„BESTANDSAUFNAHME GURLITT– KUNSTMUSEUM BERN“

DR. MATTHIAS FREHNER 1 DIREKTOR SAMMLUNGEN KMB-ZPK Timline I: Chronologie des Kunstfundes Gurlitt 22. September 2010: Nach einer Zoll-Kontrolle im Zug nimmt die bayerische Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Cornelius Gurlitt wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung auf. 2 Timline I: 3. November 2012 Mit dem Focus-Artikel kommt der «Schwabinger Kunstfund» an die Öffentlichkeit. Bei vielen Werken soll es sich um Raubkunst handeln. Die Angaben zum Wert des Bestands sind masslos übertrieben.

3 Timline I: 11. November 2013 Die «Taskforce Schwabinger Kunstfund» nimmt die Arbeit auf. In den kommenden Wochen werden die beschlagnahmten Werke auf lostart.de veröffentlicht.

4 Timline I: 11. Februar 2014 Die Anwälte von Cornelius Gurlitt teilen mit, dass in dessen Haus in Salzburg zahlreiche weitere Kunstwerke gefunden wurden, «Salzburger Fund».

5 Timline I: 7. April 2014 Gurlitt schliesst mit dem Freistaat Bayern und der BRD eine Vereinbarung über den Umgang mit seinem Kunstbesitz ab. Er ist einverstanden mit der Taskforce und bereit, sich an die Washingtoner Erklärung von 1998 zu halten. Er wird von den Medien rund um die Uhr verfolgt. 6 Timline I: 6. Mai 2014 Cornelius Gurlitt stirbt in München. Am 7. Mai 2014 gibt das Kunstmuseum Bern bekannt, dass es im Testament als Alleinerbin eingesetzt wordenist.

7 Timline I: 19. Mai 2014 Begräbnis auf dem Nordfriedhof Düsseldorf.

8 Timline I: Juni 2014 Kofferfund nach dem Tod: Im Koffer, den Gurlitt im Spital in Stuttgart zurückgelassen hatte, er starb zuhause in München, finden sich später weitere Kunstwerke, u.a. ein Aquarell von Monet. Er war ein Spezialist im Verstecken von Kunstwerken. 9 Timline I: Sommer 2014 Zwei Raubkunstfälle werden bekannt: Liebermann und Matisse. Liebermann bis 1942 im Besitz des jüdischen Zuckerfabrikanten David Friedmann, Breslau. Abgepresst. Familie Friedmann ermordet in Auschwitz. erwirbt das Bild, 1950 wird es von den Alliierten als unbedenklich eingestuft. Mitte Mai 2015 Restitution an David Toren, New York, dieser verkauft es direkt via Sotheby’s für 1,9 Millionen Pfund. Das Gemälde Sitzende Frau ist ein direkter Raubkunstfall, es wurde dem Pariser Kunsthändler Alfred Rosenberg nach dem Einmarsch der Nazis in Paris geraubt, es gehörte vorübergehend Hermann Göring. 10 Liebermann: Zwangsverkauf in Deutschland Matisse: Raub in besetztem Gebiet. Timline I: 24. November 2014 Kunstmuseum Bern erklärt Annahme der Erbschaft. Vereinbarung regelt die Übernahmeder Werke:

• Ganzer Bestand geht mit Erbantritt in das Eigentum der BRD über. • KMB hat ab Erbantritt 5 Jahre Zeit, Werke zu übernehmen. • Bedingung: Ein Werk muss vom Raubkunstverdacht nachweislich befreit sein. Kategorisierung: grün, gelb, rot. (BRD restituiert Raubkunst) • Taskforce erforscht die Provenienzen der rund 1’500 Kunstwerke bis Ende 2015. • KMB anerkennt die deutsche Auslegung desRaubkunstbegriffs. • Bis Ende 2017 läuft die Forschung weiter durch das deutsche Zentrum für Kulturgutverluste, Berlin. 11 • Ab Mitte 2017 betreibt das KMB eine eigene Provenienzforschungsabteilung. Timline I: 24. November 2014 Kunstmuseum Bern erhält alle verfügbaren Bilddaten und stellte diese in den folgenden Tagen Online, damit sich Nachkommen von Opferfamilien raschest möglich orientieren können. Prinzip «Offenheit undTransparenz». (Jutta Werner, Cousine von Cornelius Gurlitt, ficht das Testamentan.

Folge : Erbantritt verzögert sich um 2 Jahre.) 12 Timline I: Spätsommer 2017 Erste Werke kommen nach Bern. Blick in das Restaurierungsatelier mit Quarantäne. Auf dem Tisch das Bild «Mascha» von OttoMueller.

13 Timline I: Mai 2017 Restitution von Camille Pissarros Gemälde «Die Seine und der Louvre» Raubkunstfall anhand von Inventarlisten der Nazis ausfindig gemacht. Max Heilbronn 1942 in Paris geraubt. Gehört vorübergehend HermannGöring.

Menzel, «Inneres einer gotischen Kirche», gehörte Martin Wolfson, Zwangsverkauf. Von Hildebrand Gurlitt am 31. Dez 1938 erworben. 14 Timline I: September 2014 Tagung «Fluchtgut – Raubgut» in der Stiftung Oskar Reinhart in Winterthur. KMB hatte für die Erbschaft Gurlitt die deutsche Auslegung des Washingtoner-Abkommens angenommen. Im Unterschied zur allen anderen unterzeichnenden Länder ist in Deutschland die Auslegung von Raubkunst umfassender. Auch Kunst, die jüdischen Sammlern abgepresst worden war, wird mit Raubkunst gleichgesetzt. In der Schweiz fallen unter Raubkunst nur Werke, die in den besetzten Gebieten konfisziert und geraubtwurden. «Fluchtgut», das in der Schweiz zu fairen Preisen verkauft worden war, gilt nicht als Raubkunst. Diskussion Gurlitt: Ausweitung des Raubkunst-Begriffs. Listenvergleiche nicht ausreichend. Ein Werk ist grün, wenn die Provenienz lückenlos Raubkunstverdacht ausschliesst. Heute wird auch in Deutschland unter Zwang verkaufte Kunst mit Raubkunst gleichgesetzt. 15 Stiftung Oskar Reinhart restituierte ein Menzel-Pastell. Timline I: 1. Nov. 2017: Eröffnung Ausstellung «Entartete Kunst» – Beschlagnahmt und verkauft im Kunstmuseum Bern.

Entartete Kunst ist nicht Raubkunst. Alliierte hoben das Nazi-Gesetz, dasdie «entartete Kunst» aus öffentlichem Besitzt ausschloss, nichtauf. 16 Timline I: 2. Nov. 2017 Eröffnung Ausstellung «Der NS-Kunstraub und die Folgen» in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (gemeinsamer Katalog)

17 Timline I: 11. April 2018 Eröffnung der Ausstellung «Der NS-Kunstraub und die Folgen» im Kunstmuseum Bern.

Im September 2018 Eröffnung einer neuen Gurlitt-Schau im Gropiusbau Berlin. Anschliessend sind Ausstellungen in Israel, den USA und Frankreichgeplant. 18 Timline II: Charakterisierung des «Kunstfundes» Gurlitt: Bei der Entdeckung enorme Überbewertung, Wert eine Milliarde Euro, «1400 verschollene Raubkunstwerke»

Enorme Aufmerksamkeit, NS-Unrecht kann aufgearbeitet und gesühnt werden. 19 Relativierung, enorme politische Dimension. Zum überwiegendem Teil Arbeiten auf Papier, darunter viele Blätter mit hohen Auflagen und geringen Handelswert.

20 Eberhard W. Kornfeld nimmt erste Korrektur vor: Spricht von «Medienhysterie». Das bei Cornelius Gurlitt aufgefundene sei keine Sammlung, sondern der «Lagerbestand eines Kunsthändlers». Im Deutschen Sprachraum habe jeder wichtige Kunsthändler gewusst, das es das gibt – «auch in dieser Dimension.»

• Werke mit der Provenienz Hildebrand Gurlitt nach dem Krieg oft im Handel. • Mackes «Frau mit Papagei» 2007 bei Griesebach, Berlin, für 2.4 Mio. Euro versteigert. • Kornfeld verkauft es aus dem Besitz von Cornelius Gurlitt, 26 Aquarelle, Farbholzschnitte und Druckgraphiken, die er 2017 publizierte. 21 Mein erster Eindruck war eine Ernüchterung. Ich sah den Bestand als erster in seinem gesamten Umfang.

• Zuerst den Salzburger Teil in einem Lager in Wien, • dann ebenfalls den «Schwabinger Kunstfund» in einem Kunstlager in München

22 Cornelius Gurlitts Haus in Salzburg, vier Zimmer, kein Keller.

23 Das untere Arbeitszimmer mit Bibliothek und Schallplattensammlung 24 Werke im Salzburger Haus hatten gelitten Beispiel: Picasso, kubistisches Stillleben, Gustave Courbet, Juralandschaft, Ölgemälde

25 , Schweres Schweben, 1924, Gouache, bedeutendes Blatt mit Frassspuren von Silberfischen

26 Das mit Abstand bedeutendste Werk aus Salzburg ist Cézannes «La Montagne Sainte Victoire» von 1897.

Es befand sich jedoch in einem sehr schlechten Zustand, abgespannt, verschimmelt und verschmutzt. 27 28

Cézanne: Verpackung, Rückseite, verschimmelt und verschmutzt Die Kunstwerke aus der Wohnung in Schwabing waren in einem besseren Zustand.

29 Wohnung in München: Blick in die Küche

30 Cornelius lebte sehr zurückgezogen. Praktisch keine Kontakte zu anderen Menschen, schloss sich ein, Selbstdialog.

31 Charakterisierung des «Kunstfundes» Gurlitt. Werke in der Wohnung in München waren gut erhalten, da kaum je am Licht.

32 Werke aus München farbfrisch in der Erhaltung. Beispiel: Aquarell von Paul Cézanne, Gouache von

33 Es gab aber auch viele Werke unbekannter oder vergessener Künstler, wie z. B. von Wilhelm Lachnit, das Blatt «Mann und Frau am Fenster» von 1923.

34 Ebenso unbekannt: Bernhard Kretzschmar, die «Strassenbahn»,o.J. Lachnit und Kretschmar waren Expressionisten, die nach dem zweiten Weltkrieg in der DDR lebten und als sozialistische Realisten im Westen nicht in den Kanon der «Klassischen moderne» integriert wurden.

35 Gewisse Werke entpuppten sich als Fälschungen, wie die «Allegorische Szene» von , die bei der Entdeckung als Sensation gewertet worden war.

36 Muss die Kunstgeschichte des 20 Jahrhunderts neu geschriebenwerden?

Gesamtwürdigung der 1800 Werke des Bestandes Gurlitt. Nur sehr wenige Werke der klassischen Moderne von Courbet, Manet, Monet, Degas, Signac, Rodin von Museumsqualität. Von vielen wichtigen Künstlern, zweitklassige Arbeiten, z. B. von Corot, Gauguin, Renoir, Maillol.

37 Kunsthistorische Sichtung ergibt verschiedeneTeile:

• Familiensammlung • Sammlung zum deutschen Expressionisten • Lagerbestand eines Kunsthändlers in den Bereichen alte Meister und französische Moderne. 38 Heute im Bestand Gurlitt verschiedene Konvolute. Bis zum Bekanntwerden der Kunstbestände im Besitz von Cornelius Gurlitt gab es

• einen bekannten Teil der Sammlung Gurlitt

• und einen unbekannten, inoffiziellen Teil.

Was Kornfeld u. a. kannte, war der offizielle Teil. Dieser war jedoch nur die Spitze vom Eisberg.

39 Februar 1945 Hildebrand Gurlitts Elternhaus in brennt bei einem Bombenangriff total aus. Er flieht mit seiner Familie ins oberfränkische DorfAschbach. Findet Unterschlupf im Schloss eines Bekannten.

40 Seine Kunstwerke werden von den amerikanischen Besatzern beschlagnahmt und in den Collecting Point Wiesbaden gebracht.

41 Gurlitt kooperiert mit den Alliierten. Kann geltend machen, dass er als «Vierteljude» benachteiligt war und nie in die Partei eingetreten sei. Er habe Juden geholfen und Kunst gerettet. Wird rasch entnazifiziert. Ende 1950 bis Anfang 1951 erhält er 206 Werke aus dem Central Collecting Point zurück. Nicht raubkunstverdächtig war seine expressionistische Kunst, da «entartete Kunst» nicht als Raubkunst betrachtet wurde. Gurlitt besass seither eine offizielle Sammlung zum deutschen Expressionismus plus Werke seines Grossvaters und seiner Schwester wie die Werke zur Moderne, die er als «sauber» von Wiesbaden zurückerhalten hatte. 42 Gurlitt hatte den Alliierten falsche Angaben gemacht: Er hatte nicht alle Verstecke angegeben. Nach 1950 überführte er diese Werke nach Düsseldorf, wo er seit 1948 Direktor des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalenwird.

Aus dem offiziellen Teil der Sammlung organisiert er bald Ausstellungen. So lieh «Dr. Hildebrand Gurlitt» (1953) 23 Werke an die Ausstellung «Deutsche Kunst. Meisterwerke des 20. Jahrhunderts» im Kunstmuseum Luzern.

Die übrigen Kunstwerke wurden erst 2013 und 2014 bekannt. 43 Familienkünstler sind: Louis Gurlitt, Landschaftsmaler des Biedermeier, und Cornelia Gurlitt, deutsche Expressionistin.

44 Cornelia Gurlitt (1890-1919), Schwester von Hildebrand Gurlitt. Im Krieg im Lazarett-Dienst, traumatisiert, begeht 1919 Selbstmord.

45 Bestand zum deutschen Expressionismus: Hildebrand Gurlitt, 1895 geboren, Offizier im Ersten Weltkrieg, Studium ab 1919, Direktor des König-Albert-Museums in Zwickau ab 1925. Setzt sich für die moderne deutsche Kunst ein, mit der sich die Weimarer Republik vom Kaiserreich absetzt. Baut Freundschaften mit gleichaltrigen Künstlern auf wie , Georges Grosz und . 1930 wird er entlassen auf Druck des «Kampfbundes für deutsche Kultur». 1932-1933 Leiter des Hamburger Kunstvereins. 46 Deutsche Moderne wird von den Nazis als «entartet» ausgegrenzt, verfolgt , verkauft und zerstört.

Installationsansicht der Grossen Deutschen Kunstausstellung im Haus der Deutschen Kunst 1939

47 Der neue Mensch, auf dem Titelblatt des Ausstellungsführers. 1937

48 Die Wanderausstellung «Entartete Kunst»

Ansicht eines Abschnitts der nördlichen Wand im Raum 5 Werke von Beckmann, Fuhr, Kirchner, Mueller, Nolde, Rohlfs und Schmidt-Rottluff.

49 Die Wanderausstellung «Entartete Kunst»

Wilhelm Lehmbruck, Grosse Knieende, 1911, München 1937

50 1937 Aktion «EntarteteKunst»

Zur Schaustellung an Wanderausstellung, anschliessend Verkauf ins Ausland durch Bernhard, A. Böhmer, Ferdinand Möller, Hildebrand Gurlitt und KarlBuchholz 51 Auktion in Luzern, Galerie Fischer, 1939

Vincent Van Gogh, Selbstbildnis bei der Versteigerung in der Galerie Fischer , Luzern am 30. Juni 1930

52 Auktion in Luzern, Galerie Fischer, 1939

Auktionskatalog Gemälde und Plastiken moderner Meister aus deutschen Museen

53 Auktion in Luzern, Galerie Fischer, 1939

Lovis Corinth, Selbstbildnis

54 «Entartete Kunst» im Kunstmuseum Bern

Lovis Corinth, Selbstbildnis, 1923 Öl auf Karton Kunstmuseum Bern Staat Bern erworben bei der Galerie Fischer, Luzern, 1939 55 Heute rund 600 Werke der Gruppe EK im BestandGurlitt

Max Beckmann, Strandszene Zum Grossteil gehören sie zur Kategorie «gelb». Wenn sie vor 1933 von einem deutschen Museum erworben worden sind, sind sie «grün».

56 Heute rund 600 Werke der Gruppe EK im Bestand Gurlitt

Otto Dix, Dompteuse Zum Grossteil gehören sie zur Kategorie «gelb». Wenn sie vor 1933 von einem deutschen Museum erworben worden sind, sind sie «grün». 57 Heute rund 600 Werke der Gruppe EK im Bestand Gurlitt

Conrad Felixmüller, Parr in Landschaft Zum Grossteil gehören sie zur Kategorie «gelb». 58 Wenn sie vor 1933 von einem deutschen Museum erworben worden sind, sind sie «grün». Nazis beschlagnahmen nach dem Einmarsch in den besetzten Gebieten systematisch jüdische Sammlungen. Diese wurde inventarisiert und in Katalogen erfasst. Hitler und Göring wählen Werke aus. Göring setzt Impressionisten ein, um alte Meister für seine Sammlung zu erwerben. Hildebrand Gurlitt avancierte. Kaufte für deutsche Museen in Paris ein, ab Anfang 1943 ist er Chef Einkäufer für das «Führermuseum» Linz. 59 Klassische Moderne: Degas, Badende

60 Degas, Sich waschende Frau (Fälschung)

61 62 Rodin, Kauernde

63 Holländisches Stilleben, 17. Jahrhundert

64 Unbekannt, Stillleben, um 1600

65 Lukas Cranach d. Ä, Jesus mit Johannesknabe

66 Francesco Guardi, Venezianische Stadt,Ansicht

67 Thomas Couture, Porträt einer jungen Frau, im Herbst 2017 als Raubkunst identifiziert und inzwischen restituiert

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