle entstand eine kleine Publikation, welche die Geschichte des Bildes sowieden Eklat beiseiner Ausstellung 1879 aufder Internationalen Kunstausstellung in München dokumentiert. Vgl. Helmut E. Leppien, Der zwölfjährigeJesus im Tempelvon Max Liebermann (Patrimonia, 8), Hamburg1989. Im Jahr 2010 stand das Gemälde im Mittelpunkt einer Ausstellung in der Liebermann-Villa am Wannsee. Das Bild und seine Entstehung sowie der Skandal beiseiner Ausstellung in München 1879 wird ausführlich vorgestellt in dem zur Ausstellung erschienen Band:MartinFaass (Hg.), Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik, Ausstellungskatalog,Liebermann-Villa am Wannsee, 22. November 2009 bis 1. März 2010, Berlin 2009. 2Lukas-Evangelium (2,42–50).

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der ,Fall‘ Liebermann 153 weise auch in dem Gemälde Juden am JomKippur in der Synagoge (1878)von Maurycy Gottlieb zu sehen sind.3 DieEntstehungdes Gemäldes lässtsich über eine Vielzahl von Skizzen, Zeichnungen, Ölstudien,Kompositionszeichnungen und Figurenstudien nach- zeichnen.4 Neben derEinbeziehung historischer Vorbilder–wiedie desnieder- ländischen CaravaggistenMatthiasStomsowie Radierungen Rembrandts –geht dieBildideeauf Interieurstudienzurück,die Liebermannauf seinen Reisen nach Hollandund Italienanfertigte.5 WährendseinerHollandreiseimJahr1876be- suchte er dasAmsterdamer Judenviertel,wodas kleine Ölgemäldemit demTitel Inneresder Synagoge vonAmsterdam (Abb.2)entstand.6 Zwei Jahrespäter, wäh- rend seines zweimonatigenAufenthaltesinVenedig, malteerdas Bild Inneresder Synagoge in Venedig (Abb.3), daswiederumauf Studieninder Scuola Levantina, dersephardischen Synagoge Venedigs ausdem 16.Jahrhundert, zurückgeht.7 Diebeiden Interieurs, diejeweils aufStudien vorOrt zurückgehen, geben der Wirklichkeit entnommeneEindrückewieder,die dann, wenige Jahrespäter, in die Bildkonzeptiondes Gemäldes eingehen.8 Ausder Interieurstudie derSynagogein Venedigstammtdas Motivder WendeltreppeimBildhintergrund, währenddie Raum-und Lichtsituationauf derrechten Seitedes Gemäldes bestimmtwirddurch dieStudieaus Amsterdam. DieseAkzentuierungder Wirklichkeit –sowie die damitverbundenespezifischjüdische Perspektive –findetsichfortgesetzt in der Kennzeichnungder Figurenals Ostjuden.Mit demTallit, demweißen Gebetsschal mitschwarzen Streifen,wie er verschiedene Male im Bild zu sehenist,dem

3Maurycy Gottlieb (1856–1879)wurde in Drohobytsch/Galizien geborenund war ein polnisch- jüdischer Maler.Nebennational-polnischen Themenmachte er auch jüdische Sujets zum Gegenstand seiner Malerei. Sein Bild Jesus predigtinKafarnaum erregteAufsehen, da er darin Jesus als Rabbi darstelltmit Schläfenlockenund in den Tallit gekleidet. Vgl.Nehama Guralnik, In the Flower of Yo uth. Maurycy Gottlieb,Tel Aviv 1991;Ezra Mendelsohn, Painting aPeople. Maurycy Gottlieb and Jewish Art(The Tauber Institute for the Study of European Jewry Series), Hanover (New Hampshire) 2002. 4Vgl.Leppien, Jesus im Tempel (wie Anm. 1), S. 14f; Jenns E. Howoldt, Der zwölfjährigeJesus im Tempel. Das Bild und seine Entstehung, in:Faass (Hg.), Der Jesus-Skandal (wie Anm. 1), S. 13–25. 5Das Gemälde des niederländischen Caravaggisten Matthias Stom Der zwölfjährige Jesus wurde lange Gerrit vonHonthorst zugeschriebenvgl.Leppien, Jesus im Tempel(wieAnm. 1), S. 20; Howoldt, Der zwölfjährige Jesus (wie Anm. 4), S. 17. Das Gemälde Stoms zeigt kompositorisch starkeParallelen zu Liebermanns Bildkonzeption.Die Anlehnung an Rembrandt(Der zwölfjährige Jesus im Tempel,Radierungen 1652 und 1654) zeigt sich vor allem in der „gleichberechtigten“ Darstellung des Knaben im Kreis der Schriftgelehrten. Vgl.auch Lep- pien, Jesus im Tempel (wie Anm. 1), S. 18f. 6Howoldtverweist auch aufdas vonLiebermann in Amsterdam geführte Skizzenbuch, in dem zwei Blätter enthalten sind, die wahrscheinlich im Judenviertel oder der Synagoge entstanden sind. Vgl.Howoldt,Der zwölfjährigeJesus (wie Anm. 4), S. 14. 7Vgl.Howoldt,Der zwölfjährigeJesus (wie Anm. 4), S. 15f. 8Insbesondereinseinen Skizzenbüchern,die er während der Reisen führte, lassen sich die vor OrtgewonnenenZeichnungen verfolgen.

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Abb. 2: MaxLiebermann, Inneresder Synagogevon Amsterdam,1876, Ölauf Leinwand, 58 x 46 cm, Privatbesitz schwarzenKaftan sowieden pelzverbrämten Mützen wählte LiebermannKlei- dungsstücke, wiesie fürdie osteuropäischen Judencharakteristisch waren. Der Malerkonntesie in seiner zeitgenössischen Umgebung aufden Straßen Berlins beobachten,9 aber auch ausbildlichenDarstellungen,wie demschon erwähnten GemäldeMaurycy Gottliebs, kennen.Insbesonderemit derAdaptiondes Klei-

9InWesteuropawar seit Mittedes 19.Jahrhunderts einverstärkterZuzug osteuropäischer Juden zu verzeichnen. In Berlin wurdevor alleminden Jahren desErstenWeltkrieges dasScheu- nenviertel zumWohngebietder zumeistmittellosen undtraditionelllebenden osteuropäisch- jüdischenMigranten.Das jüdische,akkulturiertlebendeBürgertuminGroßstädten wie Wien oder Berlin hieß dieNeuankömmlingenicht unbedingtwillkommen. Durchihr Äußeres,ihre Sprachewie auch durchihr religiösesSelbstverständnisfielenosteuropäischeJuden sowohl unterakkulturiertlebendenWestjuden wieunter derallgemeinen Großstadtbevölkerung auf. Vgl. HeikoHaumann,Geschichteder Ostjuden,München1998;Inka Bertz(Hg.),BerlinTransit. Jüdische Migrantenaus Osteuropainden 1920er Jahren (Charlottengrad undScheunenviertel, 3),Ausstellungskatalog, JüdischesMuseumBerlin, 23.März bis15. Juli 2012,Göttingen2012; KlausHödl,Als Bettlerindie Leopoldstadt.GalizischeJudenaufdem WegnachWien, Wien 1994.

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Abb. 3: MaxLiebermann, Inneres der Synagoge in Venedig,1878, Verbleib unbekannt dungsstils osteuropäischer Judenweist LiebermannseinenFiguren eine eindeu- tige Identifizierungnicht nurals Juden, sondernauchals zeitgenössischeJuden zu. Er versetztedie biblischeThematik desGemäldes somitinseine unmittelbare Gegenwart. Noch in einerJahre späterverfasstenRezension wird dieser Moment vermerkt. So schriebder KunstkritikerGeorg Hermann1903inder populären jüdischenKulturzeitschrift Ostund West: Liebermann„vermenschlichtden Vor- gang vollkommen,nimmt moderne Judenvon etwasrussischenTyp,Riesenge- staltenmit erstaunten Gesichtern“.10 Das Thema vonJesus im Tempel gehörteim19. Jahrhundertzuden geläufigen Darstellungen der Malerei, wiezum Beispiel das Gemälde Adolf Menzels von 1851 zeigt.11 Im Gegensatz zu Menzel, der die Juden in den stereotypen Zeichen

10 Georg Hermann, Max Liebermann, in:Ost und West 3(1903), Sp.391. 11 Zur Geschichte des Bildmotivs vgl. PetraWandrey, Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Zur Ikonographie eines christlichen Bildmotivs, in:Faass (Hg.), Der Jesus-Skandal (wie Anm. 1), S. 133–143.

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Abb. 4: MaxLiebermann, Entwurfzum zwölfjährigen Jesus im Tempel,um1879, verschollene Zeichnung

12 Vgl. auch Katrin Boskamp,Die ursprüngliche Fassung vonMax Liebermanns Der zwölf- jährige Jesus im Tempel. Ein christliches Themaaus jüdischer Sicht, in:Das Münster. Zeit- schrift fürChristliche Kunst und Kunstwissenschaft46/1 (1993), S. 29–36.

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In dieser trägt die Figur des Jesusknaben ein kurzes,gegürtetes helles Gewand und gehtbarfuß.Die Haaresind –entsprechend der orthodoxen Tradition –am Haupt gekürzt und an den Schläfen sind die Pejes angedeutet. In der übermalten Fassung des Gemäldes hingegen trägt Jesus ein wadenlanges weißes Gewand und Sandalen;die Haare wurden zu einer schulterlangen Frisur verlängert. Die wichtigsten äußeren Zeichendes orthodoxen Judentums –Schläfenlocken und Haarschnitt –sind somit verschwunden.

Bildkritik und Judenfeindschaft

Die Kritiken zum Gemälde in seiner ,Ursprungsversion‘ waren zahlreich und zeigten in unterschiedlichsten Variationen die Versatzstücketradierter juden- feindlicher Argumentationen. Friedrich Pecht, ein zu seiner Zeit berühmter Kunstkritiker,schrieb Anfang August 1879 in der Augsburger Allgemeinen Zei- tung: Damit „gibt uns Liebermann in Christus den häßlichsten, naseweisen Juden-Jungen, den man sich denken kann, und die Rabbiner,die doch als echte Orientalen sicherihre Haltung zu wahren wußten, als ein Pack der schmierigsten Schacherjuden wieder.Das Bild beleidigtnichtnur unser Gefühl, sondern selbst unsere Nase, indem es ihr alle mög- lichenwidrigen Erinnerungen hervorruft.“13 Die ausder Geschichte des Judentums bekannten Anfeindungen –der ,hässliche Jude‘ (hässlich, naseweis),Fremdheit (Orientale), Geldgeschäfte(Schacher- jude) –potenzieren sich in Pechts Kritik zu einem Amalgam „widrige[r] Erin- nerungen“.Während der gesamten Laufzeit der Ausstellung sollte die Kritik nichtverstummen. Noch im Januar 1880 befasste sich der bayrische Landtagin einer zweitägigen Debatte mit dem Gemälde. In der Diskussionstellte ein Ab- geordneter mit Namen Dr.Daller zu dem Gemälde fest,dass „voneiner künstlerischen Bedeutung nichtdie Rede sein könne, dass dagegender erhabene göttliche Gegenstand diesesBildes in einer so gemeinen und niedrigen Weise dargestellt ist, dass jeder positiv gläubige Christ sich durch diesesblasphemische Bild aufs Tiefste beleidigtfühlen musste“.14

13 Friedrich Pecht, Die Münchner Ausstellung II. Die religiöse und die Historienmalerei, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr.216, 04.08.1879. Zit. nach Martin Faass/HenrikeMund, Sturm der Entrüstung. Kunstkritik, Presse und öffentliche Diskussion,in: Faass(Hg.), Der Jesus-Skandal (wie Anm. 1), S. 67. 14 Faass/Mund, Sturm der Entrüstung (wie Anm. 13), S. 69.

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Die Bildkritik der Moderne

In den Debatten um das Gemälde ist zu beobachten, wiesich ästhetische Kate- gorien der Bildbetrachtung mit ethnisch-rassistischen Argumenten verbinden.15 Als prägnantes Beispiel hierzu die Beschreibung vonAdolf Rosenberg im Bei- blatt der Kunstchronik von1880. In der Rückschau aufdie Internationale Kunstausstellung stellte er fest:

„Die heilige Geschichte ist fürdie Kunst des neunzehnten Jahrhunderts ein füralle Male ausdem Dogmatischen und Übersinnlichen in das rein Menschliche übersetzt worden, doch ist das religiöse Gefühl der großen Menge noch nichtsoweit abgestumpft […],als daß das schmähliche Pasquill des Münchner Rhyparographen Max Liebermann ,Christus im Tempel‘ […] nichtallseitig mit Entrüstungzurückgewiesen worden wäre“.16

Rosenberg verbindetdie schon beiDr. Daller geführte Anklage der Blasphemie mit der Kritik an der modernen Malerei. Im Begriff des Rhyparographen –d.h. Schmutzmaler –griff die zeitgenössischeKunstkritik insbesonderedie Dar- stellungsweise des Realismus an. Mit Angriffen dieser Artwar Liebermann schon einige Jahrefrüher konfrontiertworden. 1872 hatte er das Gemälde der Gänserupferinnen der Öffentlichkeit präsen- tiertund wurde mit Kritiken bedachtwie:„Liebermann’s Gänserupferinnen, ein Gemälde, worin die abschreckendste Häßlichkeit in unverhüllter Abscheulich- keit thront,kanndurch die virtuose Technik nichtfürdie gänzlich unberück- sichtigt gebliebene […] Ästhetik entschädigen“.17 Das Ölgemälde Arbeiter im Rübenfeld von1876 wurde mit Kommentaren bedachtwie „nun tritt ein junger Maler […] auf, schwört aufdie Richtigkeit und Wahrheit Courbets und kopiert dessen Manier so lange […] bis er alles in Schmutz getaucht“.18 Im Vokabular des ,Häßlichen‘ und ,Schmutzigen‘ werden Darstellungsgegenstand und Malweise, insbesonderedie Farbbehandlung, miteinander verwoben. Liebermann wird angekreidet, dass er kein pittoreskes Sujet des Landlebens malt, sondern –ohne jegliche Idealisierung –die harte Wirklichkeit der Arbeit aufdem Land. Die Kritik am Realismus seiner Darstellungsweise teilte Liebermann mit der fran-

15 Vgl. hierzu auch InkaBertz, Anatomie eines Kunstskandals, in:Faass (Hg.), Der Jesus- Skandal(wieAnm. 1), S. 89–101,hier 95. 16 Adolf Rosenberg,Der gegenwärtige Stand der deutschen Kunst nach den Ausstellungen in Berlin und München, in:ZeitschriftfürBildende Kunst. Mit dem Beiblatt Kunst-Chronik 15 (1880), S. 41–48. 17 A. J. M.,Die Hamburger Kunstausstellung,in:Beiblatt zur ZeitschriftfürBildendeKunst VII/ 17, 31.05.1872, S. 312, zit. nach Matthias Eberle, MaxLiebermann 1847–1935. Werkver- zeichnis der Gemälde und Ölstudien, Bd. 1, München 1995, S. 44. 18 Otto vonLeixner,Die moderne Kunst, Bd. 1, Berlin 1878, S. 53f.,zit. nach Eberle, Max Liebermann (wie Anm. 17), S. 31.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der ,Fall‘ Liebermann 159 zösischen Malerei.19 Erinnertsei hier nur an den schon erwähnten Courbet und sein Begräbnis vonOrnans, das 1850/51vom Salon abgelehntworden war. Courbet wurde in der zeitgenössischenKunstkritik der Vorwurfgemacht nachlässig zu malen, dreckige Farben zu verwenden und alles in die Farbe schwarz zu tauchen. Genaudarauf zielte der französische Karikaturist Cham mit seiner Karikatur des Gemäldes.20 In der Bildkritik Chams wird die Farbe Schwarz zum dominanten Elementder Malerei Courbets, die mit dem großzügigge- führten Schriftzug Courbets signiertund aufdiese Weise zu dessen Marken- zeichen erklärt wird. Auch hinsichtlich des Gemäldes Jesus im Tempel scheintes, als ob sichdie Kritik am Realismus –als dem aktuellen Malstil der Moderne –potenziertzur Kritik an der Wirklichkeitsnähe des Sujets. Obwohl die Darstellung der Juden als zeitgenössische,osteuropäische Juden in den Kritiken nichtdirekt angesprochen wird,ist sie im abwertenden Vokabular der ,schmierigen‘ und ,hässlichen Schacherjuden‘, das insbesondereinden zeitgenössischenBeschreibungen zur ,Ostjudenfrage‘ gehäuftzufinden ist, sehr präsent.21 Eine Steigerung erfährtdas ,ostjüdische Element‘ der Darstellung Liebermanns in seinem Realitätsbezug, ziehtman einen Auszug ausHeinrich vonTreitschkes Unsere Aussichten hinzu. In seiner Polemik von1879, die den Berliner Antisemitismusstreit begründete, führterexplizit die Ostjudengefahr als die Bedrohung der deutschen Nation an: „[…]u¨berunsere Ostgrenze aber dringtJahr fu¨rJahr ausder unerschöpflichenpol- nischen Wiege eine Schaarstrebsamer hosenverkaufender Ju¨ nglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst DeutschlandsBörsen und Zeitungen beherrschen sollen[…]“.22

19 Zu den Diskussionen um die Moderne, insbesondere die Malweise des Realismus vgl. Klaus Herding, Realismus, in:Werner Busch (Hg.), Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, Bd. 2, München 1987, S. 730–764;MonikaWagner,Wirklich- keitserfahrung und Bilderfindung. Turner,Constable, Delacroix, Courbet, in:Dieselbe (Hg.), Moderne Kunst:Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg1991, S. 115–134. 20 Cham, L’enterrementd’Ornans, par Courbet maîtrepeintre, Karikatur,1850. 21 Vgl. zur Geschichte der Ostjuden und ihrer Wahrnehmung im Westen das Kapitel, German Jewryand the Making of the Ostjude,1800–1880,in: Steven E. Aschheim,Brothers and Strangers. The East European JewinGerman and GermanJewish Consciousness, 1800–1923, Madison1982, S. 3–31;Haumann, Geschichte der Ostjuden (wie Anm. 9). 22 Heinrich vonTreitschke, UnsereAussichten, in:Preußische Jahrbu¨cher 44 (1879), S. 572f.; Thomas Gerhards, Heinrich vonTreitschke.Wirkung und Wahrnehmung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhundert(Otto-von-Bismarck-Stiftung:Wissenschaftliche Reihe, 18), Paderborn2013. Zum Antisemitismusstreit siehe den Beitrag vonSebastian Voigtindiesem Band.

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Die Verbindung von Modernekritik und christlichem Antisemitismus

Im Vergleich zu den Gänserupferinnen oder den ArbeiternimRübenfeld fällt die Ablehnung des Jesus im Tempel noch um einiges schärfer aus. Die Kritik an der „Häßlichkeit“ der Malweise des Realismus wird verbunden mit der unwürdigen Behandlung des christlichen Bildsujets. Viele der Kommentaresehen die christlicheReligion selbst aufdem Spiel stehen.Zur Verdeutlichung des Vor- wurfs der „gemeinen und niedrigen Weise“ der Darstellung sei nochmals aufdas Gemälde Menzels verwiesen:ImVergleich zu Menzel fehlt dem Jesusknaben bei Liebermannjeder Hinweis aufseineGöttlichkeit. Der dargestellte Knabever- bleibt in der irdischen Gestaltdes jüdischen Jesus. Liebermann stellt somit das Thema ausnichtchristlicher,jüdischer Perspektiv dar.23 Nichtzuletzt erinnert der Maler damit an die enge Verbindung vonJudentum und Christentum. Im zeitgenössischenKontext wurde das Gemälde auch als „malerischer Beitrag zum ,Leben Jesu‘“ bezeichnet. Eine Bezeichnung, die Hinweise aufeine der brisan- testen religionsgeschichtlichen Debatten des 19. Jahrhunderts gibt. 1835 er- schien vonDavid Friedrich Strauss das Buch mit dem Titel Das Leben Jesu und 1863 das gleichnamigeWerk vonErnest Renan. Mit ihren Forschungen zur historischen Person Jesus gerieten die beiden Autoren in heftigste Auseinan- dersetzungen mit der Kirche, welche noch in den Debatten der 1860er-und 1870er-Jahre ihre Nachwirkungen hatten. Liebermanns Gemälde tangierte somit auch ein zeitgenössisches, jüdisch-historisches Interesse an der Gestalt Jesu;er gab –wie es Michael Brenner formulierte –„seinem jüdischen Jesus-Bild künstlerische Gestalt, wieeswenige Jahre zuvor der Historiker Abraham Geiger und Heinrich Graetz vorgezeichnet hatten“.24 Ein weiteres skandalisierendes Elementder Debatte um das Gemälde führt vom Darstellungsgegenstand des Gemäldes hin zur Person Liebermann. Ge- nauer gesagt, der Jude Liebermann wurde zum Thema. So erklärteder Abge- ordnete Völk im bayrischen Landtag:

„Ich will damit der religiösen Überzeugungdes Malers;der ja bekanntnichtder christlichen Konfessionangehört,nichtzunahe treten, ich will ihn nichtzwingen, dass er den Gegenstand des Bildes, des göttlich erhabenen Erlösers, an den wirglauben, auch so betrachtet wiewir“.25

23 Siehe auch Boskamp, Ursprüngliche Fassung (wie Anm. 12). 24 Michael Brenner,Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, S. 80;zum zeitgenössischen Kontext der Debatten um die Gestalt des historischen Jesu vgl. Susannah Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie (Sifria, 2), Berlin 2001 [Übers. der engl. Ausgabe, Chicago 1998]. 25 Zit. nach Bertz, Anatomie eines Kunstskandals, (wie Anm. 15), S. 97.

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Abb. 5: Julius Diez, Liebermann, der Sezessionswirth. Hier wird nurImpressionismus verzapft, Karikatur ausder ZeitschriftJugend, 1903

Damit deutete sich in der Kritik eine Personalisierung an, die Liebermann fortan noch häufiger begegnen sollte. In Karikaturen wie Hier wird nurImpressionis- musverzapft (Abb.5), erschienen 1903 in der Zeitschrift Jugend,oder Die Jury bei der Arbeit (Abb.6)aus dem Kladderadatsch von1908 wurde aufLiebermanns Führungsposition in der KunstszeneBerlins angespielt. Beide Karikaturen heben aufdie Physiognomie Liebermanns und ihre Überzeichnung im Stereotypdes hässlichen Juden ab.Zum einen im Bild des grobschlächtigen feistenWirts, der –wie es heißt–„nur Impressionismus ver- zapft“ und zum anderen in der fünffach gesteigerten Präsenz seiner Physio- gnomie,mit der im zeitgenössischenDiskurs die Dominanz Liebermanns in der Kunstszene Berlins behauptet wurde. Im Blick aufdie Debatten um das Gemälde JesusimTempel ist festzuhalten: Die antijüdisch gestimmten Urteile zeigen im Falle Liebermanns und damit auf

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Abb. 6: Anonym, Die Jury bei der Arbeit,Karikatur ausder Zeitschrift Kladderadatsch (17, 26. April1908) dem Gebiet der Kunst ihrekreativenMöglichkeiten. Kombiniertwerden die bekannten Diffamierungen der jüdischen Religion als ,gemein und niedrig‘ mit der Kritik an der modernen Malerei als ,schmutzig und häßlich‘. Auffallendist, dass diese beiden Argumentationsformen in dem Moment zueinanderfinden –beziehungsweise geradezu kulminieren –als ein jüdisch-christliches Sujet aus jüdischer Perspektive und voneinem Juden dargestellt wird.

Nachgeschichte

Noch Jahrzehnte später erinnerte sich Liebermann an den mit dem Gemälde verursachten unfreiwilligen Affront. In einem Brief von1911 an Alfred Lichtw- ark, den mit Liebermann befreundeten damaligen Direktorder Hamburger Kunsthalle, kam er aufden Eklat, den er mit dem Bild verursachte zu sprechen:

„Ich habeIhnen wohl erzählt, wieich durch das Bild [i.e. ,Jesus im Tempel‘], das um 10 Uhr in der Ausstellung der Jury unterlag,amAbend, berühmt wurde, so daß ich michinder AllotriazuGedon, Lenbach, Wagmüller d.i. zu den Götternsetzen durfte, wieZügel meinte, daß seit 50 Jahren kein solch MeisterwerkinMünchen gemalt sei, daß der Prinzregentdas Bild ausder Ausstellung entfernen wollte, daß sich eine 2tägige Debatte im Bayerischen Abgeordneten=Haus daranschloß (und nur dem damaligen Centrumsführer hab ich’s zu danken, daß ich damals nichtgekreuzigt wurde); […] Stöcker behauptete,daßdas Bild ihn zu seiner Judenhetze veranlaßthätte, was meine Glaubensgenossen mich schwer büßen ließen, indem es wohl15Jahre dauerte, bis sie wieder meine Bilder kauften. Die ekelhaftigsten Zeitungsfehdenschlossen sich daran und während ich, vonall dem Radau, den man jetzt angesichts des Bildes kaum mehr

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begreift, angeekelt, mir vornahm nie mehr ein biblisches Sujet zu malen, war der Jesus der Anlaß der neureligiösen Malerei geworden.“26

Diese Selbstdarstellung Liebermannsist sicher –wie beiallen Künstlern–mit Vorsichtzubetrachten. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Liebermannnur noch selten ein Thema der Bibel zum Gegenstand seiner Bilder machte. Inwieweit dies seinen ,Münchner Erfahrungen‘ geschuldet ist oder inwieweit diese Themen im Kontext der Entwicklungen der Moderne –insbesonderedes Impressionismus – nichtweiter interessantwaren, kann lediglich spekuliertwerden. Abgeschreckt haben ihn diese Erfahrungen jedoch nichtinSachen ,Judenfrage‘ Stellung zu beziehen. Als in der Folge des Ersten Weltkriegesvermehrtund offen antise- mitische Anfeindungen gegen deutsche Juden laut wurden, trat er ihnen mit zwei Zeichnungen entgegen. Im Jahr 1924 entwarferfürden Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten eine Lithographie mit dem Titel Den Mütternder Zwölftausend (Abb.7). Der Reichsbund,dessen Signet in der rechten unteren Eckedes Blattes auf einer liegenden Grabplatte aufgedrucktzusehen ist, wurde 1919, nachdem Ersten Weltkrieg,als Reaktion aufden zunehmenden Antisemitismus gegrün- det.27 Die Zahl der zwölftausend jüdischen Gefallenen, die Liebermann selbst gegenüberder ersten Fassung des Themas in einer Entwurfszeichnung vonzehn- aufzwölftausend korrigierte,28 gehtauf Recherchen jüdischer Organisationen zurück, die damit der so genannten ,Judenzählung‘ entgegentraten.29 Mit dem Gedenkblatt und seinem Engagement fürden Reichsbund trat Liebermann den antisemitischen Strömungen im Kaiserreich entgegen. In der Lithografie ent- wickelte er die Figur einer weiblichen, aufrechtstehenden Gestalt, die im Kla- gegestus ihrerechte Hand überdie Augen legt. Hinter ihr reihen sich bis zum Horizontdie Gräberder Gefallenen in der Form altjüdischer Gedenksteine. Vor

26 Brief vonMax Liebermann an Alfred Lichtwark vom 05./06.11.1911, in:Verlag Bruno Cassirer(Hg.), Künstlerbriefeaus dem 19. Jahrhundert, Berlin 1914, S. 437f. 27 Der Reichsbund propagierte und leitete die Aussiedelung jüdischer Frontteilnehmer nach Palästina. 1935 veröffentlichte der Verein die Kriegsbriefe gefallener DeutscherJuden. Reichsbund jüdischer Frontsoldaten e. V. (Hg.), Kriegsbriefe gefallener Deutscher Juden, Berlin 1935. 28 Den Müttern der Zwölftausend, Entwurfszeichnung,1923, vgl. Sigrid Achenbach/Matthias Eberle, Max Liebermann in seiner Zeit, Ausstellungskatalog, Nationalgalerie Berlin, 6. Sep- tember bis 4. November1979, Berlin 1979, S. 641. 29 AufEingabe des Reichstagsabgeordneten Werner wurdesie 1916 angeordnet und war die Quelle der Auseinandersetzungen um die Frage, ob Juden ihrem statistischen Anteil an der Bevölkerung entsprechend im Kriegegekämpft und gestorben seien. Jüdische Organisa- tionen führten eine eigeneStatistik nach den Unterlagen der Militär-Archivedurch;sie war 1921 abgeschlossen. Vondem 1919 gegründeten Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) wurde ein Gedenkbuchfür„die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914–1918“ herausgegeben.Siehe:Vera Berndt (Hg.), Judaica-Katalog,Berlin-Museum, Abteilung Jüdisches Museum, Berlin 1989, S. 68.

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Abb. 7: MaxLiebermann, Den Mütternder Zwölftausend,Lithographie, 1924 ihr aufdem Boden ist eine Grabplatte mit dem Davidsternzusehen, die aufdie jüdische Konnotation des Gedenkblattes aufmerksam macht, sowieeine junge Frau, die an einem der Grabsteine niederkniet und einen Zweig einzupflanzen scheint. Die Vossische Zeitung von19. März 1924 folgte der naturalistischen Darstel- lungsweise des Blattes und stellte in ihrem Kommentar,ganz den zeitgenössi- schen Kriegstugenden folgend, das Heldentum der Toten heraus:

„Prof. Max Liebermann hatdem RjF ein Gedenkblattgewidmet, das eine in edelster Haltung klagende Mutter darstellt, hinter der sich Grab an Grabreiht.Eine kniende Frauengestalt an ihrer rechten Seitepflanzt einen Reis aufein Heldengrab […].“30

Entgegen dem Naturalismus der Darstellungsweise nimmt die Frauenfigur die Funktion einer Personifikation ein. Die Frauengestalt tritt in ihrem Klagegestus, dem überKopfund Haar fallenden Trauerschleier und dem halbentblößten

30 Zit. Bendt, Judaica Katalog(wieAnm. 29), S. 66.

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Abb. 8: Titelblatt zu Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden,Kolorierte Zeichnung

Körper ausdem scheinbar realistischen Erzählgeschehen heraus und wird zu einer Verkörperung der klagenden ,jüdischen Mütter‘und symbolisiertauf diese Weise dasVolk Israel. Ihrer Leidensmetaphorik am nächsten kommtdie bibli- sche Figur der Rachel, „die um ihre Kinder weint“.31 Die der Lithographie im- plizite Auffassung der Frauals Mutter deutet aufdas jüdische Verständnis der Frauals Stammmutter und Anführerin des Volkes Israel, wiesie im biblischen Begriff der „Erzmütter“, zu denen auch Rachel zählt, entworfen wurde.32 Für

31 „Rachel weintumihre Kinder und will sich nichttrösten lassen […].“ (Jer 31,15 EU). 32 Vgl. MaxJoseph, Frau im Judentum, in:Georg Herlitz/Bruno Kirschner (Hg.), Jüdisches Lexikon:Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens, Bd. 2, Berlin 1927, S. 778ff.;Rachel MonikaHerweg, Die jüdische Mutter.Das verborgene Matriarchat, Darmstadt 1994, S. 11–17.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 166 Hildegard Frübis einen ähnlichenKontext –dem Gedenken an die jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkrieges –entwarfLiebermann einige Jahrespäter eine kolorierte Zeichnung. Sie schmückte das Titelblatt zu den Kriegsbriefe[n] gefallener deutscher Juden (Abb.8), einer Publikation, die 1935 vom Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten e. V. herausgegeben wurde.33 Im Vordergrund –vor einer nur skizzenhaftange- deuteten Landschaft–sitzt unter der gesenkten deutschen Flagge eine weibliche trauernde Figur aufeinem Sarg. Im melancholisch gewendeten Klagegestus hält sie ihren Kopf in die rechte Hand gestützt, während ihr Haar voneinem dunklen Tuch verhüllt ist. In der Kombination mit der deutschen Fahne, welche die Figur umkleidet und die aufdem Sarg ausschwingt, ist auch diese Figur als eine Per- sonifikation der Jüdischen Nation zu verstehen. Im Bild des weiblichen Körpers repräsentiertsie die Ideale der Gemeinschaft, die ihre Gefallenen beweint. Wie schon der Titel des Buches ankündigt, orientierte sich dieses Anliegen ganz an dem Verständnis der Emanzipation, wieesim19. Jahrhundertformuliertwurde, als der Wunsch nachder Eingliederung der deutschen Juden (selbstimTod)in die deutsche Nation. Am eindrücklichsten zeigten sichdiese Hoffnungenindem emphatischen Aufruf des liberalen Frankfurter Rabbiners Leopold Stein wäh- rend der Revolution von1848: „[…]Wir erkennen unsere Sache fortan als keine besonderemehr,sie ist eins mit der Sache desVaterlandes,sie wird mit dieser siegen oder fallen […].Wir sind und wollen nur Deutsche sein!Wir haben und wünschen kein anderes Vaterland als das deutsche! Nurdem Glauben nach sind wirIsraeliten, in allem übrigen gehören wiraufs Innigste dem Staate an, in welchem wirleben!“34 Im Eklat der Präsentation des Gemäldes Der zwölfjährige Jesus im Tempel aufder Internationalen Kunstausstellung in München 1879 wurde Liebermann voll- kommen unvorbereitet mit den judenfeindlichen Angriffen des beginnenden Antisemitismusstreites konfrontiert. AlsimVerlauf des Ersten Weltkrieges, trotz des beschworenen Burgfriedens, die Stellung der Juden in der Nation immer vehementer zum Thema antisemitischer Anfeindungen wurde, sah Liebermann sich zum Handelnveranlasst. Mit den beiden Lithografien trat er als Künstler den Anfeindungen entgegen und positionierte sich in Unterstützung der jüdischen Gemeinschaftgegendie antisemitische Propaganda.

33 Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten e. V. (Hg.), Kriegsbriefe (wie Anm. 27). Vgl.auch Achenbach/Eberle, Max Liebermann (wie Anm. 28), S. 640. 34 Zitiertnach Shulamit Volkov,Die Juden in Deutschland 1780–1918(Enzyklopädie deutscher Geschichte, 16), München 1994, S. 36.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Max Liebermann, Der zwölfjährige Jesus im Tempel,1879, Ölauf Leinwand, Hamburger Kunsthalle, ,Copyright:public domain, wikipedia commons. Abb. 2: Max Liebermann, Inneres der Synagoge vonAmsterdam,1876, Ölauf Leinwand, Privatbesitz (Leppien,Jesus im Tempel(wieAnm. 1), S. 14). Abb. 3: Max Liebermann, Inneresder Synagoge in Venedig,1878, Verbleib unbekannt, (Leppien, Jesus im Tempel (wie Anm. 1), S. 14). Abb. 4: Max Liebermann, Entwurfzum zwölfjährigen Jesus im Tempel,um1879, ver- schollene Zeichnung (MartinFaass (Hg.), Der Jesus-Skandal.Ein Liebermann- Bild im Kreuzfeuer der Kritik, Ausstellungskatalog,Liebermann-Villa am Wannsee, 22. November 2009 bis 1. März 2010, Berlin 2009, S. 27). Abb. 5: Julius Diez, Liebermann, der Sezessionswirth. Hier wird nur Impressionismus verzapft,Karikatur ausder Zeitschrift Jugend,1903 (Angelika Wesenberg (Hg.), Max Liebermann. Jahrhundertwende, Ausstellungskatalog,Alte Nationalgalerie Berlin, Berlin 1997, S. 271). Abb. 6: Anonym, Die Jury bei der Arbeit,Karikatur aus: Kladderadatsch 17, 26.04.1908 (Angelika Wesenberg,R.Langenberg,R.(Hg.), Im Streit um die Moderne. Max Liebermann. Der Kaiser.Die Nationalgalerie, Berlin 2001, S. 14). Abb. 7: Max Liebermann, Den Mütternder Zwölftausend,Lithographie, 1924 (Max Lie- bermann in seiner Zeit, Ausstellungskatalog,NationalgalerieBerlin, hg.v.Sigrid Achenbach u. Matthias Eberle, Berlin 1979,S.641). Abb. 8: Max Liebermann, Titelblatt zu Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden,Kolorierte Zeichnung aus Kriegsbriefe gefallenerdeutscher Juden,ReichsbundJüdischer Frontsoldaten e. V. ,Berlin:VortruppVerlag 1935.

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Jews and Sinti in LudwigBechstein’s Folktale (Märchen) Collections*

Nineteenth centuryGermanyknew an unprecedented blossoming of folk-nar- rativepublications. The folk-narratives were gathered by ethnographers, phi- lologists, folklore scholars and others according to national or regionalcriteria and were published in approximately 500 collections comprising more than 20,000 folk-narratives.1 In this periodthe folk-narrative emerges as ameaningful elementinthe perception of the past and the identity of the group narrating it and preserving it within its tradition. The folk-narrative’s uniqueness lies, among others, in its collective natureand continuous reworking that articulates stratified world views and aco-existing of differentand sometimes clashing ideologies and cosmologies.2 Minorities, such as Jews and Sinti,appear in hundreds of these folk-narra- tives. In this article, Iwill focus on the figures of these minorities in two of the main collections of Ludwig Bechstein (1801–1860), the head of the libraryand archive at the courtofBernhard II, the DukeofSaxe-Meiningen. Although Bechstein is aforgottenfigure in contemporaryWesternculture, his folk-nar- rativecollectionsdominated the market in terms of booksales during the nineteenth century.3

*Research for this paper was supported by the ISF (Israeli ScienceFoundation)under grant 1492/13,and by the GIF (German-Israeli Foundation for Scientific Research and Develop- ment) under grantI-2317–1083.4/2012. The paper is based on parts of my dissertation,con- ducted under the wise and generous supervisionofProf. Galit Hasan-Rokem and Dr.Aya Elyada (Hebrew University of Jerusalem). 1Rudolf Schenda, Telling Tales—Spreading Tales. Change in the CommunicationForms of a Popular Genre,in: Ruth B. Bottigheimer (ed.), FairyTales and Society.Illusion,Allusion, and Paradigm, Philadelphia 1986, p. 83–85;Lutz Röhrich, And They Are Still Living Happily Ever After.Anthropology, Cultural History, and Interpretation of FairyTales, Burlington2008, p. 355. 2Galit Hasan-Rokem, WebofLife. Folklore and Midrash in Rabbinic Literature, Stanford 2000, p. 15, 131, 150–151. 3Ruth B. Bottigheimer,Ludwig Bechstein’s FairyTales. Nineteenth CenturyBestsellers and Bürgerlichkeit, in:Internationales Archiv fürSozialgeschichte der deutschen Literatur 15 (1990) 2, p. 55–56.

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In 1845 he published the Deutsches Märchenbuch (DMB), aGerman folktale collection that became an immediate commercial success, even more than the Grimm Brothers’ Kinder-und Hausmärchen. 70,000 copies were sold within eight years in eleven printings and by 1896, it reached 45 printings.4 The an- thologycontains one tale that includes the figure of aJew and one that deals with a“Zigeunerin,” as she is named in Bechstein’s tale.5 As Iwill trytoshow, the figure of the Jew, in this collection and in Neues Deutsches Märchenbuch (NDMB)—another major collection published in 1856 by Bechstein, is presented positively as an innocentvictim. On the other hand, the “Zigeunerin”ispor- trayed in anegativemanner. Iwish to argue thatthis presentation of Jews and Sinti is consistentwith a royalist and aconservative, middle class state of mind thatinfluenced Bechstein in collecting and editing his anthology—a world-view that corresponded with the outlook of manyofhis readers. Hence, the differences of approach towards minorities between two ideologies that are closely related to one another—the national ideologyand the bourgeois world view—are made apparent.

Good Jews and bad “Zigeunerin”

Das Rebhuhn (The Partridge, DMB 12, 1845 edition) is aboutarich Jewwho was carrying alarge amountofmoney and whohad to pass throughaforest. He gave the king apresentand asked him for his patronage. The king instructed the royal cupbearer to accompany the Jewtothe forest and give himprotection. When they arrivedatthe forest, the cupbearer coveted the fortune and murdered the Jew. Before he died, the Jewcried out to the cupbearer thatthe birds flying above in the sky will reveal the murder (“Und ob heimlicher Mord vonallen Menschen ungesehen vollzogen wird, so werden ihn die Vögel offenbaren, die unter dem Himmel fliegen”).Ayear passed, and the king received agiftofpartridges. When the cupbearer sawthe roasted partridges placed on the king’s table,hebrokeout in laughter.The king was surprised at his laughter and asked him whyhelaughed, but the cupbearer gave him afalse answer.Fourweeks passed before the cup- bearer,who became intoxicated with wine at aparty for the royal courtad- ministrative staff, revealed thathehad murdered the Jew. He was judged and hung,according to the tale, for disobeying the word of the king and murdering a man under his patronage, as the king described the cupbearer’s sin to the court

4Hans-Jörg Uther,Ludwig Bechstein, in:Donald Haase(ed.), The Greenwood Encyclopedia of Folktales and FairyTales, vol. 1, WestportLondon 2008, p. 110–111;See also:Ruth B. Bot- tigheimer,Ludwig Bechstein, in:Sophie Raynard(ed.), The Teller’s Tale. Livesofthe Classic Fairy Tale Writers, NewYork 2012, p. 156–157. 5Ludwig Bechstein, Deutsches Märchenbuch, Leipzig 1846.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Jews and Sinti in Ludwig Bechstein’s Folktale (Märchen)Collections 171 and his secret councils:“Washat Der verschuldet, der vondes Königs wegen einen durch das Reich sicher geleiten sollte, und hat denselben selbst ermordet und beraubet?”6 The playonwords used in the tale, the gift (Geschenk)thatthe king received from the Jewaswellasthe gift of the partridges, and the cupbearer (der Schenke), whobecame drunk and subsequently incriminated himself—alludes to the irony of the shared destinyofthe Jewand the cupbearer and the factthat what was to have guaranteed their securityorlivelihood,was instead the cause of their death. According to Bechstein’s commentonthis tale, it goes back to athirteenth centurymanuscript found in the Leipzig Universitylibraryand published in the contemporaryperiodical Altdeutsche Blätter of 1836.7 The Altdeutsche Blätter refers to alater version(which maybethe reason whyBechstein did not use or mention it) found in the popular collection of 1342, Der Edelstein (The Dia- mond), by the Swiss Dominican monk, Ulrich Boner.8 Boner’s versionisone of manymodifications that evolved during the Middle Ages to Plutarch’s tale from the first centuryACE about the poet Ibycus (sixth centuryBCE) and the cranes.9 Among the manymodifications throughthe ages, onewas about the trans- formation of Ibycus into aJew,due to the association of Jews with wealth.10 While other versions justifythe cupbearer’s execution due to his violation of the king’s command, Boner’s version justifies the execution as apunishmentfor the evil deed of murderingahuman being.Yet, even this versionreinforces the stereo- type about Jewish richness.11 Nonetheless, the overall narrative deals with a divine punishmentfor killing aJew thus validating his last words, and is pro- Jewish in principle. In the course of the nineteenth century, the medieval tale appeared in number of adaptations, besides Das Rebhuhn. One of the versions is published in another folk tale collection of Bechstein—the Neues Deutsches Märchenbuch mentioned above. The title of the tale is Sonnenkringel (WavySunlight, NDMB 5) as the position of bringing the truth to light is filled by the rays of the sun. Here the Jew is not portrayed as arich man, but apoorman,who happens to meet his murderer in the forest and, as aJew,was stereotypically thought to be rich. The

6Bechstein, Deutsches Märchenbuch (see note 5), p. 61–63. 7Bechstein, Deutsches Märchenbuch (see note 5), p. 61. 8Moriz Haupt/Heinrich Hoffmann(ed.), Altdeutsche Blätter,vol. 1, Leipzig 1836,S.119. 9Tale type AaTh 960 A‘The Cranes of Ibycus,’ according to Aarne-Thompson classification. 10 Diane Wolfthal, Picturing Yiddish. Gender,Identity,and Memoryinthe Illustrated Yiddish Books of Renaissance Italy,Leiden/Boston2004, p. 176–183. 11 “Er warterhangen,daz was wol!/ Der guote man nieman morden sol.” Citation taken from: John D. Martin, RepresentationsofJews in Late Medieval and Early Modern German Lite- rature, Oxford2006, S. 173. See Martin’s profoundly analysis of Boner’s versionand his claim concerning the problematic implication of modernterms such as Anti-Semitism to medieval culture:Ibidem, p. 1–32, 164, 171–174.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 172 Tuvia Singer last words of the Jewbefore he died were:“Die klare Sonne soll an den Tag bringen deine Missetat, das allsehende Auge des Firmamentes.” These words caused the murderer severemental stress and he could not bear the sun anymore. However,time passed and life moved on:Hefound arespectable job and was happily married. One morning as his wife was serving him coffee, he sawthe sunlight reflectedinthe coffee and dancing on the ceiling in circles. He mocked the sun for trying to reveal the truth, but which alas had no tongue. The wife heard his words and asked him what he meant.After constantpressureand promises that she would keep his secret, he revealed it to her.The wife became emotionally stressedand told the secret to her closest friend. Shortly thereafter all the people of the town knew about the murder.The killer was led to trial and executed. The tale ends with the murderer feeling relieved that he did not have secrets anymore and his “schwatzhafte” (talkative)wife hanging herself in the balconyoftheir house.12 The main difference, regarding our theme, between this versionand the prior one (DMB 12) is the refutation of the ‘rich Jew’ stereotype. As indicatedby Bechstein, this tale under the title Die KlareSonne Bringt’s an den Tag appeared in the Grimm Brothers’ Kinder-und Hausmärchen (KHM 115) from the 1815 first edition onward without anysignificantediting in later editions.13 Grimms’ versionissimilar to NDMB 5inportraying the Jewaspoorand penniless. In their comments on the tale, the Grimm Brothers wrote that this tale is “bürgerlich” (in the meaning of civic) adaptation of adeep and noble idea of Gods heavenly eye—the sun—powers.14 In their third and last edition of their comments, the Grimms add references to two parallel versions of this tale.15 The first appeared in Deutsche Volksmärchen aus Schwaben collected and published in 1852 by ErnstMeier,acollector and professor for Semitic languages and literatureatTübingen.The second appeared in Märchen fürdie Jugend collected and published in 1854 by Heinrich Pröhle— one of leading successorsand students of Jacob Grimm. Meier’s versionisentitled: Die Sonne wird dich verrathen (The Sunwill betray you). This proverb is areversal of the proverb “Die Sonne bringtesanden Tag” in NDMB 5and in KHM115. Instead of being arepresentation of divine justice, the sun represents, ironically,betrayal:self-betrayal of one whose ownwords lead to self conviction and the betrayal of his wife, whohands him over directly to the authorities outofhate and fear.Itisnot clear if the use of this specific proverb is connected to the factthat the victim is aJew and thereforethe tale reveals anti-

12 Ludwig Bechstein, Neues Deutsches Märchenbuch, Leipzig Pesth 1856,p.39–41. 13 Bechstein, Neues Deutsches Märchenbuch (see note 12), p. IX. 14 Brüder Grimm, Kinder-und Hausmärchen,vol. 2, Berlin 1815, p. XXIX. 15 Brüder Grimm, Kinder-und Hausmärchen,vol. 3, Göttingen 1856, p. 195–196.

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Jewish tendencies. However,Meier himself did not relate at all in his comments to the difference between “Die Sonne bringtesanden Tag” and “Die Sonne wird dich verrathen” and he sawthe last as another example, besides Grimms’ ver- sion, to the divine natureofthe sun. It should also be noted that this version omits anydepiction of the Jewasrich or poor and thereforeismissing the refutation of the ‘rich Jew’-stereotype.16 Twoyears after Meier’s publication, Pröhle published his collectionwhich was aimed specifically at children, as evidentbyits name. In this version, aclearly anti-Jewish one, the Jewisnot the victim but rather the murderer of an emissary whocarried money.Unlikeother versions, where the murderer rebuilds his life due to his talents and diligence, in this version the Jewisnot arespectable citizen but arich man whoowes his success to the murder.His wife is not depicted as someone whoisbothered morally and emotionally by the secret crime, either, but as someonewho screamsthe secret out unintentionally in the midst of a violentfight with her husband.17 To Meier’s and Pröhle’s versions mentioned by Grimm, oneshould adda versionbythe Bavarian official, Franz Xavervon Schönwerth, in his Bavarian collection of legends and manners publishedbetween 1857 and 1859. Schön- werth testifies that the legend with all its variations is widely distributed in Germany. In his version, the Jewisportrayed as the creditor of the murderer, echoing medievalstereotypes about the Jewish money-lender.18 Thus, from all versions, Grimm’s (KHM115) and Bechstein’s (DMB12 & especially NDMB5) are clearly pro-Jewish. The NDMB includes another folk-narrative, originally Swiss, with aJew in its center—Die verwünschte Stadt. It is one of the manylocal variations of the Wandering Jewlegend that sprouted in the German speaking countries from the beginning of the new era.The legend took shape in seventeenth-centuryProt- estantcircles in Germany in achapbookentitled Kurtze Beschreibung und Er- zehlung voneinem Juden mit Namen Ahaßverus (ShortDescriptionand Account of aJew Named Ahasuerus), published in German in 1602. Based on asweeping reading of the NewTestament, the legend concerned aJew named Ahasuerus, whowas condemned to perpetual wandering after refusing to let Jesus rest on the walls of his home on his waytothe crucifixion. Over the course of the following

16 Ernst Meier,Deutsche Volksmärchen ausSchwaben, Stuttgart1852, p. 53–54, 302. The ten- sion between the proverbscomes to an ease in Pröhle’s version:the proverb “Die Sonne wird dich verrathen” is the victim’s last words to the murdererand the proverb “Die Sonnebringt es an den Tag” is the objective narrator’s words. This literarysolution maybeanindication of late editinginPröhle’s version. 17 Heinrich Pröhle, Märchen fürdie Jugend, Halle 1854, p. 175. 18 Franz Xaver vonSchönwerth, Ausder Oberpfalz. Sitten und Sagen II, Ausburg, 1858, p. 52.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 174 Tuvia Singer centuries, the legend spread throughoutEuropeindozens of differentadapta- tions and translations.19 As Iwill show, Bechstein adapted this legend in such away that the positive side of the Jewwas emphasized and the negativeside covered up.The origin of the folk-narrative, according to Bechstein, is the legend Der ewige Jude aufdem Matterhorn,which appearsinhis collection Deutsches Sagenbuch (DSB 18), published by Bechstein in 1853. According to Bechstein,heincluded the legend in NDMB with additions and adjustments which added gloomtothe story.20 The storytells of apreviously thriving cityatthe foot of the Matterhorn(a steep and highmountain in the Pennine Alps shaped likeapyramid that can be seen from afar,today borderingSwitzerland and Italy), that was nowburied under ablanket of snowand ice. The sad lot of the citywas caused by the Wandering Jewwho had arrivedtothe cityinhis eternal wanderings and cursed it after no one agreed to host him in his house.The Wandering Jew, therefore, declared that although the citynow had houses and streets, walls and towers, the next time he comestothe cityinthe course of his wanderings, there will be only grass, trees and rocks. The third time he comes, the citywill be covered with ice and snow. Bechstein’s adaptation NDMB 28 emphasizes and elaborates on motives that are alreadyfound, althoughinshort, in his earlier versionDSB 1821:adetailed description of the destruction of the thriving city, criticism of the residents’ lack of hospitalityand an analogous comparison of the sin of the residents with the ancientsin of the Wandering Jew. The appearanceofthe Jewisdescribed as arousing respectbut also fear and recoiling:22

“[…]eine hohe ernste Gestalt;sein Gesicht war bräunlich vonFarbe, aber bleich, mit langem Barte, sein Haar schwarz mit grau gemischt, sein Gewand ein langer brauner Talar,mit einem Strick umgürtet, seine Fußbekleidung starkeSchuhe mit Riemenum die Knöchel befestigt[…] Die Bewohner der Hochgebirgsstadt sahenden fremden Mannmit einereigenen Scheu an und er flößte ihnen ein seltsames Grauen ein.”

In response to the refusal of the local residents to host him because of his sin towards Jesus, the WanderingJew cursed them:“‘Ich werdegehen jetzt und ihr bleibt, ihr aber werdet vergehen und ich werde bleiben’”—a paraphrase of the curse used by Jesus on his waytoGolgotha. According to the Ahasverus chap- book (1602), Jesuspunished Ahasuerus with the words:“Ichwil stehen vnd

19 On the wide distribution of the legend see the classic of Georg K. Anderson, The Legend of the Wandering Jew, Providence 1965. 20 Bechstein, Neues Deutsches Märchenbuch (see note 12), p. XII. 21 See Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853, p. 18–19;Bechstein, Neues Deutsches Märchenbuch (see note 12), p. 192–195. 22 Bechstein, Neues Deutsches Märchenbuch (see note 12), p. 192.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Jews and Sinti in Ludwig Bechstein’s Folktale (Märchen)Collections 175 ruhen, du aber solt gehen.”23 However,inthe telling of Roger of Wendover—a thirteenth-centuryEnglish chronicler whom the author of Ahasverus drew upon—Jesus said:“‘I am going,and youwill wait till Ireturn’”.24 Bechstein’s adaptation creates aparallel between the sin of the local residents and the sin of the Wandering Jewhinting at aparallel between the Wandering Jewand Jesus. After several hundred years, the Wandering Jewreturns to the same place and when he sees it in its destructivestate, declares:“Washat gesungen einstDavid, der König überIsrael?Erhat gesungen:‘Wenn Du nach des Gottlosen Stätte sehen wirst, wird er wegsein’.” With the passing of anotherhundred years, the Wandering Jewreturns to the same place and when he sees that it is covered with snowand ice, says:“Erfüllt ist nun das Wort des Herrn,das er tat durch den Mund des Propheten, seines Knechts:‘Ichwill meine Hand übersie ausstrecken und das Land wüste und öde machen’”.25 The image of the WanderingJew is described in German folkloreasanam- bivalentfigurereverberating positiveand negative tensions between sin and redemption.26 This ambivalence can be found in Bechstein’s adaptation,toa certain extent. However,the depiction of the figureasaharbinger of destruction, as can be seen in manyversionsofthe legend, is marginal to his descriptionasa figure arousing respect, parallel to Jesus or aprophet whobrings about ajustified divine punishment. On the contrary, the fear and pietyofthe residents that caused them to refuse to host the Jew, is considered to be sinful.The difference between Grimm’s and Bechstein’s versionofthis legend is particularly in- structive. The Grimm Brothers’ versionlacks the partthat deals with the refusal of the village to host the Wandering Jew, leaving the impression that he is an arbitrarily harbinger of destruction.27 Hence, all the folktales in the main collections of Bechstein thatinclude im- ages of Jews depictthem as positivefigures. Making acomparison of Bechstein’s

23 Kurtze Beschreibung und Erzehlung voneinem Juden mit Namen Ahaßverus, in:Ahasvers Spur.Dichtungen und Dokumente vom ‘Ewigen Juden’, ed. by Mona Körte/RobertStock- hammer,Leipzig 1995, p. 11. Emphasis in original. 24 Roger of Wendover,Flowers of History, vol.2,translated by.John Allen Giles, London 1849, p. 513;Roger of Wendover,RogerideWendower Chronica, siveFlores Historiarum, vol. 4, ed. v. HenryOctavius Coxe,Londinium:Sumptibus Societatis, 1842,p.177:“Ego,inquit, vado,ettuexspectabis donec redeam.” 25 Bechstein, Neues Deutsches Märchenbuch (see note 12), p. 194–195. 26 See Rafael Edelmann, Ahasuerus, the WanderingJew.Originand Background, in:Galit Hasan-Rokem/Alan Dundes (ed.), The WanderingJew.Essays in the Interpretation of a Christian Legend, Bloomington 1986, p. 7. On Ahasuerus as amirrorimage of Jesus see Galit Hasan-Rokem, Homo Viator et Narrans. Medieval Jewish Voices in the European Narrativeof the Wandering Jew, in:Ingo Schneider (ed.), Europäische Ethnologie und Folklore im in- ternationalen Kontext. Festschrift fürLeander Petzoldtzum 65. Geburtstag,Frankfurt a. M. 1999, p. 95. 27 Brüder Grimm, Deutsche Sagen, vol. I, Berlin 1816, p. 443–444.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 176 Tuvia Singer versionand the parallel versions and revealing the manner in which he adapted the stories lends validity to that conclusion. Bechstein’s consistently positive presentation of the Jews is surprising,which is intensified by the totally different description of the Sinti woman in his collections. Only one tale, Star und Badewännlein (The Starling and the little bathtub) (DMB 21, 1845 edition), deals with the Sinti in Bechstein’s main collections.28 The tale is about aprince named Konrad whostayed overnightinaninn runbya landlady and her young female maid. The beauty of the girl and the pure white skin of her hand—“ihrer schneeweißen Hand”—stand out next to her employer whoisdescribed in these words:“ein häßliches Weib vonbrauner Gesichtsfarbe und widrigem Ansehen”. Similar to the tale Das Rebhuhn,abirdreveals asecret: astarling whispers in the ear of prince Konrad thatthe beautiful maid is his twin sister whowas kidnapped by “die böse Zigeunerin” when she was ababy.In response, the prince thrusts his spear in the head of the woman fromear to ear. The prince and his sister then returntothe palace and live happily together ever after. According to Bechstein’s commentonthis tale it is based on afolk song. As indicated by the GermanliteraryscholarWilhelm Solms, the origin of this tale is aSwiss folk song Die wiedergefundene Königstochter,but this does not mention a Sinti woman at all. Clemens Brentano made some modifications in the original song and added the figure of the wicked “Zigeuner” and the Singing Starling.In 1808, Achim vonArnim included both versions in the second volume of his anthologyoffolk songs, Des Knaben Wunderhorn,thuscontributing to the misleading presentation of Brentano’s latest literaryversion as an ancientfolk song. In aletter to Jacob Grimm, Arnim complains about the factthatBrentano led him astray. Afew years after Arnim’s publication, Brentano adapted the folk song to afolktale in his Rheinmärchen. In this adaptation, Brentano repeats the motif of the “böse Zigeunerin” and hints at the dark color of her skin. Bechstein whocreated asecond adaptation of the folk-song into aliterarytale, was clearly influenced by Brentano in adding explicit racist expressions, as detailed above.29 The differences between the image of the Jewand that of the Sinti in Bech- stein’s collectionsare clear.While the Jewispresented as avictimofmurder and inhospitality, the woman is presented as akidnapper whodeserves her violent

28 Bechstein, Deutsches Märchenbuch (see note 5), p. 94–96. 29 Wilhelm Solms, Zigeunerbilder.Ein dunkles Kapitel der deutschenLiteraturgeschichte Von der frühen Neuzeit bis zur Romantik, Würzburg 2008, p. 164–165;Heinz Rölleke, “Wie die Dioskuren”. Artund Ergebnisse literarischen Zusammenwirkens in der Romantik, in:Bodo Plachta (ed.), Literarische Zusammenarbeit, Tübingen 2001, p. 135. See also:Almut Hille, Identitätskonstruktionen.Die Zigeunerin in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahr- hunderts, Würzburg 2005, p. 27–28.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Jews and Sinti in Ludwig Bechstein’s Folktale (Märchen)Collections 177 death. The reason for these differences in portraying these minorities can be ascribed to Bechstein’s ideology, as will be shown below.

Ideologicaland Professional Editing in the Process of Canonization

Althoughfurther research in Bechstein’s writings and estate must be conducted with regard to Bechstein’s editingconsiderationsinspecific folk-narratives, it is likely that the manner in which the Jews and Sinti are depicted in Bechstein’s main collectionssuit the bourgeoisie worldviewexpressed in his overall editing. Bechsteins’s collections, claims the folklore scholar Ruth Bottigheimer,gained greatcommercial success according to its system of values that fitted the ideals and values of the middle class, and were thereforesuited to be used for educa- tional purposes.30 The Jews, whowere in the midst of an integration process into Germanculture and societybyjoining the middleclass, were depicted in Bechstein’s collection in apositivemanner.31 The Sinti,incontrast,differed from the German middle class in almost everyconceivable aspect,starting with the definition of the intimate family unit, passing throughfields of occupation and ending with the housing style.32 They were, therefore, presented by Bechstein as the antithesis of the rising German middle class and harmful to the ideal of the bourgeoisie family by kidnapping children fromthe arms of their mothers. Interestingly, while Jews appear in Grimms’ collections, there is no mention of Sinti,neither in Kinder- und Hausmärchen nor in Deutsche Sagen. Much research has been done on the national ideologyofthe Grimm Brothers, and indeed, the findings regarding the images of minorities such as Jews and the Sinti in the Grimm brothers’ collections correspond,toagreatextent, to the rising German national ideology.33 The Sinti,who were not seen as aspecialrival or threattothe German national identity,were not related to at all, while the Jews,

30 Bottigheimer,Ludwig Bechstein’s FairyTales (see note 3), p. 55–88. 31 Shulamit Volkov,The Verbürgerlichung of the Jews as aParadigm, in:Jürgen Kocka/Allan Mitchell (ed.), Bourgeois Society in Nineteenth-CenturyEurope, Oxford 1993, p. 367–391. On the interactions between socio-economic and cultural embourgeoisementofthe Jews in Germanysee Simone Lässig,Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapitalund sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert(Bürgertum:Neue Folge, 1), Göttingen 2004. 32 Gilad Margalit, GermanCitizenship Policyand Sinti Identity Politics, in:Daniel Levy,Yfaat Weiss (ed.), Challenging Ethnic Citizenship.German and Israeli PerspectiveonImmigration, NewYork/Oxford2002, p. 108. 33 For arecentstudyonthe linguistic project of the Grimm Brothers as anationalist project,see RichardBauman, Charles L. Briggs, Voices of Modernity: Language Ideologies and the Politics of Inequality (Studies in the Socialand Cultural FoundationsofLanguage, 21), Cambridge 2003, p. 197–225.

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34 See Rakefet Sela-Sheffy, Struggles over the Canon. CulturePreservation and Culture Transformation, in:YaacovShavit(ed.) Canonand Holy Scriptures (Te’uda Research Series, 23), Tel-Aviv2009, p. 24–25,30; [Hebrew].For ahistoricalstudyonthe canonizationof national literature in nineteenth centuryGermany,see Peter Uwe Hohendahl, Building a National Literature.The Case of Germany 1830–1870, transl. by Renate BaronFranciscono, Ithaca/London1989. 35 On Grimm’s profound interest in proverbs and the significance of KHM 115 as aprime example of atale thatthe narrative is secondarytothe proverb,see Wolfgang Mieder,“Ever Eager to Incorporate Folk Proverbs”: Wilhelm Grimm’s Proverbial Additions in the Fairy Tales, in:James M. McGlathey (ed.), The Brothers Grimm and Folktale, Urbana/Chicago 1991, p. 112–132;Heinz Rölleke(ed.), Kinder-und Hausmärchen.Ausgabeletzter Handmit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm, vol. 3, Stuttgart1980, p. 607;Lutz Röhrich, Sprichwörtliche Redensarten ausVolkserzählungen, in:Karl Bischoff, Lutz Röhrich (ed.), Volk, Sprache, Dichtung.Festgabe fürKurtWagner (Beiträge zur deutschen Philologie, 28), Gießen 1960,p.267–269. 36 Brüder Grimm, Kinder-und Hausmärchen,vol. 2, Berlin 1815, p. XXIX.

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Beyond Nationalism:Minority images in German folk-narratives

Group images, the manner of their appearance, their function in the formation of ethnic and religious groups and the relationships between them, have occupied academicresearch for manyyears. The survivalcapacityofthese images for hundreds of years even after they hadsupposedly disappeared, and their ability to adapt to changing conditions, have become afocus for ongoing discussions and debates with regard to issues of continuity and disruption and the social and cultural context of their manifestations. Folk-narratives have unique features with highpotential for shedding light on matters mentioned above. Despite the process of canonization,the German folk- narratives express amultitude of ideologies and world views that are (also) reflected by the images of minorities. Alongside the national ideologythat has garnered great research attention, folk-narratives are rooted in awide and complex framework of pre-nationalistic and para-nationalistic ideologies and world views (rival/overlapping/separate) thatremain relatively hidden fromthe eye of research, likeregional ideologyand cosmological thought.Manyfolk- narratives are basically etiological stories, whose purpose is to give acosmo- logical explanation on the nature of the geographic surroundings and on the foundations of the social and cultural order that is conceived of as being natural, eternal and cyclic as an integral part of the cosmos. Instead of directly addressing contemporarysocial and political questions the tales are characterized by am- biguous, and even paradoxical, positions towards those phenomena, without aspiring to arbitrateormitigate the contradictions. Questions regarding the identification of foreigners, the ideological significance thatwas ascribed to this labeling and its sociological function—can be givendifferentanswers according to the relevantcontext:social, regional, national or cosmological. The nexus of nationalism and folklorehas received agreat deal of attention in the last couple of decades. Folklore has been an objectofstudy with the aim to gain an understanding of the context in which folklorewas produced, collected, disseminated, classifiedand turned into symbolsbynations and other groups.37 Alongside this growing interest, the research on the image of minorities in

37 See Hermann Bausinger,Volkskunde. Vonder Altertumsforschung zur Kulturanalyse (Das Wissen der Gegenwart: Geisteswissenschaften), Darmstadt 1971;HerbertNikitsch, Aufder Bühne früher Wissenschaft. Ausder Geschichte des VereinsfürVolkskunde (1894–1945) (Buchreihe der Österreichischen Zeitschrift fürVolkskunde:N.S.,20), Vienna 2006;Regina Bendix, In Search of Authenticity.The FormationofFolklore Studies, Madison 1997;Jack Zipes, The Brothers Grimm. From Enchanted Forests to the ModernWorld, NewYork 2003; Joep Leerssen, National ThoughtinEurope. ACultural History, Amsterdam 2006;Diarmuid Ó Giollµin, Narratives of Nation or of Progress?Genealogies of European FolkloreStudies, in: Narrative Culture 1/1 (2014), p. 71–84.

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Germanyhas devoted relatively great attention to ideological, literaryand philosophical sources as well as to visual sources, such as caricatures and films. In contrast,there is almost no research on the image of minorities in folklore materials likefolk-narratives. The study of anti-Jewish blood-libel folk-narratives is wide and compre- hensive.38 In fin-de-si›cle WesternEurope, considerable philological and his- torical research on the legend of the Wandering Jewwas published, but although the theme was under continuous consideration as aliterarytopos, since then hardly anyresearch on the folk versions of the legend in nineteenth century Germanyhas been conducted.39 Interestingly,most of the (few) articles about Jews in German folk-narratives focus on Kinder-und Hausmärchen,especially on the tale Der Jude im Dorn (KHM 110), with hardly anyreference to hundreds of folk-narratives with figures of Jews thatwerepublished in dozens of collections in nineteenth-century German-speaking countries. This is not only the consequence of the great popularityofthe Grimm Brothers and KHM in the twentieth centurythat caused all others to fall into oblivion, but mayalso be the influence of the Nazi past on contemporaryresearch of this field since this tale was specifically used as anti- Semitic propaganda for children.40

38 See Alan Dundes (ed.), The Blood LibelLegend. ACasebookinAnti-Semitic Folklore, Wisconsin 1991;Helmut Walser Smith, The Butcher’s Tale. Murder and Anti-Semitismina German Town,New Yo rk 2002;Israel Jacob Yuval, TwoNations in Yo ur Womb.Perceptionsof Jews and Christians in Late Antiquityand the Middle Ages, Berkeley 2006;Stefan Rohrba- cher/MichaelSchmidt, Judenbilder.Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und anti- semitischer Vorurteile, Reinbek 1991;Rainer Erb (ed.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden (Zentrum fürAntisemitismusforschung: Reihe Dokumente, Texte, Materialien, 6), Berlin 1993;Johannes Groß,Ritualmordbeschul- digungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871–1914) (Zentrum fürAnti- semitismusforschung:Reihe Dokumente, Texte, Materialien, 47), Berlin 2002. 39 In the last decades anew literarydiscipline is in formation—Imagology—which focuses on comparative studies of images and representationsofethnic and national groups and their role in shaping groupidentities. For acomprehensivehistorical and methodological survey, see Manfred Beller,JoepLeerssen (ed.), Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters –ACritical Survey (Studia imagological, 13), Am- sterdam 2007, p. 3–44, 309–311. The most significantstudyonthe legend in the fin-de-si›cle is Leonard Neubaur,Die Sage vom Ewigen Juden, Leipzig 1884. For asurvey onthe research in the fin-de-si›cle see Anderson, Wandering Jew(see note 17), p. 402–407. For morerecent folklore research on the legend see Galit Hasan-Rokem/Alan Dundes (ed.), The Wandering Jew. Essays in the Interpretation of aChristian Legend, Bloomington 1986. 40 On the Nazi use of the tale, see UlrikeBastian, Die Kinder-und Hausmärchen der Brüder Grimm in der literaturpädagogischen Diskussiondes 19. und 20. Jahrhunderts (Studien zur Kinder-und Jugendmedien-Forschung,8), Frankfurta.M.1981, p. 162. For studies that examine the image of the JewinKHM in awide thematiccontext, beyondthe topic of anti- Semitism, which enablesbalanced and profound conclusions about the role of anti-Semitism in shaping the Jewish image in KHM, see Ruth B. Bottigheimer,Grimms’ Bad Girls & Bold

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Jews and Sinti in Ludwig Bechstein’s Folktale (Märchen)Collections 181

Subsequenttothe genocide that was perpetrated by the Germans on the Jews, Sinti and RominEurope during World WarII, manyacademicstudiesinthe West have dealt with the images of these minorities, focusing generally on the Jews, but usually without making use of comparative methods, despite the importance of such methodstowiden the perspective and deepen the historical understanding of these images. The comparison of diverse ethnic, religious and other identity groups would significantly reduce the danger of interpretivedistortionsand enable an analyticstudy of the social and cultural framework of the images.41 Acomprehensivestudy of images of Jews and other ethnic/religious/local minorities in German folk-narratives is yettocome. However,asshown,folk- narratives with positiveattitudes towards Jews and negative images of Sinti gained wide distribution in nineteenth-centuryGermany. These findings broaden our historical perspective concerning majority-minorityrelations in nineteenth-centuryGerman societyand demonstratethe greatcomplexityofthe manner in which minorities, among them Jews and Sinti,were portrayed in German folk-narratives in the nineteenth century.

Boys. The Moral & SocialVision of the Tales, NewHaven/London1989, p. 123–142;Leander Petzoldt,Der ewige Verlierer.Das Bild des Juden in der deutschen Volksliteratur,in:Heinrich Pleticha (ed.), Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jh. bis 1945 (Schriftenreihe der Deutschen Akademie fürKinder-und Jugendliteratur Volkach e. V. ,7), Würzburg 1985, p. 29–61;GerdBockwoldt, Das Bild des Juden in den Märchen der Brüder Grimm, in:Zeitschrift fürReligions- und Geistesgeschichte, 63/3 (2011), p. 234–249. See also:HenryWassermann, Europe. Cradle of Nationalism, Unit 2, TelAviv1989 [Hebrew]. 41 For comparative research on minorities in Europethatdifferentiatesbetween religious/ cultural minorities and local ethnic minorities thatwere labeled as ‘minorities’ during the rise of nationalism and post-World WarTwo immigrants, see Panikos Panayi,Outsiders. A HistoryofEuropean Minorities, London/Rio Grande 1999. Interestingly,Panayi associates Jews and Sinti and Romonly with the first group.For amethodological discussionon‘Anti- Gypsyism’ and comparativeresearch (which is morecommon in research on antiziganism than on anti-Semitism), see HerbertHeuss, “‘Anti Gypsyism’ is NotaNewPhenomenon”. Anti-Gypsyism Research. The Creation of aNew Field of Study,in: Thomas Acton (ed.), Scholarship and the Gypsy Struggle. CommitmentinRomaniStudies, Hatfield 2000, p. 52–67. For the first, and for untilnow the only,comprehensivecomparative study on anti- Semitism and anti-Gypsyism, which supports the continuity thesis, see Wolfgang Wipper- mann, “Wie die Zigeuner”. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berlin 1997. For acomparison between the ‘Nomadic’ character that was attributed to both Jews and Sinti and Rom, see MonicaRüthers, Juden und Zigeuner im europäischen Geschichtstheater. “Jewish Spaces”/“Gypsy Spaces.” Kazimierz und Saintes-Maries-de-la–Mer in der neuen FolkloreEuropas (Kultur und sozialePraxis), Bielefeld 2012. For astudythat emphasizes the similarities between Jews and Sinti and Romregarding stereotypical labeling and con- structing aconsolidated self-identity of adiasporic and geographically scattered minority, see DavidMayall, Gypsy Identities. From Egipcyans and Moon-Men to the Ethnic Romany, London, NewYork 2004.

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Populistischer Antisemitismus. Zur Analyse der antisemitischenSemantik in Ostmitteleuropa am Beispiel Ivan Frankos und Anton Sˇtefáneks*

In seinem Aufsatz überdie Herausbildung des modernen Antisemitismusin Ostmitteleuropa unterscheidet der HistorikerRudolf Jaworski zwischen einem westlichen und einem östlichen Modell. Während der moderne Antisemitismus in Westeuropa als eine Ideologie in Erscheinung getreten sei, so Jaworski, habeer in Ost- und Ostmitteleuropa eher Vorurteile gegenübereiner relativhomogenen Gruppe mit spezifischen Berufsstrukturen und Akkulturationsstrategien be- dient: Stereotype vonJuden als Ausbeuternund Helfershelfernbei der natio- nalen Unterdrückung.Ein Beweis fürseineThese siehtJaworski in der man- gelnden Bedeutung des „Rassenantisemitismus“ in Ostmitteleuropa, denn der alltägliche Kontakt mit als ,jüdisch‘ erkennbaren Konkurrenten habeandere, allen voran sozioökonomische Formen der Anfeindung und Ausgrenzung wie Boykott, gefördert.1 Abgesehen davon, dass es auch in Ostmitteleuropa durchaus Radikalantise- miten gab,die nichtselten rassistisch argumentierten,2 wies Jaworski aufeine wichtige Tendenz hin, die im Folgenden im Hinblick aufRepräsentanten der sogenannten nichtdominanten, emanzipatorischen Nationalbewegungen im Galizien beziehungsweise Oberungarnum1900 präzisiert werden sollen:dem Ukrainer Ivan Franko(1856–1916) sowiedem Slowaken Anton Sˇtefµnek (1877– 1964). Beidiesen –wie übrigens auch beiVertreterndes politischen Katholi- zismus –war der Antisemitismus in der Regel Bestandteil einer übergreifenden Ideologie. Mit den Katholiken oder Christlich-Sozialen verband diese Reprä- sentanten der nichtdominanten Nationalbewegungen auch das Bestreben, sich vom Radikalantisemitismus zu distanzieren, zu welchem Zweckbeide, Reprä-

*Die Studie entstand im Rahmen des Forschungsprojekts SASPRONr. 00079/01/03, „A Com- parative Studyonthe Evolution of ModernAntisemitism in Austria and , 1918–1938“. 1Rudolf Jaworski,Voraussetzungen und Funktionsweisen des modernen Antisemitismusin Ostmitteleuropa, in:Annelore Engel-Braunschmidt/EckhardHübner (Hg.), Jüdische Welten in Osteuropa (Beiträge zur osteuropäischen Geschichte, 8), Frankfurta.M.2005, S. 29–43. 2Vgl.zuletzt Grzegorz Krzywiec, Chauvinism, Polish Style. The Case of Roman Dmowski (Beginnings:1886–1905), Frankfurta.M.2016.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 186 Miloslav Szabó sentanten des politischen Katholizismus sowieder nichtdominanten National- bewegungen, ihren Antisemitismus mit verschiedenen Attributen wie„prakti- scher“ oder „wirtschaftlicher“ zu versehen pflegten.3 Wiediese Attribute bereits andeuten, spielte in dieser Variante des modernen Antisemitismus der Nach- druck aufdie antisemitische Praxis, die in der Regel als Aufruf zum sozioöko- nomischen Boykott dargestelltwurde, eine herausragende Rolle. Dies mag ein begriffsgeschichtlicher Exkurs näher erläutern: Der Begriff „praktischer Antisemitismus“ wurde vomdeutschen Radikalantisemiten Otto Böckel geprägt,der dadurch bereits Ende der 1880er-Jahredie Verbreitung von Konsum- und Kreditgenossenschaften in den ländlichen Gebieten Hessens zu legitimieren versuchte. Böckel betonte, dass durch die Förderung der antise- mitischen Praxis zugleich „etwas Positives“ bewirktwerden sollte.4 Gemeintwar der Selbsthilfegedanke, den ab Mitte des 19. Jahrhunderts Sozialreformer wie Friedrich Wilhelm Raiffeisen als Alternative zur kapitalistischen Umstruktu- rierung der Landwirtschaftentworfen hatten. So sollte mit Hilfe vonKonsum- und Kreditgenossenschaften der Zwischenhandel und ,Wucher‘ bekämpft und die benötigten Kredite vom aufEigenbeiträgen beruhenden Kapital unter günstigen Konditionen gewährtwerden. Es überraschtdaher wenig,dassein solcher ,defensiver‘ Antisemitismus vonden Vertreterndes politischen Katho- lizismus beziehungsweise der christlich-sozialenBewegung in der Habsbur- germonarchie wiederentdeckt und vereinnahmt wurde. Die Propagandisten der ungarischen KatholischenVolkspartei beziehungsweise der katholischen Ge- nossenschaftsbewegung in den böhmischenLändern übernahmen den Begriff wörtlich5,während der polnisch-galizische Theologe Maryan Morawski mit einer Neuschöpfung kam:„Asemitismus“. Dieser Begriff drückte allerdings dieselbeTendenz aus, nämlich durch Beschwörung der antisemitischen Praxis die negativenideologischen Konnotationen des Radikalantisemitismus in den Hintergrund treten zu lassen.6

3MiloslavSzabó,Populist Antisemitism. On the Theoryand MethodologyofResearchinto ModernAntisemitism, in:Judaica Bohemiae 49 (2014), Nr.2,S.73–87. 4David Peal, Antisemitism by Other Means?The Rural CooperativeMovementinLate Nine- teenth-CenturyGermany,in: Ye arbook of the LeoBaeck Institute 32 (1987), S. 135–152, hier S. 142. 5Dµniel Szabó,Amagyar NØppµrt „hosszffl menetelØse“. Apolitikaikatolicizmus elo˝tört- ØnetØbo˝l[Der „lange Marsch“der ungarischen Volkspartei. Zur Vorgeschichte des politischen Katholizismus],in: Tµrsadalmi Szemle 46/8–9 (1991), S. 123–131, hier S. 128;Barbora Hoffmannovµ,Bedeutung und Spezifika des Wirtschaftsnationalismus in der katholischen politischen Bewegung in Böhmenander Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in:Eduard Kubu˚/Helga Schultz(Hg.), Wirtschaftsnationalismus als Entwicklungsstrategie ostmitteleu- ropäischer Eliten. Die böhmischen Länder und die Tschechoslowakei in vergleichender Per- spektive, Prag/Berlin 2004, S. 183–195, S. 191. 6Asemitismus. Die jüdische Frage im Lichtder christlichen Ethik, in:Dokumente und Mate- rialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Antisemitismus in Polen“,

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Zur Analyse der antisemitischen Semantik in Ostmitteleuropa 187

Progressiveroder populistischer Antisemitismus?

Die zentrale Frage dieses Beitrages lautet daher:Wie schlug sich dieser ,praxo- logische‘ Trend aufdie antisemitische Semantiknieder,die die Ideologie von Repräsentanten der nichtdominantenNationalbewegungen in der Habsburger- monarchie, hier konkret Ivan Frankound Anton Sˇtefµnek, mitstrukturierte?Wie aktuell eine solche Fragestellung ist, legteine politisch-wissenschaftliche Kon- troverse um die Ehrentafel fürden ukrainischen Schriftsteller und Politiker Ivan Frankonahe, die die UniversitätWien bereits Anfang der 1990er-Jahreanbrin- gen ließ.Nachdem Jahrespäter die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) wie auch das Mauthausen Komitee Österreich mit der Begründung,Frankosei ein Antisemit und „geistiger Wegbereiter des Holocaust“7 gewesen, eine Entfernung der Tafel geforderthatten, veranstaltete das Institut fürSlawistik der Universität Wien im Oktober 2013 eine internationale Tagung zum Thema Iwan Franko und die jüdische Frage,die den Sachverhalt klärensollte. Dem Vorsitzenden der IKG Raimund Fastenbauer sei es allerdings „absurd und untragbar“ gewesen, dass ukrainische TeilnehmerIwan Frankoals „progressiven Antisemiten“ verteidigt hätten.8 Fastenbauers Kritik wird hier nuraus einem Grund reproduziert:Sie deutet – wenngleich eher unreflektiert–aufeine in der Antisemitismusforschung leider sehr verbreitete Verwirrung der Quellensprache mit analytischen Begriffen hin. Der Vorsitzende der IKGRaimund Fastenbauer zielte mit seiner Kritik aufeinen konkreten Teilnehmer ab,den ukrainischenHistoriker JaroslavHrycak, der bereits in einem Kapitel seiner aufUkrainisch erschienenen Biografie Frankos dessen „Judenfrage“ thematisierte.9 Hier wieinspäteren englischsprachigen Zusammenfassungen dieses Kapitels versuchtHrycak, die widersprüchliche Behandlung vonjüdischen Themen in Frankos literarischen und journalisti- schen Werken durch eine konventionelle Unterscheidung zwischen Elementen und Einflüssen des Anti-bzw.Philosemitismus zu erklären. Hrycak gibt zu, dass einige Texte Frankos beziehungsweise ihm zugeschriebene Texte ausden 1880er- Jahren „at leastimplicitly,asantisemitic“ zu bezeichnen seien, weil darin eine „inner solidarityofJews vis-à-vis Gentiles“ konstruiertworden sei:„Franko believed that Jewish solidaritywas amajor source of Jewish domination in

hg.v.Herder-Institut, bearb.v.Tim Buchen, URL: (alle Links wurdenam30.05.2017 zuletzt aufgerufen). 7Weg mit der Ehrentafel füreinen Judenhasser!„Iwan Frankowar ein geistiger Wegbereiter des Holocaust“, URL: . 8Wirbel um GedenktafelanUni Wien, URL: . 9JaroslavHrycak,Prorok usvoïjvicˇyzni. Frankotajoho spil’nota [Der Prophet in seiner Heimat.Frankound die Gemeinschaft],Kiew 2006,S.336–362.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 188 Miloslav Szabó certain sectors oft the Galician economy“.10.Hrycak jedoch gibt sich mit dieser Erkenntnis kaum zufrieden, sie dientihm lediglich als Prämisse fürdie Dar- stellung vonFrankos Wende zum Philosemitismus. Hrycak zufolgesei nämlich entscheidend, was ein Antisemit oder eine Antisemitin „did with his anti-Se- mitism. Did he or she makeitthe core of his intellectual and political activity–or, did she or he trytoplayitdownand to marginalize it?“.11 Um den wissen- schaftlichen Anspruch seiner Deutung zu unterstreichen, polemisiertHrycak gegen die These überdie Kontinuitätdes modernen Antisemitismus vom 19. Jahrhundertbis zum Holocaust.12 Stattdessen beruft er sich aufden soge- nannten progressivenAntisemitismus, den er wiefolgtdefiniert:„This is abrand that seeks to instrumentalize the Jewish issuefor abreadth of revolutionary moodsand actions. In contradiction to ,conservative anti-Semitism‘, the ,pro- gressive‘formopposes chauvinism and racism, and alsostands against any attempts to use anti-Semitism for the defense and legitimization of the ancien rØgime“.13 Obwohl Hrycak zugibt, dass eine solche strenge Unterscheidung in der his- torischen Wirklichkeit kaum anzutreffen war,postulierter„aminimal threshold that no progressive anti-Semite would ever cross under anycircumstances, and this was his or her 1) supportofJewish assimilation and 2) programmatic re- sistance to anyorganized ,reactionary‘ anti-Semitism“.14 Hrycaks Ansatz ist freilich kein analytischer,sondern referiert lediglich die Selbstbezeichnung vonAnhängernder sogenannten Fortschrittler oder War- schauer Positivisten wieAndrzej Niemojewski, die aber nach der Enttäuschung infolge der Revolution von1905 ihre bisherige Ansichten überdie Notwendigkeit der ,jüdischen Assimilation‘ gerade revidierten. Sie betrachteten vonnun an die Juden als eine hoffnungslos zurückgebliebene religiös-ethnische Minderheit, die einer Assimilation an die polnischeNation nichtwillig oder fähig sei.15 Während

10 YaroslavHrytsak, AStrange Case of Antisemitism. Ivan Frankoand the Jewish Issue,in: Omer Bartov/Eric D. Weitz (Hg.), ShatterzoneofEmpires:Coexistence and Violence in the German, Habsburg,Russian,and Ottoman Borderlands, Bloomington 2013, S. 228–242, hier S. 235. 11 YaroslavHrytsak, Between Philo-Semitism and Anti-Semitism. The Case of Ivan Franko, in: Alois Woldan/ Olaf Terpitz (Hg.), Ivan Frankound die jüdische Frage in Galizien. Inter- kulturelle Begegnungen und Dynamiken im Schaffen des ukrainischen Schriftstellers, Göt- tingen/Wien 2016, S. 47–57, hier S. 57. 12 Einem anderen ukrainischen Franko-Forscher,Roman Mnich, zufolge habe„die Bedeutung des Begriffs ,Antisemitismus‘zujener [Frankos, M. S.] Zeit sich fundamental vonder Be- deutung,die der Begriff heute, nach dem Holocaust, hat“, unterschieden. Roman Mnich, Ivan Frankound das Judentum, in:Ibidem, S. 9–19, hier S. 18. 13 Hrytsak, Between Philo-Semitism and Anti-Semitism (wie Anm. 11), S. 53. 14 Hrytsak, Between Philo-Semitism and Anti-Semitism (wie Anm. 11), S. 53. 15 Grzegorz Krzywiec, „Progressiver Antisemitismus“ im russischen Teil Polens von1905 bis 1914, in:Manfred Hettling/Michael G. Müller/Guido Hausmann (Hg.), Die „Judenfrage“ –

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Zur Analyse der antisemitischen Semantik in Ostmitteleuropa 189

Niemojewski früher insbesonderedie jüdisch-russischen Assimilanten, die so- genannten Litwaki,imVisier gehabt hatte, verwarfernun die jüdische Assi- milation als solche, wobei er sich mit Vorliebe ,reaktionärer‘ Quellen wiePole- miken gegen den Talmud oder gar den „jüdischen Ritualmord“ bediente.16 Es liegtauf der Hand, dass zeitgenössische Selbstbezeichnungen wie„prak- tischer“ oder „progressiver Antisemitismus“ als Werkzeuge historischer Ana- lyse von,anderen‘ Antisemitismen kaum geeignet sind. Im Folgenden soll daher ein analytischer Ansatz vorgestelltwerden, der die diesen zeitgenössischen Be- griffen gemeinsame Tendenz, die antiemanzipatorischen Implikationen der antisemitischen Semantikentweder durch die Beschwörung angeblich berech- tigter Abwehrmaßnahmen wieBoykott oder gar des Philosemitismus abzu- schwächen, hinreichend erklären kann. Ichnenne diesen Ansatz populistischer Antisemitismus. Dieser ist zwar historisch im Ostmitteleuropa des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts verankert, gleichwohl orientiertersich an allge- meinen Antisemitismustheorien. Das im Zusammenhang der vorliegenden Studie wohl wichtigste Konzept bietet hier der Soziologe ZygmuntBauman, der in einem wenig bekannten Aufsatz nichtnur aufdie ambivalente Natur antise- mitischer Projektionen, sondern zugleich des KonzeptsAntisemitismusals solchen hinweist. Während der erste Punkt verhältnismäßig bekanntsein dürfte –, der Jude‘ gilt aufgrund seiner Inkompatibilitätmit modernen Ordnungsph- antasmen als Verkörperung des ,Fremden‘ schlechthin –,17 wird Baumans De- finition des Antisemitismus als Allosemitismus (in Anlehnung an den Litera- turwissenschaftler Artur Sandauer) nurselten rezipiert. Dabei gehtesBauman zunächst nichtumdie Problematisierung des Quellenbegriffs, vielmehr um seine Auffassung als „Praxis,Juden als vonallen anderen radikalverschiedene Menschen auszugrenzen“.18 Bauman erläutertdie ambivalente Naturdes Phä- nomens wiefolgt:

„,Allosemitismus‘ ist vor allem uneindeutig,genauwie die erwähnte Praxis;erdeter- miniertnichtwiderspruchslos entwederHaßoder FreundschaftgegenüberJuden, sondern beinhaltetdie Keime beider Phänomene, er stellt ihre Intensitätund Ex- tremheit sicher,auch unabhängig davon, welche der beiden Haltungen sich schließlich durchsetzt.Die ursprüngliche Uneinheitlichkeit (was bedeutet, daß Allosemitismus als Anti-oder Philosemitismus vorstellbar ist beziehungsweise schonanderen Platz steht)

ein europäisches Phänomen? (Studien zum Antisemitismus in Europa, 5), Berlin 2013, S. 127–142, hier S. 139. 16 TheodoreR.Weeks, Polish ,Progressive Antisemitism‘, 1905–1914,in:East European Jewish Affaires 25/2 (1995), S. 49–68, hier S. 64f. 17 Vgl. ZygmuntBauman, Dialektik der Ordnung.Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992. 18 ZygmuntBauman, GroßeGärten, kleine Gärten. Allosemitismus. Vormodern, Modern, Postmodern, in:Michael Werz (Hg.), Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussionum Auschwitz, Kulturindustrieund Gewalt, Frankfurta.M.1995, S. 44–61, hier S. 41.

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machtAllosemitismus zu einer radikal ambivalenten Haltung. Es gibt deshalb eine Art Resonanz […] zwischen der intellektuellen und emotionalen Ambivalenz des Allose- mitismus und der endemischen Ambivalenz gegenüberdem Anderen, dem Fremden – und konsequenterweise dem Juden als der radikalstenVerkörperung,der Essenz des letzteren“.19

Dieses lange Zitat zeigtsehr deutlich, dass der Philosemitismus genauso ambi- valentbeurteilt werden muss wiedie antisemitischen Projektionen ,des Juden‘ als radikal Anderen respektiveFremden. Um die Dynamik des populistischen Antisemitismus noch mehr präzisieren zu können, ist er im Folgenden gegen- überdem Ansatz des nationalen Antisemitismus(Klaus Holz) abzugrenzen. Dabei wird die antisemitische Wir-Gruppe, die fürihn konstitutiv ist, als Äquivalentvon ambivalenten antisemitischen Projektionen (,der Jude‘) und Einstellungen (Philo- bzw.Antisemitismus) im Vordergrund stehen. Klaus Holz entwickelte seine Theorie des nationalen Antisemitismus ebenfalls in Anlehnung an ZygmuntBauman, demzufolge die Juden im Zeitalter des Na- tionalismus „die Essenz der Nichtübereinstimmung,eine nicht-nationale Nati- on“20 gewesen seien. Holz machte ausdieser modernen Projektion der,jüdischen Ambivalenz‘ –deren Kehrseite übrigens Phantasmen einer archetypischen ,jü- dischen Nation/Rasse‘ waren –die wichtigste Prämisse seiner Antisemitismus- theorie:,der Jude‘ als „Dritter“ zwischen ,authentischen‘ nationalen Gegnern, als Antithese der „nationalen Ordnung der Welt“.21 Er subsumierte ihr de facto alle anderen Oppositionen zwischen den vorgestellten Kollektiven der Antisemiten und Juden, nichtzuletzt das sozioökonomisch aufgeladene Gegensatzpaar Ge- meinschaft/Gesellschaft, das den Antikapitalismus antisemitischverzerrte.22 An dieser Stelle ist jedoch in erster Linie Holz’ Kategorie des antisemitischen Autostereotyps vonInteresse, die als missing link zwischen den ambivalenten antisemitischen Projektionen und Einstellungen funktioniert. Zur Charakteri- sierung des antisemitischen Autostereotyps –wie übrigens auch des Feind- bildes –bestimmt Klaus Holz die Kategorien „historisch-genealogische Perso- nengruppen“ beziehungsweise „Abstammungsgemeinschaft“. Während Holz zur Bezeichnung dieses antisemitischen Autostereotypsals äquivalente Kate- gorien „Volk“, „Nation“ oder „Rasse“ vorschlägt,23 wird sich die folgende Ana- lyse aufdie Kategorie „Volk“ konzentrieren. Diese Kategorie, die sowohl sozial wieethnisch konnotiertist, war wiekeine andere geeignet, die Komplexitätder

19 Baumann, Gärten (wie Anm. 18), S. 41f. 20 Baumann, Gärten (wie Anm. 18), S. 57. 21 Klaus Holz, Der Jude. Dritter der Nationen, in:Eva Esslinger (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, S. 292–303. 22 Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, S. 157–164. 23 Holz, Nationaler Antisemitismus (wie Anm. 22), S. 349–355.

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Ethnisierungsprozesse in Ostmitteleuropa auszudrücken, die vor allem beiden nichtdominanten Nationalbewegungen vonparadoxerweise mit judenfeindli- chen Semantikeneinhergehenden Emanzipationsdiskursen geprägt wurden. Die Kategorie „Volk“ muss daher nichtnur als Ausdruck der Ethnisierung, vielmehrals sozial-performative, ,populistische‘ Kategorie verstandenwerden. Der Populismus-Theorie Ernesto Laclaus zufolge vermöge der Signifikant „Volk“ wegen seiner semantischen Unbestimmtheit (empty signifier)die Ge- sellschaftinnerlich zu polarisieren. Infolgedessen könnten Forderungen breiter Bevölkerungsschichten in eine klassenübergreifende Anleitungzum politischen Handeln übersetzt werden.24 Legt man eine so verstandene, performativeKate- gorie „Volk“ der vonHolz postulierten antisemitischen Wir-Gruppe zugrunde, muss sein Ansatz wiefolgtmodifiziertwerden:Der Signifikant„Volk“ impliziert eine semantisch-populistische Entleerung,die zum einen Raum fürdie Be- schwörung der defensiven antisemitischen Praxis und zum anderen philose- mitischer Projektionen einer jüdischen Solidaritäteröffnet. Die Tendenz zur ideologischen Entlastung soll hier im Begriffdes populisti- schen Antisemitismus zusammengefasst werden:Populistischer Antisemitis- musist eine Variante des nationalen Antisemitismus, die die Tendenz zur Le- gitimierung der ideologischen Judenfeindschaftseitens ihrem Selbstverständnis nach emanzipatorischer nichtdominanter Nationalbewegungen in Ostmittel- europa zum Ausdruck bringt. Diese Tendenz äußertsich als Verdrängung der antisemitischen Semantik: zum einen zugunsten der antisemitischen Praxis25, zum anderen als Philosemitismus.

VomAntisemitismus zum Philosemitismus?Ivan Franko

Wiepopulistischer Antisemitismus sich aufdas Denken vonRepräsentanten nichtdominanter Nationalbewegungen in der Habsburgermonarchie nieder- schlug, wird nunanhand der Texte vonzwei nationalistischen Intellektuellen, dem ukrainischen Dichter,Politiker und Publizisten Ivan Frankosowie dem slowakischen Journalisten Anton Sˇtefµnek,vergleichend analysiert. Herange- zogen werden mehrererepräsentativeTexte, in denen beide Autoren sich mit dem Antisemitismus respektiveder ,Judenfrage‘ auseinandersetzten. Die em-

24 Vgl. Ernesto Laclau, On Populist Reason, London2007. 25 Dadurch soll Holz’ allzu enger Praxisbegriff erweitert werden: Holz koppelt die antisemiti- sche „Verfolgungspraxis“ an die antisemitische Semantik, die ihm zufolge bereits „als solche (kulturelle) Verfolgung“ sei. Außerdem erscheintbei Holz der Praxisbegriff aufeine Funk- tion vonSozialordnungen beziehungsweise aufbloßephysische Gewaltreduziert. Holz, NationalerAntisemitismus (wie Anm. 22), S. 43f.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 192 Miloslav Szabó pirische Analyse wird zunächst an den Texten des ukrainischenNationalisten Ivan Frankovorgenommen. Frankogehört zum klassischen Kanonder ukrainischen Literatur.Politisch war er schon frühvom Sozialismus geprägt,umspäter zum Vertreter der ukrainischenPopulisten, wiedie Führer der Bauernparteien in Galizien be- zeichnet wurden, zu werden (nichtzuverwechseln mit den „Narodniki“). Wie andere ukrainischeNationalisten, nahm auch Frankoschon bald zur,Judenfrage‘ in Galizien Stellung.Die ukrainisch-jüdisch-polnischen Beziehungen im Gali- zien des 19. Jahrhunderts zeichneten sich durch unterschiedliche Macht- und Besitzverhältnisse bzw.Berufsstruktur aus: Der Masse vonukrainischen(oder, wieesdamals hieß,ruthenischen) Bauernstandeine schmale polnische Grundherrenschicht gegenüber, die ihreSchank- und Steuereinziehungsrechte an die jüdische Bevölkerung verpachtete. Daraus resultierten sozioökonomische Unterschiede zwischen dem ,Volk‘ und ,den Juden‘, die infolge der kapitalisti- schen Transformation der LandwirtschaftzunehmendinVerschuldung breiterer Schichten umschlugen.Die Kampagnen gegen jüdische Schankwirte, die als Kreditgeber funktionierten, prägten den Diskurs und die Praxis sowohl der polnischen als auch der ukrainischen Genossenschaftsbewegung.ImUnter- schied zur polnischen Politik, begünstigten jedoch diese Kampagnen aufder ukrainischenSeite in Galizien keinen explizit politischen Antisemitismus.26 Die ,Judenfrage‘ in Galizien war hingegen ein Topos, der alle Seiten des pol- nisch-ukrainisch-jüdischen ,Dreiecks‘ beschäftigte. Ein ideengeschichtlich in- teressantes Beispiel bietet die kurzlebige polnisch-ukrainische Revue Przegla˛d Społeczny (Gesellschaftliche Rundschau), die ideologische Wegbereiterin des frühen galizischen Populismus, an der sowohl polnische als auch ukrainische Publizisten beteiligtwaren. In der Forschung werden die Beiträge zur ,Juden- frage‘ in der Przegla˛d Społeczny im Kontext des durch die Redaktion forcierten Ethnonationalismus gedeutet, der alle drei in Galizien lebenden ,Völker‘ ein- beziehen sollte. So bekam etwa der Frühzionist Alfred Nossig die Möglichkeit, in der Zeitschriftseine Ansichten überdie Aussiedlung galizischer Juden nach Palästina zu erörtern. Andererseits publizierten hier mehrereAutoren, nicht zuletzt Ivan Franko, Artikelmit judenfeindlicher Tendenz. Dies wird mit dem Hinweis aufden insbesondere in der ukrainischenPresse verbreiteten Antise- mitismuserklärt,der aufden wirtschaftlichen Antagonismus zwischen ukrai- nischen Bauernund jüdischen Händlernzurückgeführtwird.27

26 John-PaulHimka, Dimensions of aTriangle. Polish-Ukrainian-Jewish RelationsinAustrian Galicia, in:Israel Bartal/AntonyPolonsky (Hg.), Focusing on Galicia. Jews, Poles, and Ukrainians 1772–1918, London Portland 1999, S. 25–48, hier S. 30, 38. 27 Kai Struve, Galizische Verflechtungen –die „Judenfrage“ in der Lemberger Zeitschrift „Przegla˛d Społeczny“ (1886–1887), in:Hettling/Müller/Hausmann (Hg.), Die „Judenfrage“ (wie Anm. 15), S. 96–125.

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Im Folgenden wird ein zentraler Text zur ,Judenfrage‘ ausder Przegla˛d Spo- łeczny einer semantischen Analyse zur Untersuchung des populistischen Anti- semitismusunterzogen,nämlich der Beitrag Ivan Frankos über„Semitismus und Antisemitismus in Galizien“, in dem Frankogegen seine jüdischen Kritiker polemisierte. Frankoverwahrte sichgegen den Vorwurfdes Antisemitismus mit dem Hinweis aufden Grundsatz, die nationalen Rechte der Juden wiealler an- deren Völker anzuerkennen, wobei er sich von„jegliche[r] Ausbeutung“ dis- tanzierte:„Keine Religion, keine Überzeugung,keine Rasseund kein Volk waren und können auch nichtGegenstand unseres Hasses sein“.28 Nichtsdestotrotz sah Frankosichgezwungen, aufdie wirtschaftliche Übermachtder Juden auf- merksam zu machen, die er mit Metaphernvon Schmarotzernbeschrieb.Und obwohl Franko„ihre konfessionelle und wirtschaftlicheOrganisation [gemeint ist der sogenannte Kahal, in der antisemitischen Sprache Inbegriff der,jüdischen Verschwörung‘, M. S.] und manchmal schon ihreMentalität“29 dafürverant- wortlich machte, dass Juden „gleiche Rechte zu ihren Gunsten auszunutzen“ wüssten, meinte er eigentlich diese „parasitäre Veranlagung“, die er,ein be- kennender Sozialist, sogar beijüdischen ProletariernamWerk sah. AufVor- würfe, Verschwörungsgedankenzuverbreiten, antwortete er mit dem Hinweis auf„die seit Jahrhunderten entwickelte Geschlossenheit des ganzen jüdischen Stammes“.30 Angesichts einer solchen Übermachtwunderte Frankosich nicht, „dass ge- rade unsere Länder und unsere Völker,das polnische und das ruthenische, ihnen als die günstigste Terraerscheinen, weil sie den geringsten Widerstand gegen ihre Ausbeutung leisten“.31 Undobwohl Frankoforderte, „dassdie polnische und die ruthenische Bevölkerung sich aufdem wirtschaftlichen Feld Gleichberech- tigung mit den Juden erkämpfen sollte“, erwartete er zu diesem Zeitpunkt,das heißtMitte der 1880er-Jahre, noch Abhilfe vom Staat, die neben einer be- schränkten, „freiwilligen Assimilation“ vonJuden, jedoch vor allem in der Forcierung der Emigration und sogar in der Einführung des ,Fremdenrechts‘ für einen Teil vonihnen bestanden haben sollte.32 Frankogeißelte in seinem Aufsatz außer Juden „allmögliche Spekulanten, preußische, französische und andere“, weil sie kein „Gefühl der Solidaritätmit

28 Ivan Franko, Semitismusund Antisemitismus in Galizien, in:RomanMnich (Hg.), Ivan FrankoimKontext mit Theodor Herzl und Martin Buber. Mit Originalbeiträgen vonIvan Franko, Mathias Acher,J.Karenko, CarpelLippe,Mychajlo Lozynskyj, Wasyl Szczuratund Osias Waschitz.Antisemitismus und Philosemitismus in Ostgalizien1886–1916, Konstanz 2012, S. 53–68, hier S. 55 (Hervorh. im Orig.). 29 Franko, Semitismus und Antisemitismus(wieAnm. 28), S. 67. 30 Franko, Semitismus und Antisemitismus(wieAnm. 28), S. 63. 31 Franko, Semitismus und Antisemitismus(wieAnm. 28), S. 62. 32 Franko, Semitismus und Antisemitismus(wieAnm. 28), S. 57.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 194 Miloslav Szabó den einheimischen Volksidealen“33 gezeigthätten. Nebendiesen galt sein Hass der Kirche und Aristokratie,die das Volk gemeinsam mit den Juden zugrunde brächten, obwohl sie keinen Hehl ausihrem eigenen Antisemitismus machten. Die Logikdes populistischen Antisemitismus zwang Franko, die Vorwürfeder Judenfeindschaftdurch Anprangerung dieses reaktionären Antisemitismus abzuwehren. Bezeichnend ist hier Frankos Polemik gegen den eingangser- wähnten Theologen Maryan Morawski, der den Antisemitismus mit der katho- lischen Weltanschauung zu versöhnen versuchte, zu welchemZweck er den Begriff „Asemitismus“ prägte. Frankorezensierte Morawskis gleichnamige Abhandlung von1896 fürdie Wiener Zeitschrift Neuzeit.34 Frankoverspottete Morawski als Jesuiten, der alle katholischen Klischees bedientund den neuen Begriff lediglich eingeführthabe, um sich vom„lärmende[n] Antisemitismus“, „welcher die Leidenschaften der Christen erregt und zu Hetzen aufreizt“35,zu distanzieren. In Wirklichkeit würdejedoch gerade Morawski durch seine reak- tionärenVorurteile solche Hetzen heraufbeschwören. Freilich kritisierte Franko beiMorawski auch das, was er beianderen Gelegenheiten selbst verbreitete, so etwa die Verschwörungsthese vom Kahal. Noch schwererwiegtFrankos zöger- liche Verurteilung der Quintessenz vonMorawskis „Asemitismus“,also ausge- rechnet das, was diesen in die Nähe des populistischen Antisemitismus bringt: die Forderung nachsozioökonomischem Boykott der Juden beziehungsweise nach dem Eingriff des Staates in die ,Judenfrage‘, worin mit Morawski „selbst die allerfanatischsten Antisemiten“ übereinstimmen würden.36 NurzweiJahre später schien sich Frankojedoch die Quintessenz des „Ase- mitismus“ eigen gemachtzuhaben, nachdem ihm seitens der „ruthenisch- adeligen und ruthenisch-pfäffischen Zeitungen“ vorgeworfen worden war,er und seine Populisten arbeiteten in die Hände vonJuden respektiveersei selber ein Jude.37 Darauf antwortete Franko, dass das ganze populistische Programm dazu beitrage, „eine Herrschaftvon Juden und anderen Schmarotzern überden Arbeiter“ zu brechen, und zwar durch dasselbeMittel, das Frankozwei Jahre vorher beiMorawski verspottete:durch Selbsthilfe und den diese begleitenden Boykott von„jüdischen Blutsaugern“. Während die Reaktion vom Antisemitis- musnur rede, wobei ihre Hetze allerdings antijüdische Gewalt nach sich ziehe, setzten die Populisten den Antisemitismus praktisch um:

33 Franko, Semitismus und Antisemitismus(wieAnm. 28), S. 67. 34 Ivan Franko, Der Jesuitismus in der Judenfrage, in:Mnich, Ivan Franko(wieAnm. 28), S. 49–53. 35 Franko, Jesuitismus in der Judenfrage (wie Anm. 34), S. 50f. 36 Franko, Jesuitismus in der Judenfrage (wie Anm. 34), S. 52. 37 Ivan Franko, Die Radikalen und die Juden, in:Mnich, Ivan Franko(wieAnm. 28), S. 68–72.

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„Die Radikalen schreien nichtgegen die Juden, sondernmachen ihre Arbeit ohneJuden und gegen jüdische Interessen. Undihr habt in Worten kochenden Hass gegen die Juden, aber ohne die Juden könntihr keinen einzigen Schritt tun, und ihr verbrüdert euch mit jüdischen Blutsaugern. Das ist der Unterschied zwischen unserem und euerem Antisemitismus“.38

Zur selben Zeit,als Frankosich gegenden reaktionären„Asemitismus“ zu po- sitionieren versuchte und parallel dazu einen populistischen Antisemitismus der Tatpredigte, begrüßte er Theodor Herzls Manifest des Zionismus.39 Damit knüpfte er zunächst an die Lösungsperspektiveder ,Judenfrage‘ im Umfeld der Przegla˛d Społeczny an, deren Mitarbeiter Ende der 1880er-Jahrealle drei Seiten des polnisch-ukrainisch-jüdischen ,Dreiecks‘ aufder Grundlage eines toleranten Ethnonationalismus miteinander versöhnen wollten. Zehn Jahrespäter war dieses Programmnicht mehr aktuell. Den Hintergrund bildeten unüberbrück- bare Differenzen in der Beurteilung der ZukunftGaliziens, das die Polen wei- terhin in den historischen Grenzen erhalten wollten, während die Ukrainer eine Teilung entlang der ethnographischenGrenzen befürworteten. Die Politisierung der Auseinandersetzungen zwischen Polen und UkrainerninGalizien führte bei Frankozueinem konservativ-nationalistischen Umdenken, das sich als dop- pelter Bruch äußerte:mit den polnischen Sozialdemokraten einerseits und den ukrainischenPopulisten andererseits.40 Gleichwohl blieb Frankoseinem popu- listischen Programm treu:Dieses bestand nichtzuletzt in der ökonomischen Rettung der verschuldeten ukrainischen Bauerndurch den Ankauf des im ,fremden‘, das heißtpolnischen oder jüdischen Besitz befindlichen Bodens. Der so verstandene Populismus bildet den historischen und ideologischen Kontext vonFrankos Roman Die Kreuzwege (Perechresni steschki,1899–1900), der jedoch zugleich eine starkephilosemitische Tendenz ausweist. Hier ist nicht der Ort, grundsätzliche Fragen übergeeignete analytische Herangehensweisen an den ideologischen beziehungsweise literarischen Antisemitismus zu stellen. Es liegtauf der Hand, dass Frankos literarische Behandlung jüdischer Themen „a recalibrationofanalytical tools, terms and reference points“ erfordert.41 Gleichzeitig kann jedoch auch nichtbestritten werden, „that Frankoisincrea- singly predisposed to link literaryand publicistic writing,ineffecttoestablish a

38 Franko, Die Radikalen und die Juden (wie Anm. 37), S. 72. 39 Ivan Franko, Judenstaat(1896), in:Mnich, Ivan Franko(wieAnm. 28), S. 46–48. 40 YaroslavHrytsak, AUkrainian Answer to the Galician Ethnic Triangle. The Case of Ivan Franko, in:Bartal, Polonsky (Hg.), Focusing on Galicia (wie Anm. 26), S. 137–146, hier S. 142f. 41 George G. Grabowicz, Ivan Frankoand the LiteraryDepiction of Jews. Parsing the Contexts, in:Woldan/Terpitz, Ivan Frankound die jüdische Frage in Galizien (wie Anm. 11), S. 59–91, hier S. 91.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 196 Miloslav Szabó kind of synergyofgenres“.42 Diese Vorgehensweise schloss Stereotypisierungen vonJuden als Verkörperung des Kapitalismus in Frankos früher Prosa ein, die mit Metapherndes ,Wuchers‘, Schmarotzertums und Vampirismus operierte43, jedoch weniger seine mit humanistischem Pathos angehauchte ,jüdische‘ Poesie –wohl mit Ausnahme des Gedichts Moses (Mojsej,1905), das„is effected through the identification between two opressed, and […] stateless peoples –the Ukrainians and the Jews“.44 Der Roman Die Kreuzwege schildertdie Quintessenz vonFrankos Populis- mus: Er greift aufdie Kategorie Volk zurück, um eine performative politische Praxis, nämlich diejenigeder sozioökonomischen und nationalen ,Befreiung‘ der ukrainischen Bauernvon der doppelten Unterdrückung durch jüdische Gläubiger und polnischeGrundherren(die selbst beiden Juden verschuldet waren) zu legitimieren. Dabei bekommt der Romanheld, ein junger ukrainischer Anwalt,der in einer feindlichen Umgebung unerschrocken seinen populisti- schen Kampf führt, Unterstützung vonunerwarteter Seite:vom jüdischen ,Erzwucherer‘ Vagman, der aufseine aristokratischen Schuldner effektiv Druck ausübenund somit den beidiesen verschuldeten Bauernindirekt helfen kann. Vagman erläutertseine Beweggründe im Gespräch mit dem polnisch akkultu- rierten jüdischen Bürgermeister des Städtchens, in dem die Romanhandlung angesiedelt ist. Dieses fiktiveGespräch soll im Folgenden analysiertwerden, wobei der literarischen Kontext des Romans respektivedessen Rezeption außer Acht gelassenwerden können,45 denn es kann als Bestätigung der oben refe- rierten These vonder „Synergie der Genres“ Literatur und Publizistik gelten. Vagman wiederholt zunächst Argumente, die wirbereits ausFrankos Aufsatz Semitismus und Antisemitismus in Galizien kennen. Juden ignorierten überall die Normen ihrer Gastgeber,denn sie gehorchten ausschließlich ihrer (religiö- sen?, ethnischen?),Solidarität‘, „und um die Gesetze, Ordnungen im Lande kümmernsie [sich, M. S.] nursoweit, daß diese sie nichtstören, Juden zu sein und den Rest der Menschheit auszunutzen“.46 Bekanntklingtauch die Ableh- nung der ,Assimilation‘ als eines typischen Auswegs ausdiesem Dilemma. Beleg hierfürist eine Zwei-Seelen-Theorie, die Vagman als Ursache fürden Antise- mitismuszum Besten gibt. Die assimilierten Juden hätten die Spaltung der ,jü- dischen Seele‘ vertieft, indem sie das Erbe der Propheten verworfen und dadurch

42 Grabowicz, Ivan Frankoand the LiteraryDepiction of Jews (wie Anm. 41), S. 76. 43 Grabowicz, Ivan Frankoand the LiteraryDepiction of Jews (wie Anm. 41), S. 65–76. 44 Grabowicz, Ivan Frankoand the LiteraryDepiction of Jews (wie Anm. 41), S. 89. 45 Grabowicz, Ivan Frankoand the LiteraryDepiction of Jews (wie Anm. 41), S. 81f. 46 Zit. nach der deutschen Übersetzung:Ivan Franko, Die Kreuzwege, in:Ivan Franko, Zum Lichtsich gesehnt. „Mose“ und andereausgewählte Judaica, Konstanz 2008, S. 113–131, hier S. 118.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Zur Analyse der antisemitischen Semantik in Ostmitteleuropa 197 einer genauso starken, allerdings negativen Tendenz Vorzug geleistet hätten. Für diese stehe die „zweite Hälfte der jüdischen Seele“: „[…]jene, die in Ägypten in schwerer Knechtschafterzogen wurde, die in der Wüste das Goldene Kalb anbetete, die gegen Mose rebellierte, die Kanaan eroberte und dabei die Kanaaniter bis zum letzten Nachkommen mordete, die danach ausBabylonnach Palästina nichtzurückkehren wollte, die ihre Wucher-und GeldgeschäfteinNinive, Alexandria, in Romführte […] Jene Hälfte, die sich die Herrschafterwünscht, aber keine Verantwortung übernehmen will, die diese Herrschaftauferlegt.Jene Hälfte, die das Gebot der Heiligen Schriftvernachlässigt –von der Biene und vonder Ameise zu lernen –seit langem zur Spinne in die Lehre ging und sie mit ihren Listen längst übertroffen hat“.47 Vagmans Diktum vonder „zweite[n] Hälfte der jüdischen Seele“kannauf den ersten Blick als Fortführung der nichtzuletzt durch Zionisten kolportierten These von,jüdischer Unproduktivität‘ gelesenwerden, die aufhistorische Ur- sachen zurückgeführtwurde –hier auf,ägyptische Knechtschaft‘. Die lange kausal-historische Kette der Wucher-Stereotype, die mit dem Anbeten des Goldenen Kalbs nach dem Auszug aus Ägypten anfängtund nichtmal beim Paradigma des Parasitismus, der Spinne, stehen bleibt, schießtallerdings über jede wohlwollende Kritik der ,jüdischen Assimilation‘ hinaus. Diese universal- historische Schuld wird nämlich assimilierten Juden auseinem sehr konkreten Grund zur Last gelegt. Vagman erläutertihn wiefolgt: „Es ist jenerUmstand,daßdie Juden sich gewöhnlich nichtmit denen assimilieren, unter denen sie leben, sondernmit den Stärkeren.InDeutschland sind sie Deutsche, das verstehe ich;aberwarum sind sie auch in Tschechien Deutsche?InUngarn sind sie Ungarn,inGalizienPolen, aber warum sind sie in Warschauund Kiew Moskowiter? Warumassimilieren sich die Juden nichtmit den Nationen, die schwach,unterdrückt, benachteiligtoder elend sind?Warum gibt es keine slowakischenJuden,keine ruthe- nischen Juden?[…] Vielleichtist es irgendwie in unserer Natur […] daß wirsogar dort, wo es sich um die Wahl der Stiefmutter handelt, nichtauf die Stimme unseres Herzens hören, sondernvor allem fragen:Wus tojgtmir dus [Was nützt mir das]?Aberdas wirft schon einen Schatten aufdie Aufrichtigkeit der ganzen Assimilationsarbeit und –was am fatalsten ist –das verringertziemlich den Wert jener Assimilation in den Augen derjenigen,mit denen sie sich assimilieren“.48 Frankos Ablehnung der Assimilation durch sein Alter Ego Vagman war alles andere als pragmatisch, wofürgewöhnlich Hinweise aufdas Fehlen ukrainischer Mittel- und Oberschichten, die fürjüdische Assimilanten hätte attraktiv sein können, angeführtwerden.49 Im Gegenteil, Frankos Abgrenzungen gegenüber dem ,reaktionärenAntisemitismus‘ zum Trotzsind seineTexte voneiner anti-

47 Franko, Die Kreuzwege(wieAnm. 46), S. 120. 48 Franko, Die Kreuzwege(wieAnm. 46), S. 122. 49 Hrytsak, AUkrainian Answer (wie Anm. 40), S. 144.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 198 Miloslav Szabó semitischen Semantikgeprägt,die die Juden als existenzielle Widersacher der Nicht-Juden projiziert. Spätestens hier zeigtsich, dass der populistische Anti- semitismusmit seinem Nachdruck aufdie antisemitische Praxis der ,Befreiung‘ zudem als Variante des nationalen Antisemitismus im Sinne Klaus Holz’ ge- deutet werden muss. Die Opfer der ,jüdischen Assimilation‘ sind nämlich Vag- man zufolge nichtnur die vonden Wucherern,ausgesaugten‘ nicht-dominanten Völker Ostmitteleuropas (Ukrainer,Slowaken, Tschechen, Polen), sondernin- direkt auch deren Unterdrücker,mit denen Juden sich assimilieren:Russen, Polen, Ungarn, Deutsche.Wäre es nichtvorstellbar,dass diese, ließen sie sich einmal durch ihre vom kollektivenEgoismus geleiteten jüdischen Helfershelfer nichtverblenden, die Ungerechtigkeit ihres Tuns und somit die Notwendigkeit nationaler Eintrachteinsehen würden?Daran ändertschließlich auch der de- klarierte Philosemitismus nichts Wesentliches:die „nichtganz entzweite alte jüdische Seele“, die Vagman animiert, „vonuns ausauch zum ruthenischen Volk eine Brückezuschlagen“.50 Vielmehrwird hierdurch die vonZygmuntBauman postulierte Komplementaritätvon Anti-und Philosemitismus beglaubigt. Wie Wolfgang Schivelbusch in seiner Kulturgeschichte des Konsums darlegt, ist auch der ursprünglich naturwissenschaftliche Begriff der Assimilation ein zutiefst ambivalenter:Nichtnur das Assimilierende verleibtsich das Assimilierte ein, es verhält sich auch anders herum:das Assimilierte sickertins Assimilierende durch.51 So gesehen bildet Vagmans ,Zwei-Seelen-These‘ die Quintessenz des populistischen Antisemitismusvon Repräsentanten nicht-dominanter Natio- nalbewegungen in Ostmitteleuropa wieIvanFranko, die angesichts der Russi- fizierung,Germanisierung oder Magyarisierung ihres jeweiligen Volkes das Judentum mit Hilfe vonWucher-Stereotypen als die Verkörperung der ,falschen‘ Assimilation verzerrten, während sie es gleichzeitig als Vorbild einer ethnischen Solidaritätprojizierten. (Dies ist dem rassistischen Antisemitismus nichtun- ähnlich, dessen Verfechter wieetwa Houston StewartChamberlain die ,jüdische Rasse‘ als verdorbenes Ideal hinstellten.) Dass diese Fragen keineswegs nur fürden ukrainisch-polnisch-jüdischen Kontext Galiziens relevantwaren, wird im Folgenden am Beispiel des wohl einzigen Repräsentanten der slowakischen Nationalbewegung Oberungarns vom intellektuellen Format Ivan Frankos dargestellt:Anton Sˇtefµnek.

50 Franko, Die Kreuzwege(wieAnm. 46), S. 124. 51 Wolfgang Schievelbusch, Das verzehrende Lebender Dinge. Versuch über die Konsumtion, München2015.

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Nur ein wirtschaftlicher Antisemitismus?Anton Sˇtefánek

Wiedie Ukrainer in Galizien, waren auch die Slowaken ein Bauernvolk, das eine dünne Intelligenzschicht seit Anfang des 19. Jahrhunderts zum Nationalbe- wusstseinzuerwecken suchte. Anders als in Galizien stieß die slowakische Na- tionalbewegung unter den herrschenden Magyaren um 1900 kaum aufVer- ständnis. Infolgedessen betrachteten ihreRepräsentanten die offizielleAssimi- lationspolitik, die sogenannte Magyarisierung als das größte Übel. Dies schlug sich ebenso in deren Beurteilung der ,Judenfrage‘ nieder.Nachdem die slowa- kischen Nationalisten in den 1880er und 1890er-Jahrenden politischen Anti- semitismusmit gedämpften Sympathien verfolgten, weil dieser zwar gegen die Magyarisierung vonJuden auftrat,jedoch den slowakischen Nationalismus missachtete, setzte eine jüngere Generation um 1900 auch hier neue Akzente.52 In ihrem Nationalisierungsbestrebenbetonten ihre Vertreter die Notwendigkeit vonBildung und ökonomischer Verselbständigung des slowakischen Volkes, was unter anderem den Boykottder jüdischen Konkurrenz implizierte. Im Presse- organ der jungen slowakischen Intelligenz hieß es dazu programmatisch:

„Die Wortegenügen nicht, bewähren wiruns durch die Taten!–Da die Losung des wirtschaftlichen Antisemitismus ausgegeben wurde, ist jede Einheitder slowakischen Nation verpflichtet, ihr ohneAusrede zu folgen, und niemand darfseine Bedürfnisse beiden Judenbefriedigen. […] Um den Einfluss der Juden zu verhindern sowiezwecks der wirtschaftlichen Verselbständigung der Nation müssen wirFinanzanstalten (Hilfskassen,Volksbanken, Kreditvereine) sowieWirtschafts-, Industrie- und Kon- sumvereine gründen“.53

Einer semantischen Regel vonHolz’ nationalem Antisemitismusentsprechend, wurde dieser „wirtschaftlicheAntisemitismus“ rationalisiert, indem er der an- tijüdischen Gewalt gegenübergestellt wurde. 1903 etwa wurde in der slowaki- schen Zeitung mit dem bezeichnenden Titel Pokrok (Fortschritt) ein Foto von Leichen der Opfer,darunter Frauen und Kindern, des berüchtigten Pogroms in Kischinew abgedruckt. Im Kommentar zum Bild wird eine solche Bestialität entschieden verurteilt und Verwunderung darüberzum Ausdruck gebracht, wie so etwas im 20. Jahrhundert überhaupt möglich sei. Aufden Antisemitismus wurde im Sinne der populistischen Logiknichtverzichtet, er sollte lediglich ,menschlich‘umgesetzt werden:„Der Antisemitismus soll heute nichtdurch den Mord, sonderndurch moderne Mittel praktiziertwerden:durch das Bewusst- werden unserer Menschenwürde, durch den Fortschritt der Vernunft und durch

52 MiloslavSzabó,„VonWorten zu Taten“. Die slowakische Nationalbewegung und der Anti- semitismus 1875–1922 (Studien zum Antisemitismus in Europa, 6), Berlin 2014, S. 223–245. 53 Zit. nach Szabó,„VonWorten zu Taten“ (wie Anm. 52),S.235.

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54 Szabó,„VonWorten zu Taten“ (wie Anm. 52), S. 237. 55 Szabó,„VonWorten zu Taten“ (wie Anm. 52), S. 242. 56 Szabó,„VonWorten zu Taten“ (wie Anm. 52), S. 244. 57 Vgl. Ferenc Laczó,Das Problem nationaler Heterogenität. Die Diskussion überdie „Juden- frage“ in der Zeitschrift„Huszadik Szµzad“ im Jahr 1917, in:Hettling/Müller/Hausmann (Hg.), Die „Judenfrage“ (wie Anm. 15), S. 145–177;KatiVörös, The ,Jewish question‘, Hungarian Sociologyand the Normalization of Antisemitism, in:Patterns of Prejudice44/2 (2010), S. 137–160. 58 AntonStefanek,AzsidókØrdØs Észak-Magyarorszµgon [Die Judenfrage im nördlichen Un- garn],in: PØter Hanµk(Hg.), ZsidókØrdØs, asszimilµció,antiszemitizmus. Tanulmµnyok a zsidókØrdØsro˝lahuszadik szµzadi Magyarorszµgon [Judenfrage, Assimilation,Antisemi- tismus.Studien zur Judenfrage in Ungarn im 20. Jahrhundert],Budapest 1984, S. 91–97.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Zur Analyse der antisemitischen Semantik in Ostmitteleuropa 201

Volk (wie seine„slawischen Stammesverwandten“) wird zwar zur Tönnies’ Gemeinschaftstilisiert, die vonder „jüdischen Händlergesellschaft“ bedrückt werde. Die Juden werden dementsprechend zu einer nicht-identischen, „ner- vösen Nation“ verzerrt,die infolgeder historischen Entwicklung und einer ei- genartigen „Psychologie“nichteins mit sichselbst werden könne. So komme es Sˇtefµnekzufolge zu einer „Halbassimilation“ mit dem herrschenden magyari- schen Adel, die zur vollständigen Assimilation mit dem slowakischen Volk (den slawischen Völkern) werden müsse.59 Die Möglichkeit einer solchen bedingungslosen Assimilation ziehtSˇtefµnek allerdings in Zweifel, welche Tatsache er am Beispiel vonTschechen, Polen und anderen Slawen zu zeigen versucht, wo die Juden während des Weltkriegs „beinahe ausdem Volk“ ausgetreten seien. Der Tendenz des populistischen Antisemitismus entsprechend distanzierte sich auch Sˇtefµnek vomAntisemi- tismus der Reaktion –von den Magyarisierern,dem Klerus, den Deutschen –auf Entschiedenste. Im Unterschied zu Frankoerörterte Sˇtefµnek zu diesem Zeit- punkt nur eine fürihn in Frage kommende Lösung der,Judenfrage‘: den Boykott. Undwiederum anders als Frankozögerte er nicht, die Quelle seiner Inspiration klar zu benennen.Zwar hetze die Katholische Volkspartei erfolglos das slowa- kische Volk „mit antisemitischen Parolen“ auf, so Sˇtefµnek, aber sie „erzielte dennoch etwas Gutes:invieler Hinsichtklärtesie das Volk überdie ökonomische Organisation aufund erhellte ihm die Judenfrage als Frage der Selbsthilfe […]. Heute schreit man nichtmehr:,Schlagtden Juden!‘ Man klagtihn nichtdes Ritualmordes an. Im Gegenteil, unsere Blätter sollten das Volk dazu ermutigen, sich den jüdischen Handelsgeist, seine aufdie höhere Bildung und aufden sozialen Aufstieg zielenden Bestrebungen anzueignen“.60 Ausden angeführten Zitaten erschließtsich, dass der populistische Antise- mitismusauch beiSˇtefµnek zunächst zur Abgrenzung gegendie Reaktionbe- ziehungsweise zur Legitimierung der antisemitischen Praxis diente. Darüber hinaus muss jedoch auch er als Variante des „Allosemitismus“ im Sinne der ambivalenten Komplementaritätvon Anti-und Philosemitismus gedeutet wer- den, die beiFrankoihren literarisch-publizistischen Niederschlag in der ,Zwei- Seelen-These‘ seiner Romanfigur Vagman fand. Dieser philosemitische Zug spiegelte beiSˇtefµnek und anderen Vertreternder slowakischen Nationalbewe- gung patriarchal-nationalistischeVorstellungen vom kollektiven, familiären Zusammenhalt,der Juden‘ wider.Sie beflügelten damals viele nichtjüdische Nationalisten, die, mit den Worten Yuri Slezkines, „have used family models and metaphors to create durable and cohesivequasi-families“.61 Einer ,falschen‘

59 Zit. nach Szabó,„VonWorten zu Taten“ (wie Anm. 52),S.285f. 60 Szabó,„VonWorten zu Taten“ (wie Anm. 52), S. 285. 61 Yuri Slezkine, The Jewish Century, Princeton 2004, S. 35.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 202 Miloslav Szabó

Assimilation mit den herrschendenMagyaren (Polen, Deutschen, Russen usw.), die durch Wucher-Stereotypediffamiertwerden soll, wird daher auch im slo- wakischen Fall die Vorstellung einer ,jüdischen Solidarität‘ entgegengestellt,die sich als ,invertierte Assimilation‘ beschreibenließe:eine positiveProjektion des zu Assimilierenden aufdas Assimilierende. Ausalldem wird deutlich, dass der moderne Antisemitismus in Ostmittel- europa im Kontext einer zögernden sozioökonomischen Modernisierung und des Nationalitätenkonflikts um 1900 teilweise andere Erscheinungsformen als in seiner westlichen ,Heimat‘ angenommen hat. Anstatt vom nationalen Antise- mitismusimSinne Klaus Holz’ sollten wirdaher zumindest im Fall der soge- nannten nichtdominanten Nationalbewegungen vom populistischen Antisemi- tismus reden. Dieser Ansatz entsprichtbesser dem antisemitischen Autoste- reotyp des ,Volkes‘, das die Paradoxien eines emanzipatorischen Anspruchs zum Ausdruck bringt, der mit den antiemanzipatorischen Implikationen der anti- semitischen Semantikeinherging.Dies äußerte sich als eigentümliche Spannung zwischen antisemitischer Semantikund Praxis. Um diese Spannungzuent- kräften, grenzten sich die Verfechter des populistischen Antisemitismus von dessen vermeintlichen ,reaktionären‘ Formen ab.Sie wollten die antiemanzi- patorischen Implikationen der antisemitischen Semantikzunächst verdrängen, indem sie sie der ,Reaktion‘ zuschrieben. Darüberhinaus stellten sie mit Beru- fung aufdie performative, semantisch leere Kategorie ,Volk‘ die antisemitische Praxis als eine angeblich ,bessere‘, weil menschlichere Form des Antisemitismus hin, zu welchem Zweck sie sich auch philosemitisch gebaren. Dass der popu- listische Antisemitismus die antiemanzipatorische Semantikdes modernen Antisemitismus kaum zurückzudrängen vermochte, stellte sich spätestens nach dem Ersten Weltkrieg unter den veränderten Bedingungen der postimperialen Ordnung heraus. Die ,Judenfrage‘ wurde in den neuen Nationalstaaten Ostmit- teleuropas zur Agenda vonRegierungen, die die Berufsstruktur der jüdischen Bevölkerung durch Umsetzung eines Numerus clausus zu nivellieren versuchten. Im Unterschied zu Anton Sˇtefµnek, der sichals Repräsentantdes tschechoslo- wakischen Staates an diesen Bestrebungen aktiv beteiligte und in Bezug aufdie sogenannte Revision der staatlichen Schank- und Tabaklizenzen, die vonRe- präsentanten der neuen Regimes in Ostmitteleuropa als „jüdische Privilegien“ angesehen wurden,62 euphemistisch voneiner „sozialen Assimilation“ sprach,63 erlebte Ivan Frankosie nichtmehr.

62 Szabó,„VonWorten zu Taten“ (wie Anm. 52), S. 289–313; Rolf Fischer,Entwicklungsstufen des AntisemitismusinUngarn 1867–1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Sym- biose (Südosteuropäische Arbeiten, 85), München 1988, S. 160;Frank Golczewski, Polnisch- jüdische Beziehungen 1881–1922. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Ost- europa, Wiesbaden 1981, S. 266f. 63 Szabó,„VonWorten zu Taten“ (wie Anm. 52), S. 300.

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De la constructiondel’État au racisme :judéophobieet antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre

Le pointdedØpartdecetteanalyse est l’adoption de l’article 7delaConstitution roumaine de 1866 qui exclut les non-chrØtiens des droits politiques dans un jeune État en plein processus de construction, qui aatteintune certaine autonomie par rapport à l’Empire ottomanetqui aune constitution autochtonepour la premi›re fois en 1866.1 La ‘question juive ’avantleCongr›sdeBerlin de 1878 asuscitØ moins de travauxhistoriques que l’antisØmitismedel’apr›s-1878 ou encore l’antisØmitisme des annØes 1920–30 et le rôle des intellectuels dans les mouve- ments d’extrÞme droite.2 Alorsque l’inimitiØ contreles Juifs connaîtdes formes discursives variØes et se retrouve dans des mesures lØgislatives discriminatoires au moins depuis le dØbut du XIXe si›cle,3 sans parler de la longue histoire de ce ressentimentdans l’imaginaire populaire.4 Ce n’est pas seulementcet ØlØmentdepermanence qui fait du cas roumain un cas intØressant bien avantles annØes 1920. Le fait que l’aversion à l’encontredes Juifs se soit dØveloppØemÞme sans leur Ømancipation, et prØcisØmentpour empÞcher leur Ømancipation, en est un autre.5 On ne peut pas comprendrele discours sur l’identitØ nationale roumaine, dontles ØlØments fondamentaux sont posØspendantlaseconde moitiØ du XIXe si›cle, sans la ‘question juive’.Et,

1Les PrincipautØsroumaines, sous suzerainetØ ottomane, sontplacØes sousleprotectorat de la Russie à partirde1829 et sous la protection collectivedes grandes puissances à partirde1856 jusqu’à l’obtention de la souverainetØ apr›sleCongr›sdeBerlin de 1878. Lestextes consti- tutionnels antØrieurs ont ØtØ imposØspar les grandes puissances. 2LeCongr›sdeBerlin met fin à la guerre de la Russie contrel’Empire ottoman. La Roumanie participe à la guerre auxcôtØsdes Russes et en mai 1877, la Chambrevote l’indØpendance. Sa participation auxnØgociations n’est pas acceptØe. Son indØpendance est reconnue, mais elle est conditionnØepar la rØvision de l’article 7delaConstitution. 3Pour le discours xØnophobe et antijuif d’avant1866, DinuBa˘lan, Nat¸ ional,nat¸ionalism, xe- nofobie s¸ iantisemitism însocietatea româneasca˘ moderna˘ (1831–1866) (Historia magistra vitae), Ias¸ i2006. 4Andrei Ois¸teanu, Imaginea evreului încultura româna˘.Studiu de imagologie încontext est- central european, Bucarest 22004. 5RaulCârstocea, Uneasy Twins ?The Entangled Histories of Jewish Emancipation and Anti- Semitism in Romania and Hungary, 1866–1913, dans :Slovo 21/2 (2009), p. 64–85.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 204 Silvia Marton surtout, le consensus des diffØrentes sensibilitØspolitiques est le trait spØcifique de l’antisØmitisme roumain qui le diffØrencie de ses homologues (est)europØens. On montrera, d’abord, que la pØriodede1866 à 1878 met les bases de la politique Øtatique de discrimination bureaucratique contreles Juifs en Rouma- nie. La ‘question juive’est, d›s1866, non pas le travail des dØmagoguesoudes agitateurs politiques, mais une politique d’Étatetdes Ølites politiques dont l’objectifest de dØmontrer qu’il existe un État avec ses capacitØsrØgaliennes, basØ sur une identitØ nationale homog›ne. PendantladØcennie d’avant le Congr›sde Berlin, la judØophobie ancienne et latente est mise à jour parune politique d’État au nom de la modernitØ,sur un fond non dissimulØ de discrimination contreles Juifs. Parcela mÞme elle se transforme dansune affaire de l’Étatetelle rel›ve du langage juridique et de la bureaucratie. Comme l’ØlØmentexplicatif le plus importantdel’aversioncontreles Juifs en Roumanie est son rôle dans la dØfinition identitaire,ladeuxi›me partiedecette contribution examinera les ØlØmentsdecontinuitØ et de rupture de 1878 à laveille de la Grande Guerre, parrapport à la dØcennieantØrieure, dans ce qu’il convient dorØnavant d’appeler antisØmitisme. Et troisi›mement, cette Øtudeentend montrer la prØsence, souventlatente et implicite, du mØpris chrØtien contreles Juifs danslediscours politique et intellectuel et dans les mesures antijuives pendanttoute la pØriodequi va de 1866 à 1914, mÞme lorsque les protagonistes s’en dØfendentexplicitementetsedØfinissent, sur d’autresquestions, comme les adeptes de la modernitØ sØcularisØe.

La ‘question juive ’comme instrumentpour consolider l’État et ses capacités d’action et pour créer une nation homogène :1866–1878

Suite à de vifs dØbats à l’AssemblØeconstituante de 1866, l’article 7delaCon- stitution exclut les non-chrØtiens des droits politiques.6 Leur exclusiondes droits politiques par leur exclusion de la naturalisation limite Øgalementleurs droits civils. Si jusqu’en 1866, le probl›me juif est latent,7 l’agitationpublique provoquØe par les dØbats constitutionnels est l’Øpisode violentfondateur de la ‘question juive’(selon l’expressiondes contemporains, chestiuneaevreiasca˘). LesdØbats sontinterrompus par la foule rassemblØedevantles portes de la Constituante protestantcontrel’admissiondes Juifs à l’ØgalitØ politique, comme le prØvoyait le

6“La qualitØ de Roumain s’acquiert, se conserve et se perd d’apr›sles r›gles dØterminØes par les lois civiles. Les Øtrangers de rites chrØtiens peuvent seuls obtenir la naturalisation ”. Consti- tutiondu30juillet (12 juillet) 1866 avec les modificationsyintroduitesen1879 et 1884.Loi Ølectorale du 8/20 juin 1884, Bucarest1884, p. 6(en FranÅais). 7Edda Binder–Iijima, Die Institutionalisierung der rumänischen Monarchie unter Carol I. 1866–1881 (Südosteuropäische Arbeiten, 118), Munich 2003, p. 68.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Judéophobie et antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre 205 projet de constitution. Le gouvernementretire la version initiale. NØanmoins, la foule se dirige vers la synagogue de Bucarest qui est dØtruite. Suite auxprotes- tationsdel’Alliance israØlite universelle aupr›sdugouvernement roumain, la situation des Juifs en Roumanie devientvite un probl›me europØen. DorØnavant, les objectifs nationaux fondamentaux et la reconnaissance internationale dØ- pendentdel’Ømancipation des Juifs.8 Le statut juridiquedes Juifs (notammentdes Juifs de l’immigration rØcente) est au cœur de la ‘question juive’.Apr›slevotedel’article 7, les Juifs nØssur le territoire de la Roumanie ne peuventpas Þtre ØmancipØsetles Juifs immigrØsne peuventpas ÞtrenaturalisØs. Ils restentdes Øtrangers sans Þtreles ressortissants d’un autre État ou bien ils bØnØficientdelaprotection d’un État voisin (supus stra˘in).9 Ce statut exasp›re la classe politique puisqu’elle yvoit l’occasion pour des intrusions, vues comme contraires auxintØrÞts de la nation roumaine, des grands voisins dans les affaires internes de l’Étatroumain pour limiter son autonomie :les protecteurs des Juifs deviennentainsi les ennemis de la nation et de l’État. C’est notammentlecas de l’Autriche-Hongrie. L’Øtude des archivesparlementaires et du minist›re de l’IntØrieur,des rØgle- mentationsgouvernementales et administratives, de la lØgislation, des inter- pellations et des dØlibØrations parlementaires sur les discriminations et lavio- lence contreles Juifs pendantles dØcennies 1860–1870 confirmentque la ‘question juive’en Roumanie se trouvedansceque Steven Englund appelle la “zone intermØdiaire ”, c’est-à-dire entrel’imaginaire spØcifique de l’anti- judaïsme et la politique moderne nationale et mobilisatrice (spØcifique à l’an- tisØmitisme.10 Ce sontles membresdelafamille libØrale (notammentles libØraux radicaux et la fraction libØrale indØpendante de Ias¸i)qui dØfendentlalØgislation et le discours antijuif et nationaliste et qui cherchentdes mesures administratives et lØgislatives pour expulser les Juifs sous prØtexte de “vagabondage ”, pour restreindre leurs droits civils (notammentledroit de possØder des terres) et pour limiter leurs activitØs Øconomiques, voire les exclure de certains mØtiers. On y perÅoit la volontØ de sØparer les Roumains chrØtiens et les Juifs selon des crit›res socio-professionnels. Ce sontdes mesures rØcurrentes au moins jusqu’en 1914.11

8Leon Volovici, NationalistIdeologyand Anti–Semitism. The Case of Romanian Intellectuals in the 1930s (Studies in Antisemitism), Oxford1991, p. 6. 9Les Juifs de l’immigrationrØcente sontpour la plupartdes sujets russes ou de l’Empire habsbourgeois.IrinaMarin, PeasantViolence and Antisemitism in Early Twentieth-Century EasternEurope, 2018, DOI: . 10 Steven Englund, De l’antijudaïsme à l’antisØmitisme, et à rebours, dans :Annales. Histoire, Sciences Sociales 69/4 (2014), p. 922. 11 Parexemple, Arhivele Nat¸ ionale ale României, Fond Ministerul de Interne, Diviziunea ad- ministrat‚iei centrale (inv. 2601, 1859–1867), dossier 394/1867, fol. 2–8, 12, 30, 35, 57–58, 82, 76–78, 104, 108 ;Ibidem (inv. 2602, 1868–1879), dossier 33/1869 ;Ibidem, dossier 64/1869, fol. 4, 7–8, 96 ;Ibidem, dossier 65/1870 ;Ibidem,dossier 105/1871 ;Ibidem, dossier 115/

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LesdØcennies 1860–1870 sont Øgalementune pØriodedeviolences antijuives, qui continuentd’ailleurs dans les villes comme à la campagne jusqu’à la Grande Guerre et bien au-delà.12 LeslibØraux se disentmodernes et progressistes en ce qu’ils rejettentles accusations de pogroms et de violence sur des bases religieuses, et ils dØfendentl’idØequ’ils entendent protØger à tout prix l’Øconomie et la nation roumaines.13 Commentdonc comprendrela‘question juive’ dans cette alliance entre modernitØ et judØophobie traditionnelle, dans un pays agraire oœ les Juifs, perÅus comme tr›svisibles, reprØsententnØanmoins un pourcentage rØduit de la po- pulation ?14 Leshommes politiques et surtout les libØraux, comme IonC.Bra˘tianu, Nicolae Ionescu ou A. D. Holban, essaientdetraduire leur crainte et celledeleurs con- temporains devantl’afflux rØcentdes Juifs, lorsqu’ils justifientles mesures dis- criminatoires comme autantdemoyens pour protØger les Roumains devantla menace juivede“dØnationalisation ”, c’est-à-dire devant la mise en pØrilde certains droits et privil›ges qu’ils consid›rent comme appartenantexclusivement auxRoumains. Ce protectionnisme ethnique est l’expressiondeleur crainte devantlaconcurrence Øconomique et sociale des Juifs rØcemment arrivØssur le territoire,encequ’ils occupent–de mani›re illØgitime, prØcisentles libØraux –la

1871 ;Ibidem (inv. 324), dossier 1171/1895;Mihai Chiper,“Ias‚ii sub cut‚itul hahamului ”. Antisemitism economic înprohibit‚ia ca˘rnii trif (1867–1868), dans :AnuarulInstitutului de Istorie “A.D.Xenopol ”52(2015), p. 245–268. 12 ParconsØquent, surtout de 1866 à 1878, se produit un processus de concentration urbainedes Juifs à cause de leur expulsiondes milieux ruraux, ce qui accentue leur paupØrisation.Un rØsumØ synthØtique des clivages Øconomiques et de la situationdes Juifs et autres Øtrangers comme intermØdiaires entreles paysans et les grands propriØtaires par Volovici, Nationalist Ideology(voir note 8), p. 4–9, 16–17. Voir aussi Iulia Onac, The Brusturoasa Uprising in Romania, dans :RobertNemes/Daniel Unowsky (dir.), Sites of European Antisemitism in the Age of Mass Politics, 1880–1918(Tauber Institute Series for the Study of European Jewry), Brandeis 2014, p. 79–93. 13 Monanalyse de la dimensionmoderne de l’hostilitØ contreles Juifs de 1866 à 1869 dans les dØbats parlementaires, dans Designing Citizenship.The “Jewish Question ”inthe Debates of the Romanian Parliament(1866–1869), dans :Quest. Issues in ContemporaryJewish History. Journal of Fondazione CDEC 3(Juillet 2012), URL : (dernier acc›s à tous les liens le 03/06/2017). 14 Le maximum atteintest de 10 %enMoldavieoœ,dans certaines villes et villages, la popu- lation juive devientpresque majoritaire. Pour les chiffres, Carol Iancu, Evreii din România (1866–1919). De la excluderelaemancipare,Bucarest1996 (Ød. fr.1978), p. 49, 161–164; Alexandru–Florin Platon, Geneza burgheziei înPrincipatele Române (a doua juma˘tate a secolului al XVIII–lea –prima juma˘tate asecolului al XIX–lea).Preliminariile unei istorii (Historica, 11), Ias¸ i1997, p. 314–317 ;Lloyd A. Cohen, The Jewish Question During the Period of the Romanian NationalRenaissance and the Unification of the two Principalities of Moldaviaand Wallachia, 1848–1866, dans :Stephen Fischer-Galati/Radu F. Florescu/George R. Ursul (dir.), Romania Between East and West. Historical Essays in MemoryofConstantin C. Giurescu (East European Monographs, 103), Boulder/NewYork 1982, p. 198.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Judéophobie et antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre 207 place qui, seloneux, devrait ÞtreassignØe à la bourgeoisie nationale. Lesministres de l’IntØrieur justifientles discriminations Øconomiques comme ØtantadressØes à tousles Øtrangers vagabonds, pas seulementaux Juifs, afin d’arrÞter l’immi- gration indØsirable. Cet antijudaïsme Øconomique et social fortinclut l’aversion traditionnelle contreles Juifs basØesur le prØjugØ religieuxlorsqu’il traduit la perception douloureuse (aux yeux surtout des libØraux) des clivages sociaux et Øconomiques entreles roumains et les Juifs, qu’ils conceptualisentcomme un enjeu national. LesJuifs entraîneront la nation roumaine vers “son annihilation et sa dØcomposition ”est une expressionqui apparaîtfrØquemment. Acet Øgard, le discours politique n’est pasoriginal,ilnefait que reprendredes arguments prØsents dans le vocabulaire de l’intelligentsia de l’Øpoque. ParconsØquent, comme en Russie, le gouvernementroumain tente de prendre des mesures ex- plicites afin d’isoler les Juifs de toutcontactavecdes sections de la sociØtØ roumaine considØrØes comme trop faibles pourrØsister à leurs ravages prØsumØs, et afin de limiter les activitØs Øconomiques des Juifs.15 L’antijudaïsme traditionnel resurgit Øgalementlorsque les libØraux se prØ- sententcomme modernes au nom de la “conservation nationale ”. Comme l’article 7delaConstitution est la cause principale des pressions Øtrang›res sur le gouvernement, les arguments antijuifs se renforcentpar le rejet de l’interfØrence des grandes puissances dansles affaires internes de l’État roumain. C’est d’ail- leurs la grande diffØrence par rapportaudiscours antijuif de la pØrioded’avant 1866 :les hommes politiques sontprØoccupØsavanttoutpar le respect de l’au- tonomie politique interne du si jeune État au nom de ce qu’ils appellent le “droit national ”, une expressiondelaphobie de l’intervention Øtrang›re. La ‘question juive’est une question strictementdedroit public et d’administration interne, et sa transformation en un th›me des rapports avec d’autres États n’est pas lØgitime, crienthautetfortles libØraux.16 Au nom du “droit national ”, qui, malgrØ son nom, est un espace non juridique et rel›ve de l’identitØ roumaine et du caract›re chrØtien de la nation, les Juifs doivent Þtreexclus des droits politiques. Au nom de ce supposØ droit, les libØraux justifientcequ’ils consid›rent Þtrelerefustradi- tionnel d’accorder la naturalisation et les droits politiques auxnon-chrØtiens, ØtantdonnØ,selon l’expressiondulibØral I. Codrescu, “lecaract›re Øminemment

15 John D. Klier/Shlomo Lambroza (dir.), Pogroms. Anti–Jewish Violence in ModernRussian History, Cambridge1992, p. 3–12 ;ToddM.Endelman, The Jews of Britain, 1656 to 2000 (Jewish Communities in the ModernWorld, 3), Berkeley/Los Angeles2002, p. 129. 16 Se reporter,par exemple,aux argumentsdeGh. Bra˘tianu, Monitorul Oficial n8281 du 21 dØcembre 1869/2 janvier 1870, sØance du 16 dØcembre1869, p. 1301 ;I.Codrescu,A.Georgiu, Monitorul Oficial n875 du 30 mars/11 avril1868, sØance du 24 mars 1868, S. 498 ;Monitorul Oficial n876 du 31 mars/12 avril 1868, sØance du 24 mars 1868, p. 504 ;Monitorul Oficial n8281 du 21 dØcembre1869/2 janvier 1870, sØance du 16 dØcembre1869, p. 1298–1300.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 208 Silvia Marton national et chrØtien du peuple roumain ”, condition primordiale depuis toujours, dit-il, pourl’existence de l’État roumain. LeslibØraux affirmentque les droits et l’existence Øtatique sontconditionnØs par l’appartenance à un groupe ethnique et culturel dominant,c’est-à-dire à la roumanitØ chrØtienne. Les Øtrangers, parce qu’Øtrangers et diffØrents, ne peuvent avoir acc›s à la sph›re des droits à cause de l’impØratifsuprÞme, la conservation de la nation, de laquelle dØpend l’existence Øtatique. Le principe fondamental de la modernitØ politique, à savoir la souverainetØ nationale, est d’ailleurs compris comme souverainetØ du groupe ethnoculturel, les Roumains.LaconsØquence logique en est que les Juifs17 ne peuventrecevoir des droits politiques, puisque dans certaines circonscriptions ils pourraientdevenir Ølecteurs (mÞme sous le syst›me du vote censitaire) et envoyerainsi des citoyens Juifs dansleparlement national, censØ reprØsenter uniquementlegroupe dominant. LeslibØraux n’hØsitentpas à exprimer leur mØpris des Juifs et àÞtrexØno- phobes au nom de leur souhait d’avoir une nation roumaine homog›ne du point de vueethnoculturel, ce qui leur semble le mod›le le plus dØsirable de com- munautØ du pointdevue à la fois normatif et politique. Au nom de l’homogØnØitØ, ils ontdes difficultØs à concevoir le pluralisme politique et social.18 Ils ne dØ- fendentpas une conception individualiste de la citoyennetØ,ils rejettentleplu- ralisme.19 Tous les hommes politiques, quelle que soit leur orientation politique, sont d’accordque la prioritØ,c’est la dØfense de “l’intØrÞtnational ”, au nom duquel une lØgislation restrictiveest nØcessaire,enØvitantenmÞme temps les critiques des puissances europØennes. Apartirdecepoint, cependant, les clivages poli- tiques se manifestent:tousles libØraux sont favorables à une lØgislation Øco- nomique et sociale discriminatoire à l’Øgarddes Øtrangers et particuli›rementdes Juifs, tandis que certains conservateurs envisagentlaconcurrence Øconomique des Juifs commeunØlØmentbØnØfique.20 Ce qui les rØunit nØanmoins, c’est la mani›re dontils conÅoivent tous le rôle de l’Étatunitaireetils dØfinissentla nation moderne comme homog›ne, d’oœ leur souhait de protØger la nationalitØ des autochtones chrØtiens confrontØsaux autres et surtout à l’altØritØ juive.C’est à

17 Et les autres Øtrangers chrØtiens seulementpar le processus compliquØ de naturalisation individuelle. 18 Dans le sens de Nancy L. Rosenblum, On the Side of the Angels. An Appreciation of Parties and Partisanship,Princeton2008. 19 Contrairement à la comprØhensiondelacitoyennetØ amØricaine, Frederic Cople Jaher,The Jews and the Nation. Revolution, Emancipation, State Formation, and the Liberal Paradigm in Americaand France, Princeton2003. 20 Le conservateur le plus connu dans le parlementpour ses arguments en faveur des Juifs est PetreP.Carp ;ses discours dans ConstantinGane, P. P. Carp s‚ilocul sa˘u înistoria politica˘ a t‚a˘rii, vol. I, Bucarest 1936.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Judéophobie et antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre 209 l’État qu’ils donnentcerôle d’agentcrØateur de la nation par des politiques d’homogØnØisation. Pour empÞcherl’installation permanente d’immigrØsconsidØrØscomme ethniquement et religieusementindØsirables, il est fondamental auxyeux des libØraux de continuer d’empÞcher leur naturalisation. Leur prØsupposØ ethno- national fait qu’il leur est impossible d’envisager l’attribution de la nationalitØ au titredujus soli (mÞme dans le cas des Juifs nØssur le territoire). On trouve le mÞme rejet du jus soli,lamÞme politique restrictivedenaturalisation et le mÞme souci de prØserverlanationalitØ ethnique à la fin du XIXe si›cle en Prusse orientale devantcequi est perÅu comme l’immigration d’ “ ØlØments indØsira- bles ”, les Polonais et les Juifs (“ indØsirables ”entermes ethnoculturels). Les mÞmes argumentssontformulØspar le gouvernementprussienque par celui roumain :pourjustifier le caract›re restrictif de la naturalisation,ilrepousse les accusations d’antisØmitisme et de persØcutions religieuses, et il Øvoque des raisons nationales devantl’immigration massivepour“la conservation de la nationalitØ ”allemande.21 Puisque l’Alliance israØlite universelle et les gouvernements europØens ac- cusentlaRoumanie de permettre des pogroms et la discrimination religieuse contreles Juifs, comme dans le passØ mØdiØvalsihonni, les gouvernements roumains persistent à refuser de prØsenter la ‘question juive’sous un aspect religieux. Justement à cause de ces accusations, ils rØpondentpar le contraire et exprimentune puissantexØnophobie (contre tous les Øtrangers, en fait) et une frustration Øconomique, toutenayant à l’esprit la hiØrarchie ethnique en faveur des Roumains :cesontles expressions du nationalisme au sens le plus moderne qui entend protØger le groupe ethnoculturel dominant, souhaitØ comme ho- mog›ne, devantles rivaux. LeslibØraux rejettentles accusations de judØophobie, ne voulantpas ÞtreperÅus comme illibØraux ou arriØrØs. Lesministres et les parlementairesveulentdØmontrer d’une mani›re obsessive que l’État roumain est souverain à l’intØrieur,qu’il est capable d’assurer l’ordreet la stabilitØ internes et de protØger sa nation-ethnie contreles immigrants rØcents considØrØscomme indØsirables et contreles accusations des grandes puissances. Ce qui ne les empÞche pas de s’appuyer sur les idØes traditionnelles de la ju- dØophobie pour dØcrire la diffØrence spØcifique entreles Juifs et les Roumains. Mais l’État roumain n’a pas un intØrÞtreligieux explicite et il ne cherche pas l’uniformisation religieuse. Il cherche avanttout à accomplir l’homogØnØitØ ethnique et culturelle. L’État-nation est vu comme le meilleur mod›le de com- munautØ politique, dansune logique continuelle de nationalisation. La con- structiondel’État-nation exerce une pressionextraordinaire sur les parlemen-

21 Rogers Brubaker,CitoyennetØ et nationalitØ en France et en Allemagne(Socio-histoires), Paris1997, p. 209–211.

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22 Apostol Stan, MirceaIosa, Liberalismulpolitic înRomânia. Delaorigini pâna˘ la 1918, Bucarest1996, p. 129–134 ;Dan Berindei (dir.), Istoriaromânilor, vol.VII, tom I, Consti- tuirea României moderne (1821–1878), Bucarest 2003, p. 567–573. 23 ConstantinIordachi, The Unyielding Boundaries of Citizenship.The Emancipation of “Non–Citizens ”inRomania, 1866–1918, dans :Revue EuropØenne d’Histoire8/2 (2001), p. 157–86. 24 Pieter M. Judson, Exclusive Revolutionaries. Liberal Politics,Social Experience, and National Identity in the Austrian Empire, 1848–1914(Social History, Popular Culture, and Politics in Germany), Ann Arbor 1996, p. 69–115. 25 Judson, Exclusive Revolutionaries (voir note 24), p. 97.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Judéophobie et antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre 211 discours antijuif et xØnophobenesepropose pas de former un mouvement, mais il est un moyen pourles hommes politiques (avanttout pourles libØraux) et l’intelligentsia de formuler leur philosophie de l’Étatetdel’identitØ nationale roumaine. Leur discours antijuif et nationaliste est à la fois une rhØtorique pour dØfendre leurs intØrÞts en tantqu’Ølite dirigeante, l’expressionsinc›re de leurs convictions et, surtoutunexercice pour dØfinir leur visiondel’Étatetdel’in- tØgration sociale et nationale. Ce discours s’appuie sur la judØophobie tradi- tionnelle et l’instrumentalise plus ou moins consciemment. Le cas roumain confirme la prØsence, le plus souventinconsciente ou implicite, du mØpris re- ligieux (chrØtien) contreles Juifs dans un imaginaire social plus large.26 Ce discours antijuif sertdonc à la formulation du nationalisme comme un moyen moderne de comprendre ce qui lie une communautØ politique. L’enjeu est moins la haine religieuse en soi, que le nationalismeofficiel, c’est-à-dire la construction de la nation homog›ne par le mØpris contreles Juifs. Leshommes politiques sontconvaincus d’Þtremodernes parcequ’ils sont si dØsireux de dØmontrer qu’il existe une capacitØØtatique (ausens wØbØrien). Mais les Juifs sontlàpour freiner la modernisation tantsouhaitØe. Le sentimentantijuif est inclus dans le discours nationaliste roumain, comme une variante moderne de xØnophobie dirigØepar l’État. Il estdonc à la fois prØtexte pour l’action et conviction. On n’affirme pas que, avant1878, l’hostilitØàl’encontredes Juifs, avec ses ØlØments modernes et instrumentalisØepar le discours officiel de l’État, soit une nouveautØ radicale :elle s’accommode des idØes anciennes de l’antijudaïsme le plus traditionnel. Mais dans sa forme de manifestation, cette adversitØ est indØniablementmoderne puisqu’elle doit ÞtreencadrØedans la mobilitØ sociale de la seconde moitiØ du XIXe si›cle, dans la mani›re diffØrente de faire la poli- tique, dans la progressiondes modalitØsdecontrôle Øtatique de la population et du territoire et dans une logique que l’on peut d’ores et dØjà appeler bureau- cratique.C’est-à-direque des moyens institutionnels et lØgaux sontutilisØs contreles Juifs pour restreindreleurs occupations et leurs activitØsetempÞcher leur naturalisation.D›s1867, on assiste à des interprØtations (par les ministres ou les prØfets) des prØvisions lØgales envigueur qui, ne s’adressantpas explicitement à un groupe ethnique ou religieux, permettent, de facto,des mesures contreles Juifs (surtout pendantles gouvernements dirigØspar les libØraux) :notamment les mesures pour “lalutte contrelevagabondage rural ”etpourlimiterles activitØs Øconomiques des Juifs. Paruneffet inverse, le sentimentantijuif s’exacerbeparce que les libØraux surtoutperÅoiventl’incapacitØ de l’État de contrôler sa population. Bien plus, ils expliquentl’impuissance de l’État en blâmantles Juifs, la figureancienne et si famili›re du coupable. Le sentiment antijuif est ainsi un instrumentpour consolider l’Étatetses capacitØsd’action.

26 Englund, De l’antijudaïsme à l’antisØmitisme (voir note 10).

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La conviction des hommes politiques et celle d’une grande partiedel’intel- ligentsia de l’Øpoque est qu’il yaune supØrioritØ ethnique Øvidente des Roumains par rapportaux Juifs, parce qu’ils sontles adeptes de l’Ømancipation nationale des Roumains. La prioritØ du momentest à la fois l’amØnagementdel’État et de son dispositif institutionnel et la dØfinition de la nation-ethnie. Dans cettelogique, la judØophobie et le nationalismeleur servent de plate-forme pour crØer le con- sensus national et lacohØsion sociale. La mobilitØ sociale liØe à la modernisation de la Roumanie ne dØclenche pas des conflits de classe, mais l’inimitiØ contreles Juifs et le nationalismequi traversenttoutes les catØgories sociales, sans dis- tinctions, comme une force d’union. Lestensions sociales sontcamouflØes parle discours antijuif grandiloquentqui souligne les intØrÞts communs contreun ennemi et qui souhaite avec ardeur consolider l’État et la nation.27 C’est la nature consensuelle de l’adversitØ contreles Juifs en Roumanie au XIXe si›cle, à l’opposØ d’autresantisØmitismes de la mÞme pØriodequi sontconflictuels. Cette carac- tØristique devientencore plus visible apr›s1878.

L’antisémitisme qua nationalisme:1878–1919

Avant1878, l’hostilitØàl’encontredes Juifs et la xØnophobie mettentenØvidence les tensions politiques et sociales entreles Juifs et les Roumains et elles rØv›lent aussi les difficultØsdes processus de constructionde l’Étatet de la nationdansune Roumanie qui n’existe que depuis peu. Elles montrent Øgalement les limitesdu libØralisme roumain et sa volontØ de dØfinir à tout prix la nation comme ho- mog›ne. Pendantlaseconde pØriode–du Congr›sdeBerlin de 1878 qui conditionne l’obtention de l’indØpendance par l’octroidelacitoyennetØ et des droits politi- ques auxJuifs en modifiantl’article 7delaConstitution de 1866, jusqu’à 1919, lorsque la Roumanie est de nouveaucontrainte parles grandes puissances de signer un traitØ,leTraitØ sur les minoritØs–l’inimitiØ contreles Juifs s’appuie fortementsur la premi›re pØriode, il yaun continuum et une Øvolution en mÞme temps. Une Øvolution dans le sens oœ l’on peut maintenantparler d’une idØologie cohØrente.28 L’adversitØàl’encontredes Juifs veut explicitementmobiliser et elle forme ses arguments sur la base d’une vision du monde et de l’identitØ nationale chrØtienne. La difficultØ d’utiliser le mot antisØmitisme dans la recherche n’entrepas dans

27 Voir aussi les considØrations de Marin, PeasantViolence and Antisemitism (voir note 9), p. 45–46. 28 Iancu,Evreii din România (voir note 14), p. 151 ;Volovici,Nationalist Ideology(voir note 8), p. 1–39.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Judéophobie et antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre 213 la sph›re de cette Øtude. On fait le choix pour un ancrage historique du mot pour le cas roumain.29 Il pØn›treprogressivementdans le vocabulaire, à tel pointqu’en 1895, annØe de la constitution de la Ligue antisØmitique, sa signification est Øvidente en soi. Cet usage est à la fois le signe d’une connotation autochtone –l’adversitØ contreles Juifs consubstantielle à la dØfinition identitaire et au nationalisme d’État–et de la volontØ de participer au mouvementantisØmite occidental plus large de la fin du XIXe si›cle. On l’a vu,la‘question juive ’est dØjà imbue d’antijudaïsme.30 Le clivage entrelelangage commun (plus clairement judØophobe) et le discours des Ølites (plus clairementnationaliste et xØnophobe, se prØsentantcomme moderne) n’en est pas un.31 Cette analyse suit celle de William Oldson32 et d’autresrecherches rØcentes dans sonsillage33 lorsqu’ellesoutientelle aussi que la datecharni›re est le Congr›s de Berlin. Leshommes politiques de toutes les sensibilitØs, mais surtout les libØraux, cherchent à tout prix à rØsister auxpressions des grandes puissances qui conditionnentlareconnaissance de l’indØpendance de la Roumanie par l’Ømancipation des Juifs.34 Ce sontces pressions pourlarØvision constitution- nelle qui crØentunfortressentimentantisØmite et qui Øl›ventl’antisØmitismeau rang de politique de l’État et à une questiondefiertØ et de dØfense nationale. L’ØgalitØ juridique entreRoumainsetJuifs, imposØepar les grandes puissances et non souhaitØepar les Ølitesroumaines, parach›ve le nationalisme d’État35 et fait que tousles nationalistes roumains sontdes antisØmites.36 La lutte obsessionnelle pour la reconnaissance de l’indØpendance, le protectionnisme ethnique et l’auto-

29 En suivantS.Englund, on se limite à souligner que le mot, avant1914, aunsens histori- quementcontingent, c’est-à-diretel qu’imposØ par son crØateur,Wilhelm Marr en 1879. 30 Steven Englund dØmontre d’une mani›re convaincante qu’avant1914, l’antisØmitisme ne peut pas exister sans l’antijudaïsme, en dØpit des affirmations des premiers utilisateurs (allemands, autrichiens et partiellementfranÅais) du terme pendantles annØes 1880 sur son caract›re moderne, libØrØ du prØjugØ liØàla religion et strictementpolitique :cet antisØ- mitisme proc›de en fait d’un imaginairesocial large avec ses fondements chrØtiens et d’une mentalitØ sous–politique, Englund, De l’antijudaïsme à l’antisØmitisme (voir note 10), p. 921. 31 Oisteanu, Imaginea evreului (voir note 4) adØmontrØ la circulation des mÞmes stØrØotypes antijuifs dans l’imaginairepopulaireetdans le discours des intellectuels. 32 William O. Oldson, AProvidential Anti-Semitism. Nationalismand Polity in Nineteenth CenturyRomania (Memoirs of the American Philosophical Society,193), Philadelphia 1991. 33 DontnotammentRaulCârstocea, Anti-SemitisminRomania:Historical Legacies, Con- temporaryChallenges, ECMI Working Paper 81 (2014), p. 1–39. 34 Pour les dØtails du diffØrend diplomatique, Oldson, Providential Anti-Semitism(voir note 32), p. 20–44, 73–96. 35 Voir aussi les arguments de ConstantinIordachi, The Unyielding Boundaries (voir note 23), p. 170. 36 Je paraphrase Dik van Arkel, The Drawing of the Mark of Cain. ASocio–historicalAnalysis of the Growth of Anti–Jewish Stereotypes, Amsterdam 2009, p. 187–188. Je remercie Steven Englundpour cette rØfØrence.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 214 Silvia Marton dØfense de l’orgueil national, perÅu comme trop souventblessØ,contreles con- traintes des puissances Øtrang›res, nourrissentcet antisØmitisme. Si avant1878, il s’agit d’un discours judØophobefondØ sur le prØjudice Øco- nomique et religieux à l’encontredes Juifs et des mesures discriminatoires au nom de la modernitØ, à partirde1878, le nationalismeantisØmite, pluscohØrent et plus doctrinaire, int›greleressentimentcontreles Juifs dans la naturemÞme d’ÞtreunRoumain et dans la dØfinition de l’identitØ nationale.37 Ce mØpris mobilise toute la classe politique, les intellectuels et l’Église, ØtantdonnØ que tous cherchentdØsespØrØment à crØer un État et à le consolider sur de solides bases identitaires. Il n’y apas des mouvements contrel’Étatetses politiques centra- lisatrices et il n’y apas des tensions liØes à la sØcularisation. Le caract›re unitaire et homog›ne de la nation roumaine reste l’obsession rØpanduedetoutes les Ølites. C’est ce qui explique l’opposition du parlement à la rØvision constitutionnelle et la rØvision de complaisance, apr›sdes dØbats houleux opposØs à l’Ømanci- pation. Lesargumentsdes parlementaires de 1879 sont identiques auxarguments des constituants de 1866.38 L’ØgalitØ religieuse pourl’acc›saux droits civils et politiques est contrebalancØepar une sØriedeconditions bureaucratiques –difficiles à rØunir –pour l’obtention de la naturalisation (individuelle),39 et par une distinction de qualitØ entre“nos Juifs ”(les Juifs sØpharades moins nom- breux et vuscomme autochtones, plus ØduquØsetdisposØs à l’assimilation), et les Juifs hassidiques vuscomme Øtrangers car arrivØsplus rØcemmentenRoumanie, infØrieurs, pauvres, “Polonais ”etnon intØgrØs. Que des personnesnon chrØ- tiennes, habitantenRoumanie et sans Þtreles ressortissants d’un autre État, doiventsuivre la mÞme procØduredenaturalisation individuelle comme tout Øtranger,continue de provoquer la critique des grandes puissances bien apr›s 1879. Si l’on regarde les chiffres, la stratØgiedelimitation de l’intØgration des Juifs par des procØdures bureaucratiques de naturalisation,ladistinction de qualitØà l’appui qui permet auxhommes politiques de ne pas paraîtreouvertementdis- criminateurs, semble avoir portØ les fruits escomptØs. L’opposition est radicale à

37 Oldson, Providential Anti–Semitism (voir note 32) ;Dietmar Müller,Staatsbürger aufWi- derruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nations- code. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte 1878–1941 (Balkanologische Veröffentli- chungen, 41),Wiesbaden 2005 ;Iordachi, The Unyielding Boundaries (voir note 23). 38 Les ØlØments du dØbat dans Oldson, Providential Anti–Semitism (voir note 32), p. 51–73 et dans Iulia Onac, Romanian ParliamentaryDebate on the Decisionsofthe Congress of Berlin inthe Ye ars Around 1878–1879, dans :Quest. Issues in ContemporaryJewish History. Journal of FondazioneCDEC 3(Juillet 2012). URL : . 39 La demandedenaturalisation individuelle doit ÞtrevotØedans les deux chambres, des preuves sontrequisespour dØmontrerlaprØsence active sur le territoire pendantune pØriode de 10 ans, alors que la dispense de ce stage est difficile à obtenir.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Judéophobie et antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre 215 l’Ømancipation en bloc(àl’exception des Juifs ayantcombattu pendantlaguerre d’indØpendance de 1877) et les naturalisations individuelles, via la procØdure parlementairedifficile, sonttr›speu nombreuses apr›s1879.40 Lesconditions Øconomiques prØcaires et cette “persØcution lØgale ”fontqu’environ52000 Juifs quittentlepaysde1899 à 1907.41 NØanmoins, à la mÞme Øpoque, il existe une intellectualitØ juivemoderne, spØcialisØe, laïque et intØgrØedans l’espace culturel, tandis que de nombreux Juifs occupentdes professions d’Ølite dans l’Øconomie et les finances.42 Apr›slarØvision de l’article 7, la nØgation quasi-obsessionnelle de l’existence d’une ‘question juive ’s’explique par le fait que cetteexpressionveut dire, selon les contemporains, que l’on continue à faireladiffØrence entreles Øtrangers sur des crit›res religieux. Or,comme les Juifs ontlemÞme statut lØgal que tous les autres Øtrangers et ne constituentplus un cas spØcial, il n’y aplus de ‘question juive’,ilnereste que deux catØgories,les Roumainsetles Øtrangers (chrØtiens et non chrØtiens) –c’est l’opinion commune des nationalistes comme des modØrØs. Ils accusenttousque les ennemis de la nation roumaine perpØtuentla‘question juive’par leurs calomnies, alors qu’en Roumanie il n’y ajamais eu des persØ- cutions religieuses. Lesennemis des Roumains et les amis des Juifs veulent prØcisØmentcrØer une ‘question juive’,poursuivent-ils, c’est-à-dire crØer un rØgime distinctpourles Juifs. Ces ennemis poussentlaRoumanie àrØintroduirela diffØrence religieuse, cette fois-ci contreles chrØtiens et en faveur des Juifs, alors que tousles Øtrangers ont ØtØ assimilØsaux Juifs afin d’effacer toute diffØrence de croyances religieuses entreles Øtrangers. C’est aussi la logique de ceux qui re- jettentlanaturalisation en blocd’un groupe ethnique ou religieux. C’est dans ce sens Øgalementqu’il faut comprendre l’une des dØnonciations les plus paradoxales de la rØvision de 1879 :puisque la Roumanie a ØtØ forcØepar les grandes puissances d’assimiler tous les Øtrangers (ouressortissants d’un autre État) auxJuifs et qu’elle n’a pas pu assimiler les Juifs aux Øtrangers chrØtiens, la consØquence en est que le nombre des Øtrangers aaugmentØ et ainsi l’homogØ- nØitØ nationale tantsouhaitØen’est pas encore possible. Bien plus, on arrive à

40 Leschiffres disponibles sontfluctuants :529 nouveaux citoyensjuifs à la veille de la Premi›re Guerremondiale, O. Oldson, Providential Anti–Semitism (voir note 32), p. 152 ;4668 na- turalisations jusqu’en 1913, Victor Neumann, Repere culturale ale antisemitismului din România însecolul al XIX–lea, dans :Institutul de teorie sociala˘ al Academiei Române (dir.), Ideea care ucide. Dimensiunile ideologiei legionare, Bucarest 1994, p. 42. Selon un con- temporain :1867–1879–462demandes de naturalisation, 277 admises;1879–1902–5981 demandes, 2381 admises et 871 naturalisations en 1879, N. Basilescu, Studii sociale. Evreii în România (Extrase din ziarul “Cronica”),Bucarest 1903, p. 176–177. 41 Keith Hitchins, România. 1866–1947 (Istorie), Bucarest 1996, p. 185. 42 Liviu Rotman, Tradit‚ie s‚ieuropeanism înlumeaiudeo–româna˘ la ra˘spântia secolelor XIX s‚i XX,dans :Carol Iancu (dir.), Permanent‚es‚irupturi înistoria evreilor din România (secolele XIX–XX), Bucarest2006, p. 125–132.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 216 Silvia Marton favoriser les Juifs, ce qui est inacceptable pour tous les nationalistes. La Loides mØtiers de 1902, parexemple, prØvoit que, pourÞtreadmis à l’exercice des mØtiers ØnumØrØspas la loi, les Øtrangers doiventprouver qu’il existe dans leur pays un droit de rØciprocitØ pourles Roumains. Mais comme les Juifs non-naturalisØs vivant sur le territoire roumain dØpendentdel’Étatroumain et ne sontpas des Øtrangers danslesens dØfini par cette loi (c’est-à-dire ressortissants d’un autre État), ils peuvent de jure exercer tousles mØtiers.Alorsque les Øtrangers “as- similables ”–adjectifque l’on doit lirecomme un euphØmisme pour les chrØ- tiens –sonttenus de respecter la loi et ainsi leur acc›s à l’exercice de certains mØtiers demeure difficile. La lØgislation et les mesures administratives qui limitentles activitØs Øco- nomiques des Juifs continuentelles aussiapr›s1879. LesJuifs ØtantrØduits à leur dimension lØgale, celle d’Øtrangers, les lois et les dØcisionsadministratives sont formulØes dans la logique du protectionnisme à la fois ethnique et Øconomique (protectiondelamain d’œuvre nationale, du travail national et de la petite bourgeoisie Ømergeante).43 Le commerce, de nombreux mØtiers,lafonction publique, les professions libØrales, les hautes fonctions dans le domaine de la santØ et dans l’armØesont de facto rØservØsquasi-exclusivementaux citoyens Roumains. La loi sur les Chambres de commerce de 1881 et le Code Commercial de 1887exigent la citoyennetØ roumainepourcertaines fonctions et professions.44 Unetelle situation provoque les critiques des gouvernements occidentaux qui à leur tour exacerbentles antisØmites et les patriotes roumains. La discrimination bureaucratique accompagne le dØploiement idØologique de l’antisØmitisme qua nationalisme qui, ne pouvantplus empÞcher l’Ømancipation, cherche à toutprix à la freiner.Onassiste ainsi à la prolifØration des arguments dans lesquels l’antisØmitisme reste le noyaudur qui estinclus dans la xØnophobie et le nationalisme plus larges. LesprØjugØscontreles Juifs sontassociØs à l’essence de la culture et de la tradition roumaine, tandis que la xØnophobie et l’anti- judaïsme sontenrichis et lØgitimØspar la crØativitØ conceptuelle des grandes figures influentes de la culturepour lesquelles ÞtreRoumain, nationaliste et patriotedeviennentsynonymed’ÞtreantisØmite.45 Le trait spØcifique de cet antisØmitismenationaliste restesapersistance à souligner la suprØmatie des Roumains –chrØtiens, attribut identitaire qui va de soi –etdeleur roumanitØ,etnon la destruction per se des Juifs selon une loi

43 Mihai Chiper,Olteni contraevrei la Ias‚i. Lect‚ia unei coloniza˘ri economice es‚uate(1882À 1884), dans :AnuarulInstitutului de Istorie “A.D.Xenopol ”51(2014), p. 157–181. 44 Hitchins, România (voir note 41), p. 185 ;Armin Heinen, Legiunea “Arhanghelul Mihail ”. Mis‚care sociala˘ s‚iorganizat‚ie politica˘.Ocontribut‚ie la problema fascismului internat‚ional, Bucarest 22006 [1986],p.57. 45 Oldson, Providential Anti–Semitism (voir note 32), p. 99 ;Müller,Staatsbürger aufWiderruf (voir note 37), p. 30–105, 145–175, 211–408, 454–476.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Judéophobie et antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre 217 raciale, puisqueleur situation peut ÞtretraitØepar une forte discrimination bureaucratique. En lØgitimantl’antisØmitisme par son incorporation dans le discours sur l’identitØ nationale, les hommes politiques et l’intelligentsia tol›rent les violences occasionnellesetnon-thØorisØes contreles Juifs dans lesquelles les prÞtres orthodoxes ontd’ailleurs un rôle de premier plan.46 Ils saventtous qu’il existe des moyens bureaucratiques pourles exclureetles discriminer. La conviction des nationalistes plus modØrØsest qu’en Roumanie il yaune question Øconomique et sociale qui concerne tousles Øtrangers, quelle que soit leur religion. Le but d’un tel argumentest d’Øviter de placer les Juifs dans une catØgorie spØciale et de les inclure dans la catØgorie plus large des Øtrangers. Mais pour tousles nationalistes roumains, le conflit Øconomique reste essentiellement une question de conservation nationale,47 d’une nation qui est considØrØecomme insuffisammentconsolidØedupointdevue politique et identitaire.C’est ce qui leur permet de faire la diffØrence entrelesentimentreligieux et la conservation nationale. Ils disentnepas s’en prendre au Talmud, dans ce sens ils peuventdire que la tolØrance religieuse atoujours existØ dans les terresroumaines et que le statut des Juifs est un simple enjeu Øconomique et social. Lesanciens quarante-huitards et libØraux nationalistes, les intellectuels conservateurs et mÞme certains intellectuels (post)romantiques sonttous des progressistes et des adeptes de la sØcularisation,mais ils sacralisentlanation48, dans ce sens ils se disenttous Þtredes modernes. Ils comprennentlareligiondu peuple roumain le plus souventcomme un attribut ethnique et culturel. Mais lorsqu’il s’agit des Juifs, la religion joue un rôle de premier plan :elle devientla diffØrence spØcifique. Le judaïsme est vu comme un attribut à la fois ethnique et religieux et l’identitØ de groupedes Juifs est toujours considØrØe à travers leur religion. Cette intelligentsia est sØcularisante lorsqu’elle propose des rØformes concr›tes pour la modernisation du peuple-ethnie roumain, mais elle puise dans le registre et le vocabulaire chrØtiens d›sque la dØfinitionidentitaire par rapport auxJuifs est l’enjeu. Cette diffØrence spØcifique est formulØed’une mani›re plus systØmatique apr›s1878. D’une mani›re gØnØrale,lastratØgie idØologique des Ølites roumaines du XIXe si›cle –des libØraux nationalistes auxpositivistes plus modØrØsducercle in-

46 Onac, The Brusturoasa Uprising (voir note 12), p. 79–93 ;Carol Iancu,Evreii din Hârla˘u. Istoria unei comunita˘t‚i(Historica. Dagesh, 2), Ias‚i2013 ;Marin, PeasantViolence and An- tisemitism (voir note 9). 47 Leon Volovici fait cette remarque pour M. Eminescu, Volovici, Nationalist Ideology(voir note 8), p. 12. 48 Balµsz TrencsØnyi, Historyand Character.Visions of National Peculiarityinthe Romanian Political Discourse of the 19th Century, dans :Diana Mishkova(dir.), We,the People. Politics of National PeculiarityinSoutheastern Europe, Budapest 2009, p. 139–178, URL : ,§69.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 218 Silvia Marton tellectuel Junimea (LaJeunesse) et jusqu’auxagrariens conservateurs et natio- nalistes –est de relier la conception normative de l’“ essence ”etdela“tradi- tion ”nationales au projet de modernisation, en somme,dedØcliner un discours ethnicisant à la fois sur la politique et sur l’identitØnationale.49 Dans cette logique, il va de soi que les diffØrences essentielles entreles Roumains et les Øtrangers sont ethniques. Mais comme dans l’autodØfinition identitaire, le caract›re chrØtien de la nation roumaine est implicite,les Juifs sontdiffØrents parleur diffØrence spØcifique qui tient à la fois à leur race, à leur cultureetàleur religion. L’horizond’attente apr›s1878 est soit l’assimilationjusqu’à la disparition de la spØcificitØ juive;soit la sØparation comprisecomme expulsion ou expatriation. Mais ØtantdonnØ la diffØrence religieuse irrØductible, l’assimilation est en fait impossible et les Juifs eux-mÞmes ne la veulentpas :indiffØrents à leurs propres contradictions, les contemporains sontconvaincus que la grande majoritØ des Juifs sontrØcemmentarrivØsenRoumanie (aumilieu du XIXe si›cle), ils sont non assimilØs, ils sontnon assimilables et ils ne veulentpas l’Þtre.50 La seule mani›re de conserver“l’idØenationale roumaine ”serait de transformer les Juifs en de “vrais Roumains ”dupointdevue culturel, ethnique, religieux et des intØrÞts, pour dØfendre “lapuretØ de la race”et la langue, les traditions et l’autonomie de l’État. La conviction sous-jacente est que les Juifs veulenttoujours nuire aux Roumains, dØlibØrØmentetavecprØmØditation. On retrouve la mÞme conviction chez des hommes politiques conservateurs qui passentpourdes modØrØsdans leur adversitØ auxJuifs. En 1886, lorsque le congr›sdeconstitution de l’Alliance anti-israØlite universelle alieu à Bucarest et Édouard Drumontest Ølu son prØ- sident,51 le porte-parole du parti conservateur,lejournal Epoca,tient à expliquer dans son Øditorial que les participants au congr›ssesonttrompØsenfaisantdela ‘question juive’ une affaire de religion.52 “Notre religion n’est pas du tout menacØepar le Juifs ”, peut-onylire, alors que cet argument“fait le jeu des Juifs […] de Londres ou de Paris”qui dØfendentleurs coreligionnaires en accusantles Roumains d’intolØrance religieuse fanatique. Lavraie naturedecettequestion est nationale, poursuit l’Øditorial, et le vrai risque, c’est la perte de la nationalitØ :les Roumains, qui formentune nationpetite, sont menacØspar la “dØgØnØrescence ” nationale au contactavec les Juifs, une citation de Gobineau à l’appui pour expliquer l’expression“peuple dØgØnØrØ ”. La dØfinition identitaire roumaine obsØdØepar la diffØrence par rapportaux Juifs est Øgalementnourriepar les ambiguïtØsduvocabulaire pour dØsigner le corps collectifroumain (peuple, nation, neam). Apr›s1879, le refus de la na-

49 TrencsØnyi, Historyand Character (voir note 48). 50 Un seul exemple, parmi tantd’autres, Basilescu, Studii sociale (voir note 40), p. 145–146. 51 Volovici, Nationalist Ideology(voir note 8), p. 18. 52 Epoca, le 29 aoßt1886.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Judéophobie et antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre 219 turalisation des Juifs –mÞme dans le cas d’intellectuels reconnus, nØsetØduquØs en Roumanie (“ nos juifs”autochtones), comme Laza˘rS‚a˘ineanu, folkloriste et linguistedelalangue roumaine–partdelaconviction de l’impossibilitØ de l’assimilation. Ce refus estfait sur la base du neam,mot qui renvoie à peuple- ethnie dansson unitØ culturelle, chrØtienne et historique.53 La tergiversation bureaucratique de sa naturalisation aeuungrand Øcho.54 S‚a˘ineanu est dØcrit comme diffØrentpar sa nature et donc incompatible avec le neam et sa spiri- tualitØ,uncheval de Troie pour nuire à la nationalitØ roumaine.Son Ørudition en philologie roumaine devientparadoxalementson talon d’Achille :les parle- mentaires estimentqu’un Juif ne peut passaisir le fond de la langue, la cultureetla spiritualitØ roumaines et donc il ne peut pas “sentir”avec le neam au sein duquel il aspire entrer parlanaturalisation. L’affaire S‚a˘ineanu met en lumi›re le fait que sa non-appartenanceauneam renvoie àune diffØrencespØcifique insurmontable, le Juif Øtantdecefait un ØlØment“nocif ”(moralement) et “dangereux ”(so- cialementetpolitiquement) au sein de la nation-ethnie roumaine. La judØitØ est encore plus subversive dans le cas d’un intellectuel reconnupubliquement, censØ Þtreunexemple pourses contemporains. L’expressionqui continue de revenir sans cesse depuis 1866 dans les discours de l’intelligentsia et des parlementaires –selon laquelle les Juifs risquentde former “unÉtat dans l’État”ou une “nation dans la nation ”–n’illustre pas simplementl’angoisse identitaire collective.Elle fait Øcho à la conviction que les Juifs sont une communautØ religieuse qui forme une nation exclusivequi veut subjuguer les Roumains ;55 et que, par consØquent, ils sontincapables de s’in- tØgrer dans la communautØ homog›ne des Roumains, puisqu’ils constitueraient des ØlØments non fiables au sein de la nation autochtone chrØtienne. Il estvrai, l’orthodoxisme politique est le trait caractØristique des annØes 1920–1930 lorsque le mot neam englobe à la fois la nation-ethnie chrØtienne orthodoxeetlarace au sens biologique.56 Alafin du XIXe si›cle, le sens de neam

53 “UnØtranger par rapport à l’essencedenotre peuple–ethnie ”(“un stra˘in de fiint‚aneamului nostru ”) est une expression qui apparaîtsouvent à l’Øpoque. 54 Luca Vornea, Laza˘rS‚a˘ineanu. Schit‚a˘ biografica˘ urmata˘ de obibliografie critica˘,Bucarest 1928 ;George Voicu, Radiografia unei expatrieriCazul Laza˘rS‚a˘ineanu, dans :Caietele In- stitutului Nat‚ionalpentruStudiereaHolocaustului din România “Elie Wiesel ”1/3 (2008), p. 7–83. 55 Voir aussi Heinen,Legiunea (voir note 44), p. 68–69. 56 Ces aspects ontbØnØficiØ d’amples Øtudes :Volovici, NationalistIdeology(voir note 8), p. 45–180 ;Mihai Chioveanu, Sacralizing the Nation. The Political Messianism of the Legion “Archangel Michael ”, dans :Traian Sandu(dir.), Vers un profil convergentdes fascismes ? ‘Nouveauconsensus ’etreligionpolitique en Europecentrale (Cahiers de la nouvelle Europe, 11), Paris2010, p. 83–94 ;Mihai Chioveanu, Political Cultureand IdeologyinInterwar Romania, dans :Alexandru Zub/AdrianCioflânca˘ (dir.), Political Cultureand Cultural Po- litics in ModernRomania, Ias‚i2005, p. 195–210;ConstantinIordachi,Charisma, Politics and

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 220 Silvia Marton inclut la race comprisecomme communautØ culturelle nationaleetcomme identitØethnique des Roumains. C’est le philosophe Vasile Conta (1845–1882) qui est communØmentconsidØrØcomme le crØateurde cet antisØmitismeidØologique en Roumanie :une nationalitØ est, d’apr›slui, une unitØ de race et de religion qui formentlabase de l’existence Øtatique et de la nation homog›ne.57 Cependant, on asoulignØ d’une mani›re convaincante que mÞme dans les Øcrits d’AlexandruC. Cuza et Nicolae C. Paulescu d’avant 1919, les deux thØoriciens de l’antisØmitisme roumain, la race aunrôle secondairepar rapport à la diffØrencereligieuse et ethnique.58 Apr›s1878, l’angoisse de l’intelligentsia sur la dØgØnØrescence et la dØperdi- tionde la nationroumaine(comprisesurtoutcomme neam),infligØes par les Juifs et par les Øtrangers, prend une nouvelle ampleur dans le discoursidentitaire.D›s les annØes 1860, Bogdan Petriceicu Has‚deu est l’une des premi›resvoix d’autoritØ à articuler cette peur.Ilprofesse que le dØveloppement Øconomique et national des Roumains ne sera pas possible tantque les Øtrangers et surtoutles Juifs ne disparaissentpas de larges secteurs Øconomiques et sociaux qu’ils contrôlent, et il interpr›te toute l’histoire des Roumainscomme une histoire des luttes contreles Øtrangers,59 selon une grille de lecture ethnicisante. En 1902, dans un article profession de foi, il s’auto-dØfinit comme un antisØmite depuis toujours, c’est-à- dire quelqu’un qui accepte les Juifs s’ils sont“roumanisables ”(“românizabi- li ”) et les Ølites, mais non les Juifs “bigots ”oules ØmigrØsrØcents qui doivent rester à perpØtuitØ des Øtrangers.60 Pour Mihai Eminescu, po›te reconnuqui met ses idØes nationalistescon- servatrices au service du journalisme militant,61 l’antisØmitisme asasource dans la mÞme logique de prØservation ethno-nationale. Son souhait le plus ardentest de sauver la vraie nation exploitØeethumiliØepar les Øtrangers et surtout par les Juifs, les Øtrangers de l’intØrieur qu’il voit comme les plus nuisibles. Il utilise le terme Juif comme un dØnominateur collectifpour une catØgorie mØprisØeet comme le contraire absolu de ce qu’il admireleplus, la roumanitØ chrØtienne. Si les libØraux nationalistes des annØes 1860–1870 parlentaunom du corps

Violence. The Legion of the “ Archangel Michael ” in Inter–war Romania (Trondheim Studies on East European Cultures & Societies), Trondheim 2004. 57 Volovici, NationalistIdeology(voir note 8), p. 14–15 ;TrencsØnyi, Historyand Character (voir note 48), §42. 58 Heinen, Legiunea (voir note 44), p. 59–86.Cuza et Paulescu dØvelopperont la dimension religieuse de leur antisØmitisme surtout dans les annØes 1920 ;Volovici, NationalistIdeology (voir note 8), p. 22–30. 59 Bogdan Petriceicu Has‚deu, Opere. IV.Publicistica politica˘.1858–1904 (Colect‚ia “Opere fundamentale ”), Bucarest2007, p. 210–242, 1438–1444. 60 Hasdeu, Publicistica politica˘ (voir note 59), p. 1574–1580. 61 Au profit du Particonservateur.Comme journaliste, Eminescu (1850–1889) a ØtØ plus po- pulaire pendantsapostØrioritØ immØdiate que pendantsavie.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Judéophobie et antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre 221 collectifnational lorsqu’ils dØcriventlamenace juivecomme “dØnationalisa- tion ”, l’intelligentsia de l’apr›s1878 parle de la dissolution des structures so- ciales traditionnelles (“ vraies ”) dans leur combat contreles Juifs. On ne peut qu’Þtred’accordavec l’affirmation selon laquelle la reformulation –due surtout à B. P. Has‚deu et à M. Eminescu –delaplace de l’ethnos dansl’histoire roumaine a ØtØ cruciale dans le processus de transformation, voirede destructiondu discours politique libØral avec ses racines quarante-huitardes.62 Autrementdit, l’apr›s- 1878 consacrelaprimautØ de la cultureetdel’authenticitØ ethnique dansla comprØhensiondulien politique, au dØtrimentdusocial et du politique pro- prement-dit. Lacultureest le seul ØlØmentqui reste de l’hØritage quarante-huitard lorsque le militantisme culturel, social et politique allait de pair.63 Le mØpris religieux, social et Øconomique de longue durØecontreles Juifs se retrouveauservice de la recherche identitaire obsessive, de la consolidation Øtatique et de la surviedelanation assaillie à la fois par les Juifs et par les grandes puissances europØennes. L’impossibilitØ pourles Juifs de s’assimiler auxau- tochtones, la puretØ raciale et les thØories conspirationnistes entrentdorØnavant dans la rØflexion des intellectuels sur la naturedes Roumains et sur le monde rural vu comme le dØpositairedelavraie tradition, le fond commun des courants agrariens-conservateurs nationalistes qui apparaissent à la fin du XIXe si›cle (et qui s’Øpanouissentdans des mouvements d’extrÞme droiteapr›slaGrande Guerre).64 Le mouvementculturel autour de la revue Sa˘ma˘na˘torul (LeSemeur,fondØeen 1901) est le plus dynamique. C’est Nicolae Iorga son grand animateur et qui formule sa doctrine.65 Il fonde la revue nationaliste la plus longØvive,66 Neamul Românesc,en1906, qui sympathise avec la Revue de l’Action FranÅaise. Son ami A. C. Cuza est l’un de ses premiers collaborateurs.Ils crØentensemble le Parti nationaliste-dØmocrate en 1910, apr›sleur premi›re collaboration pour con- stituer l’Alliance antisØmite universelle en 1895. Le parti continue les idØes formulØes autour de Sa˘ma˘na˘torul,ilcultivelaxØnophobie et l’exaltation de la

62 TrencsØnyi, Historyand Character (voir note 48), §46. Avec des rØpercussions sur la tension insurmontable entreladØmocratie et le nationalismependantles annØes 1920–1930. 63 C’est ce que sugg›re Victor Neumann, Istoria evreilor din România. Studii documentare s‚i teoretice, Timis‚oara 1996, p. 161–168. 64 Sur le rôle des idØes de B. P. Has‚deu, M. Eminescu, N. Iorga et A. C. Cuza dans le dØvelop- pementdel’extrÞme droite roumainedel’apr›s1919, Heinen, Legiunea (voir note 44), p. 87–116 ;EugenWeber, România, dans :HansRogger/Eugen Weber(dir.), Dreapta euro- peana˘.Profil istoric, Bucarest1995, p. 390 ;Volovici, Nationalist Ideology(voir note 8), p. 41–60. 65 Zigu Ornea, Sa˘ma˘na˘torismul, Bucarest 31998 [1970].Pour l’activitØ de Iorga, voir ses mØ- moires Oviat‚a˘ de om. As‚acum afost, Bucarest 1934, vol. II, p. 120–140. 66 PubliØejusqu’en 1940.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 222 Silvia Marton nationroumaine chrØtienne et de ses paysans, et il est ouvertementantisØmite.67 Il s’adresse surtout auxintellectuels, à la jeunesse Øtudiante et à la petite bour- geoisie, dontnotammentles instituteurs et les prÞtres des villages, et il dØfend le droit de vote universel masculin. Cuza et Iorga sonttousles deux professeurs à l’universitØ et ils utilisentleur chairepourpropager leurs idØes, toutenØtant Øgalementdes publicistesactifs et dØputØs. Iorga et Cuza vont le plus loin dans la rØflexion sur le neam et son opposition insurmontable auxJuifs. Ils dØfinissentl’État national comme propriØtØ de la race-ethnie roumaine. Comme l’État appartientorganiquement au neam rou- main, il ne peut reprØsenter que le neam, et non les Juifs. C’est une vision à la fois organique et patrimoniale sur l’État national crØØ par les Roumains et en rapport exclusif avec les Roumains qui doivent seuls possØder leur Étatetleur territoire.68 Dans une telle logique, l’intØgration et mÞme l’assimilation des Juifs sont im- possibles. La seule solution est de les isoler de tousles secteurs de la sociØtØ. On voit que le dØploiement des arguments antisØmites apr›s1878 rel›gue à un niveaumodØrØ l’argumentairedes libØraux de 1866 lorsqu’ils exprimaientleur protectionnisme Øconomique et leur xØnophobie pour affirmer les capacitØs rØgaliennes de l’État. Le nationalismeofficiel int›gredØsormais l’antisØmitisme. Il permet aux Ølites de prØsenter leur visionsur la cohØsion et sur l’identitØ nationales chrØtienne. Lorsque N. Iorga ou le mouvementSa˘ma˘na˘torulprÞchent la xØnophobie, l’antisØmitisme et l’idØalisation du passØ,sous la banni›re de la renaissance morale, pour rØpondreaux malaises sociaux, les politiques sociales ou Øconomiques concr›tes sontrelØguØes au second plan, voireignorØes. Par ailleurs, 1866 à 1919 il estimpossible de faire de la mobilisation politique sur la base d’un programme exclusivementantisØmite, puisquel’antisØmitisme est implicitedansles politiques de deux grands partis, LibØral et Conservateur.69 Lorsque les progressistes essaientd’expliquer les tensions entreles Juifs et les Roumains, ils reprennentles idØes principales des libØraux d’avant1878 dansleur lutte contrelevagabondage. Ils essaientenvaindesØparerl’antisØmitisme (qu’ils dØfinissentcomme le mØpris directe et religieux contreles Juifs) et le nationa- lisme (dont les caractØristiques seraientleprotectionnisme Øconomique et la xØnophobie), à une Øpoque oœ les nationalistes antisØmites roumains sontdØjà familiers des idØes de Drumont. Ce discours progressistereste marginal et il joue sur l’antisØmitisme Øconomique et social (et donc il se prØsente comme non religieux). C’est le cas du courantagrarien progressiste autour de la revue Viat‚a

67 Pour le programme du parti et pour l’activitØ politique de Iorga, RaduIoanid, Nicolae Iorga and Fascism, dans :Journal of ContemporaryHistory, 27/3 (1992), p. 467–492. 68 Voir notammentNicolae Iorga, Problema evreiasca˘ la Camera˘.Ointerpelare, cu ointro- duceredeA.C.Cuza s‚inote desprevechimea evreilor înt‚ara˘,Va˘lenii de Munte1910. 69 Volovici, Nationalist Ideology(voir note 8), p. 18.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Judéophobie et antisémitisme en Roumanie avant la Grande Guerre 223

Româneasca˘ (LaVie Roumaine), fondØ en 1906 par ConstantinStere.70 La revue salue la baisse de la population juive “parasite ”par l’Ømigration et la baisse de la natalitØ,comme rØsultatdelabonne “politique d’autodØfense Øconomique ” menØepar le gouvernementdirigØ parles libØraux de 1879 à 1888, pour Øviter “l’invasion Øconomique ”.71 George Panu fait, lui aussi, figuredemodØrØ et il se prØsente comme un antisØmite “sage ”lorsqu’il accuse les “vrais ”antisØmites roumains d’Þtrenon- scientifiques, fanatiques et esclaves des superstitions et de la haine.72 Panu re- prend la distinction entreles Juifs autochtones et les Juifs immigrØsrØcemment, mais il dØfend leur naturalisation individuelle. Il fait figure de progressiste lorsqu’il recommande l’assimilation des Juifs (surtoutpar l’Øducation). Ils par- ticiperaientainsi à la communautØ d’intØrÞts gØnØraux de tous les citoyens. La ‘question juive ’est, d’apr›slui, de nature simplement Øconomique, et non religieuse et politique :l’État devrait soutenir la bourgeoisie nationale et lutter contrelapauvretØ par de vraies mesures Øconomiques et sociales protection- nistes. AladiffØrence des “vrais ”antisØmites qui expliquentl’exploitation Øconomique par la diffØrence religieuse des Juifs par rapportaux Roumains chrØtiens, Panu et Stere disentque l’exploitationdes paysans est faite partous les Øtrangers, quelle que soit leur religion, et mÞme par des Roumains riches. La conclusion de Panu et de Stere est que le probl›me de la Roumanie est un probl›me Øconomique et social et que les Juifs ne sontpas le vrai enjeu. Alors que pour tous les nationalistes antisØmites –comme Eminescu, Iorga ou A. C. Cuza –, cette conclusion fonctionne à l’inverse :les Juifs et les Øtrangers sontles causes des probl›mesdelanation roumaine chrØtienne. Il n’est donc pasdutout Øtonnant que Stere et Panu soientlacible de prØdilection de Iorga et de Cuza. En suivantlalogique du complot total, ces derniers crienthautetfortque Stere et Panu sont vendus auxJuifs et ils accusenttoute la classe politique “traîtresse ” d’Þtrevendue auxJuifs (“ politicianismul tra˘da˘tor ”). Dans l’argumentaire de l’antisØmitismedel’apr›s-1878, le complot permanent contrelanation roumaine de l’Alliance israØlite universelle et des Juifs est dØ- noncØ d’une mani›re quasi-unanime. SontdØnoncØsles hommes politiques et les banquiersauservice de l’Alliance qui agiraientsans cessecontreles intØrÞts de la Roumanie, à l’intØrieur comme à l’extØrieur du pays. La conviction que les Roumains sontdes victimes des Øtrangers malveillants n’est pasdutout nouvelle. La nouveautØ rØside dans le caract›re systØmatique de ces accusations. On assiste à la formulation d’une vraie thØorie du complot dontlecontenu est le mÞme pour

70 Volovici, Nationalist Ideology(voir note 8), p. 35–39. 71 ViataRomâneasca˘.Revista˘ literara˘ s‚is‚tiint‚ifica˘,6,21/10, octobre 1911, p. 92–95. 72 George Panu,Chestiuni politice, Bucarest 1893. Panu (1848–1910), assez inclassable, est passØ du camp libØral à sa critique souslabanni›re du radicalisme et du progressisme, il dØfend le voteuniverseletdes idØes rØpublicaines.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 224 Silvia Marton toute l’intelligentsia et la classe politique :les gouvernements occidentaux et la presse europØenne seraientacquis auxintØrÞts et au lobby Juifs, surtout de l’Alliance, cette minoritØ active ;ilest donc nØcessaire que les peuples chrØtiens se solidarisentdevantlamenace juive. La diffØrence est de degrØ,non de nature. Avant1878 on accusait dØjà explicitementcette Alliance pourexpliquer les malheurs de la nation roumaine sur la sc›ne internationale et pourdØnoncer que l’accusation de persØcution religieuse Øtait l’invention de la malveillante Alliance qui ignorait sciemmentl’histoire de la tolØrance religieuse sØculaire des Rou- mains. La xØnophobie de nature Øconomique et sociale continued’avoir pour cible les Juifs surtout dans les cercles progressistes. En gØnØral, il convientdedØmystifier la dimension simplement Øconomique de l’antisØmitismeroumain :l’antisØ- mitisme Øconomique n’en estpas moins de l’antisØmitisme.73 Enlever ce niveau de l’interprØtation s’av›re nØcessaire pour mieux saisir la dimension consen- suelle de l’antisØmitisme roumain et sa natureavant la Grande Guerre. L’intel- ligentsia et la classe politique sontconvaincues que les Juifs sontinassimilables auxRoumains à cause des diffØrences religieuses, culturelles et ethniques. La dØfinition des Juifs est une consØquence de la mani›re dontles Ølites roumaines voientleur communautØ nationale, comme unitØ ethno-raciale-culturelle chrØ- tienne. La nature consensuelle de l’antisØmitisme est ØgalementlaconsØquence de l’autodØfinition identitaire. Plus l’État roumain est faible dans sa capacitØ distributivedes ressources et de la justice sociale et dans ses capacitØsrØgaliennes, plus grande est l’obsessionau sujet de la formulation d’une identitØ nationalesolide. Leshommes politiques et l’intelligentsia veulentconstruiretr›srapidement à la fois l’Étatetune nation roumaine homog›ne, et les Juifs (et les autres Øtrangers) sontlàpour montrer que ni l’État, ni la nation homog›ne ne sontencore prÞts. En dØpit des quelquesvoix qui se veulentmodØrØes, le ressentimentcontreles Juifs fait partied’une mani›re quasi-organique de l’idØologie nationale qui se veut unifiante et dominante. L’Øchec des Ølites roumaines et de l’Étatest d’avoir fait le choix, selon l’expression d’Eugen Weber, de mesures nationalistes comme solution auxprobl›mes de naturesociale et d’avoir ratØ l’apprentissagedeladØmocratie pendantlaseconde moitiØ du XIXe si›cle.74 L’absence d’une vraie rØflexion sociale et le clivage profond entreles Ølitesetlagrande majoritØ paysanne de la population sontdes

73 Lucian Boia fait cette remarque à propos de M. Eminescu, pour montrer justementque les Øventuels dØrapages antisØmites des grandes figures de l’intelligentsia seraientmarginaux par rapport à l’importance de leurs œuvres, Lucian Boia, Mihai Eminescu, românul absolut. Facerea s‚idesfacereaunui mit, Bucarest2015, p. 131. 74 Weber, România (voir note 64), p. 391 ;Raluca Alexandrescu, Difficiles modernitØs. Rythmes et rØgimes conceptuels de la dØmocratie dans la pensØepolitique roumaineauXIXe si›cle, Bucarest2015, p. 221–307.

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ØlØments importants pourexpliquer la dominationdunationalismeconservateur et traditionnaliste de l’apr›s-1919,seule force capable de mobilisation popu- laire,75 mÞme si l’Ømancipation des Juifs est accomplie lØgalementen1919. L’antisØmitisme qua nationalisme de la classe politique et de l’intelligentsia refl›te Øgalementleur visionsur l’État et son rôle intØgrateur comme instrument pour gouverner de 1866 à 1919.

75 Weber, România (voir note 64).

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The Lueger effect in fin-de-siècle Catholic Poland: the Imaginary Jew,the Viennese Christian Socials, and the riseofCatholicanti-SemitisminEasternEurope

Introduction:anti-Semitism as social and cultural phenomena in fin-de-siècle Poland

Anti-Semitism as asocially and culturally acceptable projectinthe Polish lands was born during the 1880s and its main founder was JanJelen´ski (1845–1909), a journalist, political writer,and the editor of the die-hard conservativeweekly “Soil” (Rola). The ‘old-new’ resentments which immediately appeared on its columns stemmed from the former landowning elites which felt in manycases overshadowed or even ‘eclipsed’ by ‘new men,’ most often Jews and Poles of Jewish origins.1 Rola was establishedin1883 in WarsawinRussian Poland, id est, the partof Polish lands which fell to the Tsarist Empire. Followingthe Christmas Pogrom (1883), Rola consistently called for the political, social, and aboveall economic divisionofJews fromChristian Poles.2 Forthis ‘holy’ purpose the paper intended to mobilize what contributors called the ‘silent majority’ –namely,the Christian community defined in opposition to Jewry. However, the ultimategoal for the editor and his team was what became arecognizable featureofthe program spread in Rola: an unconditional alliance between all layers of societywith the Catholic Church hierarchyatthe verytop.The weekly at once set about devel-

1See aboveall Maciej Moszyn´sky,AQuarter of aCenturyofStruggle of the Rola Weekly.“The great alliance” against the Jews, in:Quest. IssuesinContemporaryJewish History. Journal of FondazioneCDEC 3(July 2015), URL: (all Links accessed last on May312017);Michał S´liwa, “Rolarski” antysemityzm Jana Jelen´skiego,in: Idem, Obcyczy swój? Zdziejówpogla˛dównakwestie˛z˙ydowska˛wPolsce w XIX iXXwieku (Prace monograficzne, 231), Kraków1997;TheodoreR.Weeks, From Assi- milation to Antisemitism. The Jewish Question in Poland, 1850–1914, DeKalb 2006, p. 89–99; Małgorzata Domagalska, Zatrute ziarno.Proza antysemickanałamach “Roli” (1883–1912), Warsaw2015, p. 19–45. 2See Jerzy Jedlicki, ASuburb of Europe. Nineteenth-centuryPolish Approaches to Western Civilization,Budapest/Plymouth 1999, p. 276.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 228 Grzegorz Krzywiec oping its growing network of contributors and correspondents in all Polish lands. And as amatter of fact, this popular weekly presented Catholicism as asortof greater good permeating all levelsofhuman activity. The most apparentmani- festation of this idea was the constant emphasisonthe reconstruction of Catholic moralityinsociety, along with the assertion that the Catholic clergyplayed, and should playacrucialpartinthe fight-to-the-death struggle against ‘foreign elements’. This extreme conservatismclosely intermingled with social Dar- winism and popular xenophobia and characterized the language of the group from the very beginning. It was not by accident thatthe group which evoked the strongest anti-mod- ernist sentiments was modernJewry,which appeared as aresultoflate19th- centuryemancipation. In the columns of Rola,Jews were the most easily rec- ognizable symbol of foreignvalues, standing in opposition to everyaspect of the traditionalmodel of Christian life. Jews became ametaphor of modernity with all its disastrous consequences. Rolarze (soilers), as they usually called themselves, were convinced of the crisis of modernityand the inevitable demise of the “materialistic and godless world.” This conviction was accompanied by aprofound belief in the imminent moral rebirth of the national Christian community. If one tries to sum up the entire program of Rola in asingle sentence, it would have to be the notion of the ‘organic’ developmentofa‘spirit of solidarity’ in Christian society.3 Rola and Jelen´ski himself often addressedthe proverbial ‘ordinaryman,’ implyingthat they cared about the fate of everyCatholic Pole as amember of the national community defined by religion. And indeed, the weekly drew enormous atten- tion from the lower Catholic clergyinthe mid of 1880s and was treated as asocial and cultural public forum by said clergyand manycontemporaryobservers.4 This ‘old-new,’ hostile approach to the Jews was built on the ‘traditional’ and ‘anti-Judaic’ premises of economics and religion, but also on the more modern foundations of ‘anti-emancipation’ and propaganda machinery. Rola constantly relied on the authorityofthe Church, pointing out its anti-Judaic legislation and rooting its political and social message in the Catholic social teachingofthe period.5 Initially,what manycritics witnessed was atremendous flood of anew, aggressive language,one that was vitriolic and contained meticulously fab- ricated invectives against the Jews and Judaism as such. The late 19th-century Polish anti-Semitic vocabularywas built around such categorizations as Juda-

3Moszyn´sky,AQuarter of aCenturyofStruggle(see note 1). 4Moszyn´sky,AQuarter of aCenturyofStruggle(see note 1). 5Agnieszka Friedrich.,Talmud i“talmudyzm” wuje˛ciu “Roli”, in:Studia Judaica 2(2013), p. 145–169.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 The Lueger effect in fin-de-siècle Catholic Poland 229 ization (zaz˙ydzenie), “filthyinsects” (plugawe robactwo), “weeds” (chwasty), “Jewish plague” (plaga z˙ydowska), “enslavementbyJews” (niewola z˙ydowska) and manyothers—all of which were endlessly reproduced in the columns of Rola whenever the paper dealt with the Jews and the Jewish question.6 The weekly devoted particular attention to the presentation of aplethora of its supposedly great ideological predecessors in the Church Fathers, nonetheless starting with Thomas Aquinas in the first place.7 However,the most-often quoted authors during the first periodofRola’s activitywere actually infamous anti- Semites of the time, likethe German philosopher and political economist Eugen Dühring and the French journalist ÉdouardDrumont. Interestingly enough,the weekly made some attempts to publish Drumont’s most ominous book (La France juive)inPolish, and then proceeded to do the same with manyother Catholic extreme conservative writers such as the French papist Louis Veuillot the Lithuanian priest Justinas Pranajtis (later on aregular contributor to the weekly), and first and foremost August Rohling,aprofessor of theologyatPrague University.8 The regular readership of Rola in the last two decades of the 19th century, specifically,between 1886 and 1905, was estimated at 2,500–3,000,which put the magazine in the middle of the opinion weeklies. However,inthe mid-80s Antoni Zaleski (a conservative, influential, and well-informed journalist of the Warsaw press, albeit rather hostile towards Rola and Jelen´ski) personally claimed that: “the antisemiticmovementtoday is popular in all places, and particularly here has caused this mediocre periodicaltogather an impressivenumber of sub- scribers.”9 In other places he frequently stated that Jelen´ski hated the Jews more than they actually deserved.10 Rola’s most sophisticated ideologue was the writer,dramatist, and cultural journalist Teodor Jeske-Choin´ski (1854–1920). To some extent, Jeske-Choin´ski seemed to be ason of his age:anex-progressivist whoturned to die-hard con- servatism. However,his religious and in away ‘spiritual’ anti-Semitism rapidly

6Onthe unique rhetoric of Rola see, Domagalska, Zatrute ziarno (see note 1), p. 19–45. 7See HyppoliteGayraud, Antysemityzm S´w. Tomasza zAkwinu, Warsaw1903. 8Nevertheless, all the afore-mentionedauthors were serialized on the columns of Rola see, Agnieszka Friedrich, The ImpactofGermanAnti-Semitismonthe Polish Weekly Periodical Rola,in: Michael Nagel/Moshe Zimermann (ed.), Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte. Erscheinungsformen, Rezeption, Debatte und Gegenwehr.Fivehundred years of Jew-Hatred and Anti-Semitism in the GermanPress. Manifestationsand Reactions (Presse und Geschichte –neue Beiträge, 73/Die jüdische Presse,14), vol. 1, Bremen2013, pp.273–282. 9[Antoni Zaleski],Baronowa XYZ, Towarzystwo warszawskie. Listy do przyjaciółki (Biblioteka Syrenki), Warsaw1971, p. 381. On Zaleski as apolitical columnist and commentator see TheodoreR.Weeks, ACityofThree Nations. Fin-de-Si›cle Warsaw, in:The Polish Review 49/ 2(2004), p. 747–766. 10 [Zaleski],Baronowa XYZ (see note 9), p. 381–382.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 230 Grzegorz Krzywiec intermingled with aracist attitude that was aimed not so much against the Jews as money-lenders and innkeepers or peddlers, as was usual for his colleaguesfrom Rola. Forhim, the Jewremained aboveall asymbolfor the modernage with all its horrors and distortions, such as Manchesteriancapitalism, bourgeois mentality, materialistic atheism, and socialism, too.11 The numerous publications of Jeske- Choin´ski indeed covered abroad range of subjects, including decadentliterature and various forms of artand popular culture—but alsoritual murder,the psy- chologyand failureofthe French Revolution, emancipation of women, ‘sexu- alism’ in Polish culture, and brand new racial theories. As amatter of fact, he provided the most elaborate description of the process of developing from “an era of materialist decline” to an “era of Christian morality” His works offered not only keyPolish anti-Semitic tropes, but also the most comprehensiveration- alization and justification of anti-Semitism as national self-defense.12 The only source of regeneration, according to Jeske-Choin´ski, was to stopthe dis- integration of the modernworld by embracing true, militantCatholicism. Jeske- Choin´ski’s works failed to find abroad popularityand even readership,but in the aftermathofthe 1905 Revolution his works (both literally and critical ones), achieved great, even enormous popularityinCatholic public opinion. Quite interestingly,neither the Catholic hierarchynor the official Catholic journals of the time devoted much space to the Jewish question during those years. The official Church representativesfound themselves in ahighly un- comfortable and embarrassing situation with this new tendency. In fact, al- though,the Church authorities shared most of Jelen´ski’s and Jeske-Choinski’s visions of the Jewish question, at that time they were far more scared of the disorder and chaos part and parcel to 19th-centurymodernization.13 It need not thereforecomeasasurprise that conservative Catholic Church officials wound up supporting the status quo over all such new tendencies and novelties. On the one hand, nearly all articles aboutthe Jews in the Catholic press were generallystraightforward reports, occasionally manifesting slight or stronger Judeophobia, but never anything akin to the rabble-rousing xen- ophobia of Rola and smaller such undertakings. Moreover,the Catholic Church’s crucial role during the JanuaryInsurrection of 1863 made the institutionone of

11 TheodoreR.Weeks, The ‘InternationalJewish Conspiracy’ Reaches Poland. Teodor Jeske- Choin´ski and His Works, in: East EuropeanQuarterly 31/1 (March 1997), p. 21–41, here 21. 12 Weeks, The ‘International Jewish Conspiracy’ (see note 11), p. 37. 13 On discussion on Rola within the Catholic circles,see Weeks, From Assimilation to Anti- semitism (see note 1), p. 92–93;Brian Porter-Szücs, Faith and Fatherland. Catholicism, Modernity and Poland, NewYork 2011, p. 279–280. On the particular case of the officialorgan of Warsaw’s Archbishop see KrzysztofLewalski, Problem antysemityzmunałamach “Przegla˛duKatolickiego” wlatach 1863–1914, in:Nasza Przeszłos´c´.Studia zdziejówKos´- ciołazkulturykatolickiego wPolsce 84 (1995), p. 186–191.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 The Lueger effect in fin-de-siècle Catholic Poland 231 the main targetsofsubsequentTsarist retribution. The repressions of the post- Januaryera not only diminished the social position of the Church both in the Polish Kingdom and in all Polish lands, but actually had acrippling effecton various of the Church’s social practices:e.g., it generated avacuum among Catholic leadership and produced an overwhelming feeling of instabilityamong both the hierarchyand laity. Together this created aclimate of paralyzing con- formityand everydayconservatism that overwhelmed the Church in this partof Poland.14 On the other hand, the weekly did compete successfully for Catholic readers, specifically those hailing from the lower clergyofthe provinces, along with, paradoxically,Catholic intellectuals of diverse tendencies.15 While at the very beginning the paper’s distributionand influence remainedlimited, the emer- gence of openly anti-Semitic motifs into the world of late 19th-centuryPolish journalism set asignificant, if not central pointfor future relations between Poles and Jews, and (in the much longer perspective)for whole of Polish social Ca- tholicism. Under the conditions of martial lawinRussian Poland in the second half of the 19th century(precisely speaking,from the January1863 insurrection on), journalism remained the only wayofspreading the new ideological prop- aganda.

The Lueger effect:Western Galicia as alaboratory for the popular Catholic anti-Semitic movement in Polish lands

The Jewish communities under the Habsburg Empire, especially in the western half of the Monarchy, were comprised mostly of German Jews, while Jews of the easternpart, mainly in Galicia and Bukovina, formed an integral partofEastern European Jewry(Ostjuden). Within Habsburg Austria, Jews lived in several provinces, particularly in Polish and Ukrainian-speaking Galicia and Bukovina in the Far East.InCzech lands they lived in German-speaking Bohemia and Moravia, German-, Czech-, and Polish-speaking Silesia, and in the end in Vienna itself. In everyprovince, the Jewish communitywas highly varied:e.g., in Ga- licia, Orthodox, even ultra-Orthodox, and Yiddish-speaking communities lived

14 On the social and cultural position of the Catholic Church in Congress Poland see, Krzysztof Lewalski, Kos´ciół katolicki awładze carskie wKrólestwie Polskim na przełomie XIX iXX wieku, Gdan´sk 2008. Ilona Zaleska, Kos´ciół aNarodowaDemokracja wKrólestwie Polskim do wybuchuIwojnys´wiatowej, Warsaw2014, p. 41–50. 15 Accordingtoanapologetic to Jelen´ski but nevertheless still usually truthfulaccountofhis collaborators with Rola at various periods cooperated crucial Catholic intellectual of fin-de- si›cle Poland see, C´wierc´wiecze walki. Ksie˛gapamia˛tkowa “Roli”, Warsaw1910, p. 192–194.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 232 Grzegorz Krzywiec alongside modernand secular Jews, ones which had assimilated into Polish or German cultural communities. Whereas in Germanyand in WesternEuropeJews soughttojoin the given national culture, in Habsburg Austriathey asserted atypeofanational identity which was not shared by manyothers. Even more acculturated Austrian Jews, either because of the weakness of liberalism or the stronger influence of local popular anti-Semitism,found themselves asserting their Jewish identity more vigorously than Jews in Germanyorany other WesternEuropean country. In contrast to Germany then, Judaism in the Habsburg Monarchyremained mod- erninstyle, but much more traditional and self-confidentincontent. In the Monarchy, especially in the Austrian part, one could easily deem oneself an Austrian, and at the same time remain aJew.This multifarious Jewish experience under the Habsburg Empire widely contributed to arenewal of “chimerical,” imaginaryJews.16 Therefore, the achievementoflegal equalityunder the constitution of 1867, which resulted in agreat influxofJews fromGalicia and Bohemia (e.g.,6,000 Jewish legal residents from amongVienna’s populationof500,000 in 1857, to 145,000 among Vienna 1,674,000 inhabitants in 1900),akind of success story, became apretext for enormous anger and frustration between various Christian middle classes. Many artisans and white collar workers whowere excluded by the suffrage lawfelt an everydaychallenge fromJewish and foreign competition and thus treated the visible, public presence of Jews with increasing suspicion. It was in the mid-1870s thatthe new image of Jews as the main victors of the revolution 1848 emerged with great vehemence. The driving factor behind this laywith the hated German-“Jewish” Liberals and liberalism as such, which mixed as well with the “vicious and godless” leadership of ‘Jewified’ Social Democracyand the corrupted “Jewish” capitalists in charge of the 1873 stock crash, and therebylentapowerful political weapon. To some extentone could pointout thatKarl Lueger,apopular lawyer,brilliantspeaker, and first of all a gifted politician from Vienna, simply picked up what was on the table in the late 1880s.17 Thus, for manyCatholics fromEasternEurope, arole model for the revital-

16 GavinI.Langmuir,Toward aDefinition of Antisemitism, Berkeley 1990, p. 341. 17 On Lueger see Richard S. Geehr,KarlLueger.Mayor of Fin de Si›cle Vienna, Detroit 1990; Peter Pulzer,The Rise of PoliticalAnti-SemitisminGermany & Austria,Cambridge 1988, in particular chap.“Lueger and the CatholicRevival,” p. 156–170;John W. Boyer, Karl Lueger (1844–1910).Christlichsoziale Politik als Beruf. Eine Biografie (Studien zu Politik und Verwaltung, 93), übersetzt vonOtmar Binder,Vienna/Cologne/Weimar2010;See chap.“Karl Lueger and Catholic Judeophobia in Austria,” in:RobertWistrich, Laboratoryfor World Destruction.Germans and Jews in Central Europe(Studies in Antisemitism), Jerusalem 2007, p. 324–351.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 The Lueger effect in fin-de-siècle Catholic Poland 233 ization of the Catholic public scene came neither fromGermany, nor anyother European country, butfrom Habsburg Austria, and from Vienna in particular. Teodor Jeske-Choin´ski, while staying in the capital of Austria-Hungaryinthe early 1880s, wrote in aletter to afriend:“Here in Vienna work is abundant. Iam collecting material for new works on literaryhistorythat are unattainable in Warsaw. Iamplanning to conductthe main attack on liberals, Jews, and posi- tivists, but Irequire scientific facts for this purpose.”18 And indeed, nearly every Catholic and conservative journal in the Polish lands trackedwhat was hap- pening in Vienna, at leastfrom the late 1880s. Rola had its ownVienna corre- spondents from the verybeginning,and Jeske-Choin´ski personally traveled to Vienna,where he had studied law, frequently. Karl Lueger was not, of course, the first to discover howflexible an ex- planatorytoolwas anti-Semitism on the social and political level. Buthewas in factthe one whoredefined political Catholicism as the handmaiden of aristo- cratic oppressionand as amental product of the lower bourgeois and allowed it to returnasthe fully-fledgedideologyofCatholic middleclasses for whom liberalism meantcapitalism and capitalism meantJews. Jews as ametaphor for ‘untrue’ and even ‘false’ modernitywas repeated in this discourse continuously: loving money and breaking down Christian order and national identities, dominating the press and spreading socialism, and propagating various types of sexual abnormalityand prostitution. We oughttobear in mind that, at its founding,the new Christian Social party was opposed by the Austrian episco- pate, not leastbecause of its vulgar,rabble-rousing anti-Semitism. In 1895 however,PopeLeo XIII, with the great assistance of his state secretary Cardinal Mariano Rampola, rejected protests from the conservative Austrian hierarchy, giving the party Vatican approval. As manyrumors had it, the pope, the great reformer of Catholic social doctrine, had aportrait of Luegerathis desk.19 And obviously,the Catholic world did not rejectmodernityaltogether.Itrefuted with vehemence only a‘false’ modernity, ‘the values of 1789,’ as Lueger once said during astreet meeting.20 It would not be such an exaggerationtoclaim that the discourse of ‘deceitful’modernitywas one of the definingfeatureoffin-de-si›cle Catholicism, in the Polish lands, as well. For manysuch reasons the victoryofKarl Lueger in the elections to Vienna’s Rathaus in 1895 was followed all over Catholic Europe and had an immediateand

18 Korespondencja redakcyjna Walerego Przyborowskiego,BibliotekaOssolineum (Rps Ossol. 13602/I), p. 156;Quotes from Moszyn´ski, Aquarter of acenturyofstruggle(see note 1). 19 On fin-de-si›cle public image of Lueger as apolitician and anti-Semite, see Ulrich Wyrwa, The Image of Antisemites in German and Austrian Caricatures,in:Quest. IssuesinCon- temporaryJewish History.Journal of Fondazione CDEC 3(July 2015), URL:http://www. quest-cdecjournal.it/focus.php?id=290. 20 Boyer,Karl Lueger (1844–1910) (see note 17), p. 298.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 234 Grzegorz Krzywiec enormous effectbothonHabsburg opinion and, what is far more interesting, abroad.21 Particularly in Habsburg WesternGalicia, Lueger served as abearer of hope—and this all culminated in the call for alocal anti-Semitic movement.22 In the late 1880s Galicia’s usuallyconservative-oriented Catholics radically changed their attitude towards politics and social life. They struggled to find a new Catholic wayintomoderntimes and to presenttheir goals to believers by new methods. Established in 1893, the “Voice of the Nation” (Głos Narodu),asanunofficial organ of the Cracovian Archbishopwith acirculation of 5,000 copies, and the anti-Jewish slogans (such as “buy only from Christians” and “stick to your own for all youown”) became the biggest daily in Kraków. In the following years, manyother weeklies and monthly newspapers appeared, often functioning as press organs of the numerous newly-founded Catholic,Catholic-national, and ‘Christian Social’ associations. They attempted to convince readers of Christian social doctrine and to “protect”them from the influence of ‘Jewified’ social democracy. In most cases they were established and directed by Jesuits and new Catholic intellectuals. In 1895 the weekly addressed Catholic workers “Thunder” (Grzmot)was founded in Lemberg (Lwów/Lviv), the Galician citywhere the second Catholic assembly had taken place. Nearly ayear later,the paper moved to Krakówand its circulationtripled, reaching the peak of approx. 1,500 copies.23 That same year there appeared another bi-weekly :“Truth” (Prawda), which defined itself as a

21 See Vicki Caron, Catholic PoliticalMobilization and Antisemitic Violence in Fin de Si›cle France: The Case of the Union Nationale, in:The Journal of ModernHistory81/2 (2009), p. 294–296;Derek Hastings, Catholicism and the Roots of Nazism. Religious Identity and National Socialism, Oxford2010, p. 24–25;Michal Frankl, Can We,the Czech Catholics, Be Antisemites?Antisemitism at the Dawn of the Czech Christian-Social Movement, in:Judaica Bohemiae 33 (1998), p. 54–55;Idem, Emancipace od zˇidu˚.Cˇesky antisemitismus na konci19 století,Prague/Litomysˇl2007, p. 111–150. 22 First of all, see TimBuchen, “Learning from Vienna Means Learning to Win”: The Cracovian Christian Socials and the “Antisemitic Turn”of1896, in:Quest. IssuesinContemporary Jewish History.JournalofFondazioneCDEC 3(2012), URL:http://www.quest-cdecjournal. it/focus.php?id=302;Idem, AntisemitismusinGalizien. Agitation,Gewaltund Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um 1900 (Studien zum Antisemitismus in Europa, 3), Berlin 2012, p. 156–166;Idem, Herrschaftinder Krise:der “Demagoge in der Soutane” fordertdie “Galizischen Allerheiligen,” in:Jörg Baberowski (ed.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich (Eigene und fremde Welten, 11), Frankfurta.M.2008, p. 331–355. In this regardonly Porter-Szücs recognized those first reflections of the Lueger impact on Galician Catholic public scene with more skepticism see, Porter-Szücs, Faith and Fatherland (see note 13), p. 280–281;Brian Porter, Antisemitism and the Search for aCatholic Identity,in:Robert Blobaum (ed.), Antisemitism and its Opponents in ModernPoland, Ithaca/London2005, p. 103–123, here 106. 23 Czesław Lechicki, Pierwsze dwudziestolecie krakowskiego“Głosu Narodu,” in:Studia Hi- storyczne 4(1969), p. 507–509;Nathaniel D. Wood,Becoming Metropolitan. Urban Selfhood and the Making of Modern Cracow, DeKalb2010, p. 60–63.

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“newspaper for religious, national, political, economic, and amusing matters.” Itsmessage was directed to villages and provincial townsand its contentwas almost completely packed with anti-Semitic propaganda. It was published by the later bishopJan Puzyna and edited exclusively by local priests. As historian Tim Buchen put it:“When we considerthese newspapers, the appropriation of the Viennese Christian-Social movementindifferentshades becomes apparentasa common pattern.”24 However,inKrakówand in Habsburg Galicia by and large, this new clerical camp disposed neither of people nor organizations which could embodythe Catholic breakthrough into mass politics. Therefore, as Buchen put it, both Cracovian and Lvovian Christian-Socials directed their view across the Galician borders toward Vienna. One could quote those speeches, but they exhibited little or no charismaand thus failed to movethe masses. Lueger was referredtoin these Galician Catholic newspapers as he seemed to be one of them.25 As asuccessful fighter against the rule of liberalism and capitalism and for the rights of the God-fearing Christian masses, the local Christian Socials aimed to use some of his “reflected glory” in winning success “onthe street.” Here the Jews functioned as acodename for liberalism, socialism, capitalism, and the betrayal of rights, the sensations and needs of the Catholic man in the street. Within just a few months, all organs wentthroughan‘anti-Semitic turn’. Since the beginning of their existence these newspapers and organizations hadclearly been anti- Jewish. They characterized Jews aboveall by using jokes and mixed announce- ments, presenting them as swindlers and shameless blasphemers. In 1895, 1896, and 1897 the ‘Jewish issue’ appeared more and more often in articles and an- nouncements and setthe tonefor the papers’ and organizations’ political rhet- oric. The Jews were mentioned no longer as individuals or connected to concrete events, but rather as the embodimentofall ‘modern’ threats. The unanimityand determination of the Viennese Christian Socials and Lueger personally against the Jews seemed to be amodel for the undifferentiated WesternGalicians whowere not able to oppose the immense menace posed by ‘Jewish power.’ Specifically,the Cracovian Catholic camp did subsequently take over ‘the pattern’ of the Viennese Christian-Socials even more clearly.Around the Catholic activist and editor in chief of Głos Narodu,KazimierzEhrenberg (1870–1932), the Christian-social community(Stowarzyszenie Chrzes´cijan´sko- Społeczne)was erected, in obvious resemblance to the Viennese Christlicher Sozialverein. Twomonths later,the communityunited with the Association of

24 See Buchen, Learning from Vienna Means Learning to Win(see note 22). 25 Buchen,Learning from Vienna Means Learning to Win(see note 22).

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Antisemites (Zwia˛zek Antysemitów)which had also been founded in Kraków after the elections (1897).26 Nonetheless, the new political camp lacked an integrating and charismatic figure, aparty bureaucracy, and first and the foremost even latentand indirect supportfromthe hierarchy. In theend, the Viennese context could not be en- capsulated and easily grafted to the former capital of Polish Kings and the alliance devised seemed to be only aone-sided dream. Looking to Vienna brought no success storyathome—not, at least, at the political level.27 All the same, after years of heated debate this ‘new-old’ tendencygained its ownideologue among Polish Catholic opinion. Father Marian Morawski (1845–1901) was aprofessoroftheologyatthe Jagiellonian UniversityinKraków, and first and the foremost the editor of the influential Jesuit monthly “Universal Review”(Przegla˛d Powszechny), one of the most relevantjournals of opinion amongst Polish Catholicsand clergy. Father Morawski was actually not aChurch specialist on the Jewish issue,and thereforehis journal seemed to be even more emblematic to the debate. In an article published in February1896 Morawski stood out fromboth liberal‘philosemitism’ and anti-Christian ‘pagan’ anti- Semitism, proposing instead ‘a-semitism.’28 Taking examples directly from Vienna and viewing Jews as the enemies of all Christianityand the Polish nation, he claimed to avoid anycontactwith them for the reasonthat their influence was and ever would be inherently harmful. Morawski understoodhis program of ‘separatism’ as an enforced policyofsocial, economic, and cultural segregation Poles from Jews:e.g.,he provided at the same time adetailed explanation on why Polish youth and Polish women shouldbestrictly isolated fromthe everyday presence of Jewry. One contemporaryreader of this programmatic manifesto,the Ukrainian progressive journalist and regular contributor to manyPolish journals Ivan Franko(1858–1916), not himselffree from anti-Semitic clichØs, noted:“The

26 See Jacek M. Majchrowski, “Antysemita”. Zapomniana karta dziejówruchu chrzes´cijan´sko- społecznego wKrakowie, in:Zeszyty NaukoweUniwersytetu Jagiellon´skiego.Prace zNauk Politycznych 23 (1991), p. 191–197;S´liwa, “Grzmot” i“Antysemita” czasopisma an- tyz˙ydowskie wKrakowie, in:Idem (ed.), Obcyczy swój(see note 1), p. 53–65. 27 Buchen,Learning from Vienna Means Learning to Win(see note 22). 28 Marian Morawski, Asemitism, Kraków1896. On in-depthdiscussion about the Morawski’s article see Porter-Szücs, Faith and Fatherland (see note 13), p. 285–289. On refreshing dis- cussionontermasemitism see TimBuchen,Asemitismus in:Wolfgang Benz (ed.), Handbuch des Antisemitismus.Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, vol. 3. Begriffe,Theo- rien, Ideologien, Berlin 2010, p.151–172. MiloslavSzabó,Populist Antisemitism. On the Theoryand MethodologyofResearch in ModernAntisemitism, in:Judaica Bohemiae49/2 (2014), p. 74–75.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 The Lueger effect in fin-de-siècle Catholic Poland 237 most appropriate conclusion of Father Morawski arguments is […] that Jews should go to Hell.”29 At the very end of the 19th centurythis Christian social ‘self-defense’ program as formulated by Father Morawski gained significantinterest in anti-Semitic circles. The conceptof‘a-Semitism’which, in theory, rejected anti-Semitism in order to become an effective strategyfor countering Jewish solidaritywith solidaritybetween Christians. The essence of this program was the demand to strictly isolate Jews from the Christian world,both professionally and in private life. Reprints of Father Morawski’s publication were widely published in the former Kingdom of Poland and abroad (e.g.,inCzech lands they contributed to the popularization of his views). For JanJelen´ski’s followers, whofully supported Morawski’s claims, this was yetfurther and final proofofthe correctness of their proclaimed policyof“self-defense against Jewish moral and material terror- ism.”30 Moreover,the article was enthusiastically received and commented on among conservative, especiallyCatholic circles. “Polish Soil” (Niwa Polska), another Varsovian radical conservative weekly,reestablished in 1895 for the sakeofthe “Christian order”, reprinted Morawski’s credo.Manyother conservativeopin- ion-making journals, such as the daily “Century” (Wiek), the “Varsovian Gaz- ette” (Gazeta Warszawska), and the weekly “Pilgrim” (We˛drowiec)under the editorship of AntoniSkrzynecki (e.g.,the author of the most famous fin-de- si›cle Polish anti-Semitic novel “Seek out the Jew. APicture From Life” (Szukaja˛ c z˙ yda. Obrazek zz˙ycia,1899) took the name ‘a-semitic’ as their own. Other Catholic journals such as the official “Catholic Review” (Przegla˛d Katolicki) appraised the program as away to achieve acompromise with the Church’s traditionalsocial teaching with new tendencies.31 ‘A-semitism’became awell-known catchphrase for nearly all Catholic movements, and not only in Galicia, but throughoutthe Polish lands:e.g., in westernGalicia likethe Catholic National Party(Stronnictwo Narodowo-Kato- lickie)ofthe Jesuit priest Stanisław Stojałowski, the PeasantUnion (Zwia˛zek Chłopski)ofbrothersJan and Stanisław Potoczek, and multifarious forms of endemic Christian socialism in cities likeLwów(Lviv)and Kraków, but in

29 Quoted fromJoannaB.Michlic, Poland’s Threatening Other.The Image of the JewFrom1880 to the Present, London/Lincoln 2006, p. 48. On Frankointhis regardsee Jarosław Hrycak, Mie˛dzy filosemityzmem aantysemityzmem. Iwan Frankoikwestiaz˙ydowska, in:Krzysztof Jasiewicz (ed.), S´wiat NIE-poz˙egnany, Warsaw/London 2005, p. 451–480. 30 See Moszyn´sky,Nieznos´na konkurencja. Osporachmie˛dzy warszawskimi antysemitami kon´ca XIX ipocza˛tku XX wieku, in:Kwartalnik Historii Z˙ydów1(2015), p. 70–79;Doma- galska,The Linguistic Image of the Jewin“Rola” and “Niwa” Weeklies at the Turn of the 19th and 20th Century, in:Studia Judaica 13/2 (2010), p. 320–321. 31 Lewalski, Problem antysemityzmu na łamach (see note 13), p. 205–207.

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Congress Poland under Tsarist rule, as well. One of the most vicious anti-Semitic weeklies (under the slogan “the only Polish and Catholic paper against the Jews”) in Prussian Poland was “Progress” (Poste˛p), founded in 1890 by the journalist and local ‘Christian’ businessman, Stanisław Knapowski, which tried to present itself both as ‘anti-Semitic’ and ‘a-Semitic’, depending on relevantcircum- stances. Concerning the vicious attacks on Jews in westernGalician villages in 1898, they were cheered on by crowds with the local Catholic priests’ support. In that year the brochure entitled “Jewish secrets” (Tajemnice z˙ydowskie, published as well under title “Our friends” (Nasi przyjaciele and later on “About Jews”/O z˙ydach), fabricated by Father Mateusz Jez˙ (1862–1949), aJesuit priest, regular contributor to “Prawda” (Tajemnice z˙ydowskie were first serialized in “Prawda” in 1897 and early 1898), was widely spread among the Catholic population.32 It contained e.g.,August Rohling’s accusation that Jews call Christians animals, mainly apes, and still practice ritual murder.With this ‘knowledge’ in mind, along with the confrontations between ‘Christian’ readers and the Jews described in letters to the editors of manyCatholic journals, it might seem that‘a-Semitism’ was regarded as anatural and organic partofCatholic identity. As amatter of fact, within the lastdecade of the 19thcentury, the nature of Catholic hostile neutralitytowards aggressiveanti-Jewish demagogueryhad undergoneasignificantchange in all Polish lands. The marginal tendencyofthe determined groups increasingly cametodominate throughoutthe whole of Catholic opinion in the Polish lands. This Catholic revivalofthe late 1890s in Galicia strictly related to 1897 electoral mobilization and conflated with eco- nomic tensions between Poles and Jews—theimpoverished peasantrydepended on Jewish middlemen ignited by priest Stojałowski alone, the official ally of the Viennese Christian Socials in the Austrian parliament33—exploded into awaveof physicalviolence against Jews across much of westernGalicia in 1898.34 In other Polish lands this new toxic message was waiting to be picked up.

32 Father Mateusz Jez˙ remains an intriguing case of fin-de-si›cle Catholic anti-Semite who actively kept on operating in the rebornSecondRepublic of Poland (e.g.,asthe author of “A- semitic songbook” (S´piewnik asemicki), 1924. 33 On Stojałowski see, Buchen, Herrschaft in der Krise (see note 22), p. 333–346; Andrzej Kudłaszczyk,Wpływ doktryn austriackiej Iniemieckiej na katolicyzm społecznywGalicji, in:Studia Historyczne 3(1981), p. 389–407. See as well AndrzejKudłaszczyk,Koncepcje polityczne Karla Luegera, in:Dzieje Najnowsze 4(1994), p. 8–9. 34 On WesternGalician violenteffects of this campaign see Daniel L. Unowsky,Local Violence, Regional Politics,and StateCrisis, in:RobertNemes/Daniel L. Unowsky (ed.), Sites of Eu- ropean Antisemitism in the AgeofMass Politics,1880–1918 (The Tauber Institute Series for the Study of European Jewry), Waltham2014, p. 13–35;Daniel L. Unowsky,PeasantPolitical Mobilization and the 1898 Anti-Jewish Riots in WesternGalicia, in:European History Quarterly 40/3 (2010), p. 412–435;Buchen, Antisemitismus in Galizien (see note 22), p. 167–194.

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Ahot debate in Warsaw’s conservative and Catholic press about the successes of Karl Lueger in Vienna leftnodoubts that anti-Semitism hadtaken deep roots among the Catholic public and opened adiscursivewindowfor the absorptionof other such clichØs. Butpolitically speaking,all those Catholic anti-Semites— both in the province of the Habsburg Empireand in Russian Poland not men- tioning Prussian Poland—remained on the fringe of mass politics. Quite interestingly,Karl Luegerdropped into Galicia for ashortvisit only once, on July 14, 1896 on the waytoRomania, and quite by chance, as one can reconstruct. Nevertheless, he was welcomed by the Galician Christian Socials and the Polish anti-Semitic press fromCongress Poland similarly as during the aftermathofhis infamous Goerth speech35 as aheroic warrior for Christ, battling the materialistic influence of the Jews, sentbyGod to lead the whole ‘Christian world’ to greatness

Epilogue:the 1905 Revolution and the anti-Semitic turn in Catholic Poland

The Revolutionof1905 marked aclear watershed in Polish politics, not least of which regarding the relations between Poles and Jews in the Russian Empire, and then throughoutthe Polish lands generally. At the veryoutset in 1905, Poles and Jews struggled side by side against Russian authoritarianism. Butwhen violence and anarchygrew in late 1905, and perhaps even more in early 1906, when Tsarist repressions lashed out at revolutionaries, the desireamong the Christian public to find scapegoatselsewhere grew even more intense. The imagination of the conservativesection of Catholic societywas then, for the veryfirst time on that scale, attacked so deeply by the ominous spectreofrevolt seen as the result of a socialist-Jewish plot. This was the time when JanJelen´ski, an infamous ‘godfather of Polish anti- Semitism’, briskly opposedthe revolutionaryevents of 1905 blaming the Jews for causing social unrest. At this time he felt the wind in his sails. He set up the “Popular Daily” (Dziennik Powszechny)and tried to spread such popular catchphrases as “Do not buy at Jewish shops” (Nie kupuj uz˙yda)and “Beware of the Jew” (Strzez˙ sie˛Z˙yda)with his nationwide political message. It became very obvious that the formation of anew Catholic political culturewould be ac- companied by arapidrevitalization of enmitytowards the Jewish population. Even though the Catholic Church did not turnofficiallyanti-Semitic at that time,

35 See Anna Ehrlich, Karl Lueger.Die zwei Gesichter der Macht, Vienna 2010,p.271.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 240 Grzegorz Krzywiec its basic ambiguitycertainly abounded over the place of Jews, and in time it reduced the whole Jewish questiontoasocial problem. From 1905 onwards, Catholic opinion began dealing uncompromisingly with Jews. Moreover, the picture of Jews as enemies of Christian civilizationbecame, from 1905, apermanentelement of the writings of Catholic publicists. Several conditions stood out as potential harbingers of success for these anti-Semitic drives among the Catholic public. The Church as awhole for the very first time faced adeep crisis from the new mass politics and manynew religious rivalries.36 Priests and local clergysoughttoretain their flocks with chic politics, and anti- Semitism recommended itself fromhighonasasuitable,actuallyhandy ersatz. Jeske-Choin´ski’ best known works of the period(such as “Knowthe Jew”/Poznaj Z˙yda) layonmanyofthe country’s tables beside the catechism and the new Catholic dailies (such as Dziennik Powszechny,and “Pole-Catholic”), carrying a message sandwiched between regional, practical, and national information: anti-socialist, anxiety-mongering on Jewish financial and press power,adding the Jewish unbelievers to Christ’s Killers. Since 1905 Jeske-Choin´ski enjoyed a free entryatalmost everyCatholic journal in the Polish lands. By the autumn of 1905, when the revolution approached its peak, the very first wave of accusations of ‘foreign elements’ foisting on innocentPolish and Christian opinionwas being widely aired in nearly all Catholic dailies. In all those articles, that ‘foreign and hostile’ elementwas in most cases identified strictly with Jews. In this respect, as the wave of violence and anarchygrewinlate 1905 and the repressions of the governmentlashed out revolutionaries, the visions of the ‘imaginaryJew’ became more than necessaryinCatholic opinion. Butthen anew competitor appeared on the Catholic and conservative scene. In this regard the vision of adisciplinedsocietygoverned by a‘nationalor- ganization’ defined by Roman Dmowski, the new nationalist leader,might have appeared thereforeonthe one hand as an authentic barrier against the chaos of revolution, on the other as the only waytopreserve Polish national identity.In contrast to Jelen´ski and other Catholic anti-Semites, the National Democrats (called Endeks), the new nationalist movement, had at their disposal not only centralized media, but amass party organizationaswell. Within the early months of 1906, thatnationalist machine would spread over near the whole countryand winamassivevictoryinCongress Poland’s first elections to the Russian State Duma. Eventually,the decline of the 1905 Revolution was the first

36 See RobertE.Blobaum, Rewolucja. Russian Poland, 1904–1907, Ithaca/London 1995, p. 240–249. See as well Robert E. Blobaum, The Revolution of 1905–1907 and the Crisis of Polish Catholicism, in:SlavicReview 47/4 (1988), p. 667–689;Krzysztof Lewalski, Kos´ciół katolicki wobecspołeczno-politycznej rzeczywistos´ci lat 1905–1907,in: Marek Przeniosło/ Stanisław Wiech (ed.), Rewolucja 1905–1907 wKrólestwie Polskim iwRosji, Kielce 2005, p. 93–108.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 The Lueger effect in fin-de-siècle Catholic Poland 241 such significantvictoryofnationalist anti-Semitism over political Catholicism and Catholic anti-Semites such as Jelen´ski or Father IgnacyKłopotowski, a founder of the Catholic media group (among others the popular daily “Pole- Catholic”/Polak-Katolik and Posiew). Thereforethis new political Catholicism and a“new Luegerism on the Vistula River” as Jelen´ski himself claimed fre- quently on the columns of his papers, had failed to provide the unifying element for asuccessful popular movement, and merely compounded the alreadyserious divisions within it over the other clerical ‘issues’. Anti-Semitism also could propose aunifying symbol for manyPolish Catholics, at atime of declining religiosityand rising strife with dissident movements (e. g.,Mariavite, an in- dependentChristian Church that emerged from the Polish Catholic Church around the 1905 Revolution), but it did not sortthe other problems out. Therefore, the significance of anti-Semitism among Catholic opinion was not so much that of acoherentpolitical program or mass party likeinVienna,but rather as an expressionofdisorientation caused by fundamental changes in politics, the economy, society, and last but not least the lonely position of the Church in societyatthe time. On that basis the Catholic political party Catholic Union(Zwia˛zek Katolicki) establishedin1907 with JanJelen´ski and Teodore Jeske-Choin´ski on the top, utterly failed to keep the Catholic bourgeois, workers, clergy, and workers under one roof.The old-new hatred did not bridge the cracks between these groups and organizations and political Catholicism in its Polish versionremained marginal on the political scene apartfrom the enormous Catholic contribution to the general anti-Semitism in Poland during the period.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Christlicher Antisemitismus/ Christian Anti-Semitism

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Thomas Metzger

Der Antisemitismus in Deutschland als Referenzrahmen: Transnationale Aspekte des Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus

Ein Hauptmerkmal des sich im Deutschschweizer Protestantismus manifestie- renden Antisemitismuswar,dassfürdiesen das Deutsche Kaiserreich eine große Bedeutung als transnationaler Referenzrahmen besaß.1 Ein bedeutender Anteil der antisemitischen Äußerungen in den untersuchten Quellen nahminir- gendeinerForm Bezug aufDeutschland. Dieses Phänomen muss in einen grö- ßeren transnationalen Rahmeneingeordnet werden. Deutschland und vor allem der deutsche Protestantismusstellten fürdie Protestanten der Deutschschweiz zu jener Zeit ganz allgemein einen wichtigen Bezugspunkt dar.Germanophilie war in diesen Deutschschweizer Kreisen weit verbreitet, was sich nichtzuletzt an der Pfarrerschaft, den Kreisen der universitärenTheologie und an den Redak- teuren der protestantischen Periodika festmachen lässt. Die Verbundenheit war zum einen aufdie konfessionelle Nähe zum Nachbarstaat, der vonden Deutschschweizer Protestanten, wiedie Schweiz selbst, als überwiegend ,pro- testantischer Staat‘ verstanden wurde, zurückzuführen. Zum anderen war sie sprachlich-kulturell und biographisch bedingt, hatten doch viele Theologen der Deutschschweiz einen Teil ihrer Studienzeit im nördlichenNachbarland ver- brachtund unterhielten wissenschaftlicheBeziehungen zum Deutschen Reich.2 Bis Ende des Ersten Weltkrieges blieb daskonfessionelle, sprachlich-kulturelle und oft auch theologische Verbundenheitsgefühl mit Deutschland im Deutsch- schweizer Protestantismus sehr ausgeprägt.

1Die hier präsentierten Aspekte zur transnationalen Dimensiondes Antisemitismus im Pro- testantismusder Deutschschweiz basieren aufForschungen fürmeine an der Universität Freiburg in der Schweiz verfasste Dissertation Antisemitismus im Deutschschweizer Protes- tantismusvon 1870 bis 1950,die im Frühjahr 2017 im Berliner Metropol Verlag als Band 12 der Reihe Studien zum Antisemitismus in Europa erschienen ist. 2Zur Germanophilie in der Deutschschweiz siehe:Klaus Urner,Die Deutschen in der Schweiz. Vonden Anfängen der Kolonienbildung bis zum Ausbruchdes Ersten Weltkrieges, Stuttgart 1976, v. a. S. 49–91. Die stark germanophilen Tendenzen im Deutschschweizer Protestantis- mus hatten sich etwa während des Deutsch-Französischen Krieges von1870/71 gezeigt. Siehe exemplarisch:Die Stimme Gottes in dem Donner der Schlachten, in:Appenzeller Sonntags- blatt 9/35 (1870), Beilage S. 1–4.

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Dieser Beitrag analysiertdie verschiedenen Dimensionen der Bedeutung des Deutschen Kaiserreichs als transnationaler Referenzrahmen fürden Antisemi- tismus im Deutschschweizer Protestantismus. Die Untersuchungen basieren dabei aufeiner Analyse der bedeutendsten protestantischen Zeitschriften der Deutschschweiz.3 Im zeitlichen Fokus stehtdas letzte Drittel des 19. Jahrhun- derts, situativ erstreckt sich die Analyse jedoch überdiesen Zeitrahmen hinaus. Die Zeitschriftenlandschaftwar geprägt voneiner Aufspaltung in verschiedene theologisch-kirchenpolitische Richtungen. Sie bildeten dasrigide sogenannte Richtungswesen nach, das fürden damaligen Protestantismus der Deutsch- schweiz charakteristisch war.Dem liberalen oder ,freisinnigen‘ Protestantismus, der sich in einer Mehrheitssituation befand, standdie sich in verschiedene Unterströmungen gliedernde Richtung der als ,positiv‘bezeichneten Konser- vativengegenüber. Gerade die vonBasel ausgehende Tradition des Pietismus spielte darin eine wichtige Rolle. Die Mittepartei der sogenannten Vermittler war theologisch nichtohne Einfluss, aber zahlenmäßig klein.4 Ab den 1830er Jahren hatte sich der Gegensatz zwischen konservativerund liberaler Theologie ver- schärft. Die Liberalen votierten fürdie Aufhebung des Bekenntniszwangs und eine sich an wissenschaftlich-kritischen Maßstäbenorientierende Theologie, die etwa die Bibel als historisch gewachsenes Dokumenterachtete. Beides waren Standpunkte, die in den Augen der biblizistisch geprägten Konservativenanden Grundfesten des Glaubens rüttelten. Die Bibel stelltefürsie göttliche Offenba- rung dar,und sie plädierten fürdie Beibehaltung des Bekenntniszwanges.5 Das damals den schweizerischen ähnlich wieden deutschen Protestantismus prägende Richtungswesen bildete sichebenso in den antisemitischen Einstel-

3Folgende Periodika sind vonbesonderer Bedeutung fürdiesen Beitrag.Konservativ-protes- tantisch: Appenzeller Sonntagsblatt, Christlicher Volksbote, Christlicher Volksfreund, Kirch- enfreund, Der Freund Israels, Evangelisches Wochenblatt;liberal: Basler (Schweizerisches) Protestantenblatt, Reformblätter aus der bernischen Kirche/Schweizerische Reformblätter, Religiöses Volksblatt;,vermittlerisch‘: Volksblatt fürdie reformi(e)rte Kirche der Schweiz. In der Schweiz hatte sich, im Gegensatzzum Deutschen Kaiserreich, kein protestantisches Zei- tungswesen herausgebildet. Ausnahmen stellten in Ansätzen die Allgemeine Schweizer Zei- tung sowiedie Berner Volkszeitung dar. 4Fürdas protestantische Richtungswesen siehe:Peter Aerne, Religiöse Sozialisten, Jungre- formierte und Feldprediger.Konfrontationen im Schweizer Protestantismus 1920–1950,Zü- rich2006, S. 27–75;Rudolf Gebhard,Umstrittene Bekenntnisfreiheit. Der Apostolikumstreit in den Reformierten Kirchen der Deutschschweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 2003;Lukas Vischer/Lukas Schenker/Rudolf Dellsperger(Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, Freiburg Basel 1994, S. 218–240;PaulSchweizer,Freisinnig –Positiv –Religiössozial. Ein Beitrag zur Geschichte der Richtungen im Schweizerischen Protestantismus(Basler Studien zur historischen und systematischen Theologie, 18), Zürich1972. 5Einen Überblick überdie theologischenDifferenzenbietet:Schweizer,Freisinnig –Positiv – Religiössozial (wie Anm. 4);ArndWiedmann, Imperialismus –Militarismus –Sozialismus. Der deutschschweizerische Protestantismus in seinen Zeitschriften und die großen Fragen der Zeit 1900–1930 (Geist und Werk der Zeiten, 83), Bern 1995, zusammenfassend S. 46–47.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Transnationale Aspekte des Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus 247 lungen ab.Diese waren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter den ,Posi- tiven‘ und ,Vermittlern‘ wesentlich stärker verbreitet als unter den Liberalen. Zugleich gab es auch inhaltliche Differenzen zwischen den Richtungen.6 Auch was die Bedeutung des Deutschen Kaiserreichs als Referenzrahmen in Sachen Antisemitismus angeht, war diese fürden konservativenund ,vermittlerischen‘ Protestantismus in jenen Jahren weit größer als fürden liberalen. Die Rezeption des Antisemitismus in Deutschland,insbesondereimdeutschen Protestantis- mus, botden Glaubensbrüdern(und -schwestern) in der Deutschschweiz ins- gesamt inhaltliche Orientierung in Sachen Judenfeindschaft. Daher übertrug sich die im Kaiserreich seit Mitte der 1870er-Jahre aufkommende antisemitische Welle ebenfalls aufden Deutschschweizer Protestantismus.7 In diesem Prozess lassen sich die nachfolgenden drei Dimensionen herausarbeiten, die sich im Einzelfalloft miteinander verschränkt zeigten.

Antisemitismusrezeption als Katalysator für die Popularisierung der Judenfeindschaft

Die Rezeptiondes Antisemitismus in Deutschland wirkte sich katalytisch aufdie Popularisierung der JudenfeindschaftimDeutschschweizer Protestantismus aus. WieEntwicklungen im deutschen Protestantismus in den protestantischen Periodika der Deutschschweiz im Allgemeinen aufein reges Interesse stießen, so wandten sich die Zeitungen auch dessen antisemitischen Aktivitäten aufmerk- sam zu. Besonders ausgeprägt war dieses Interesse vonkonservativ-protestan- tischer Seite. Waren in den 1860er und in den frühen 1870er-Jahren umfang- reichere antisemitische Artikelinden untersuchten theologischen und erbau- lichen Zeitschriften noch eine Seltenheit, so änderte sich dies gegen Ende des Jahrzehnts. Mit dieser quantitativenVeränderung einher ging eine Gewichts-

6Differenzen zeigten sich nichtzuletzt in antimodernistisch oder heilsgeschichtlich geprägten antisemitischen Diskursen. 7Siehe ausder Fülle der Forschungen zum Anschwellen des Antisemitismus im ersten Jahr- zehntdes Deutschen Kaiserreichs:Werner Bergmann/UlrichWyrwa, Antisemitismus in Zentraleuropa. Deutschland, Österreich und die Schweiz vom 18. Jahrhundert bis zur Ge- genwart, Darmstadt2011;MassimoFerrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus. Vonder Bismarckzeit zu Hitler (Das Abendland –N.F.,32), Frankfurta. M. 2003;Werner Jochmann, Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, in:Der- selbe, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870–1945 (Hamburger Bei- träge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 23), Hamburg 1988, S. 30–98. Mit Blick aufden Pro- testantismusund Katholizismus:Wolfgang E. Heinrichs, Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs.Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne (Kirchengeschichtliche Monografien, 12), Giessen 22004;Olaf Blaschke, Katholizismus und AntisemitismusimDeutschenKaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 122), Göttingen 1999.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 248 Thomas Metzger verschiebung vonreligiösen hin zu sozioökonomischen, kulturellen und natio- nalen Diskursen, die Kernelemente des sogenannten modernen Antisemitismus sind, der sich in jenen Jahren herausbildete. Religiöse Diskurse allerdingsblie- benweiterhin stark verbreitet.8 Die thematische Bezugnahme der ab Ende der 1870er-Jahre stark gehäuft auftretenden antisemitischen Artikelauf Deutschland war prädominant.9 Die Autoren stützten sich dabeioft aufBeiträge ausprotestantischen Zeitschriften Deutschlands, wiederholt wurden gar großeTeile der Artikelaus deutschen Druckerzeugnissen übernommen.10 Der Blick aufden deutschen Kontext schlug sich nichtnur in den umfangreichen antisemitischen Beiträgen, sondern auch in einer Vielzahl kürzerer Meldungen nieder,die in den Nachrichten-Rubriken der Zeitschriften Verbreitung fanden. So insbesondereimAppenzeller Sonntags- blatt,das in jener Zeit mit der außergewöhnlich hohen Auflage vonrund 20.000 Stück als größtes schweizerisches Sonntagsblatt und auflagestärkste protestan- tische Zeitschriftder Schweiz galt.11 Eine herausragende Rolle als Katalysator fürdie Popularisierung des Anti- semitismusimDeutschschweizer Protestantismus kamdabei der Rezeption der antisemitischen Agitationdes Berliner HofpredigersAdolf Stoecker zu, wes- wegen ausführlicher aufdiesen Fall eingegangen werden soll. Als Leiter der Berliner Stadtmissionwar Stoecker zu einem international bekannten Prediger geworden, dessen Predigtenauch im Deutschschweizer Protestantismus rege gelesen wurden.12 Die Rezeption setzte im Kontext seiner Aktivitäten in der

8Ausführlich in meiner Dissertation:Thomas Metzger,AntisemitismusimDeutschschweizer Protestantismus 1870 bis 1950 (Studien zum Antisemitismus in Europa, 12), Berlin 2017. 9Siehe als Beispiele fürdie Bezugnahme aufDeutschland: Ludwig Pestalozzi, Kirchliche Rundschauvom Dezember,in: Evangelisches Wochenblatt 21/2 (1880), S. 5–7, hier S. 6–7; Politisches, in:Christlicher Volksbote 48/47 (1880), S. 375–376, hier S. 376;Nachrichten und Korrespondenzen, in:Volksblatt fürdie reformirte Kirche der Schweiz 12/49 (1880), S. 195–196, hier S. 196;Rundschauzur Jahreswende, Teil II, in:Kirchenfreund15/2 (1881), S. 17–23,hier S. 18;Ludwig Pestalozzi, Kirchliche Rundschauvom Januar, Teil II, in: Evangelisches Wochenblatt 22/6 (1881),S.31–34, hier S. 32–33;[Johannes Friedrich Alex- ander de le Roi?],Die socialen Verhältnisse der Juden in Preußen, in:Freund Israels 12/4 (1885), S. 120–127;Politisches, in:Christlicher Volksbote 60/50 (1892), S. 399–400, hier S. 400. 10 Fürdie Bedeutung einzelner Zeitschriften als Medien des Antisemitismustransferssiehe weiter unten. 11 Verantwortlich fürden Nachrichtenteil zeichnete der in Schaffhausen wirkende Pfarrer Jo- hann JakobSchenkel, der einen strikt antisemitischen Kurs fuhr.Siehe etwa:Johann Jakob Schenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 18/32 (1879), S. 254–256, hierS.255; Derselbe, in:Appenzeller Sonntagsblatt 19/48 (1880), S. 382–384, hier S. 383–384;Derselbe, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 20/36 (1881), S. 286–288, hier S. 287. Siehe zudem:Kirchliche Nachrichten, in:Kirchenfreund 12/23 (1878), S. 367;Nachrichten, in: ChristlicherVolksbote60/34 (1892), S. 270–272, hier S. 271. 12 HansEngelmann, Kirche am Abgrund. Adolf Stoecker und seine antijüdische Bewegung

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,inneren Mission‘ ein und verstärkte sich ab der Gründung seiner Christlich- Sozialen Arbeiterpartei im Jahr 1878.13 Mit Blickauf das theologisch-kirchen- politische Richtungswesen schieden sich an ihm die Geister.Während Zeit- schriften des konservativenProtestantismus den Hofprediger zum heroischen Vorkämpfereiner ,Rechristianisierung‘ stilisierten, brandmarkten die Organe des religiösen ,Freisinns‘ Stoecker als Exponenten der,Orthodoxie‘.14 Vordiesem Hintergrund erstauntesnicht,dass auch die konsequente Inkorporierung des Antisemitismus in die politische Strategie Stoeckers ab 1879 aufBeachtung im Deutschschweizer Protestantismus stieß.15 Die Wahrnehmung und Diskussion vonStoeckers Antisemitismus setzten unmittelbar nachdessen ersten beiden ,Judentum-Reden‘16 vonSeptember 1879 ein. Sie fanden im konservativenPro-

(Studien zu jüdischem Volk und christlicher Gemeinde, 5), Berlin 1984, S. 152;Urs Hofmann, Adolf Stoecker in Basel. Antisemitismus und soziale Frage in der protestantischen Presse in den 1880erJahren,unveröffentlichte Lizentiatsarbeit UniversitätBasel, 2003, S. 17. Betref- fend die Lektüre der Predigten Stoeckers in der Schweiz:Conrad vonOrelli, Adolf Stöcker †, in:Kirchenfreund 43/4 (1909),S.53–58, hier S. 56. 13 Stoecker und sein Antisemitismus sind gut erforscht. Es sei exemplarisch auffolgendePu- blikationen verwiesen:Engelmann, Kirche am Abgrund (wie Anm. 12);Günter Brakelmann/ MartinGreschat/Werner Jochmann, Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers (1835–1909) (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 17), Hamburg 1982;MartinGreschat, Protestantischer AntisemitismusinWilhelminischer Zeit. Das Bei- spiel des Hofpredigers Adolf Stoecker,in: Günter Brakelmann/MartinRosowski (Hg.), An- tisemitismus.Von religiöser Judenfeindschaft zur Rassenideologie, Göttingen 1989, S. 27– 51. 14 Fürdie konservative Perspektiveetwa:Ludwig Pestalozzi, Kirchliche Rundschau, in: Evangelisches Wochenblatt 24/51 (1883), S. 227–228, hier S. 227;Politisches, in:Christlicher Volksbote 53/26 (1885), S. 208. Fürdie liberale Perspektivesiehe z. B.:Christian Tester, Rundschauund Selbstschau, in:Religiöses Volksblatt9/10 (1878),S.76–80, hier S. 76;Im hehren deutschen Reich, in:SchweizerischesProtestantenblatt 5/4 (1882), S. 28–30, hier S. 28;Heinrich Frank, Chronik,in: Schweizerische Reformblätter 19/27 (1885), S. 215–216, hier S. 216. 15 Kern vonStoeckers Antisemitismuswar ein konservativ-christlich geprägter integraler Nationalismus. Zugleich habeStoecker,wie MartinGreschatbetont,traditionelle Formen der Judenfeindschaft erweitert, modernisiertund transformiert: Greschat, Protestantischer Antisemitismus (wie Anm. 13), S. 34. Zum Antisemitismus Stoeckers siehe zudem:Hein- richs, Das Judenbild im Protestantismus (wie Anm. 7), passim;Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen (wie Anm. 7), S. 151–165. Peter Pulzer deutet Stoeckers Politik als einen bewussten taktischen Entscheid:Peter G. J. Pulzer,Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Göttingen 2004, S. 138. Ähnlich auch:Werner Jochmann, Stoecker als nationalkonservativerPolitiker und antisemitischer Agitator,in: Brakelmann/Greschat/Jochmann (Hg.), Protestantismus und Politik (wie Anm. 13), S. 145–148. Werner Bergmann hingegen betont,dass Stoeckers Antisemitismus nichtnur taktischem Kalkülentsprungen, sondernauch integraler Bestandteil und eine wesentliche Triebfeder seines Denkens und Handelns gewesen sei. Werner Bergmann, Art. Stoecker, Adolf, in:Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus.Judenfeindschaft in Ge- schichte und Gegenwart, Bd. 2: Personen, Berlin 2009, S. 798–802, hier S. 799. 16 Adolf Stoecker,UnsereForderungen an das moderne Judentum, in:Günter Brakelmann, Adolf Stoecker als Antisemit, Teil 2: Texte des Parteipolitikers und Kirchenmannes

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 250 Thomas Metzger testantismus positiveAufnahme. Der pietistisch geprägte Christliche Volksbote ausBasel etwa druckte die Reden in großen Auszügen in zustimmendemSinne ab.17 Die Strategie,Stoeckers Handeln als ,Notwehr‘ zu rechtfertigen, und dessen antisemitisch motivierte Forderungen an dasJudentum, „ein wenig bescheide- ner“, „ein kleinwenig toleranter“ zu sein und „etwas mehr Gleichheit“ walten zu lassen18,erhielten vonSeiten der ,Positiven‘ auch in den Folgejahren Zuspruch. Die drei Forderungen Stoeckers wurden fast zu geflügelten Begriffen.19 Auch spätere antisemitische Reden des politisierenden Hofpredigersstießen beiden ,Positiven‘ aufBeachtung.20 Die Berichterstattung überdie antisemitischen Aktivitäten Stoeckers machteden Hauptteil der Rezeption des von1879 bis 1881 dauernden Berliner Antisemitismusstreits im Deutschschweizer Protestantis- musaus. Die antisemitischen Reden Stoeckers besaßen einen ausgeprägten Er- eignischarakter,wobei mit Frank Bösch Ereignisseals verdichtete, Kommuni- kation auslösende Momenteverstandenwerden können, beidenen konkurrie- rende Erzählungen und Vorstellungenthematisch zentriertzusammenlaufen.21 Ereignisse erschütternzudem Erfahrungsräume und wirken strukturverän- dernd.22 In diesem Sinne hat die Rezeption der antisemitischen Betätigung

(Schriften der Hans-Ehrenberg-Gesellschaft, 11), Waltrop2004, S. 10–24;Adolf Stoecker, Notwehr gegen das moderne Judentum, in:Brakelmann, Adolf Stoecker als Antisemit (wie Anm. 16), S. 24–41. 17 Zeitfragen in Briefform. Ueber die Judenfrage, 4Teile, in:Christlicher Volksbote, 47/44 (1879), S. 346–348;47/45 (1879), S. 356–358;47/46 (1879), S. 364–366;47/47 (1879), S. 370–372. Auch weitere konservative protestantische Periodika –insbesonderedas Evan- gelische Wochenblatt ausZürich –publizierten zustimmende Artikel: Ludwig Pestalozzi, Kirchliche Rundschauvom September,in: Evangelisches Wochenblatt 20/42 (1879), S. 190–192;Georg Rudolf Zimmermann, Das moderne Judenthum in Deutschland, beson- ders in Berlin. Zwei Reden vonAdolf Stöcker,in: Evangelisches Wochenblatt 20/44 (1879), S. 199–201;Justus J. Heer,Rundschauauf die kirchlichen Zustände in Deutschland, beson- ders in Preußen, in:Kirchenfreund 13/24 (1879), S. 383–391, hier S. 385–386. 18 Stoecker,UnsereForderungen an das moderne Judentum (wie Anm. 16), S. 14, S. 19, S. 22. 19 Siehe beispielsweise:Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 23/ 46 (1884), S. 367–368, hierS.368;Ludwig Pestalozzi, Zur Charakteristik A. Stöckers und seiner Bestrebungen, Teil III, in:Kirchenfreund 19/17 (1885), S. 257–261, hier S. 258. 20 Siehebeispielsweise: Politische Uebersicht,in: Allgemeine SchweizerZeitung 6/243(1879), S. 2; Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt22/28 (1883),S.223– 224;JakobSchläpfer,Nachrichten,in: AppenzellerSonntagsblatt 25/42(1886),S.334–336,hier S. 335. 21 Frank Bösch, Ereignisse, Performanz und Medien in historischer Perspektive, in:Derselbe/ Patrick Schmidt (Hg.), Medialisierte Ereignisse. Performanz, Inszenierung und Medien seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurta.M./New Yo rk 2010, S. 7–29, hier S. 8. 22 WieAndreas Suter und Manfred Hettling betonen, seien dies Eigenschaften, welche Ereig- nisse von,normalem‘ Handlungsgeschehen unterscheiden würden:Andreas Suter/Manfred Hettling, Strukturund Ereignis –Wege zu einer Sozialgeschichte des Ereignisses, in:Die- selben (Hg.), Struktur und Ereignis (Geschichte und Gesellschaft:Sonderheft, 19), Göttingen 2001, S. 7–32, hier S. 23–25.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Transnationale Aspekte des Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus 251

Stoeckers im konservativenProtestantismusder Deutschschweiz in der Tatdas Sprechen über,die Juden‘ verändert. In den konservativ-protestantischen Zeitschriften, vorallem in jenen, die mit Stoeckers christlich-sozialen Vorstellungen sympathisierten, wurde der politi- sierende Hofprediger zu einem Heroenstilisiert.23 Im Kirchenfreund ausBasel etwa frohlockte mit Blick aufStoeckers ,Judentum-Reden‘ der langjährige Re- dakteur,Pfarrer Justus J. Heer ausdem Kanton Zürich:„Gott wolle noch mehr Stöcker erwecken, welche in so ernster Weise die christlichen Gewissen aufwe- cken und unser Volk vorder Verjudung bewahren.“24 Insbesondereinden 1880er-Jahren hielt die starkeAnteilnahme der ,Positi- ven‘, aber auch der ,Vermittler‘ an den Aktivitäten des Hofpredigers an und mit ihr auch die Wiedergabeund Kommentierung seines Antisemitismus. Ausden Zeilen der konservativenBlätter sprachen Lob und Wertschätzung fürseine Agitation.25 Ganz im Sinne der Konstruktion eines vermeintlich realen Konflikts –einer klassischen Argumentationsstrategie des Antisemitismus–wurde die Kampagne Stoeckers zudem als gerechtfertigt und als von,den Juden‘ selbst provoziertdargestellt.26 Damit einhergehend wurde der Hofprediger,einer Verkehrung vonTäter und Opfer folgend, zum eigentlichen Opfer stilisiert, das in ,Notwehr‘ gegen ,die Juden‘ gehandelt habe.27 Aufgrund der Aufmerksamkeit, die Stoeckers Ansichten in konservativ-protestantischen Kreisen der Deutsch- schweiz erhielten, erstauntesnicht, dass es diesen zwischen 1881 und 1907 gelang,Stoecker fürsechs Vortragsreisen zu gewinnen.28 Diese stießen auf

23 Siehe etwa:Justus J. Heer,Rundschau aufdie kirchlichen Zustände in Deutschland, beson- ders in Preußen, in:Kirchenfreund 13/24 (1879), S. 383–391, hier S. 385;Johann Jakob Schenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 24/26 (1885),S.207–208. 24 J. Justus Heer,Rundschau aufdie kirchlichen Zustände in Deutschland, besonders in Preußen, in:Kirchenfreund 13/24 (1879), S. 383–391, hier S. 386. 25 Als Beispiele seien genannt:Carl Pestalozzi, Kirchliche Chronik, in:Christlicher Volksfreund 6/48 (1880), S. 424–426, hier S. 424;Ludwig Pestalozzi, Die Basler Festwoche, in:Evangeli- sches Wochenblatt 34/33 (1893), S. 139–142, hier S. 140. Fürdas Organ der ,Vermittler‘ kann aufeine Artikelserie des Mitarbeiters und Stoecker-Bewunderers Pfarrer Johann JakobWälli verwiesen werden, der in dieser Zeitschrift mehrfach antisemitische Artikelverfasste:Jakob Wälli, Hofprediger Stöcker in Stuttgart, 2Teile, in:Kirchenblatt fürdie reformierte Schweiz 3/24 (1888), S. 93–95;3/25 (1888), S. 97–99. 26 Siehe u.a.:Nachrichten und Korrespondenzen, in:Volksblatt fürdie reformirte Kirche der Schweiz 12/49 (1880), S. 195–196;Politisches, in:Christlicher Volksbote 61/25 (1893), S. 199–200, hier S. 200. 27 Fürdiesen Diskurs siehe etwa:Ernst Miescher, Ein Mann des Volkes, Teil II, in:Christlicher Volksfreund 7/20 (1881), S. 177–180, hier S. 179–180;Jakob Wälli, Hofprediger Stöcker in Stuttgart, Teil I, in:Kirchenblatt fürdie reformierte Schweiz 3/24 (1888), S. 93–95, hier S. 93. Fürden Topos der,Notwehr‘: Eine bedeutsamesozialeFrage. Jüdisches, in:Volksblatt fürdie reformirte Kirche der Schweiz 9/48 (1879), S. 191;F., Die Nothwehr gegen die Juden, in: Evangelisches Wochenblatt 21/6 (1880), S. 24–25. 28 Stoecker besuchte aufseinen Vortragsreisen folgende Städte:1881:Basel, Bern,Zürich;1891:

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 252 Thomas Metzger großes Interesse. Allerdings stellte Stoecker nie seine antisemitischen Ansichten ins Zentrum seiner Ausführungen, da er in der Schweiz vorab als religiöser Redner und Prediger,nichtaberals politischer Agitator auftrat.29 Die sehr po- sitiveRezeptionvon Stoecker und dessen Antisemitismus dauerte konservati- verseits in unterschiedlicher Intensität überdessen TodimJahre190930 hinaus fort. Ebenso wurde seineantisemitische Agitationretrospektiv verharmlost beziehungsweise begrüßt.31 Anders als der konservativeProtestantismusreagierten die Liberalen sehr ablehnendauf Stoeckers politischen Protestantismus. Zugleich befassten sie sich weniger stark mit Stoeckers Ansichten. Sie assoziierten Stoecker mit der ihnen verhassten protestantischen ,Orthodoxie‘ Preußens und sahen sich teilweise mit den Juden in einer gemeinsamen Opferrolle.32 So betonteEnde 1879 die in Bern erscheinendeZeitschrift Reform,dass nunden ,Orthodoxen‘ die Bekämpfung des ,freisinnigen‘ Christentums nichtmehr ausreiche, nun müsse auch noch ,der Jude‘ dranglauben.33 Man war im Deutschschweizer Protestantismusfüroder gegen den AntisemitismusStoeckers, weil man grundsätzlich ein Anhänger oder Gegner des Hofpredigerswar.Somit kritisierten die Liberalen Stoeckers Anti- semitismusnicht etwa deshalb,weilsie die Judenfeindschaftper se fürver-

Basel, Bern,Genf;1891 (auf der Rückreisevon der Versammlung der Evangelischen Allianz in Florenz): Zürich; 1894:Basel, Olten, Bern;1901:Basel;1907:Basel. Da Stoecker bereits gesundheitlich angeschlagen war,sprach er aufseiner letzten Reise nur noch in privatem Rahmen. Die Referate Stoeckers wurden teilweise als Broschürengedruckt. So etwa:Adolf Stoecker,Die soziale Frage im Lichte der Bibel. Vortrag gehalten Dienstag den 5. April 1881 in der französischen KircheinBern, Bern 1881. 29 Eine Ausnahme stelltesein Auftritt in Bern im Jahre 1881 dar,bei dem die ,Judenfrage‘ in der Diskussionsrunde thematisiertwurde. Dies wurde im Christlichen Volksboten ausBasel lobend erwähnt: Nachrichten, in:Christlicher Volksbote 49/15 (1881), S. 118–120, hier S. 119. 30 Anlässlich seines Todes erschienen teilweise umfangreiche Würdigungen. Siehe z.B.: Theodor Sarasin-Bischoff, Ein Blick in das LebenHofprediger D. Ad.Stöckers, 3Teile, in: ChristlicherVolksbote 77/7 (1909), S. 50–52;77/8 (1909), S. 60–61;77/9 (1909),S.69–70; Ludwig Pestalozzi, Adolf Stöcker,2Teile, in:Evangelisches Wochenblatt 50/7 (1909), S. 25– 27;50/8 (1909), S. 29–31;Conrad vonOrelli, Adolf Stöcker †, in:Kirchenfreund 43/4 (1909) 4, S. 53–58. 31 Siehe als Auswahl:Adolf Stöcker,4Teile, in:Christlicher Volksfreund 37/19 (1911), S. 208–211;37/20 (1911), S. 220–225;37/21 (1911), S. 233–237;37/22 (1911), S. 245–247;E. St. [Ernst Staehelin?],Juden und Christen in Vergangenheit, Gegenwartund Zukunft,Teil VI, in:Christlicher Volksfreund57/12 (1931), S. 138–141, hier S. 139. 32 Fürdie Ablehnungder ,Orthodoxie‘ siehe:Gottfried Schönholzer,Eine andereMeinung, in: Religiöses Volksblatt9/11 (1878), S. 83–85, AlbertKalthoff, Ausdem kirchlichen Leben Berlins, Teil I, in:Schweizerisches Protestantenblatt7/41 (1884), S. 374–378, hier S. 377–378. Bezüglich der gemeinsamen Opferrolle beispielsweise:Salomon Zimmermann, Reform- chronik, in:Reform9/12 (1880),S.197–200, hier S. 199;Die neueste Volksbeschwindelung, in:Schweizerisches Protestantenblatt4/43 (1881), S. 352–353;Aus Staatund Kirche, in: Religiöses Volksblatt 21/46 (1890), S. 384–386. 33 Salomon Zimmermann, Reformchronik, in:Reform8/25 (1879), S. 460–463, hier S. 460.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Transnationale Aspekte des Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus 253 werflich hielten, sondern weil sie seine dem Liberalismus diametral entgegen gerichtetentheologischen, gesellschaftlichen und politischen Ansätze verab- scheuten. Daher überraschtesauch nicht, dass sich in der liberalen Kritik von Stoeckers Antisemitismusebenfalls judenfeindliche Motive manifestierten.34 Prototypisch zeigte PfarrerSalomon Zimmermann im Dezember1879 eine solche Verknüpfung vonAussagen gegen den Antisemitismus Stoeckers mit judenfeindlichen Bemerkungen:

„Wir möchten nun den gegen das moderne Judenthum erhobenen Klagen keineswegs alle Berechtigung absprechen. Es liegtetwas in dem allgemeinen Charakter dieses Volkes schon, das unmöglich unsere Sympathien erweckt, und der Schachergeist desselben, sein entsetzlicher Realismus, der sich so leicht überdie Gewissenhaftigkeit wegsetzt und der schon so manches Bäuerlein und manchen Berufsmann ökonomisch zu Grunde gerichtet, ist nichtohne Grund fast sprichwörtlich geworden. Aber in der Art und Weise, wiegegenwärtig der Krieg gegen die Juden geführtwird, liegtetwas Un- würdiges, etwas dem Geistedes Christenthums Widersprechendes.“35

Letztlich war die theologisch-kirchenpolitische Richtung ausschlaggebend für die Haltung gegenüberStoecker und dessen Antisemitismus. Die transnationale theologisch-weltanschauliche, konfessionelle, aber auch sprachlich-kulturelle Verbundenheit mit dem deutschen Protestantismusführte dazu, dass die ,Po- sitiven‘ Stoeckers Antisemitismus breit rezipierten und wiedergaben. Daraus resultierteeine Verdichtung judenfeindlicher Diskurse, und Deutschland wurde fürden konservativenDeutschschweizer Protestantismus noch ausgeprägter zum Referenzrahmen fürantisemitische Haltungen, als er es bis anhin gewesen war.

Transfer antisemitischer Diskurse in den Deutschschweizer Protestantismus

Im Rahmen der durch eine stark germanophile und konfessionssolidarische Einstellung gesteuerten Rezeption des deutschen Antisemitismus kann ein Transfer antisemitischer Diskurseinden Deutschschweizer Protestantismus festgestellt werden. Judenfeindlichen Publikationen ausdem nördlichen Nach- barland kam dabei eine wichtige Rolle als Medien des Transfers zu. Auch diese

34 Dies war vor allem beim Schweizerischen Protestantenblatt ausBasel der Fall. Siehe z.B.: AlfredAltherr,Hofprediger Stöcker in Basel, in:SchweizerischesProtestantenblatt4/14 (1881), S. 119–120, hier S. 119;Oskar Brändli, Kreuz und Quer,in: Schweizerisches Pro- testantenblatt 8/29 (1885), S. 266–267, hier S. 266;Aus der Rede gegen die Juden, 2Teile, in: Schweizerisches Protestantenblatt13/43 (1890), S. 341–342;13/44 (1890), S. 350–354. 35 Salomon Zimmermann, Reformchronik, in:Reform, 8/25 (1879), S. 460–463, hier S. 461– 462.

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Dimension der Bedeutung des Kaiserreichs als transnationaler Referenzrahmen fürden Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus war fast aus- schließlich aufdie konservative und teilweise ,vermittlerische‘ Richtung be- schränkt. Die im Zuge des Berliner Antisemitismusstreits stark zunehmende antisemitische PublizistikinDeutschland schlug sich in den Spalten der kon- servativ-protestantischen Zeitschriften nieder.Sorezensierten diese einschlä- gige, deutsche Publikationen. Exemplarisch sei an dieser Stelle aufden Zürcher Theologieprofessor Conrad vonOrelli verwiesen, der als Redakteurdes Kirch- enfreund im März 1880 lobend judenfeindliche Schriften des Historikers Heinrich vonTreitschke, des Hofpredigers Adolf Stoecker sowiedes Judenmis- sionars Johannes Friedrich AlexanderdeleRoi besprach.36 Eine weit wichtigere Rolle als Medien des Transfers spielten jedoch theolo- gische und religiösgeprägtepolitische Zeitschriften und Zeitungen aus Deutschland. Mit Blickauf die wichtige Funktion der Agitation Adolf Stoeckers als Katalysator fürdie Popularisierung des modernen Antisemitismus in den untersuchten ,positiven‘ Periodika überraschtesnicht,dass dabeiinsbesondere christlich-soziale Presseerzeugnisse ausdem Umfeld des politisierenden Pastors vonBedeutung waren. Diese Periodika dienten als Artikellieferanten oder Nachrichtenquellen.Als Beispiele sind vorab der Reichsbote,aberauch die ebenfalls christlich-soziale Deutscheevangelische Kirchenzeitung zu nennen, wobei der als Organ des rechten Flügels der preußischen Konservativenfun- gierende Reichsbote das mit Abstand bedeutendsteTransferorgan fürantise- mitische Aussagen darstellte.37 Insbesonderedas in Basel gedruckte auflagen- starke Appenzeller Sonntagsblatt berief sich regelmäßig aufdiese Zeitung.38 Auch

36 Conrad vonOrelli, Literatur fürund wider Israel, in:Kirchenfreund 14/6 (1880), S. 91–95, hier S. 91. Er bezog sich auffolgende Schriften:Heinrich vonTreitschke, Ein Wort über unser Judenthum, Separatabdruck ausdem 44. und 45. Bande der Preußischen Jahrbücher,Berlin 1880;Adolf Stoecker,Das moderne Judenthum in Deutschland, besonders in Berlin. Zwei Reden in der christlich-socialen Arbeiterpartei, Berlin 31880;Johannes Friedrich Alexander de le Roi, Stephan Schultz. Ein Beitrag zum Verständniß der Juden und ihrer Bedeutung für das Lebender Völker,Gotha 21878. 37 Siehe zum Reichsboten: Dagmar Bussiek, Art. ,Der Reichsbote (1873–1936)‘, in:Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus.Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6: Publikationen, Berlin/Boston2013, S. 587–588;Dagmar Bussiek, „Das Gute gut und das Böse bösnennen“. Der Reichsbote 1873–1879, in:Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.), Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presseund seine Netz- werke(1871–1963), Bern 2008, S. 97–119. Fürdie Deutsche evangelische Kirchenzeitung,an der Stoecker selbstaktiv mitwirkte, siehe:Heinrichs, Judenbild des Protestantismus(wie Anm. 7), S. 213–250. 38 Ausder Vielzahl vonantisemitischen Artikeln, die sich zu einem Großteil oder partiell auf den Reichsboten stützten, siehe als Auswahl: Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Ap- penzeller Sonntagsblatt 18/11 (1879), S. 86–87, hier S. 87;Derselbe, Nachrichten, in:Ap- penzeller Sonntagsblatt 20/24 (1881), S. 190–191; Derselbe, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 21/38 (1882), S. 303–304, hier S. 303;Derselbe,Nachrichten, in:Appenzeller

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Transnationale Aspekte des Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus 255 die im preußischen Konservatismus verankerteund wiedie anderen beiden Blätter stark antisemitische Kreuzzeitung sowiedie Neue Evangelische Kir- chenzeitung fanden gelegentlich Beachtung.39 Die vonden ,positiven‘ Deutschschweizer Protestanten übernommenen oder ihnen als Informationsquelle dienendenantisemitischen Artikelaus dem deutschen Protestantismus befassten sich häufig mit der sogenannten ,Juden- frage‘. Das antisemitische Konstrukt und die daran angegliederten judenfeind- lichen Diskurse, die ,den Juden‘ beispielweise großen ,Einfluss‘ in Politik, Kultur, Wirtschaftund Medien unterstellten und ,die Juden‘ einer ,schädlichen‘, ja ,zersetzenden‘ Wirkung aufdie Gesellschaftbezichtigten, erlebten unter den ,Positiven‘ im Kontext der Rezeption des Antisemitismusstreits ihren Durch- bruch. Vor1879 lässt sich der Terminus fürdie analysierten Zeitschriften nur äußerst selten nachweisen.40 Besonders populärwar der Begriff im Appenzeller Sonntagsblatt,imEvangelischen Wochenblatt und in den pietistisch geprägten Zeitschriften Christlicher Volksbote und Freund Israels.41 Aufliberaler Seite fehlte der Begriff fürdiese Periodehingegen fast ganz. Die Ausnahme stellte das Schweizerische Protestantenblatt dar.42 Die Vorstellung, dass die Präsenz vonJuden zu einer Frage respektiveeinem

Sonntagsblatt 22/37 (1882), S. 295–296, hier S. 295;Derselbe, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 23/11 (1884), S. 87–88. 39 Zum Antisemitismus der Kreuzzeitung und der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung: Dag- mar Bussiek, „Mit Gott fürKönig und Vaterland!“. Die Neue Preußische Zeitung (Kreuz- zeitung) 1848–1892 (Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich- Ebert-Stiftung,15), Münster/Hamburg/London 2002;Heinrichs, Das Judenbild Protestan- tismus (wie Anm. 7), S. 156–213, v. a. S. 166–186;Engelmann, Kirche am Abgrund (wie Anm. 12), S. 51–61.Die Neue Evangelische Kirchenzeitung diente vorab in den 1870er-Jahren als Quelle fürantisemitische Texte. Siehe z.B.:Politisches, in:Appenzeller Sonntagsblatt 10/51 (1871), S. 407–408; Politisches, in:Appenzeller Sonntagsblatt 11/41 (1872), S. 326–328, hier S. 327;Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 12/35 (1873), S. 279–280, hier S. 280;Vermischtes, in:Evangelisches Wochenblatt 19/13 (1878), hier S. 58. 40 Sehr frühe Nennungen:Zur Judenfrage, in:Evangelisches Wochenblatt 1/10 (1860), S. 46–47; Zur Judenfrage, in:Evangelisches Wochenblatt 1/11 (1860), S. 52;Die Judenemanzipation im Aargau, in:Kirchenblatt fürdie reformirte Schweiz 19/11 (1863),S.89–92. 41 Siehe als Auswahl ausden zahlreichen Artikeln:Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in: Appenzeller Sonntagsblatt 18/45 (1879), S. 358–360, hier S. 358–359;Ludwig Pestalozzi, Kirchliche Rundschauvom Dezember,in: Evangelisches Wochenblatt 21/2 (1880), S. 5–7; Friedrich Heman, Neunundvierzigster Jahresberichtder Freunde IsraelszuBasel, in:Freund Israels 7/4 (1880),S.81–98, hier S. 88;Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 19/47 (1880), S. 374–376, hier S. 374;Ein Rückblick aufdas Jahr 1880, Teil IV, in:Christlicher Volksbote 49/4 (1881), S. 29–31, hier S. 29. 42 Siehe etwa:Alfred Altherr,Die Judenfrage, in:Basler Protestantenblatt2/35 (1879), S. 285– 290;Oskar Brändli, Kreuz und Quer,in: Schweizerisches Protestantenblatt8/23 (1885), S. 211–213, hier S. 213. Siehezudem folgende Artikelserie:HansEmil Baiter,Die Judenfrage, 2Teile, in:Schweizerisches Protestantenblatt 15/23 (1892), S. 180–181;15/24 (1892), S. 188– 191.

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Problem geworden sei, war bis gegen Mitte der 1880er eine Schlüsselvorstellung im Antisemitismus der konservativ-protestantischen Zeitschriften. Der mit dem Konstrukt ,Judenfrage‘ inhaltlich ebenfalls verknüpfte Topos der ,Verjudung‘, in dem sich das antisemitische Bild einer vermeintlich zu großen jüdischen Präsenz noch akzentuierte, tauchte in den konservativen Texten gleichzeitig auf, doch war der Begriff deutlich weniger gebräuchlich als jener der ,Judenfrage‘.43 Zentral fürden Transfer des Topos der ,Judenfrage‘ in den Deutschschweizer Protestantismus ist die Tatsache, dass eine direkte Übertragung des angeeig- neten Topos aufden schweizerischen Kontext in den untersuchten Publikationen kaum je vollzogen wurde.44 Es ist bezeichnend und letztlich auch paradigmatisch fürden Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismusimletzten Drittel des 19. Jahrhunderts, dass die antisemitischen Stellungnahmen am Ausland und in erster Linie an Deutschland abgehandeltwurden. Die ,Judenfrage‘ wurde somit exterritorialisiertund fürDeutschland, nichtaberdie Schweiz gestellt.45 Dasselbeist vonden eng mit dem Topos der ,Judenfrage‘ verknüpften antise- mitischen Vorstellungen eines angeblich übermäßigen ,jüdischen Einflusses‘ zu sagen. Dass ,die Juden‘ vorab in Deutschland eine ausgesprochene Machtsitua- tion besitzen würden, war ein wiederkehrender antisemitischer Diskurs.46 So

43 Siehe beispielsweise:Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 17/ 13 (1878), S. 102–104, hier S. 103;Mittheilungen überdie Verhandlungen der evangelischen Allianz, Teil VI, in:Christlicher Volksbote 47/42 (1879), S. 330–333, hier S. 330;Israels Rückkehr nach Palästina, eine politische Zeitfrage oder religiöse Zukunftsfrage?, in:Freund Israels 5/2 (1878),S.51–58, hier S. 56;Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 27/21 (1888), S. 166–167, hier S. 167;EduardPreiswerk, Festrede, in:Freund Israels 17/5 (1890), S. 121–129, hier S. 125. 44 Siehe als Ausnahme:Georg Rudolf Zimmermann, Das moderne Judenthum in Deutschland, besonders in Berlin. Zwei Reden vonAdolf Stöcker,in: Evangelisches Wochenblatt 20/44 (1879), S. 199–201, hier S. 200. Die Entstehung einer ,Judenfrage‘ in der Schweiz erachteten auch als möglich:Rudolf Rüetschi, Miscelle. Zur Statistik der Juden, in:Volksblattfürdie reformirte Kirche der Schweiz 12/33 (1880), S. 132;Rundschauzur Jahreswende, Teil II, in: Kirchenfreund 15/2 (1881), S. 17–23, hier S. 21. 45 Siehe beispielsweise:Eine bedeutsame soziale Frage. Jüdisches, in:Kirchenblatt fürdie reformirte Kirche der Schweiz 9/48 (1879), hier S. 191;JohannJakob Schenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 20/10 (1881),S.78–80, hier S. 89;Ludwig Pestalozzi, Kirch- liche Rundschau vom Januar,Teil II, in:EvangelischesWochenblatt 22/6 (1881), S. 31–34, hier S. 32–33;Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 27/36 (1888), S. 285–287, hier S. 286. 46 Siehe als kleine Auswahl:Nachrichten und Correspondenzen, in:Volksblatt fürdie re- formirte Kirche der Schweiz 4/37 (1872), S. 174–176, hier S. 175;Carl Pestalozzi, Kirchliche Chronik, in:ChristlicherVolksfreund 3/34 (1877),S.273–274, hier S. 273;Politisches, in: ChristlicherVolksbote 45/38 (1877), S. 304;J.Alexander,Die gegenwärtige sociale und po- litische Lage des jüdischen Volkes, in:Freund Israels 5/1 (1878), S. 22–31, hier S. 27;Ludwig Pestalozzi, Kirchliche Rundschau vom Januar,Teil II, in:Evangelisches Wochenblatt 22/6 (1881), S. 31–34, hier S. 33;Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonn- tagsblatt 22/37 (1883), S. 295–296, hier S. 295. Das antisemitische Bild des ,jüdischen Ein- flusses‘ in Deutschland war vereinzelt auch aufliberaler Seite präsent.Siehe etwa:Salomon

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Transnationale Aspekte des Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus 257 monierte etwa PfarrerCarl Pestalozzi, Redakteur des Christlichen Volksfreunds, den angeblichen Zustand einer jüdischen ,Übermacht‘ in Deutschland und verwendete dabeidie Symbolik der Söhne Noahs, die nach biblischem Ver- ständnis als Stammväter füralle ,nachsintflutlichen Völker‘ angesehen wurden. In den Händen einer halben Million Juden würden sich, so der Zürcher Pfarrer, „ein so ungeheurer Reichthum und eine so grosse Macht“ vereinigen, dass „Ja- phet oft genug in den Hütten Sems wohnen und der Deutsche Haus und Feld von dem Israeliten zu lehen tragen“ müsse.47 Die durch Solidaritätmit theologischen Richtungen geprägtePositionsnahme fürdie antisemitischen Haltungen des deutschen konservativenProtestantismus war stark gekennzeichnet durch Rechtfertigungsdiskurse. Nichtzuletzt anhand statistischer Konstruktionen wurde wiederholt in typisch antisemitischer Ma- nier ein Realkonflikt suggeriert, mit dem Ziel, die antisemitische Welle in Deutschland als gerechtfertigteund ,natürliche‘ Reaktionzuverharmlosen und den nördlichen Nachbarstaat in Schutz zu nehmen.48 Einesolche Argumenta- tionsstrategie verfolgtebeispielweise PfarrerJohann JakobSchenkel 1881 im konservativ-protestantischen Appenzeller Sonntagsblatt. Bezug aufDeutschland nehmend,reproduzierte er die Haltung des der Bewegung Stoeckers zuzurech- nenden Reichsboten ausBerlin, wonach es kein Volk aufDauer ertragen könne, „wenn die Juden in so großer Anzahl vorhanden“ seien,49 und 1884 fügteerim gleichen Sinne an, dass „eine aufstrebendeNation wiedie deutsche […] eine so großeUebermachtdes Judenthums aufdie Dauer“ nichtertrage.50 Mit Blick aufdie Transfer-Dimension, die der Bedeutung des antisemitischen Diskurses im deutschen Protestantismus fürdie JudenfeindschaftimProtes- tantismus der Deutschschweiz zukam, gilt es abschließend nochmals festzu- halten:Die Rezeptionder antisemitischen Welle in Deutschland machtedas antisemitische Konstrukt der ,Judenfrage‘ vorabimkonservativen Protestan- tismus der Deutschschweiz breit bekannt. Wieist aber die Exterritorialisierung

Zimmermann, Reformchronik, in:Schweizerische Reformblätter 8/25 (1879), S. 460–463, hier S. 462. 47 Carl Pestalozzi, Kirchliche Chronik,in: Christlicher Volksfreund 6/48 (1880), S. 424–426, hier S. 424. Japhet wurde in dieser biblischen ,Völkerkunde‘ als Urahne der europäischen Völker gesehen. 48 Siehe als Beispiele fürdie statistische Argumentationsstrategie:Zeitfragen in Briefform. Ueber die Judenfrage, Teil III, in:Christlicher Volksbote 47/46 (1879), S. 364–366, S. 365; Politisches, in:Christlicher Volksbote 48/47 (1880), hier S. 375;Nachrichten und Korre- spondenzen, in:Volksblatt fürdie reformirte Kirche der Schweiz 17/22 (1885), hier S. 147– 148;Gottlieb Schuster,Kirchliche Zeitschau, in:Christlicher Volksfreund 15/32 (1889), 364–365, hier S. 365. 49 Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt21/24 (1881),S.190–191, hier S. 190. 50 Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 23/46 (1884), S. 367–368, hier S. 368.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 258 Thomas Metzger der ,Judenfrage‘ mit Bezug aufden einem Transfer inhärenten Aspekt des Wandels respektiveder Adaption eines übernommenen Konzepts zu deuten?51 Dieser Aspektdes Wandels kann daringesehen werden, dass das dem Konstrukt der ,Judenfrage‘ zugrundeliegende antisemitische Denken bejaht, jedoch der imaginierteRealkonflikt in nationaler Hinsichtals ein nichtschweizerischer angesehen wurde.

Deutschland als Kristallisationspunkt für antisemitische Aussagen

Als dritte Dimension der transnationalen Bezugnahme aufdie Entwicklungen in Deutschland kann abschließend deren Funktion als Kristallisationspunkt fürdie Artikulation fest etablierter antisemitischer Ansichten im Deutschschweizer Protestantismus verstanden werden. Das Interesse an den Vorgängen in Deutschland, das sich in den Spalten der untersuchten Zeitschriften nieder- schlug, legte antisemitische Einstellungen offen und ließ sie stärker manifest werden. Diese dritte Dimension ist eng verschränkt mit den beiden anderen Dimensionen. So zeigte sich das antisemitische Konzept ,Judenfrage‘ mit seiner gesellschaftsdeutenden Stoßrichtung offensichtlich als anschlussfähig fürdie etablierten Vorstellungen der ,Positiven‘. Denn die Aneignung antisemitischer Diskurse ist, was aufTransferprozesse generell zutrifft, stark vom Rezipienten gesteuert.52 So war die Bezugnahme aufantisemitische Entwicklungen oder die Wiedergabeantisemitischer Texte das Ergebnis einer durch die Einstellungen des Rezipienten gesteuerten bewussten Selektion. Daher widerspiegelten etwa die zahlreichen im Nachrichtenteil des Appenzeller Sonntagsblattes abge- druckten Kurzberichte überdas angebliche Fehlverhalten vonJuden in Deutschland letztlich wohl auch das Bedürfnis, die eigenen antisemitischen Einstellungen zu bestätigen. Ein weiteres Beispiel dafürist die in konservativ- protestantischen Blätternwiederholt aufscheinende judenfeindliche Haltung, die den Aufstieg vonJuden in gewisse gesellschaftliche Funktionen ablehnte. Der christlicheSuperioritätsanspruch stellte ein tragendesElementinsbesondere des Antisemitismus der,Positiven‘ dar.Die rechtlicheGleichberechtigung wurde zwar nach der in der Schweiz 1866/74erfolgten Emanzipation nichtmehr grundsätzlich in Frage gestellt,dochwurde sie nichtals ,gleiche Berechtigung‘

51 Die Bedeutung des Aspekts der Transformation in Transferprozessen betonen:Michel Es- pagne, Au delà du comparatisme, in:Derselbe, Lestransferts culturels franco-allemands (Perspectives germaniques), Paris1999, S. 35–49;Michael Werner/BØnØdicte Zimmermann, Vergleich, Transfer,Verflechtung.Der Ansatz der Histoire croisØe und die Herausforderung des Transnationalen, in:Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636. 52 Zur Wichtigkeit der Auswahlmechanismen und Aneignungsstrategien in Rezeptionspro- zessen:Werner,Zimmermann, Vergleich, Transfer,Verflechtung (wie Anm. 51), S. 613.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Transnationale Aspekte des Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus 259 fürdas Agieren in allen Bereichen der weiterhin als exklusiv-christlich gedachten Gesellschaftverstanden.53 Der christliche Superioritätsanspruch und damit einhergehend die Vorstel- lung, ,die Juden‘ hätten sich gesellschaftlich unterzuordnen, wurde insbesondere daran manifest, dass der Aufstieg vonJuden in berufliche Positionen, die sie in ein hierarchisch übergeordnetes Verhältnis zu Christen stellte, abgelehntwurde. Exemplarischzeigte sich dies in den Feindbildern,jüdischer Lehrer‘ und ,jüdi- scher Richter‘. Auch hier war es wiederum paradigmatisch, dass die Zeit- schriften oftauf Berichte ausDeutschland zurückgriffen, welche diese vorur- teilsgesteuerte Wahrnehmung zu bestätigen schienen.54 Der Aufstieg vonJuden in Autoritätspositionen deutete das Appenzeller Sonntagsblatt –eine ganze Fülle antisemitischer Stereotypen portierend –inendzeitlicher Weise als sogenannte Zeichen der Zeit. Vorallem mit Blick aufDeutschland folgerte es im Oktober 1880: „Und das sollen wirAlles ruhig hinnehmen, sollen zusehen, wiediese Presse unserVolk religiösund damit auch sittlichruinirt, es aber als Kulturfortschritt preisen,wenn Juden als Richter unsermVolk den Eid abnehmen und die Lehrer seiner Kinderninden Schulen sind, sollenesals Hebungdes Nationalwohlstandes loben, wennjüdische Bankiers jährlich Millionen verdienen, wenn jüdische Schacherer und Magazinhalter reiche Leute werden und in Städten Laden beiLaden und Haus beiHausreihen, während unserdeutscheschristliches Volk verarmt?!“55 Ähnlich gelagertwar der Vorwurf, ,die Juden‘ würden den ,christlichen Sonntag‘ gefährden und den konservativen Kampf füreinen arbeitsfreien, durch die Kirche strukturierten Sonntag hintertreiben.56

53 In der Schweiz wurde den Juden 1866 die Niederlassungs- und 1874 die Glaubens- und Kultusfreiheit gewährt. 54 Zum antisemitischen Feindbild des ,jüdischen Lehrers‘ siehe etwa:Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 19/10 (1880), S. 78–80;hier S. 79;Conrad von Orelli, Literatur fürund wider Israel, in:Kirchenfreund 14/6 (1880), S. 91–95, hier S. 94; Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 21/21 (1882), S. 167–168, hier S. 168. Zu jenem des ,jüdischen Richters‘: Johann JakobSchenkel, Nachrichten, in: Appenzeller Sonntagsblatt 20/5 (1881), S. 38–40, hier S. 39;Conrad vonOrelli, Eine christ- liche Eidesverweigerung,in: Kirchenfreund 17/3 (1883),S.37–41. 55 Zeichen der Zeit, in:Appenzeller Sonntagsblatt 19/41 (1880), S. 325–326, hier S. 326. 56 Zu den Vorwürfen gehörteetwa, Juden würden Christen dazu zwingen, am Sonntag zu arbeiten oder aberdurch ihren angeblichen großen ,Einfluss‘ aufdie Bevorzugung des jü- dischen Sabbats gegenüber dem christlichen Sonntag hinwirken. Auch in dieser Argumen- tation wurde gerne mit Beispielen ausDeutschland argumentiert, welchediese vermeintli- chen Machenschaften belegen würden. Siehe z.B.:Friedrich Heman, Rede am Epiphaniasfest 1882, in:Freund Israels 9/2 (1882), S. 25–33, S. 29;GustavPeyer, Ein Kampf um den Sonntag, in:Schweizer Sonntagsfreund 3(1883), S. 18–24, S. 19;Johann JakobSchenkel, in:Appen- zeller Sonntagsblatt 23/10 (1884),S.151–152,hier S. 151;Johann JakobSchenkel, Nach- richten, in:Appenzeller Sonntagsblatt 24/44 (1885), S. 351–352, hier S. 351;GustavPeyer,Des KaufmannsSonntag,in: Schweizer Sonntagsfreund 21 (1886), S. 161–165, hier S. 162;H.L.,

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 260 Thomas Metzger

Mit dem Aufkommen des sogenannten modernen Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus vordem Hintergrund der antisemitischen Welle in Deutschland ab Mitte der 1870er-Jahreverschwandendie Diskursedes religiös-theologisch argumentierenden Antijudaismus keineswegs.Das Beispiel dieser gesellschaftlichen Hierarchisierung aufgrund des christlichen Superio- ritätsanspruches zeigtauf, wiebeide Diskussionsstränge sich miteinanderver- binden konnten. Dies sei an dieser Stelle mit Blick aufdie wichtige Frage des Ausmaßes an Kontinuitätzwischen Antijudaismus und modernem Antisemi- tismus fürdie Antisemitismusforschung erwähnt. Gerade auch der Topos der ,Judenfrage‘ stellte eine weitere solche diskursiveBrückedar. Der AntisemitismusimDeutschen KaiserreichimAllgemeinen und im Pro- testantismus des nördlichenNachbarnimBesonderen fungierte fürden Deutschschweizer Protestantismusals transnationaler Bezugsrahmen.Seine Rezeption wirkteals ein Katalysator fürdie Popularisierung des modernen Antisemitismus ganz besonders im konservativen und ,vermittlerischen‘ Deutschschweizer Protestantismus. Damit einhergehend vollzog sich ein Transfer antisemitischer Konzepte, der sich beispielhaftander Postulierung einer angeblich existierenden ,Judenfrage‘ festmachen lässt. Da Rezeption und Übernahme selektive Prozesse sind, verweisen sie aufbereits etablierteDenk- strukturen. So wirkte Deutschland ebenso als Kristallisationspunkt fürinter- nalisierte antisemitische Vorstellungen. Indem aufdie antisemitischen Ent- wicklungen im Kaiserreich Bezug genommenwurde, verfestigten sich diese judenfeindlichen Denkstrukturen weiter. Das konfessionelle, sprachlich-kulturelle und oft auch theologisch-wissen- schaftliche Verbundenheitsgefühl sowiedie richtungsspezifischeSolidarisie- rung mit dem NachbarnimNorden blieben im Deutschschweizer Protestan- tismus bis zum Ersten Weltkrieg stark. Darin lag ein zentraler Grund fürdie fortdauernde Rezeption des Antisemitismus des deutschen Protestantismus. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges schwächte die germanophile Einstellung unter den als theologische Bildungselite zu verstehenden Autoren und Redak- teuren der untersuchten Zeitschriften ab,–eine Entwicklung,die letztlich aufdie gesamte deutschschweizerische Bevölkerung zutraf.57 Weiterhin explizit ger- manophile Positionen vertretende Pfarrer neigten hingegen in der Folge rich- tungsübergreifend dazu, in ihrer Deutschland verteidigenden Haltung dasLand als Opfer,der Juden‘ darzustellen. Diese Pfarrerwurden zu den zentralen Trägern vonsoziokulturell, national oder kulturalistisch-essentialisierend argumentie-

VomStuttgarter Sonntagscongreß,Teil IV,in: Christlicher Volksbote 60/24 (1892), hier S. 189–190, hier S. 190;Nachrichten, in:Christlicher Volksbote 60/34 (1892), S. 270–272, hier S. 271. 57 Fürden Charakter der Deutschschweizer Germanophilie und deren Transformation siehe: Urner,Die Deutschen in der Schweiz (wie Anm. 2), v. a. S. 49–91.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Transnationale Aspekte des Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus 261 renden Diskursendes AntisemitismusimDeutschschweizer Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg.58 Sie zeigten sich auch fürantisemitische Ver- schwörungstheorien empfänglich.59 Der AntisemitismusimProtestantismus Deutschlands stelltefürdiese Gruppe bis in die 1930er-Jahreeinen wichtigen Referenzrahmen dar.

58 So trafen sich in ihrer antisemitischen Deutung der deutschen Situationnach dem Ersten Weltkrieg beispielsweise der ,positive‘ Wilhelm Hadornund der liberale Hans Baur.Siehe beispielsweise:Wilhelm Hadorn, Die kirchliche Lage in Deutschland, in:Kirchenfreund 53/3 (1919), S. 22–23, hier S. 22;HansBaur, Ichwar hungrig,und ihr speistet mich. Eine Reise nach Oesterreich, Teil II, in:Schweizerisches Protestantenblatt43/42 (1920), S. 333–335, hier S. 333–334;Wilhelm Hadorn, Chronik, in:Kirchenfreund 59/8 (1925), S. 123–126, hier S. 125. Richtungsübergreifendsympathisierten einige dieser Exponenten mit dem germa- nophilen Volksbund fürdie Unabhängigkeit der Schweiz, der ausder Agitation gegen den 1920 erfolgten Beitritt der Schweiz zum Völkerbund entstand und der in den 1930er-Jahren Berührungspunkte zum faschistischenFrontismus aufwies. Zum Volksbund siehe:Gilbert Grap,Differenzen in der Neutralität. Der Volksbund fürdie Unabhängigkeit der Schweiz (1921–1934),Zürich2011. 59 Siehe z. B.:HansBaur, AusSturm und Stille, in:Schweizerisches Protestantenblatt44/39 (1921), S. 309;Derselbe, AusSturm und Stille, in:Schweizerisches Protestantenblatt 47/5 (1924), S. 38–39, hier S. 39. Besonders ausgeprägt waren diese in der jungreformierten Be- wegung präsent, die extremgermanophile Positionen einnahm. Zu den Jungreformierten siehe:Aerne, Religiöse Sozialisten (wie Anm. 4), S. 38–48.

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The Tiszaeszlár Blood Libel:Image and Propaganda

This study aims to reconstructand analyse the anti-Semitic visual reception historyofthe Tiszaeszlµrblood libel case from the time of the affair (1882–1883) up untiltoday.Itexamines images created in connection with the blood libel togetherwith their usageand function as instruments of anti-Semitic propa- ganda.Itunderlines the power of images by highlighting their role in the es- tablishmentand institutionalisation of an anti-Semitic, pseudo-religious cult centred on the figure of the alleged victim of the ritual murder accusation. Furthermore, the study identifies the main actors, their motivations, objectives and strategies, while also exploring the economical aspectofthe phenomenon: the production, circulation, multiplication and distribution of anti-Semitic imagery. The Tiszaeszlµraffair occurredinHungary, but it received immediate attention in the Austro-Hungarian Monarchyaswell as beyond. As for the anti- Semitic, artistic reception history of the case, it is atransnational phenomenon as it involves material and sources from amyriadofcountries ranging from Russia to the United States.

Tiszaeszlár blood libel:acultural history

On April1,1882, Eszter Solymosi, ayoung peasantgirl, wentmissing in the village of Tiszaeszlµr, EasternHungary. Soon local Jews were accusedofritual murder;itwas claimed that they needed the Christian girl’s blood for the ap- proaching Passover to makethe Matzot, the unleavened bread. (The historical Eszter Solymosi most probably drowned in the riverTisza, her—unharmed— body was found nearby at the shore.) From village rumours the case grew to gain nationwide importance as MPsGØza Ónody and Gyo˝zo˝ Istóczy—future founders of the Anti-Semitic Party—introduced the case at the Hungarian Parliament. During the investigation—which did not lack premeditated elements—Móric Scharf, sonofadefendant, was forced to makeafalse testimony. The trial was held during the summer of 1883, the defence hadbeen led by lawyer Kµroly

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Eötvös, awell-known liberal politician at the time. At the end of the Europe-wide disputed, infamous case all of the defendantswere cleared of the charges.1 The cultural historyofthis blood libel is characterized by arather strange phenomenon:Tiszaeszlµrappears to be akey issue of identity for two distinct groups;Hungarian anti-Semites and Hungarian artists of Jewish descentare equally invested in the case. Artistically or culturally significantworks authored outside these two groups are extremely rare. The cultural production related to this blood libel is remarkably rich. It includes multiple genres:literaryworks (poems, dramas, novels, an essay), artworks (paintings, drawings, caricatures, prints, arelief), music (polka, folk songs, rock songs, operas) and filmsaswellas popular myths and folklore.2 The interpretations of the Tiszaeszlµrcase showaprofound affinitywith Hungary’s social and political history.Onthe one hand, Tiszaeszlµrhas always been inevitably thematised when the extreme righthad gained momentum;on the other hand, interpretations by Jewish artists are connected to the emergence of both latentand open anti-Semitism, and on asymbolic level, to the Holocaust. Contemporarypolitics have always been amajor factor for both the genesis and the reception of these works. The creators and the public of the anti-Semitic, blood libel related works belong to subsequentyet interrelated anti-Semitic subcultures presentfrom 1882

1Cf. the recentmonograph about the affair:GyörgyKövØr, Atiszaeszlµri drµma. Tµrsada- lomtörtØnetilµtószögek [The Drama of Tiszaeszlµr. Social Historical Viewpoints],Budapest 2011.Iwould liketothank for the valuable comments gnes Fazakas and Lilian Gergely provided for the manuscript of this study. The author’s research was supported by the ÚNKP- 17–4 NewNational Excellence Program of the MinistryofHuman Capacities. 2Cf. the author’s previous publications about differentsegmentsofthe Tiszaeszlµrblood libel’s cultural history:VØrvµd Øszene. ErdØlyiJózsef versØnek kontextusa Øsrecepciója [BloodLibel and Music:The Context and Reception of József ErdØlyi’s Poem],in: dµmIgnµcz (ed.), Populµriszene Øs µllamhatalom [Popular Music and State Power],Budapest 2017, p. 258–281; ASakterpolkµtólazEgØszsØges Fejbo˝rig. Atiszaeszlµri vØrvµdzenei szubkultfflrµi[Polka and Skinheads:Musical Subcultures of the TiszaeszlµrBlood Libel],in: Mffllt ØsJövo˝ 1(2016), p. 81–103;Major Jµnos (1934–2008). Monogrµfia Øsœuvre katalógus [Jµnos Major (1934–2008). Monograph andŒuvre Catalogue],PhD dissertation, Budapest 2016, p. 130– 145;“SzembenØzni amagyar törtØnelemmel.” VØri Dµniel interjfflja Sµndor Ivµnnal Ti- szaeszlµrcímu˝ drµmµjµról Øsahatvanas-hetvenes Øvekro˝l[“Facing Hungarian History.” Daniel VØri’s interview with IvµnSµndor about his drama Tiszaeszlµrand about the sixties- seventies],in: IvµnSµndor,Atiszaeszlµri per Øs2015 (The TiszaeszlµrTrialand 2015), Bu- dapest 2015, p. 215–226;A tiszaeszlµri vØrvµdzenei feldolgozµsai. hagyomµnyok, inter- pretµciók, narratívµk[Musical Adaptationsofthe TiszaeszlµrBlood Libel. Traditions, Inter- pretations,Narratives],in:Mffllt ØsJövo˝ 2(2014), p. 23–36;“Leading the Dead”. The World of Jµnos Major,Budapest 2013, p. 14–29;Tiszaeszlµr. The Site of an Alleged Ritual Murder,in: The Challenge of the Object. 33rd Congress of the InternationalCommittee of the Historyof Art. Post Graduate Program, Nuremberg 2012,p.150–151;Több szólamban. Verzió egy koncepciósperre [Choir in Multiple Voices. Versionfor aShowTrial],in: Balkon 6(2012), p. 22–23.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 The Tiszaeszlár Blood Libel:Image and Propaganda 265 up to this day. In the following study,Iwill concentrate exclusively on the visual material, but it has to be kept in mind that its primarycontext, thatis, Ti- szaeszlµr’s wider anti-Semitic cultural tradition, includes literature, folklore, and music as well as an unfinished film.

The alleged victim:animaginary portrait

The first and—concerning its long lastingeffect—the most importantwork of artrelated to the case was the imaginaryportrait of the allegedvictim, Eszter Solymosi. It is rather an early work, created less than three months after Ónody’s speech in the Hungarian parliament.3 On August 12, the pressreported that a young painter called Lajos brµnyiset out to paintthe portrait of the missing girl, based on the features of her sister and descriptions made by her acquain- tances.4 brµnyiwas an editor of local newspapers in the cityofNyíregyhµza, situated approximately 25 kilometres away from Tiszaeszlµr. He received his artistic training in Munich and in Paris, later he became an established por- traitist in Hungary.5 The sources are contradictoryconcerning the exactchro- nology, but it seems thatbythe end of August the painting had already been completed.6 Apparently,sketches or even parts of the painting were made on the spot, however the work was certainly finished in the painter’s studio.7 Judging from the girl’s supposedly authenticattire it is clear that brµnyimade good use of further sources:the descriptions giveninthe missing person reportand during the investigation.8 At the end of the month alocal newspaper—founded two years before under the editorship of brµnyihimself—reported that the painter was about to finish his work and would hand it over to aHungarian or foreign artdealer in order to create reproductions and to sell the painting itself.9 This episode indicates that brµnyicreated the image out of his owninitiative, because—knowing,asaneditor,the workings of the pressand public opinion— he sawitasagood financial opportunity. However—as we will see—he found a much better marketing agentthan asimple artdealer:the local MP,GØza Ónody. Before discussing his role, let us turnour attention to brµnyi’s work. Un-

3 Ónody’s speech:May 23, 1882. KövØr, Atiszaeszlµri drµma (see note 1), p. 397–399. 4Fo˝vµrosi Lapok, August 12, 1882, p. 1151. 5Katalin Sz. Kürti, Debreceni kØpzo˝mu˝vØszeti adattµr[Debrecen Fine Arts Database],in: MµrtaSz. MµthØ,Lµszló Selmeczi (ed.), ADebreceni DØri Mfflzeum Évkönyve 1995–1996 [Yearbookofthe DØri Museum in Debrecen],Debrecen 1998, p. 365. 6FüggetlensØg, August 24, 1882, cited by KövØr, Atiszaeszlµri drµma (see note 1), p. 452; NyírvidØk, August 8, 1882, p. 3. 7NyírvidØk, August 27, 1882, p. 3. 8For the descriptions, see KövØr, Atiszaeszlµri drµma (see note 1), p. 447, 461. 9NyírvidØk, August 27, 1882, p. 3.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 266 Daniel Véri fortunately,there is no information about the painting’s whereabouts—its last track dates back to 1883 –, but we can judge it after areproduction, adetailed drawing (Fig.1). It was afull figure representation of the girl, described in the sources as asemi-life-size painting.10 (According to my estimate, that would be an 80 by 45 centimetre large canvas.11)Concerning the facial features and the clothes, the painting might be considered—as much as an imaginaryportrait could be—authentic. The painter worked carefully,after descriptions, the sister’s figure and advice from the girl’s relatives, almost as aforensic sketch artist.12 The setting of the figure however—and thus the overall message of the work—is far from being descriptiveorobjective.Behind the girl we see apath, leading to the Tiszaeszlµrsynagogue and the temple servant’s house:this turns the portrait into anarrativeimage, suggesting the ritual murder of the girl. The painting was finished just in time for Ónody to bring it with himself to Dresden, where he took partinthe first International Anti-Jewish Congress, which opened on September 11, at the Festsaal of Helbig’sEtablissementlocated in the citycentre.13 Before the congress, Hungarian press had reported that brµnyiwas alreadypainting the portrait of MóricScharf, the Jewish boy, who made afalse testimonyconfirming the ritual murder.14 Later, it was stated that Ónody planned to bring this second portrait to Dresden as well, but brµnyidid not manage to finish it in time.15 Strangely enough, after this episode there is no trace of the second painting. Eszter Solymosi’s portrait was displayed at the venue of the congress in il- lustrious company: the podium was decorated with the busts of the German Emperor,the king of Saxony and the Austrian Emperor,while Bismarcks’s framed letter thanking the greetingssenttohim by the Dresden anti-Semitic Deutscher Reformverein adorned the wall.16 This kind of decoration had the purpose to confer an air of authorityonthe meeting.17

10 Fo˝vµrosiLapok, September 8, 1882, p. 1286;Staatsbürger-Zeitung, September 12, 1882, cited by Ulrich Wyrwa, Die Internationalen Antijüdischen Kongresse von1882 und 1883 in Dresdenund Chemnitz. Zum Antisemitismus als europäischer Bewegung, in:Themenportal Europäische Geschichte (January 1, 2009), URL: (all websites last accessed on May 26, 2017). 11 The height of the drowned girl was 144 centimetres. KövØr, Atiszaeszlµridrµma (see note 1), p. 465. 12 NyírvidØk, August 27, 1882, p. 3; 12 röpirat,September 15, 1882, 31;GØza Ónody,Tisza- Eszlµramultban Øsjelenben [Tiszaeszlµrinthe Past and Present],Budapest 1883, p. 235;the two latter cited by KövØr, Atiszaeszlµri drµma (see note 1), p. 453. 13 12 röpirat, September 15, 1882, p. 13. 14 Pesti Napló,September 1, 1882, morning edition. 15 Fo˝vµrosiLapok, September8,1882, p. 1286. 16 12 röpirat, September 15, 1882, p. 13. 17 Earlier about the setting:HillelJ.Kieval, AntisØmitisme ou savoir social?Sur la gen›se du

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Fig.1:ZoltµnCsörgey:Eszter Solymosi, 1882, drawing,made after Lajos brµnyi’s painting created in the same year

Ónody held his speech in front of the painting,maximisingthe emotional effect offered by this theatrical setting.18 He talked aboutthe girl’s alleged fate, “whose body was dismembered by Hebrew vandalism.”19 He described vividly the effect the painting made on him:hesaw “those closed lips move, those hands raise

proc›smoderne pour meurtrerituel, in:Annales. Histoire, Sciences Sociales 49/5 (1994), p. 1094–1095. 18 12 röpirat, September 15, 1882, p. 26, 30–31. 19 12 röpirat, September 15, 1882, p. 31.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 268 Daniel Véri towards the sky.”20 According to his accountthe picture was created by “the spirit of memory” in Tiszaeszlµratthe presence of the girl’s family and acquaintances, whoall found the portrait life-like.21 Ónody underlined the authenticityofthe painting with an anecdotic account:when the painting was shown to the mother, “for amomenther sad face brightened up with the sweet joyofreunionand […] she cried out:‘This is my good child, my poor little Eszter!Asifshe herself were standing in frontofme! She looked exactly alike!’”22 Ónody coloured the “ob- jective authenticity” of the painting masterfully with an emotional overtone. He summarized his objective and the potential of the painting as follows:“This image will always be,until Christianityexists, the symbol of Jewish religious fanaticism, it will always be asymbolofthe intolerance of that race.” He was right:the painting served as abasis and starting pointfor the future cult of Eszter Solymosi. After Dresden, Ónody continued his journey to Berlin, where Ernst Henrici organizedananti-Semitic gathering on September 14 at the Bockbrauerei. Here Ónody held his speech with the same mise-en-sc›ne as before.23 According to the reportofthe Viennese liberal newspaper, Neue Freie Presse, the public was invited to view the painting for an entryfee of 50 pfennigs.24 The next day, the local Hungarian newspaper—formerly edited by brµnyi—reported thatthe painting was already in Hamburgand the past and future income was handled by Henrici,who was going to send the revenue to the painter.25 By mid-December the work arrivedback in Hungary: fromDecember18itwas exhibited in the restaurantofthe Hotel Pannonia for an entrance fee of 30 kreuzers.26 According to the reports of the press, in the beginning of January, the owner of the res- taurantseized the work, because the painter was not able to provide the rental fee.27 Unfortunately after this incident, we lose track of the work. brµnyiand Ónody had afruitful and lucrative cooperation. brµnyifound the impresariohehad been looking for,who would help him to capitalise on the affair,while Ónody received perfectvisual supportfor his anti-Semitic prop- aganda. Their harmonic association was not applauded by everybranch of the

20 12 röpirat, September 15, 1882, p. 30. 21 12 röpirat, September 15, 1882, p. 30. 22 12 röpirat, September 15, 1882, p. 31. 23 12 röpirat,September 15, 1882, p. 5–6;PaulNathan, Der Prozess vonTisza-Eszla´r. Ein AntisemitischesCulturbild, Berlin 1892, p. 41. [cites Deutsche Tageblatt, September 16, 1882] 24 Neue Freie Presse,September 16, 1882, p. 4. 25 It is unclear whether Ónody travelled to Hamburg,the article’s reference to Henrici’s role attests otherwise. NyírvidØk, October 15, 1882, p. 3. 26 FüggetlensØg, December 17, 1882, p. 2; Fo˝vµrosiLapok, December 17, 1882, p. 1811;Füg- getlensØg, December 20, 1882, p. 2; Egyenlo˝sØg, December 24, 1882, p. 9. 27 Egyenlo˝sØg, January7,1883, p. 10;Fo˝vµrosi Lapok, January9,1883, p. 42;Esztergom Øs vidØke,January21, 1883, p. 2.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 The Tiszaeszlár Blood Libel:Image and Propaganda 269 press:the liberal humorous periodical Borsszem Jankó did not miss an occasion to have alaugh at the two gentlemen’s expense.28 After the Dresden congress, the paper published acaricature showing Ónody as asideshowoperator,pulling the curtain aside to showthe attraction—the portrait—tothe audience.29 Indeed, the way Ónody illustrated his narrative about the alleged murder was verymuch likethe role of the Bänkelsänger at acounty fair (Fig.2).

Fig. 2: Unknowndraughtsman: GØza Ónody at theDresden Anti-JewishCongress, showing Eszter Solymosi’s portrait,caricature

Ónody’s and brµnyi’s cooperation did not end after the German tourofthe painting.Inthe beginning of 1883, Ónody published abookabout the affair in Hungarian and in asubsequentGerman edition.30 The books were published by the Imre Bartalits company, which was essential for contemporaryanti-Semitic subculture as it published awide scale of anti-Semitic products,such as books, a

28 Borsszem Jankó,October 1, 1882, p. 2; October 8, 1882, p. 2, 5; December 24, 1882, p. 5; December 24, 1882, p. 9. 29 Borsszem Jankó,September 17, 1882, p. 7. 30 Ónody,Tisza-Eszlµr(see note 12);GØza Ónody,Tißa-Eßlµrinder Vergangenheit und Ge- genwart, Budapest 1883.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 270 Daniel Véri blood libel related musical score, as well as humorous periodicals.31 Both edi- tions of Ónody’s bookcontained adrawing after brµnyi’s painting,made by draughtsman ZoltµnCsörgey,who worked regularly for Bartalits.32 His drawing is very detailed, the only apparentchange is that he rounded off the edges of the rectangular image, probably in order to imitate aphotographic portrait, thus enhancing the illusionofauthenticity. Asecond wave of portraits was created during the summer of 1883, at the time of the trial. Considering the limited availabilityofthe painting compared to the drawing reproduced in Ónody’s books, it was most probably Csörgey’s work that servedasamodel. In an illustrated weekly,arather roughly sketched drawing appeared, showing only two thirds of the original figure, without the back- ground, while an anti-Semitic political daily newspaper published aquality drawing of the girl’s bust (Fig 3–4).33 After the trial, advertisements appeared in the anti-Semitic, humorous peri- odicals published by Bartalits, first in the Hungarian, then in the German ver- sion. They advertised zincographic portraits of “the martyrgirl of Christianity,” created after brµnyi’s painting.34 The international interest invested in the case prompted further illustrations, based on the painting and its derivatives. The new renderings were most probably created in order to avoid copyrightissues. An 1883 book published in German language in NewYork contains arather detailed and authenticgraphic interpretation (Fig.5).35 Contrarily,the illustrator of aBerlin publication fromthe same year changed both the background and the figure:not being aware of its significance,heomitted the synagogue, and as- similated the girl to the figureofLittle RedRiding Hood by adding awoven basket (Fig. 6).36 The rapidmultiplicationand international distribution of brµnyi’scom- position atteststothe powerofimages. The creation of Eszter’s portraitmade the alleged victim visible, thus facilitatedthe emotional identification and it contributed to the possibilityofvisualising theritualmurder.Aswewillsee,

31 About the eminentrole of Bartalits:VØri, ASakterpolkµtól(see note 2). 32 His signed drawings are attested in Füstölo˝ and in Rebach. 33 Vasµrnapi Ujsµg, July 15, 1883, p. 458. The latter was signed by SzØchy[Gyula]: FüggetlensØg, July 03, 1883, cited and reproduced by KövØr, Atiszaeszlµri drµma (see note 1), p. 461–462. 34 The quoted reference is included only in the Hungarian version. Füstölo˝,August 15, 1883, n. p. and September 1, n. p.;Rebach, November 1, 1883 (or December 1), n. p. 35 Der Blutprozess vonTisza EszlµrinUngarn, NewYork 1883, n. p. It is based either on Csörgey’s drawing,oronthe zincographyifthe latter was made after the painting and not its graphic interpretation. 36 Esther Solymosi.Der Prozeß vonTisza-Eszlar,Berlin 1883. The assimilationofthe bloodlibel storytothe tale of Little RedRiding Hood is also attested in folk songs, cf. VØri,ASakter- polkµtól(see note 2), p. 90.

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Fig.3:Unknown draughtsman (after Lajos brµnyiand ZoltµnCsörgey): Eszter Solymosi, 1883

Fig.4:[Gyula] SzØchy: Eszter Solymosi, 1883

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Fig.5:Unknown draughtsman:Eszter Solymosi, 1883

Ritual murder visualised:the Zagreb painting

brµnyi’s work only hinted at the ritual murder by presenting in the background the supposed murder scene, the synagogue, but soon open representations, anti- Semitic propaganda works were created, which showed the alleged ritual murder. Amost probably large-size painting was created in Zagreb before the be- ginningofOctober 1882. Unfortunately the painting and its photographic re- productions are lost, but adetailed description and arelated drawing are at our disposal. The case, based on the reports published in the Croatian, Austrian and Hungarian press can be summarised as follows.37 In Zagreb,the Trieste-born

37 Pozor,October 9, 1882, p. 3; Das Vaterland, October 9, 1882, p. 3–4;Neuigkeits Welt Blatt,

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Fig.6:Unknown draughtsman:Eszter Solymosi, 1883 painter,named—depending on the sources—Ernest or Josip or Giuseppe Novak painted acanvasrepresenting the ritual murder of Eszter Solymosi and started selling photographic reproductions of it. Local police arrested the painter and following ahouse search destroyedthe photos together with its Matrize,that is the photographic original. Citizens whoowned copies were summonedbythe police, but the painter was released from preventive custody. On October 11, an MP showed around acopyofthe photo at the Hungarian Parliament, while the next dayananti-Semitic daily newspaper published an article which included adetailed description of the work, mentioning the painter’s address and the possibilitytoorder it by mail.38 Earlier on, Croatian

October 11, 1882,p.4;Agramer Zeitung, October 12, 1882, p. 3; FüggetlensØg, October 12, 1882, p. 1, 3;Fo˝vµrosi Lapok, October 13, 1882, p. 1459, Das Vaterland, 14 October,1882, p. 5 [quotes the reportofAgramer Zeitung];Borsszem Jankó,October 15, 1882, p. 9; Borsszem Jankó,October 22, 1882, p. 3. Iwould liketoexpress my gratitude to KrunoslavKamenov for sending me relevant sources (Pozor,AgramerZeitung) and for helping my research in Zagreb in 2013. 38 FüggetlensØg, October 12, 1882, p. 1, 3.

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39 Pozor,October9,1882, p. 3. 40 Das Vaterland, October 9, 1882, p. 3–4. 41 FüggetlensØg, October 12, 1882, p. 3. 42 According to the list of files from the periodheld at the CroatianStateArchives:1.1.20. Redarstveno ravnatelstvjo uZagrebu. Vo dicˇ [Police DirectorateinZagreb. Guide] 1850/1890, 1915/1916 (Since finishing the manuscript of this studyduring spring 2016, Ihaveidentified a good qualitylithograph created after the photograph as well as alesser quality woodcut version.). 43 Zagreb,Arhiv za likovneumjetnosti. Novakshould not be confused with an Austrianpainter from the period, Ernest Nowak. Thanks to the article published in FüggetlensØg, which calls the painter “NovµkErno˝”(Hungarian equivalent of Ernest) it is evidentthatErnest Novak (usually mentioned as E. Novakinthe archive) and Josip or GiuseppeNovak are the same person.

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Fig.7:ZoltµnCsörgey:[The Ritual Murder of Eszter Solymosi],1882, drawing, probably in- fluenced by Ernest/Josip/Giuseppe Novak’s painting from the same year, which depicted the alleged murder of Eszter Solymosi

The drawing was included in the first issues that followed the appearanceofthe painting’s reproduction in Budapest—surprisingly enough, untilthen no visu- alisation of the alleged ritual murder had been published. The draughtsman was the same as the one whoreproduced Eszter Solymosi’s imaginaryportrait: ZoltµnCsörgey.45 The image is partofa‘historical’ parallel:the leftpage entitled “In the 1st century(according to the Jewish calendar)” shows the sacrifice of Isaac, the one on the right—“In the 57th century(according to the Jewish cal- endar)” represents the blood libel. The latter is not identical with the description of Novak’s work, but still attests to its influence. UnlikeNovak’s sevenfigures, there are six people in the foreground, plus eight in the background. Eszter is on the table, her blood is flowing to the bowl,the butcher and the praying Jews are present, as well as the TenCommandments on the wall. The description—apart from the religious attire—did not sayanything particular about the social status

44 Füstölo˝,October 1, 1882, p. 4–5;Rebach, December 1, 1882, p. 6–7. Reproduced without commentarybyJµnos Gyurgyµk, AzsidókØrdØsMagyarorszµgon[The Jewish Question in Hungary],Budapest 2001, p. 341. 45 The image on the rightrepresenting the blood libel is only signed with amonogram (Cs. Z.), the full name is written on the leftdrawing.

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Ritual murder visualised:the pseudo-Munkácsy painting

Whereas Novak’s work only had alimited reception, another monumental painting from the same perioddepicting ablood libel had larger success.The work surfaced in 2013 in Hungarian and subsequently in international news- papers (Fig.8).46 Itstheme was identified as the Tiszaeszlµrblood libel with a rather dubious attribution to Mihµly Munkµcsy (1844–1900), asuccessful Hungarian painter,who lived in Paris. Althoughwecan exclude the authorship of Munkµcsy and due to the lack of evidence we cannot confirm adirect relation to Tiszaeszlµr, the painting and especially its reception historyhaveinteresting connections to the Hungarian case. Furthermore, from the genesis and the usage of the painting we can learnmuch about the mechanisms of the fin-de-si›cle art- related sector of anti-Semitic economy. The painting is amonumental, 225 by 392 centimetreslarge canvasofrather good qualityrepresenting life-size figures.47 The scene is set in aspace defined only by an entrance at the leftand illuminated by the litcandles of ametal chandelier.Apale blond woman is lying naked on atable or apulpit covered with redtextile. Jewish men are holding her still in order to enable astereotypically easternlooking Jewinafur hat and coat to cut her.Another Jewstarts either to devour her rightarm or drink blood from awound, afurther one is about to drive

46 AndrµsFöldes, Munkµcsy Mihµly meztelen no˝t ölo˝ zsidókatfestett?[Did Mihµly Munkµcsy PaintJews Killing aNaked Woman?], in:index (March 4, 2013), URL: ;Julia Michalska, Was Hungarian Star Artist an Anti-Semite?, in:The ArtNewspaper,InternationalEdition, 22/245 (April 2013), p. 9. 47 Iwouldliketothank Zsófia VØgvµri’s help,who brought my attention to the painting in 2012 and generously shared the informationshe had about the work. In 2012 she had the op- portunitytosee the work in London together with Jeffrey Taylor and to performapigment analysis. According to her,the material would date the painting approximately to the 1880–1886 time period, sources howeversuggest alater execution. The currentsize of the canvas is givenabove,yet accordingtoVØgvµri it is folded over the stretcher:originally it might have been ca. 8centimetreslarger.

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Fig.8:Unknown painter (pseudo-Munkµcsy): Ritualmurder,1889–1896 (?),oil on canvas anail in or pull one out of her leftpalm. Aman kneeling in front of her holds a bowl under her stomach wound for the blood,while another wearing a tallit is standing on the right, waiting with an emptybrass bowl in his hands. On the left side of the painting some people are looking at the scene, others are turning away from it, one of the latter,awoman is holding nails in her open palm. The characters and their clothes representpeople of differentsocial backgrounds: clerical, bourgeois, rural, eastern, Sephardic, et cetera. The sources about the work are rather contradictoryand biased:mostly anti- Semitic and liberal newspapers were interested in the painting,yet both had their ownagenda when writing about it. First, we should therefore examine the evi- dence offered by the work itself. The style and qualitysuggest arather good but not extraordinarypainter with academic training from the end of the 19th cen- tury. The currentstateofthe painting shows alterations by the artist and some later repainting;for example opposite of the current chandelier another one appears to have been painted.48 The nails and the position of the girl’s arms make an allusiontothe crucifixion of Christ. Besides the work’s obviously anti-Jewish message, the painter also aimed at the attention of the potential public using an attractive female body arranged in an erotic, almost pornographic pose. The size of the canvas suggests thatthe painter either hadaprospective, wealthy buyeror some kind of definedfinancial plan:awork of this size depicting ablood libel is not likely to be painted for stock. Althoughitisobvious thatthe painting represents ablood libel, it is un-

48 Repaints can be foundonthe stomach. (Zsófia VØgvµri’s observations.)

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49 For generalinformation about the following affairs, see Hillel J. Kieval, Blood Libels and Host DesecrationAccusations, in:YIVOEncyclopedia of Jews in EasternEurope, September 22, 2016, URL: . 50 MartyrdomofSimon of Trent, woodcut, 273 x293 mm, Nuremberg,1475–1477 (Biblio- th›que nationale de France), URL: ;Hartmann Schedel, LiberChronicarum, Nuremberg 1493, fol. 254v. 51 L. Zlotnikov,Ritualnaya Kartina [Ritual Painting],in: Zemscina (April 18, 1914), p. 2. I received the article and its translation, provided by the owner from Zsófia VØgvµri.

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Fig.9:Unknown artist:Martyrdom of SimonofTrent, 1475–1477, woodcut

Fig.10: Unknown artist:Martyrdom of SimonofTrent,1493, woodcut

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Stolypin’s writing published in the St. Petersburg newspaper Novoye Vremya, entitled TheTriumph of Mendel Beilis.52 In the last paragraph, the brother of the late Russian Prime Minister, PyotrStolypin, wrote that he had met the owner of Munkµcsy’s work depicting the blood libel. According to Stolypin, the victim, the young blond girl symbolises the Slavs, while the perpetrators are modelled after Jewish leaders, including Rothschild and Montefiore. The latter is most probably Moses Montefiore (1784–1885), but is seems impossible to name the former duetothe large number of probable candidatesfromthe Rothschild family.Nonetheless, it is not possible to identify either of them on the painting: the figures representtypes rather than portraits;the names must have been part of Stolypin’s or the owner’s marketinginvention. The news of the article reached Munkµcsy’s widow, whowrote aletter denying the authorship of the painting.53 Heraccountincludes importantinformation: 15–16 years ago there had alreadybeen an attempt to exhibit the painting in Paris with the false attribution, but Munkµcsy had the exhibition closed. Later the same happened in Brussels where he alsointervened. We have two further im- portantsources from1914:ananti-Semitic article published in Zemscina (St. Petersburg) which covers the painting’s provenance from1908 and areader’s letter in the liberal Kievskaya Misl (Kiev) by professor Trascevsky,who clarifies the genesis of the work.54 The Hungarian newspaper Vilµg published aparticular explanation:the journalist recalledawork by brµnyi, which, according to him, depicted the Tiszaeszlµrblood libel.55 The author’s information, whodid not see the painting himself, was only half correct; brµnyi’s work—as we have already seen—showed Eszter Solymosi’s portrait instead of the alleged murder. Unfortunately,wedonot have independentsources confirming everyaspect, but the storyofthe painting can be more or less reconstructed. The work was commissioned by Kajetan Babetzky,alandowner in Galicia from aRussian painter living in Krakow.Babetzky’s first artistic-financial venture was the or- deringofanother painting fromthe same artist, depicting the 1889 suicide of Austrian archdukeRudolf and his mistress. He planned to exhibit the painting in Parisinorder to capitalise on the tragedy,but the exhibitionwas banned. He ordered the second painting of the blood libel and exhibitedit—with an attri-

52 A[leksandr] Stolypin, Triumpf Mendelja Beilica [The Triumph of Mendel Beilis],in:Novoye Vremya (February 17, 1914), p. 4. Iwouldliketothank Edit Berger for the transliteration of the article. 53 The following newspapers quote her letter in full length: Pester Lloyd, April3,1914, p. 10; Vilµg, April4,1914, p. 8; Neue Freie Presse, April4,1914, p. 7–8. 54 Since Iwas not able to locate the original article:KievskayaMisl, after February17, 1914, before April18, 1914. IamreferringtoaHungarian article, which quotes it:AzEst, April4, 1914, p. 8. 55 Vilµg, April4,1914, p. 8(Published by PØter Molnos on Facebook in 2013).

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 The Tiszaeszlár Blood Libel:Image and Propaganda 281 bution to Munkµcsy—in Warsaw, but the exhibition was banned by the au- thorities within acouple of days.56 In 1896, the painting was exhibited in Paris under Munkµcsy’s name, but the painter had the exhibition closed.57 In 1898 the painting was exhibited in Brussels,not stating directly but at leasthinting at Munkµcsy’s authorship,until the painter—or,due to his illness, more likely his wife—intervened.58 At some pointthe work might have also been exhibited in Vienna.59 The painting was in Warsawbefore1908, when it was exhibited in St. Petersburg.Following ascandal the work was removed;atthis occasion the owner attributed it to the famous Polish painter Henryk Siemiradzki.60 After 1908 it belonged to aPolish club,after its bankruptcy, the painting was sold at an auction and changed owners subsequently at anumber of occasions until1914. According to the currentowner,itreached the United Kingdom throughFinland following the 1917 revolution.61 In 1898, an anti-Semitic article in Le Vingti›me Si›cle applauded the painting on the occasion of its exhibition in Brussels.62 The paper provided adetailed description, an attribution and identified its source of inspiration. It wasstated that although the painter was veiled in anonymity, the work should be attributed to Munkµcsy.(The exhibition’s advertisementinL’IndØpendanceBelge did not name the author,only the title: Meurtrerituel.63)The article identifies the blood libel of “Gram-Kissale (Hongrie), en fØvrier 1875” as the painter’s source of inspiration. The author adds that the editor of aBerlin newspaper,who de- nounced the affair,was brought before the Prussian tribunal, but he had been acquitted. In fact, ablood accusation did occur in Garam-Kis-Salló (todaySˇalov, Slovakia) in 1895 thatended with the accused suing the writer of the accusatory article.64 The editor of the Berlin newspaper can be identified as Karl Sedlatzek, whostood trial in February1896.65 The Garam-Kis-Salló case—which had an

56 Az Est, April 4, 1914, p. 3. 57 See note 53. (According to the manuscript of this studywritten in spring 2016 the exhibition took place in Paris“before or during 1898,” new sources however indicatethat it dates back to 1896. Newdataabout the provenance of the painting and the probable identity of the painter will be published in another,forthcoming paper.) 58 See note 53;LeVingti›me Si›cle, June 18, 1898, p. 1; L’IndØpendance Belge, June 17, 1898, p. 3. 59 La Croix, April 9, 1914, p. 1. Alater reference (April 15, p. 1) was published by Földes, Munkµcsy Mihµly (see note 46). 60 L. Zlotnikov,Ritualnaya Kartina [Ritual Painting],in: Zemscina, April 18, 1914, p. 2. 61 LajosCsordµs, Munkµcsy vagylµtszólag hanyag tanítvµnyafestette aVØrvµdat? [Was the Blood LibelPainted by Munkµcsy or by his Pupil?], in:NØpszabadsµg, March 8, 2013, URL: . 62 Le Vingti›me Si›cle, June 18, 1898, p. 1. 63 L’IndØpendance Belge, June 17, 1898, p. 3. 64 TamµsKende, VØrvµd[BloodLibel],Budapest 1995, p. 135–156. 65 Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Feburary18, 1896, p. 6.

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Amartyr in the making

Althoughthe following chapters of the Tiszaeszlµrblood libel’s visual reception historyare rather recent, it does not by far mean that the anti-Semitic culture built uponthe case stayeddormantfor acentury. The affair remained apopular topic, broughtuptime to time by the extreme rightfor political reasons;anti- Semitic cultural products were equally created. The memoirsofthe investigator wholed the biased process were published first in 1933, and subsequently in

66 CabaretArtistique, Galeries Royales Saint-Hubert. L’IndØpendance Belge, June 17, 1898, p. 3.

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1941, 1942, and 1944.67 Awell-known poet, József ErdØlyiwrote ascandalous poem, entitled Eszter Solymosi’s Blood in 1937, which in turninspiredrocksongs in the 1990s.68 During 1944, preparations were underwayfor an anti-Semitic propaganda film about Tiszaeszlµr.69 The script writer of the film, avigorous anti-Semite, Lajos Marschalkó,had published abookabout the case in 1943, and, living abroad as an ØmigrØ,touched upon the topic in another publication in 1965.70 Furthermore, the deeply enrooted cultureoffolk songs and myths related to Tiszaeszlµr—which are attestedfrom 1882 up untilthe 1970s—can be iden- tified, as the major factors behind the appearance of blood libel accusations against survivors of the Holocaust after the SecondWorld War.71 Under com- munist rule however,itwas prohibited to create overtly anti-Semitic cultural products, thus the new wave of such works arrivedonly after 1989.72 Besides the revivalofEszter Solymosi’s imaginaryportrait, which will be examined in the next partofthe study,two further works were created, showing the girl as aChristian martyr. Both were publishedonkuruc.info, the major news portal of the Hungarian extreme right.73 The first was created in 2008 by an unknown artist, the second—inspired by the previous one—in2009 by painter TamµsMolnµr. Both works showthe girl on the side of the enthroned Christ:heis introducing the girl, whoispointing at her neck wound (Fig.11–12). The model of both images is the same:the email cloisonnØ Pantocrator plaque on the front of the so-called Holy Crown of Hungary, amedieval objectof prestigious Byzantine origin.The choice of model is rather significant:the crown is amajor symbol for the rightand acultic objectfor extremists. The political importance of the crowngoesback to centuries, but its recenthistorystarted after the fall of communism. As partofapolitical compromise, the coat of arms

67 József Bary, Atiszaeszlµri bu˝nper [The TiszaeszlµrCriminal Trial],Budapest 1933,1941, 1942, 1944. 68 VØri,ASakterpolkµtól(see note 2), p. 95–97 and VØri, VØrvµd Øszene (see note 2). 69 Hogyan jutott el atiszaeszlµri nagyper afilmig?BeszØlgetØsMarschalkó Lajossal [How Did the TiszaeszlµrGreat Trial ArrivetobeFilmed?Conversation with Lajos Marschalkó], in: Magyar Film, June 1, 1944, p. 1–2. 70 LajosMarschalkó,Tiszaeszlµr, Debrecen 1943;Lajos Marschalkó,Orszµghódítók[Con- querors of the Country],Munich 1965. 71 VØri,ASakterpolkµtól(see note 2), especially p. 95. Cf. the author’s contribution entitled Musical Patterns of Violence:The Long Shadow of the TiszaeszlµrBlood Libel to the Com- munity and Exclusion:CollectiveViolence in the Multiethnic (East) Central EuropeanSo- cieties beforeand afterthe Holocaust (1848–1948) conference, held in Prague in 2016. 72 Contrarily,Jewish interpretationsinthe domain of fine arts were created mostly before 1989. 73 Ikon akeresztØny mµrtír, Solymosi Eszter emlØkØre [Icon for the Memoryofthe Christian Martyr, Eszter Solymosi],in: kuruc.info,April 30, 2008, URL: ; Újabb mu˝vØsz µllított emlØketamagyar ØskeresztØny vØrtanfflnak [Another Artist Commemorated the Hungarian and Christian Martyr], in:kuruc.info,April 15, 2009,URL: .

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Fig.11: Unknown painter:Icon for the Memoryofthe Christian Martyr,Eszter Solymosi, 2008, digital technique of the new Republic of Hungaryincluded the crown.Itwas avalued objectofthe Hungarian National Museum until2000 when it was brought to the Hungarian Parliamentbythe governing right-wing party.74 The new constitution in- troduced by the same party in 2011 includes the Holy Crown,which, according to the preamble, “embodies the unityofthe nation.”75 Today, the crownoccupies acentral position in the mythologyofthe extreme rightaswell. This background makes the artists’ choice self-evident. The second work, painted in an almost hyper-realistic style, includes another motif:onthe girl’s

74 Cf. LawI/2000 about the foundationofthe state by St. Stephen and the Holy Crown. 75 MagyarorszµgAlaptörvØnye[Hungary’s Constitution], April 25, 2011, Nemzeti hitvallµs [National Confession (preamble)].

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Fig.12: TamµsMolnµr: Eszter Solymosi, Christian Martyr, 2009, digital technique skirt, amythical Hungarian bird—the so called turul—is depicted, which is another popular symbol for the extreme right.76 Both of the artists attached a letter to their work, offering explanation. According to these, the first artist is an icon painter,who wished to remain anonymous due to the anticipated negative public reactions. The author of the second, more detailed painting,however,had no such deliberation;interestinglyenough, the latter even suggested the estab- lishmentofamemorial dayfor the saint. The artists’ statements as well as the inscriptions on their works makeitclear that they view Eszter Solymosi as a saint, as aChristian martyr. The two works attest to the confluence of two cults nurtured by the extreme right: thatofEszter Solymosi and the Holy Crown, which were integrated within these images in apseudo-religious context.

76 Cf. Szabolcs KissPµl, The Rise of aFallenFeather:The Symbolismofthe Turul Birdin ContemporaryHungary, in:e-flux, June 2014, URL: .

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Tiszaeszlár:alieu de mémoire

The cult of Eszter Solymosi was formed step by step.First the doctrine of the blood libel appeared, supported by the believers, then atrueimage of the martyr and subsequently depictionsofher suffering were created. The missing elements to complete thispseudo-religiouscult—a location, amemorial day, and rit- uals—developed during the 1990s and the 2000s. The blood libel myth came to be reflectedinthe village itself:today,Tiszaeszlµrhas become agenuine pil- grimage site, areal lieu de mØmoire for right-wing extremists.77 The major step in this process was the creation of amemorial site. In 1992, a Hungarian ØmigrØ,living in Switzerland and in Spain, Csaba Kenessey,contacted the municipal governmentofTiszaeszlµr, requesting permission to create a memorial for Eszter Solymosi.78 Althoughhis request had been declined, he was offered aslot in the local cemeteryfree of charge. In 1994 he erectedthere an empty tomb,with an inscription written in between quotation marks:“To the memoryofmybeloved daughter,” which anachronistically suggests that it was commissioned by Eszter Solymosi’s mother (Fig.13). The inscription is partof an origin-myth, intended to makethe site more authentic. (Asanti-Semites do not accept the identification of Eszter Solymosi with the drowned body found at the rivershore, no remainswere available to be buried.) Althoughitislocated in the cemetery,the empty graveisnot really atomb, instead it functions as averitable memorial. From 1994 to 2000, no sources are available about the site;itappears that the yearly pilgrimage was first initiated by the neo-Nazi Hungarian National FrontLine (HNFL) around the year 2000.79 In 2003, on the 120th anniversaryofthe affair the number of participating organi- sations increased, as MIÉP, afar rightparty represented in the parliamentlaid their wreaths.80 During the last decade the yearly pilgrimage at the end of March or beginning of April—commemorating Eszter Solymosi’s alleged murder on April1,1882—was regularly attended by numerousparticipants and awide spectrum of organisations of the far Right.AnMPofthe Jobbik party even held a

77 Cf. the series Les lieux de mØmoire by Pierre Nora. 78 For the whole paragraph, see ZsoltKµcsor,Tiszaeszlµr, S. E. 1867–1882, in:NØpszabadsµg, March 8, 2003, p. 28–29, URL: . 79 Magyar NemzetiArcvonal (MNA) in Hungarian. Tiszaeszlµr, 2000–2012. MNA-skØzigrµnµta zsidó tyfflkólba… [HNFL HandGrenade into the Jewish Henhouse],jövo˝nk.info,April 11, 2012, URL: . 80 MIÉPstands for Magyar Igazsµg Øs Élet Pµrtja [Party of Hungarian Justice and Life].Jµnos DØsi, ABlood LibelHistoryfromMIÉP, in:AndrµsGero˝ (ed.), Anti-Semitic Discourse in Hungaryin2002–2003, Budapest 2004, p. 289.

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Fig.13:Eszter Solymosi’s symbolic tomb in the cemeteryofTiszaeszlµr, erected in 1994 by Csaba Kenessey,with an additional plaque from 2007, placed by the group Lelkiismeret ’88 [Conscience ’88],photograph: Hajnal NØmeth, 2012 speech in 2012 in the Hungarian Parliament, reviving the blood libel accusa- tion.81 Most probably before 2003 but certainly by 2007, the HNFL created aseparate memorial:asculpted wooden cross, with Eszter Solymosi’s head in the middle medallion executed in high-relief.82 The portrait has apparently been created after the graphic derivatives of brµnyi’s work. The group is avoiding the public, the last known commemoration at their separatememorial dates back to 2010.83 In 2007, for the 125th anniversaryanextremist organisation, Lelkiismeret ’88 (Conscience ’88), attached amemorial plaque to the tomb erected in 1994, with a blurred image, agirl’s head with ascarfwhich is reminiscentofbrµnyi’s work. Since 2008 the Hungarian National Fronthas organizedthe program of the yearly pilgrimage to the cemetery; most of their flyers from 2009 to 2016 showthe newspaper version of the imaginaryportrait.84 2009 marked so far the most

81 AtiszaeszlµrivØrvµdrólbeszØlt aJobbik [The Jobbik Talked About the TiszaeszlµrBlood Libel],index, April 4, 2012, URL: . 82 Visible in this video:Solymosi Eszter EmlØknap MNA[Eszter Solymosi Memorial Day HNFL],April 1, 2007, URL: . 83 Solymosi Eszter megemlØkezØs2010 [EszterSolymosi Commemoration],jövo˝nk.info,April 19, 2010, URL:. 84 Magyar NemzetiFront (MNF) in Hungarian. Solymosi Eszterre emlØkeztek Tiszaeszlµron

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 288 Daniel Véri intriguing revivalofbrµnyi’s portrait and its original function. The speeches that year were held in front of aredrawn,simplified, over life-size version of Solymosi’s figure, with asentence written at the bottom:“We will not forget!” The setting and function of the image shows striking similarities with the mise- en-sc›ne of Ónody’s speeches in 1882 (Fig.14).

Fig.14: Settingofthe stage at the 2009 commemoration in Tiszaeszlµr, with Eszter Solymosi’s portrait, based on (the derivativeof) ZoltµnCsörgey’s drawing, unknown draughtsman and photographer

There are certain rituals connected to the site, which are repeated everyyear. Around April1,extremists travel to Tiszaeszlµrtocommemorate the alleged murder of the girl. The participants—some of them in paramilitaryoutfits—,

[Eszter Solymosi WasCommemorated in Tiszaeszlµr], April2,2012, URL: .The flyers are in the author’s archive,collectedfromthe HNF homepage, URL: .

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Conclusion

Following the detailed analysis of the works and their usage it appears evident that Tiszaeszlµr’s current, politically eminentstatus for right-wing extremists is the result of along process which started back in 1882. Awide spectrum of cultural products related to blood libel—from which here only the visual ones were examined in depth—constitute alineage of subsequentyet interrelated anti-Semitic subcultures. Throughdifferentperiods, the usage and function of blood libel-related imageryshowboth direct connections and strong parallels. The striking survivaland strengthofthe blood libel myth is ultimately the result of these very subcultures, their traditions, connections and cultural production. The visual material analysed here had astrong potential to affectthe viewer emotionally,the works were thereforeidealcandidates for anti-Semitic prop- aganda. Besides the politically motivated actors it is also evidentthat anti- Semitism was apotentially lucrative economic sector.This is true to an even greater extentfor works of artrelated to blood libel, their reproduction, multi- plication and distribution. Due to the multinational background of the Austro-Hungarian Monarchyand to the immediate international interest, the visual reception historyofthe Tis- zaeszlµrblood libel is acharacteristically transnational phenomenon. Although the cultural historyofthis blood libel appears to be uniquely rich, it is possible that other blood libels from the periodmight also offer interesting, yet under researched cultural aspects. As we have seen, in the case of Tiszaeszlµronly few cultural products remained known and popular throughoutthe ages;most of them however disappeared from public discourse,while others stayed invisible due to the lack of focused research. For these reasons, other cases might also hold some previously unknown material, thereforeacomparative cultural historyof such famous cases in Central and Eastern Europe as the Hilsner affair or the Beilis affair might provetobemost rewarding in the future.

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Illustrations

Fig.1:ZoltµnCsörgey:Eszter Solymosi, 1882, drawing,made after Lajos brµnyi’s painting created in the same year,source:GØza Ónody,Tisza-Eszlµramultban Øs jelenben [Tiszaeszlµrinthe Past and Present],Budapest 1883, n. p.;GØza Ónody, Tißa-Eßlµrinder Vergangenheit und Gegenwart, Budapest 1883,n.p. Fig.2:Unknown draughtsman:GØza Ónody at the Dresden Anti-Jewish Congress, showing Eszter Solymosi’s portrait, caricature, source:Borsszem Jankó,Sep- tember 17, 1882, p. 7. Fig.3:Unknown draughtsman (after Lajos brµnyiand ZoltµnCsörgey): Eszter Soly- mosi, 1883,source:Vasµrnapi Ujsµg, July 15, 1883,p.458. Fig.4:[Gyula] SzØchy :EszterSolymosi, 1883, source:FüggetlensØg, July 3, 1883. Fig.5:Unknown draughtsman: Eszter Solymosi, 1883, source:Der Blutprozess von Tisza EszlµrinUngarn, NewYork 1883, n. p. Fig.6:Unknown draughtsman:Eszter Solymosi, 1883, source:Esther Solymosi. Der Prozeß vonTisza-Eszlar,Berlin 1883, n. p. Fig.7:ZoltµnCsörgey:[The Ritual Murder of Eszter Solymosi],1882, drawing,prob- ably influenced by Ernest/Josip/Giuseppe Novak’s painting from the same year, which depicted the alleged murder of Eszter Solymosi, source:Füstölo˝,October 1, 1882,p.5;Rebach, December 1, 1882, p. 7. Fig.8:Unknown painter (pseudo-Munkµcsy): Ritual murder, 1889–1896 (?), oil on canvas, 225 x392 centimetres,photograph:courtesy of the owner. Fig.9:Unknown artist:Martyrdom of SimonofTrent, 1475–1477, woodcut, 273 x 293 mm, Nuremberg,source:Biblioth›quenationale de France. Fig.10: Unknown artist:Martyrdom of Simon of Trent, 1493, woodcut, source:Hart- mannSchedel, LiberChronicarum, Nuremberg 1493,fol. 254v. Fig.11: Unknown painter:Icon for the Memoryofthe Christian Martyr, Eszter Solymosi, 2008,digital technique, source:IkonakeresztØny mµrtír, Solymosi Eszter em- lØkØre [Icon for the memoryofthe Christian martyr, Eszter Solymosi],kur- uc.info,April 30, 2008, URL: . Fig.12: TamµsMolnµr: Eszter Solymosi, Christian Martyr, 2009,digital technique, source: Újabb mu˝vØsz µllított emlØketamagyar ØskeresztØny vØrtanfflnak[An- other artist commemorated the Hungarian and Christian martyr],kuruc.info, April15, 2009, URL: . Fig.13: Eszter Solymosi’s symbolic tomb in the cemeteryofTiszaeszlµr, erected in 1994 by Csaba Kenessey,with an additional plaque from 2007,placed by the group Lelkiismeret ’88 [Conscience ’88],photograph:Hajnal NØmeth,2012,  Hajnal NØmeth–ZoltµnKØkesi. Fig.14: Setting of the stage at the 2009 commemoration in Tiszaeszlµr, with Eszter Soly- mosi’s portrait, based on (the derivativeof) ZoltµnCsörgey’s drawing,unknown draughtsman and photographer,source:MegvµlaszoltaaKuruc.info kØrdØsØt Schuster Lórµnt Tiszaeszlµron–vizsgµlatindultellene [Lórµnt Schuster answered the Kuruc.info’s question—investigation was started againsthim],kuruc.info, April6,2009, URL: .

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Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Damien Guillaume

Vers ‘l’agitation antisémitique ’comme phénomène transnational :hostilité antijuive, équivoques libérales et solidarité juive internationale de l’Affaire Mortara au Congrès de Berlin (1858–1878)

La solidarité juive internationale comme réaction à l’antisémitisme :une fausse évidence ?

La question des rapports entredØveloppements de la solidaritØ juive interna- tionale dans la seconde moitiØ du XIXe et Øvolutions concomitantes de l’hostilitØ antijuive occupe une place paradoxale dansl’historiographie. Alors que l’ob- session des premiers antisØmites à l’endroit de l’Alliance israØlite universelle (AIU)1 n’a pu manquer de laisser des traces dans la littØraturesecondaire, cette problØmatique semble tout juste commencer à intØresser la recherche. Il faut à ce titresaluer les efforts rØcents de Lisa Moses Leff2 ou GrØgoire Kauffmann3 pour apprØhender l’Ømergence et l’action de la premi›re des organisations juives internationales modernes ‘aumiroir ’del’antisØmitismefin-de-si›cle :quand bien mÞme leur choix de se focaliser sur la France ne permet gu›re d’apprØcier le phØnom›ne à l’Øchelle adØquate, ils n’en ontpas moins le mØrite d’adopter une perspective sensiblementdiffØrente de cellequi prØvaut d’habitude. Car il existe un rØflexe bien ancrØ qui consiste à ne voir danslerenouveaudela solidaritØ juiveinternationale à cette Øpoque qu’une rØaction à (ouune dØfense contre) l’antisØmitisme. Or,s’il yade bonnes raisons de penser que des mani- festations d’hostilitØ antijuivejou›rent un rôle dØcisif dans la fondation de l’Alliance, cette grille de lecture prØpare mal à percevoir certains aspectspourtant cruciaux de la sØquence 1860–1880. En consØquence, c’est ØgalementlasØquence suivante –l’agitation tr›sspØciale qui gagne l’Europeautournantdes annØes 1880 –qui risque de n’Þtrepas comprise dans toute son originalitØ.Rappelons d’ailleurs que le terme “antisØmitisme ”nesemet à circuler qu’à partir de

1“AIU ”ou“Alliance ”dans la suite de ce texte. 2Lisa Moses Leff, Sacred BondsofSolidarity. The Rise of Jewish Internationalism in Nineteenth- CenturyFrance(StanfordStudies in Jewish Historyand Culture), Stanford 2006, p. 200–228 (“ The Myth of Jewish Power ”). 3Voir GrØgoireKaufmann, L’Alliance au miroir de l’antisØmitisme franÅais, dans :AndrØ Kaspi (dir.), Histoire de l’Alliance israØlite universelle de 1860 à nos jours, Paris2010, p. 142–155.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 294 Damien Guillaume l’automne 1879 et qu’à ce titrel’Alliance n’a pu d’abord rØagir à ce phØnom›ne proprement-dit. Avant1880, l’organisationjuiveluttaitpour“l’Ømancipation ”et contre“l’intolØrance ”, se mobilisait face à des “persØcutions ”plus ou moins ponctuelles ou contrele“fanatisme ”engØnØral, combattait l’esprit du “moyen- âge ”aunom du “progr›setdelacivilisation ”:ces diffØrents maux, personne n’avait encore eu l’idØedeles qualifierd’“ antisØmites ”, et ceci n’est pas sans importance. Par-delà ce pointterminologique, on aurait tortderØduireles dØbuts de la solidaritØ juive internationale à la seule rØaction à l’hostilitØ antijuive. Il yavait alors une dimension positive, et non seulement rØactive,dans le projet portØ par l’Alliance israØlite. Outre certains chantiers qui n’entretenaientqu’un rapport assez indirect avec la luttecontreles persØcutions (ainsi la mise en place d’un rØseaud’Øcoles dans divers pays), lajeune organisation sembla d’abordavanttout prØoccupØepar le besoin de redØfinir la mission du judaïsme à l’heure de la modernitØ –qu’on yvoit une tentative de parer au risque de dØsaffectation religieuse en pØriodedesØcularisation accØlØrØe(un danger alors souventcon- sidØrØ comme plus prØoccupantque l’hostilitØ antijuive), une forme de nØo messianisme ou mÞme un premier pas vers la reconstitutiond’une unitØ na- tionale juive.4 Dans tousles cas, ce serait donner une image dØformØedel’Alliance que de nØgliger cettefacette de ses aspirations et, en rØduisantses objectifs à la simple autodØfense, d’omettre le relatifoptimisme qui anima tout d’abord ses fondateurs. On ne peut toutefois nier que la rhØtorique de la lutte contreles “prØjugØs”et la “persØcution ”semÞlait si bien à tousles autres aspects de l’activitØ de l’AIU qu’elle finissait par paraîtrecentrale.Maislà est bien la question :l’historien doit- il reprendre à son compte cette tendance de l’Øpoque ou, au contraire, user d’une distance critique dontles portes-voix de l’Alliance, organisation Øminemment militante, eurentlogiquement tendance à s’affranchir ? À retenir la seconde option,voici peut-Þtrecommentseformulerait une problØmatique à la fois exigeante et comprØhensive :dans les annØes 1860 et 1870, l’Alliance adaptait sa reprØsentation de l’hostilitØ antijuive–àne pas confondre, donc, avec l’antisØ- mitisme proprement-dit –aux diverses causes oœ elle Øtait engagØe, qu’il s’agîtde l’articuler d’une faÅon cohØrenteavec les autres grandes reprØsentations faisant sa marque idØologique (l’universalisme, la laïcitØ,lanØcessitØ de “relever ”les coreligionnaires dØfavorisØs, etc.) ou qu’il s’agîtplus prosaïquementdemieux servirces causes dans le feu de l’action. Bien entendu, un tel processus

4Michael Graetz, Lesjuifs en France au XIXe si›cle. De la RØvolutionfranÅaise à l’Alliance israØlite universelle (L’Univers historique), Paris1989. Pour une autre approche, voir l’in- troduction de Perrine Simon-Nahum, Auxorigines de l’Alliance, dans:Kaspi (dir.), Histoire de l’Alliance israØlite universelle (voir note 3), p. 11–52.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Vers ‘l’agitation antisémitique ’comme phénomène transnational 295 d’adaptation Øtait loin d’Þtretoujours conscientetilserait naïfdecroire que tous les effets en furenttoujours parfaitementmaîtrisØs. Mais il serait non moins naïf d’en nØgliger la dimension stratØgique, du reste clairementrevendiquØepar une organisation qui ne cachajamais savolontØ de mener ses combats sur le terrain de ‘l’opinion ’. Quoi qu’il en soit, la reprØsentation de l’hostilitØ antijuivemobilisØe par l’Alliance ne pouvait que s’en trouver passablementorientØe, si bien qu’il faut se demander si sesanimateurs rest›rentcapables d’Øvaluer correctementles Øvolutions effectivesdel’hostilitØ antijuivequi s’opØraientalors – à commencer par celles que l’historien croit aujourd’hui reconnaître comme les plus nettement annonciatrices de la future agitation ‘antisØmite ’. On l’aura compris,nous doutons fortementdecettecapacitØ.Allons mÞme plus loin car,ironiedusort, il s’av›re que l’Alliance israØlite resta particuli›re- mentinsensible à l’une de ces Øvolutions qui la concernait le plus directement, à savoir la montØeenpuissance du th›me de la conspiration juive internationale. Pourtant, avantmÞme la crØation officielle de l’organisation, le risque en avait ØtØ clairementexposØ par Ludwig Philippsohn, fondateur et animateur de la All- gemeine Zeitung des Judenthums : “(…) le plus actifetles plus invØtØrØ des prØjugØscontreles juifs,leplus dangereux, celui par lequel on les discrØdite et les dØnonce les plus sßrementaux yeux des masses ignorantes, c’est la croyance à l’existenced’une sorte de franc-maÅonnerie entreeux, d’uneligue secr›te pour se soutenir rØciproquementetnuireaux autres croyances :on n’estdØjàque trop portØàcroireque nous nous entendons tous mystØrieusementdans une pensØedesecours fraternelle et de haine contrel’Øtranger :laformation d’une alliance spØciale n’est propre qu’à fortifier cette convictionetàmultiplier nos ennemis: elle est donc une arme terrible que nous leur fournissons. ”5 On sait combien cette crainte se rØvØla fondØe:non seulementles choses se dØroul›rent-elles exactementcomme l’avait prØdit Philippsohn, mais chacun convientaujourd’hui que le th›me de la conspiration juiveinternationale fut l’une des principales caractØristiques de l’antisØmitisme dit ‘moderne ’. Nous re- viendrons pourfinir sur la rØponse que fit alors l’un des fondateurs de l’AIU à cette objection. Mais ce qui importe à ce stade, c’est le cruel dilemmedevant lequel une telle mise en garde ne pouvait que mettre les partisans de l’Alliance :

5Ils’agit ici du propos de Philippsohn reformulØ peu apr›spar Isidore Cahen –Archives israØlites (AI), novembre1860, p. 616. La critique originale se trouvedans la Allgemeine Zeitung des Judenthums du 18 septembre1860 (Ueber die Alliance israØlite universelle, 38 (1860), p. 557–559). Nous remercions Heidi Kno¨rzer de nous avoir ØclairØ sur une dimension plus personnelle de cette affaire :l’intervention de Philippsohn aurait ØtØ motivØemoins par sonhostilitØ fonci›re au projet d’Alliance que par son amertume de ne pas figurer au centrede l’initiative. Mais pour avoir peut-Þtre ØtØ un simple prØtexte, il nous semble que sonavertis- sementn’en Øtait pas moins pertinent.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 296 Damien Guillaume convaincus de la rØalitØ du danger,auraient-ils eu d’autre choix que de renoncer purementetsimplement à leur initiative? Ce n’est donc pas pourblâmer l’Alliance israØlite universelle que nous croyons devoir poser la question de sonrôle dans certaines mutations de l’hostilitØ juive entrel’affaire Mortara et le Congr›sdeBerlin. En revanche, et quitte àØcorner l’image d’Épinal, il est nØcessaire de rØflØchir à de nouvelles articulations, moins manichØennesetqui puissentrendre compte d’une sØquence souventdØlaissØe par les historiens de l’antisØmitisme alors qu’elle se rØv›le cruciale à tous Øgards. C’est ce que nous allons tâcher d’esquisser dans les pages qui suivent, en in- troduisantd’ailleurs un troisi›me terme à l’Øquation :ceque nous appelons les “ Øquivoques libØrales ”, dontlerôle apparaîttout aussi importantpour peu qu’on adopte une perspective vØritablementeuropØenne sur cette histoire.

Quelques considérations sur l’affaire Mortara

À ce propos, commenÅons parquelques remarques sur l’affaire Mortara, scan- dale international s’il en fut et prØtexte immØdiat à la crØation de l’Alliance. Sans revenir en dØtail sur le sortd’Edgardo,enfantjuif de Bologne enlevØàsa famille par le Vatican apr›snouvelle de sa conversionpar une servante chrØtienne,6 il faut rappeler quelques caractØristiques de l’ØvØnement, passablement ØclipsØes par sa dimension humanitaire. Et une premi›re mise au points’impose :sans bien sßrque cela excuse l’ha- bitude qu’avait alors le Vatican d’enlever des enfants juifs à la moindre rumeur de baptÞme sauvage, il faut garder à l’esprit que le rapt du jeune Mortara n’avait en soi aucune dimension dØmonstrative;aussi, la surprise et l’embarras du Saint- Si›ge furentsans aucun doute sinc›reslorsque l’Eglise se trouvaentraînØedans la “tempÞte mondiale”qu’Øvoquerait par la suite PieIXlui-mÞme, dans une lettre oœ il est Øgalementquestion des “journalistes ”comme des “vrais puissants de notre temps ”.7 De fait, la dimension du scandalequi suivit l’enl›vementdujeune Mortara ne peut s’expliquer par les seuls efforts de sa famillenimÞme par la mobilisation des diverses communautØsjuives d’Europe. Il fallait pourcela que la presse libØraledediffØrents pays s’en mÞlât, ce qu’elle fit non seulementpar philanthropie mais aussi et peut-Þtresurtoutpourdes raisons politiques –cequi vaut bien sßrpourl’Italie, oœ les partisans de l’unitØ nationale perÅurentim- mØdiatementleparti à tirerd’une telle circonstance,mais Øgalementpour des pays moins directementconcernØspar le Risorgimento et oœ,semble-t-il, ce n’est

6Voir DavidKertzer,Pie IX et l’enfantjuif. L’enl›vementd’EdgardoMortara, Paris1997. 7Ils’agit d’une lettre Øcrite par PieXIàEdgardo Mortara en 1867 et citØ dans Kertzer,Pie IX (voir note 6), p. 274.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Vers ‘l’agitation antisémitique ’comme phénomène transnational 297 qu’en fonction d’enjeux locaux que l’affaire Mortara put produire un certain Øcho.8 En France,le scandale Øclata dans un contexte marquØpar l’implicationdirecte de NapolØon III dans les affaires italiennes (les troupes franÅaises Øtaientalors chargØes d’assurer la protection des États du pape) et son Øvolution progressive vers un soutien au Risorgimento –une inflexion de la politique impØrialequi ne pouvait que satisfaire les milieux libØraux, auxquels l’affaire Mortara apparut en outre commelemoyen idØal d’attaquer l’Église et de mettre à mal l’alliance ayant prØvalujusque-là entrelerØgime et les catholiques.9 C’est la raison pourlaquelle, dans ce pays, ce fut d’abord la presse libØrale qui porta l’affaire devant le public, et c’est pourquoi ce fut d’abord à cette presse libØraleque la presse catholique, apr›s un long silence gÞnØ,sedØcida enfin à rØpondre. Ce pointest crucial car si la rØaction catholique tournabientôt à la franche campagne antijuive, celle-ci semble avanttout avoir ØtØ le prolongementdelapolØmique initiale :end’autres termes, cette campagne resta fondamentalementdirigØecontreles libØraux mÞme dans les moments oœ elle se mit à concentrer ses attaques sur les juifs. Cela s’observe notammentdans L’Univers,principal journal de l’ultramon- tanisme en France mais aussi pi›ce maîtresse de la contre-offensivedeRome à une plus vaste Øchelle. Chronologiquement, l’offensives’y dØroula en trois temps.10 Lorsque s’ouvrirent les hostilitØs, mi-octobre 1858, L’Univers ferrailla exclusivementavecdes feuilles libØrales (le Si›cle,leConstitutionnel,leJournal des dØbats,laPresse), recourantpourcela à un argumentaire qui n’Øtait certes pas tout à fait exempt d’hostilitØ antijuive, mais oœ celle-ci restait un th›me tr›s marginal :outre le fait que la discussion portait essentiellementsur les aspects techniques et dogmatiques de l’affaire Mortara,ilØtait clair qu’aux yeux des rØdacteurs de L’Univers le conflit opposait avanttoutdes chrØtiens entreeux, c’est-à-dire de bons et de mauvais chrØtiens. Leschoses rest›rent peu ou prou ainsi pendantunmois, puis, mi-novembre, L’Univers se saisit d’une nomination de quelques juifs dans les conseils gØnØraux en AlgØriepourrØorienter sa

8Ainsi la question de l’esclavage aux États-Unis ou encorecelle des relationsentre catholiques et protestantsenAngleterre. Dans ce dernier cas, la dimensionjuive de l’affaire semblemÞme avoir ØtØ compl›tementabsente des discussions :voir Josef L. Altholz, ANote on the English Catholic Reaction to the Mortara Case, dans :Jewish Social Studies 23/2 (1961), p. 111–118. 9Ils’agit là d’un rØsumØ grossierdelasituation ;pour une analyse dØtaillØe, voir Jean Maurain, La politique ecclØsiastique du seconde Empirede1852 à 1869,Paris 1930 (l’affaireMortara et son contexte sont ØvoquØsp.229–237). 10 Lesprincipaux articles –non seulementdeVeuillot, mais de plusieurs autres collaborateurs de L’Univers ainsi que d’autres journaux –sontreproduitsdans Louis Veuillot, Me´langes religieux, historiques, politiques et litte´raires, 2e se´rie,tome cinquie`me, Paris1860, p. 1–316 (“ Lesjuifs ”). À noter que Veuillot introduit la section dans ces termes :“Sous ce titre[‘Les juifs ’],jerecueille la longue et multiple pole´mique a` laquelle adonne´ lieu l’incidentsans importance propreque l’on appelleencorel’affaireMortara. ”, ibidem, p. 1.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 298 Damien Guillaume campagne :danscette seconde phase, le th›me des juifs Øtait nettementplus prØsentmais la polØmique continua à opposer exclusivement L’Univers aux feuilles libØrales –mÞme s’il est vrai que celles-ci Øtaientdeplus en plus expli- citementaccusØes d’agir au service de l’argentjuif. Finalement, dans la premi›re moitiØ de dØcembreetsuite à la parution d’un article de L’Univers israØlite jugØ injurieux par la feuille ultramontaine, celle-ci engagea le fer directementavecla presse juive(d’abord L’Univers israØlite puis les ArchivesisraØlites).Enoutre, le terrain touchaitcette fois au cœur mÞme du judaïsme puisque c’est le Talmud qui fut violemmentmis en cause des semaines durant. Lorsqu’onannonce qu’une feuille ultramontaine s’en prit au Talmud, il semble qu’on aaffaire à un th›me tellementclassiquequ’il frise avec l’intemporel. De fait, les griefs ici mobilisØsn’Øtaientgu›re diffØrents de ceux agitØslorsdes prØcØdents ou des futurs proc›sduTalmud – à commencer par l’accusation de haine juive à l’endroit de l’humanitØ en gØnØral et des chrØtiens en particulier.Mais cette impressionest trompeuse et il faut dØpasser ce cœur apparemmentinamovible pour entrevoir les vØritables enjeux de la polØmique. Ainsi, la principale source antitalmudique mobilisØepar L’Univers Øtait un certain LuigiChiarini, abbØ italien qui à la fin des annØes 1820 avait ØtØ chargØ par le tsar Nicolas Ier de traduire le Talmud, ce qu’il commenÅa à faire avantd’ÞtreemportØ par une ØpidØmie sØvissant à Varsovie oœ il rØsidait.11 Or,Chiarini avait commencØ par tirer de ses recherches deux volumes d’une ThØorie du judaïsme12 qui, à l’examen, se rØv›le profondØment Øquivoque :s’il est lØgitime d’y voir une dØnonciation typique- mentcatholiqueduTalmud (doublØed’une volontØ probable de convertirles juifs au christianisme13), la dØmarche de l’abbØ s’inscrivait toutautantdans la lignØe des tentative de rØforme “ ØclairØe”des juifs –etàce propos signalons seulement que Chiarini agit en tantque membre d’un comitØ se proposant, à l’instar du cØl›bre concours oœ l’abbØ GrØgoires’Øtait distinguØ quelques dØcennies plus tôt, de rØflØchir aux“moyens de rendre plus heureux les Juifs en les rendantplus utiles ”.14 Sans affirmer que les rØdacteurs de L’Univers furenttout à fait conscients de

11 Sur le parcours de l’abbØ Chiarini, voir en particulier Roman Marcinkowski, Luigi Chiarini (1789–1832). An Anti-Judaistic Reformer of Judaism,dans :Studia Judaica 7/2 (2004), p. 237–248. Seuls deux volumes de sa traduction du talmud parurenteffectivement:AbbØ L. Chiarini, Le TalmuddeBabylonetraduit en langue franÅaise et complØtØ par celui de JØru- salem et par d’autresmonuments de l’antiquitØ judaïque,vol. 1et2,Leipzig 1831. 12 AbbØ L. A. Chiarini, ThØorie du judaïsme appliquØe à la rØformedes IsraØlites de tous les pays de l’Europe, et servantenmÞme temps d’ouvrage prØparatoire à la versionduThalmud de Babylone, vol. 2, Paris1830. 13 MÞme si à notre connaissance Chiarini n’a jamais formulØ explicitementcet objectif. 14 Notice “Chiarini, Luigi”,par Herman Rosenthal, URL : (dernier acc›s25/05/2017) ;Chiarini, ThØorieduju- daïsme (voir note 12), vol. 1, p. 2.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Vers ‘l’agitation antisémitique ’comme phénomène transnational 299 cette Øquivoque, il est en revanche certain qu’ils surentlamettre à profit. En revenantaux ambiguïtØsdes discours qui accompagnaientles premi›restenta- tivesderØformer les juifs –celui d’un Chiarini, mais Øgalementcelui de beaucoup d’autrespour qui la question du Talmud, pour Þtremoins centrale, n’Øtait gu›re posØediffØremment–L’Univers put inverser l’accusation de ‘fanatisme ’dont l’Église Øtait la cible dans l’affaire Mortara et endosser,contreles juifs mais à destination des libØraux, le rôle de dØfenseur de la tolØrance et de la civilisation. Dans le mÞme registre,lafeuille ultramontaine joua sans scrupules des divisions parfois violentes qui opposaientalors la tendanceorthodoxe à la tendance li- bØrale du judaïsme franÅais,renvoyantavec dØlectation certains reprØsentants de cette derni›re à leur propres ambiguïtØsvis-à-vis du Talmud :ainsi dØmentirent- ils aisØment une affirmation de Samuel Cahen selon laquelle le Talmud n’Øtait pour les juifs contemporains plus qu’un lointain souvenir,lui rappelantau passage sa tentative avortØed’en diriger une traduction une quinzaine d’annØes auparavant.15 Ajoutons que s’il en avait eu connaissance, Veuillot n’aurait sans doute pas manquØ de reproduirecejugementpassØ du mÞme Samuel Cahen sur Chiarini :“un rØformateur passionnØ ;unchirurgien qui, au lieu du salutairedu coup de lancette, porte souventuncoup de poignard [mais qui] Ømet aussi des vØritØsutiles, et donne des notions exactes sur le contenu du Talmud ”.16 Uneautre particularitØ de Chiarinidevaitpermettre à L’Univers de poursuivre son duel avec les feuilles libØrales. Nous avonssignalØ la rØsidence de l’abbØà Varsovieetleparrainage de ses projets de rØformes par l’empereur de Russie : à ce titre, sa ThØorie du judaïsme faisait une large place à une thØmatique encore relativementrare à l’Øpoque, la comparaison entrejuifs d’Europedel’ouest et juifs d’Europedel’est. Quand Øclata l’affaire Mortara, cette comparaison avait une histoire vieille d’à peine un si›cle qui n’avait encore gu›re produit d’Øcho public ;etcomme elle revÞtait un caract›re problØmatique bien plutôtducôtØdes partisans de l’Ømancipation que de sesadversaires, elle prØsentait un intØrÞt certain auxyeux des rØdacteurs de L’Univers. En agitantla‘question juive’est- europØenne, leur objectif Øtait clair :lepeu que les observateurs ouest-europØens – à commencerpar ces libØraux qui faisaienttantdecas des persØcutions anti- juives lorsqu’elles pouvaient ÞtreimputØes à l’Église –croyaientsavoirdes juifs de l’Est n’Øtait pas particuli›rementpositif ;par consØquentetencore une fois, L’Univers pouvait prendreenfaute les accusateurs de Rome sur leur propre terrain. La feuille ultramontaine s’y prit de diverses mani›res17 mais le propos

15 Sur tout ceci, voir notammentles articles de L’Univers reproduitsdans Veuillot, Me´langes religieux (voir note 10), p. 231–247. 16 AI, janvier 1840, p. 49. 17 Pour un bonaperÅu des variations possibles autours de la distinction entrejuifs ouest- europØens et juifs est-europØens, voir par exemple “Intervention de M. Alexandre Weill ”, reproduit dans Veuillot,Me´langes religieux (voir note 10), p. 190–202.

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“Ilmesemblait Þtreenplein moyen âge ;une page d’‘ Ivanhoe’se dØroulait devantmoi […] ”

D›slelendemain, L’Univers reproduisit longuementl’article avec un chapeau laissantlibre cours à sa jubilation :

“[…] si M. Paradol [du Journal des De´bats]trouve mauvais que l’‘ Univers ’appelle juif un juif, que va-t-il penser du ‘Constitutionnel ’, employantlemeˆme terme et dØnonÅant la puissance des juifs comme une plaie pour le prØsentetundanger terrible pour l’avenir ?C’est cependantcequ’il vientd’arriver. Oui, le ‘Constitutionnel ’, le propre journal de M. Mire`s, fils d’Isral, ne craintpas […] de montrer les juifs sous les traits de vampires menaÅantl’ordresocial et ruinantlepeuple. Il est vrai qu’il s’agit du peuple

18 Veuillot, Me´langes religieux (voir note 10), p. 199. Les“diverses contrØes ”comprennent aussi bien l’Orientque l’Est de l’Europe, mais avec un accent perceptible mis sur cette derni›re aire gØographique, notammentdans l’article d’oœ est tirØelacitation. 19 A[lcide] Grandguilot, Lettresrusses. III.,dans :LeConstitutionnel, 20 novembre1858.

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russe. Mais qu’importe!s’il est une chose reconnue, c’est que la race juivesereproduit partoutsous les mÞmes traits, avec les mÞmes passionsetsans jamais se confondre dans la nation dontelle fait matØriellementpartiepar le hasard de la naissance. ”20 Prendre en faute la solidaritØ des libØraux envers les juifs, exploiter à cettefin le consensus tacite quant à l’arriØration supposØedeceux de l’Est de l’Europe, chercher de ce côtØ du continentdes justifications à l’attitudehistorique de l’Église vis-à-vis des juifs, fairegrand cas de la distinction entrejuifs occidentaux et juifs est-europØens pourmieux la nier ensuite :toutceci ne relevait pas de l’accidentmais prØfigurait beletbien une stratØgie de long cours pourles marges les plus antijuives du catholicisme.

1869, année pivot (1) :Gougenot des Mousseauxetlapolitique roumaine de l’Alliance israélite universelle

On le vØrifia d›s1869, quand les mÞmes procØdØsfurentemployØsdans un ouvrage capital pour l’histoire de l’antisØmitisme : Le Juif, le judaïsme et la judaïsation des peuples chrØtiens du Chevalier Gougenot des Mousseaux.21 En dØpit d’un tirage alors tr›smodeste, il s’agit bien d’un Øcrit incontournable pour comprendre les Øvolutions de l’hostilitØ antijuive dans la seconde moitiØ du XIXe si›cle, ne serait-ce que parce que son auteur s’y fit l’inventeur d’une formule destinØe à un grand avenir,l’antijudØo-maÅonnisme.22 Mais l’ouvrage intØresse plus largement l’histoire de l’agitation ‘antisØmite ’strictosensu, sur les dØbuts de laquelle il exerÅa une influence certaine et d’emblØeinternationale :d›sles annØes 1870 Gougenotessaimaviales rØseaux catholiques(l’ouvrage fut saluØ par le pape à sa sortieetmis à profit des campagnes antijuives vaticanes) ou encore dans l’espace germanophone vialeTalmudjude d’August Rohling (dont il con- stitua au moinsune source importante23), si bien qu’audØbut des annØes 1880 certaines formules de Gougenot devinrent les mots d’ordredes premierscongr›s antisØmites internationaux –etsacarri›re Øtait alors loin d’Þtrefinie.24

20 Lesjuifs natifs en Russie, dans :L’Univers, 21 novembre1858, citation d’apr›sVeuillot, Me´langesreligieux (voir note 10), p. 157–158. 21 Chevalier Gougenot des Mousseaux, Le Juif, le judaïsme et le judaïsation des peuples chrØ- tiens, Paris1869. 22 Sur ce sujet, voir Emmanuel Kreis, Quit ut Deus ?AntijudØo-maÅonnisme et occultisme en Francesous la IIIe RØpublique, Th›se de Doctorat d’Histoire sous la direction de Jean-Pierre Brach, École Pratique des Hautes Études, Paris2011. 23 Cet Øcrit, paruen1871 et massivementdiffusØ dans les annØes 1870, empruntebeaucoup plus à l’ouvrage de Gougenot que ne le laisse penser les rØfØrences explicites à cet auteur,dØjà relativementnombreuses. 24 Édouard Drumontlui ferait de larges emprunts pour son livre La France juive et Alfred Rosenberg le traduirait en allemand auxlendemains de la Premi›re Guerremondiale ;plus

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Pour nous entenir ici à 1869, la parution de Le Juif, le judaïsmeetlajudaïsation des peuples chrØtiens signalait une Øvolution significativedepuis l’affaire Mor- tara. La campagne de L’Univers en 1858–1859 avait surtout ØtØ guidØepar les circonstances et laissa bientôtlaplace à “des questions plus graves ”, selon les termes de Veuillot lui-mÞme ;25 quant à son caract›re essentiellementdØfensif, mÞme un Samuel Cahen avait fini par le reconnaître, lui qui pourtantenavait ØtØ personnellementlacible :

“EnFrance,les journaux [catholiques] ne sontpas favorablescertainement à nos coreligionnaires[mais] ils ne fontpas, comme la ‘Kirchenzeitung ’, de la chasse aux juifs (Judenhetze) une spØcialitØ […].S’ils dØterrentdes prØjugØsvieux et haineux contreles israØlites, c’est, en apparence, une dØfense plutôtqu’une attaque;cesera, par exemple, une tactique. [À l’occasion de l’affaire Mortara] ces journaux, et notamment l’Univers religieux,ont accusØ les juifs pour attØnuer,s’il est possible, l’infâme enl›- vementdeBologne […] ”.26

On n’en Øtait plus là en 1869 :pavØ de plus de 500 pages exclusivementconsacrØes à dØnoncer les plans malØfiques des juifs contrel’ordrechrØtien, l’ouvrage de Gougenot doit Þtrevunon seulementcomme la consØquence de la tr›snette dØgradation de la situation de l’Église auxyeux de ses plus farouches partisans, mais Øgalementcomme le signe d’un passage à l’offensive. Or,aurang des indices d’une telle Øvolution se trouvait une accusationalors inØdite. Nous avonsdØjàsignalØ Gougenot comme le premier à avoir associØ de faÅon systØmatique l’idØedeconspiration maÅonnique et celle de conspiration juive, mais il fut Øgalementl’un des premiers à associer cette conjuration sup- posØeetune organisation juiveexistante :l’Alliance israØlite universelle, dØcrite par lui comme un “immense rØseaudontles mailles se resserrentchaquejour pour envelopper la terre ”.27 Diverses raisons peuvent ÞtreconvoquØes pour expliquer l’apparition de ce grief à la fin des annØes 1860, à commencer bien sßr par la crØation de l’Alliance qui n’existait pasencore au momentdel’affaire Mortara ;par ailleurs, la rumeur des juifs travaillant à dominer le monde n’Øtait pas neuve28 et les craintes d’un Philippsohn dix ans plus tôtlaissentpenser que la cristallisation conspirationniste autour de l’Alliance Øtait prØvisible. Reste que le processus en question fut indØniablementinfluencØ par certaines de sesentre- prises. En ce qui concerne Gougenot, un aspectprØcis des activitØsdel’AIU

proche de nous, la maisond’Ødition Kontre Kulture, adossØe à l’organisation d’AlainSoral ÉgalitØ & RØconciliation, vientd’en proposer une rØØdition. 25 Veuillot, Me´langesreligieux (voir note 10), p. 299. 26 AI, septembre1860, p. 497. 27 Gougenot des Mousseaux, Le Juif (voir note 21), p. XIX. 28 Voir notammentJohannes Heil, “Gottesfeinde ”–“Menschenfeinde ”. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert)(Antisemitismus, 3), Essen 2006.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Vers ‘l’agitation antisémitique ’comme phénomène transnational 303 semble mÞme avoir jouØ un rôle tout particulier,aupointqu’il yconsacrait un chapitre entier :son engagementdansles affaires de la future Roumanie. Rappelons rapidementlafaÅon dont, au cours des annØes 1860, la question de la condition des juifs dans les principautØsdanubiennes avait fini, contretoute attente,29 par s’imposercomme l’une des principales sources de prØoccupation de l’Alliance. L’affaire commenÅa vØritablementen1866, quand le prince Charles de Hohenzollern-Sigmaringen fut appelØàrØgner sur la MoldavieetlaValachie rØunies et qu’une assemblØeconstituante jeta les bases de la future nation rou- maine. La petite histoire est connue. CrØmieux vint en personne à Bucarest plaider l’Ømancipation compl›te des juifs et trouvad’abord chez les constituants une oreille bienveillante. Mais une agitation de ruesurvint et les dØputØsdØci- d›rentfinalementderØserver l’acc›s à la nationalitØ roumaine auxseuls chrØtiens (c’Øtait le fameux article 7dontles signataires du traitØ de Berlin exigeraient l’abrogation douze ans plus tard). C’est à partirdeces ØvØnements que l’opinion europØenne eut l’occasiondesefamiliariser avec la ‘question juive en Rouma- nie ’augrØd’une sØriedepersØcutions tr›smØdiatisØes et doublØes d’inter- ventionsdiplomatiques encouragØes (notamment)par l’Alliance. Si l’on s’en tientaux annØes 1860, l’acmØ de cette agitation se produisit en 1866–1868, soit prØcisØmentaumomentoœGougenot rØdigeaitson livre:il n’est donc pas Øtonnantqu’il lui ait consacrØ une large place. Mais l’intØrÞtdeGou- genot ne s’expliquait pas seulement par cette actualitØ brßlante. En fait, la ‘question juiveenRoumanie ’prØsentait au moins deux caractØristiques qui, en plus bien sßrdel’implication de l’Alliance, la rendaientparticuli›rementprØ- cieuse à sesyeux. Dans la premi›re, on reconnaîtraaisØment ce qui adØjàØtØdit de la position de L’Univers dix ans plus tôtetilsuffit d’indiquer le titregØnØral donnØ au chapitre en question :“Unepopulation juivedumoyen âge au plein milieu du XIXe si›cle”.30 L’enjeu Øtait rigoureusement le mÞme qu’une dØcennie auparavant et de nouveauilfautnoter que le propos s’adressait prioritairement auxlibØraux :

“[…] peut-Þtrereconnaîtrons-nous [dans le juif de Roumanie] ce Juif dontonasi souventetsisinguli›rementparlØ,leJuif de notre moyen âge. Et s’il nous paraîtsortir tout vivant de sa tombe, –oœjamais il ne descendit, –voyonssilebut providentiel de cette vision n’est pointderessusciter sous nos yeuxl’histoire dØfigurØe, massacrØepar des historiens Øtrangers à la race juivepour la plupart, mais dontuncertain nombre pourraient s’appeler judaïques. L’heure est venue dans doute oœ,dans les desseins de la

29 Sur la gen›sedecette affaire, nousrenvoyons à notre article Lesjuifs des PrincipautØs Danubiennes au regardfranÅais jusqu’en 1860. Introduction à l’Øtudedes campagnes pour l’Ømancipation des juifs des PrincipautØsDanubiennes, 1866–1878, dans :New Europe College Ye arbook (2013–2014), p. 213–257, URL : (dernier acc›s26/05/2017). 30 Gougenot des Mousseaux, Le Juif (voir note 21), p. 414–459 (chapitre onzi›me).

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Providence, la connaissance exacte d’un passØ qui se ranime et reprend corps pour frapper nos yeux doit nous donner l’intelligence de l’avenir. ”31

Quant à la seconde caractØristique, plus directementliØeàla situation politique roumaine, elle Øtait effectivementune aubaine pourles ultramontains antijuifs, tout autantqu’une source de complication pour l’Alliance dontelle contrariait gravementlecadreidØologique. En effet, pourl’organisation juivedeces annØes, l’hostilitØ antijuivenepouvait gu›re Þtreque l’effet d’un fanatisme religieux anachronique bientôtdestinØàÞtrebalayØ par le ventduprogr›s. Or,decepoint de vue, le profil des persØcuteurs roumains relevait clairementdel’erreur de casting :d’apr›sCrØmieux lui-mÞme, les hommes dirigeantalors la Roumanie n’appartenaient-ils pas au “parti ‘libe´ral ’, celui qui professe hautement‘les opinions les plus avance´es ’etqui sympathise le plus vivementavec la re´volution de 1848 ”?32 Il n’en fallait pas plus à un Gougenot pour s’engouffrer dans la faille :

“[…] des perse´cutions atroces, odieuses, et dontlaviolence rappelle celle des sie`cles les plus recule´s, voila` donc le fait dontretentissentles e´chos de l’Europe. Mais quelenest l’instigateur ?[…] Serait-celeparti que les hommes du libe´ralisme moderne appellent re´trograde et cle´rical ?Non, pas le moins dumonde.[…] [L]e grand coupable, si les Juifs disentvrai, c’est le prince lui-meˆme;c’est le jeune militairedelamaison de Prusse que M. de Bismark et Napole´on III ontassis sur le troˆne roumain !C’est le jeune protestant que l’avocat israe´lite Cre´mieux proclame, en s’adressanta`Napole´on III, un prince ‘anime´ des intentionsles plus libe´rales !’C’est en outre le ministre tout-puissantdece prince, c’est-a`-dire Jean Bratiano.Maisceministre quel est-il ?unfanatique, un ami des preˆtres ?—Oh!du tout, il est le chef des hommes du progre`s;il est le grand de´mocrate de la Roumanie!”33

Roumanie mise à part, cette faille traversantlecamp progressiste existait-elle ailleurs que dans l’esprit de Gougenotetdeceux qui partageaientses vues ? À l’examen, certaines dissonances se firenteffectivementjour et en voici un ex- emple aussi prØcoce qu’Øloquent. Le savantErnest Desjardins, futur titulaire d’une chaireauColl›ge de France et qui s’Øtait rendu dansles principautØspour une mission archØologique, signa en 1867 une petite brochure intitulØe Les Juifs de Moldavie.34 L’auteur ydonnait globalementraisonaux argumentsroumains en matie`re e´conomique, yde´nonÅait les “peintures exagØrØes dans les rØcits envoyØsauComite´ Israe´lite et a` la presse occidentale ”35 ou insistait encore sur l’importance du phe´nome`ne migratoire, selon luiune vØritable “invasion

31 Gougenot des Mousseaux, Le Juif (voir note 21), p. 414. 32 Le Sie`cle, 28 juillet 1866 (soulignØ dans l’original). CrØmieux s’empressait toutefois d’ajou- ter que “pourles questionsreligieuses et sociales ”, ce mÞme parti libØral roumain “en [Øtait] encore[…] au quinzie`me et au seizie`me sie`cle ”. 33 Gougenot des Mousseaux, Le Juif (voir note 21), p. 420–421. 34 Ernest Desjardins, LesJuifs de Moldavie, Paris1867. 35 Desjardins, LesJuifs de Moldavie(voir note 34), p. 20.

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Øtrang›re ”36.L’objectifdeDesjardins, toutefois, Øtait alors moins d’accabler les juifs que de comprendre

“commentunministre ultra-libe´ral [Bratiano],repre´sentantdes ide´es de´mocratiques, qui ae´te´ exile´ et asouffertpour cette cause ;qui a, dans une autrecirconstance, propose´ l’abrogation de la loi portantexclusiondes Juifs du droit de nationalite´ pour motifs religieux, apusonger a` atteindreles Juifs, en tantque Juifs, en faisantrevivre des re`glements pe´rime´s”.37

Et Desjardins, qui laissait clairemententendre qu’il partageait lui-meˆme ces convictions libe´rales, de proposer pour finir un catalogue de mesures mÞlant re´formes structurelles et vise´es re´ge´ne´ratrices, qui à ce titrereflØtait certes toutes les ambigui¨te´sdugenre mais n’en comportait pas moins de vraies concessions auxrevendications de l’Alliance.38 Voici donc un observateur occidental qui ne partageait gu›re les options philosophiques et politiques d’un Gougenot de Mousseaux, mais qui à l’occasion de l’affaire roumaine crut devoirromprevisiblementl’unanimitØ supposØede son propre camp.

1869, année pivot (2) :Brafman et la politique russe de l’Alliance israélite universelle

Desjardins ne serait ni le seul ni le dernier,car à partirdelafin des annØes 1860 la faille dØtectØepar Gougenotn’allait plus cesser s’Ølargir.C’est en effet ces mÞmes annØes que la ‘questionjuive ’enRussie, oœ rØsidait depuis longtemps dØjà la plus importante population juiveaumonde, commenÅa vraiment à faireparler d’elle à l’Ouest,notammentdufait de l’intØrÞtnouveauque lui portait l’Alliance israØlite. Dans son ouvrage, Gougenot n’Øvoquait gu›re ce sujet que dans quel- ques notes que l’on devine avoir ØtØ ajoutØes in extremis avantlapublication ; l’une d’elles reproduisait ainsi l’extrait d’un article du Golos –journal russe dont nous reparlerons –rØagissantenoctobre 1869 à la perspective d’une visite de CrØmieux à Saint-PØtersbourg :

“Cette fameuseAlliances’est conside´rablemente´carte´edesadestinationprimitive,quiest de s’occuperexclusivement du de´veloppementmoral de la race juive!Place´esousla directiond’un ex-ministrere´publicain, elle adonne´ fort mala`propos dans la politique, et M. Cre´mieuxs’est misa`jouerse´rieusement le roˆle de pre´sident de la re´publique juive universelle. Il se metdirectementenrapport avec lesgouvernements desautrespays, tout commes’ile´tait lui-meˆme le chef d’un gouvernement.Et, ce quiest plus e´trange,certains

36 Desjardins, LesJuifs de Moldavie(voir note 34), p. 8. 37 Desjardins, LesJuifs de Moldavie(voir note 34), p. 17. 38 Desjardins, LesJuifs de Moldavie(voir note 34), p. 21–23.

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gouvernementslui re´pondentcomme a` un hommeinvesti d’un pouvoirsouverain! […] Quel est doncenfin ce M. Cre´mieux ?unchef d’E´tat ou un simple particulier?…Ilnous semble que traiter avec lui comme avec un personnage officieln’est conformenia`notre dignite´,nia`notre bonsens. Il n’y apas, comme on sait, d’E´tat juif en ce moment. Il ne peut donc eˆtrequestion d’un gouvernementjuif, et moins encored’un gouvernement universel !”39

Significativement, le rØdacteur du Golos ne manquait pas de faire le lien entreson sujet et les affaires roumaines,40 Gougenot prØsentantquant à luices considØ- rations extraites d’un journal russe comme “lere´sume´ et la confirmation de l’un de nos plus importants chapitres”,soit celui consacrØàla Roumanie.41 Mais apr›savoir mentionnØ le peu que l’on trouve chez Gougenot sur la Russie, il faut surtout Øvoquer ce qui ne s’y trouvepas, et pour cause :c’est en effet cette mÞme annØe1869 que parutenRussie la premi›re version de l’ouvrage fameux de Jacob Brafman, ce LivreduKahal qualifiØ par l’historien John Doyle Klier d’Øcrit judØophobeleplus influentdel’histoire russe.42 De fait, sans mÞme parler de ses Øchos plus tardifs et dans le reste du monde, c’est cet Øcrit qui, pendantplus de dix ans, fit de son auteur, un juif d’extraction pauvre et converti à l’orthodoxie, le grand spØcialiste de la ‘question juive’en Russie. À comparer le LivreduKahal43 avec l’ouvrage de Gougenot, c’est d’abord le contraste qui frappe. En effet, là oœ le second proposait une longue dissertation sur la conditionjuiveoccidentale moderne et agrØmentait l’exposØ d’innom- brables extraits de la presse la plus rØcente, le LivreduKahal consistait en un recueil de documents dØjà anciens (il s’agit d’actes du Kahal de Minsk entre1794 et 1833) et qui portaientsur les aspects les plus locaux de la viejuive, le com- mentaireproprement-dit ØtantrØduit à moins de centpages elles aussi largement

39 Gougenot des Mousseaux, Le Juif (voir note 21), p. XXXVII–XXXVIII. 40 “Tout le monde se rappelle quel orage asouleve´ M. Cre´mieux a` propos de la pre´tendue perse´cution des Juifs dans les principaute´sdanubiennes. […] Ses succe`senRoumanie l’encouragentpeut-eˆtrea`intervenirdans les affaires de nos Juifs….. À Bucharest, les conseils amicaux de Napole´on III peuventeˆtrerec¸us comme des ordres ;mais a` Saint-Pe´tersbourg ?” (les passages en italiques sontsoulignØspar Gougenot), Gougenot des Mousseaux, Le Juif (voir note 21), p. XXXVII–XXXVIII. 41 Gougenot des Mousseaux, Le Juif (voir note 21), p. XXXVII ;lanote amÞme pour titre “NOTEDESTINE´EAUCHAPITRE XI, p. 458 ”–chapitre dontGougenot prØcise que les lignes du Golos “devraientleterminer, mais nous les recevons trop tard ”. 42 John Doyle Klier,Imperial Russia’s Jewish Question, 1855–1881 (Cambridge Russian, Soviet and post-Soviet Studies, 96), NewYork 1995, p. 281. 43 Nous nous rØfØrons à l’Ødition suivante :J[acob] Brafman, LivreduKahal. MatØriauxpour Øtudier le Judaïsme en Russie et son influence sur les populations parmi lesquellesilexiste (traduit par T. S.), Odessa 1873. Cette Ødition francophone(qui toutefois ne semble pas avoir ØtØ particuli›rementdestinØeaupublic franÅais) semble conforme à la premi›re version russe de 1869.

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“alliance isralite [sic] universelle qui embrasse l’existence de tous les Juifs de l’univers et qui grâce à la puissante influence de ses protecteurs, qui occupentdes positions ØlevØes dans le monde financier,forme à prØsentunnouveaucentrepolitique pour les Juifs ”.44

Lesdeux hommes ayantvØcu auxdeux extrØmitØsdel’Europe et toute influence rØciproque semblantdevoir Þtreexclue, faut-il tenir cette coïncidence pour un simple fruit du hasard ? Si l’on consid›re l’imaginaire antijuif alors en train de fairejour,ilfautau contraire souligner la profonde complØmentaritØ des deux approches. Avec Le Juif, le judaïsme et le judaïsation des peuples chrØtiens,Gougenot prØtendait dØmontrer l’hypocrisie d’un judaïsmeoccidental redØfini à l’aune de la moder- nitØ,mais dontlui-mÞme reconnaissaitlavØritØ permanente dans les lointaines masses juives d’Europeorientale. QuantauLivreduKahal,ilentendait dØvoiler par l’observation des mÞmes masses juives est-europØennes “les lois organiques du Judaïsme et la viepratiquedupeuple juif ”45,soit ce que Brafman dØcrivait quelque partcomme une “ Øtonnante rØpubliquemunicipale talmoudique [sic] ”46,organisation dontles “confrØries juives ”47 en gØnØral et l’Alliance is- raØlite en particulier n’Øtaient pour luique le prolongement et l’outil au service d’un “but national ”48.Ajoutons d’ailleurs qu’aumomentoœBrafman en venait à s’intØresser aux“erreurs ”des “lØgislations concernantles Juifs ”etdontceux-ci avaientselon lui tirØ parti“dans le si›cleprØsent”49,c’est vers la France qu’il se tournait longuement.50 La coïncidence Øtait donc pourlemoins significative, et c’est sans doute ce qui explique que les innovations propres à chacun des deux auteurs–complot judØo-maÅonnique pour l’un et Kahal pour l’autre –fusion- n›rentbientôtpour ÞtreutilisØscomme de simples synonymes par les antisØ- mites. Mais il yaplus important. Cette complØmentaritØ textuelle, aussi intØressante qu’elle soit et aussi instructiveque soit l’histoire de ses instrumentalisations futures, ne doit pas Øclipser la nouveautØ contextuelle qui seule la rendait pos- sible :l’Ømergence, durantlaseconde moitiØ du XIXe si›cle, d’une toute nouvelle

44 Brafman, Livre du Kahal (voir note 43), p. 74. 45 Brafman, Livre du Kahal (voir note 43), p. 66. 46 Brafman, Livre du Kahal (voir note 43), p. 59. 47 Voir ci-dessous notre note 52. 48 Brafman, Livre du Kahal (voir note 43), p. 74. 49 Brafman, Livre du Kahal (voir note 43), p. 66. 50 Brafman, Livre du Kahal (voir note 43), p. 66–74.

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51 “Asthe Alliance IsraØlite Universelleincreased its activities, Brafman expanded his expo- sition and condemnationofit[…] ”, Klier,Imperial Russia’s Jewish Question (voir note 42), p. 282. 52 En fait, ce sujet fut abordØ par Brafman avantmÞme le LivreduKahal, dans un ouvrage exclusivementconsacrØ aux‘ConfrØries juives ’etqui à notre connaissance n’a jamais ØtØ traduit du russe ;dans la versionfranÅaise du LivreduKahal, le traducteurserØf›re à cet ouvrage sous le titredeConfrØries juives locales et de l’Univers, Vilnius 1869 –Brafman,Livre du Kahal (voir note 43), p. 16. 53 Klier,Imperial Russia’s Jewish Question (voir note 42), p. 282–283.

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Klier,consacrØ auxpogroms de 1881–1882, montrequ’elle finit par devenir une croyance largementpartagØedans certains milieuxdirigeants.54 Face à la cristallisation dontelle Øtait l’objet, commentrØagit l’Alliance ? À en croire certains documents consignØsdans ses archives, elle n’en ignorait rien. C’est entout cas ce que nous apprennentdeux lettres adressØes au printemps 1874 à CrØmieuxpar un certain Zebi Hirsh Dainow,55 porte-parole charismatique des maskilim qui jouissait alors d’une certaine renommØeenRussie.56 Ces lettres comportentune sØried’avertissements qui, rØtrospectivement, apparaissent pertinents. L’action de l’Alliance, dontDainowdØplorait qu’elle ignorât“l’esprit et la situation de nos fr›res russes ”, avait “mØcontentØ le Gouvernementrusse, et tous les journaux russes se sontmis à l’œuvre d’irriter le Gouvernementcontre l’Alliance ”. Et il poursuivait :“Ce qui aencore excitØ davantage le Gouverne- mentc’est le Juif baptisØ Brafmann de Vilna en publiantune brochure dans laquelle il dit que l’[illisible :action?]del’Allianceaun but politique. ”IlØtait encore question d’apaiser “l’animositØ toujours plus grande qui se forme contre l’Alliance ”etd’entamer des dØmarches afin de prouver au gouvernement“que ce Brafman, le Golos et tous les autres journaux russes qui ont Øcrit contre l’Alliance ontmenti ”. Zebi Hirsh Dainow, qui avaitsans succ›ssollicitØ l’at- tention de l’Alliance d›s1869, s’Øtait mÞme cette fois dØplacØ en personne à Paris pour mieux faire entendre sa mise en garde. Or non seulementmanqua-t-il son but mais il semble encore qu’il fut tr›smal reÅu, lui-mÞme se plaignantd’avoir ØtØ traitØ en simple fâcheux (et mÞme en “domestique ”) par les dirigeants de l’Alliance. Ceux-ci, apparemment, avaientalors d’autresprioritØs. Un dernier mot du Golos,cejournal dontZebi Hirsh Dainowfaisait si grand cas dans ses lettresetqui avait Øgalement ØtØ citØ par Gougenot en 1869 :alors la principale tribune du libØralisme en Russie,leGolos n’en fut pas moins le principal promoteur des thØories de Brafman dansles annØes 1870, et cette compromission du libØralismerusse avec une hostilitØ antijuive de plus en plus dØbridØeest si peu anecdotique que John D. Klier lui aconsacrØ un plein chapitre, intitulØ “L’Ønigme de la judØophobie libØrale ”.57 Mais doit-on parler d’une Ønigme ?Entre l’exemple de la Russie et celui la Roumanie, n’est-ce pas plutôtque

54 John Doyle Klier,Russians, Jews, and the Pogroms of 1881–1882, Cambridge,2011. 55 Archives de l’AIU,FranceVI-D-20 (27 mai et 2juin 1874). 56 PrØcisons qu’il ne s’agit en aucun cas de crØditer Zebi HirshDainowd’une objectivitØ ab- solue :comme de nombreux rØformateurs du judaïsme à cette Øpoque, il se trouvait pris dans des conflits ayantpuconduire à des jugements peu nuancØs–voirentreautreslanotice qui lui est consacrØedans Isidore Singer (dir.), Jewish Encyclopedia, Bd. IV,New Yo rk 1903, p. 412– 413. 57 Klier,Imperial Russia’s Jewish Question (voir note 42), p. 370–383 (“ The riddle of liberal Judeophobia ”).

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 310 Damien Guillaume le libØralisme Øtait alors en train d’Øprouver l’une de ses limites dansla‘question juive’telle qu’elle se posait à l’Est ?

Conclusion :duCongrès de Berlin àl’agitation ‘antisémitique ’

Le Congr›sdeBerlin de 1878 reprØsente à la fois terme et pointd’orgue de la sØquence ØtudiØe. Apr›senavoir rapidementprØsentØ les enjeux, nous conclu- rons par une sØriederemarques dØclinØes selon les trois axes articulØsjusque-là : les dØveloppements de la solidaritØ juiveinternationale, l’Øvolution de l’hostilitØ antijuive et les Øquivoques libØrales. Parailleurs, comme il se trouveque ces annØes furent Øgalementcellesoœse fit jour l’agitation proprementantisØmite, nous en profiterons pour tracer quelqueslignes de fuite. Pour comprendre ce que cette rØunion diplomatique vientfairedans notre propos, il faut de nouveausetourner vers la Roumanie. Avec la crise des annØes 1866–1868, les ‘nationaux-libØraux ’roumainsavaientfini par se casser les dents sur la ‘question juive’et laisser la place à des conservateurs qui, bien que leur politique en la mati›re ne fßtpas tr›sdiffØrente de celle de leurs prØdØcesseurs, permirent à la tension de retomber quelque peu. En d’autrestermes :lesortdes juifs des PrincipautØsavait temporairementcessØ d’intØresser l’‘ Europecivili- sØe’.Maisdans la seconde moitiØ des annØes 1870 survint une nouvelle guerre russo-turque dontl’issue, victorieuse pour la Russie, occasionna la tenue d’un congr›s à Berlin. Il s’agissait notammentd’y rØgler la question des Balkans et pour la Roumanie, ainsi que la Bulgarie et la Serbie, d’acquØrirenfin l’indØ- pendance. C’est dans cette perspective que l’Alliance et ses rØseaux s’activ›rent. Suite à ce que l’historien Carol Iancu anommØ “une formidable politique juive d’intercession”58,ils parvinrent à faire inscrire au futur traitØ un article con- ditionnantlareconnaissance de la souverainetØ de ces trois pays à la naturali- sation des juifs. Dans un premier temps, l’adoption unanime de cet article par les puissances sembla d’abordà l’Alliance un immense succ›s:ne soulignait-il pas la parfaite convergence entreses revendications et le souhait impØrieux des prin- cipaux gouvernements europØens ?Mais la suite ne tarda pas à s’annoncer plus compliquØe. À la diffØrence de la Bulgarie et de Serbie, qui accord›rentsans difficultØ la citoyennetØ au petit nombredejuifs qui yrØsidaient, la Roumanie refusa absolumentcette miseendemeure. D’intenses tractationss’en suivirent, doublØes d’une campagne de presse et de brochures en toutes langues destinØe à mobiliser l’opinion europØenne aussi bien pour que contrelanaturalisation des

58 Carol Iancu, BleichröderetCrØmieux. Le combat pourl’Ømancipation des Juifs de Roumanie devantleCongr›sdeBerlin. Correspondance inØdite (1878–1880), ed. par Collection Sem, CentredeRecherches et d’Øtudes juives et hØbraïques, Montpellier 1987, p. 8.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Vers ‘l’agitation antisémitique ’comme phénomène transnational 311 juifs de ce pays. Finalement, apr›squ’un Bismarckaucomble du cynisme eut donnØ le signal,59 c’est l’ensembledes puissances signataires du traitØ qui re- connurentl’une apr›sl’autre le royaume de Roumanie. Lesconcessions rou- maines sur le statut des juifs ne pouvaientpourtanttromper personne :defait, à partunnombre infime d’entreeux, il faudrait plus de trois dØcenniespour que les juifs de Roumanie deviennentofficiellementRoumains. Pour les dirigeantdel’Alliance, la leÅonduCongr›sdeBerlin en mati›re de solidaritØ juive internationale dut Þtrepourlemoins am›re :non seulement s’agissait-il d’un fiasco dontles juifs de Roumanie allaientdurablementpayer le prix, mais il s’accompagna de cette brutale rØvØlation que mÞme les plus sinc›res soutiens de la cause juive, d›squ’un intØrÞtsupØrieur entrait en jeu, pouvaient s’asseoir sur les grands principes dontils se gargarisaientpourtantlaveille. Il s’agit d’une hypoth›se, mais cet Øpisode ne marqua-t-il pas un premier tournant majeur dansl’histoire de l’Alliance, en quelque sorte la fin d’une Øpoque oœ tout semblait possible ?Etleretour à un pragmatisme quelque peu dØsillusionnØ ne se vit-il pas confirmØ par la gestion peu glorieuse, mÞme si assurØment mØritoire, de la vague de migrations provoquØepar les pogroms russes quelques annØes plus tard ?60 C’est Øgalementsur un autreplan que le bilan du Congr›sdeBerlin se rØvØla tr›sparadoxal pourl’organisation juive:celui de son image. En effet, sans mÞme parler encore des antisØmites, il faut s’interroger sur l’impressiongØnØralelaissØe par cette“politique juive d’intercession” et son efficacitØ,eßt-elle ØtØ toute temporaire. Uneanecdote rapportØeen1911 par Narcisse Leven, lui-mÞme membre de l’Alliance et son premier historien, est ici Øclairante. Au momentdu Congr›sdeBerlin, un haut diplomate roumain serait venusolliciter des re- sponsables ou des proches de l’organisation juive pour que celle-ci intercØdât aupr›sdelaRussie dans des dossierspourtanttr›spolitiques –enl’occurrence le retrait de troupes d’occupation et l’obtention de concessions territoriales. Et Levendes’interroger trente ans apr›sles faits : “ Était-ce par naïvetØ que Cogalniceanudemandait à une SociØtØ israØlite [de telles] intervention[s] […] ?[…] Feignait-il d’attribuer à l’Allianceunpouvoir auquel il Øtait ridicule de penser qu’elle pßtprØtendre ?”61

59 Sur la faÅon dontBismarckmit en balance le statutdes juifs et la question des chemins de fer roumains, voir Fritz Stern, L’or et le fer.Bismarck et son banquier Bleichröder,Paris 1990 (1›re Ødition NewYork 1977), p. 415–463. 60 Voir notammentZosa Szajkowski, The European Attitude to East European Jewish Immi- gration(1881–1893), dans :Publications of the American Jewish Historical Society 41 (septembre1951–juin 1952), p. 127–162. 61 NarcisseLeven, Cinquante ans d’histoire. L’Alliance israØlite universelle(1860–1910), vol. 1, Paris1911, p. 232, 282 (citation p. 282).

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Levenoptait finalementpourlafeinte, mais est-il vraimentinimaginable que les dirigeants Roumains aientsinc›rementcru l’organisation juivecapable de jouer un tel rôle ?Surtout, à combiendecontemporains, mÞme lorsqu’ils Øtaientplutôt sympathiques à la cause des juifs, le spectacle du congr›sdeBerlin fit-il croireque l’Alliance possØdait un tel pouvoir ? C’est d’ailleurs le momentdeciter la rØponse d’Isidore Cahen à l’avertissement dØjà mentionnØ de Philippsohn vingtans plutôttôt, lors de la fondation de l’Alliance. Face à sa crainte qu’une telle initiativeneredonnâtvigueur à l’accu- sation de fomenter une “ligue secr›te pour se soutenir rØciproquement”,Cahen avait rØtorquØ en substance que “lapublicitØ [qu’]invoque [l’Alliance] comme auxiliaire unique, la lumi›re qu’elle provoque sur ces tendances et ses opØrations, tout cela rØfute Øloquemmentl’accusation soulevØe”.62 Pourtant, l’ingØrence dans les coulisses du congr›sdeBerlin, aboutissementd’annØes d’activisme para-diplomatique destinØ notamment à faire pression sur la future Roumanie, ne pouvait qu’affaiblir cette rØfutation :eneffet, la ‘lumi›re’n’est-elle pas, sinon tout à fait absente, du moins forcØmentmoins vive dans ce type d’entreprise que dans la pure bataille pourl’opinion (qui soit dit en passantcontientelle aussi sa partd’ombre) ?Ceci explique en partieles marquesdescepticisme, d’inquiØtude et parfois mÞme de franche hostilitØ que l’historien rencontresifrØquemment lorsqu’il est question de l’Alliance à partirdelafin des annØes 1870, mÞme chez des contemporainspourtanthostiles aux‘antisØmites ’autoproclamØs. Chez ces derniers, du reste, les choses Øtaientplus simples. Dignes conti- nuateurs de Gougenot et Brafman, la puissance de l’organisation juive Øtaient pour eux, quoi qu’il arrivât, un fait acquis de longue date. Outre que jamais peut- Þtreils ne dØnonc›rent autantl’omnipotence de l’Alliance qu’aux lendemains du congr›sdeBerlin, le fait que pas un seul antisØmite (à notre connaissance) ne se soit rØjoui du terrible revers de l’Alliance dans l’affaire roumaine constitue l’indice clair d’une profonde dØconnexion d’aveclarØalitØ.D’ailleurs, d›scette Øpoque, nombredemilitants antijuifs n’utilisaient plus le nom d’“ Alliance is- raØlite ”que comme un terme gØnØrique dØsignanttr›sglobalementlapuissance juive, sans mÞme l’illusiond’une rØfØrence à l’organisation Øponyme. Mais peut- onpourautantaffirmer,comme l’a fait jadis RaoulGirardet, que l’idØedecomplot juif qui se diffusaitalors ne disposait,“pour assurer sa crØdibilitØ,d’aucune rØfØrence objective ”etque “lepostulat principal autour duquel s’organise cette thØmatique, c’est-à-dire celui d’unitØ institutionnelle d’une communautØ is- raØlite de caract›re international, semble n’avoir jamais ØtØ aussifallacieux ”?63 Bien au contraire, il est tout à fait patentque l’Alliance israØlite universelle fut cette rØalitØ autour de laquelle s’opØra la cristallisation conspirationniste. In-

62 AI, novembre1860, p. 616. 63 Raoul Girardet, Mythes et mythologies politiques, Paris1986, p. 51–52.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Vers ‘l’agitation antisémitique ’comme phénomène transnational 313 sistons-y,car à nier cette Øvidence on s’interdit de voir une facette pourtant fondamentale de l’agitation proprementantisØmite –fondamentale et directe- mentliØeàson caract›re international. En effet, pour les antisØmites de l’Europe enti›re,malgrØ la disparitØ des situationslocales et les antagonismes nationaux, cette figure privilØgiØedel’ennemi contribua puissamment à l’Ølaboration d’un imaginaire commun. Plus encore, l’Alliance servit explicitementdemod›le à la plupartdes tentativesdestructuration internationale de la mouvance antisØmite. La place manque pour ØnumØrerici les diverses Alliance antijuive universelle et autres Alliance anti-israØliteuniverselle qui virentalors le jour,mais on peut donner un exemple qui illustre bien l’importance attachØepar certains à cette question. En 1886, alors mÞme que les antisØmites allemands cherchaient à recentrer leur mouvementenrØaction aux Øchecs successifs des tentatives in- ternationalistes, Theodor Fritsch annonÅa dans ces termes la crØation du Ger- manen-Bund :

“Wie soll sich diese Vereinigung nennen?–Wenn ‘Allianz’ nichtein Fremdwortwäre, würdeich für‘Germanische Allianz’stimmen.Beliebt das nicht, so mag’s auch der Name ‘Germanen-Bund’ verrichten;jedoch erscheintmir das Wort ‘Allianz’ vonag- gressiverem Klang und –moderner.Auch würdedurch diese Bezeichnung der Ge- gensatz zur jüdischen Allianz (Alliance israØlite) besser zum Ausdruck gebracht. ”64

Rappelons enfin que cette tendance venait de loin et qu’ainsi, d›s1869, Gougenot lui-mÞme avait appelØàla crØation d’une “Alliance chre´tienne universelle […] vivant du meˆme droit que l’Allianceisrae´liteuniverselle ”.65 On peut donc parler d’une obsession de long cours, à vocation performative et d’autantpluspro- ductive, il est vrai, qu’elle s’autorisait toute libertØ avec sa rØfØrence supposØe. Venons-enpour finir aux‘Øquivoques libØrales ’, encore accentuØes par l’Øpisode du congr›sdeBerlin et que la forte mØdiatisation des pogroms russes de 1881–1882 acheva de rØvØleraugrand jour.LaFrance des annØes 1880 en fournit des exemples trop nombreux pour Þtredesimples accidents, mais il sera plus utile de prØciser ici le cadregØnØral qui, le contexte aidant, ne pouvait qu’entraînerleur multiplication en cette fin de XIXe si›cle. Pour cela, il nous faut revenir à l’idØedØjàavancØed’une nouvelle gØographie de la ‘question juive ’. Celle-ci reflØtait bien sßrunespace rØel et d’ores et dØjà travaillØ par des mouvements tr›sconcrets – à commencer par des migrations qui n’avaientpas

64 T. Frey (pseud. Theodor Fritsch), UnsereZiele, dans :Antisemitische Correspondenz 4(mars 1886). 65 Gougenot des Mousseaux, Le Juif (voir note 21), p. XXXI. À noter que cette expression d’Alliance chre´tienne universelle serait reprise littØralement(et en franÅais) par les parti- cipants au premier congr›santisØmite international tenu à Dresde en 1882, cf. Manifest an die Regierungen und Völker der durch das Judenthum gefährdeten christlichenStaaten, laut Beschlusses des Ersten Internationalen Antijüdischen Kongresses zu Dresden am 11. und 12. September 1882, Chemnitz, 1882, p. 9–10.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 314 Damien Guillaume attendu les pogroms de 1881–1882 pour se faire sentir. Mais à l’Øpoque, compte- tenu des connaissances somme toute lacunaires sur le monde juif en gØnØral et sur le mondejuif est-europØen en particulier,cettegØographie renvoyait surtout à un espace symbolique, espace pourvu d’une unitØ paradoxalecar reposant avanttoutsur un jeu de contraste. À l’Ouest du continentsetrouvaienteneffet des pays auxpopulations juives peu nombreuses, ØmancipØes et dontl’assim- ilation Øtait globalement parachevØe. À l’Est au contraire, vivaientdes pop- ulations juives nombreuses voire tr›snombreuses, non encore ØmancipØes et conservant un fort‘caract›re national ’, comme on disait alors. Bien entendu, il s’agissait-là d’une simplification ne tenantaucun compte des spØcificitØslocales ni de toute autrenuance. Mais on ne se trompera gu›re en affirmantque tel Øtait alors le cadre de rØfØrencequi s’imposait à quiconque souhaitait penser globalementla‘question juive ’oœqu’il se trouvâtsur le continent. Or,pourbien des observateurs, cette nouvelle donne eut pour con- sØquence d’introduireledoute, sinon quantaumod›le d’Ømancipation lui- mÞme, du moins quant à la vocation universellequ’on luiavait prÞtØejusque-là. Tr›ssimplement, une question se posait dØsormais :lasolution qui avait valu à l’ouest de l’Europe restait-elle valable à l’Est, oœ la condition juiveprØsentait des caractØristiques si diffØrentes ?Etcedoute ne pouvait que s’accroîtreaufur et à mesure que se resserraientles interactions entrel’Est et l’Ouest du continent, mais aussi que s’accroissait la pressiondes antisØmites là oœ l’Ømancipation avait dØjàØtØproclamØe. Dans ces conditions,bien des libØraux sinc›res sevirent contraints de rØaffirmer la validitØ de leur mod›le de rØfØrence en sanctionnant une image systØmatiquementnØgativedes juifs est-europØens –soit encore une fois de l’immense majoritØ des juifs vivant sur terre.Empruntons une derni›re citation, extraite d’un textedeLouis Farges paruen1886 dans la revueLa RØvolution franÅaise, Øloge des dØcisions prises par ladite rØvolution en mÞme temps que rØaction à la parution alors toute rØcente de La France juive de Drumont:“LeJuif franÅais, citoyen et soumis à la loi commune, n’est-il pas infinimentsupØrieur au Juif russe, polonais ou roumain ?”66 Cette faÅon d’opposer les juifs de l’ouest et juifs de l’est, de les hiØrarchiser au dØtrimentdes seconds pourtantbeaucoupplus nombreux, Øchappera facilement à l’historien de l’antisØmitisme qui s’en tient à une perspective nationale – perspective selon laquelle elle est d’ailleurs assez secondaire, en toutcas con- cernantlaFrance de la fin du XIXe si›cle. Maiscette opposition acquiertune toute autreimportance d›slors adopte une perspective plus large, dontonoublie souventqu’elle fut celle de la plupartdes acteurs de l’Øpoque. Ces Øquivoques libØrales placentenfin l’historien devantune complexitØ in-

66 Louis Farges, La question juiveilyacentans, dans :LaRØvolution franÅaise. Revuehi- storique 11 (juillet–dØcembre1886), p. 216.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Vers ‘l’agitation antisémitique ’comme phénomène transnational 315 attendue mais dØcisive. En effet, celui-ci peut ÞtretentØ de croireque le sur- gissementdes antisØmites à partirdes annØes 1880 luisimplifie la tâche :d›slors, ne s’agit-il pas de rendre compte d’un dØbat polarisØàl’extrÞme, oœ tout juge- mentsur les juifs se laisse classer selon le principe clair du pro- et de l’anti-, de la sympathie et de l’hostilitØ ?Maisl’attention portØeaux Øquivoques libØrales lui rØv›le bientôtl’existencedediscours qui non seulement Øchapp›rent tr›s largement à cette opposition manichØenne, mais furentalors loin d’Þtremar- ginaux, traduisantaucontraire (dans le cas de la France notamment) une posture qui resta longtemps dominante. Il est Øvidentque l’influence de l’antisØmitisme fin-de-si›cle ne se laisse pas comprendre si l’on omet ce phØnom›ne, Øtroitement liØ auxdimensions supranationales de la ‘question juive’apr›scomme avant 1880.

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„In Schriftund Wort […] gegen alle antisemitischen Angriffe auftreten“: Der Kampfgegen den erwachenden Antisemitismus in der Allgemeinen Zeitung des Judentums und den Archives israélites (1879–1900)

Anlässlich der zehnten Auflage vonTheodor Fritschs Antisemiten-Catechismus zu Beginn des Jahres 1891 erklärt der damalige Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung des Judenthums GustavKarpeles, dass es „die Aufgabeder Juden“ sei, „in Schriftund Wort offen und ehrlich gegen alle antisemitischen Angriffe energisch aufzutreten“.1 Sein 1837 vomAltphilologen und Rabbiner Ludwig Philippson begründetes, thematisch breit gefächertes, reformorientiertes Blatt nimmt dabei seit der Entstehung des modernen Antisemitismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle ein.2 Blickt man nach Frankreich, so ist die Situation ganz ähnlich. Auch hier bekämpftdie jüdische Presse den entstehen- den Antisemitismus systematisch.Ineinem programmatischen Artikelaus dem Dreyfusjahr schreibt der Chefredakteur der 1840 vonSamuel Cahen ins Leben gerufenen und der Allgemeinen Zeitung des Judenthums sehr verwandten Ar- chives israØlites Hippolyte Prague:„C’est à riposter à ces attaques [antisØmites] […] que les Archives se trouventobligØes de consacrer la plus grande partiede leur activitØ“.3 Nachdem lange Zeit Hannah Arendts These, die Juden seien dem Antisemi- tismus gegenüber„immer hilflos gewesen“ und hätten sich ihrem Schicksal wehrlos ergeben, die historische Forschung in Deutschland und Frankreich

1Allgemeine Zeitung des Judenthums (in der Folge:AZJ) (13.03.1891), S. 121. 2Die Literatur zur Entstehung des AntisemitismusamEnde des 19. Jahrhunderts in Deutsch- land ist sehr umfangreich. Exemplarisch sei hier verwiesen auf: Helmut Berding,Moderner AntisemitismusinDeutschland, Frankfurta.M., 1988;Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 2002. FürFrankreich fehlt bisher eine systematische Studie:Michel Winock, Nationalisme, antisØmitisme et fascismeenFrance, Paris1990;Pierre Birnbaum, Le momentantisØmite. Un tour de la Franceen1898, Paris1998. Die meistenArbeiten kommen ausdem englischsprachigen Raum, so u.a. Stephen Wilson,Ideologyand Experience. Anti- semitism in France at the Time of the Dreyfus Affair (The Littman LibraryofJewish Civi- lization), London/Toronto 1982. Beiden vergleichendenArbeiten sei u.a. verwiesen auf: HerbertA.Strauss, Hostages of Modernization. Studies on ModernAntisemitism, 1870–1933/ 39. Germany,Great-Britain, France, Bd. 1, Berlin/New Yo rk, 1993;RobertS.Wistrich, Radical Antisemitism in Franceand Germany, in:ModernJudaism, 15/2 (2005),S.109–135. 3Archives israØlites (in der Folge: AI) (01.01.1894), S. 1.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 318 Heidi Knörzer bestimmt hat,4 gelten die Reaktionen jüdischer Intellektueller oder der innerhalb vonVereinen geführte Abwehrkampf inzwischen vor allem fürDeutschlandals relativ gut dokumentiert.5 Die systematische Analyse der Beteiligung der jüdi- schen Presse an diesem Abwehrkampf ist bisher jedoch mehr oder weniger ausgespartgeblieben,6 obwohl gerade die im Laufe des 19. Jahrhunderts ent- standenen jüdischen Zeitschriften oft ganz dezidiertpolitische Ziele verfolgten.7 In diesem Beitrag sollen in einer deutsch-französischen Perspektive die Reak- tionen und Abwehrstrategien analysiertwerden, wiesie in den eingangs zitierten jüdischen Zeitschriften im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickeltwur- den. Die meisten Arbeiten zum jüdischen Abwehrkampf in Frankreich und Deutschland kommen, ausgehend vom politischen Kontext,indem die beiden Judenheiten leben, zu einem ähnlichen Ergebnis:die französischen Juden hätten gestärkt durch das Vertrauen in französischeWerte der Gleichheit und Brü- derlichkeit weniger das Bedürfnis gehabt, sich zu verteidigen als ihre deutschen

4Hannah Arendt, Elemente totalitärerHerrschaft.Antisemitismus,Imperialismus, Totalita- rismus,München 1996, S. 78. Beeinflusst vonArendtsind beispielsweise:Michael R. Marrus, LesJuifs de France à l’Øpoque de l’AffaireDreyfus, Paris1985;Paula Hyman, The Jews of Modern France (Jewish Communities in the ModernWorld, 1), Berkeley,1988. 5Zum Abwehrkampf französischer Juden Ende des 19. Jahrhunderts:Michael Marrus, LesJuifs de France(wieAnm. 4), S. 145;Pierre Birnbaum, Lesfous de la RØpublique. Histoirepolitique des Juifs d’EtatdeGambetta à Vichy(Nouvelles Øtudes historiques), Paris1992, S. 185;Phi- lippe Oriol, Bernard Lazare(Biographies), Paris2003, S. 185;Phyllis Cohen Albert, The Modernization of French Jewry. Consistoryand Community in the Nineteenth Century, Ha- nover 1977, S. 151–169;GrØgoireKauffmann/Michael M. Laskier/SimonSchwarzfuchs, L’Alliance au miroir de l’antisØmitisme franÅais, 1860–1914, in:AndrØ Kaspi (Hg.), Histoire de l’Alliance IsraØlite Universelle. De 1860 à nos jours, Paris2010, S. 142–155;Rafael Arnold, Das nationale und internationale Engagementfranzösischer Juden. Die AllianceIsraØlite Univer- selle,in: Ulrich Wyrwa(Hg.), Einspruch und Abwehr.Die Reaktion des europäischen Ju- dentums aufdie Entstehung des Antisemitismus (1879–1914), Frankfurta.M./New Yo rk 2010, S. 43–69. Zum Widerstand gegen den erwachenden Antisemitismus der deutschen Juden beispielsweise:Arnold Paucker,DeutscheJuden im Kampf um Rechtund Freiheit. Studien zur Abwehr,Selbstbehauptung und Widerstand der Juden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (Veröffentlichung des Leo-Baeck-Instituts), Teetz 2003;Ismar Schosch, Jewish Reactions to German Anti-Semitism, 1870–1914 (Columbia University Studies in Jewish History, Culture, and Institutions, 3), NewYork 1972;Avraham Barkai, Wehr dich!Der Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1938, München 2002;Ulrich Wyrwa, Die Reaktion des deutschen Judentums aufden Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Eine Rekapitulation, in:Wyrwa (Hg.), Einspruch und Abwehr (wie Anm. 5), S. 27–42. 6Christian Wiese kommt zum gleichen Ergebnis:Christian Wiese, ModernAntisemitism and Jewish Responses, in:Michael Brenner/Vicki Caron/Uri R. Kaufmann(Hg.), Jewish Eman- cipation Reconsidered. The French and GermanModels (Schriftenreihewissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, 66), Tübingen 2003, S. 129–153. 7Zur politischen Zielsetzung der jüdischen Presse:Heidi Knörzer,Publicistes juifs entreFrance et Allemagne. Champions de la mÞme cause?(1848–1914), Paris2016, S. 136–167.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der Kampf gegen den erwachenden Antisemitismus 319

Glaubensbrüder,die im nationalistischen, trotz erlangter Gleichberechtigung weiterhin stark antisemitischgeprägten wilhelminischen Kaiserreich lebten.8 Anders als in diesen Arbeiten soll in diesem Beitrag nichtvom politischen und gesellschaftlichen Kontext ausgegangen werden, der oftals Determinantedes menschlichen Verhaltens betrachtet wird. Vielmehrsollen in Anlehnung an Überlegungen ausder Alltagsgeschichte oder der micro-histoire die Texte der Redakteure, die die beiden Zeitschriften in dieser Zeit wesentlich geprägt haben, im Zentrum der Analyse stehen.9 In der Tatverging keine Woche, in der der Rabbiner und Begründer der Allgemeinen Zeitung des Judenthums Ludwig Philippson, sein Nachfolger,der Literaturhistoriker GustavKarpeles, der Phi- losoph und Sohndes Begründers der Archives israØlites IsidoreCahen und sein Kollege Hippolyte Prague, der seit 1879 fürdie Archives schrieb und 1891 zum Chefredakteur ernanntwurde, nichteinen oder mehrereBeiträge zur Bekämp- fung des Antisemitismus verfassten.10 Durch diese sich an Einzelfällen orien- tierende Studie,11 soll herausgearbeitet werden, wiedie vier Redakteure den Antisemitismus wahrgenommen, gedeutet,erfahren und verarbeitet haben. Gleichzeitig soll die oben beschriebene, vorherrschende Differenz zwischen dem politischen Verhalten der französischen und deutschen Juden nuanciertwerden. Die amerikanischeHistorikerinVicki Caronhat zu Rechtunlängst darauf auf- merksam gemacht, dass die Reaktionen der französischen Juden aufden Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Antisemitismus aufgrund der Passivitätvon Institutionen wiedem Consistoireoder der Alliance israØlite universelle bislang häufig unterschätzt wurden.12 Zugleich hat sie die Hypothese aufgestellt, dass „if we attempt to look beyond public organisational responses, we might well find that the political behaviour of French Jews was not terribly differentfrom that of

8Michael Marrus,Les Juifs de France(wieAnm. 4);Pierre Birnbaum, Sur la corde raide. Parcours juifs entreexil et citoyennetØ,Paris 2002, S. 108;Paula Hyman, French Jewish Historiographysince 1870, in:Frances Malino (Hg.), The Jews in Modern France, Hanover/ London1985, S. 329. Die Opposition zwischen Deutschland und Frankreich bestimmt zahlreiche Publikationen im Bereich der jüdischen Geschichte, wiez.B.Silvia Cresti,Kultur and Civilisation After the German-Prussian War. Debates Between Germanand French Jews, in:Brenner,Caron, Kaufmann(Hg.), Jewish Emancipation Reconsidered (wie Anm. 6), S. 93–110;Jacques Ehrenfreund, Citizenship and Acculturation. Some Reflections on Ger- man Jewryduring the SecondEmpireand French JewryDuring the ThirdRepublic, in: Brenner,Caron, Kaufmann (Hg.), Jewish EmancipationReconsidered (wie Anm. 6), S. 155– 168. 9Zur Alltagsgeschichte beziehungsweise micro-histoire,Jaques Revel, Jeud’Øchelles. La micro- analyse à l’expØrience (Hautes Øtudes), Paris1996;Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik im Kaiserreich bis in den Faschismus,Hamburg 1993. 10 Zur Biographie der Publizisten: Heidi Knörzer,Publicistes juifs (wie Anm. 7), S. 65–134. 11 Jean-Claude Passeron/Jaques Revel (Hg.), Penser par cas (EnquÞte, 4), Paris2005. 12 Vicky Caron, CommentbyVicky Caron, in:Brenner/Caron/Kaufmann (Hg.), Jewish EmancipationReconsidered (wie Anm. 6), S. 152.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 320 Heidi Knörzer their German coreligionists“.13 Dies zu zeigen ist Ziel dieses Beitrags. Schwer- punktmäßig soll dabei anhand eines close-reading einzelner Artikelbeleuchtet werden, welchen Begriff die deutschen und französischen Publizisten vonAn- tisemitismus hatten, wiesie die aktuelle Bedrohung empfanden und schließlich aufsie reagierten.

Deutung des ,neuen‘ Antisemitismus:Zwischen Wandel und Kontinuität

In beiden Ländernwidmen sichdie Redakteure in mehreren Beiträgen der Frage nach dem Ursprung und der Naturder wiedererwachenden Judenfeindschaft. IhreAnalysen zeigen,dass sie das Besondereder neuen Judenfeindschaft durchaus erkannthaben. In beiden Zeitschriften wird so ein Zusammenhang zwischen der vonden Juden erlangten Gleichberechtigung beziehungsweise der vonihnen vollzogenen beeindruckenden Integration in die deutsche und fran- zösische Gesellschaftund der erwachenden Judenfeindschafthergestellt. Für Ludwig Philippsonliegt

„die Ursache […] in dem Conkurrenzneide, der allgemeinvorhanden sei, der ebenso lebhaftunter den Christen herrscht, sich aber insgesamtgegen die Juden richtet. Man kannsich eben nichtzuder Ansicht erheben, dass jeder Mensch […] das Rechtauf die Stelle besitzt, welche er durch die Verwendung und Entwicklung seiner Kräfteeinimmt, und dass hierbei Konfessionund Race gar keinen Unterschiedausmachen. Man hat in Deutschland so viele Jahrhunderte hindurch die Juden als ausgeschlossenund unbe- rechtigt angesehen,und kann sich so schwer zu einer gerechterenAnschauung erheben, dass mandem Juden jede, auch die bescheidenste Position nichteinräumen will und wennman es muss, ihn aufs schmählichste beneidet und hasst.“14 Eine ganz ähnliche Argumentation findetsich beiseinem französischen Kollegen Hippolyte Prague. Ihm zufolge ist ein „sentimentd’envieetdebasse jalousie“ für die „dispositions malveillantes“ verantwortlich:

„Parce que les IsraØlites auxquels on n’a pas pu refuser une place au soleil, se distinguent dans les diffØrentes carri›res qu’ils embrassent, parcequ’ils apportentdans leurs tra- vaux une Ønergie et une tØnacitØ,conditions indispensables de tout succ›s[…],onleur jette à la face cette calomnieuse accusation de vouloir accaparer la fortune et les hon- neurs qu’ils habitent.“15 Der entstehende Antisemitismus stellt fürdie Publizisten beider Länder also ganz klar eine Protestbewegung gegen die moderne Staats-und Gesellschafts-

13 Caron, Comment(wieAnm. 12), S. 153. 14 AZJ (16.08.1881), S. 536. 15 AI (02.10.1879), S. 326.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der Kampf gegen den erwachenden Antisemitismus 321 ordnung dar,inder Juden keine Außenseiterposition mehr innehaben. Inter- essantist dabei, dass jeder Redakteureinen mit der Geschichte seines Landes verbundenen Begriff auswählt, um die den Antisemitismus verkörpernde Krise der Moderne zu symbolisieren. Ist der Antisemitismus beiHippolyte Prague die „nØgation la plus compl›te“16 der Prinzipien der französischen Revolutionoder „la revanche de 1789“17,erscheinterbei Ludwig Philippsonals „echter Kultur- kampf“18. Fürdie Kritiker der modernen Gesellschaftsind Juden den Publizisten zufolge die Sündenböcke, die eine Projektionsfläche für„toutes les racunes“19 bieten. Sie werfen sich, so Hippolyte Prague, aufden Juden „parce qu’il incarne le mieux la RØvolution et les idØes modernes, parce qu’il en est l’exemplaire vivant et circulant“20 oder,wie es Philippsonformuliert, „jedes Mal, wenn [sie] sich un- behaglich oder gedrückt fühl[en],ohne die Mittel und Wege in Sichtzuhaben, durch welche sich die Übelstände beseitigen liessen“.21 In beiden Zeitschriften wird ebenfalls ganz klar eine Verbindung zwischen den in beiden Länderndurch den Gründerkrach beziehungsweise den Bankrott der katholischenBank Union GØnØrale ausgelösten wirtschaftlichen Krisen, fürdie der jüdischen Minderheit die Schuld gegeben wird, und dem Erwachen der antisemitischen Bewegung hergestellt.22 Hatdie neue Judenfeindschaftfürdie vier Publizisten ihren historischen Ausgangspunkt also unter anderem in der Krise der Moderne, speist sie sich inhaltlich vor allem ausdem traditionellen Antijudaismus.Zwar deuten einige Textstellen darauf hin, dass die Redakteure durchaus auch die rassische und politische Dimension des entstehenden Antisemitismuswahrnehmen. So be- schreiben sie die neue Judenfeindschaftals „querelles de race“23 die „fonde[nt] la persØcution sur l’ethnographie“24 und weisen darauf hin, dass die antisemitische Bewegung zunehmend auch politisch organisiertist.25 In den meisten Beiträgen gewichten sie jedoch die Kontinuitätmit dem traditionellen Antijudaismus stärker als die neuen Elemente und gehen voneiner Artewigem Judenhass aus. Die Redakteure weisen nichtnur aufdie Ähnlichkeiten zwischen dem zeitge- nössischen Antisemitismus und der mittelalterlichenInquisition hin, sondern unterstreichen auch regelmäßig,dass die neue Judenfeindschaft„peu d’idØes

16 AI (27.10.1881), S. 356. 17 AI (12.03.1896), S. 84. 18 AZJ (21.02.1882), S. 117. 19 AI (29.10.1891), S. 349. 20 AI (03.12.1896), S. 393. 21 AZJ (06.01.1880), S. 1. 22 Beispielsweise AZJ (22.12.1899), S. 602;AI(09.02.1882), S. 54. 23 AI (06.05.1886), S. 138. 24 AI (19.05.1887), S. 154. 25 AI (29.10.1891), S. 349;AZJ (20.10.1886), S. 69;AZJ (14.12.1886), S. 803.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 322 Heidi Knörzer neuves“26 beinhalte. Die Judenfeindschaftwird vielmehrals zyklisches Phäno- men verstanden,indem ein und dasselbeThema in unterschiedlicher Gestalt in regelmäßigen Abständen wiederauftaucht. Hippolyte Prague sprichtvon einer „tradition de famille“27,die mit „der Muttermilch“ weitergegeben wird und in Krisenmomenten an die Oberfläche gelangt.28 FürPhilippsonist „der Judenhass […] eine alte Pflanze, die ihre Zeit des Blühens, des Früchtetragens und des winterlichen Stillstandes hat, immer aber bestehtund in ihrem Innernimmer wieder frische Säftehegt.“29

Antisemitismus als Bedrohung

Die Betonung der Dauer und Kontinuitätdes Antisemitismus,die im Übrigen für die zeitgenössischen jüdischen Intellektuellen typisch ist,30 veranschaulicht vielleicht, dass der erwachende Antisemitismus unabhängig vonseinem Cha- rakter fürdie Publizisten in erster Linie eine existenzielle Bedrohung darstellte. „Es ist leichtzusagen, dass der Antisemitismus auspsychologischen Momenten, aussozialen Bewegungen, auswirtschaftlichen Erscheinungen abzuleiten […] sei;nochleichter,ihn einfach […] füreine Gehirnkrankheit zu erklären“, schreibt GustavKarpeles 1891 in diesem Zusammenhang.Und weiter:„Viel wichtiger als die Untersuchungen darüber, woher der Antisemitismusgekom- men, ist füruns in diesem Augenblick die Frage:Wohin führtderselbe?“31 Die verschiedenen Beiträge zeigen in der Tat, dass der erwachende Antise- mitismusdie Redakteure nichtnur in Deutschland, wievon der vergleichenden Forschung oft behauptet, sondernauch in Frankreich tief verunsicherthat. Zwar ist die Verunsicherung zunächst beiLudwigPhilippsongrößer,während Isidore Cahen und Hippolyte Prague den Antisemitismus ausder Distanz erleben. In ihren Beiträgen um 1880 gehtesvor allem um den Antisemitismus in Deutschland. Sie kommentieren die Schriften vonMarrund Treitschkeund berichten überdie ersten Abwehrreaktionen der deutschen Juden,32 wiezum Beispiel die Rede vonMoritz Lazarus Washeißtnational?.33 Nurinwenigen Artikeln gehtesumden AntisemitismusinFrankreich, der in der Regel oft mit

26 AI (16.03.1882), S. 81. 27 AI (16.09.1880), S. 308. 28 AI (29.10.1891), S. 349. 29 AZJ (26.10.1886), S. 690. 30 So beispielsweise die Analysen in:Der Israelit (05.01.1881), S. 2–4, oder bei: EliØzer Lam- bert,Les juifs, la sociØtØ moderne et l’antisØmitisme, Paris1887. 31 AZJ (07.08.1891), S. 374. 32 Beispielsweise:AI(02.10.1879), S. 326;AI(26.08.1880), S. 282;AI(02.02.1881), S. 33. 33 AI (04.03.1881), S. 81.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der Kampf gegen den erwachenden Antisemitismus 323 leichter Ironie auf„des maladressescommises par des publicistes enthousiastes de leur immaculØ drapeau“34 reduziertwird. Die französischen Publizisten scheinen noch Vertrauen in den französischen Staat zu haben, den sie als „inØ- branlablementattachØ auxprincipes de la RØvolution“35 erleben. Doch spätestens ab 1882, als in Frankreich nach dem Bankrott der katholisch und monarchistisch ausgerichteten Bank Union GØnØrale der Judenhass immer lauter formuliertwird36,schlagen auch IsidoreCahen und Hippolyte Prague einen anderen Tonan. „Lacampagne antisØmitique […] qui dØsole l’Allemagne, cette chasse auxJuifs, cette guerre sans merci dØclarØe à des fr›res en humanitØ, Øtait-ce un spectacle que nous, les petits-fils des hommes de 89, supposions avoir un jour sous les yeux?“, fragtHippolyte Prague Ende 1881 und gibt gleich die Antwort: „Et cependant, nous qui devions rØcolter les fruits des heureuses conquÞtes de la RØvolution franÅaise,nous sommes tØmoins de faits, d’actes et de discours qui en sontlanØgation la plus compl›te“.37 Die gefühlte Verunsicherung wird mit dem Erscheinen vonEdouardDrumonts antisemitischem Bestseller La France juive (1886) noch größer:38 „On ne nous connaîtplus!“, schreibt Hip- polyte Prague im Mai desselben Jahres, „on s’approche de nous comme si nous Øtions quelques monstres de foire“.39 Sein Kollege IsidoreCahen bemängelt die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis in Frankreich:„Nous n’estimons pas que l’idØefØconde de 1789 – ØgalitØ absolue de tous les citoyens, respectuniversel de toute libertØ de conscience –ait produit […] des rØsultats complets:de grandes lacunes existentencore à cet Øgard, moins dans les lois que dans les mœurs“.40 In den Beiträgen ausdieser Zeit unterstreichen die französischen Journalisten regelmäßig die Passivitätvon Presse und Regierung,die Drumonts Pamphlet nichtentschieden genug entgegentreten41 und weisen darauf hin, dass sie sich als Bürger des französischen Staats im Stich gelassen fühlen.42 Mit der 1894 einsetzendenDreyfusaffäre, in deren Zuge es zu zahlreichen antisemiti- schen Ausschreitungen kommt und der Antisemitismussich in Frankreich mit der Action FranÅaise als politische Bewegung formiert, erreichtdie Verunsi- cherung und Einsamkeit der französischen Publizisten ihren Höhepunkt.43 In

34 AI (20.01.1881), S. 20. 35 AI (20.01.1881), S. 20. 36 Hierzu Regina Schleicher,Antisemitismus in der Karikatur.Zur Bildpublizistik in der französischen Dritten Republik und im deutschen Kaiserreich (1871–1914), Frankfurta.M. 2009, S. 116–117. 37 AI (27.10.1881), S. 356. 38 GrØgoireKauffmann, Edouard Drumont1844–1917, Paris2008. 39 AI (06.05.1886), S. 140. 40 AI (06.01.1887), S. 1. 41 AI (07.10.1886), S. 314;AI(06.05.1886), S. 138;AI(02.08.1894), S. 253. 42 AI, (07.10.1886), S. 314. 43 VincentDuclert, L’AffaireDreyfus (Rep›res,141), Paris 42006.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 324 Heidi Knörzer einem Artikelmit dem sprechenden Titel Sommes-nous dØfendus? drückt Isidore Cahen öffentlich Zweifel an seinem Land aus: „Nous estimons que, […],nos intØrÞts sontmenacØs, nos droitssontmØconnus, la sØcuritØ de notre avenir est insuffisammentprotØgØe“.44 Die Republik erscheintnichtmehr als eine schüt- zende Heimat, sondernist nurmehr „une tente pourlanuit“45 und die jüdische Minderheit wird als „un troupeauprivØ de berger“46 beschrieben. Aber auch während der Dreyfusaffäre,wahrscheinlich der Selbstvergewisserung wegen, gibt es immer wieder Beiträge, in denen die Publizisten ihren Glauben an die Werteder Republik ausdrücken, die als „conquÞtes dØfinitives“47 bezeichnet werden. Auch die deutschen Redakteure schwanken zwischen Verunsicherung und Selbstvergewisserung.InLudwigPhilippsons Beiträgen zum erwachenden An- tisemitismus macht sich bereits kurze Zeit nach Beginn der Krise, also schneller als beiseinen französischen Kollegen, ein Gefühl der Einsamkeit und Panik breit. WieCahen und Prague, doch bereits im Oktober 1879, bemängelt Philippsondie Indifferenz der deutschen Öffentlichkeit, die „schweigt“ und sogar „Wohlge- fallen“ an der judenfeindlichen AgitationinDeutschland zu findenscheint, wo man „ununterbrochen, […] keine Mittel scheuend,[…] in Schriftund Wort auf seine Schlachtopfer losstürmt, und ganz schamlos und offen schon den Schei- terhaufen zusammenträgt,auf dem man dieselben zu verbrennen gedenkt“.48 Gleichzeitig betonen auch die deutschen Publizisten regelmäßig ihren Glauben an „das deutsche Volk“, vondem die Antisemiten „nur einen Bruchtheil“ bilden und das „ein Volk des Friedens, der Humanität“49 und der „Aufklärung“50 sei sowieihr Vertrauen in die „Lebenskraft“51 der deutschen Nation und in die „Machtder Kultur“52.

Einspruch und Abwehr

Trotz der zu verzeichnenden starken Verunsicherung treten die Journalisten den antisemitischen Angriffen und Beleidigungen in beiden Ländernentschieden entgegen. Zwar finden sich in den Artikeln vonIsidoreCahen und Hippolyte

44 AI (27.12.1894), S. 423. 45 AI (27.12.1894), S. 423. 46 AI (03.02.1889), S. 24. 47 AI (30.05.1895), S. 169. 48 AZJ (28.10.1879), S. 659. Auch AZJ (05.02.1904), S. 62. 49 AZJ (07.08.1891), S. 374. Auch AZJ (14.03.1882), S. 167. 50 AZJ (07.08.1891), S. 374. Auch AZJ (14.03.1882), S. 167. 51 AZJ (28.01.1879), S. 68. 52 AZJ (07.08.1891), S. 400.

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Prague immer wieder Passagen, in denen die Publizisten die Unmöglichkeit eines echten Dialogs mit Antisemiten unterstreichen53 oder „die lächerlichen Gerüchte“54 ausder Antisemitenküche zu ignorieren raten. Doch scheintder vom zeitgenössischen französischen Historiker ThØodore Reinach (1860–1928) geprägteAusdruck des silence du dØdain,der lange zur Beschreibung der Hal- tung der französischen Juden gegenüberdem erwachenden Antisemitismus benutzt wurde,55 nichtauf sie zuzutreffen. Im Gegenteil machtsich Isidore Cahen, der selbst in jungen Jahren Diskriminierung erfahren musste56,spätes- tens seit Ende der 1850er-Jahre fürdie Bekämpfung der Judenfeindschaftstark57 und sprichtsich 1882 dezidiertgegen le silence du dØdain aus:„Il ne faut jamais dØdaigner d’une faÅon absolue les appels à la haine, à la violence, à la persØcution qui se font jour par la voie de la presse,nicroirequ’il suffit du silence du mØpris pour en faire justice“.58 Gleiches gilt fürHippolyte Prague.Erbezeichnet le silence du dØdain als „illusionpuØrile“59,die die Archives israØlites nie gehabt hätten, und stellt dieser Haltung ganz klar seinen „contre-antisØmitisme“60 ge- genüber, dasheißtden Willen, die antisemitischen Attacken zu „demaskieren“ und „die öffentliche Meinung zum Zeugen zu nehmen“.61 Die Gegenüberstellung mit einzelnen Aussagen ihres deutschen Kollegen Ludwig Philippsonscheintdiese These zu bekräftigen. Auch er weist in manchen Beiträgen auf„die Uebertreibung ins Ungeheuerliche“ und „die gemeine Lei- denschaftlichkeit“62 der Antisemiten hin, mit denen zu diskutieren keinen Sinn mache, da sie ohnehin „auf Widerlegungen keine Rücksicht“63 nehmen würden. Aber nichtsdestotrotz bekämpfterden Antisemitismus in seiner Zeitschrift unermüdlich.

53 AI (19.06.1879), S. 202. 54 AI (22.12.1881), S. 427. 55 Marrus, LesJuifs de France (wie Anm. 4), S. 166–167. 56 Nach seinem Philosophiestudiumander Ecole Normale SupØrieure in PariswirdCahen 1849 nichtzur „agrØgation“ zugelassen. Im Zusammenhang mit dem verstärkten gesellschaftli- chen Einfluss des KatholizismusinFrankreich verweigerte der Klerus in diesen Jahren Juden oft das Unterrichten vonPhilosophie. Als er dann schließlich dennoch eine Stelle an einem Gymnasium in der Region VendØebekommt, wird er aufVeranlassungeines Priesters seines Amtes enthoben. 57 1857 ruftCahen zur Schaffungeiner Verteidigungsorganisation,derenAufgaben er wiefolgt definiert: „Elle prendra en main […] la dØfense du nom israØlite contreles prØjugØs[…] et veillera à ce qu’aucune attaque ne se produise sans ÞtrerØfutØe, et traduira à la barre de la justice […] les inculpations odieuses“ (AI, April 1857, S. 202). Mit der Gründung der Alliance IsraØliteUniverselle 1860,ander Cahen maßgeblich beteiligt ist, wird dieser Plan Realität. 58 AI (26.01.1882), S. 25. 59 AI (18.04.1895), S. 122. 60 AI (02.02.1893), S. 30. 61 AI (18.04.1895), S. 122. 62 AZJ (09.12.1879), S. 788. 63 AZJ (06.07.1880), S. 418.

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So findetman in beiden Zeitschriften in den 1880er-und 1890er-Jahren jede Woche mindestens einen oder sogar mehrereBeiträge, die antisemitische Vor- urteile dekonstruieren, vonantisemitischen Gewaltaktenberichten oder über mögliche Verteidigungsstrategienreflektieren. IsidoreCahen richtet 1886 sogar eine Spezialrubrik ein, „Larevue des revues“, in der Beiträge ausder antisemi- tischen Presse analysiertwerden. Schlägt jeder Publizist einen anderen Tonan, sind sich die angewandten Abwehrstrategien jedoch sehr ähnlich. Grundsätzlich kann man zweiStrategien unterscheiden:die Devalorisierung des Antisemitis- musund die Valorisierung des Judentums.

Devalorisierung des Antisemitismus

Zur Devalorisierung des Antisemitismus widmen die Publizisten zahlreiche Beiträge der Dekonstruktion antijüdischer Stereotype. Manche Texte stellen den Versuch dar,die historische Wahrheit zu retablieren. Die angenommene jüdi- sche Solidaritätwird durch Verfolgung und Ausgrenzung erklärt64 oder als etwas betrachtet, das, so Karpeles, „nur in der erhitzten Phantasie unserer Gegner“ existiert.65 Die vermeintliche Leidenschaftder Juden fürHandel und Geldge- schäftewird als eine Konsequenzdes „isolementoœles aconfinØslamØfiance et la haine implacabledelachrØtientØ“66 dargestellt. In beiden Zeitschriften werden auch regelmäßig Statistiken oder Listen voneinflussreichen jüdischen Persön- lichkeiten abgedruckt, um aufzuzeigen, dass die Juden Deutschland und Frankreich nichtdominierenkönnen, da sie in beiden Ländernnur eine Min- derheit bilden. In diesem Zusammenhang erbost sich Hippolyte Prague nach dem Erscheinen vonDrumonts La France juive:

„Comment[…] les Juifs ne sont en France que 85 000, que 100 000 pour mettre les choses au mieux, et ils conduisent le pays à la baguette, l’entraînentdans des guerres et dans des crises. […] 35 900 000 contre100 000, et ce sontles 100 000 qui triomphent?On nous trompe, on nousdupe, on se moque effrontØmentdenous!“67

Ganz ähnlich wettertLudwig Philippsongegen WilhelmMarr.Die vonihm heraufbeschworene Domination Europasdurch die Juden sei einfach eine „lä- cherliche Behauptung“ und

„bereits schon so oft abgeleiert, daß sie allmählig ihren Stachel verloren hat, da schließlich der thatsächliche Beweis immer ausbleibt. So weit hatsich aber noch Nie-

64 AZJ (18.02.1879), S. 115;AI29.05.1879, S. 176. 65 AZJ (06.01.1893), S. 1. 66 AI (21.08.1879), S. 274. Auch AI (16.09.1880), S. 305;AZJ (02.09.1879), S. 561;AZJ (03.04. 1891), S. 113. 67 AI (06.05.1886), S. 140–141.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der Kampf gegen den erwachenden Antisemitismus 327

mandverstiegen, wieW.Marr,der mit dem Schmerzruf endet:,Finis Germaniae!‘. Frägt man sich einfach,worin denndie Herrschaft der Juden sich bekunde?So siehtman sich vergebens im Bereiche des Thatsächlichen um“.68 An anderer Stelle wird versucht, die antijüdische Hetze mit Humor oder Ironie zu entkräften. Bezüglich der vermeintlichen Beherrschung der Presse durch die Juden schreibt IsidoreCahen:„Ces feuilles les plus importantes du monde, Times, DØbats, IndØpendance belge, Revuedes Deux-Mondes, les juifs les tien- nentpar la puissance de …leurs abonnements“.69 Undauf die Frage, ob die Emanzipation der Juden durch die FranzösischeRevolution nichtein Irrtum war, die der Mitbegründer der drumontschen Ligue antisØmitique Jacques de Biez (1852–1915) in seiner Broschüre La question juive (1886) stellt,antwortet Cahen: „Evidemmentils se sonttrompØs, car ils auraientdßau prØalable Ømanciper l’intelligence des chrØtiens“.70 In manchen Beiträgen machen die Publizisten ihrer tiefen Geringschätzung gegenüberder antisemitischen Bewegung Luft.Sie unterstreichen die Einfalls- losigkeit der „Expectorationen der Judenfresser“, die sich„alle gleich in Inhalt und Form“sind.71 „Celui qui aluundeces pamphlets dirigØscontreIsralenalu cent“ schreibtHippolyte Prague in diesem Sinne, „tantlecercle des prØjugØset des fables oœ se meut l’imagination des hØbrØophobes est restreint“.72 Undauch der Begriff Antisemitismus, der 1879 im Umkreis des Journalisten Wilhelm Marr entsteht, um eine neue Form einer sich wissenschaftlich verstehenden und ras- sistisch begründeten Ablehnung vonJuden zu begründen, wird vonihnen in die Mangel genommen.73 Es handle sich um ein „klingende[s] Wort“74 „aufauxair scientifique“75,mit dem nur „der ganz gemeine Judenhass verdeckt“76 und der antisemitischen Bewegung ein vermeintlich wissenschaftlicher Charakter ver- liehen werden soll. Der Antisemitismus habejedoch nichts wissenschaftliches, er sei vielmehr„der Schandfleck der Wissenschaften“77,sodie jüdischen Publi- zisten.

68 AZJ (18.03.1879), S. 178. Auch AZJ,28.10.1879, S. 690. 69 AI (19.06.1879), S. 202. 70 AI (08.07.1886), S. 209. 71 AZJ (06.07.1880), S. 418. 72 AI (04.07.1895), S. 209. 73 Zum Begriff Antisemitismus:Bergmann, Geschichte (wie Anm. 2), S. 6–8. 74 AZJ (25.07.1882), S. 489. 75 AI (23.07.1891), S. 233. 76 AZJ (25.07.1882), S. 489. 77 AZJ (25.07.1882), S. 489.

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Valorisierung des Judentums

Ebenso wiedie Dekonstruktion der antijüdischen Klischees gehört die Auf- wertung der jüdischen Minderheit und ihrer religiösen sowiekulturellen Tra- ditionen zum Kampf gegen den erwachenden Antisemitismus. Sie beruht aufder Grundüberzeugung,dass Minderheiten keine Bedrohung,sondern im Gegenteil eine Bereicherung fürjede Gesellschaftdarstellen. In diesem Sinne entwickeln die Publizisten im Laufeihrer journalistischen Tätigkeit „Visionen einer ge- rechten Gesellschaft“78,die, gegen die nationalen, religiösen und rassischen Fundamentalismen ihrer Zeit gewandt, aufeiner konstruktivistischen Konzep- tion der Nation fußtund in der die Menschen in ihrer Eigenartund Verschie- denheit anerkanntund respektiertwerden.79 Mit dem Erwachen des Antisemi- tismus in den 1880er-Jahren schreibensie, wiePhilippson, gegen die „nationalen Zeloten“, „die gegen eine Minorität, das Judenthum ins Feld zieh[en]“ und gegen diese „moderne Cultur […],welche alle Verschiedenheiten unter den Menschen zu beseitigen strebt“.80 Oder sie monieren, wiePrague, das System, das „la France auxFranÅais“ heißtund das nichtnur „l’oppressiondes minoritØs“, sondern auch eine Verarmung der geistigen und intellektuellen Kapazitäten eines Landes bedeutet.81 Gegen Marr,Treitschkeund Drumontunterstreichen zahlreiche Artikelaus dieser Zeit die Bereicherung,die die jüdische Minderheit fürdie deutsche oder französischeGesellschaftdarstellt, indem sie aufdas patriotische Engagementder Juden im Deutsch-Französischen Krieg von1870/1871,82 aufdie „Beiträge“ der Juden zur wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Landes und zur internationalen Solidaritätoder aufdie Schönheit der jüdischen Feste, der Synagogen und der jüdischen Religion insgesamt eingehen, die als zutiefst modern, humanistisch und universell dargestellt wird.83

78 Michel Brocke/MargareteJäger/Siegfried Jäger/Jobst Paul/Iris Tonks, Visionen der gerechten Gesellschaft. Der Diskurs der deutsch-jüdischen Publizistik im 19. Jahrhundert, Köln 2009. 79 Heidi Knörzer/Ludwig Philippson/Isidore Cahen, Deux journalistes, deux pays, un discours politique commun?, in:Archives Juives. Revued’histoiredes Juifs de France 43/2 (2010), S. 122–131. 80 AZJ (13.04.1880), S. 226. 81 AI (20.06.1885), S. 194. 82 Christiane G. Krüger,„Sind wirdenn nichtBrüder?“. Deutsche Juden im nationalen Krieg 1870/71 (Krieg in der Geschichte, 31), Paderborn 2006;Philippe Landau, De l’Empire à la RØpublique:les juifs franÅais et la guerre de 1870–71, in:Archives Juives. Revued’histoiredes Juifs de France 37/2 (2004), S. 111–126. 83 AI (18.12.1879), S. 413, AI (18.08.1887), S. 257;AZJ (06.04.1880), S. 209.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der Kampf gegen den erwachenden Antisemitismus 329

Deutsch-französische Vernetzung

Eine weitere Strategie im Kampf gegen den Antisemitismus bestehtinder ge- genseitigen transnationalen Vernetzung.84 Durch den Austausch überdie Presse wird der Kampf gegen den Antisemitismus zu einem deutsch-französischen Kampf, wieesHippolyte Prague 1893, als der Antisemitismus die politische Landschaftinbeiden Ländernstark prägte, feststellt:„Combattrel’antisØmiti- sme, c’est bien. C’est une tâche à laquelle toute la presse israØlite de ce côtØ comme de l’autre côtØ des Vosges s’entend tr›sbien“.85 Die Funktionder jüdischen Presse als Vermittlerin und Bindeglied zwischen den Juden der verschiedenen Nationen –von der Forschung neuerdings her- vorgehoben86 –wurde vonden Publizisten bereits früherkannt. Im Juni 1861, kurz nach der Gründung der Alliance IsraØlite Universelle, die wieCarsten L. Wilkeherausgearbeitet hat,bis zum Ersten Weltkrieg eine echte deutsch-fran- zösische Dynamik hatte,87 schreibt IsidoreCahen:

„Parmi les moteurs les plus Ønergiques de l’activitØ israØlite moderne, et au premier rang des instruments de progr›s,nousn’hØsitonspoint à placer la presse israØlite:c’est elle qui aranimØ le sentimentd’une juste solidaritØ,celui de notre dignitØ mØconnue, celui d’uneactivitØ qui s’Øtait trop ralentie[…],c’est elle qui, rØunissantnos membres Øpars sur le monde, entretientd’incessantes communications parmi eux, c’est elle qui, donnantaux actes louables une publicitØ fØconde, les provoque et les multiplie ;par elle, nousavons un espritpublicqui devientdeplus en plus vif“.88 Dass die jüdische Presse den Austausch und die Kommunikation zwischen den Juden der verschiedenen Länder nach der Emanzipation aufrechterhalten kann, wird auch vonseinen Kollegen in zahlreichen programmatischen Artikeln so gesehen und eingefordert:FürPhilippsonbildet seine Zeitung ein „Band um die durch alle Erdtheile zerstreuten Bekenner unseres Glaubens“,89 fürKarpeles ist sie „ein geistiger Sammelpunkt füralle gebildeten Juden“90 und fürPrague

84 Hierzu ausführlicher:Heidi Knörzer,Nous sommes en dehors des vaines jalousies de peuple à peuple:pratiquesetrØflexions transnationales des rØdacteurs de l’Allgemeine Zeitung des Judenthums (1837–1921) et des Archives israØlites, in:Dorothea Bohnekamp (Hg.), Penser les identitØsjuives dans l’espace germanique, XIXe–XXe si›cles (Études germaniques), Rennes 2015, S. 81–95. 85 AI (19.01.1893), S. 19. 86 Heidi Knörzer,Lapresse juive, espace politique transnational entrelaFrance et l’Allemagne, le cas des Archives israØlites et de l’Allgemeine Zeitung des Judenthums (1840–1900), in: Archives Juives. Revued’histoiredes Juifs de France 45/2 (2013), S. 81–96. 87 Carsten L. Wilke, Das deutsch-französische Netzwerk der AllianceisraØlite universelle, 1860–1914. Eine kosmopolitische Utopie im Zeitalter des Nationalismus, in:Frankfurter judaistische Beiträge 34 (2007–2008), S. 173–199. 88 AI (Juni 1861), S. 341. 89 AZJ (02.08.1879), S. 611. 90 AZJ (23.09.1892), S. 457.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 330 Heidi Knörzer ein „trait d’union entreles originaires d’une mÞme souche“.91 Die Analyse der beiden Zeitschriften ergibt, dass die vier Publizisten, die sich nie persönlich kennen lernen konnten, nichtnur regelmäßig die Zeitung ihrer Kollegen lesen, sondern sich gegenseitig zitieren und Beiträge oder vonihren Kollegen initiierte Aktionen kommentieren. Durch diese regelmäßigen Kontakte zwischen den Publizisten beider Länder werden die beiden Zeitschriften zu einem virtuellen transnationalen sozialen Raum, in dem gemeinsame politische Aktionen ent- wickeltwerden.92 In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass die Publizisten sich selbst als transnationale Akteure verstehen, die, sich gegenseitig unterstützend, füreine gemeinsame Sache eintreten. Während IsidoreCahen seinen Kollegen Ludwig Philippsonals „championdelamÞme cause“93 be- zeichnet,erscheintIsidoreCahen unter der Feder vonGustavKarpeles als „ein Mitkämpfer fürunsere gemeinsame Sache“.94 Die grenzüberschreitenden Interaktionen scheinen vor allem in Krisenmo- menten wiedem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkommenden Anti- semitismusbesonders wertvoll zu sein. Wiebereits erwähnt, berichten die Pu- blizistennichtnur vomaufkommenden Antisemitismusinihrem Land,sondern sie verfolgen auch mit Anteilnahme die Entwicklung der Ausgrenzung und Stigmatisierung im Nachbarland und zeigen sich mit dem Schicksal ihrer Glaubensbrüder solidarisch. Wiedie Migrationsforschung der letzten Jahre immer wieder unterstrichen hat,gibt dieser empathische Austausch überdie Landesgrenzen hinaus den Betroffenen, hier also den Publizisten und ihren Lesern, sicherlich eine gewisse psychologische Unterstützung.95 Er dientaber auch dem Ausfeilen der Abwehrstrategien. Das Nachbarland kann hier als Mo- dell, aber auch als Gegenmodell erscheinen. Die im Kaiserreich zu Beginn der 1890er-Jahreentstehenden Abwehrverei- ne96,zuderen Bildung Philippsonbereits seit 1881 aufgerufen hat97,sind fürdie

91 AI (05.02.1891), S. 42. 92 Ichbeziehe mich hier aufdie Überlegungen vonLudger Pries, Neue Migrationimtransna- tionalen Raum, in:Derselbe(Hg.), Transnationale Migration(Soziale Welt:Sonderband, 12), Baden-Baden1997, S. 15–44. 93 AI (01.05.1869), S. 285. 94 AZJ,Der Gemeindebote (21.03.1902), S. 3. 95 BeipielsweiseRivaKastoryano,Participation transnationale et citoyennetØ.Les immigrØs dans l’UnioneuropØene, in:Cultureetconflits 28 (Hiver 1997), URL: (alle Websites wurdenam17.05.2017 zuletzt aufgerufen);Jean-Pierre Zuniga (Hg.), Pratiques du transnational. Terrains, preuves,limites(La biblioth›que du Centrede recherches historiques), Paris2011. 96 Zum Verein zur Abwehr des Antisemitismus (1891): Peter Pulzer,Die Reaktion aufden Antisemitismus, in:Steven M. Lowenstein/PaulMendes-Flohr (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit?Bd. 3, München1996, S. 250–253. Zum Centralverein:Avraham Barkai, Wehr dich!(wieAnm. 5). 97 AZJ (27.09.1881), S. 638.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Der Kampf gegen den erwachenden Antisemitismus 331 französischen Publizisten ganz klar ein Vorbild. In einem Beitrag,indem ver- schiedene Abwehrstrategien diskutiertwerden, erwähntHippolyte Prague den 1893 gegründeten Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und seine Arbeitsweiselobend und fragtsich, „s’il yaura lieu en France […],lecas ØchØant, d’examiner s’il ne faudra pas recourir à cettemØthode de dØfense is- raØlite“.98 Ein Jahr später kommt er erneut aufdie deutschen Abwehrvereine zurück und bedauert, dass es in Frankreich „rien de pareil“99 gibt. Doch das Nachbarland kannauchein Gegenmodell sein, vondem man sich gerne abgrenzt. Zwar unterstreichen die Publizisten immer wieder die Wich- tigkeit, die die Glaubensbrüder und ihreZeitschriftaus dem Nachbarland fürsie haben, doch sehen sie in ihnen auch Rivalen. Diese RivalitätliegtimWunsch begründet, dass jeder mit seiner Zeitung in der Welt eine Vorrangstellung ein- nehmen will;100 sie ergibt sich aber auch ausden Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich,die nachdem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 besonders stark waren101 und die insbesonderedie französischen Publizisten in ein Dilemma versetzen, das so weit gehen kann, dass sich Isidore Cahen manchmal fragt, ob die Solidaritätder französischen Juden mit ihren deutschen Glaubensbrüdernlegitim ist.102 Beispielhaftfürdiese Spannungen ist die Diskussion um den Ursprung des Antisemitismus:jedes Mal, wenn die AllgemeineZeitung des Judenthums die Haltung der französischen Kollegen oder Frankreichs kritisiert, wird der erwachende Antisemitismusinden Archives IsraØlites als ein deutsches Produkt dargestellt, das in Frankreich nur„ein aus- ländisches Importprodukt“103 sei. Als Philippsonbeispielsweise in den 1880er- Jahren Frankreich seine passiveHaltung bezüglich der russischen Juden zum Vorwurfmachtund die Vorwürfeinden 1890er-Jahren vonder Israelitischen Wochenschrift (1870–1895) erneut vorgetragen werden,104 klagtHippolyte Pra- gue Deutschland an, an den „barbaries russes“ Schuld zu sein:Letztere seien

„historiquementprØcØdØes de l’explosion de l’antisØmitisme germanique,qui, lui- mÞme, a ØtØ le produit direct, la consØquencevirtuelle de la victoire de l’Allemagne en 1871 […] PasdeFranceØcrasØe, comme en 1870, et la hainederace n’aurait pasvule jour de l’autre côtØ du Rhin, et l’ØpidØmie n’aurait pas gagnØ la Russie voisine[…] La France occupaitlapremi›re placeenEurope, la Prusse la lui aprise. La France Øtait la pro-

98 AI (02.02.1893), S. 34. 99 AI (04.10.1894), S. 330. 100 AZJ (24.12.1861), S. 746;AI(Januar 1861), S. 9. 101 Zum deutsch-französischenVerhältnis:Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Stu- dien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich (1792–1918) (Sprache und Geschichte, 19), Stuttgart, 1992. 102 AI (25.11.1880), S. 392. 103 AI (12.01.1893), S. 10. Siehe auch AI (22.12.1881), S. 427;AI(29.11.1884), S. 394;AI (09.04.1896), S. 121. 104 AZJ (18.04.1882), S. 253.

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tectrice nØedetousles opprimØs[…] Ce rôle, […] la PrussepiØtiste s’est bien gardØede s’en emparer […]“.105

IsidoreCahen verfolgt eine ganz ähnlicheArgumentation:Der Sieg des „preu- ßischen Militarismus“ hätte der „moralischen VorherrschaftFrankreichs in der Welt“, die den Respekt der Prinzipien von1789 sicherte, ein Ende gesetztund zum Ausbruch des Antisemitismus, auch in Frankreich, geführt.106 Philippson lässt diese wiederholten Anschuldigungen seiner Kollegen nichtunbeantwortet. Zwar gibt er zu, dass der Antisemitismus chronologisch zuerst in Deutschland aufgetauchtist, doch erkennterinden Vorwürfen seiner französischen Kollegen auch ein Mittel „um gegen Deutschlandzudeklamieren“.107 Doch die meisten Meinungsverschiedenheiten betreffen eher grundsätzliche Fragen des Kampfs gegen die Judenfeindschaftund tragen dazu bei, die Abwehrstrategien auszu- feilen. So fordertGustavKarpeles die französischen Juden beispielsweisedazu auf, „angesichts der drohenden Gefahr“ nichtabzuwarten, sondernsich „zu energischer Abwehr zu rüsten und ausden Erfahrungen,die die deutschen Juden in den letzten zwanzig Jahren gemachthaben, […] Lehren zu ziehen“.108 Und Hippolyte Prague moniertUngenauigkeiten in der Berichterstattung der Allge- meinen Zeitung des Judenthums überdas französische Judentum, weil sie fälschlicherweise ausdem neuen französischen Handelsminister einen Juden gemachthat und somit Wasser aufdie Mühlen der Antisemiten gießt, die oh- nehin „l’importance de l’ØlØmentisraØlite dans la sociØtØ“109 übertreiben. Zwar werden in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums bis 1881 deutlich mehr Beiträge zum erwachenden Antisemitimus abgedruckt, doch spätestens ab 1886 wird dieser Vorsprung vonden Archives IsraØlites aufgeholt und die fran- zösischen Publizisten sind mindestens genauso aktiv im Kampf gegendie Ju- denfeindschaftwie ihre deutschen Kollegen. Das Beispiel des Antisemitismus veranschaulichtauf interessante Weise, dass politische und soziale Phänomene voneinem zum anderen Land ,wandern‘ können und wiewichtigesist, die zeitliche Verschiebung zu berücksichtigen, um den Einfluss eines Phänomens aufdie Menschen richtigeinzuschätzen. Die Mikroanalyseder Beiträge der Publizisten zum Antisemitismuskonnte zeigen, dass ihre Reaktionen trotz ganz unterschiedlicherLebensverhältnisse und gegenseitiger Spannungen nichtso verschieden sind, wiedie Forschung lange Zeit angenommen hatte. Alle vier fühlen sich durch den erwachenden Antisemitismus bedrohtund in ihrem Vertrauen in ihr Land verunsichert. Diese Verunsicherung kompensieren

105 AI (11.06.1891), S. 186. Siehe auch AI (12.09.1895), S. 289. 106 AI (13.10.1887), S. 322–323. 107 AZJ (24.01.1882), S. 49. 108 AZJ (17.06.1898), S. 277–278. 109 AI (19.01.1893), S. 18.

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Erforderliche Reaktionen.MoritzLazarus’ Erwiderung auf Heinrich von Treitschkes Unsere Aussichten (1879) und BernardLazares Auseinandersetzung mit Édouard Drumonts La France Juive (1886)

Transformation eines jahrtausendealtenRessentiments

Ab den späten 1870er-Jahren verbreitete sich ein neuer Begriff rasant über Ländergrenzen hinweg.Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich löste der Terminus „Antisemitismus“zunehmend den älteren Ausdruck „Antijudaismus“ ab.Die Beschreibung diente fortan als Selbstbezeichnung vonjudenfeindlichen Hetzern, tauchte im Titel vonZeitschriften und Büchernsowie im Namen von Organisationen auf. Bald wurde er auch vonKritikern des Judenhasses über- nommen. Diese Substitution stehtnichtnur füreine bloßeVerschiebungvon Wörtern, sondernindizierteine grundlegende Wandlung der Judenfeindschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.1 Ein neuer Begriff fürein älteres Phä- nomen setzt sich dann gesellschaftlich durch, wenn es entweder seinen Inhalt qualitativ gewandelt oder einen neuen Verbreitungsgrad erreichthat.2 Beides triffthinsichtlich der Judenfeindschaftinjenen Jahren europaweit zu. Der mo- derne Antisemitismus baute aufeinem jahrtausendealten, christlich geprägten Antijudaismus auf, veränderte aber sukzessivedie Struktur und die Ausrichtung des Ressentiments in einer Weise, die eine neue Beschreibungskategorie erfor- derte. Darin bündelten sich die Entwicklungen der vorherigen Jahrzehnte, wie etwa das Aufkommen der Rassentheorien, des Sozial-Darwinismus, des völki- schen Denkens und die Aversiongegen die bürgerlich-kapitalistische Gesell- schaftmit all ihren Auswirkungen. In geradezuidealtypischer Weise artikulierte Wilhelm Marr den neuen Ju- denhass in seiner 1879 erschienen Schrift Der Sieg des Judenthums über das

1Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurta.M.1988, S. 85–150. Vgl.dazu auch den Beitrag vonUlrich Wyrwaindiesem Band. 2ReinhartKoselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantikund Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 9–98. Zur Genese des Antisemitismus vgl. Thomas nipperdey/ReinhardRürüp, Antisemitismus,in: Otto Brunner/Werner Conze/ ReinhartKoselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe.Historisches Lexikon zur politisch- sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972, Bd. 1, S. 129–153.

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Germanenthum. Vomnichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet.3 Er grenzte sich damit deutlich vonder religiösen Judenfeindschaftab. Marr sah die Juden als eigene,fremdeRasse, die sich parasitärinanderen Völkerneinniste. Besonders in Deutschland sei der jüdische Einfluss erschreckend groß und kaum noch aufzuhalten. Folglich schlossMarr so reißerischwiepessimistisch:„Finden wiruns in das Unvermeidliche, wenn wiresnicht ändernkönnen. Es heißt:Finis Germaniae.“4 Er stilisierte sich in dieser Artund Weise zum einsamenRufer in der Wüste, der die Wahrheit verkünde. Dadurch hoffte er,die Massen gegen die Juden aufzurütteln. Insofern stelltedie dystopische Aussichtlediglich eine rhe- torische Figur dar.Die suggerierte Ohnmachtangesichts der „jüdischen Gefahr“ sollte umso mehr zur Aktion anspornen, ein Anspruch, dem Marr selbst 1879 mit der Gründung der sogenannten Antisemiten-Liga nachkam.5 Damit hatte er der inhaltlichen und organisatorischen Entwicklung des Antisemitismus den Weg bereitet. In dem Artikelwerden die Reaktionen vonMoritz Lazarus und Bernard La- zare aufdie Genese der modernen JudenfeindschaftinDeutschlandund in Frankreich im späten 19. Jahrhundertbeschrieben. Dabei wird zunächst der jeweilige gesellschaftliche und politische Kontext skizziert, um dannineinem nächsten Schritt die intellektuellen Auseinandersetzungen vonLazarus und Lazare am Beispiel bedeutsamer zeitgenössischer judenfeindlicher Schriften von Heinrich Treitschkebeziehungsweise von Édouard Drumontdarzulegen. Die Spezifik der beiden Analysen fürdie Gründe des Antisemitismus und die Möglichkeiten seiner Überwindung sindherauszuarbeiten, bevorsie in den abschließenden Bemerkungen vergleichend zusammengeführtwerden.

Die gesellschaftliche Situation Deutschlands in den 1870er-Jahren

Der deutsch-französischeKrieg 1870/71, die Niederlage Frankreichs und die Ausrufung des deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal vonVersailles führte die lange schwelende nationale Frage endgültig in der kleindeutschen Variante unter preußischer Führung einer Lösung zu. Frankreich musste den Großteil des El- sass und Teile Lothringens abtreten und unterschiedliche symbolische Demü- tigungen hinnehmen. Während die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland trunken im nationalen Siegestaumel schwelgte und einen Überlegenheitsdünkel

3Wilhelm Marr,Der Sieg des Judentums über das Germanentum. Vomnichtconfessionellen Standpunkt ausbetrachtet, Bern 1879. 4Marr, Der Sieg des Judentums (wie Anm. 3), S. 48. 5Zur Antisemiten-Liga vgl. die Statuten des Vereins „Antisemiten-Liga“, Berlin 1879;online einzusehen unter: (23.05.2017).

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Erforderliche Reaktionen:Moritz Lazarus und Bernard Lazare 337 pflegte, hegten Teile der französischen GesellschaftRevanchegelüste. Die Suche nach Schuldigen fürdie Niederlage begann. Der Sieg bedingte einen Wirtschaftsaufschwung im Kaiserreich, nichtzuletzt aufgrund der französischen Reparationszahlungen. Es wurden viele Unterneh- men gegründet, die Industrieproduktion stark ausgedehntund das Eisenbahn- netz erweitert. Die einsetzende Überproduktion sowieBörsenspekulationen provozierten 1873 den sogenannten Gründerkrach. Die folgende ökonomische Depressionging mit einer schweren sozialen Krise einher. Die Regierung ergriff protektionistische Maßnahmen und wandtesich von der Politik des Freihandels ab.Der Liberalismus war zunehmend diskreditiert. Auch das innenpolitische Klima wurde repressiver. Bereits 1871 hatte Reichs- kanzler Otto vonBismarck im sogenannten Kulturkampf beabsichtigt,den Einfluss der katholischen Kirche zurückzudrängen und das Verhältnis vonStaat und Kirche neu zu bestimmen. 1878, im gleichen Jahr,indem der Kulturkampf überwiegend beigelegtwurde, verabschiedete der Reichstag das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“.6 In diesem angespannten Umfeld fiel die Judenfeindschaftauf fruchtbaren Boden. Die Ressentiments richteten sich gegen Juden als vermeintliche Krisen- Profiteure und stachelten Teile der Gesellschaftauf. Agitatoren machten jüdische Spekulanten fürden wirtschaftlichen Zusammenbruch verantwortlich. Jüdische Bankiers wurden als raffgierige, heimatlose Plutokraten dargestellt und dem produktiven deutschen Fabrikbesitzer gegenübergestellt. Bereits 1874 publi- zierte Otto Glagauinseiner Zeitschrift Die Gartenlaube eine Artikelserie über den „Börsen- und Gründungsschwindel“ der jüdischen Spekulanten, die zwei Jahre später in Buchformerschien.7 Die Judenfeindschaftverbreitete sich in allen Gesellschaftsschichten. Sie wurde gewissermaßen zu einem „kulturellen Code“8.Außerdem artikulierte sich der Antisemitismus nichtmehr nursituativund spontan, sondernvermehrtin organisierter Form.Esentstanden unterschiedliche antisemitische Bewegungen und Parteien. Besonders aktiv war die 1878 gegründete Christlich-Soziale Ar- beiterpartei des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker.9 In seinem Judenhass mischten sichklassischeTopoi des christlichenAntijudaismus mit Aspekten des

6Zum Sozialistengesetz vgl. Heinrich Potthoff/Susanne Miller,Kleine Geschichte der SPD 1848–2002, Bonn 82002, S. 47–49. 7Otto Glagau, Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin, Leipzig 1876. Zu Glagauvgl. Daniela Weiland:Otto Glagauund „Der Kulturkämpfer“. Zur Entstehung des modernen Antisemitismusimfrühen Kaiserreich (Reihe Dokumente, Texte, Materialien, 53), Berlin 2004. 8Shulamit Volkov:Antisemitismus als kultureller Code, München 22000. 9Zur BerlinerBewegung vgl. Peter G. J. Pulzer,Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschlandund Österreich 1867 bis 1914, Göttingen 2004, S. 134–145.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 338 Sebastian Voigt modernen Antisemitismus. Er bemühtesich, mit seiner Agitation bewusst die Arbeiterschaftanzusprechen, allerdingsmit geringem Erfolg.

Der BerlinerAntisemitismusstreit 1879

Dass der Antisemitismus ausverschiedenen politischen Richtungen –von ganz links bis ganz rechts –kam und nichteiner bestimmtensozialen Schichtzuzu- ordnen war,zeigte sich in der wichtigsten Auseinandersetzung des 19. Jahr- hunderts überdie sogenannte Judenfrage in Deutschland:dem Berliner Anti- semitismusstreit.10 Der Auslöser war 1879 der Aufsatz Unsere Aussichten des konservativen Historikers Heinrich vonTreitschkeinden Preußischen Jahrbüchern.11 Trei- tschkekonstatierte darin eine „in den Tiefen unseres Volkslebens wundersame, mächtige Erregung.“ Das Volksgewissen sei erwachtund wende sich nungegen die effeminierte Philanthropie. Treitschkestilisierte sichzur Stimme dieser brodelnden Stimmung,die angesichts der jüdischen Einwanderung ausOsteu- ropa nach Berlin immer weiter angeheizt werde:„[Ü]ber unsere Ostgrenze aber dringtJahr fürJahraus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge hinein, deren Kinder und Kindeskin- der dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen.“12 Dem- nach würden Juden nachund nach größeren Einfluss in der deutschen Gesell- schafterreichen und Schlüsselpositionen besetzen. Diese Entwicklung müsse verhindertwerden. Auch wennTreitschkeselbst Juden nichtfürunassimilierbar hielt und sie aufforderte, Deutsche zu werden und sich als Deutschezufühlen, schätzte er doch die Mehrheitsmeinung in der deutschen Gesellschaftinkaumzu überbietender Deutlichkeit wiefolgtein:„Die Juden sind unser Unglück.“13 Durch die folgende mehrjährige Debatte wurde der Begriff des Antisemitis- musgesamtgesellschaftlich bekannt, auch beiIntellektuellen, im Bildungsbür- gertum und an den Universitäten. Die sich ausbreitende Haltung der Juden- feindschafthatte nunihren adäquaten Ausdruck gefunden. So forderten Bern- hardFörster,Max Liebermann vonSonnenberg, Ernst Henrici und andere1880

10 Die wichtigsten Texte finden sich in:Walter Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismus- streit, Frankfurta.M.1965. 11 Heinrich vonTreitschke, UnsereAussichten, in:Preußische Jahrbücher 44 (1879), S. 559–576. Hier zitiertnach:Detlev Claussen, VomJudenhass zum Antisemitismus. Mate- rialien einer verleugneten Geschichte, Darmstadt 1987, S. 110–116. 12 Treitschke, UnsereAussichten (wie Anm. 11), S. 112. 13 Treitschke, UnsereAussichten (wie Anm. 11), S. 115. Dieser Satz wurde später zum Leit- spruch der nationalsozialistischen Zeitschrift Der Stürmer.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Erforderliche Reaktionen:Moritz Lazarus und Bernard Lazare 339 in der „Antisemitenpetition“ die Rücknahmeder rechtlichen Gleichstellung der Juden. Der Aufruf erhielt über250 000 Unterschriften. Zum prominentestenWidersacher Treitschkes wurde der in Berlin lehrende Althistoriker und (national-)liberale Reichstagsabgeordnete Theodor Momm- sen, der sichallerdings erst gut ein Jahr später,am10. Dezember1880, mit dem Aufsatz Auch ein Wort über unser Judenthum in die Debatte einmischte.14 Das deutsche Volk setze sich ausunterschiedlichen Volksstämmen zusammen, die alle ihre sprachlichenund kulturellen Eigenheiten hätten aufgeben müssen, um sich zu einem größeren Ganzen zu vereinigen. Die Juden seien eine weitere Komponente in dieser Vermischung und hätten bereits großeVerdienste um das Vaterland erworben. Mommsen beendet seine Überlegungen folgendermaßen: „Auch die Juden führtkein Moses wieder in das gelobte Land;mögen sie Hosen verkaufen oder Bücher schreiben,esist ihrePflicht, so weit sie es können ohne gegen ihr Gewissen zu handeln, auch ihrerseits die Sonderartnach bestem Vermögen vonsich zu thun und alle Schrankenzwischen sich und den übrigen deutschen Mitbürgernmit entschlossener Hand niederzuwerfen.“15 Mommsen verstand die Juden als Teil der deutschen Nation und verteidigte die rechtliche Gleichstellung,verlangte aber eine weitreichende Anpassung. Die Intervention Mommsens erwies sich als entscheidend, da sich mit ihr ein geachteter Intellektueller dezidiert gegenAntisemitismuspositionierthatte. Jedoch war sein Artikelkeineswegs der erste Widerspruch:Bereits einen Monat nach dem Erscheinen vonTreitschkes Aufsatz hatte ein Leitartikelinder All- gemeinenZeitung des Judenthums dessen Argumentation als moderne Variante der mittelalterlichen Pogromhetze bezeichnet.16 Weitere jüdische Intellektuelle mischten sich ebenfalls frühein, darunter der liberale Politiker und Bankier Ludwig Bamberger sowieder Historiker Heinrich Graetz.

Moritz Lazarus’ Kritik an Treitschke

Auch Moritz Lazarus intervenierte schon im Dezember 1879 mit dem Vortrag Washeisst national? an der Hochschule fürdie Wissenschaftdes Judentums in Berlin.17 Er formulierte eine beißende Kritik an Treitschke. 1880 wurde die Rede

14 Theodor Mommsen, Auch ein Wort überunser Judenthum, Berlin 1880. Hier zitiertnach Claussen, Judenhass (wie Anm.11), S. 117–129. 15 Mommsen, Auch ein Wort (wie Anm. 14), S. 129. 16 Ludwig Philippson, AntwortanProfessor Dr.v.Treitschke, Bonn, 9. December,in: Allge- meine Zeitung des Judenthums 43/50 (1879), S. 785–787. 17 Moritz Lazarus, Washeißtnational?Ein Vortrag,Berlin 1880.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 340 Sebastian Voigt als Broschüre veröffentlicht. Sie stellte eine idealtypische Kritik des Antisemi- tismus ausder liberalen Perspektiveeines assimilierten Juden dar.18 Moritz (geb.Moses) Lazarus kam1824 in der preußischen Provinz Posen in der Kleinstadt Filehne (poln. Wielen´)zur Welt.19 Er wuchs in einer multireli- giösen und kulturell diversen Umgebung auf. Juden, Protestanten und Katholi- kenlebten als nahezu gleich großeBevölkerungsgruppen mehr oder weniger friedlich nebeneinander.Rückblickend beschreibt Lazarus, dass diese Koexis- tenz ihn frühzum Nachdenken angeregtund seine Sichtauf gesellschaftliches Zusammenleben geprägt habe.20 Nach einer kaufmännischen Lehre besuchte Lazarus bis 1846 ein Gymnasium in Braunschweig.Danach studierte er in Berlin, unter anderem beiJohann Friedrich Herbart, und wurde dort1850 promoviert. Wenig später publizierte er den Artikel Über den Begriffund die Möglichkeit einer Völkerpsychologie als Wissenschaft und in den folgenden Jahren die drei Bände seines Hauptwerks Das Leben der Seele in Monographien über seine Er- scheinungen und Gesetze.21 1860 gründete er zusammen mit Heymann Steinthal die Zeitschrift fürVölkerpsychologie und Sprachwissenschaft und wurde im sel- benJahr zum Professor an die UniversitätBernberufen. Ab 1867 unterrichtete er Philosophie an der Preußischen Kriegsakademie in Berlin und ab 1874 an der Berliner Universität. Lazarus beruflicher Aufstieg verlief parallel zur gesellschaftlichen Emanzi- pation der Juden. Er erlangte die Hochschulreife im Herzogtum Braunschweig, das bereits 1831 Juden rechtlich gleichgestellt hatte. Der Judenemanzipation im Norddeutschen Bund 1869 folgte zwei Jahre später die Gleichstellung im neu- gegründetenKaiserreich. Die gesellschaftliche Fortentwicklung schien ausSicht liberaler Juden geradezu unausweichlich.Die antisemitische Hetze in Wirts- häusernoder aufder Straßestellte fürsie zwar ein Ärgernis dar, war aber gemäß dem Fortschrittsoptimismus ein zum Verschwinden verurteiltes Phänomender

18 Vgl. Marcus Stoetzler,Moritz Lazarus und die liberale Kritik an Heinrich vonTreitschkes liberalem Antisemitismus,in: Hans-Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (Hg.), Beschrei- bungsversuche der Judenfeindschaft. ZurGeschichteder Antisemitismusforschung vor1944 (Europäisch-jüdische Studien. Beiträge, 20), Berlin/Boston2014, S. 98–120. 19 Zum Lebenund Werk vonMoritzLazarus vgl. Mathias Berek, Schnittpunkt sozialer Kreise statt völkischer Verwurzelung –Die Entstehung moderner Sozialtheorie ausder deutsch- jüdischen Lebenswelt des 19. Jahrhunderts am Beispiel MoritzLazarus, in:Medaon 5(2009), S. 1–14. AußerdemDerselbe, Neglected German-Jewish Visions for aPluralistic Society. Moritz Lazarus, in:Leo Baeck Institute Ye ar Book 60 (2015), S. 1–15. 20 Moritz Lazarus, Ausmeiner Jugend. Autobiographie vonM.Lazarus,Frankfurta.M.1913. 21 Moritz Lazarus, Das Lebender Seele in Monographien überseine Erscheinungen undGe- setze, Berlin 1856–1881. Zur Völkerpsychologie vgl. auch NicolasBerg, Völkerpsychologie, in:Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur,Bd. 6, Stuttgart/Weimar 2015, S. 291–296. Vgl.Auch Matti Bunzl, Völkerpsychologie and German-Jewish Emanci- pation, in:H.Glenn Penny/Matti Bunzl (Hg.), Worldly Provincialism,German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor 2003, S. 47–85.

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Vergangenheit. Die Pöbeleien könnten den Aufstieg der Juden nichtuntermi- nieren, so die unter Liberalen verbreitete Annahme. Insofernmarkierte der Aufsatz des angesehenenProfessors TreitschkefürLazarus eine Zäsur,die nicht unwidersprochen bleiben durfte. Zum Zeitpunktder Rede war Lazarus seit gut einem Jahrzehntinder jüdi- schen Gemeinde als Vorkämpfer fürdie rechtliche Gleichberechtigung vonJuden bekannt. Er hatte nichtnur 1869 und 1871 als Präsidentder israelitischen Synode fungiert, sondernwar auch an der Gründung der 1872 eröffneten Hochschule für die Wissenschaftdes Judentums in Berlin beteiligtgewesen.22 Außerdem enga- gierte er sich im Kampf gegen den Antisemitismus. Lazarus’ Rede bestehtaus zwei Teilen:Nach einer allgemeinen Erörterung überdie Nationalitätdiskutierterdas Verhältnis (deutscher) Juden zur Nation. Gleich zu Beginn bemerkte er,dass ausschließlich Juden zu seinem Vortrag eingeladenworden seien. Es gehe aber nichtumGeheimhaltung, sondern darum, „fürunsere Glaubensgenossen Klärung und Belehrung zu schaffen.“23 Er weigerte sich, direkt zu den judenfeindlichen Angriffen der letzten Zeit Stellung zu beziehen. Der Antisemitismus müsse mit einer Krankheit verglichen werden. Unklar sei jedoch, ob Juden zu ihrer Bekämpfung beitragen könnten. Lazarus äußerte sich skeptisch. Denn, und hier formulierte er eine grundlegende An- nahme, „was man wieder einmal die Judenfrage nennt, ist lediglich eine deutsche Frage.“24 Am Umgang damit lasse sich ermessen, ob die deutsche Nation zu Humanitätund Gerechtigkeit willens sei. Juden seien Teil dieser Nation:„Aber wirsind Deutsche, als Deutsche müssen wirreden.“25 Der Artikelvon Treitschke bewege sich, so Lazarus, aufeiner Ebene mit der Hetze der Antisemiten-Liga von Wilhelm Marr und treibeihn selbst zur Weißglut:„[A]ber wer aufdem Stand- punkt der Humanitätsteht, der wird wissen, dass es nichtdie Zornesröthe des Juden, sondern die Schamröthe des Deutschen ist, die aufunserer Wange brennt.“26 In diesen Aussagen manifestierte sichdas liberale Bekenntnis zur deutschen Nation geradezu paradigmatisch. Trotz antisemitischer Invektiven verwahrte sich Lazarus, als Jude zu reagieren. Sein affirmativer Begriff der Na- tion war mit Vernunft, Humanität, Weltbürgerlichkeit und Gerechtigkeit asso- ziiert. Nationale Einheit und (bürgerliche) Freiheit betrachtete er als komple-

22 Zur Hochschule fürdie Wissenschaft des Judentums vgl. Christian Wiese, Hochschule fürdie Wissenschaftdes Judentums, in:Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur,Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2012, S. 75–81. 23 Moritz Lazarus, Washeißtnational?Ein Vortrag,in:Karsten Krieger (Bearb.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation, Bd. 1, München 2003, S. 37–89, hier S. 40. 24 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 40. 25 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 40. 26 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 41.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 342 Sebastian Voigt mentär. Deshalb sah sich Lazarus herausgefordert,als Deutscher zu antworten. Würde er dies als Jude tun, hätte er schon die vonAntisemitenbetriebene Spaltung der Nation implizit akzeptiert. Weil Juden ständig vorgehalten werde, eine separateEntitätzubilden, seiessein genuines Interesse, das Konzept der Nationalitätzubeleuchten sowiedas Verhältnis vonNation und Volk zu disku- tieren. Dabei arbeitete sich Lazarus an zeitgenössischen Positionen ab:weder erweise sich die gemeinsame Sprache noch die territoriale Einheit als konstitutiv füreine Nation, denn, „die territorialen Grenzen schwanken, ihre Bestimmung [ist] vonsubjectiverAnsichtabhängig.“27 Vielleichtseienvor langer Zeit einmal die Staats- mit den Nationengrenzen kongruentgewesen, aber mittlerweile be- stehe doch kein Staat auslediglich einer einzigen Nationalität. Außerdem lebten nichtalle Angehörigen einer Nation auch im gleichen Land.Ebenso verhalte es sich mit dem Verhältnisvon Religion und Nationalität. Gar noch weniger plau- sibel sei der Bezug aufeine gemeinsameAbstammung:Die Vorstellung einer homogenen Nation stelle eine Schimäre dar, denn „es gibt gar keine Nationalität, welche vonreiner ungemischter Abstammung ist. Hier aufdem Boden, wo wir uns bewegen, habenSie eine durchgehende Mischung vonSlaven und Deut- schen.“28 Im Gegenteil beruhe der Begriff des Volkes vorallem aufden subjektiven Ansichten seiner Angehörigen, dem Volksgeist.Deswegen könnten Nation, Volk oder Nationalitätauch nichtnach objektiven Kriterien bestimmt werden:„Ge- tragen also wird dieser subjective Zusammenhang im Geiste einer Nation, und ausgebildet, weil innerlich erlebt, am meisten durch die Geschichte derselben, im weitesten Sinne des Wortes.“29 Die Entwicklung Deutschlands veranschauliche, wiedurch gemeinsameErfahrungen und eine geteilte Geistesgeschichte hete- rogene Stämme schließlich zu einer Einheit gelangten. Diese allgemeinen Er- örterungen beantworteten jedoch noch immer nichtdie Frage, zu welcher Na- tionalitätnun eigentlich die deutschen Juden gehörten. Seine Antwortgab La- zarus im ausführlicheren zweiten Teil des Vortrags. Dezidiertkonstatierterdort:„[W]ir sind Deutsche, nichts als Deutsche, wenn vom Begriff der Nationalitätdie Rede ist, wirgehörennur einer Nation an, der deutschen.“30 Sicherlich unterschieden sich die Juden durch ihrenicht-germa- nische Abstammung. Aber dies treffe auch aufandere Stämme der deutschen Nation zu und der Verweis auf„rassische“Abstammung sei ohnehin kein Ar- gument: „Uebrigens ist diese ganze Blut- und Racentheorie ein Ausfluß des grobsinnlichen Materialismusder Welt- und Lebensanschauung überhaupt.“31

27 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 43. 28 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 44. 29 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 48. 30 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 52. 31 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 54.

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VorGenerationen seien die Juden als Fremde eingewandert, aber als Fremde, die eine Heimat suchten und fanden. Diese neue Heimat erweiterte sukzessiveauch die Pflichten, bis hin zum Kriegsdienst fürdas Vaterland. Die Juden seien diesen Pflichten nichtnur nachgekommen,sondern hätten sie als heilige Rechte an- genommen. Das Judentum sei heute eine deutsche Religion, ganz so wieder Protestantismus und der Katholizismus, und außerdem dasFundament des Christentums. Eine christliche motivierte Judenfeindschaftoder eine jüdische Verachtung des Christentums seien deshalb unmöglich. Ihr Verhältnis sei ver- gleichbarmit dem einer Mutter zu ihrem Kind. Allerdings fiele beiden Juden die Glaubens- mit der Stammeseinheit zusammen. Daraus ließen sich aber keine Schlussfolgerungen überdie Zugehörigkeit ableiten. Diese Argumentation re- sümiertLazarus folgendermaßen:„Abstammung also und Religion hindernden Juden nichtimvollsten Sinne der deutschen Nationalitätanzugehören.“32 Dass sich Juden in Bezug aufdie gewählten Berufe vonder Mehrheitsbevölkerung absetzten, resultiere aushistorischen Gründen. Juden betrieben seltener Ackerbau, da sie lange keinen Boden besitzen durften. Außerdem waren sie frühzeitig Stadtbewohner.Insofernverhielten sich die Juden genauso wie Christen, deren Vorfahren kein Land besaßen. Die spezifische Sozialstruktur der Juden sei sozial bedingtund keine ,rassische‘ Eigenart. Denn, so Lazarus rhe- torisch, „[u]nterliegen die Juden nichtdenselben psychologischen Gesetzen wie andere Menschen?“33 Seitdem die gesetzlichenBeschränkungen aufgehoben worden seien und den Juden beispielsweise die universitäre Laufbahn offenstehe, hätten sie viel fürden Fortschritt in der Wissenschaftund die kulturelle Entwicklung geleistet. Die starkeAffinitätzum deutschen Geistesleben habeeine emotionale Verbindung zur Nation hervorgebracht: „Wir sind deshalb auch glücklich[,] Söhne dieser Nation zu seyn, die wirvon ganzer Seele hochhalten und mit Stolz betrachten.“34 Dieser Nationalstolz werte aber nichtdie Fremden ab,ganz im Gegenteil:der Nationalstolz impliziere„einen Zug nach dem allgemein Menschlichen hin.“35 Weltbürgertum und Nationalstolz ergänzten sich, wieLazarus mit Bezug auf Friedrich Schiller ausführt. Deshalb bedeute der affirmativeBezug zur deut- schen Nation auch nicht, die jüdische Herkunftzuverleugnen:„Wirdürfen nicht bloß,wir müssen, um vollkommene, im höchsten Maßeleistungsfähige Deut- sche zu seyn, Juden seyn und bleiben.“36

32 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 59. 33 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 60. 34 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 68. 35 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 69. 36 Lazarus, Washeißtnational?(wieAnm. 23), S. 69.

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Zusammenfassung

Lazarus’ Rede stellte eine der intellektuellanspruchsvollsten Erwiderungen auf Treitschkedar.Erkritisierte den Antisemitismusauf einer grundlegenderen Ebene als die meisten seiner Zeitgenossen und formulierte Erkenntnisse, die noch heute nichts vonihrer Richtigkeit eingebüßthaben. So verweist Lazarus darauf, dass die „Judenfrage“ keine ausschließliche Frage fürJuden sei, sondern als gesellschaftliches Problem alle Angehörigen einer Nation angehe.Besonders Nicht-Juden müssten sich damit im Eigeninteresse auseinandersetzen, denn die „Judenfrage“ werde schließlich vonder nicht-jüdischen Umgebung gestellt.37 Konsequenterweise griff Lazarus deshalb nichtals Jude, sondern als Deutscher in den Streit ein. Das Problem des Antisemitismus verortete er im Kontext der Genese der modernen Nationalstaaten. Ausgehandelt werde dabei die (Nicht-) Zugehörigkeit zur Nation. Mit rationalen Argumenten wies Lazarus viele Be- gründungen des Antisemitismus zurück und betonteden subjektiven Aspekt der Nationalität, das individuelle Bekenntnis des Einzelnen. Vermeintlich objektive Kriterien wieAbstammung oder Sprache dekonstruierte er als historisch ent- standene Phänomene. Eine angeblichunverrückbare Feindschaft zwischen Ju- dentum und Christentum wies er vehementzurück. Lazarus verweigerte sich einer homogenisierenden Auffassung vonNationalitätund verwies stattdessen aufdie Entstehung vonNationen ausvielen unterschiedlichen Teilen zu einem Ganzen.Ervertrat nichtnur einen aufgeklärten gesellschaftlichen Pluralismus, sondern erblickte gerade in der Vielfalt eine produktiveQuelle fürdie jeweilige Nationalkultur.Darüberhinaus weise ein richtigverstandener Nationalismus eine Affinitätzum Weltbürgertum auf. Deshalb seien deutsche Juden zuvörderst Deutsche. Sie unterschieden sich nichtsignifikantvon anderen Gruppen in Deutschland. Lazarus’ Position stehtexemplarisch fürdie Haltung der assimilierten libe- ralen Juden. Sie verstandensich als Deutsche, hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertnichtselten den sozialenAufstieg geschafft und vonder recht- lichen Gleichstellungprofitiert. Die wirtschaftliche und politische Entwicklung lieferten dem Fortschrittsoptimismus eine plausible Grundlage. Der Antisemi- tismus erschien als zu überwindende Störung in diesem Prozess. Dem Ressen- timenttrat Lazarus deshalb auch selbstbewusst als Deutscher entgegen. Die deutsche Geistestraditiondiente ihm hierbei als Legitimation. Diese liberale Hoffnung konvergierte mit seinen subjektiven Erfahrungen.

37 Ähnlich argumentiertspäter Hannah Arendtinihrem Aufsatz zu Aufklärung und Juden- frage, wenn sie schreibt,dass die nicht-jüdische Welt die Judenfrage aufgeworfen habe.Vgl. Hannah Arendt, Aufklärung und Judenfrage (1932), in:Dieselbe, Die verborgene Tradition. Acht Essays, Frankfurt a. M. 1976,S.117–138.

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Ausheutiger Perspektiveunterschätzte Lazarus die Gefährlichkeit des Anti- semitismusund blendete die Möglichkeit einer weiteren Radikalisierung aus. Es lässt sich jedoch keine Linie vom Berliner Antisemitismusstreit nach Auschwitz ziehen. Historische Entwicklungen sind nichtdeterminiert. Darüberhinaus war damals der Antisemitismus keineswegs ein genuin deutsches,sondern ein eu- ropaweites Phänomen.38 Die Judenfeindschaftzeigte sich in besonderer Heftig- keit in den Pogromenimzaristischen Russland. Doch auch in Frankreich, dem Land der Revolution von1789 und der Erklärung der Menschenrechte, war der Antisemitismus in den 1890er Jahren und im Umfeld der Dreyfusaffäre weit verbreitet.39

Frankreich nach dem deutsch-französischen Krieg 1870–1871

GroßeTeile der französischen Gesellschaftwertetendie Niederlage1871 als nationale Demütigung.40 Nach der Gefangennahme Napoleons III. in der Schlachtvon Sedan war die Dritte Republik ausgerufen worden. Die neue Re- gierung setzte zunächst den Kampf gegenPreußen-Deutschland fort, musste aber im Januar 1871 nach der Belagerung der Stadt Parisden Waffenstillstand akzeptieren. Das provisorische Staatsoberhaupt Adolphe Thiers unterzeichnete schließlich mit Preußen den Vorfrieden vonVersailles. Als das französische Militärdie Pariser Nationalgarde entwaffnen wollte, eskalierte die Situation in der Hauptstadt.Den im März 1871 ausbrechenden Aufstand der Pariser Kom- mune schlug die Armee äußerst brutal nieder,während die deutschen Belagerer vor der Stadt dem Bürgerkrieg zuschauten. Mehr als 10.000 Aufständische und Zivilisten wurden getötet.41 Bereits zwei Jahrespäter,zeitgleich mit dem „Gründerkrach“ in Deutschland, verschärfte ein wirtschaftlicher Einbruch die politischen Auseinandersetzun- gen. Nichtselten wurden Juden als vermeintlicheNutznießer fürdie Krise ver- antwortlich gemacht. Der Judenhass radikalisierte sich auch in Frankreich ab Mitte der 1870er Jahredeutlich. Der moderne Antisemitismusentwickelte sich

38 Vgl. den Beitrag vonUlrich Wyrwaindiesem Band.AußerdemUlrich Wyrwa, Gesell- schaftliche Konfliktfelder und die Entstehung des Antisemitismus:das Deutsche Kaiserreich und das Liberale Italien im Vergleich (Studien zum Antisemitismus in Europa, 9), Berlin 2015. 39 Vgl. dazu MareikeKönig/Elise Julien, Verfeindung und Verflechtung.Deutschland und Frankreich 1870–1918 (Deutsch-Französische Geschichte Band VII), Darmstadt 2019. 40 Zur Dritten Republik vgl. ArnaudHoute,LetriomphedelaRØpublique(1871–1914) (His- toire de la France contemporaine, 4), Paris2014. 41 Zur Kommune vgl. Jacques Rougerie, ParisinsurgØ –LaCommunede1871 (DØcouvertes Gallimard, 263), Paris2006 und Robert Tombs, The ParisCommune 1871 (Turning points), London1999.

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Der Vordenker des radikalen Antisemitismus:Édouard Drumont

ÉdouardDrumontwar der Protagonist des sich formierenden rassischen Anti- semitismusinFrankreich und darüberhinaus. Sein 1886 erschienenes Werk La France Juive verkauftesich in übereinhundertAuflagen mehr als eine Million Mal. Es wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und zu einem der einfluss-

42 Jean Bouvier: Études sur le krach de l’Union GØnØrale (1878–1885), Paris1960 und Jeannine Verd›s-Leroux, Scandale financier et antisØmitisme catholique. Le krach de l’Union gØnØrale (Études de sociologie), Paris1969. 43 Jean Garrigues, Le boulangisme (Que sais-je?, 2698), Paris1992. 44 Jean-Yves Mollier,Lescandale de Panama, Paris1991;Pierre-AlexandreBourson,L’affaire Panama (Grands proc›sdel’histoire), Paris2000.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Erforderliche Reaktionen:Moritz Lazarus und Bernard Lazare 347 reichsten antisemitischen Pamphlete des späten 19. Jahrhunderts.45 Drumont deutete darin den Verlauf der Geschichte als unausweichlichen Konflikt zwi- schen der „arischen“ und der „semitischen Rasse“. Die in zweiBänden er- schienene, über1.000 Seiten umfassende Schriftbeginntwie folgt: „Am Anfang dieser Untersuchung müssen wirversuchen, dieses eigentümliche Wesen, so lebenskräftig, so völlig verschieden vonallen anderen Lebewesen, zu analysie- ren: den Juden.“46 Er beschreibt die Unvereinbarkeit der „semitischen“ mit der „arischen Rasse“ und die verschiedenen Typen „des Juden“. Drumontbehandelt die spezifische „jüdische Kriminalität“ ebenso wiedie innerjüdische Solidarität und das Unverständnis vonJuden gegenüberwahrer Kunst und Schönheit. Anschließend beschreibt er die Geschichte der Juden beiden Galliern, den Rö- mern, und im Frühmittelalter bis zu ihrer Vertreibung ausFrankreich im Jahr 1394. Danach habedas Land bis 1789 eine Blüte erlebt. Die Revolution habedann den raschen Niedergang provoziert. Daran trügen Juden die größte Schuld. Drumonts Erzählung stellt eine dystopische Verfallsgeschichte dar,die Juden zu den Schuldigen und zugleich den Nutznießernder modernen Gesellschaftsti- lisiert. Sie würden die kulturellen und nationalen Wurzeln Frankreichs, beson- ders den Katholizismus, zerstören. Folglich findensich beiDrumontnochSte- reotypedes christlichenAntijudaismus. Jedoch wirken sie wieResiduen, auf denen eine rassenantisemitische Verschwörungstheorie aufbaut, die die gesamte Weltgeschichte ausder Dualitätzwischen der „arischen“ und „semitischen Rasse“ ableitet. Juden könnten niemals Teil einer organischgewachsenen Nation sein. Sie seien strukturell das Andere,die Nicht-Dazugehörigen, die im Hin- tergrund die Fäden ziehen. Hinter dem Protestantismus und der Freimaurerei steckten sie ebenso wiesie die Geschickedes DeutschenReiches lenkten. Auch Drumontgerierte sich als Wahrheitssucher –allein gegen eine übermächtige Kraft. Nichtsdestotrotz traueersich, verborgene Zusammenhänge aufzudecken und unterdrückte Tatsachen auszusprechen. Dieser Gestus der „verfolgenden Unschuld“ ist (bis heute) typisch fürAntisemiten.47 Drumontbeendete seine Schriftfolgerichtigindieser Weise:„Ichhabeauf jeden Fall meine Pflichterfüllt, indem ich mit Beleidigungen aufdie unzähligen Beleidigungen reagierthabe, die

45 Zur Interpretation der Schrift Drumonts siehe Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einerWeltanschauung,Hamburg 2001, S. 298–358. 46 Édouard Drumont, La France juive. Essai d’histoirecontemporaine,Bd. 1, Paris1886, S. 3. Alle Übersetzungen, soweit nichtanders vermerkt, stammen vom Verfasser des Aufsatzes. 47 Diese projektiveHaltung zeichnet sich dadurch aus, dass sich Täter als Opfer stilisierenund ihre Verfolgungen als eine bloßeReaktion aufAngriffe vonaußen darstellen.Esist ein klassisches Elementder Täter-Opfer-Umkehr.Der Begriff wurde ursprünglich vonKarl Kraus geprägt,umdie Haltung im Habsburgerreich während des Ersten Weltkriegs zu be- schreiben. Irina Djassemy, Die verfolgendeUnschuld. Zur Geschichte des autoritären Cha- rakters in der Darstellungvon KarlKraus (Literaturgeschichte in Studien und Quellen, 17), Wien/Köln/Weimar 2006.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 348 Sebastian Voigt in der jüdischen Presse gegen Christen erhoben wurden. Indem ich die Wahrheit ausgesprochen habe, bin ich dem zwingenden Rufmeines Gewissens gefolgt, liberavi animam meam….“48 Seine eigene Schriftverstand Drumontalso lediglich als eine Antwortauf vermeintliche Beleidigungen und Anschuldigungen vonJuden gegen die christlicheMehrheitsgesellschaft. Er selbst höre allein aufsein Gewissen. Damit kaschierte er sein antisemitisches Ressentimentals notwendige Abwehrreaktion, die einer hehren Suche nach Wahrheit entspringe.

Die Erwiderung Bernard Lazares

Als Drumonts antijüdische Schrift1886 erschien, siedelte der 21-jährige Bernard Lazare gerade nach Paris über. Er wurde 1865 als Lazare Marcus ManassØ Ber- nard in Nîmes geboren. Seine Eltern verstanden sich als Franzosen, assimilierte bürgerliche Juden, die dem Judentum bestenfalls kulturell verbunden waren.49 In der Hauptstadt schrieb er sichzunächst an der Universitätein und arbeitete als Journalist. Er wandte sich den anarchistischen Ideen Michael Bakunins zu. Aufgerütteltdurch den massenhaften Absatz der Schriften Drumonts beschäf- tigtesich Lazare seit den frühen 1890er Jahren mit dem Antisemitismus. Sei- nerzeit hielt er seine eigene Herkunftnochfürirrelevant. Er kämpfteals liber- tärerAnarchist fürdie Emanzipation der Menschheit.Antisemiten klassifi- zierten häufig jedoch genaudiesen Internationalismus als typisch jüdisch. Juden würden die Revolution zur Zerstörung der Nationen propagieren. Dru- montformulierte dieses Stereotyp deutlich:„Die Karl Marx, die Lassalles, die prinzipiellen Nihilisten, alle Anführer der kosmopolitischen Revolution sind Juden.“50 Trotz seines universalistischen Selbstverständnisses konnte sich auch Lazare solchen antisemitischen Anfeindungen nichtentziehen. Nach ausgiebiger Be- schäftigung mit den historischen Ursachen des Judenhasses veröffentlichte er 1894 L’antisØmitisme, son histoire et ses causes.51 Das Buch stellte eine der ersten Abhandlungen überdie Genese des Antisemitismusdar.52 Auf über400 Seiten schilderte er die Geschichte der Juden vonder vorchristlichen Zeit bis in die

48 Édouard Drumont, La France juive. Essai d’histoirecontemporaine, Bd. 2, Paris1886, S. 565. 49 Eine Kurzbiographie Lazares findet sich auch in der Jewish Encyclopedia von1906, die online abrufbar ist: (23.05. 2017). 50 Drumont, France(wieAnm. 46), S. 524. 51 Bernard Lazare,L’antisØmitisme, sonhistoireetses causes, Paris1894. 52 Jacques Aron, Bernard Lazare, premier historien de l’antisØmitisme, in:Diasporiques 2 (2008), S. 115–120.

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Gegenwart. Es ist als Gegenerzählung zu Drumontkonzipiert. Im Vorwort schrieb Lazare, er sei weder philosemitisch noch antisemitisch, sondernein unparteiischer Forscher,der einer der ältesten Formen der Feindschaftauf den Grund gehe.Der Judenhass sei überJahrtausende beständig geblieben und in all den Ländernund Kontinenten erstarkt, wo Juden lebten. Diese Langlebigkeit erfordereeine ernsthafte Untersuchung. Die Kenntnis der Geschichte der jüdischen Religion sah Lazare als notwendig an, um den Judenhass zu verstehen. Die Gründe dafürsuchterdemnach auch im Judentum selbst.Als exklusivistische Religion habeessich vom Polytheismus und später vonanderen monotheistischen Glaubensrichtungen abgegrenzt. Der Anspruch, ein vonGottauserwähltes Volk mit der einzig wahren Religion zu sein, habediesen Hochmut noch verstärkt. So überlebten sie bis in die heutige Zeit „als eine Schar vonParias, vonVerfolgten und oftmals vonMärtyrern“.53 Die Spezifika des Judentums seien jedoch nureiner vonzahlreichen Faktoren. Be- deutsam seien ferner die Unterschiede zwischen Ländernund Epochen. Diese Formen der Feindschaft hätten nichts mit Juden, sondernmit ihrer jeweiligen Umgebung zu tun. Diese Differenzen zeichnete Lazare in langen Ausführungen zum Antijudaismus in der Antike nach. Er diskutierte die Verfolgungen der frühen Christen als Abkömmlinge der Juden bis zur Christianisierung Roms unter Kaiser Konstantindem Großen. Bis ins 16. Jahrhundertseien die Juden in Ghettos eingesperrtund ausdem gesellschaftlichen Lebenausgeschlossen ge- wesen. In ihrer Mehrzahl hätten sie in einem bemitleidenswerten Zustand gelebt. Der Einfluss der katholischen Kirche habeden Antijudaismus zu einem ge- samtgesellschaftlichen Phänomen gemacht: „Der Jude“, so Lazare, wurde zum „universellen Feind“.54 Erst in der Renaissance und durch die Reformation habe sich ihre Lage verbessert. Die eingeleitete Entwicklung mündete letztlich in der Aufklärung.Obwohl Voltaireund andere Enzyklopädisten glühende Judenfeinde gewesen seien, hätten ihreIdeen doch den Grundstein fürdie Denkmöglichkeit universellerFreiheit und Gleichheit gelegt. Lazare drehte folglich das Geschichtsbild Drumonts um. Während dieser eine goldene Epoche Frankreichs vom Mittelalter bis zur Revolutionkonstruierte, stellte sich die Entwicklung ausSichtder Juden gegenteilig dar.Die lange Zeit des Leidens und des sozialenAusschlusses sei 1789 an ein Ende gelangt. Die recht- liche Gleichstellung am 27. September 1791 habe eine Zäsur markiert: „Die Juden traten in die Gesellschaftein.“55 Der Emanzipationsprozess habesich bis ins späte 19. Jahrhunderthingezogen und sei mit einem ökonomischen Aufstieg der Juden sowieder Entstehung einer neuen Gesellschaftsformation zusam-

53 Lazare, L’antisØmitisme (wie Anm. 51), S. 19. 54 Lazare, L’antisØmitisme (wie Anm. 51), S. 126. 55 Lazare, L’antisØmitisme (wie Anm. 51), S. 157.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 350 Sebastian Voigt mengefallen: dem modernen Kapitalismus. So wiedie Aristokratie Hofjuden benötigt habe, um ihren Lebensstil und ihreKriege zu finanzieren, so brauche die Bourgeoisie als neue herrschende Klasse ebenso Handlager. Weil sie lange im Geldgeschäft tätiggewesen seien, hätten sich die Juden als Mittelsmänner an- geboten. Im Zuge dieser Verschiebungen habesich die Feindschaftgegen die Juden verändert: „Der Antijudaismus, der zuvorreligiöswar,wurde ökono- misch, oder,umesgenauer zu sagen, die religiösen Ursachen, die einst im Antijudaismus vorherrschend gewesen waren, wurden den ökonomischen und sozialen Ursachen untergeordnet. Diese Wandlung,die der Veränderung der Rolle vonJuden entsprach, war nichtdie einzige. Die Feindschaft gegen Juden, früher gefühlsbetont,wurde vernunftgeleitet.“56 Damit analysierte Lazare, wiedie gefühlsmäßige Ablehnung der vernunft- mäßigen, mit wissenschaftlichen Argumenten legitimierten Feindschaft wich. Frühzeitig erfasste er dadurch die entscheidende Transformation des Antiju- daismus zum Antisemitismus.Dessen neue Qualitäterblickteerdarin, dass Juden als Angehörige einer fremden „Rasse“, als prinzipiell unfähig zur An- passung und als feindselig gegenüberder christlichen Religion und Zivilisation angesehen wurden. Er hielt das Konzept der Rasse füreine Fiktion. Keine Rasse sei rein und im Verlauf der Geschichte hätten sich überall Mischformen her- ausgebildet. „Deshalb“, so Lazare, „ergibt die anthropologische Klassifikation der Menschheit überhaupt keinen Sinn.“57 Die Rassenkunde sei pseudowissen- schaftlich. Juden ihrerseits trügen aber dazu bei, diese absurden Theorien zu stützen, wenn sie sich selbst als auserwähltes Volk betrachteten. Die Anti-und die Philosemiten bezögen sich folglich aufdie gleiche Argumentationsgrund- lage. Während Rassen eine Fiktion darstellten, existieren jedoch Nationen,die –trotz Verlust des Vaterlandes und der Sprache –durch ein gemeinsames Be- wusstsein, geteilte Interessen und eine gemeinsame Geschichte zusammenge- halten würden. In fast allen westlichenLändernhätten sich Juden assimiliertund ihre Religion mehr oder weniger aufgegeben. Zwar behaupte das moderne Ju- dentum, nichts weiter als eine religiöse Konfessionzusein, aber,soLazare:„Es ist in Wahrheit noch immer ein ethnos,solange es daran glaubt, solange es seine Vorurteile bewahrt,seinen Egoismus […].“58 Dadurch lieferten Juden selbst einen der Gründe fürden Hassauf sich. Jedoch degradierevor allem der Anti- semitismusals Bestandteil des Nationalismus die Juden zu Fremden. Der Na- tionalismus strebe per definitionem nach Homogenität, und Juden seien in der antisemitischen Perspektiveein störendes Element. Die Juden gehörten nicht nurnicht zur Nation, sondern verkörperten geradezu die Anti-Nation:„Die

56 Lazare, L’antisØmitisme (wie Anm. 51), S. 227. 57 Lazare, LvantisØmitisme (wie Anm. 51), S. 249. 58 Lazare, LvantisØmitisme (wie Anm. 51), S. 294.

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Nationalisten neigten dazu, sie als die aktivsten Verbreiter der Ideen des Inter- nationalismus zu betrachten;sie fanden sogar,dass jedes einzelne Exemplar dieser Jahrhunderte lang Vaterlandslosen schlechtsei, und dass sie durch ihre Anwesenheit die Idee des Vaterlands, das heißtjede besondereIdee des Vater- lands zerstören. Deshalbsind sie Antisemiten geworden, oder eher,deshalb hat sich ihr Antisemitismus verstärkt.“59 Damit nimmt Lazare einen grundlegendenGedanken der modernen Anti- semitismustheorie vorweg:„der Jude“ als die Figur des Dritten außerhalb aller Nationen.60 Es lasse sich historisch erklären, warum den Juden diese Rolle zu- geschoben worden sei. Ausdem gelobten Land vertrieben und in der Diaspora verstreut, seien sie nolens volens zu Kosmopoliten geworden, was in einer nach Homogenitätstrebenden Welt vonNationalstaaten fatale Konsequenzen zeitige. Durch ihre bloßeAnwesenheit zerstörten Juden die Idee des Vaterlands. Sie würden als zersetzendes Element, als Gegenprinzip zur Nation wahrgenommen. Deshalb würdeihnen vorgehalten, sie seien kosmopolitische Revolutionäre. Viele Juden hätten sich aufgrund ihrer Geschichte als verfolgteMinderheit realiter im Kampf fürGerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit hervorgetan, wie Moses Hess, Heinrich Heine und Ludwig BörneinDeutschland, Daniele Manin in Italien, Adolf Jellinek im Habsburgerreich. Zugleich befänden sich Juden in der modernen Gesellschaftauf den extremen Polen der sozialen Skala:Einerseits gehörten sie zu den bedeutendstenGründungspersönlichkeiten des industriel- len und finanziellen Kapitalismus;auf der anderen Seite seien sie zugleich dessen heftigste Widersacher:„Rothschild entsprechenMarx und Lassalle;dem Kampf um das Geld der Kampf gegendas Geld und der Kosmopolitismus der Börse entwickelte sich zum proletarischen und revolutionärenInternationalismus.“61 Die Avantgarde in den revolutionären Bewegungen seien keine Juden im reli- giösen Sinne mehr,sondernatheistische Kosmopoliten gewesen. Dennoch seien sie immer noch Teil der jüdischen Gemeinschaft, weil sie gerade mit ihrem Engagement–bewusst oder unbewusst –den Geist ihrer Nation bewahrten. Außerdem würden sie vonAntisemiten unabhängig vonihrer Selbstwahrneh- mung als Juden wahrgenommen. Beiallen historischen Veränderungenund nationalen Variationen existiereeine Grundkonstante in der Judenfeindschaft vonder Antike bis in die Moderne:der Hass aufdas Fremde. Juden verkörperten prototypisch die Anderen, die außerhalb der religiösen, staatlichen und natio- nalen Gemeinschaftstünden. Lazare hoffte, mit seiner Analyse substantiell zur Bekämpfung des Juden-

59 Lazare, L’antisØmitisme (wie Anm. 51), S. 302. 60 Klaus Holz weist ihn als Grundzug der antisemitischen Ideologiesystematisch nach:Holz, NationalerAntisemitismus (wie Anm. 45). 61 Lazare, L’antisØmitisme (wie Anm. 51), S. 343.

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Zusammenfassung

Lazares Position entsprach dem seinerzeit unter Sozialisten weit verbreiteten fortschrittsoptimistischen Geschichtsdeterminismus. Die bestehende Gesell- schaftmüsse zwangsläufig untergehen. Die Zuspitzung des Klassenwider- spruchs bewirke, dass der Antisemitismusletztlich dem Sozialismus in die Hände spiele. Ausheutiger Sichterscheintdie Hoffnung, dass die sich gegen jüdische Kapitalisten richtende antisemitische Agitation in eine andereRichtung gelenkt werden könne, bestenfalls naiv.Sie verkenntdie Wirkmächtigkeit des Antisemitismus als Ideologie. Prinzipiell problematischerscheintanLazares Argumentation,dasserJuden als mitursächlich fürden Judenhass wähnte. Wenn ein Phänomenländer-und epochenübergreifend auftauche, müsse es aufeinem realen Kern basieren. Dadurch glitt Lazare in eine vereinfachende materialisti- sche Analyse ab,die tendenziell die Opfer zu Mittäternanihrer Verfolgung umdeutet. Beialler Kritik stellte die Schriftdennoch ausvielerlei Gründen ein großes Verdienst dar.Lazare war einer der ersten Historiker des modernen Antisemitismus. Er lieferte eine umfassende Darstellung des Judenhasses von den Anfängen bis in seine Gegenwart. Seine Schriftist vorallem im Kontext der damaligen Zeit als Auseinandersetzung mit dem Antisemitismusinder fran- zösischen Gesellschaftzusehen. Lazare formulierte explizit eine Gegenposition zu Drumontund reagierte als einer der Ersten aufdessen antisemitisches Machwerk. Ausuniversalistischer Perspektivewollte er das antisemitische Ressentimentwissenschaftlich widerlegen. Zugleich begriff er die Auseinan- dersetzung auch als eine politische. Der Antisemitismus werde erst mit der kapitalistischen Gesellschaftsformation gänzlich verschwinden.

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Zwei erforderliche Reaktionen

Beide, Moritz Lazarus und Bernard Lazare, sahensich gezwungen, in die aktuelle politische Debatte überdie „Judenfrage“ zu intervenieren und einflussreiche Pamphlete prominenter Antisemiten nichtunwidersprochenzulassen. Sie ste- hen jeweils füreine exemplarische Position:Lazarus füreinen assimilierten jüdischen Liberalen und Lazare füreinen kosmopolitischen libertären jüdischen Sozialisten. Während Lazarus seine Haltung auch nach dem Berliner Antise- mitismusstreit nichtgrundlegend änderte und seineHoffnung in die deutsche Nation nichtaufgab, wurde Lazare vonder Dreyfusaffäre 1894 massiv erschüt- tert. Sein Glauben an die Möglichkeit, die Judenfeindschaftendgültig zu über- winden, war zerstört.Folglich näherte er sich zunächst dem Zionismus von Theodor Herzl an, wandtesich aber bald wieder ab und setzte seine Hoffnung in die pauperisierten jüdischen Massen Ost(mittel)europas. Damit modifizierte Lazare zugleich sein Selbstverständnis:affirmativ wandte er sichnun seiner jüdischen Herkunftzu. Er begriff sichseitdem als Teil der jüdischen Nation, der ein Rechtauf einen eigenen Staat zustehe. Dadurch revidierteerfrühereEin- schätzungen grundlegend.ImAntisemitismus erblickte er keine fehlgeleitete Sozialrevolte mehr,sondern eine mit allen Mitteln zu bekämpfende Ideologie. Beialler Erschütterung durch die ansteigendeJudenfeindschaftinden späten 1870er Jahren revidierteLazarus seinePositionhingegen nichtfundamental. Er hielt an der deutsch-jüdischen Synthese als alternativlos fest und gab seine op- timistische Haltung gegenüberder deutschen Nation nichtauf. Er engagierte sich weiterhin in den etablierten Organisationen des deutschen Judentums. Unter anderem war er bis 1894 fürmehr als ein Jahrzehntder stellvertretende Präsidentdes Deutsch-israelitischen Gemeindebundes. Überzeugttrat er für eine pluralistisch-liberale Gesellschaftein. Die Unterschiedlichkeit der Positionen vonMoritz Lazarus und Bernard Lazare resultiertvor allem ausden divergierenden Sozialisationsbedingungen, den damit zusammenhängenden persönlich-politischen Erfahrungen und den nationalen Kontexten. Moritz Lazarus, geboren 1824, erlebte die schrittweise Emanzipation der deutschen Juden. Sie ermöglichte ihm den sozialen Aufstieg. Gemäß dem liberalen Fortschrittsdenken schien die gesellschaftliche Entwick- lung in die richtige Richtung zu gehen. Diese Überzeugung Lazarus’ wurde auch durch den anwachsenden modernen Antisemitismus nichtinihren Grundfesten erschüttert. Als Bernard Lazare 1865 geboren wurde, war die Judenemanzipation in Frankreich schon rechtlich verankert. Politisiertwurde er gerade in dem Jahr- zehnt, in dem der vonDrumontpropagierte Rassenantisemitismus seinen Hö- hepunkt erlebte. Die bürgerlich-republikanische Gesellschafterwies sich nun keineswegs als unüberwindliche Hürdegegen Judenhass, sondernschien diesen

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62 Zum Pariabegriff vgl. Hannah Arendt, Bernard Lazare. Der bewußte Paria(1944), in:Die- selbe, Die verborgene Tradition. Acht Essays, Frankfurta.M.1976, S. 60–64.

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Nicolas Berg ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur –Simon DubnowinLeipzig.Seine For- schungsschwerpunkte und -interessen liegen im Bereich der deutschen und jüdischen Geschichte und Geschichtsschreibung und der Wissenschafts- und Wissensgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert; außerdem arbeitet er zu den Themen Antisemitismus und völkischer Nationalismus.

Richard E. Frankel is an AssociateProfessor of modernGerman historyand the Richard G. Neiheisel Professor in European Historyatthe UniversityofLoui- siana at Lafayette. His research interests center on nationalism, antisemitism, and political culture. His first book was Bismarck’s Shadow:The Crisis of German Leadership and the Transformation of the German Right, 1898–1945. He has published articles thattakeacomparativeapproach to the study of antisemitism, including One Crisis Behind?Rethinking Antisemitic Exceptionalism in the United States and Germany,inAmerican Jewish History in 2013. Frankel is currently at work on anew book-length projectthat will explore the relationship between antisemitism and globalization from1880 to 1914 with afocus on Germanyand the United States.

Damien Guillaume ach›ve actuellementlarØdaction d’une th›se de doctorat d’histoire consacrØeaux “dØbuts de l’agitation ‘antisØmitique ’enFrance dans une perspective europØenne ” à l’Ecole des Hautes Études en Sciences Sociales. Il aparticipØ au projet Antisemitismus in Europa (1879–1914). Nationale Kontexte, Kulturtransfer und europäischer Vergleich,dirigØ par Werner Bergmann et Ul- rich Wyrwa(Zentrum fürAntisemitismusforschung,TechnischeUniversität Berlin) et arØcemment bØnØficiØ d’une bourse du NewEuropeCollege de Bu- karest (2013–2014) pour faire des recherches sur la tentative d’Ømancipation des juifs de Roumanie entre1866 et 1881.

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HildegardFrübis ist promovierte und habilitierte Kunsthistorikerin und Pri- vatdozentinamIKB der HumboldtUniversitätBerlin;von April2015 bis Mai 2017 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum fürJüdische Studien der UniversitätGraz mit einem Forschungsprojekt zur Jüdischen Moderne (Lise Meitner Programm, FWF Austria), seit Juni 2017 Forschungsstipendiatin der Gerda Henkel Stiftung.

Timo Hagen studierte Europäische Kunstgeschichte, Mittlere und Neuere Ge- schichte sowie Öffentliches Rechtander Ruprecht-Karls-UniversitätHeidelberg, wo er 2016 mit einer Arbeit zu „Gesellschaftliche(n) Ordnungsvorstellungen in der siebenbürgischen Architekturum1900“ promoviertwurde. Nach Aufent- halten u.a. am Kunsthistorischen Institut in Florenz –Max-Planck-Institut und am Lehrstuhl fürOsteuropäische Geschichte des Historischen Seminars der UniversitätHeidelberg ist Timo Hagen seit 2018 als Wissenschaftlicher Assistent am Kunsthistorischen Institut der RheinischenFriedrich-Wilhelms-Universität Bonn tätig.

MareikeKönig ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche Bibliothe- karin. Sie leitetdie Abteilung Digital Humanities und die Bibliothek am Deut- schen Historischen Institut in Paris. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der deutschen und französischen Geschichte im 19. Jahrhundert. Soeben ver- öffentlichtwurde ihr gemeinsam mit Élise Julien geschriebenes Buch Verfein- dung und Verflechtung. Deutschland-Frankreich 1870–1871 aufDeutsch (Darm- stadt 2019) und aufFranzösisch (RivalitØsetinterdØpendances, Villeneuve d’Ascq2018).

Heidi Knörzer ist Dozentinfürdeutsche Sprache und Kultur an der École po- lytechnique in Paris. IhrePromotion Publicistes juifs entreFrance et Allemagne. Champions de la mÞme cause? ist 2016 beim Verlag HonorØ Champion er- schienen. Zu weiteren Veröffentlichungen zählen die Sammelbände ExpØriences croisØes. Juifs de France et d’Allemagne aux XIXe et XXe si›cle (Editions de l’Éclat 2010), Le dØtail à l’œuvre. Individuethistoiredans la littØrature, les arts et les discours,Les Editions de l’École polytechnique, 2012 (mit Daniel Argel›s, Anne- Marie Jolivet, Cristina Marinas und VØronique Pauly) und Berlin et les juifs. XIXe–XXIe si›cle (Editions de l’Éclat2014, mit Laurence Guillon). Sie ist Mitglied des Centred’Øtudesetderecherchesur l’espace germanique (UniversitØ Paris III), Co-Direktorinder Forschungsgruppe IdentitØs, cultures,histoires(Ecole polytechnique) und zusammen mit ValØrieAssan Chefredakteurin der Zeit- schrift Archives Juives. Revued’histoiredes Juifs de France.

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Grzegorz Krzywiec, PhD,Researcher at the Institute of History,Polish Academy of Sciences (Polska AkademiaNauk, PAN). Published largely on Polish anti- Semitism, Polish-Jewish relations, right-winginPoland in Central and East European context. Among others: Chauvinism, Polish style.The Case of Roman Dmowski. Beginnings (1886–1905),Peter Lang,FrankfurtamMain 2016. Now completingabookonmodernPolish anti-Semitism in the Central and East European context (1905–1914).

Silvia Marton est docteur en sciences politiques et maîtredeconfØrences à la FacultØ de sciences politiques de l’UniversitØ de Bucarest. Ses th›mesdere- cherche principaux sont:parlements, Ølections, clientØlismes, corruption po- litique ;construction de l’État-nation en Europe de l’Est au XIXe si›cle. Publi- cations rØcentes :“Republica de la Ploies‚ti ” s‚i începuturile parlamentarismului înRomânia (Humanitas, 2016) ; MoralitØ du pouvoir et corruption en France et en Roumanie, XVIIIe–XXesi›cle, co-dirigØ avec FrØdØricMonier and Olivier Dard, Presses universitaires de Paris-Sorbonne, 2017 ;“DØnonciations socia- listes et nationalistes de l’‘ oligarchie ’enRoumanie ”, in Cesare Mattina, FrØ- dØricMonier,Olivier Dard, Jens IvoEngels (dir.), DØnoncer la corruption. Che- valiers blancs, pamphlØtairesetpromoteurs de la transparence à l’Øpoque con- temporaine,Demopolis, 2018, p. 95–115.

Thomas Metzger,1978 geboren, studierte Geschichte und Volkswirtschaftslehre an der UniversitätFreiburg (CH) und California State UniversityLongBeach. Er ist DozentfürGeschichte und Co-Leiter der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen und Lehrbeauf- tragter an den Universitären FernstudienSchweiz.Erdissertierte an der Uni- versitätFreiburg (CH) zum Thema Antisemitismus im Deutschschweizer Pro- testantismus 1870 bis 1950.

Oliver Schulz (b.1971) is atrained translator.Hestudied history,Romance philologyand English StudiesinDüsseldorfand Toulouse. His research interests are:the historyofinternational relations, World War1,Russia and Southeastern Europe (Bulgaria and Romania) including their relations with Westernand Central Europe, research on nationalism and antisemitism as well as the history of political ideas. From 2007 until2013, he was an independentresearcher and involved in various exhibition projects in Germanyand in France, and he has also been working as afree-lance translator.In2013, he was “ResidentFellow” at the German Historical InstituteinParis. Since September 2015 he has been working with the German Studies Departmentatthe UniversityofClermont-Ferrand. Apartfromresearch on WorldWar 1inSoutheastern Europe, he is currently

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 358 Autorinnen und Autoren preparing astudy on economic antisemitism in 19th centuryEurope from a transnational perspective.

Tuvia Singer,PhD studentatthe historydepartment,HebrewUniversityofJeru- salem. Fields of interest:German-Jewish relations/ideology andfolkbeliefs/his- toriographyand folklore.Title of thedissertation: Nationalism,Regionalism and LocalFolklore: “Juden”and “Zigeuner” in GermanFolk-Narratives,1840–1870.

Marcel Stoetzler is Senior Lecturer in SociologyatBangor University,UK. His publications include Beginning Classical Social Theory (Manchester University Press), Antisemitism and the Constitution of Sociology and TheState, the Nation and the Jews. Liberalism and the Antisemitism Dispute in Bismarck’s Germany (both Nebraska UniversityPress). He is an advisoryboardmember of the Sage Handbook of FrankfurtSchool Critical Theory and the editorial board of Patterns of Prejudice, avisiting fellowatthe Pears Institute for the Study of Antisemitism, Birkbeck College, and afellowatthe Centrefor Jewish Studies at the Universityof Manchester.Hehas previously held teachingand research positions at Green- wich University, Goldsmiths College, Oxford Brookes, and the universities of Sussex and Manchester.

MiloslavSzabó,Dr. ,ist Marie Curie FellowamHistorischen Institut der Slo- wakischen Akademie und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Germanistik, Hollandistik und Skandinavistik an der Philosophischen Fakultät der Comenius-UniversitätinBratislava.Erbeschäftigtsich mit der Geschichte des Antisemitismus und Katholizismus in Ostmittel- und Zentraleuropa. Ver- öffentlichungen u.a.: From Protests to the Ban:Demonstrations Against the ,Jewish‘ Films in InterwarVienna and Bratislava,in: The Journal of Contem- poraryHistory(im Druck); „Von Worten zu Taten“. Die slowakische National- bewegung und der Antisemitismus, 1875–1922 (Studien zum Antisemitismus in Europa, 6), Berlin 2014.

ÖzgürTüresayisanassistantprofessor at École Pratique des Hautes Études (EPHE, IVe section, PSL) in Paris. He received his PhD in Institut National des Langues et Civilisations Orientales (INALCO,Paris) in 2008 with athesis on Ebüzziya Tevfik (1849–1913), arenowned Ottoman intellectual of the second half of the nineteenth century. He has publishedseveral articles on late Ottoman intellectual and political historyinscholarly journals, and abookentitled Le Moyen-Orient, 1839–1876 (Paris 2017).Heiscurrently working on the historyof spiritism in the Ottoman Empire between the 1860s and the 1920s and also on the new political languagecreated and propagated by the Ottoman official gazette in the 1830s.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Autorinnen und Autoren 359

Daniel VØri is Arthistorian, PhD candidateatthe EötvösLorµnd University (ELTE), Budapest, Doctoral School of ArtHistory.Heholds an MA in ArtHistory (ELTE, 2009) and an MA in History(Central European University, 2010).His research interests include the Cultural Historyofthe TiszaeszlµrBlood Libel, Holocaust and the Arts, 1960s–1970s Hungarian and Central European Artand Neo-Avant-Garde Art. Recently.Hehas been the curator of two exhibitions:La Shoah et les arts:histoireshongroises (1945–1989) at the Hungarian Institute in Parisin2014 and “Leading the Dead” –The WorldofJµnos Major at the Hungarian UniversityofFine Arts in 2013 (a bilingual catalogue has also been published under the latter title).

Sebastian Voigt, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fürZeitge- schichte München-Berlin, FellowamInstitut fürSoziale Bewegungen und Lehrbeauftragter an der Ruhr-UniversitätBochum; veröffentlichte u.a.: Der jüdische Mai ’68. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und AndrØ Glucksmann im Nachkriegsfrankreich,Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen/Bristol, CT,2015 (2.,durchgesehene Auflage 2016);als Hrsg.(zusammen mit Heinz Sünker): Arbeiterbewegung –Nation –Globalisierung. Bestandsaufnahmeneiner alten Debatte, Velbrück Wissenschaft,Weilerswist 2014. Zahlreiche Aufsätze zur Ge- schichte der Gewerkschaften, der Arbeiterbewegung und des (Anti-)Kommu- nismus sowieder Geschichte des Antisemitismus.

Ulrich Wyrwa, Professor fürNeuere Geschichte an der UniversitätPotsdamund FellowamZentrum fürAntisemitismusforschung der TU Berlin. Veröffentli- chungen unter anderem: Gesellschaftliche Konfliktfelderund die Entstehung des Antisemitismus. Das Deutsche Kaiserreich und das Liberale Italien im Vergleich (Studien zum AntisemitismusinEuropa, 9), Berlin 2015; The Language of Anti- Semitism in the Catholic Newspapers Il Veneto Cattolico –LaDifesa in Late Nineteenth CenturyVenice,in: Church Historyand Religious Culture 96/3 (2016), S. 346–369; German-Jewish Intellectuals and the German Occupation of Belgium,in: Quest. Issues in ContemporaryJewish History9,October 2016; ; Antisemitism (zusam- men mit Werner Bergmann), in:1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, .

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Schriften aus der Max Weber Stiftung Herausgegeben von der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland

Die Max Weber Stiftung (MWS) fördert die Forschung mit Schwerpunkten auf den Gebieten der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Mit ihren weltweit tätigen Instituten leistet die MWS einen wesentlichen Beitrag zur Verständigung und Vernetzung zwischen Deutschland und den Gastländern bzw. -regionen. Die Bände der Reihe „Schriften der Max Weber Stiftung“ dokumentieren die Ergeb- nisse, die aus den jährlich stattfindenden Stiftungskonferenzen hervorgehen. Das Format dieser Veran- staltung greift Forschungsthemen der Institute auf und diskutiert sie international vergleichend sowie trans- und interdisziplinär. Die Stiftungskonferenz wird jedes Jahr von einem anderen Institut ausge- richtet. Die Max Weber Stiftung wird institutionell gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Vorschau:

Band 2: Bernhard Bachinger / Wolfram Dornik / Stephan Lehnstaedt (Hg.) Österreich-Ungarns imperiale Herausforderungen Nationalismen und Rivalitäten im Habsburgerreich um 1900

Band 3: Nikolaus Katzer / Sandra Dahlke / Denis Sdvizhkov (eds.) Revolutionary Biographies in the 19th and 20th Century Imperial – Inter/national – Decolonial

Leseproben und weitere Informationen unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com E-Mail: [email protected] | Tel.: +49 (0)551 / 50 84-306 | Fax: +49 (0)551 / 50 84-333

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