Die Tiroler Frage in St. Germain Und Die Folgen*
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BRGÖ 2019 Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs Marion DOTTER, Wien Die Tiroler Frage in St. Germain und die Folgen* The Tyrolian Question at the Peace Conference of St. Germain and its outcomes On 10th September 1919, the Austrian government ratified the peace treaty of St. Germain and thereby also confirmed the division of the county of Tyrol into three (two Austrian and one Italian) parts. This decision, negotiated and fixated between Italy and its allies in the First World War, had a long history rooted in the 19th century as well as wide-ranging consequences after the First World War. This article will analyse the complex developments in Tyrol before and after the peace treaty with a focus on the immediate post-war-period. Keywords: Division of Tyrol – Minority rights – Nationalism – Post-World War I history – Tyrol Einleitung und die italienische Besatzungszeit, sondern vor allem die Teilung ihres Landes verkraften Im November 1918 schrieb der an der Italienfront musste, brachte diese Zeit dramatische und trau- stationierte, österreichische Soldat Bernhard Veitl matische Erfahrungen. in sein Tagebuch: „Der Frieden naht. Endlich, Ziel dieses Textes ist es, Licht auf diesen Augen- endlich! Die Bedingungen sind sehr, sehr hart. blick des verdichteten Wandels zu werfen, um zu Aber was wird übrigbleiben. [...] So hätten wir verstehen, was sich für die Menschen veränderte, denn den Krieg verloren. Österreich zerfällt! […] welche Stabilitäten sie dabei aber gleichzeitig Was ich in den letzten 24 Stunden mitmachte, vorfanden oder sich selbst schufen. Die politi- spottet jeder Beschreibung. Es war ein völliger schen Entscheidungen, die in Saint Germain in Zusammenbruch. Wilde, regellose Flucht.“1 Bezug auf Tirol getroffen wurden, sowie deren Der Friede, so sehr er auch ersehnt wurde, bedeu- Konsequenzen für die Region, sollen längerfristi- tete für die Angehörigen des ehemaligen Habs- gen kontinuierlichen Entwicklungen, die über burgerreiches auch eine tiefgreifende Ernüchte- die Zäsur des Friedensvertrages hinausreichten, rung. Ihre Opfer waren vergebens gewesen, ganz gegenübergestellt werden. im Gegenteil veränderte sich die Welt um sie herum nun in unerwarteter Geschwindigkeit. Gerade für die Bevölkerung Tirols, die nicht nur den Frontverlauf entlang der eigenen Grenze * Ich danke Stefan Wedrac, dass ich mich an dem For- lung zu dem Projekt, Anita Ziegerhofer für die freund- schungsprojekt „Die rechtliche Bedeutung des Vertra- liche und liebevolle Aufnahme darin. Schließlich gilt ges von St. Germain“ als Archivbeauftragte, an der mein Dank Jana Osterkamp, die mir zum Teil noch un- selbstständigen Publikation „Der hohe Preis des Frie- publizierte Texte für die Abfassung dieses Beitrages dens. Die Geschichte der Teilung Tirols“ als eigenstän- zur Verfügung gestellt hat. dige und gleichberechtigte Co-Autorin sowie an der 1 Tiroler Archiv für photographische Kunst und Doku- wissenschaftlichen Konferenz „Die Konsequenzen des mentation (TAP) Lienz, Sammlung Bernhard Veitl, Ta- Vertrages von St. Germain“ als Referentin beteiligen gebuch. konnte. Andreas Gottsmann danke ich für die Vermitt- http://dx.doi.org/10.1553/BRGOE2019-2s352 Die Tiroler Frage in St. Germain und die Folgen 353 Die Tiroler Frage in St. Germain dung eines Völkerbundes aus.6 Zur Verwirkli- chung dieser Idee benötigte er die Zustimmung Die Bestimmungen des Vertrages von Saint Ger- seiner Kriegspartner, wollte sie aber auch durch main waren der Endpunkt einer langen Reihe die Unterstützung der neu entstandenen Staaten von Diskussionen und Forderungen, die die itali- Osteuropas, vor allem Jugoslawiens, stärken. enische Politik seit dem 19. Jahrhundert bewegt Dementsprechend sah er die Notwendigkeit, Ita- hatten: Die Irredentisten drängten auf eine „Be- lien Zugeständnisse zu machen, ohne im östli- freiung der unerlösten Gebiete“ und eine endgül- chen Adriaraum zu großzügig zu agieren.7 Er tige Festlegung der italienischen Grenzen im überließ der italienischen Delegation daher rela- Norden der Apenninenhalbinsel,2 die Imperialis- tiv rasch Südtirol bis zur Brennergrenze, sowie ten versuchten Italiens Stellung im „Konzert“ der das Puster- und Sextnertal.8 Diese Entscheidung europäischen Großmächte zu festigen.3 Diese An- konnte die Italiener jedoch nicht befriedigen: strengungen kulminierten zunächst im Vertrag Nach langwierigen Verhandlungen um die An- von London, in dem die Alliierten – Großbritan- sprüche im Adriaraum, insbesondere um die Ha- nien, Frankreich und Russland – 1915 dem Kö- fenstadt Fiume, und einem moralischen Appell nigreich für seinen Kriegseintritt zahlreiche Zu- Wilsons an die italienische Bevölkerung, verließ geständnisse, unter anderem „le Tyrol cisalpin deren Delegation die Konferenz, nur um wenig avec sa frontière géographique et naturell (la später unter noch schlechteren Voraussetzungen frontière du Brenner)“ machten.4 zurückkehren zu müssen.9 Rasch setzte sich da- Mit dem Krieg veränderten sich aber auch die Po- her die Vorstellung eines „verstümmelten Frie- sitionen der Italiener und ihrer Bündnispartner: dens“ durch, der der jungen Nation das verwehrt Während erstere die schweren Verluste und das hatte, was ihr schon im Zuge des Risorgimento Leid der Bevölkerung durch noch größere Forde- zugestanden wäre. Tatsächlich waren es aber die rungen kompensieren und der nationalistisch italienischen Politiker selbst, die ihre eigenen, aufgeheizten Bevölkerung nach den Kampfhand- großen Erwartungen nicht erfüllen konnten.10 lungen einen diplomatischen Sieg präsentieren wollten,5 hatte die Intervention der USA den Konflikt in eine globale Auseinandersetzung um Die Legitimation der eine gerechtere Weltordnung verwandelt. Insbe- sondere der amerikanische Präsident Woodrow Entscheidungen von St. Germain Wilson, der mit seinen 14 Punkten die Grundli- Durch den Ersten Weltkrieg entstanden aus dem nien des neuen Friedenskonzeptes geliefert hatte, großen Vielvölkerreich der Habsburger eine sprach sich (zumindest implizit) für das „Selbst- Reihe kleinerer Vielvölkerstaaten. Neben beson- bestimmungsrecht der Völker“ und für die Grün- ders deutlichen Beispielen, wie der Tschechoslo- wakei und dem SHS-Staat, hat auch Italien mit 2 RUSINOW, Italy's Austrian heritage 15. Pustertal und Sexten siehe: TLA, Nachlass Franz Schu- 3 VOLPI, Lost Victory 321f. macher, Position III: Bericht an die Tiroler Landesre- 4 GIANNINI, Documenti 8. Zum Vertrag von London gierung vom 3. 6. 1919. siehe etwa: HARMAT, Treaty of London. 9 Für die italienische Position auf der Friedenskonfe- 5 THOMPSON, White War 388; MCMILLAN, Friedensma- renz siehe etwa: MCMILLAN, Friedensmacher 371–405; cher 372. ALBRECHT-CARRIÉ, Italy 59–200; ZIVOJINOVIC, America. 6 Siehe dazu weiterführend: WAGEMANN, Scheitern. 10 VOLPI, Lost Victory 326–329. 7 Siehe dazu mit weiteren Literaturhinweisen: DOTTER, WEDRAC, Der hohe Preis 113–116. 8 Siehe zu den genauen Zusammenhängen und der Po- sition Wilsons: SCHOBER, Tiroler Frage 71–124; Zum 354 Marion DOTTER den Slowenen und den Südtirolern zwei Minder- zur Dreiherrnspitze. Die Idee einer eindeutigen heiten gewonnen, die es nun in das Staatsgebilde Wasserscheide, die Süd von Nord und damit den zu integrieren galt. Die Alliierten in Saint Ger- mediterranen vom mitteleuropäischen Raum main, die mit dem Selbstbestimmungsrecht der trennt, ist auch im Vertrag von Saint Germain ein Völker geworben hatten, und die Nationalpoliti- wesentlicher Referenzpunkt der Grenzbestim- ker der neuen Einzelstaaten schufen so „little Em- mungen.15 Nichtsdestotrotz war der genaue Ver- pires“. Diese plötzlich entstandene ethnische und lauf der Wasserscheide nicht immer eindeutig zu sprachliche Vielfalt mussten die politischen Eli- erkennen, weshalb für die Festlegung und Ver- ten mit neuen Nationserzählungen legitimieren.11 markung der Grenze der sogenannte österrei- Wesentliche Vorarbeit in diesem Bereich hatte in chisch-italienische Grenzregelungsausschuss ge- Italien der Irredentist Ettore Tolomei aus Rove- schaffen wurde.16 Die langwierigen Inspektionen reto geleistet. In seiner, seit 1906 jährlich erschie- und Diskussionen dieser internationalen Kom- nen Zeitschrift „Archivio per l´Alto Adige“ baute mission über einzelne Grenzabschnitte zeigen al- er auf historische Traditionen und gab dem von lerdings, dass die angeblich aus der Natur her- ihm beanspruchten Südtirol willkürlich ein itali- vorgehenden Grenzmerkmale nicht selten künst- enisches Gepräge. Ziel der Publikation war es, lich sichtbar gemacht oder rekonstruiert werden der Leserschaft auf der Apenninenhalbinsel die mussten. Ein Mitglied des österreichischen Region in geschichtlicher, geographischer, kultu- Grenzregelungsausschusses schrieb in sein Tage- reller und sprachwissenschaftlicher Hinsicht nä- buch: „Im Großen und Ganzen hielt sich der ital. herzubringen und dabei das italienische Element Unterkommissär strenge an die Wasserscheide, in der Vergangenheit und Identität Südtirols her- die an nicht klaren Punkten fast meterweise ab- vorzuheben.12 Mit dieser zweifelhaften Lesart gepflockt wurde […]. Erst, als ich auf die Kompli- konnte sich Italien bei den Friedensverhandlun- ziertheit und Gekünsteltheit einer solchen Staats- gen schließlich durchsetzen, zu der Vorstellung grenze hinwies, hatte sich der ital. Unterkommis- einer ethnisch-linguistischen Grenze, die den an- sär […] zu ganz wenig toleranter Anschauung geblich homogenen Nationalstaat umrahmen bekannt.“17 sollte, gesellte sich aber auch das räumliche Kon- zept einer natürlichen Grenze. Diese sollte dem italienischen Königreich zusätzlich Schutz gegen