Dossier Deutsch-griechische Beziehungen

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 2

Einleitung

Platon (© picture-alliance) Die Bilder vom Anderen haben die deutsch-griechischen Beziehungen in den vergangenen Jahren bestimmt. Und mitunter auch vergiftet, obwohl das Land früher verehrt wurde wegen seines kulturellen Vermächtnisses. So wurde die Euro-Krise zur Griechenland-Krise und "die Griechen" zu "faulen Südeuropäern, die ein arbeitsarmes Leben" führen. Umgekehrt stilisierten griechische Medien "die Deutschen" zu "ewigen Besatzern", die da anknüpfen, wo sie 1945 aufhörten. Die Beziehungen sind aber nicht nur beschränkt auf Fragen über Schulden und Schuld. Kunst, Kultur, Literatur, Migration und Tourismus verbinden beide Länder. Hunderttausende Menschen mit griechischen Wurzeln leben heute in Deutschland, viele Deutsche wollten und wollen noch heute als Touristen in Griechenland eine ideale Gegenwelt erfahren. Welche Geschichte verbindet Griechen und Deutsche? Welche Spannungen und Probleme lasten auf den aktuellen Beziehungen? Und wie können wir den Anderen besser verstehen?

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Inhaltsverzeichnis

1. Debatte 4

1.1 Ist in Griechenland die Normalität wiederhergestellt? 5

1.2 Die "Griechenlandkrise" als Weltwirtschaftskrise 9

1.3 Die Erfolge geben Recht 15

1.4 Politik der "Austerität" 20

1.5 Schulden und Schuld - die Euro-Krise aus der Perspektive der Medien 24

1.6 Schwarz-Weiß-Malerei – Stereotypen und ihre Hinterfragung im griechisch-deutschen 29 Mediendialog

1.7 Der "Schatz der Kommunen" – eine deutsch-griechische Erfolgsstory 35

2. Das Feuer hinter den Bildern 40

3. Die Entstehung des griechischen Staates und der Geist des Philhellenismus 44

4. "Die Griechen waren niemals, was die Deutschen von ihnen dachten" 49

5. "Lernt Griechenland durch seine Literatur kennen!" 54

6. "Wenn ihr euch erinnert, können wir vergessen" 59

7. "Mutter Israels" 65

8. "So leben bei uns nur die Aristokraten" 67

9. "Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker" 71

10. "Das wahre Leben ist anderswo" 75

11. Athener Straßenbilder 80

12. So lange das Theater noch steht 86

13. Der Aufstieg der Rechtsextremen in Griechenland 91

14. Meinung: Das Zeitalter der Opfer 98

15. "Geb ich dir was zu essen, musst du mir auch was musizieren" 102

16. Redaktion 107

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Debatte

24.6.2014

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Ist in Griechenland die Normalität wiederhergestellt?

Von Cerstin Gammelin 24.6.2014 ist Fachjournalistin und arbeitete u.a. für die Financial Times Deutschland, Die Zeit und ist Europa-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in Brüssel.

Zwar hat Griechenland wieder begonnen, sich am Markt zu finanzieren. Normalität ist aber noch nicht eingekehrt, meint Cerstin Gammelin. Die vergangenen Jahre hätten noch einmal gelehrt, dass es falsch war, eine gemeinsame Währung einzuführen, ohne zugleich eine Politische Union zu bilden.

Athen im Februar 2014: Eine ältere Frau geht an einem Graffito vorbei, das einen Mann in Business-Anzug und Spartaner-Helm zeigt. (© picture-alliance/AP)

Griechenlands Regierung hat begonnen, sich wieder am Markt zu finanzieren. Sie hat Staatspapiere mit einer Laufzeit von mehreren Jahren ausgegeben, die Nachfrage war größer als das Angebot. Hätte es eines überzeugenden Beweises bedurft, dass die oft umstrittene und über die Troika durchgedrückte Rettungspolitik der vergangenen Jahre eine erfolgreiche war - hier ist er, freuen sich Europas Politiker. jüngst gelungener Gang an die Finanzmärkte wird bejubelt als Rückkehr des Landes zur Normalität. Genau das ist es aber nicht.

Dass griechische Staatsanleihen wieder nachgefragt werden, hat insbesondere nicht-innergriechische Gründe. Die Nachfrage ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass weltweit Investoren nach Möglichkeiten suchen, Billionen von Euro oder Dollar gewinnbringend anzulegen. Als im Jahr 2009 die Krise um Griechenland und später die gesamte Euro-Zone begann, sind die Investoren aus Europa

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 6 nach Asien und in andere aufstrebende Entwicklungsländer geflüchtet. Doch auch dort gilt der normale marktwirtschaftliche Zyklus, der besagt: es geht auf und ab.

Aus den damals sichereren Ländern sind aus vielfältigen Gründen "unsichere Kandidaten" geworden. Die Wirtschaft in China wächst nicht wie geplant. Die Türkei hat große innenpolitische Probleme. Es gibt Krawalle in Brasilien. Da trifft es sich gut, dass sich die Euro-Zone gerade wieder fängt. Vor allem aber trifft es sich gut, dass die Euro-Länder beschlossen haben, beieinander zu bleiben – und sich gegenseitig im äußersten Notfall finanziell beizustehen. Investoren, die griechische Anleihen kaufen, oder auch portugiesische, bekommen drei bis vier Prozent Zinsen, was angesichts der Niedrigzinspolitik der Notenbanken in aller Welt ein respektabler Betrag ist.

Und sie können sicher sein, dass die Euro-Zone haftet, falls es Griechenland nicht schafft, aus der Krise zu kommen. Der Euro-Rettungsfonds ESM ist eingerichtet und mit 500 Milliarden Euro gefüllt. Die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel hat beschlossen, dass Athen Mitglied im Euro- Klub bleiben wird. Ein Austritt Athens würde Deutschland und alle anderen Euro-Länder härter treffen als der Verbleib. Nur angesichts dieser Garantien kehren auch die Investoren zurück, die vor zwei Jahren beim griechischen Schuldenschnitt Milliarden Euro verloren hatten.

Und deshalb ist Griechenlands erster Gang an die Kapitalmärkte keine Rückkehr zur Normalität. Normal wäre, dass ein Land, das Kredite aufnehmen muss, sich den besten Kreditgeber auswählen kann. So wie das grundsätzlich jeder Bürger, jedes Unternehmen macht. Solide soll der Kreditgeber sein, niedrige Zinsen bieten und beste Rückzahlungskonditionen. Gemessen an diesen Kriterien gibt es für ein derart krisengeschütteltes Land wie Griechenland nur einen einzigen Kreditgeber, der infrage kommt: den Euro-Rettungsfonds.

Knapp 134 Milliarden Euro hat der Fonds bisher an Griechenland ausgezahlt, die durchschnittliche Laufzeit der Kredite beträgt 30 Jahre, der durchschnittliche Zinssatz liegt bei 1,5 Prozent. Wegen eines zehnjährigen Zinsmoratoriums zahlt Athen seit einiger Zeit keinerlei Zinsen. Und auch keine Tilgung, weil die meisten Kredite erst in den 2040er-Jahren fällig werden: Athen ist vom Schuldendienst befreit. Die Euro-Politiker haben sich auf diese Superkonditionen verständigt, weil das Euro-Land ohnehin unter einem unvorstellbaren Schuldenberg ächzt, der nur über mehrere Generationen abgezahlt werden kann. Jeder Euro, der in den Schuldendienst fließt, kann eben nicht in wirtschaftliche oder soziale Projekte gesteckt werden, was wiederum jeden nachhaltigen Aufschwung verhindert. Die Euro- Retter wissen um diesen Teufelskreis und haben deshalb versucht, Griechenland jeden unnötigen Euro an Kreditlasten zu ersparen.

Damit ist Schluss, wenn Athen sich Geld am Markt borgt, wo Verständnis und Solidarität unbekannte Währungen sind. Wer Geld am freien Markt verleiht, will daran verdienen. Wenn Griechenland also trotz des Schuldenberges und erdrückender Zinslasten an die Märkte zurückgeht, wohl wissend, dass dort drei, vier, fünf Prozent an Zinsen erwartet werden, ist das nicht wiederkehrender Normalität geschuldet, sondern dem noch immer andauernden "Ausnahmezustand" in Griechenland.

Die Euro-Kreditgeber wollen Griechenland nun keine neuen Kredite mehr zu Superkonditionen ausgeben. Vor allem aus innenpolitischen Gründen. Für die christdemokratischen und christsozialen Parteien muss angesichts der Europawahl am 25. Mai 2014 der Beweis geführt werden, dass die bisherige Rettungspolitik richtig war. Dass das Geld in Griechenland nicht versenkt ist. Dass es richtig war, über die Buchprüfer von Europäischer Zentralbank, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfonds, also über die Troika, strenge Sparvorgaben zu machen, auf Reformen zu drängen. Die Politik muss die Steuerzahler zu Hause überzeugen, vor allem die in Deutschland. Und deshalb begründen Politiker die erste gelungene Ausgabe von griechischen Staatsanleihen mittlerer Laufzeit mit der von ihnen maßgeblich bestimmten Krisenpolitik der vergangenen drei Jahre.

Der Jubel hat freilich auch innenpolitische Gründe: Der konservative Premier Antonis Samaras will seine nur noch mit zwei Stimmen Mehrheit agierende Regierungskoalition über die 2014 anstehenden

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Wahlen retten. Was im Übrigen ganz im Sinne der Euro-Kreditgeber ist. Die Gefahr ist real. Mit den Linkspopulisten von Alexis Tsipras als stärkster politischer Kraft in Griechenland wird unklar, wie es weitergeht in Athen. Lange schon versprochene Reformen dürften abgeschrieben werden. Vielleicht gibt es sogar ein Referendum über den Verbleib Griechenlands im Euro-Währungssystem. Athen könnte unregierbar werden, Griechenland wieder in der Krise versinken – und die Euro-Zone damit gefährdet sein.

Um dies zu verhindern, reden Kreditgeber und griechische Regierung jetzt der wiederkehrenden Normalität das Wort. Eine Krise sei immer auch psychologisch zu betrachten, hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble immer wieder verlauten lassen.

Mit einer gehörigen Portion Ignoranz übergehen viele Politiker, was im jüngsten Bericht der Buchprüfer der Kreditgeber, der Troika, steht. Dort sieht das "realistische Szenario" für Griechenland nämlich anders aus. Die Experten, die über Monate die Bücher in Athen geprüft haben, rechnen damit, dass das Land bis 2016 zwischen 16 und 17 Milliarden Euro an neuen Krediten brauchen wird – und damit ein drittes Hilfspaket aus dem Euro-Rettungsfonds.

Überaus hoffnungsvoll berufen sich die Euro-Politiker dagegen öffentlich auf das von der Troika als "optimistisch" beschriebene Szenario: Danach kommen in Griechenland aktuell die Unternehmen wieder in Schwung, bilden sich Zentren des wirtschaftlichen Aufschwungs wie etwa eine Gesundheitswirtschaft für Senioren, medizinischer Tourismus oder traditionelle Lebensmittelherstellung. Doch das ist eben nicht alles. Athen müsste auch stete Überschüsse erwirtschaften, griechische Banken müssten gesund sein und sich frei am Markt finanzieren – und die Regierung sollte das eigentlich für die Banken vorgesehene Geld nutzen, um anderweitig Löcher zu stopfen. Dann benötigte die Regierung bis 2016 nur vier bis fünf Milliarden Euro an Krediten, und die könnte sie womöglich am Markt aufnehmen. Könnte. Wenn. Falls. Müsste. Zur Ehrlichkeit müsste eigentlich das Eingeständnis gehören, dass in vier Jahren Griechenland-Krise schon diverse "optimistische Szenarien" gezeichnet wurden. Ebenso wie diverse "realistische Szenarien". Keines davon ist jemals eingetreten. Im Gegenteil, ein ums andere Mal wurden die als "realistisch" bezeichneten Ausblicke noch unterboten.

Diese Desillusionierungen beziehen sich auf: den Aufbau eines computerbasierten Steuererfassungssystems. Ein zentrales, flächendeckendes Katasteramt. Die Entlassung oder Versetzung von tausenden Staatsbeamten. Das Privatisierungsprogramm, das der hochverschuldete Staat der EU versprochen hat. Zum Verkauf stehen nach wie vor Flug- und Seehäfen, Kraftwerke und Kasernen, die Wasserwerke von Athen und Thessaloniki. Und auch die Reform der Landwirtschaft steht nach wie vor aus.

Dass sich die griechischen Unterhändler teilweise gegen die Vorgaben wehren, ist durchaus nachvollziehbar. Die Troika verlangt Reformen, die in Deutschland undenkbar sind: etwa die Privatsierung der Trinkwasserversorgung. Oder das Aufheben des Apothekenzwangs für Medikamente – die soll es in Griechenland künftig auch im Supermarkt geben. Eines der gravierendsten Hindernisse für einen nachhaltigen Aufschwung ist aber noch immer die Kreditklemme, und das aus zweierlei Gründen: Die griechischen Banken vergeben zu wenig Kredite an kleine und mittlere Betriebe. Und selbst die Kredite, die vergeben werden, sind vergleichsweise teuer. Griechische Unternehmen müssen deutlich höhere Risikoaufschläge zahlen als etwa deutsche oder österreichische Unternehmen. Weshalb sie von vornherein der Konkurrenz aus dem Norden unterlegen sind.

Unternehmen, die es sich leisten können, wandern deshalb aus. Der größte Metallbauer Griechenlands etwa hat seinen Firmensitz jetzt in Belgien. Um das wirtschaftliche Ausbluten zu verhindern, sinnen die Euro-Politiker auf Auswege. Deutschland hat kürzlich in Athen eine Art griechische Kreditanstalt für Wiederaufbau gründen lassen. Frankreich will sich daran beteiligen. Im Gespräch ist, Kredite über die Europäische Investitionsbank zu vergeben, die mit Mitteln aus den europäischen Fördertöpfen

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 8 garantiert werden. Alle diese Aktivitäten sind beredtes Zeugnis dafür, dass der wirtschaftliche Aufschwung dauerhaft noch nicht eingesetzt hat. Dass die griechische Regierung allenthalben dafür gelobt wird, dass sie im vergangenen Jahr rein rechnerisch mehr eingenommen als ausgegeben hat, ist ein Versuch, die Lage psychologisch zu befrieden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Eine irreversible Rückkehr in die Normalität ist es nicht.

Diese Kluft zwischen Versprechen und Wirklichkeit haben die Bürger bemerkt. Weshalb den Euro- Politikern jetzt eine gehörige Portion Mut zu wünschen ist; Ehrlichkeit, um zu erklären, dass in Griechenland nach wie vor nichts normal ist - und womöglich um weitere Hilfe zu werben, und für einen langen Atem bei der Krisenbewältigung. Denn nicht nur Griechenland, auch die Währungsunion selbst steckt noch in der Krise. Die vergangenen Jahre haben noch einmal gelehrt, dass es falsch war, eine gemeinsame Währung einzuführen, ohne zugleich eine Politische Union zu bilden. Nach den Europawahlen sind dringend die nötigen Schritte zu tun, um der Währungsunion auch die Wirtschaftsunion zur Seite zu stellen: Nur dann ist der Euro sicher.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Cerstin Gammelin für bpb.de

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Die "Griechenlandkrise" als Weltwirtschaftskrise

Von Sigrid Skarpelis-Sperk 24.6.2014 promovierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin, war von 1980 bis 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages (SPD), Mitglied des Wirtschaftsausschusses und Vorsitzende des Unterausschusses ERP-Wirtschaftspläne, Sprecherin der AG Weltwirtschaft und Globalisierung der SPD-Bundestagsfraktion von 1998-2005, Präsidentin der Vereinigung der Deutsch-Griechischen Gesellschaften

Sind die Griechen selbst Schuld an ihrer Misere durch ihre unsolide Finanzpolitik? Haben sie über ihre Verhältnisse gelebt? Und zahlen sie zu wenig Steuern? Sigrid Skarpelis-Sperk glaubt das nicht. Und fordert für Griechenland u.a. ein verlässliches, langfristiges Abkommen zum Schuldenabbau nach dem Vorbild des Londoner Schuldenabkommens von 1953.

Die Diskussion über Griechenland findet nicht im luftleeren historischen Raum statt, sondern inmitten der größten Finanzkatastrophe in der Geschichte der letzten hundert Jahre, die noch immer nicht ausgestanden ist. Sie ist teurer und größer als die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, die die Welt in eine historisch unerhörte Massenarbeitslosigkeit, den Zusammenbruch ganzer Industriezweige und schließlich den Zerfall von Demokratien und das Aufkommen von Nationalsozialismus und Faschismus führte.

Die Weltfinanzkrise

Auslöser der aktuellen Weltfinanzkrise, der schnell eine Weltrezession (Paul Krugmann) in den Industrieländern folgte, war die schrankenlose Spekulation auf den seit zwei Jahrzehnten systematisch deregulierten Finanzmärkten in den USA, in Großbritannien und Europa. Um einen Zusammenbruch der Wirtschaft und der Arbeitsmärkte sowie die faktische Enteignung von hunderten Millionen Sparern wie in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu vermeiden, haben alle ökonomisch maßgeblichen Staaten der Erde umgehend ein Bankenrettungsprogramm sowie Maßnahmen zur Stabilisierung der Konjunktur in Gang gesetzt – allerdings zu gigantischen Kosten und wesentlich zu Lasten der steuerzahlenden Bevölkerung. Im Ergebnis hat die Staatsverschuldung in allen Industrieländern im Durchschnitt um etwa 20 % des Bruttosozialproduktes zugenommen. In einigen europäischen Ländern stieg sie allerdings von 2007-2013 überproportional an: In Griechenland von 107,2 auf 175 %, in Italien von 103,3, % auf 132,3 %, in Irland von 25 % auf 123 %, in Spanien von 36,3 % auf 98,8 % und in Portugal von 68,4 % auf 124,3 %. Griechenland hatte seine Staatsschulden überwiegend im Ausland aufgenommen und war deswegen besonders verwundbar: Als das Land seine Schulden refinanzieren und seinen Anteil zur Bankenrettung leisten musste, verlangten die Akteure auf den internationalen Finanzmärkten, die die Weltfinanzkrise wesentlich verursacht hatten, exorbitant höhere Zinsen (z.T. über 12 %). Andere Länder mit hoher Staatsverschuldung wie z.B. Belgien, Italien oder Japan konnten sich weiterhin mit den üblichen niedrigen Zinsen refinanzieren.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 10 Drohender Staatsbankrott

Steigende Staatsverschuldung und exorbitante Zinsforderungen – ohne ein Eingreifen der EU stand Griechenland vor dem unausweichlichen Staatsbankrott. Dieses Eingreifen erfolgte allerdings nur sehr zögerlich und auf Raten – die fehlende Entschlossenheit auch der deutschen Bundesregierung und der deutschen Bundesbank hat die griechische Verschuldung insgesamt noch erhöht – trotz erheblicher Einsparungen im Staatshaushalt und wegen des schrumpfenden Sozialproduktes. Zudem wurden die Akteure auf den internationalen Finanzmärkten – vornehmlich Hedgefonds und Banken – dazu ermuntert, dieselbe Strategie der überhöhten Zinsforderungen nun auch bei Ländern mit deutlich niedrigerer Staatsverschuldung zu üben. Weitere Rettungsaktionen für Irland, Spanien und Portugal wurden nun nötig. Dabei hat die wahrheitswidrige und zum Teil schmutzige Kampagne gegen Griechenland und die Griechen sicherlich eine Rolle für dieses fatale Zögern gespielt: Noch nie zuvor haben neben den üblichen Skandalblättern auch seriöse Medien und selbst Fachpolitiker eine solche Fülle von sachlich falschen oder grob vereinfachenden Darstellungen verbreitet. Dies hat das deutsch-griechische Verhältnis ohne Zweifel vergiftet und zu ebenso unerträglichen Retourkutschen aus Athen geführt. Es ist deswegen überfällig, sich diese Behauptungen und Bezichtigungen anzusehen und die Fakten zu prüfen, um zu einem unvoreingenommenen Urteil zu kommen. Die Behauptungen waren im Wesentlichen:

1. Die Griechen sind durch ihre unsolide Finanzpolitik selbst an ihrem drohenden Staatsbankrott schuld. Sie haben ihre zu hohen Kreditaufnahmen über das Ausland finanziert

2. Die Griechen haben über ihre Verhältnisse gelebt: sie arbeiten kürzer als die Deutschen, haben länger Urlaub, erhalten höhere Löhne und höhere Renten

3. Griechenland gibt übermäßig viel für seine Verteidigung aus

4. Der griechische Staatssektor ist stark aufgebläht

5. Die Griechen zahlen zu wenig Steuern

Behauptung 1: Die Griechen sind durch ihre unsolide Finanzpolitik selbst an ihrem drohenden Staatsbankrott schuld, sie haben ihre zu hohen Kreditaufnahmen überwiegend über das Ausland finanziert

Griechenlands Staatsschulden sind im Wesentlichen seit Anfang der 1980er Jahre angehäuft worden: Staatsschuld in % des BSP: 26% 1980, 71% 1990, 101,5 % 2000, 115,1% 2009. Griechenland hat sich, im Gegensatz zu anderen hochverschuldeten Ländern, überwiegend für Konsum und nicht für Investitionen verschuldet. Andere Länder mit hoher Staatsverschuldung wie z.B. Japan (2007: über 160 %) hatten sich überwiegend im Inland verschuldet und zur Stabilisierung ihrer Wirtschaft sogar große Konjunkturprogramme in Gang gesetzt – dank der Unterstützung der japanischen Nationalbank zu sehr niedrigen Zinsen. Im Falle Griechenlands war es im Nachhinein sicher falsch, sich im Ausland so hoch zu verschulden – allerdings war diese Verfahrensweise bei dem zeitweise hohen Wachstum der griechischen Wirtschaft international weithin akzeptiert: weder die großen internationalen Banken noch die angelsächsischen Ratingagenturen, die Europäische Zentralbank, noch andere europäische Institutionen hatten die hohen Anleihen Irlands, Spaniens oder Griechenlands kritisiert oder auch nur warnend den Finger erhoben. Noch zwei Jahre vor dem Ausbruch der Wirtschaftskrise hatte die OECD Griechenland wegen seiner langjährigen hohen Wachstumsraten – deutlich höher als die Deutschlands – und der Privatisierungspolitik die Regierung Karamanlis ausdrücklich gelobt.

Dabei wäre es sinnvoll gewesen, sich vorher in einer gemeinsamen europäischen Wirtschafts- und

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Finanzpolitik abzustimmen – eine solche Politik war indessen gerade von der deutschen Politik nicht gewollt. Mit Deutschland selbst – nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg gleich zweimal zahlungsunfähig – war die Staatengemeinschaft anders umgegangen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Deutschland mit dem Londoner Schuldenabkommen von 1953 eine neue Chance: Der Bundesrepublik wurden etwa 50 % all ihrer Schulden seit dem Ersten Weltkrieg erlassen – die USA erließen sogar über 62 %. Die verbliebene Schuldenlast war in einer langen Laufzeit von 35 Jahren abzutragen, zu einem günstigen Zinssatz von 3,5 %. Für die rückstehenden Zinsen von 1945-1952 wurde die Rückzahlung nach einer deutschen Wiedervereinigung in einem Zeitraum von 20 Jahren vereinbart. Deutschland konnte diese Leistungen aus seinen Exporten problemlos bezahlen – die letzte Rate wurde erst am 3. Oktober 2010 überwiesen. Der Vertrag schloss die Forderungen von 70 Staaten ein, von denen 21 als Vertragsunterzeichner – darunter auch Griechenland – unmittelbar in Erscheinung traten. Sicher, die deutsche Schuldensituation stand in einem anderen historischen Kontext – sie war Folge zweier Weltkriege, für die Deutschland allein oder wesentlich verantwortlich war. Aber ohne die Chance zu einem Neubeginn gäbe es das prosperierende Deutschland von heute wohl nicht.

Behauptung 2: Die Griechen haben über ihre Verhältnisse gelebt: Sie arbeiten kürzer als die Deutschen, haben länger Urlaub, erhalten höhere Löhne und höhere Renten

Tatsächlich arbeiten die Griechen länger als die Deutschen. Laut OECD-working hours 2013 arbeiteten die Deutschen 2012 ganze 1397 Arbeitsstunden pro Jahr, die Griechen dagegen 2034. Das Renteneintrittsalter liegt fast gleich auf, bei Männern in Griechenland beträgt es aktuell 61,9 Jahre, hierzulande 61,5 Jahre. Und was die Rente betrifft: 2/3 aller griechischen Rentner beziehen eine Rente von unter 600 Euro pro Monat, die im Frühjahr 2010 beschlossenen Rentengesetze verschlechtern die Position der Griechinnen und Griechen nochmals deutlich. Die Griechen büßten durchschnittlich 30 % ihres Einkommens ein. Die Arbeitslosigkeit ist mittlerweile auf 27 % angestiegen, 500 000 Familien sind ohne jegliches Arbeitseinkommen. In der Jugendarbeitslosigkeit hält Griechenland mit Spanien mit über 60 % den Weltrekord. Kirchen und Wohlfahrtsverbände richten Suppenküchen ein und bieten Essenpakete für Familien und alte Menschen. Während das deutsche Preisniveau nur leicht über dem europäischen Durchschnitt lag und liegt, steht das griechische Preisniveau nur gering unter dem europäischen Schnitt (95 %) und dies auch erst nach dem massiven Wirtschaftseinbruch. [1]

Behauptung 3: Griechenland gibt übermäßig viel für seine Verteidigung aus

Griechenland hat den höchsten Anteil der Verteidigungsausgaben innerhalb der NATO. Mit über 4 % des BIP lag es vor der Krise deutlich über Deutschland mit 1,5 %. Allerdings hat Deutschland auch keine komplizierten Nachbarschaften wie Griechenland zur Türkei, die seit 1974 Teile von Zypern völkerrechtswidrig besetzt hält und wegen Grenzkonflikten in der Ägäis seither immer wieder offen mit Krieg gedroht hat. Eine Sicherheitsgarantie für die Grenzen der Europäischen Union hat die europäische Diplomatie aber wenig interessiert, wohl auch deshalb, weil Deutschland von 2007 – 2011 zu den fünf größten Waffenexporteuren der Welt gehörte – USA, Russland, Deutschland, Frankreich und Großbritannien waren für drei Viertel des Exportvolumens verantwortlich. [2]

Griechenland wie die Türkei gehören zu den wichtigsten Absatzmärkten für deutsche wie französische Rüstungsgüter. Innerhalb Europas ist Griechenland nach Portugal der größte Abnehmer deutscher Kriegswaffen.[3] Zwar gingen die Rüstungsimporte Griechenlands um 61 % zurück, Griechenland fiel in der Rangliste der Importeure damit vom 4. auf den 15. Rang. Trotzdem sind die Griechen der wichtigste Handelspartner der deutschen Rüstungsindustrie geblieben, zehn Prozent der Waffen aus Deutschland gehen weiterhin nach Athen.[4] Dies wird allerdings nicht so bleiben: mittlerweile wurden

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 12 die Rüstungsausgaben von 2,2 Mrd € auf 700 Mio € zusammengestrichen. [5]

Behauptung 4: Der griechische Staatssektor ist stark aufgebläht

Im Jahre 2007 – also unmittelbar vor dem Beginn der Weltfinanzkrise – lag die Staatsausgabenquote Griechenlands mit 44,1 % noch unter der von Großbritannien (46 %), Italien (47,9 %) und Portugal (45,7 %). Die deutsche Staatsausgabenquote betrug demgegenüber vor der Krise 43,7 %. Auch die Personalausgabenquote lag in Griechenland im Schnitt der Kern-EU (10,5 %) und noch deutlich unter der in skandinavischen Staaten wie Dänemark oder Schweden. Allerdings stieg die Quote in 2012 deutlich: Griechenland lag mit 12,5 % über dem EU-Schnitt von 10,7 %. Dies dürfte allerdings angesichts des Personalabbaus im öffentlichen Bereich wesentlich der Abnahme des Bruttosozialproduktes um etwa 25 % geschuldet sein. D.h. nicht der Zähler (der Personalausgaben) ist gestiegen, vielmehr hat der Nenner deutlich abgenommen. Kontraproduktiv war und ist nicht die Höhe der Personalausgabenquote, sondern wo und wie die Angestellten des Staates eingesetzt werden: Mit überproportional viel Personal ausgestattet sind Ministerien oder zentrale Verwaltungen; ein Personalmangel herrscht dagegen nach wie vor in Bereichen gesellschaftlich notwendiger Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit oder einer effizienten Sozialverwaltung. Dabei steht außer Zweifel: eine umfassende Reform des griechischen Staates zugunsten qualitativ besserer und bürgernäherer Leistungen sowie in einer entschlossenen Wendung gegen Misswirtschaft und Korruption – den eigentlichen Erbübeln der südlichen Administrationen – ist seit langem überfällig. Die Kürzungen der Gehälter und Beamtenpensionen von 25,2 Mrd.€ (2009) auf 20,5 Mrd.€ war im OECD- Vergleich außergewöhnlich hart – an den Strukturproblemen hat sich dadurch wenig geändert.

Behauptung 5: Die Griechen zahlen zu wenig Steuern

Die Steuerquote war mit 20 % vor der Krise sehr niedrig (in den letzten 6 Jahren vor der Krise war die Steuerquote in Griechenland unter dem Beifall der EU-Kommission und der OECD von 23 % auf 20 % gesunken). Deutschlands Steuerquote betrug im Vergleich 23 % (OECD-Schnitt 27 %). Von der laxen bis korrupten Steuererhebung in Griechenland profitierten Selbstständige und Unternehmer – vor allem die sehr Reichen. Die Steuerflucht der obersten und oberen Einkommensschichten hat zudem in breiten Bevölkerungsschichten Griechenlands zu Nachahmungseffekten geführt. Heute sind es überwiegend die Festangestellten, Rentner und Kleinverdiener, die die deutlich gestiegenen Verbrauchssteuern (Umsatz-, Energie-, Benzin-, Tabak- und Alkoholsteuern) bezahlen. Auch die aktuelle griechische Regierung geht noch nicht scharf genug gegen die Lässigkeit und Korruption in der Verwaltung vor; eine konsequente Verfolgung und Beseitigung von Steueroasen für Großkonzerne, die nahezu keine Steuern zahlen, steht noch aus – auch aus Sorge, Großkonzerne könnten sonst ins Ausland abwandern (wie COCA COLA-Europa, das vor kurzem seinen Firmensitz von Athen nach Luxemburg verlegte).

Was tun? Griechenland braucht eine reelle Chance für einen Neubeginn

• Griechenland benötigt ein verlässliches, langfristiges Abkommen zum Schuldenabbau nach dem Vorbild des Londoner Schuldenabkommens von 1953, d.h. einen Teilerlass der Schulden bei langfristiger Rückzahlung in 35 Jahren und zu niedrigen Zinsen – etwa auf deutschem Niveau.

• Griechenland kann seine Schulden, ebenso wie Nachkriegsdeutschland, nur zurückzahlen, wenn seine Wirtschaft wieder auf die Beine kommt. Das bedeutet, ein Investitions-Programm für Griechenland aufzulegen, wie die Europäer es von den USA für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten. Der DGB hat für den Süden Europas bereits einen entsprechenden Vorschlag nach dem Beispiel des Marshallplanes (ERP) vorgelegt, Schwerpunkte könnten sein:

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Effiziente Verwendung von Wasser und Energie, Aufforstung der Inseln und des Balkans, Stadtsanierung, Investitionen in Bildung usw.

• Griechenland bedarf noch immer dringend der Unterstützung bei einer systematischen Verwaltungsreform, in erster Linie der Finanz- und Steuerverwaltung, aber auch der Sozialversicherungen, des Gesundheits- wie des Bildungssystems durch Einsatz bewährter Organisationsmethoden, IT und systematischer Schulung (Umsetzung von Best Practice Modellen in Europa).

• Vordringliches Ziel muss die gezielte Arbeitsbeschaffung für junge Griechinnen und Griechen bis zum Alter von 35 Jahren sein, einschließlich von Auslandsjahren in Europa und der Gründung eines deutsch-griechischen Jugendwerkes zur inhaltlichen und organisatorischen Unterstützung.

• Von herausragender Bedeutung ist außerdem die schnelle Vergabe angemessener Kredite und Zinsen zur Stützung der noch vorhandenen griechischen Betriebe und zur Rettung des Mittelstands. Auch Neugründungen sollten durch günstige Kreditfinanzierung (z.B. nach dem Modell der Kreditanstalt für Wiederaufbau) eine Chance erhalten.

Quellen

Karl Aiginger, Südeuropa, Problemzone oder Brücke in die Zukunft, Berlin, 15.6.2013, Friedrich-Ebert- Stiftung

Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Drucksache 17/12565, 28.2.2013, Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Anpassungsprogramme, Rezession und soziale Notlage in Griechenland

Tassos Giannitsis, Wirtschaftliche, soziale und politische Perspektiven in Griechenland und Europa, Berlin, 15.6.2103, Friedrich-Ebert-Stiftung

Gustav A. Horn, Fabian Lindner, Torsten Niechoj, Achim Truger, Henner Will: Voraussetzungen einer erfolgreichen Konsolidierung Griechenlands, IMK-Report, Nr. 66, Oktober 2011

Sotiria Theodoropoulou, Andrew Watt, What did they expect? Lesson for Europe from a retrospective ex-ante – evaluation of the first greek bail-out programm, ETUI, 2012

Annual Macroeconomic Database (AMECO), DG ECFIN, Europäische Kommission 2007 ff, Europäische Beobachtungsstelle für die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen (EIRO)

European Commission, DG ECFIN. Statistical Annex of European Economy, Spring 2013, S.180ff

SIPRI Yearbook 2012, Armaments, Disarmament and International Security, Kurzfassung auf Deutsch, SIPRI, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berghof Foundation.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Sigrid Skarpelis-Sperk für bpb.de

Fußnoten

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1. Quellen: EUROSTAT, OECD, EIRO. 2. SIPRI Yearbook 2012. 3. Rüstungsexportbericht 2010 der Bundesregierung. 4. Johannes Korge, "Weltweite Rüstungsexporte: China rückt zu den Top-Waffenhändlern auf", Der Spiegel, 18.03.2013. 5. SIPRI Yearbook 2012.

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Die Erfolge geben Recht

14.7.2014

Für Michael Hüther steht fest: Griechenland hat über seine Verhältnisse gelebt und die Korrektur der Fehlentwicklungen muss nun im Land selbst stattfinden und gelingen. Die Austeritätspolitik, also die strenge Konsolidierung der öffentlichen und privaten Haushalte verbunden mit Strukturreformen in Griechenland, sei dabei das zentrale Krisenmanagement-Instrument, weil es die Hilfen der anderen Europäer erst legitimiere.

Der griechische Finanzminister Gikas Chardouvelis. (© picture-alliance/dpa)

In diesem Jahr wird die griechische Volkswirtschaft nach Einschätzung des griechischen Notenbankchefs Ioannis Stournaras zum ersten Mal seit 2007 wachsen. Das prognostizierte Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 0,4 Prozent bedeutet natürlich keinen Quantensprung, immerhin ist die Wirtschaftsleistung Griechenlands in den letzten sechs Jahren um etwa ein Viertel geschrumpft. Dennoch ist die Rückkehr zum Wachstum ein Erfolgszeichen und bezeugt, dass die schmerzhaften Anpassungsprozesse grundsätzlich richtig waren und nun erste Früchte tragen. Stournaras betont zu Recht, dass der Reformkurs der einzig richtige Weg aus der Krise gewesen sei. Das Ziel, Griechenlands Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen und der Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen, ist noch nicht erreicht, aber es rückt doch in Sichtweite. Die bisherigen Erfolge geben jenen Recht, die sich (1) gegen eine Vergemeinschaftung der Staatsschulden in der Eurozone durch Eurobonds oder ähnliches einsetzten, (2) für einen harten Reformkurs gegenüber Griechenland seitens der Troika bestehend aus IWF, der EZB und der EU-Kommission plädierten und (3) durch die

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Inkaufnahme eines Schuldenschnitts und abermaliger Hilfspakete einen griechischen Staatsbankrott verhinderten. Zugegeben, die Schnittmenge dieser drei Bedingungen können nur sehr wenige für sich in Anspruch nehmen. Die strenge Konsolidierung der öffentlichen und privaten Haushalte verbunden mit Strukturreformen in Griechenland, also die sogenannte Austeritätspolitik, ist schließlich das zentrale Krisenmanagement-Instrument, weil es die Hilfen der anderen Europäer erst legitimiert.

Der Weg ist nicht das Ziel

Tatsächlich kommt die Haushaltssanierung des griechischen Staates voran. Probleme bestehen allerdings bei der Verringerung der Staatsschuldenquote von rund 175 Prozent des Bruttoinlandsprodukt und der Sanierung der privaten Verschuldung. Zudem ist Griechenland bei vielen Strukturreformen im Verzug. Die Reformbemühungen müssen insbesondere bei der Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Privatisierung von Staatseigentum fortgesetzt und forciert werden. Ferner ist die Konsolidierung des Bankensektors noch längst nicht abgeschlossen. Nach der notwendigen Rekapitalisierung der Banken ist nun dringend der Anteil an notleidenden Krediten zu verringern, der 2012 bei über 17,8 Prozent der Bruttokredite lag.

Die Korrektur der Verschuldungspositionen ist trotz aller bisherigen Erfolge immer noch die zentrale Herausforderung der nächsten Zeit. Die Erfolgsmeldungen der letzten Monate bedeuten nicht, dass nun die Anstrengungen gestreckt werden können. Ein beliebtes Sprichwort besagt, der Weg sei das Ziel. Das überzeugt hier nicht. Der eingeschlagene Weg, also die unbestritten mit viel Mühsal und Verzicht verbundenen Haushaltssanierungen und Strukturreformen, kann nicht das Ziel sein. Das eigentliche Ziel lautet: Nachhaltiger Wohlstand und hohe Beschäftigung in Griechenland. Dieses Ziel erfordert auch eine Korrektur der Löhne und Preise. Was Griechenland braucht, ist ein Trendbruch. Politisch und wirtschaftlich darf das Land nicht in Vorkrisenmuster zurückfallen – denn dann hat es auf lange Sicht keinen Platz in der Währungsunion.

In der Tat braucht es einen langen Atem, um eine Staatsschuldenkrise zu überwinden. Die Bereinigung der Überschuldung und der wirtschaftliche Erholungsprozess werden in jedem Fall bis zum Ende des Jahrzehnts andauern. Griechenland darf diesen steinigen Weg jedoch nicht scheuen, will es das genannte Ziel erreichen.

Aus Ruinen auferstehen

Ohne Frage, die Arbeitslosenquote ist sehr hoch, insbesondere bei den Jugendlichen . Zudem ist die relative Einkommensarmut mit 23,1 Prozent an der Gesamtbevölkerung die größte in Europa und weist auf eine enorme Ungleichverteilung der Einkommen in Griechenland hin. Überdies ist die doppelte Armut (relative Einkommensarmut und materielle Entbehrung) mit 11,8 Prozent bedrückend hoch – was bedeutet, dass jeder Achte griechische Einwohner vier von neun Grundbedürfnissen aus finanziellen Gründen nicht befriedigen kann. Diese Deprivation ist in einem Staatenverbund, welcher den Wert "sozialer Fortschritt" verkörpern will, wahrlich nicht hinnehmbar. Das mag Politikern im In- und Ausland angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage in Griechenland schon Grund genug sein, um den Anpassungsprozess in Frage zu stellen oder gar abzuwürgen. Den Euroskeptikern unter ihnen kann man leider nicht oft genug entgegenhalten, dass ein Ausstieg aus der Währungsunion oder ein Auflösen der Eurozone viel größere Schäden sowohl für das betroffene Land als auch die Mitgliedsstaaten verursachen würde. Die meisten Politiker scheuen freilich die Anpassungsprozesse, denn diese legen schonungslos die unvermeidbaren Verteilungskonflikte in Griechenland frei. Klientelismus, Korruption und damit einhergehend die Subvention von Interessengruppen müssen endlich Reformen weichen. Dass die griechischen Wähler zu extremen Parteien wandern liegt nicht an der Reform- und Sanierungspolitik, sondern am politischen Versagen der zuvor regierendenden Klientelpolitik.

Natürlich macht es wütend, wenn Menschen aufgrund von staatlicher Misswirtschaft einen "Zusammenbruch ihrer alltäglichen Routinen" und eine "Erschütterung ihrer sozialen Realität"

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 17 hinnehmen müssen, wie es in einem Beitrag in diesem Forum deutlich geschildert wurde. Wenn die Bilder aus den Vorstadtbezirken Athens eben jenen ähneln, die wir nach dem Zusammenbruch der DDR vor nunmehr 25 Jahren erlebten, dann bestätigt sich aber die Einschätzung, dass Misswirtschaft und überbordende sozialstaatliche Planung die Ziele Wohlstand und Beschäftigung in weite Ferne rücken lassen.

Irrlichter und ein geliehenes Wachstum

Dieser Vergleich ist bizarr und historisch selbstverständlich nicht korrekt, zeigt aber, dass die Griechen Irrlichtern zum Opfer gefallen sind, welche über fast ein Jahrzehnt wirtschaftliche Fehlanreize erzeugt haben. Griechenland ist seit 2001 Mitglied der Währungsunion. Bis zum Ausbruch der Krise hat sich die Wirtschaftsstruktur Griechenlands trotz eines durchschnittlichen BIP-Wachstums von über vier Prozent im Zeitraum 2000-2007 kaum verändert. Die permanent defizitäre Leistungsbilanz seit 1948 hat sich von 2005 (-7,6%) bis zur Staatsschuldenkrise 2010 (-10,1%) stetig verschlechtert. Im Gegenzug ist die private Verschuldung von 55,4 Prozent im Jahr 2000 auf 129,1 Prozent des BIP im Jahr 2012 und die Staatsverschuldung von 103,4 Prozent des BIP im Jahr 2000 auf 175,1 Prozent in 2013 angestiegen. Die gesamte Netto-Auslandsschuld hat sich von 59,2 Prozent des BIP in 2005 auf 130,3 Prozent 2013 erhöht. Das Wachstum war also nur geliehen, die Griechen haben jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt. Prägend ist dabei, dass in Griechenland vor allem der Staat zu sehr am Nektar der Verschuldung genascht hat.

Im Nachhinein ist man immer schlauer

Natürlich kann man darauf beharren, dass Mitgliedsstaaten, Investoren und Finanzmarktexperten eine Teilschuld tragen, weil sie nicht eher durch die muntere Verschuldung vieler Mitgliedsstaaten stutzig geworden sind. Bereits zur Einführung des Euro 2001 war das Zinsniveau für zehnjährige Staatsanleihen Griechenlands kaum höher als das von Deutschland. Wenige Jahre zuvor, Anfang 1995, musste der griechische Staat noch 19 Prozent Zinsen auf seine Anleihen zahlen. Die Zinskonvergenz wirkte wie ein Wohlstandsgewinn und war mit erheblichen Fehlanreizen verbunden - niedrige Zinsen machen bekanntlich sinnlich. Im Nachhinein ist man immer schlauer, und rückgängig lässt sich der Prozess ohnehin nicht machen. Eine Lehre bleibt jedoch: Dieses für Griechenland äußerst niedrige Zinsumfeld wurde offensichtlich nicht genutzt, um strukturelle Probleme anzugehen oder Reformen durchzuführen. Diese Tatsache scheinen jene zu ignorieren, die erneut darauf drängen, kurzfristige Staatsverschuldung zu niedrigen Zinsen für eine Wachstumskampagne zu verwenden. Das Wachstum muss durch dauerhaft rentable, also im globalen Wettbewerb rentierende Investitionen gestützt werden, ansonsten fällt das Kartenhaus in Bälde erneut zusammen.

Man kann es drehen und wenden, wie man will. Es ändert sich nichts daran, dass Griechenland über seine Verhältnisse lebte und die Korrektur der Fehlentwicklungen nun in Griechenland selbst stattfinden und gelingen muss. Sicherlich kann man über die Korrekturbedürftigkeit der institutionellen Rahmenbedingungen der Eurozone streiten. Eine rasche Umsetzung der Bankenunion und eine vorsichtige Zinswende der EZB beispielsweise sind für einen nachhaltigen Konsolidierungsprozess förderlich. Schließlich ist der bisher schleppende Abbau notleidender Kredite zugegebenermaßen auch der großzügigen Zins-und Liquiditätspolitik der EZB geschuldet. Das ändert aber nichts am Befund, dass unter den momentanen Bedingungen nur eine nationale Anpassungspolitik mit Nachdruck der Gläubiger Griechenlands zum genannten Ziel führen kann.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 18 Hilfe zur Selbsthilfe

Die größten Herausforderungen sind die Verschuldung des privaten Sektors, eine Stabilisierung des Finanzsystems sowie die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Um die Volkswirtschaft zu stabilisieren, und auch gegen weitere Schocks zu wappnen, ist es dringend geboten die Verschuldungsniveaus zurückzufahren. Damit verbunden ist selbstverständlich das Dilemma, dass Konsum und Investitionen durch den Konsolidierungsprozess gebunden werden. Deshalb müssen öffentliche Investitionen in den richtigen Bereichen von Ausgabenkürzungen verschont bleiben und eine höhere Steuerlast vermieden, wenn nicht sogar Steuern gesenkt werden. Investitionen in Bildung und Forschung als auch Infrastrukturprojekte sind langfristig vielversprechend und wachstumsförderlich. Hierbei können die europäischen Partnerländer und die EU durch gezielte Infrastrukturfonds in den Bereichen Energie, Verkehr und Internet unterstützen. Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit kann von europäischer Ebene auch durch Marktöffnung, zum Beispiel im Dienstleistungssektor vorangetrieben werden. Zudem sollte die Solidarität der europäischen Staaten und die Anerkennung des bisher Erreichten in Griechenland sich noch bei der Unterstützung der Rückzahlungsmodalitäten der Kredite zeigen: Die Zinsen auf laufende griechische Staatsanleihen könnten gesenkt werden, ebenso denkbar ist eine Verlängerung von Laufzeiten der Anleihen.

Mit dieser Kombination aus dezenter Unterstützung durch die europäischen Partnerländern und dem konsequenten Beibehalten und Umsetzen weiterer wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die die freien Marktmechanismen unterstützen, kann die nachhaltige Gesundung der griechischen Volkswirtschaft und damit auch des öffentlichen Haushaltes gelingen.

Datenquelle

Eurostat

Literatur

Alesina, Alberto / Ardagna, Silvia (2010), Large Changes in Fiscal Policy: Taxes Versus Spending, in: Brown, J.R. (Hrsg.), Tax Policy and the Economy, Volume 24, Kapitel 2, S. 35–68.

Demary, Markus (2014), IW-Bankenmonitor – Bringt die Bankenprüfung der Europäischen Zentralbank das Vertrauen in den Euroraum zurück?, in: IW-Trends, Nr. 1, 12. März 2014, Köln. (http://www.iwkoeln. de/de/studien/iw-trends/beitrag/markus-demary-iw-bankenmonitor-150281?highlight=Bankenmonitor.)

Demary, Markus / Matthes, Jürgen (2014), Das aktuelle Niedrigzinsumfeld: Ursachen, Wirkungen und Auswege, Studie für den Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, Köln.

"Die Werte der Europäischen Union", in: bpb.de, 24. September 2009 (http://www.bpb.de/ internationales/europa/europaeische-union/42851/grafik-werte-der-eu.)

"IW-Bankenmonitor bestätigt Kritik an EZB”, in: IW-Nachrichten, 02. Juli 2014. (http://www.iwkoeln.de/ de/infodienste/iw-nachrichten/beitrag/expansive-geldpolitik-iw-bankenmonitor-bestaetigt-kritik-an-ezb-172724? highlight=Bankenmonitor.)

Niehues, Judith / Schröder, Christoph (2014), Armut in Europa, in: IWD, Nr.14 vom 03. April 2014. (http://www.iwkoeln.de/de/infodienste/iwd/archiv/beitrag/grafikstrecke-armut-in-europa-150137.)

"Notenbank: Griechische Wirtschaft wird 2014 wachsen", in: stern.de, 25. Juni 2014. (http://www.stern. de/wirtschaft/news/notenbank-griechische-wirtschaft-wird-2014-wachsen-2119643.html.)

Topali, Maria (2014), Athener Straßenbilder, in: bpb.de, 03. Februar 2014. (http://www.bpb.de/

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Politik der "Austerität"

Von Steffen Vogel 3.2.2014 geb. 1978 in Siegen, lebt als freier Autor in Berlin und promoviert an der Humboldt-Universität. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Europas Revolution von oben" (Hamburg, 2013).

Unter "Austerität" versteht man einen politischen Kurs, der Ausgabenkürzungen und Privatisierungen verfolgt. Seit 2010 betreiben die Regierungen in Athen auf europäischen Druck eine Politik der Austerität, die vor allem die deutsche Bundesregierung bislang für unerlässlich hält. Laut Umfragen sehen eine Mehrheit der Griechinnen und Griechen darin ein brutales Spardiktat, das im Begriff ist, ihre Gesellschaft zu zerstören.

Rezession. (© picture-alliance/dpa)

Seit 2010 betreiben die Regierungen in Athen auf europäischen Druck eine Politik der Austerität. Der Begriff stammt vom lateinischen "austeritas", was "Strenge" oder "Herbheit" bedeutet, und bezeichnet einen Kurs von Ausgabenkürzungen und Privatisierungen. Damit sollen ein ausgeglichener Haushalt und die Reduzierung der griechischen Staatsschulden erreicht werden. Die deutsche Bundesregierung hält einen solchen Weg bislang für unerlässlich, um eine wirtschaftliche Erholung in der Eurozone einzuleiten, sie ist innerhalb der EU die treibende Kraft hinter dieser Politik. Hingegen sieht eine Mehrheit der Griechinnen und Griechen darin ein brutales Spardiktat, das im Begriff ist, ihre Gesellschaft zu zerstören: Laut Public Issue lehnen 76 Prozent diese Maßnahmen ab. Und 80 Prozent sagen, sie funktionierten nicht, wie eine Gallup-Umfrage ermittelte. In jedem Fall ist die Austerität zu einer ernsten Belastung für das deutsch-griechische Verhältnis geworden.

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Einschneidende Maßnahmen

Eine Politik der Austerität, die derzeit in zahlreichen EU-Staaten betrieben wird, kombiniert eine Reihe von einschneidenden Maßnahmen. Im öffentlichen Dienst, der in Griechenland besonders im Fokus steht, werden in großem Umfang Mitarbeiter entlassen, während die verbliebenen Beschäftigten mit eingefrorenen oder gekürzten Löhnen leben müssen. Der Mindestlohn wurde abgesenkt, ebenso die Arbeitslosenunterstützung. Zudem wurden die Arbeitsmärkte liberalisiert: Beschäftigte können 36 statt zuvor 18 Monate mit befristeten Verträgen angestellt werden, die Probezeit wurde von zwei auf zwölf Monate verlängert und die Kündigungsfrist reduziert. Die Arbeitnehmer erhalten überdies geringere Abfindungen. Gleichzeitig wurden die Gewerkschaften empfindlich geschwächt, etwa durch die Aufwertung von Firmen- gegenüber Branchentarifverträgen. Überdies führt der Austeritätskurs zu massiven Einschnitten im Sozialstaat, beispielsweise in Form von Rentenkürzungen. Ein solcher Kurs birgt entsprechenden politischen Sprengstoff, zu dem sich Athen nur unter großem äußeren Druck verpflichten ließ. So genannte "Hilfspakete" für Griechenland

Im Herbst 2009 entdeckte die neu gewählte Regierung unter dem Sozialdemokraten Giorgios Papandreou, dass ihre Vorgängerin falsche Zahlen nach Brüssel übermittelt hatte: Das griechische Staatsdefizit war wesentlich größer als bislang bekannt. Wie hoch die Schulden Athens tatsächlich ausfielen, konnte die Regierung erst Wochen später mitteilen. Vor allem diese Ungewissheiten, und weniger das tatsächliche Ausmaß der Verbindlichkeiten, lösten bei den Anlegern auf den Finanzmärkten Unruhe aus. Mit Griechenland verlor erstmals ein Euroland die Topbewertung durch die Ratingagenturen, angesichts eines drohenden Staatsbankrotts wandte sich Athen an die Europäische Union. Doch bei den schließlich an Griechenland ausgezahlten Finanzmitteln handelt es sich nicht, wie es oft irreführend heißt, um "Hilfen", sondern um verzinste Kredite.

Für den Ökonomen Yanis Varoufakis ist Griechenland de facto längst bankrott; in einer Form von " Konkursverschleppung" werde Griechenland aber durch die Kredite zahlungsfähig gehalten, um die Forderungen seiner internationalen Gläubiger bedienen zu können. Griechenland macht neue Schulden also vor allem, um die alten bedienen zu können: Tatsächlich fließen zwei Drittel der an Athen ausgezahlten Gelder direkt an die Inhaber griechischer Staatsanleihen, darunter Banken und Versicherungsgesellschaften aus Deutschland und Frankreich, zurück.

Politik der "Troika"

Besagt Kredite sind überdies an strenge Bedingungen geknüpft, über deren Einhaltung die so genannte Troika wacht. Ihr gehören neben EU-Kommission und EZB auch der Internationale Währungsfonds (IWF) an, der auf Drängen Deutschlands ins Boot geholt wurde. Zwischen Troika und griechischer Regierung wurden dann jene Vereinbarungen geschlossen, in denen sich Athen zur Austerität verpflichtet – wobei dem Parlament in Athen nur die Alternative bleibt, die entsprechenden Gesetze zu beschließen oder einen möglichen Staatsbankrott in Kauf zu nehmen. Die Vereinbarungen legen teilweise bis aufs Quartal genau fest, wann welche Sparmaßnahmen umgesetzt werden sollen. Die Regierung in Athen wiederum muss sich gegenüber den technischen Beratern der Troika regelmäßig dafür verantworten. Fällt deren Urteil negativ aus, droht der Stopp weiterer Kredittranchen, ohne die der Staat mittelbar zahlungsunfähig würde.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 22 Abwärtsspirale

Ein Obdachloser in Athen (© picture-alliance, zumapress.com) Die Austeritäts-Befürworter setzen auf eine Zunahme an Investitionen, aber erst, sobald durch den strikten Sparkurs das Vertrauen der Anleger zurückgewonnen sei. Auch argumentieren sie, mit sinkenden Löhnen und Sozialabgaben steigere sich die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. So soll ein Aufschwung erreicht werden, der nicht zuletzt höhere Staatseinnahmen bewirkt und dadurch einen Schuldenabbau ermöglicht. Die vermeintlichen Hilfen haben Griechenland jedoch ökonomisch bislang nicht genutzt, im Gegenteil: Das Land steckt tief in der Rezession, die 2013 bereits das sechste Jahr in Folge andauert. Inzwischen hat sogar der IWF wiederholt Selbstkritik geäußert. So erklärt der Währungsfonds, er habe unterschätzt, wie stark die Arbeitslosigkeit anwachsen werde; auch seien die Wachstumsprognosen zu optimistisch ausgefallen. Kritische Wirtschaftswissenschaftler wie Nobelpreisträger Paul Krugman hatten schon frühzeitig vor dieser Entwicklung gewarnt und auf einen grundsätzlichen Zusammenhang verwiesen: In der Krise agieren viele Unternehmen vorsichtig und schieben Investitionen auf. Wenn nun auch noch der Staat seine Ausgaben kürzt und die Bürger aufgrund von deutlichen Einkommensverlusten ihren Konsum massiv einschränken, fehlt es endgültig an wirtschaftlicher Stimulanz: Öffentliche Investitionen in die Infrastruktur und private Nachfrage, die Wachstum erzeugen könnten, fallen geringer aus oder unterbleiben ganz, und der Abwärtstrend verschärft sich. Für die griechische Gesellschaft hat dieser durch die Austerität massiv verstärkte wirtschaftliche Niedergang gravierende Folgen. Die Arbeitslosigkeit erreicht immer neue Rekordmarken, immer mehr Menschen fehlt der Zugang zu medizinischer Versorgung. Teilweise kommt es zu einer regelrechten Verelendung. Die Hilfsorganisation Oxfam warnt, bei einer Fortsetzung der Austeritätspolitik könnten bis 2025 weitere 15 bis 25 Millionen Europäer in die Armut stürzen.

Gravierende Folgen hat die Sparpolitik auch in politischer Hinsicht. Die etablierten Parteien haben massiv an Legitimität eingebüßt. Drei Viertel der Griechen sind unzufrieden mit der Krisenpolitik ihrer Regierung, so eine Untersuchung des Pew Research Centers von 2013. Und 95 Prozent von ihnen sagen, das Wirtschaftssystem bevorzuge die Reichen. Ministerpräsident Papandreou trat über den Austeritätskurs zurück, seine Sozialdemokraten verloren bei den Parlamentswahlen im Mai und Juni 2012 in historischem Ausmaß und erzielen in jüngsten Umfragen nur noch einstellige Ergebnisse.

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Gleichzeitig erstarkte die neofaschistische "Goldene Morgenröte" von einer unbedeutenden Splitterpartei zur aktuell fünftstärksten Kraft im Parlament. Ganz abgesehen von der Frage der Verantwortung: Politisch wie sozial steht die griechische Gesellschaft vor der Zerreißprobe.

Literatur

Liz Alderman, Jack Ewing: Most Aid To Circles Back, New York Times, 30.05.2012

Klaus Busch: Scheitert der Euro? Strukturprobleme und Politikversagen bringen Europa an den Abgrund. Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2012

European Commission/Directorate-General for Economic and Financial Affairs: The Economic Adjustment Programme for Greece, Occasional Papers No. 61, Brüssel 2010

Gallup: Debating Europe Poll: Austerity Policies, 2013

IMF: Greece. Ex Post Evaluation of Exceptional Access under the 2010 Stand-By-Arrangement. Washington 2013

Lawrence King, Michael Kitson, Sue Konzelmann, Frank Wilkinson: Making the same mistake again —or is this time different?, Cambridge Journal of Economics 36 (1), Januar 2012, S. 1-15

Matsaganis, Manos: The Greek Crisis: Social Impact and Policy Responses. Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2013

Paul Krugmans Kolumnen in der New York Times (http://krugman.blogs.nytimes.com/)

Oxfam: A Cautionary Tale. The true cost of austerity and inequality in Europe. Oxford 2013Pew Research Center: The New Sick Man of Europe: the European Union. Washington 2013

Yanis Varoufakis’ Blog (http://yanisvaroufakis.eu/)

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Steffen Vogel für bpb.de

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Schulden und Schuld - die Euro-Krise aus der Perspektive der Medien

Von Michalis Pantelouris 3.2.2014 Jahrgang 1974, ehemaiger Bild-Reporter, heute freier Journalist und Blogger, ist Sohn einer Deutschen und eines Griechen. Er lebt mit Frau und Kindern in Hamburg und im Internet unter pantelouris.de(http://www.pantelouris.de).

"Betrüger in der Euro-Zone": Eine mit "Stinkefinger" ausgestattete Venus von Milos zierte im Oktober 2010 das Cover des "Focus". Und bildete den Auftakt einer langen und einseitigen Kampagne in verschiedenen deutschen Medien, in der die Griechen oft nur noch als "Pleite- Griechen" bezeichnet wurden. Michalis Pantelouris sieht die nationalen Vorurteile allerdings bis in die Sphären der hohen Politik reichen.

Mit diesem Titelbild löste der "Focus" einen Medienstreit zwischen den Ländern aus. (© picture-alliance/dpa)

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 25 Symboliken und Koliken

Genau genommen weiß niemand, wie die Venus von Milos ihre Hände hielt. Die Arme der mehr als 2000 Jahre alten Statue sind nie gefunden worden. Eher unwahrscheinlich ist, dass sie aussah wie sie die Grafiker des Magazins Focus im Februar 2010 auf dem Titelblatt darstellten: Mit ausgestrecktem Mittelfinger. Diese internationale Geste dafür, dass man seinem Gegenüber so deutlich wie möglich den Respekt versagt, stand unter der Schlagzeile "Betrüger in der Euro-Zone". Für die Griechen, die zu den Symbolen ihrer Nation eine enge, emotionale Beziehung haben, war das eine furchtbare Beleidigung (die sogar – völlig fruchtlose – Gerichtsprozesse nach sich zog). Die Symbolik des Titels, in der die Venus wahrscheinlich eher stellvertretend für "die Griechen" stehen sollte, die der Euro- Familie den Finger zeigen, wurde in Griechenland instinktiv als Verhöhnung eines nationalen Symbols verstanden, einer nationalen Reliquie – mithin des ganzen Landes.

Medienhetze

Der Magazintitel bildete zugleich den Auftakt einer langen und einseitigen Kampagne in verschiedenen deutschen Medien – angeführt von der größten deutschen Zeitung, der Bild –, in der die Griechen oft nur noch als "Pleite-Griechen" bezeichnet wurden. Für den normalen Zeitungsleser in Deutschland musste dadurch der Eindruck entstehen, die finanziellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Euro-Zone wären vornehmlich durch eine grassierende Korruption in einem Land entstanden, das zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 2,8 Prozent der Wirtschaftskraft der Eurozone ausmachte – in etwa so viel wie das deutsche Bundesland Hessen. Schnell schlossen sich Politiker aus der zweiten und dritten Reihe der populären Stimmung an und überboten sich gegenseitig mit harschen Forderungen. Der damalige CSU-Landesgruppenchef und spätere Innenminister Hans-Peter Friedrich zum Beispiel forderte das Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone.[1] Die Euro-Krise wurde aus der Perspektive deutscher Medien, und damit letztlich auch der deutschen Öffentlichkeit, vor allem zu einer "Griechenland-Krise" umgedeutet – ausgelöst durch "die Griechen", die auf Kosten anderer Länder ein arbeitsarmes (nicht arbeitsames!) Leben auf der satten Basis von "Luxus-Renten"[2] führten.

Die Macht der Bilder

Einen ihrer traurigen Tiefpunkte erreichte die lautstark von der größten deutschen Zeitung angeführte Kampagne im Oktober 2010, als Politiker aus den hinteren Bänken des Bundestages schlagzeilenträchtig in der Bild fordern durften: "Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen!"[3] So groß die suggestive Macht dieser Bilder war, so konsequent konnte sie auf der jeweils anderen Seite falsch verstanden werden. Ende April 2010 verkündete der damalige – und damals frisch angetretene – griechische Ministerpräsident Andreas Papandreou, Griechenland wäre ohne Hilfe nicht länger in der Lage, die hohen Zinsen für seine Staatsanleihen zu bedienen. Als Schauplatz für die Verkündung dieser bitteren Wahrheit wählte er die Insel Kastelorizo, den östlichsten Flecken der griechischen Inselwelt, weiter als jeder andere bewohnte Ort Griechenlands von Athen entfernt. Der Ort war bewusst gewählt: Zusammen mit der Ankündigung drastischer Spar- und Reformmaßnahmen wollte Papandreou schon durch die Kulisse zeigen, dass eine lange, harte Reise bevorstände, sogar von einer "Odyssee" sprach er: "Aber wir kennen den Weg nach Ithaka." Das wunderschöne Kastelorizo, drei Kilometer vor der türkischen Küste, muss in seinen Augen der perfekte symbolische Ort für den Start einer solchen Irrfahrt gewesen sein.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 26 Falschverbunden

In den deutschen Medien verstand man die Symbolik indessen anders. Von dem "Hilferuf vor malerischer Kulisse" war in der Frankfurter Allgemeinen die Rede[4], und der Bericht der Bild-Zeitung ist geradezu ein Monument des Missverstehens[5]: "Beim Zeus: Was hatte der Regierungs-Chef der Pleite-Griechen in diesen Tagen auf der entlegendsten Insel seines Staates verloren? Warum kämpfte er nicht in Athen gegen die Schulden?", schreibt Jan Friedrich Esser, "Insel-Hopping […] statt Haushaltssanierung in Athen! Aber warum denn bitte jetzt? In der größten Krise der europäischen Währungsunion! Ausgelöst durch Griechenlands Schulden!"

Viel besser kann man es nicht zuspitzen, als dieser Leitartikel in der größten deutschen Zeitung, der in polemischer Absicht unterstellte, der griechische Ministerpräsident würde die Probleme absichtlich herunterspielen, weil er seine Maßnahmen nicht vom Schreibtisch aus verkündet. Mit der ganzen Wirkmacht der Bild-Zeitung wurde unter den deutschen Lesern so der Eindruck verbreitet, die Griechen hätten den Ernst ihrer eigenen Lage nicht verstanden. Die Botschaft, die von Papandreou beabsichtigt war, und in Griechenland auch verstanden wurde, dagegen war: Uns stehen harte Zeiten bevor!

Den Spieß umdrehen

Siegesgöttin mit Hakenkreuz in der griechischen Tageszeitung "Eleftheros Typos". (© picture-alliance/dpa) In den Monaten danach fanden griechische Boulevard-Medien mithilfe von Demonstranten ihren Weg, eigene Provokationen in Richtung Deutschland zu senden. Bereits als direkte Antwort auf besagten Focus-Titel hatte die Zeitung Eleftheros Typos den "reizenden" Versuch unternommen, deutsche Wahrzeichen per Fotomontage mit Hakenkreuzen zu versehen. Die Provokation versandete praktisch unbeachtet – ein deutliches Zeichen dafür, dass es in Deutschland eine ähnlich emotionale Bindung an die nationalen Symbole des Landes nicht gibt. Eine Fotomontage mit dem Engel – der "Gold-Else " – auf der Siegessäule? Ein Berliner mag das vielleicht geschmacklos finden, wirklich beleidigen lässt er sich davon aber nicht.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 27 Besetzungs-Phantasien

Dennoch fanden die Hakenkreuze ihren Weg in die öffentliche Debatte: Bei Protesten gegen die Sparvorschriften der "Troika" aus EU, Internationalem Währungsfond und Europäischer Zentralbank trugen Demonstranten vor dem griechischen Parlament eine EU-Flagge, in deren Sternenkreis sie ein Hakenkreuz gemalt hatten. Für Europäer muss die Symbolik eigentlich unverständlich bleiben: Dass ein Vielvölkerbund wie die Europäische Union mit einem rassistischen Faschismus in Verbindung gebracht wird, ergibt eigentlich keinen Sinn. Allerdings wird das Symbol in Griechenland grundsätzlich anders verstanden als in Deutschland: Eine Flagge mit einem Hakenkreuz gilt in dem Land, das während des Zweiten Weltkriegs von der Wehrmacht besetzt wurde, als Chiffre jedweder "Besatzung ". Die Botschaft der Demonstranten vor dem griechischen Parlament war also nicht "Die EU ist eine Nazi-Organisation", sondern vielmehr "Die EU besetzt uns" – eine angesichts der von außen aufgedrückten Spar-Vorschriften sicher polemische, aber auch nicht völlig aus der Luft gegriffene Behauptung. Die Berichterstattung in Deutschland hingegen fühlte sich bestätigt: "Mit dem Hakenkreuz verhöhnen die Griechen Europa", schrieb Bild, "und kriegen trotzdem Milliarden."[6]

Accessoires des Augenblicks

Erst Monate später setzten griechische Zeitungen die deutsche Politikerin Angela Merkel selbst mit Nazi-Symbolen in Verbindung – ganz offensichtlich, weil sie bemerkten, dass sie auf diese Weise in der deutschen Berichterstattung endlich doch noch Aufsehen erregten. Seit dem Beginn der Krise ist in Griechenland die internationale Presseschau – also der Blick darauf, was in anderen Ländern und vor allem in Deutschland über Griechenland geschrieben und gesendet wird – Teil der Hauptnachrichten. Jeder Demonstrant vor dem griechischen Parlament weiß spätestens am Morgen danach, welches Bild es in die deutschen Zeitungen "geschafft" hat. So wurde das Hakenkreuz, gemeinsam mit Bildern, auf denen Merkel ein Hitlerbärtchen oder eine Nazi-Uniform ziert, bei einer kleinen aber lauten Minderheit der Demonstranten zum Accessoire des Augenblicks.

Aufeinander eingeschossen

Wie international die Finanzkrise auch immer war: Mit dem Auftauchen der überschriebenen EU-Fahne konzentrierte sich der Protest in Griechenland so sehr auf Deutschland, wie sich die deutsche Berichterstattung (und in der Folge die öffentliche Meinung) bei der Krise auf Griechenland fixiert hatte. So kommen Irland und Portugal in der Krisen-Berichterstattung fast nicht vor – auch deshalb, weil es kaum greifbare Symbole für ihre Krise gibt. In Spanien stehen wenigstens Bauruinen pompöser Urlaubsanlagen, die man fotografieren und zu Ikonen der spanischen Krise stilisieren kann. Was sich nicht in Bildern erklären lässt, dringt in dieser Krise kaum durch. Das ist um so gefährlicher, da viele der Bilder, die unsere Vorstellungswelt "besetzen", auf Vorurteilen basieren.

Klischees vom Anderen

So erklärte die Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer später viel kritisierten Rede vor Parteifreunden noch 2011 mit Blick auf die Eurokrise[7]: "Es geht auch darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen." Und ein paar Sentenzen später: "Wir können nicht eine Währung haben und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig. Das geht auf Dauer auch nicht zusammen." Die Worte entsprachen offensichtlich ihrem – von vielen Deutschen geteilten, nicht ganz neidlosen Gefühl – Südeuropäer machten sich einfach ein schönes Leben. Mag sein, dass es mit der protestantischen Arbeitsethik Nordeuropas zusammenhängt, jedenfalls scheint man hierzulande noch immer tief überzeugt, dass wer Schulden hat, auch irgendeine "Schuld" auf sich geladen haben müsse (im Englischen sind dagegen "debt" und "guilt" zwei völlig verschiedene Begriffe). Mit anderen Worten: während "wir" tugendhaft, tüchtig und fleißig sind, haben "die" schuldigen Schuldenmacher nichts anders verdient, als Strafe.

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Realitätscheck

Mit den echten Zahlen hat dieses Gefühl indes nichts zu tun. In den von Merkel genannten Kerndaten einer (Lebens-) Arbeitszeit liegt Deutschland tatsächlich sogar hinter den genannten Ländern.[8] Die Wochenzeitung Die Zeit nannte Merkels Behauptungen deshalb spitz "Das Märchen vom faulen Portugiesen"[9]. So ließe sich eine Argumentationsfigur aufdecken, die mit der "Stinkefinger"- Berichterstattung des Focus anhebt – mit der suggeriert wurde, "die Griechen" würden als levantinische Hochstapler auf Kosten anderer leben und sie dafür noch verhöhnen – und die bis in die Sphäre der hohen Politik reicht, welche ebenfalls nicht ganz frei zu sein scheint von nationalem Vorurteil.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Michalis Pantelouris für bpb.de

Fußnoten

1. http://www.bild.de/politik/wirtschaft/kohle/wie-viel-kohle-sollen-wir-noch-ins-land-pumpen-12330676. bild.html (http://www.bild.de/politik/wirtschaft/kohle/wie-viel-kohle-sollen-wir-noch-ins-land-pumpen-12330676. bild.html) 2. http://www.bild.de/politik/wirtschaft/griechenland/wir-zahlen-luxus-rente-mit-milliarden-hilfe-12338430. bild.html (http://www.bild.de/politik/wirtschaft/griechenland/wir-zahlen-luxus-rente-mit-milliarden- hilfe-12338430.bild.html) 3. http://www.bild.de/politik/wirtschaft/griechenland-krise/regierung-athen-sparen-verkauft-inseln-pleite- akropolis-11692338.bild.html (http://www.bild.de/politik/wirtschaft/griechenland-krise/regierung- athen-sparen-verkauft-inseln-pleite-akropolis-11692338.bild.html) 4. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/griechenlands-bitteres-gestaendnis-hilferuf-vor-malerischer- kulisse-1966754.html (http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/griechenlands-bitteres-gestaendnis- hilferuf-vor-malerischer-kulisse-1966754.html) 5. http://www.bild.de/politik/wirtschaft/nachricht/papandreou-vor-traumkulisse-mit-schock-nachricht-12335188. bild.html (http://www.bild.de/politik/wirtschaft/nachricht/papandreou-vor-traumkulisse-mit-schock- nachricht-12335188.bild.html) 6. http://www.bild.de/politik/ausland/griechenland-krise/griechen-verhoehnen-europa-und-kriegen- milliarden-18234834.bild.html (http://www.bild.de/politik/ausland/griechenland-krise/griechen-verhoehnen- europa-und-kriegen-milliarden-18234834.bild.html) 7. http://www.sueddeutsche.de/geld/angela-merkel-kritik-an-verschuldeten-eurolaender-ausflug-ins- populistische-1.1098887 (http://www.sueddeutsche.de/geld/angela-merkel-kritik-an-verschuldeten- eurolaender-ausflug-ins-populistische-1.1098887) 8. Nach dem Report der 26 OECD-Länder aus dem Jahre 2011 weist Deutschland mit 25,6 Stunden dabei die geringste wöchentliche Durchschnittsarbeitszeit in ganz Europa auf. http://stats.oecd. org/Index.aspx?DataSetCode=ANHRS. (http://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=ANHRS.) Vgl. auch http://www.nbcnews.com/business/countries-where-people-work-least-915292 (http:// www.nbcnews.com/business/countries-where-people-work-least-915292) 9. http://www.zeit.de/wirtschaft/2011-05/merkel-krisenstaaten-rente (http://www.zeit.de/wirtschaft/2011-05/ merkel-krisenstaaten-rente)

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Schwarz-Weiß-Malerei – Stereotypen und ihre Hinterfragung im griechisch-deutschen Mediendialog

Von Dr. Georg Tzogopoulos 25.6.2014 ist Journalist, Mitarbeiter der Griechischen Stiftung für Europäische und Auswärtige Politik (ELIAMEP) und Kolumnist an Global Times (China). Seine jüngst erschienene Monographie The Greek Crisis in the Media. Stereotyping in the International Press (Ashgate 2013) liefert einen einschlägigen Forschungsbeitrag zur öffentlichen Wahrnehmung der Griechenlandkrise.

Georg Tzogopoulos meint, dass griechische Politiker wohl unfähig oder unwillig seien, eine effiziente Reformpolitik durchzuführen. Sie interpretierten die Politik der Reformen als Forderung aus dem Ausland und übernähmen damit keine Eigenverantwortung. Die griechischen Medien hätten diese Logik der Politiker nicht nur ungenügend kritisiert, sondern auch akzeptiert und reproduziert.

Im Mai 2012 wählt das politische Magazin "Crash" ein Titelbild, auf dem die Venus von Milos der Bundeskanzlerin den hochgestreckten Mittelfinger zeigt. Im Februar 2010 hatte der "Focus" unter dem Titel "Betrüger in der Euro- Familie" dieses Motiv in die mediale Auseinadersetzung eingebracht und damit eine Kontroverse ausgelöst. (© picture- alliance/dpa)

Der ehemalige Chefredakteur der Financial Times Richard Lambert argumentierte im Jahre 2003, Medien könnten die Meinung ihrer Leser sowohl wiederspiegeln als auch verstärken. Besonders augenfällig wird diese Doppelrolle der Medien angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise und aller damit einhergehenden griechisch-deutschen Missverständnisse.[1] In der heutigen Berichterstattung sind

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 30 negative Einstellungen und Stereotypisierungen sehr gängig. Eine Analyse der Meinungsumfragen in beiden Ländern mag diese Tendenz verdeutlichen.

Um das Bild Deutschlands in Griechenland zu analysieren, bietet die VPRC Umfrage vom Februar 2012 eine aussagekräftige Diskussionsgrundlage.[2] Laut dieser Umfrage verbinden immerhin 32,4 % aller Griechen Deutschland in irgendeiner Form mit Hitler, dem Nationalsozialismus und dem Dritten Reich, während ganze 79 % der Griechen die Rolle Berlins gegenüber ihrer Heimat als "negativ" oder 76% sogar als "feindlich" einschätzen. Bei 81 % der Befragten findet sich eine negative Einstellung der Bundeskanzlerin Merkel gegenüber. Es ist auch bemerkenswert, dass 91 % der Griechen mit dem Anspruch auf die Zahlung der Kriegsreparationen von Deutschland einverstanden sind, und dass 77 % ein ‘Viertes Reich’ in Deutschlands Aspirationen sehen.

Mit Blick auf die in Deutschland zirkulierenden Griechenland-Bilder kommt die Harris Interactive Umfrage vom August 2012 zu interessanten Ergebnissen.[3], August 2012, im Juni 2014 besucht worden. Laut dieser Umfrage glauben nur 54 % der Befragten in Deutschland, dass Griechenland in der gemeinsamen Währungsunion bleiben soll, während 19 % darüber unsicher sind. Ausserdem möchten nur 26 % der Deutschen, dass die Mitglieder der Eurozone mehr tun sollen, um Griechenland zu helfen. 74 % der Befragten schließlich sind nicht überzeugt, dass Griechenland seine Rettungskredite zurückzahlen wird.

Es ist offensichtlich, dass die griechisch-deutschen Beziehungen unter den Vorzeichen der Wirtschaftskrise in eine "Krise der Kommunikation" geraten sind. Auf der einen Seite betrachtet die Mehrheit der Griechen Deutschland als verantwortlich für die Krise und insbesondere den Sparkurs, der in Griechenland so schmerzhaft empfunden wird. Auf der anderen Seite sehen viele Deutsche Griechenland sorgenvoll als einen Sonderfall in Europa, der die Fortexistenz der gesamten Eurozone bedroht: ein Widerspruch der unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen, der sich für ganz Europa als kritisch erweiset. Denn eine weitere europäische Integration kann nicht erreicht werden, wenn die öffentliche Meinung in den verschiedenen Ländern über diese Verwerfungen hinaus keine gemeinsame europäische Identität mehr ausprägen kann.

Gemäß der Hauptlogik der europäischen Architektur arbeiten verschiedene Staaten zusammen, um gemeinsame Ziele zu verwicklichen. Allerdings hat dieses Leitbild der "Zusammenarbeit" in der Krise tiefe Risse bekommen. Sind die Griechen mit der deutschen Unterstützung zufrieden? Sind die Deutschen mit den Hilfspaketen für Griechenland einverstanden? Die Antworten fallen negativ aus. Stattdessen glaubt die Mehrheit der Griechen, dass Deutschland seinen ökonomischen Einfluss in ihrem Land ausbaut. Und die Mehrheit der Deutschen fühlt sich frustriert, weil Griechenland sich als unwillig oder unfähig erweist, das deutsche Model zu imitieren.

Die Berichterstattung

Viele Medien in Griechenland und Deutschland haben den Anstieg der Spannungen zwischen den Ländern von dem Ausbruch der Krise bis zum Sommer 2012 beeinflusst. Einige Beispiele mögen diesen "Krieg der Bilder" verdeutlichen. Im Februar 2010 porträtierte das Deckblatt der Zeitschrift Focus die griechische Göttin Aphrodite von Melos als Bettlerin. Die sofortige Reaktion von Eleftheros Typos war entsprechend[4]; Die griechische Zeitung veröffentlichte ein Bild der Victoria-Statue auf dem Brandenburger Tor, die statt einer Fackel ein Hakenkreuz in die Höhe hielt. Seither hat das negative Klima der Berichterstattung auch den kulturellen, ja selbst den sportlichen Bereich durchdrungen. Als Griechenland und Deutschland für das Viertelfinale der Europameisterschaft im Juni 2012 gegeneinander antraten, sahen griechische Medien das Spiel als politischen Schaukampf[5], deutsche Zeitungen publizierten in der Folge ironische Artikel.[6]

Erschwert wurde das Problem durch die häufig unreflektierte und unkritische Übernahme problematischer Aspekte und "Spitzen" dieser polemischen Berichterstattung durch anderen Medien und das Internet. Das Deckblatt von Focus beispielsweise zirkulierte immer weiter als Chiffre für eine

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 31 angeblich grundsätzliche deutsche Feindseligkeit gegenüber Griechenland. Kommentare der griechischen Politiker und Reaktionen gegen Berlin sind ebenso in vielen deutschen Medien als Zeichen ihrer angeblichen Undankbarkeit - trotz der finanziellen Unterstützung - regelmäßig hochgespielt worden. Dagegen finden sich alle positiven Aspekte dieser alten kulturellen Verbundenheit nur selten produziert oder reproduziert. Und somit bestätigt auch diese Berichterstattung der Krise einmal mehr die Hauptregel der politischen Kommunikationwissenschaft: Only bad news are good news. Neue Entwicklungen

Seit August 2012 begannen einige Medien in Griechenland wie auch in Deuschland ihre voreingenommene Haltung gegenüber dem jeweils anderen Land wieder zu mildern bzw. auszudifferenzieren. Offenbar hatte ‘Grexit’ – also die Möglichkeit eines Ausscheidens Griechenlands aus der EU nach der griechischen Wahl von Juni 2012 – keinen Platz auf der europäischen Agenda gefunden. Das Interview, das der griechische Ministerpräsident Antonis Samaras am 22. August der Bild gegeben hat[7], markiert den Anfang dieser relativen Entspannung in der deutsch-griechischen Berichterstattung. Im Gespräch mit der Zeitung versuchte Herr Samaras einer neuen Kommunikationsstrategie zu folgen, wonach Griechenland nun vor allem daran gelegen sei, " gemeinsam mit Deutschland" für das "Wohl Europas" zu arbeiten. Ein paar Tage später traf sich der griechische Ministerpräsident den Mitgliedern der Bild-Redaktion Kai Diekmann, Nikolaus Blome und Paul Ronzheimer in Berlin.[8] Bereits im August 2011 hatte Herr Samaras auch der Süddeutschen Zeitung ein Interview gegeben, um in der deutschen Öffentlichkeit eine griechische Standortbestimmung zu versuchen.[9]

Auch die Echos in den griechischen Medien vielen nun positiver aus. Nach einigen Aussagen von deutschen Politikern zur Unterstützung Griechenlands – hier sei nur an die kalkuliert emotionale Äusserung von Bundeskanzlerin Merkel erinnert, ihr "Herz blutete" angesichts der Not in Griechenland berichtete TA NEA zustimmend über einen Perspektivwechsel in der deutschen Berichterstattung. Die Tageszeitung veröffentlichte außerdem zwei Merkel-Karikaturen, die ebenfalls die Annäherung zeigen [10]: Die erste zeigte die deutsche Kanzlerin im traditionellen Griechen-Gewand und mit griechischer Fahne gerüstet; in der anderen Zeichnung vergoss die Kanzlerin Tränen, da sie das griechische Drama zu bemerken angefangen hatte. Im letzten Fall empfahl die Chefredaktion von TA NEA augenzwinkernd: ‘Macht es wie die Kanzlerin’.[11]

Die hoffnungsvollen Zeichen der Berichterstattung seit August 2012 haben eine Verbesserung angedeutet. Allerdings hat diese Aufhellung der Stimmung die Missverständnisse des griechisch- deutschen Verhältnisses nicht wirklich aus der Welt geschafft. Deutschland behält in Griechenland sein Negativ-Image. Obwohl es immer wieder Ausnahmen gibt: Die Mehrheit der Journalisten setzt ihr Vertrauen nicht in Deutschland. Der Kolumnist George Delastik zum Beispiel unterminierte die Bedeutung des ersten offiziellen Treffens von Herrn Samaras in Berlin und diagnostizierte, Deutschland werde nun wieder mehr Druck auf Griechenland ausüben.[12] Als Kanzlerin Merkel Athen im Oktober 2012 besuchte, begrüsste sie die Proto Thema Zeitung in alter Reflexhaltung mit dem Wort ‘Heil’. Ausserdem haben manche Demonstranten die deutsche Fahne in Brand gesteckt, während die Protestierenden selbst sich in Nazi-Uniformen präsentierten. Auf diese Weise "protestierten" die Demonstranten auch gegen den Griechenlandbesuch von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Juli 2013 in Athen. Mit Schlagzeilen wie "WANTED" stellen griechische Boulevardmagazine wie Crash einflussreiche deutsche Politiker wie Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble nach wie vor gern an den Pranger.[13]

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 32 Die Rolle der Medien

Die ganze Debatte über die Rolle der Medien ist ergänzungsbedürftig. Obgleich Journalisten eine Feindschaft zwischen Griechenland und Deutschland zweifellos häufig geschürt haben, stellt sich doch die kritische Frage: Wer oder was hat sie dazu verleitet? Normalerweise folgen die Medien in Krisenzeiten den politischen Eliten. Das ist auch im laufenden Drama Griechenlands nicht anders. Viele Griechische Politiker haben Deutschland für die Krise des Landes verantwortlich gemacht und auch das Thema der Kriegsreparationen betont – nicht zuletzt, um von der eigenen Verantwortung für die eklatante Misswirtschaft in Griechenland selbst abzulenken. Hätten die Journalisten diese Debatten ignorieren können? Wäre es ihnen nicht möglich gewesen, die Schuldzuweisungen ihrer Politiker zu hinterfragen?

Die Hauptaufgabe der Journalisten ist die Berichterstattung. Trotz aller Übertreibungen sind Journalisten darum nur teilweise für die sich vertiefenden griechisch-deutschen Missverständnisse verantwortlich. Das gilt auch von deutscher Seite. Als Bild zum Beispiel den Verkauf der griechischen Inseln und der Akropolis vorschlug, bezog sich die Zeitung bloß auf die Ansicht des CDU-Politiker Josef Schlarmann, ein bankrottes Land müsse eben alles tun, um seine Schulden zu bedienen.[14] In der Aufforderung, gewissermaßen die "heiligen Kühe" der alten griechischen Kulturnation zu schlachten, wollten die griechischen Medien wiederum eine gezielte deutsche Provokation sehen - erneut ein willkommener Anlass, mit einem gerüttelten Maß Anti-Germanismus zu reagieren. Ironischerweise hat die Partei Nea Dimokratia selbst den Politiker Gerasimos Giakoumatos später ermutigt, die Akropolis zu vermieten.[15] Weiterhin hat das griechische Parlament ein Gremium gegründet, das laufend über die Kriegsreparationen recherchiert und diskutiert.

Die Rolle der Politik

Die negativen Stereotypisierungen Deutschlands in Griechenland können nicht tiefgreifend begriffen werden, ohne die Kommunikationsstrategien griechischer Politiker, also gewissermaßen die " Innenpolitik" mit ins Kalkül zu ziehen. Es ist leicht und "billig", Berlin die Schuld für den langsamen Tod der griechischen Wirtschaft zu geben. Das ‘Memorandum of Understanding’ enthält viele Anregungen, wie Griechenland die Krise überwinden, seine Wirtschaft modernisieren und die staatliche Verwaltung umstrukturieren kann. Die Reform des Justizsystems und die Privatisierung von staatlichen Unternehmen sind zum Beispiel notwendige Voraussetzungen für eine ständige Erholung. Aber die griechischen Politiker konzentrieren sich in ihren öffentlichen Verlautbarungen besonders gern auf Sparmaßnahmen und Steuern.[16] Privatisierungen und der Kampf gegen Steuerhinterziehung und Korruption sind bisher - mit einigen Ausnahmen –Papiertiger geblieben. Es ist wichtig, das einzuräumen: Neue Runden von Sparmaßnahmen wurden erforderlich, weil die griechischen Behörden nicht richtig und rechtzeitig handelten.

Griechische Politiker scheinen unfähig oder unwillig, eine effiziente Reformpolitik durchzuführen. Sie interpretieren die Politik der Reformen als Forderung aus dem Ausland - vor allem aus Deutschland -, und übernehmen damit keine Eigenverantwortung.[17] Deswegen propagieren gerade auch linksextreme und rechtsradikale Parteien in Griechenland einfache Lösungen: sie behaupten, den Gordischen Knoten der Krise mit einem Hieb zu lösen. Die griechischen Medien haben diese Logik der Politiker ungenügend kritisiert. Im Gegenteil haben sie diese Taktik vielmehr akzeptiert und reproduziert. Die Folge ist, dass die Gesellschaft, die unter der Krise leidet, dieses Erklärungsmodell wiederholt und Deutschland als Inbegriff der Fremdherrschaft in Griechenland und in Europa hinstellt. Eine der letzten verfügbaren Umfragen zeigt, dass ganze 92 % der Befragten in Griechenland mit der deutschen Wirtschaftspolitik in Europa nicht zufrieden sind.[18] Gleichzeitig demonstriert diese Umfrage, dass die Mehrheit der Griechen gar keine Verbindung sieht zwischen den wirtschaftlichen Interessen ihres Landes und den Wirtschaftsinteressen Deutschlands. Angesichts der Wahlerfolge der AfD bei der Europawahl 2014 mag man mutmaßen, dass viele Deutsche das ähnlich sehen: Was aber sagt das über den Wirtschaftsraum Europa aus? Noch sitzt der Schock der Krise tief. Und der Weg, wieder gemeinsam Vertrauen zu setzen in die Einheit der Europäischen Union, ist lang.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Dr. Georg Tzogopoulos für bpb.de

Fußnoten

1. George Tzogopoulos, ‘Das griechisch-deutsche Missverständnis’, DGAPanalyse kompakt, September 2012, Nummer 8. 2. VPRC Umfrage, ‘Die Illustration von Deutschland und die deutsche Politik für die griechische Öffentliche Meinung’, verfügbar auf: http://www.vprc.gr (http://www.vprc.gr/uplds/File/teleytaia% 20nea/Epikaira/Graphs_German_Politics_VPRC_Feb12.pdf), Februar 2012, im Juni 2014 besucht worden. 3. Financial Times/Harris über die Eurokrise, verfügbar auf: http://www.ft.com (http://www.ft.com/intl/ cms/eb1b2004-f542-11e1-b120-00144feabdc0.pdf) 4. George Tzogopoulos, ‘Das griechisch-deutsche Missverständnis’, DGAPanalyse kompakt, September 2012, Nummer 8. 5. Am 22 Juni 2012 forderte die griechische Zeitung Sportday die griechischen Spieler auf, "effizient " und "stark" zu spielen, um Deutschland zur "Pleit"“ zu führen. 6. Bild, ‘Griechen giften gegen Deutscland’, verfügbar auf: http://www.bild.de (http://www.bild.de/ sport/fussball-em-2012-polen-ukraine/em-2012/griechen-giften-gegen-deutschland-24700614.bild. html), 17. Juni 2012, im Mai 2014 besucht worden. 7. Paul Ronzheimer, ‘Die Drachme wäre eine Katastophe für uns’, verfügbar auf: http://www.bild.de (http://www.bild.de/politik/ausland/antonis-samaras/griechenlands-premier-ueber-schulden-sparen- und-euroausstieg-25779000.bild.html), 22. August 2012, im Mai 2014 besucht worden. 8. Paul Ronzheimer and Daniel Biskup, ‘Sie wollte ich treffen, sagte Samaras zu Bild’, verfügbar auf: http://www.bild.de (http://www.bild.de/politik/inland/antonis-samaras/griechenland-premier-zu-besuch- bei-bild-25862838.bild.html), 25. August 2012, im Juni 2014 besucht worden. 9. Alexander Hagelüken and Christiane Schlötzer, ‘Die Deutschen bekommen ihr Geld zurück’, verfügbar auf: http://www.sueddeutsche.de (http://www.sueddeutsche.de/politik/griechenlands- premier-samaras-die-deutschen-bekommen-ihr-geld-zurueck-1.1447818), 22. August 2012, im Mai 2014 besucht worden. 10. Diese Zeichnungen sind auf den Deckblättern von TA NEA am10. September und 18. September 2012 publiziert worden. 11. TA NEA, ‘Macht es wie die Kanzlerin’, verfügbar auf: http://www.tanea.gr/ (http://www.tanea.gr/ kyrioarthro/?aid=4752876), 18. September 2012, im Mai 2014 besucht worden. 12. George Delastik, ‘Wie die Deutschen sich verhandeln’, verfügbar auf: http://www.ethnos.gr (http:// www.ethnos.gr/article.asp?catid=22792&subid=2&pubid=63703951), 28. August 2012, im Mai 2014 besucht worden. 13. Crash Zeitschrift, Deckblatt, April 2013. 14. Bild, ‘Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite Griechen’, verfügbar auf: http://www.bild.de/ (http://www. bild.de/politik/wirtschaft/griechenland-krise/regierung-athen-sparen-verkauft-inseln-pleite-akropolis-11692338. bild.html), 27. Oktober 2010, im Mai 2014 besucht worden. 15. Nikos Chassapopoulos, ‘Giakoumatos: Vermietet jetzt die Akropolis’, verfügbar auf: http://www. tovima.gr/ (http://www.tovima.gr/politics/article/?aid=437898), 9. Januar 2012, im Mai 2014 besucht worden. 16. George Tzogopoulos, ‘Is a Greek Success Story Possible?’, Südosteuropa Mitteilungen, 03-04/2013, Seiten 8-17. 17. George Tzogopoulos, ‘Time running out for Greece’, Südosteuropa Mitteilungen, 04/2013, Seiten 6-13. 18. Public Issue Umfrage, ‘Zufriedenheit mit der deutschen Politik in der Eurokrise’, verfügbar auf:

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http://www.publicissue.gr/2247/var-apr-2013-special_issue2/, 11. April 2013, im Juni 2014 besucht worden.

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Der "Schatz der Kommunen" – eine deutsch- griechische Erfolgsstory

Von Hans-Joachim Fuchtel 24.6.2014 Hans-Joachim Fuchtel, MdB, ist Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und Bundesbeauftragter für deutsch-griechische Beziehungen auf kommunaler Ebene ("Deutsch-Griechische Versammlung").

Der Bundesbeauftragte für deutsch-griechische Beziehungen auf kommunaler Ebene, Hans- Joachim Fuchtel, glaubt, dass die Deutsch-Griechische Versammlung Europa wieder stärker an den Wurzeln zusammenbinden werde. Die DGV habe sich zur Aufgabe gemacht, die konkrete Zusammenarbeit zwischen deutschen und griechischen Kommunen, Regionen und Bürgern zu fördern.

Subsidiarität und Solidarität sind elementare Grundsätze der Europäischen Union. In Zeiten der Krise diese Grundwerte zu leben und nach außen sichtbar zu machen verkörpert Gemeinsamkeit. Europa und der Euro sind eng miteinander verbunden. Doch Zahlen allein bilden nur Anhaltspunkte. Sie reichen nicht aus, um die gegenwärtige Situation in Griechenland richtig zu interpretieren. Europa lebt von dem Engagement seiner Menschen. Auf dieses Potenzial an Erfahrungen und Wissen greift die Deutsch-Griechische Versammlung (DGV) zurück und beschreitet damit neue Wege. Ein Lehrbuch dafür gab es nicht. Innerhalb weniger Jahre hat sich ein dynamisches Netzwerk aus Vertreterinnen und Vertretern von Kommunen und Zivilgesellschaft entwickelt. Grundlage der DGV ist die Vereinbarung zwischen Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und dem ehemaligen Ministerpräsidenten Georgios Papandreou vom 5. März 2010, deren Ziel die Vertiefung der bilateralen Zusammenarbeit in schwieriger Zeit ist.

Die anfänglich öffentlich unbeachtete Initiative greift auf, was unsere Großeltern schon wussten: Für jeden Topf gib es einen passenden Deckel. Auch in Europa! So hat sich die DGV zur Aufgabe gemacht, die konkrete Zusammenarbeit zwischen deutschen und griechischen Kommunen, Regionen und Bürgern zu fördern. Nicht die "hohe Politik" steht im Vordergrund, sondern die Bewältigung der mit Händen zu greifenden Probleme. Austausch zwischen deutschen und griechischen Kommunalpolitikern – im Rahmen von Bürgermeister- und Expertengesprächen – ist das Herzstück der DGV.

Gemeinsam entwickelten Griechen und Deutsche hierfür einen "Themenbaukasten" mit nachfrageorientierten Projekten und Maßnahmen. Mittlerweile wird ein breites Aufgabenfeld abgedeckt, das von Abfall- und Agrarwirtschaft, Ausbildung im dualen System (Fokus hier die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit) bis Tourismusförderung (insbesondere des Alternativtourismus und der Saisonverlängerung) reicht. Die Förderung lokalen Zivilengagements zählt ebenso dazu wie die Zusammenarbeit im Bereich der regionalen Energiekooperationen, sowie die Unterstützung der Anbahnung von Energiemaßnahmen oder "Best Practice - Angeboten" in der griechischen Verwaltung und in den Wirtschaftskammern. Mit den "Hellenic Silverstars" – einem Verein zur Aktivierung von in Griechenland im Ruhestand lebenden Rückkehrern aus Deutschland – wird die Arbeit der DGV zusätzlich bereichert.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 36 Die DGV als Netzwerk mit vielen Akteuren und Partnern in beiden Ländern

In diesem Dialogprozess erweisen sich die politischen Stiftungen vor Ort als hochwirksames Scharnier. Sie bilden Foren für neue Ideen und sind Mittler für gegenseitiges Verstehen. Ihr Wert wurde erst sichtbar, nachdem sie nach 2005 nicht mehr vertreten waren. Als Teil des Gesamtkonzepts für Griechenland sind sie seit 2012 wieder an Bord und haben Vertretungen im Land aufgebaut. Wichtige zentrale Plattform sind auch die jährlich stattfinden Deutsch-Griechischen Versammlungen - zuletzt die DGV IV in Nürnberg, unter dem Motto "Die Stadt der Zukunft" vom 22. bis 23. Oktober 2013 erstmals in Deutschland. Fast 500 deutsche und griechische Vertreterinnen und Vertreter aus Kommunen, Zivilgesellschaft und Wirtschaft erarbeiteten zukunftsorientierte Ansätze der Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene. Praxisbezogene Exkursionen beispielweise zu der Biogasanlage in Triesdorf oder der Kläranlage in Kalchreuth und vertiefende Workshops zu den von griechischer Seite gewünschten Themen (z.B. Strategien kommunalen Verwaltungsmanagements, Synergieeffekte in Landwirtschaft und Kommunen) bildeten die Schwerpunkte der DGV IV. Die gemeinsame Abschlusserklärung dokumentiert, dass beide Seiten von diesem Weg überzeugt sind. Sie begreifen ihn als ständigen, innovativen Prozess auf der Basis kommunaler Partnerschaft. Nichts unterstreicht diese Zustimmung mehr als die Anwesenheit von über 20 Prozent aller griechischen Bürgermeister. Die DGV V ist bereits in Planung und wird im Herbst 2014 auf Kreta stattfinden.

Eine tragende Rolle spielen auch die deutschen Vertretungen des Auswärtigen Amts in Athen und Thessaloniki. Engagiert unterstützen sie die Gesamtkoordinierung der Arbeit der DGV. Wichtige Impulse gehen von den Honorarkonsulaten aus, deren sehr gute Vernetzung vor Ort sich hier besonders bewährt. Auf der Ebene der Wirtschaft läuft die Verbindung sehr effektiv über die Deutsch-Griechische Industrie- und Handelskammer.

Von griechischer Seite erfolgt im gleichen Maße Unterstützung vom griechischen Innenministerium sowie dem Zentralverband der Kommunen in Griechenland (KEDE). Gemeinsam mit dem deutschen Beauftragten für die DGV ist es ihre Aufgabe, Probleme anzusprechen, den Kontakt zu den Verwaltungen und Ministerien auszubauen sowie die deutsch-griechische Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene in einen europäischen Kontext einzubetten. Werkzeuge der DGV: "Know-how"-Partnerschaften und Bürgermeisterbüros

Traditionelle Städtepartnerschaften drücken die Verbundenheit der Städte und Kommunen in der Regel nur sehr allgemein aus und stellen mitunter hohe formale Anforderungen an die Partner. Deswegen wurde für die Beziehungen zu den griechischen Kommunen und Regionen ein anderer Ansatz gewählt: Die "Know-how"-Partnerschaft. Sie zielt auf die themenspezifische Zusammenarbeit ab und wird in der Praxis nur eingeleitet, wenn auf griechischer Seite der ausdrückliche Wunsch dazu besteht. Dieser spezifische Ansatz ist in Europa weniger erprobt, wenn nicht sogar neu und zeichnet sich durch eine zeitgemäße Flexibilität aus. Im Vordergrund steht der projektbezogene Know-how-Transfer in zuvor definierten Themenfeldern. Die Partner gehen keine Bindungen mit Dauercharakter ein, was die Aufnahme von Kooperationen erheblich erleichtert und zu einer steigenden Nachfrage nach Know- how-Partnerschaften führte. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit kommt das menschliche Miteinander deutlich zum Tragen und zeigt, dass es sich hier nicht um bloße "Facebook-Freundschaften" handelt!

Grund für die positive Entwicklung ist die Erkenntnis, dass auf kommunaler und regionaler Ebene eine Vielfalt an Erfahrungen besteht, die beide Seiten abrufen können. Diesen "Schatz der Kommunen" für die jeweils andere Seite nutzbar zu machen, ist das Kernelement des DGV-Ansatzes. Das eigentlich Neue an diesem Weg ist, dass teuer erarbeitete Erfahrungsschätze dieser Art nochmals Verwendung finden und dort eingebracht werden, wo sie aktuell am meisten gebraucht werden. Die DGV versteht sich in diesem Sinne als Kooperationsplattform, die solche Know-how-Partnerschaften in einem übergeordneten Netzwerk einbindet, vermittelt und Kontakte herstellt. Die Hoffnung auf das Gelingen ist bereits mit eingeschlossen.

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Schnell hat die ganze Initiative eine Eigendynamik angenommen. Frühzeitig haben sich deutsche Bürgermeister, Landräte und Experten bereit erklärt, mitzumachen. Über 200 Einsätze und gegenseitige Begegnungen zeigen, welch hohe Bereitschaft dazu vorhanden ist. Besonders aktiv hierbei war der Baden-Württembergische Gemeindetag. Nach einem Aufruf des Präsidenten stellten sich sehr schnell über 80 Oberbürgermeister, Bürgermeister und Landräte zur ehrenamtlichen Mitwirkung zur Verfügung. Mittlerweile beteiligen sich erheblich mehr Kommunalvertreter/innen aus allen Bundesländern. In einer Vereinbarung mit der Vereinigung der Bürgermeister von Nordgriechenland wurde die Zusammenarbeit zwischen den deutschen und griechischen Bürgermeistern sogar förmlich beschlossen. Seit 2013 gibt es gemeinsame Bürgermeisterbüros in Athen und Thessaloniki – wohl einmalig in Europa. Mittlerweile wird die DGV von den kommunalen Spitzenverbänden, dem Landkreis- und Städtetag sowie vom Städte- und Gemeindebund unterstützt. Auf griechischer Seite ist neben dem Verband der griechischen Kommunen (KEDE) auch der Rat der Gouverneure aktiv beteiligt. Gemeinsam will man den Reformprozess Griechenlands Basis nah begleiten.

Einige Einblicke in die Arbeit der DGV: Von Athen über Naxos nach Heraklion

• Abfallwirtschaft ist unter Umwelt- und Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten ein Hauptproblem für griechische Kommunen. Mülltrennung ist unzureichend organisiert, Gebühren werden einzig nach Wohnfläche bestimmt und nach wie vor gibt es zahlreiche Deponien und Müllkippen, die dringend neu geordnet oder still gelegt werden müssen. Deshalb stehen Fragen nach integrierten Abfallwirtschaftskonzepten und der Müllverwertung an oberster Stelle der griechischen Kommunalpolitik.

Am Beispiel der Inseln Naxos und Ikaria wurden gemeinsam Konzepte für Abfallwirtschaft und Verbrennungsanlagen entwickelt. Die Besonderheit in Griechenland ist die große Anzahl der Inseln, die spezifische Lösungsansätze notwendig machen. Die Experten erarbeiteten Konzepte zur Neuordnung des Abfall- und Wertstoffmanagements mit integrierter Energiegewinnung. Energie kann beispielsweise in Form von Strom, Wärme oder der Meerwasserentsalzung gewonnen werden. Im Rahmen eines Pilotprojekts werden die Themen Müllvermeidung, Wertstofftrennung und Recycling, Kompostierung und energetische Verwertung nach der Phase der Konzeptionierung konkret und praktisch angegangen. Angedacht sind beispielsweise kleinere Müllverbrennungsanlagen auf einer der griechischen Inseln in der Süd-Ägäis. Mit Hilfe der EU-Strukturfonds können nun gemeinsam innovative Lösungswege gefunden und realisiert werden.

• Die Mitwirkung an der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit steht ebenfalls ständig auf der Tagesordnung. Gearbeitet wird am Aufbau von Berufsschulen. Aufeinander abgestimmte Kombinationen betrieblicher Praxis und schulischer Qualifikation in der dualen Ausbildung werden als ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Chancen der jungen Generation gesehen. Innerhalb von zwei Jahren setzten die Deutsch-Griechische Handelskammer, die DEKRA Akademie sowie führende Reiseunternehmen in Zusammenarbeit mit den zuständigen griechischen Ministerien und der griechischen Arbeitsverwaltung (OAED) die duale Idee in die Praxis um. Berufsschulen konnten bereits in Attika und in Heraklion aufgebaut werden, sie firmieren unter dem Namen " Mentoring Dual International" – kurz MENDI – als vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützte Pilotprojekte.

In diesen Berufsschulen werden nun fast 100 griechische Schülerinnen und Schüler im Alter von 18 bis 20 Jahren über drei Jahre zu Köchen, Hotel- und Restaurantfachleuten ausgebildet. Die bisherige zweijährige Ausbildung der OAED wird einbezogen und der praktische Teil der Ausbildung mit deutschen Know How verstärkt. Mit dem in Europa anerkannten Abschluss (IHK) verbessert sich die Arbeitssuche der Jugendlichen. Die duale Ausbildung bietet den Absolventen

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eine Alternative gegenüber bestehenden Ausbildungsgängen in Griechenland und ermöglicht in der Folge Existenzgründungen. Bereits im Vorfeld haben die Hotelvereinigungen beider Länder großes Interesse an den zukünftigen Absolventen angemeldet. Auf Grundlage dieser Initiative beabsichtigen OAED, unterstützt durch die Deutsch-Griechische Außenhandelskammer, die duale Ausbildung auch in anderen Berufszweigen stärker als bisher zu profilieren. Im Blick sind u.a. die Bereiche Landwirtschaft, Transport, Logistik, KFZ und Mechanik.

• In Griechenland gibt es gut ausgebildetes und trotzdem – vor allem im Winterhalbjahr – arbeitsloses Pflegepersonal. Bereits auf der ITB 2014 wurde das Pilotprojekt "PflegeUrlaub Rhodos" als ein völlig neues Tourismuskonzept für Griechenland vorgestellt. Pflegebedürftige und ihre pflegenden Angehörigen können die wohltuenden klimatischen Bedingungen der Süd-Ägäis nutzen, um unter optimalen pflegerischen und medizinischen Voraussetzungen gemeinsam mehr Lebensqualität zu erleben.

Diese neue Zielgruppe – Pflegebedürftige und pflegende Angehörige – soll für den griechischen Tourismus gewonnen werden und dabei gleichzeitig die Verlängerung der Tourismussaison unterstützen, indem der bisher weitgehend ungenutzte Zeitraum von November bis April anvisiert wird. Ferner zielt dieses Projekt auf die berufliche Qualifizierung im Bereich der Altenpflege und Geriatrie ab, für die es bislang keine Lehrpläne in Griechenland gibt. Mit der Unterstützung der deutschen Seite können ergänzende Ausbildungsmodule für örtliche Krankenpflegeschulen konzipiert werden.

• Die Bedeutung des Wandertourismus zur Saisonverlängerung findet sich zwischenzeitlich in schriftlichen Wanderführern – wo auch der Hinweis auf die zahlreichen Weingüter nicht fehlt. Auch hier haben sich Know-how-Partnerschaften bewährt. Auch in den Nischen des Tourismus wird gearbeitet. Jüngstes Beispiel sind geführte Wohnmobilreisen in Nordgriechenland.

• Die Exportquote in der Landwirtschaft stieg bereits 2013 erheblich an. Gemeinsame Arbeit am Zertifizierungsinstitut führte die griechischen Produkte zurück auf den Weltmarkt. Griechenland ist wieder auf den wichtigsten internationalen Messen vertreten. Die gemeinsamen Workshops – besonders Pilotprojekte wie die regionale Agrarförderung auf der Insel Lesbos – waren und sind ein Erfolg.

• In vielen Begegnungen von kommunalen Experten wurden Einzelbereiche der Verwaltung analysiert und effektivere Wege entwickelt – eine Aufgabe, die sicher noch längere Zeit aktuell bleiben wird.

• Jugendorientierte Maßnahmen sind in größerer Zahl auf dem Weg: Immer geht es um besseres Verstehen und Miteinander. Das Ganze soll im Blick auf Nachhaltigkeit letztlich in ein Deutsch- Griechisches Jugendwerk einmünden, dessen Errichtung die DGV aktiv unterstützt.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 39 Mit europäischem Blick nach vorne schauen

Als Brücke in einer schwierigen Zeit wird diese besondere deutsch-griechische Initiative vom Engagement vieler Akteure getragen. Mit der Deutsch-Griechischen Versammlung haben wir Neuland mit dem Ziel betreten, Europa wieder stärker an den Wurzeln zusammen zu binden. Wahre Freundschaft zielt nicht auf kurzsichtigen Erfolg ab. Sie ist weniger als Facebook-Freundschaft zu verstehen, sondern sollte, ganz im aristotelischen Sinne, das gesamte Leben umfassen und nicht bloß auf den Nutzen des Augenblicks gerichtet sein.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Hans-Joachim Fuchtel für bpb.de

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Das Feuer hinter den Bildern Die deutsch-griechischen Beziehungen – Zur Einführung

Von Manuel Gogos 15.1.2014 Dr. phil, geb. 1970 in Gummersbach, ist freier Autor und Ausstellungsmacher. Seine "Agentur für geistige Gastarbeit" firmiert in Bonn. www.geistige-gastarbeit.de(http://www.geistige-gastarbeit.de)

Lange Zeit waren die deutsch-griechischen Beziehungen von Verehrung getragen, dann plötzlich von Verachtung. Das Land, das Generationen großer deutscher Geister in Erregung versetzte: Für viele ist es heute nur noch der "kranke Mann" Europas.

Deutsche Graecomanie

Griechenland ist heute der "kranke Mann" Europas. Zugleich ist das Land ein Traum, der Generationen großer deutscher Geister in Erregung versetzte. Wie viele deutsche Schriftsteller waren erregt von der Philosophie des ägäischen Lichts, Gedanken des Mittags und der Schönheit, leichten Delirien, wie sie von Griechenlandschwärmern von Hölderlin bis Goethe überliefert sind. Im zweitem Teil trifft Faust im alten Palast von Sparta auf die schöne Helena – und treibt damit das deutsch-griechische Verhältnis einstweilen auf die Spitze:

Faust: Erst kniend laß die treue Widmung dir Gefallen, hohe Frau; die Hand, die mich an deine Seite hebt, laß mich sie küssen. Bestärke mich als Mitregenten deines grenzunbewußten Reichs, gewinne dir Verehrer, Diener, Wächter all' in einem!

Helena: Vielfache Wunder seh' ich, hör' ich an. Erstaunen trifft mich, fragen möcht' ich viel. Doch wünscht' ich Unterricht, warum die Rede des Manns mir seltsam klang, seltsam und freundlich. Ein Ton scheint sich dem andern zu bequemen, und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt, ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.[1] Bald schon haben Faust und Helena im arkadischen Hain – am Ort der heiteren Dichtkunst – aus ihrer Begeisterung für einander einen Sohn gezeugt, Euphorion, in dem sich der Geist der Antike dem nordisch-deutschen Geist vermählt. Auch wenn die Kopfgeburt nicht lange lebt, sich in schwindelnde Höhen schwingt und dann abstürzt, so dass der Gesang zerbricht – das deutsche Griechenlandfieber der Romantiker und der Klassiker war unstillbar, unheilbar, notorisch – und es war Legion. Im Fiebertraum zum Hort des Guten-Wahren-Schönen auserkoren wurde ein Land, das es in Wirklichkeit gar nicht gab. Im Sinne der Ebenbürtigkeit von Menschen und Göttern will Friedrich Schiller in Deutschland "das neue Griechenland der Zukunft" bauen. Auch für Friedrich Hölderlin ist Griechenland das Reich, in dem einst Götter und Menschen vertrauten Umgang miteinander pflegten, auch er betete die Griechen an: "O mir, mir beugte die Größe der Alten, wie ein Sturm, das Haupt... Ich liebte meine Heroen, wie eine Fliege das Licht." Es ist eine Art Heimweh nach Hellas, ein Ziehen nach den "alten seligen Küsten" hin. Hölderlin, einer der größten Griechenlandnarren aller Zeiten, hat sich im Jahre 1802 tatsächlich in einem verzweifelten, suizidartigen Versuch zu Fuß nach Griechenland aufgemacht. Als seine Expedition in den Schweizer

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Alpen jählings mit einem Straßenraub endet, da empfindet der Dichter des "Hyperion" den Überfall als göttliches Einschreiten, er fühlt sich von Apoll geschlagen, und er gibt seine Reisepläne auf – Friedrich Hölderlin, das erste tragische Opfer einer überspannten Griechenlandliebe.

Politischer Philhellenismus

Es waren gerade deutsche Philhellennen, die sich 1821 bei der Erhebung der Griechen gegen ihre osmanischen Herrscher in erklecklicher Zahl aufmachten, die "Hellenen" mit der Waffe in der Hand bei ihrem Freiheitskampf zu unterstützen. Im Londoner Protokoll vom 3. Februar 1830 erhält Griechenland seine volle Souveränität zurück. 1832 wird der siebzehnjährige Prinz Otto von Bayern zum König von Griechenland gekrönt, der europäische Philhellenismus tritt ins Stadium des " Staatsphilhellenismus" ein. Nach den Wirren des Befreiungskrieges sollen die Deutschen nun ein stabiles Führungs- und Herrschaftssystem durchsetzen. Letztlich ist dem bayerischen Entwicklungsprojekt des griechischen nation-buildings aber kein dauerhafter Erfolg beschieden. Zu sehr widerspricht Ottos Monarchismus der Mentalität der ehemaligen griechischen Freiheitskämpfer, 1843 wird der bayrische König gezwungen, einen verfassungsgebenden Nationalkongress einzuräumen, 1862 dankt er endgültig ab. Doch der Stachel des Philhellenismus steckt auch bei dem Monarchen tief. Nach seiner Heimkehr nach Bayern sieht man ihn in seinem Garten in der griechischen Nationaltracht, der Faltenrock-Fustanella, umhergeistern.

Ob König Otto in seinem bayrischen Exil, der Dichter Hölderlin in seinem Turm, ob Friedrich Nietzsches philosophischer Größenwahn – alle Griechenlandbegeisterten weisen eine ähnliche Symptomatik auf. Weshalb die englische Autorin Eliza Butler bereits in den 1930er Jahren von einer regelrechten " Tyrannei" Griechenlands über das deutsche Geistesleben gesprochen hat.

Die Besatzungszeit

So sehr es den Bildern von deutschen und griechischen Waffenbrüdern im Freiheitskampf gegen die Türken oder von geistverwandten Geistesgrößen zu widersprechen scheint: Im April 1941 wird Griechenland von der deutschen Wehrmacht brutal unterworfen, bis in den Herbst 1944 leidet das Land schwer unter der Besatzung. Allein im berüchtigten Kriegswinter 1941/42 verhungern in Athen Hundertausende auf offener Straße – Bilder, die tief sitzen im kollektiven Gedächtnis Griechenlands. Seit in der Sprache Goethes und Hölderlins Befehle gebellt wurden, geistern die Deutschen auch als ‚blonde Dämonen’ durch die griechische Erinnerung, als "Rudel aus dem Norden", als Wölfe, die in einer Mischung aus Wildheit und Kälte ihre Zähne blecken. Mögen einige dieser Züge auch negative Überstilisierungen sein, als Deutschlandbild in und nach dem Krieg waren und sind sie in Griechenland wirkmächtig.

Viele der deutschen Offiziere waren "humanistisch" gebildet, philhellenische Reflexe waren selbst noch unter den Wehrmachtssoldaten auszumachen. Beispielsweise da, wo sie sich am Strand von Griechenland ablichten ließen, propagandistische Bilder produzierten á la: "Wir sind die wahren Erben des antiken Griechenland." Solche Geschichtsklitterung war zunächst auch ganz im Sinne des "Führers ", galt Adolf Hitler doch selbst als Verehrer der klassischen Antike. Als sich aber der Widerstand der griechischen Partisanenverbände formierte, wurde Hitlers Chefideologe Alfred Rosenberg angehalten den Nachweis zu führen, dass der Hellene – "jene herrliche Rassenseele, die einst die Pallas Athene und den Apoll erschuf" – die Erde auf ewig verlassen habe. So wurde aus den Bewohnern des " unsterblichen Hellas" nun unvermittelt das "Sauvolk der Schieber, Nichtstuer und Korrupteure".

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 42 Sehnsuchtsorte

Mit dem deutsch-griechischen Anwerbeabkommen vom 30. März 1960, gerade einmal fünfzehn Jahre nach dem Ende der deutschen Besatzung, wird das Wirtschaftswunderland Deutschland für griechische Arbeitsmigranten zum Sehnsuchtsort: Dort würde endlich die elende Armut abgestreift werden können, dort liegt das Geld auf der Straße. Und es ist fast zur selben Zeit, dass auch Griechenland zum Sehnsuchtsort für deutsche Urlauber und Touristen wird: Dort in der griechischen Natur wird man endlich wieder das einfache Leben genießen, unter den dort lebenden Menschen das Authentische wiederfinden können. Die Migranten träumen von dem Land, wo Milch und Honig fließen, und auch das ganze Imaginäre des Tourismus basiert auf dieser Idee: Ein erfüllteres Leben anzubieten, jenseits der Faktenzwänge das Alltäglichen, einen Ort zu finden, wo die Zeit langsamer geht, an dem man einen quasi paradiesischer Zustand erleben kann. So verdichten sich mit Arbeitsmigration und Tourismus nachhaltig alle deutsch-griechischen Kulturkontakte. Und was Fiktion war – die Liebeshochzeit zwischen Faust und Helena – wird Wirklichkeit.

Europäische Solidarität

Griechenland wird ausgerechnet gegen Ende der 1960er bzw. am Anfang der 1970er Jahre als Hippie- Destination entdeckt, genau zu jener Zeit, während der die Militärjunta ihre Macht behauptet. Doch während in Griechenland selbst jede politische Opposition zum Schweigen verurteilt ist, kann sie sich in Deutschland im Umfeld der 68er-Bewegung lautstark artikulieren. Die Hymnen des griechischen Komponisten und linken Widerstandskämpfers Mikis Theodorakis werden von Studenten und Industriearbeitern europaweit gespielt und gesungen. Als sich der deutsche Enthüllungsjournalist Günter Wallraff in Solidarität mit den unterdrückten Griechen im Jahre 1974 am Athener Syntagma- Platz an einen Lichtmast kettet, da beruft er sich auf seine humanistische Bildung und die Lektüre der stoischen Philosophen, die ihm halfen, jene Schmerzen zu ertragen, die ihm der griechische Geheimdienst zugefügt hat.

Die Gegenwart

Die Griechen der ersten Gastarbeitergeneration und ihre Nachkommen sind angekommen, rund 350.000 von ihnen leben heute in Deutschland. Kinder griechischer Nationalität sind hinsichtlich der Beteiligung an der Gymnasialbildung sehr erfolgreich, auch an deutschen Hochschulen sind Griechen überdurchschnittlich stark vertreten. Die "zweite Generation" scheint stillschweigend einen "Marsch durch die Institutionen" angetreten zu haben: Man findet sie als Rechtsanwälte, als Pressesprecher oder Radioredakteure. Zugleich haben auch Deutsche Häuser an den Küsten des Mittelmeers erworben, auch diesen Weg nahmen über 50.000 Menschen. Dort sind Deutsche und Griechen jetzt, wie auch hierzulande, Nachbarn. Griechen und Deutsche sind durch unzählige Bande untrennbar miteinander verbunden. Und doch scheinen in der jüngsten Gegenwart die historisch gewachsenen deutsch-griechischen Beziehungen selbst auf dramatische Weise "in die Krise" geraten zu sein.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 43 Krisenstimmung

Wo einstmals die Griechenlandschwärmer von den Inseln der Ägäis fantasierten, sie seien aus Schaum geboren, da forderte die Bild-Zeitung jüngst: "Verkauft sie doch, eure Inseln". Auch wenn es in den deutschen Medienechos wieder ruhiger geworden ist um Griechenland: Im Land selbst ist die Stimmung gedrückt. Ausgerechnet Arbeitnehmer und Rentner, die vor der Krise zuverlässig die Steuern zahlten, tragen nun mit enormen Einkommensverlusten von bis zu 50% die große Last der Krise. Dazu wächst die Zahl der Arbeitslosen in erschreckendem Ausmaß, bei den unter 24-Jährigen ist jeder zweite betroffen. Damit verfällt der Lebensstandard in Griechenland dramatisch. In Schulen fehlen Lehrmittel, Krankenhäuser fordern ihre Patienten auf, sich ihre Medikamente zur Behandlung selbst mitzubringen. Die Selbstmordraten sind zuletzt signifikant gestiegen, wie die Zahl der Obdachlosen und der Suppenküchen von Athen. Selbst der Schwarzmarkt für menschlichen Organhandel soll sich auf Griechenland ausgedehnt haben. Aktuell droht, was Robert Kurz in seiner Krisen-Analyse in der linken Zeitschrift konkret (2012) festgestellt hat: "Griechenland zeigt exemplarisch, dass die Menschen auf Jahre hinaus aufhören müssten zu leben, um weiterhin kapitalistischen Kriterien zu genügen."

Die deutsch-griechischen Beziehungen waren die längste Zeit von Verehrung getragen, dann plötzlich von Verachtung. Wo einst im Prozess der europäischen Einigung und im Kampf gegen die letzten Diktaturen Europas Solidarität unter den Völkern groß geschrieben wurde, machen sich wieder nationale Eigeninteressen breit. In aktuellen Debatten ist das Augenmerk immer seltener auf Europas große Schuld gegenüber dem kulturellen Vermächtnis Griechenlands gerichtet, dafür immer häufiger auf die horrenden Schulden Griechenlands in der Welt.

Es geht um das Feuer hinter diesen Bildern. Denn es ist die Scham, die brennt: Sind die Griechen wirklich jene "verschlagenen Levantiner", die sich mit geschönten Zahlen hineingestohlen haben nach Europa? Und sind die Deutschen tatsächlich die "ewige Besatzungsmacht", die heute mit wirtschaftlichen Mitteln vollendet, was den nationalsozialistischen Besatzern mit militärischen Mitteln nicht gelang?

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Manuel Gogos für bpb.de

Fußnoten

1. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweyter Theil, in: Goethe’s Werke, Stuttgart / Tübingen 1832, Bd. 41, S. 217.

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Die Entstehung des griechischen Staates und der Geist des Philhellenismus

Von Evangelos Chrysos 15.1.2014 Prof. Dr. geboren in Thessaloniki promovierte in Bonn (Alexander von Humboldt-Stipendiat), Habilitation in Ioannina, war bis 2005 Professor der Universität Athen im Fach Byzantinistik. Mehrmals Gastprofessor an deutschen Universitäten. Nach der Emeritierung Generalsekretär der Stiftung für Demokratie und Parliamentarismus des Hellenischen Parlaments.

Der Philhellenismus ist eine geistige und ideologische Bewegung vor allem westeuropäischer Bürger. Er kämpft für die Anerkennung der Errungenschaften der (griechischen) klassischen Antike und ihre Aneignung in der Zeit der Aufklärung. Er war aber auch eine politische Bewegung zur Befreiung Griechenlands von der osmanischen Herrschaft.

Der Philhellenismus in seiner Zeit

Der Philhellenismus als eine geistige und ideologische Bewegung der Bürger des westlichen Europas, aber auch von Menschen aus außereuropäischen Ländern, hat zum Mittelpunkt die Anerkennung der Errungenschaften der (griechischen) klassischen Antike (im Sinne Johann Joachim Winckelmanns) und ihre Aneignung in der Zeit der Aufklärung. Allerdings erblickten eben nicht alle Philhellenen – und nicht unter allen Umständen – in Griechenland allein das klassische Hellas; oder in seinem Erbe die Legitimation für einen freien, modernen Staat. Führende Persönlichkeiten unter den Philhellenen, wie z. B. Lord Byron (R. Beaton), haben echtes Interesse und Anteilnahme am Schicksal des zeitgenössischen Griechenlands gezeigt, und für seinen Befreiungskampf 1821-1829 ihr Leben geopfert. Von Philhellenen zur Zeit der Befreiungskriege wurde der Romiós, der griechische Zeitgenosse also, stets als der natürliche und legitimierte Agent zur Verwirklichung des Traums eines freien Griechenlands betrachtet.

Die Ideologie des Philhellenismus

Der Philhellenismus war eine politische Bewegung zur Befreiung Griechenlands von der osmanischen Herrschaft, zugleich zielte er auf die Gründung eines unabhängigen griechischen Staates, wie es in zahlreichen Pamphleten und Büchern dokumentiert ist, die in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den vielen Philhellenen-Vereinen Mitteleuropas zirkulierten. Aufständische Griechen, die auch in europäischen Nationalversammlungen auftraten und dort ihre Ideen verkündeten, betonten besonders kulturelle Gemeinsamkeiten von Griechen und (westlichen) Europäern, und als eine solche Gemeinsamkeit wurde insbesondere das Christentum hervorgehoben, indem man die "orientalischen " Züge des orthodoxen Christentums weitgehend unterdrückte bzw. relativierte. Diese religiöse Rechtfertigung eins Glaubenskampfes der "Christenheit" gegen die osmanischen Muslime untermauerte und befeuerte in großem Ausmaß die Überzeugungskraft der Bewegung der Philhellenen. Das hat dazu beigetragen, dass sich die philhellenische Bewegung in Westeuropa so weit verbreiten und systematisch organisieren konnte, wie nie eine Bewegung seit den Kreuzzügen des Mittelalters.

Während des griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821–1829) verübten die Osmanen im April 1822

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 45 ein Massaker an den Einwohnern der Insel Chios, bei dem über 20.000 Menschen getötet und ca. 45.000 in die Sklaverei verschleppt worden sein sollen. Die Tat löste in Europa einen Aufschrei der Empörung aus, zementierte den negativen Stereotyp des "grausamen Osmanen" und gab dem politischen Philhellenismus damit Auftrieb.

Philhellenismus als Urszene Europas

Die tatkräftige Teilnahme der Philhellenen im Befreiungskampf der Griechen wurde als friedenserzwingende, geradezu humanitäre Maßnahme gerechtfertigt. Man appellierte im Namen der Humanität an Europa, und als eine eminent europäische Sache wurde der Befreiungskampf dann auch wahrgenommen. Es ist erstaunlich, mit welcher wissenschaftlichen Präzision man versuchte, die juristische Legitimation des Befreiungskrieges auch im Rahmen des geltenden Völkerrechts zu untermauern. Dieser Rechtfertigungsversuch ist auch deshalb bedeutend, da die Griechische Revolution offenkundig als ein Aufstand von Bürgern gegen ihren souveränen Herrscher, den osmanischen Sultan, galt und bis dahin von den mächtigen Herrschern Europas auch als solcher angesehen wurde. Die Nationalversammlung von Troizen im Jahr 1827 verkündete entsprechend in einer Deklaration: "Unser Krieg stammt nicht aus einem Aufstand gegen einen legitimen Herrscher." Der Gesinnungswandel der Mächtigen, der dann eintrat und maßgeblich zum Erfolg des Befreiungskampfes und der griechischen Staatsgründung führte, vollzog sich also unter dem Eindruck eines gewaltigen wissenschaftlichen und publizistischen "Feldzuges".

Philhellenismus als Demokratiebewegung

Die Entwicklung in Griechenland wusste ein günstiges Momentum in der turbulenten politischen Entfaltung Europas im 19. Jahrhundert auszunutzen: Überall in Europa sammelten sich noch junge Nationalbewegungen, die Nationalstaaten als demokratische Gebilde verstehen wollten. Auch der Philhellenismus hatte die Idealisierung des antiken Hellas von Anfang an mit demokratischen Sehnsüchten verbunden (Rebenich), der osmanische Feudalismus sollte einem demokratischen Staat weichen. In diesem Sinne waren die Verfassungstexte der Revolutionszeit von der Frische und dem Enthusiasmus der Idee einer Volkssouveränität geprägt und beflügelt. In der Verfassung von 1827, Art. 5, heißt es: "Die Souveränität liegt in der Nation; alle Macht geht vom Volke aus." Dieser Wortlaut war wahrhaft revolutionär, vier Jahre vor der ersten Verkündung einer Volkssouveränität im westlichen Europa (nämlich in der Verfassung Belgiens im Jahre 1831).

Die Intervention der Großmächte England, Frankreich und Russland in das politische Spiel um die Gestaltung des neuen Staates – die sich als lebenswichtig für das Gedeihen der Revolution erwiesen hatte – führte jedoch zunächst zu einer monarchischen Lösung. Dies entsprach mitnichten den politischen Vorstellungen der aufständischen Griechen. Das selbstherrliche Benehmen der bayerischen Staatsfunktionäre sowie das zwar wohlmeinende, aber verunsicherte und faktisch absolutistische Handeln König Ottos machten die Kluft zwischen der monarchischen Wirklichkeit und der erträumten Demokratie offenkundig. Zwar wollte man alles für die Griechen tun, doch lieber ohne sie und gelegentlich auch gegen ihren Willen. Die fast tägliche Korrespondenz, die Königin Amalie mit ihrem Vater, Großherzog Paul Friedrich August von Oldenburg führte, zeigt diese Diskrepanz aus der Sicht der deutschen Königin und offenbart die Ausweglosigkeit eines Königs, der oft nicht wusste, was wohl das beste wäre: für das griechische Volk, das Land, aber auch seinen Thron.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 46 Philhellenen als Agenten des griechischen "Nationbuildings"?

Seit mehreren Jahren wird immer wieder diskutiert, wie es eigentlich um die Entstehung der (neu-) griechischen Nation bestellt sei. Für alte Völker, die auf eine lange Geschichte zurückblicken können, ist es methodologisch sehr schwierig zu entscheiden, wann die Nation, wie sie heute allgemein verstanden wird, "aus dem Ei gekrochen" sei. Außerdem ist man mit dem Gebrauch des Nationenbegriffs seit der Zeit des Nationalsozialismus aus gutem Grund sehr zurückhaltend. In der historischen Disziplin hat man ihn deshalb mit dem Begriff der Ethnie zu ersetzen versucht – ein hoffnungsloser Versuch, von Nation zu sprechen, ohne sie beim Namen zu nennen. Denn das Wort " Ethnie" ist nicht mehr als die Transkription des griechischen Wortes Ethnos ( ), das so viel wie " Nation" bedeutet. Auf ähnliche Weise ist in der letzten Zeit das englische Wort "nationbuilding" in das deutsche Fachvokabular als Substitut für das finster anmutende "Nationenbildung" eingeführt worden. Eine gewisse Zurückhaltung ist jedoch auch hier geboten: Die Kraft der nationalen Idee wie die fatalen Konsequenzen nationalistischer Sensibilitäten können kaum mit verharmlosenden oder beschönigenden Wendungen gebannt werden.

Athen erwartet König Otto, Peter von Hess, 1839. (© picture-alliance/akg) Bekanntlich wurde in der Zeit nach der Französischen Revolution dem Wort "Nation" eine spezifische Bedeutung verliehen, die seitdem die leitende ist, indem man die neuzeitliche Nation als das entscheidende konstituierende Element des Staates verstand. Staaten werden seither wesentlich als Nationalstaaten verstanden (Charakteristisch trat der Aufruf Vive la nation an die Stelle von vive le roi!). Trotzdem resultiert der Begriff der Nation aus einem zu einseitigen historischen Verständnis, wie der Fall Griechenland beweist: Im Selbstverständnis der aufständischen Griechen, wie es sich in den Verfassungstexten ihrer Nationalversammlungen manifestierte, wurde das ethnos – die griechische Nation – eben nicht erst durch die Entstehung des griechischen Staates geboren.

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Fußball-Europameister Griechenland: Der deutsche Trainer Otto Rehhagel (im Bus vorn) wird von begeisterten Fans am 05.07.2004 in Athen umjubelt. (© picture-alliance/dpa, dpaweb) Das derart aus der Taufe gehobene Griechenland verdankt den Philhellenen viel. Die Sympathie und alle Solidarität der "Freunde der Hellenen" war für das Gedeihen der Revolution von existentieller Wichtigkeit. Auch die Hilfe durch die Schutzmächte und vor allem durch Bayern war lebenserhaltend. Dabei suchte man Griechenland oft mit peinlichen, gelegentlich untragbaren Mitteln in die europäische Staatengemeinschaft zu integrieren. Man wollte einen modernen europäischen Staat auf die Beine stellen, für den man zwar bewunderungsvoll die antizipierte "edle Einfalt und stille Größe " (Winckelmann) zum Maßstab nahm, allerdings in der fragwürdigen Vorstellung, dass man es selbst verkörperte. Zu Berühmtheit gelangte der Ausspruch Barthold Georg Niebuhrs aus dem Jahr 1831, der die Bedeutung der Schlacht von Chaironeia folgendermaßen kommentierte: "Durch sie (diese Schlacht) ist Griechenland untergegangen, das Deutschland des Altertums." Wo aber Griechenland das Deutschland des Altertums war, sollte auch Deutschland das Griechenland der Neuzeit sein. Kraft dieser doppelten Verwechslung wollte man dann auch den zeitgenössischen Griechen die eigene politische Ästhetik aufzwingen: Ein fatales Missverständnis.

Ausgewählte bibliografische Hinweise

Beaton, Roderick Byron’s War. Romantic rebellion, Greek Revolution, Cambridge 2013.

Chrysos, E. und Farnaud, Chr. (hrsg.), La France et la Grèce au XIXe siècle, Athènes 2012.

Eideneier, Hans, Hellenen-Philhellenen: Ein historisches Missverständnis? Archiv für Kulturgeschichte 67 (1985) 137-159.

Kaltchas, Nicholas, Introduction to the Constitutional Historz of Modern Greece, 3rd edition, Athens 2010. (http://foundation.parliament.gr/VoulhFoundation/VoulhFoundationPortal/images/site_content/ voulhFoundation/file/Kaltchas%20book.pdf)

Konstantinou Evangelos, Griechenlandbegeisterung und Philhellenismus, 2012 (http://www.ieg-ego. eu/de/threads/modelle-und-stereotypen/griechenlandbegeisterung-und-philhellenismus)

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Maras Konstadinos: Philhellenismus. Eine Frühform europäischer Integration, Würzburg 2012

Marchand Suzanne L., Down from Olympus: Archaeology and Philhellenism in , 1750-1970, Princeton University Press, 1996.

Marchand, S.L., Archaeology and Cultural Politics in Germany, 1800-1965: The Decline of Philhellenism, Chicago 1992.

Petropulos, John A., Politics and Statecraft in the Kingdom of Greece 1833-1843, Princeton 1968.

Philippou Melina: Der Philhellenismus in Deutschland. Philhellenische Bekundungen der Deutschen am Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung des griechischen Staates. Green 2008

Rebenich Stefan «Alles hast du, Hellas, mir genommen». Griechenland hatte einst leidenschaftliche Freunde in Europa: Neue Zürcher Zeitung 13 07. 2011

Schultheiss W. und Chrysos, E. (hrsg.), Meilensteine deutsch-griechischer Beziehungen, Athen 2010 (Wichtig für das Thema sind vor allem die Beiträge von Hans Eideneier, Michael Stathopoulos und Michael Tsapogas).

Schulze, Hagen, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1993.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Evangelos Chrysos für bpb.de

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"Die Griechen waren niemals, was die Deutschen von ihnen dachten" Zur Kritik des Philhellenenismus

Von Hans Eideneier 29.1.2014 Prof. Dr., Dr. h.c., geb. 1937 in Stuttgart. Studium der Klassischen Philologie, Byzantinistik, Neogräzistik, Geschichte, Philosophie und Allg. Sprachwissenschaft in Tübingen, Hamburg, Thessaloniki und München. Nach Promotion bei H.-G. Beck, München. Ab 1969 Lektor, nach der Habilitation Professor an der Universität zu Köln für Byzantinistik und neugriechische Sprache und Literatur. 1994 – 2002 Professor für Byzantinistik und neugriechischen Philologie an der Universität Hamburg. Zahlreiche Publikationen zur griechischer Kultur und Sprachgeschichte.

"Griechenland" war lange Zeit Projektionsfläche idealisierter Vorstellungen. Was aber machte die Philhellenen aus? Und wie steht es um den Philhellenismus heute?

Karikaturen spielen ja zur Zeit in den griechisch-deutschen Beziehungen eine aggressive bis niederträchtige Rolle. Darf ich Ihnen bei der Betrachtung einer älteren Karikatur meines Freundes Kostas Mitropulos behilflich sein?[1]Ein erfreut lachender Mann in antiker Hoplitenrüstung steht rechts im Bild: Rundschild mit Mäandermuster, Brustpanzer, der aufgeklappte Sturmhelm, Beinschienen und Handspeer sind gut zu erkennen. Der Blick und die Worte richten sich auf sein Gegenüber, durch Käppi, schwarzes Haar und Schnäuzer wohl als Prototyp eines Griechen namens Jorgos, Kostas oder Jannis zu identifizieren, dessen Blick einigermaßen ratlos wirkt. Ersterer wendet sich mit der altgriechischen Sentenz µ µ ...’ an Letzteren, worauf der messerscharf schließt: ah deutsch – das kann nur ein Deutscher sein.

Auf den sogenannten "Philhellenen" deuten folgende unverwechselbaren Merkmale:

1. Seine offensichtliche Begeisterung für Land und Leute auch noch zu Zeiten, da wir einen Jorgos, und nicht mehr einen Perikles, auf einem Bahnhof treffen.

2. Seine völlig deplazierte Reisekleidung für das Land seiner Begeisterung, die bezeugt, dass er auf der Suche nach dem klassischen antiken Griechenland ist.

3. Die unpassende Aufmachung des humanistisch gebildeten Hopliten belegt zugleich auf eindrucksvolle Weise, dass er sich im Vorfeld seiner Begegnung mit dem realen Griechen nicht über dessen Lebensumstände kundig gemacht hat und also schlicht schlecht informiert ist.

4. Der Hochgebildete ist seinem zeitgenössischen Gegenüber prinzipiell wohlgesinnt, wird sich aber mit ihm, da er sich einer Sprachphase des Griechischen von vor 2800 Jahren bedient, kaum verständigen können.

5. Es ist zu befürchten, dass ihn das nicht weiter schert und dass er, wie schon sein Name sagt, auf die Hellenen zusteuert, zu denen er diesen Jorgos gar nicht zählt, da dieser auf sein Homerzitat nicht angemessen reagiert.

Von ihrer Definition her sind Philhellenen also "hellenenfreundliche" Wesen – Hellenen zunächst einmal

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 50 als virtuelle Gebilde verstanden, die einst besagte klassischen antiken griechischen Kulturdenkmäler geschaffen haben. Eine klare und hilfreiche Definition schafft einer der bedeutendsten Vertreter jener klassischen Epoche selbst, der Redner Isokrates: "Unsere Polis hat es geschafft, dass der Name , Hellenen' nicht mehr nach der Zugehörigkeit zur Nation gilt, sondern nach der Gesinnung, so dass diejenigen ,Hellenen' genannt werden, die eher an unserer Bildung teilnehmen als jene, die dieselbe Abstammung aufweisen."[2]

Die ersten Philhellenen: Rom

Die ersten, die sich an diese Definition hielten und ihre gesamte Bildung unter selbige Maxime stellten, waren die Alten Römer. In allen Lehrbüchern zur altgriechischen Geschichte gilt das Jahr 168 v. Chr. mit dem Sieg der Römer nach dem sogenannten 3. Makedonischen Krieg als das Ende der Freiheit der Griechen. Doch waren die Sieger durchdrungen von einer Art Kulturhoheit der Besiegten. Wir stehen ja vor dem erstaunlichen Phänomen, dass ein Staat, der die Weltherrschaft nicht nur anstrebte, sondern zu großen Teilen auch verwirklicht hatte, den Bereich Kultur jenen Griechen überließ, deren geistige und literarische Schöpfungen für die Römer in jeder Hinsicht Vorbild und Muster darstellten, und zwar in der Originalsprache, dem Griechischen. Der gebildete Römer der klassischen Zeit war zweisprachig und lauschte den Reden der griechischen Philosophen und Rhetoren, die diese im attischen Dialekt der 400 Jahre zurückliegenden Zeit vortrugen. Dieser gebildete Römer der klassischen Zeit war also von griechischen Privatlehrern in einer griechischen Schriftsprache unterrichtet worden. Grandiose Schöpfungen wie die Werke des Aischylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes im 5. "und 4. vorchristlichen Jahrhundert waren zur Römerzeit die Stilmuster für philosophische Dialoge, Gerichtsreden wie für Werke der Zeitgeschichte. Es war die Schwesterstadt – Polis – Athen, deren klassische Kulturschöpfungen der Nachahmung wert und würdig waren. Auch wenn wir jenen römischen Philhellenismus nicht "Philhellenismus" nennen, weil die Römer die Griechen bekanntlich "Graeci" und nicht Hellenen nannten (weshalb wir, den Römern folgend, die Hellenen mit "Griechen" bezeichnen): Mit dieser römischen Idealisierung und Fixierung auf die sogenannte griechische Klassik sind die geistesgeschichtlichen Wurzeln dessen freigelegt, was wir heute als "Philhellenismus" bezeichnen.

Klassiker und Romantiker des deutschen Philhellenismus

Mitteleuropa ist bereits im Rahmen der Renaissance auf die Möglichkeit hingewiesen worden, antike und speziell griechische Ideale der Gesellschaftsordnung zu übernehmen, sich zu eigen zu machen und sich danach zu verhalten. Kulturhistorisch betrachtet versteht man unter Philhellenismus in der Regel jene Bewegung des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die politisch mit den Befreiungskämpfen der Griechen von den Osmanen zu tun hat, und geistesgeschichtlich mit der Romantik. Die Gipfel der Romantik wurden in Deutschland bestiegen, um von oben den Blick über jenes virtuelle Arkadien schweifen zu lassen. Wir sollten uns noch einmal ausdrücklich vergewissern, dass ein Dichter wie Friedrich Hölderlin (1770 -1843 ) zeitlebens all seine Hoffnungen auf eine, im klassischen Griechenland vorgebildete, schönere Zeit setzte, in der "wieder der Genius" gelte und die Vorbereitung des Zustands, den er dichterisch als "Wiederkehr der Götter" umschreibt. Als Johann Wolfgang von Goethe auf Sizilien vom Grafen Waldeck eingeladen wurde, auf dessen Segelschiff mit nach Griechenland zu fahren – wir würden heute sagen: nur einen Katzensprung entfernt – notierte er in seinem Tagebuch, er sei angesichts dieser Perspektive "zu keiner Silbe mehr fähig" gewesen. Und er fährt nicht. Was hätten Hölderlin oder Goethe denn auch dort betrachten sollen? Dieses arkadische Griechenland existierte doch vorwiegend nur in ihren Köpfen, und das war Hölderlin so gut wie Goethe voll bewusst. Ein Abgleichen dieser virtuellen, romantisch erhöhten, idealisierten antiken Landschaft mit der Wirklichkeit am Südzipfel des Balkans stand überhaupt nicht zur Debatte.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 51 Ein Berg von Missverständnissen

"Auch ich in Arkadien!" J. W. v. Goethe vor imaginärer Landschaft. (© picture-alliance/akg) Bereits seit den sogenannten "Befreiungskämpfen" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich derartige Missverständnisse gehäuft: Söldner aus dem Württembergischen, der Schweiz oder aus Bayern kehrten in ihre Heimat zurück und berichteten von Gaunern, die sich, entgegen aller altgriechischen Ethik, hinterhältig in den Bergen Arkadiens festgesetzt hätten. Spätestens nach dem Sturz des Wittelsbachers Otto vom griechischen Königsthron kehrte die philhellenische Bewegung, die zur Bildung auch eines deutschen Nationalgefühls ihren nicht zu unterschätzenden Beitrag geleistet hatte, in ihre Studierstuben zurück. Für die Zukunft blieben Melanchthon oder Kapnion – wie sich Philipp Schwarzert oder Johannes Reuchlin jetzt nannten – von jeder Annäherung an das reale Land Griechenland unbefleckt.

Griechische Philhellenen?

Es waren im übrigen nicht nur jene europäischen Philhellenen, die den Sprung über das christliche Mittelalter zu den Alten Hellenen propagierten, sondern auch jene aufgeklärten Griechen der Diaspora, die, selbst den humanistischen Idealen verpflichtet, auf die griechische Antike zurückgriffen. Auch die Griechen in Griechenland selbst lernten schnell. Ioannis Makrygiannis verwendet im ersten Kapitel seiner Memoiren für die griechischen Landsleute noch den Begriff µ – Romaioi; im zweiten Kapitel, in dem er von jenen Bayern und anderen Philhellenen handelt, die seinerzeit in Griechenland tätig waren, heißt er sie – Hellenen. Andere erhoben Einspruch gegen diese Gleichung. Die spöttischen Provokationen von Seiten eines Jakob Philipp Fallmerayer, in keinem modernen Hellenen flösse ein Tropfen althellenischen Bluts, förderten und beschleunigten nicht nur das nationale Selbstbewusstsein der Griechen. Sie waren auch grundlegend für die griechische Furcht, vom Ausland unverstanden zu sein.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 52 Das Humanistische Gymnasium

Von diesen Nöten nahm man indes in Europa keine oder doch nur oberflächlich Notiz. Hier stand vielmehr die Einführung des Humanistischen Gymnasiums durch Wilhelm von Humboldt an, das vom Preußen des 19. Jahrhunderts auf ganz Mitteleuropa ausstrahlte. "In keinem Land", schreibt Jens Jessen in einem Artikel in der ZEIT vom 4. März 2010, "in keinem Land, nicht einmal Lord Byrons England, sind die Griechen in einem Maße idealisiert worden wie bei uns. Von Winckelmanns ‚edler Einfalt und stiller Größe‘ bis zu der Alexander-Biografie von Gustav Droysen, der die Preußen als Makedonier der Neuzeit empfahl, vom Gleichschritt der schwer bewaffneten Hopliten Athens bis zum geistigen Glanz einer zersplitterten Nation reichten die Bezüge, in denen sich die Deutschen als die wahren Erben, zumindest Seelenverwandten der alten Griechen erkannten." Doch, so die Pointe Jessens, "Die Griechen, waren niemals, was die Deutschen von ihnen dachten."

Freundschaft mit Griechen

Zu Humboldts Zeiten wurde auch das Reisen in das damals so hoch gelobte und verehrte Land der eigenen idealen Vorfahren möglich, allerdings auf die Gefahr hin, in der Konfrontation mit der Wirklichkeit das idealisierte Bild korrigieren zu müssen. Es geht also in den Diskursen des Philhellenismus immer auch um die Verteidigung einer humanistischen Ideologie, die aus einer gewissermaßen "realitätsfernen" Abschottung vor eventuellen Native-Speakers bestand – eine Absurdität spätestens dann, wenn man die Nachgeborenen darauf hinwies, dass sie das Altgriechische falsch aussprächen und dass die Schafe, wie uns Aristophanes überliefert, schließlich nicht "wi wi", sondern "bä bä" schreien. Als ich 1959 als DAAD Stipendiat an die Aristoteles-Universität nach Thessaloniki kam, glich ich ziemlich genau jenem gutmütigen Philhellenen auf obiger Mitropulos- Karikatur. Ausgerüstet mit leidlichen Kenntnissen der antiken klassischen Kultur und Sprache, war ich doch gänzlich unerfahren im Umgang mit den heutigen Bewohnern dieser edlen Landstriche. Es war die "Philoxenia" – die Gastfreundschaft als eines der höchsten und heiligsten Güter der griechischen Kultur damals und heute, die es den realen Neugriechen erlaubte, selbst auf diesen Philhellenen alter Schule zuzugehen.

Post-Philhellenismus

Heute ist die Lehre des Altgriechischen an deutschen Schulen und Universitäten in einem Maß zusammengeschrumpft, dass sie zu einer vernachlässigbaren Größe geworden ist. Griechenlandbegeisterung im alten Sinn einer Hinwendung zur klassischen griechischen Kultur und Sprache unter Ausschluss des heutigen Griechenlands gehört der Geschichte an. Doch hat sich die Griechenlandbegeisterung auf andere Ebenen verlagert, vor allem ist sie nicht mehr an die Sprache der alten Hellenen gebunden. Lieder von Mikis Theodorakis, Bücher von Konstantinos Kavafis und Filme von Theo Angelopoulos, aber natürlich auch das neue Akropolis-Museum in Athen, haben eine neue Griechenlandbegeisterung geschaffen, die das heutige Griechenland zu Recht mit Stolz erfüllt.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 53 Literatur

Butler, Eliza Maria: The Tyranny of Greece over Germany, Cambridge University Press, 1935.

Butler, Eliza Maria: Deutsche im Banne Griechenlands, Berlin 1948.

Coulmas, Danae: Hellenismus als Kulturleistung. Altgriechisches Erbe als Kristallisationselement des neuzeitlichen Kulturverständnisses. In: Alexander v. Bormann (Hg.), Ungleichzeitigkeiten der europäischen Romantik, Würzburg 2006, 63-93.

Dimakopoulos, Kostas: Deutscher Philhellenismus ade!. In: 11, Berlin 2009, 90ff.

Hellenen – Philhellenen: Ein historisches Missverständnis? Archiv für Kulturgeschichte 67, Köln – Wien 1985, 137-159.

Eideneier, Hans: Wo im kulturellen Europa liegt das Moderne Griechenland!? In: Chr.Kamba – Marilisa Mitsou (Hg), Hellas verstehen. Deutsch-griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert, Köln – Weimar – Wien 2010, 35- 50.

Jessen, Jens: Diese Griechen. DIE ZEIT 4.3.2010, 39.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Hans Eideneier für bpb.de

Fußnoten

1. Angefertigt bereits im Jahre 1980 für das Lehrbuch "Neugriechisch ist gar nicht so schwer", hg. v. Hans und Niki Eideneier. 2. Siehe "Der Panegyrikos des Isokrates", hrsg. v. Thomas Kretschmer, München 2013.

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"Lernt Griechenland durch seine Literatur kennen!" Literarische Beziehungen

Von Niki Eideneier 29.1.2014 Geb. 1940 in Kilkis/Griechenland. Studium der Klassischen, Byzantinischen und Neugriechischen Philologie in Thessaloniki und als Stipendiatin des DAAD und des Bayerischen Kultusministeriums in München. 1963-1964 freie Mitarbeit im griechischen Programm des Bayerischen Rundfunks. 1974-1983 Lehrbeauftragte für neugriechische Sprache und Literatur an der Universität Frankfurt. 1982 Gründung des Romiosini Verlags für zeitgenössische griechische Literatur in deutscher Sprache. Viele Beiträge zur Kultur und Literatur Griechenlands in deutscher und griechischer Sprache.

Die deutsch-griechischen Literaturbeziehungen beginnen nicht erst mit dem von Nikos Kasantzakis 1946 verfassten "Alexis Zorbas". Einem Roman, der es auch wegen seiner Verfilmung zu weltweitem Ruhm gebracht hat. Dennoch: Die griechische Literatur ist in Deutschland eine schöne Unbekannte geblieben.

Giorgos Seferis, Nobelpreisträger 1963 Lizenz: cc by-nc-sa/3.0/de (Yannis Papadimos ) Viele deutsche Leser mögen von Nikos Kasantzakis und Konstantinos Kavafis gehört haben, einige vielleicht auch von den Lyrikern und Nobelpreisträgern für Literatur, Jorgos Seferis (1963) und (1979). Möglicherweise haben einige politisch Bewegte, hauptsächlich in der Zeit des Antidiktatorischen Kampfes (1967-1974), sogar den Namen des Dichters Jannis Ritsos gehört, zumal im Zusammenhang mit Mikis Theodorakis, der viele seiner Gedichte vertonte und sie durch Konzerte im deutschsprachigen Raum zu Gehör brachte. Und doch ist die griechische Literatur in Deutschland

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 55 eine schöne Unbekannte geblieben.

Das Land der Griechen mit der Seele suchen

Das Land der Griechen war im 18. Jahrhundert bereits über drei Jahrhunderte unter dem osmanischen Joch und machte im Ausland ganz den Eindruck, als hätte es sich in dieser Situation einigermaßen eingerichtet. Die mündliche Literatur in Form von exzellenten Volksliedern, die ein wesentlicher Faktor für die Erhaltung und Entwicklung der griechischen Sprache gewesen war, blieb – oftmals durch griechische Gelehrte vermittelt, die im Ausland lebten – zunächst noch ein geheimer Schatz in den Schatullen einiger breit gebildeter französischer Wissenschaftler und deutscher Literaten. Freiherr Werner von Haxthausen (1780-1842) stellte bereits im Jahr 1816 eine erste Sammlung von 50 Liedern zusammen, zeigte einige von ihnen Jakob Grimm und wagte es, darüber an Goethe zu schreiben. Dieser zeigte sich begeistert und versuchte mit Hilfe von Muttersprachlern eine Übersetzung von einigen Perlen dieser Literatur – mit beachtlichem Erfolg, aber ohne breite Wirkung: Die Sammlung Haxthausen blieb unveröffentlicht.

Erst Wilhelm Müller (1794-1827), Gymnasiallehrer und Bibliothekar in Dessau, der sogenannte Griechenmüller, sammelte, übersetzte und veröffentlichte eine Reihe von vielbeachteten "Griechenliedern". Er dichtete auch selbst feurige Verse für die Griechen der Zeit: Lasst die alten Tempel stürzen! Klaget um den Marmor nicht,/ Wenn die Hand des blinden Heiden seine schöne Form zerbricht!/ Nicht in Steinen, nicht in Asche wohnt der Geist der alten Welt,/ In den Herzen der Hellenen steht sein königliches Zelt … Fortsetzung fand diese erste Aufmerksamkeit für ein zeitgenössisches Griechenland in der Person des Humanisten und Philologen Carl Iken (1789-1841), der die Antike gründlich studiert hatte, aber unter dem Titel "Leukothea" 1825 auch eine "Sammlung von Briefen eines geborenen Griechen über Staatswesen, Literatur und Dichtkunst des neueren Griechenlands" publizierte und in seiner Zeitschrift "Eunomia" die neugriechische Poesie und Prosa förderte. Nach der Romantik neuer Prägung hielt die Begeisterung der Deutschen für die Antike ununterbrochen an, wie Rüdiger Safranski vor kurzem in "Romantik. Eine deutsche Affäre" so schön gezeigt hat.

Zwischen den Welten

Auch umgekehrt war das Interesse groß. Dionysios Solomos (1798-1857), Goethes Zeitgenosse und Nationaldichter Griechenlands, entdeckte die deutsche Romantik in italienischer Sprache, und zwar in Gestalt der eigens für ihn angefertigten Übersetzungen seines Freunds N. Lountzis. Solomos schrieb sogar in Anlehnung an Novalis griechische "Fragmente", welche in Schönheit und Klang seine vollständig ausgearbeiteten Werke weit übertreffen. Die Romantik eines Novalis wird viel später auch Odysseas Elytis in seiner Dichtung thematisieren, der Nobelpreisträger für Literatur 1963 und "romantischste" unter den Surrealisten Griechenlands.

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Nikos Kasantzakis (1883-1957), häufig als "Vater der neugriechischen Literatur" apostrophiert, studierte in Frankreich bei Henri Bergson Philosophie und eröffnete dann mit seiner Dissertation über Nietzsche von Berlin aus einen gewissen deutsch-griechischen, literarisch-philosophischen Dialog. Kasantzakis schuf, neben der in Zusammenarbeit mit dem Universitätsprofessor Ioannis Th. Kakridis entstandenen Übertragung der Epen Homers ins Neugriechische, seine eigene "Odyssee" – ein Epos in 33 333 Siebzehnsilbern, das von Gustav A. Conradi kongenial ins Deutsche übertragen worden ist. 1946 verfasste Kasantzakis dann seinen weltberühmten "Alexis Zorbas", jenen höchst populären Roman, der in seiner deutschen Übersetzung einen ersten Höhepunkt des griechisch-deutschen Literaturaustauschs markiert: Der Roman trägt augenfällig Züge der Philosophie Nietzsches, der für Kasantzakis Alexis Sorbas: Roman- insbesondere wegen seines unbeugsamen Freigeistes zu einem Vorbild Verfilmung von Michalis wurde. Kakojannis von 1964 mit Anthony Quinn in der Hauptrolle. (© picture- Zwischen den Kriegen alliance)

Zwischen den beiden Weltkriegen fanden sich einzelne deutsche Kulturvermittler, die neugriechische literarische Produktion nicht nur wahrnahmen, sondern auch ins Deutsche übersetzten, so Karl Dieterich in seiner ersten Anthologie "Neugriechische Lyriker" (1928). Bereits 1904 hatte der neugriechische Klassiker "Die Päpstin Iohanna" von Emanuil Roidis erscheinen können, wenn auch um ein Drittel verstümmelt, gefolgt von Alexandros Papadiamandis’ "Der Kirchenscheue" (1917). Später, im Jahre 1944, erschien eine erste Prosa-Anthologie mit 31 Erzählungen von Papadiamandis bis Kostas Uranis unter dem Titel: "Der Traum auf den Wellen", besorgt von Alexander Steinmetz.

Der Zweite Weltkrieg bildete indessen eine echte Zäsur in den mühsam angeknüpften Beziehungen der deutsch-griechischen Geisteswelt. Die Zensur der deutschen Besatzer in Griechenland verhinderte jede freie Entfaltung einer originären griechischen Literatur. In dieser Zeit der Unterdrückung trat in Deutschland eine Frau auf den Plan, Isidora Rosenthal-Kamarinea (1918-2004), die sich auf einem neu gegründeten Lehrstuhl für Neugriechische Philologie in Bochum und Marburg durch Übersetzung und Herausgabe einer Fülle von Werken um die zeitgenössische neugriechische Literatur sehr verdient gemacht hat. Später gründete sie die Zeitschrift "Hellenika", die lange als das Sprachorgan der inzwischen auch erfolgreich gegründeten Deutsch-Griechischen Vereine fungierte. Ein anderer Professor für Byzantinistik in Ostberlin, Johannes Irmscher (1920-2000), sorgte ebenfalls für die Verbreitung neugriechischer Werke, diesmal in der DDR, wobei politische Werke bevorzugt wurden, oder solche, die von politisch verfolgten Autoren verfasst worden waren.

Übersetzungsleistungen

Die Widerstandsliteratur aus der Zeit der Militärdiktatur in Griechenland 1967-1974 wurde unter dem Titel: "Die Exekution des Mythos fand am frühen Morgen statt", von Danae Coulmas herausgegeben, verdienstvollerweise auch in Deutschland bekannt. Und doch wollte der Durchbruch für die Verbreitung neugriechischer Literatur im deutschsprachigen Raum einfach nicht kommen. Deutsche Verlage blieben zurückhaltend, die Themen seien für den deutschen Buchmarkt zu sehr nach Innen gewandt, zu "graecozentrisch", zu provinziell. Unvergesslich die Aufforderung des ehemaligen Direktors der Frankfurter Buchmesse an die griechischen Vermittler von Literatur: "Findet euren neuen Kasantzakis!"

Selbst durch die vielen deutschen Touristen, die nach dem Sturz der Junta Griechenland besuchten und die menschlichen Beziehungen zwischen den beiden Völkern enger knüpften, wurde das Wissen in Sachen griechischer Kultur kaum differenzierter. Insofern schien der Gedanke nicht falsch, die programmatische Herausgabe griechischer Bücher in deutscher Sprache könnte dazu beitragen, diese Umstände zu ändern.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 57 Büchermarkt

Der Traum, Griechenland zum Gastland der Internationalen Buchmesse in Frankfurt zu machen, verwirklichte sich erst im Jahre 2001. 2009 wurde im Gegenzug Deutschland zum Gastland der Internationalen Buchmesse von Thessaloniki. In Berlin wurde die Griechische Kulturstiftung gegründet, deren Ziel, griechische Kultur im deutschsprachigen Raum zu fördern, natürlich auch die Literatur mit einschloss. In deutschen Literaturhäusern fanden Übersetzerseminare statt, Übersetzerpreise wurden gestiftet. Griechische Schriftsteller wie Ioanna Karystiani oder Titos Patrikios besuchten Deutschland und deutsche Schriftsteller stellten im Gegenzug in Griechenland die Übersetzungen ihrer Bücher vor: Es war in der Tat ein sehr produktiver Austausch, der 2001 ausgelöst wurde und seither mit jeder Buchmesse neue Impulse erhielt.

Literatur in der Krise

Dann kam die Krise. Und das Bild Griechenlands in der populistischen Presse Deutschlands war an Unwahrheiten und feindseliger Ironie kaum zu überbieten. Entsprechend reagierte auch die griechische Boulevardpresse, die mit gestellten Interviews so viel Porzellan zerschlug, dass man meinen konnte, die konstruktive Zusammenarbeit so vieler Jahre sei mit einer derartigen Medienpolitik unwiderruflich zerstört. "Deutschlandbild durch die Krise stark angekratzt", meldet entsprechend die deutschsprachige "Griechenland Zeitung" vom 21. 8. 2013. Die Krise ist den Bemühungen um Literaturtransfers zwischen den beiden Ländern nicht gut bekommen. Die griechischen Titel, die seither in Deutschland erschienen sind, lassen sich an einer Hand abzählen. Deutsche Verlage beschränken ihre Suche, um aktuell und publikumswirksam zu bleiben, nur auf griechische Literatur, die von der Krise handelt, so das Buch von Christos Ikonomou: "Warte nur, es passiert schon was". Sogar der im deutschen Sprachraum erfolgreichste griechische Krimiautor Petros Markaris hat, um dem Wunsch seines Verlags zu genügen, eine ganze Trilogie zum Thema Krise geliefert.

Selbst heute, in Zeiten einer dramatischen griechischen Wirtschaftskrise, ist es interessant zu beobachten, dass deutsche Autoren einmal mehr Argumente vortragen, welche der Antike verhaftet sind . So z. B. die Rede Martin Walsers, die er anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Thessalien in Volos im Mai 2013 Jahres gehalten hat. Bei aller feinsinnigen Bewunderung des "Guten, Wahren und Schönen" bei den antiken Autoren verlor der Autor kein Wort darüber, inwiefern etwas von diesem fernen Glanz auf die Neugriechen abgestrahlt haben könnte.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 58

Die SZ mit dem Griechenland-Gedicht des deutschen Schriftstellers Günter Grass. (© picture-alliance/dpa) Und als Günter Grass sich kürzlich bemächtigt fühlte, für Griechenland etwas zu tun, schrieb er jenes Gedicht, das ob seiner zweifelhaften Qualität so heftig kritisiert wurde, natürlich auch mit dem obligatorischen Antike-Bezug "Europas Schande": ... Verfluchen im Chor, was eigen Dir ist, werden die Götter,/ deren Olymp zu enteignen Dein Wille verlangt ... Keiner der zahlreichen Kritiker aber stellte in Frage, um welches "ewig-gestrige" Griechenland es dem Nobelpreisträger hier geht. Auf den selben ausgetretenen Pfade wandelte auch Durs Grünbein, der Jüngere, der von seiner Lesereise in Griechenland und den Kontakten mit griechischen Schriftstellern vieles entdeckt und verstanden zu haben vermeinte: ... Eule, erleuchte mich, öffne die Augen./ Tier auf der Tetradrachme aus Attika, hilf. Sicherlich haben literarische Zeitschriften wie "Lettre International" oder "die horen" sehr sensibel auf die Situation reagiert, zuletzt in dem bemerkenswerten Band "Auf der Suche nach einem verlorenen (Griechen)Land" (2013); fraglich nur, wer außer den immer schon Aufgeklärten das liest. So bleibt die Aufgabe des "Über-Setzens" zwischen den Literaturen Griechenlands und Deutschlands ein wichtiges Dauerthema.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Niki Eideneier für bpb.de

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 59

"Wenn ihr euch erinnert, können wir vergessen" Deutsche Besatzungszeit

Von Hagen Fleischer 17.3.2014 Prof. Dr., studierte an der FU Berlin Geschichte und Publizistik, lehrt seit 1979 an den Universitäten Kreta und Athen neue Geschichte mit dem Schwerpunkt Griechische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen, vor allem zur nationalsozialistischen Besatzungspolitik in Europa und den Folgen des Zweiten Weltkriegs. Seit 1985 besitzt Hagen Fleischer auch die griechische Staatsbürgerschaft, von 1987 bis 1988 gehörte er als griechischer Vertreter der Internationalen Historikerkommission zur Waldheim-Affäre an.

Im April 1941 eilt die Wehrmacht dem Achsenpartner Italien zu Hilfe, der sich vergeblich um die Einnahme Griechenlands bemüht hatte. Den griechischen Widerstand während der folgenden Besatzungszeit schlagen die Deutschen mit einer Brutalität gegen die Zivilbevölkerung zurück, die in nicht-slawischen Ländern unerreicht bleibt.

Am 28.10.1940 fallen überlegene Truppen des faschistischen Italiens in Griechenland ein, doch wider Erwarten werden die Invasoren weit auf ihre albanische Ausgangsbasis zurückgeworfen. Die überraschenden Siege der Griechen erschüttern den Nimbus von der Unbesiegbarkeit der faschistischen "Achse": die Ablehnung von Mussolinis Ultimatum wird 1945 – als "Tag des Neins" – zweiter griechischer Nationalfeiertag. Im April 1941 eilt die Wehrmacht dem Achsenpartner zu Hilfe, um die abgekämpften Griechen niederzuzwingen. Ende Mai erobern deutsche Luftlandetruppen den letzten noch unbesetzten Ort: Kreta. Widerstand leisten dort auch große Teile der Zivilbevölkerung – getreu einer jahrhundertealten Tradition. Die verwirrten Angreifer reagieren hart und exekutieren Hunderte von Kretern. Diese "Sühnemaßnahmen" treiben viele der Überlebenden in den bewaffneten Widerstand, als "Andarten" erlangen sie Signalwirkung für das Festland. (Fleischer 1986, S. 128 ff.)

Okkupation und Widerstand

Bei der Entwicklung des Widerstandes zeigen sich regionale Unterschiede, wobei der "Effizienz" der jeweiligen Besatzungssmacht eine wesentliche Rolle zukommt. Bei der Verteilung der Beute hat Hitler nämlich nur Gebiete von herausragender strategischer Bedeutung unter deutscher Kontrolle behalten. So fordert die Marineleitung, Kreta müsse "im Interesse der großdeutschen Belange" für immer in deutschem Besitz bleiben; auch die wichtige Hafenstadt Saloniki sei in einen Außenposten des künftigen deutschen Großreichs umzuwandeln. (BA Freiburg, Oberkommando der Kriegsmarine, Chefsache, 28.7.1942; u.v.a.) Den großen Rest Griechenlands überlässt Berlin den Italienern und Bulgaren – zur Besetzung sowie zur Befriedigung territorialer Aspirationen. Unter diesen ungleichen Bedingungen beginnt sich der griechische Widerstand zu formieren. Wichtigste Organisation ist die von der Kommunistischen Partei dominierte Nationale Befreiungsfront (EAM), die mit ihrer Partisanenarmee ELAS ab Sommer 1943 operative Bedeutung erlangt und den effektivsten Gegner für die Besatzer darstellt. Jene, insbesondere die Deutschen, schlagen gegen die Zivilbevölkerung mit einer Brutalität zurück, die in nicht-slawischen Ländern unerreicht bleibt.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 60 Spaltpropaganda

Zugleich aber schüren die Besatzer mit Spaltpropaganda die Gegensätze zwischen nationalistischen Gruppen und der EAM-ELAS. Auch die deutsche Initiative, mit der Ende 1943 begonnenen Aufstellung bewaffneter Kollaborationsverbände (Sicherheitsbataillone) "wertvolles deutsches Blut zu sparen", zielt mehr auf politischen als auf militärischen Nutzen: eine "politische Maßnahme im Zuge der Bekämpfung des Kommunismus, für die der antikommunistische Teil der griechischen Bevölkerung restlos eingespannt werden muss, damit er sich eindeutig festlegt und in offene Feindschaft zum kommunistischen Teil getrieben wird". Tatsächlich gibt die deutsche Spaltpropaganda der latenten innergriechischen Konfrontation eine neue – letztlich den nachfolgenden Bürgerkrieg mitbewirkende – blutige Qualität. Damit sahen viele Besatzer ihre zynische These bestätigt, "hierzulande" sei "ein Menschenleben nicht viel wert" – was die Hemmschwelle bei den so genannten "Säuberungsaktionen" der Besatzungs-Truppen weiter herabsenkte.

Die so genannten "Sühnemaßnahmen"

So geraten Hunderte angeblich "bandenverseuchter" griechischer Bergdörfer in den Zangengriff blutiger Besatzungslogik: Vertrauen die Einwohner beim Anmarsch deutscher Truppen vorherigen Zusicherungen und bleiben vor Ort, laufen zumindest die Männer Gefahr, "vorsorglich" in ein Geisellager transportiert zu werden – sofern man sie nicht umgehend zur "Sühnung" irgendeiner Partisanenaktion liquidiert. Flüchten sie, wird die Flucht mit Zugehörigkeit zum Widerstand gleichgesetzt und mit Erschießung bestraft; wiederholt (so in den so genannten "Märtyrerorten" Kommeno, Klissura, Distomo u.a.) werden auch die Frauen und Kinder zu Opfern der perfiden Tötungslogik. Besonnene Befehlshaber versuchen schlimmste Auswüchse zu verhindern, doch verfügen die anderen über Rückendeckung im Führerhauptquartier, wo man das Abstreifen "aller europäischen Hemmungen" verlangt. (Fleischer 1999, passim)

Allein für die Zeit ab Juni 1943 zählt eine (unvollständige) deutsche Auflistung 25.435 getötete Griechen – 91 pro Tag während der letzten Besatzungsmonate. Darüber hinaus werden 25.728 "Gefangene" aufgeführt, über deren weiteres Schicksal nichts verlautet. (BA Freiburg, RH 19 VII/54, vgl. Fleischer 1999, S. 186, 222) Viele werden zur Fronarbeit ins Reich deportiert; ein Großteil kehrt nicht zurück. Andere werden als Geiseln exekutiert, oder, um es in der menschenverachtenden Terminologie der Besatzer zu sagen, "aufgebraucht".

Grausame Bilanz

Zehntausende landeten in Konzentrationslagern, von denen das im Athener Vorort Chaidari am bekanntesten ist. Herr über Leben und Tod war Paul Radomski, den selbst seine SS-Dienststelle folgendermaßen charakterisiert: "primitiv in seinem ganzen Denken und Fühlen, nicht zum Führen geeignet". (Fleischer 1986, S. 548) Unerfasst blieben in besagten Listen die 60.000 ermordeten griechischen Juden, die über 100.000 Hungertoten (nach anderen Schätzungen weit mehr), der jähe Absturz der Geburtenrate. Am Ende der Okkupation leidet jeder dritte Grieche an epidemischen Infektionskrankheiten, in manchen Regionen sind 70% betroffen, insbesondere Kinder. Kaum zu berechnen sind die Verluste durch die okkupationsbedingte Hyperinflation sowie die Zerstörung der Infrastruktur infolge raubwirtschaftlicher Ausbeutung (Bergwerke, Wälder, etc.) und systematischer Vernichtung: Die meisten Eisenbahnbrücken gesprengt, über 80% des rollenden Materials ruiniert oder entwendet; 73% der Handelstonnage versenkt, zahllose Häuser und Ortschaften zerstört.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 61 Realpolitik der Versöhnung

Dennoch vermerken alliierte Beobachter 1947 erstaunt, bei den Griechen seien antideutsche Pauschalurteile am seltensten anzutreffen. Tatsächlich betreibt die Athener Regierung gegenüber dem im Aufbau befindlichen westdeutschen Staat eine Realpolitik der Versöhnung: "Im Interesse Gesamteuropas, und Griechenlands im Besonderen, muss Deutschland – also jenes Land, das gegenüber unserer Heimat verbrecherisch gefrevelt hat – wiederhergestellt werden. Und es ist in unserem Interesse, im Rahmen unserer Möglichkeiten hierzu beizutragen." (Fleischer 2010, S. 214) Als exponierter Frontstaat befindet sich die Bundesrepublik in analoger geostrategischer (und ideologischer) Position wie die Sieger des griechischen Bürgerkriegs 1946-49. Nach Ankunft der ersten Bonner Diplomaten in Athen Ende 1950 begründen führende griechische Politiker das besondere Gewicht eines deutschen Verteidigungsbeitrags mit den "soldatischen Tugenden" des deutschen Volkes: Die Vergangenheit sei zu vergessen, beide Seiten verbinde nun der gemeinsame Kampf gegen den Kommunismus. So plädiert Athen schon früh für eine Integration Westdeutschlands in NATO und Europarat. Auch bei der Bereinigung der Kriegsfolgen, darunter der Rückgabe deutschen Eigentums (so des Archäologischen Instituts), kommt die griechische Regierung Bonn weit entgegen. Griechenland ist das erste Land, das Bundespräsident Heuss – im Jahre 1956, nach fast siebenjähriger Amtszeit – zu einem Staatsbesuch eingeladen hat. Hierzu wird Heuss vom Auswärtigen Amt (AA) entsprechend eingestimmt: "Glücklicherweise" seien "die Begebenheiten [sic] zur Zeit der deutschen Besetzung … durch die Grausamkeiten des griechischen Bürgerkrieges … überdeckt worden." (PAAA, B 26/17, Ref. 412, Aufzeichnung, 25.4.1956)

Bewältigungsstrategien

Die deutschen Grausamkeiten werden nur linguistisch "bewältigt", nicht aber historisch, juristisch oder gar ökonomisch aufgearbeitet. Bereits 1958, bevor Ministerpräsident Karamanlis eine Anleihe von 200 Mio. DM zugesagt wird, geben ihm Adenauer und das AA "in sehr deutlicher Weise zu verstehen", welche Gegenleistung sie von den Griechen erwarten: Notgedrungen verpflichtet sich der Premier zur Durchsetzung eines Abolitionsgesetzes, das den griechischen Rechtsanspruch zur Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher der Bundesrepublik überträgt. Dort aber wird kein einziger von ihnen verurteilt oder auch nur angeklagt. (Fleischer 2006, S. 507 ff.) Doch sieht sich die Bundesregierung im Rahmen jahrelanger Verhandlungen mit allen sogenannten Weststaaten 1960/61 gezwungen, Griechenland pauschal 115 Mio. DM "Wiedergutmachung" zu Gunsten (nur) jener NS-Opfer zu zahlen, die aus "rassischen" oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden.

Erinnerungspolitik

Der erste Bruch in der Bonner Opportunitätsperspektive zur jüngsten Vergangenheit erfolgt beim zweiten Präsidentenbesuch in Athen, dem Richard von Weizsäckers. Nach langem Zögern akzeptiert das AA den Vorschlag des Verfassers (Fleischer 2010, S. 205 f.) und der Präsident ehrt am 24. Juni 1987 die Opfer der Okkupation am Hinrichtungsplatz Kaisariani: "Diese Gedenkstätte ist unlösbar mit der Geschichte Ihres und meines Volkes verbunden. […]. Kein Mensch, zumal kein Deutscher, kann hier stehen, ohne von der Botschaft dieses Ortes tief berührt zu sein." Anschließend nennt von Weizsäcker – stellvertretend für ungezählte Massaker – ein halbes Dutzend Ortsnamen, die in Griechenland seit der Besatzungszeit einen blutigen Klang haben: Kalavryta, Distomo, Klissura, Kommeno, Lyngiades, Kandanos. Zugleich gedenkt er der jüdischen Gemeinden, die vom nazistischen Rassenwahn dezimiert oder ausgelöscht wurden. Die Ehrung erregt Aufsehen, bricht sie doch mit einer Verdrängungsstrategie, welche die deutsche Griechenlandpolitik allzu lange prägte. Derartige Sternstunden der deutsch-griechischen Nachkriegsbeziehungen blieben selten und wurden erst im März 2014 beim Griechenlandbesuch von Joachim Gauck übertroffen. (s.u.)

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 62 Schuld und Schulden

Die Bundesregierungen jedoch lehnten es mit Verweis auf das Londoner Schuldenabkommen (1953) jahrzehntelang ab, über die 115 Mio. DM hinausgehenden griechischen Entschädigungsansprüche zu diskutieren, da deren Regelung nur einem geeinten Deutschland zustehe. Unter den Vorzeichen der Ost-West-Konfrontation stand dahinter die Erwartung – wie ein Botschafter 1969 gegenüber dem AA mit seltener Offenheit resümierte – "dank des Entgegenkommens unserer amerikanischen Freunde" die anderen Weltkriegsgegner "ad calendas graecas [in alle Ewigkeit] zu vertrösten". Die ungeteilte Zustimmung des AA und dessen Reparationsexperten Dr. Helmut Rumpf findet auch die unverblümte Definition der deutschen Strategie, "diesen Zwischenzustand des Nichtzustandekommens eines Friedensvertrages so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, um diese Forderungen unserer einstigen Gegner durch Zeitablauf einer Verwirkung oder Verjährung zuzuführen." (PAAA, B 86/1271, Korrespondenz April 1969)

In diesem Sinne beharren Bonn (und später Berlin) auch nach der unverhofften deutschen Einigung 1990 auf ihrer generellen Weigerung einer Schadensersatzleistung – die machtpolitisch und ökonomisch verständlich ist, denn selbst die deutsche Wirtschaft wäre überfordert, müsste sie alle Ansprüche der einstigen Kriegsgegner befriedigen. Dabei überzeugen die vorgeschobenen Erklärungen wenig: Das gilt insbesondere für die Hinweise auf den "Zeitablauf" – auf den man doch zuvor bewusst hingearbeitet hatte. Das gilt auch für Verweise auf eine über den europäischen "Topf" geleistete Struktur- und Wirtschaftshilfe, die auch Ländern wie Irland und Portugal gewährt wird, wohin nie ein Wehrmachtssoldat seinen Fuß setzte.

Zudem ist der moralische Anspruch der Griechen gewichtiger als anderswo: zum Ersten wegen der Verluste an Material und Menschen, die in Griechenland höher waren als in jedem anderen nicht- slawischen Land; zum Zweiten, da die meisten anderen ehemals besetzten Staaten bessere Gelegenheit hatten, sich selbst zu entschädigen: nämlich durch Territorialgewinne, Enteignung deutscher Minderheiten, Zwangsarbeit deutscher Kriegsgefangener, Demontage von Industrieanlagen und Zwangsexport von Rohstoffen. Die neue Bundesregierung sollte dies berücksichtigen bei der Prüfung griechischer Ansprüche hinsichtlich der von 1942-1944 allmonatlich von der griechischen Staatsbank erhobenen deutschen Zwangsanleihe, die trotz anderslautender Behauptungen keinen Reparationscharakter hat. Angesichts der vertraglich fixierten Rückzahlungszusage berechnete ein deutsches Expertenteam Anfang 1945 für die Reichsbank die Höhe dieser "Schuld des Reiches gegenüber Griechenland" auf 476 Millionen Mark - in heutiger Kaufkraft um die 10 Mrd €. (PAAA, R 27320) Auf dieser Basis könnten Verhandlungen in einer Form geführt werden, die keinen Präzedenzfall für andere Staaten darstellt. Damit wäre dem absurden Zustand ein Ende gesetzt, dass die Vertreter des NS-Regimes eine deutsche Schuld anerkannten, die von allen Bundesregierungen bislang ignoriert worden ist. Erst in den letzten Monaten gibt es vorsichtige Anzeichen für einen Gesinnungswechsel. Im Gespräch sind die Gründung einer Stiftung mit Stipendien zur Aufarbeitung der gemeinsamen Kriegsvergangenheit und zur Finanzierung eines Infrastrukturprojekts von praktischer und symbolischer Bedeutung. Auch im Koalitionsvertrag finden sich hierfür Indizien.

Vor einem halben Jahrhundert mahnten griechische Besatzungsopfer in einem Memorandum für Bundeskanzler Adenauer: "Freundschaften zwischen Völkern können nicht fundiert werden, solange zwischen ihnen der Abgrund liegt, den die Bitterkeit, der Schmerz und das Unrecht geöffnet haben." Und die ebenfalls schon historischen Worte eines französischen Widerstandskämpfers, des damaligen Präsidenten Vincent Auriol, hört man oft auch in Griechenland: "Wenn ihr euch erinnert, können wir vergessen."

Einen großen Schritt in dieser Richtung wagte am 7. März 2014 Bundespräsident Joachim Gauck. Bei seinem Versöhnungsbesuch gemeinsam mit dem griechischen Präsidenten Karolos Papoulias in der epirotischen Gemeinde Lyngiades – wo die deutschen Besatzer am 3.Oktober 1943 alle greifbaren (über 80) Einwohner ermordet hatten: größtenteils Frauen, Greise und Kinder – bat er als erster Repräsentant Deutschlands um Verzeihung für die Besatzungsverbrechen. Die entscheidenden Sätze seiner Aufsehen erregenden Rede am Denkmal für die Opfer lauteten:

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"Wir Nachgeborenen tragen persönlich keine Schuld. Und doch fühle ich an Orten wie diesem tiefes Erschrecken und eine doppelte Scham. Ich schäme mich, dass Menschen, die einst in deutscher Kultur aufgewachsen sind, zu Mördern wurden. Und ich schäme mich, dass das demokratische Deutschland, selbst als es Schritt für Schritt die Vergangenheit aufarbeitete, so wenig über deutsche Schuld gegenüber den Griechen wusste und lernte. […]

Es sind die nicht gesagten Sätze und die nicht vorhandenen Kenntnisse, die eine zweite Schuld begründen, da sie die Opfer sogar noch aus der Erinnerung verbannen. Und so möchte ich heute aussprechen, was Täter und viele politisch Verantwortliche der Nachkriegszeit nicht aussprechen konnten oder wollten: Das, was geschehen ist, war brutales Unrecht. Mit Scham und mit Schmerz bitte ich im Namen Deutschlands die Familien der Ermordeten um Verzeihung. Ich verneige mich vor den Opfern der ungeheuren Verbrechen, die hier und an vielen anderen Orten zu beklagen sind. […] Achtet und sucht die Wahrheit. Sie ist eine Schwester der Versöhnung."[1]

Quellenhinweise

BA = Bundesarchiv (Berlin – Koblenz – Freiburg) PAAA = Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin

Fleischer, Hagen: Im Kreuzschatten der Mächte. Griechenland 1941-1944 (Okkupation - Kollaboration – Resistance), Frankfurt u.a., Lang, 1986. ders.: Griechenland. In: Wolfgang Benz (Hg.). Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. München, Oldenbourg, 1991, S. 241-274. ders.: Deutsche ‘Ordnung’ in Griechenland 1941-1944. In: Loukia Droulia / Hagen Fleischer (Hg.), Von Lidice bis Kalavryta: Widerstand und Besatzungsterror. Studien zur Repressalienpraxis im Zweiten Weltkrieg. Berlin: Metropol, 1999, S. 151-223. ders.: ‘Endlösung’ der Kriegsverbrecherfrage. Die verhinderte Ahndung deutscher Kriegsverbrechen in Griechenland. In: Norbert Frei (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen: Wallstein, 2006, S. 474-534. ders.: Der lange Schatten des Krieges und die griechischen Kalenden der deutschen Diplomatie. In: Chryssoula Kambas / Marilisa Mitsou (Hg.), Hellas verstehen. Deutsch-griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert. Köln: Böhlau, 2010, S.. 205–240. http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden (http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/ Reden)

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Hagen Fleischer für bpb.de

Fußnoten

1. http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2014/03/140307- Gedenkort-Lingiades.html (http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-

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Gauck/Reden/2014/03/140307-Gedenkort-Lingiades.html)

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"Mutter Israels" Zur Geschichte der sephardischen Juden von Saloniki

Von Manuel Gogos 29.1.2014 Dr. phil, geb. 1970 in Gummersbach, ist freier Autor und Ausstellungsmacher. Seine "Agentur für geistige Gastarbeit" firmiert in Bonn. www.geistige-gastarbeit.de(http://www.geistige-gastarbeit.de)

Es waren sephardische Juden, durch die sich Saloniki zum zentralen Knotenpunkt des Balkan- Handels entwickelte. Über Jahrhunderte ist die Stadt jüdisch geprägt. Mit der deutschen Besatzung endet all das. Ihr Antlitz wird bis zur Unkenntlichkeit verwüstet, am 15. März 1943 fährt der erste Zug zu den Todeslagern der Nazis. 46.000 Juden bringen die Züge bis August 1943 in die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Treblinka. Heute leben nur noch 1200 Juden hier.

Die Lebenswelt der Sepharden von Saloniki ist eine untergegangene, eine versunkene Welt. Das Ich der Stadt war gesättigt mit jüdischer Erfahrung, bis der Einsatzstab Rosenberg mit der systematischen Zerschlagung der uralten Synagogen, reichen Bibliotheken und ehrwürdigen Nekropolen das jüdische Antlitz Salonikis bis zur Unkenntlichkeit verwüstet hat. Der Literaturnobelpreisträger Elie Wiesel hat bei einem Besuch der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki im Januar 2004 gesagt, Erinnerung sei ungerecht: "Sie ist beispielsweise ungerecht, weil sie uns nicht genug über die Rolle, die tragische Rolle der sephardischen Juden im Holocaust lehrt. Wir sprechen so viel von den polnischen Juden, den ungarischen und den russischen Juden, und niemals von den sephardischen Juden. Warum erinnert man sich ihrer nicht mit derselben Präzision, demselben außergewöhnlichen Sinn fürs Detail?"

Versunkene Geschichte

1492 erging in Spanien das königliche Dekret an die Juden, sich entweder zu taufen oder das Land zu verlassen. Wahrscheinlich von Elija Kapsali, dem Oberrabiner von Konstantinopel dazu bewogen, hat der Osmanenherrscher Sultan Bajezid II. die spanischen und portugiesischen Sepharden eingeladen, sich im östlichen Mittelmeerraum anzusiedeln, Zehntausende von ihnen kommen nach Thessaloniki. Das historische Saloniki hatte einen ausgeprägt polyglotten und multiethnischen Charakter – neben den Griechen, Muslimen und Juden hätten auch Bulgaren, Serben, Albaner, Vlachen, Pomaken und Armenier hier ihre Einträge zu machen. Die Juden aber bilden unter ihnen allen bis ins Zwanzigste Jahrhundert die Bevölkerungsmehrheit – ein Sonderfall in der gesamten Geschichte der jüdischen Diaspora. Wie die Hugenotten in Berlin sind die Sepharden von Saloniki Träger einer jahrhundertealten Erfahrung handwerklicher Produktion, Goldschmiedekunst, Seifen- und Waffenproduktion, vor allem aber der Weberei, Gerberei, Teppichknüpferei und Seidenspinnerei. Das Osmanische Reich deckt seinen Bedarf an Stoffen im 16. Jahrhundert fast ausschließlich aus den Erzeugnissen der jüdischen Weber von Saloniki. Sie statten die türkische Armee und insbesondere das Elitekorps der Janitscharen mit Uniformen aus und sichern sich so über Jahrhunderte ihren Wohlstand.

Dank der Sepharden entwickelt sich Saloniki zum zentralen Knotenpunkt des Balkan-Handels, damit aber zugleich zu einem der wichtigsten Umschlagplätze einer intellectual history zwischen dem "Orient" und "Europa". 1506 nimmt in Saloniki die erste jüdische Druckerei des Ostens ihren Betrieb auf, die Stadt schwingt sich zum Zentrum der Buchdruckerkunst im Vorderen Orient auf. Saloniki erweist sich mit seiner religiösen und weltlichen Dichtung, in Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft in

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 66 der Mitte des 16. Jahrhunderts als das europäische Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Die Stadt erlebt ihr "goldenes Zeitalter" und erhält den Ehrennamen "Madre di Israel", "Mutter Israels".

Neo-Hellenisierung

Von den Händlern des berühmten orientalischen Tabaks bis hin zu den einfachen Hafenarbeitern ist Saloniki über Jahrhunderte jüdisch geprägt. Der Ruhetag im Hafen fällt auf den Sabbath. Das Judenspanische – die alte kastilische Sprache des Miguel Cervantes – beherrscht noch bis zur Ablösung durch das Griechische nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft im Jahr 1912 den Alltag der Stadt. Noch als sich David Ben Gurion in den Jahren 1910/11 für längere Zeit in der Stadt aufhält, zeigt sich der spätere Staatsgründer Israels begeistert: "Ich sah etwas Außergewöhnliches, was ich noch nie sah. Ich sah eine jüdische Stadt, eine jüdische Arbeiterstadt." 1912 durch griechische Truppen erobert und der Neo-Hellenisierung unterworfen, werden die Juden von Saloniki, entgegen ihrem Selbstverständnis einer imperialen Zugehörigkeit unter der Pax Ottomana, zur nationalen Minderheit erklärt. Der griechische Staat verstärkt den Assimilationsdruck auf seine Minderheiten, auch für die Juden von (Thes-)Saloniki folgt nun die Zeit der Einordnung in den griechischen Staat.

Zerstörtes Antlitz

Der Nationalismus hat sich in Thessaloniki als Meister darin erwiesen, die Erbschaft des Vielvölkerstaates vergessen zu machen; der Nationalsozialismus hat versucht, alles zu zerschlagen, was das jüdische Gedächtnis der Stadt stützt und erst ermöglicht. Die Deutschen erreichten Thessaloniki am 9. April 1941. Saloniki ist eine Großstadt, die Hälfte der Einwohner sind Juden: Wo hätten sie sich verstecken sollen?

Am 15. März 1943 fährt der erste Zug zu den Todeslagern von Auschwitz und Birkenau. Bis Mitte August 1943 organisiert ein SS-Sonderkommando 19 Transporte mit etwa 46.000 Juden von Saloniki in die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Treblinka. Die Zahl der ermordeten griechischen Juden liegt bei etwa 59.000, kaum 2000 überleben. Heute besteht die jüdische Gemeinde von Thessaloniki aus gerade einmal 1200 Mitgliedern. Auf dem Gelände der Aristoteles-Universität erinnert heute nichts daran, dass der von den Deutschen zerstörte jüdische Friedhof beim Wiederaufbau der Stadt nach dem Krieg buchstäblich als Steinbruch benutzt worden ist. Manchmal nur stolpert man auf dem Campus über ein Stück alten Marmor.

"Bis mein Vater dieses Buch geschrieben hat, habe ich immer versucht, allem auszuweichen, was mit den Konzentrationslagern zu tun hatte. Ich wollte nichts davon wissen. Nach dem Buch meines Vaters konnte ich dann nicht mehr aufhören zu lesen. Ich weiß nur, dass ich fünf oder sechs Jahre meines Lebens, wichtige Jahre, in den Konzentrationslagern verbracht habe – wenn man das so sagen kann. Und seitdem kann ich darüber reden und an die Leute weitergeben, was ich herausgefunden habe. Es ist eine seltsame Sache, wenn mir jemand sagt, ich sei eine Fremde in Thessaloniki, das hier sei nicht die Heimat der Juden. Wir sind hier Zuhause. Meine Familie lebt hier zum Beispiel seit 15 Generationen. Nur wenige andere Thessaloniker können das von sich behaupten."

(Erika Perachia, Leiterin des jüdischen Museums Thessaloniki)

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Manuel Gogos für bpb.de

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"So leben bei uns nur die Aristokraten" Griechische Arbeitsmigration nach Deutschland

Von Manuel Gogos 29.1.2014 Dr. phil, geb. 1970 in Gummersbach, ist freier Autor und Ausstellungsmacher. Seine "Agentur für geistige Gastarbeit" firmiert in Bonn. www.geistige-gastarbeit.de(http://www.geistige-gastarbeit.de)

Am 30. März 1960 wird das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Griechenland unterzeichnet. Händeringend sucht das Wirtschaftswunderland Deutschland nach Arbeitskräften. In Athen entsteht die "Germaniki Epitropi": eine Außenstelle des deutschen Arbeitsministeriums, welche die berufliche und besonders die gesundheitliche Eignung der Anwärter prüfen soll.

Teil des Wirtschaftswunders

Der Selbstentwurf eines wirtschaftlichen Kraftzentrums, das ausstrahlt und wie ein Magnet seine Anziehungskraft auf die Peripherien Europas ausübt, gehört zu den zentralen Topoi einer sich (er-) findenden jungen Bundesrepublik. Trotz tiefsitzender Zweifel Seitens des deutschen Innenministeriums, das mit der Hereinnahme südeuropäischer Arbeitskräfte unkalkulierbare Sicherheitsrisiken verbunden sieht: Ende der 1950er Jahre sucht das Wirtschaftswunderland Deutschland so händeringend nach Arbeitskräften, dass auf das maßgebliche Betreiben des Wirtschafts- wie des Arbeitsministeriums am 30. März 1960 das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Griechenland unterzeichnet wird. Daraufhin richtet man in Athen die "Germaniki Epitropi" ein, eine Außenstelle des deutschen Arbeitsministeriums, welche die berufliche und besonders die gesundheitliche Eignung der Anwärter prüfen soll.

Letzter Ausweg Migration

Für die griechische Regierung in Athen hat die Emigration die Funktion eines Entlastungsventils. Bis in die 1950er Jahre war die ganze Region von Makedonien, Thessalien und Thrakien vom Tabakanbau (auf dem Land) und von der Tabakverarbeitung (in der Stadt) abhängig. Die Hafenstädte Kavala und Thessaloniki galten als Hauptumschlagplätze für den "orientalischen" Tabak. Viele der jungen Frauen, die Anfang der 1960er Jahre über Anwerbeverträge nach Deutschland kommen, hatten als Mädchen noch auf dem Tabakfeld gearbeitet. Als die griechische Tabakindustrie durch das Vordringen des amerikanischen Virginia-Tabaks nahezu vollständig zum Erliegen kommt, hat das für die ökonomische Situation in den "Armenhäusern" der nördlichen Peripherien Griechenlands katastrophale Folgen. Vielen bleibt als letzter Ausweg nur die Migration. Nach der so genannten "Kleinasiatischen Katastrophe" – dem Bevölkerungsaustausch mit der Türkei in Folge des Lausanner Vertrages von 1923 – waren zudem zwei Millionen Flüchtlinge zusätzlich zu versorgen, eine Aufgabe, der das kleine Agrarland Griechenland kaum gewachsen war. Folglich drängt das deutsche Konsulat schon im Herbst 1960 darauf, eine feste Außenstelle für die nördlichen Provinzen Griechenlands einzurichten, diese nimmt im Januar 1961 ihre Arbeit auf. Saloniki fertigt schon bald wesentlich mehr Kräfte ab als Athen, ein regelrechtes "Migrationsfieber" bricht aus, ganze Dörfer entvölkern sich. Allein am 8. Januar 1962 stellten sich 6000 Personen in der Dienststelle vor. "Der Zustrom griechischer Arbeitskräfte, die in Deutschland Arbeit aufnehmen wollen, hält aus allen Landesteilen und von den Inseln unvermindert an. Ganze Trupps von Männern [kommen] per Lastkraftwagen, zu Fuß, mit der Bahn und per Schiff, um sich für eine Ausreise in die Bundesrepublik zu bewerben."[1]

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Ein moderner Sklavenmarkt

Die Deutschlandbilder der griechischen Arbeitsmigranten setzen sich aus unterschiedlichen Fermenten zusammen: Mund-zu-Mund-Propaganda über Greueltaten der Deutschen im Krieg sowie idealisierten Bildern vom "Wunder" der deutschen Wirtschaft, wie es in der heimischen Kino-Wochenschau projiziert wird: Die Deutsche Mark strahlt große Faszination aus, man spürt dort in "Europa" geht etwas vor sich, und man könnte Teil daran haben. Es ist ein besonderer Augenblick, wenn man das Vertraute zum ersten Mal verlässt. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben sind groß, ebenso die Ängste vor dem Unbekannten. Wie Helden Schwellen überschreiten und "Prüfungen" bestehen müssen, so auch die Migranten. Es sind die reihenweise durchgeführten Leibesvisitationen, die in ihren Augen ein schier unüberwindliches Hindernis darstellen. Junge Griechinnen und Griechen treten reihenweise vor deutschen Amtsärzten an, viele wurden dabei wegen Tuberkulose abgelehnt – einer Folge ihrer kriegsbedingten Mangelernährung in der Kindheit. Hans-Jörg Eckhardt, 1965/66 Arbeitsvermittler der Deutschen Kommission in Thessaloniki, sagt heute, es sei wie ein moderner Sklavenmarkt gewesen.

"Da hab ich auch die menschlichen Leiden sehr oft leider nachvollziehen müssen, die hatten eine medizinische Untersuchung, und wenn der Arzt dann gesagt hat, nein, der hat eine gerade ausgeheilte TB oder einen Leistenbruch, kann er eben diese Arbeit auf dem Bau oder in einer Gießerei nicht machen. Am nächsten Tag kamen dann die "Lesmodas", die Ergebnisse, am Mittag bei mir an und ich musste ihnen dann durch die Dolmetscherin sagen lassen: aus gesundheitlichen Gründen kannst du nicht nach Deutschland und der oder die hatte ja dann den Hindernislauf schon abgehakt, hatte sich schon halb in Deutschland gesehen – und jetzt kam das aus! Wenn sie bei der ärztlichen Untersuchung waren, hatten die alle ihre "Prassini Charta" hier so in der Turnhose oder Unterhose drin stecken, diese "grüne Karte" war eigentlich der Eintritt, so habe ich immer gesagt, ins Paradies!"

(Hans-Jörg Eckhardt im Interview mit dem Verfasser, Stuttgart 2005.)

Weichenstellungen fürs Leben

Schon im Mai 1961 beziehen sich 58% der Anfragen bei der Deutschen Kommission Thessaloniki auf Frauen – ein Rekord der gesamten Geschichte der organisierten Anwerbung. "Inwieweit griechische Frauen und Mädchen bereit sind, eine Tätigkeit in Deutschland aufzunehmen", so heißt es in den Akten der deutschen Kommission, "wird abzutasten sein". Vielen griechischen Frauen eröffnet die Arbeit in Deutschland eine Möglichkeit, sich ihre "Prika" – die Aussteuer – selbst zu verdienen. Häufig gehen sie auch als Vorhut, um ihre Männer in Form namentlicher Einladungen nachzuziehen. Dürfen die Anwärter auf ein neues Leben passieren, setzt die legendäre Fähre Kolokotronis sie von Piräus über in ein anderes Leben.

"Ich war vorher nie irgendwo hingereist. Und da kommt meine Mutter zum Schiff, zum Hafen von Piräus, und da hat Kazantzidis so ein Lied gesungen: "Mutter ich gehe in die Fremde, wein nicht meinetwegen", so in der Art, und meine Mutter ... weinte und weinte – im Schiff haben sie’s gespielt, am Hafen, zur Zeit, als wir das Schiff bestiegen."

(Soi Becker im Inteview mit dem Verfasser, Stuttgart 2005.)

Auch der Grenzübertritt im Sonderzug von Thessaloniki aus wird für viele der griechischen Arbeitsmigrantinnen und Migranten zur "Weichenstellung" fürs Leben: "Mit teilweise über tausend Personen sind die Wagen meist gnadenlos überfüllt. Die Fahrt nach München dauert, viele sitzen zwei Tage und Nächte lang auf ihren Koffern. Die jungen Reisebegleiterinnen machen Kontrollgänge durch den Zug und belehren die Reisenden darüber, wie der Abort richtig zu benutzen sei. Die Arbeitsmigranten aus Südosteuropa kommen in München am berühmten Gleis 11 an, das die Italiener binario della speranza, Gleis der Hoffnung, getauft haben. Man bringt sie in den ehemaligen Luftschutzbunker, der zum Aufenthaltsraum ausgebaut worden ist. Hochfliegend sind die Hoffnungen, abgründig aber auch die Ängste einer Generation, die den Krieg noch nicht vergessen hat.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 69

Nachher, als wir in München angekommen waren, gehen wir zum Ausgang, und ein Deutscher sagt: " Komm, komm" und führt uns dort die Treppe runter. Und ich sag, als wir diese Stufen hinuntergehen, jetzt, Kinder, jetzt gehen wir in den Ofen... Es war natürlich nicht in Ordnung, dass ich das sagte, schließlich war es schon eine Demokratie, in die wir kamen. Später habe ich mir einen Deutschen zum Mann genommen, der bei der Bahn arbeitete – Stell dir vor, was alles passiert! "

(Soi Becker, ibd.) Von München aus werden die griechischen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter weiter vermittelt nach Nürnberg und Stuttgart, Köln und Düsseldorf, Hamburg und Berlin. Sie kommen vorrangig in der metallverarbeitenden und chemischen Industrie, der Textilbranche und der Feinelektronik zum Einsatz. Ihr Anfangsoptimismus speist sich nicht zuletzt aus dem Stolz, in Deutschland gebraucht zu werden, selbst ein Teil des "Wunders" der deutschen Wirtschaft zu sein.

Leben im Schatten der Schichtarbeit

Doch ihre Hoffnung, in Deutschland zu schnellem Reichtum zu kommen, erfüllt sich nicht. Die Arbeitsmigranten, die in der Mehrzahl aus den Agrarregionen Nordgriechenlands kommen, müssen in der deutschen Industrie einen rasanten Anpassungsprozess durchlaufen. Die Leute sind harte Arbeit gewöhnt; trotzdem verlangt die Arbeit in Deutschlands Fabriken im Zeichen des Akkords eine ganz neue körperliche und psychische Disziplin. Zudem suchen viele Firmen ihre "Gast-Arbeiter", häufig im Rückgriff auf die Baracken-Architektur der Kriegszeit, nur notdürftig, provisorisch unterzubringen. Viele der Migranten lebten so, zumal in der ersten Zeit, in Massenquartieren, man kann sagen, in einer "Lager"-Struktur. Selbst Partnerschaft und Kindererziehung standen damit im Schatten der Schichtarbeit.

Erfolgsdruck

Den Löwenanteil des Verdienstes überweisen die griechischen Arbeitsmigranten nach Hause, um ihre Familien zu unterstützen und die eigene Rückkehr vorzubereiten. Die heimischen Ökonomien rechnen so fest mit diesen Devisen, dass manche der Migranten das Gefühl beschleicht, man habe sie nach Deutschland "verkauft". Das ‚Markenbewusstsein’ der deutschen Wertarbeit setzt sich auch bei ihnen durch. Während der Arbeitszeit am Fließband träumen sie sich dem Mercedes entgegen. Mit der Trophäe sonnt man sich in der Bewunderung derer, die nie aus dem Dorf herausgekommen sind. Man erfindet sich ein Leben.

Heimkehr oder Niederlassung

Von der Migration zur "Einwanderung" ist es noch ein weiter Weg. Es bedeutet Anspannung, sich in einem fremdsprachlichen Raum zu bewegen. Es kostet Anstrengung, neben und nach der Arbeit eine Sprache zu lernen. In der Begegnung mit den Einheimischen ist da immer ein Gefälle: Wo der eine stottert, um jedes Wort ringt, da zeigt der Andere sein Heimrecht schon allein, indem er die Sprache beherrscht. Die Mehrheit der Griechen hat darum ihre Zelte in Deutschland wieder abgebrochen: Sie sind heute die Besitzer jener Bauten rund um den heimatlichen Dorfkern, Altersvorsorge in Beton gegossen. Andere haben den Traum von der Rückkehr nie aufgegeben, aber immer weiter aufgeschoben. Allmählich gewöhnten sie sich ein, eröffneten Nähereien, Tavernen und "Patatadikes" – Pommesbuden. Durch die Opferbereitschaft der ersten Gastarbeitergeneration haben ihre Kinder studieren und den "langen Marsch" durch die deutschen Institutionen antreten können.

Die Heimkehrer nach Griechenland wie die Niedergelassenen hierzulande unterhalten weiterhin enge Beziehungen zu einander. Und so erscheinen ihre transnationalen Migrationen heute in einer Zeit großer Mobilität nicht mehr so endgültig wie einst. Mit einer Art elliptischen Bewußtseins pendeln sie, machen den Raum immer enger, "beamen" sich nach "unten" ans Mittelmeer und wieder "herauf", als

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 70 würden sie nur von einem Zimmer ins andere gehen.

"Diese 50 Jahre, die wir hier leben, enthalten eine große Geschichte und diese lässt sich weder in der Rede eines Politikers, noch in einem Artikel in einer Zeitschrift oder Zeitung wiedergeben, das sind nur Oberflächlichkeiten. Ich erinnere mich nicht daran, je den Gedanken gehabt zu haben, warum lebe ich hier. Auch heute noch, wo ich schon 60 Jahre alt bin, gehe ich noch zum Fußballplatz und spiele, auch wenn ich jetzt nur noch der einzige Grieche unter allen Deutschen bin, es macht mir sehr viel Spaß. Wenn ich noch einmal geboren würde, und noch einmal auf diese Welt käme, dann würde ich mir die gleiche Mutter, die gleichen Eltern wünschen, die gleichen Geschwister und die gleiche Heimat. Und ich würde wieder hier leben wollen, so wie ich es getan habe."

(Evangelos Tetos im Interview mit dem Verfasser, Essen 2010.)

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Manuel Gogos für bpb.de

Fußnoten

1. August 1960, BAK 119 / 3075.

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"Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker" Der demokratische Kampf gegen die griechische Obristendiktatur (1967-1974)

Von Manuel Gogos 29.1.2014 Dr. phil, geb. 1970 in Gummersbach, ist freier Autor und Ausstellungsmacher. Seine "Agentur für geistige Gastarbeit" firmiert in Bonn. www.geistige-gastarbeit.de(http://www.geistige-gastarbeit.de)

Mit dem Staatsstreich vom 21.4.1967 übernimmt der Generalstabschef der Armee Papadopoulos die Macht in Griechenland. Tausende Demokraten werde binnen kürzester Zeit verhaftet. Die Putschregierung wird dafür vom Westen heftig kritisiert. Und Oppositionelle, die aus Griechenland ausgebürgert werden, bekommen in Deutschland aus Solidarität Fremdenpässe.

Der Putsch

Seit dem Zweiten Weltkrieg wird Griechenland immer wieder von schweren politischen Unruhen zerrissen. Gleichzeitig höhlt die wirtschaftliche, soziale und politische Misere Griechenlands demokratische Strukturen aus. Die innenpolitische Dauerkrise nach der Entlassung von Georgios Papandreou aus dem Amt des Ministerpräsidenten am 15. Juli 1965 findet ihren dramatischen Höhepunkt mit dem Staatsstreich am 21.4.1967: Im Einverständnis mit dem König Konstantin übernimmt der Generalstabschef der Armee Papadopoulos die Macht. Die Obristen handeln entschlossen, gemäß einem Plan, der bereits seit zwei Jahren vorbereitet worden war. Der Putsch verläuft militärisch wie am Schnürchen. Für die Bevölkerung wird eine Ausgangssperre erlassen, die Schulen bleiben geschlossen, Zeitungen dürfen nicht erscheinen. Athen gleicht einem Heerlager. Panzer sichern den Königspalast und sind ständig in den Straßen präsent. Auf den von schwer bewaffneten Militärs umstellten Fußballfeldern von Athen und Piräus werden die ersten provisorischen "Internierungslager" errichtet. Im Schutze der Nacht finden Verhaftungswellen statt, anhand schwarzer Listen werden in kürzester Zeit Tausende demokratische Persönlichkeiten vor allem aus der liberalen Zentrums-Union, der Demokratischen Linkskoalition EDA und der Lambrakis-Jugend verhaftet. Zu ihnen gehört auch der griechische Komponist Mikis Theodorakis. Die Militär-Junta verbietet seine Lieder, auf den Verkauf einer Platte stehen vier Jahre Gefängnis. Theodorakis wird in ein Bergdorf verbannt, mit Hilfe von winzigen Tonspulen in den Knöpfen seines neunjährigen Sohnes Giorgios schmuggelt er seine Lieder heraus. Seine Musik wird zum Schibboleth der Oppositionellen, wie ein inneres "Summen" breitet sie sich über das ganze Land aus.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 72 Im Sog der Revolte

Während dessen setzt in Deutschland eine Fülle von Aktivitäten gegen die Diktatur ein. Bereits am ersten Wochenende nach dem Putsch gibt es unter den griechischen Gastarbeitern in Deutschland erste Demonstrationen. Deutschland, mit seiner bereits gut etablierten Kolonie von Griechen, wird in Europa ein Brennpunkt dieser antidiktatorischen Agitation. Diese oppositionellen Aktivitäten verstärken die Sorge des deutschen Innenministeriums, mit den Gastarbeitern könnten links-radikale Kräfte ins Land gekommen sein. Jede Form kommunistischer Aktivität seitens der Gastarbeiter steht unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Die Lambakis-Jugend, der Mikis Theodorakis vorsteht, schätzt man für dezidiert kommunistisch ein, und man hält sie in Deutschland für sehr aktiv – sogar das "Z" als Erkennungszeichen der Vereinigung wird an deutschen Häuserwänden in Hamburg, Hannover, Stuttgart und München entdeckt.

Es ist die Zeit der deutschen Studentenrevolte. Weil die deutsche Linke in den Gastarbeitern ihr neues revolutionäres Subjekt sehen will, gehen viele politisch Bewegte in die Betriebe, um die Gastarbeiter zu agitieren. Viele haben damals auch im Republikanischen Club – einem Verein der Außerparlamentarischen Opposition in Berlin - begeistert die revolutionäre Naherwartung geteilt, oder auch in WG-Betten die kulturellen Grenzen eingerissen. Rudi Dutschke ruft Griechenland zu "Europas Vietnam" aus, als politisch Verfolgte werden griechische Exilanten in den Augen vieler deutscher Linker damit nachgerade zur heroischen Figur. Die Studentenrevolte entwickelt eine klare Stoßrichtung gegen die letzten Diktaturen Europas. Gerade in der Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit und den Elitenkontinuitäten im Adenauerstaat gewinnen die deutschen Protestierenden ihr Profil. Insbesondere ihnen muss die Existenz faschistischer oder faschistoider Regime in Griechenland, Spanien, Portugal, aber auch im Iran oder Chile skandalös erscheinen. Bahman Nirumand, Iranischer Exilant und Autor des Buches "Persien, Modell eines Entwicklungslandes" (1967), erinnert sich: "Nach und nach kamen Dinge aus der jüngsten Vergangenheit der Bundesrepublik heraus. Und jede dieser Informationen war ein Schock. Und dann haben sie sich umgeschaut und gesehen: Im eigenen Land sitzen dieselben Leute noch in der Regierung. Und rundherum in Europa – in Portugal, in Spanien, in Griechenland – waren ebenfalls die Faschisten am Werk – das ist ein System! Und dieses System muss durchbrochen werden." (Bahman Nirumand, Berlin, im Interview mit dem Verfasser 2008) Aber es ist nicht allein jene "kleine radikale Minderheit" der 68er, die es skandalös findet, von faschistoiden Systemen gewissermaßen "umzingelt" zu sein; auch Kirchen, Gewerkschaften, kritische Medien und nicht zuletzt Parteien wie die SPD bringen sich Ende der 1960er Jahre "Wider die Diktaturen an der Wiege der Demokratie" in Stellung. Robert Wieland, IG-Metallbevollmächtigter des Rheinisch- Bergischen Kreises, entfacht Mitte Mai 1968 in einer Pressekonferenz in Köln eine Kampagne gegen die Griechischen Sozialräte als Handlanger des Obristen-Regimes, und am 7.6.1968 bringt auch "Monitor" einen Bericht, der sich dezidiert gegen die Griechische Botschaft in Bonn als "Außenposten der Junta" wendet.

Der "Fall Mathiopoulos"

Während des Obristen-Putsches befindet sich der griechische Journalist Dr. Basil Mathiopoulos mit einem Fernsehteam um den prominenten Fernsehjournalisten Thilo Koch in Athen, um den Film "Sie kamen und blieben" über griechischen Arbeitnehmer in Deutschland zu drehen. Da der Journalist Mathiopoulos stets nachdrücklich für Demokratie und Freiheit in Griechenland eingetreten ist, steht auch sein Name auf der Verhaftungsliste der Obristen. In seiner Not sucht er in der Deutschen Botschaft von Athen Zuflucht, nach drei Wochen wird er auf die persönliche Intervention des deutschen Außenministers Willy Brandt hin ausgeflogen. "Die Junta war wütend. Sie erwarteten gar nicht von Deutschland so eine Reaktion. Papadopoulos war außer sich vor Wut. Er verstand überhaupt nicht, warum. Die Deutschen, dachte er, sind doch konservativ! Wissen Sie, Europa hat aus folgendem Grund so reagiert: es war die erste Diktatur in einem europäischen Land nach der NS-Zeit. Franco und Salazar waren schon Jahrelang da. Aber ausgerechnet in Griechenland, wo jeder Gebildete sagte, die Demokratie ist in diesem Land gemacht...!"(Basil Mathiopoulos, Bonn, im Interview mit dem Verfasser 2006)

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Diplomatische Hintergrundaktivitäten

Vom Bekenntnis zum konsequenten und militanten Antikommunismus hatte sich die griechische Militärregierung die Anerkennung seitens des Westbündnisses erhofft. Doch die neue, SPD-geführte Regierung setzt andere Zeichen: Als griechische Konsulate damit beginnen, Oppositionellen den Pass abzunehmen und sie aus Griechenland auszubürgern, erhalten sie in der Bundesrepublik in einer Geste ausdrücklicher Solidarität Fremdenpässe ausgestellt. Einer der Staatenlosen, die einen solchen Fremdenpass erhalten, ist Basil Mathiopoulos: "Am zehnten November 1967 stand in der deutschen Presse, dass ich ausgebürgert worden war. Und an diesem Tag hatte Willy Brandt, immer noch Außenminister, im Tulpenfeld seine erste Pressekonferenz. 200 Leute, Deutsche und Ausländer. Da hat er über alles gesprochen, und am Schluß steht er auf und sagt: ‚Liebe Kolleginnen und Kollegen’ – weil er auch Journalist gewesen war – ‚Heute haben wir eine sehr traurige Nachricht gelesen. Es geht um einen guten Freund und Kollegen von uns. Ich weiß genau, was das bedeutet – weil die Nazis mit mir das selbe gemacht haben...!" (Basil Mathiopoulos, Bonn) Wallraffs Griechenlandaktion

Aber die deutsch-griechische Solidarität zur Junta-Zeit hat noch radikalere, aufopferungsvollere Formen angenommen. Im Jahr 1973 kettet sich der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff am Athener Syntagmaplatz an, um auf den unhaltbaren Zustand einer Diktatur ausgerechnet an der Wiege der Demokratie hinzuweisen. "Ich habe Altgriechisch in der Schule gehabt, für mich waren griechische Klassiker prägend. Sokrates habe ich kürzlich noch gelesen, die Stoiker, das sind Lebenshilfen, Techniken, sich gegen eine feindliche Umgebung zu behaupten. Aber auch auf ganz profaner Ebene gibt es die Verbindungen: Ich habe in Fabriken gearbeitet, und habe da immer wieder auch griechische Arbeiter erlebt, die Gegner des Regimes waren, Demokraten waren, Sozialisten, Kommunisten, die hier wiederum aufgrund ihrer Gegnerschaft überwacht wurden, drangsaliert wurden, Verhören ausgesetzt waren – unsere Überwachungsapparate haben ja Hand in Hand mit solchen Unterdrückungsapparaten gearbeitet – das darf man heute alles auch nicht vergessen." (Günter Wallraff, Köln, im Interview mit dem Verfasser 2006) Mit der Zeit verkürzt die Junta in Griechenland das Ausgehverbot, Banken arbeiten wieder, Flugplätze nehmen ihren Betrieb auf, Kinos öffnen. Nach der strikten Warnung, das Regime in irgendeiner Weise zu kritisieren, dürfen die Zeitungen wieder erscheinen. Die Diktatur wird "unsichtbar". Man glaubte nicht mehr an ein baldiges Ende. Und genau in dieser Zeit habe ich mir gesagt: Jetzt wirst Du selbst dich in die Rolle eines politischen Gefangenen begeben. Da gehörte nicht viel zu. Mich einfach an einen Lichtmast – das hat ja auch ne Symbolik – anzuketten, mich da zu manifestieren vor dem ehemaligen Parlamentsgebäude am Syntagmaplatz, und dann Flugblätter in verschiedenen Sprachen zu verteilen, Griechisch, Deutsch, Französisch, Englisch, wo ich freie Wahlen forderte, Freilassung der politischen Gefangenen, und noch ein Touristenboykott ankündigte. Und das wurde sehr ernst genommen. Sehr schnell kamen Zivilpolizisten, die schlugen einen vor Ort zusammen. Schläge in die Milz, konnte dann nicht mehr schreien, wurde dann mit irgendwelchen Schlagstöcken am Kopf blutig geschlagen, der Kopf immer wieder gegen so eine Betonkante geschlagen, also ich war schon vor Ort übel zugerichtet. Ich glaub zwei Tage war ich in dieser Zelle, dann wurde ich überführt. Man verurteilte mich zu vierzehn Monaten Gefängnis – das war übrigens genauso berechnet, ich hatte mit einem halben Jahr bis zwei Jahren gerechnet, Misshandlung, Folter wahrscheinlich. Ich hab vor Gericht gesagt: Sie haben außer Gewehren und Panzern sowieso nichts zu bieten, die Zeit arbeitet gegen sie, sie haben bestenfalls noch den amerikanischen CIA als Zuhälter im Rücken – ich habe die also auch provoziert. Übrigens: Die Griechenlandaktion war für mich die bedeutendste, die prägendste und wichtigste Aktion überhaupt, die ich in meinem Leben gemacht habe. (Günter Wallraff, Köln, im Interview mit dem Verfasser 2006)

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"Das wahre Leben ist anderswo" Zum Griechenlandtourismus der Deutschen

Von Manuel Gogos 29.1.2014 Dr. phil, geb. 1970 in Gummersbach, ist freier Autor und Ausstellungsmacher. Seine "Agentur für geistige Gastarbeit" firmiert in Bonn. www.geistige-gastarbeit.de(http://www.geistige-gastarbeit.de)

Arbeitsmigration und Tourismus: Das sind die beiden großen Wanderungsbewegungen des 20. Jahrhunderts, und beide suchen sie nach dem wahren Leben anderswo. Während die Militärjunta regiert, beginnt die erste Hochphase des deutschen Griechenlandtourismus. Die ideale Gegenweltlichkeit Griechenlands konnte auch der Massentourismus nicht gänzlich auflösen.

Deutsches Urlauberpaar auf der griechischen Insel Thassos, 1958. Lizenz: cc by-nc-sa/3.0/de (CC, Gerhard Haubold)

Während Günter Wallraff sich 1974 auf dem Athener Syntagmaplatz ankettet, um gegen die Junta zu demonstrieren, ruft er gleichzeitig zum Tourismusboykott auf. Dennoch fällt die Zeit der griechischen Militärjunta (1967-1974) mit der ersten Hochphase des deutschen Griechenlandtourismus zusammen. Arbeitsmigration und Tourismus, die beiden großen Wanderungsbewegungen des 20. Jahrhunderts, beide suchen sie nach dem wahren Leben anderswo. Bis in die 1960er Jahre gibt es noch keine regelmäßigen Fährverbindungen von griechischen Inseldörfern ans Festland, Esel stehen noch nicht unter Naturschutz und die Kinder laufen noch neben dem Auto des Fremden her, staunenswert als schlüge ein Pfau sein Rad. Mancher deutsche Theologiestudent der ersten Stunde hat dies "ursprüngliche" Griechenland bei seinen griechischen Querfeldein-Wanderungen noch selbst erlebt,

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 76 als man die Gastfreundschaft so heilig hielt, dass Gäste mit einem Teelöffel Rosen-Marmelade willkommen geheißen wurden und die Gastgeber für ihren Gast selbst noch ihr eigenes Bett räumten. Doch konnten diese innigen Formen der Gastfreundschaft die Zeit der aufkommenden Tourismus- Industrie schwerlich überleben.

Vorläufer der Griechenlandfahrt – Alfons Hochhauser

Im 19. Jahrhundert waren es meist noch imaginäre Reisen, die Deutsche nach Griechenland unternahmen, wie der fiktive Griechenland-Überflug von Friedrich Hölderlins "Hyperion". Im 20. Jahrhundert kommen Reisende tatsächlich hierher, wie Alfons Hochhauser, einer der ersten "Aussteiger", die im Umfeld der Lebensreformbewegung die Länder südlich der Alpen erkundet haben. Mit 14 von zu Hause ausgerissen, tingelt der Österreicher durch Spanien, Tunesien und Palästina. Doch als er im Frühjahr 1927 von griechischen Freunden zu einer Bootsfahrt entlang der Pilion-Gebirges eingeladen wird, da hat die Fahrt für ihn etwas Schicksalhaftes: "Mir war, als sei ich hier schon einmal gewesen. Ich sah diese herrliche, wilde Küste mit ihren Höhlen, Klüften und Schluchten und wusste: Ich war angekommen."

Junge deutsche Urlauberin auf der Insel Thassos im Im Pilion-Gebirge hat der frühe Griechenlandfahrer als Hirte im Gebiet der Maries-Tal, 1958. Lizenz: vergessenen Ruinenstadt Mitzela in einem hohlen Baum gelebt, hier hat er in cc by-nc-sa/3.0/de (Gerhard Haubold) einer Felsenhöhle der schroffen Kuluribucht mit seiner griechischen Frau eine Kneipe für Dynamitfischer aufgemacht. Auch philhellenische Motive sind in dieses Narrativ eingeschlossen wie eine Fliege in Bernstein. Hochhauser war bekennender Anhänger der zwölf Olympischen Götter, er fühlte sich selbst als Grieche: "Mir liegt die Kultur dieses Landes seit meiner Schulzeit sehr am Herzen. Die meisten Unterrichtsstunden behandelten das antike Griechenland. Die Lieb und Bewunderung für sie haben mir Flügel verliehen und mich zum Berg der Zentauren gebracht, wo ich so viele Jahre gelebt habe. Und die nächtlichen Geräusche des Waldes waren mir bald so vertraut wie das Uhrticken in der Diele meines Elternhauses."

Durch Werner Helwigs Abenteuerroman Raubfischer in Hellas (1939), dem diese Erlebnisse als Vorlage dienten, wurde der Griechenlandfahrer Hochhauser weltbekannt. 1942 erfährt der deutsche Unterwasserpionier Hans Hass, der gerade zu einer Tauchexpedition in die Ägäis rüstet, dass es den Helden aus Helwigs Roman tatsächlich gibt. Er sucht Alfons Hochhauser in Berlin auf und gewinnt ihn als Teilnehmer für seine Expedition. Dabei wird auch die wohl berühmteste Zeus-Statue aufgefunden, sie steht heute im Nationalmuseum in Athen.

Die Griechenlandbücher Erhard Kästners

Auch Erhard Kästners Griechenland-Bücher haben im Nachkriegsdeutschland Kultstatus erlangt. Kästners guter Ruf als Bibliothekar von Wolfenbütttel wies ihn als bekennenden Philhelenen aus, seine Reputation war lange Zeit unbestritten. Tatsächlich konnte es zur Abfassung seiner Griechenland- Bücher wie "Ölberge, Weinberge" (1974), "Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos" (1974) oder "Kreta" (1975) aber nur kommen, weil Kästner sich – nach seinem Eintritt in die NSDAP – freiwillig nach Griechenland meldete, um zur Zeit der deutschen Besatzung dort umherzureisen und den Wehrmachtssoldaten in Buchform Land und Leute zu erklären. Der Journalist Arn Strohmeyer hat Erhard Kästner darum in seinem Buch "Dichter im Waffenrock" zu Recht als NS-Propagandisten bezeichnet.

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Schafhirten im Mariestal auf der Insel Thassos, 1957. Lizenz: cc by-nc-sa/3.0/de (Gerhard Haubold) Am 29.9.1942 schreibt Goebbels, die baldige Veröffentlichung von Kästners erstem Griechenland- Buch sei dringend erwünscht. Das Propagandaministerium bezahlt die Veröffentlichung, und es kommt selbst auf seine Kosten. Zwar fühlt sich Kästner gelegentlich einmal von einem hübschen Mädchengesicht an den Adel der alten Griechen erinnert; ansonsten aber kann man sich darauf verlassen, dass der Autor die Neugriechen verschmäht: "Mein Gott, wo kommt das Kind her? Hier mitten unter den kleinen Lemuren und Affengesichtern?" Die einzigen, die dem deutschen Romantiker und Bukkoliker, der sich als "Pilger" im heiligen Land unterwegs sieht, von der Hetze ausnimmt, sind die Hirten. "Hirten Griechenlands! Es will mir scheinen, als ob hier vielleicht bei euch allein das heilige Feuer von einst von Mann zu Mann weitergereicht worden ist und immer noch glimmt."

Ansonsten, so suggeriert Kästner, sind es vielmehr die deutschen Soldaten, die es verdienen, die griechischen Heroen der Antike zu beerben. Kästners erstes Griechenland-Buch erscheint in einer Auflage von 500 Stück, ehe die deutsche Luftwaffe weitere 10.000 Exemplare ordert – für jene Soldaten, die in Kreta eingefallen waren, und denen Kästners Werk in seiner unbereinigten Version aus dem Krieg gewissermaßen noch auf den Leib geschneidert ist.

"An dieser Stelle unserer Fahrt begegneten wir einem Zug, der nordwärts fuhr. Es waren Männer von Kreta, die von dort kamen und nun einem neuen Ziel und einem neuen Kampf entgegen gingen. Und nun öffneten sich die Abteile, immer mehr kletterten von den Wagen und rannten im vollen Lauf über den weißen Strand ins köstliche, blinkend blaue Meer. Und als ob ein geheimes, der Landschaft innewohnendes Gesetz es so wollte, fiel es kaum einem ein, die Badehose zu tragen. Unversehens ergab sich ein völlig klassisches Bild. Sprühend im Licht dieses Morgens und im Glanz ihrer jungen Nacktheit tummelte sich die Schar dieser Eroberer am fremden Meer."[1]

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 78 Blumenkinder

In den späten 1960er Jahren kommen die Hippies auch in Griechenland an. Der Hippietrail führt nach Süden und nach Osten, manche Aussteiger kommen bis Ibiza oder Marokko, andere führt der Weg auf dem Autoput der Gastarbeiter durch Österreich, den Balkan und eben Griechenland in die Türkei, nach Afghanistan, Pakistan und Indien. Dabei machten viele Zwischenstation auf den griechischen Inseln. Orte wie Matala auf Kreta haben so ihren eigenen Mythos geschaffen, sogar Hippie-Prominenz wie Cat Stevens, Leonard Cohen oder Janis Joplin sollen hier gesehen worden sein. Berühmt war das Fischerdorf Matala besonders für seine Höhlen am Meer. Wehrmachtssoldaten versteckten hier ihre Waffen, ehe die Hippies sie als Behausung entdecken. Der Migrations- und Tourismusforscher Mark Terkessidis sieht in der imaginären Vorstellungswelt der touristischen Griechenlandfahrer darum sogar Parallelen zu den Wehrmachtssoldaten, die sich zwanzig Jahre zuvor nackt in die Fluten des Mittelmeers stürzten.[2] "In Matala lebt man nackt und bärtig. Wilde, dionysische Strand-Partys in den Nächten. Man sitzt ums Lagerfeuer und spielt Bouzouki, im Vollrausch meinen viele, die Gestalten des griechischen Mythos vorbeilaufen zu sehen. Morgens dann hat der Blick von den Höhlen etwas unschuldiges wie am siebten Schöpfungstag: Nur Steine, Wasser, Licht. Darin besteht das ganze utopische Imaginäre des Tourismus: Ein erfüllteres, authentischeres Leben zu führen, an einem Platz, an dem man einen quasi paradiesischen Zustand erleben kann. Für viele Touristen der frühen 1970er Jahre verbindet sich dieser Traum eines Ausbruchs aus dem eigenen Alltag ausgerechnet mit einem Land, dessen Inseln für Gegner der Junta – interniert in Konzentrationslager und der Dürre und gleißenden Sonne schutzlos preisgegeben – auch die Hölle bedeuten konnten." Tanz den Alexis Sorbas

In ihren nudistischen Tendenzen bringen die Hippies zur Zeit der Obristendiktatur die bukolische Idylle nach Griechenland zurück. Mit Ledersandalen und Hirtentaschen suchen sie nach dem einfachen, dem authentischen Leben. Darin huldigen sie dem Lebenskünstler Alexis Sorbas, einem sechzigjährigen Mazedonier mit türkischem Namen, der in seinem Tanz Schwerkraft und Schwermut aufhob, der leckere Suppen kochte und sich grämte, wenn eine hübsche Frau in der Nacht allein bleiben muss; Sorbas, der Eingeborene, der Edle Wilde, welcher unglaubliche Dinge sagt und verrückte Dinge tut, war Kult. Zwar hatte nicht jeder das Buch des griechischen Romanautors Nikos Kazantzakis gelesen; aber alle kannten die Verfilmung von Cacoyannis aus dem Jahre 1964 – Anthony Quinn in der Hauptrolle ist als Prototyp des Griechen überhaupt ins kollektive Unbewusste der Völker eingegangen. Mit seinem Tsifteteli auf die Musik von Mikis Theodorakis erweist sich der "malerische Neohellene" Sorbas als Opfer der Orientalisierung durch Hollywood: Wenn Sorbas der Prototyp eines Griechen ist, dann wird das ewige Land der Griechen zum Planet der Affen.

Griechenland-Reflexe in der deutschen Alltagskultur

Bereits in den 1950er Jahren begann der deutsche Schlager zu spüren, dass sein Traum vom "Himmel auf Erden" vielleicht besser auf Capri zu finden wäre. In den 60ern entdeckt man den Orientalismus a la "Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe", und in den 70ern wird das "Schöne Mädchen aus Arkadia" zum Favoriten auf dem Schlagermarkt wie im Reisebüro. Während Udo Jürgens in seinem Evergreen "Griechischer Wein" den deutschen Schlager mit der Gastarbeiterschnulze verschmilzt, stürmen zugleich die Exoten selbst die Hitparade: Neben Rex Gildo und Wencke Myhre singen nun Costa Cordalis und Vicki Leandros oder Demis Roussos. Ein ganzes Potpourri klingt da in den Ohren: "Ich war ein Vagabund der Liebe", "Die Bousouki klagt durch die Sommernacht", "Mannomann, der Wein von Samos..." – es ist diese Hitparade, mit der die Kinder deutscher, griechischer wie deutschgriechischer Familien gleichermaßen aufgewachsen sind. "Es ist schon interessant, wie das im Schlager reflektiert wird. Weil die Suche nach dem Paradies bestand ja dann auf mehreren Ebenen: Eine davon war der Tourismus mit dem reellen Ortswechsel. Eine Form war der Schlager, wo man das auch zu Hause erleben konnte. Und eine Form war auch das Restaurant, das griechische oder italienische, wo die echten italienischen oder griechischen Kellner da standen und einen bedienten und wo das sozusagen einen Miniurlaub für einen Abend ermöglichte."

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(Mark Terkessidis, Berlin 2010) Die Verklärung des Griechenlandfahrers

Das Arsenal von griechischen Ausflugs- und Urlaubsbildern ist unerschöpflich. Dabei erscheinen die unzähligen Postkartenansichten von Kykladen und Sporaden in den letzten Jahrzehnten eines massierten, pauschalen Tourismus vielmehr als "Potemkinsche Dörfer" – Theaterkulissen, Lockszenarien, Knoten eines großen Spinnennetzes, in dem die heutigen Griechen notgedrungen sitzen, um Touristen auszunehmen. Es ist dies die tiefe Paradoxie des Tourismus: Selbst wenn der Tourist auf der Suche nach dem Ursprünglichen immer weiter ins Landesinnere vorstößt, oder auf immer entlegenere Inseln ausweicht – letztlich ist er selbst es, der die Ursprünglichkeit, die er suchte, zerstört. Die "unberührte Landschaft" kann unter den Umständen nicht "unberührt" bleiben – wenn sie es denn je war. In den 1980ern tritt das Mittelmeer als missachtete Landschaft hervor, das Projekt eines überfischten Meeres als zoologischer Schutzpark scheint nicht mehr utopisch. Reist man heute nach Griechenland oder in andere Länder Südeuropas, sucht man mit der Kamera gern jenes pastorale Bild der frühen 1970er; Details, die dabei die Idylle stören könnten – wie Industrieanlagen, Umweltverschmutzung, oder eben andere Touristen – werden dann im Sucher ausgespart. Und doch: selbst unter dem Andrang des Massentourismus und trotz all dieser blinden Flecken scheint die Ägäis ihre ideale Gegenweltlichkeit bis heute nicht ganz eingebüßt zu haben.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Manuel Gogos für bpb.de

Fußnoten

1. Z.n. Arn Strohmeyer, Dichter im Waffenrock: Erhart Kästner in Griechenland und auf Kreta 1941 bis 1945, Mähringen 2006, S. 43. 2. So im Interview mit dem Verfasser, Berlin 2010. Vgl. auch "Fliehkraft: Gesellschaft in Bewegung – von Migration und Tourismus" von Tom Holert und Mark Terkessidis, Köln 2006.

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Athener Straßenbilder Soziale Realität in Griechenland heute

Von Maria Topali 3.2.2014 promovierte Juristin und Lyrikerin, Jurastudium in Athen und in Frankfurt, Stipendium der Daimler-Benz-Stiftung, lebt in Athen und arbeitet am Nationalen Zentrum für Sozialforschung (gr. EKKE). Literaturkritikerin für "" (Sonntagsblatt) und die Zeitschrift "Poiitiki" sowie für verschiedene Literaturzeitschriften.

Seit mehr als drei Jahren durchleben die Griechen, vor allem in Athen, den Zusammenbruch alltäglicher Routinen und die Entfremdung von dem, was einst das "normale Leben" ausmachte. Allein die Arbeitslosigkeit stieg zwischen 2008 und 2013 von 7% auf 27%. Unter jungen Frauen beträgt sie 50%, unter Männern 23%.

Die Krise hat viele Gesichter

Wie sich die Krise auf griechischen Straßen anfühlt? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage wäre zwangsläufig vermessen. Extreme Unterschiede existieren zwischen der Hauptstadt Athen, die allem Anschein nach den Mittel- und auch Tiefpunkt der Krise darstellt, und der griechischen Provinz. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung Griechenlands lebt im Großraum Athen. Extreme Unterschiede existieren selbst innerhalb dieses Großraums. Im Zentrum von Athen treffen die verschiedenen "Realitäten" in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit aufeinander: Hier gibt es sowohl Gegenden, vor allem Teile der Stadtmitte, wo die "Wunden" der sozialen Not schon beim ersten Blick sichtbar sind, als auch solche, wo der uneingeweihte Spaziergänger keine Spur von Krise, Armut und Not wahrnehmen kann.

Bleibt man beim äußeren Schein, bei dem also, was einem im Sommer 2013 durchs Land reisenden Besucher sichtbar vor Augen tritt, so öffnet sich ein breites Spektrum von Aspekten der Krise. Am finsteren Ende steht mit großer Wahrscheinlichkeit ein Teil der Stadtmitte Athen (grob skizziert als die weitere Umgebung des Omonoia-Platzes); das helle Ende würden wohl die touristischen Regionen des Inselstaates Griechenland ausmachen: Kreta, Mykonos, Santorini usw. In einer Grauzone dazwischen fänden sich zahlreiche Wohngebiete der Stadt Athen und des sie umgebenden Großraums (Piräus und Vororte), daneben ärmere Regionen der Stadt Thessaloniki sowie anderer Großstädte des Landes. Dort wird man zwar keineswegs direkter Zeuge von Phänomenen einer grassierenden Armut oder eines Zusammenbruchs, wie man sie aus der sogenannten "Dritten Welt" oder aus Krisengebieten kennt, wo Krieg und Gewalt herrschen. Es handelt sich eher um ein depressives Bild des allgemeinen Niedergangs und der Verlassenheit, das an die Länder in der Endphase des ehemaligen Ostblocks erinnert.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 81 Verzerrte Wahrnehmungen

Einen weiteren, für den ausländischen Besucher weniger zugänglichen, Aspekt stellt der Krisendiskurs dar, wie ihn die Medien in Griechenland maßgeblich bestimmen. Dass Medien zur Übertreibung neigen, ist bekannt, in Griechenland ist ihre Hysterie aus einer Reihe von speziellen Gründen allerdings ganz außerordentlich hoch entwickelt. Erstens verzichtet der öffentliche politische Diskurs im Lande in der Regel weitgehend auf die Verwendung von Tatsachen, Daten oder Zahlen. Es herrscht die Meinungsmache vor, steile Thesen ohne Fakten. Zweitens gibt es aus kulturpolitischen und gesellschaftlichen Gründen – ich spreche von der unseligen populistischen Tradition in der griechischen Politik der letzten Jahrzehnte – eine gewisse Neigung zu lauten und dramatischen Tönen. Drittens entziehen sich die Medien weitgehend jeglicher Kontrolle und funktionieren praktisch ohne alle Regeln einer journalistischen Ethik oder Verantwortung. Diese Situation führte in den Jahren der Krise zu einer Zuspitzung der Spannungen, des Populismus, ja auch des Fanatismus; diese Phänomene werfen besonders schwere Schatten auch auf die deutsch-griechischen Beziehungen. "Die Deutschen" (oft generell als "Faschisten" oder "Nazis" bezeichnet) werden immer wieder als Anstifter und Urheber der Katastrophe dargestellt, von denen sich Griechenland regelrecht "heimgesucht" fühlt.

Was entspricht nun in der Wirklichkeit, was nicht? Wie groß ist die Not, in der Teile der Gesellschaft leben? Gibt es tatsächlich Menschen, die verhungern? Ist der Staat zusammengebrochen? – Gemeinsam ist all diesen berechtigten Zweifeln nur eins: die Verwirrung. Eine Desorientierung, die aber weniger auf den Straßen herrscht, als vielmehr in den Köpfen und in den Herzen der Bevölkerung. Dazu gesellen sich vielleicht noch weitere Zwischentöne, etwa Perspektivlosigkeit, Desorientierung, Depression, Nervosität, Spannung – erste Ansätze einer Psychopathologie der Krise.

Alltagszenen in Athen

Seit mehr als drei Jahren durchleben die Griechen, vor allem in Athen, den Zusammenbruch alltäglicher Routinen und die Entfremdung von dem, was einst das "normale Leben" ausmachte. Arbeitsplätze werden abgeschafft, die Arbeitslosigkeit steigt auf ein Rekordhoch nach dem anderen. Alle paar Monate kommt es im Laufe von Demonstrationen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die einst blühenden Einkaufsstraßen im Zentrum von Athen wirken zu einem großen Teil trostlos und verlassen. Ausgebrannte Gebäude können nicht renoviert werden und bieten einen gespenstischen Anblick. Zahlreiche Geschäfte stehen leer: an der Stelle von bunten Fassaden sieht man dreckige, mit Graffiti beschmierte, verlassene Gitter. Passagen, die bis vor einem oder zwei Jahren voller teurer Geschäfte und Cafés und des entsprechenden lebendigen Treibens waren, sind verwaist und leer. An den Ecken stinkt es nach Urin. Obdachlose und Drogensüchtige finden Unterschlupf in den Eingängen von einst gut besuchten Läden und Lokalen, die verschwunden sind; eine Szenerie der Härte, der Hoffnungslosigkeit, der Unbehaustheit. Immer mehr Menschen auch griechischer Abstammung, darunter Kinder und Jugendliche im Schulalter, betteln in der Stadtmitte, vor den klassizistischen Gebäuden, die einst den Stolz und den Optimismus des neuen griechischen Staates zum Ausdruck bringen sollten. Die touristische Fußgängerzone, die zur Akropolis hinauf führt, dient Bettelkindern als Arbeitsplatz: man sieht sie in regelmäßigen Abständen und der einheitlichen Kleidung einer "Bettler- Folklore " auf der Straße sitzen – offenbar handelt es sich hier um ein gut organisiertes Geschäft, das anscheinend von niemandem als Dorn im Auge der westlichen Kultur empfunden oder gar bekämpft wird.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 82 Bröckelnde Stadtbilder

Aber weit schlimmer noch ist das Bild, das ausgerechnet jene Gegenden bieten, die in der Zeit unmittelbar vor der Krise einen kurzlebigen Aufschwung erlebten. Dies betrifft vor allem den Teil der Stadtmitte, der sich zwischen dem Omonoiaplatz und dem Hauptbahnhof befindet. Diese – ursprünglich berüchtigte – Bahnhofsgegend entwickelte sich während der Boom-Jahre im Vorlauf zu den Olympischen Spielen besonders rasch: Hotels wurden restauriert, Galerien siedelten sich an. Ein Teil der Kunst- und der Jugendszene schickte sich an, der Gegend zu glanzvollem neuen Leben zu verhelfen. Nur eine schmale Zone um die U-Bahn-Station Kerameikos und den Ausstellungscampus "Gazi" hat die Krisenwelle überlebt. Hotels und andere Betriebe erwiesen sich dagegen als nicht überlebensfähig; Millionen-Investitionen in Gebäude scheiterten kläglich, der Stadtteil verfiel rasch. Viele sprechen heute von einem echten Ghetto, wo Prostitution, Kriminalität und Gewalt das Stadtbild beherrschen.

Die Altmetallsammler

Eine weitere Szenerie des Elends ist sogar in jenen "besseren" Gegenden zu beobachten, welche die Stadtmitte umgeben und wo zum Teil auch der Athener Mittelstand ansässig ist: Männer in erbärmlicher Kleidung wühlen mit einem Haken in der Hand in den Mülltonnen nach Metallstücken oder schieben allein oder zu zweit Einkaufswagen voller Metallfragmente und Kabel vor sich her – die Altmetallsammler. In der Presse liest man von unkontrollierten Schmelzereien im westlichen Teil der Stadt, von Konkurrenz zwischen den neuen Sammlern und den Roma, die dieses Geschäft ursprünglich in der Hand hatten. Gestohlen wird anscheinend mehr oder weniger alles, was als Metall verwertet werden kann: Kabel von öffentlichen Einrichtungen, Teile von Brücken, Gitter, die die Abwasserkanäle von Straßenseite bedecken.

Außerdem stehen hunderte, vielleicht gar tausende von Wohnungen leer. Im Winter wird immer weniger geheizt, und es ist kein Geheimnis, dass selbst in den Nachbarschaften des Mittelstandes im letzten Winter viele Häuser gar kein Heizöl angekauft haben. Die eigentlich übliche Zentralheizung funktionierte in vielen Fällen überhaupt nicht oder nur selten. Wer sich ein Kaminfeuer leisten konnte, hat sich das Holz auf eigene Faust besorgt. Von einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems bzw. des Sozialsystems kann allerdings nicht die Rede sein: die Krankenhäuser funktionieren nach wie vor – auch für Menschen, die nichts bezahlen können. Die Stadt Athen, die Kirche sowie mehrere Organisationen der Zivilgesellschaft bieten regelmäßig Nahrung und in den kalten Nächten auch Schlafmöglichkeit für Obdachlose an. In den Schulen gibt es neuerdings ein Pilotprojekt zur Ernährung von Schülern, nachdem wiederholt die Unterernährung mancher Kinder festgestellt worden war. Hinzu kommt die mittlerweile auch international bekannte Kartoffelbewegung als ein Versuch, armen Leuten – aber auch dem durchschnittlichen Konsumenten – preiswerte Nahrungsmittel anzubieten, indem man einen direkten Austausch zwischen Produzenten und Verbrauchern herstellt und auf preistreibende Zwischenhändler verzichtet. Kann man also angesichts dieser Ansätze neuer sozialer Bewegungen wie z.B. der Kartoffelbewegung von der Stärkung einer bislang eher unterentwickelten griechischen Zivilgesellschaft sprechen?

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 83 Überprüfung des Augenscheins

Die wissenschaftlichen Daten bestätigen mehr oder weniger das Auftreten akuter Armut, allerdings zumeist da, wo auch vor der Krise schon Armut existierte. Wissenschaftliche Erkenntnisse wie die, daß die relative Armut in den bisherigen "Jahren der Krise" nur wenig gestiegen ist, nämlich um 3% (19,4% im Jahre 2009 – 22,3% im Jahre 2013)[1], könnten über die Tatsache hinwegtäuschen, daß es zu einer massiven Ausweitung des Armut-Problems auf den Mittelstand gekommen ist. Dies erklärt wiederum, warum es in Griechenland bisher noch nicht zur Revolte kam. Der Mittelstand sieht sein Einkommen schrumpfen, macht sich klein und wartet ab. Die Armen aber, etwa 20 % der Gesellschaft, befinden sich im freien Fall. Zugleich sind ihre Stimmen kaum hörbar: Nicht sie waren es, die während der großen Demonstrationen 2011-2012 Straßen und Plätze griechischer Großstädte füllten, sie tragen kaum zu jenen organisierten Gruppen der Zivilgesellschaft wie Selbsthilfeorganisationen etc. bei, statt dessen tendieren diese Schichten der Bevölkerung zur extremen Marginalisierung.

Ein kleiner Datencheck zur Problematik Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Hilfe[2]:

1. Die Arbeitslosigkeit stieg zwischen 2008 und 2013 von 7 % auf 27 %. Unter jungen Frauen beträgt sie 50 %, unter Männern 23 %.

2. Die Situation wird erheblich dadurch erschwert, dass 80 % der Arbeitslosen überhaupt keine Sozialhilfe erhalten: das sind ca. 1,1 Millionen Arbeitslose. Dies bedeutet, dass die Arbeitslosigkeit bei diesen Menschen direkt in akute Armut führt.

3. Die relative Armut stieg von insgesamt 20,0 % auf 21,2 % (2009-2012). Das klingt überschaubar. Unter den Arbeitslosen bewegte sich der Prozentsatz der relativen Armut in der gleichen Zeitspanne aber von 32,2 % auf 40,6 %. Kinderarmut stieg ebenfalls von 21,8 % auf 26,6 %.

4. Im Durchschnitt haben die Einkommen in der Zeitspanne 2009-2012 um 28,4 % abgenommen. Das ärmste Zehntel der Bevölkerung des Jahres 2009 verlor bis 2012 durchschnittlich 24,2 % seines Einkommens. Das mag erschreckend genug erscheinen, doch im Laufe des Jahres 2012 stieg dieser Satz auf wahrhaftig schockierende 56,5 %!

Dies führte zur Änderung des demographischen Profils der Armen: Armut betrifft nicht mehr vorwiegend kleine Rentner und Bauern, sondern massenhaft Arbeitslose und ihre Kinder. Diese soziale Realität steht vollkommen im Einklang mit den oben skizzierten Szenen auf den Straßen der Großstadt Athen. Wie aber reagiert die griechische Zivilgesellschaft auf die Krise?

Die griechische Zivilgesellschaft

Obwohl weit entfernt von der Entstehung einer massiven sozialen Bewegung, finden sich doch einige, wenn auch noch schwache, hoffnungsvolle Signale dafür, dass die Krise in Teilen auch eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft bewirken könnte.

Die bekannteste Bürgerinitiative in Athen stellt das Netzwerk "Atenistas" dar, das im Jahre 2010 gegründet wurde und auf Facebook über 50.000 "Unterstützer" hat. Das Netzwerk, das sich mittlerweile auch in 11 anderen Städten Griechenlands verbreitete, kümmert sich vor allem um Aktionen, die sich im weiteren Sinne auf das urbane Leben und das Erscheinungsbild der Stadt beziehen – etwa in Form der Reinigung und Verschönerung öffentlicher Räume, oder der Intervention im kulturellen Bereich. Die "Atenistas" entfernen Abfall, verputzen Wände oder organisieren Stadtführungen mit explizit politisch-historischem Bezug (z.B. die Führung an Orte der Altstadt Athens, die so genannte "Plaka"), die für die jüdische Vergangenheit der Stadt relevant sind – Aktionen, die an einem sonnigen Sonntagmorgen immerhin mehrere Hundert Athener mobilisieren können.

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Weiterhin gibt es in den neuen sozialen Medien angesiedelte Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, wie z.B. den "Ginetai Workshop” – und auch die bereits erwähnte "Kartoffelbewegung", die allerdings in der Stadt Katerini im Norden Griechenlands entstanden ist und in Athen wenig Verbreitung gefunden hat. Die Dichte kommunaler wie kommerzieller Netzwerke zur Verteilung von Nahrung, Kleidung und medizinischer Hilfe nimmt zu, immer mehr wirken sie in die Breite, darunter die sog. sozialen Lebensmittelläden, Arztpraxen auf freiwilliger Basis, kostenlos angebotene Unterrichtshilfen oder lokale bargeldlose Wirtschaftsmodelle, die auf der Basis des Austauschs von Dienstleistungen funktionieren. Gleichzeitig wachsen allerdings auch rassistische Hilfsnetzwerke, deren Leistungen explizit nur für Griechen angeboten werden (Nahrungsmittel, lokale Sicherheit).

Herausforderungen hier und jetzt

Bei der Bewertung der "Widerstandskräfte" der griechischen Zivilgesellschaft gegenüber der Krise muss abschließend berücksichtigt werden, dass

1. der Ausgangspunkt eine schon vor der Krise notorisch schwach ausgebildete Zivilgesellschaft war

2. die staatliche Finanzierung der NGOs im Laufe der letzten Jahre aufgrund der Sparmaßnahmen noch erheblich abgenommen hat

3. die Reaktionen der Gesellschaft auf die Staatsform der Demokratie zweischneidig, quasi janusköpfig [Sotiropoulos] ist.

Auf der einen Seite steht der bedeutende Aspekt der Bekräftigung der Demokratie durch die massiven Demonstrationen gegen das Memorandum. Gleichzeitig aber wurden der Anti-Parlamentarismus sowie die Anwendung von Gewalt als akzeptierte Formen der politischen Praxis bestärkt. Die atypische, informelle Zivilgesellschaft vor allem im Bereich der sozialen Solidarität wurde gestärkt und vertieft; zugleich aber entstanden neben den lokalen Organisationen der Neonazi-Partei "Chryssi Avgi" (" goldene Morgenröte") noch eine Vielzahl rassistischer Gruppierungen, Hooligans und andere, die der Zivilgesellschaft ausgesprochen feindselig und sogar gewaltbereit gegenüberstehen. Nicht nur den gravierenden sozialen Folgen der Austeritätspolitik, auch den antidemokratischen Kräften gegenüber muss die griechische Zivilgesellschaft heute ihre Widerstandskraft unter Beweis stellen.

Literatur

Maloutas Th., Kandylis, G., Petrou, M., Souliotis, N., Das Zentrum von Athen als politische Frage, Nationales Zentrum für Sozialforschung (EKKE) und Harokopio University (gr.), Athen, 2013

Matsaganis, M., Levendi Chr., Die Anatomie der Armut in Griechenland, Newsletter 6/2013, Wirtschaftsuniversität Athen, Gruppe zur Analyse Öffentlicher Politik, in griechischer Sprache (http:// www.kritiki.gr/attachments/article/304/05%20NewsLetter.pdf)

Matsaganis, M., Dealing with the new social question, Beitrag zu den Seminaren von Ermoupolis 2013, Werkstatt unter dem Titel "Auf der Suche nach dem Gesicht Griechnelands während der Krise und danach", Koordinatoren Yannis Voulgaris, Panteion Universität und Panayis Panayotopoulos, Universität Athen, 13-14 Juli 2013 (nicht veröffentlicht)

Matsaganis, M., The Greek Crisis, Social Impact and Policy Responses, Friedrich Ebert Stiftung,, Study, November 2013, in englischer Sprache (http://library.fes.de/pdf-files/id/10314.pdf)

Sotiropoulos, D., Die Zivilgesellschaft in Griechenland der Krise. Positive und negative Aspekte, Beitrag zu den Seminaren von Ermoupolis 2013, Die dort erwähnten Daten werden bald (Frühjahr 2014) in

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 85 einer Studie im Auftrag der Konrad-Adenauer Stiftung veröffentlicht unter dem Titel "Civil Society in Griechenland in the Wake of the Economic Crisis".

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Maria Topali für bpb.de

Fußnoten

1. Die Daten und die einschlägige Analyze findet man in Matsaganis, M., Levendi Chr., „Die Anatomie der Armut in Griechenland“, Newsletter 6/2013, Wirtschaftsuniversität Athen, Gruppe zur Analyse Öffentlicher Politik, in griechischer Sprache, v.a. in der Tafel 1, Seite 3. Dort wird die relative Armut mit variablem Limit in der Zeitspanne 2009-2013 kalkuliert und nach Alter, Geschlecht, Beruf, Wohnort etc. präsentiert. Die ganze Studie findet man unter http://www.kritiki.gr/attachments/ article/304/05%20NewsLetter.pdf (http://www.kritiki.gr/attachments/article/304/05%20NewsLetter. pdf) 2. Zu unten stehenden Daten vgl. Matsaganis u.a., ibid., sowie ausführlich (in englischer Sprache) Matsaganis, M., „The Greek Crisis, Social Impact and Policy Responses“, Friedrich Ebert Stiftung,, Study, November 2013, v.a. Tafel auf Seite 13. Grundlage der dort genannten Daten ist EUROMOD (Version F4.00). Die gesamte Studie findet man unter http://library.fes.de/pdf-files/id/10314.pdf (http://library.fes.de/pdf-files/id/10314.pdf)

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So lange das Theater noch steht Zur Lage der kreativen Szene in Griechenland

Von Anestis Azas 5.2.2014 geb. 1978 in Thessaloniki, hat an der Theaterfakultät der Aristoteles Universität in Thessaloniki sowie an der HfS Ernst Busch in Berlin (Regie) studiert. Mitwirkung bei Rimini Protokoll (Prometheus in Athen, Herodes Odeon Athen 2010). Seit 2008 inszeniert er selbst an griechischen Staatstheatern und freien Bühnen, 2013 inszenierte er "Telemachos - Should I stay or should I go“, eine szenische Konfrontation von zwei Generationen Griechischer Immigranten in Deutschland, am Ballhaus Naunynstasse, Berlin.

Die kreative Szene in Griechenland ist von der Krise ebenso in Mitleidenschaft gezogen worden wie alle anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Wie ist es, in einer solch " dramatischen" Situation Theater zu produzieren? Was will das Publikum sehen? Was muss man ihm zumuten?

Ein Graffiti an einer Geschäftswand in Athen. (© picture-alliance/dpa)

Die Frage ist, was sagt man jetzt. Gut haben wir gegessen und getrunken Bisher haben wir unser Leben gut geführt Kleinverluste und Kleingewinne aufrechnend Die Frage ist, was sagt man jetzt.

Manolis Anagnostakis[1]

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Auftakt - Die Krise

Wie man in einem Wirbelsturm keinen klaren Blick gewinnt und warten muss, bis der Staub sich legt um wieder klar sehen zu können, so ähnlich fehlen einem die Worte, wenn man versucht, die heutige Krise Griechenlands mit künstlerischen Mitteln zu begreifen und sinnlich im Theater auszudrücken. Als ob die geeignete Sprache fehlen würde, scheinen viele der bekannten Begriffe, die seit dem Beginn der Eurokrise den Diskurs bestimmen, ganz unfähig zu vermitteln, was da gerade geschieht: Eine Wirtschaft in Rezession, eine Bevölkerung in Depression; grassierende Arbeitslosigkeit und Armut, Gefühle von Erniedrigung und verletztem Nationalstolz, Verdächtigungen und Verschwörungstheorien; neofaschistische Tendenzen und bürgerkriegsähnliche Zustände auf den Straßen zwischen Angst, Wut und Hoffnung.

Theaterschaffen heute

Wie ist es, in einer solchen "dramatischen" Situation Theater zu produzieren? Was will das Publikum sehen? Was muss man ihm zumuten? Wie wurde das Theater von der ganzen Situation finanziell, ästhetisch und inhaltlich beeinflusst? Welche Narrative und welche Dramaturgie sind entstanden? Lassen sich die Konflikte des Alltags im politischen und sozialen Umfeld auf der Bühne kreativ und wirksam dramatisieren oder sind wir schon an einem Punkt angelangt, wo alles egal ist und selbst die Bühne still steht?

"So lange es die Theater noch aushalten, steht noch die Stadt", so steht es in einem Artikel der Tageszeitung Kathimerini von 02.02.2013, in dem über die 110 Bühnen des Athener Stadtzentrums berichtet wird. Tatsächlich bilden die Bühnen in einer von Kriminalität und Armut schwer betroffenen Stadt nach wie vor ein hoffnungsvolles Zeichen von städtischem Bewusstsein und kulturellem Leben. Schon vor der Krise war Athen eine dynamische Theaterstadt: dadurch, dass es im Lande kaum staatliche Institutionen gibt, hat es hier die Grenze zwischen Staatstheater und Off-Szene, wie man sie aus dem deutschsprachigen Raum kennt, nie gegeben. Im Gegenteil, die Szene ist ein komplexes Mosaik von großer Formendiversität. Eine spannende Frage in diesem Zusammenhang bleibt: Knüpft das zeitgenössische griechische Theater an den öffentlichen Diskurs an? Beschränkt es sich lediglich auf seine Unterhaltungsfunktion? Oder ist das Theater vielleicht mittlerweile zu einer Trost- und Therapie-Anstalt für Zuschauer und Macher mutiert?

Die griechische Theaterlandschaft

Zwei Staatstheater, das National Theater in Athen, das Staatstheater Nordgriechenlands in Thessaloniki und das große Sommerfestival von Athen und Epidaurus, als auch acht kleinere, regionale Stadttheater ( . . ) bilden die staatlich strukturierte Szene. Der Rest der Theaterproduktion, der aber den größeren Teil ausmacht, war schon vor der Krise privatwirtschaftlich organisiert und nur teilweise staatlich subventioniert. In diesem Feld agieren sowohl Privatproduzenten, die mit Fernsehstars Unterhaltungstheater produzieren, wie auch eine immer schon spannende, freie Kunst- und Theater- Szene.

Aufgrund der Krise wurden in den letzten drei Jahren die Etats der großen staatlichen Institutionen deutlich gekürzt. So musste z. B. das Nationaltheater in Athen in der Spielzeit 2012- 2013 sein Angebot von 18 auf 12 Produktionen reduzieren. Bei den kleineren Regionaltheatern wurden die Subventionen von Seiten des Kulturministeriums von 200.000 € im Jahr 2009 auf 93.000 im Jahr 2013 und 46.000 im Jahr 2014 gekürzt.[2] Im gleichen Spargeist wurden die Subventionen der freien Szene seit 2011 praktisch abgeschafft[3], was für viele der Theatermacher fatale Folgen hat. So musste die Experimentelle Bühne von Thessaloniki im letzten Jahr ihre Hauptbühne seit den 80er Jahren, das Amalia Theater, wegen unbezahlbarer Mieten kündigen. Gleichzeitig haben sich die Arbeitsverhältnisse innerhalb der Branche drastisch verschlechtert. Zum größten Teil arbeiten Schauspieler und Bühnenangestellte ohne Krankenkasse und Sozialversicherung. Es sind keine Produktionen mit

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 88 großem Ensemble mehr möglich und die Künstler werden oft honoriert, indem sie selbst die Einnahmen von den Eintrittskarten am Abend zwischen sich verteilen dürfen.

In dieser ruinösen Theaterlandschaft gründete sich zur Spielzeit 2010-11 das Theater der Onassis Stiftung – Home of Letters and Fine Arts[4], welche die Rolle des vernachlässigenden Staates inoffiziell übernommen hat und das kulturelle Leben der Hauptstadt mit einem vielfältigen Programm von Inszenierungen und Ausbildungsprogrammen mittlerweile grundsätzlich prägt. Ähnlich wie beim Athens und Epidauros Festival, besteht das Repertoire des prächtigen Theaters einerseits aus berühmten internationalen Künstlern und anerkannten Namen der nationalen Szene und andererseits aus Truppen der jüngeren Generation, die die seltene Chance eingeräumt bekommen, unter professionellen Bedingungen ihre Arbeit zu zeigen und sich somit einem gutbürgerlichen Publikum vorzustellen. Parallel dazu sponsert in den letzten Jahren die Stavros Niarchos Stiftung, Erbe einer anderen Großreeder-Familie, ausgewählte Künstler und Theatertruppen. Am Falirikon Delta, der Meeresfront Athens nah zum Hafen von Piräus, baut sie einen vielversprechenden Kulturpark, der ein neues Theater für die Nationaloper und ein neues Haus für die Staatsbibliothek beinhalten wird.

Theater unter prekären Bedingungen

Doch abgesehen vom institutionellen Rahmen, hat es in Griechenland nie an romantischen Taten gemangelt. Am 11.11.2011 hat das aus jungen Theatermachern bestehende Mavili Kollektiv[5] das alte leerstehende Gebäude vom Embros Theater in Athen besetzt und dort ein eigenes Programm aufgelegt: Theater- und Tanzvorstellungen, Performances, Konzerte, Workshops , Podiumsdiskussionen, offene Seminare von Akademikern und Künstlern, Volksküchen und Sprachunterricht für Immigranten. Bei all diesen Veranstaltungen ist von Anfang an der Eintritt frei gewesen, aber nicht nur deshalb kam das Publikum in Scharen. Zwar war die Besetzung von Embros eine Reaktion auf die Abschaffung des Subventionssystems und die zu hohen Mietpreise der privaten Theaterräume; sie hat sich aber schnell zu einer weiter ausgreifenden Dynamik entwickelt und die Grenzen des "Theaterbetriebs" im strengen Sinn weit überschritten. Mittlerweile wurde das besetzte Embros zweimal von der Polizei geräumt und ebenso oft von Künstlern und Aktivisten der Autonomen Szene in unterschiedlichen Konstellationen wieder besetzt. Vor allem, nachdem andere traditionelle "Squads" (besetze Häuser) durch die Polizei geräumt wurden, gewann Embros politisch an Bedeutung: in einer Stadtlandschaft, die zunehmend von "neoliberalen" sozialen Angriffen bestimmt wird, behauptete sich hier ein selbstverwalteter Ort, an dem Modelle einer Alternativwirtschaft diskutiert und erprobt werden können. Ein prominenter Besucher von Embros, der italienische Philosoph Giorgio Agamben, betonte in einem Publikumsgespräch am 20.11.2013 die Bedeutung solcher Häuser als "Allmendegut". In diesem Sinne bleibt das besetzte Theaterhaus für viele junge Besucher ein Hotspot der Innenstadt, als Anlaufstelle für junge Schauspieler ohne Engagement, wie für die autonome Szene Athens, die, seit jeher antiautoritär und antikommerziell eingestellt, durch die Krise noch massiv an Einfluss zu gewinnen scheint.

Die neue Dramaturgie

Die Situation in Griechenland ist sehr speziell und dementsprechend auch kreativ für die Kunst. Trotz aller Schwierigkeiten: die griechische Theaterszene ist rege. Kleine und große Theatersäle sind zu Krisenzeiten gut besucht – wozu bestimmt auch die Senkung der Eintrittspreise vieler Häuser beigetragen hat.

Zahlreiche Autoren und Theatermacher haben sich in den letzten Jahren inhaltlich wie ästhetisch mit der Krise beschäftigt – dem Nationalismus und der Identitätssuche der Gesellschaft, der griechischen Familie als Ursache und Ausweg (aus) der Krise, dem Absturz der Mittelklasse, der Schuldzuweisung und der eigenen Verantwortung. Als bemerkenswerte Beispiele einer solchen Selbstbefragung kann man die Autorin Lena Kitsopoulou betrachten, deren stets provokante Haltung gegen das lokale Patriarchat für Aufregung sorgt, das Schauspielerkollektiv Blitz, die Truppen HOROS, Kanigunda, Vasistas, Nova Melancholia, Sforaris. Außerdem den in Litauen geborenen, aber in Griechenland

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 89 aktiven Regisseur Cezaris Grauzinis, dessen dunkle, melancholische Inszenierung von Aristophanes " Ploutos" im Regionaltheater Patras den korrupten Reichtum der antiken Vergangenheit kritisierte. Ebenfalls erwähnenswert ist die Regisseurin Georgia Mavragani, die in ihrer Arbeit "Das Leben ist nicht leicht" mit SchülerInnen griechische Poplieder chorisch interpretierte und mit Briefen von krisengeplagten Eltern der Schule verknüpfte.

Andererseits tendieren Teile des Theater-Mainstreams zum Populismus, in Produktionen des Athener Nationaltheaters darf sich das große Publikum immer wieder in seiner Einstellung als unschuldiges Opfer der Krise bestätigt fühlen, weswegen der neue Intendant des Theaters Sotiris Chatzakis von einem Teil der Presse und dem Großteil zeitgenössischer Künstler auch heftig kritisiert worden ist. Chatzakis hat populäre Fernsehstars auf die Bühne geholt und somit in der wichtigsten Schauspielinstitution des Landes eine Art spektakuläres "Brot und Spiele" inszeniert.

Diese eskapistische Tendenz zeichnete sich letzthin auch in der Musikkultur des Landes ab: So betont die Kritikerin Matina Kaltaki in einem Artikel in der Wochenzeitung LIFO am 15.01.2014 die Rückwärtsgewandtheit des griechischen Musiktheaters, wie sie in einer neuen Retrowelle zum Ausdruck kommt: in Operetten und leichter Muse der 1930er Jahre, im urbanen Lied der 1940er wie in der Revueästhetik der 1950er und 1960er Jahre; oder auch in theatralischen, sentimentalen Hommagen an berühmten Persönlichkeiten der reichen Musikkultur des Landes – wie etwa in Tableau vivant-Vorstellung aus dem Leben des mittlerweile 90-jährigen Komponisten Mikis Theodorakis. Laut der Kritikerin Matina Kaltaki handelt sich hier um einen "nostalgischen appeal: emotionale Verschönerung und Beschwörung eines Griechenland, das noch unschuldig, schön und sorglos schien."

Graffiti (© picture-alliance/dpa) Doch vielleicht ist gerade das eine wesentliche Erkenntnis unserer Situation: in ruhigen Zeiten erwartet man vom Theater einen Riss im Vorhang der Zufriedenheit; doch zu Zeiten totaler Verunsicherung und politischer Spaltung ist fraglich, ob gesellschaftliche Kritik überhaupt noch auf der Bühne stattfinden kann. Will man abschließend noch einmal nach der Rolle von Kunst in Krisensituationen fragen, wenn die Menschen von ihrem alltäglichen Überlebenskampf stets übermüdet sind, sollten wir uns vielleicht

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 90 der grundlegenden, humanistischen Funktion des Theaters erinnern, um mit seinen Mitteln den mentalen Raum zu erweitern und damit hoffentlich dem grassierenden Zynismus des griechischen Alltagslebens entgegenzuwirken.

Dank an Mersiha Karasalihovic und Prodromos Tsinikoris für ihre Hilfe bei der Abfassung dieses Textes.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Anestis Azas für bpb.de

Fußnoten

1. "Der Ziel" von Manolis Anagnostakis , erstmals erschienen in der Gedichtausgabe "Achtzehn Texte ", Athen 1970 2. So erfuhr es der Autor im Gespräch mit Theodoris Gonis, dem Intendanten des Stadttheaters von Kavala (Nordgriechenland). Die Zahlen gelten für alle Regionaltheatern des Landes( ) 3. Im Mai 2012 wurden vom Kulturministerium letztmalig Subventionen für die freie Szene angekündigt, sie sind allerdings bis heute nicht ausgezahlt. In offiziellen Verlautbarungen heißt es, dass die Subventionierung der freien Szene “aufgrund der finanziellen Lage des Landes bis auf Weiteres” aufgehoben werden muss. Nach großem öffentlichem Druck wird aber wohl im Januar 2014 zumindest ein Viertel des ursprünglich geplanten Etats an die betroffenen Theatertruppen ausgezahlt. 4. Die Alexander-Onassis-Stiftung ist eine private Stiftung, die von Aristoteles Onassis im Andenken an seinen verunglückten Sohn gegründet wurde. Die Stiftung vergibt diverse Preise, Stipendien und finanziert Projekte und Lehrstühle in den Bereichen Pädagogik, Kultur, Gesundheit, Religion, Umwelt und Sport. Das Theater Home of Letters and Fine Arts in Athen ist eine neue Stiftungsinitiative. 5. Mavili Kollektiv: Das Mavili Kollektiv wurde von den Theatermachern Anestis Azas, Gigi Argyropoulou, Kostas Koutsolelos, Georgia Mavragani, Vassilis Noulas und Manolis Tsipos als spontane Zusammenkunft von Künstlern im Sommer 2010 gegründet. Dazu sind später die Regisseurin Argyro Chioti und der Bühnenbildner Giorgos Kolios gestoßen. Hauptargument und Zweck der Aktionen und Texte des Kollektivs sind stets die Forderung an den griechischen Staat nach einer konsequenten Kulturpolitik für das Theater und die darstellenden Künste, wie auch der Versuch einer Selbstregulierung der Branche. Das Kollektiv hat sich wegen interner Uneinstimmigkeiten im Oktober 2012 aufgelöst.

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Der Aufstieg der Rechtsextremen in Griechenland

Von Stavros Tsiakalos, Georgios Tsiakalos 5.2.2014 Architekt, Gründer der Informationsstelle "Griechenland Monitor“.

Prof. Dr.rer.nat., Dr.phil. ist Professor für Pädagogik an der Aristoteles Universität Thessaloniki.

Mit der offen nationalsozialistischen Partei Chrysi Avgi ("Goldene Morgenröte") ist Griechenland ein starker Feind im Inneren gewachsen. Antidemokratische Strömungen und Parteien haben hier zwar eine lange Tradition. Dennoch überrascht der Zuspruch in einem Land, das massiv unter der nationalsozialistischen Besatzung gelitten hat.

Polizisten einer Anti-Terror-Einheit verhaften Nikos Michaloliakos, den Anführer der ultrarechten "Goldenen Morgenröte" am 2. Oktober 2013 in Athen. (© picture-alliance/dpa)

Der Einzug einer nationalsozialistischen Partei ins griechische Parlament sorgte für weltweites Aufsehen. Man wusste, dass in der Vergangenheit die Demokratie in Griechenland von antidemokratischen Kreisen in der Armee für lange Zeit bedroht und 1967 durch einen Putsch für sieben Jahre abgeschafft worden war. Aber zugleich galt Griechenland in der Vorstellung der Menschen als die "Wiege der Demokratie" und für die Historiker der neueren Geschichte als ein Land, das im Krieg gegen Mussolini und auch während der Besatzungszeit durch Hitler-Deutschland erbitterten Widerstand geleistet hatte: Mit der Aktion zweier neunzehnjähriger Studenten, die Hakenkreuzfahne von der Akropolis herunterzuholen,[1] demonstrierte Griechenland für ganz Europa: "der

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Nationalsozialismus ist unvereinbar mit der Zivilisation und wird wieder verschwinden". Die Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung zählten zu den höchsten in Europa. Deswegen standen im Nürnberger Prozess oft die Verbrechen der Nationalsozialisten in Griechenland im Mittelpunkt, zu denen das Niederbrennen und die Liquidierung der Bevölkerung vieler Orte und die Auslöschung der Jahrtausende alten blühenden jüdischen Gemeinden gehörten, wie der Hungertod von hunderttausenden Menschen im Winter 1941 in der Hauptstadt Athen, verursacht durch die Konfiszierung aller Lebensmittel durch die Besatzer für den Bedarf ihrer Armee. Wie ist es möglich, dass in einem Land mit solcher Geschichte eine rechtsextreme Partei mit deutlichen Bezügen zum Nationalsozialismus bei den Wählern einen derartigen Zuspruch erhält? Welche rechtsextremen Strömungen gibt es in Griechenland? Und, wichtiger noch, wird seine Demokratie unter den Bedingungen der schweren Wirtschaftskrise stark genug sein, die Bedrohung erfolgreich zu bekämpfen?

Nationalsozialistische Vorläufer in Griechenland

Wie in anderen Ländern Europas hat es auch in Griechenland bereits in der Vorkriegszeit einige Gruppierungen gegeben, die mit den Ideen des Nationalsozialismus sympathisierten. Charakteristisch ist die Geschichte der Nationalen Union Griechenlands (Ethniki Enosis Ellados), die 1927 in Thessaloniki als eine militante antisemitische und antikommunistische Organisation gegründet wurde. Sie war verantwortlich für wiederholte Angriffe auf jüdische Geschäfte sowie für das Pogrom im jüdischen Stadtteil Kambel am 25. Juni 1931, bei dem neben Geschäften und Häusern auch die Schule und die Synagoge niedergebrannt wurden. Nach dieser Tat, die von der lokalen Presse unterstützt und gefeiert wurde, erhielt die Gruppierung finanzielle Unterstützung von Ministerien, Stadt und Banken, darunter der Nationalbank, und konnte innerhalb weniger Monate ihre Mitgliederzahl vervielfachen. Ermutigt durch diese Entwicklung und in Anlehnung an Mussolini unternahmen ihre Anführer mit ihrer paramilitärischen Truppe der "Stahlhelme" am 25. Juni 1933 einen "Marsch auf Athen". Dort trafen sie allerdings auf den Widerstand der Kommunisten und der Gewerkschaften und konnten in Griechenland darum Mussolinis Erfolg[2] nicht wiederholen. Danach verloren sie ihre Geldgeber und somit zunächst auch ihren Einfluss. Als am 4. August 1936 durch den Ministerpräsidenten Ioannis Metaxas eine faschistische Diktatur errichtet wurde, schlossen sich die meisten ihrer Führer dem Regime an und dienten in wichtigen Stellen des Staatsapparates. Ähnlich verhielten sich die meisten Mitglieder der anderen nationalsozialistischen Kreise, darunter auch Sizza Karaiskakis, eine enge Mitarbeiterin von Goebbels und Rosenberg, die nach dem Krieg zunächst zum Tode verurteilt und dann amnestiert wurde.

Kollaborateure im Krieg und Bürgerkrieg

In der Zeit der Besetzung Griechenlands durch Deutschland, Italien und Bulgarien arbeiteten die griechischen Nationalsozialisten mit der SS und der Wehrmacht sowie mit der von den Deutschen eingesetzten Regierung zusammen und organisierten paramilitärische Truppen, welche die Bevölkerung terrorisierten und sich an Morden, Vergewaltigungen, Plünderungen sowie Zerstörung und Niederbrennen von Häusern beteiligten[3]. Nach der Befreiung Griechenlands folgten ihre Anführer der deutschen Armee bei ihrem Rückzug und bildeten eine nationalsozialistische Exilregierung, die bis zum Ende des Krieges Hitler treu blieb. Die meisten von ihnen wurden zum Tode verurteilt, aber ihre Strafen wurden bald in Haftstrafen umgewandelt. Durch eine Amnestie in Jahre 1952 kamen die meisten griechischen Faschisten wieder auf freien Fuß. Es war die Zeit nach dem Bürgerkrieg, in der die Bekämpfung des Kommunismus zum Primat der Politik erklärt und die "nationale Sammlung" aller antikommunistischen Kräfte angestrebt wurde. Die Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure wurden rehabilitiert und oftmals in Machtpositionen gebracht. Von nun an wirkten sie als der extreme Flügel der konservativen Großparteien.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 93 Rechtsextreme Milieus unter der Obristenherrschaft 1967-1974

In der Zeit der Militärdiktatur bildeten diese rechtsextremen Kreise das politische Rückgrat des Regimes. Viele Rechtsextremisten betätigten sich in militanten antikommunistischen Organisationen. Berüchtigt waren ihre gewalttätigen Überfälle auf demokratische Versammlungen, zu denen sie auch Konzerte von Mikis Theodorakis zählten – antidemokratische Übergriffe, die als "spontane Reaktion empörter Bürger" dargestellt wurden.[4] Nach dem Sturz der Junta blieben die Rechten wieder straffrei, weil eine Parlamentsentscheidung den Militärputsch nur für den Moment seiner Durchführung zum Verbrechen erklärte, womit alle Kollaborateure der Folgezeit und ihre Taten nachträglich legitimiert waren. Nach dem Sturz der Junta gründeten ihre Erben eine eigene Partei (EPEN), die in den Wahlen von 1977 350.000 Stimmen (6,82%) bekam. Dieser Prozentsatz scheint bei allen Wahlen bis heute den Kern der extremen Rechten in Griechenland zu bilden. Ob sie gerade als selbständige Partei auftreten oder nicht, hängt von der Politik der großen rechtskonservativen Partei ab.

Aufstieg der rechtsextremen Parteien

Die rechtskonservative "Neue Demokratie" positionierte sich als Mitte-Rechts-Partei, gewann die Wahlen 2004 und 2007 und regierte mit einer breiten Mehrheit der Sitze von 2004 bis 2009. Bei ihrer politischen Neuausrichtung grenzte sie sich von nationalistischen Positionen ab und schloss den Vertreter des rechtspopulistischen Flügels wegen seiner extremen Auffassungen aus der Partei aus. Dieser gründete eine neue Partei (LAOS), gewann bei den Wahlen 2004 2,2 %, 2007 3,8 % und 2009 5,63 % (386.205 Stimmen) und wurde damit in Griechenland bereits zur viertstärksten politischen Kraft.[5] Die Demoskopen sahen diese Partei mit mehr als 8 % schon an dritter Stelle, als sie im November 2011 ihre Position gegen die Troika aufgab, und sich an einer Regierung mit der PASOK (Panhellenische Sozialistische Bewegung) und der ND (Neue Demokratie) beteiligte. Ihr Anführer rechtfertigte diese radikale Wende, indem er die Gefahr einer bevorstehenden Pleite Griechenlands beschwor und sich angesichts dessen verpflichtet sah, "das Wohl des Vaterlandes vor das Parteiinteresse" zu stellen. Aufgrund dieser Entscheidung traten massenweise Mitglieder aus, eine Wählerdistanzierung, von der wiederum die nationalsozialistische "Goldene Morgenröte" profitierte. Die Frage ist also weniger, weshalb eine extrem rechte Partei in den Wahlen von 2012 auf Anhieb 6,9 % der Stimmen erreichen konnte, sondern, warum diese explizit nationalsozialistische und nicht eine andere Partei des rechten Spektrums den harten Kern der extrem rechten Wähler für sich gewonnen hat.

Die "Goldene Morgenröte"

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 94

Nikos Michaloliakos, "Führer“ der goldenen Morgenröte. (© picture-alliance/dpa) Die "Goldene Morgenröte" wurde im Jahr 1980 als eine reine nationalsozialistische Organisation gegründet. Nikos Michaloliakos wurde vom ehemaligen Diktator Papadopoulos zu ihrem Führer ernannt.[6] Michaloliakos war schon vorher an mehreren Bombenattentaten beteiligt gewesen und dafür zu Gefängnisstrafen verurteilt worden, aber bald wieder freigekommen. Zu den Aktivitäten der Goldenen Morgenröte gehörten kleine Versammlungen eingeschworener Nationalsozialisten, die Verbreitung nationalsozialistischer Schriften und, vor allem, Überfälle auf linksgerichtete Studenten, Gewerkschaftler und Einwanderer.[7] Einige ihrer Mitglieder wurden wegen schwerer Körperverletzungen oder Mordversuchen zu langen Gefängnisstrafen verurteilt, ohne dass daraus irgendwelche rechtlichen Konsequenzen für die gesamte Organisation entstanden.

Nazi-Methoden

Den Kennern des Parteiprogramms der NSDAP werden die Grundbegriffe in den "Verheißungen" der Goldenen Morgenröte bekannt vorkommen: "Das BLUT der Nation, welches durch den Körper der Volksgemeinschaft fließt, und der BODEN des Vaterlandes sind das solide Fundament für die Errichtung des nationalen Volksstaates."[8] Die politische Ideologie der Goldenen Morgenröte ist insgesamt von NSDAP-Programmatik durchsetzt: von der Auffassung, die eigene Weltanschauung basiere auf der Biologie (ähnlich dem Satz des Kultusministers der NSDAP Hans Schemm " Nationalsozialismus ist politisch angewandte Biologie"[9]) , über die Wiedereinführung des Gedankens vom "unwerten Leben" (weil "das Schwache keinen Platz in der Natur hat") zur völligen Ablehnung von "Gleichheit" und "Freiheit" – das parteiinterne Führerprinzip wird ausdrücklich als Vorbild für die Organisation des gesamten Staates propagiert[10]. All das verrät, wie vollständig die politische Programmatik der Goldenen Morgenröte der NSDAP-Propaganda entliehen ist. Das Gleiche gilt für ihre Organisationsstruktur und die Aktionen, mit denen sie ihre Präsenz zu zeigen versucht. Durch gewalttätige Aktionen ihrer "Sturmabteilungen" versucht die "Morgenröte", die Bürger ganz alltagsweltlich einzuschüchtern und die Polizei de-facto zu ersetzen.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 95 Mitverantwortung

Die Tatsache, dass Staat und Parteien diesen Aktionen gegenüber lange Zeit untätig zusahen, schien die Methoden der Goldenen Morgenröte zu legitimieren. Der Aufstieg der Goldenen Morgenröte zu einer parlamentarischen Partei drängt dazu, einige gravierende Missstände und Mängel in Politik und Gesellschaft aufzudecken, um sie zu korrigieren. Charakteristisch sind folgende Beispiele aus dem politischen Alltag:

Anders als in anderen europäischen Ländern wurden in Griechenland Schriften, die die Nazi- Verbrechen leugneten oder sogar verherrlichten, als legitime "andere Meinung" betrachtet – so konnten sich selbst die Bücher des Holocaust-Leugners David Irving in Griechenland auf den vordersten Plätzen der offiziellen Bestsellerlisten finden.

Die Repräsentanten von LAOS waren in allen Talkshows immer gerngesehene Gäste, in gemeinsamen Fernsehauftritten machten sie auch die Vertreter der anderen politischen Parteien damit "salonfähig ". Ausdrücklich und selbstherrlich meinten sich die Vertreter des politischen Establishments damit gegenüber dem "undemokratischen Umgang mit politisch Andersmeinenden" in anderen europäischen Ländern wie Deutschland positiv abzuheben. Die gleiche "normale" Behandlung erfuhren nach ihrem Wahlerfolg auch die Abgeordneten der Goldenen Morgenröte.

Die stillschweigend akzeptierte Beteiligung der Goldenen Morgenröte an den Massendemonstrationen der griechischen Bevölkerung gegen die Politik der Troika verschaffte ihr die lang ersehnte Legitimierung: Ihre radikalen Parolen gegen den Parlamentarismus fanden plötzlich ein tausendköpfiges Echo, und ihre Militanz wurde von einigen nicht mehr als verbrecherisches Verhalten, sondern als "tapferer Widerstand" angesehen.

Gesellschaftliche Gegenwehr

Die Unterlassungen und die Fehler der politischen Institutionen in Griechenland im Umgang mit Faschismus und Nationalsozialismus sind groß und finden sich in allen Bereichen der Politik. Aber seit dem Einzug der Goldenen Morgenröte ins Parlament entwickelte sich auch eine starke Bewegung gegen die Tatenlosigkeit der Polizei, der Justiz und der Regierung. Lehrer-, Eltern- und Schülerverbände verlangten die Einbeziehung relevanter Inhalte in die Lehrpläne und organisierten Veranstaltungen in den Schulen; Kirchenvertreter erhoben ihre Stimme und verwiesen auf die Unvereinbarkeit von Christentum und Nationalsozialismus; Bürger bildeten in fast allen Städten Initiativen gegen die Goldene Morgenröte; Künstler engagierten sich sehr erfolgreich mit den Mitteln ihrer Kunst.

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3. Oktober 2013: Ein Graffiti erinnert an den von Anhängern der rechtsextremen "Goldenen Morgenröte" ermordeten Rapper und Aktivisten Pavlos Fuyssas. (© picture-alliance, ROPI) Es sollte der Mord an einem dieser Künstler und der darauffolgende Aufschrei im ganzen Land sein, welcher die Regierung und die Justiz endlich zum Handeln zwang: In der Nacht des 17. Septembers 2013 lauerten die "Sturmabteilungen" der Goldenen Morgenröte in einem Arbeiterviertel von Piräus dem beliebten Rapper und Antifaschisten Pavlos Fyssas auf und ermordeten ihn kaltblütig. Mit der Verhaftung des Täters wurde die gesamte Struktur der Sturmabteilungen der Goldenen Morgenröte aufgedeckt, was wiederum die Justiz unter Druck setzte, die Führer der Partei wegen der "Bildung einer verbrecherischen Organisation" anzuklagen und zu inhaftieren. Es scheint, dass diese Aktion der bisherigen Verharmlosung nationalsozialistischer Umtriebe in Griechenland ein Ende bereitete. Ob es auch das Ende aller nationalsozialistischer Aktivitäten selbst einläutete, wird von der Bereitschaft zum radikalen Umdenken in vielen Bereichen der Politik und der Gesellschaft abhängen.

Literatur

Georgiadou, Vassiliki (2013): Populismus und Extremismus am rechten Rand – Der Rasante Aufstieg der Goldenen Morgenröte im Krisenland Griechenland. In Ralf Melzer, Sebastian Serafin (Hrsg.): Rechts-Extremismus in Europa. Friedrich Ebert Stiftung, Berlin. (http://library.fes.de/pdf-files/ dialog/10030.pdf)

Psarras, Dimitris (2013): Faschistische Mobilmachung im Zuge der Krise. Der Aufstieg der Nazipartei Goldene Morgenröte in Griechenland. Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin. (http://rosaluxeuropa.info/ userfiles/file/Analysen_Neonazistische_Mobilmachung.pdf)

Poliakov, Leon / Wulf, Joseph (1983) Das Dritte Reich und seine Denker. Ullstein, Berlin, Wien. Tsiakalos, Georgios (2006): Greece: Xenophobia of the Weak and Racism of the Mighty. In Donaldo Macedo, Panagiota Gounari (Eds.): The Globalization of Racism. Paradigm Publishers, Boulder - London, 192-208.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autoren: Stavros Tsiakalos, Georgios Tsiakalos für bpb.de

Fußnoten

1. Als Reaktion auf die Eroberung Kretas durch die Wehrmacht am 30. Mai 1941 stahlen Manolis Glezos und Lakis Santas die über der Akropolis gehisste Flagge des Dritten Reiches. Diese Tat gilt bei den Verbänden der Widerstandskämpfer als die erste Widerstandsaktion im besetzten Europa. Beide wurden nach dem Krieg in vielen Ländern geehrt. Vgl. Tzermias, Pavlos: Neugriechische Geschichte. Eine Einführung. A. Francke Verlag, Tübingen 1986, 3. Auflage S. 154. 2. Am 27. Oktober 1922 will Mussolini mit seinem "Marsch auf Rom" die italienische Regierung stürzen. König Viktor Emanuel III. übergibt ihm am 30. Oktober 1922 kampflos die Regierungsgewalt. Für Adolf Hitler war Mussolini ein Vorbild, und er plante einen "Marsch auf Berlin", welcher aber bereits in München, am 9. November 1923, mit dem Marsch zur Feldherrnhalle scheiterte. 3. Vgl. Dordanas, Stratos N.: Griechen gegen Griechen. Die Welt der Sicherheitsbrigaden im besetzten Thessaloniki 1941-1944. Epikentro, Thessaloniki 2006 (in griechischer Sprache). Fotiou, Thanasis S.: Der Nazi-Terror in Griechenland. Der blutige Marsch von Fritz Schubert und des griechischen "Jägerkorps" im besetzten Kreta und Makedonien. Epikentro, Thessaloniki 2011 (in griechischer Sprache). 4. In einer solchen Aktion wurde der linksgerichtete Abgeordnete Grigoris Lambrakis am 22. Mai 1963 ermordet. Der Fall wurde durch den Film "Z" des Regisseurs Kostas Gavras weltweit bekannt. 5. Zu den Wahlergebnissen rechtsextremer Parteien in Griechenland siehe Georgiadou (2013). 6. Eine detaillierte Geschichte der "Goldenen Morgenröte" liefert Psarras (2013). 7. Zum Rassismus und den rassistischen Überfällen in Griechenland siehe Tsiakalos (2006). 8. Dieses und die anderen Zitate entstammen propagandistischen Schriften der „Goldenen Morgenröte“. Wir verzichten auf genaue Angaben und weisen auf die Möglichkeit hin, bei den Autoren um genaue Angaben nachzufragen. 9. In Poliakov L. / Wulf, J. (1983), 426. 10. Diese Ideologie wird in mehreren Artikeln in der offiziellen Zeitung und Internetseite der "Goldenen Morgenröte" vertreten. Vgl. "Die Goldenen Morgenröte ist das Vorbild für den Staat" (30. Januar 2013), "Kampf – ein Grundgesetz" (11. September 2012), "Der Volksnationalismus als Biotheorie " (11. August 2012), "Individuum und Rasse" (24. Januar 2013). Alle Artikel in griechischer Sprache.

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Meinung: Das Zeitalter der Opfer

Von Petros Markaris 5.2.2014 geboren 1937 in Istanbul, studierte in Wien und lebt seit 1960 in Athen. Er war Co-Autor des berühmten Regisseurs Theo Angelopoulos, Verfasser von Theaterstücken und Übersetzer (vor allem von Bertolt Brecht und J. W. v. Goethe), ehe er Mitte der Neunziger Jahre mit seinen Krimis um Kommissar Charitos zum international erfolgreichsten griechischen Gegenwartsautor aufstieg (Raymond Chandler Award 2011 u.a.).

In der aktuellen Krise denkt kaum einer an die Migranten in Griechenland, meint der Schriftsteller Petros Makaris. Sie treffe die Wirtschaftskrise am härtesten. Die EU-Flüchtlingspolitik hält er für reine Heuchelei.

"Stummer Protest" für die Anerkennung auf politisches Asyl: Ein Flüchtling in Athen am 27. Dezember 2010. (© picture- alliance/dpa)

Es war im Sommer 2007 und Athen stöhnte unter einer großen Hitzewelle. Ich konnte in der Nacht nicht schlafen, weil mich die Klimaanlage im Schlafzimmer stört. Gegen drei Uhr morgens geriet ich endlich ins Schlummern, da hörte ich plötzlich in der Fußgängerzone vor meiner Wohnung einen lauten Krach.

Ich sprang aus dem Bett, lief auf den Balkon und rief empört: "Leute, woher findet Ihr denn die Kraft, um drei Uhr morgens und in dieser Hitze einen Streit anzuzetteln?" Es folgte eine lange Pause. Dann sah ich ein schwarzes Gesicht mit zwei brennenden Augen zu mir hinaufblicken, und eine warme Baritonstimme sagte: "Excusez-moi, Monsieur! – Entschuldigen Sie, mein Herr!"

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In der Umgebung meiner Wohnung, im Athener Stadteil Kypseli, wohnen viele französischsprachige Afrikaner: Senegalesen, Abidjanesen und Einwanderer von der Elfenbeinküste. Einige von ihnen haben Läden, die afrikanische Produkte verkaufen, andere unterhalten Essbuden. Die Mütter lassen ihre Kinder in der Fußgängerzone spielen, fast jeden Tag trifft man dort junge Afrikanerinnen und Afrikaner, die herumflanieren und fließend Griechisch sprechen.

Die Griechen haben im Allgemeinen ein gutes Verhältnis zu diesen Afrikanern. Man sieht sie gemeinsam vor den Läden sitzen und plaudern, oder sie spielen Tavli miteinander. Als die Neonazi-Partei "Goldene Morgenröte" in dieser Gegend Fuß zu fassen versuchte, wurde sie von den Griechen vertrieben.

Vor ein paar Tagen gab es gegen elf Uhr Nachts in der Flanierzone eine Polizeirazzia. Am nächsten Morgen fragte ich meinen Nachbarn, was passiert ist: "Es war eine Operation gegen den Rauschgifthandelring in der Gegend", antwortete er.

Ich habe diese beiden Geschichten nebeneinander gestellt, um zu zeigen, dass die Migranten eben Menschen sind wie wir. Das scheinen viele Europäer – nicht nur die Griechen – einfach zu vergessen. Nur hat die Krise das Verhältnis zwischen Griechen und Migranten zunehmend zerstört. Wenn man in einer Gesellschaft mit knapp dreißig Prozent Arbeitslosigkeit und knapp sechzig Prozent Jugendarbeitslosigkeit lebt, und alles Vertrauen zu den Politikern verloren hat, dann erscheinen die Migranten als eine zusätzliche Belastung, sogar als Konkurrenten im Kampf ums Überleben.

Wenn ich um sieben Uhr morgens von meinem Balkon auf die Straße hinunterschaue, dann sehe ich Griechen mit einem Stock im Müll wühlen. Die meisten sind alte Leute im Ruhestand, die mit ihrer – in den letzten drei Jahren vielfach gekürzten – Pension nicht mehr auskommen. Sie erscheinen immer frühmorgens, weil sie sich schämen, von ihren Landsleuten ertappt zu werden.

Gegen zehn Uhr kommen dann die Migranten. Auch sie wühlen im Müll herum, doch nicht mit einem Stock, sondern mit einer Eisenstange. Meistens fischen sie nach leeren Blechdosen, die sie zu 10 Cent das Stück verkaufen, und nach Holz, das sie als Brennholz absetzen – denn viele Familien können sich das Heizöl nicht mehr leisten. Die Goldene Morgenröte und andere rechtsextreme Parteien schüren den Unmut der Leute, und sie fordern lautstark, die Migranten auszuweisen.

Das ist nur Theater. Man braucht die Migranten nicht auszuweisen, sie verlassen von selbst das Land, die meisten von ihnen Albaner. Das ist eine doppelte Tragödie. Zum einen, weil die Albaner sich in Griechenland völlig integriert haben: schon die zweite Generation konnte man von den Griechen nicht mehr unterscheiden. Sie haben die griechische Sprache übernommen, und sprechen auch zu Hause Griechisch – das Land verliert also jene Migranten, die sich am besten integriert haben. Zum anderen, weil auch diese albanischen "Rückkehrer" sehr unglücklich sind. Die junge Generation spricht kein Albanisch. Sie gingen in griechische Schulen, ihre Freunde waren Griechen. Jetzt müssen sie Albanisch lernen. Die albanischen Schulen sind ihnen so fremd wie das Land. Für die jungen Albaner ist das also keine Rück- sondern eine Auswanderung. Mein albanischer Kiosk-Besitzer wollte nach Albanien zurück, hatte dabei aber ein Problem. "Soll ich als Albaner, oder als Grieche zurückkehren?", hat er mich gefragt. "Kehre ich als Albaner zurück, dann werden mich meine Landsleute als Versager auslachen. Kehre ich dagegen als Grieche zurück, dann werden sie auf mich schimpfen."

Jeden Morgen, wenn ich an seinem verlassenen Kiosk vorbeigehe, frage ich mich, wie er sein Problem gelöst hat. Die meisten von den afrikanischen und asiatischen Einwanderern, die Griechenland verlassen, sind illegale Einwanderer, denen man den Flug bezahlt. Viele von den Einwanderern, die eine Aufenthalts- und eine Arbeitsgenehmigung besitzen, würden auch gern in ihr Heimatland zurückkehren, können aber das Reisegeld nicht auftreiben. Weil sie legale Einwanderer sind, müssen sie den Rückflug selbst bezahlen.

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Trotzdem sehe ich, wenn ich in der Flanierzone spaziere, Afrikaner, die frohen Mutes sind. Sie lachen, machen Witze, und erinnern mich an die Griechen der sechziger Jahre, die immer lachten und einen unerbittlichen Humor hatten. Der fiktive Reichtum und der Rückfall in die Armut haben den Griechen ihren Humor verdorben. Außer bei den Migranten, sieht man in Athen kaum noch lachende Gesichter.

Wir leben in Europa nicht nur im Zeichen der EU, sondern auch im Zeitalter der Opfer. Diese Opfer sind die Einwanderer. Sie werden in ihrem Ursprungsland von Banden verführt und zahlen ihre ganzen Ersparnisse, um ihnen in Europa einen Arbeitsplatz und damit ihren Familien eine Zukunft zu verschaffen.

Viele zahlen dafür nicht nur mit Geld, sondern auch mit ihrem Leben. Sie ertrinken irgendwo im Mittelmeer, in Sichtweite von Italien, Griechenland, Zypern oder Malta. Lampedusa ist das eklatanteste Beispiel, das einzige ist es nicht. Diejenigen, die die Küste erreichen, werden sofort in Auffanglager gesperrt, sie leben mit dem Traum einer Aufenthaltsgenehmigung. Die meisten haben ihre Papiere vernichtet, in der Hoffnung als politische Flüchtlinge akzeptiert zu werden. Man spricht nicht gern von "Lagerstrukturen", aber darum kommt man im Zusammenhang mit diesen Einwanderern nicht herum.

Die Einwanderungspolitik der EU ist eine Politik der Heuchelei. Zuerst einmal gegenüber den Küstenländern Europas, die die große Last zu tragen haben. Die mitteleuropäischen Staaten geben den Küstenländern Geld, damit sie Europa gegen die Einwanderungswelle besser wappnen können. Letztendlich werden alle Fragen in Europa fast nur noch mit Geld gelöst – Geld ist zum Allheilmittel der EU geworden.

Damit sei nicht gesagt, dass wir Griechen alles richtig gemacht hätten. Ganz im Gegenteil, wir haben eine Reihe fataler Fehler begangen. So haben auch wir jahrelang einfach weggeschaut, als die Einwanderungswelle zunahm. Dabei hat Griechenland ein doppeltes Problem. Die Einwanderer kommen nicht nur auf dem Seeweg, sondern auch über die nordöstliche Grenze zur Türkei, die sehr lang und äußerst schwer zu überwachen ist.

Weil die örtlichen Stadtgemeinden sowohl an der griechisch-türkischen Grenze als auch auf den Inseln die Migranten nicht akzeptieren, übten die Parlamentsmitglieder der jeweiligen Regierungspartei, die in diesen Wahlkreisen kandidierten, Druck auf die Regierung aus. Die einfachste Lösung war, sie alle nach Athen zu schicken. Die zuständigen Minister dachten wohl, einige tausend Migranten mehr oder weniger, das wäre für den Moloch Athen kein Problem.

Jetzt in der Krise zahlt Athen die Zeche für diese Politik. Die Krise hat Athen am schwersten getroffen. Nirgendwo in Griechenland ist sie so hart zu spüren. Die Opfer der Krise und die Opfer der Einwanderung wühlen nicht nur im selben Müll, sie irren auch nebeneinander durch Athen, in der verzweifelten Suche nach Arbeit.

Auch die beiden Häfen Patras und Igoumenitsa haben ein großes Migrantenproblem – die Fähren nach adriatischen und Mittelmeerhäfen fahren von diesen Städten aus. Alle Tage sieht man dort eine enorme Polizeipräsenz. Die Migranten warten auf die Fähren und versuchen, als blinde Passagiere Griechenland zu verlassen. Die Polizei versucht, sie davon abzuhalten. Die Migranten sind müde und entmutigt, die Polizisten und Schiffsmannschaften auch. Es ist ein tägliches, aussichtsloses Spiel, dessen Einsatz aus Menschenleben besteht.

Immer, wenn die Diskussion auf die Menschenrechte in Syrien, Ägypten oder China kommt, dann denke ich an diese Migranten. Wer schützt ihre Menschenrechte? Auch das ist Heuchelei.

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"Geb ich dir was zu essen, musst du mir auch was musizieren" Perspektiven deutsch-griechischer Beziehungen

Von Manuel Gogos 11.3.2014 Dr. phil, geb. 1970 in Gummersbach, ist freier Autor und Ausstellungsmacher. Seine "Agentur für geistige Gastarbeit" firmiert in Bonn. www.geistige-gastarbeit.de(http://www.geistige-gastarbeit.de)

Die deutsch-griechischen Beziehungen haben unter der Wirtschaftskrise massiv gelitten. Denn die Bilder, die deutsche und griechische Medien vom anderen Volk zeichnen, waren sehr wirkmächtig. Mit der Realität hatten und haben sie allerdings nur wenig zu tun. Manuel Gogos fasst zusammen.

Hafen von Elafonisos. (© picture-alliance)

"Eine Heuschrecke hatte sich den ganzen Sommer über auf dem Feld amüsiert, während die fleißige Ameise für den Winter Getreide gesammelt hatte." – Es ist, als hätte der altgriechische Fabeldichter Äsop das neugriechische Dilemma auf geradezu unheimliche Weise vorausgesehen: Während in der deutschen Öffentlichkeit die Mediterranen in den zurückliegenden Jahrzehnten tatsächlich ein paar Teller zuviel zerschmissen zu haben schienen, fühlte sich in Griechenland die nun verordnete Sparpolitik allzu regide an. Oder, wie es in Äsops Fabel heißt: "Hast du im Sommer singen können, so kannst du jetzt im Winter Hunger leiden. Geb ich dir was zu essen, musst du mir auch was

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 103 musizieren."[1]

Immer wieder leiteten Generationen von Philhellenen ihre Feiern des Griechentums mit einer Etymologie ein. Das war bei dem Philosophen Martin Heidegger so, einem Meister der phillhellenischen Ikonenmalerei, nach dem sich überhaupt nur auf Deutsch und Griechisch philosophieren lässt; und das ist auch in dem populären Kinofilm wie "Big Fat Greek Wedding" nicht anders, wo der pater familias erklärt, das japanische Wort "Kimono" müsse sich irgendwie vom griechischen "Chimona" wie Schnee ableiten lassen. Und dann taucht plötzlich jenes Wort auf, das nicht griechischen Ursprungs ist: Bankrott, von ital. banca rotta, "zerbrochene oder leere Bank", der von den Geldwechslern im mittelalterlichen Oberitalien stammt. Umgangssprachlich bezeichnet der Ausdruck "Bankrott" heute die Unfähigkeit einer Person, eines Unternehmens oder eines Staates, die eigene Schuld aus der Welt zu schaffen. Wer also ist verantwortlich für die griechische Misere, wer ist "schuld"? Die Deutschen als "ewige Besatzer", die im Zweiten Weltkrieg Europa mit militärischen Mitteln unterwarfen, und heute mit der Kraft ihrer Wirtschaftsmacht? Die Griechen selbst, die sich als Hochstapler und "levantinische Trickser" den Zugang zur EU überhaupt nur durch geschönte Zahlen erschlichen haben?

Griechische Selbsterkenntnis

Aber wer hätte je einem Griechen ins Herz geschaut? Der Philosoph Nikos Dimou vielleicht, mit seinem aphoristischen Klassiker "Über das Unglück, ein Grieche zu sein" [2] – ein Buch, das in Griechenland schon 30 Auflagen erlebte und gerade angesichts der aktuellen Befindlichkeiten wieder vielen Orientierung gibt: "Wie viele Griechen haben je ihr Gesicht im Spiegel gesehen? Der Grieche sieht, wenn er sich im Spiegel betrachtet, Alexander den Großen. Niemals den Karagiosis (Figur aus dem Schattentheater)." Bereits 1975, in einer Zeit also, da die Militärjunta meinte, der griechische Patient müsse von Kopf bis Fuß eingegipst werden, um wieder in "Ordnung" zu kommen, unterzog sich Nikos Dimou den Tantalusqualen dieser Selbsterkenntnis: "Wir haben uns bemüht, die Reinheit unseres Stammes zu beweisen. Wir hassten uns, weil wir nicht hochgewachsen und blond waren und weil wir kein ‚griechisches Profil’ haben. Wir hassten unsere Nachbarn, weil wir ihnen gleichen." Und noch ein Nachsatz mag zitiert sein aus dem Postskriptum zur deutschen Ausgabe: "Die Menschen, die dieses Buch mit Vergnügen lesen, sind vermutlich keine Griechen. Für einen Griechen ist dieses Buch eine Qual. Aber es ist das Werk eines Mannes, dem seine Heimat sehr am Herzen liegt und der versucht, seinen Mitbürgern zu helfen, dem delphischen Motto 'Erkenne dich selbst' zu entsprechen."

Die erkenntnistheoretische Forderung Gnōthi seautón ("Erkenne dich selbst") wird auf den Gott Apollon zurückgeführt, als Orakelspruch, der die gesamte griechische Philosophie der Antike durchzieht. Ausgehend vom Apollon-Tempel in Delphi, wo jener phallische Stein "Omphalos" den "Nabel der Welt " markieren sollte. Aber die Griechen haben nicht nur ein klassisches Erbe, sondern auch ein orthodoxes. Ursprünglich bezog sich der Ausdruck "Omphaloskepsis" oder "Nabelschau" auf die kontemplative Gebetspraxis byzantinischer Mönche, die in einer meditativen Sitz- und Atemtechnik in der eigenen Seele das Tabor-Licht entzünden wollten. Die theosophische Begründung lieferte der Athos-Mönch Gregorios Palamas, der die Gebetstechnik im "Hesychasmusstreit" gegen Barlaam von Kalabrien verteidigte. Und Letzterer war es endlich, der im Argon der Argumente den Schimpfnamen " Nabelschau" eingeführt hat.

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 104 "Selbst-Hellenisierung"

Wäre also nach Nikos Dimou den Griechen heute eher zu viel Nabelschau vorzuwerfen? Oder zu wenig? Das kommt wohl darauf an, ob es lediglich um Selbstbespiegelungen geht: "Andere Völker haben Institutionen. Wir haben Luftspiegelungen." Oder um Selbsterkenntnis: "Die Griechen sehen ihren eigenen Staat so, als wäre er immer noch eine türkische Provinz. Recht haben sie." Zweifellos, das Neugriechentum ist auch eine Ausgeburt des deutschen Philhellenismus. Wie Pygmalion, das Blumenmädchen, dem ein Linguist der Londoner Oberschicht die Sprache beibringt. Oder wie der Affe Rotpeter, der in Kafkas "Bericht für eine Akademie" die Geschichte seiner Menschwerdung vorträgt. Bei Dimou klingt diese Anerkennungssucht so: "Die Bayern, die Philhellenen, die Neunmalklugen verwirrten vollends das Volk, versessen darauf, uns ein neues Gesicht zu geben. Plötzlich erschien es als offensichtlich, dass die ‚Nachkommen der alten Griechen’ nie und nimmer Bauern vom Balkan sein konnten."

Deutsche Selbsterkenntnis

"Die Griechen verdienen ihre Akropolis nicht" – fatalerweise war es eben dieser zynische Duktus, der sich ausdrücklich auf den österreichischen Orientalisten Jakob Phillip Fallmerayer beruft und damit einer nationalstereotypen Demagogie bewusst Vorschub leistet, welcher in der jüngsten Krise der deutsch-griechischen Beziehungen den Ton setzte. Bald schon wimmelte es in deutschen Boulevardblättern nur so von pauschalierenden Stereotypen und klischierenden Tiefschlägen, wie im " offenen Briefe an das griechische Volk" der Zeitschrift Stern: "Liebe Griechen! Kennt Ihr das bei Euch auch, eine Tante, die einem die ganze Kindheit und Jugend hindurch das Sparschwein füttert? Beim ersten Fahrrad, dem ersten Radio, der ersten Urlaubsreise – immer gibt sie ein paar Scheine dazu. Und dafür verlangt sie nichts weiter als ab und zu mal ein freundliches Dankeschön. Liebe Freunde, dies ist ein Brief von Eurer Geldtante. Keine Angst, Ihr müsst nicht Danke sagen. Das Einzige, was wir uns wünschen, ist: Versetzt Euch mal in unsere Lage."[3]

Protestantisches Arbeitsethos

Die Bilder, die deutsche und griechische Medien vom anderen Volk zeichnen, waren sehr wirkmächtig. Mit der Realität haben sie indes nur wenig zu tun. Nicht nur Klischees vom Anderen ist man dabei aufgesessen, für besonders fleißig halten sich die Deutschen auch selbst. Dabei arbeiteten Deutsche laut OECD im Durchschnitt 1397 Arbeitsstunden im Jahr 2012, Griechen dagegen 2034 Arbeitsstunden.[4] Wo der Vorwurf erhoben worden ist, die Griechen würden früher in Rente gehen als die Arbeitnehmer im arbeitsamen Norden, da beruht auch dieses Bild nicht zuletzt auf dem Klischee eines "ewigen Sorbas" – jenes Lebenskünstlers, der sich selbst dann noch fröhlich eins pfeift, als er mit seinen geschäftlichen Unternehmungen Schiffbruch erleidet.[5] Es ist Sorbas, der mediterrane Lebemann, der Neid erregt, und Scheelsucht. Während sich die Nordeuropäer in ihren kurzen Sommermonaten am Mittelmeer in das Sorbas’sche Lebensgefühl einzuüben trachten, werfen paradoxerweise viele den Südeuropäern eben dieses Lebensgefühl in den langen Wintermonaten von zu Hause aus bitterlich vor. Nationaltopoi, so erfrischend sie auch immer sein mögen, sind darum nicht Teil der Lösung, sondern des Problems. Hilfreicher wäre es wohl, die Nationen mit Benedict Anderson allgemein als "vorgestellte Gemeinschaft" anzusehen.[6]

bpb.de Dossier: Deutsch-griechische Beziehungen (Erstellt am 19.05.2021) 105 Ausblick

In ihrer Neujahrsansprache 2013 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den Deutschen ein entbehrungsreiches Jahr voraussagt. Der ZDF-Moderator Klaus Kleber fragte sich daraufhin, was dann erst aus Griechenland werde. Die Stimmung an der Ägäis war im Jahr 2013 gedrückt, die Hiobsbotschaften verdichteten sich: Vom Zusammenbruch der Sozial- und der Gesundheitssysteme; von schwangeren Frauen, die nicht das Geld haben, ihre Kinder entbinden zu lassen oder Babynahrung zu kaufen; von Krebskranken, die sich ihre Medikamente nicht mehr leisten können. Die Selbstmordraten sind zuletzt signifikant gestiegen, wie die Zahl der Obdachlosen und der Suppenküchen von Athen. Selbst der Schwarzmarkt für menschlichen Organhandel soll sich auf Griechenland ausgedehnt haben.

Anfang 2014 übernimmt Griechenland die Ratspräsidentschaft im Europäischen Parlament. In seiner Neujahrsansprache verspricht der Regierungschef Antonis Samaras, Griechenland werde nun "wieder an die Märkte" zurückkehren und keinen "Bedarf an neuen Krediten und neuen Rettungsvereinbarungen" mehr anmelden.[7] Tatsächlich wurden die Arbeitskosten stark abgesenkt, so dass die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands verbessert werden konnte. Doch hält die gute Stimmung, die der griechische Staatschef zu verbreiten sucht, einer Überprüfung nur bedingt stand. Beobachter wie Myles Bradshaw, Manager des weltweit größten Anleiheinvestors Pimco, gehen binnen der nächsten drei Jahre von einem weiteren Finanzbedarf von ca. 10 Milliarden Euro aus, den Griechenland vermutlich noch immer nicht über die Finanzmärkte wird refinanzieren können. Auch laut Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), wird das Land ein drittes Rettungspaket benötigen und einstweilen auf den Rettungsfond ESM angewiesen bleiben.[8]

Wenn heute die Wirtschaft eines Landes nichts mehr taugt, dann hat es seine Satisfaktionsfähigkeit verloren. Das ist es, was die Athener Demonstranten bei Besuchen deutscher Politiker in den letzten Jahren schäumen ließ: Das plötzliche Sinken des eigenen Ansehens, das Gefühl des Gesichtsverlusts. Doch nur wer anderen Ansehen gibt, gewinnt damit zugleich selbst an Ansehen.

Ob die Euro-Rettung über Kreditvergaben eher Ausdruck nationaler Eigeninteressen und eines heimlichen Gewinnstrebens ist, oder ob dabei nicht eben doch Motive der europäischen Solidarität eine bedeutende Rolle spielen, mag umstritten sein; jedenfalls helfen die Länder der Eurozone Griechenland in Form der so genannten "Rettungspakete" bereits seit 2010, die Programme, die 2014 auslaufen sollen, summieren sich unterdessen auf einen Gesamtbetrag von 240 Milliarden Euro.[9] Seit weniger gegen die Länder Südeuropas spekuliert wird, hat sich die Lage scheinbar beruhigt (genauer seit Sommer 2012, als die Europäische Zentralbank ankündigte, alles Nötige zur Rettung der gemeinsamen Währung zu tun); doch ist die Euro-Krise damit noch längst nicht ausgestanden. Die Währungsunion droht zusehends, in die wirtschaftlich starke Hälfte im Norden und die schwächere im Süden zu zerfallen. Und es bedarf einer intelligenten Wirtschaftspolitik – wie einer gesamt- europäischen "Mentalität" – um zu verhindern, dass die wirtschaftlichen Ungleichgewichte – wie die hartnäckigen Nationalstereotype – die Europäische Union sprengen.

Die Geschichte verjüngt sich. Und wirkt damit weiter fort. Die jüdische Gemeinde Thessaloniki hat gerade erst wegen deutscher Kriegsschuld- und Schulden den europäischen Gerichtshof angerufen. Für dieses Unrecht hat Bundespräsident Gauck bei seinem Griechenlandbesuch im März 2014 deutliche Worte gefunden, und er hat unmissverständliche Zeichen gesetzt für die sogenannten griechischen "Märtyrerorte" wie Lyngiades. Damit zeigt er ein Gespür, dass es neue Beziehungskulturen braucht zwischen Deutschen und Griechen, Vertrauensbildung, eine neue Begeisterung fu r einander. Das von der Großen Koalition geplante deutsch-griechische Jugendwerk könnte ein solches Laboratorium sein, an einer Imagination von Europa zu arbeiten, das wieder erregt und träumen lässt.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Manuel Gogos für bpb.de

Fußnoten

1. Vgl. Äsop, Fabeln, Neuübersetzung Griech. /Dt., Stuttgart 2005. 2. Vgl. Nikos Dimou, Über das Unglück, ein Grieche zu sein, München 2012. 3. Beschwerdebrief nach Griechenland: "Streng genommen seid Ihr pleite“, Stern 5. März 2010. Vgl. dazu auch die diskursanalytische Untersuchung "Die Dynamik der Konstruktion von Differenz und Feindseligkeit am Beispiel der Finanzkrise Griechenlands: Hört beim Geld die Freundschaft auf?", hrsg. v. Hans Bickers und Eleni Butulussi u.a., München 2012. 4. http://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=ANHRS (http://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode= ANHRS) 5. Vgl. den Roman "Alexis Sorbas" von Nikos Kazantzakis (1946) sowie die berühmte Verfilmung durch Michael Cacoyannis (1964). 6. Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Brooklyn / London 2006. 7. SZ, Freitag, 3. Januar 2014, S. 1. 8. Ebd. 9. SZ, Freitag, 3. Januar 2014, S. 1.

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3.2.2014

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