DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 13. März 2006 Betr.: Titel, Klaus-Gespräch, SPIEGEL-Buch nappe Antworten, keine hoffnungsfrohe Botschaft und eine Spur Genervtheit: In Kseltsamer Befindlichkeit zeigte sich Bundestrainer Jürgen Klinsmann, 41, als SPIE- GEL-Autor Dirk Kurbjuweit, 43, ihn in München zum Zustand der Nationalmannschaft befragte, und es schien, als habe der derzeit „meistbeschimpfte Deutsche“ (Kurbjuweit) sein Sonnyboy-Image vollends verloren. Doch die Krise des deutschen Prestigesports Fußball geht, drei Monate vor Beginn der Weltmeisterschaft, weit über die Schwäche der Nationalelf mit ihrer blamablen 1:4-Niederlage gegen Italien hinaus: Der FC Bayern Mün- chen und Werder Bremen mussten, wiederum von italienischen Mannschaften, lernen, dass sie international kaum wettbewerbsfähig sind – und zu allem Überfluss erschüttert zum zweiten Mal innerhalb von 14 Monaten ein Betrugsskandal den Ruf des deutschen Profi-Fußballs. Kurbjuweit beschreibt den Richtungsstreit, den Experten über Klins- manns Reformkurs führen, doch er bleibt, der aktuellen Lage zum Trotz, hinsichtlich der Nationalmannschaft optimistisch. Griechenland habe es, so Kurbjuweit, bei der Europa- meisterschaft 2004 vorgemacht: „Auch wer allenfalls guter Durchschnitt ist, kann den Titel gewinnen, wenn er von einer Welle der Euphorie getragen wird“ (Seite 76).

as Medienecho war stark, als der SPIEGEL vorige Woche veröffentlichte, was DPolens Präsident Lech Kaczyn´ski, 56, auf Fragen der Redakteure Christian Neef, 54, und Jan Puhl, 38, nach seiner Europapolitik geantwortet hatte: So distanziert sprach Kaczyn´ski über die EU und das Verhältnis zu Deutschland, dass etliche polni- sche Journalisten hernach von Puhl wissen wollten, wie groß denn der außenpolitische Flurschaden sei, den ihr Staatsober- haupt angerichtet habe. Die in Ost- europa bisweilen starke Skepsis ge- genüber der EU spürten Neef, Puhl und SPIEGEL-Mitarbeiterin Renata HanuΔová, 44, auch auf der Prager Burg, als sie den tschechischen Präsi- denten Václav Klaus, 64, zum SPIE- GEL-Gespräch trafen. Klaus, der Deutsch ebenso fließend wie Russisch

FILIP SINGER / SPECTRUM PICTURES FILIP SINGER / SPECTRUM und Englisch spricht, machte seinem Puhl, HanuΔová, Klaus, Neef (in Prag) Ruf als einer der eigensinnigsten unter den europäischen Staatschefs alle Ehre: Die westliche Entspannungspolitik der siebziger Jahre habe den Osteuropäern in Wahrheit wenig gebracht, und gelegentlich werde er, wie bei der Debatte um einen EU-Fonds für Opfer der Globalisierung, an „Kommunismus in Reinkultur, wie zu Breschnews Zeiten“, erinnert (Seite 126).

ütenlampen, Nierentische und Schalensessel, das typische Mobiliar der fünfziger TJahre, sind begehrt auf den Flohmärkten der Republik – und die Nachfrage zeugt von der Renaissance einer Zeit, die geprägt war von einer Aufbruchstimmung, die dem Land auch heute guttäte. Die Deutschen packten an beim Wiederaufbau und profitierten vom Wirtschaftswunder, aber sie litten im Westen wie im Osten unter der Teilung ihres Landes. Herausgegeben von den SPIEGEL-Redakteuren Georg Bönisch, 57, und Klaus Wiegrefe, 40, beschreibt das neue SPIEGEL-Buch „Die 50er Jahre – Vom Trümmerland zum Wirtschaftswunder“ (DVA; 19,90 Euro), wie sich das Land entwickelte und wie müh- sam es für die Nachkriegsgesellschaften beiderseits der inner- deutschen Grenze war, sich von den strengen Idealen wilhelmi- nischer Zeit zu lösen.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 11/2006 5 In diesem Heft

Titel Jürgen Klinsmann, ein deutscher Reformer ..... 76 Der Schattenbundestrainer Lothar Matthäus .... 82 Die verpfuschte Reform Seite 24 Warum die Fahnder gegen Ex-Bayer-Manager Reiner Calmund und Es hätte die erste große Tat der Großen Koalition werden können – nach Widerstand Fußballprofi Ansgar Brinkmann ermitteln ...... 90 in der SPD aber steht die Föderalismusreform auf der Kippe. Die Länder sollten die Ein neuer Wettskandal Bildungspolitik, Teile des Umweltrechts, die Beamtenbesoldung sowie den Strafvollzug erschüttert den Liga-Fußball ...... 92 zugeschlagen bekom- men – und im Gegen- Deutschland zug auf ihr Vetorecht Panorama: Bundesrechnungshof kritisiert bei manchen Bundes- Arbeitsagenturen / BND wollte „Bremer gesetzen verzichten. Taliban“ anwerben / Sozialdemokraten gegen Doch nach Ansicht von Käfighaltung von Hühnern ...... 19 Experten haben die Regierung: Die Erneuerung des Föderalismus Koalitionäre bei der wird zur unendlichen Geschichte ...... 24 Konstruktion des Re- Gesundheitspolitik: Wie Ulla Schmidt das formwerks gepfuscht: kränkelnde deutsche System umbauen will ...... 32 Statt neuer Handlungs- Linkspartei: SPIEGEL-Gespräch fähigkeit drohen neue mit Fraktionschef Oskar Lafontaine über Blockaden und Kompe-

Populismus, Klassenkampf MARCO-URBAN.DE tenzwirrwarr. und die Querelen im eigenen Lager ...... 34 Geheimdienste: Wem nützt Bundesratssitzung der BND-Untersuchungsausschuss? ...... 38 Justiz: In Mannheim beginnt der weltweit erste Prozess gegen ein mutmaßliches Mitglied der internationalen Atommafia ...... 40 Zeitgeschichte: Wie die Linkspostille „Konkret“ von Kommunisten aus Ost-Berlin Der neue Renten-Realismus Seite 104 gesteuert wurde ...... 46 Vizekanzler Franz Müntefering produziert seit Wochen negative Auszug aus Bettina Röhls Enthüllungsbuch ...... 48 Schlagzeilen. Seine Rente mit 67 stieß auf Unmut, Boulevard- Kirche: SPIEGEL-Gespräch mit Kardinal blätter wetterten über sinkende Altersgelder. Im SPIEGEL-Ge- Karl Lehmann über den Kampf der Kulturen spräch verteidigt der Sozialminister seine Politik als „realistisch“. und die Zukunft der katholischen Kirche ...... 50

Die gesetzliche Rente bleibe „der Kern der Alterssicherung“. LAURENCE CHAPERON Ausbildung: In Düsseldorf werden Huren zu Altenpflegerinnen umgeschult ...... 59 Müntefering Gesellschaft Szene: Studie über die Flexibilität sexueller Orientierung / Fotoband über Picassos Dackel ...... 63 Eine Meldung und ihre Geschichte ...... 64 Akte „Konkret“ S. 46, 48 Karrieren: Der ehemalige Anhand von Aktenfunden beschreibt die Boxweltmeister Vitali Klitschko macht Journalistin Bettina Röhl in einem neuen Wahlkampf in der Ukraine ...... 66 Buch, wie die in der Bundesrepublik ver- Ortstermin: Wie sich die Vogelgrippe-Insel botene KPD das Hamburger Szeneblatt Rügen auf der ITB in Berlin präsentiert ...... 72 „Konkret“ erfand. Die spätere Terroristin Ulrike Meinhof, Mutter der Autorin und Wirtschaft MAX EHLERT / DER SPIEGEL EHLERT MAX FOCUS SCHIRNHOFER/AGENTUR Chefredakteurin des Magazins, diente der Trends: Neuer VW-Golf soll früher kommen / Meinhof (1962) Röhl Partei als heimliches Mitglied. Bahn lagert umstrittenes Lobbying aus / ImmobilienScout24 drängt an die Börse ...... 94 Konzerne: Was bringt der neuerwachte Größenwahn deutscher Unternehmen? ...... 98 Immobilien: Nach Dresden dürften auch andere Städte ihre Wohnungsbestände versilbern ...... 101 Download-Piraten geben auf Seite 178 Versicherungen: Neuer Rekordgewinn Sie galten als Totengräber der bei der Allianz – aber auch Musikindustrie – doch vier Jah- Spekulationen über einen Jobabbau ...... 102 re nach dem Ende der Online- Renten: SPIEGEL-Gespräch mit Sozialminister Tauschbörse Napster geht auch Franz Müntefering über sinkende Ruhegelder anderen Download-Piraten die und steigende Lebensarbeitszeiten ...... 104 Alter: Ehemalige Arbeitslosenhilfeempfänger, Luft aus. Wer sich Songs aus die sich auf die 58er Regelung eingelassen dem Internet holt, muss nun in haben, bangen um ihre Alterssicherung ...... 107 der Regel dafür bezahlen. / IMAGO STEINACH Mitbestimmung: Wie der Software-Riese SAP einen IG-Metall-Betriebsrat verhindern iPod-Werbung möchte ...... 108

8 der spiegel 11/2006 Ausland Panorama: Europaparlament plant Hürden für den EU-Beitritt / Die Lücken der Madrider Terroranklage / Dänen rücken im Karikaturenstreit von ihrem Premier ab ...... 110 Weißrussland: Präsidentenwahl in Europas letzter Diktatur ...... 112 Israel: Erste Kontakte mit der Hamas ...... 116 USA: Neue Offensive im Kampf gegen das Recht auf Abtreibung ...... 118 Nordkorea: Ferientrip zum „lieben Führer“ ... 122 Tschechien: Präsident Václav Klaus über seine Kritik an der Europäischen Union und das schwierige Verhältnis zum deutschen Nachbarn ...... 126 GREG UNDEEN / WPN Demonstration für straffreien Schwangerschaftsabbruch in South Dakota Global Village: Amerikas erster Prozess zu den Anschlägen vom 11. September 2001 ...... 130

Seite 118 Wissenschaft · Technik USA: Kulturkampf um Abtreibung Prisma: Verhütungspillen für Löwen / Im Kulturkampf um Schwangerschaftsabbrüche haben christliche Fundamentalisten Viele Schwangere essen zu wenig ...... 133 einen Teilerfolg errungen: Mit dem Verbot fast aller Eingriffe will der Bundesstaat Evolution: Soziobiologen haben entdeckt, South Dakota das Oberste Bundesgericht in Washington zwingen, seine 1973 gefällte warum Schwiegermütter ihre Entscheidung für die Abtreibungsfreiheit zu revidieren. Schwiegertöchter terrorisieren ...... 136 Zeitgeschichte: Hitlers Neue Reichskanzlei als Computeranimation ...... 140 Psychologie: SPIEGEL-Gespräch mit dem Psychiater Borwin Bandelow über seelenkranke Das Geschäft mit dem Grauen Seite 40 Superstars und die Bühne als Therapie ...... 142 Medizin: Wie US-Chirurgen Fettsüchtige Sie lieferten Nukleartechnik an Libyens Diktator Gaddafi, vielleicht sogar nach Iran. wieder in Form bringen ...... 148 Nun steht in Mannheim erstmals ein mutmaßliches Mitglied der Atommafia um den Pakistaner Khan vor Gericht: der deutsche Kaufmann Gotthard Lerch. Kultur Szene: Die Schauspielerin Isabella Rossellini über den anhaltenden Einfluss ihres Vaters, des Regisseurs Roberto Rossellini / Umstrittene Seite 136 Biografie des Polit-Rockers Rio Reiser...... 151 Die böse Schwiegermutter Leipziger Buchmesse: Die Lust deutscher Schwiegermütter genießen einen üblen Ruf Schriftsteller am Tagebuch ...... 154 – und zwar zu Recht. Die Mutter des Man- Neuerscheinungen des Bücherfrühlings ...... 158 nes, so zeigen Feldstudien aus aller Welt, Eine Auswahl spannender Krimis ...... 160 macht der Schwiegertochter tatsächlich Bestseller ...... 167 auffallend oft das Leben zur Hölle. Wie Theater: Debatte, Teil 2 – Ein kritisches Biologen vermuten, wurzelt das Gezicke Plädoyer für das moderne

WARNER BROS. WARNER tief im evolutionären Erbe des Menschen. Regietheater im Bühnen-Kulturkampf ...... 168 Kino: Interview mit dem Hollywood- Filmszene aus „Das Schwiegermonster“ Komiker Mel Brooks über seine Hitler-Satire ... 172

Medien Trends: WAZ entwickelt Gratiszeitung / „Marienhof“-Produzent gewinnt vor Gericht ... 174 Leipziger Lesefest Seite 154 Fernsehen: Vorschau/Rückblick ...... 176 Die Buchmesse, die diesen Donnerstag in Leipzig beginnt, dient mit 1800 Veranstal- Internet: Die Musikindustrie glaubt, den tungen als Begegnungsstätte von Lesern und Autoren. SPIEGEL-Redakteure stellen Kampf gegen Download-Piraten gewonnen neue Bücher vor, darunter Titel von Walter Kempowski, Tanja Dückers und Lars Brandt. zu haben ...... 178

Briefe ...... 10 Impressum, Leserservice ...... 184 Chronik ...... 185 Register ...... 186 Personalien ...... 188 ISOLDE OHLBAUM (L.) OHLBAUM ISOLDE (R.) KLAUS/OSTKREUZ J. BALTZER/ZENIT DAVID JERRY BAUER JERRY Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 190

Autoren Kempowski, Dückers, Brandt, Naters, Schleef, Mullins Titelbild: Illustration Alfons Kiefer für den SPIEGEL

der spiegel 11/2006 9 Briefe

Bemerkung über die Zahl unserer Kinder anhören mussten („Sind Sie zu blöd zum „Hätte der Untertitel nicht Abtreiben?“ – in einem Münchner Linien- bus anno 1995). Obwohl wir Deutschland ,Wie eine Gesellschaft von vermissen und öfter mal daran denken, ob wir nicht vielleicht wieder mal zurückkom- men sollten – die Aussicht, dass unsere Kin- Egoisten den Kindermangel der dann die saftigen Renten einer ganzen Generation von gebrechlichen und jam- schafft‘ heißen müssen?“ mernden Spaß-Deutschen bezahlen müss- ten, bringt uns immer wieder auf den Bo- Karl Heinz Höhne aus Pinneberg in Schleswig-Holstein den der Tatsachen zurück. Wir haben vor zum Titel „Jeder für sich – Wie der zwei Jahren ein viertes Kind bekommen. Kindermangel eine Gesellschaft von Egoisten schafft“ San Jose (USA) Gabi und Christian Kaiser SPIEGEL-Titel 10/2006 Kleines Wortgefecht auf dem Sofa nach Lek- türe Ihres Titelthemas. Bezeichnender Ver- die gewaltige Benachteiligung von Famili- sprecher meines Freundes: „Verhängnisver- Jammernde Spaß-Deutsche en und der Personen, die Familienarbeit hütung“ statt „Empfängnisverhütung“. Das Nr. 10/2006, Titel: Jeder für sich – Wie der leisten, sondern auch um die Bewertung in sagt doch alles über die Lage der Männer … Kindermangel eine Gesellschaft von Egoisten schafft unserer Gesellschaft. Wie kommentierten Hamburg Gabriele Heise fast zwei Jahrzehnte lang die Yuppie-Kol- Wen wundert es eigentlich? Eine ökono- legen meinen Verzicht auf Karriere, Geld Die wahren Egoisten sind doch wohl die misch orientierte Ich-Gesellschaft erzieht und Freizeit: „Selber schuld!“ Damit ist heute etwa 50-jährigen Herren, wie bei- sich ihre Mitglieder, wie sie sie braucht: übrigens treffend die Stimmung bei mei- spielsweise Matussek und Schirrmacher. flexibel, ungebunden, kinderlos. Da haben nem Arbeitgeber wiedergegeben, der sich Sie haben sich selbst verwirklicht, dabei soziale Grundwerte und Sinn für die Wich- gerade mit dem Etikett „Familienfreund- Karriere gemacht, sich einen luxuriösen tigkeit von Familie wenig Platz. Ich bin ge- lichkeit“ zu schmücken versucht. Lebensstil ermöglicht, aber eben nur je- spannt, wann dieses Modell kollabiert. Heßdorf (Bayern) Rüdiger Meinardus weils ein Kind bekommen. Ausgerechnet Berlin Rico-Thore Kauert sie stehen nun mit erhobenem Finger vor der nächsten Generation. Völlig ungenannt Die abschließende Erkenntnis, dass nur die bleiben in Ihrem Artikel die zahlreichen Gabe der Frauen zur „Selbstlosigkeit“ und ungewollt Kinderlosen und eine Analyse „Aufopferungsfähigkeit“ die Lösung bringt, der möglichen Ursachen. ist wohl direkt dem „Stammhirn“ der Au- Hamburg Birgit Wiesner toren entsprungen. Ich bezweifle, dass man so moderne junge Frauen zu mehr Kin- Ich habe drei Söhne, Jahrgang 73, 77 und dern motivieren kann, es sei denn, das 79, alle Akademiker ohne sichere Anstel- „Mutter-Teresa-Gen“ wäre weiter verbrei- lung. Meine Söhne würden gern und tet als bisher angenommen. schnell Familien mit Kindern gründen. Wiesbaden Hedwig Herter Wenn mein Mann und ich unsere Söhne nicht weiterhin finanziell unterstützen wür- Lobenswert ist, dass die christlichen Tu- den, gäbe es drei Hartz-IV-Empfänger

genden der Selbstlosigkeit und das Opfer- ANNE SCHÖNHARTING mehr. Aber Deutschland fehlen ja die fähi- bringen für andere nicht ironisch belächelt Schulkind (in Berlin) gen Akademiker – es ist echt zum Lachen! werden, sondern als notwendig für das Ökonomisch orientierte Ich-Gesellschaft Siershahn (Rhld.-Pf.) Monika Lamp Zeugen und Aufziehen von Kindern aner- kannt werden. Was gibt es Schöneres in Wo eigentlich sind all die Arbeitsplätze, Wollten die Autoren unsere Generation diesem Leben hier für Eltern und Kinder, mit Hilfe deren Millionen Ungeborene das von Egoisten zum „Poppen für den Staat“ als in einer großen Familie zu leben? Geld für ihre und unsere Renten verdienen animieren? Missglückt. Falls man „nur“ Laberweinting (Bayern) Dr. Ulrich Niklas könnten? die Missstände in unserem Land aufzählen Isabel Niklas, elf Kinder Ruppichteroth (Nrdrh.-Westf.) Hanne Eckart wollte – hat geklappt. Allerdings sind die paar Muttergefühle, die sogar mich, da ich Mein Mann und ich haben uns von vorn- Wir sind 1996 mit unseren drei Töchtern in mich schließlich in der Blüte der Frucht- herein gegen Kinder entschieden, schlicht, die USA ausgewandert, nicht zuletzt, weil barkeit befinde, von Zeit zu Zeit beschlei- weil wir keinen Kinderwunsch verspüren. wir uns in Deutschland so manche dumme chen, so was von auf und davon! Und noch Dass man da als Frau schnell in einen Recht- fertigungszwang gerät, bin ich inzwischen gewohnt. Aber dass Menschen, die dies be- Vor 50 Jahren der spiegel vom 14. März 1956 wusst tun, Egoisten wären, die bindungs- Kommentar von Jens Daniel „Das Gerede von der Stabilität“. Bundes- unfähig sind und schlicht „keine Lust“ ha- tagspräsident Gerstenmaier unter Verdacht In rote Umgebung ver- ben, Verantwortung zu übernehmen, das ist irrt. Eignungstest für Offiziersanwärter bei der Bundeswehr „Wa s und bleibt genauso falsch wie die Behaup- halten Sie vom Kadavergehorsam?“ Unruhen in Französisch-Marokko tung, dass wir zur Rettung unserer Renten Unheilvolle politische Leidenschaften. Kriminalität in der Sowjetunion Was Recht ist, weiß nur die Polizei. Belgier planen 635 Meter hohen dringend einen Babyboom brauchen. Turm für Weltausstellung Der Menschheit monumentalstes Bauwerk. Nordhorn (Nieders.) Ute Naber Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. Sie erweitern die Diskussion um einen Titel: FDP-Politiker August-Martin Euler wichtigen Aspekt. Es geht ja nicht nur um

10 der spiegel 11/2006 Briefe etwas: Falls ich trotz Ihres Artikels irgend- wann doch einmal Mutter werden sollte: Eher würde ich mein Kind in die Hände ei- nes verschrobenen, schwulen Millionärs wie Elton John geben als auch nur für eine Minute in die Obhut der ewig grinsenden „Super-Mama“ Ursula von der Leyen. Köln Janina Claas, 26

Es ist ja wirklich ein schöner Fortschritt, wenn Herr Schirrmacher seinem Sohn emp- fiehlt, nett zu seiner Zukünftigen zu sein, damit er möglichst viele Kinder mit ihr zeu- gen darf. Den Müttergenerationen „vor Langhans“ gebot es bereits, zufrieden zu sein, wenn das Oberhaupt der Familie seine Lohntüte nicht in der Kneipe ließ. Diese selbstlosen Mütter von damals haben ihren Töchtern wohl etwas anderes eingeflüstert. Rheinsberg (Brandenb.) Christina Koenig

Wieso nun ausgerechnet der Lieblingsfeind des SPIEGEL, der böse Sozialstaat in der teuflischen Ausprägung der siebziger Jah- re nämlich, am Geburtenrückgang schuld sein soll, wird nicht verraten. Einem Land, das es sich leistet, Schwulen und Lesben die Adoption von Kindern zu verbieten, und unter Familie immer noch lediglich Mann, Frau (katholisch, mit Trauschein) und zwei bis drei Kinder versteht, kann es so schlecht noch nicht gehen. Saarbrücken Martin Sommer

Ich vermisse in Ihrem Artikel zum Beispiel das Vielleicht-einmal-später-Ehepaar, das sich bei 500-km-Fahrten von Wochenende zu Wochenende auseinanderlebt, weil kei- ner es wagt, den harterkämpften Job auf- zugeben. Aus der Lebensplanung wird eine Überlebensplanung. Ein solches Leben tut man niemandem an, schon gar nicht seinen eigenen Kindern. Daraus folgt: Wer Kinder liebt, bekommt keine – und was spricht ei- gentlich gegen das Aussterben der Deut- schen? Stuttgart Ulrich Epple

Gemäß einer Erhebung von Eurostat ist die Geburtenrate nicht nur in Spanien und Italien niedriger als in Deutschland, son- dern auch in Tschechien, Griechenland, Slowenien, Ungarn, Polen und anderen osteuropäischen Ländern. Konstanz Andreas Blobel

In vielen Fällen dürfte die jetzt so beklag- te Kinderlosigkeit der Babyboomer-Gene- ration nicht einem ungebremsten Hedo- nismus zuzuschreiben sein, sondern der eigenen Erfahrung, nutzlos und lästig zu sein sowie den unsicheren Lebens- und Ar- beitsverhältnissen. Dortmund Susanne Goschi

Die Familie wird mit Sicherheit eine Re- naissance erleben, nachdem sich der Raub- tierkapitalismus selbst gefressen hat. Frankfurt am Main Bernd W. Bielang

14 der spiegel 11/2006 GETTY IMAGES Klon-Fohlen Paris-Texas Korrektur von Fehlern der Vergangenheit?

Unausrottbare Ur-Angst Nr. 9/2006, Klonen: Eine Biotech-Firma kopiert erfolgreiche Dressur- und Springpferde

Die Ur-Angst vor dem „gefährlichen, ge- walttätigen, unbotmäßigen“ Hengst ist un- ausrottbar. Die Kastrationsmanie, die oft mit züchterischen Argumenten begründet wird, hat in Wahrheit dazu geführt, dass praktisch alle Sportpferde dieser Welt eng miteinander verwandt sind. Inzucht droht. Vielfalt wird weggezüchtet. Epidemieartig befruchten einzelne Modehengste mehre- re Pferde-Generationen. Wallache zu klo- nen, nur weil sie einen großen Namen im Sport haben, ist vielleicht eine Möglich- keit, die Fehler der Vergangenheit ein biss- chen zu korrigieren. Aber sie ist sicher kein Ersatz für fachgerechte Zuchtwahl aus ei- ner Vielfalt von Hengsten, die von Ken- nern herangezogen und ausgebildet wur- den: Wer kastriert irrt! Sant’Ippolito (Italien) Barbara D. Fuchs Pferdezüchterin

Mit Schaum vorm Mund Nr. 9/2006, Gewerkschaften: IG Metall und Ver.di kooperieren eng mit der Linkspartei

Der SPIEGEL hat uns eine unterhaltsame Story aufgetischt und den Eindruck er- weckt, ein großer Teil der deutschen Ge- werkschaftsbewegung stehe ideologisch kurz vor Alt-Moskau. Der SPIEGEL irrt. 88,2 Prozent aller Gewerkschaftsmitglie- der haben bei der letzten Bundestagswahl – nach einer wahrlich harten Auseinan- dersetzung mit Rot-Grün – nicht Links- partei.PDS gewählt. Diese neue Partei ist heute ein parlamentarischer Partner von DGB & Co. – gewiss. Aber nur einer von fünfen. Man sollte also die Kirche im Dorf lassen. Linden (Hessen) Frank Steibli

Als SPIEGEL-Leser ist man gewohnt, dass Information und Meinung nicht getrennt werden. In diesem Beitrag trieft jedoch die Abneigung der Autoren gegen Bsirske und Peters aus jeder Zeile. Sachlich richtig ist, dass in der Sozialpolitik die Schnittmenge der spiegel 11/2006 15 Briefe der Gewerkschaften mit der SPD kleiner Sehr froh waren wir darüber, dass der lein in Deutschland verröcheln mehr als ist als mit der Linkspartei/WASG. An der SPIEGEL sich des Abrisses der Komödie 300 Raucher täglich! Schlicht grotesk, die- konstruktiven Zusammenarbeit mit den und des Theaters am Kurfürstendamm in se von den Medien hochgepeitschte Mas- Regierungsparteien ändert sich dadurch Berlin angenommen hat. Aber ach, was senhysterie. Oder ist es gesteuerte Volks- aber gar nichts – auch wenn uns bei Fehl- haben Sie in die von uns inszenierte De- verdummung der Geflügelindustrie, die so entscheidungen wie „Rente mit 67“ die monstration hineininterpretiert! Wir ha- zielstrebig ihre tierquälerische Käfighal- Haare zu Berge stehen! ben dafür gekämpft, dass zwei historische tung verteidigt, subventionierte „Be- Ludwigsfelde (Brandenb.) Theater mit 80-jähriger Bühnentradition standsregulierung“ betreibt und clever Bio- Hermann von Schuckmann in Berlin nicht abgerissen werden. Bei uns Bauern mit artgerechter Tierbestand-Aus- IG Metall sind mitmarschiert und haben auch teil- laufhaltung eliminiert? weise auf der Bühne des Theaters am Kur- Kirchheimbolanden (Rhld.-Pf.) Die WASG kämpft, wie zu beobachten ist, fürstendamm gesprochen: Intendanten und Ulrich Dittmann mit Scheuklappen und Schaum vor dem Künstler wie Dr. Bernd Wilms, Jochen Ko- Mund gegen die SPD. Ich habe ja aus ei- walski, Dagmar Frederic, um mit Letzteren Also für mich ist „Desinfektionsmatte“ genem Erleiden großes Verständnis, sich nur einige Demonstranten aus dem frühe- schon jetzt das (Un-)Wort des Jahres. Al- über neoliberale Positionen und Anpas- ren Osten zu nennen. Mit dabei waren lein die Vorstellung eines ABC-Schutzsol- sungen an den Mainstream so mancher übrigens auch: Max Raabe, Klaus Hoff- daten der Bundeswehr, der allen in Reih (nicht aller) führender Sozialdemokraten mann, Dirk Bach, Georg Preuße und Tho- und Glied stehenden Enten, Schwänen und zu ärgern, doch heißt diese Haltung in der mas Hermanns. Konsequenz, man nimmt lieber der Ar- Berlin Otfried Laur beitnehmerschaft schadende schwarz-gelbe Berliner Theaterclub oder große Koalitionen in Bund und Län- dern in Kauf. Damit setzt man die eigenen Die Autoren haben recht, wenn sie die machtpolitischen Ziele über das Wohl brei- Schließung der beiden Ku’damm-Bühnen ter Schichten. Und das soll inhaltlich „aus nach dem Willen der Deutschen Bank an- Sicht der Linken“ wirklich erstrebenswert prangern. Hier wird die Schlussfolgerung, sein? Daran habe ich doch erhebliche dass der Kampf die Stadt nicht trennt, son- Zweifel. dern aneinanderschmiedet, bestätigt. Mit Pfaffen-Schwabenheim (Rhld.-Pf.) Sprüchen wie „den Ostalgie-Funktionä- Michael Simon ren“ fehlte es an der „Nüchternheit …, als sie gegen den Abriss des Palasts der Repu- blik votierten, obwohl der zehnmal so groß

Wie Yin und Yang war wie die beiden Ku’damm-Theater zu- CHARISIUS / REUTERS CHRISTIAN Nr. 9/2006, Hauptstadt: Seit zwei Westtheater sammen und zehnmal so hässlich und mit Einsammeln verendeter Schwäne am Ku’damm von Schließung bedroht seinen eher langweiligen SED-Parteitagen Groteske Massenhysterie? sind, herrscht in Berlin ein neuer Kulturstreit auch nie einen einzigen Euro einspielte“, wird die Front in den Köpfen zwischen Be- Gänsen befiehlt, im Gleichschritt durch die Bei meinem letzten Besuch in Berlin konn- fürwortern und Gegnern des Abrisses Ameisensäure zu marschieren: Und wehe, te ich am späten Abend feststellen, dass wiederaufgebaut. es versucht jemand über die Matte zu flie- beide Theater hervorragend besucht wa- Berlin Günter Kröger gen, der wird von der Luftwaffe vom ren. Die einzigen Menschen, die sich auf Himmel geholt! Großartig katastrophale dem Kurfürstendamm bewegten, waren Die Unterschiede zwischen dem Osten und Kompetenzdemonstration. Theaterbesucher! Ebenso stimmt es ein- dem Westen Berlins sind über hundert Jah- Schwalmtal (Nrdrh.-Westf.) Bernd Bischofs fach nicht, dass nur ältere Menschen Be- re alt. Das Theater am Kürfürstendamm sucher dieser Theater sind – „Männerhort“ ist keine West-Berliner Erfindung, sondern Obwohl absehbar war, dass die Seuche mit Bastian Pastewka ist völlig ausgebucht. das 1921 umgebaute Gebäude der von Max nicht auf den Nordosten Deutschlands be- Ich möchte an die Verantwortlichen ap- Liebermann geleiteten „Secession“. Wenn grenzbar bleiben konnte, stellen Sie nicht pellieren, diese schönen und traditions- jetzt die Investoren der Deutschen Bank die Frage nach einem Krisenstab des Bun- bewussten Theater zu erhalten. Der Kur- hier ein Einkaufszentrum und (womöglich des. Stattdessen stimmen Sie in den Chor fürstendamm darf wirklich nicht nur ein leerstehende) Büros errichten wollen, so ein, der Landrätin auf Rügen die Verant- einziges Geschäftszentrum sein. Das gibt es sollten sie sich überlegen, ob sie mit einem wortung zuzuordnen. Und so nebenbei: überall. Abriss der Theater nicht ein Eigentor Erstaunlich Ihre geografischen Schwächen Hamburg Gaby Nowak schießen, denn die Theater bringen gewiss im Osten; die Hansestädte Stralsund und mehr Leben an den Ku’damm als die übli- Greifswald sind auf der Karte von Seite 26 chen Kettenläden. Berlin-Ost und Berlin- falsch eingezeichnet. West waren und sind ein Yin-Yang; würde Greifswald (Meckl.-Vorpomm.) man dies zerstören, wäre Berlin seines Christiane und Wolfhard Noack Gleichgewichts und eines wesentlichen Charakteristikums beraubt. Berlin Detlef Lorenz Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected] Gänse im Gleichschritt Nr. 9/2006, Vogelgrippe: Deutschland muss das In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist um den Leben mit dem Virus lernen Titel ein Umhefter des SPIEGEL-Verlags, Hamburg, ge- legt. In einer Teilauflage dieser Ausgabe befinden sich Beilagen der Firmen ACER, Agrate Brianza, Bertelsmann PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT LANGROCK / AGENTUR PAUL Durch das H5N1-Virus sind seit 2003 welt- Medien, Ittingen, „Süddeutsche Zeitung“, München, Bedrohte Berliner Bühnen weit (bei 6,5 Milliarden Menschen) 96 To- Weltbild Verlag, Augsburg, sowie des SPIEGEL-Ver- Eigentor für die Deutsche Bank desfälle aufgetreten. Zum Vergleich: Al- lags/Forum Leipzig, Hamburg.

16 der spiegel 11/2006 Panorama Deutschland

ARBEITSAGENTUR Rechnungsprüfer attackieren Mammutbehörde er Bundesrechnungshof kritisiert die Bun- Ddesagentur für Arbeit – und fordert eine grundlegende Neuorganisation der Großbehörde. Mehr als ein Viertel der fast 630 Geschäftsstellen der Nürnberger Agentur sollten geschlossen oder zusammengelegt, ein Großteil der Bezirke neu zugeschnitten werden, heißt es in einem Gut- achten für Agenturchef Frank-Jürgen Weise. Da- nach widerspricht die derzeitige Struktur der fast 90 000 Beschäftigte zählenden Bundesbehörde den zahlreichen Reformen der vergangenen Jah- re. So führe der Umbau der Agenturen in soge- nannte Kundenzentren dazu, dass „Geschäfts- stellen mit weniger als zehn Planstellen zu klein sind, um die angestrebten Leistungsverbesserun- gen sicherstellen zu können“. Solche Filialen soll-

ten „in ein Team der Hauptagentur integriert“, JOCHEN ZICK / KEYSTONE am besten aber „gar nicht erst gebildet werden“. Agentur für Arbeit (in Bernau), Weise Zudem sehe die Hartz-IV-Reform eine enge Ko- operation der bisherigen Arbeits- und Sozialver- dem Gutachten. Agenturchef Weise hält die Rech- waltungen vor. In Wahrheit aber stimmten in nungshof-Kritik für überzogen. Würde man die Vor- mehr als 60 Prozent der untersuchten Geschäfts- gaben umsetzen, könnten „viele Bürger die Ämter stellen nicht einmal die Regionalgrenzen mit nur erschwert erreichen“, so ein Agentursprecher. denjenigen von Kommunen und Landkreisen Auch die Mitarbeitervertreter protestieren. „Es wäre überein. Dadurch werde „die Zusammenarbeit“ völlig kontraproduktiv, wenn sich die Agentur aus sowie die „angestrebte Steuerung über Zielver- der Fläche zurückzieht“, so der zuständige Ver.di-

einbarungen erheblich erschwert“, heißt es in RÜSCHE / DPA ALEXANDER Experte Karl Obermann.

KANZLERAMT TERRORISMUS BND und Verfassungsschutz dann je- doch, das Projekt nicht weiterzuverfol- Bosse für Merkel „Bremer Taliban“ sollte gen. Es gab Skrupel, Kurnaz gezielt in die Szene einzuschleusen, zumal eine anzlerin Angela Merkel (CDU) will als Spitzel arbeiten solche Operation „erst nach einem län- Kwichtige Konzernchefs politisch geren Zeitraum nach Rückkehr des Kur- stärker einbinden. Das Kanzleramt stellt ei einem Besuch im Gefangenen- naz Resultate liefern“ könne. Derzeit derzeit eine Runde von Vorstandsvorsit- Blager Guantanamo haben deutsche verhandeln deutsche Diplomaten in zenden großer Unternehmen zusam- Geheimdienstler versucht, den von den Washington über die Bedingungen, un- men, die mehrmals im Jahr zusammen- USA inhaftierten „Bremer Taliban“ ter denen Kurnaz nach Deutschland treten soll. Zu der illu- Murat Kurnaz als Spitzel anzuwerben. zurückkehren kann. stren Gruppe gehören Das hat die Bundesregierung ge- Dieter Zetsche (Daim- genüber dem Parlamentarischen lerChrysler), Jürgen Kontrollgremium eingeräumt. Der Hambrecht (BASF), Deutsch-Türke, der Ende 2001 in Klaus Kleinfeld (Sie- Pakistan festgenommen wurde mens), Jürgen Kluge und seitdem in Guantanamo sitzt, (McKinsey) und Niko- sollte nach einer Freilassung für laus von Bomhard die Nachrichtendienste Informa- Zetsche (Münchener Rück). Bei tionen aus der Islamistenszene be- einigen Managern wie schaffen. Drei Beamte von Bundes- Kluge holt sich Merkel nachrichtendienst (BND) und Ver- schon seit Jahren Rat in fassungsschutz sprachen den Häft- wirtschaftspolitischen ling bei ihrer Guantanamo-Reise Fragen. Die Kanzlerin im September 2002 daraufhin an. hofft, sich durch die Kurnaz, so die Bundesregierung, Einrichtung eines fes- habe sich prinzipiell bereiterklärt, ten Kreises mehr Rück- als Informant zu arbeiten. Bei ei- TOMAS VAN HOUTRYVE / AP HOUTRYVE VAN TOMAS FOTOS: THOMAS IMO / PHOTOTHEK.NET THOMAS FOTOS: halt in der Wirtschaft ner Besprechung im Kanzleramt Kleinfeld sichern zu können. entschieden die Präsidenten von Gefangenenlager Guantanamo

der spiegel 11/2006 19 Panorama

GESUNDHEIT Reform gescheitert? ie gesetzlichen Krankenkassen (GKV) Dgeraten in die Kritik, weil sie den Bei- tragssatz der Versicherten seit 2004 nur um 0,17 Prozentpunkte gesenkt haben – ob- wohl die Bundesregierung eine Minderung um einen Prozentpunkt vorgegeben hatte. Stattdessen, so der Bundesrechnungshof in einem Bericht ans Parlament, nutzten die Kassen Einsparungen infolge des GKV-Mo- dernisierungsgeset- zes, um ihre Schul- den von 6 Milliarden Euro im Jahr 2004

auf 1,8 Milliarden / DDP MICHAEL URBAN Euro zu reduzieren. Für das Jahr 2005 sei KOALITION damit zu rechnen, dass die „Gesamtver- schuldung fast voll- SPD gegen Hühner-Käfige DOMINIK BUTZMANN / LAIF DOMINIK BUTZMANN ständig abgebaut“ worden sei. Trotzdem egen die Wünsche der Union und etlicher Länder will die Spitze der SPD-Bun- werden die Versicherten, auch wegen der Gdestagsfraktion am Verbot der Käfighaltung für Legehennen festhalten. „Wir Koalitionsbeschlüsse, weiter kräftig zahlen wollen kein zurück zur Käfighaltung“, sagt der stellvertretende SPD-Fraktions- müssen: „Der Trend – die Ausgaben stei- vorsitzende Ulrich Kelber. Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg- gen schneller als die Einnahmen – hält an“, Vorpommern wollen am 7. April eine Verordnung durch den Bundesrat bringen, so die Prüfer. Für weitere Beitragssenkun- die es erlaubt, Hühner auch künftig in Kleinkäfigen zu halten, die jedem Tier nur gen bestehe „kein Spielraum“. Die Ge- eine Fläche von etwas mehr als einem DIN-A4-Blatt zugestehen. „Eine solche Ver- sundheitsreform, kommentiert die linke ordnung entspräche sicher nicht dem Tierschutz“, sagt Kelber. Die SPD werde sich Haushaltspolitikerin Gesine Lötzsch, sei bei Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Agrarminister Horst Seehofer angesichts dieser Bilanz „offensichtlich ge- (CSU) für den Erhalt des Käfigverbots einsetzen. scheitert“.

AUSSENPOLITIK FRAKTIONEN Heikle Hilfe FDP contra Linkspartei it ihrer geplanten Teilnahme beim Treffen konservativer ach der Entscheidung der Berliner Wahlalternative Arbeit MParteien Ende März in Rom gerät Kanzlerin Angela Mer- N& soziale Gerechtigkeit (WASG), bei der Wahl zum Abge- kel in die Kritik des Koalitionspartners. In einem Schreiben an ordnetenhaus konkurrierend zur Linkspartei anzutreten, Merkel sowie acht weitere konservative Regierungschefs warnt drängt die FDP im Bundestag auf Konsequenzen: „Sobald die Martin Schulz, SPD-Präside und Chef der Sozialisten im Euro- WASG beim Landeswahlleiter in Berlin eine Liste einreicht, pa-Parlament, vor einer „Unterstützung des Wahlkampfs von muss der Ältestenrat sich damit beschäftigen“, fordert der Par- Silvio Berlusconi“ – auch durch die- lamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundes- ses Treffen. Seine Begründung: tag, Jörg van Essen. Hintergrund ist die Grundsätzlich sei gegen eine Unter- Geschäftsordnung des Bundestags. Da- stützung nichts einzuwenden, aber nach dürfen Angehörige von Gruppie- Berlusconi habe für die Wahl am 9. rungen und Parteien, die in Ländern im und 10. April ein Bündnis mit der Be- Wettbewerb stehen, im Bundestag keine wegung der Neofaschistin Alessandra gemeinsame Fraktion bilden. Ein „kon- Mussolini geschlossen. Zudem gehört kurrierendes Antreten“ von Linkspartei zu der gemeinsamen Plattform auch und WASG in Berlin stellt laut van Es-

FRUSTACI / EIDON ROPI FRUSTACI die faschistische „MS Fiamma Trico- sen die geforderte „Homogenität der Merkel, Berlusconi lore“, deren Vorsitzender Luca Ro- Bundestagsfraktion in Frage“. Die Kon- magnoli vor kurzem die Existenz der sequenzen sind unter Juristen umstrit- Gaskammern Nazi-Deutschlands angezweifelt hatte. „Eine Be- ten. Möglich ist die Auflösung der Frak- teiligung von Holocaustleugnern“ an der italienischen Regie- tion aber auch das Ausscheiden der rung, warnt Schulz, werde „nicht ohne weitreichende Folgen WASG-Mitglieder aus der 53-köpfigen für Europa und gerade für Deutschland bleiben“. Das Verhält- Fraktion – mit finanziellen Folgen. nis zwischen Berlusconi und Schulz ist seit Jahren gespannt. „Wenn eine Fraktion weniger Abgeord-

Der italienische Ministerpräsident hatte Schulz 2003 im Euro- nete hat, bekommt sie auch weniger KARL-BERND KARWASZ paparlament mit einem KZ-Aufseher verglichen. Geld“, sagt van Essen. Linke im Bundestag

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BRANDENBURG Schönbohms Buße einer Verwechslung angesichts der vie- len früheren Stasi-Zuträger bei der PDS, lehnte eine Entschuldigung aber ab. Enkelmann stellte daraufhin Straf- anzeige, die Potsdamer Staatsanwalt- schaft nahm Ermittlungen auf. Falls sie sich durch den „irrtümlichen Hinweis, IM gewesen zu sein“, getroffen fühle,

MARC DARCHINGER MARC „dann entschuldige ich mich dafür“, Schönbohm schrieb Schönbohm nun an Enkelmann in einem vertraulichen Brief. Das reicht randenburgs Innenminister und Enkelmann nicht – sie besteht auf einer BCDU-Landeschef Jörg Schönbohm öffentlichen Entschuldigung. hat sich zu einer Entschuldigung bei Dagmar Enkelmann, der Parlamentari- schen Geschäftsführerin der Bundes- tagsfraktion der Linkspartei, durchge- rungen – offenbar um eine Anklage we- gen übler Nachrede und Verleumdung abzuwehren. Auf einer Wahlkampfver- anstaltung im September vergangenen Jahres hatte er Enkelmann als Inoffiziel- le Mitarbeiterin der Stasi bezeichnet,

obwohl sie nie Stasi-Zuträgerin war. / IMAGO SUEDRAUMFOTO Schönbohm erklärte den Fauxpas mit Enkelmann

PARTEIEN Speer sowie Verkehrsminister Frank Szymanski. Speer gilt als entscheidungs- Platzecks Rückzug stark – allerdings auch als Raubein. Der vor allem in der Lausitz populäre er SPD-Bundesvorsitzende Mat- Szymanski hat ein anderes Handicap: Dthias Platzeck ist offenbar bereit, Bislang zählte er nicht zu den engsten einen seiner anderen Posten abzugeben: Vertrauten Platzecks. Die Spitze der märkischen SPD er- wartet in wenigen Wochen den Rückzug Platzecks vom Amt des Landesvorsitzenden. Nach Über- nahme des Bundesvorsitzes hatte Platzeck erklärt, er wolle auch wei- terhin die brandenburgische SPD führen. Inzwischen aber wird auch in der Regierung davon ausgegan- gen, dass der Ministerpräsident das Parteiamt abgibt – an den sozialde- mokratischen Landtagsfraktions- chef Günter Baaske, der zuvor schon Sozialminister in Branden- burg war. Der Wachwechsel soll al- lerdings erst nach den anstehenden Landtagswahlen verkündet und auf einem Landesparteitag am 1. Juli vollzogen werden. Eine Vorent- scheidung, wer nach einem mögli- chen Wechsel Platzecks ins Bun- deskabinett Landesvater werde, sei damit aber noch nicht verbunden, heißt es aus Platzecks Umfeld. Als mögliche Kandidaten gelten neben Baaske zwei Minister: der

langjährige Platzeck-Vertraute und / DPA ALLIANCE / PICTURE MATZERATH FABIAN jetzige Finanzminister Rainer Baaske, Platzeck

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SCHREIBER-AFFÄRE Neues Geheimkonto? n der Korruptionsaffäre um den bayeri- Ischen Rüstungs-Lobbyisten Karlheinz Schreiber drohen der CSU womöglich neue Anschuldigungen: Um die Vorwürfe gegen seinen Mandanten zu entkräften, dem Augsburger Staatsanwälte unter an- deren Steuerhinterziehung und Beste- chung zur Last legen, hatte Schreibers Münchner Anwalt Jan Olaf Leisner beim

Finanzgericht bereits im Juni 2004 einen / VISUM SEAN GALLUP ersten umfangreichen Schriftsatz einge- Fuchs-Spürpanzer reicht. Darin ist detailliert aufgelistet, wel- che Firmen die Millionenprovisionen Schrei- kumenten belegt werden. Schreiber sei, sagen seine Berater, aus bers für Hubschrauberverkäufe und einen alter Nibelungentreue zu Vertrauten des verstorbenen CSU- Deal mit Fuchs-Spürpanzern empfangen ha- Chefs bislang nicht bereit gewesen, diese Zahlung zu offenba- ben sollen. Bis zum Sommer soll nun ein zwei- ren. Das könne sich im Fall einer Auslieferung aus Kanada ter Schriftsatz folgen, in dem es, so Insider, aber ändern. In der vorvergangenen Woche hatte ein Gericht auch um bisher unbekannte Geldflüsse für ein im kanadischen Ontario Schreibers Einspruch gegen die Aus- Airbus-Geschäft mit Kanada geht. Unter an- lieferung nach Deutschland abgelehnt, nun bleibt ihm nur noch derem soll darin angeblich eine hohe Zahlung der Gang zum Obersten Gerichtshof. Augsburger Ankläger für ein Geheimkonto der CSU – eine Art hoffen, dass Schreiber noch in diesem Jahr nach Bayern kom-

TELEPRESS / ABACA / TPPANDIS / ABACA TELEPRESS Kriegskasse von Franz Josef Strauß, angeb- men muss. Sowohl die CSU als auch die Familie Strauß haben Schreiber lich bei einer Offshore-Bank – mit Bankdo- stets bestritten, von Schreiber Geld erhalten zu haben.

MINISTER BAHN Gabriel sucht Freunde Spur zum Attentäter undesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) versucht of- ie Untersuchung von Edelstahlplatten könnte die Polizei Bfenbar, seinen Rückhalt in Partei und Bundestagsfraktion Dauf die Spur eines gefährlichen Bahnattentäters bringen, zu verbessern: Seit Anfang Januar ist Gabriel, bisher den prag- der in den vergangenen zwei Jahren mit drei Anschlägen in matisch orientierten „Netzwerkern“ innerhalb der SPD ver- Nordrhein-Westfalen offenbar Züge entgleisen lassen wollte. bunden, auch Mitglied der stets regierungstreuen „Seehei- Der Täter verwendete etwa 25 mal 10 Zentimeter große Me- mer“. Zugesagt hatte er seine Mitgliedschaft unmittelbar nach tallplatten, die er auf die Schienen schraubte. In die Platten seiner Wahl in den Bundestag. Zuvor hatte wurden äußerst genaue sich der frühere niedersächsische Minister- Löcher gebohrt – die Er- präsident von den Flügeln innerhalb der mittlungskommission SPD eher ferngehalten. Aufgefallen waren „Schiene“ am Polizei- die Seeheimer zuletzt durch ihre zumeist präsidium Essen geht da- vorbehaltlose Unterstützung der Politik von aus, dass dazu eine von Gerhard Schröder. Auch sonst treten Präzisionsmaschine mit sie gern als Königsmacher auf und unter- digitaler Steuerung be- stützen mit Ulla Schmidt (Gesundheit), nutzt wurde. Für die Frank-Walter Steinmeier (Außen) oder Verschraubung verwen- Peer Steinbrück (Finanzen) auch mehrere dete der Täter zudem ei- Minister. Sie sehen sich in der politischen gens angefertigte Mut-

Tradition von Ex-Kanzler Helmut Schmidt. / DPA ROLAND WEIHRAUCH tern, die deutlich flacher Ein Weg ist Gabriel nun verbaut: Während Bahngleise bei Oberhausen sind als handelsübliche die Doppel-Mitgliedschaft bei „Netzwerk“ Ware. Was der Täter und „Seeheim“ erlaubt ist, bleibt ihm der hingegen mit den Anschlägen bezweckt, ist den Ermittlern ein Zugang zur Parlamentarischen Linken ver- Rätsel. Bislang seien weder eine Forderung noch ein Beken- schlossen. Die Linken stellen jedoch immer nerschreiben eingegangen. Zuletzt manipulierte der Täter eine

CHRISTIAN BACH CHRISTIAN noch den stärksten Flügel innerhalb der Schiene bei Oberhausen, wodurch am 29. Januar der ICE 223 Gabriel Bundestagsfraktion. Amsterdam–Frankfurt beschädigt wurde.

22 der spiegel 11/2006 ROLAND WEIHRAUCH / DPA ROLAND WEIHRAUCH Reformthemen Bildung, Umweltschutz*: Die weitestreichende Verfassungsreform der Nachkriegsgeschichte soll den Ländern nie gekannte

REGIERUNG Großer Wurf ins Leere Das erste umfassende Reformwerk der Großen Koalition steht auf der Kippe: Die SPD will die Föderalismuspläne so nicht mehr mittragen. Ein Scheitern wäre nach Meinung vieler Experten kein Unglück – das vorliegende Programm würde mehr Schaden als Nutzen bringen.

eter Struck vermied jedes Pathos, er Starr blickte Vizekanzler Franz Münte- sprach gedämpft. Gleich im zweiten fering zu seinem Parteifreund hinüber. PSatz stellte er klar, dass überhaupt Kanzlerin Angela Merkel schüttelte immer nichts klar ist: „Das Ergebnis ist offen.“ Es wieder unmerklich den Kopf. Sie sah aus, war ein Satz, wie ihn Politiker dutzend- als müsste sie dem Auftritt eines Opposi- fach sagen, wenn sie nicht weiter wissen, tionspolitikers lauschen. aber genau darin lag am vergangenen Frei- Denn was der SPD-Fraktionschef da tag das Aufrührerische seines Auftritts. verkündete, passte so gar nicht zum staats- Der SPD-Fraktionschef, seit 25 Jahren tragenden Gestus, mit dem die Kanzlerin im Bundestag, hat schon viele Schlachten die Reform gepriesen hatte. Struck kün- geschlagen. Die Loyalität des 63-Jährigen digte „ausführliche Anhörungen, Diskus- hat noch nie jemand in Zweifel gezogen. sionen und, wenn es sich als notwendig Doch als Struck um zehn Uhr im Parla- erweist, Änderungen am Gesetzestext“ ment zur Föderalismusreform redete, fuhr an. Er sprach von „ernstzunehmenden er seiner Regierung in die Parade wie Bedenken, nicht nur in meiner Fraktion“, kaum jemals der Fraktionschef einer Re- und er ließ auch die ebenso schlichte wie

gierungspartei zuvor. / GETTY IMAGES KOALL CARSTEN provozierende Frage nicht aus: „Wofür ist

* Erstklässler im nordrhein-westfälischen Neukirchen- Genossen Platzeck, Struck Vluyn; Naturpark Elbetal. „Ernstzunehmende Bedenken“

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des SPD-Fraktionschefs an die Abgeord- neten, von ihren parlamentarischen Rech- ten Gebrauch zu machen, ist zugleich eine Einladung an alle anderen Beteiligten, Einwände vorzutragen. „Auch ich könnte welche liefern“, sagt der hessische Minis- terpräsident Roland Koch (CDU). „Aber das wäre dann das Ende der Föderalis- musreform.“ Vielleicht wäre das nicht einmal die schlechteste Lösung. Nach Ansicht vieler Experten gibt es nur eines, was schlimmer sein könnte als ein Scheitern der Reform- pläne – ihr Gelingen. Statt neuer Hand- lungsfähigkeit drohen neue Blockaden und ein unübersehbarer Kompetenzwirrwarr. Der Reformentwurf, über den sich am Freitag der Bundestag zerstritt, räumt den Ländern nie gekannte Zugriffsbefugnisse auf Bundesgesetze ein. Altgediente Vor- schriften des Bundesrechts sollen sie so- gar mit Hilfe des Bundesverfassungsge- richts kippen können. Ohne sachliche Begründung haben die Berliner Verhandlungsführer den Ländern ein paar Kompetenzbrocken hingeworfen, um sie friedlich zu stimmen im Bundesrat: Der Bund überlässt den 16 Teilstaaten die Bildungspolitik, große Teile des Umwelt- rechts, die Beamtenbesoldung, den Straf- vollzug, aber auch den Ladenschluss oder das Versammlungsrecht. Dafür werden die

CORNELIUS MEFFERT / STERN / PICTURE PRESS / PICTURE / STERN MEFFERT CORNELIUS Länder im Bundesrat einige Zustim- Zugriffsbefugnisse auf Bundesgesetze einräumen mungsvorbehalte in der Bundesgesetzge- bung aufgeben. denn sonst das parlamentarische Verfah- setzgebung“ (Unions-Fraktionschef Volker Aus dem Mund der Kanzlerin klang die ren da?“ Kauder). Die weitestreichende Verfassungs- Föderalismusreform, wie so vieles, ganz Bis Anfang vergangener Woche hatte es änderung der Nachkriegsgeschichte sollte vernünftig. Die Länder, erläuterte Angela noch so ausgesehen, als würde die Große auch ein Beleg sein für die Reformfähigkeit Merkel, seien künftig „für bestimmte Din- Koalition die Großreform zu Ende brin- der neuen Regierung, ein Beweis für den ge zuständig, in die sich der Bund gar nicht gen, an der sich Bund und Länder seit Gestaltungswillen und die Gestaltungs- mehr einmischt“. Dafür werde „der Bund zweieinhalb Jahren versuchen. Alle hatten macht von Schwarz-Rot. alleine Entscheidungsverfahren haben, in zugestimmt, die Ministerpräsidenten, das Nun scheint es sogar denkbar, dass die denen die parlamentarische Debatte wie- Bundeskabinett, die Spitzen der Parteien. Reform scheitert wie schon einmal, im De- der wichtiger wird“. Entsprechend fiel das Selbstlob aus. Von zember 2004, als die politisch Verantwort- Und zunächst schien auch alles auf ei- der „Mutter aller Reformen“ (CSU-Minis- lichen bei Union und SPD ihre Kapitu- nem guten Weg. Die Ministerpräsidenten terpräsident Edmund Stoiber) war die lation erklären mussten. Der große Wurf hatten sich untergehakt und verbreiteten Rede, von einem „Meilenstein in der Ge- ginge ins Leere. Denn die Ermunterung nach ihrer Sondersitzung am vergangenen Montag Siegesstimmung. „Da kann jetzt nicht mehr an der einen oder anderen Stel- Umverteilung der Macht Wichtige Punkte der Föderalismusreform le etwas herausgebrochen werden“, ver- STRITTIG UNSTRITTIG kündete etwa NRW-Ministerpräsident Jür- Strafvollzug Innere Sicherheit gen Rüttgers (CDU). Für Standards und Regeln wer- Der Bundesgesetzgeber wird alleinzuständig für Die SPD-Spitze sprach sich für die Re- den die Länder verantwortlich länderübergreifende Terrorabwehr durch das form aus, die Union in Partei und Fraktion sowieso, und grundsätzlich gaben auch die Beamtenrecht Bundeskriminalamt EU-Recht Liberalen, die für die Zweidrittelmehrheit Die Besoldung setzen die im Bundesrat benötigt werden, ihre Zu- Länder fest Verletzungen werden überwiegend nach dem Verursacherprinzip geahndet, das heißt, auch Länder stimmung. Umwelt können zu Strafzahlungen herangezogen werden Da war die SPD-Fraktion noch nicht zu Die Länder bekommen umfas- ihrer Sondersitzung zusammengetreten. sende Abweichungsrechte – Ladenschluss „Die Richtung ist grundfalsch“, zürnte die auch vom Umweltgesetzbuch, Die Länder dürfen die Schlusszeiten selbst bestimmen das der Bund erstellen soll ehemalige Bildungsministerin Edelgard Versammlungsrecht Bulmahn, „die Reform schwächt unsere Bildung Wird Ländersache Position in Europa.“ Auch Ex-Kollege Dem Bund werden finanzielle Steuern Hans Eichel, als Finanzminister der rot- Hilfen für Schulen und Hoch- Grunderwerbsteuer kann von den Ländern neu fest- grünen Koalition leidgeprüft von den Bun- schulen untersagt (zum Bei- gelegt werden spiel für Ganztagsschulen) desratsblockaden bei der Steuerreform, sieht in dem Verfassungsentwurf keinen

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Fortschritt: „Das kann nicht einfach durch- zurrte Entwurf sei „ein ganz besonderes Die Kompetenzverschiebungen zwi- gewinkt werden.“ Gesetz“, sagte er in der Fraktion, mit dem schen Bund und Ländern im Umweltrecht, Der schwäbische Abgeordnete Christian müsse man pfleglich umgehen. Es sei eine klagt der Sachverständigenrat für Umwelt- Lange stellte die schlichte und zugleich Frage der „Staatsräson“, dass die Sozial- fragen, brächten dem Land „kosteninten- zentrale Frage: „Wo hätten mit dieser Ver- demokraten nicht diejenigen sein dürften, sive Parallelgesetzgebung“ auf beiden Ebe- fassungsreform in den letzten sieben Jah- die das Projekt verhindern: „Das würde nen, „undurchsichtige Regelungsstruktu- ren Reformblockaden des Bundesrats ver- uns allen schaden.“ ren“, ein „hohes Maß an Unklarheit“, wer mieden werden können?“ Das ist das Besondere an diesem Ge- im Staate eigentlich was darf. Statt mehr Fraktionschef Peter Struck, der zu die- setz: Es geht um die erste große Reform Transparenz für die Bürger drohen endlo- sem Zeitpunkt noch versuchte, die Koali- dieser Koalition. Es geht um die Autorität se Streitigkeiten zwischen Bund und Län- tionsdisziplin zu retten, konnte die Frage der Verhandlungsführer. Und es geht um dern über die Kompetenzgrenzen, „wider- nicht beantworten. Olaf Scholz, sein Par- die Widerlegung der Prognose, die Ange- sinnige Regelungen“. lamentarischer Geschäftsführer auch nicht. la Merkel, als sie noch keine Kanzlerin war, Beispiel Hochwasserschutz. Wie gefähr- Jetzt beschäftigen sich die Wissenschaftli- selbst abgegeben hatte: Große Koalition lich der vielgepriesene deutsche Födera- chen Dienste des Bundestags damit. bedeute „absoluten Stillstand“. lismus bei schlechtem Wetter werden kann, Die vielen Fragen ohne überzeugende Die Erwartungen der Öffentlichkeit sind zeigte schon das Elbhochwasser im Som- Antworten begannen im politischen Berlin von den großen Worten der Großen Ko- mer 2002. Während der Kanzler aus Berlin zu wirken. SPD-Chef Matthias Platzeck, alition hochgetrieben worden. 76 Prozent eindrucksvoll und wahlwirksam in Gum- Ministerpräsident von Brandenburg, er- kreuzten bei einer Umfrage in der vergan- mistiefeln durchs Nasse watete, rangen munterte seine Kollegen zu „etwas mehr genen Woche das Prädikat „wichtig“ an. Brandenburg und Sachsen-Anhalt tagelang Offenheit auf der Länderseite“, vorzugs- „Wenn das jetzt nicht klappt“, sagt einer um die Flutung der Havelpolder im Hin- weise in Bildungsfragen. Noch weiter ging der Verhandlungsführer der Union, „dann terland der Elbe. Quasi in letzter Minute Kollege Harald Ringstorff aus Mecklen- burg-Vorpommern. Am Freitag im Bun- desrat warnte er eindringlich vor „mehr Kleinstaaterei“. Seine Regierung werde je- denfalls „einem Wettbewerbsföderalismus nicht Tür und Tor öffnen“. Richtig ernst wurde es mit Strucks Reformkritik im Bundestag, die für die Union ohne Vorwarnung kam. „Wir haben jetzt ein strukturelles Problem“, sagt CDU/CSU-Fraktionsvize Wolfgang Bos- bach. „Wir wissen nicht, ob der Vorsitzen- de der SPD-Bundestagsfraktion für die Föderalismusreform ist oder dagegen.“ Vielleicht weiß er es im Augenblick selbst nicht. Zumal sich kein Beispiel fin- den lassen wird, wie sich mit der Verfas- sungsreform die zentralen Projekte der Ära Gerhard Schröder besser hätten umsetzen lassen. Zwar werden nach dem vorliegenden Plan bei manchen Bundesgesetzen die Länder kein Veto mehr gegen die Durch-

führungsvorschriften haben, weil sie für BERG / DPA OLIVER diese künftig in der Regel selbst zuständig Bildungsministerin Schavan, Vorgängerin Bulmahn: Bald überflüssig? sein sollen. Aber davon gibt es gerade im Umweltrecht schon wieder dermaßen vie- heißt es doch: Nicht mal das kriegen sie gab damals Brandenburgs Ministerpräsi- le Ausnahmeregeln, dass die Praxis eher hin.“ dent Platzeck die Polder schließlich frei – komplizierter als bisher wird. Zudem wird Die Staatsräson: Das ist der Grund, war- mit der Folge, dass der drohende Anstieg den Ländern in der Verfassung ein neuer um alle die Reform brauchen, die eigent- des Elbwassers um weitere 40 Zentimeter Zustimmungsvorbehalt bei allen Bundes- lich niemand will. Misstrauisch beobachten verhindert werden konnte. gesetzen eingeräumt, die „geldwerte Sach- die Kritiker die Vorbereitungen für die Als das Wasser sank, war es mit der Ko- leistungen“ an die Bürger versprechen – mehrtägige parlamentarische Anhörung, operation vorbei. Trotz der dramatischen das betrifft die gesamte Sozialhilfegesetz- die Anfang Mai stattfinden soll. Wie soll Erfahrungen von damals haben die Fach- gebung. sich der Bundesrat einbringen, wer be- leute in Brandenburg und Sachsen-Anhalt Innenminister Wolfgang Schäuble, der nennt die Sachverständigen? Versuchen die bis heute nicht klären können, wann und in für die Union am Reformkompromiss mit- Fraktionsspitzen Einfluss zu nehmen? „Die welchem Umfang künftig Polder geflutet verhandelt hat, ist zurückhaltend bei der Parlamentarischen Geschäftsführer wür- werden können. Antwort auf die Frage, ob die Reform den sich keinen Gefallen tun, wenn sie ver- Weil eine zentrale Regelungsinstanz tatsächlich mehr Bewegungsfähigkeit für suchen, die Fachvernunft auszuschließen“, fehlt, wird nichts geklärt. In Sachsen und die Politik bringt: Es sei immerhin „ein ers- droht die Vorsitzende des Bildungsaus- Brandenburg heben die Deichbauern jetzt ter Schritt“, eine „vertrauensbildende schusses, die Sozialdemokratin Ulla nach den Erfahrungen der Sommerflut Maßnahme“, die „Mut für weitere Ver- Burchardt. „Dann wäre ganz offensicht- 2002 ihre Schutzwälle im Alleingang um handlungen“ machen könne. lich, dass sie etwas zu verbergen haben.“ 70 Zentimeter an – gegen alle wissen- Franz Müntefering, der Verhandlungs- Die Protagonisten der Reform haben schaftliche Erkenntnis und ohne Abspra- führer auf der anderen Seite, hat sich auch viel zu verbergen, denn das Urteil der Ex- che mit den Nachbarn gegenüber oder aufs Beschwichtigen verlegt: Der festge- perten ist vernichtend. flussabwärts. Bei der nächsten Flut stehen,

26 der spiegel 11/2006 dürftigen Gesetze kann der Bund künftig nur noch än- dern, wenn vorher hinsicht- lich jeder einzelnen Regelung geklärt ist, ob der Bund noch immer die Kompetenz hat und ob bei einem der 16 Län- der etwa der Plan besteht, in- soweit eine Abweichungsre- gelung zu erlassen. Staatsrechtler Koch sieht „einen neuen Typ von Poli- tikverflechtung“ auf das Land zukommen, gegen die alle bekannten Bundesrats- blockaden Peanuts sind: Bund, Länder und das Ver- fassungsgericht müssten sich bei jeder Rechtsänderung zu- sammenraufen, das könnte Jahre dauern. Jedes Bundes- land hätte es plötzlich in der

MARCUS BRANDT / DDP BRANDT MARCUS Hand, etwa von Brüssel ver- Reformbefürworter (in Berlin)*: Machtvollkommenheit in den Bundesländern langte Rechtsänderungen auf eigene Kappe zu blockieren, wenn sie nicht nachrüsten, Sachsen-An- Kellern schöpfen: Jedes Land bekommt „eine Länderminderheit kann das Bun- halt und Niedersachsen unter Wasser. ein„Abweichungsrecht“ von der Bundes- desrecht entscheidend prägen“. Wissenschaftler der Universität Karlsru- regelung, weil im Föderalismus jeder nach Als wäre es noch nicht kompliziert genug, he haben zwischen Dresden und Hamburg eigener Façon nass werden soll. bekommen die Länder zudem die Befugnis, 37 mögliche Polderflächen identifiziert. An So geht es beim Naturschutz, so geht es das Bundesverfassungsgericht zu Hilfe zu einer einzigen Stelle, in Brandenburg, wur- im Wasserhaushaltsrecht, so wird es bei rufen, um vom Bund altes Gesetzesrecht in de der Deich so stark zurückgenommen, Planfeststellungsverfahren gehen: Überall Angelegenheiten herauszuverlangen, für die dass sich das Wasser jetzt ausbreiten kann. bekommen die Länder „Abweichungs- sie nach neuer Lesart zuständig wären. Das Wenn es wieder so viel regnet, werden sich rechte“ von den Bundesvorgaben, die sie, betrifft weite Teile der konkurrierenden und die Bauingenieure der alten Weisheit erin- so der Staatsrechtler Hans-Joachim Koch, der Rahmengesetzgebung, in denen sich der nern: Jeder Deich ist nur so stark wie sein „nutzen können, in einen umweltschädli- Bund über viele Jahre Befugnisse heraus- schwächstes Glied. Und ein Bundesstaat chen Deregulierungswettbewerb nach un- genommen hat, die ihm – zumindest infol- ist nur so trocken wie sein schwächstes ten einzutreten“. ge der Ansicht des Bundesverfassungsge- Bundesland. Auf der Suche nach einer schnellen Ei- richts – eigentlich nicht zustehen. Diese Erkenntnis hatte Gerhard Schrö- nigungsformel haben die Unterhändler des Die Karlsruher Richter haben vor knapp der schon 2002 mit nach Berlin gebracht. Koalitionsvertrags zudem eng Zusammen- zwei Jahren eine länderfreundliche Linie Die neugewählte Bundesregie- gehöriges sinnwidrig zwischen vertreten und den Zugriff des Bundes auf rung verkündete damals im Bund und Ländern verteilt: So Gesetzgebungsbefugnisse beschränkt. Laut Wohlgefühl ihrer neuen Tatkraft Mit dem soll künftig das Abfallrecht (und Karlsruhe reicht es nicht mehr aus, dass ein Fünf-Punkte-Programm zum Föderalismus damit die Pfandpflicht) in der der Bund geltend machen kann, eine be- Hochwasserschutz. ist das Land Regel der Länderregie unterlie- stimmte Angelegenheit – beispielsweise die Als Ende des Jahres 2002 bei Überflutun- gen – außer, eine bundesrecht- Berufung der Hochschulprofessoren – ef- dann die FDP im Bundestag in gen nicht mehr liche Regelung ist ausnahmswei- fektiver zu regeln, als es auf Länderebene einer Kleinen Anfrage wissen wasserdicht se zwingend erforderlich. Zum möglich wäre. Vielmehr sei es nötig, dass wollte, welche „konkreten Fort- Trost bekommt der Bund dafür eine konkrete „Gefahrenlage“ für die schritte“ bei der Realisierung der zu kriegen. die uneingeschränkte Befugnis, Rechts- oder Wirtschaftseinheit bestehe. fünf Punkte erreicht worden sei- alle Belange der Luftreinhaltung Der Verweis auf wünschenswerte „gleich- en, hieß es, die Länder würden das schon und des Lärmschutzes zu regeln. Aller- wertige Lebensverhältnisse“ in ganz machen. dings nur im Prinzip. Geht es zum Beispiel Deutschland reiche im Zweifel nicht für Aber mit Föderalismus ist dieses Land um „Freizeitlärm“, sind dann doch wieder eine Bundeszuständigkeit. nicht wasserdicht zu kriegen. Als im Som- die Länder zuständig. Das Urteil – ergangen 2004 infolge des mer 2005 Bayern im Wasser versank, hat- Freizeitreformer am Werk. Was soll nun Streits um die Juniorprofessur – würde sich te Rot-Grün nach monatelangem Gezerre bitte mit Gesetzen geschehen, die – wie eigentlich mit der geplanten Reform erle- im Bundesrat immerhin ein Bundesgesetz häufig – auf ganz unterschiedlichen Kom- digen, denn die Rahmenkompetenz im über den präventiven Hochwasserschutz petenzzuweisungen des Grundgesetzes Hochschulrecht soll dem Bund gestrichen durchgesetzt – die Unterschrift war eine gleichzeitig beruhen? Das Bodenschutzge- werden. Doch die Länder wollen nun die von Schröders letzten Amtshandlungen. setz des Bundes stützt sich beispielsweise Chance nutzen, alte Rechnungen wieder Wenn aber die neue Reform in Kraft auf ein Kompetenzenmosaik aus Abfall- aufzumachen. Das Verdikt der Karlsruher tritt, würden die Länder wieder in eigener recht (künftig: Ländervorrang), Luftrein- Richter soll dazu führen, dass rückwirkend Machtvollkommenheit Wasser aus ihren haltungsrecht (künftig: Bundesvorrang), alle Bundesgesetze an die Länder heraus- Wasserhaushaltsrecht (künftig: Bundes- gegeben werden müssen, die den strengen kompetenz mit Abweichungsrechten der Voraussetzungen nicht genügen. * Mitglieder der arbeitgebernahen Initiative Neue Sozia- le Marktwirtschaft am 16. Februar mit einem „gordischen Länder). Solche schon wegen immer neuer Das betrifft weite Teile des Umwelt- Knoten“ vor dem Reichstagsgebäude. Brüsseler Vorgaben ständig anpassungsbe- rechts. So könnte es schließlich passieren,

der spiegel 11/2006 27 Immer wieder hat die Kul- tusministerkonferenz betont, es sei ihre „gemeinsame Aufgabe“, die Einheitlichkeit der Bildungsbedingungen in Deutschland zu sichern. Ein klarer Fall für Bundeskom- petenz. Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) ist durch den Reformentwurf in eine besonders unglückliche Rolle geraten – sie wird weit- gehend überflüssig, nur die Forschung bleibt ihr. Der Einfluss des Bundes auf die Schulen und Hochschulen, bislang schon gering, schwin- det auf fast null.

MEYERBROEKER / CARO Wenn sich in Brüssel dann Bundesratsbank im Bundestag: Lieblingskompetenz Bildung die Bildungspolitiker treffen, sitzt auf dem deutschen dass die für den 1. Mai dieses Jahres ge- der schwergängigen Formulierung von den Platz nicht die Frau aus Berlin, sondern plante Einführung der bundesweiten Rück- „partikular-differenzierten Regelungen“ ein Vertreter der Kultusministerkonferenz. nahmepflicht für Pfanddosen wieder kippt. der Länder steckt das Konzept für eine Deutschland, so die Reformbilanz, ist ge- Die Rechtsgrundlage des Dosenpfands, das wirkliche Föderalismusreform. rade dabei, die nationale Bildungspolitik Abfallgesetz, gehört ebenfalls zu den Dann – und nur dann – ist eine Aufgabe abzuschaffen. bedrohten Bundesgesetzen. Die deutsche bei den Ländern gut aufgehoben, wenn re- Ebenso wenig wie die Kompetenzen in Dosentragödie, Tausende Klagen, vier Ver- gional differenzierte unterschiedliche Re- der Bildung eignen sich die Aufgaben im fassungsverfahren, jahrelange Bund-Län- gelungen einen Sinn machen. Dass der Polizeirecht für Länderdifferenzierungen: der-Verhandlungen, ist damit möglicher- Bund etwas besser kann, soll als Kriterium Übereinstimmend achten die Innenminis- weise immer noch nicht zu Ende, denn die für eine vernünftige Verteilung der Macht ter von Bund und Ländern darauf, dass Länder könnten das missliebige Gesetz vor nicht ausreichen – denn Bundesregelun- ihre Normen für die innere Sicherheit dem Verfassungsgericht zu Fall bringen. gen sind fast immer effizienter. Entschei- möglichst kongruent sind. Was aber Die Koalitionsvereinbarung sieht näm- dend für die Verteilung von Kompetenzen soll dann die Polizeirechtskompetenz der lich vor: Wenn der Bund strittige Gesetze soll jedoch sein, ob sich eine Angelegenheit Länder? nicht freiwillig dem Zugriff der Länder für differenzierte Regelungen eignet. Föderalismusverteidiger wie Innenminis- überlässt, bekommen sie deshalb ein Kla- Ungeeignet für föderalistische Spielräu- ter Schäuble weisen gern darauf hin, dass gerecht in Karlsruhe – viel Arbeit für das me sind so Aufgaben, deren Zweck gerade nichts so effektiv sei wie zum Beispiel der Verfassungsgericht. in der Vermeidung von oft gefährlichen Polizist vor Ort, die regionale Problemlö- Solche Mängel in dem im- Unterschieden liegt – wie zum sungskompetenz auf möglichst niedriger merhin seit Jahren in mehreren Beispiel der Hochwasserschutz. Ebene. Doch solche Argumente sind eher Verhandlungsrunden und Fö- Dass der Ebenso ungeeignet sind Mate- geeignet, Verwirrung zu stiften. Denn alle deralismuskommissionen vor- Bund etwas rien, deren unterschiedliche Re- Gesetze – egal, ob Bundesgesetze oder bereiteten Reformwerk sind kei- besser gelung zu einem unerwünschten Landesgesetze – werden fast immer von ne Schönheitsfehler, die sich kann als die Wettbewerb unter den Ländern den Ländern, meistens sogar von den nach einer Anhörung im Bun- Länder, soll führt. Weil dies im Prinzip von Landkreisen und Gemeinden ausgeführt. destag noch schnell ausbessern kein Kriterium den meisten Experten anerkannt Der Bulle von Tölz fahndet weiter – auch lassen. Eine Reform, die dem ist, konnte sich bisher keine Fö- wenn das Strafrecht Bundesrecht ist. deutschen Bund der Länder mehr sein. deralismuskommission durch- Die Einsicht, dass der zusammenge- neues Leben einhaucht, hätte ringen, den Ländern nennens- schusterte Kompromiss von Berlin jeden- sich an den Prinzipien orientieren müs- werte eigene Steuerrechtskompetenzen zu- falls keine Föderalismusreform ist, wächst sen, die das Bundesverfassungsgericht in zubilligen. auch bei den Erfindern. „Ich weiß nicht, ob seinem Urteil über die Juniorprofessur im Föderaler Wettbewerb ist so lange ge- es eine große Reform ist“, sagt der hessi- Sommer 2004 aus dem Grundgesetz her- fährlich und darum von Verfassung wegen sche Ministerpräsident Koch, „es ist je- auslas: Der Sinn des Föderalismus sei, unerwünscht, wie sich die Bundesrepublik denfalls die größtmögliche.“ „den Ländern eigenständige Kompetenz- in sehr starke und sehr schwache Länder Parteifreunde in Berlin sind schon wei- räume für partikular-differenzierte Rege- unterteilen lässt. Ein solcher Wettbewerb ter. Vielleicht, so das Kalkül in der Uni- lungen zu eröffnen“. dient nicht der Pflege und Erhaltung von onsführung, könnte die Verwirrung, in die Winfried Hassemer, der Vorsitzende des regionaler Vielfalt, sondern führt zu Ni- Peter Struck am vergangenen Freitag die Zweiten Senats und Vizepräsident des Ge- vellierung. Schwache Länder stehen vor Koalitionäre gestürzt hat, einen zeitlichen richts, hatte extra darauf hingewiesen, das der Wahl, sich an die starken anzupassen – Aufschub für das Reformwerk bringen. Gericht beteilige sich womöglich mit sei- oder unterzugehen. Oder beides. Wenn die größtmögliche Reform noch nem Spruch „an der allgemeinen Födera- Über diese Grundsätze sind sich die ein bisschen auf sich warten lasse, sagt ei- lismusdebatte“. Den Hinweis hätte man in meisten Grundgesetzexperten einig. Doch ner, der auf Unionsseite mitverhandelt hat, Berlin ernster nehmen sollen. Denn die wenigsten trauen sich, es den Ländern hätte das „auch etwas Gutes: Man könnte tatsächlich steckt in dem Urteil eine Idee, offen zu sagen. Was wird dann mit der ganz neu nachdenken“. wie die Kompetenzordnung des Grundge- Lieblingskompetenz der Bundesländer, der Thomas Darnstädt, Jan Fleischhauer, setzes sinnvoller zu gestalten ist. Hinter Bildung? Horand Knaup, Ralf Neukirch

28 der spiegel 11/2006 BONSS / MOMENTPHOTO / IMAGO BONSS / MOMENTPHOTO Patientin am Computertomographen: Das heutige System ist beschäftigungsfeindlich und wenig zukunftsfähig

der Großen Koalition. Noch im Wahlkampf GESUNDHEITSPOLITIK hatten sich Union und SPD einen verbis- senen Schlagabtausch über den geplanten Umbau des Sozialstaats geliefert. Die So- Schmidts Mix zialdemokraten propagierten ihr Konzept einer Bürgerversicherung, die CDU kämpf- Der Plan zur Rettung des kränkelnden deutschen Gesundheits- te für ihr Modell einer pauschalen Ge- sundheitsprämie. Ein Kompromiss schien wesens ist so gut wie fertig: Die Ministerin setzt auf ausgeschlossen. Als die Gegner nach der eine Kombination aus Kopfpauschale und Bürgerversicherung. Wahl ihren Koalitionsvertrag aushandel- ten, wurde das Problem zunächst vertagt. lla Schmidt schweigt. Eisern. Wer heitsbürokratie wurden bereits eingeweiht. Nun hat die Ministerin ein Konsensmo- die Ministerin in diesen Tagen nach In den Chefetagen großer Krankenkassen dell ausarbeiten lassen, das auf denkbar Udem Stand ihrer Gesundheits- kursieren seit Wochen detaillierte Analy- einfachste Weise Elemente aus beiden reform fragt, erhält stets dieselbe Antwort. sen, wie sich das Modell auf die Finanz- Konzepten miteinander kombiniert. Mit „Ich werde der Koalition Ende März, An- und Wettbewerbslage ihrer Unternehmen dem Schmidt-Modell sollen kurzerhand fang April einen Lösungsvorschlag vor- auswirken könnte. Schließlich geht es um beide Systeme eingeführt werden. legen“, sagt sie dann im Stil einer Telefon- nichts weniger als die Ablösung des heuti- Ein Teil der Gesundheitskosten würde schleife. Bis dahin gebe es nichts mitzu- gen Systems der Kassenfinanzen. danach künftig über eine pauschale Prämie teilen. Punkt. Aus. Ende der ministeriellen Schmidts Plan ist der erste Schritt zum finanziert, so wie es die CDU bislang for- Durchsage. möglicherweise wichtigsten Reformprojekt derte. Gleichzeitig müssten die Kunden Die Sozialdemokratin aus Aa- von AOK und Co. nach dem Prin- chen behandelt ihre Pläne wie zip der Bürgerversicherung auch eine geheime Kommandosache. Abgaben auf Zinsen, Mieten oder Nur ein kleiner Kreis von Ver- Kapitalerträge zahlen. Wer privat trauten und politischen Partnern versichert ist, soll die gesetzlichen ist bislang eingeweiht. Dabei liegt Kassen in Zukunft ebenfalls un- das weitgehend fertige Reform- terstützen. konzept bereits seit Wochen vor. Die Vorzüge des Konzepts: Die Mitentwickelt hat es der Esse- Große Koalition könnte ihr selbst ner Gesundheitsökonom Jürgen gesetztes Ziel erreichen und die Wasem. Über den Plan, der unter aus dem Ruder laufenden Ge- dem Arbeitstitel „Drei-Säulen- sundheitskosten zumindest teil- Modell für die Gesetzliche Kran- weise vom Faktor Arbeit abkop- kenversicherung“ firmiert, ist peln. Zum anderen bietet das Mo- SPD-Chef Matthias Platzeck eben- dell jede Menge Spielraum für die so informiert wie Vizekanzler bevorstehenden Reformverhand- Franz Müntefering. Führende Ge- lungen in der Koalition. sundheitspolitiker von Union und Die Bestandteile des Konzepts

SPD kennen das Konzept, und PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT können unterschiedlich gewich- auch die Spitzen der Gesund- Politiker Schmidt, Müntefering, Merkel: Jede Menge Spielraum tet, kombiniert und beinahe be-

32 der spiegel 11/2006 liebig um weitere Punkte aus den halten. Steigen die Kosten des Me- Forderungskatalogen beider Partei- dizinbetriebs, sollen auch die Un- en erweitert werden. „Das Konzept ternehmen mehr zahlen. erlaubt nahezu unendlich vie- Der größte Konflikt aber droht le Variationsmöglichkeiten“, sagt beim Streitthema Privatversiche- Schmidt-Berater Wasem. rung. Schmidt will die Unterneh- Für die Ministerin liegt darin der men und ihre Kunden zugunsten eigentliche Charme des Modells. der gesetzlichen Konkurrenz kräf- Wird es zur Verhandlungsgrundlage tig zur Kasse bitten. der Reformgespräche, würde Ulla Entweder sollen die Privatversi- Schmidt wohl die Regie der Ver- cherungen in ihrer heutigen Form handlungen übernehmen. Fällt ihr weitgehend abgeschafft und in das Plan in der Koalitionsspitze da- neue Finanzierungssystem einbe- gegen durch, wäre ihre politische zogen werden – oder die Politik Karriere schwer beschädigt. zwingt sie zu Geldspritzen an die Schmidt weiß, dass ihr Plan nicht AOK und die anderen Kassen. ohne Risiko ist, denn er produziert Geht es nach der Ministerin, nicht nur Gewinner. Zwar würde könnte die Branche in das interne ein großer Teil der Beschäftigten Ausgleichssystem der gesetzlichen entlastet, doch gleichzeitig müssten Kassen eingegliedert oder die Schar vermögende Rentner und Privat- der Privatversicherten mit einem versicherte erhebliche Einbußen zusätzlichen Gesundheits-Soli be- befürchten. Auch Wohnungsver- lastet werden. Für die Union ein mieter und Börsenspekulanten Gräuel, sie will die Privatversiche- dürften mehr zahlen als bisher. rungen und ihre Kunden von Son-

Schmidts Mix funktioniert so: / VARIO-PRESS BAUMGARTEN SUSANNE derlasten weitgehend verschonen. Bislang werden die Kassenbeiträge Barmer-Zentrale (in Wuppertal): Finanzbasis verbreitern Zusätzliche Fragen ergeben sich, ausschließlich vom Lohn abgezo- wenn das Konzept tatsächlich 2007 gen, 6,55 Prozent vom Brutto zah- oder 2008 in Kraft gesetzt werden len im Schnitt die Arbeitgeber, Der Drei-Säulen-Plan sollte. Die Krankenkassen, die das die Beschäftigten steuern inklusive für eine neue Finanzordnung Modell zurzeit auf seine Machbar- Zahnersatz 7,45 Prozent bei. Das der Gesetzlichen Krankenversicherung keit abklopfen, weisen intern schon gilt als beschäftigungsfeindlich und jetzt auf eine ganze Reihe techni- wenig zukunftsfähig. Die hohen ARBEITGEBER VERSICHERTER scher Umsetzungsprobleme hin: Lohnabzüge machen Arbeitsplätze • Das Modell erfordert zusätzliche teuer. Gleichzeitig schmilzt die Fi- Gesund- Durch- Bürokratie. Derzeit gibt es ein nanzbasis der Kassen, weil die Be- Beitrag heits- schnitts- einheitliches Einzugsverfahren schäftigtenzahl sinkt. 123beitrag prämie für alle Beiträge. Künftig müsste Diese Entwicklung will Schmidt für jede Finanzierungssäule ein stoppen. Nach ihrem Plan dürfen circa 6 bis 6,5 circa 6 bis 7 circa 15 Euro separates Procedere entwickelt die Versicherungen künftig auf Prozent des Prozent aller pro Monat werden. deutlich mehr Finanzquellen zu- Bruttolohns Einkünfte • Die Finanzämter, die den neuen greifen als bisher. Die Arbeitneh- Versichertenbeitrag einziehen Zentraler mer müssten doppelt zahlen. Auch Beitrags- sollen, haben von manchen Kas- in Zukunft würden sie einen Sozial- einzug senkunden wie Arbeitslosen oder beitrag abführen, der allerdings über das Sozialgeldbeziehern keine Daten. auch auf Miet- und Zinseinkünfte Finanzamt • Der geplante Durchschnittsbei- fällig würde – und ans Finanzamt GESUND- trag von 15 Euro verbirgt, dass abzuführen wäre. Im Gegenzug HEITS- KRANKEN- die Beiträge der Einzelkasse be- könnten die Beitragssätze auf etwa FONDS KASSEN trächtlich schwanken können. Je sechs bis sieben Prozent sinken. nach Ausgestaltung des Schmidt- Zusätzlich würden die Versi- Modells müssten manche Kassen cherten eine Pauschalprämie von bis zu 40 Euro kassieren, andere etwa 15 Euro im Monat zahlen. Der Ar- in der Koalition mehrheitsfähig sein könn- hätten ihren Kunden sogar noch etwas beitgeberbeitrag dagegen würde wie bisher ten. Der Teufel steckt im Detail, denn dort draufzulegen. erhoben und läge, je nach Ausgestaltung liegen die Positionen von Union und SPD Ob Schmidts Konzept realisiert werden des Modells, zwischen 6 und 6,5 Prozent. weit auseinander. kann, wird sich indes schon bald erweisen. Auch das Verfahren, nach dem die Gelder So sieht Schmidts Modell bislang vor, Unmittelbar nach den bevorstehenden Land- eingesammelt werden, soll geändert wer- dass etwa 90 Prozent der Kassengelder wie tagswahlen will die Ressortchefin ihr Vorha- den. Heute überweist der Arbeitgeber bisher über Beiträge erhoben werden sol- ben der Koalitionsspitze vorstellen. Die Par- sämtliche Beiträge. Künftig würde der Ver- len. Die Prämie würde lediglich zehn Pro- teichefs von CDU, CSU und SPD wollen sicherte seine Pauschalprämie selbst an die zent zu den Gesundheitskosten beisteu- dann rasch entscheiden, ob auf Basis ihres Kasse zahlen. Die Beiträge von Arbeit- ern. Die Union dagegen will einen weit Plans weiterverhandelt werden soll. nehmern und Arbeitgebern sollen an einen höheren Anteil durchsetzen. Bis dahin will die Ressortchefin schwei- Fonds abgeführt werden, der das Geld Ebenso umstritten ist die Entwicklung gen. Auch ihre Beamten haben striktes Re- nach einem komplizierten Verteilungs- der Arbeitgeberbeiträge. Während CDU deverbot. Es droht die Höchststrafe: Wer schlüssel an die Kassen weiterleitet. und CSU dafür eintreten, den Abgabensatz etwas durchsickern lasse, so kündigen Es spricht vieles dafür, dass die Grund- auf seinem neuen Niveau einzufrieren, will Schmidts Vertraute an, werde „einen Kopf züge von Schmidts Drei-Säulen-Konzept die SPD am bisherigen Mechanismus fest- kürzer gemacht“. Michael Sauga

der spiegel 11/2006 33 Deutschland

SPIEGEL-GESPRÄCH „Das Pendel schlägt zurück“ Linkspartei-Fraktionschef Oskar Lafontaine, 62, über sein Bekenntnis zum Populismus, seine Sonderrolle im Bundestag und die schwierige Vereinigung der früheren PDS mit der WASG

SPIEGEL: Das heißt, die Iraner sollen ihre Bombe bekommen? Lafontaine: Nein, im Gegenteil. Es muss atomar abgerüstet werden, und wer, wie zum Beispiel Israel oder die USA, Kern- waffen hat, muss bei sich selbst anfangen, bevor er sie anderen verbietet. SPIEGEL: Ärgern Sie sich, wenn man Sie einen Populisten nennt? Lafontaine: Nein, überhaupt nicht. Es gibt genug dröge Leute, die das Volk langweilen. SPIEGEL: Nicht alles, was im Volk geredet wird, taugt für die Politik. Lafontaine: Aber auch in der Politik wird viel geredet, viel Zeugs, das die Menschen nicht verstehen. SPIEGEL: Gefährden Sie mit Ihrer Rhetorik nicht den von vielen in Ihrer Fraktion an- gestrebten Brückenschlag zu anderen poli- tischen Gruppierungen, etwa zu den Lin- ken in der SPD?

MARCO-URBAN.DE Lafontaine: Nein. Ich hoffe, die wenigen Linker Lafontaine: „Die Analysen von Karl Marx finden heute ihre Bestätigung“ verbliebenen Linken in meiner früheren Partei können verstehen, dass sich jemand SPIEGEL: Herr Lafontaine, Ihr Herz schlägt ern der Unternehmen und die Steuern für darüber empört, wenn bei exorbitanten links, aber Ihre Reden klingen zuweilen Wohlhabende gesenkt worden sind. In die- Gewinnen der Personalabbau forciert wird. ziemlich rechts. Wie erklären Sie diesen sem Zusammenhang sind einige Kraftwör- SPIEGEL: Im Bundestag gibt es eine Mehr- Widerspruch? ter gefallen. heit links von Union und FDP. Wenn Sie Lafontaine: Die Linke spricht die Sprache SPIEGEL: Im Bundestagswahlkampf haben immerzu polarisieren, machen Sie alle des Volkes. Wenn Sie das als „rechts“ dif- Sie gesagt, man müsse Verständnis für das Planspiele über eine rot-rot-grüne Per- famieren wollen, ist das Ihr Problem, nicht iranische Streben nach einer Atombombe spektive zunichte. meines. haben, weil Israel ja auch Nuklearmacht Lafontaine: Es gibt in diesem Bundestag SPIEGEL: Im rheinland-pfälzischen Land- sei. Für Grünen-Chef Reinhard Bütikofer keine linke Mehrheit. Außer uns sitzen tagswahlkampf haben Sie die Bundestags- war das „hart an der Grenze des erklärten dort nur Parteien, die Hartz IV, Agenda abgeordneten als „Plapperfritzen“ be- Antisemitismus“. 2010 und völkerrechtswidrige Kriege be- schimpft. Das ist der Ton, in dem sich die Lafontaine: Das fand ich einfach albern. fürworten. Mit „links“ hat das nun über- Nazis über die Weimarer Demokratie lustig Meine These ist: Es wird keine gerech- haupt nichts zu tun. gemacht haben. te Weltordnung geben, wenn die, die SPIEGEL: Herr Lafontaine, früher haben Sie Lafontaine: Ich wundere mich über solche Atomwaffen haben, sie anderen verbie- die Dinge zuweilen gegen den Strich ge- Vergleiche. Das Wort „Plapperfritzen“ ist ten wollen. bürstet. Jetzt sagen Sie nur noch, dass Sie nun wirklich zulässig, insbesondere im so reden wollen, dass das Volk Sie ver- Wahlkampf. UMFRAGE: LAFONTAINE steht. Würden Sie akzeptieren, dass es ei- SPIEGEL: Sie haben auch gesagt, man kön- nen Unterschied gibt zwischen dem alten ne „die ganze Bande im Bundestag“ in ei- „Oskar Lafontaine hat gesagt, Lafontaine und dem heutigen? nen Sack stecken und draufhauen, man ,die ganze Bande im Bundestag‘ Lafontaine: Auch der alte Lafontaine hat in treffe schon immer den Richtigen … Wahlkämpfen immer sehr volksnah ge- Lafontaine: … das ist ein Sprachbild aus gehöre in einen Sack gesteckt sprochen. Und ich bürste heute immer meiner saarländischen Heimat, das auch und geprügelt. Sollte er sich für noch kräftig gegen den Strich. in Rheinland-Pfalz gut verstanden wird. diese Aussage entschuldigen?“ SPIEGEL: Aber Ihr zunehmender Linksra- SPIEGEL: Von einer „Schweinebande“ war dikalismus ist doch ein wenig überraschend ebenfalls die Rede. JA 53 % bei einem, der so lange Regierungsverant- Lafontaine: Ich bin hergezogen über Un- wortung getragen hat wie Sie. ternehmer, die trotz exorbitanter Gewinne Lafontaine: Was ist Linksradikalismus? Das Leute entlassen. Außerdem habe ich mich NEIN 44 % müssen Sie konkretisieren. darüber mokiert, dass im Bundestag ein SPIEGEL: Beim Rosa-Luxemburg-Kongress TNS Infratest für den SPIEGEL vom 7. bis 9. März; sozialer Abbau nach dem anderen be- rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ im Januar haben Sie Ihre Agenda vor- schlossen wird – und gleichzeitig die Steu- gelegt: keine weitere Privatisierung von

34 der spiegel 11/2006 MARC-STEFFEN UNGER MARC-STEFFEN Gewerkschaftsdemonstration (im Februar in Berlin): „Mit dem Rücken zur Wand“

Staatseigentum, Kampf gegen jede Form tember mit einem Programm, das näher Frieden und soziale Gerechtigkeit. Die von Neoliberalismus. Früher haben Sie bei der FDP lag als bei der SPD, eine kra- SPD steht für völkerrechtswidrigen Krieg selbst zum Beispiel gesagt, die Lohnne- chende Niederlage erlitten. und Sozialabbau. benkosten müssen runter. Lafontaine: Die Bundesregierungen haben SPIEGEL: Sind Sie Sozialist? Lafontaine: Bei den Lohnnebenkosten habe in den letzten Jahren eine neoliberale Lafontaine: Was verstehen Sie unter Sozia- ich seit langem meine Meinung geändert. Politik gemacht, die durchgreifender war lismus? Kürzung der Lohnnebenkosten ist eins der als die aller anderen europäischen Länder. SPIEGEL: Die Partei, in die Sie zuletzt ein- Unworte des Kapitalismus. Es geht um Nirgends ist beispielsweise die Lohnent- getreten sind, hieß bis vor kurzem PDS – nichts anderes als die Gewinnmaximierung wicklung so miserabel wie bei uns. Partei des Demokratischen Sozialismus. der Unternehmer. Während alle anderen Länder ihren Be- Dazu fällt Ihnen doch sicher etwas ein. SPIEGEL: Dass in Deutschland wöchentlich schäftigten einen Zuwachs an Wohlstand Lafontaine: Das Programm des Sozialisten 2000 sozialversicherungspflichtige Jobs ver- zugebilligt haben, stagnieren in Deutsch- ist ein radikales Freiheitsprogramm, wo- schwinden, weil sie zu teuer sind, beein- land seit zehn Jahren die Löhne. Die Ta- bei der Sozialist weiß, dass Freiheit nur druckt Sie überhaupt nicht? rifbindung nimmt immer mehr ab. Und das realisiert werden kann, wenn die soziale Lafontaine: Sie müssen daraus die richti- Ergebnis dieser neoliberalen Exzesse: Die Existenz gesichert ist – das weiß der Neo- gen Schlussfolgerungen ziehen. Den Wett- Arbeitslosigkeit ist auf Rekordhöhe. liberale und der Konservative nicht. Frei- bewerb um die niedrigsten Löhne und So- SPIEGEL: Das heißt auch, Ihre alte Partei, heit heißt richtig verstanden auch, dass zialleistungen können Sie im internationa- die SPD, ist für Sie keine sozialdemokrati- nicht die Wirtschaft herrscht, sondern das len Vergleich nicht gewinnen. Im Übrigen sche Partei mehr? Volk. Dagegen haben wir in einer neolibe- sind wir trotz der angeblich zu hohen Lafontaine: Ich würde es lieber bei dem Be- ralen Welt, in der 500 Konzerne die Hälf- Lohnnebenkosten Exportweltmeister. griff „links“ belassen. Davon hat sich die te des Weltsozialprodukts steuern und Re- SPIEGEL: Herrscht denn in Deutschland SPD verabschiedet. gierende nur noch zu Marionetten werden, wirklich der Neoliberalismus? Seit der SPIEGEL: Fühlen Sie sich selbst noch als So- einen Verlust der Demokratie. Ich zitiere Bundestagswahl sind die Akzente doch zialdemokrat? einmal für Amerika Fritz Stern, den re- deutlich sozialdemokratischer geworden. Lafontaine: Ich sehe mich nach wie vor als nommierten Historiker. Er bezeichnet die Angela Merkel hat bei der Wahl im Sep- Sozialdemokrat. Ich bin immer noch für USA als eine christlich-fundamentalistische SPIEGEL: Ihre Forderungen sind dieselben wie die, mit denen die Berliner WASG jetzt als separate Partei antreten will – gegen die Linke.PDS. Lafontaine: Ich habe meine Forderungen nie davon abhängig gemacht, was andere sagen. SPIEGEL: Wenn man Ihre Thesen ernst nimmt, müsste die Linkspartei in Berlin aus der Koalition mit der SPD aussteigen. Lafontaine: Nicht so schnell. Hartz-IV-Emp- fänger werden in Berlin anders behandelt als in Baden-Württemberg oder Bayern, ein Verdienst der Linkspartei. Wir werden in Ruhe unser Wahlprogramm erarbeiten. Die Prinzipien, an denen wir uns dabei orientieren, habe ich Ihnen genannt. Mehr

CHRISTIAN SCHROTH / IMAGO SCHROTH CHRISTIAN nicht. Berliner WASG-Politiker*: „Es gibt zwei Wege“ SPIEGEL: Was bedeutet die Eigenständig- keit der WASG in Berlin für die bundes- Plutokratie. Ich glaube, dass er den Verlust Lafontaine: Wir sehen das nicht als Isolie- weite Fusion von WASG und Linkspartei? der Demokratie in den Vereinigten Staaten rung. Vielmehr sind wir stolz darauf, dass Sie sind ja der Erfinder dieses Projekts. zutreffend beschreibt. wir eine Sonderstellung haben – als einzi- Lafontaine: Es gibt zwei Wege. Der eine SPIEGEL: Sehen Sie eine Chance für Ihre Lin- ge politische Gruppierung, die sich gegen Weg ist der: Wir bilden eine neue linke ke, die SPD im Lauf der Legislaturperiode die Demontage des Sozialstaats und gegen Partei, die sich auf ein neues Programm aus der schwarz-roten Koalition zu locken? völkerrechtswidrige Kriege stellt. verständigt. Der andere Weg ist: Wir zer- Lafontaine: Uns geht es um Politikverände- SPIEGEL: Nach Ihren Maßstäben müssten legen uns in verschiedene Splittergruppen. rung. Zurzeit ist die Sozialdemokratisie- Sie massiv den rot-roten Senat in Berlin Den halte ich für falsch. Dass sich nun ein rung der Großen Koalition eine Medien- attackieren. Gemeinsam haben SPD und paar hundert Leute in Berlin aus dem ge- erfindung. Ihre Entscheidungen sind neo- PDS härter als irgendwo sonst Tarifrechte meinsamen Projekt verabschieden, bedeu- liberal bis in die Knochen: Rentenkürzun- beschnitten und Gehälter im Öffentlichen tet noch keine Gefahr für die bundesweite gen, Kürzungen des Arbeitslosengeldes II, Dienst gekürzt. Fusion. Mehrwertsteuererhöhung und Verlänge- Lafontaine: Diese Debatte haben wir in Ber- SPIEGEL: Wie sollte denn die neue Partei rung der Arbeitszeit. Die ganze deutsche lin nun seit Monaten geführt, und wir ha- heißen? Rentenpolitik ist auf einem absurden Irr- ben als neue Linke eine klare Position: Lafontaine: Ich finde, „Die Linke“ ist ein weg, der mit Nullrunden und Kürzungen keine weiteren Privatisierungen, weil das guter Name. Vielleicht gibt es andere Vor- gepflastert ist. ein Verlust von Demokratie ist, kein wei- stellungen. Aber die Bundestagsfraktion SPIEGEL: Auf der anderen Seite werden in terer Abbau im öffentlichen Sektor, weil firmiert ja bereits unter „Die Linke“. Das Ostdeutschland die Zahlungen nach Hartz das nur die Massenarbeitslosigkeit ver- bürgert sich immer mehr ein. IV erhöht, und selbst die Kanzlerin denkt größert. Hätten wir einen öffentlichen Sek- SPIEGEL: Wie viel Marx wird im Parteipro- über einen Mindestlohn nach. tor wie in Skandinavien, hätten wir hoch- gramm enthalten sein? Lafontaine: Ja, die Mindestlohndebatte. Aber gerechnet auf ganz Deutschland fünf Mil- Lafontaine: Die Analysen von Karl Marx wie kläglich! Während in Frankreich der lionen öffentlich Beschäftigte mehr. finden heute ihre Bestätigung. Die Macht- Mindestlohn 8 Euro beträgt und er in Groß- SPIEGEL: In Ihren Worten könnte man sa- konzentration in den Händen einiger welt- britannien bei knapp 7,50 Euro liegt, wird gen: Die PDS hat in Berlin neoliberale weit operierender Unternehmen ist sogar hier noch immer ergebnislos diskutiert. Politik gemacht. noch größer, als er es vorhergesehen hat. SPIEGEL: Haben Sie in den etablierten Par- Lafontaine: Einige Entscheidungen des Se- Ich zitiere in diesem Zusammenhang gern teien trotz allem Gesprächspartner, die auf nats werden in der Partei, auch von mir, den amerikanischen Finanzinvestor War- ähnliche Veränderungen setzen wie Sie? diskutiert und kritisiert. Wir haben ver- ren Buffett, der gesagt hat: „Es herrscht Lafontaine: Ja. Zunächst muss ein Politiker einbart, in Zukunft so zu verfahren, wie ein Klassenkampf, und meine Klasse ge- aber seine Gesprächspartner in der Bevöl- ich das vorgeschlagen und Ihnen gerade winnt.“ kerung suchen. Da gilt es, das eigentliche dargelegt habe. Aber die Linkspartei hat in SPIEGEL: Wir leben in Deutschland, nicht in Bündnis zustande zu bringen. Unsere Ge- Berlin die Privatisierung der Verkehrsbe- den USA. sprächspartner sind auch die Gewerk- triebe, der Stadtreinigung und von Kran- Lafontaine: Wenn Sie den Klassenkampf schaften, die jetzt mit dem Rücken zur kenhäusern mit verhindert. verstehen als Auseinandersetzung um das, Wand stehen. was gemeinsam erwirtschaftet wird, dann SPIEGEL: Haben Sie SPD-Chef Matthias verlieren Arbeitnehmer und Rentner, und Platzeck schon einmal kennengelernt? eine Minderheit, nämlich die Selbständigen Lafontaine: Er ist mir bekannt. Ich war ja und die Vermögensbesitzer, gewinnt. Die einmal Vorsitzender dieser Partei. Ich ver- Fakten sind eindeutig. folge mit Interesse, was er als SPD-Vorsit- SPIEGEL: Ist es nicht merkwürdig, dass Sie zender tut. wieder Begriffe des Klassenkampfs in die SPIEGEL: So, wie Sie Ihre Rolle im Bundes- Linkspartei hineintragen, von denen die tag beschreiben, heißt das, Sie sind poli- PDS schon Stück für Stück abgerückt war? tisch vollkommen isoliert. Lafontaine: Die Wörter der Linken kehren wieder. Das Pendel schlägt zurück. Dazu

MARCO-URBAN.DE trage ich meinen Teil bei. * Oben: Siemen Dallmann, Lucy Redler, Rouzbeh Taheri, Stefan Müller; unten: Dietmar Pieper, Stefan Berg in Lafontaine, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Lafontaine, wir danken Ih- Lafontaines Berliner Büro. „Die Wörter der Linken kehren wieder“ nen für dieses Gespräch.

36 der spiegel 11/2006 stimmen sollte. Nun haben sich GEHEIMDIENSTE die drei Oppositionsparteien endlich geeinigt. Doch noch ehe die Arbeit begonnen hat, Gebremster Eifer verlieren die ersten Abgeord- Ängstliche Liberale, lustlose neten schon wieder die Lust. Für die kleinen Parteien ist Grüne: Der Untersuchungsausschuss die Ausgangslage allein auf-

zur BND-Affäre schafft erst / DDP JÖRG KOCH grund der Mehrheitsverhält- einmal Probleme für die Opposition. BND-Zentrale (in Pullach) nisse diesmal wenig attrak- Was geschah wirklich im Irak? tiv. CDU/CSU und SPD könn- ans-Christian Ströbele, 66, ist ein ten den Ausschuss beinah nach Veteran des deutschen Untersu- Belieben dominieren. Sie ha- Hchungsausschusswesens. Er kennt ben die Möglichkeit, über die das Geschäft. Größe des Gremiums und In den achtziger Jahren saß der Grü- die Zahl der Sitzungen so- nen-Abgeordnete aus Berlin-Kreuzberg im wie über den Vorsitzenden Spionage-Untersuchungsausschuss, der im Alleingang zu entschei- den Skandal um den DDR-Agenten Hans- den. „Die Multikulti-Opposi- joachim Tiedge aufarbeiten sollte, später tion wird noch viel Spaß haben wühlte er sich durch die Akten der CDU- mit dem Ausschuss“, spottet Spendenaffäre. Ströbele hat in seinem Olaf Scholz, Parlamentari- Leben viele Fragen gestellt; er hat ge- scher Geschäftsführer der SPD- holfen, so manchen Skandal ans Licht Fraktion. zu bringen. „Parlamentarische Untersu- Nachdem die Regierung den chungsausschüsse sind ein sehr schönes Untersuchungsausschuss nicht Instrument, um Missstände offenzulegen, verhindern konnte, setzt Verantwortung zu benennen“, sagt er. Schwarz-Rot nun alles daran, Ströbele sitzt auf einem Hocker in sei- ihn so uninteressant wie mög- nem winzigen Bundestagsbüro zwischen lich zu machen. Die SPD hat

Stapeln von Aktenmappen und macht ein PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT verabredet, den früheren nie- sorgenvolles Gesicht. Eigentlich sollte er Aufklärer-Veteran Ströbele dersächsischen Wissenschafts- sich freuen, denn dem Geheimdienstunter- „Das kann eine echte Blamage werden“ minister Thomas Oppermann suchungsausschuss, für den er zuletzt so zu ihrem Obmann zu machen. gestritten hat, steht nichts mehr im Wege. machen: „Es kann sein, dass wir absolut Die Union, die den Ausschussvorsitzenden Doch diesmal hat der Jurist kein gutes Ge- nichts Neues herausfinden.“ stellen soll, suchte vergangene Woche nach fühl. „Das kann eine echte Blamage wer- Mehr als acht Wochen lang haben Grü- einem Kandidaten, der möglichst bedacht- den“, sagt er und seufzt. ne, FDP und Linksfraktion um die Einset- sam zur Sache geht – nun soll der Bruder Klar müsse man genau aufklären, wie zung eines Untersuchungsausschusses zu von Fraktionschef Volker Kauder, Sieg- das wirklich war mit dem Einsatz von den deutschen Geheimdienstaktivitäten in fried, den Job übernehmen. BND-Agenten im Irak oder mit den Ver- der rot-grünen Regierungszeit gerungen. Das nächste Problem der Opposition ist, hören Terrorverdächtiger durch deutsche Mal waren die Grünen dafür, dann eher dass sie sich bislang alles andere als einig Sicherheitsbehörden in Syrien und Guan- dagegen, und auch die FDP schwankte lan- ist, was sie mit dem Ausschuss eigentlich tanamo. Aber niemand solle sich Illusionen ge, ob sie für die Einsetzung des Gremiums beweisen will. Die Linke möchte Rot-Grün Deutschland im Nachhinein als heimliche Kriegsver- wenden“, berichtet ein Teilnehmer der hit- kleinsten Fraktion dazu? Das ist unser bündete der Amerikaner im Irak enttar- zigen Debatte während der letzten Lan- Recht.“ Beck, der sich schon mal weigert, nen, als Heuchler und Wahlbetrüger. Die desvorstandssitzung. in FDP-Räumen des Reichstages zu ver- FDP will sich als die Partei empfehlen, die Wie groß die Skepsis mancher Frei- handeln, konterte prompt. Er verlegte den uneingeschränkt für Bürgerrechte eintritt, demokraten gegenüber einem Untersu- Termin um eine halbe Stunde. Dann ging indem sie noch einmal die Hintergründe chungsausschuss ist, zeigte sich vergange- er frühzeitig. Er habe eine wichtige Verab- der Entführung des deutschen Staatsbür- ne Woche während der Fraktionsklausur redung mit dem Botschafter von Usbeki- gers Khalid el-Masri durch die CIA aus- stan, ließ er wissen. leuchtet. Dass die Schröder-Regierung die UMFRAGE: BND So gesehen ist es auch kein Wunder, Zusammenarbeit mit den USA nicht auf dass bei den bekannten Leuten der Oppo- allen Ebenen aufgekündigt hatte, findet bei „Um die mögliche Beteiligung sition die Bereitschaft, im Ausschuss mit- den Liberalen eher Zustimmung. des BND am Irak-Krieg aufzu- zuarbeiten, nicht besonders ausgeprägt ist. Die Grünen wiederum, als Juniorpart- klären, will die Opposition jetzt Einigermaßen prominente Kandidaten der ner der abgelösten Regierung in der Linksfraktion wie die Abgeordneten Diet- Sache befangen, sind in den Ausschuss einen Untersuchungsausschuss mar Bartsch oder Gregor Gysi kamen von eher hineingestolpert. Nach wochenlan- einsetzen. Halten Sie dies für vornherein nicht in Frage. „Das ist ja Ar- gem Hin und Her möchten sie vor allem nötig?“ beit“, witzelte einer. Nun soll der ehema- ihren Ruf nicht weiter ramponieren. lige Bundesrichter Wolfgang Ne≈koviƒ den „Wenn wir uns gegen den Ausschuss ent- JA 40 % Job übernehmen, eventuell auch die Berli- schieden hätten, würden doch alle sagen, ner Abgeordnete Petra Pau, die schon im ihr habt etwas zu verbergen“, sagt ein letzten Bundestag saß, ohne nachhaltig Spitzen-Grüner. NEIN 56 % aufzufallen. Weil schon für den einfachen Antrag, Bei den Liberalen gab es ebenfalls Be- einen Zeugen vorzuladen oder bestimmte TNS Infratest für den SPIEGEL vom 7. bis 9. März; setzungsprobleme. Die einzige ernsthafte rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ Akten einzusehen, ein Viertel der Stim- keine Angabe Bewerbung für die Obmann-Stelle kam men notwendig ist, müssen die drei Oppo- zunächst vom Abgeordneten Hellmut Kö- sitionsparteien immer zusammenhalten. nigshaus, einem eher stillen Kollegen. Der Nur gemeinsam können Sie die Mehrheit in Magdeburg. „Wir wissen doch jetzt Wunschkandidat der Fraktionsführung, der der Großen Koalition aushebeln – eine schon, dass die rot-grüne Regierung gelo- Bayer Max Stadler, zierte sich in der vori- echte Herausforderung. Man ist sich eher gen hat“, sagte die innenpolitische Spre- gen Woche noch. Seine Begründung: Ar- unsympathisch. cherin Gisela Piltz. „Was kann dabei noch beitsüberlastung, Zeitprobleme und seine Die Freidemokraten fürchten, dass ihre Neues herauskommen?“, fragte der baye- Mitgliedschaft im Geheimdienstkontroll- Anhänger die Zusammenarbeit mit den rische Abgeordnete Horst Friedrich. Und gremium des Bundestages. Bis Anfang die- Linken nachhaltig übelnehmen könnten. sein Kollege Werner Hoyer schimpfte, der ser Woche soll bei den Liberalen nun eine Dem Parlamentarischen Geschäftsführer Ausschuss sei „außenpolitisch nicht ver- Entscheidung fallen. Jörg van Essen dröhnt die Kritik seiner Ba- tretbar“. Es wird auch höchste Zeit. Denn wenigs- sis schon in den Ohren: „Ihr mit den Kom- Schon jetzt liefern sich Vertreter der tens darin sind sich alle Oppositionspartei- munisten? Unmöglich, das geht nicht“, so kleinen Parteien selbst bei Nebensächlich- en einig: Man will die Sache schnell hinter oder so ähnlich hört er es derzeit bei jeder keiten einen nervigen Kleinkrieg. Kaum sich bringen. Wenn möglich, soll der Aus- Veranstaltung außerhalb von Berlin. In hatte Grünen-Unterhändler Volker Beck schuss bis zum Sommer seine Arbeit ab- Baden-Württemberg sorgen sich die Libe- vorige Woche die beiden anderen Fraktio- schließen. Aufklärer-Veteran Ströbele: ralen, der CDU-Koalitionspartner „könn- nen zu einem Treffen eingeladen, be- „Sonst fragen die Leute uns doch: Was te unsere Kooperation mit der Linkspartei schwerte sich der FDP-Mann van Essen macht ihr da eigentlich?“ Petra Bornhöft, als Wahlkampfmunition gegen uns ver- spitz: „Wie kommen Sie als Vertreter der Markus Deggerich, Roland Nelles Deutschland

JUSTIZ Das Vertriebsnetz des Todes In Mannheim beginnt der weltweit erste Prozess gegen ein mutmaßliches Mitglied der Atommafia. Der Deutsche soll geholfen haben, Libyens Diktator Gaddafi Technik für den Bau der Atombombe zu beschaffen. Auch die Mullahs in Iran bedienten sich auf dem Schwarzmarkt. PROSSWITZ / MASTERPRESS (R.) / MASTERPRESS PROSSWITZ Ingenieur Lerch (1987), Justizvollzugsanstalt Mannheim: Beihilfe zum Weltuntergang?

us irgendeinem Grund ist der Auf- frontiert wird, dass Deutsche bei den mut- markt des Schreckens nicht nur deshalb trag, die Menschheit auf dem Ge- maßlichen Tätern mal wieder in der ersten Stammkunden waren, weil sie Uran für Arichtsweg zu retten, jetzt also in Reihe stehen. Atomkraftwerke anreichern wollten. Es Mannheim gelandet, in einem Waschbe- Mit dem sri-lankischen Geschäftsmann geht ihnen, allen Dementis zum Trotz, ton-Klotz aus den sechziger Jahren mit Buhary Seyed Abu Tahir und dem Schwei- ganz offensichtlich um die Bombe. rostbraunen Stahlplanken außen und ni- zer Ingenieur Daniel Geiges haben nämlich Das also ist die Kulisse für den ersten kotingelben Deckenlamellen innen. Der zwei der wichtigsten Figuren ausgepackt Prozess gegen ein mutmaßliches Mitglied Auftrag hat ein Aktenzeichen bekommen, und Lerch schwer belastet – Tahir vor deut- der internationalen Atommafia. Er findet 25 Kls 613 Js 17967/05. Und einen Termin: schen Ermittlern, Geiges erstmals vergan- in Mannheim statt, weil Lerch in der diese Woche Freitag, 10 Uhr. gene Woche gegenüber dem SPIEGEL. Schweiz wohnt und die Schweiz ihn im Um was es dann geht vor dem Mann- Damit lässt sich nun die Geschichte eines Juni 2005 am badischen Grenzübergang heimer Landgericht, im Prozess gegen den der skrupellosesten Verbrechen der Ge- Konstanz ausgeliefert hat. Verhandelt wird deutschen Ingenieur und Kaufmann Gott- genwart aus Sicht von Beteiligten rekon- im Sitzungssaal 1, dem größten, den das hard Lerch, lässt sich entweder mit den Pa- struieren, ein Krimi, hochpolitisch auch Landgericht zu bieten hat: eine Turnhal- ragrafen aus dem Kriegswaffenkontrollge- vor dem Hintergrund der aktuellen Aus- le der Strafgerichtsbarkeit mit 250 Qua- setz und dem Außenwirtschaftsgesetz be- einandersetzung mit Iran. dratmetern und einem Aktenregal hinter schreiben, die in der Anklageschrift stehen. Denn auch Iran ließ sich beliefern, von der Richterbank, lang genug für 125 Leitz- Oder kürzer: als Beihilfe zum Weltunter- Mitgliedern des gleichen Netzwerks. Wie Ordner. gang. Verhandelt wird nämlich wegen der weit hat sich das Mullah-Regime dort mit Lerch, 63, wird dort auf einem blaube- Unterstützung zum geplanten Bau der dem Nötigsten versorgt? Wie viel Täu- zogenen Stahlrohrstuhl sitzen, ein ruhiger Atombombe. Die Lieferung von Bauplä- schung, wie viel Vertuschung ist deshalb im Herr mit gutmütigem Naturell und guten nen, Handbüchern, ganzen Anlagen an Spiel, wenn die Iraner heute mit der inter- Manieren. In der Schweizer Ausliefe- Diktatoren, die bestenfalls als unberechen- nationalen Weltgemeinschaft um ihr Atom- rungshaft sehr beliebt bei den Mithäftlin- bar, schlimmstenfalls als irre gelten – in die- programm pokern und die Angelegenheit gen, weil er, der Techniker, die Fernseher sem Fall an Libyens Muammar al-Gaddafi. bis zur Debatte im Weltsicherheitsrat es- auf die neuen Fernsteuerungen umstellte Bis zu 30 Kilogramm waffenfähiges Uran kalieren lassen? Der Chef der Internatio- und auch sonst, so der Direktor im Regio- im Monat hätte er mit der bestellten Aus- nalen Atomenergiebehörde (IAEA) in nalgefängnis Altstätten, immer „korrekt rüstung produzieren können; so steht es in Wien, Mohammed al-Baradei, erwartet und anständig“ war, mit seiner „erfreuli- einem vertraulichen Expertengutachten. sich Antworten aus dem Mannheimer Pro- chen und nützlichen Art“. Es geht ab Freitag also um ziemlich viel. zess: Ob das Libyen-Geschäft als Blaupau- Ein ganz vorzüglicher Charakter wäre Für die Verhältnisse eines Landgerichts. se auch auf Iran zu übertragen ist. dieser Angeklagte also, hätte Lerch nicht Für den Angeklagten Lerch. Und für die Schon jetzt enthalten Berichte der IAEA nach Ansicht der Staatsanwaltschaft mit Bundesregierung, die erneut damit kon- klare Hinweise, dass die Perser im Super- der gleichen Korrektheit und Nützlichkeit

40 der spiegel 11/2006 dem Netzwerk des pakistanischen Atom- Atomwissenschaftler Khan wissenschaftlers Abdul Qadir Khan ge- Supermarkt des Schreckens dient. Jenem Dr. Khan, der nicht nur in den neunziger Jahren zum gefeierten „Va- nior“, bürgerlich Buhary Seyed ter der pakistanischen Atombombe“ auf- Abu Tahir aus Sri Lanka, legte stieg, sondern zum gefährlichsten Schwarz- eine Generalbeichte vor ma- marktdealer für den Bau der Bombe in al- laysischen Strafverfolgern ab ler Welt. Stets zu Diensten für Regime in und später noch eine vor deut- Iran und Libyen, in Nordkorea und schen Ermittlern: 85 Millionen womöglich weiteren Staaten, die sich heim- Dollar habe Libyen ausgege- lich zur Atommacht aufrüsten wollten. ben, er selbst das Geld im Lerch, der in Mannheim in U-Haft sitzt, Netzwerk verteilt, erzählte Ta- soll für Khan dabei so eine Art Abtei- hir den Deutschen in der Ver- lungsleiter im Libyen-Geschäft gewesen nehmung, deren Protokoll als sein, zuständig für den Produktionsstand- geheim eingestuft ist. ort Südafrika. 55 Millionen Mark brutto In der Schweiz erwischte es habe er dafür kassiert, 25 Millionen netto Gotthard Lerch, laut Tahir sein nach Abzug aller Kosten – so steht es in „Hauptauftragnehmer“. den Ermittlungsakten der Staatsanwalt- Außerdem die Familie Tinner: schaft Mannheim. Vater Friedrich und die beiden Ihm könnte nun zum Verhängnis wer- Söhne Urs und Marco, alle drei den, dass im Oktober 2003 das deutsche dringend verdächtig, für einen Schiff „BBC China“ mit Containern voller Anteil von 15 bis 20 Millionen Atomtechnik für den Wüstenstaat abge- Schweizer Franken Teile für fangen wurde und Gaddafi in Panik auf- Gaddafis Bombenprogramm deckte, wer alles für sein Atomprogramm gebaut zu haben. In Südafrika geliefert hatte. den deutschen Ingenieur Ger- Es war der größte Schlag gegen die hard Wisser, der nach eigenen Khan-Connection, gegen den internatio- Angaben 850000 Euro kassiert nalen Schwarzmarkt des Schreckens über- hat, nach Schätzungen deut- haupt. Für einen Moment sah es so aus, als scher Ermittler, die auf Tahirs fliege alles auseinander. Khan, der Volks- Angaben beruhen, sogar mehr held, musste sich in einer demütigenden als 10 Millionen. Und seine Fernsehansprache beim pakistanischen rechte Hand, den Schweizer Volk entschuldigen und sitzt seitdem in Daniel Geiges, der in der ver- Hausarrest. Sein Ziehsohn, Spitzname „Ju- gangenen Woche zum ersten Mal sein langes Schweigen Abdul Qadir Khan, Pakistaner, brach. Das Netz Atomwissenschaftler, Kopf des Netz- Alles schien endlich durch- des Dr. Khan werks Hausarrest in Pakistan sichtig zu werden, eine glückli- che Stunde für die Sicherheit Buhary Seyed Abu Tahir, Sri-Lanker, der Welt. Dann aber wurden Ziehsohn von Khan, kaufmännische doch wieder die Milchglas- Abwicklung Hausarrest in Malaysia scheiben vorgeschoben: Mit

USMAN KHAN / AFPUSMAN Khan dürfen ausländische Er- Gotthard Lerch, Deutscher, Friedrich Tinner und Söhne Peter Griffin, Engländer, mittler nicht sprechen; auch die Experte für Vakuumtechnik, früher Marco und Urs Tinner, Schweizer, Gulf Technical Industries, von der IAEA in Wien nicht – zu sehr bei Leybold Heraeus in Hanau Produktionsüberwachung in mutmaßlich Verschiffung sorgt sich Pakistans Staatschef Pervez Prozessbeginn in Mannheim am Malaysia und der Schweiz von Anlagen von Dubai Musharraf um delikate Fragen, wie viel 17. März; Lerch bestreitet eine die Brüder sind in der nach Libyen in Frank- die Regierung von den Geschäften ihres Schweiz inhaftiert reich, auf freiem Fuß Beteiligung am Netzwerk Dr. Mabuse wusste. Khans Ziehsohn Tahir angebliche Kooperation mit Niederlande redet nur in Malaysia – seine Aussage ge- Gerhard Wisser, Deutscher, Deutschland genüber den deutschen Staatsanwälten, Chef der Krisch Engineering Nord- in der er Lerch so belastete, krönte er mit angeklagt in Südafrika Schweiz korea dem Schlusssatz, alles was er gesagt habe, werde er vor keinem deutschen Gericht Aufträge an Türkei Iran Pakistan wiederholen. Daniel Geiges, Schweizer, LibyLibyenen V.A.E. Und vor allem mauern nun die Ge- Ex-Angestellter von Wisser, heimdienste. Es wird immer klarer, dass Maschinenbauingenieur CIA und MI6 das Khan-Netzwerk unter- und Projektmanager Malaysia angeklagt in Südafrika wandert hatten und einige der Hauptver- dächtigen am Ende sehr wahrscheinlich Aufträge an von ihnen eingespannt wurden. Wer will Johan Andries jetzt zum Beispiel schon erklären müssen, Muller Meyer, Länder, aus denen Know-how und dass in Libyen – so wie in Iran – auch Va- Südafrikaner, Chef der Material für Khans Netzwerk stammten kuumpumpen der Firma Pfeiffer Vacuum Tradefin Engineering Länder, die Khan mit Technik für den auftauchten, die Pfeiffer weder nach Li- Kronzeuge der südafrika- Südafrika Bau von Atombomben versorgte byen noch nach Iran geliefert hatte, son- nischen Staatsanwaltschaft dern an die staatliche amerikanische 41 Atomwaffenschmiede in Los Ala- cherung nicht nur theoretisch mos, New Mexico? komplex, sie ist auch technisch ex- Auch in Südafrika schleppen sich trem schwierig. Besonders wenn die Ermittlungen dahin, frühestens man nicht mit einem Hightech-La- in ein paar Monaten werde es zu ei- bor ausgerüstet ist, sondern in Pa- nem Verfahren gegen den dort ver- kistan sitzt, in einem Entwick- hafteten Wisser und seinen Ex-An- lungsland. gestellten Geiges kommen, heißt es. Der heimgekehrte Atomspion Und in der Schweiz wird es sich bis machte sich also auf die Suche zum Prozess gegen die Tinners nach Lieferanten, und in Hanau, wohl noch länger hinziehen – Be- bei Leybold Heraeus, einem welt- ginn frühestens nächstes Jahr. weit führenden Unternehmen für So stehen die Deutschen in Vakuumtechnik, fand er einen jun- Mannheim ganz vorn mit ihrem gen Ingenieur: Gotthard Lerch. Verfahren und sind nun diejeni- Schon 1979 erkundigten sich deut- gen, auf die die Atomwaffenkon- sche Exportkontrolleure bei Lerch, trolleure der IAEA am meisten was er da mit Pakistan treibe. Er hoffen. gab zu, dass Leybold Heraeus Ven-

Der Prozess wird das Gericht / AFP JOHN MACDOUGALL tile, Vakuumpumpen und eine weit zurückführen, bis in die sieb- Libyscher Staatschef Gaddafi: 30 Kilogramm Uran im Monat Gasreinigungsanlage für 1,3 Millio- ziger Jahre. Schon damals nämlich nen Mark an den Indus geschickt lernte Gotthard Lerch den Pakistaner Ab- nur zu 0,7 Prozent vorkommt, auf jene vier hatte. Und als Lerch 1985 Leybold verließ dul Qadir Khan kennen. Khan hatte als jun- Prozent konzentrieren, die man für Kern- und in die Schweiz ging, kam es zu einem ger Metallurgie-Ingenieur bei einer Firma kraftwerke braucht. Wer aber noch weiter ähnlichen Know-how-Transfer wie ein paar in Amsterdam angeheuert, die das deutsch- schleuderte, in ganzen Kaskaden von Zen- Jahre zuvor bei Khan: Kaum war Lerch bei niederländisch-britische Konsortium Uren- trifugen, Hunderten, Tausenden, vakuum- seiner neuen Firma in der Schweiz einge- co beriet. Die Urenco baute damals im dicht hintereinandergeschaltet, konnte so stiegen, produzierte eine Firma gleich ne- holländischen Almelo eine Anlage zur auch 90-prozentiges U 235 erzeugen. Den benan auch schon GUZ-Technik, ganz in Urananreicherung. Ihr Kern: sogenannte Stoff, aus dem die Bomben sind. der Art, wie sie in Konstruktionsplänen bei Gasultrazentrifugen (GUZ). Mit den su- Bis 1975 kopierte Khan bei der Urenco Leybold Heraeus gestanden hatte. Ziel der perschnellen Schleudern – 70000 Umdre- die wichtigsten Pläne, dann floh er nach Ware: Khans Labor in Kahuta. hungen in der Minute – wollte die Urenco Pakistan, um dort für sein Land die Bom- Schon 1987 wollten die Deutschen Lerch das Isotop U 235, das in natürlichem Uran be zu bauen. Allerdings ist die Urananrei- für diese Bombengeschäfte zur Rechen- Deutschland schaft ziehen. Doch 1990 kappten die noch mal gesehen hatte. Er könne sich lei- umsattelte. 500 ausgemusterte Zentrifugen Schweizer Behörden die Rechtshilfe – we- der nicht erinnern. ließ Khan über Dubai nach Persien ver- gen Verjährung. Das deutsche Kriegswaf- Khan wollte aber nicht nur eine Bombe schiffen. Ein Mitglied der Familie Tinner fenkontrollgesetz griff noch nicht, weil es für Pakistan bauen. Irgendwann in den hat außerdem kürzlich zugegeben, dass erst 1990 eingeführt wurde. Und dass Lerch achtziger Jahren beschloss er: Jedes Land Sohn Marco 5000 Zentrifugenteile für Iran Pläne geschmuggelt hatte, war ihm nach sollte seine Bombe haben, jedes muslimi- in der Schweiz gebaut und seinem Bruder Ansicht des Amtsgerichts Köln nicht nach- sche zumindest, das zahlen konnte. Ganz Urs nach Dubai geliefert habe. Den Wei- zuweisen – ein unbescholtener Mann also, vorn dabei Iran, der heute so tut, als sei die tertransport habe dann Tahir besorgt. sagen seine Anwälte. Atombombe das Letzte, woran er bei der Mitte 1997 traf sich Khan in einem Café Khan sammelte in dieser Zeit weitere Urananreicherung denke. Ab 1987, davon in Istanbul dann mit neuen Kunden: den Li- Lieferanten, Vertraute, Freunde. Eines Ta- geht die IAEA mittlerweile aus, habe Khan byern. An seinem Tisch saß Khan mit dem ges lernte er einen jungen Mann kennen, über sein Netzwerk Iran die Pläne für zwei Chef des libyschen Nuklearwaffenpro- der ihm Klimaanlagen für das Labor ver- Zentrifugen-Typen angeboten. Auch ein gramms zusammen, am Nebentisch Khans kaufen wollte – Tahir, in der Branche künf- Spezi Tahir – so erzählte Tahir es Ende Juni tig „Junior“ genannt; er durfte zu Khan Die Libyer wollten etwas Schlüs- 2005 den deutschen Ermittlern bei seiner bald „Papa“ sagen und ihn angeblich sogar selfertiges, eine komplette Vernehmung in Malaysia. Gaddafis Männer nach Mekka begleiten, auf Pilgerfahrt. Fabrik, geliefert aus dem Ausland. waren ein wenig ratlos, nämlich unfähig, Und in Dubai saß ein britischer Ge- etwas mit den 20 kompletten Zentrifugen schäftsmann, Peter Griffin, technisch ver- und den 200 Teilen anzufangen, die ihnen siert, vor allem aber gewieft im Im- und Deutscher soll Khan damals unterstützt ha- Khan schon früher geschickt hatte. Ein paar Export zweifelhafter Güter. Und in der ben: der 1992 gestorbene Heinz Mebus, ein Dutzend Zentrifugen, das langte nicht für Schweiz Friedrich Tinner. Einer, der Va- Studienfreund, der ihm als Helfer so eng den Bombenstoff, und selbst eine Fertigung kuumteile baute, Ventile, genau das, was verbunden war, dass in seinem Vorgarten aufzubauen – dazu reichte ihr Sachverstand Khan brauchte. schon mal eine Bombe hochging – ver- nicht. Die Libyer wollten lieber etwas Tahir, Griffin, die Tinners, eigentlich hat- mutlicher Absender: der israelische Ge- Schlüsselfertiges, eine komplette Fabrik, te der große Khan also schon in den Acht- heimdienst Mossad. geliefert aus dem Ausland. zigern fast alle in seiner Reichweite, die Die Iraner entschieden sich erst mal für „Machine Shop 1001“ hieß das Projekt, heute auch in der neunseitigen Lerch-An- die P1-Zentrifuge, eine einfache, nicht be- auf das man sich nun einigte. Khans Mann klage vor dem Landgericht Mannheim auf- sonders leistungsstarke Version. Doch in Dubai, Peter Griffin, sollte eine ganze tauchen. Und Lerch selbst? Vor gut einem schon damit waren sie überfordert. Ihnen Produktionsstraße für den Bau der einfa- Jahr grübelte er in einer Vernehmung dar- fehlte der Spezialstahl. Wie praktisch, dass chen Zentrifugenvariante P1 schicken. Aus über nach, ob er Khan nach 1985, nach sei- Khan für das pakistanische Programm nun P1 wurde flugs L1 – L wie Libyen. Auch ner Zeit bei Leybold Heraeus, tatsächlich gerade auf die wesentlich modernere P2 um die Ausbildung von Technikern in Spa- nien, so glauben die Ermittler, sollte sundheit – Geiges hat Krebs und sich Griffin kümmern. Tatsächlich nicht mehr viel zu verlieren. Jetzt ist testeten die Libyer nach drei Jahren, er zum Zeugen der Anklage gewor- im Oktober 2000, erfolgreich eine den, seine Aussagen füllen viele Blät- einzelne Zentrifuge, aber dann stock- ter, und gegenüber dem SPIEGEL te es schon wieder. Außerdem: Gab belastete er Lerch nun erstmals öf- es da nicht die neue Version, die P2, fentlich. noch komplizierter, aber auch viel Dass Lerch nichts gehört, nichts leistungsfähiger? Im Jahr 2000 be- gesehen und mit Wissers Libyen-Pro- stellte Gaddafi bei Khan zunächst duktion nie etwas zu tun gehabt ha- 5000 Zentrifugen der Zweier-Baurei- ben will? „Lerch hatte eine Funktion he, später 10000. in dem Ganzen“, widerspricht Gei- Das ist das Geschäft, das nun die ges, er habe das Projekt von der Mannheimer Richter beschäftigt, und Schweiz aus verfolgt. Deshalb das es lief hochprofessionell ab – nach Kürzel „Project GL“, das in den Fir- dem industriellen Prinzip der Ar- men-Unterlagen auftauchte. „Jeder beitsteilung. Khan holte die Aufträge wusste, dass GL für Gotthard Lerch herein. Tahir war der „Finanzdirek- stand“, sagt Geiges. tor“, wie ihn später mal der ameri- Die Pläne, die Geiges überarbei- kanische Präsident George W. Bush ten musste, stammten zum Teil von nennen sollte. Und zwei, drei Abtei- Leybold Heraeus aus Deutschland, lungsleiter sorgten dafür, dass sie aus der Zeit, als Lerch dort noch ar- ihren Teil der Anlage fertigbekamen. beitete. Lerch hatte sie Geiges zufol- Friedrich Tinner, der Schweizer Un- ge in Südafrika schon länger zwi-

ternehmer, und seine beiden Söhne X / STUDIO / UPI GAMMA PRESIDENT HANDOUT IRANIAN schenlagern lassen. Dort schienen sie Urs und Marco übernahmen demnach Irans Präsident Ahmadinedschad (r.)*: Notorisches Blocken sicherer zu sein. Und Wisser, der bis- den Auftrag für die Massenproduktion her behauptete, erst spät gemerkt zu von mehr als einem Dutzend diverser Zen- in Hanau, Wisser, der Ländervertreter für haben, worum es eigentlich ging, auch Wis- trifugenteile in Malaysia und in der Schweiz. Leybold in Südafrika, der in den achtziger ser sagt, Lerch habe das Projekt als eine Ein Anwalt der Familie will sich zu den Vor- Jahren zu einem Hauptlieferanten für das Art „Ratgeber“ begleitet – Tahir sei dazu würfen nicht äußern, aber bei der IAEA geheime südafrikanische Atomprogramm als Kaufmann technisch gar nicht in der heißt es, die Familie habe kooperiert. In wurde. In den Neunzigern soll Wisser auch Lage gewesen. mehreren stundenlangen Verhören hat zu- für Pakistans Zentrifugenprogramm gefer- So informierte Wisser seinen Mitarbeiter mindest Urs Tinner umfassend ausgesagt tigt haben, angeblich im Auftrag von Geiges in einem Fax, das er ihm am 14. und sich wohl auch der CIA offenbart, die Lerch, so die deutschen Ermittler. Juni 2000 sendete, Lerch werde im Juli ihn schon länger im Visier hatte. Am 17. Juli 1999 flog Wisser nach Dubai, 2000 für eine Woche nach Randburg in Fest steht, dass Urs von Tahir nach Ma- traf Khans Ziehsohn Tahir; die beiden Südafrika kommen. Er solle sich also schon laysia geschickt wurde und dort den Bau kannten sich auch schon seit Jahren. Tahir mal auf „Fragen/Hinweise“ vorbereiten, der Teile überwachte, die später bei der fragte, ob Wisser für ihn ein Rohrsystem unter anderem zum „Rohr-System“ und Durchsuchung des aufgebrachten Contai- bauen könnte – eines, wie man es zum der „Ventilstation“. In einem weiteren Fax nerschiffs „BBC China“ auftauchten, auf Verbinden Hunderter Zentrifugen gebrau- verlangte Wisser von Geiges wohl bewusst dem Weg nach Libyen. chen kann. Genaue Zeichnungen bekom- kryptisch: „,Full House‘-Konfiguration Vater Tinner und Sohn Marco haben die me er noch; es werde sich lohnen. muss fertig sein – GL kommt um den Fahnder außerdem auf dem Zettel, weil sie Wisser, der gerade in einer teuren Schei- 30.8./1.9.2001.“ Tatsächlich war Lerch nach auch in der Schweiz, in Marcos Firma Tra- dung steckte, war interessiert. Er fragte eigenen Angaben in dieser Zeit in Johan- co, Teile für Gaddafis Bomben-Baukasten einen alten Kumpel, Johan Meyer, der nesburg. hergestellt haben sollen. Und eine verlän- die Tradefin hatte, eine kleine Firma für Geiges wiederum erinnert sich angeb- gerte Werkbank der Schweizer Familie Anlagenbau in Vanderbijlpark, und gab lich an zwei Besuche von Lerch, Anfang stand offenbar in der Türkei: Teilaufträge ihm den Auftrag für die Fertigung. Und 2001 und Ende Februar 2002. Stundenlang und die dafür benötigten Maschinen gin- Wisser weihte Daniel Geiges ein, seinen hätten sie technische Probleme bespro- gen an einen Subunternehmer in Istanbul, wichtigsten Mitarbeiter, einen gebürtigen chen, „am Ende wurde es so gemacht, wie der sein Handwerk mal bei Siemens ge- Schweizer. Lerch es empfohlen hatte“. lernt hatte. Bis vor kurzem hat Geiges, 68, noch al- Das alles will nicht zu Lerchs Beteue- Für Khans zweite Produktionsschiene les abgestritten und alle gedeckt, inzwi- rungen passen, er habe in Südafrika nur soll aber Gotthard Lerch zuständig gewe- schen aber hat er seine Stelle bei Wisser Immobiliengeschäfte gemacht – und Ur- sen sein, eine ganz alte Schiene, die nach verloren, seine Dienstwohnung, seine Ge- laub. Wenn Geiges löge, dann müssten al- Südafrika führte. lerdings noch zwei andere lügen: In Süd- Südafrika? Nur ein paar Wohnungen afrika Johan Meyer, der Chef der Tradefin, habe er in Südafrika, und einen guten Be- der schon gleich nach seiner Festnahme kannten, den Gerhard Wisser, 66, der vor eineinhalb Jahren zum Kronzeugen schaue dort für ihn mal nach dem Rechten. der Ermittler wurde. Und in Liechtenstein Viel mehr war es nicht, was dem Ange- Fridolin Z. Der bekam mit seiner Firma klagten Lerch im September 2004 bei einer im Sommer 1999 von Lerch den Auftrag, Vernehmung zu Südafrika einfiel. Mit Wis- einige Dinge zu besorgen. Unter anderem sers Firma für Vakuumtechnik habe er in Pumpen und Heizdraht. Lerch, so hat Z. es jüngerer Zeit nichts zu tun gehabt, mit vor deutschen Bundesanwälten ausgesagt,

Zentrifugen-Anlagen erst recht nicht. ROBINSON / DPA SHAYNE Wisser und Lerch kennen sich schon seit Libyen-Helfer Geiges, Wisser * Mit dem Chef des Atomprogramms Gholamresa Agha- Jahrzehnten: Lerch, der Leybold-Manager „Sie haben uns an die Hunde verfüttert“ sade in der Uran-Anreicherungsanlage Natans.

44 der spiegel11/2006 Deutschland habe angeordnet: Die Pumpen solle er um das von Khan belieferte Atompro- an Tahir schicken. Und den Heiz- gramm der Iraner einsetzen könnte. draht? An Gerhard Wisser, möglichst Der Iran blockt notorisch. Zunächst schnell. Den Draht habe Lerch bar be- behaupteten die Mullahs gar, die Plä- zahlt; die Belege dafür liegen beim ne für die Anreicherungstechnik Gericht, in Mannheim. stammten aus dem Internet – Atom- Eine fünfstufige Kaskade mit 5832 macht per Mausklick. Dann dauerte Zentrifugen, dazu das Vakuum-, Pro- es Monate, bis sie ein einseitiges zess- und Steuerungssystem – im Jahr Schreiben aus dem Jahr 1987 heraus- 2003 war in Südafrika alles fertig, aber rückten – Khans Angebot über die noch bevor die Sendung rausging, flo- Lieferung von 2000 Zentrifugen. Und gen die Libyer auf und ließen alle auf- warum trafen sich iranische Unter- fliegen. „Sie haben uns an die Hunde händler 1996 mit Khan und besorgten

verfüttert“, simste Wisser noch an / DPA ROLAND SCHLAGER sich von ihm doch noch die Pläne für Meyer. In Tripolis übergaben die Li- IAEA-Chef Baradei: Niemand traut den Iranern die moderne P2-Zentrifuge, obwohl byer der IAEA Kisten mit Teilen aus Iran doch angeblich nie an dieser Malaysia, viele nie ausgepackt, auch eine dungen ins Geheimdienst-Milieu, vor al- High-End-Technik gearbeitet haben will, Spezial-Drehbank, die Khans Netzwerk lem zu den Briten. Wundersamerweise ist immer nur an der simplen P1? vorher schon mal zur Tradefin nach Süd- er noch immer auf freiem Fuß – wohl kei- Niemand traut den Iranern. Erst recht afrika geschickt hatte. Vor allem aber ga- ne Chance für das Landgericht, an ihn her- nicht, seit Teheran sich weigert, einen ben sie Namen preis. anzukommen. 15-seitigen Bericht herauszurücken. Der Tahir war einer der Ersten; er behaup- Und was wäre eine Aussage von Urs Report beschreibt, wie sich hochangerei- tete, Lerch habe im Jahr 2000 einen Ver- Tinner wert, für den sich die Amerikaner chertes Uran in halbkugelige Form bringen trag mit Khan geschlossen und sich die 55 so auffällig eingesetzt haben, nachdem er lässt. Die aber braucht man ausschließlich Millionen Mark brutto zusichern lassen – zunächst in Deutschland festgenommen für eine Bombe, nicht für einen Reaktor. geschätzte 30 Millionen fürs Projekt, 25 wurde und in Haft saß? Auch Tinner soll „Die Dealer haben uns dieses Doku- Millionen für ihn selbst. Dafür habe er kurz vorm Ende seiner Mission in Malay- ment überlassen, wir haben nie danach ge- Khan und ihn „laufend auf den neuesten sia von den Amerikanern umgedreht wor- fragt“, behauptet Vize-Außenminister Ab- Stand gebracht“, unter anderem bei diver- den sein. Überall also der Geruch von CIA bas Araghtschi gegenüber dem SPIEGEL. sen Treffen in Dubai. Dann plauderte auch und MI6, eine Steilvorlage für Lerchs Ver- Soll man das glauben? Nur dieses eine Do- Wisser, der sich bis heute als Opfer von teidiger, die behaupten, der ganze Deal sei kument, sonst aber nichts für die Bombe, Verleumdungen fühlt: Lerch sei an dem nur von Geheimdiensten aufgezogen wor- wie die Iraner beteuern? Den Libyern hat- Auftrag „definitiv“ beteiligt gewesen. den. Ihr Mandant sei ein Opfer, kein Täter, te Khan dagegen noch mit dem Satz „Das Doch weder Wisser noch Tahir werden er bestreite „ausdrücklich die ihm zur Last hier werden sie noch ganz nützlich finden“ jetzt in Mannheim für eine Aussage zur gelegten Verstöße gegen Kriegswaffenkon- angeblich eine ganze Tüte mit Bauanlei- Verfügung stehen, Geiges auch nicht. Und troll- und Außenwirtschaftsgesetz“. tungen überlassen, für einen nuklearen der Brite Peter Griffin, vermutlich einge- Es wird also ein schwieriger Prozess in Zehn-Kilotonnen-Sprengsatz. spannt für das Verschiffen der heißen Ware Mannheim, und als wäre das alles nicht Solange also Iran seine Geschäfte mit nach Libyen, wohnhaft im südfranzösi- schon kompliziert genug, knüpft sich daran dem Khan-Netzwerk verschleiert, sind die schen Figanières? Er durfte im Sommer jetzt auch noch die Hoffnung, es werde et- Atomwächter auf Umwege zur Wahrheit 2005 nur vom französischen Geheimdienst was abfallen für die laufende Auseinander- angewiesen. Einer könnte jetzt über das vernommen werden; auch für den SPIE- setzung mit dem Möchtegern-Atomstaat Landgericht in Mannheim führen. GEL ist er nicht zu sprechen. Griffin gilt Iran. Irgendein Druckmittel eben, das die Jürgen Dahlkamp, Georg Mascolo, Holger Stark seit Jahren als Mann mit guten Verbin- internationale Staatengemeinschaft im Streit MAX EHLERT / DER SPIEGEL (L.); AKG (R.) / DER SPIEGEL (L.); AKG EHLERT MAX „Konkret“-Chefredakteurin Meinhof (1962), Mai-Feier in Ost-Berlin (1959), „Konkret“-Gründer Rühmkorf, Röhl (1969): Im Propaganda-Krieg

ZEITGESCHICHTE Rosen aus Ost-Berlin Die Journalistin Bettina Röhl belegt mit Aktenfunden, wie die in der Bundesrepublik verbotene KPD im Untergrund das von ihren Eltern geleitete Hamburger Szeneblatt „Konkret“ konzipierte – und jahrelang in totaler Abhängigkeit hielt.

m frühen Morgen des 21. Septem- Die Autorin durchleuchtet da die schil- aus einem Studentenblättchen hervorge- ber 1962 eilt ein aufgeregter Mann lernden Biografien ihrer berühmt-berüch- gangene Links-Postille. Ain den Kreißsaal der Uni-Kliniken tigten Eltern akribisch auf mehreren Ebe- Dass sich die „Konkret“-Truppe von An- von Hamburg-Eppendorf, um seiner Frau nen. Es gelingt ihr nicht nur, den enormen beginn in eine wenig appetitliche Abhän- bei der Geburt ihres ersten Kindes zur Sei- Einfluss zu belegen, den die illegale KPD gigkeit begeben haben könnte, vermuten te zu stehen. Er wird reichlich beschenkt: aus dem Untergrund auf die in der Bonner über die Jahre hinweg selbst Leser, denen Statt des an diesem Tage erwarteten einen Nachkriegsrepublik entstehenden Protest- der Inhalt der Zeitschrift im Kern gefällt – Babys hält er schon bald darauf Zwillinge bewegungen nimmt – sie entlarvt auch die ein Verdacht, der sich letztlich ja auch be- – zwei Mädchen – im Arm. entscheidenden Drahtzieher und deren stätigt. Es stimme schon, räumt bereits in Das Echo auf das unverhoffte Ereignis willige Vollstrecker. den frühen Siebzigern der inzwischen um entspricht dem beträchtlichen Bekannt- Und zu denen gehören die beiden Amt und Würden gebrachte Klaus Rainer heitsgrad der stolzen Eltern: Der Vater, der „Konkret“-Stars, die der Partei als heim- Röhl ein, er sei von „drüben“ gesponsert seinerzeit 33-jährige Klaus Rainer Röhl, liche Mitglieder verpflichtet sind. Der um- worden. gibt die Zeitschrift „Konkret“ heraus, triebig-flotte Herausgeber und notorische Aber das ganze Ausmaß dieser deutsch- während die ihm angetraute Kollegin Ulri- Querkopf hat sich ihr spontan angeschlos- deutschen Partnerschaft erschließt sich erst ke Marie, geborene Meinhof, 28 – die spä- sen; seine Ehefrau, die erstmals 1958 im der Tochter. Um herauszukriegen, welche ter zur RAF-Ikone aufsteigen wird –, dem studentischen Widerstand gegen eine Rolle ihre Eltern wirklich spielten, wendet Blatt als weithin geschätzte Chefredakteu- drohende atomare Bewaffnung West- sich die Journalistin 1998 an das Berliner rin vorsteht. Da wollen viele gratulieren. deutschlands von sich reden macht, wird Bundesarchiv, das die Bestände des vor- In Erinnerung bleibt dem Paar insbe- als Kommunistin „aus Leidenschaft“ por- maligen Zentralen Staatsarchivs der DDR sondere ein üppiger, in die Entbindungs- trätiert. übernommen hat, und wird schon nach station geschickter Strauß roter Rosen. Der Ulrike Meinhof, schreibt Bettina Röhl, wenigen Wochen fündig. Blumengruß kommt aus Ost-Berlin, wo die habe „bei aller späteren Distanz“ die in Ein mit Packpapier und Bindfaden um- Führungsfiguren der 1956 in der Bundes- Ost-Berlin regierenden Genossen stets als wickeltes Paket birgt die viele hundert Sei- republik verbotenen Kommunistischen „geistige Bündnispartner“ gesehen – und ten umfassende Akte „Konkret“ – ein Dos- Partei Deutschlands (KPD) überwintern. jene wiederum päppeln ihren Hamburger sier, das die Sitzungsprotokolle einer von So erzählt es Röhl einige Jahrzehnte da- Außenposten nach Kräften. Schließlich gibt Ost-Berlin aus agierenden Abteilung „Ju- nach seiner Tochter Bettina, die als Jour- es für sie in der Bundesrepublik keinen gend und Kultur“ der West-KPD enthält nalistin an einer Familiengeschichte arbei- zweiten, der im Propagandakrieg des ge- und keine Zweifel mehr erlaubt: Zumin- tet. Mit den Merkwürdigkeiten ihres ersten teilten Landes so wichtig wäre wie die 1957 dest bis 1964 haben die Kommunisten das Lebenstages beginnt ein in dieser Woche vermeintliche Avantgarde-Magazin nach erscheinendes Buch – ein ebenso umfäng- * Bettina Röhl: „So macht Kommunismus Spaß! Ulrike Belieben selbst gelenkt. Meinhof, Klaus Rainer Röhl und die Akte Konkret“. Eu- liches wie in seiner Komplexität ambitio- ropäische Verlagsanstalt; 684 Seiten mit 48 Seiten Abbil- Bereits der von Röhl und seinem Inti- niertes Werk*. dungen; 29,80 Euro. mus, dem Lyriker Peter Rühmkorf, 1955

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wird umgarnt und gestützt: Kapluck und Co. organisieren die Ostermärsche oder helfen nach Kräften, als die „Deutsche Friedensunion“ im Bundestag Fuß zu fassen versucht. Der in Moskau als „Westguru“ geschätz- te Genosse ordnet auch an, dass sich „Kon- kret“ massiv in die seit 1958 vor allem an den Hochschulen auflebende Anti-Atom- Bewegung einzuschalten habe, und so schließt sich der Kreis: Ulrike Meinhof, die an der Universität Münster einen Arbeits- ausschuss für ein kernwaffenfreies Deutsch- land gründet, betritt die Bühne. Sie wird von Röhl – den sie anfangs als ziemlich „fies“ empfindet – in die Ham- burger Redaktion gelockt und beeindruckt mit ihrer zunehmend demagogischen Rhe- torik alsbald auch die „Führungsoffiziere“. Kapluck ist von der elegant formulieren-

K. MEHNER den Mitstreiterin, die einige seiner Kolle- des geteilten Landes der wichtigste Außenposten gen schon als eine Art „neue Rosa Lu- xemburg“ verehren, begeistert. gegründete „Studenten-Kurier“ schöpft trachtete Ulrike Marie Meinhof auf, eine Warum die Liaison zwischen „Käthe“ aus trüben Quellen. „R. und R.“, wie sich als ungleich verlässlicher und äußerst dis- und der im Schlepptau der SED arbeiten- die Freunde in der bewegten Hamburger zipliniert geltende Gefolgsfrau. Dass aus- den KPD im Sommer 1964 dennoch im Szene nennen, können das Blatt nur auf gerechnet sie sich in einen vormaligen Fiasko endet, hat nach der Aktenlage in den Markt bringen, weil sich ihnen ein drit- Kleinkünstler und Kabarettisten verliebt erster Linie mit einem Stabswechsel in Ost- ter Mann hinzugesellt. Der heute in Bre- hat, stimmt die Partei nicht gerade glück- Berlin zu tun. Die danach verantwortlichen men lebende Bauunternehmer Klaus Hü- lich. Das Paar wird im Dezember des sel- Apparatschiks heißen Jupp Angenfort und botter – ehedem Mitglied der ebenfalls ver- ben Jahres heiraten. Oskar Neumann, beide ausgeprägte Stali- botenen Freien Deutschen Jugend – bietet „Konkret“ verfügt nun über eine Dop- nisten, denen der westlich-saloppe Ton des sich als Geldbeschaffer an. pelspitze, doch die wirkliche Herrschaft übt Blatts nicht passt. Das Projekt, beweisen die Unterlagen, ein anderes Duo aus. Bereits bei einem der Der Zeitschrift sei zugestanden worden, ist den Auftraggebern in Ost-Berlin von ersten Besuche Röhls in Ost-Berlin treten hält das Dossier fest, „ein gewisses Maß Anfang an so wichtig, dass sie es bis ins die Leiter der Abteilung „Jugend und Kul- an Antikommunismus zu dulden“ – doch kleinste Detail durchorganisieren. Deren tur“ der West-KPD, Manfred Kapluck und nun registrieren die Aufseher eine Ten- ausgefeiltes Konzept zu „Inhalt und Cha- Richard Kumpf, aus dem Halbschatten. Bei- denz zur „Hetze“. Den Genossen Journa- rakter der Zeitung“ wird am Ende sogar des sind klassische Führungsoffiziere, wie listen, monieren sie, fehle die unerlässliche vom Chef des Zentralrats der DDR-FDJ man später im Stasi-Jargon sagen wird, die „marxistische Grundlage“. Als die Ehe- und späteren SED-Generalsekretär Erich unverzüglich das Heft in die Hand nehmen. leute Röhl schließlich einen stark umstrit- Honecker abgesegnet. Vor allem der aus dem Ruhrgebiet tenen chinafreundlichen Beitrag verteidi- Die danach in „Konkret“ umgetaufte stammende Kapluck, Sohn eines in Spani- gen, ist der Bruch unvermeidbar. Gazette – Deckname: „Käthe“ – soll zur en bewährten Rotfront-Kämpfers und auch Sie erklären ihren Parteiaustritt und Bastion ausgebaut werden. In der Bundes- ansonsten von Körper und Geist ein Bil- starten sofort eine zweite, allem Anschein republik gibt es zu dieser Zeit annähernd derbuch-Antifaschist, entpuppt sich als die nach frei finanzierte Karriere. Während 120000 Studenten, denen man unbedingt eigentlich zentrale Figur. Dem geht es nicht Ulrike Meinhof 1970 als Terroristin in die „richtige Orientierung“ beibringen allein um ein Publikationsorgan – er will den Untergrund geht (und sechs Jahre will. Pro Heft spendieren die Hintermän- das Überleben seiner Partei in der Bun- später Selbstmord verübt), behauptet ner ihrem Statthalter Röhl, dessen Blatt desrepublik sichern und träumt darüber sich der alte und neue „Konkret“-Chef aus Gründen der Tarnung im Selbstverlag hinaus von der Revolution. bis 1973 mit einer Themenmixtur aus erscheint, 40000 D-Mark in bar. Sein Hauptjob ist in den Sex und Revolution am Weil die DDR im Westen des vom Kalten fünfziger Jahren, mit in Markt. Krieg heimgesuchten Landes ein anhaltend die Illegalität abgetauchten Die Ära Röhls, dem nach schlechtes Image hat, setzen die Kombat- FDJlern ein stabiles Netz- dem seltsam schwärmeri- tanten dabei auch auf Desinformation und werk zu knüpfen, was ihm schen Urteil Peter Rühm- Camouflage. Vereinbart wird, dass in jeder bestens gelingt. Kommunis- korfs „das am wenigs- Nummer mindestens ein Artikel steht, der tische Kader setzen sich bei ten angepasste Intelligenz- sich gezielt antikommunistisch geriert. den Jugendorganisationen, blatt“ der Bundesrepublik Ihr Vater, bedauert Bettina Röhl, sei da etwa den Falken oder Ju- zu verdanken ist, hat sich mehr und mehr zum „nützlichen Idioten“ sos, fest und nisten massen- damit erledigt – aber sei- heruntergekommen, der beim Rapport in haft in den Betriebsräten ner Tochter genügt das Ost-Berlin regelmäßig auf Linie gebracht bedeutender Firmen. noch nicht. Die Auswer- wird, seiner gelegentlichen Widerborstig- Das strategische Zauber- tung von 450 Blatt Akten- keit wegen aber trotzdem in Schwierigkei- wort dieser Zeit heißt Un- material, das eine grund- ten gerät: So darf er ab 1961 bloß noch als terwanderung. Was immer legend andere Geschichte

Herausgeber fungieren. sich im restaurativen Bon- FOCUS SCHIRNHOFER / AGENTUR PAUL erzählt, bildet nur den Zur Chefredakteurin steigt stattdessen ner Staat jenseits des Parla- Autorin Röhl harten Kern ihres Buchs. die seit längerem mit Wohlgefallen be- ments an Widerstand regt, Komplexe Familiengeschichte Bettina Röhl, die gerade

der spiegel 11/2006 47 Deutschland „Ich habe diese Zeitung durchgesetzt“ Manfred Kapluck und die verbotene KPD – Auszüge aus dem Buch von Bettina Röhl

ierzig Jahre nach der ersten Be- und den ganzen Süden – haben wir mit Enthusiastisch erzählt Kapluck mir, gegnung Klaus Röhls mit seinen den abgetauchten FDJ-Kadern syste- wie erfolgreich er damals gewesen sei, VOstfunktionären sitze ich im matisch mit der Unterwanderung des wie phantastisch seine Projekte blüh- Marx-Engels-Institut in Wuppertal vor Westens begonnen. Wir reisten, von ten, und ich habe den Eindruck, als la- dem 70-jährigen Manfred Kapluck, der der Stasi, die damals noch nicht so che er sich noch heute darüber ins sich schmunzelnd erinnert. „Ach Röhl, hieß, mit Ausweisen ausgestattet, in Fäustchen, dass – trotz aller Verdächti- dieser Kleinbürger, der hat sich doch ganz Deutschland herum und brachten gungen – im Westen so wenig Wissen als Mitglied der damals gerade illegal unsere Leute auf Linie. vorhanden war. gewordenen KPD in die Hosen ge- Kapluck lacht mich fröhlich an. Die „Ich habe den ‚Bund der Deutschen‘ macht. Ich hatte als FDJler selbst 1951 wichtigste Aufgabe der FDJler, die ins Leben gerufen und mit deiner Tan- und 1952 in einem westdeutschen schon bald Kontakte zu den Hambur- te Renate Riemeck zusammen die Gefängnis gesessen, das war für uns ger Kommunisten hatten, war es, die DFU, die Deutsche Friedensunion, ge- Kommunisten wie Urlaub, das hat uns verbotene FDJ im Untergrund am Le- gründet, die sich 1961 erstmals zur hart gemacht, aber der Röhl, der hat ben zu erhalten und dafür Sorge zu tra- Wahl stellte. Ich habe zahlreiche christ- geschlottert.“ gen, dass die KPD Anschluss an die liche Pfarrer als Bündnispartner für die Ich habe Glück, in dem ehemaligen akademische Jugend im Westen fand. Partei gewonnen, die ich allesamt über- „Führungsoffizier“ meines Vaters ei- Kapluck versucht, mir die damalige redet habe, bei der DFU mitzumachen. nem sehr offen sprechenden Kommu- Vorgehensweise zu erklären: Ich habe die Gewerkschaften unter- nisten zu begegnen, der der Tochter von „Ulrike und Kläus- chen“ gern „alles“ erzählen will. Die fünfziger und sechziger Jahre sind seine große Zeit ge- wesen. Man merkt, es macht ihm zu schaffen, dass er von all den Erfolgen, die er damals als „Sekretär für Massenarbeit“ und „Mitglied des Politbüros und des Zentralkomitees der West-KPD in Ostberlin“ hatte, bis heute nicht frei erzählen kann und ihm niemand Aner- kennung zollt. „Ach, Bettina“, sagt er im- mer wieder wehmütig und stolz zugleich, als wir in der Nähe seines Instituts in einem

chinesischen Restaurant sitzen, BILDERDIENST ULLSTEIN wohin er mich zum Essen ein- Röhl-Buch, KPD-Parteitag in Hamburg (1954): Im Westen wenig Wissen lädt: „Wusstest du, dass ich schon 1955 mit Peter Rühmkorf auf ei- „Ich habe nach dem Verbot der FDJ wandert und hatte allein im Raum ner sechswöchigen Reise im kommu- die circa 100 illegalen Kader, die wir Nordrhein-Westfalen 100 verschiedene nistischen China war? Der war sauer, im Westen hatten, undercover in der kleine Zeitungen.“ weil ich damals zur Kontrolle sein Rei- legalen Massenarbeit eingesetzt. Wir Keines seiner Projekte sei aber so er- setagebuch gelesen habe … na ja, seit schickten unsere Leute zu den Natur- folgreich gelaufen, wie der „Studenten- dieser Reise esse ich halt gern chine- freunden, den Jusos und den Falken. Kurier“ und später die Zeitschrift „Kon- sisch.“ Das Ziel war, diese Verbände ideolo- kret“ – „die ich mit Ulrike und Kläus- Und dann schildert er mir aus- gisch mehr und mehr zu beeinflussen. chen zusammen gemacht habe und für führlich, wie zu seinen Zeiten die Ich habe an der Organisation der die ich das Geld bei der SED besorgte. Einflussnahme der KPD im Westen großen Friedenskongresse in War- Ich bin immer zur Partei gegangen und Deutschlands systematisch aufgebaut schau, Prag und Moskau, zu denen ich habe zu denen gesagt, gebt mir noch wurde: deinen Vater eingeladen habe, mitge- mal 40000 und noch mal 40000 DM. „Schon 1952 – ich war gerade illegal wirkt. Riesenerfolge, die uns Hunderte Ohne mich hätte es die Zeitschrift ‚Kon- geworden und als sogenannter Sekretär von neuen Parteimitgliedern einbrach- kret‘ nie gegeben, denn ich war es, der für Massenarbeit örtlich zuständig für ten, die dann wieder als Illegale für uns diese verrückte Zeitung bei der SED Hessen, Baden-Württemberg, Bayern arbeiteten.“ immer wieder durchgesetzt hat.“

48 der spiegel 11/2006 Seite, wird aber – anders als er – nicht ausgeschlossen und bleibt auch weiter- hin mit den Genossen in engem Kon- takt. Nach der gewaltsamen Befreiung des Topterroristen Andreas Baader mel- det sie sich aus dem Untergrund unver- züglich beim alten „Führungsoffizier“ Manfred Kapluck, der inzwischen wieder im Westen lebt und 1968 die DKP aufbau- en hilft. So bestätigt es der 79 Jahre alte Kämpe der überraschten Buchautorin: Deren Va- ter, dieser angsterfüllte „Kleinbürger“, habe der Partei eigentlich nie etwas be- deutet, umso mehr aber die leider in die Anarchie abgedriftete „Ulrike“. Es sei von höchster Stelle versucht worden, ihr und den Kindern in der DDR eine „neue Iden- tität“ zu beschaffen. Doch die Geschichte nimmt, wie man weiß, einen anderen Verlauf: Die KPD kann die vom System her offenkundig überlegene Bundesrepublik nicht ernsthaft erschüttern – und der Arbeiter-und-Bau- ern-Staat geht am Ende ebenso Bankrott, wie nach Jahren eines irrwitzigen Stadt- guerilla-Konzepts die „Rote Armee Frak- tion“ kapituliert. PRIVATARCHIV RÖHL PRIVATARCHIV Ehepaar Röhl (1963)*: Gelenkig auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Gleisen mal acht Jahre alt ist, als sie von Freun- Der „tolle Klaus“, schreibt seine Toch- dinnen ihrer in den Untergrund ver- ter, hat die von ihm etwas machohaft schwundenen Mutter mit der Zwillings- „Riki-Baby“ genannte Partnerin zu keiner schwester Regine nach Sizilien verfrachtet Zeit wirklich geliebt – aber was folgt dar- wird, will mehr: Sie befragt in einer auf- aus? Die Vermutung, dass es diese jähe wendigen Recherche Zeitzeugen und be- und bittere Erkenntnis gewesen sein könn- müht sich darüber hinaus, ein strecken- te, die Ulrike Marie Meinhof ad hoc zum weise eindrucksvoll dichtes familiäres und Terrorismus verführt, macht sich die Au- gesamtgesellschaftliches Sittengemälde zu torin nicht zu eigen. verfertigen. In einer durchgehend fast schon aufrei- Natürlich geht es dabei immer wieder zenden Nüchternheit, die jede Dämonisie- auch um das „Rätsel Ulrike Meinhof“. Ist rung vermeidet, setzt sich die 43-jährige es tatsächlich „verschmähte Liebe“ gewe- Journalistin mit der Mutter vorwiegend po- sen, die sie „zu Mord, Selbstmord, Tot- litisch auseinander. Sie beschreibt deren schlag und Weltbrandstiftung“ befähigt Entwicklung als einen ebenso kontinuier- hat, wie es in einem Vorwort der 1958 aus lichen wie letztlich unaufhaltsamen Pro- der „Konkret“-Redaktion ausgeschiedene zess, der zwangsläufig dazu führt, den Rühmkorf insinuiert? Bonner Staat als „faschistisches Monster“

Dass sich ihre Mutter an den flippigen zu halluzinieren. NPS Vater im Laufe der Jahre immer stärker „Wer ist diese ostfinanzierte 26-jährige Gefangene Meinhof (1975) bindet – während er sie betrügt –, schildert Göre“, fragt Bettina Röhl nur einmal etwas Terroristin aus „verschmähter Liebe“? auch die Tochter und belegt das mit einer erregter, „die sich selber aus der Haftung Anzahl nachgelassener Briefe. Die Bezie- ausnimmt und Deutsche in Gute und Böse Die von der Verfasserin ausführlich in- hung zerbricht, als Röhl seine Frau 1967 teilt“? Es geht dabei um einen Kommentar terviewten vormaligen Parteifreunde Kap- auf einer Silvesterparty vor aller Augen der Ulrike Meinhof – „Hitler in Euch“ –, luck und Röhl suchen derweilen auf ihre regelrecht demütigt. den die hochgelobte Kolumnistin 1961 aus alten Tage neuen Halt: Während der eine So endet eine eheliche Gemeinschaft, Anlass des Prozesses gegen Adolf Eich- bei der Linkspartei sein Know-how einzu- die sich bis dahin gelenkig und ohne alle mann in ihrem Blatt publiziert. bringen bemüht ist, hängt der andere nur Skrupel auf höchst unterschiedlichen ge- In der Retrospektive hält sie die verbies- schwer definierbaren national-konservati- sellschaftlichen Gleisen bewegt. Die bei- terte Mutter – die nach dem frühen Tod der ven Zirkeln an. den „Konkret“-Größen, die in ihrem Ma- Eltern von der Hausfreundin und späteren Überdauert hat eigentlich bloß das seit gazin einem an der Apo ausgerichteten re- Mitbegründerin der DFU, Renate Riemeck, 1974 von dem heute 65-jährigen Hermann volutionären Geist huldigen, gehören da aufgezogen wird – schon damals für in- L. Gremliza befehligte „Konkret“. Eine längst zum Hamburger Medien-Establish- nerlich abgereist. Ihre wahre Heimat, Zeit lang steht auch er im Verdacht, unter ment. Das feiert in Blankenese oder Kam- glaubt Bettina Röhl, ist der jeweilige Auf- dem Decknamen „Spieler“ nachrichten- pen auf Sylt fröhliche Feste. enthaltsort der verbotenen Kommunisten. dienstlich zugunsten der DDR tätig gewe- Beim „Konkret“-Krach 1964 steht Ulri- sen zu sein, doch das Ermittlungsverfahren * Beim Deutschen Derby in Hamburg-Horn. ke Meinhof formal zwar ihrem Mann zur wird eingestellt. Hans-Joachim Noack

der spiegel 11/2006 49 Deutschland ZAHID HUSSEIN / REUTERS Protest gegen Mohammed-Karikaturen (im März in Karachi): „Wer manipuliert eigentlich Millionen von Menschen?“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Dialog kennt auch Kritik“ Der Mainzer Kardinal Karl Lehmann, 69, über Religion und Gewalt, den Zustand seiner Kirche und das erste Jahr Papst Benedikts XVI.

SPIEGEL: Herr Kardinal, waren Sie schon Ländern Christen seit Jahrzehnten verfolgt mal in einer Moschee? werden. Dialog ist kein Geschwätz, son- Lehmann: Ja, durchaus, etwa in der Aksa- dern kennt neben dem Bemühen um Kon- Moschee in Jerusalem und in den Ländern sens auch Dissens und Kritik. der Sahelzone, aber selten in Deutschland. SPIEGEL: Aber sie ist offenbar wirkungslos. Hier ist ein regelmäßiger Dialog mit Mus- Lehmann: Für mich ist eine entscheidende limen wegen der Vielzahl der Ansprech- Frage, die an die Wurzel des Islam geht: partner auch nicht ganz einfach. Ich möch- Wie weit ist dessen Gottesbild mit Katego- te nicht versehentlich in eine islamistisch rien der Gewalt verbunden? Mohammed orientierte Moschee gelangen. ist ein Krieger und ein Sieger. Das christli- SPIEGEL: Was empfindet ein Gottesmann, che Kreuz ist im Islam ein Zeichen des

wenn er Szenen der Gewalt sieht, die ja im HUSCH / TERZ! STEFAN Verlierers: Mit einem Gott, der leidet und Namen Gottes verübt werden? Kardinal Lehmann gar stirbt, können die Muslime nichts an- Lehmann: Zunächst Entsetzen. Und na- „Mohammed ist ein Krieger“ fangen. türlich stelle ich mir die Frage: Wer SPIEGEL: Der Vatikan hat sich im Streit um manipuliert eigentlich Millionen von Men- ausgeübt wurde. Denken wir auch an die die Mohammed-Karikaturen nur zu ei- schen und instrumentalisiert ihren Glau- kirchliche Kolonialismus-Kritik. ner lauen Erklärung durchgerungen: Mei- ben, so dass es zu diesen Gewaltausbrü- SPIEGEL: Gehören Gewalt und Missbrauch nungsfreiheit ja, aber man muss auch die chen kommt? des Glaubens zwangsläufig zur Religion? religiösen Gefühle der anderen berück- SPIEGEL: Vielen Menschen drängt sich der Lehmann: Nein. Aber jede Religion muss sichtigen. Ist das nicht zu dürftig angesichts Verdacht auf: Religion ist eine Geißel der sich davor hüten, der Versuchung zu un- einer Situation, in der alles auf einen Gesellschaft, nicht deren Befreiung. terliegen, sich mit Gewalt durchzusetzen Kampf der Kulturen zuläuft? Lehmann: Wenn Sie diesen Topos der Reli- oder sich von außen dafür instrumentali- Lehmann: Einen solchen Clash sehe ich gionskritik benutzen, müssen Sie differen- sieren zu lassen. trotz allem nicht. zieren: Religion ist nicht per se gewalt- SPIEGEL: Müssten die christlichen Kirchen, SPIEGEL: Aber was ist das dann, wenn täg- trächtig. Aber als Verkünder einer religiö- als gebrannte Kinder aus jahrhundertelan- lich im Namen eines Gottes Menschen um- sen Botschaft muss ich mich auch immer ger eigener Erfahrung, nicht den Miss- gebracht werden? wieder selbstkritisch fragen, wo meine Re- brauch des Islam viel stärker kritisieren? Lehmann: Was mich erschreckt und tief be- ligion entstellt wird. Nicht erst zur Zeit der Lehmann: Diese Kritik gibt es durchaus. unruhigt, ist, dass relativ kleine Gruppie- Kreuzzüge gab es innerhalb der Kirche Nicht nur bei uns, sondern zum Beispiel rungen noch ein halbes Jahr nach der Ver- Kritik an Gewalt, die im Namen Gottes auch in Afrika, wo in einigen islamischen öffentlichung der Karikaturen weltweit die-

50 der spiegel 11/2006 sen Ausbruch von brutaler Gewalt anzet- gibt es in vielen katholischen Kindergärten teln können. Das Grundproblem liegt aber Kurse für Kindergärtnerinnen zum Um- tiefer. Für uns im Westen hat Botho Strauß gang mit islamischen Kindern, über isla- im SPIEGEL ja zu Recht darauf hingewie- mische Feste und Lebensgewohnheiten. sen, dass es vor allem durch den Zerfall des Doch Integration ist ein Problem, das die Sakralen eine gewisse Rücksichtslosigkeit ganze Gesellschaft angeht, nicht nur die und Unsensibilität im Hinblick auf Reli- Kirche. Was von der Gesellschaft bisher gionen gibt. Dieser Westen trifft auf einen an Integration versucht worden ist, ist im Islam, der in der sich globalisierenden Mo- Grunde lächerlich. Wir haben zum Bei- derne weithin noch nicht angekommen ist. spiel die Sprache sträflich vernachlässigt. Dies erzeugt heftige Spannungen, die aber SPIEGEL: Die Sprache ist aber nur der erste nicht – noch nicht – zum Zusammenprall Schritt. der Kulturen führen müssen. Lehmann: Natürlich, aber eine elementare

SPIEGEL: Aber für die fehlenden Reformen PRESS ACTION Voraussetzung. Wenn ich früher die 300 der islamischen Welt ist doch nicht das Papst Benedikt XVI. Meter zum Erbacher Hof, unserem Bil- Christentum verantwortlich. „Die Kurie reformieren“ dungszentrum, oder zum Priesterseminar Lehmann: Nein, das habe ich ja auch nicht ging, kam ich an einer Dönerbude vorbei. gesagt; aber das etwas herablassende Über- Außerdem bin ich beim Dialog skeptisch Jedes Mal, wenn ich in Bischofskleidern legenheitsgefühl von westlicher Seite hat gegenüber allem, was nur von oben kam, legte der Verkäufer, der vor seiner zu einer Aggression auf der anderen Seite kommt. Bude stand, seine Hand an den Hals und geführt. Ich legitimiere sie nicht, aber ich SPIEGEL: In Ihrer Kirche kommt doch ei- machte eine Bewegung, als wolle er mir will verständlich machen, warum es sie gentlich alles von oben. die Kehle durchschneiden. Ich bin dann gibt. Der Islam kann in seiner Geschichte Lehmann: Das ist ein Märchen. Der Dialog einmal auf ihn zugegangen und wollte ein ja große kulturelle, architektonische und muss auf allen Ebenen ansetzen, die paar Worte mit ihm reden, aber er hat kein technische Errungenschaften aufweisen. schwierigste in diesen Fragen ist die unte- Wort verstanden. Jetzt ist dort ein anderer SPIEGEL: Müssen wir nicht vielmehr danach re Ebene. Wenn da nichts in Bewegung Verkäufer, der sehr freundlich ist und auch fragen, warum Teile des Islam sich nicht kommt, dann pflanzen Sie alles in die Luft. gut Deutsch spricht. weiterentwickelt haben? Es gibt bei uns in Deutschland ein paar SPIEGEL: Vor sieben Monaten konnte man Lehmann: Mir ist dieses Problem bei den ganz vorbildliche Orte, wo ein echter, sehr im Fernsehen Religion ganz anders erleben. Auseinandersetzungen um den Schah von konstruktiver und guter Dialog geschieht. Da versammelten sich Hunderttausende Persien bewusst geworden: Wie weit kann Vielerorts hat aber dieser Dialog noch gar junge Menschen in Köln. Eine Million fei- man moderne Technik und in vielem auch nicht erst begonnen. erten mit dem Papst die Messe. Also ist Re- moderne Lebensweisen übernehmen und SPIEGEL: Das klingt so, als seien Sie voll- ligion doch Friede, Freude, Eierkuchen? zugleich glauben, dass der vormoderne kommen ratlos. Lehmann: Ich habe von Anfang an gehofft, Staat und der autoritäre religiöse Hinter- Lehmann: Wir tun ja etwas, aber darüber dass wir in Köln erleben werden, wie jun- grund davon unberührt bleiben? wird wenig berichtet, weil es nicht spekta- ge Menschen trotz einer in manchen Län- SPIEGEL: Was könnte die Kirche tun, um in kulär ist. Wir haben seit fast 30 Jahren in dern oft desolaten Lage, aus der sie kom- diesem Glaubenskrieg zu vermitteln? Soll- Frankfurt eine Christlich-islamische Be- men, eine für uns selten gewordene Hoff- te nicht der Papst die Religionsführer zu ei- gegnungs- und Dokumentationsstelle, die nung und Zuversicht ausstrahlen. Das war nem Gipfeltreffen zusammentrommeln? sich für Informationen bereithält und unter beim Weltjugendtag deutlich zu spüren. Lehmann: Wenn der Glaube zu politischen anderem einen akademischen Aufbaustu- Natürlich hatten die Teilnehmer auch an- Zwecken instrumentalisiert wird, ist dies diengang für das Gespräch mit dem Islam dere, irdische Motive. Die Leute sind neu- schlimm, aber es ist kein Glaubenskrieg. anbietet. Im Bistum Mainz und anderswo gierig, gerade auch auf Fremdes, und rei- sen gern. Das war bei den mittelalterlichen Pilgerzügen und bei Wallfahrten auch nicht anders. SPIEGEL: Und was bleibt davon? Lehmann: Wir machen uns gerade jetzt vie- le Gedanken, wie wir das aufnehmen kön- nen. Es ist völlig klar, dass ein solcher Event einmalig ist, den kann man nicht konservieren. Wir hatten auch sonst Glück: Die Art und Weise, wie das Leben von Jo- hannes Paul II. zu Ende ging, wie er es selbst bis zum Schluss gestaltete, und die Wahl seines Nachfolgers aus unserem Land haben für das Kölner Treffen günstige Rah- menbedingungen geschaffen. Diese wirken sich bis heute aus. SPIEGEL: Wo zum Beispiel? Lehmann: Wir haben im letzten Jahr insge- samt etwa ein Drittel weniger Kirchenaus- tritte gehabt, wir hatten aber auch dreimal mehr Kircheneintritte zu verzeichnen als vorher, die meisten waren Wiedereintritte. SPIEGEL: Aber die Kirche verliert nach wie vor in erheblichem Maße Mitglieder.

MARC BECKMANN MARC Lehmann: Da müssen Sie den gesamten de- Christliche Pilger (beim Weltjugendtag bei Köln): „Eine Wellness-Religion bringt nichts“ mografischen Wandel mit in Rechnung

52 der spiegel 11/2006 Seine erste Enzyklika „Deus caritas est“ handelt auf hohem theologischem Niveau von der Liebe. Wer kann damit etwas an- fangen? Lehmann: Offenbar mehr Leute, als Sie denken. Seien Sie doch mal froh, dass es dem Papst in dieser Enzyklika, wenn er von der Liebe spricht, auf die fundamen- talen Grundhaltungen ankommt, ohne die nichts geht. Ich denke mir, dass es genug Leute gibt, die sich maßlos ärgern, dass der Papst bestimmte Normen in dieser En- zyklika nicht stärker einhämmert. Man darf natürlich nicht glauben, dass der frühere Präfekt der Glaubenskongregation das, was er in einem Vierteljahrhundert vertreten hat, außer Kraft setzt.

DARKO BANDIC / AP BANDIC DARKO SPIEGEL: Wie beurteilen Sie die bisherige Globalisierungsgegner (im Juli 2001 in Genua): „Soziale Marktwirtschaft verteidigen“ Amtszeit des neuen Papstes? Lehmann: Nach dem Tod von Johannes stellen. Es sterben eben mehr Leute als ge- schiedliches Zugehörigkeitsgefühl zur Kir- Paul II. hat sich jeder gefragt: Wie kann das boren werden. Für mich ist es schon mal che, und das gab es schon immer. Im Übri- weitergehen? Wer hat ein auch nur ir- positiv, wenn nicht mehr wie vor Jahren gen bin ich bei einem so tiefen und viel- gendwie vergleichbares Charisma? Das war auf einem Höhepunkt 8500 Leute im Bis- schichtigen Thema wie der Gottesfrage ja auch bei der Papstwahl für jeden Kardi- tum Mainz austreten. Wenn es jetzt noch nicht so sicher, ob rasche, kurze Antworten nal eine ganz entscheidende Frage. Bene- 3000 sind, bedauere ich jeden einzelnen immer treffsicher sind. dikt XVI. ist es erstaunlich gut gelungen – Austritt noch immer. Wir wollen jeden Ein- SPIEGEL: Herr Kardinal, Papst Benedikt dank seiner Nähe zu seinem Vorgänger, zelnen gewinnen. Im Übrigen sind die Zah- XVI. ist jetzt knapp ein Jahr im Amt. Sei- dank seines hohen Ansehens als Theologe len von 2005 wichtig, sie sind günstiger. ne Linie scheint zu sein: Weiter so wie bis- in aller Welt und auch dank der großen SPIEGEL: Also herrscht doch Aufbruchstim- her! Reicht das aber, um die Kirche vor- und schnellen Mehrheit für ihn –, bei der mung? anzubringen? Wahl Vertrauen aufzubauen. Im Vergleich Lehmann: Aufbruchstimmung, die durch- Lehmann: Sofort nach der Wahl habe ich zu seiner Zeit als Präfekt der Glaubens- aus vom Kölner Treffen ausgegangen ist, ist gesagt: Benedikt XVI. ist für Überra- kongregation ist er freier und weiter ge- es nicht allein. Religion braucht feste Orte schungen gut. Ich glaube fest daran. Aber worden. Ich erhoffe mir, dass die eigene im Alltag und eine dauerhafte Gemein- er lässt sich nicht drängen. Er hat den Handschrift des Papstes immer stärker er- schaft, die den Einzelnen trägt. Mit Reli- Theologen Hans Küng in Castelgandolfo kennbar wird. gion als Wellness, als Ort des Sichwohl- empfangen, das hat ihm niemand sugge- SPIEGEL: Die Gerechtigkeit kommt in der fühlens, kann ich nicht viel anfangen. Eine riert oder in der Presse nahegelegt. Ich bin ersten Enzyklika nur am Rande vor. Sie Wellness-Religion, wo man die harten Fak- gespannt, ob er nicht in nächster Zeit eine selbst aber haben vor Jahren angemahnt, ten mehr oder weniger verdrängt, bringt Reform der Kurie in Angriff nimmt. der neue Papst müsse sich der Gerechtig- uns außer ein bisschen Stimmung gar SPIEGEL: Was gibt es da zu reformieren? keitsfragen bald annehmen. Hat Benedikt nichts. Lehmann: Es ist nicht zu verstehen, warum XVI. Ihre Erwartungen bisher erfüllt? SPIEGEL: So sieht es offenbar auch Benedikt die leitenden Leute der Kurie nicht ähnlich Lehmann: Ja. Ich bin der Meinung, dass XVI. Der damalige Kardinal Ratzinger soll wie in einem Kabinett öfter mit dem Papst im zweiten Teil der Enzyklika dazu nach dem Weltjugendtag in Rom im Jahr zusammenkommen. Manches zwischen schon einige bemerkenswerte Dinge ste- 2000, als er hörte, dass der Uni-Campus den einzelnen Kurienbehörden muss auch hen. Dass die Kirche, wenn Menschen- mit Kondomen übersät war, gesagt haben: besser aufeinander abgestimmt werden. rechte untergraben werden, zum Protest Auf diese Leute kann die Kirche verzich- Ich höre immer wieder, dass der Papst sagt: antreten muss, ist sehr deutlich gesagt. ten. Teilen Sie dieses Urteil? Ich werde mir ein Jahr lang alles genau Richtig ist auch, dass die Soziallehre fort- Lehmann: Ich kenne weder das Faktum anschauen und dann handeln. geschrieben werden muss, weil die Fra- noch das Wort des heutigen Papstes dazu. SPIEGEL: Das sind organisatorische Fragen. gen, wie man konkret mit der Globali- In jedem Fall gilt, die Kirche will auf nie- Zu den wirklich drängenden innerkirchli- sierung und ihren Folgen umgeht, nicht manden verzichten. Und sie tut es auch chen Problemen – Teilhabe der Frauen an weggeschoben werden können. Auch bei nicht. Mir sagen immer wieder junge Leu- kirchlichen Ämtern, Zölibat, Ökumene – vielen Fragen nach der sozialen Gerech- te: Ich spare jetzt schon für Australien, wo hat sich der Papst bisher nicht geäußert. tigkeit kann man nicht mehr nur die alten 2008 der nächste Weltjugendtag stattfin- Formeln wiederholen, so richtig diese frei- det. Da merkt man, dass das Feuer durch- lich bleiben. Benedikt XVI. hat übrigens aus weiterbrennt. öfter und von Anfang an zur Gerechtigkeit SPIEGEL: Selbst unter Katholiken und Pro- gesprochen. testanten glauben nach Umfragen weniger SPIEGEL: Gibt es demnächst eine Sozial- als die Hälfte an einen persönlichen Gott. enzyklika von Benedikt XVI.? Lehmann: Wenn ich nicht an einen persön- Lehmann: Ich hoffe es. Auch zur notwendi- lichen Gott glaube, dann brauche ich auch gen Verteidigung der sozialen Marktwirt- nicht in den Gottesdienst zu gehen. Die so schaft gegenüber einem arroganten Neo- reden, gehören nicht zum kirchlichen liberalismus müssen wir ganz deutlich Kern. Aber es gibt sehr wohl ein unter- Flagge zeigen. Aber man muss ihm dafür

STEFAN HUSCH / TERZ! STEFAN Zeit lassen. * Martin Doerry, Peter Wensierski, Ulrich Schwarz in Lehmann, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Kardinal, wir danken Ihnen Lehmanns Amtssitz in Mainz. „Ganz deutlich Flagge zeigen“ für dieses Gespräch.

56 der spiegel 11/2006 Deutschland

Menschen umgehen“, verspürten kaum liche Zukunft in der Altenpflege vorstellen, AUSBILDUNG noch Ekelgefühle und hätten „null berichtet Zohren. Sie selbst schaffte den Berührungsängste“. Absprung Ende der neunziger Jahre. Fähigkeiten, die sie von vielen Schwes- Bei ihrem Job im eigenen SM-Studio Vom Straps zur ternschülerinnen und zukünftigen Pflegern machte sie einst in Lack und Leder erfolg- unterscheide, sagt Kühn. „Beste Startvor- reich auf gestrenge Herrin – und erfüllte aussetzungen“ attestiert sie den Prostitu- manch einem Kunden Wünsche, die nicht Schnabeltasse ierten – und will nun zunächst 30 Frauen weit entfernt sind von der Arbeit mit Bett- In Nordrhein-Westfalen zwischen 20 und 40 Jahren knapp zwei pfannen, Schnabeltassen und Waschlap- Jahre lang über Kurse und Praktika ans pen. Oft genug sei sie sich zudem vorge- werden Huren zu Altenpflegerinnen neue Berufsleben heranführen. kommen wie eine Sorgentante mit Peit- umgeschult. Prostituierte, so Für Gisela Zohren, 56, kommt das un- sche. „Ich habe auch gelernt, zuzuhören meinen Experten, seien für diesen gewöhnliche Ausstiegsmodell genau zur und Geborgenheit zu vermitteln“, sagt Beruf besonders geeignet. richtigen Zeit. Die ehemalige Star-Domina, Zohren, „daran fehlt es in der Altenpflege die das Projekt in Dortmund betreut, ar- doch oft, oder?“ ie nannte sich „Angie“ und lockte als beitet bei der „Mitternachtsmission“, ei- Für Heinz Oberlach von der Bundes- „vollbusige Blondine aus Bochum, ta- ner Anlaufstelle für Prostituierte, die 1918 agentur für Arbeit klingt das alles „sehr Sbulos und rund um die Uhr zu errei- gegründet wurde und noch nie so viel zu schlüssig“ – auch darum, weil fast nir- chen“. Sie befriedigte Machos und Mut- tun hatte wie heute. Aus dem Milieu drin- gendwo so händeringend nach neuen Kräf- tersöhnchen, Arbeiter und Akademiker, gen derzeit nur noch schlechte Nachrichten ten gesucht werde wie in Seniorenheimen Alte und Junge. Sie lernte, sich auf völlig in die Dreizimmerwohnung im zweiten und bei sozialen Hilfsdiensten. Derzeit sei- unterschiedliche Charaktere und Bedürf- Stock eines Siebziger-Jahre-Baus. en bundesweit 6400 Stellen als unbesetzt nisse einzustellen. Sechs Jahre lang, täglich Im Besprechungsraum, wo die Wände gemeldet. „Das greift doch ineinander wie vier- bis fünfmal. Dann bekam sie ein vollgeklebt sind mit Schwarzweißfotos von zwei Puzzleteile“, lobt Oberlach. Kind, stornierte ihre Zeitungsanzeige und der Beratungsarbeit in Bordellen und auf Um potentiellen Arbeitgebern die Ängs- wechselte das Metier. dem Straßenstrich, klagt Zohren über zu- te zu nehmen, wollen Zohren und die Be- H.-DIETER ZINN / LAIF (L.); HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS (R.) SCHWARZBACH H.-DIETER ZINN / LAIF (L.); HARTMUT Bordell in Bochum, Pflegeheim in Hamburg: „Kaum noch Ekelgefühle, null Berührungsängste“

Angie, die Hure, wurde zu Angelika, nehmenden Konkurrenzdruck. Tausende treuerinnen aus Bochum und Münster in der Seniorenpflegerin, Mitarbeiterin eines neue Sexarbeiterinnen seien in den ver- den kommenden Wochen auf Werbetour mobilen sozialen Dienstes. Sie trägt ihr gangenen drei Jahren auf den Markt der gehen. „Unsere Gesprächspartner sollen Haar nun kurz und braun gefärbt, sie hat käuflichen Liebe geströmt – und längst erkennen, das Prostitution echte Qualifi- die Stilettos gegen bequeme Turnschuhe nicht nur Frauen aus Osteuropa: Es sind kation bedeuten kann“, sagt Zohren. Von ausgetauscht, und sie hilft nicht mehr bei Mütter, die Haushaltslöcher stopfen, Aka- zukünftigen Personalchefs erhofft sich Ko- der Triebabfuhr, sondern beim Abspülen, demikerinnen, die vergebens nach Arbeit ordinatorin Kühn absolute Diskretion. Es Baden und Verbändewechseln. „Es fällt suchen, und Schülerinnen, deren Eltern müsse vermieden werden, dass ein Senior mir leicht“, sagte Angelika, die gerade ihre kein Taschengeld zahlen können. auf die Idee komme, der neuen Mitarbei- Ausbildung beendet hat. „Die Jobmisere hat voll zugeschlagen“, terin auch Liebesdienste abzuverlangen. Was die Bochumerin aus eigener Kraft sagt Zohren, die die Zahl der nordrhein- Ex-Prostituierte Angelika ist froh, dass schaffte, soll in Nordrhein-Westfalen nun westfälischen Prostituierten auf etwa 50000 Kollegen und Kunden nichts wissen von vielen Sexarbeiterinnen ermöglicht wer- schätzt. Der Effekt des Überangebots sei ihrer Vergangenheit im Rotlichtmilieu. Sie den: weg von der Straße, rein ins Senioren- ein „dramatischer Preisverfall“: Mittler- fühlt sich „sehr wohl“ in ihrem Job – auch heim. Für die Umschulung spendieren das weile bekämen die Freier für 30 Euro fast wenn sie als „Angie“ zu den Gutverdie- Land und der Europäische Sozialfonds in alles, was sie sich wünschten. Richtig ver- nern zählte und nun nicht einmal mehr die einem ersten Modellversuch über eine dient werde nur noch bei Großveranstal- Hälfte kassiert. Wegen des Kostendrucks Million Euro. tungen wie der Dortmunder Messe „Jagd im Gesundheits- und Pflegewesen habe sie „Ein naheliegender Schritt“, lobt Rita und Hund“, die beständig ein besonders allerdings nicht mehr ganz so viel Zeit für Kühn von der Diakonie Westfalen, die das sexgieriges Publikum in die Stadt locke. ihre Kunden. „Früher habe ich auch schon Projekt koordiniert und deren Organisa- Mindestens die Hälfte ihrer Klientinnen mal eine halbe Stunde lang zugehört“, sagt tion bundesweit Seniorenheime betreibt. wolle daher raus aus dem Rotlichtmilieu – sie, „jetzt geht das nicht mehr so gut.“ Prostituierte könnten „allgemein gut mit und „die meisten“ könnten sich eine beruf- Guido Kleinhubbert

der spiegel 11/2006 59 Szene Gesellschaft Was war da los, Herr Steffens? Der Hartz-IV-Empfänger Jens Steffens, 53, über ein Kunstfoto der Fotografin Kristine Thiemann

„Meine Tage sind vor allem langweilig: aufstehen, aufs Arbeitsamt, Glotze. Als mir da in meinem Stammlokal eine junge Fotografin sagte, sie wolle ein Foto ma- chen über unterschiedliche Menschen aus Norderstedt, die in Einkaufswagen sitzen, schien mir das eine nette Abwechslung – obwohl ich natürlich dachte, die hat einen Knall. Am nächsten Tag hat sie mich ab- geholt und hatte noch andere Herren da- bei. Wir sind dann zum Schrottplatz und mussten Badehosen anziehen. Nach zwei Stunden war alles vorbei. Es war schön, mal wieder unter Menschen gewesen zu sein. Seit vier Jahren suche ich Arbeit als Hafenfacharbeiter. Als ich meinem Kumpel das Foto gezeigt habe, war das Gelächter groß. Bis heute rätseln wir, was die Botschaft ist. Vielleicht ist der Foto-

grafin auch manchmal bloß langweilig.“ THIEMANN KRISTINE

Steffens (l.)

FREUNDSCHAFTEN INTERNET Picasso und Lump Ein bisschen schwul s soll vorkommen, dass sich Hunde ihre Herren wählen. Sein chon Sexualforschungspionier Alfred Kinsey vermu- Ejunger Dackel Lump jedenfalls, so berichtet der Fotograf David Stete, dass sich die wenigsten Menschen ausschließ- Douglas Duncan, sei bei einem Picasso-Besuch 1957 auf dessen lich für nur ein Geschlecht interessieren. Der ameri- Grundstück in der Nähe von Cannes aus dem Auto gesprungen und kanische Psychologe Robert Epstein will Kinseys These habe zu verstehen gegeben: Hier bleibe ich. Entzückt von Lumps jetzt bewiesen haben. Unter der Internet-Adresse Interesse für Menschen, Tiere und Skulpturen im Garten der Villa www.mysexualorientation.com lässt Epstein Interessierte La Californie verewigte Picasso den Kurzhaardackel noch am sel- 20 Fragen zu sexuellen Phantasien und tatsächlichem ben Tag. Duncan reiste ohne Lump wieder ab, der folgte nun sei- Verhalten beantworten („Wären Sie geneigt, Sex mit je- nem neuen Herrn, immer in der Hoffnung, Picasso werde – statt zu mandem vom gleichen Geschlecht zu haben?“). An- malen – mit ihm spielen. Nun hat Duncan, der Picasso noch öfter schließend erfahren die Orientierungsuchenden auf einer fotografierte, die Bilder der Dreiecksbeziehung zwischen Picasso, 14-stelligen Skala, wie homo- oder heterosexuell sie an- dessen späterer Ehefrau Jacqueline und Lump als kommentierten geblich sind – und wie flexibel sie bei der Partnerwahl Bildband herausgegeben. Die sein könnten. Nach der Auswertung der ersten 750 Fra- Fotos geben Einblicke in das gebogen jubelt Epstein über „phantastische“ Erkenntnis- Leben auf La Californie: die se: Nur vier Prozent der Befragten seien eindeutig sich selbst überlassenen Kinder schwul oder „straight“, bei den Übrigen zeige sich oft ein Claude und Paloma, Jacque- dramatischer Unterschied zwischen wahrgenommener lines unbeantwortet bleibende und tatsächlicher Orientierung. Die meisten Menschen Zärtlichkeit gegenüber dem wären damit, wie schon immer vermutet, wenigstens ein Maler, dazwischen Lump, von „bisschen bi“. Bestätigt sieht Epstein auch die These, dem Picasso sagte, er sei weder dass Frauen Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht of- Hund noch Mensch, sondern fener gegenüberstehen als Männer. Wegen seiner Ergeb- „wirklich jemand anderes“. nisse rechnet er jetzt mit Protesten – von Schwulen und Lesben, die ihr Selbstbild gefährdet sehen könnten. Auch sein eigenes Profil erschreckte den Wissenschaftler: Er David Douglas Duncan: „Picasso & Lump. A Dachshund’s Odyssey“. Benteli Verlag, sei eindeutig heterosexuell, seine Flexibilität liege bei Bern; 100 Seiten; 19,80 Euro. Picasso, Lump null. „Ziemlich langweilig“, sagt Epstein.

der spiegel 11/2006 63 Gesellschaft Szene

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Die Waage zu Hause zeigte 14,75 Ki- logramm, macht vielleicht eine halbe Million Dollar oder mehr. Ambra, der Stoff, den die Wrights Ein Haufen Glück gefunden hatten, ist eine organische Substanz, sie entsteht im Magen von Wie ein Fischer und seine Frau beinahe stinkreich wurden Pottwalen. Alles, was der Wal nicht verdauen kann, die harten Kiefer von as Ding lag am Strand, grau und Jury am Telefon: „Ambra. Herzlichen Tintenfischen beispielsweise, wird im unscheinbar wie ein verrotten- Glückwunsch.“ Magen verklumpt und von einer öligen Dder Baumstumpf, und Loralee Knapp zwei Wochen nach ihrem Masse zusammengehalten. Wright hätte es beinahe übersehen. ersten Fund fuhren Leon und Loralee Ab und zu stößt der Wal diese Klum- Leon, ihr Mann, stand unten am Was- Wright wieder an den Strand. Hoffent- pen aus, mit einer beachtlichen Laut- ser, angeblich gab es heute junge Lach- lich war das Ding noch da. Ambra wird stärke. Das sei beeindruckend, gerade- se da draußen, manchmal kommen in der Parfumherstellung benutzt, es zu erhaben, berichtet Ken Jury. ganze Schwärme fast bis an den Strand. soll ungeheuer wertvoll sein, stand im Andererseits: Was da so großartig Australischer Lachs, nicht verwandt mit Internet. Ken Jury glaubte sich zu klingt, sind immer noch die Kotzgeräu- dem echten Lachs aus dem Atlantik, erinnern, dass ein Gramm zwischen sche eines Wals, und was der Wal da nicht sehr schmackhaft, aber beliebt bei 20 und 65 US-Dollar koste. Das klang so von sich gibt, schwimmt auf der Ober- Sportanglern. Leon könnte Touristen schön, das musste man einfach glauben. fläche und verbreitet einen widerwärtig zum Lachsfischen schippern, das bräch- Leon und Loralee sahen Reifenspu- fauligen Gestank. Kein Mensch käme te ein bisschen Geld in die Kasse. ren im Sand, verflixt, da war jemand auf die Idee, daraus Parfum zu machen. Loralee, seine Frau, saß im Auto Erst nach gut zehn Jahren auf See und sah sich die Gegend an. haben Sauerstoff und Sonne den Schließlich stieg sie aus dem Su- Brocken in etwas Wertvolles ver- zuki-Geländewagen und stapfte auf wandelt. diesen merkwürdigen Klumpen zu, Schon im alten Ägypten wurde den sie da hinten entdeckt hatte. Ambra benutzt, man nahm es für Sie stupste mit dem Fuß dagegen: Duftkerzen und Wässerchen. Ins Ein Baumstumpf war das nicht. Sie Parfum gemischt, bindet Ambra die rief ihren Mann herbei. anderen Düfte, es sorgt dafür, dass Leon und Loralee leben in Strea- das Aroma nicht so schnell ver- ky Bay, Südaustralien. Loralee ist fliegt. Anfang dreißig, ihr Mann fast 20 Mittlerweile, und das hat Ken Jahre älter. Die beiden sind Fischer, Jury leider so genau nicht gewusst, sie haben es zu bescheidenem sind die Parfumhersteller dazu

Wohlstand gebracht: ein Haus, ein KEN JURY übergegangen, die Ambra-Duft- Boot, zwei Autos. Loralee Wright, Ambra-Klumpen stoffe synthetisch herzustellen. Nie- In letzter Zeit liefen die Ge- mand braucht mehr das echte, teu- schäfte schlecht: Die Fischbestän- re Ambra. Loralees Fund ist nur de schrumpfen, es gibt strenge theoretisch wertvoll. Fangquoten, und die Provinzregie- Anfang Februar, nachdem die rung plant eine Sperrzone direkt Nachricht aus Streaky Bay in den vor Streaky Bay. Die Wrights müss- australischen Zeitungen gestanden ten zum Fischen noch weiter raus- hatte, erfuhren die Wrights noch fahren. Das kostet. etwas: Selbst wenn sie einen Käufer Loralee und Leon untersuchten fänden, sie dürften das Ambra den Klumpen. Die Oberfläche ein gar nicht verkaufen. Gemäß einem bisschen spröde, wie ausgehärtet in internationalen Abkommen sind der Sonne, das Innere schien wei- Aus der „Bild“-Zeitung Pottwale besonders geschützt. cher, öliger zu sein. Es roch süßlich, Jeglicher Handel mit Pottwalen – aber gleichzeitig streng nach Meer, ein vor ihnen gefahren. Doch dann be- oder Teilen davon – ist verboten, und bisschen faulig, wie alter Seetang. Or- schrieben die Spuren einen Bogen – der als Pottwalteil gilt auch ihr Erbro- ganisch, fand Leon Wright. Eine Zyste andere war dem vermeintlichen Baum- chenes. von einem sehr großen Fisch vielleicht. stumpf ausgewichen und an seinem Heimlich verkaufen ginge nicht, Leon schlug vor, das Ding mit nach Glück vorbeigerauscht. dafür sind die Wrights nun zu bekannt. Hause zu nehmen. „Auf gar keinen Fall“, Jetzt noch schnell den Heiße-Nadel- Legal könnte höchstens ein For- antwortete Loralee, „dieses Teil kommt Test, so wie Ken Jury, der Experte, es schungslabor das Ambra erwerben, nicht ins Auto.“ Ende der Diskussion. geraten hatte: Eine Nadel erhitzt, leicht aber welches Labor braucht 14 Kilo- In den nächsten Tagen, es war Mitte drang sie durch die Oberfläche, dann gramm Ambra zum Forschen? Januar, forschte Loralee im Internet. roch es muffig-marin. Volltreffer. Leon Der Fischer und seine Frau sind wei- Schnell hatte sie einen Verdacht. Sie rief und Loralee tanzten über den Strand. terhin arm. Der Klumpen Ambra liegt Ken Jury an, einen pensionierten Jour- Wie viel mochte das Ding wiegen? im Schließfach der Bank, eingepackt in nalisten, Fachmann für Meeresbiologie. Acht, neun, zehn Kilo? Sie waren reich, eine Plastiktasche, damit es nicht so „Wahrscheinlich hast du recht“, sagte reich, reich. Stinkreich sozusagen. stinkt. Ansbert Kneip

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Wahlkämpfer Klitschko (auf einer Armee-Veranstaltung in Wasilkow), Kontrahentin Timoschenko (Wahlplakat): Wie eine Zeitreise zurück

KARRIEREN Der Außerirdische Am 26. März entscheidet die Ukraine über ihre Zukunft: 45 Parteien treten an in diesem zerrissenen Land, der Wahlschein ist 78 Zentimeter lang. Auch der Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko, berühmt geworden im Westen, stellt sich den Wählern. Es ist sein schwerster Kampf. Von Hauke Goos

in Donnerstag im Winter, grauer Die Ukraine feiert an diesem Donners- gen Leuten, die Marketing studieren, es ist Himmel über grauen Schneeresten, tag den „Tag der Verteidiger des Vaterlan- ein Termin, der nach Aufbruch klingt. Ezwei Grad über null, Wasilkow, eine des“, im großen Saal des Kulturpalasts Andererseits braucht Klitschko die Stim- Kleinstadt südlich von Kiew: Es ist kurz beschwören die ukrainischen Streitkräfte men der Alten, wenn er bei den Wahlen vor elf Uhr, als Vitali Klitschkos schwarzer ihre Vergangenheit, den Sieg der ruhm- am 26. März erfolgreich sein will: Er kan- Toyota Landcruiser vor dem Kulturpalast reichen Roten Armee über Nazi-Deutsch- didiert für das ukrainische Parlament, stoppt. Der Wagen hat acht Zylinder, land. gleichzeitig will er Bürgermeister von Kiew mächtige Stoßstangen und schwarzgetönte Wasilkow ist nicht viel mehr als ein werden bei der Kommunalwahl, die am Scheiben. Wäre dies ein amerikanischer Stützpunkt der Luftwaffe mit ein paar selben Tag stattfindet. Ohne die Vergan- Film über die Ukraine, dann würde jetzt Wohnblocks drum herum, es gibt einen genheit gibt es für ihn keine Zukunft. ein halbes Dutzend Mafiosi aus dem Wa- Flugplatz und eine Pilotenschule. Vor dem Er ist ein paar Minuten zu früh am Kul- gen springen und das Feuer eröffnen. Eingang ragt eine MiG in den Himmel. turpalast. Zusammen mit einem Body- Aber Klitschko steigt nicht aus. Der Klitschko hat eigentlich keine Zeit für guard, dem Fahrer und einer mürrisch ehemalige Boxweltmeister, der beschlos- die Vergangenheit. Um 14.30 Uhr soll er an dreinblickenden Assistentin beobachtet er sen hat, Politiker zu werden, macht sich einer Business-Akademie über die „For- durch die getönten Scheiben, wie die Gäs- unsichtbar. mel des Lebenserfolgs“ sprechen, vor jun- te durch den Schneematsch stapfen: Offi-

66 der spiegel 11/2006 die Stärke des Staates“ steht auf den riesi- gen Wahlplakaten, die er hat aufstellen las- sen. Klitschko trägt einen dunklen Anzug auf dem Foto für das Plakat und ein weißes Hemd, der Hintergrund leuchtet orange- farben, „Tak! Klitschko“ steht darauf, „Ja! Klitschko“. Er guckt ernst. In Klitschkos Welt gibt es klare Regeln: dass ein zweiter Platz nicht zählt, bei- spielsweise, dass es immer um alles oder nichts geht. Zu Beginn seiner Profi-Kar- riere hat Klitschko sich für den Hamburger Boxstall Universum und dessen Chef Klaus-Peter Kohl entschieden, obwohl der große Don King um ihn warb; es passte „auf der menschlichen Ebene“ besser, sagt er. Und er hat Kohl wieder verlassen, als ihm dessen Verträge nicht mehr gefielen. Die Menschen im Westen mochten den Boxer aus dem Osten sofort, weil Klitsch- ko den Westen besser zu verstehen schien als viele Westler: Er vermarktete sich selbst, blieb aber immer freundlich und be- scheiden, er machte Werbung für Corn- flakes und Milchschnitten und krönte ne- benbei sein Sportstudium mit dem Doktor- titel. Klitschko verließ die Ukraine, um sich unter westlichen Marktbedingungen durch- zusetzen, er wurde sein eigener Unter- nehmer, jetzt kehrt er zurück, um den Markt in die Ukraine zu bringen. An einem anderen Abend spricht Klitsch- ko auf einem Platz vor der Metrostation „Arsenalna“. Es dämmert bereits, Klitschko steht auf der Ladeklappe eines Lastwagens, mit jedem Wort stößt er weiße Wölkchen in

SUVOROW / AGENTUR FOCUS (L.); ALEXANDER KHUDOTIOPLY / REUTERS (R.) / REUTERS FOCUSSUVOROW / AGENTUR (L.); KHUDOTIOPLY ALEXANDER die Luft. Seine Anhänger recken Fahnen in die Sowjetunion mit dem Zeichen ihres Kandidaten in den Abendhimmel: einer riesigen rechten Faust, ziere der Luftwaffe in königsblauem Tuch, sind erlaubt, Klitschko schafft 120. Er fährt, schwarz auf orangefarbenem Grund, den Veteranen, Bürger von Wasilkow, mit Fei- als wäre er auf der Flucht. Daumen nach oben gestreckt. ergesicht. Als der Letzte im Kulturpalast Als Boxer hat Klitschko 37 Profi-Kämp- Klitschko hat sich früh auf die Seite der verschwunden ist, steigt Klitschko aus dem fe bestritten, von denen er 35 gewann, fast orangenen Revolutionäre gestellt. Vor sei- Wagen, ein Oberst führt ihn in den Saal. alle durch K. o., er war Europameister und nem WM-Kampf gegen Danny Williams Die Kapelle spielt eine Fanfare, der rote Weltmeister im Schwergewicht. Er hat sich im Dezember 2004 erklärte er, sein Kampf Vorhang schwebt beiseite, 700 Menschen daran gewöhnt, die Ziele, die er sich setzt, werde auch ein Kampf gegen Diktatur und erheben sich, als die ukrainische Fahne zu erreichen. Er hasst es, auf dem Weg Manipulation sein. hereingetragen wird. zum Ziel Zeit zu verlieren. Für die Menschen vor der Metrostation Regungslos verfolgt Klitschko, wie ein Klitschko wurde 1971 in der Sowjetunion ist Klitschko ein Außerirdischer, einer, der Generalmajor einer endlosen Reihe von geboren, sein Vater diente in der Luft- in Hamburg gelebt hat und in Bel Air, der verdienten Kämpfern Urkunden und Blu- waffe, das erste Boxtraining erhielt der mit Julia Roberts drehte und mit Bill Clin- men überreicht, es riecht nach feuchtem Junge im Armeesportclub. Er wurde ein ton plauderte, der die Ukraine verließ, um Pelz und dem Schweiß alter Männer. paar Mal ukrainischer Meister, aber schon in der Fremde sein Glück zu machen – und Klitschko will die Ukraine nach Europa früh war klar, dass der Weg zu internatio- der zurückkam, gegen alle Vernunft. führen, in eine bessere Zukunft, aber an nalen Titeln nur über den Westen führen Er kandidiere, ruft Klitschko, weil er diesem Vormittag ist er wie auf einer Zeit- würde. Also verließ er seine Heimat und wolle, dass seine Kinder in dieser Stadt reise zurück in die Sowjetunion. ging nach Deutschland, mit 25 absolvierte glücklich aufwachsen können. „Ich ver- Um Viertel nach eins klettert er endlich er seinen ersten Profi-Kampf. 1999 wurde binde meine Zukunft und die Zukunft mei- auf die Bühne. Ein Mädchen in Lan- er zum ersten Mal Weltmeister. Im ver- ner Kinder mit Kiew, mit der Ukraine.“ destracht überreicht Brot und Salz, Klitsch- gangenen Herbst beendete er seine Kar- Klitschko besitzt eine Villa in Los An- ko bedankt sich, „dass wir heute in Frieden riere wegen einer Verletzung. geles und eine Doppelhaushälfte im Ham- leben können“. Jetzt, mit 34 Jahren, dient ihm sein er- burger Stadtteil Marienthal, aber er sei im- Fünf Minuten später ist er schon wieder folgreiches Leben als Modell: für Kiew, für mer nur im Ausland gewesen, sagt er, wenn im Auto. Diesmal fährt er selbst. Er jagt die Ukraine, dafür, dass man es schaffen er sich auf einen Kampf vorbereiten muss- den Landcruiser nach Kiew zurück, vorbei kann, wenn man sich nur genug anstrengt. te. Er wohne seit Jahren in Kiew, seine an Baustellen, an den Skeletten halbferti- Mit der Politik, sagt er, sei es ähnlich wie Kinder gingen hier in den Kindergarten. ger Einfamilienhäuser, am Horizont taucht mit dem Sport: Was zähle, seien Tugen- Sie danke Gott, schreit eine Frau in der schon der Gürtel aus Plattenbauten auf, den wie Disziplin, Pünktlichkeit, Aufrich- Menge, dass Kiew bald einen jungen, ge- der Kiew umwuchert, 80 Stundenkilometer tigkeit. „Die Ehrlichkeit des Einzelnen ist sunden, erfolgreichen Bürgermeister habe,

der spiegel 11/2006 67 EFREM LUKATSKY / AP EFREM LUKATSKY Kundgebung von Klitschko-Anhängern (in Kiew): Disziplin, Pünktlichkeit, Aufrichtigkeit ihre Stimme überschlägt sich; ein wenig er- Offenheit, sie fluchen über den Verkehr Rechte, Europafeinde und Europafreunde, innert die Stimmung an diesem Abend an oder stöhnen, weil sie die Wohnung, die sie die Schlagworte heißen „Moral“, „Ge- den vergangenen Winter, als die Menschen brauchen, nicht bezahlen können. setz“, „Glaube“, „Ordnung“. auf dem „Maidan“, dem „Platz der Unab- Die Frage ist: Hat Klitschko Erfolg, weil Auf der Kandidatenliste sollen 350 Mil- hängigkeit“, so lange gegen den Wahlfäl- er anders ist als die anderen Politiker, de- lionäre stehen – Industriemagnaten, die als scher Janukowitsch demonstrierten, bis aus nen das eigene Wohl wichtiger zu sein Abgeordnete dafür sorgen wollen, dass al- ihrer Empörung eine Bewegung und aus scheint als das ihres Landes? Oder muss er, les bleibt, wie es ist. der Bewegung der Triumph der „Orange- um dauerhaft erfolgreich zu sein, am Ende Klitschko wird von einem 40-köpfigen nen Revolution“ geworden war. so werden wie sie? Team unterstützt, Fachleuten für politische Klitschko ist ein Hoffnungsträger, es gibt Er hat mit mehreren Parteien Gespräche Analyse, Juristen, Finanzexperten, einen nicht mehr viele im Land. Wiktor Jusch- geführt, am Ende entschied er sich für Teil des Millionenetats deckt er durch tschenko, der Sieger der „Orangenen Re- Pora-PRP, ein Parteienbündnis, das noch Spenden, den Rest zahlt er selbst. volution“, ist schwer angeschlagen, mit Ju- nicht von den Oligarchen beherrscht wird, Gleich am ersten Tag seines Wahlkampfs lija Timoschenko, seiner einstigen Weg- das seine Skandale noch vor sich hat. Ende Februar besuchte Klitschko die Eu- gefährtin, hat er sich entzweit. Pora begann als Jugendbewegung, sie ropäische Universität, eine private Hoch- Umfragen zur Bürgermeisterwahl sehen gilt als Keimzelle der „Orangenen Revolu- schule am rechten Ufer des Dnjepr. Er trägt Klitschko bei knapp 19 Prozent, das ist viel tion“, als Hoffnung einer neuen Genera- einen dunklen, maßgeschneiderten Anzug, tion. Die Partei gibt eine Liste eine dunkelrote Krawatte, der Nacken ist heraus mit Namen von Be- perfekt ausrasiert; trotz des Tauwetters In Klitschkos Welt gibt es eine klare Regel: amten und Geheimdienstmit- sind seine Schuhe makellos sauber. Der Es geht immer um alles oder nichts. arbeitern, denen Korruption schwarze Toyota Landcruiser parkt vor und Wahlfälschung nachge- dem Haupteingang. für einen, der in der Politik keinerlei Er- wiesen werden konnte, sie stellt sich gegen Klitschko erzählt den Studenten, wie er fahrung vorweisen kann. Alexander das alte Regime, gegen die alten Regeln. Es in seiner Jugend einen Kampf von Mike Omeltschenko, der amtierende Bürger- ist nicht nur eine politische Bewegung, son- Tyson im Fernsehen sah und seinen Klas- meister, ist populär, der 68-Jährige galt lan- dern vor allem eine moralische. senkameraden schwor, eines Tages selbst ge als Freund und Förderer Klitschkos, es Seit einer Verfassungsreform hat der gegen Tyson anzutreten. Wie er dann, Jah- ist möglich, dass es diesmal noch nicht Präsident weniger Macht. Die Abgeordne- re später, die Mitschüler von damals zu- reicht für Vitali. Omeltschenko gehört zum ten werden nach der Wahl einflussreicher sammenrief und ihnen den Weltmeister- Lager von Juschtschenko; vielleicht, mut- sein als je zuvor. 45 Parteien treten zur Gürtel zeigte, den einst Tyson trug. maßen die Kiewer, soll Klitschko zum Parlamentswahl an, der Wahlzettel wird 78 Er erzählt, wie er in Hamburg mal nachts Nachfolger aufgebaut werden, irgendwann Zentimeter lang sein, für die 450 Sitze gibt auf dem Balkon stand und einen Mann be- Bürgermeister werden und eines Tages es 7733 Bewerber. Rund drei Millionen obachtete, der an einer leeren Straße auf vielleicht Präsident. Dollar werden pro Sitz im Schnitt ausge- eine grüne Ampel wartete. Er habe diesen „Der Maidan-Geist ist noch nicht verlo- geben. Es gibt Janukowitsch, den alten Deutschen damals als Roboter belächelt, rengegangen“, ruft Klitschko von der Klap- Machthaber, und seine „Partei der Regio- sagt Klitschko, aber inzwischen habe er be- pe des Lastwagens. Die Menschen hören nen“, es gibt Juschtschenko, der an das griffen, dass der Erfolg Deutschlands viel ihn an wie einen, der zu lange weg war. Sie Hochgefühl der „Orangenen Revolution“ mit dieser Roboterhaftigkeit zu tun habe. freuen sich, ihn zu sehen, aber sie frem- erinnert, und Julija Timoschenko, die einst Und er erzählt, wie er auf dem Flug von deln. Klitschko spricht von Freiheit, von an seiner Seite stand. Es gibt Grüne und New York nach Kiew einen alten Ukrainer

68 der spiegel 11/2006 nenministers, der in diesem Prozess als Zeu- ge aussagen sollte und der dann tot in seiner Datscha gefunden wurde. Sogar zum um- strittenen Gas-Kompromiss vom Januar schweigt er, der Präsident Juschtschenko ins Zwielicht brachte, weil das Geschäft jetzt über eine dubiose Firma abgewickelt wird, die im Steuerparadies Schweiz residiert. Er spricht lieber über Korruption. Die Grundstücke in Kiew seien inzwischen teu- rer als in Hamburg oder München, be- hauptet er. Erst neulich hat er gelesen, dass 2005 in der Ukraine mehr Autos der Lu- xusmarke Maybach verkauft worden seien als in der gesamten übrigen Welt. Manchmal in diesem Wahlkampf pas- siert es allerdings, dass Klitschko eine Fra- ge nicht einfach auspendeln kann, dass die

GETTY IMAGES GETTY IMAGES Wirklichkeit durch seine Deckung kommt. Revolutionsführer Juschtschenko (2. v.r.), Verbündete*: Unterstützung vom Kollektiv In der Business-Akademie, vor den Stu- denten, die ihn mit „Klitschko! Klitsch- kennenlernte, der mit 30 nach Kanada aus- löcher, vorbei an aufgelassenen Betrieben ko!“-Rufen empfangen, erzählt er aufge- gewandert war. Er kehre in die Ukraine und an Fabriken, die mit den Produkten räumt von seinem Bruder Wladimir und zurück, sagte der Alte, um dort zu ster- von gestern in den Märkten der Zukunft seiner Frau Natalia, die Studenten lachen, ben. Diese Begegnung, ruft Klitschko, habe bestehen wollen. Klitschko strahlt. ihm gezeigt, was Heimatliebe sei. Die Frauen lehnen in blauen Arbeits- Dann meldet sich ein älterer Mann in Drei Geschichten, die Essenz eines mo- kitteln an ihren Pfaff-Nähmaschinen, sie der ersten Reihe. Er schildert, wie über dernen Sportlerlebens: den sehr amerika- schneidern Sachen, die sie sich nicht leisten tausend Kiewer ihre Ersparnisse in einem nischen Willen zum Erfolg; die deutschen können. Sie stützen den Kopf auf ihre Hän- Bauskandal verloren haben. Zwei Investo- Tugenden; die Liebe zum Vaterland. de, verschränken die Hände vor dem ren hätten sich bei der Stadt die Erlaubnis Klitschko hat sich eine Menge bei Arnold Bauch, es ist inzwischen kurz vor 17 Uhr, besorgt, Apartmenthäuser hochzuziehen, Schwarzenegger abgeschaut, den er als der Tag war lang. Sie hören ihm ohne Be- sie sammelten Geld ein und setzten sich kleiner Junge bewunderte und mit dem er geisterung zu, auch ohne Murren. Die dann ins Ausland ab. heute befreundet ist. Er führt einen Wahl- Näherinnen sind müde von einem Leben, Der Mann ist zornig, sein Sohn hat bei kampf der Prinzipien, keinen, der sich mit das Klitschko nicht kennt. dieser Sache seine Ersparnisse verloren. konkreten Programmpunkten aufhält. Sie sind doch Sportler, will eine der „Wer ist schuld?“, will er wissen. „Man kann viele Probleme lösen“, sagt Frauen wissen: Wie wollen Sie als Politiker Die Menschen, sagt Klitschko vorsichtig, er, während die Studenten Zettel mit Fra- Erfolg haben? seien bestechlich, weil sie so wenig ver- gen nach vorn reichen, „aber man muss Er kenne erfolgreiche Bürgermeister, sagt dienten. Er steht jetzt am Rand des Po- zuerst das Hauptproblem beseitigen: die Klitschko, die ebenfalls keine politische Er- dests. Seine Kiefer mahlen. Korruption.“ fahrung mitbrachten: Der Bürgermeister „Wir müssen die Prinzipien ändern“, Dann faltet er den ersten Zettel ausein- von New York sei Medienunternehmer, die sagte Klitschko, „sonst kämpfen wir gegen ander. „Wie lange dauert es, bis es bei uns von Los Angeles und Berlin Juristen. Windmühlen.“ New York, Los Angeles, Dann erzählt er noch mal die Geschich- Kiew. Durch den Saal geht te von dem Roboterdeutschen an der roten Klitschko verbindet den amerikanischen ein Raunen. Ampel, aber die Stimmung ist hin. Willen zum Erfolg mit deutschen Tugenden. Als er noch boxte, war Vi- Ist der Mann in der ersten Reihe zufrie- tali Klitschko für seinen un- den mit Klitschkos Antwort? „Nein“, sagt so schön ist wie im Westen?“, steht darauf. gewöhnlichen Stil berühmt: Er ließ seine er, „Klitschko ist politisch völlig unreif. So- Wenn er Bürgermeister werde, dauere es Linke meist hängen, Schläge des Gegners bald er mit erfahrenen Leuten spricht und höchstens ein Jahr, bis die Menschen die pendelte er mit dem Oberkörper aus. Ge- nicht mit Kindern, wird er verlieren.“ Veränderungen spürten, sagt Klitschko. fürchtet war er vor allem für seine rechte Am Ende der ersten Woche redet „Vitali, warum sind die Menschen von Schlaghand, mit der er einen Gegner zer- Klitschko in einer Möbelfabrik am Stadt- der ,Orangenen Revolution‘ enttäuscht?“ stören konnte. Auch an diesem Abend, vor rand, im Versammlungssaal fällt trübes Das Ziel, die Banditen ins Gefängnis zu den Näherinnen in Kiew, hängt sein linker Licht auf zerschlissene türkisfarbene Sitze. stecken, sei nicht verwirklicht worden, ant- Arm meist schlaff herunter, während der „Wir haben versucht, alles so wie zu so- wortet Klitschko. rechte auf- und niederfährt, vor und zurück. wjetischen Zeiten zu machen“, sagt der Will er später mal Präsident werden? Es sieht aus, als suchte Klitschko eine Ge- Direktor. Es soll ein Scherz sein, aber „Ich möchte, dass wir ein gutes Parla- legenheit zum Punch, aber er findet nichts. Klitschko lacht nicht. ment haben“, sagt Klitschko. „Und ich Seltsamerweise kommt die ukrainische Er redet vom Aufbruch, verspricht, das möchte ein guter Bürgermeister werden.“ Wirklichkeit in seinem Wahlkampf nicht herrschende System zu zerbrechen, er er- Er antwortet wie ein Boxer in den ersten vor. Mit keinem Wort erwähnt er den Pro- wähnt Muhammad Ali, George Clooney Runden eines Kampfes. Er will keinen Feh- zess gegen die Polizeioffiziere, die gestan- und Bill Clinton. Es hört sich an, als wolle ler machen. den hatten, den Journalisten Georgij Gon- er ein wenig weite Welt in den Versamm- Von der Europäischen Universität fährt gadse ermordet zu haben, er sagt nichts lungssaal lassen. er hinaus zum Bekleidungswerk Junist, zum ungeklärten Tod des ehemaligen In- Als er fertig ist, drückt ihm eine Frau rund 400 Frauen nähen hier Winterjacken einen Strauß Rosen in die Hand. Das Kol- und Mäntel für die Firma Boss zusammen, * Julija Timoschenko, Wladimir Klitschko, Vitali Klitsch- lektiv, meldet sie, werde ihn wählen. der Landcruiser rumpelt durch Schlag- ko, am 22. Dezember 2004 in Kiew. Klitschko versucht ein Lächeln. ™

70 der spiegel 11/2006 Gesellschaft

Kleine neue Welt Ortstermin: Auf der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin präsentiert sich Rügen in Zeiten der Vogelgrippe.

in Mann geht durch die Hallen des gelernt über die Mechanismen des Me- liegt nur drei Hallen weiter, Afrika ist nah, Internationalen Congress Centrums, diengeschäfts. Er hat erlebt, wie sich das und alle Hallen sind miteinander verbun- Eer läuft den Ereignissen hinterher. Er Virus unter den Journalisten schneller ver- den. Es gibt ein paar Kontrollen an den hat noch die Nachrichten von gestern breitete als unter den Schwänen. Er ver- Eingängen, aber wirklich beherrschen las- Abend im Kopf, sie waren nicht gut, zwei steht jetzt etwas von der Macht der Bil- sen sich die Ströme zwischen den Hallen tote Katzen, und sie trugen das Virus in der. Dass man nicht viel sagen kann, wenn nicht. sich. Doch es gab keine Bilder, und die Soldaten in weißen Anzügen und mit Am Rügener Stand schreitet ein Kollege Meldung kam erst am Ende der Sendung. Atemschutzmasken über Rügen stapfen auf Kiesbye zu und ruft: „Ach, der Ge- Es war, in seiner neuen Wirklichkeit, kein und tote Schwäne einsammeln. beutelte!“ Er schüttelt ihm die Hand, als schlechter Abend. „Die Bilder“, sagt Kiesbye, „haben uns wollte er kondolieren. Kiesbye lächelt das Raymond Kiesbye macht einen Schlen- weh getan.“ Er will noch ein bisschen war- weg. Er hat einen schönen Stand aufbauen ker nach links und betritt den Salon Co- ten. Bis die Bilder vergessen sind. Der Mi- lassen, eine Frau mit schönen Augen ver- lumbus. Es ist vielleicht ein guter Ort, er nister aber will gegenhalten, jetzt, und er teilt lächelnd Prospekte. Mehr kann man klingt nach Hoffnung. Nach Aufbruch. klingt, als ginge es nicht darum, das Virus im Moment nicht tun. Auch Kiesbye würde gern eine neue Welt zu besiegen, sondern Schleswig-Holstein. Vor dem Stand steht die Direktorin ei- entdecken. „Wir haben Schleswig-Holstein nicht nes vornehmen Hotels und verteilt Sand- Kiesbye ist in schwieriger Mission zur überholt, um die Spitze wieder abzuge- dornbonbons und Prospekte. „Ist das Ho- Internationalen Tourismus-Börse nach ben“, sagt er. Er meint die Übernach- tel barrierefrei?“, fragt ein Mann. „Sie Berlin gereist. Er ist Geschäftsführer der tungszahlen. Der Präsident des Touris- meinen wegen der Vogelgrippe?“ „Nein, Tourismuszentrale Rügen. Es ist meine Schwester sitzt im Roll- eine Gesellschaft mit begrenzter stuhl.“ Haftung, doch in den vergangenen Am Abend kommt Guido Wes- Wochen hat Kiesbye gelernt, dass terwelle, er schüttelt Kiesbyes sich in der neuen Weltgesellschaft Hand, als sei er bereit, die Proble- nicht mehr viel begrenzen lässt. me Rügens auf der Stelle zu lösen. „Die Rüganer“, sagt Kiesbye, Er trägt einen sehr gut sitzenden „die wundern sich nur noch.“ dunklen Anzug und eine Krawatte Lange Zeit wurde die Welt für in den Farben der FDP, sein Ge- sie immer größer. Die Mauer ging sicht ist gebräunt. Er sieht aus wie auf, und sie konnten in Länder rei- ein Urlauber. sen, die unerreichbar schienen, un- Eine Mitarbeiterin bringt ein sil- vorstellbar weit weg. Es gab keine bernes Tablett mit Sektgläsern, und Grenzen mehr. Dass die Welt, die Kiesbye fragt, ob er ein Gläschen ihnen jetzt offenstand, irgendwann anbieten dürfe. Westerwelle sieht zu ihnen zurückkommen würde, zwei Fotografen und lehnt lächelnd daran dachten die Rüganer nicht. ab. „Ich trinke sonst sehr gern Al-

Und dann starben irgendwo in MECKEL / OSTKREUZ DAWIN kohol“, sagt er, „aber so kurz nach Asien Vögel, und auf Rügen wur- Aussteller Kiesbye, Besucher Westerwelle: Nur noch wundern Aschermittwoch muss ich vorsichtig den bald Sperrzonen eingerichtet. sein.“ Die Welt ist wieder sehr klein gewor- musverbandes redet mit großen Augen von Westerwelle bittet um einen kurzen La- den. An diesem Morgen präsentiert sich der Schönheit Mecklenburg-Vorpommerns, gebericht, und Kiesbye sagt, dass Rügen im Saal Columbus das Ferienparadies er sieht aus, als würde er jetzt gern einen nicht aus den Schlagzeilen komme. „Das Mecklenburg-Vorpommern. Der Wirt- Psalm aus der Bibel vorlesen. „Wir sind ist natürlich ein echter Schicksalsschlag“, schaftsminister des Landes und der Prä- von Gott beschenkt“, sagt er. „Ich darf das sagt Westerwelle. „Erzählen Sie mir doch sident des Tourismusverbandes haben ge- sagen als Christdemokrat.“ mal ein bisschen was über die verkehrs- laden, sie machen ernste Gesichter, sie Kiesbye hört sich das an und lächelt. Er technische Anbindung.“ Kiesbye nickt, als wirken wie Männer, die in den Kampf ist Holsteiner und hat dort viele Jahre für sei das eine naheliegende Frage, und sagt ziehen. den Tourismus geworben, bevor er in den irgendwas. Die Stellwände hinter ihnen zeigen, wie Osten ging. Im Knopfloch seines Revers Es geht alles sehr schnell, dann verab- schön Mecklenburg-Vorpommern ist, sie trägt er ein kleines Schild mit dem Namen schiedet sich Westerwelle und verspricht, erzählen davon, wie gut das Land tut und Rügens. Er ist kein Mann großer Worte, er dass er im Sommer kommen werde. „Da wie es sein will. „Sanft, schön & aufre- ist Betriebswirt, er will eine Aufgabe lösen. freue ich mich jetzt schon drauf.“ gend“. Er gibt noch ein kurzes Interview und geht Kiesbye sieht ihm kurz nach, in der Kiesbye steht ganz hinten im Saal. Er zurück in die Messehallen. Hand ein volles Sektglas. Eine gute will sehen, wie der Minister und der Prä- Das Messegelände ist ein Abbild der Nachricht für Rügen, sie muss in die sident in die Offensive gehen. Er glaubt, Welt, 180 Länder grenzen hier aneinander. Welt. „Prost“, sagt Kiesbye zu einer Kol- dass es zu früh ist, um gegenzuhalten. Kies- Die Rüganer bauten ihren Stand in Halle legin. „Da machen wir eine Meldung bye hat in den vergangenen Wochen viel 6.2 auf, der Deutschlandhalle, aber Asien draus.“ Mario Kaiser

72 der spiegel 11/2006 Titel

Reizfigur Klinsmann, Szene aus dem Länderspiel gegen Italien: Alles geht schief Der verfluchte Reformer Niederlagen in Italien, neue Korruptionsvorwürfe und Bundestrainer Jürgen Klinsmann im Zentrum eines Richtungskampfes: Kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft herrscht Niedergeschlagenheit statt Aufbruchstimmung – deutscher Fußball spiegelt deutsches Leben. Von Dirk Kurbjuweit

eformer? Nein, sagt er, ein Refor- rade selbst ab. Oder er hat einfach keine wie jemand, der alles versteht, aber das mer sei er nicht. Möchte er Deutsch- Lust auf dieses Gespräch. meiste missbilligt. Rland verändern? Nein, mit ihm habe Er rührt in seinem Espresso. Er sitzt im Das soll ein Sonnyboy sein, ein Mann, das nichts zu tun. Aber Amerika hat ihn Palace-Hotel in München, er guckt auf sei- der in Amerika großes Denken und großen stark beeinflusst? Nein, eher Italien. ne Uhr. Das Gespräch misslingt, es miss- Optimismus gelernt hat? Was ist los mit Eigentlich bleibt jetzt nur noch eine Fra- lingt vollkommen. Jürgen Klinsmann? ge. Ist er Jürgen Klinsmann? Klinsmann gibt sich ganz schlicht, ein Ein wenig erinnert er an Angela Merkel Er sieht so aus, blond, schmal, Anfang Mann, der nur in Ruhe mit seiner Mann- wenn sie ihre schlechten Tage hat, wenn sie 40. Er trägt Jeans und einen Pulli mit schaft arbeiten will, sonst nichts. Alles ist dichtmacht, wenn sie randvoll ist mit Miss- Reißverschluss, an dem er manchmal übertrieben, alles aufgebauscht. Die Ant- trauen. Die beiden Deutschen, die als zupft. worten bleiben knapp. Man brauchte hun- große Reformer angetreten sind, haben im- Drei Fragen, drei knappe Antworten, dert Fragen, um eine Stunde füllen zu mer eine Muschel dabei, in die sie sich die allem Vorwissen widersprechen. Ent- können. zurückziehen können. weder haben sich alle in Klinsmanns Ab- Manchmal guckt er wie ein Junge, der Ihre Lage ist derzeit sehr verschieden. sichten getäuscht. Oder er schafft sich ge- die Welt nicht versteht. Manchmal guckt er Die eine hat bislang wenig getan und sonnt

76 der spiegel 11/2006 FRANCK FIFE / AFP (L.); LORENZ BAADER (R.) sich in ihrer Beliebtheit. Der andere hat stimmung sorgen. Klinsmann war das Ge- bräsiger Konservatismus spiegelte sich an- viel getan und ist gerade der meist- sicht für diese Hoffnung. geblich in der Arbeit von Bundestrainer beschimpfte Deutsche. Am vergangenen Aber seit zwei Wochen geht alles schief. wider. Mittwoch waren sie gemeinsam auf der Erst die Niederlage gegen Italien, dann Nun sind, in der Hysterie vor der WM, Titelseite der „Bild“-Zeitung. Klinsmann verlieren die deutschen Vereine in den Eu- beide Sphären tatsächlich verschmolzen. hatte einen verkniffenen Mund, Merkel ropapokalen, dann kommen neue Skan- Bundespräsident Horst Köhler in seiner strahlte. dale um Spieler und Manager auf (siehe Weihnachtsansprache und Bundeskanzle- „Bild“ ist wichtig in diesem Zusammen- Seiten 90, 92). Deutschland wirkt wieder rin Angela Merkel in ihrer Neujahrsrede hang. Die Zeitung gilt als Indikator für die vergnatzt und mutlos und ein bisschen haben haben betont, wie wichtig das Tur- allgemeine Stimmungslage. Seit dem 1:4 ge- hässlich. Die Weltmeisterschaft, ein Groß- nier für Deutschland ist. gen Italien druckt sie Tag für Tag Schlag- versuch der Deutschen in Fröhlichkeit, Doch es gibt noch einen tieferen Zu- zeilen, die Klinsmann schmähen und ver- droht in Selbstzerfleischung und Miesepe- sammenhang von Politik und Fußball. Es spotten. Er soll sich Rat bei den Frauen- trigkeit zu versinken. geht dabei um das Thema, von dem Klins- Fußballern holen, er soll aufhören, ein In Sorge um das große Ganze haben sich mann beim Gespräch in München nichts „Grinsi-Klinsi“ zu sein. Und es sei „ein Un- Hinterbänkler aus der Politik, etwa Nor- wissen will. Es geht um Reformen. ding und eine Unverschämtheit“, dass er es bert Barthle von der CDU, eingemischt Im Juni 2005 sagte er dem Magazin der sich „unter der Sonne Kaliforniens gut ge- und fordern Klinsmann auf, sich einer Be- „Süddeutschen Zeitung“: „Wir müssen alle hen lässt“. fragung durch Abgeordnete zu stellen. Das Rituale und Gewohnheiten hinterfragen. Ständig werden Leute in Stellung ge- ärgerte den Grünen-Abgeordneten Win- Und zwar andauernd – nicht nur im Fuß- bracht, die Klinsmann rüffeln. Franz fried Hermann: „Wir sind weder die As- ball. Das ist doch nichts Schlimmes. Re- Beckenbauer, der launische Herrscher sistenz der Geschäftsführung des Deut- form ist kein Prozess, der in Episoden statt- über den deutschen Fußball, führt die schen Fußball-Bundes, noch sind wir die findet. Das Reformieren muss zu einem Liste der Ungnädigen an. Damit ist die Ober-Nationaltrainer“, schalt er die Kolle- permanenten Zustand werden – nicht nur Euphorie, die im vergangenen Jahr beim gen. Sie sollten sich nicht zu Handlangern vor der Weltmeisterschaft, auch danach.“ Confederations Cup geherrscht hatte, end- einer „Kampagne“ von „Bild“ machen. Weiter sagte er: „Ein Sieg im nächsten gültig verschwunden. Schon lange wird ein Zusammenhang Jahr böte die Chance, der Welt zu zeigen, Fußball war mal eine Hoffnung für die- von Politik und Fußball behauptet. Der Of- wer wir sind. Wir haben die Möglichkeit, ses Land. Die WM sollte das Bruttosozial- fensivdrang der Nationalmannschaft von Deutschland neu zu definieren: eine Mar- produkt steigern, ein gutes Abschneiden 1972 galt als Ausdruck von Willy Brandts ke, einen ,Brand‘ zu schaffen.“ Das war der Nationalmannschaft für Aufbruch- „mehr Demokratie wagen“. Helmut Kohls sein Anspruch. Er hat ihn beim Gespräch

der spiegel 11/2006 77 Titel

ACTIONPICTURES / IMAGO Politikerin Merkel als Ehrengast beim Länderspiel*: Die Lager verschmelzen in München nicht mehr formuliert, er hat Im Fußball wird endgültig nach dem Klinsmann auch eine Geschichte über die ihn verleugnet. Warum? 9. Juli abgerechnet, dem Tag des Endspiels. Reformfähigkeit Deutschlands. Hat er gemerkt, wie schwer es ist, einen Deutschland kann immer noch Weltmeis- Am Tag nach dem 1:4 sitzt Klinsmann im solchen Anspruch in Deutschland in Wirk- ter werden. Aber so wie die letzten Wo- Flugzeug von Pisa nach Frankfurt in der lichkeit zu verwandeln? Denn er hat es ge- chen waren, ist klar, dass es Klinsmann mit ersten Reihe rechts. Er schaut aus dem wagt, so viel ist gewiss. Ähnlich wie Ger- seinen Reformen schwer hat. Er tut sich Fenster, er blickt nicht auf, als Spieler und hard Schröder hat er eine Großreform in schwer, es wird ihm schwer gemacht. Deut- Journalisten in die Maschine strömen. Er Deutschland versucht. Es geht ihm um sches Leben spiegelt sich im deutschen wirkt, als werde er vom Strudel der eige- Tempo und Vernetzung. Fußball. Die Bedeutung dieses Spiels für nen Gedanken in die Tiefe gerissen. Er Er wollte aus einer Nationalmannschaft, dieses Land darf man nicht unterschätzen. kennt schon die Schlagzeilen des Tages in die bei der Europameisterschaft 2004 mit Deshalb ist die Geschichte des Reformers Deutschland. Übel, sehr übel. lahmem Ballgeschiebe untergegangen war, Neben ihm sitzt Theo Zwanziger, der eine Offensivmaschine machen. geschäftsführende Präsident des Deutschen Er wollte eine Struktur aufbauen, in Fußball-Bundes (DFB), er schaut in die an- der die Trainer von Erwachsenen- und dere Richtung. Später erzählt Zwanziger, Jugendmannschaften des DFB eng koope- dass er auf dem Flug gemerkt habe, wie rieren und unabhängig von den lang- nahe Klinsmann die Niederlage gegangen samen Strukturen des Verbands arbeiten sei. Zwanziger gibt Interviews, in denen können. er zu Klinsmann steht. Das gilt, aber es Ein 1:4 klingt nicht nach Offensiv- gilt auch etwas anderes. Das Verhältnis maschine. Ist Klinsmann gescheitert, so zwischen Klinsmann und Zwanziger ist an- wie die Agenda 2010 gescheitert ist? Am gespannt, wenn nicht zerrüttet. Tag der Niederlage meldeten die Zeitun- Als Jürgen Klinsmann im Sommer 2004 gen die neuen Zahlen der Bundesagentur das Amt des Bundestrainers übernahm, für Arbeit: Wieder gibt es mehr als fünf wollte er nicht nur mit der deutschen Millionen Arbeitslose in Deutschland. Mannschaft Weltmeister werden. Er woll- Es stellt sich einmal mehr die Frage, war- te auch den DFB verändern. „Im Prinzip um dieses Land sich so schwer tut mit sei- muss man den ganzen Laden auseinan- nen Reformen. Woran liegt es? An den Ak- dernehmen“, sagte er. teuren? An den Systemen? An der deut- Er warf ein paar Leute raus und ersetz- schen Mentalität? te sie durch Vertraute, machte Oliver Bier- hoff zum Manager der Nationalmannschaft * Am 8. Juni 2005 in Mönchengladbach gegen Russland. JORGE UZON / DPA JORGE UZON sowie Joachim Löw zum Assistenztrainer. Neben Merkel sitzen DFB-Funktionär Horst R. Schmidt, Innenminister Otto Schily und DFB-Präsident Gerhard Fußballfreund Schröder Er wagte einen ersten Tabubruch, indem er Mayer-Vorfelder. Auch so ein Großreformer nicht einen Deutschen zum Chefscout

78 der spiegel 11/2006 ATTA KENARE / AFP Trainer Klinsmann beim Länderspiel gegen Iran (in Teheran 2004): Unter ständiger Beobachtung machte, sondern einen Schweizer. Er heu- kleinen Bällen spielt. Hockey heißt der verschränkten Armen da. Er erlebt eine erte einen amerikanischen Fitnesstrainer Sport. schwere Demütigung. Das Reformprojekt an, Mark Verstegen, der bald belächelt Es ging um einen zentralen Punkt ihrer war gestoppt, der DFB zeigte Klinsmann wurde, weil er die Spieler Gummitwist ma- Reform, um die Vernetzung. Der Sportdi- und seinen Leuten die Grenzen. chen ließ. Aber den Spielern hat das Spaß rektor koordiniert die Arbeit von Erwach- Theo Zwanziger ist ein quirliger, leutse- gemacht, und neue Ideen sind bitter nötig, senen- und Jugendtrainern des DFB. Peters liger Mann, der einen Raum sofort belebt, denn die Deutschen, einst unermüdliche sollte eine gemeinsame Philosophie für alle als sei eine ganze Gruppe von Leuten ein- Rackerer, waren in den vergangenen Jah- Mannschaften durchsetzen. Peters war der getroffen. Er redet schnell und viel. Das ren bei den Fitnesswerten zurückgefallen. Gipfel der Unabhängigkeit. Er war in kei- Gespräch mit ihm, in der Bibliothek des Der DFB trug all diese Änderungen mit. ne Tradition, keine Struktur des DFB ein- DFB, hat zwei Teile. Im ersten Teil rühmt Theo Zwanziger trug sogar mit, dass Jür- gebunden. Er hätte ganz neue Ideen vor- Zwanziger den Bundestrainer. Er möchte bringen können, revolu- ihn über die WM hinaus verpflichten. tionäre Ideen. Der zweite Teile beginnt mit der Frage, „WIR SIND EIN DEMOKRATISCHER VERBAND. Zwanziger rief das Präsi- warum er Klinsmann nicht einfach sein Re- WIR BRAUCHEN KEINE REVOLUTION.“ dium des DFB zu einer formprojekt durchziehen lässt. außerordentlichen Sitzung „Es gibt unseren Verband über 100 Jah- gen Klinsmann die gemeinsamen Abend- zusammen, 14 Männer, fast alle alt, die re“, sagt Zwanziger, „er muss nicht refor- essen von Mannschaft und Delegation ab- früher mal Fußball gespielt haben. Danach miert werden in einer Weise, die alles auf schaffte. Für die Herren vom Verband wa- gab es eine Pressekonferenz. den Kopf stellt. Wir sind ein demokrati- ren diese Essen immer das Schönste, für Die Zentrale des deutschen Fußballs liegt scher Verband, wir sind jederzeit offen für die Spieler das Schlimmste. Nach dem Des- in der Otto-Fleck-Schneise in Frankfurt. Innovationen, wir brauchen aber keine Re- sert ließen sie die Löffel fallen und ver- Auf dem Parkplatz davor stehen Schilder volution.“ schwanden auf ihren Zimmern. Jetzt es- mit den Namen der Wichtigen, damit ihnen Er sagt, ein Mann wie Sammer finde so- sen die Spieler allein und plaudern. niemand den Parkplatz wegnimmt. Sie wol- fort Akzeptanz bei den über 1200 Trainern Es gibt keine Reformen ohne Verlierer, len ihre Autos immer und ohne Verzug an des Verbandes. Peters müsse sich das erst ohne Leute, die Privilegien einbüßen. denselben Ort stellen können. Vor Kreis- erarbeiten. Zwanziger findet, die gesamte Klinsmann machte die Nationalmannschaft sparkassen sieht man ähnliche Schilder. bisherige Trainerarbeit des DFB würde in mehr und mehr zu einer eigenen Welt in- Klinsmann reiste vor der Pressekonfe- Zweifel gezogen, wenn ein Hockeytrainer nerhalb des DFB. Er schuf Unabhängig- renz ab. Bierhoff vertrat ihn. Sportdirektor würde. Er verteidigt das Alte keit, löste seine Welt von den langsamen Auf der Pressekonferenz verkündete gegen etwas allzu Neues. Strukturen des Verbandes. Theo Zwanziger, dass nicht Peters Sport- „Was haben wir in der Vergangenheit Anfang Februar schlugen Klinsmann direktor wird, sondern Matthias Sammer, gemacht?“, fragt er: „War das alles falsch?“ und Bierhoff vor, Bernhard Peters solle der mit Bierhoff und Klinsmann 1996 Eu- „Ein bisschen Selbstvertrauen haben wir Sportdirektor beim DFB werden. Peters ist ropameister wurde, aber nicht gerade als auch“, sagt Zwanziger. Das Präsidiums- Trainer einer Nationalmannschaft, die mit Freund der beiden gilt. Bierhoff saß mit mitglied Karl Schmidt, 74 Jahre alt, sei

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„früher auch Nationalspieler“ gewesen den Ball 90 Minuten lang mal hierhin und mit E-Mails, mit Powerpoint. Fußball soll und komme „aus dem Umfeld von Fritz mal dorthin kullern ließen. sein wie Business, nicht wie Verband. Walter in Kaiserslautern“. Bierhoff glaubt nicht an diese Götter. Als Klinsmann und Bierhoff das Aufge- Dieser Name musste fallen. Im deutschen Zwar weiß er, dass er es im Fußball mit ei- bot für das Spiel gegen Italien verkünden, Fußball herrscht eine Fritz-Walter-Haftig- nem komplexen System zu tun hat, dass lädt der DFB die Presse in das Vereinsheim keit, gegen die Klinsmann seit zwei Jahren man Spiele nicht durchplanen kann. Aber der SG Bornheim/Grün-Weiß. Es ist dieser anrennt. Fritz Walter war ein Segen für den Klinsmann, Löw und er sind wie Inge- typische Flachbau voller Wimpel und Po- deutschen Fußball in den fünfziger Jahren, nieure, die versuchen, eine Mechanik so zu kale, mit Theke und mit Bildern vom Weih- aber er strahlt so sehr, dass sich, stehen Än- entwickeln, dass der Raum für Zufälle nachtsball an der Wand. Eine dicke Frau derungen an, immer noch mancher fragt, ob klein bleibt. hat sich „Super Mami“ auf ihre Trainings- Fritz Walter einverstanden wäre. Bierhoffs Büro ist in Starnberg. Er jacke gestickt. Es ist ein Milieu, das sich Ein Problem für alle Reformer hierzu- kommt in das Zimmer seiner Sekretärin, er seit 50 Jahren nicht verändert hat, es ist lande ist, dass die Bundesrepublik natur- hat ein Manuskript in der Hand und liebenswert und schrecklich zugleich. Es ist gemäß junge Gründungsmythen hat, jung spricht Änderungen mit ihr durch. Es ist die Basis des deutschen Fußballs. Die Basis

UMFRAGE: KLINSMANN

„Fußball-WM-Organisator Franz Beckenbauer und einige Politiker sind zu Bundestrainer Jürgen Klinsmann auf Distanz gegangen. Was meinen Sie: Ist Jürgen Klinsmann noch der richtige Trainer für die deutsche Nationalmannschaft bei der WM?“

JA 52 %

NEIN 22 %

TNS Infratest für den SPIEGEL vom 7. bis 9. März; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe LORENZ BAADER LORENZ DFB-Spitzen Mayer-Vorfelder, Zwanziger: Erhebliche Störungen und deshalb sehr lebendig. Sie stammen seltsam, ihn so zu sehen. Man sieht immer ist immer gut im Bewahren, Schröder kennt aus den Nachkriegsjahren, als zwölf Jahre noch die kurzen Hosen und wie er eksta- das von den Ortsvereinen der SPD. Hitler überwunden werden mussten. Im tisch das Golden Goal gegen Tschechien Die Super Mami hat einen gewissen Ein- Fußball ist es das Wunder von Bern, ver- feiert. Jetzt ist er sehr modisch angezogen, fluss auf Klinsmanns Arbeit, durch die De- körpert durch Fritz Walter und Sepp Her- sehr elegant. Er ist wohlfrisiert und ge- mokratie und weil Theo Zwanziger, wie er berger. Nach dem Sieg bei der WM 1954 pflegt. Er sieht nicht nach Fußball aus. im Gespräch betont, immer mitdenkt, was trauten sich die Deutschen wieder, selbst- Der Sessel in seinem Büro hat die Form die Ehrenamtlichen wollen, was ihnen zu- bewusst zu sein. eines Baseball-Handschuhs. An der Wand zumuten ist. Ein Hockeytrainer als Sport- In der Politik ist einer der Gründungs- hängt ein Kalender mit vielen farbigen direktor gehört nicht dazu. mythen der Sozialstaat, der den wachsen- Feldern. Das letzte farbige Feld ist am Zwanziger hat auch nach dem Debakel den Wohlstand gleichmäßig verteilt hat 9. Juli, danach kommt nichts mehr, Ende gegen Italien keinen Zweifel gelassen, dass und eine Versicherung gegen einen neuen der Zeitrechnung. Alles weiß, große Leere. er zu seinem Bundestrainer Klinsmann Hitler war. Geschichte ist eine starke Er sagt, dass „die Italiener Fußball gera- steht. Öffentlich redet man freundlich Macht in Deutschland. dezu programmieren“. Fabio Capello, der übereinander. Doch wie in der Politik auch ehemalige Trainer des AC gab es in jedem Gespräch für diese Ge- Mailand habe eine Art Ma- schichte einen gesperrten Bereich, Sätze, BIERHOFFS SEKRETÄRIN KOMMT HEREIN UND nagementlehre in den Un- die man nicht zitieren darf. Wenn man den SAGT: „CONFERENCE CALL IN DREI MINUTEN.“ ternehmen von Berlusconi Eindruck aus all diesen Sperrzonen zu- absolviert. Brasiliens Trai- sammenfasst, dann muss man von einer spürt das, wenn er Funk- ner Carlos Alberto Parreira plane minu- erheblichen Störung im Verhältnis von tionären die neuen Konzepte erklärt. Es geht tiös. „Wenn wir die Methoden nicht än- Trainerstab und DFB sprechen. da viel um Planung, um Differenzierung, dern, werden wir überrannt“, sagt Bier- Manchmal wird sie sogar sichtbar. Der um bewusstes Handeln. Irgendwann winke hoff. „Im Training Hütchen aufstellen und DFB und Klinsmann treffen immer dann dann immer jemand ab und sage: „Ein Spiel sich fragen, was machen wir denn heute, öffentlich aufeinander, wenn es eine Pres- dauert 90 Minuten.“ Bierhoff macht das geht nicht mehr. Man kann 25 Spieler nicht sekonferenz gibt. Die wird jedes Mal von wahnsinnig. Es ist eine dieser zopfigen, gleich behandeln, denn sie sind nicht gleich. Harald Stenger geleitet, dem Pressechef unsterblichen Sepp-Herberger-Weisheiten. Jeder braucht eine individuelle Förderung.“ des DFB. Er ist ein hilfsbereiter, hessisch- „Der Ball ist rund“, ist eine weitere. Es sind Seine Sekretärin kommt herein und sagt: knorriger Mensch, schon phänotypisch Sätze aus der Zeit eines Fußball-Fatalismus. „Conference Call in drei Minuten.“ Das ist gehört er nicht zu Klinsmanns fixen Jungs. Man bereitete sich durchaus vor, „denn nach die Telefonschalte mit Klinsmann, Löw und Aus dessen Sicht zählt er zum DFB-Lager. dem Spiel ist vor dem Spiel“, aber eigentlich Andreas Köpke, dem Torwarttrainer. Sie Auf den Pressekonferenzen rund um das entschieden die Götter, indem sie den run- verwenden gern diese Sprache, sie arbeiten Spiel gegen Italien ließ Klinsmann keine Ge-

80 der spiegel 11/2006 Klinsmann hat das Ziel, den DFB um- zukrempeln, fürs Erste aufgegeben. Er konzentriert sich auf die Mannschaft und das Ziel, die Weltmeisterschaft zu gewin- nen. Er hat dem deutschen Fußball Offen- sive verordnet. Dafür gibt es ein System und eine Taktik. Das System heißt 4-4-2. Es gibt eine Vie- rerkette in der Abwehr und eine Vierer- kette oder Raute im Mittelfeld sowie zwei Stürmer. Die Taktik ist schnelle Offensive. Die Verteidigung rückt weit vor, der Geg- ner wird früh unter Druck gesetzt. Ge- winnt man den Ball, wird sofort auf Angriff umgeschaltet. Gegen Italien führte diese Taktik in die Katastrophe. Nach Ballverlusten im Mit- telfeld wurde die aufgerückte Verteidigung überlaufen. Gibt es nun Zweifel an System und Tak- tik? „Nee, Zweifel habe ich in keinster Weise“, sagt Joachim Löw, der Assistent von Klinsmann, der für die sportlichen De- tails zuständig ist. Er sitzt in der Lobby des Hilton in Düsseldorf, es ist der Mon- tag der vergangenen Woche. Sven-Göran Eriksson schlendert vorbei, der Trainer der Engländer, und da hinten steht Parreira, der Trainer der Brasilianer. Dies ist ein Workshop des Fußball-Weltverbandes Fifa mit den Trainern der WM-Teilnehmer. Draußen stand eben Oliver Bierhoff und sagte in einen Strauß Mikrofone, warum es nicht nötig sei, dass Klinsmann teilnehme. Es wurde ziemlich aggressiv gefragt. Klins- mann ist längst wieder in Kalifornien. Ein paar Tage später wird Bierhoff sagen, dass es ein Fehler war. Es war immer Teil des Vertrages zwischen Klinsmann und dem DFB, dass er in Kalifornien leben darf. Das funktioniert, wenn das Team siegt. Seit dem Spiel gegen Italien funktioniert es nicht mehr. Klinsmann müsste nun an- wesend sein, für die Öffentlichkeit, für die Spieler. Doch er weigert sich. Das ist der trotzige Klinsmann, der nicht auf seine Fluchtburg verzichten will. Zwanziger will in dieser Woche mit ihm darüber reden, Klinsmann kommt zwei Tage früher zu- rück als geplant. Im Hilton in Düsseldorf ging es auch ums richtige Spiel. Löw sagte, dass Deutschland als Gastgeber nur Heimspiele habe. Die Mannschaft könne nicht auf Konter lauern,

PETER KNEFFEL / PICTURE ALLIANCE/ DPA ALLIANCE/ PETER KNEFFEL / PICTURE das täten schon die anderen. Erneuerer Klinsmann bei der Trainingsarbeit: Yoga für Anfänger Aber hat er die Leute, mit denen er 90 Minuten lang Druck machen kann? Als er legenheit aus, Stenger einen Seitenhieb zu Es ist der gestutzte Reformer, der da kürzlich Klinsmann im Münchner Palace- verpassen. Als er italienischen Journalisten mäkelt. Das Schicksal des Reformers ist Hotel abholte, nach dem missglückten In- in fließendem Italienisch antwortete, ver- die Beschädigung. Irgendwann wird er terview, sahen sie sich das Spiel Bayern langten die deutschen Kollegen eine Über- zurückgepfiffen, weil er gegen deutsche gegen Mailand an. Zwei Deutsche standen setzung. „Das machst du jetzt, Harald“, sag- Geschichtlichkeit verstößt, traditionelle auf dem Platz, und Philipp te Klinsmann, der weiß, dass Stenger nicht Milieus verstört, weil er Privilegien be- Lahm. war verletzt, die Na- Italienisch spricht. Als Stenger Turin und schneidet, Verlierer erzeugt. tionalspieler Bastian Schweinsteiger und Florenz verwechselt, korrigiert Klinsmann Es gibt aus all diesen Gründen keinen saßen auf der Bank. So das süffisant. Er wirkt in diesen Momenten Mut zur Radikalität bei jenen, die eine Re- geht es dem Bundestrainer und seinem As- sehr kleinlich, sehr bissig, wie einer, dessen form billigen müssen. So wird die Ver- sistenten oft. Wut durch kleinste Kanäle gepresst wird, stümmelung zum Schicksal jedes Pro- Das Problem des Fußballs ist das Pro- damit wenigstens ein bisschen heraus kann. jekts. blem der Politik: die Globalisierung. Die

der spiegel 11/2006 81 Titel

Auch als Fachmann war der bekannte Deutsche schnell respektiert, weil er dem Team einfühlsam die Defizite aufzei- „Sprungbrett zurück“ gen kann: „Unser Spiel ist zu langsam. Warum? Weil wir uns zu wenig be- Lothar Matthäus, derzeit Coach in Brasilien, wird schon als wegen.“ Doch in der Heimat blieb ihm die Schattenbundestrainer gehandelt. große Anerkennung in seiner Trainer- laufbahn bisher versagt. Beim Deutschen or dem Training hat der deutsche zu wissen. „Guter Fußballer. Aber ein Fußball-Bund (DFB) hatte Matthäus Für- Coach zur Mannschaftssitzung ge- Weichei.“ sprecher, als nach der Europameister- Vbeten. In den Vitrinen blitzen die Er kann sehr gebieterisch sein als Trai- schaft 2004 der Nationaltrainerposten neu Pokale, der Trainer spricht schnell, der ner, prinzipiell hält er seine neuen Schüler besetzt werden musste. Aber die konnten Dolmetscher schwitzt. Die brasilianischen für schwer von Begriff. „Wenn man ih- sich nicht durchsetzen. Jetzt, da Jürgen Profis auf ihren Klappsitzen haben die nen eine Aufgabe gibt, die sie nicht ken- Klinsmann unter Beschuss geraten ist, Fußballschuhe schon geschnürt. Einer nen, dauert es ein wenig länger“, meint wird „der Lothar“ schon wieder als Schattenbundestrainer gehandelt für die Zeit nach der WM. Er hätte Chancen, wenn der DFB den emeritierten Meistercoach Ottmar Hitz- feld nicht ein zweites Mal nach 2004 fra- gen will. Und wenn die Verbandsführung dem mächtigen Teil des Boulevards wi- derstehen kann, der sicher Christoph Daum in Stellung bringen wird. Daum konnte 2001 das Amt wegen sei- ner Kokain-Affäre nicht antreten, dürfte aber jetzt auf den Beistand des neuen Sportdirektors Matthias Sammer bauen, seines Schülers und Bewunderers. Matthäus, einst Liebling der „Bild“- Zeitung, könnte der Hilfe seines Men- tors Franz Beckenbauer sicher sein. Der gewann 1990 als Teamchef mit Mann- schaftskapitän Matthäus die Weltmeis- terschaft. „Irgendwann“ will der Herzo- genauracher das Erbe des „Kaisers“,

RALF HIRSCHBERGER / PICTURE ALLIANCE/ DPA ALLIANCE/ / PICTURE HIRSCHBERGER RALF seines Vorbilds, antreten. „Ich war ja Trainer Matthäus in Curitiba: „Germanische Strenge“ schon 20 Jahre als Spieler mit der Natio- nalmannschaft verheiratet.“ Doch ist er döst eher abwesend. „Wenn ich spreche, der fränkische Hausmeistersohn, der aus- sich nicht sicher, ob „die Verantwort- schaust du mich an!“, schnaubt Lothar zog, ein Weltstar zu werden. Das moder- lichen mit meiner Person klarkommen“. Matthäus, der Mann am Pult. ne Verschieben der Mannschaftsteile, das Vielen ist er nicht ganz geheuer. Sein Dann erkundigt er sich nach dem Be- Decken in Zonen – Matthäus hat dafür ei- früherer Fußballlehrer Jupp Heynckes finden seines Klassenbesten, des Stür- nen analytischen Scharfsinn entwickelt nannte ihn „zu sprunghaft“ und „voller merstars Dagoberto. Nur eine leichte und tippt sich an die Stirn. „Hier oben Ungeduld“. Und als Matthäus im Herbst Verletzung, sagt der Mannschaftsarzt. musst du sie schulen.“ beim 1. FC Nürnberg im Gespräch war, „Und wo ist Dagoberto jetzt?“, fragt Trai- Curitiba, die Hauptstadt des Bundes- warnten protestierende Fans vor einer ner Matthäus streng. Bei der Behandlung. staates Paraná, ist seine vierte Trainer- „Katastrophe für den Club“. „Wenn Besprechung ist, hat jeder hier zu station. Der vierte Ver- sein.“ such, dorthin zurück- Die Botschaft ist deutlich. Matthäus, zukehren, wo er als „ICH WAR JA SCHON ALS SPIELER 20 JAHRE MIT 44, ist zu Atlético Paranaense gekommen, Spieler war: an die DER NATIONALMANNSCHAFT VERHEIRATET.“ um die leichtlebigen Ballkünstler des bra- Weltspitze, auf die gro- silianischen Erstligisten Disziplin zu leh- ße Bühne. Nach Fußballdeutschland am Oft hat der Hitzkopf die Konfrontation ren. Er soll „germanische Strenge in den liebsten. Curitiba, die fremde Stadt mit gesucht, wo es nichts zu gewinnen gab, Verein bringen“, sagt der geschäftsfüh- der fremden Sprache, bilanziert er nach selbst gegen den großen FC Bayern Mün- rende Präsident João Augusto Fleury, im sechs Wochen, könne „ein Sprungbrett chen im Streit um die Einnahmen seines Hauptberuf Staatsanwalt. zurück sein“. Abschiedsspiels. Dabei wollte er bei je- Von einem Wall, der das Spielfeld be- Sicher, der Weltmeister, deutsche Re- dem Konflikt nichts sehnlicher, als sich grenzt, hat der Übungsleiter den besten kordnationalspieler, einstige Weltfuß- schnell wieder zu vertragen. „Die Leute Blick auf das Trainingsmatch. Der Stür- baller ist bei Atlético die Attraktion der sagen: Matthäus sucht Probleme. Aber ich mer Fabrício wälzt sich nach einer Kolli- Mannschaft. „Wir müssen in unsere Mar- bin ein Mensch, der nach Harmonie ruft.“ sion im Gras, das Gesicht schmerzver- ke investieren“, hatte der schwerreiche Es klingt wie eine Bewerbung, wenn er zerrt. „Der hat nichts“, meint Matthäus Clubchef Mário Celso Petraglia befohlen. zu verstehen gibt, dass er „die Spielsys-

82 der spiegel 11/2006 Vereine verpflichten gern ausländische Spieler, die weniger kosten oder mehr brin- teme aller Bundesligaclubs“ kennt. Die Ein Trainer, der im Auftrag seines gen. Zudem fehlt den Deutschen im Spit- Frage ist, wie gut er als Trainer ist. Bei Ra- Clubs sein Team durch Spielerverkäufe zenbereich fast vollständig die Generation pid Wien rief ihm der Präsident hinterher, schwächen muss, lebt nicht seinen Traum. der Leistungsträger, der 25- bis 32-Jähri- eine „klare Fehlinvestition“ gewesen zu So sieht Matthäus die Etappe „Furacão“ gen. Hier wurde jahrelang Jugendarbeit sein. In Serbien führte Matthäus Partizan (Wirbelsturm), wie Atlético genannt wird, versäumt. Belgrad in die Champions League, aber als „Zwischenstation und Lernphase“. Auf die Frage, welche Mannschaft so dann gab es Meinungsverschiedenheiten Der Vertrag läuft bis Jahresende, Mat- spielt, wie auch die Deutschen spielen sol- über die Verwendung der Einnahmen. Als thäus wirkt einsam. Seine serbische Frau, len, nennt Löw erst Chelsea, dann Barcelo- Nationaltrainer Ungarns wurde er vom mit der er englisch spricht, lebt weiter in na, die besten Mannschaften der Welt. Verbandspräsidenten protegiert, aber vom Budapest, wo sie ein Modegeschäft führt. „Barcelona hat eine schnelle Ballzirkula- Ligachef bekämpft. Dann wurde der Ver- Ohne Portugiesisch zu verstehen, frem- tion, dann spielen sie blitzartig in die Tiefe.“ bandspräsident gekippt. Jetzt spricht Mat- delt er in der aufgeräumten 1,6-Millio- Die das machen, heißen Ronaldinho, Deco, thäus, wenn er seine Erfolge dort rekapi- nen-Einwohner-Stadt, die er eine Spur Messi, schnelle, technisch geniale Spieler. tuliert, oft von dem Mannschaftsbus, den zu weltmännisch mit „Soho“ oder „dem Es gibt keinen Deco, keinen Ronaldinho er anschaffen ließ. Meatpacking District“ in Manhattan ver- in Deutschland. Aber Klinsmann glaubt an In Curitiba weiß er wenigstens, was gleicht. In Curitiba, klagt der frühere Pro- Arbeit, an Willen. Als Spieler galt er als un- man von ihm erwartet. Brasilien ist Ex- portweltmeister im Fußball, Matthäus kennt die Zahlen: 5000 Brasilianer spie- len schon in fremden Ligen, allein im ver- gangenen Jahr wurden 804 ins Ausland verkauft. Atlético stieg 1997 mit dem Transfer des Stürmers Paulo Rink zu Bayer Leverkusen in den lukrativen Spie- lerhandel ein, der Erlös wurde ins Club- gelände investiert. Jetzt hat der Landes- meister von 2001 das modernste Stadion Brasiliens. Auf dem Trainingsgelände in Sítio Cercado stehen acht Rasenplätze zur Verfügung, der Club betreibt 31 Fuß- ballschulen, eine davon in China. Die Neuverpflichtung aus Deutschland, der erste Europäer im Traineramt eines brasilianischen Erstligaclubs, muss für fri- sche Einnahmen sorgen. Matthäus soll das Geschäft ankurbeln, indem er die Ware für den europäischen Markt trimmt. „Da-

mit die Spieler keine Anpassungsschwie- BAADER LORENZ rigkeiten im Ausland haben“, ahnt er. Teamchef Beckenbauer, Kapitän Matthäus (1988): Das Erbe des Kaisers Nur hält er die zu Bekehrenden für schwer erziehbar: „Wenn ich die Spieler fi der New York MetroStars verzweifelt, tertalentiert, lief über den Platz wie ein rufe, bindet der Erste noch mal seine „wollen die Leute im Restaurant mit mir Storch auf der Flucht und wurde bei Bay- Schuhe, der Nächste trinkt noch einen sprechen, aber es geht nicht“. ern München „Flipper“ genannt, weil ihm Schluck Wasser.“ Selbst seinem brasilia- Er mag es, dass auf Auswärtsfahrten im die Bälle nur so von den Füßen hüpften. nischen Dolmetscher mit deutsch-öster- Hotel immer schon die Zimmerschlüssel Aber er war Weltmeister 1990, Europa- reichischen Vorfahren musste er erst klar an der Rezeption bereitliegen („Man muss meister 1996, war Fußballer des Jahres in machen, dass während der Übungsein- nichts unterschreiben“). Aber er wartet Deutschland und in England. Er hat ständig heiten nicht geraucht wird. auf bessere Launen des Schicksals. Ganz an sich gearbeitet und fanatisch gewollt. In seinem Trainerzimmer, in dem bestimmt muss er seinen Hang zu chole- Es ist ein Grundgesetz für Reformen, neben dem Nassrasierer sein Sonnen- rischen Eruptionen zügeln, der ihn am dass man Systeme nur erfolgreich ändern schutzmittel mit Faktor 30 steht, hat Mat- Spielfeldrand schon an die Grenze zur kann, wenn man Menschen verändert. thäus eine Liste mit 27 Spielernamen. Die Handgreiflichkeit führte. Jetzt droht ihm Klinsmann hat das verstanden. Er will bei rot markierten sind jugendliche Ergän- eine 30-tägige Sperre wegen Schiedsrich- seinen untertalentierten Spielern die Köp- zungsspieler, die Farbe Blau bedeutet: terbeleidigung. Dass er einen Unpartei- fe öffnen, will ihnen Glauben an sich und Verkaufen! ischen „arrogant“ nannte, „dazu stehe den Erfolg geben. Er und Bierhoff emp- Der Primat der Transferpolitik sorgt ich“, sagt er, argwöhnt jedoch: „Man will fehlen ihnen Bücher, in denen Leute be- für sonderbare Geldflüsse. Die interna- mir nichts Gutes.“ schreiben, was stark macht. Er lädt sie ein, tionale Spieleragentur Stellar, deren Vielleicht muss er auch härter werden per E-Mail über diese Bücher zu diskutie- Deutschland-Vertreter den berühmten – wie der Ex-Teamgefährte Klinsmann, ren. Es kommt nicht viel zurück, seine Coach nach Brasilien vermittelte, zahlt dessen Unerbittlichkeit er bewundert und Jungs sitzen lieber an der Playstation. Der einen Teil des Trainergehalts. Diese In- der einst in München seine Absetzung Mensch ändert sich nur langsam, wenn vestition verbessere den Zugang zum bra- als Mannschaftskapitän betrieb. „Dieses überhaupt. Auch das ist ein Grundgesetz silianischen Spielermarkt, erläutert ein Killen“, sagt Matthäus, „das kann ich für Reformen. Agent. Drei Profis aus Matthäus’ Team nicht. Da steckt zu viel Menschlichkeit Und noch eines, im Fußball gültig wie in hat die Agentur schon unter Vertrag. in mir.“ Jens Glüsing, Jörg Kramer der Politik: Die Verlierer bestimmen die Stimmung. Als Klinsmann den Innenver- teidiger Christian Wörns von Borussia

der spiegel 11/2006 83 trainierbar. Ein Präsident von Tottenham hat gesagt, mit dem Trikot von Klinsmann würde er nicht einmal sein Auto waschen. Seine Karriere durchzogen seltsame Wi- dersprüche. Nicht nur, dass er wenig Talent hatte und viel Erfolg. Er galt als Freak, so frei im Kopf, dass er einen Käfer fahren konnte, obwohl die Kollegen in Porsches vorfuhren. Andererseits galt er als Ab- zocker, weil er sich für sehr viel Geld an- heuern ließ und schnell wieder weg war. Er galt als distanziert, kühl, unnahbar. Aber auf dem Platz war er leidenschaftlich wie kaum ein anderer. Er hat unbändig ge- jubelt, geweint, und als er einmal zornig war, trat er ein Loch in eine Werbetonne am Spielfeldrand. Weil er heftig schwäbelte und dauernd „die wo“ sagte, war man leicht geneigt,

EWA MARTENS EWA ihn für schlicht zu halten. Dann lieferte er Ex-Profi Klinsmann in Kalifornien: Käfer statt Porsche 1996 bei der Europameisterschaft in Eng- land Pressekonferenzen auf Englisch ab, Dortmund nicht für das Spiel gegen Italien fried, der die Bäckerei gegründet hat, ist und ohne Schwäbeln und „die wo“ wurde aufstellte, nannte der ihn „link und un- vor einem Jahr gestorben. Jürgen Klins- plötzlich Klugheit erkennbar. ehrlich“. Sofort fand Wörns breites Echo in mann hat in diesem Haus gelebt, hier hat Bei der WM 1998 in Frankreich hatten den Medien. Er war die Story. Er be- er eine Bäckerlehre gemacht. ein paar Journalisten ein Haus in Saint- stimmte die Grundstimmung, und die war Niemand hat ihn so beeinflusst wie sein Paul de Vence gemietet, über den Ber- nun schlecht. Ein Motzkopf macht schon Vater. Siegfried Klinsmann, erzählt Roland gen von Nizza. Im selben Ort wohnte eine Krise. Eitel, ein Freund und Berater des Bundes- die deutsche Nationalmannschaft, und Die nächste wartet schon. Eines Tages trainers, hat streng unterschieden zwischen manchmal kamen Spieler auf ein Ge- wird sich Klinsmann für einen Torwart ent- innen und außen. Innen, das war die Fa- spräch vorbei. Einer von ihnen war Jür- scheiden müssen, Oliver Kahn oder Jens milie. Außen, das war der Rest. Nach innen gen Klinsmann. Lehmann. Es wird einen Verlierer geben, herrschte Innigkeit und Vertrauen, nach Er spielte damals sein letztes Turnier, und der, nicht der Gewinner, wird wieder außen Zurückhaltung, auch Misstrauen. stand am Ende seiner Karriere. Er war ein die Stimmung bestimmen. Schon jetzt Jürgen Klinsmann hat das übernommen. vollkommen anderer Typ als die anderen, droht Beckenbauer. Sein Innen, das sind vor allem Frau und als Christian Wörns etwa, mit dem er heu- So steht der, der anderen etwas zumutet, Kinder in Kalifornien. Dorthin muss er im- te Probleme hat. Wörns sprach über Fuß- immer als umstritten da, als eine Figur, die mer wieder zurück, weil er zu viel Außen ball, sonst nichts. Klinsmann tat etwas, was Hass auf sich zieht. Das macht es auch den nicht aushält. Fußballstars eigentlich nicht tun. Er stellte anderen schwer, sich ganz auf seine Seite Wenn man ihn länger beobachtet, sieht Fragen. Es war, als wollte er sich nach Le- zu schlagen. Man zweifelt an ihm, weil die man immer wieder Phasen, in denen er bensformen erkundigen, als sei er auf der Stimmung ja schlecht ist. Je mehr einer verschwindet, nicht gleich über den At- Suche nach einem Leben, das nicht auto- lantik, sondern in die inne- matisch auf der Trainerbank endet. Nach re Bäckerei. Im Vereins- 16 erfolgreichen Jahren als Fußballprofi ALS SPIELER HATTE ER WENIG TALENT UND heim in Bornheim ist er wirkte er unabhängig vom Fußballbetrieb. VIEL ERFOLG. ER WAR EIN FREAK. von einem Riesentrubel Das gibt es nicht oft. umgeben, Kinder, die ihn Nach der WM ging er mit seiner ameri- verändert, desto mehr wird er zum Außen- nach Autogrammen bestürmen, Journa- kanischen Frau nach Huntington Beach in seiter. listen, Vereinsmenschen. Er macht das Kalifornien. Er lernte Spanisch, machte Allerdings kennt Klinsmann diese Rolle eine Weile mit, dann lehnt er sich an eine EDV-Kurse und schloss sich der Firma schon lange. Er ist nur deshalb in der Lage, Fensterbank und beendet seine Anwesen- Soccersolutions von Mick Hoban und das deutsche Fußballmilieu aufzumischen, heit. Sein Gesicht verschließt sich, der Warren Mersereau an. Gemeinsam ent- weil er sich früh davon gelöst hat. Blick geht nach innen. Niemand spricht wickelten sie Konzepte für Fußballvereine Der Ursprung von dem, was Deutsch- ihn an. oder Ausrüster. Es war Klinsmann dann land gerade mit seinem Bundestrainer er- Klinsmann hat sich als Profi nie der Fuß- doch nichts anderes eingefallen als ein lebt, liegt in Stuttgart-Botnang in der El- ballwelt angeschlossen. Als er bei den weiteres Fußballleben. 2004 wurde er Bun- tinger Straße. Hier ist eine Bäckerei und Stuttgarter Kickers spielte, schwor er, nie- destrainer. Konditorei, die den Namen Klinsmann mals zum Lokalrivalen VfB Stuttgart zu Es ist eine Eigenart Klinsmanns und ein trägt. Über der Tür hängt eine goldene gehen. Er ging bald. Er schwor auch, nie zu weiterer Widerspruch, dass er, der sich Brezel. Bayern München zu gehen. Von 1995 bis gern entfernt, doch immer nur zu Hause Der Laden ist mit Holz verkleidet und 1997 war er dort. Die Schwüre entsprangen ankommt. In Kalifornien hört er SWR 3 karg eingerichtet. Es herrscht reine Zweck- den Vorstellungen seiner Umgebung. Er und weiß deshalb jederzeit, wo es einen mäßigkeit, man spürt Strenge. Weil Fa- selbst konnte problemlos ein Außen durch Stau in Stuttgart gibt. sching ist, hängen ein paar Luftschlangen ein anderes Außen ersetzen. Wenn es um Geld geht, dann ist er so an den Lampen, aber so richtig lustig sieht Er hat bei Inter Mailand gespielt, bei schwäbisch geizig, dass es kracht. Er, der das nicht aus. Die Brezel kostet 52 Cent. Sampdoria Genua, beim AS Monaco und Millionär, ist schon zum Supermarkt ge- An der Wand hängt ein Meisterbrief von zweimal bei Tottenham Hotspur. Er war laufen, weil ihm die Brötchen beim Bäcker Horst Klinsmann, der ist einer der drei nie mit Haut und Haar dabei, in seiner zu teuer waren. Bei Vertragsverhandlun- Brüder des Bundestrainers. Vater Sieg- späten Zeit als Spieler galt er fast als un- gen pokerte er bis zum Äußersten, nicht,

84 der spiegel 11/2006 Titel weil er Geld brauchte, sondern, „Angela“ zu beginnen, hat sich damit es niemand sonst bekam. noch keiner getraut. In Berlin Klinsmann ist eine Spezies sind immer Frauen dabei, in für sich: der kleinkarierte Welt- Frankfurt fragen nur Männer. bürger. Damit ist er überall Für beide Sphären gilt, dass Außenseiter. Geschichte vom Ende her er- Als er Bundestrainer wurde, zählt wird. Nur hat Politik selten war die deutsche Mannschaft bei ein klares Ende. Für die Sport- der Europameisterschaft in Por- journalisten dagegen ist jeder tugal in der Vorrunde ausge- Spieltag ein kleines Ende und schieden. Rudi Völler trat zurück, ein Finale ein großes. Ein 1:4 ist Ottmar Hitzfeld, der mit Dort- ein solches Desaster, dass nie- mund und München die Cham- mand sich damit trösten kann, pions League gewonnen hatte, dass Klinsmanns Reformen dem wollte nicht. Der DFB war in der deutschen Fußball langfristig Krise. Die Krise ist immer eine helfen könnten. Ein 1:4 diktiert Chance für einen Außenseiter. die vernichtenden Artikel quasi Nur der Außenseiter kann ein selbst. Das Fußballgeschäft mit System grundlegend verändern, seinen vielen Enden ist damit weil ihm die Bindungen fehlen. noch kurzfristiger und hysteri- Er muss nicht so viel Rücksicht scher angelegt als die Politik, nehmen. Als Außenseiterin also ist es noch schwerer, etwas pfropfte Angela Merkel der zu ändern, denn Reformen CDU ein Reformprogramm auf. brauchen langen Atem. Auch Schröder hatte keine en- Ein 1:4 diktiert auch die Fra- gen Bindungen in seine Partei. gen. Nach dem Spiel gegen Ita- Dieser Vorteil wird zum lien dampft es im Presseraum Nachteil, wenn Erfolge ausblei- des Florentiner Stadions. Es

ben. Die Kritik an Klinsmann ist / GETTY IMAGES HASSENSTEIN ALEXANDER dampft, weil sich viel zu viele jetzt auch deshalb so vehement, Europameister Klinsmann, Kanzler Kohl (1996): „Tschö Klinsi“ Leiber hier hineingezwängt ha- weil sich ihm kaum einer ver- ben. Es dampft auch, weil sich pflichtet fühlt. Alle waren immer außen sein Buch alle Punkte, die nicht günstig jetzt Lust anstaut, die Lust auf böse Sätze und sind es noch. Wenn Klinsmann die sind für Klinsmann, aber insgesamt ist es für ein schlechtes Spiel. Auf der Presse- Heimspiele des VfB Stuttgart besucht, geht wohlwollend. In der Stimmung dieser Tage tribüne wurde schon die erste Wette auf er nie in die Lounge der Ehemaligen, wo er reicht das schon, um zum Lager Klinsmann Klinsmanns Kopf abgeschlossen. Den März die alten Gefährten Karlheinz Förster oder gerechnet zu werden. werde er „nicht überleben“, Rotwein, ein Hansi Müller treffen könnte. Er kann nicht Harald Schmidt gehört zum anderen La- gutes Essen. allen auf die Schulter klopfen wie sein Vor- ger. Er hat Klinsmann einst als „Schwa- Als Erster kommt Marcello Lippi, Ita- gänger Rudi Völler, den alle mochten, auch benschwuchtel“ geschmäht und wurde ge- liens Trainer. Ein deutscher Journalist weil er niemandem weh tat. richtlich zur Unterlassung aufgefordert. In fragt: „Können Sie sich an einen leichteren „Einem Jürgen Klinsmann wird nichts seiner „Harald Schmidt Show“ lässt er der- Sieg erinnern?“ Es ist klar, was er hören verziehen“, sagt Michael Horeni, Sport- zeit jedes Mal „Tschö Klinsi“ einblenden. möchte: Nein, das war ein Spaziergang. Dahinter steht die Zahl der Wie herrlich ließe sich das aufschreiben: Tage bis zur WM. Lippi verspottet Klinsmann. DAS FUSSBALLGESCHÄFT IST NOCH KURZ- Die Medien haben im Die Dolmetscherin versteht die Frage FRISTIGER UND HYSTERISCHER ALS DIE POLITIK. System Fußball mindestens nicht. Ein Kollege stellt sie auf Englisch, die eine so große Bedeutung gewünschte Antwort ist zu schön, um sie redakteur der „FAZ“, der im vergangenen wie im System Politik. Wenn der DFB zu durch Sprachprobleme zu verlieren. Was it Herbst eine Biografie des Bundestrainers einer wichtigen Pressekonferenz in seine ever easier? Lippi ist ein Gentleman, er veröffentlicht hat. Er sagt das in einem Re- Frankfurter Zentrale lädt, kommen nicht lobt Klinsmanns Arbeit. staurant in Florenz vor dem Spiel gegen weniger Journalisten als zur Bundespres- Dann kommt der Bundestrainer. Er hat Italien. Das Familienprinzip der Abschot- sekonferenz mit Angela Merkel oder Franz die Hände in den Taschen, er wirkt ange- tung übertrage Klinsmann auch auf die Na- Müntefering. fasst. Und dann macht er eine sehr gute tionalmannschaft. „Er hat eine Insel ge- In Frankfurt ist die Rückwand dunkel- Figur: Er antwortet ruhig, benennt die schaffen, auf der sich alle sicher fühlen rot, in Berlin ist sie blau. Anders als die Fehler seiner Mannschaft und spricht können. Es gilt das Prinzip: Hier sind wir, politischen Journalisten schreiben viele ihr gleichzeitig das Vertrauen aus. Man da sind die anderen.“ Sportkollegen sofort in ihre Laptops, als hat den Eindruck, dass er ein Mann Während des Gesprächs bekommt Ho- seien die Nachrichten dringender, müssten ist, dem man eine junge Mannschaft an- reni einen Anruf. Ein Kollege erzählt ihm, schneller unters Volk gebracht werden. vertrauen kann. dass Horeni in der neuen „Sport-Bild“ Auch der Gestus der Fragesteller ist ver- Davon findet sich in den nächsten Tagen vom Fernseh-Entertainer Harald Schmidt schieden. In der Bundespressekonferenz nichts in den Berichten wieder. Das geht angegriffen werde. Schmidt hat offenbar sind viele Journalisten auf Originalität und wohl auch nicht, direkt nach einem 1:4 den Eindruck, der Sportredakteur schreibe Witz bedacht, was manchmal ziemlich al- würde das seltsam wirken. Es zeigt nur, so viel in der „FAZ“ über Klinsmann, da- bern wirkt. In Frankfurt herrscht meistens dass die Realität, wie sie sich in den Me- mit sich die Biografie besser verkaufe. großer Ernst, man zeigt gern sein Fach- dien widerspiegelt, sehr stark von Ergeb- Horeni macht seinen Job, der Vorwurf wissen, gibt sich als Experte zu erkennen. nissen abhängt. Es sind nur passende Aus- ist absurd, aber so wie die Lage derzeit ist, Der Bundestrainer ist für viele der „Jür- schnitte. So wie nach der Bundestagswahl, kann man als Biograf von Klinsmann kaum gen“, und so beginnen die Fragen dann die sie fast verloren hätte, kaum jemand ungeschoren davonkommen. Zwar nennt auch: „Jürgen, hast du …“ Eine Frage mit Angela Merkels Stärken hervorheben woll-

86 der spiegel 11/2006 te. Das hätte ebenfalls seltsam gewirkt, nen schönen Satz: „Ich habe aber sie waren noch da. Die Realität ist den Fußball sehr lieb.“ Er freue immer komplexer als ein Artikel. sich „unglaublich“ auf die Welt- Auch nach dem 1:4 kann Klinsmann ein meisterschaft. Aber es sei nicht Segen für den deutschen Fußball werden. seine Aufgabe, Euphorie für die Das Ende dieser Geschichte ist noch nicht Nationalmannschaft zu schüren. erreicht. Da hat er recht. Wenn es nach Alfred Draxler ginge, soll- Das ist ein Widerspruch, den te das Kapitel Klinsmann allerdings jetzt auch politische Journalisten abgeschlossen werden. Zwei Tage nach kennen. Sie haben die Politik dem Spiel schrieb er in „Bild“: „Wenn sehr lieb, jedenfalls manche, Klinsmann jetzt wirklich in dieses Flug- aber es ist nicht ihre Aufgabe, zeug steigt, dann sollte er am besten gleich zur gewünschten Aufbruchstim- ganz in Amerika bleiben.“ Draxler ist stell- mung beizutragen. Aufbruch- vertretender Chefredakteur von „Bild“ stimmung ist das Äquivalent der und zuständig für Sport. Politik zur Euphorie im Fußball, „Fußball – das ist Boulevard und Stamm- und sie wird in Deutschland tisch“, hat Klinsmanns Freund Roland Eitel gleichermaßen vermisst. Doch gesagt. Für Schröder zählten „,Bild‘, ,Bams‘ die Aufgabe von Journalisten ist und Glotze“. So weit sind die beiden kritische Begleitung, nicht Stim- Sphären in diesem Punkt also nicht aus- mungsmache. einander. Allerdings dürfte der Einfluss von Das ist ein Problem für alle „Bild“ auf den Fußball noch größer sein Reformprojekte. Wie sollen sich als auf die Politik. Als die deutschen Jour- Aufbruchstimmung oder Eu- nalisten in Frankfurt auf den Abflug ihrer phorie vermitteln, wenn die Chartermaschine nach Florenz warteten, Journalisten, die sie verbreiten las mindestens die Hälfte „Bild“. könnten, habituell skeptisch

Draxlers Büro liegt im zehnten Stock / VISUM JÖRG MÜLLER sind? des Axel-Springer-Hauses in Hamburg. Er Fußballer in der Werbung*: Und das Bruttosozialprodukt? Klinsmann hat nach dem hat einen wunderbaren Blick über die Spiel gegen Italien einen Ver- Stadt, in seinem Regal stehen ein kleiner Dazu hat er wieder einen sauberen Satz such gemacht, die Medien mit ins Boot zu Humidor und ein Großer Brockhaus, von parat: „Wir wollen Stimmungen darstellen, holen. Er hat zu einer Pressekonferenz ge- dem die Bände 13 bis 22 fehlen. Er trägt ein nicht Stimmungen beeinflussen.“ Es wird rufen und gesagt: „Wir wollen uns mit euch weißes Hemd, eine schwarze Hose und aber nicht ganz klar, wie die Sportredaktion austauschen. Wir wollen euch einfach mit hellbraune Schuhe. Sein Haar ist nach hin- Stimmungen erfasst, zumal es, wenn so ge- einbeziehen in diese Gedanken. Wir sind ten gekämmt. Er ist der mächtigste Mann trommelt wird wie derzeit, keine „Bild“-un- daran interessiert, eure Meinung zu hören.“ des deutschen Sports. abhängige Stimmung mehr geben dürfte. Du Er saß etwas vom Tisch weggerückt, hatte Gleichzeitig ist er die ganz große Un- bist Deutschland, ist ein Satz, der bei Draxler ein Bein über das andere geschlagen, was schuld des deutschen Sports. Seine beiden nicht ganz so absurd ist wie bei anderen. Distanz schuf zu den Leuten, die er mit zentralen Sätze lauten: „Der Vorwurf einer Es gibt verschiedene Gerüchte. „Bild“ einbeziehen wollte. Niemand reagierte. Kampagne gegen Klinsmann ist völlig ab- führe eine Kampagne gegen Klinsmann, Obwohl Bierhoff, Löw und Torwarttrai- surd.“ Und: „Wir berichten sachlich.“ weil man für dessen alten Widerpart Mat- ner Köpke bei ihm saßen, wirkte er allein thäus ist, weil es vor zehn in diesem Moment, verlassen. Jahren mal einen Rechts- Und da, ehrlich gesagt, kam der Wunsch DANN SAGT DER „BILD“-MANN EINEN SCHÖNEN streit wegen eines Fotos auf, die Welt möge, jedenfalls bis zum 9. SATZ: „ICH HABE DEN FUSSBALL SEHR LIEB.“ gab. In Wahrheit geht es Juli, einmal anders sein, als sie ist. Klins- wohl wieder um Unabhän- mann hat Fehler gemacht, aber er hat auch Ist „Grinsi-Klinsi“ sachlich? gigkeit. Draxler ist es gewöhnt, dass die die richtigen Dinge angepackt. „Grinsi-Klinsi ist eine Boulevard-Zeile.“ Größen des Fußballs eng mit „Bild“ zu- Es müsste einen Deal geben, zwischen Da ist er natürlich fein raus, wenn alles, sammenarbeiten, Kolumnen schreiben Klinsmann und der Öffentlichkeit: Er was eine Boulevard-Zeile ist, nicht im oder jederzeit Informationen ausplaudern. kommt für die nächsten Wochen nach Widerspruch zur Sachlichkeit steht. Da „Bild“ ist Teil des Fußballbetriebs, Klins- Deutschland zurück, um aus seiner jungen kann er fleißig holzen, und das macht er mann nicht. Wenn etwas ausgeplaudert Mannschaft herauszuholen, was heraus- auch. wird, nennt er das „Informationskorrup- zuholen ist. In der Öffentlichkeit wird es Aber Klinsmann macht es ihm auch tion“. Er steht „Bild“ nicht jederzeit zur weiterhin Kritik geben, aber keinen De- leicht. Es mag ja sein, dass es an den Er- Verfügung, schon gar nicht mit privaten Ge- fätismus, keine Lust am Zerschlagen. folgsaussichten für die deutsche Mann- schichten. Er will in seinem Umfeld keine Deutschland stellt sich hinter seinen Bun- schaft nichts ändert, wenn er nach dem Leute, die mit „Bild“ eng verbunden sind. destrainer und seine Mannschaft. Es geht ja Spiel gegen Italien sofort nach Kalifornien Er will die traditionelle Macht von „Bild“ nicht um eine neue Agenda 2010, um die fliegt. Aber er bewegt sich mit seinem über die Nationalmannschaft brechen. Änderung von Lebensverhältnissen. Es geht WM-Projekt in einer Mediengesellschaft, Draxler bleibt auch in diesem Punkt ge- um ein Fest, eine WM im eigenen Land. und da zählt symbolisches Handeln, wie er schmeidig: „Wir arbeiten sehr gut zusam- Und Klinsmann und seine Mannschaft von Schröder hätte lernen können. men, sehr professionell, wir haben jeder- versuchen ein Wunder, so wie die Grie- Hier sein, im Stadion sein, Commitment zeit Zugang.“ chen bei der Europameisterschaft 2004 ein zeigen – die Stimmung wäre nicht ganz so Zum Schluss des Gesprächs sagt der Wunder versucht und geschafft haben. Das schlecht. Wobei immer noch die Frage ist, mächtigste Mann des deutschen Sports ei- ist einer der großen Unterschiede von wo die Stimmung eigentlich herkommt. Politik und Fußball. Es gibt Wunder, nicht Aus dem Volk? Oder aus der Feder von * Nationalspieler Lukas Podolski und Bastian Schwein- oft zwar, aber mindestens müsste man an Alfred Draxler und seinen Leuten? steiger, Plakate an einem Hotel in Hamburg. sie glauben.

88 der spiegel 11/2006 Titel

gründe des Vorgangs für Bayer nicht schlüssig aufgeklärt werden konnten“ und die „Überprüfungen letztendlich zur un- verzüglichen Trennung“ von Reiner Cal- Ein Spiel im Mai mund geführt hatten. Mittlerweile interessiert sich für den Fall Wurde mit den 580000 Euro, die Reiner Calmund bei Bayer aus der die Kölner Staatsanwaltschaft. Sie hat in der vergangenen Woche ein Ermittlungs- Kasse nahm, in Leverkusen eine Erstliga-Partie manipuliert? verfahren gegen Calmund wegen des Ver- Die Bielefelder Kriminalpolizei ermittelt auch gegen einen Spieler. dachts der Untreue und gegen Graul we- DENNIS BROSDA / DDP (L.); PREMIERE (R.) DENNIS BROSDA Früherer Bayer-Manager Calmund, Spielszene*: „Das ist definitiv absolut ausgeschlossen“

as Foul in der 63. Minute ist harm- miere-Reporter Marcel Reif formulierte es gen des Verdachts der Beihilfe zur Untreue los, aber folgenschwer. Nachdem noch härter. Als er die Schlüsselszene des eingeleitet. Grundlage dafür sind Nachfor- Dder Bielefelder Mittelfeldspieler Spiels live kommentiert, poltert er los: schungen der Kriminalpolizei Bielefeld zu Ansgar Brinkmann den Ball weit in des „Das ist Schwachsinn hoch vier. Das ist dem 580 000-Euro-Deal, die der Kölner Gegners Spielhälfte verloren hat, trottet er Ansgar Brinkmann in Reinkultur. Erst geht Behörde zugestellt worden sind. dem Leverkusener Pascal Ojigwe ein paar er gelinde gesagt larifari in den Zweikampf, Im Visier der Fahnder steht auch der Schritte hinterher und zupft ihn dann am und dann langt er hin. Was will er dafür ehemalige Bielefelder Profi Ansgar Brink- Trikot. Der Schiedsrichter zeigt Brinkmann haben, für dieses eindeutige Gegrabsche?“ mann, 36, heute in der dritten Liga bei erst die Gelbe und dann die Rote Karte – Vielleicht einen Haufen Geld? Preußen Münster im Einsatz. Bereits seit der Bielefelder war wegen einer Grätsche Die Antwort gibt es nun womöglich drei Anfang dieses Jahres ermittelt die Kripo in der 16. Minute bereits verwarnt. Jahre später. Es besteht der Verdacht, dass Bielefeld im Zusammenhang mit der du- Als der „weiße Brasilianer“, wie Brink- der Platzverweis von Ansgar Brinkmann biosen 580 000-Euro-Zahlung gegen den mann sich wegen seiner feinfühligen Ball- am 4. Mai 2003 in Leverkusen in einem Fußballer wegen des Verdachts der Beihil- behandlung gern selbst nennt, vom Feld Zusammenhang stehen könnte mit einer fe zur Untreue. fliegt, steht es 1:1 in der Leverkusener dubiosen Geldentnahme aus der Kasse von In diesen Akten findet sich ein Vermerk BayArena, und die dezimierte Gäste- Bayer Leverkusen in Höhe von 580 000 eines Kriminalbeamten über ein Gespräch, mannschaft hat noch fast eine halbe Stun- Euro im Juni 2003 – und zumindest ein das dieser mit einem Zeugen geführt hat, de vor sich – bei 25 Grad im Schatten. Teil dieses Geldes als Schmiermittel dafür der Brinkmann sehr gut kennt. Demnach Für Bayer Leverkusen ist dieser 4. Mai diente, dass der Werksclub den Super-GAU hatte jener Zeuge Brinkmann nach dem 2003 der Tag, an dem es um alles geht: Der der Zweitklassigkeit noch abwendete. Spiel in Leverkusen am 4. Mai 2003 auf Club, ein Jahr zuvor noch Vizemeister, steht Wenige Tage nach Saisonende hatten dessen „schlechte Leistung“ und den nach 30 Saisonspielen als 16. der Tabelle Bayer-Manager Reiner Calmund und ein Platzverweis angesprochen. Das sei schon mit 31 Punkten auf einem Abstiegsplatz. Mitarbeiter drei Schecks über insgesamt in Ordnung, soll Brinkmann sinngemäß Bei einer Niederlage, räumte der damalige 580000 Euro abgezeichnet. Das Geld er- geantwortet haben, schließlich sei er dafür Trainer Thomas Hörster nach dem Spiel hielt der Gütersloher Spielerberater Volker gut bezahlt worden. Ähnlich soll sich ein, „wäre alles aus gewesen“. Graul, der dem Club dafür zehn Monate Brinkmann gegenüber Bekannten auch im Doch Bayer hat Glück – oder das, was später eine Rechnung zustellte: für die „Ver- Jahr 2004 geäußert haben. man bislang dafür gehalten hat. Nach mittlung einer Kaufoption“ an zwei Spielern Gegenüber dem SPIEGEL weist Brink- Brinkmanns Abgang wird aus dem Remis aus Kroatien und Serbien. Belege zu dieser mann den Verdacht, von Graul oder von noch ein 3:1-Erfolg für Leverkusen. Brink- angeblichen Kaufoption finden sich in den Dritten Geld für eine Manipulation bei mann avanciert zum Buhmann des Tages. Büchern von Bayer jedoch nicht. dem Spiel in Leverkusen erhalten zu ha- „Die Welt“ schrieb von „einem schon Die Enthüllung dieses rätselhaften Deals ben, entschieden zurück. „Meine Herren, dämlich zu nennenden Trikotzupfer“. Pre- (SPIEGEL 10/2006) erstaunte in der vori- sind Sie wahnsinnig? Sie können sich alle gen Woche die Branche. Denn im Zuge meine Bundesligaspiele angucken. Sie wer- * Foul des Bielefelder Spielers Ansgar Brinkmann in der der Veröffentlichung musste Bayer 04 ein- den nichts finden. Nichts. Ich liebe Fußball. 16. Minute der Begegnung gegen Leverkusen am 4. Mai 2003. gestehen, dass „die tatsächlichen Hinter- Ich würde so was nie tun!“

90 der spiegel 11/2006 Auch Calmund dementiert diesen Ver- Mit 14 verschiedenen Vereinen im Lauf Kreditinstitut. Am 3. Dezember vorigen dacht: „Das ist definitiv absolut ausge- seiner Karriere wechselte der „letzte Jahres drohte Brinkmann kurzfristig Voll- schlossen“, er habe Graul, erklärte er vo- Straßenfußballer“ seine Arbeitgeber wie streckungshaft, weil er die 18000 Euro Stra- rigen Freitag, eigens noch einmal danach sonst nur die Begleiterinnen. Und weil fe aus seinem Verfahren wegen Körper- gefragt. Graul selbst ließ über seinen An- Brinkmann nicht nur auf dem Rasen den verletzung nicht beglichen hatte. Erst als walt erklären, er habe von der 580 000- Kontakt zum Gegner suchte, wurde er der Vater seiner Freundin zahlte, war die- Euro-Zahlung „kein Geld an Ansgar 2003 wegen mehrfacher Körperverletzung ses Problem aus der Welt. Brinkmann weitergereicht“. Er weise „je- zu einer Geldstrafe von 42000 Euro ver- War Brinkmann also die perfekte Figur, den Vorwurf einer Spiel-/Spielermanipu- donnert. Einmal würgte er bei einem sei- um sich auf dem Rasen an der Manipula- lation als abwegig zurück“. ner nächtlichen Streifzüge in einer Biele- tion eines Spiels zu beteiligen? PREMIERE (L.); UWE SPECK / WITTERS (R.) PREMIERE (L.); UWE SPECK / WITTERS Bielefelder Profi Brinkmann, beim Trikotfesthalten gegen den Leverkusener Ojigwe: „Schwachsinn hoch vier“

Sollten sich indes die Indizien bestäti- felder Disco einen Kellner. Ein anderes Mal Nach dem Schicksalskick in der Bay- gen, die für ein abgekartetes Spiel im Ab- legte er sich bei McDonald’s mit zwei Gäs- Arena – Brinkmann hatte für Bielefeld mit stiegskampf der Saison 2002/2003 spre- ten an. Weil er so klamm war, wurde dem einem Strafstoß in der 34. Minute das 1:0 chen, würde dies dem deutschen Profifuß- Lebemann die Strafe später auf 18000 Euro erzielt, obwohl er als Elfmeterschütze nicht ball knapp drei Monate vor der WM eine reduziert. „Brinkmann hat gebrannt wie vorgesehen war – hatte der reuige Kicker handfeste Krise bescheren. ein Tannenbaum“, sagt einer seiner dama- die Szene so zu begründen versucht: Für Calmund stand nicht weniger als ligen Weggefährten. Mitspieler erinnern „Natürlich ärgere ich mich, dass ich meiner sein Lebenswerk auf dem Spiel. Die Angst sich, dass in seinem Haus in Bielefeld statt Mannschaft geschadet habe. Aber das ist vor der Zweitklassigkeit verfolgte ihn bis der sonst in Profikreisen üblichen Desi- halt Abstiegskampf.“ Unterwürfig fuhr er ins Allerheiligste. „Das Abstiegsgespenst gner-Couch „nur Gartenmöbel standen“. fort, er habe bei seinem Foul „nicht ka- liegt in meinem Bett“, erklärte er seiner- Kein Wunder: Den Fußball-Hallodri be- piert, dass ich schon Gelb hatte“. zeit. Ein Absturz des Leverkusener Star- drückten im Februar 2003 ausweislich einer Mit ein bisschen Zeit zum Nachdenken ensembles in die zweite Liga hätte für den Gläubigerliste Forderungen in Höhe von fallen dem Sportsmann eventuell doch Bayer-Konzern nicht nur einen gewaltigen etwas mehr als 525000 Euro. Zudem waren noch ein paar bislang unbekannte Details Imageschaden zur Folge gehabt. Die 25 durch einen Hauskauf Verbindlichkeiten ein. So wird der chronisch klamme Brink- Millionen Euro, die der Chemie-Riese zu in Höhe von über 500000 Euro entstan- mann den Ermittlern nun erklären müs- jener Zeit jährlich in Material und Mann- den. Brinkmanns Anwalt wollte diese Zah- sen, wieso er im Jahr 2004 einen Audi S6, schaft gepumpt hatte, wären werksintern len nicht kommentieren. Neupreis rund 77 500 Euro, fuhr. Zulas- auf den Prüfstand gekommen. Von den etwa 300000 Euro brutto, die sung und Leasingraten für den 340 PS star- Auch Ansgar Brinkmann war zu jener Brinkmann zu dieser Zeit bei dem Bun- ken Wagen liefen nicht auf seinen Namen Zeit mächtig unter Druck. Der Lebemann desligisten jährlich verdiente, musste er vor – sondern auf Volker Graul. aus Vechta hatte bei einem missglückten allem seine Gläubiger bedienen. So blieben Dem SPIEGEL gegenüber erklärte Brink- Investment mehrere hunderttausend Euro ihm zwischen Februar und Juni 2003 zum mann, Graul habe ihm das Auto als Dienst- in den Sand gesetzt und wurde von einem Leben gerade mal 1500 Euro monatlich. wagen zur Verfügung gestellt, als er da- knappen Dutzend Gläubigern bedrängt. Der Rest seiner Einnahmen floss auf ein mals für ihn Spieler beobachtet habe. Finanziell stand er am Abgrund. Konto in Köln und wurde von einem Fraglich ist auch, wie Brinkmann die Volker Graul wiederum, der als Mana- Rechtsanwalt zwangsverwaltet. 19500 Euro aufbrachte, mit denen er sich ger schon einmal den Zweitligisten FC Gü- An Brinkmanns notorischem Mangel an im August 2003 ein gebrauchtes Jaguar- tersloh mit in die Pleite geritten hatte und Barem hat sich nicht viel geändert. Seine Coupé gekauft hatte. Brinkmanns Anwalt der in der Fußballszene über einen eher Hausbank in Bielefeld schloss im vergan- sagte, er kenne die Rechnung nicht, aber üblen Leumund verfügt, kannte beide gut: genen Jahr seine acht Konten, die sich tief der Jaguar habe nur 12000 Euro gekostet. Calmund und Brinkmann. im Minus befanden. Bis zu seinem Raus- Außerdem habe Brinkmann durch die vor- Warum aber sollte Brinkmann für eine wurf bei Dynamo Dresden im Januar über- zeitige Vertragsauflösung mit Arminia Bie- Handvoll Bares endgültig Ruf und Karrie- wies der Zweitliga-Club vom Gehalt des lefeld im Sommer 2003 zusätzliches Geld re ruinieren? Der Blondschopf gilt als En- Mittelfeldspielers per Pfändungsbeschluss bekommen. Jörg Schmitt, fant terrible der deutschen Kickerbranche. 1000 Euro monatlich an das ostwestfälische Michael Wulzinger

der spiegel 11/2006 91 Titel

nes Mobiltelefons, von dem aus D. gekö- dert worden war, kam das Ausmaß der Zockeraktivitäten ans Licht. Über Wochen Zum Mitnehmen observierte das Landeskriminalamt den in Eine neue Wettaffäre Beirut geborenen Sayed G., 23. Am vorigen Montag schlugen die Er- erschüttert den deutschen Fußball. mittler dann zu. Sie nahmen den Libanesen Die Ähnlichkeiten mit dem und drei Kumpanen wegen „gewerbs- und Fall Hoyzer/Sapina sind verblüffend. bandenmäßigen Betrugs“ (AZ 6350JS 246513/05) fest: den Polen Michael S., 25, as unmoralische Angebot kam via den Malaien William L., 45, und den Ser- Handy. Ob er an einem Gespräch ben Dragan A., 42, einen ehemaligen Ama- Düber seine Zukunft interessiert sei, teurkicker, der sich zuletzt als Spielerbera- wollte der unbekannte Anrufer wissen. ter versucht hatte. Übers Internet soll die Der Regionalliga-Spieler Ousseynou D., internationale Gang Kombinationswetten mit 32 Jahren das Karriere-Ende vor Au- in Asien platziert haben, vorzugsweise auf gen, willigte ein. Man verabredete sich in exakte Spielstände zur Halbzeitpause. einer Eschborner Pizzeria, dem Stammlo- Mindestens vier Regionalliga-Partien kal der Kicker des 1. FC. und das Zweitligaspiel Rostock gegen Sie- Der Fremde kam schnell zur Sache. Er gen (2:0) vom 26. Februar sind ins Visier gab sich als Jordanier aus, der im Wettge- der Fahnder geraten. Der Siegener Torhü- schäft tätig sei, zog ein Bündel Geldscheine ter Adnan Masiƒ wurde am vergangenen heraus und legte 5000 Euro auf den Tisch, Freitag von LKA-Beamten vernommen. Er gab zwar zu, mit einem Zocker bekannt zu sein, habe mit Ma- nipulationen aber nichts zu tun. Die Dimension der Affäre ist noch schwer abzuschätzen. Ob sich die Wettbande gerade erst ein Netz von Spielverschiebern aufbaute oder ob der Betrug be- reits voll im Gange war, wird womöglich die Auswertung der Hausdurchsuchungen beant- worten, die vorigen Montag bei Spielerberater Dragan A. in Speyer und bei Sayed G. in Bad Dürkheim stattfanden. Bei der Kontaktaufnahme

FIRO / AUGENKLICK von Fußballern scheinen sich Siegener Torhüter Masiƒ: Mit dem Zocker bekannt die mutmaßlichen Wettbetrüger den Fall Hoyzer/Sapina als Vor- „zum Mitnehmen“. Weitere 40000 Euro lage genommen zu haben. Wie der kroati- könne der Fußballprofi bekommen, wenn sche Zockerkönig versuchte auch G., seine das Heimspiel gegen den FC Augsburg am zukünftigen Komplizen mit einem lässigen 26. November exakt so ausgehe, wie man Lebensstil, einem im Fitnessstudio „Body zuvor in einer Sportwette tippen werde. and Soul“ gestählten Körper und teuren Dem Senegalesen D. war nicht son- Autos zu beeindrucken. So hatte er sich derlich wohl, als er die Offerte ablehnte; im Herbst an Dominick Kumbela heran- draußen warteten zwei Männer in einer gepirscht, ein Stürmertalent des 1. FC Kai- Limousine aus Mannheim auf das Ende des serslautern. Man freundete sich an, schlug Gesprächs. Der Abwehrspieler vertraute die Zeit gemeinsam tot, besuchte Fußball- sich dennoch einem Funktionär des 1. FC spiele, zog um die Häuser. Eschborn an, der umgehend per E-Mail den Als Kumbela am 1. Februar zu Rot-Weiß Deutschen Fußball-Bund informierte. Erfurt wechselte, intensivierte G. den Kon- Es war der Tag, an dem auch der letzte takt – bis LKA-Beamte vorvergangenen Optimist in der DFB-Zentrale einsehen Sonntag die beiden in einem Kaiserslaute- musste, dass der Betrugsskandal um den rer Restaurant observierten und den Liba- Berliner Profizocker Ante Sapina und die nesen tags darauf festnahmen. Auch Kum- Schiedsrichter Robert Hoyzer und Dominik bela, der seine Unschuld beteuert, wird Marks mitnichten als glimpflich überstan- mittlerweile als Beschuldigter geführt. dener Einzelfall abgehakt werden kann. Wovon G. seinen Lebensunterhalt be- Das Geschäft mit Sportwetten – in Deutsch- stritten hat, ist eine der spannenden Er- land wird offiziell jährlich rund eine Mil- mittlungsfragen. Seine 45-Quadratmeter- liarde Euro umgesetzt – lockt kriminelle Wohnung, 450 Euro Miete, wurde von der Kreise geradezu magisch ins Stadion. Stadt bezahlt, sein Mercedes-Sportcoupé, Nachdem der DFB die Informationen behauptet er, habe er von einem Lottoge- des Eschborner Spielers an die Kripo wei- winn über 20000 Euro gekauft. tergegeben hatte, darunter die Nummer je- Matthias Bartsch, Sven Röbel

92 der spiegel 11/2006 Trends

BANKEN Sparkassen vor Privatisierungswelle? undesfinanzminister Peer Steinbrück Bfürchtet um den Verbund und die Existenz der deutschen Sparkassen. Er rechnet damit, dass die EU-Kommission noch diesen Monat ein Vertragsverlet- zungsverfahren gegen Deutschland ein- leiten wird, das zur Zulassung privater Sparkassen führen könnte. Den zustän- digen Kommissar Charlie McCreevy stö-

re, dass bislang nur öffentlich-rechtliche HANS-GÜNTHER OED Träger Sparkassen betreiben dürfen – Golf-Produktion in Wolfsburg nicht aber private Banken, berichten hochrangige Ministeriale. Sollte diese VOLKSWAGEN Beschränkung fallen, „droht der Zerfall der gesamten Sparkassen-Gruppe“, glaubt ein Spitzenbeamter. Ursache des Der neue Golf kommt früher Streits ist die Bankgesellschaft Berlin, die vor vier Jahren durch milliarden- bwohl VW-Chef Bernd Pischetsrie- nicht ordentlich hin“, sagt Bernhard. Er schwere staatliche Hilfen vor der Pleite Oder seinen Sanierungsplan noch ge- bestätigt damit Betriebsräte, die dem gerettet wurde. Im Gegenzug für die heim hält, werden immer mehr Details Management „ausufernde Technikver- Genehmigung der Zuschüsse verlangte bekannt. Demnach will Wolfgang Bern- liebtheit“ vorwerfen. Der neue Golf soll die EU bis 2007 den Verkauf des Institu- hard, Chef der Markengruppe Volks- so entwickelt werden, dass sich das Auto tes, zu dem die Berliner Sparkasse wagen, teure Fehler seiner Vorgänger einfach montieren lässt. Damit allein gehört. Für die Sparkasse gibt es Dut- schnellstens beseitigen. Der nächste Golf kann die Sanierung nicht gelingen. Auch zende Interessenten aus dem privaten soll nicht wie geplant 2009 auf den von der Belegschaft werden Opfer er- Lager. Doch die Bankenaufsicht stellte Markt kommen, sondern bereits ein Jahr wartet. Die Lohnkosten in Wolfsburg lie- in mehreren Schreiben an den Berliner früher. Das aktuelle Modell ist so auf- gen bei 54,69 Euro je Stunde. Bei Audi Finanzsenator Thilo Sarrazin klar, dass wendig konstruiert, dass es sich nur sind es nur 40,65 Euro. VW-Arbeiter ein privater Käufer den Namen Sparkas- extrem teuer produzieren lässt. VW- sollen deshalb für das gleiche Monats- se nicht nutzen dürfe. Dadurch jedoch Arbeiter benötigen für die Montage 48 entgelt statt 28,8 wieder 35 Stunden ar- sinkt der Wert der Bank um viele Millio- Stunden, Konkurrenten schaffen das bei beiten. Weil dann mehr Fahrzeuge ge- nen. Sarrazin habe deshalb die EU ein- vergleichbaren Autos in der Hälfte der baut werden könnten, für die es kaum Zeit. Vor allem die Türkonstruktion Absatzchancen gibt, müssen mindestens sorgt für ständige Nacharbeit und er- 20000 Stellen in Deutschland gestrichen höht die Kosten bei jedem Golf um 300 werden. Zudem dürfte das Werk Brüssel Euro. „Das kriegt man in tausend Jahren geschlossen werden.

INTERNET MANAGER Makler will an die Börse Kley vorm Abflug

STEINACH / IMAGO STEINACH er erste deutsche Online-Makler ufthansa-Chef Wolfgang Mayrhuber Sparkasse in Berlin Derwägt einen Börsengang: Immobi- Lverliert seinen Finanzvorstand Karl- lienScout24 ist mit über zwei Millionen Ludwig Kley, 54. Enge Vertraute des geschaltet, heißt es in Steinbrücks Minis- Nutzern und 400 Millionen Seiten- Managers berichten, dass Kley monate- terium. Der Finanzsenator geht davon aufrufen pro Monat Marktführer in lang einen neuen Job suchte, da ihm aus, dass Brüssel das Verfahren noch vor dem Bereich. Im Schnitt hat die Firma intern kaum Chancen eingeräumt dem Verkauf der Sparkasse abschließen 700000 Immobilien im Angebot. Im- werden, seinen Chef zu beerben, wenn wird. Steinbrück ist von der drohenden mobilienScout24 gehört unter anderem der in knapp fünf Jahren aufhört. Klage so alarmiert, dass er am vergange- der Investmentbank Morgan Stanley – Kley wechselt nun zum Darmstädter nen Donnerstag eine Krisensitzung zu und ist nach Ansicht seiner Eigner bör- Pharma- und Chemiehersteller Merck. dem Thema anberaumte, obwohl er senreif. Das Unternehmen erzielte nach Der dortige Vorstandschef Bernhard zuvor einen Termin vor dem Haushalts- vorläufigen Zahlen mit Werbung und Scheuble war Ende November abrupt ausschuss wegen Krankheit abgesagt Gebühren 2005 einen Umsatz von 35 ausgeschieden. Zurzeit wird der Kon- hatte – was ihm erhebliche Kritik ein- Millionen Euro, ein Plus von 70 Prozent zern interimistisch von dem Produk- trug. Eine Abwehrstrategie sei dabei gegenüber dem Vorjahr. Vor Steuern tionsfachmann Michael Römer geführt. aber noch nicht erarbeitet worden, be- blieb ein Gewinn von 15 Millionen Kley, der bis 1998 für Bayer arbeitete, richten Vertraute des Ministers. Euro, 2004 waren es 8 Millionen Euro. soll am 1. Juli bei Merck starten.

94 der spiegel 11/2006 Wirtschaft

LUFTFAHRT sengang bis zu 800 Millionen Euro brin- gen. Klingt nach einer Luftnummer. „Flexibel reagieren“ Hunold: Zu Spekulationen nehmen wir nicht Stellung, zumal der Kapitalmarkt Air-Berlin-Chef Joachim Hunold, 56, nicht auf der Basis von Gerüchten, son- über den geplanten Börsengang seines dern harter Fakten entscheidet. Die Unternehmens legen wir rechtzeitig auf den Tisch. SPIEGEL: Für den Börsengang haben Sie SPIEGEL: Bislang konnten Sie sich einen kürzlich erstmals einen Finanzchef ein- Börsengang nie so recht vorstellen, weil gestellt. Der Mann ist 32 Jahre alt und der auch Fremdbestimmung bedeutet. war zuvor Großkundenbetreuer in Wieso haben Sie und die anderen An- einer Berliner Commerzbank-Filiale. teilseigner es sich nun anders überlegt? Ganz schön mutig. Hunold: Ausgeschlossen habe ich den Hunold: Was haben Sie gegen tüchtige Börsengang ja nie. Unsere Strategie war junge Leute? Wenn ein 32-Jähriger be- schon immer, flexibel auf den Markt zu reits Direktor einer deutschen Groß- reagieren. Das tun wir jetzt. bank ist, muss er schon ziemlich gut SPIEGEL: Angeblich haben Sie vorher sein und etwas geleistet haben. auch mit Finanzinvestoren und der TUI über einen Einstieg bei Air Berlin ge- sprochen. Warum wurde nichts daraus? Hunold: Es ist doch selbstverständlich, alle denkbaren Optionen zu prüfen. Wir haben nun die Entscheidung getroffen, von der wir glauben, dass sie für uns und unsere Mitarbeiter die richtige ist. SPIEGEL: Angeblich war potentiellen

Einsteigern der Kaufpreis von 400 Mil- JENS KALAENE / DPA lionen Euro zu hoch. Nun soll der Bör- Hunold

BUNDESUNTERNEHMEN schiedener politischer Berater der Bahn übertragen. Faktisch hat der Chef des Bahn lagert umstrittene Bundesunternehmens, Hartmut Meh- dorn, damit die umstrittene Berater- Lobbyarbeit aus politik des Konzerns privatisiert – und so die öffentliche Kontrolle erschwert. er ehemalige Bahn-Vorstand Klaus Daubertshäuser zufolge arbeiten inzwi- DDaubertshäuser arbeitet in einer schen sieben ehemalige Politiker für undurchsichtigen und ungewöhnlichen sein Unternehmen, darunter Ex-Bun- Konstruktion weiterhin für seinen alten desverkehrsminister Reinhard Klimmt. Arbeitgeber. Der einst für Lobbying zu- Die Berater bearbeiten als Lobbyisten ständige Topmanager hat nach seinem nach wie vor das politische Berlin in Ausscheiden am 31. Dezember vergan- allen Belangen des Konzerns – wofür genen Jahres die Klaus Daubertshäuser Daubertshäusers Firma von der Bahn Beratungs GmbH gegründet, deren jährlich mehrere Millionen Euro er- alleiniger Gesellschafter er ist. Auf diese halten soll. Doch durch das Zwischen- Firma werden derzeit die Verträge ver- schalten der GmbH kann der Bundes- rechnungshof die Tätig- keit der Lobbyisten kaum noch kontrollieren. Die Behörde liegt wegen des umstrittenen Börsengangs ohnehin im Clinch mit dem Staatskonzern. Daubertshäuser erklärt sein „anhaltendes Engage- ment“ für die Bahn da- mit, dass sein Nachfolger im Vorstand der Bahn, Otto Wiesheu, „beim Aufbau von Kontakten in das sogenannte Netz- werk Berlin noch Nach-

BUSSE / IMAGO BILDERDIENST ULLSTEIN holbedarf“ habe. Dabei Daubertshäuser, Bahn-Zentrale in Berlin sei er gern behilflich.

der spiegel 11/2006 95 Wirtschaft

KONZERNE Gier nach Größe Ob Linde oder E.on, Post oder Adidas – deutsche Unternehmen sind in einem beispiellosen Übernahmerausch. Dabei lehrt die Geschichte: Die Mehrzahl der Transaktionen scheitert über kurz oder lang. Warum gehen die Manager trotzdem das Risiko ein?

uf dem Papier fügt sich alles ganz wunderbar. Da ergänzt ein Unter- Anehmen das andere. Sie befruchten sich gegenseitig. Sie sparen gemeinsam. Es entsteht etwas Neues, Mächtiges, Gran- dioses. Und niemand wundert sich über die sonderbare Algebra der Fusionsstrate- gen, bei denen eins plus eins immer drei ergibt. Mindestens. Der Wiesbadener Industriegaseherstel- ler Linde zum Beispiel ist stark in Europa, sein britischer Wettbewerber BOC Markt- führer in Asien. Zusammen werden sie nun

Linde-Chef Reitzle Eins plus eins ist immer drei, mindestens in 70 Ländern der Erde präsent sein, frohlockte Linde-Chef Wolfgang Reitzle, als er vergangene Woche sein Übernahme- angebot vorlegte: „Beide Unternehmen passen perfekt zusammen.“ Mit den Energieriesen E.on und Endesa haben sich ebenfalls Deckel und Topf ge- funden, so scheint es. E.on ist genau dort stark, wo die Spanier schwach sind – und umgekehrt. Mit der geplanten Übernahme würde der Düsseldorfer Konzern unter Führung von Wulf Bernotat einer der größ- ten Energieversorger der Welt werden. Und der Sportartikler Adidas kann mit dem Kauf von Reebok seine alte Amerika- Schwäche überwinden und endlich zu Nike, der Nummer eins, aufschließen. Die Übernahme berge eine „einmalige Chan- ce“, freute sich Adidas-Chef Herbert Hai-

ner noch bei der Bekanntgabe des Deals (K.); AP (G.) / DPA SCHRADER MATTHIAS im August vorigen Jahres. BOC-Gaseherstellung (im britischen Fawley): Etwas Neues, Mächtiges, Grandioses

98 der spiegel 11/2006 Wie euphorisiert sind die Manager von Nur die Dividenden er- den tollen Perspektiven, die sich ihnen höhen oder weitere Aktien eröffnen, seit eine neue Fusionswelle her- zurückkaufen? Wie phanta- Auf Einkaufstour anrollt. Sie ist so groß, so breit und vor sielos. Aus eigener Kraft Die größten Übernahmen deutscher Konzerne WERT DER allem so international wie selten zuvor: wachsen? Dazu bedürfte es ÜBERNAHME Schon im vergangenen Jahr sind in Euro- einiger Geduld, die Anleger KÄUFER ÜBERNAHMEOBJEKT in Mrd. Dollar pa Deals im Wert von rund einer Billion selten haben. Nein, mit ei- Daimler-Benz (1998) Chrysler 40,5 Euro verabredet worden, so viel wie seit ner Akquisition ließe sich dem Jahr 2000 nicht mehr, als der Börsen- der Prozess erheblich be- Mannesmann (1999) Orange 35,3 hype dem Höhepunkt entgegentrieb. schleunigen. Wann also soll- Deutsche Telekom (2000) VoiceStream 34,0 In den ersten beiden Monaten des Jah- ten die Vorstandschefs zu- res haben allein deutsche Unternehmen schlagen, wenn nicht jetzt? E.on (2001) Powergen 15,0 Zukäufe im Wert von rund 84 Milliarden Keiner will der Letzte Euro angekündigt. Und wieder schwärmen sein im großen Monopoly. Deutsche Telekom (1999) One-2-One 13,6 die Vorstandschefs von ungeheuren Es gehe bisweilen so ähnlich Deutsche Bank (1998) Bankers Trust 9,1 Wachstumspotentialen und gewaltigen zu wie bei der Reise nach Synergieeffekten – als ob der Erfolg mit Jerusalem, erklärt Roos: RWE (2000) Thames Water 8,9 der Unterschrift schon besiegelt wäre. „Die freien Stühle werden ... Die Risiken sind ihnen kaum der Rede immer weniger.“ Adidas-Salomon (2005) Reebok 3,8 wert. Sie lächeln sie einfach weg. Und sie Manches heute erinnert ignorieren die vielen Studien über den den Berater bereits an die wahren Sinn solcher Großakquisitionen. Hoch-Zeit rund um die Geplante Übernahmen und Fusionen Die meisten Projekte enden als Enttäu- Jahrtausendwende. Auffal- E.on (Januar 2006) Endesa 56,6 schung, etwa zwei Drittel scheitern gar. lend oft werde wieder nur Die Transaktionen vernichten häufiger über scheinbar günstige, Linde (Februar 2006) BOC Group 15,0 Werte, als dass sie welche schaffen. Und je kurzfristige Gelegenheiten ThyssenKrupp (Nov. 2005) Dofasco 4,3 größer sie angelegt sind, umso seltener geredet statt über langfristi-

Noch vor wenigen Jahren waren Auf- schläge von 50 Prozent auf den letzten Kurs keinesfalls ungewöhnlich. Heute liegen die Prämien nicht mehr ganz so hoch – Schnäppchen sind die Vorhaben aber kei- neswegs. Adidas hat für Reebok einen Auf- schlag von gut 30 Prozent hingelegt, Linde ist der geplante BOC-Kauf ein Extra von 39 Prozent wert. „Das muss ein Unterneh- men erst mal verdienen“, sagt Wolfgang Schumann, Experte der Wirtschaftsprü- fungsfirma PricewaterhouseCoopers. Viel Geld zu bezahlen tut weh, aber die Summe entscheidet in der Regel nicht über Erfolg oder Misserfolg einer Übernahme.

FRANK AUGSTEIN / AP AUGSTEIN FRANK Wichtiger als die technische Umsetzung ist E.on-Vorstandschef Bernotat: Volle Kassen die Frage, was danach passiert: Gelingt die Integration der Neuerwerbung? „Das ist zahlen sie sich aus. Ehen von Firmen, so ge Strategien, warnt er. Die Investment- die hohe Kunst des Managements, davon die Bilanz, sind noch weitaus anfälliger als banker senden unaufgefordert Info-Memos hängt langfristig alles ab“, sagt Alexander jene, die Standesbeamte beurkunden. an Vorstände, in denen sie verlockende Dibelius, Deutschland-Chef der Invest- Die Herren Reitzle, Bernotat und Hai- Szenarien entwerfen. Der Druck auf die mentbank Goldman Sachs. Und da kann ner – zumindest laut Statistik müssten zwei Manager wächst. In gleichem Maße einiges schieflaufen. Vielfach offenbart sich von ihnen in einigen Jahren einräumen, schwindet ihre Urteilskraft. Werden sie die dann erst, dass die Unternehmen zuvor dass sie mit dem Expansionskurs doch das Fehler der Vergangenheit wiederholen? nicht genau genug hingeschaut haben, was falsche Abenteuer eingegangen sind. War- Damals legten sie, getrieben von der sie eigentlich kaufen. um also das Risiko? Weil jeder der drei der Gier nach Größe, teilweise Unsummen auf Erst allmählich wurde etwa der BMW- eine sein will, dem der Coup gelingt? den Tisch. AOL übernahm TimeWarner Spitze klar, dass Rover außer der Marke „Die Zeit ist in vielen Branchen reif kurz bevor die Technologieblase platzte. „Land Rover“ kaum Brauchbares besaß für Akquisitionen“, sagt Alexander Roos, Seitdem hat der Konzern an der Börse sa- und ein Sanierungsfall war. Als sie das end- Geschäftsführer bei der Beratungsfirma genhafte 160 Milliarden Dollar eingebüßt. lich erkannte, griff sie zu zögerlich durch. So Boston Consulting Group: Die Unterneh- Völlig überzogen waren auch die 138 dauerte es auch viele Monate, bis der Vor- men stehen wieder blendend da, schlank, Milliarden Euro für Mannesmann, die stand der Bayerischen Vereinsbank heraus- schlagkräftig und oft sogar schuldenfrei. Vodafone bereit war zu zahlen. Eine bei- gefunden hatte, wie katastrophal es tatsäch- Sie erzielen prächtige Gewinne, ihre spiellose Übernahmeschlacht hatte zuvor lich um die Hypobank stand. Und so ließ Kassen sind voll. Schätzungsweise 120 Mil- den Börsenwert von Mannesmann in ab- sich auch RWE bei der Übernahme von liarden Euro könnten die Dax-Firmen für surde Höhen getrieben. Auch deshalb Thames Water davon überraschen, wie Übernahmen lockermachen. Außerdem kündigte der britische Konzern gerade zer- marode das Leitungssystem der Briten ist. sind die Zinsen noch immer niedrig. Was knirscht Abschreibungen von bis zu 41 Mil- Die Deutsche Post wiederum hat unter- also tun? liarden Euro an. schätzt, wie aufwendig es ist, mit dem vor

der spiegel 11/2006 99 Wirtschaft drei Jahren übernommenen US-Express- falsches Magnetfeld“ entstehe, warnt In einer Studie fanden US-Ökonomen kurier Airborne Anschluss an Fedex oder MAN-Chef Hakan Samuelson. heraus, dass bei Bankfusionen Manager, UPS zu finden. Gerade musste Vorstands- Oft geht es bloß um vermeintliche Klei- die ihr Geschäft durch Übernahmen ver- chef Klaus Zumwinkel deshalb 434 Millio- nigkeiten. Da will sich der deutsche Mitar- größerten, deutlich besser verdienten, als nen Dollar abschreiben. Doch er eilt wei- beiter abends an der Bar über das Geschäft jene, die es organisch wachsen ließen. Die ter, um die neueste Übernahme zu ver- austauschen – der Franzose aber lieber einen erhielten im Schnitt 54 Dollar für jede dauen, den britischen Logistiker Exel. über Familie und Urlaub sprechen. Oder zusätzliche Million an Anlagevermögen, bei Äußerlichkeiten werden dabei im Rah- der Ingenieur glaubt sich mit seinem pas- den anderen betrug das Plus nur 30 Dollar. men großer Übernahmen oftmals bis ins sablen Schulenglisch gut verständigen zu Und noch ein anderer, nicht zu unter- letzte Detail vorbereitet: das neue Logo, können – bis er auf den ersten Kollegen in schätzender Faktor motiviert Wirtschafts- die neue Dienstkleidung, die neue Fir- den Südstaaten der USA trifft. führer zu Firmenkäufen: Wer Übernahmen mensprache. Noch heute, fünf Jahre nach der Über- wagt, gilt als Macher, der etwas bewegt. Bei Daimler ging im Frühling 1998 ein nahme, ist das Verhältnis zwischen Mitar- Je größer die Transaktion ist, desto we- Fax an alle Führungskräfte, wie von „Day beitern der Allianz und der Dresdner Bank niger beruht die Entscheidung der Vor- One“ an die „einheitliche Meldeformel“ nicht ohne Spannungen: In den Filialen ar- standschefs auf nüchternem Kalkül, Ehr- am Telefon klingen soll: Es beginnt mit beiten Banker, die eine exklusive Kund- geiz und Ego werden treibende Kräfte. dem Tagesgruß „Guten Tag“, dann folgt schaft beraten, Seite an Seite mit Versi- Und wenn man nicht der erste Deal- die Nennung des Unternehmens „Daim- cherungsverkäufern, die die breite Masse maker ist, dann beeilt man sich, der Herde lerChrysler“, schließlich der Vor- und Zu- bedienen. Da prallen Welten aufeinander. zu folgen: Eine Übernahme kommt selten name. So erziele man eine „zeitgemäße, Ein neuer Eigentümer bedeutet ohnehin allein. Ausgelöst durch den E.on-Coup jagt imagefördernde und identitätsstiftende in der Regel einen mittleren Schock für auf dem Energiemarkt seither eine Ankün- digung die nächste. Als Daimler seinerzeit Chrysler schluckte, gingen bald darauf auch Ford und GM auf Partnersuche. Das Erstaunliche ist nur: Am Ende wa- ren oft gerade jene Unternehmen erfolg- reicher, die sich Milliarden-Deals verknif- fen haben und die höchstens in kleinen Schritten expandierten. Toyota zum Bei- spiel ist seit Jahren weitaus profitabler als DaimlerChrysler. Die Japaner sind den mühsamen Weg gegangen und haben aus eigener Kraft die Luxusmarke Lexus auf- gebaut. Doch bei allen negativen Erfahrungen mit Megafusionen – es gibt auch gelunge- ne Beispiele: Exxons Übernahme von Mo- bil und BPs Kauf von Amoco gehören dazu, aber auch der Zusammenschluss von

JAN-PETER BOENING / AGENTUR ZENIT (L.); GETTY IMAGES (R.) (L.); GETTY IMAGES ZENIT BOENING / AGENTUR JAN-PETER Thyssen und Krupp: Ohne diese Fusion Adidas-Vorstandschef Hainer, Reebok-Models: „Einmalige Chance“ hätte ein deutsches Stahlunternehmen am Weltmarkt heute wohl keine Chance. Wirkung“. Da ist man pingelig – die ent- die Belegschaft. Dann brodelt die Ge- So besteht durchaus Hoffnung, dass die scheidenden Fragen aber bleiben unbe- rüchteküche, jeder fragt sich: „Bin ich be- aktuellen Vorhaben die trübe Statistik wi- antwortet. troffen?“ So etwas lähmt jeden Betrieb. derlegen und letztlich doch erfolgreich Je länger diese Ungewissheit anhält, Die Bahnbauer in Henningsdorf bei Ber- sind. Das offenbart sich allerdings nicht umso folgenschwerer ist sie. Spätestens lin etwa mussten sich seit der Wende an über Nacht: „Die Einsicht ist heute da, dass wenn ein Deal verkündet ist, beginnen die fünf verschiedene Herren gewöhnen: Auf sich bei Industrieunternehmen positive Leistungsträger der übernommenen Fir- die Kader des Kombinats folgten Beamte Effekte oft erst nach fünf bis sieben Jahre ma, Bewerbungen zu schreiben – ganz der Treuhand, die Manager von AEG, ergeben“, sagt Goldman-Sachs-Chef Dibe- nach dem Motto „Exit of the Best, Merger Daimler und ABB sowie von Bombardier. lius. „Ich glaube, dass wir aus den Erfah- of the Rest“. Bei jedem Übergang hörten sie neue Pa- rungen der Vergangenheit gelernt haben“, „Eine Übernahme ist immer auch eine rolen. Und jedes Mal schrumpfte danach meint Commerzbank-Chef Klaus-Peter Schwächephase“, sagt Reinhard Meckl, die Zahl der Beschäftigten weiter. Müller. Wirtschaftsprofessor in Bayreuth, der Anders als sie müssen sich ihre Vorge- Schon vor Jahren hat Adidas-Chef Hai- früher bei Siemens Firmenkäufe begleite- setzten nach Übernahmen meist keine Sor- ner beobachten können, welche Fehler bei te: „Das können sich andere zunutze ma- gen machen, zumindest keine materiellen. der Integration von Salomon gemacht wur- chen.“ SAP etwa hat mitten in der Über- Viele Topmanager verfügen über eine so- den. Und Linde-Mann Reitzle schrieb, als nahmeschlacht zwischen Oracle und genannte Change-of-Control-Klausel in er noch bei BMW im Vorstand saß und ge- Peoplesoft eine weltweite Werbekampa- ihren Verträgen, eine Art goldgewirktes rade Rover übernommen worden war, eine gne gestartet, um Peoplesoft verunsicher- Sicherheitsnetz. Für den Fall, dass ihr Un- weitsichtige interne Analyse, aus welchen te Kunden abzujagen. ternehmen übernommen wird, können sie Gründen die Briten eigentlich nicht zu den Das größte Risiko für das Gelingen ist kündigen und sich ihren Vertrag oder eine Münchnern passten. jedoch ein anderes – der Zusammenprall festgelegte Abfindung auszahlen lassen. Eine Erfolgsgarantie bietet solches Er- unterschiedlicher Firmenkulturen: Große Mehr noch machen sich die Transaktio- fahrungswissen gleichwohl nicht. „Man Unternehmen treffen auf kleine, familien- nen für jene Manager bezahlt, die den ak- geht zwar heute professioneller vor, aber geführte auf börsennotierte, formelle tiven Part beim Deal spielen: Je größer am Ende ist jede Übernahme anders“, sagt „Sie“-Firmen auf lockere „Du“-Firmen. ihre Einkaufstour ist, desto höher fällt ihr der Ökonom Meckl: „Es gibt kein Patent- Man müsse aufpassen, dass dann nicht „ein Gehalt aus. rezept.“ Alexander Jung

100 der spiegel 11/2006 IMMOBILIEN Tanz der Vampire Nach dem Beispiel Dresden wollen ausländische Fonds in der ganzen Republik städtische Wohnungen kaufen. Noch lohnt sich das Geschäft. olker Riebel ist als Chef der Deut- schen Annington Immobilien GmbH Vund Verwalter von 230000 Wohn- einheiten so etwas wie der Hausmeister der Republik. Vergangene Woche stand der Herrscher über das größte Wohnungs-

unternehmen der Republik dennoch kurz- SEYBOLDT-PRESS zeitig im Regen. Sanierter Plattenbau der Dresdner Woba: „Verzweiflungstat einzelner Kommunen“ Auch er hätte gern in Dresden die Wohnbaugesellschaft Woba gekauft. Aber nur mit den niedrigen Zinsen, sondern Wohnungsbestands“ der städtischen LWB der Konkurrent Fortress war spendabler: auch mit einem raschen Weiterverkauf der zu veräußern. Verkaufsvorhaben in Köln Die Amerikaner legten für die 48 000 Wohnungen an die Mieter oder – wie im und Bremen scheiterten dagegen bislang Wohnungen stolze 1,7 Milliarden Euro auf Fall von Fortress – mit einem schnellen am politischen Widerstand. den Tisch und befreiten die sächsische Börsengang. Wenn Münchens SPD-Oberbürgermeis- Hauptstadt auf einen Schlag von all ihren Sollten die Zinsen weiter steigen, wür- ter Christian Ude an die unauffälligen Her- Schulden. den Nachfrage und Preise sinken, prophe- ren ausländischer Fonds denkt, fällt ihm Riebel nimmt die Niederlage sportlich. zeit Experte Just. Bevor die Party zu Ende der Begriff Heuschrecke nicht sofort ein. Er plant bereits die nächsten Angriffe. Plei- geht, dürften aber noch viele kommunale Ude, auch Präsident des Deutschen Städte- tebedrohte deutsche Städte, die bald mal Wohnungen verscherbelt werden – trotz tages, fühlt sich spontan eher an Roman Kasse machen könnten, gibt es genug. „Wir heftiger Proteste aus den Reihen von Woh- Polanskis „Tanz der Vampire“ erinnert. Of- wollen weiter wachsen“, stellt er klar. Also nungswirtschaft und Mieterlobby. „Die fiziell will der Städtetag den Dresdner „müssen wir weiter dazukaufen“. vereinbarten Schutzrechte sind weitgehend Woba-Verkauf nicht kommentieren. „Das So wie Riebel denken in der obersten In- wertlos“, kommentiert etwa Mieterbund- muss jede Stadt selbst entscheiden.“ Doch vestorenliga alle. Egal ob Fortress, die briti- Direktor Franz-Georg Rips die in Dresden Ude hat immer wieder deutliche Worte zu sche Annington-Mutter Terra Firma, Cer- von Fortress akzeptierte Sozialcharta. Die- derartigen Plänen gefunden. berus oder Morgan Stanley – die erfolgrei- se garantiert etwa Schwerbehinderten und Die Verkäufe seien Beiträge zur not- che Jagd auf deutsche Wohnimmobilien über 60-Jährigen immerhin ein lebenslan- wendigen Haushaltskonsolidierung. Die läuft auf Hochtouren. 800000 sind bereits ges Wohnrecht. Städte verlören jedoch ihre Handlungs- verkauft. Bis zu drei Millionen sind noch im Systematisch bearbeiten Ex-Politiker als fähigkeit bei der Vergabe von sozialem Angebot. Neben riesigen Altbeständen aus Berater der Fonds die Kämmerer und ver- Wohnraum. „Wir müssen uns hier aber ei- dem Besitz von Konzernen wie Thyssen- suchen, ihnen einen Verkauf schmackhaft nig sein, dass der eigentliche Skandal nicht Krupp und E.on reißen die smarten Milliar- zu machen. Die großen Wohnbaugesell- die Verzweiflungstat einzelner Kommunen denjongleure immer öfter landeseigene und schaften verschuldeter Großstädte wie ist, sondern die mangelnde Finanzausstat- jetzt auch kommunale Portfolios an sich. Hamburg oder Berlin stehen auf den tung der Kommunen, die solche Notver- Die Begeisterung der ausländischen Wunschlisten ganz weit oben. käufe erzwingt“, meint Ude. Seine Sorge Geldgeber speist sich „aus der großen Dif- Im Osten kann sich etwa der gerade ge- gilt der Renditestrategie der Fonds. Da ferenz zwischen Mietrendite und Fremdka- wählte Leipziger Oberbürgermeister Burk- könnten nur Mieterhöhungen, aufgenötig- pitalzinsen“, sagt Tobias Just, Immobilien- hard Jung (SPD) vorstellen, „Teile des te Privatisierungen und der Weiterverkauf experte bei der Deutschen Bank. Im Klar- der Immobilien die Renditen sichern. text: Die Spezialisten aus London und New Annington-Chef Riebel glaubt dagegen York finanzieren ihre Milliarden-Deals billig Wunschliste der Investoren nicht an die Gewinngarantien. „Viele un- auf Pump und erhalten dafür Unternehmen Auswahl terschätzen die politische Seite des Ge- mit stolzen und vor allem stetigen Mietein- schäfts“, sagt er. Der Verkauf der Wohnun- nahmen. Oft stammen lediglich zehn Pro- gen an die Mieter sei „harte Arbeit“. Von zent des Kaufpreises aus den Schatullen Gewobag u. a. Berlin 280000 den 64000 Objekten, die Annington 2000 ihrer Großanleger. Den Rest besorgen sie Saga GWG Hamburg 135000 aus dem Bundeseisenbahnvermögen kaufte, sich immer öfter in den Kreditabteilungen gehören erst 14000 Stück Mietern. deutscher Landes- und Privatbanken – zu LWB Leipzig 53000 Privat geht Riebel den umgekehrten Weg. Zinssätzen von nur vier Prozent. Da kann Vor wenigen Wochen verkaufte der Gar- man beinahe jeden Preis zahlen. ABG Frankfurt 50000 tenmuffel sein Einfamilienhaus und ist als Dass das „billige Geld den Boom treibt“, Mieter in ein Penthouse mit Dachterrasse Gewoba Bremen 41000 muss auch Riebel zugeben. Wohnungs- umgezogen – „mit Blick auf Gärten, wo wirtschaftliche Fakten könnten den Trend GAG/Grubo Köln 39000 andere den Rasen mähen“. Beat Balzli, „nicht erklären“. Die Käufer rechnen nicht Steffen Winter

der spiegel 11/2006 101 Wirtschaft

sation hochgerechnet und kamen auf insge- samt 10000 Stellen, die akut gefährdet wären. VERSICHERUNGEN „Solche Zahlen sind weit überdimen- sioniert“, heißt es in der Führungsetage der Allianz. Trotzdem wird mit dem Be- Turbulenter Frühling triebsrat bereits über Sozialpläne debat- tiert. Wenn es zu keiner Einigung kommt, Die Allianz überrascht mit glanzvollen Zahlen – aber auch immer will Ver.di bis April Verhandlungen für einen Zusatztarifvertrag zur Standort- neuen Gerüchten um bevorstehenden Job-Kahlschlag. und Beschäftigungssicherung aufnehmen. Am härtesten dürfte es den Standort Deutschland treffen. „Dann ist auch Streik möglich“, droht der Frankfurter Gewerkschaftssekretär Walter enn es um Fragen des korrekt ge- Stimmung so aggressiv aufgeheizt wurde, Kaufmann. führten Arbeitskampfs geht, kön- dass an eine sachliche Diskussion nicht zu Zündstoff bergen auch andere Projek- Wnen die Strategien der Gewerk- denken war“. te, allen voran die Umwandlung der Alli- schaft Ver.di höchst unterschiedlich aus- Wie viele der noch immer 73000 Mitar- anz von einer Aktiengesellschaft deutschen fallen. Im Öffentlichen Dienst schwören beiter in Deutschland am Ende tatsächlich Rechts in eine sogenannte Societas Euro- die Funktionäre nun schon seit über fünf gehen müssen, darüber schweigt Diek- paea (SE). Zwar wird bei dieser neuen Ge- Wochen auf die Wirkung überquellender mann hartnäckig, seit er die Pläne für ei- sellschaftsform das deutsche Mitbestim- Mülleimer. Beim Versicherungskonzern nen Radikalumbau des weltweiten Markt- mungsrecht erhalten. Doch gleichzeitig Allianz glauben sie eher an die zermür- führers vorgestellt hat. „Wir bauen unser wird die Zahl der Aufsichtsratsmitglieder bende Kraft von Schokoküssen. Geschäftsmodell von unten neu auf“, heißt von 20 auf 12 drastisch reduziert. „Wir haben Dickmann’s zum Fressen es zur Begründung. Erst im Juni soll es Das bringt vor allem die deutschen Ar- gern“, kauen Allianz-Beschäftigte auf De- endgültige Klarheit geben. beitnehmervertreter in Rage, die künftig monstrationen gegen den drohenden Stel- Nur die neue zentrale Vertriebsorgani- auch wegen der Internationalisierung des lenabbau auf den gleichnamigen Kalorien- sation geht forschen Schritts voran: 700 der obersten Kontrollgremiums statt zehn am bomben herum. Das Bedrohungspotential 2100 Stellen im Innendienst sollen wegfal- Ende nur noch drei Mitglieder stellen. „Wir für den so verballhornten Vorstandschef len. Das haben die verunsicherten Allianz- halten zumindest 14 Aufsichtsratsmitglie- Michael Diekmann hält sich bislang in ähn- Mitarbeiter flugs auf die komplette Organi- der für notwendig“, sagt Norbert Blix, lich engen Grenzen wie die Originalität des Sprachwitzes. Aber während die einen Angst haben, dass sich der Konzern immer schlanker hungert, will der andere durch fette Ren- diten überzeugen: Diese Woche wird Diek- mann einen gewaltigen operativen Gewinn

Zurück im Glück 100* 96,9 Unternehmensdaten 93,8 der Allianz 92,6

Umsatz*** 4,3* in Mrd. Euro 81,0 2,2 Gewinn/ 1,6 1,9 Verlust in Mrd. Euro –1,5

Mitarbeiter 179 946 181 651 173 750 162 180 178 462** jeweils am Jahresende 2001 2002 2003 2004 2005

*geschätzt , **30. Sept. 2005, ***inkl. Bank- und Asset-Management-Geschäft von 7,6 Milliarden Euro bekanntgeben – das sind nach Steuern 4,3 Milliarden Euro. Nach einigen Krisenjahren geht es dem Münchner Assekuranz-Riesen wieder rich- tig gut. Trotzdem beharrt der sportive Vor- standschef auf einer scharfen Kostendiät. Diekmann will trotz der guten Zahlen allein in Deutschland Tausende Arbeits- plätze abbauen. Warum so viel Druck? „Weil wir Markt- anteile verlieren“, antwortete er der eige- nen Mitarbeiterpostille „Allianz Journal“.

Scheinbar unbeeindruckt berichtet er über SIMON / IMAGO SVEN Mitarbeiterversammlungen, in denen „die Allianz-Chef Diekmann, Zentrale der Dresdner Bank (in Frankfurt am Main): „Wir bauen unser

102 der spiegel 11/2006 Chef des Konzernbetriebsrats und stell- Prozent sein. Das sind Zahlen, mit denen vertretender Aufsichtsratsvorsitzender. bislang nur Deutsche-Bank-Chef Josef Allianz-Vorstand Paul Achleitner ist ein Ackermann auftrumpfte. Fan schlanker Gremien. Auch er ist für Damit die Gewinne auch in Zukunft so eine Riege der Zwölf. „Das ist nicht ver- hoch bleiben, baut die Allianz ihr ganzes handelbar“, heißt es in München. Europa-Geschäft um. Nachdem Diekmann Nun will Blix ein Rechtsgutachten in das für 5,7 Milliarden Euro die Minderheits- spezielle Verhandlungsgremium einbrin- aktionäre bei der italienischen RAS her- gen, in dem ab 28. März Arbeitnehmer- ausgekauft hat, steht der Komplettumbau vertreter aus über einem Dutzend euro- bei der zweitwichtigsten Landesgesell- päischer Länder ihre Vertreter im Auf- schaft an. Demnächst soll die Fusion mit sichtsrat der neuen Allianz SE bestimmen Lloyd Adriatico, der zweiten Italien-Toch- sollen. Ergebnis der Analyse von Professor ter, bekanntgegeben werden. Hartmut Oetker: Mehr Aufsichtsräte wären Doch die tiefsten Einschnitte wird es in zumindest möglich. Deutschland geben. Von München aus sol- Allianz-Chef Diekmann steht ein turbu- len künftig die bisher ziemlich autonomen lenter Frühling bevor. Er ist zum Durch- Sparten Kranken-, Sach- und Lebensversi- marsch entschlossen: „Eine Unternehmens- cherung geführt werden. Ein österreichi- führung, die sich nicht am Shareholder- scher Topmanager wird die über Jahr- Value, also am Aktien- und Marktwert, zehnte verwucherten Software-Systeme orientiert, wird schlicht durch eine neue, der Einzelgesellschaften neu formieren und aggressivere ersetzt.“ miteinander verbinden. Ziel: den Kunden Die Investoren jubeln schon mal. Seit in Zukunft nur noch mit einer Rechnung Diekmanns Amtsantritt im Jahr 2003 hat von der Allianz zu beglücken. sich der Aktienkurs mehr als verdoppelt. Diekmann und Co. wollen nun endlich Die Allianz steigerte ihre Eigenkapital- durchregieren. Vorbild könnte die Aktion rendite nach Schätzungen von WestLB- des vergangenen Jahres sein, als dem Ver- Analyst Carsten Zielke schon 2005 auf sicherungsvertrieb aufgegeben wurde, 19 Prozent vor Steuern. 2007 sollen es 25 mindestens 300000 Kunden für die Tochter Dresdner Bank zu werben. Das wurde erst ein Erfolg, als den Agenten massive Anrei- ze wie der Besuch des WM-Eröffnungs- spiels in der Allianz-Arena offeriert wurden. Viele Manager glauben, dass die Allianz einen zu hohen Preis für die Neuausrich- tung zahlen wird. Unter Protest trat Ende vergangenen Jahres Rainer Hagemann zurück, Chef der Allianz Sachversiche- rungsgruppe. Das ehemalige Schwerge- wicht im Vorstand hält beispielsweise die Abtrennung des Vertriebs in eine eigene Gesellschaft für grundfalsch. Ehrgeizigstes Ziel der Allianz scheint es indes nicht mehr zu sein, die Erträge in die Höhe zu peitschen, sondern die Kos- ten zu drücken. Laut interner Planzahlen, die dem Aufsichtsrat vorgelegt wurden, soll die sogenannte Kostenquote in der Scha- den- und Unfallversicherung von heute 24,7 auf 23,5 Prozent im Jahr 2008 gesenkt werden. Diese scheinbar mickrigen Effi- zienzgewinne setzen die ganze Branche unter Druck. Vergangene Woche hat der Versicherer Generali für seine deutsche Tochter AMB Generali bereits den Abbau von tausend Arbeitsplätzen angekündigt. Die Gewerkschaft Ver.di plant für den 3. Mai auf der regulären Allianz-Haupt- versammlung eine Großkundgebung, wenn es bis dahin keine Beschäftigungs- und Standortgarantie gibt. „Wir werden Herrn Diekmann besu- chen“, droht Allianz-Aufsichtsrat und Ver.di-Funktionär Frank Lehmhagen in der Tradition der 1.-Mai-Kundgebungen dem Allianz-Management einen besonderen Tag der Arbeit an. Es klingt nicht, als wol-

NORBERT SCHNARR / BAUMGARTEN BILDARCHIV SCHNARR / BAUMGARTEN NORBERT le er mit dem Allianz-Chef dann noch Geschäftsmodell von unten neu auf“ Schokoküsse essen. Christoph Pauly

der spiegel 11/2006 103 Wirtschaft

SPIEGEL-GESPRÄCH „Nur Heilige sind konsequent“ Sozialminister Franz Müntefering, 66, über sinkende Renten, längere Lebensarbeitszeiten und seine Rolle als Überbringer schlechter Nachrichten der Großen Koalition

SPIEGEL: Der Rentenbericht sagt aber auch, dass die Deutschen in Zukunft länger ar- beiten müssen und das Rentenniveau in den kommenden zwei Jahrzehnten deut- lich sinken wird. Müntefering: Im Moment arbeiten die Men- schen in Deutschland im Durchschnitt nur 39 Jahre. Sie fangen mit 21 an und hören mit 60 wieder auf. Das ist zu wenig. Erst recht in einer Gesellschaft mit weniger Kin- dern, in der die Menschen zudem immer älter werden – was ja der schöne Aspekt an der Sache ist. Deshalb müssen wir den Leuten ehrlich sagen, dass sie länger als bisher arbeiten müssen … SPIEGEL: … und sich zudem auf die gesetz- liche Rente nicht verlassen können. Müntefering: Doch. Aber sie wird nicht ausreichen, den bisherigen Lebensstandard zu halten. Hier ist manchmal in der Ver- gangenheit zu viel versprochen worden. Wir müssen den Menschen klar sagen: Wenn ihr in 20, 30 Jahren eine gute Rente haben wollt, müsst ihr selbst auch ein Stück sparen, und zwar individuell. Dabei helfen wir. SPIEGEL: Warum werben Sie nicht dafür, dieses Sparen zur Pflicht zu machen? Müntefering: Die Freiwilligkeit kann nicht

LAURENCE CHAPERON falsch gewesen sein, denn allein in den ver- Minister Müntefering: „Den Leuten sagen, dass sie länger als bisher arbeiten müssen“ gangenen zwei Jahren ist die Zahl der Ries- ter-Abschlüsse von 1,5 auf 5,6 Millionen SPIEGEL: Herr Müntefering, in Umfragen cherung der Kern der Alterssicherung bleibt. gestiegen. Wir haben sechs bis sieben kommt die SPD nur noch auf 27 Prozent. Wer dazu noch für Riester oder eine Be- Prozent mehr Betriebsrenten. Wenn man Das ist der schlechteste Wert seit langem. triebsrente spart, wird auch in Zukunft ein den öffentlichen Bereich dazunimmt, kann Wie viel geht davon auf Ihr Konto? gedeihliches Auskommen im Alter haben. man davon ausgehen, dass etwa 60 Pro- Müntefering: Das aktuelle Minus ist vor al- lem ein Plus für die Kanzlerin, die einen guten Start hatte. Wenn wir erst wieder Kampf dem Rentenschwund richtig in der Innenpolitik unterwegs sind, 1. Gesetzliche Rentenversicherung 2. Private Altersvorsorge werden wir auch wieder zulegen. Die Rente wird in Zukunft ohne Ausgleichsmaßnahmen dras- Um die Lücke zu füllen und SPIEGEL: Sie sind in der Koalition bislang tisch sinken. Für Durchschnittsverdiener schrumpft sie im den Lebensstandard zu der Mann für die schlechten Nachrichten. Beispiel von 1170¤ auf 968¤ oder 82,7% im Jahr 2030. halten, empfiehlt die Müntefering: Bestimmte Medien sehen das Bundesregierung gleich so. Ich nicht. 2005 1170¤ 100% doppelt vorzusorgen: SPIEGEL: Der Rentenbericht, den Sie gera- de vorgelegt haben, enthält nur Düsteres. 2010 1137¤ 97,2% staatlich geförderte Müntefering: Da bin ich anderer Meinung, Riester-Rente denn in dem Bericht ist vor allem eine gute 2015 1099¤ 93,9% Nachricht enthalten. zusätzliche Vorsorge SPIEGEL: Die muss uns entgangen sein. 2020 1058¤ 90,4% aus Mitteln, die durch Müntefering: Da helfe ich gern. Unsere die Steuerbefreiung Zahlen sind sehr realistisch und machen 2025 1012¤ 86,5% von Rentenbeiträgen deutlich, dass die gesetzliche Rentenversi- entstehen 2030 968¤ 82,7% 12,3% 5,0% Das Gespräch führten die Redakteure Konstantin von Hammerstein, Horand Knaup und Michael Sauga.

104 der spiegel 11/2006 zent der Arbeitnehmer bei uns eine zu- Müntefering: Nein, das ist falsch. Der Be- sätzliche Rente haben. richt zeigt, dass unser System in seiner SPIEGEL: Für Geringverdiener gilt das ganzen Konstruktion funktioniert. Wir nicht, und die haben es später am nö- werden auf lange Strecke die Beitragssätze tigsten. stabil und das Rentenniveau hoch halten Müntefering: Wir werden gerade in dieser können. Natürlich werden die Renten nicht Gruppe stärker als bisher dafür werben mehr so hoch sein wie in früheren Gene- müssen, auch selbst vorzusorgen. Das muss rationen, aber das gleichen wir aus durch eine gewisse Selbstverständlichkeit wer- die Förderungen für Betriebs- oder Ries- den. Und wir müssen Riester gerade für ter-Renten. Wir haben ein Problem damit, Familien noch attraktiver machen – zum dass der Unterschied zwischen denen, die vorsorgen, und denen, die das nicht tun, immer größer wird. Deshalb müssen wir wieder und wieder dafür werben, dass die private Al- tersvorsorge zur Selbstver- ständlichkeit wird für alle. SPIEGEL: Auch Sie verschie- ben wieder zahlreiche Las- ten in die Zukunft. Müssten Sie nicht bereits in diesem Jahr die Renten kürzen statt, wie nun vorgesehen, im Jahr 2012? Müntefering: Nirgends steht, dass man das in einem bestimmten Jahr machen muss. Wir müssen doch se- hen, ob so ein Schritt kon- junkturpolitisch vernünftig ist. In den vergangenen zwei Jahren haben die Rentner schon viele Abzü- ge verkraften müssen. Da ist es nicht sinnvoll, ihnen im Augenblick noch weite- re Lasten aufzuerlegen. SPIEGEL: Ihr eigener Sozial- beirat warnt davor, die Ren- tenformel einfach außer

DOMINIK BUTZMANN / LAIF DOMINIK BUTZMANN Kraft zu setzen, wonach die Senioren (im Reichstag): „Rentenkürzungen wird es nicht geben“ Renten gekürzt werden müss- ten, wenn die Löhne sinken. Beispiel mit der höheren Kinderzulage, die Müntefering: Es gibt ein hohes Interesse dar- wir einführen werden. an, das Rentensystem zu verstetigen. Und SPIEGEL: Geringverdiener sorgen am we- das bedeutet, dass wir nicht auf jede nigsten vor, sind am stärksten von den Schwankung der Löhne gleich mit einer Rentenkürzungen betroffen und kassieren Rentenkürzung antworten sollten. Erst recht zudem nach den Berechnungen Ihres SPD- nicht im Jahr 2006, das in ganz besonderer Fraktionskollegen Karl Lauterbach insge- Weise ein Jahr der Zuversicht sein muss. Da samt weniger Rente als Besserverdiener, kann etwas angestoßen werden, da soll am weil ihre Lebenserwartung geringer ist. Binnenmarkt endlich was passieren. Gibt es eine sozialdemokratische Antwort SPIEGEL: Stimmen die Annahmen des Ren- auf dieses Problem? tenberichts, werden in zwei Jahren 600 Mil- Müntefering: Ja, Bildung. Wir müssen für lionen Euro in den Rentenkassen fehlen. mehr Chancengleichheit im Bildungssys- Wo soll das Geld herkommen? tem sorgen. Alle Untersuchungen zeigen: Müntefering: Noch wissen wir ja gar nicht, Wer qualifiziert ist, hat bessere Chancen, im ob das Geld tatsächlich fehlen wird. Das Beruf und generell. Wir müssen es schaffen, klären wir, wenn es so weit ist: 2007, 2008. dass alle Kinder und jungen Menschen gute Rentenkürzungen oder höhere Beitrags- und gleiche Chancen auf Bildung haben. sätze wird es aber nicht geben. Nur so werden wir für Gerechtigkeit zwi- SPIEGEL: Sie fordern die Menschen auf, län- schen den Generationen und den einzelnen ger zu arbeiten, und wollen das Renten- Bevölkerungsgruppen sorgen können. eintrittsalter auf 67 anheben. Sagen Sie uns SPIEGEL: Wenn man Ihren Rentenbericht auch, wo die Arbeit für diese Menschen ernst nimmt, bedeutet er, dass die gesetz- herkommen soll? liche Rente am Ende nur noch eine karge Müntefering: Bislang haben vor allem die Grundversorgung bieten wird. großen Unternehmen viele ihrer personal-

der spiegel 11/2006 105 Wirtschaft politischen Probleme auf Kosten der dem Hintergrund Ihrer Appelle überhaupt dem Arbeitsmarkt wird sich in den nächs- Sozialsysteme gelöst. Das wird jetzt weni- sinnvoll? ten fünf bis zehn Jahren entscheiden, ob ger, weil wir die Frühverrentung schwerer Müntefering: Ich werde mich in Tarifent- Deutschland das organisiert bekommt oder gemacht haben. Gleichzeitig versuchen scheidungen nicht einmischen. Sollte je- nicht. Natürlich ist das für alle Beteiligten wir, Arbeitgeber mit einer ganzen Reihe doch die Beschäftigung älterer Arbeitneh- anstrengend. von Anreizen dazu zu bringen, ältere Ar- mer dadurch teurer werden, wäre das SPIEGEL: Für die SPD offenbar stärker als beitnehmer zu beschäftigen: Lohnkosten- hochgradig kontraproduktiv. für die CDU/CSU. Bislang zumindest zuschüsse, gezielte Entlastungen, Finan- scheinen allein die Kanzlerin und ihre zierung von Weiterbildungsmaßnahmen. „Wir wollen, dass sich die Dinge Union von der Koalition zu profitieren. Punktuell könnten auch Kombilöhne für verändern und die soziale Müntefering: Das wird sich ändern, denn Ältere eine Rolle spielen oder Beschäfti- Balance dabei nicht kaputtgeht.“ wir stehen für die soziale Gerechtigkeit in gungsgesellschaften. diesem Prozess. Das ist unsere Sache. Die SPIEGEL: An was denken Sie hier? „neue Gerechtigkeit“, die die Union aus- Müntefering: In den Städten und Gemein- SPIEGEL: Die SPD stellt in der Koalition die gerufen hat, zeigt nur, dass sie mit dem den gibt es doch viele Dinge, die man ver- Minister der Krisenressorts. War das klug? Thema nicht klarkommt. Am Ende wer- nünftigerweise tun könnte. Warum nicht Müntefering: Wir sitzen an den strategisch den die Menschen das Original wählen. Netzwerke bilden, wo auch Ältere noch wichtigen Stellen. Wir bestimmen Rich- Und das sind wir. bestimmte Arbeiten ausführen, die sie tung und Tempo. Wir sind nicht der Rot- SPIEGEL: Bislang zumindest dringen Sie noch können? Klar muss doch sein, dass kreuzwagen, der hinterherfährt und die damit nicht durch. wir unseren Wohlstand und unsere Alters- Menschen aufsammelt, denen die Schwar- Müntefering: Ich habe Ausdauer. Man muss sicherung auf Dauer nur garantieren kön- zen böse mitgespielt haben. Wir wollen streiten und kämpfen. Ich bin dafür, dass

nen, wenn auch ältere Menschen noch ar- das Land gestalten. Dafür muss man in den wir vier Jahre lang eine intensive, gute Poli- beiten. Darüber will ich eine breite gesell- Maschinenraum und ans Steuerrad. tik machen, wie sie in der Koalitionsverein- schaftliche Debatte – und im Sommer dann SPIEGEL: Selbst wenn es sich am Ende für barung steht. Manches wird noch darüber die entsprechenden Antworten geben. Ihre Partei nicht auszahlt? hinausgehen. 2009 ist wieder Wahlkampf, SPIEGEL: Ihre Koalition hat die sogenannte Müntefering: Ich sage Ihnen, da wird Be- und Wahlkampf können wir. Dann wollen 58er Regelung verlängert, wonach ältere wegung reinkommen, und dann werden wir mal sehen, wie weit wir kommen. Arbeitslose auf eine Vermittlung verzich- die Sozialdemokraten die Ernte einfahren. SPIEGEL: Das klingt, als wollten Sie bis da- ten können. Wie passt das mit Ihren Aus- Wir wollen, dass sich die Dinge verändern hin Ihre groß-koalitionäre Harmoniekund- sagen zusammen? und die soziale Balance dabei nicht kaputt- gebung fortsetzen. Müntefering: Für zwei Jahre verlängert, geht. Deshalb haben wir den Fuß auf dem Müntefering: Man hat mich auch schon ge- nicht mehr. Im Übrigen: Nur Heilige sind Gas und die Hand am Lenker. fragt, warum ich nicht mehr austeile. Aber konsequent – und Verbrecher. Politik heißt: SPIEGEL: Vor Ihrem Bleifuß bekommen in- wem soll das nutzen? Es kommt nicht Kompromisse. Wenn man auf der grünen zwischen die eigenen Parteifreunde Angst. darauf an, dass wir uns gegenseitig verkei- Wiese unterwegs wäre, könnte man sich Müntefering: Vielleicht weil der eine oder len, sondern dass wir Lösungen finden. natürlich das eine oder andere anders vor- andere gedacht hat, nach der Agenda 2010 Wenn das still geht, ist das besser, als wenn stellen. Aber die Richtung, die wir einge- und Hartz gäbe es keinen Reformbedarf wir uns öffentlich streiten. Wer jetzt nur schlagen haben, stimmt. mehr. Nein, ich glaube, wir haben als So- aus Daffke Krach anfängt, gefährdet die SPIEGEL: Bei den Tarifverhandlungen im zialdemokraten in dieser Regierung eine Koalition – und schadet damit am Ende Öffentlichen Dienst gibt es die ersten Ab- Chance, die notwendigen Veränderungen der eigenen Sache. schlüsse, nach denen Ältere in Zukunft zu gestalten. Mein Thema ist eine große SPIEGEL: Herr Müntefering, wir danken Ih- kürzer arbeiten als Jüngere. Ist das vor Herausforderung. Bei der Rente und auf nen für dieses Gespräch.

106 der spiegel 11/2006 ALTER Einseitig gekündigt Als von Hartz IV noch keine Rede war, haben Hunderttausende beim Arbeitsamt eine „58er Regelung“ unterschrieben. Viele bangen jetzt um ihre Alterssicherung. n den freundlichen Mann vom Arbeitsamt kann sich Hans-Dieter AVollmer noch gut erinnern. „Sie werden sich damit auf keinen Fall ver- schlechtern“, habe der Beamte versichert,

bevor er dem damals 57-jährigen Ex-Bahn- RUFFER / CARO arbeiter das Formular über den Schreib- Nürnberger Bundesagentur für Arbeit: „Eingriff in erworbene Rechte“ tisch schob. Vollmer setzte seinen Namen auf das Papier und verließ, wie er meinte der Bund seit Jahren einen Handel an, den Der Sozialverband Deutschland hat zum letzten Mal, die staatliche Arbeitsver- die Große Koalition noch einmal bis Ende Vollmer als Musterkläger ausgesucht – bis- waltung, Zweigstelle Hamm-Unna. 2007 verlängert hat: Die Arbeitslosen kön- her aber ohne Erfolg. Die Klage wurde vor Einen Job konnte er jetzt nicht mehr er- nen schriftlich erklären, kein Interesse kurzem vom Sozialgericht Dortmund in warten, aber die letzten Jahre bis zur Ren- mehr an einer Jobvermittlung zu haben – erster Instanz abgewiesen. Bei der unter- te, die würde er dank der Vereinbarung mit dem für die Regierung angenehmen schriebenen Erklärung handele es sich um überbrücken können – dachte Vollmer. Nebeneffekt, dass sie damit aus der Ar- die Inanspruchnahme einer gesetzlichen Heute erinnert sich der Vater von vier beitslosenstatistik gestrichen werden. Regelung, „nicht um einen öffentlich- Kindern äußerst ungern an diesen Tag vor Wer das heute unterschreibt, weiß, dass er rechtlichen Vertrag“, so die Richter. Im gut eineinhalb Jahren. Denn die Arbeits- als Gegenleistung überwiegend das karge Klartext: Die Regelung binde nur den Un- losenhilfe, die ihm im amtlichen Formular Arbeitslosengeld II zu erwarten hat. Bis terzeichner, der Staat dagegen könne die in zugesagt worden war, die gibt es nicht Ende 2004 schien das Angebot verlocken- Aussicht gestellte Hilfe jederzeit kürzen. mehr. Es gibt jetzt Hartz IV, es gibt eine der: Der Unterzeichner „kann Arbeitslo- Der Hamburger Rechtsprofessor Udo „Bedürftigkeitsprüfung“ und eine strenge sengeld und Arbeitslosenhilfe unter erleich- Mayer hält das für verfassungswidrig: Anrechnung des Vermögens. Und es gibt terten Voraussetzungen beziehen“, stand in Die Ämter griffen „in erworbene Rech- kein Geld mehr für Hans-Dieter Vollmer. den Formularen, die den Endfünfzigern vor te ein, die dem Eigentumsschutz nach Bis zu 400 000 Männer und Frauen, Hartz IV vorgelegt wurden. Das Geld fließe, Grundgesetz-Artikel 14 unterliegen“, so schätzen Sozialverbände, haben bis zum bis eine „abschlagsfreie Altersrente“ erreicht Mayer. Die Betroffenen würden einseitig Herbst 2004 beim Arbeitsamt eine als sei, hieß es; in der Regel also bis 65. gefordert, von der mit Hartz IV verspro- „58er Regelung“ bekanntgewordene Ver- Die Arbeitslosenhilfe berechnete sich chenen Förderung aber blieben sie ausge- einbarung unterschrieben – und wenig nach der Höhe des früheren Einkommens. schlossen. später erlebt, dass ein entscheidender Teil Sie war deshalb oft wesentlich höher als Dennoch urteilten auch andere Sozial- dieser Vereinbarung von den Behörden das neue Alg II, für das es pauschalisierte gerichte bisher so wie das in Dortmund: „einseitig gekündigt“ wurde, wie der So- Bedarfssätze gibt. Und wer Pech hatte, wie Das Sozialgericht Trier wies die Klage ei- zialverband Deutschland kritisiert. Wer Ex-Arbeitslosenhilfebezieher Vollmer, er- nes 61-Jährigen zurück, dessen gut 1000 den Behörden vertraute, stehe nun vor den fuhr Ende 2004 unvermittelt, dass er nun Euro Arbeitslosenhilfe auf ein um die Hälf- Trümmern seiner Altersvorsorge, beklagt gar kein Geld mehr bekommen würde. te niedrigeres Arbeitslosengeld II gekürzt Verbandspräsident Adolf Bauer. Der Grund: Der Bahn-Rangierer hatte wurde. Vollmers Rechtsanwalt Holger- Weil Endfünfziger nach Einschätzung seinen Job mit Mitte Fünfzig aus gesund- Michael Friedberg vertrat unlängst einen der Arbeitsvermittler auf dem Arbeits- heitlichen Gründen aufgeben müssen, seit- Arbeitslosen, der kurz vor Rentenbeginn markt fast ohne Chance sind, bietet ihnen dem bezieht er Berufsunfähigkeitsrente. In aus seiner Wohnung ausziehen musste, seinem Haus hat er zudem eine Wohnung weil die für den Alg-II-Anspruch wenige vermietet. Damit liegt sein Monatseinkom- Quadratmeter zu groß gewesen sei. men aber gut 50 Euro über dem „Bedarf“ Das Arbeitsministerium von Franz Mün- von 1194 Euro pro Monat, die ihm und sei- tefering (SPD) sieht jedoch „keinen Nach- ner Ehefrau laut Hartz IV zustehen. besserungsbedarf“, so ein Sprecher. Durch- Die Vollmers haben nun monatlich 450 setzbar wären Mehrausgaben für eine Än- Euro weniger als zuvor. Die monatliche Rate derung ohnehin kaum; schon jetzt kostet von 368 Euro für die Lebensversicherung, Hartz IV mehr, als Berlin geplant hatte. mit der sie später ihr Häuschen abbezahlen Im Musterfall Vollmer hat der Sozial- wollten, können sie sich jetzt nicht mehr leis- verband bereits Berufung eingelegt. Die ten. Sie fürchten, dass sie als Renter das Ei- vom Staat zugesagte Vereinbarung müsse genheim nicht mehr halten können, das als eingehalten werden, fordert Verbandsprä-

BERND THISSEN Hauptstütze ihrer Altersvorsorge gedacht sident Bauer: „Dafür werden wir bis vor Anwalt Friedberg, Musterkläger Vollmer war. „Wir leben von gerade mal 200 Euro das Bundesverfassungsgericht ziehen.“ Angst ums Eigenheim Haushaltsgeld“, sagt Ehefrau Hannelore. Matthias Bartsch

der spiegel 11/2006 107 Wirtschaft

vorstand eingesetzt werden sollte. „Die Auch eigenverantwortliches Arbeiten MITBESTIMMUNG Initiative ging nicht von uns aus“, beteuert wird in Walldorf großgeschrieben: „Wenn IG-Metaller Geiger. „Wir wollen die SAP- einer die Gewerkschaft fragen muss: Darf Belegschaft nicht zwangsbeglücken.“ ich heute Abend um elf Uhr mit Kalifor- Ausweitung der Gleichwohl treibt er die drei Rebellen nien telefonieren? Dann gute Nacht, schö- nach Kräften an – bislang allerdings mit ne SAP“, orakelt der langjährige Vorstands- trauriger Bilanz: In der Versammlung vo- chef Hopp, der noch rund zehn Prozent Kampfzone tierten 91 Prozent der anwesenden rund der Aktien hält. Mit aller Macht versucht die 5600 SAPler gegen die Einsetzung eines Beim Arbeitsgericht Mannheim stellte Wahlvorstands, was so viel bedeutete wie: SAP-Mann Schick mit Hilfe Geigers der- IG Metall, bei SAP einen Betriebsrat Betriebsrat? Nein danke! weil den Antrag, den Wahlvorstand ge- zu installieren – gegen den Willen „Es konnte kein einziger Grund vorge- richtlich einsetzen zu lassen. „Niemand der Belegschaft. Nun strebt der tragen werden, wofür man einen Betriebs- muss sich rechtfertigen, wenn ein Gemein- Konzern nach einem Sonderweg. rat gebrauchen könnte“, erzählt ein SAP- derat gewählt wird“, sagt IG-Metall-An- Mitarbeiter, der gegen die Initiative stimm- walt Wolfgang Stather. „Warum sollen wir as Büro von Mirko Geiger hält so te. Immerhin ist der Software-Riese seit je uns rechtfertigen, wenn wir eine arbeits- ziemlich alles an Symbolik parat, bekannt für seine flachen Hierarchien und rechtliche Selbstverständlichkeit wie die Dwas ein strammer Gewerkschafter üppigen sozialen Leistungen wie Gratis- Einrichtung eines Betriebsrats durchsetzen zum Klassenkampf braucht. Im Regal kantine, großzügige Firmenwagenregelung wollen?“ Dabei hat die SAP bereits seit stützt eine rotlackierte Karl-Marx-Büste und Kinderbetreuung. langem eine Arbeitnehmervertretung. Bücher wie „Jetzt erst recht – Dokumen- Im Aufsichtsrat sitzen acht Vertreter te zur Geschichte der Arbeiterbewegung in aus der Belegschaft, die dem Vorstand Mannheim“. Daneben liegt der IG-Metall- mindestens einmal pro Monat die Sicht Helm. Die Streikzeitung mit der Schlag- der Mitarbeiter vortragen. Seit Anfang zeile „Über 40000 im Warnstreik“ fehlt 2003 ist die Zusammenarbeit sogar ebenso wenig wie ein Plakat mit der Auf- vertraglich geregelt, auch wenn das schrift „Aussperrung“. Papier in vielen Punkten hinter den Warnstreik, IG Metall, Aussperrung? Al- Rechten des Betriebsverfassungsge- lein wenn Dietmar Hopp solche Begriffe setzes zurückbleiben mag, wie die hört, geht ein fröstelnder Ruck durch den Gewerkschafter argumentieren. Multimilliardär und Mitbegründer des Wall- Doch bislang kamen die Mitarbei- dorfer Software-Riesen SAP. Mit Verve ter mit den geltenden Regelungen pri- kämpfte er jahrzehntelang gegen eine Aus- ma klar. Das könnte eine mögliche weitung der gewerkschaftlichen Kampfzone Betriebsratswahl zu einer grotesken

innerhalb seines Unternehmens. Trotz JENS SCHICKE / KEYSTONE Veranstaltung werden lassen. Wenn 13500 Beschäftigten im Land ist SAP der Aufsichtsratschef Plattner: Schriller Krach es nach einer gerichtlich durchge- mittlerweile Letzte unter den 30 Dax-Kon- setzten Wahl zur Bildung eines Be- zernen ohne Betriebsrat. triebsrats käme, hätte der aufgrund Das versucht Geiger, Geschäftsführer der schieren Größe der Belegschaft der IG Metall Heidelberg, nun zu ändern, 35 Mitglieder, 10 davon freigestellt. auch wenn an dem Projekt SAP-Betriebs- Schon die Suche nach Kandidaten rat schon viele seiner Vorgänger geschei- könnte sich schwierig gestalten. tert sind. Beiden Seiten geht es inzwischen Um den Streit nicht weiter eska- ums Prinzip. Das macht den Krach nur lieren zu lassen, will sich SAP nun an schriller. Hopp fürchtet nichts weniger als die Spitze der Bewegung setzen und eine Konterrevolution und droht bereits die IG Metall ausbremsen. „Bei allem mit Verlagerung des Konzerns ins Ausland. Respekt vor dem Schutz von Min- Auch sein Mitstreiter und Co-Gründer, derheiten“ verstehe er „den Gesetz- SAP-Aufsichtsratschef Hasso Plattner, kann geber hier nicht, wenn eine neun- „die Motivation der Gewerkschaft nicht prozentige Minderheit den anderen richtig nachvollziehen“. die Bedingungen diktieren kann“, Tragende Säulen der Mitbestimmung bei sagt SAP-Gründer Plattner. SAP, so Plattner in einer internen E-Mail, Deshalb will man dem Arbeits- seien „Gerechtigkeit, Offenheit und gesun- gericht zuvorkommen und quasi selbst der Menschenverstand“ – nicht das Be- einen Wahlvorstand installieren. Der triebsverfassungsgesetz, das nicht mehr bestünde dann eher aus Mitgliedern zeitgemäß sei. Es stamme aus einer Zeit, der jetzigen Arbeitnehmervertretung „in der Globalisierung entweder unbekannt und nicht aus den von der IG Metall war oder vorwiegend als Schimpfwort ge- dirigierten Revoluzzern. In Walldorf handelt wurde“, wettert Plattner. „Einiges könnte der Urnengang zu einem passt nicht zu unserem globalen Hightech- wahren Wettlauf werden. Unternehmen mit einem 80-prozentigen Aufsichtsratschef Plattner hat es Anteil von Akademikern.“ schon jetzt satt. Ein Großteil des Studium schützt vor Gewerkschaftsnähe Jahres verbringt er im kalifornischen nicht: Der langjährige SAP-Software-Ent- Palo Alto: „Mein Englisch ist wirklich wickler Eberhard Schick und zwei seiner gut. Aber es reicht nicht, um den Kollegen wollten mit Geigers Hilfe vor- Amerikanern zu erklären, was zu

vergangene Woche eine Betriebsver- / DPA ERNERT MATHIAS Hause in Walldorf gerade vor sich sammlung einberufen, bei der ein Wahl- SAP-Zentrale in Walldorf: „Nicht zwangsbeglücken“ geht.“ Janko Tietz

108 der spiegel 11/2006 Panorama

EUROPA Kein Platz für Neue as Europäische Parlament will diese Woche eine radikale DÄnderung der Strategie für die künftige Erweiterung der EU beschließen – mit möglicherweise gravierenden Folgen für die Beitrittskandidaten Türkei und Kroatien sowie weitere Aspiranten auf dem Balkan. Einen entsprechenden Antrag hat der Auswärtige Ausschuss unter Federführung des deutschen Christdemokraten Elmar Brok vorbereitet. Darin gehen die Abgeordneten von der brisanten These aus, dass die EU der- zeit „ihre Aufnahmekapazitäten nicht erhöhen kann“. Ausrei- chende Kapazität sei aber 1993 als „eine der ursprünglichen Bedingungen für den Bei- tritt neuer Länder“ ver- einbart worden. Die Ent- schließung, deren Verab- schiedung als sicher gilt, verlangt außerdem, dass die Brüsseler Kommis- sion bis Ende des Jahres in einem Bericht den „Charakter der Europäi- schen Union, einschließ- lich ihrer geografischen Europaparlament in Straßburg Grenzen“ definiert. Da- mit dürfte es, nach der bereits beschlossenen Aufnahme Bul- gariens und Rumäniens spätestens 2008, für alle weiteren EU- Anwärter schwer werden, die höhergelegte Beitrittshürde zu nehmen. „Allen europäischen Ländern, die derzeit keine Aus- sicht auf Mitgliedschaft haben“, wollen die Parlamentarier

stattdessen „eine enge multilaterale Beziehung“ anbieten: Ähn- PRESS (L.) / SIPA HARTMANN CEM TURKEL / AFP (R.); CHRISTIAN lich wie im Europäischen Wirtschaftsraum sollen sich neue EU-Plakate in Istanbul Partner mit der EU auf Bereiche verständigen, in denen sie alle Rechte und Pflichten eines Mitglieds haben – nur nicht machen die EU-Außenpolitiker in einer speziellen Mängelliste stimmberechtigt sind. Auch die Türkei, Kroatien und Maze- klar: Meinungs- und Religionsfreiheit seien nach wie vor nicht donien, denen die Union schon die Aufnahme verheißen hat, garantiert. Weder sei die Justiz unabhängig, noch seien Folter sollen sich vorerst mit diesem „Zwischenschritt“ begnügen. und Misshandlungen wirklich abgeschafft. Und Gewalt gegen Wie weit Ankara noch immer inhaltlich von Europa entfernt ist, Frauen werde zumeist nicht gerichtlich verfolgt.

BRASILIEN licher ums Leben gekommen. Die Gangster haben in den vergangenen Furcht in den Favelas Jahren aufgerüstet, sie verfügen oft über modernere Waffen als die Armee. n den dichtbesiedelten Armenvierteln Außerdem kennen sie sich im Häuser- Ivon Rio de Janeiro droht womöglich labyrinth der Favelas besser aus. Die ein Blutbad, nachdem das Militär etli- Polizei traut sich kaum noch in die che Favelas besetzt hat. Die Streitkräfte Slums, der Staat ist praktisch nicht prä- planen offenbar einen längerfristigen sent. Mindestens 1600 Soldaten waren Einsatz gegen die Drogenmafia. Seither zuletzt im Einsatz. Angeblich wollte das herrschen dort kriegsähnliche Zustän- Militär, das mit Panzerwagen und Hub- de: Viele Anwohner verbarrikadieren schraubern operiert, mit der Aktion nur sich nachts in ihren Häusern oder ha- zehn Schnellfeuergewehre und eine ben die Favelas aus Furcht verlassen. Pistole zurückerobern, die bei einem Die Banditen paradieren dagegen auf Überfall auf ein Heeresdepot in Rio ge- den Hausdächern, machen sich über die stohlen worden waren. Experten gehen Soldaten lustig und verwickeln sie in allerdings davon aus, dass die Suche Schießereien. Vorigen Donnerstag grif- nach den Waffen nur als Vorwand für fen schwerbewaffnete Drogenhändler eine dauerhafte Beteiligung des Militärs

zum ersten Mal das Militär an, zuvor IZQUIERDO / AP SILVIA am Drogenkrieg dient, die verfassungs- war bei einer Schießerei ein Jugend- Armee-Einsatz in Elendsviertel rechtlich umstritten ist.

110 der spiegel 11/2006 Ausland

SPANIEN um zwei Jahre verlängert. Mindestens CHINA zwei von ihnen gelten als unmittelbare Rätsel um die Täter. Sie sollen bei dem Anschlag mit „Zurück in die Armut“ sieben anderen Terroristen zusammen- Bomben-Tasche gearbeitet haben, die sich später in ei- Der Wirtschaftswis- ner Wohnung in die Luft sprengten. Die senschaftler und Re- assive Ermittlungsfehler gefährden Anklage lastet die Ausführung der At- former Chi Fulin, Mdie Anklage in Spaniens wichtigs- tentate lokalen islamistischen Zellen an, 54, über politische tem Terrorprozess. Vor zwei Jahren die Teile einer „weitverzweigten Struk- Fehler der Regie- wurden bei Attentaten auf Nahver- tur“ mit Verbindungen nach Frankreich, rung und notwendi-

kehrszüge in Madrid 192 Menschen Belgien, Italien und Marokko seien. Sie LORENZ/DERANDREAS SPIEGEL ge Kursänderungen getötet und 1759 weitere verletzt. Noch könnte allerdings zusammenbrechen, immer ist zum Beispiel nicht geklärt, wenn bis zur Eröffnung des Prozesses SPIEGEL: Die Kluft zwischen Armen und woher das Hauptbeweisstück stammt: die Beweislage nicht eindeutig ist. Reichen ist größer denn je, nun hat eine blaue Sporttasche, die Staats- und Parteichef Hu Jintao die ein Handy und einen nicht harmonische Gesellschaft ausgerufen. gezündeten Sprengsatz ent- Wie soll die funktionieren? hielt. Offen ist, ob die Ta- Chi: Die wirtschaftliche Entwicklung sche tatsächlich aus einem verläuft in jüngster Zeit so rasant, dass der explodierten Züge die soziale damit nicht Schritt hält, egal, stammt. Erst der Chip in ob bei Gesundheit und Bildung, der öf- dem Mobiltelefon brachte fentlichen Sicherheit oder beim Um- die Fahnder auf die Spur ei- weltschutz. Insbesondere unser ner Gruppe von Islamisten, Sozialsystem ist schlicht ungenügend, es die der Untersuchungsrich- erfasst zu wenig Menschen, und es wird ter des Nationalen Gerichts- zu schlecht verwaltet. Der soziale Ser- hofs, Juan del Olmo, noch vice sollte künftig die Hauptrolle in der vor Ostern anklagen will. In- Politik spielen. zwischen hat er die Untersu- SPIEGEL: Der Nationale Volkskongress

chungshaft für 9 der 24 ein- / AP FERNANDO LLANO hat jetzt beschlossen, den Modernisie- sitzenden Beschuldigten Trauerlichter für Opfer in Madrid 2004 rungsverlierern unter die Arme zu grei- fen. Wo müssten Reformen als Erstes ansetzen? Chi: Im Gesundheitswesen und bei der DÄNEMARK tung verloren“, erklären Unternehmer. Bildung auf dem Lande. Rund 27 Pro- Parteifreunde wie auch der konservati- zent der Bauern haben die neunte Klas- Schafe und Böcke ve Koalitionspartner warnen davor, mit se nicht beendet, obwohl das eigentlich „unnötig scharfer Rhetorik“ nun auch gesetzlich vorgeschrieben ist. egierungschef Anders Fogh Rasmus- noch „eine innenpolitische Krise zu SPIEGEL: Welches sind die größten Defi- Rsen gerät im Streit um die Moham- schüren“. Selbst Kabinettsmitglieder zite bei der Krankenversorgung? med-Karikaturen nun auch im eigenen wie Verteidigungsminister Søren Gade Chi: Viele Bürger sind unzufrieden, weil Land unter Druck. Mit scharfen verba- oder Umweltministerin Connie Hede- die Kosten für Medikamente und Be- len Attacken auf Kritiker seines harten gaard gehen auf Distanz. handlungen so schnell gestiegen sind. 40 Kurses gegenüber der islamischen Welt Von Foghs Unnachgiebigkeit profitiert Prozent der Kranken können sich kei- spaltet der Rechtsliberale die Nation bis vor allem die rechtspopulistische und nen Arzt mehr leisten, 20 Prozent blei- in die eigene Partei. Fogh wirft breiten islamophobe Dänische Volkspartei: Sie ben zu Hause, obwohl sie eigentlich ins Kreisen in Wirtschaft, Kultur und Medi- steigerte ihre Umfragewerte auf knapp Hospital gehören. Auf dem Land ist es en mangelnde Unterstützung aus Prinzi- 20 Prozent. Die Fogh-Partei Venstre da- noch schlimmer: Viele Bauern sind dazu pienlosigkeit, Profitgier und Doppelmo- gegen verlor. verdammt, hilflos zu Hause darauf zu ral vor. Im Streit um mode- warten, dass ihre Krankheiten von ratere Töne beim Umgang selbst heilen. Und Familien, die kranke mit den Muslimen spricht er, Verwandte behandeln lassen müssen, ganz biblisch, von „Schafen stürzen in die Armut zurück. und Böcken“, als ginge es SPIEGEL: Ist eine Kurskorrektur ohne ums Jüngste Gericht. Protes- echte politische Reformen möglich? te gegen seine Haltung seien Chi: Wir brauchen natürlich auch eine von „Hass“ auf die Regie- Strukturreform, aber eine mit chinesi- rung getragen. Der Wider- schen Vorzeichen. Die Regierung muss spruch auch in Medien erin- die Auswahl der Kader verbessern, die nere ihn an die Kapitulation verschiedenen Abteilungen müssen ef- vieler seiner Landsleute vor fektiver zusammenarbeiten. Ministerien der nationalsozialistischen und Kommissionen dürfen sich nicht Besatzung 1940. mehr selbst kontrollieren. Und wir müs- Große Teile der Wirtschaft sen dafür sorgen, dass sich Organisatio- reagieren auf die Ausfälle nen der Zivilgesellschaft entwickeln, die

des Premiers empört: Fogh MIKKEL KHAN / AP TARIQ der Wirtschaft und dem Allgemeinwohl habe „total die Bodenhaf- Premier Fogh Rasmussen verpflichtet sind.

der spiegel 11/2006 111 Ausland

WEISSRUSSLAND Trügerischer Frieden Für eine dritte Amtszeit als Präsident stellt sich Alexander Lukaschenko zur Wahl. Der Alleinherr- scher von Minsk hält politische Gegner durch Unterdrückung im Zaum und das einfache Volk mit Staatsgeld bei Laune – westliche Hoffnungen auf einen Regimewechsel drohen zu scheitern. REUTERS / ITAR-TASS NIKOLAI PETROV Wahlgegner Milinkewitsch, Lukaschenko: Renten pünktlich überwiesen und arroganten Beamten auf die Finger geklopft

eißrusslands Zukunft hat jetzt ein im Amt und hat in dieser Zeit nach Ansicht lung durch Lukaschenkos Baubrigaden als Gesicht. Es ist hager, schaut mit von US-Außenministerin Condoleezza Denkmal totalitärer Architektur. Wwachen Augen unter hoher Stirn Rice die „letzte Diktatur im Zentrum Eu- Es herrscht ein trügerischer, zerbrechli- in die Welt und gehört Walerij Zepkalo. ropas“ errichtet. cher Frieden im Land. Gestützt auf seinen Der Karriere-Diplomat war mit 29 Jah- Weißrussland steht unter ungnädiger Be- nach Sowjetmanier KGB genannten Ge- ren bereits Vize-Außenminister und mit 32 obachtung. Eingeklemmt zwischen der um heimdienst, auf straff gelenkte Jugendver- Botschafter in Washington. Jetzt ist er 41, Polen erweiterten EU im Westen und dem bände und Gewerkschaften sowie ein von Berater des Präsidenten und neuerdings mächtigen Russland im Osten, zwischen Opposition gesäubertes Parlament, regiert Direktor des Hochtechnologie-Parks, der den baltischen Nato-Neulingen im Norden Lukaschenko scheinbar unangefochten. In am Rand der Hauptstadt Minsk entsteht. und den orange Revolutionären der Ukrai- den Nachrichtensendungen des Staats- Zwischen drei Telefonen im Sowjet- ne im Süden, erlaubt sich Lukaschenko, fernsehens werden unermüdlich „Erfolge design und einem modernen Computer- sein Zehn-Millionen-Volk mit harter Hand und Errungenschaften“ des Regimes wie Flachbildschirm spricht Zepkalo von sei- auf Sonderwegen zu führen. die Einweihung von Kinderkliniken und nen Plänen für ein „weißrussisches Silicon „Für Weißrussland“ steht auf Pro-Luka- Neubaublocks gefeiert. Valley“, von Venture-Capital-Fonds, re- schenko-Plakaten in den Straßen von In Wirklichkeit zeigt der Mächtige von formierten Bankengesetzen und Sonder- Minsk. Abgebildet sind glückliche Men- Minsk am Vorabend der Wahl Nerven. Sein wirtschaftszonen, die sich künftig von schen. Die Arbeitslosigkeit im Land, vom Parlament hat im Dezember ein Gesetz Minsk aus über das Land erstrecken Staat künstlich niedrig gehalten, liegt offi- verabschiedet, das Haftstrafen bis zu drei sollen. ziell bei 1,5 Prozent, der Durchschnittslohn Jahren vorsieht für die Beschädigung des Er klingt dabei entschlossen, wie einer, bei umgerechnet 219 Euro. Die Wirtschaft Ansehens Weißrusslands. Oppositionszei- dem der härteste Job im Land gerade recht soll 2005 um 9,2 Prozent gewachsen sein, tungen werden ihren Abonnenten von der kommt: Zepkalo soll Zukunftsindustrien obwohl selbst im Umfeld des Präsidenten Post seit Januar nicht mehr zugestellt. und Marktwirtschaft heimisch machen – eingeräumt wird, dass drei Viertel der un- Staatsbedienstete erhalten oft nur noch Ein- ausgerechnet unter dem Dach des letzten verändert staatlich gelenkten Fabrikanla- jahresverträge – eine deutliche Aufforde- sozialistisch geprägten Staats in Europa. gen heruntergewirtschaftet sind. rung zu politischem Wohlverhalten. Die Idee entspringt, wie das meiste in Andererseits künden Projekte wie der Mehrere Regimegegner wie der ehema- Weißrussland, dem Willen von Alexander Hightech-Park und die fast vollendete, um- lige weißrussische Botschafter in Lettland Lukaschenko. Zwei Stockwerke über dem gerechnet 160 Millionen Euro teure Natio- sitzen bereits in Haft. Regelmäßig finden Büro von Zepkalo hat der Präsident seine nalbibliothek vom Willen zum Aufbruch. sich Aktivisten der Jugendgruppe „Subr“ Amtsräume, von hier aus steuert er sein Die Philharmonie ist renoviert, der Mins- (Wisent) wegen staatsfeindlicher Agitation Ziel an – die Wiederwahl am kommenden ker Bahnhof neu gebaut, und die U-Bahn für kurze Zeit im Gefängnis wieder. Der Sonntag. Mit mindestens 76 Prozent Zu- fährt bis in die Stadtrandsiedlungen. Der ehemalige Direktor des staatlichen Rund- stimmung rechnet der schnauzbärtige ehe- noch zu Sowjetzeiten begonnene Repu- funks büßt derzeit, angeblich für Korrup- malige Kolchos-Direktor. Er ist seit 1994 blikpalast erstrahlt seit seiner Fertigstel- tion, mit elf Jahren Arbeitslager.

112 der spiegel 11/2006 VIKTOR DRACHEV / AFP Polizeieinsatz gegen Oppositionelle in Minsk: „Wir werden den Drahtziehern den Kopf geraderücken“

„Jeder Versuch, die Situation zu desta- US-Demokraten nahestehende NDI der- Opposition einen Hoffnungsträger fürs bilisieren, wird eine drastische Antwort zeit seine Aktivitäten von der ukrainischen Volk zu machen. hervorrufen“, verkündete Präsident Luka- Hauptstadt Kiew, das republikanische Pen- Alexander Milinkewitsch, 58 Jahre alt schenko Ende Januar im Staatsfernsehen: dant, das International Republican Insti- und Spitzenkandidat eines buntscheckigen „Wir werden den Ausführenden und den tute, die seinen von Vilnius aus. Bündnisses aus zehn Parteien und diversen Drahtziehern den Kopf geraderücken. Die Wenn sich in der litauischen Hauptstadt Organisationen, ist für den abgebrühten Botschaften gewisser Länder sollten sich die Vertreter der „weißrussischen Freiheits- Amtsinhaber Lukaschenko, den das Volk dessen bewusst sein.“ Industrie“ treffen, wie das der Europa- und „Batko“ nennt, Vater, bislang keine echte Die „Botschaften gewisser Länder“ Asien-Koordinator im U. S. State Depart- Bedrohung. Der freundliche Physiker Mi- planten, das hat Lukaschenko fünf Wo- ment nennt, dann sind Männer vom Kali- linkewitsch spricht bei öffentlichen Auf- chen später dann seinen Geheimdienstchef ber Terry Nelsons mit Rat und Tat zur Stel- tritten viel von Freiheit, Wahrheit und Ge- erläutern lassen, wie zuvor in anderen Län- le. Nelson hat es als Stratege für George W. rechtigkeit, und davon, dass die Wahlen dern nun auch in Weißrussland den Um- Bush im Wahlkampf 2004 und als Intimus sowieso gefälscht werden würden. sturz. Am Abend des 19. März, des Wahl- des Bush-Adjutanten Karl Rove zu Meriten Der Mehrheit der Weißrussen aber geht sonntags, solle eine Bombe unter Demon- gebracht. Nun aber geht es darum, ein bis- es zuallererst um Lohn und Brot, und dann stranten hochgehen und die Stimmung her sattelfestes Regime im um die Moral im Land. Milin- zum Kippen bringen – als Drahtzieher ver- Herzen Europas zu stürzen WEISSRUSSLAND 2005/06 kewitschs Chancen schmälert dächtig seien ex-jugoslawische, ukrainische und aus einem bis vor Mo- zusätzlich, dass er sich auch Bevölkerung und georgische Demokratiesöldner, aus- naten wenig bekannten Ver- 9,7 Mio. von der nationalistischen staffiert mit Geldern westlicher Stiftungen, treter der weißrussischen Durchschnitts- 219 ¤ Weißrussischen Volksfront auf des amerikanischen National Democratic lohn monatl. den Kandidatenschild heben Institute (NDI) allen voran. ESTLAND Wirtschafts- 9,2 % ließ und gern die „Russifizie- Washington hat die Mittel offengelegt, Ostsee wachstum rung“ seines Landes beklagt. die in den Kampf gegen den von Luka- Inflationsrate über 10 % Denn das Volk der Weißrus- schenko befehligten „Vorposten der Ty- LETTLAND sen, sosehr es ab 1795 unter rannei“ (Außenministerin Rice) im Herzen russischer und später sowjeti- LITAUEN Europas fließen. Beinahe zwölf Millionen RUSSLAND scher Herrschaft gelitten hat, ist bis dato Dollar im vergangenen und noch einmal so Minsk auf friedliche Koexistenz mit Moskau an- viel in diesem Jahr hat der Kongress für die gewiesen. 95 Prozent seines Energiebe- „Entwicklung der Demokratie“ in Weiß- WEISSRUSSLAND darfs deckt Lukaschenkos Staat aus russi- russland bewilligt. Weil aber Lukaschen- POLEN schen Quellen. Und der Kreml-Herr Wla- ko den amerikanischen Demokratiever- dimir Putin lässt dabei dem „Brudervolk“, kündern wie ihren europäischen Mitstrei- 200 km UKRAINE wie er es nennt, unverändert Gas und Öl tern die Tür gewiesen hat, steuert das den zu Freundschaftspreisen zukommen. Was

der spiegel 11/2006 113 Ausland

nischen Gutsbesitzer und Kolonisten, die hier nach der Aufteilung des Landes 1921 das Volk drangsalierten. So sehr, dass vie- le Weißrussen die nach dem Hitler-Stalin- Pakt einrückenden Soldaten der Roten Armee 1939 als Befreier begrüßten. Aber er kennt und nutzt auch die Skep- sis gegen die Russen, die Zwangskollekti- vierung und Stalinsche Säuberungen über das weißrussische Bauernland brachten. Von bösen Erinnerungen an die Deut- schen, die in Gestalt von SS-Horden die Bevölkerung ganzer Dörfer ermordeten, gar nicht zu reden. Im Zweiten Weltkrieg starben rund 3,4 Millionen Menschen, ein Drittel der Bevölkerung. Wer überlebte, blieb unter Stalins Knu-

REPORTER / EASTWAY REPORTER te, schöpfte später Hoffnung unter Chru- Demonstration für Demokratie*: „Letzte Diktatur im Zentrum Europas“ schtschow und Breschnew, und musste schließlich miterleben, wie zu Beginn von Perestroika und Glasnost radioaktiver Re- gen aus dem explodierten Reaktorblock im benachbarten Kernkraftwerk Tscher- nobyl über Weißrussland niederging, ohne dass das Volk gewarnt worden wäre. Ein Fünftel der Äcker und Wiesen des Landes sind seither verseucht. Die Erfahrung, dass von jenseits der ei- genen Grenzen vor allem Todbringendes droht, hat die Weißrussen geprägt. Und während die urbane Jugend längst die Frei- heitshymne „Meine Generation“ der Kult- band N.R.M. summt, setzen die Alten in Dörfern wie Swetilowitschi unweit der Grenze zu Russland deshalb weiter auf den weißrussischen Weg Lukaschenkos. Sie habe unter Stalin gehungert, unter Hitlers Henkern gesehen, wie Unschuldige

VIKTOR DRACHEV / AFP DRACHEV VIKTOR aufgehängt wurden, und unter Breschnew Armut auf dem Lande: Die Alten setzen auf Lukaschenko erstmals genug zu essen gehabt, sagt die Rentnerin Sofja Gatalskaja – ihr Bedarf an Gas angeht, bedeutet das: Weißrussland Land markiert im globalen Schach ein Veränderung sei für dieses Leben gedeckt. zahlt weniger als die Hälfte jenes Tarifs, Feld, das Putin unter keinen Umständen Was zähle, sei, dass Lukaschenko die Ren- der inzwischen für die Ukraine gilt. Und der westlichen Einfluss-Sphäre überlassen ten pünktlich überweisen und arroganten beim Öl heißt das: Weißrussland impor- will – russische Militärstützpunkte wie die Beamten auf die Finger klopfen lasse. tiert billigen Rohstoff aus Russland, verar- Raketenabwehr-Radarstation „Wolga“ bei Einer Umfrage der US-nahen Pontis-Stif- beitet ihn in Großraffinerien weiter und Baranowitschi 125 Kilometer südwestlich tung vom vergangenen Juli zufolge ist eine verkauft die Produkte zu Weltmarktprei- von Minsk stehen auf dem Spiel. Mehrheit der Weißrussen „mit ihrer Le- sen nach Westen. Mit den derart erwirt- Im Vertrauen auf die anhaltende Gunst bensqualität zufrieden“ und bekundet ein schafteten Erlösen und Ersparnissen ba- des Kreml erlaubt Lukaschenko sich in- „allgemeines Gefühl der Stabilität“. Ver- lanciert Lukaschenko seinen Haushalt aus. zwischen an der Heimatfront, Führungs- besserungen ihrer wirtschaftlichen Lage Weißrussische Armee- und Geheim- positionen in Verwaltung und Geheim- trauen die Bürger eher Lukaschenko selbst dienstkader werden weiter in Russland dienst von Moskau-loyalen Kadern zu als seinen politischen Gegnern zu. ausgebildet. Und das, obwohl Präsident säubern. Er nimmt damit jenen Oppositio- Allem Rückhalt im Volk zum Trotz aber Putin nur noch gedämpfte Sympathie für nellen, die ihn jahrelang als Satrapen des wettert das Staatsoberhaupt weiter gegen den rechthaberischen Sowjetnostalgiker in Kreml verhöhnten, ein gewichtiges Argu- „hirnverbrannte Typen“ von der Opposition Minsk erkennen lässt. Das Projekt eines ment aus der Hand – den Vorwurf, das und gegen die „Einmischung des Westens in gemeinsamen „Unionsstaats“ kommt seit Land sei weiter fremdbestimmt. unsere inneren Angelegenheiten“. Es ist, als zehn Jahren nicht voran – weil Luka- Die Weißrussen sind eine junge Nation begegne Lukaschenko mit tyrannentypi- schenko den Rubel in seinem Land nicht im Herzen Europas, gebeutelt von Hun- schem Misstrauen den Meinungsumfragen einführen und, vor allem, seinen Status als derten Jahren unter fremdem Joch und seiner Höflinge, die ihn am Wahlsonntag mit Staatsoberhaupt nicht einbüßen will. von den Verheerungen des 20. Jahrhun- großem Vorsprung ins Ziel kommen sehen. Doch als „einziger und letzter Verbün- derts. Noch sind sie auf der Suche nach Zu denken gegeben, sagt der Präsident, deter“ aus dem alten Kreis der Sowjet- ihrem Platz in der Staatengemeinschaft. habe ihm unlängst auf dem gemeinsamen republiken versteht es der Autokrat, sich Als furchtloser Führer durch das Labyrinth Weg in die Sauna der Präsidialresidenz Moskau gegenüber noch immer in günsti- der weißrussischen Geschichte hat sich ih- eine Frage seines Sohns Wiktor: „Papa, ges Licht zu setzen. Sein dünnbesiedeltes nen Lukaschenko angedient. was wird morgen sein, wenn du nicht wie- Er kennt und nutzt die Vorbehalte im dergewählt wirst, wo sollen wir denn dann * In Minsk am 2. März. Westen des Landes gegen die einstigen pol- leben?“ Uwe Klussmann, Walter Mayr

114 der spiegel 11/2006 Ausland LANDOV / INTERTOPICS LANDOV / GETTY IMAGES ABID KATIB Kadima-Führer Olmert, Peres*, Hamas-Chef Hanija: „Das Wichtigste ist die Einhaltung der Waffenruhe“

unter Beweis gestellt. Seit mehr als einem ISRAEL Jahr halten die Islamisten einen Waffen- stillstand ein. Kein einziger Anschlag in Kernisrael ging auf das Konto der Hamas, Forum der Frommen bestätigt sogar das israelische Militär. Die wenigen Selbstmordattentate der vergan- Öffentlich schließen Israelis und westliche Regierungen Gespräche genen Monate verübten radikalere Grup- pen wie der Islamische Dschihad. mit der Terrororganisation Hamas aus. In aller Stille knüpfen „Man kann sich auf die Hamas verlas- sie jedoch Kontakte zu den neuen palästinensischen Machthabern. sen“, sagt Alastair Crooke. Der ehemalige Agent des britischen Geheimdienstes – und abbi Menachem Fruman hat jahre- Olmert an und bat ihn um ein diskretes Berater des EU-Chefdiplomaten Javier So- lang einen einsamen Kampf geführt. Gespräch. In der Anonymität einer Jeru- lana – hat sich immer wieder mit Hamas- RUnermüdlich warb der religiöse salemer Hotellobby wollte der Emissär des Führern getroffen. Auch er erhält unzähli- Siedler aus den Bergen im besetzten West- Premiers wissen, wie die Chancen einer ge Anrufe aus europäischen Regierungs- jordanland für einen Dialog mit der paläs- Annäherung zwischen Israel und der Ha- zentralen. „Wir müssen mit ihnen reden“, tinensischen Terrororganisation Hamas. mas einzuschätzen seien. „Ich habe gesagt, schärft er seinen Gesprächspartnern ein. Getrieben vom Glauben, dass ein Frieden dass man die Hamas auf einen besseren So einfach geht das allerdings nicht. Ver- unter Frommen möglich sein müsse, wag- Weg bringen kann, wenn man ihr mit Re- tretern der EU sind Treffen mit Hamas- te er sich regelmäßig auch in den Gaza- spekt begegnet“, berichtet Fruman. Leuten untersagt, weil die Bewegung auf Streifen, um die Führer der radikalen Isla- Offiziell lehnt Israel Gespräche mit der der Liste der Terrororganisationen steht. misten zu treffen. Hamas ab. Vor Verhandlungen müssten die Also trifft man sich diskret, das unüber- Höhepunkt war 1997 ein Handschlag mit Extremisten drei Bedingungen erfüllen: die sichtliche Straßennetz von Gaza-Stadt bie- dem geistigen Führer der Hamas, Scheich Anerkennung Israels, das Ende der Gewalt tet dafür ideale Voraussetzungen. Ahmed Jassin. Frumans Siedlerfreunde be- und die Einhaltung aller bisher geschlos- Es ist Mittwoch der vergangenen Wo- trachteten ihn als Verräter, selbst in der is- senen Verträge. Das fordert auch das Nah- che, kurz nach zwölf Uhr mittags. In der raelischen Friedensbewegung galt er als ost-Quartett, bestehend aus Uno, Europäi- Redaktion der Wochenzeitung „al-Rissa- naiv, bei den meisten seiner Landsleute scher Union, den USA und Russland. la“ im Nassir-Viertel von Gaza breiten die schlicht als meschugge. Doch hinter den Kulissen bekommt die Männer ihre Gebetsteppiche aus. Ghasi Doch seit dem Wahlsieg der Islamisten einheitliche Front gegen die palästinensi- Hamad, Hamas-Mitglied und Chefredak- im Januar, die nun mit Ismail Hanija den schen Wahlsieger erste Risse. Kaum einer teur, hat indes Wichtigeres zu tun. Er will nächsten Palästinenserpremier stellen wol- glaubt, dass die Hamas alle Bedingungen seinem ausländischen Besucher klarma- len, ist Fruman ein gefragter Mann. Es gibt erfüllen kann, ohne ihr Gesicht zu verlie- chen, dass Israel und der Westen die Ha- wohl kaum einen Israeli, der das Weltbild ren. Der ehemalige israelische Außenmi- mas nicht fürchten müssen. der neuen Machthaber so gut kennt wie nister Schimon Peres, immerhin die Num- „Wir wollen Israel nicht zerstören“, be- der 60-jährige Rabbiner mit dem langen mer zwei auf der Wahlliste der neuge- teuert Hamad. Israel solle lediglich die weißen Bart und dem sanften Lächeln. gründeten Kadima-Partei, forderte, dass Besetzung des Westjordanlands und Jeru- Selbst die Regierung interessiert sich auf der Gewaltverzicht Israels einzige Bedin- salems als Unrecht anerkennen. „Wenn einmal für Fruman. Kürzlich rief ihn ein gung sein solle. „Das Wichtigste ist die Ein- Israel das öffentlich erklärt, sind Verhand- Vertrauter des amtierenden Premiers Ehud haltung der Waffenruhe“, sagt auch ein lungen möglich.“ hochrangiger EU-Diplomat. Nicht nur Hamads gutes Englisch, auch * Vor einem Foto des im Koma liegenden Premiers Ariel Dass die Hamas willens ist, ihre Terror- seine Mobiltelefonnummer hat sich bis Scharon. kommandos aufzuhalten, hat sie bereits nach Europa herumgesprochen. Vor gut

116 der spiegel 11/2006 einem Jahr sprach er am Rande einer Kon- Israels hätten sich kürzlich bei ferenz bereits mit Solana. Abgesandte eu- einem Treffen mit dem Dalai ropäischer Regierungen baten ihn in jüngs- Lama dafür aufgeschlossen ge- ter Zeit immer wieder um Treffen. „Ich zeigt, berichtet Fruman. habe in den letzten Wochen Beamte aus Möglich wäre auch ein Tref- Deutschland, Großbritannien und Frank- fen auf Expertenebene, zum reich getroffen“, erzählt der Hamas-Mann. Beispiel in der sogenannten „Sie wollten wissen, was unsere Pläne sind. Aix-Gruppe. Seit vier Jahren Ich habe ihnen gesagt, dass wir keine Tali- treffen sich Israelis und Paläs- ban sind, sondern flexibel und kompro- tinenser alle paar Monate in missbereit.“ dem nach der französischen Auch in Israel bröckelt das Tabu. Jeder Stadt Aix-en-Provence be- zweite Israeli ist laut Umfragen für Ver- nannten Zirkel. Unter den handlungen mit der Hamas. Weil in zwei Teilnehmern finden sich auch Wochen Wahlen sind, zeigen die Spitzen- hochrangige Ministerialbeam-

politiker derzeit unerschütterliche Härte. / AP MOUSSA HATEM te beider Seiten. „Wenn Ha- Obwohl die Hamas noch nicht einmal ein Lebensmittelverteilung in Gaza*: Große Abhängigkeit mas-Vertreter Interesse haben, Kabinett gebildet hat, nennt Premier Ol- sind sie herzlich eingeladen“, mert die Autonomieregierung bereits eine lem Milch, Zucker und Bananen – ins Pa- sagt der Wirtschaftswissenschaftler Arie „Terrorbehörde“. Dem Hamas-Führer Ha- lästinensergebiet verwehrt ist. Arnon, einer der Organisatoren. „Solche nija drohte er mit der gezielten Tötung. Direkte Verhandlungen mit den neuen inoffiziellen Kanäle sind der beste Weg, Die Wähler will Olmert glauben machen, Machthabern sind auch nach den israeli- miteinander ins Gespräch zu kommen“, dass Israel die Verbindungen zu den Paläs- schen Parlamentswahlen ausgeschlossen: glaubt auch Mitinitiator Ron Pundak, Di- tinensern vollständig kappen kann. Beide Seiten würden dadurch ihre Glaub- rektor des Peres-Friedenszentrums. Pun- Doch dafür ist die Abhängigkeit von- würdigkeit verlieren. Wahrscheinlicher ist, dak spricht aus Erfahrung: 1993 gehörte er einander zu groß. Um eine humanitäre Ka- dass sich Israelis und Palästinenser über zu den Unterhändlern, die in Geheim- tastrophe zu verhindern, sahen sich die Is- inoffizielle Kanäle annähern. Rabbi Fru- gesprächen mit der PLO die Oslo-Verträge raelis in der vergangenen Woche gezwun- man schwebt ein Forum der Frommen vor. ausarbeiteten – ohne heikle Vorbedin- gen, die Grenze zum Gaza-Streifen nach Unter dem Deckmantel des religiösen Dia- gungen. fast dreiwöchiger Sperre wieder für Hilfs- logs könnten sich Juden und Islamisten Schließlich erkannte auch Palästinen- lieferungen zu öffnen. Israelischen Unter- an einen Tisch setzen. Die Oberrabbiner serführer Jassir Arafat erst am Ende der nehmern entgehen Millionen Dollar, weil Verhandlungen das Existenzrecht Israels ihnen der Export ihrer Produkte – vor al- * Am vorvergangenen Samstag durch die Uno. offiziell an. Christoph Schult Demonstration für Abtreibungsfreiheit „Mein Körper – meine Entscheidung“

Inzest gelten keine Ausnahmen. Mit sei- ner Unterschrift provozierte er, und genau das war beabsichtigt, nicht nur die Mehr- heit der Amerikaner, sondern vor allem das Oberste Bundesgericht der USA, das vor mehr als 30 Jahren in der Grund- satzentscheidung „Roe vs. Wade“ die Ver- fassungsmäßigkeit der Abtreibung festge- stellt hatte. Eine Maus hat da gebrüllt, ei- ner der bevölkerungsärmsten US-Staaten sich auf Kollisionskurs zu geltendem Recht begeben. Weil es in diesem Streit inzwischen nicht nur um den Schutz des ungeborenen Le- bens, sondern auch um die ganz großen Fragen geht, für gläubige Christen bei- spielsweise darum, ob sich die USA wei- terhin „Gottes eigenes Land“ nennen dür- fen, ist auch Father James Morgan zum Showdown auf der Phillips Avenue er- schienen. Der katholische Geistliche will ein paar Dutzend protestierenden Christen Beistand leisten, die sich hier versammelt haben, um dem Bösen zu trotzen. Denn das Böse scheint selbst im from- men South Dakota in der Überzahl: etwa 300 Demonstranten, vorwiegend junge Frauen in rosa T-Shirts, die lautstark das Recht auf Abtreibung verteidigen. „Mein Körper – meine Entscheidung“, steht auf ihren Transparenten und „Rettet Roe“. Father Morgan lächelt so milde wie sie-

NATI HARNIK / AP NATI gesgewiss. „Wir schreiben hier Geschich- te“, sagt er. In 25 Jahren würden alle Ame- rikaner die Abtreibung „mit den großen USA Verbrechen der Menschheit vergleichen, zum Beispiel mit der Sklaverei oder dem Holocaust“. Dann wendet sich der Geist- „Wir schreiben Geschichte“ liche trostspendend fünf Glaubensschwes- tern zu, die in schwarzer Trauerkleidung Konservative haben einen neuen Angriff gegen die Abtreibung erschienen sind und sich selbst bezichti- gen: „Ich bereue meine Abtreibung“, steht gestartet. Mit dem Verbot fast aller Schwangerschaftsabbrüche will auf ihren Plakaten. South Dakota eine Grundsatzentscheidung erzwingen. Längst geht es nicht mehr nur um die Frage, was schützenswerter ist – ungebore- ie Phillips Avenue in Sioux Falls, nur Am Montag hatte Mike Rounds, der re- nes Leben („pro life“) oder das Selbstbe- nach den Maßstäben des Mittleren publikanische Gouverneur von South Da- stimmungsrecht der Frauen („pro choice“). DWestens eine Metropole im weithin kota, ein radikales Abtreibungsgesetz ge- Es geht viel grundsätzlicher darum, wie li- platten Präriestaat South Dakota, ist fast billigt, das so gut wie jeden Schwanger- beral oder wie konservativ die Amerikaner immer eine verschlafene Einkaufsstraße. Es schaftsabbruch künftig unter Strafe stellt. ihre Gesellschaft künftig gestalten wollen. gibt ein paar Restaurants und einen Souve- Selbst für Opfer von Vergewaltigung und Es geht um den Einfluss der fundamenta- nirladen, der aber meist geschlossen ist. listischen Rechten auf das öffent- Vorigen Donnerstag jedoch trennte aus- liche Leben, um die Trennung von gerechnet dieser Provinzboulevard die Kirche und Staat und um die Ver- Stadt, den Bundesstaat und gleich auch bindlichkeit religiöser Normen in noch die gesamte Nation in zwei unver- einem eigentlich säkularen Land. söhnliche Lager: Für eine gute Stunde Und weil die Abtreibungsgeg- beschimpften sich verfeindete Demon- ner vor allem in den US-Gerich- strantengruppen quer über die Straße hin- ten die Garanten des verhassten weg – und eröffneten so eine neue Runde säkularen Systems sehen, richtet in einem alten Streit, der sich längst zu sich South Dakotas Verbotsgesetz einem Kulturkampf ausgeweitet hat. Mit vornehmlich an den Supreme anhaltender Verbissenheit wird der nun Court, wo es unweigerlich über- schon seit Jahrzehnten von Konservativen und Liberalen, von frommen Christen und / DPA CAVANAUGH MATHEW * Mit Präsident George W. Bush und Bundes- Frauenrechtlern ausgefochten. Richtervereidigung im Weißen Haus*: Ruck nach rechts richter Samuel Alito am 1. Februar.

118 der spiegel 11/2006 Der hauptberufliche Lobbyist hat das kompromisslose Gesetz vom ersten Tag an unterstützt. Er hat Wähler angerufen und 15000 E-Mails verschickt, er hat Kontakte zu 400 Kirchengemeinden aufgebaut und Priester zu politischen Predigten ermun- tert. Regier glaubt, dass die USA seit Jahr- zehnten nach links abgedriftet sind. Er sei froh, dass die Rechte allmählich eigene Standpunkte vertrete. „Hoffentlich wacht das Land endlich auf“, sagt er. Die Tren- nung von Kirche und Staat mag etwas für die Heiden in Europa sein. Hier jedenfalls solle der Glaube „nicht künstlich fernge- halten werden“.

BRETT COOMER / HOUSTON CHRONICLE / WPN / AGENTUR FOCUS / WPN AGENTUR CHRONICLE BRETT COOMER / HOUSTON Und deshalb will Regier auch keine Großgottesdienst in den USA: Massive Wahlempfehlungen Ausnahmen vom totalen Abtreibungsver- bot zulassen. Bei einer Vergewaltigung ge- prüft werden wird. Dort wird sich der geordnetenkammer von South Dakota hat zeugte Babys seien nicht weniger mensch- künftige Kurs der US-Gesellschaft ent- das neue Gesetz mit einer Mehrheit von 50 lich als andere, sagt er. Schwangere, die scheiden, und es ist George W. Bushs er- zu 18 Stimmen verabschiedet. „Die Tren- ihr Kind nicht behalten wollen, sollten sich klärtes Ziel, das Oberste Gericht ins kon- nungslinien verliefen nicht zwischen den eben ihren Kirchen anvertrauen. servative Lager zu ziehen. Nachdem der Parteien oder Geschlechtern“, berichtet Der Glaubenskrieg im Mittleren Westen US-Präsident in den vergangenen Monaten die demokratische Abgeordnete Elaine droht inzwischen sogar für den wiedergebo- bereits zwei von neun Richterstellen neu Roberts. Am Ende zählte ausschließlich die renen Christen Bush zur Belastung zu wer- besetzen konnte, erwarten seine Anhän- Glaubensstärke. den. Mindestens fünf weitere Bundesstaaten ger nun den Rückzug, wenn nicht gar das Der Riss, der seit einigen Jahren die aus dem sogenannten Herzland der USA Ableben des 85-jährigen Gerichtsseniors amerikanische Gesellschaft durchzieht, ist sind auf die radikale Linie von South Dako- John Paul Stevens. Spätestens mit seinem in South Dakota wie unter einer Lupe zu ta eingeschwenkt. Doch bei eher moderaten Nachfolger, hoffen sie, werde für viele Jah- beobachten – auch als Lehrbeispiel für die Republikanern in den Ballungszentren sind re eine konservative Mehrheit das Rich- Radikalisierung der Amerikaner. solche Extrempositionen nicht mehrheits- terkollegium dominieren. Schon ein harmloser Backwettbewerb fähig. Bevölkerungsreiche, wahlentschei- Im Kampf gegen die Abtreibung hat sich für Schokoladenkuchen wird hier schnell dende Staaten wie Pennsylvania und Ohio das ländliche South Dakota schon immer zu einer Fundraising-Veranstaltung der könnten leicht an die Demokraten zurück- besonders hervorgetan. Für den dünnbe- Mein-Bauch-gehört-mir-Bewegung umge- fallen, sollte der Supreme Court sein Grund- siedelten Staat mit seinen 780000 Einwoh- widmet. Die andere Seite macht ihre An- satzurteil von 1973 wirklich kassieren. nern ist eine konsequente Pro-Life-Politik Zwei Drittel der Amerikaner sind dage- ein Markenzeichen, fast schon vergleichbar gen, dass die jetzige liberale Rechtspre- mit den gigantischen, in Fels geschlagenen chung zur Abtreibung verschärft wird. Präsidentenporträts am Mount Rushmore. Gleichwohl ist die Rate der Schwanger- Dagegen kämpft Thelma Underberg, schaftsabbrüche auch ohne ein Verbot seit Chefin der regionalen Pro-Choice-Bewe- Beginn der achtziger Jahre stetig zurück- gung. Seit über 40 Jahren macht sie sich für gegangen, mittlerweile liegt sie fast wieder Abtreibungsrechte stark. Berufliche und auf dem Niveau von 1973, als „Roe vs. wirtschaftliche Chancengleichheit, Selbst- Wade“ den Eingriff legalisierte. bestimmung über den eigenen Körper, für In der schrillen Debatte von South Da- sie gehört das alles untrennbar zusammen. kota sind inzwischen alle moderaten Posi- Als 1973 endlich das ersehnte Supreme- tionen verstummt. Während die eine Seite

Court-Urteil erging, das Frauen überall in GREG UNDEEN / WPN Gott um Beistand anfleht, damit er die Ge- den USA eine Abtreibung ermöglichte, hat Pro-Choice-Aktivistin Underberg richte zu einer weisen Entscheidung führe, sie gefeiert. „Wir dachten, wir hätten ge- „Wir dachten, wir hätten gewonnen“ schwenkt die andere Seite Kleiderbügel wonnen“, sagt sie. aus Draht – als Symbol für die Rückkehr Jetzt sitzt sie in ihrem fensterlosen Büro hänger mobil, um beispielsweise einer „les- barbarischer Abtreibungspraktiken der und versteht die Welt nicht mehr. Under- bischen Aktivistin aus Minnesota“ einzu- Verbotsära, die nun wieder aufleben könn- berg ist 74 Jahre alt, sie hat drei Kinder, heizen, bloß weil sie in Sioux Falls einen ten. Die Ärzte vor Ort stehen ohnehin vier Enkel und zwei Urenkel und ist in ih- Vortrag halten will. Und die Lokalzeitung schon seit Jahren nicht mehr für Schwan- rer Kirchengemeinde aktiv – viel unter- „Argus Leader“ ist derart eingeschüchtert, gerschaftsabbrüche bereit; sie fürchten den scheidet sie nicht von den gegnerischen dass sie zum wichtigsten Thema der Lan- Boykott ihrer Praxen. Stattdessen fliegen Pro-Life-Aktivisten, trotzdem wechselt sie despolitik grundsätzlich keine Kommenta- wöchentlich Mediziner aus dem benach- mit ihnen kein Wort. „Da kann man gleich re veröffentlicht – um bloß nicht zwischen barten Minnesota ein, um in der einzigen gegen eine Mauer reden“, sagt sie. die Fronten zu geraten. Abtreibungsklinik des Landes Schwanger- Irgendwann Mitte der neunziger Jahre Robert Regier, 35, ist einer der erfolg- schaftsabbrüche vorzunehmen. habe sich das Klima im Staat verschärft. reichsten Strategen des religiösen Lagers. Thelma Underberg trägt in diesen Ta- Die Kirchen, allen voran die katholische, Als er auf dem College Verfassungsrecht gen wieder viel häufiger den Pro-Choice- begannen, das Abtreibungsthema zu poli- studierte, hatte er seine damalige Freundin Button auf ihrer Jacke – vor allem, wenn tisieren. Mit massiven Wahlempfehlungen geschwängert, die dann abtrieb. Diese Ver- sie in die Kirche geht. Allerdings wagt es unterstützten sie Kandidaten, die sich ge- fehlung will er nun durch seine Arbeit kaum einer, die Außenseiterin ernsthaft zu gen die Abtreibung engagieren wollten. beim South Dakota Family Council gut- beschimpfen. „Die haben mich längst auf- Offenkundig mit großem Erfolg. Die Ab- machen. gegeben“, sagt sie. Frank Hornig

120 der spiegel 11/2006 GETTY IMAGES (L.); LEE JIN-MAN / AFP JIN-MAN (L.); LEE GETTY IMAGES Südkoreanische Busse in der entmilitarisierten Zone, Touristen am Strand von Kumgang: Erholung in einer Traumlandschaft

NORDKOREA Ferien im Gulag Hyundai, der Konzern-Gigant aus dem Süden, organisiert Urlaubsreisen in das geheimnisvolle Reich des Diktators Kim Jong Il. Zu Hunderttausenden strömen die Touristen in den bislang streng abgeschotteten Norden.

in neuer Morgen dämmert über Hotel arg herunter. Jetzt aber glänzt es wie zeitig können die Besucher hier erleben, Nordkoreas Ostküste, er taucht Kum- neu, grundrenoviert von der südkoreani- wie rasant beide Koreas immer enger zu- Egangsan, die Region des Diamanten- schen Firma Hyundai Asan – als adäquate sammenwachsen, weitgehend unbeachtet Gebirges, in ein feuriges Rot. Im Tal strö- Herberge für Touristen aus dem kapitalis- vom Rest der Welt. men Werktätige aus einer Kaserne. Sie ha- tischen Bruderland. Streit über Nordkoreas Atomprogramm? ben sich vermummt gegen die schneidende Für Gäste aus dem Süden ist Kum- Wirtschaftliche Sanktionen durch die USA, Kälte. Nur ein riesiger Wandspruch, den gangsan, das Hyundai mit Erlaubnis des weil der klamme Despot aus Pjöngjang alle passieren müssen, verheißt Wärme: „lieben Führers“ verwaltet, ein äußerst be- angeblich Dollarnoten fälschen lässt? In „Zehntausend Leben für General Kim Jong gehrtes Reiseziel. Allein dieses Jahr wer- Kumgangsan wird von globalen Besorg- Il, die Sonne des 21. Jahrhunderts“. den 400000 Touristen anreisen, ein Drittel nissen über den Krisenherd Korea nur am Der Arbeitstag im Reich des „lieben mehr als im Vorjahr, sagt Hyundai-Mana- Rande geredet. Umso eifriger wird gebaut, Führers“ beginnt mit Regeln, deren Sinn ger Kim Young Hyun voraus. Viele hoffen, denn das renovierte Hotel ist nur eines von für Außenstehende schwer erkennbar ist, einen Blick in den geheimnisvollen Norden zahlreichen Projekten, mit denen Hyun- die aber jeder streng befolgt. Bis zum Ka- werfen zu können, mit dem ihr Landesteil dai die Gegend in eine blühende Exklave sernentor dürfen alle mit dem Fahrrad offiziell noch immer verfeindet ist. Gleich- des Südens verwandelt. fahren, dann steigen sie wie auf Befehl ab Hinter einem grünen Zaun hievt ein und gehen langsam an der Wache vorbei. Kran Baumaterial für einen politisch Anschließend schieben sie ihr Rad entlang höchst symbolträchtigen Neubau heran. der Straße, auf der fast kein Auto fährt, Im kommenden Jahr soll eine Begeg- noch etwa 200 Meter weiter. Erst dann stei- nungsstätte für Familien, die der Korea- gen alle wieder auf. Krieg zwischen 1950 und 1953 auseinander- Das Ritual kann man vom Kumgang- gerissen hat, den Betrieb aufnehmen. In Hotel aus beobachten. Vor Jahrzehnten einem Seitental macht ein weiteres Pro- ließ Nordkoreas Staatsgründer Kim Il Sung jekt Fortschritte, das für Kims Gulagstaat das zwölfstöckige Gebäude als staatliches höchst ungewöhnlich ist. Zwei buddhisti- Erholungsheim für verdiente Funktionäre sche Mönche aus Südkorea überwachen errichten. Ein Propagandagemälde vor den Wiederaufbau eines historischen Tem- dem Gebäude – es zeigt Kim als gütigen pels, der im Krieg zerstört wurde. Landesvater inmitten einer Kinderschar – Im September will Hyundai in Kum- erinnert an den göttlichen Führer, der vor gangsan überdies einen Golfplatz eröffnen. fast zwölf Jahren starb, offiziell aber auch Der bourgeoise Sport galt im gelobten als Toter weiterhin das Amt des Präsiden- Land der Arbeiter und Bauern bislang als ten bekleidet. höchst dekadent. Vergnügen sollen sich auf Unter seinem Sohn, dem heutigen Dik- der Anlage allerdings auch keine nord- tator Kim Jong Il, kam das Kumgang- koreanischen Werktätigen; sie dürfen nur

KNS / REUTERS den Rasen mähen und die Bälle einsam- * Vorstandsvorsitzende Hyun Jeong Eun, Stellvertreter Diktator Kim (M.), Hyundai-Chefs* meln für ihre reichen Brüder und Schwes- Kim Yun Kyu am 16. Juli 2005 in Wonsan. Großes Versöhnungswerk tern aus dem Süden. Denen stehen schon

122 der spiegel 11/2006 Ausland heute ein elegantes Strandhotel, mehrere Restaurants und Filialen einer Supermarkt- kette zur Verfügung. Anfangs durften die Kumgangsan-Tou- risten nur in Dollar zahlen. Inzwischen aber akzeptiert das klamme Regime in Pjöngjang auch südkoreanische Won. Wie ein bankrotter Gutsherr, der brache Län- dereien als Campingplätze verpachtet, lässt Kim notgedrungen zu, dass die wenigen Schneisen, die durch den einst fast un- überwindlichen Grenzstreifen am 38. Brei- tengrad in sein Hungerreich führen, sich immer weiter dehnen. Eine zweite Insel des Kapitalismus be- treibt Hyundai weiter westlich. In der in- dustriellen Sonderzone Kaesong, eine Au- tostunde von der südkoreanischen Haupt- stadt Seoul entfernt. Dort lassen 16 Firmen aus dem Süden von rund 6000 nordkorea- nischen Arbeitern einfache Produkte wie Kleidung, Kochtöpfe und Kosmetikbehäl- ter zu Billiglöhnen fertigen. Welch große Hoffnungen die Regierung in Seoul auf eine Aussöhnung mit dem Norden setzt, zeigt sich am Grenzübergang Goseong an der Ostküste. Von hier aus reisen die Kumgangsan-Touristen in den Norden. Die neue Abfertigungshalle, so geräumig wie ein Flughafen-Terminal, ist auf Zuwachs angelegt. Der ersehnte Auto- verkehr zwischen Nord und Süd soll durch fünf Kontrollspuren fließen. Bislang ist allerdings erst ein Schlagbaum geöffnet, den passieren die Touristenbusse von Hyundai. In nur 15 Minuten erreichen die Süd- koreaner ihr Ziel. Die Straße führt durch die mit Minen, Starkstrom und Stachel- draht bewehrte entmilitarisierte Zone. Be- hutsam wie auf einer exotischen Safari rol- len die Busse durch das Niemandsland, parallel zu einer neuen Eisenbahnlinie. Alle paar hundert Meter wachen vom Bahndamm aus finster dreinblickende nordkoreanische Soldaten darüber, dass die Wagen nicht von der vorgeschriebe- nen Route abweichen. Den Urlaubern bietet Kumgangsan Er- holung in einer Traumlandschaft, aber auch die zwangsverordnete Ruhe vor west- licher Informationstechnologie. Schon bei der Einreise wird ihr Gepäck auf Handys durchleuchtet, denn die Benutzung dieses elektronischen Teufelszeugs hat der „liebe Führer“ strikt verboten. Auch Kameras mit starkem Tele-Zoom knöpfen Kims Grenz- beamte den Reisenden ab. Aus den Bussen heraus ist das Fotografieren ohnehin un- tersagt. Kumgangsan ist für Nordkorea nach wie vor ein Testgebiet: Wie weit kann der erste Thronfolger einer stalinistischen Dynastie die Öffnung treiben, ohne die Herrschaft über sein riesiges Gefängnis zu gefährden? Zwar dürfte es Kim wenig scheren, dass seine zahlenden Gäste während ihrer Anfahrt neugierige Blicke auf das Elend im Steinzeit-Kommunismus werfen kön- der spiegel 11/2006 123 Ausland nen. Auf den Feldern ziehen dürre Ochsen war die industrielle Nutzung des unmittel- Hyundai fühlt sich daher ermutigt, seine die Karren, ein Traktor ist nirgendwo zu baren Grenzgebiets praktisch untersagt, Ferienexklaven auszubauen. Kim Young sehen, nur wenige Autos fahren auf den die Region verödete – ähnlich wie einst Hyun, der Kumgang-Manager vor Ort, Straßen, die Kims Untertanen meist als die Zonenrandgebiete in Westdeutschland. zeigt begeistert auf die schroffen Felsen: Fußwege nutzen, nur ein paar Privilegier- Doch nun werden neue Investitionen als „Als Nächstes wollen wir das innere Ge- te haben Fahrräder. Die Fenster der Signale der Entspannung gefeiert, unab- birge für Urlauber erschließen.“ Mit einer Häuser sind oft mit Plastikplanen abge- hängig davon, ob die Sechsergespräche neuen, anspruchsvollen Bergroute will dichtet. Abends versinken die Dörfer we- über Nordkoreas Atomrüstung weiter- die Firma auch ehrgeizige Kletterer in gen Strommangels in tiefer Finsternis. gehen. das Resort locken. Dafür leuchtet Hyundais Vor allem aber ehren die Ferienparadies dank eigener Hyundai-Leute mit ihren Plä- Energieversorgung umso grel- nen das Vermächtnis des Kon- ler. Weithin sichtbar kündet es zerngründers Chung Ju Yung. von einem Trubel wie im Der inzwischen verstorbene kapitalistischen Süden. Nur et- Patriot überquerte 1998 mit was mehr als tausend streng Hilfslieferungen von insgesamt ausgewählte nordkoreanische 1001 Kühen die Grenze zu Arbeitskräfte haben Zugang Nordkorea. Bei spektakulären zu dem Areal, das wie ein Treffen mit Diktator Kim fä- Militärlager abgeriegelt ist. delte er gemeinsame Projek- Doch nirgendwo sonst in dem te ein. isolierten Land, dessen Insas- Über den Konzern flossen sen weder frei von Stadt zu später auch geheime Gelder in Stadt reisen noch ausländi- den Norden, mit denen sich sches Fernsehen empfangen der südkoreanische Ex-Präsi- dürfen, kommen sich Lands- dent Kim Dae Jung im Juni leute aus Süd und Nord so fas- 2000 seinen legendären Gipfel zinierend nah. mit Kim Jong Il in Pjöngjang Eine ganz spezielle Stätte regelrecht erkaufte. Nachdem

der Begegnung ist die Karao- AFP der Deal ans Licht kam, stürz- ke-Bar im zwölften Stock des Junge Nord- und Südkoreaner in Kumgang: „Wir sind ein Korea“ te sich der Chef von Hyundai Kumgang-Hotels. Dort klatscht Asan, Chungs Sohn Mong Hwang Sang Yoon, Ingenieur einer Mess- Aber auch mit direkten Hilfen stützt Hun, im August 2003 aus seiner Firmen- gerätefirma aus Seoul, mit seinen Kolle- Seoul den notleidenden Nachbarn. Allein zentrale in Seoul in den Tod. gen begeistert im Takt der Musik – eine der im vorigen Jahr lieferte der Süden den ar- Nun setzt seine Witwe Hyun Jeong Eun jungen nordkoreanischen Hostessen er- men Verwandten 500000 Tonnen Reis und das große Versöhnungswerk fort. Im ver- greift gerade das Mikrofon. Am Revers ih- 350000 Tonnen Düngemittel. Generäle aus gangenen Juli empfing der „liebe Führer“ res roten Kostüms trägt sie die obligate An- Nord und Süd verhandelten über die Ver- sie zu einer Audienz. Doch wenig später stecknadel mit dem Konterfei des „Ewi- meidung von Grenzzwischenfällen. erfuhr Hyun, wie unberechenbar der Ge- gen“ Präsidenten Kim Il Sung. Dass die USA, Südkoreas wichtigster schäftspartner Nordkorea nach wie vor Die Entertainerin stimmt einen politisch Verbündeter, Kims Reich nach wie vor zur sein kann. korrekten Liebessong aus dem Reich der „Achse des Bösen“ zählen, verstehen die Weil Hyundai seinen wichtigsten Ver- Kims an, die Südkoreaner drängeln begeis- Menschen im Süden immer weniger. Die bindungsmann zum Regime als stellvertre- tert nach vorn und singen mit. Eine klei- Mehrheit der Bevölkerung hat den ge- tenden Vorstandschef absetzte – der Ma- ne ausgelassene Party beginnt, man stellt meinsam mit den USA geführten Korea- nager soll 700 000 Dollar veruntreut ha- sich gegenseitig vor und stößt an. Erst als Krieg nicht mehr persönlich erlebt. Sie sieht ben –, rächte sich der tyrannische Kim an einige Gäste Fotos von den Hostessen kaum noch einen Grund, die Kim-Dynastie Hyundai. Vorübergehend reduzierte er die machen – auch das ist streng verboten –, zu hassen. Fast die Hälfte der Südkoreaner tägliche Touristenquote nach Kumgangsan kühlt die Stimmung ab. Aufgeschreckt zwischen 17 und 23 findet laut Umfrage, auf 600 Reisende. Überdies bot er einem springen die Nordkoreanerinnen aus dem ihr Land solle Nordkorea beistehen, falls südkoreanischen Konkurrenzunternehmen Bild. die USA den Nachbarn angriffen. an, für Hyundai einzuspringen – doch die Gleichwohl genießt Ingenieur Hwang Firma lehnte ab. das seltene Rendezvous mit den Schön- CHINA Also macht Hyundai weiter. Inzwischen heiten aus dem Norden. „Wir sind ein erwirtschafte der Konzern mit seinen Ur- Korea“, ruft er fröhlich und hebt sein Glas. NORDKOREA 100 km laubsreisen in den Norden erste Gewinne, Die Damen nicken huldvoll zurück. In klei- Pjöngjang sagt Manager Kim. Doch das sei gar nicht nerer Runde sagt Hwang dann allerdings, Kumgangsan so wichtig im Vergleich zu dem Beitrag dass sich kaum ein Südkoreaner eine allzu für den Frieden auf der geteilten Halb- Goseong schnelle Wiedervereinigung mit dem bit- Kaesong insel. terarmen Norden wünsche, schon aus Sor- An den glaubt auch die Vorstandsvor- ge um den eigenen Wohlstand. Seoul sitzende Hyun. Zwar filzten nordkorea- Ähnlich denkt auch die Regierung von nische Grenzsoldaten bei ihrem Kum- Südkoreas Präsident Roh Moo Hyun. Sie gangsan-Besuch im vergangenen Jahr unterstützt Hyundai bei seinen Projekten SÜDKOREA die Handtasche der Konzernleiterin aus im Norden vor allem, um einen Kollaps Gelbes dem Süden wie bei jedem anderen Tou- der Kim-Dynastie zu verhindern. Meer risten auch. Doch trotz dieser Demüti- Mit Blick auf eine künftige Vereinigung gung, so ließ Hyun später wissen, habe baut der Süden die Grenzprovinz Gyeong- sie nur an eins gedacht: „Ich werde nicht gi aus und siedelt dort Fabriken an. Lange aufgeben.“ Wieland Wagner

124 der spiegel 11/2006 A. FACELLY / SIPA PRESS / SIPA A. FACELLY Proteste gegen die EU-Verfassung in Paris (Juni 2005): „Wir sind schon wieder in einer gefährlichen Situation“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Wie zu Breschnews Zeiten“ Tschechiens Präsident Václav Klaus, 64, über seine Kritik an der Europäischen Union, die Unmöglichkeit, Demokratie zu exportieren, und das Verhältnis zum deutschen Nachbarn

dass die Vertiefung der EU leider auch ohne Verfassung weitergeht, als ein schlei- chender Prozess der Vereinheitlichung – und das ist noch viel gefährlicher. Es ist sehr schwierig, diesen Prozess zu brem- sen, er wird ohne große öffentliche An- teilnahme vorangetrieben. SPIEGEL: Sehen Sie da nicht zu schwarz? Die österreichische Ratspräsidentschaft wird demnächst wohl einen Fahrplan zum weiteren Umgang mit der Verfassung vor- stellen … Klaus: Die Verfassung war gedacht, um ei-

FILIP SINGER / SPECTRUM PICTURES FILIP SINGER / SPECTRUM / LAIF REPORTERS nen Sprung im Einigungsprozess zu ma- Staatschef Klaus, EU-Parlament in Brüssel: „Schleichender Prozess der Vereinheitlichung“ chen. Er ist gescheitert. Anhänger eines vereinigten Europa waren in den ersten SPIEGEL: Herr Präsident, Sie sind einer der oder damals die Tschechoslowakei – ohne Tagen danach erschrocken und wie ge- schärfsten EU-Kritiker. Sie halten die Eu- den kommunistischen Putsch von 1948 zu lähmt. Dann aber haben sie schnell ver- ropäische Union für ein dirigistisches, den Gründungsmitgliedern der EU ge- standen, dass sie ihre ursprünglichen Zie- bürokratisches Gebilde – kurzum: für ein hört hätte. Meine Kritik zielt auf die Form le und Absichten weiterverfolgen können, undemokratisches Monstrum. Tschechien und die Methoden der europäischen Inte- auch ohne Verfassung. Jeden Tag kommen aber gehört jetzt selbst seit knapp zwei gration. nun weitere neue Gesetze, neue Initia- Jahren zur EU. Hat die Mitgliedschaft SPIEGEL: In der Diskussion um die EU- tiven, neue Richtlinien aus Brüssel, die uns Ihrem Land geschadet? Verfassung haben Sie gesagt, Sie hätten in Richtung Vereinheitlichung drängen. Klaus: Das habe ich nie gesagt. Ich habe im- „Angst um Europa“. Franzosen und Nie- SPIEGEL: Welches Signal aus Brüssel hat Sie mer gesagt, die Tschechische Republik ist derländer haben das Projekt inzwischen denn in letzter Zeit besonders gestört? ein wichtiger Teil Mitteleuropas. Wir müs- platzen lassen. Empfinden Sie Genugtu- Klaus: Es geht nicht um eine einzelne Ent- sen an der europäischen Integration teil- ung darüber? scheidung, die besonders gefährlich wäre. nehmen, das ist ganz klar. Ich bin ganz Klaus: Leider nicht. Zufrieden war ich nur Es sind Hunderte von Beschlüssen, die uns sicher, dass die Tschechische Republik – in den ersten Minuten, nachdem die Ent- jeden Tag aus der EU-Zentrale erreichen. scheidung bekannt geworden war. Jetzt Für besonders bedenklich halte ich zum Das Gespräch führten die Redakteure Christian Neef und sehe ich, dass wir schon wieder in einer ge- Beispiel das Gerede über eine mögliche Jan Puhl sowie SPIEGEL-Mitarbeiterin Renata HanuΔova. fährlichen Situation sind. Ich beobachte, Steuerharmonisierung in Europa oder die

126 der spiegel 11/2006 ausgebremste Liberalisierung bei den kommt, gutheißt. Euro-Naive sind auch grenzüberschreitenden Dienstleistungen. jene Leute, die diesen schleichenden Ver- Ich habe jüngst meinen Ohren nicht ge- einheitlichungsprozess vorantreiben, im traut, als ich hörte, dass unser eigener Europaparlament, in der Brüsseler Büro- EU-Kommissar Vladimír μpidla eine für kratie, in der Kommission. Kaum jemand, mich unglaubliche Sache vorgeschlagen der nicht professionell mit Politik zu tun hat: einen EU-Fonds für die Opfer der Glo- hat, kennt die Namen der EU-Kommissa- balisierung. Das ist Kommunismus in Rein- re oder etwa den des EU-Parlamentspräsi- kultur – wie zu Breschnews Zeiten. Da- denten. Aber diese Leute erlangen immer mals waren die Menschen ebenfalls dazu mehr Gewicht, während die Bedeutung verurteilt, aus der Zeitung zu erfahren, was der nationalen Parlamente immer weiter die da oben an der Spitze für sie beschlos- abnimmt. sen hatten. Ich erinnere mich noch sehr SPIEGEL: Ihre Fundamentalkritik steht in gut an dieses Gefühl der Ohnmacht. merkwürdigem Kontrast zur hohen An- SPIEGEL: Sie kritisieren das Demokratie- ziehungskraft, die die EU in den letzten Defizit, die zunehmende Distanz zwischen 16 Jahren auf viele Menschen gerade in der politischen Elite und dem Volk? Osteuropa ausübte. Hat die Europäische Klaus: Ja, aber mir geht es vor allem um die Union denn nicht gerade dort die Demo- politische Dimension der europäischen In- kratie vorangebracht? Vertreibung von Sudetendeutschen (1946): „Die tegration. Die ist für mich einer der aller- Klaus: Nein, die EU hat unsere Demokra- wichtigsten Punkte – das hängt mit unserer tie um keinen Millimeter vorangebracht. den Länder eine wichtige politische Aner- Vergangenheit zusammen, mit unserer SPIEGEL: Wir denken zum Beispiel an die kennung. In Europa gilt die Regel: Die Empfindlichkeit, ja vielleicht sogar Über- Slowakei, wo der autoritäre Ministerprä- Guten sind in der EU, die Bösen nicht. empfindlichkeit in dieser Hinsicht. sident Vladimír Me‡iar 1998 abgewählt SPIEGEL: Aber hat die EU nicht Prozesse SPIEGEL: Sie nennen sich einen EU-Realis- wurde … angestoßen, die sonst nicht so schnell in ten. Was dürfen wir darunter verstehen? Klaus: Aber das haben die Slowaken selbst Gang gekommen wären? Zum Beispiel die Klaus: Es ist das Gegenteil zum EU-Nai- getan; solch einen Prozess von außen vor- Herausbildung eines neuen Rechtssystems? ven. Ich bin kein Skeptiker oder EU- anzutreiben ist für mich inakzeptabel. Die Kandidatenländer Bulgarien oder Ru- Gegner. Unsere Demokratie haben wir selbst ge- mänien tun jetzt doch alles, um mit einer SPIEGEL: Was zeichnet denn einen EU-Nai- schaffen. Im Übrigen ist die EU-Mitglied- Justizreform EU-Standards zu genügen. ven aus? schaft keine Frage der Anziehungskraft: Es Klaus: Die Bulgaren und Rumänen sind Klaus: Das ist nicht nur einer, der passiv gibt einfach keine Alternative zu ihr. Denn schon von sich aus an einer normalen, frei- und unkritisch alles, was aus Brüssel diese Mitgliedschaft war für die betreffen- en, demokratischen Gesellschaft interes- Ausland

SPIEGEL: Ihr russischer Kollege, Wladimir Klaus: Was? In Tschechien gab es anti- Putin, war dieser Tage gerade hier in Prag. deutsche Töne? Das muss ich hundertpro- Es fiel auf, wie sehr Sie sich mit Kritik an zentig zurückweisen. Das haben nur eini- seiner Tschetschenien-Politik zurückgehal- ge deutsche Politiker und Journalisten so ten haben – war das ein Entgegenkommen konstruiert. nach Putins kritischer Bewertung des so- SPIEGEL: Aber der damalige Ministerpräsi- wjetischen Einmarsches 1968 in die —SSR? dent MiloΔ Zeman zum Beispiel hat doch Klaus: Ich bin nicht sicher, ob es für Tsche- 2002 im Wahlkampf plötzlich von den Su- tschenien eine einfache Lösung gibt. Wir detendeutschen als der Fünften Kolonne sehen doch in Bosnien-Herzegowina oder Hitlers schwadroniert. dem Kosovo, dass Einmischung von außen Klaus: Was ist daran antideutsch? Das ist nur sehr wenig geholfen hat, zumindest der Versuch, die Situation in der Tsche- aber keine stabile Lösung gebracht hat. Ich choslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg fürchte, dass niemand in Europa einen rea- zu beschreiben, zwischen 1935 und 1938. listischen Entwurf in Sachen Tschetsche- Das sind keine antideutschen Töne. Wie nien machen kann. Ich höre immer nur können Sie so etwas sagen? moralisierende Kritik an der russischen SPIEGEL: Dennoch klang damals im Wahl-

CTK / DPA CTK Seite. Das ist doch billig. Deswegen wei- kampf deutlich durch, dass die Deutschen Vergangenheit ist Vergangenheit“ zwar als Partner, aber als ein durchaus be- drohlicher Partner gesehen werden. Ist das siert. Sie brauchen dazu keine Berater. Wir heute immer noch so? haben unsere Demokratie für uns selbst Klaus: Die menschlichen Beziehungen sind entwickelt – und nicht für die blauen Au- nun mal schwieriger, wenn ich es mit je- gen von irgendjemand in Brüssel. mandem zu tun habe, der 30 Kilo mehr SPIEGEL: Sie sind gegen soziale Mindest- wiegt. Dann habe ich natürlich die Sorge, standards in Europa, gegen eine gemein- dass auch eine gutgemeinte Geste Kompli- same Steuerpolitik. Wäre eine gemeinsame kationen bringen kann. Mit Ländern wie Außenpolitik für Sie genauso abwegig? Madagaskar oder Bolivien haben wir Klaus: Eine gemeinsame Außenpolitik ist natürlich keine Probleme. Aber Deutsch- für mich völlig unnötig. Die verschiede- land ist unser Nachbar, es gibt die gemein- nen europäischen Länder haben ganz un- same Vergangenheit, Deutschland ist stark terschiedliche Prioritäten, Ziele, Vorurtei- und ehrgeizig und mehr als viermal so groß le. Es wäre falsch, sie alle auf einen ge- wie wir. Es ist ganz logisch, dass wir vor- meinsamen Kurs zu drängen. Sehen Sie sichtig agieren. Das ist einfach nur Real- sich doch das Ergebnis der Volksabstim- politik.

mungen in Frankreich und den Niederlan- / AP MICHAL DOLEZAL SPIEGEL: Im vergangenen Sommer hat sich den an. Beide Länder haben die Verfas- Präsidenten Putin, Klaus in Prag die tschechische Regierung symbolisch bei sung aus ganz unterschiedlichen Motiven „Moralisierende Kritik ist billig“ jenen vertriebenen Sudetendeutschen ent- abgelehnt. Und das ist in Ordnung. Es kann schuldigt, die gegen Hitler gekämpft hatten doch nicht jemand kommen und uns zwin- gere ich mich auch, offene Briefe zu die- – eine Geste, die damals in Deutschland gen, eine einheitliche Hemdgröße zu kau- sem Thema zu unterzeichnen … viel beachtet wurde. Aber selbst die ging fen – obwohl der eine Kragenweite 39 SPIEGEL: … wie es gerade Ihr Vorgänger Ihnen noch zu weit. braucht und der andere 41. Václav Havel getan hat. Ist es denn richtig, Klaus: Ich habe kritisiert, ein paar links- SPIEGEL: Sie lassen kaum ein gutes Haar wenn die deutsche Regierung meint, die orientierte Antifaschisten und Kommunis- an der EU. Wie weit sollte die Integration Entwicklung in Russland sei zwar nicht ten herauszusuchen und sich bei denen zu denn Ihrer Meinung nach gehen? sonderlich demokratisch, aber schaffe entschuldigen. Es gab unter den Deutschen Klaus: Man kann die Entwicklung der eu- doch zumindest Stabilität. Ist das auch Ihre doch viele, die nicht Faschisten waren. Das ropäischen Integration in zwei Phasen auf- Position? war eine absolut falsche Idee, eine partei- teilen: Die erste Ära reicht bis zum Vertrag Klaus: Man darf natürlich kein Auge zu- politische Idee der sozialdemokratischen von Maastricht. Das war eine Liberalisie- drücken. Wir müssen sehr aufmerksam Regierung. Ich bin gegen solche unauf- rungsphase, das Hauptprinzip der euro- sein. Aber wie kann man die Transforma- richtigen Gesten. päischen Integration war damals die Be- tion der Gesellschaft in einem so großen SPIEGEL: Aber ohne eine Aufarbeitung der seitigung verschiedener Barrieren und Land wie Russland beschleunigen? Dieje- Vergangenheit … Grenzen in Europa. Dafür war ich zu hun- nigen, die da moralisieren, wollen von Klaus: Die Vergangenheit ist Vergangen- dert Prozent. Die Phase danach ist dagegen außen ihre Maßstäbe diktieren. Das geht heit. Derzeit fordert das Europaparlament eine Homogenisierungs- oder Standardi- natürlich auch nicht. Man kann Demokra- von der Türkei eine Geste zum Genozid an sierungsphase, eine Phase der Regulierung tie nicht von jenseits der Ländergrenzen den Armeniern ab 1915. Wem würde das von oben, der zunehmenden Kontrolle un- verordnen, das haben wir doch selbst er- helfen? Präsident Putin hat sich jetzt für seres Lebens. Das hat für mich nicht mehr lebt in kommunistischen Zeiten: Die Ost- die Niederschlagung des Prager Frühlings mit Freiheit und Demokratie zu tun. politik, der Helsinki-Prozess – das alles hat 1968 entschuldigt. Das war eine gute Geste. SPIEGEL: Viele hatten ja nach dem Verfas- uns doch nicht wirklich geholfen. Aber ich bin nicht der Meinung, dass ich sungsdebakel das Ende der EU prophezeit, SPIEGEL: Das sehen viele im Westen an- heute mit Putin darüber reden muss, was eingetreten ist es offenbar nicht. ders. Uns scheint überdies, dass das Breschnew 1968 getan hat. Putin ist nicht Klaus: Das waren Unkenrufe einiger Euro- deutsch-tschechische Verhältnis noch im- sein Erbe, und ich bin nicht der Erbe der Bürokraten und -Lobbyisten. Wir wissen mer etwas angespannt ist. Im letzten Wahl- kommunistischen Regierung, die 1948 in doch alle, dass solch ein Ende gar nicht kampf vor vier Jahren wurde in Prag die der Tschechoslowakei die Macht über- bevorstand. Die europäische Verfassung antideutsche Karte gespielt. Fürchten Sie, nahm. war ein Schritt von vielen, und man sollte dass es dazu wieder kommt, wenn Tsche- SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen nicht versuchen, sie nun wiederzubeleben. chien im Juni ein neues Parlament wählt? für dieses Gespräch.

der spiegel 11/2006 129 Ausland

ALEXANDRIA Auf dem Märtyrerpfad Global Village: Wie der als Terrorist angeklagte Zacarias Moussaoui an seinem Todesurteil arbeitet

till, ganz still ist es im Gerichtssaal, als Moussaoui murmelt beifällig mit, wenn Bin auf das World Trade Center 1993 eine le- Staatsanwalt David Raskin die Minu- Laden Koranverse zitiert. Der Ankläger benslange Haftstrafe ab. Sten vor dem Einschlag schildert. Er schiebt eine Kassette mit Bildern eines Qai- Nichts passt zusammen in diesem Ver- berichtet von den verzweifelten Menschen da-Trainingslagers ein. „Wir verteidigen fahren, Moussaouis wahre Rolle bleibt un- an Bord des Fluges AA 11, von den Hilfe- unsere Religion mit Blut“, singt Moussa- durchsichtig. Von dem Plan, zu dem sich rufen einer Stewardess. oui. „Sie sind Ihr eigener größter Feind“, der Franzose bekannte, haben US-Ermitt- Im Saal 700 des Bundesbezirksgerichts hat ihn Richterin Leonie Brinkema mehr ler noch nie gehört. Auch seine Pflicht- von Alexandria wird die Tragödie des als einmal gewarnt. verteidiger wirken hilflos. „Dieser Mann 11. September 2001 derzeit noch einmal le- Was genau Moussaoui mit den Anschlä- ist der härteste Test für unser Rechts- bendig. Die Mienen der Zuschauer sind gen zu tun hatte, ist bis heute unklar. Es system“, erläutert Verteidiger Edward Mac- erstarrt, Raskin spricht mit leiser Stimme, gibt drei Versionen. Ramzi Binalshibh und Mahon den Geschworenen, und sein Ton als er den Einschlag des Jets in den Nord- Chalid Scheich Mohammed, die Planer hat etwas Flehendes. „Er war völlig nutz- turm des World Trade Center schildert. des, wie sie es nannten, heiligen Diens- los für al-Qaida, er hat ihnen doch nur Und das Inferno, das von da Kopfschmerzen bereitet. Ma- an seinen Ausgang nimmt. chen Sie ihn nicht zum Hel- Das ist der Moment, in den, er verdient es nicht.“ dem Zacarias Moussaoui, 37, Moussaoui beschimpft die zu lächeln beginnt. Der Kopf Richterin als „Nazi“, in der mit der gehäkelten Gebets- Zelle verfasst er wütende kappe nickt, die Finger strei- Pamphlete. Ist er womög- chen durch den buschigen lich unzurechnungsfähig? Ein schwarzen Bart. Es sieht aus, Psychologe steht bereit, er als wolle Moussaoui den At- wird Moussaouis Geisteszu- tentätern zu ihrem grausigen stand begutachten. Coup gratulieren. Es sieht Ein Stockwerk über dem aus, als könne er es gar nicht Gerichtssaal sitzen Ange- abwarten, selbst zu sterben. hörige der Opfer. Auch in Seit viereinhalb Jahren New York, Boston oder sitzt der aus Marokko stam- Philadelphia können sie den mende Franzose in Einzel- Prozess per Videoübertra- haft. Damals, im August gung verfolgen. Bradley Bur-

2001, war er in einer Flug- / AFP LEIN ART lingame hat dagegen einen schule in Minnesota aufge- Angeklagter Moussaoui (Gerichtszeichnung): „Ich bin der Feind“ Platz im Gerichtssaal erhal- fallen. Moussaoui, der einen ten. Er sitzt nur ein paar Me- „Master of International Business“ und tags, hängten ihm bei ihren Vernehmungen ter von Moussaoui entfernt und will ihm in eine Ausbildung bei al-Qaida gemacht hat, in Geheimgefängnissen der CIA unter- die Augen sehen. „Ich hatte die Vorstel- gilt den US-Behörden als 20. Attentäter, schiedliche Delikte an. Moussaoui sei der lung, einfach zu ihm hinüberzugehen und als der, dessen rechtzeitige Aussage alles Ersatzmann für die Todespiloten gewesen, ihn zu erwürgen“, sagt er. Burlingames hätte verhindern können. Jetzt wollen sie sagte Binalshibh aus. Er sollte an einer Bruder Charles starb als Pilot des Fluges seine Hinrichtung. zweiten Attacke an der Westküste teil- AA 77, der Maschine, die ins Pentagon Die Geschworenen sitzen in dem Wa- nehmen, behauptete Mohammed. Die sei stürzte. shingtoner Vorort auf den Gerichtsbänken, aber aus Mangel an Piloten und wegen an- Viele wollen Moussaoui sterben sehen. die Prozesszeichner dürfen ihre Gesichter derer Schwierigkeiten geplatzt. Einig wa- Carie Lemack, deren Mutter bei dem An- nur als Silhouetten malen. Ein ehemali- ren sich die beiden nur in der Ansicht, dass schlag starb, glaubt, der Angeklagte habe ger Marinesoldat gehört zu ihnen, Regie- der zu Großmäuligkeit neigende Mous- kein schnelles Ende verdient: „Er soll ei- rungsangestellte, eine amerikanische Mus- saoui eine echte Gefahr für die Attentats- nen langsamen, qualvollen Tod sterben. limin, die in Iran geboren wurde. planungen darstellte. Lassen wir ihn den Rest seines Lebens in Etwa drei Monate wird das Verfahren Es geht ohnehin nur noch um das Straf- einer kalten, schmutzigen Zelle sitzen.“ dauern, dann müssen sie entscheiden: Tod maß, weil Moussaoui sich im vergangenen Der Prozesstag geht zu Ende, eine durch die Giftspritze oder lebenslange Haft. April, zur großen Erleichterung der Anklä- schmale Frau schiebt sich aus der Bank Moussaoui scheint ihnen die Entscheidung ger, selbst schuldig bekannt hat. Seither und eilt zum Ausgang. Draußen warten leichtmachen zu wollen. Unverwandt star- gibt es allerdings noch die dritte, seine Ver- schon die Kamerateams auf sie. Sie ver- ren sie ihn an. „Prisoner“, Häftling, steht in sion der Tatbeteiligung. Nach der wollte sucht, ihnen zu entkommen, aber es gelingt großen Buchstaben auf seinem grünen Ge- Moussaoui den in einem US-Gefängnis ein- ihr nicht. Aicha el-Wafi ist Moussaouis fängnisanzug. „Gott verfluche Amerika“, sitzenden blinden ägyptischen Prediger Mutter. ruft er mit französischem Akzent. „Gott Scheich Omar Abd al-Rahman freipressen „Amerika braucht einen Schuldigen“, schütze Bin Laden. Ich bin der Feind.“ oder andernfalls eine Boeing 747 ins Weiße sagt sie. „Sie machen ihn zum Sündenbock Ein Video, auf dem der Terroristenfüh- Haus stürzen lassen. Abd al-Rahman sitzt – und er hilft ihnen auch noch dabei.“ rer die Anschläge preist, wird abgespielt. für seine Beteiligung am ersten Anschlag Georg Mascolo

130 der spiegel 11/2006 Prisma Wissenschaft · Technik HOA-QUI / LAIF HOA-QUI Löwenweibchen mit Jungen Game Reserve“ stieg die Zahl der Raubkatzen in den vergan- TIERE genen acht Jahren von 5 auf 21. Bislang blieb den Rangern die Wahl zwischen Löwenjagd und Antilopennachschub – nun soll die Verhütung als dritter Weg dazu beitragen, dass sich ein Die Pille für den Löwen Gleichgewicht zwischen den Tierarten einpendelt. Der Wirk- stoff senkt die Produktion von Gonadotropin-Hormonen und n den privaten Naturparks Südafrikas treiben Ranger die verhindert damit beim Weibchen das Heranreifen von Eiern. IVerhütung voran – bei Löwen. Schon 70 Weibchen tragen ein Beim Männchen beendet der Stoff die Sperma-Produktion. Die Kügelchen mit dem hormonell wirksamen Deslorelin unter ih- Methode ist zuverlässig, wie Tests an weiblichen und männ- rer Haut. Das Verhütungsmittel, das den Tieren unter Narkose lichen Wildhunden, Tigern, Schakalen und Leoparden gezeigt eingesetzt wird, macht sie für bis zu 18 Monate lang unfrucht- haben. Bei den Löwen bleibt Verhütung bis auf weiteres den- bar. In jüngster Zeit brachten die Löwen in den Parks häufig noch eine rein weibliche Angelegenheit: Deslorelin führt zu mehr Junge zur Welt, als es den Antilopen- und Gnu-Herden Testosteron-Mangel und somit zu Haarausfall – folglich stünde gut tat – allein im 34000 Hektar großen „Welgevonden Private der König der Tiere dann ohne seine imposante Mähne da.

MEDIZIN PSYCHOLOGIE ten leistungsbezogen Stolz über Gelin- gen und Scham über Misserfolge, die Feinfühlige Prothese Animateur im Werte für Ausdauer und Misserfolgs- toleranz stiegen an. Die Gegenwart von er auf eine Kinderzimmer Erwachsenen, folgert Holodynski, Wkünstliche scheint Kindern zu helfen, Ausdauer Hand angewiesen ist, llein die Anwesenheit eines Er- beim Lösen von Aufgaben zu trainie- erhält bestenfalls eine Awachsenen motiviert kleine Kinder ren, weil sie sich von ihnen bewertet grobmotorische Pro- zu Lernleistungen. Das hat eine Studie fühlen. Die Bielefelder Ergebnisse

UNIV. OF SOUTHAMPTON UNIV. these. Zu den For- des Psychologen Manfred Holodynski widersprechen entwicklungspsychologi- Künstliche Hand schern, die Abhilfe von der Universität Bielefeld ergeben. schen Theorien, nach denen sich Kinder schaffen wollen, ge- Der Forscher ließ Jungen von drei bis bereits mit drei Jahren selbständig zu hört der Ingenieur Paul Chappell von der sieben Jahren puzzeln: Zunächst sollten Leistung motivieren können. University of Southampton. Mit seinen die Kinder ihre Aufga- Kollegen entwickelt er ein Modell, das be allein bewältigen; in Empfindlichkeit und Beweglichkeit des einer zweiten Runde Originals besser nachahmen soll: Dank saß ein Erwachsener sechs Motoren kann die Kunsthand jeden dabei. Dieser sprach Finger einzeln bewegen. Sie kommt weit- mit ihnen – half ihnen gehend ohne störende Kabel aus, soll aber nicht, die Teile zu- Heiß und Kalt erkennen und ihre Griff- sammenzufügen. Holo- stärke anpassen – eine Hantel also härter dynski filmte beide umfassen als eine Blume. Die Forscher Runden mit versteckten arbeiten zudem an Antirutsch-Sensoren: Kameras und fand her- Sogenannte piezoelektrische Polymere aus: Puzzelten die Kin- registrieren Geräusche, etwa wenn die der allein vor sich hin, Hand an einer Dose abgleitet. Zunächst waren sie wenig aus- wollte Chappell Mikros aus Hörgeräten dauernd und von Miss- in die künstlichen Fingerspitzen pflanzen erfolgen schnell entmu- – doch die erwiesen sich als unbrauch- tigt. Ganz anders im

bar: Neben dem Rutschton registrierten Beisein des Erwachse- M. WEBER WOLFGANG sie permanent alle Umgebungsgeräusche. nen: Die Jungen zeig- Spielende Kinder

der spiegel 11/2006 133 Wissenschaft · Technik Prisma

ERNÄHRUNG Schwangere auf Diät Heute intakte Gebiete, in denen Säugetiere am iele Frauen nehmen in der Schwan- EUROPA stärksten vom Aussterben gerschaft weniger Kalorien zu sich NORDAMERIKA V bedroht sein werden. als notwendig – oft sogar weniger, als für Nichtschwangere empfohlen wird. Atlantik ASIEN Pazifik Viele werdende Mütter äßen auch zu AFRIKA wenig Eisen und Ballaststoffe, so das Pazifik Ergebnis einer Studie der britischen Manchester Metropolitan University. SÜDAMERIKA Mit durchschnittlich 1907 Kalorien am Indischer Tag lagen die zurückhaltenden Schwan- Ozean AUSTRALIEN geren deutlich unter den in Großbritan- nien empfohlenen 2140 Kalorien – und Quelle: PNAS Aussterbende immerhin 33 Kalorien (und damit etwa von fast 4000 Arten und analysierte den Ein- eine Scheibe Knäckebrot) unter der Tierwelt fluss der Menschen und die Biologie der Tiere: Richtlinie für Nichtschwangere; und Eine neue Weltkarte zeigt jene heute noch intak- Vor allem in den nördlichen Gegenden Nord- statt der gewünschten 14,8 führten sie ten Regionen, in denen landlebende Säugetiere amerikas mitsamt den arktischen Regionen und ihrem Körper nur 12,5 Milligramm in den kommenden Jahren aller Wahrscheinlich- in Südostasien sterben zahlreiche Arten aus, Eisen zu. „Das ist beunruhigend“, kom- keit nach vom Aussterben bedroht sein werden. sollten nicht sofort Maßnahmen zu ihrem Schutz mentiert Ernährungswissenschaftlerin Gründe sind unter anderem Bevölkerungswachs- ergriffen werden, warnt Cardillo. Insbesondere Emma Derbyshire. „Es scheint, als ob tum, Zerstörung der Landschaft und die Jagd. große Tiere mit geringer Reproduktionsrate wie Frauen immer noch eher ihr Gewicht Das britisch-amerikanische Forscherteam um das Karibu, das kanadische Rentier, seien ge- halten wollen, als sich und ihre Babys den Biologen Marcel Cardillo vom Londoner Im- fährdet, außerdem Tiere, die nur in kleinen, be- richtig zu ernähren.“ Mögliche Folgen perial College untersuchte Lebensbedingungen grenzten Gebieten lebten. des Kalorienmangels: untergewichtige Kinder und Schwierigkeiten mit der Milchproduktion. „Und Eisenmangel ist besonders in den letzten drei Schwan- gerschaftsmonaten oft die Ursache für BÜCHER 1923 erst wurde die erste Professorin in Blutarmut“, warnt die Forscherin. Eine Deutschland berufen. Die Romanheldin Botschaft immerhin hat die Frauen Chauvinisten am wächst eine Generation früher auf, zwi- inzwischen erreicht, meint Derbyshire: schen Skeletten, Kranken und den großen Für 79 Prozent war Alkohol in der Seziertisch Forschern des späten 19. Jahrhunderts: Schwangerschaft tabu. Robert Koch, dem Entdecker des Tuber- erlin, Gründerzeit: Ein Mädchen wird kulose-Erregers, sowie den Serologen Bgeboren; die Mutter stirbt bei der Paul Ehrlich und Emil Behring. Sie lernt Niederkunft; der Vater, ein Tischler, lan- mit Krankenblättern lesen; später schafft det nach zahlreichen Zechausflügen in sie verstorbene Tuberkulose-Patienten der Charité – als Handlanger, um seine zum Sezieren heran – und ist voller Neu- gier. „So haben wir alle mal angefangen“, spricht Oberarzt Ehrlich wohlwollend, dann ändert sich der Ton: „Als Mädchen musst du dich nicht mit Medizin und Bio- logie herumquälen, denn eines Tages wirst du sehen: Ihr weiblichen Wesen habt das alles im Gefühl.“ Henrietta aber will mehr wissen, als eine Schwanger- schaft ihr offenbaren würde. Sie forscht heimlich, doch für die Gelehrten bleibt sie „Die Gehilfin“. Der Buchtitel klingt

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN irreführend kitschig und passt nicht zum Pathologe Virchow in der Charité (1896) lakonischen Ton des Autors: Kluger be- schreibt die unmögliche Karriere einer Trinkschulden bei einem Mitarbeiter des Wissenschaftlerin ohne Kampfvokabular. Pathologen Rudolf Virchow zu beglei- Gerade deshalb wirkt die Männerrunde chen. Die Tochter Henrietta nimmt er samt ihren Grundsätzen komisch – etwa mit. Sie ist die Hauptfigur des Romans wenn einer von ihnen nächtens im Patho- von Martin Kluger. Obgleich fiktiv, steht logiesaal räsoniert: „Henrietta hat den ihr Schicksal für das Leben vieler Frauen, Blick für das Moribunde, der den Wei- die trotz Talent in der Wissenschaft kei- bern sonst völlig abgeht.“ nen Platz fanden – weil gelehrte Frauen, wie der Mathematiker August Ferdinand Martin Kluger: „Die Gehilfin“. DuMont Literatur und / SEEGER-PRESS MATRIX Möbius befand, „wider die Natur“ seien. Kunst Verlag, Köln; 320 Seiten; 19,90 Euro. Schwangeres Model Kate Moss

134 der spiegel 11/2006 SCHÖNING / IMAGO Großmutter mit Enkeln, äthiopische Oromo-Frauen mit Kindern und Schwiegermutter (r.): Mama’s Baby, Papa’s maybe

EVOLUTION Der Teufel im Haus Schwiegermütter haben einen schlechten Ruf – und das mit gutem Grund. In vielen Kulturen, so belegen historische Daten und Feldstudien von Deutschland bis nach Indien, machen sie ihren Schwiegertöchtern das Leben schwer. Evolutionsbiologen glauben nun auch zu wissen, warum.

chwiegermutter“ nennt sich die me- nicht einmal die Hälfte aller Frauen zum der, geldgeile Saumatzen“ beschimpfen dizinische Klammer, die sich mit vier Lob der Schwiegermama durchringen. lassen. „Die Mutter des Ehemanns öffnet Sspitzen Haken in den elastischen Ver- Eher galt sie ihnen als „Besen“, „Gift- auch Briefe oder kontrolliert Kontoaus- band krallt. „Schwiegermuttersessel“ heißt zahn“, „Meckerziege“. züge, sie vergiftet Blumen und zerreißt ein dorniger Kugelkaktus. Und einer wei- „Alles in allem“, erklärt Jaeggi, „sind Wäsche auf der Leine.“ Gall weiß sogar teren Zimmerpflanze, dem Bogenhanf, es in hochsignifikantem Ausmaße die Frau- von Fällen zu berichten, „wo die liebe trugen seine scharfen Blattspitzen den Na- en, die Probleme mit ihren Schwiegermüt- Mama ein Überfallkommando bestellt oder men „Schwiegermutters Zunge“ ein. tern haben.“ Auch in der Literatur zum einen Killer angeheuert hat, um die Biestigkeit ist fester Wesenszug der an- Thema dominiere das Sujet „böse Schwie- Schwiegertochter zu beseitigen“. geheirateten Muttis – von dieser offenbar germutter mit ungeliebter Schwiegertoch- Forscher geben ihr recht: Der üble Ruf tief im Volk verankerten Überzeugung kün- ter“. Und genüsslich walzten allein im vo- von des Mannes Mutter, so haben sie den unzählige Witze: „Warum kommen rigen Jahr drei Spielfilme den Zickenkrieg herausgefunden, ist mehr als bloße Folk- Schwiegermütter nicht in den Himmel? Weil aus – am drastischsten „Das Schwieger- lore. Vielmehr wurzele das Gezicke mit Drachen nicht so hoch fliegen können.“ monster“, in dem Jane Fonda ihres Sohnes der Schwiegertochter tief im evolutio- Immerhin sieben Prozent der Geschie- Erwählte in Gestalt von Jennifer López nären Erbe des Menschen. „Fast immer denen geben die Schwiegerhexe als Schei- quält, schlägt und belügt. trifft man auf ein mindestens subkutan dungsgrund an, berichtet die Berliner Psy- Das wahre Leben bestätigt die Kunst; angespanntes Verhältnis“, meint Eckart choanalytikerin Eva Jaeggi in ihrem Mitte davon kann Ruth Gall erzählen, die in Voland, Soziobiologe an der Universität März erscheinenden Buch zum Thema*. Augsburg vor über zehn Jahren Deutsch- Gießen. Auffällig dabei: Während 93 Prozent der lands erste Selbsthilfegruppe für Schwie- Ein kürzlich von Voland mitherausge- Männer nette Bezeichnungen für die Mut- gertöchter gründete. Zehntausende Frauen gebener Sammelband zur Evolution der ter ihrer Ex-Gefährtin fanden, konnte sich haben dort ihr Leid geklagt. Gall: „Der Großmutterschaft räumt auf mit dem Bild Einfallsreichtum, mit dem Schwiegermüt- der umflorten Märchen-Omi mit Dutt und * Eva Jaeggi: „Liebe, böse Schwiegermutter“. Walter Ver- ter versuchen, uns lästige, störende Weiber Strickarbeit im Schoß**. Die neuesten Un- lag, Düsseldorf; 160 Seiten; 16 Euro. loszuwerden, ist nahezu grenzenlos.“ tersuchungen bestätigen: Selbst die Enkel ** Eckart Voland, Athanasios Chasiotis, Wulf Schiefen- hövel (Hg.): „Grandmotherhood“. Rutgers University So müssten sich Schwiegertöchter als leiden mitunter. Ob in Gambia oder Ja- Press, New Brunswick; 344 Seiten; 70,90 Euro. „unsaubere Drecksäue, sexbesessene Lu- pan, Äthiopien oder Deutschland – Papas

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Eigentlich, so scheint es, die Savanne hopsten, wenn Großmama für wäre doch ein weibliches sie Wurzeln buddeln ging. Wesen im Vorteil, das Kind Auch bei den Oromo Süd-Äthiopiens für Kind gebärt bis an überleben die Kinder eher, wenn Oma zur sein Lebensende. Sämtliche Stelle ist. Das zeigt eine aktuelle Unter- Sprösslinge trügen dann suchung zur Frage nach dem Sinn der die Gene für andauernde Großmutterschaft. Die Alte betreut dabei Fruchtbarkeit wiederum an gar nicht unbedingt die Rangen, fanden ihre eigenen zahlreichen die britischen Forscherinnen Ruth Mace Nachkommen weiter. Nach und Mhairi Gibson heraus. Vielmehr vielen Generationen wür- nimmt sie der Mutter schwere Hausarbeit den sich allein durch ihre ab: Sie mahlt Mais, sammelt Feuerholz, zahlenmäßige Überlegen- schleppt Wasser. heit diese Spätgebärenden Wie sehr sich Omas Investment lohnt, durchsetzen gegen die kin- hat die finnische Biologin Mirkka Lahden- derarmen Verlierer der Evo- perä von der Universität Turku nachge- lution. wiesen: Je länger die helfende Großmutter Eine Antwort auf dieses nach der Menopause lebt, desto mehr Kin- Rätsel ist unter dem Namen der entspringen ihrer Blutslinie – pro Jahr- „Großmutterhypothese“ be- zehnt werden ihr zwei zusätzliche Enkel kannt. Ihr zufolge haben geboren, ergab die Analyse historischer die Frauen mehr davon, im Bevölkerungsdaten aus ländlichen Gebie- letzten Lebensdrittel auf ten Finnlands und Kanadas. kraftverschlingende Schwan- Mit Mama an ihrer Seite trauten sich die gerschaften und zehrende Eltern offenbar früher ran ans Kinder-

RUTH MACE RUTH Babys an der Brust zu ver- machen, ließen weniger Zeit verstreichen zichten. bis zur nächsten Geburt, und die Enkel Mutter sind dessen Kinder ziemlich egal. Denn dann können die Frauen Kraft, hatten größere Überlebenschancen. Wann Mehr noch: Sogar den Tod kann Oma in Zeit und Wissen ihren Enkeln widmen – hingegen der Großvater starb, spielte kei- die Familie bringen. Das wiesen Voland und mit deren Überleben sicherstellen, ne Rolle für die Zahl der Enkel. und der Evolutionsbiologe Jan Beise an- dass ihre Dynastie blüht und sich immer Den Oma-Effekt könnte sich sogar die hand von 23000 Landarbeitersippen in der weiter in die Zukunft verzweigt. So retten Entwicklungshilfe zunutze machen, emp- Krummhörn nach, einer Gegend in Ost- sie ihre Gene in die nächste Generation – fiehlt die Ökonomin Esther Duflo vom friesland. Kirchenbücher aus dem 18. und damit lasse sich auch das lange Leben der Massachusetts Institute of Technology. Sie 19. Jahrhundert offenbaren, dass dort, wo Orca-Omas rechtfertigen, glaubt der kana- hat herausgefunden, dass die Altersrente, die Großmutter väterlicherseits nah wohn- dische Walforscher Lance Barrett-Lennard. die in Südafrika an arme Schwarze ausge- te, die Babys mit deutlich größerer Wahr- Was den Menschen angeht, studieren zahlt wird, offenbar direkt in den Gesund- scheinlichkeit tot zur Welt kamen. Seltener die Anthropologen am liebsten heutige heitszustand der Enkel investiert wird – je- geschah dies, wenn es die Alte zuvor da- Stammesgesellschaften, wenn sie die evo- doch nur das Geld, das Omi bekommt. Von hingerafft hatte. Oder die Säuglinge star- lutionären Wurzeln der Omi-Rolle erkun- Großvaters Penunzen fehlt in der dritten ben in den ersten Monaten ihres Lebens, den wollen. Denn Tausende von Jahren Generation jede Spur. Vor allem die vor allem, wenn die Mutter ihrer Mama haben die Menschen gelebt, wie sie es heu- Mädchen profitieren von der großmütter- nicht mehr am Leben war. Niemand hatte te noch in einigen Regionen Papua-Neu- lichen Zuwendung: Sonst unterernährt und geahnt, wie viel Wahrheit das zeitgenössi- guineas oder Tansanias tun: als Jäger und mickrig, wachsen sie plötzlich zu statt- sche Sprichwort birgt: „Mann’s Moo’r is Sammler oder urtümliche Farmer. licher Größe heran. de Düvel over de Floo’er“ – die Mutter Die Feldforschung hat inzwischen sta- Geldtransfer von Alt zu Jung spielt auch des Mannes ist der Teufel im Haus. pelweise Belege für die Großmutterhypo- in Deutschland eine große Rolle: Zumin- Wie kann das sein?, fragten die Forscher. these geliefert. Der erste Hinweis kam dest in den neunziger Jahren noch ver- Eigentlich müssten doch Großeltern stets schon Ende der neunziger Jahre von der wöhnten 40 Prozent der über 70-Jährigen daran interessiert sein, dass alle ihre Kin- amerikanischen Anthropologin Kirsten ihre Enkelkinder mit 1500 Euro im Jahr. der, ob Sohn oder Tochter, zwecks Fort- Hawkes. Sie stellte fest, dass die Kinder Und das Deutsche Jugendinstitut ermittel- bestand des Clans eifrig Nachkommen der Hadza, eines Jäger-und-Sammler-Volks te, dass für jedes zweite Vorschul- oder zeugen und hochpäppeln. aus Tansania, vor allem dann gesund durch Schulkind die Großmütter eine wichtige Die Antwort liegt verschachtelt in ei- nem größeren Rätsel der Evolution: Wozu überhaupt lebt das Weib so lange – völlig unfruchtbar? Mehr als ein Drittel ihrer Zeit verbringen Frauen auf Erden, ohne sich weiter fortpflanzen zu können. Selbst die Schimpansen, des Menschen nächste Ver- wandte, führen nicht so ein – im Sinne der eigenen Vermehrung – nutzloses Leben bis ins Greisentum. Aber die Wale zum Bei- spiel: So können Schwertwalweibchen 80 bis 90 Jahre alt werden; die Geburt ihres letzten Kalbs liegt da meist schon 40 Jah- re zurück. WARNER BROS. WARNER * Mit Jane Fonda und Jennifer López. Filmszene aus „Das Schwiegermonster“ (2005)*: Besen, Giftzahn, Meckerziege

der spiegel 11/2006 137 ziemlich sicher sein, dass ihre Schwieger- tochter ihnen kein Kuckuckskind ins Nest setzt“, sagt Soziobiologe Voland. Die vie- len Totgeburten und das Sterben der Klei- nen in den ersten Lebensmonaten führt er darauf zurück, dass den Sohneseltern das Wohlbefinden der Schwiegertochter nicht allzu sehr am Herzen lag – ihr Stammhal- ter würde, sollte sie ausfallen, schon wie- der eine Neue finden. Also eignete sich die Frau des Sohnes prima dafür, ausgebeutet zu werden für eher knochenbrecherische Arbeiten auf dem Hof – auch auf Kosten ihrer Gesund- heit. „Mal ehrlich“, fragt Voland, „wenn im Frühjahr das Vieh auf die Weiden ge- trieben werden muss, wen würden Sie schicken: Ihre schwangere Tochter oder Ihre schwangere Schwiegertochter?“ Dass gelegentlich ein Baby tot zur Welt kam, weil die schwangere Mama den Dau-

G. LACZ / WILDLIFE G. LACZ erstress mit Schwiegermuttern seelisch und Orca mit Kalb: Wozu lebt das Weibchen noch so lange – völlig unfruchtbar? körperlich nicht durchstand, war auch nicht schlimm – wurde sie eben wieder Rolle bei der Betreuung spielen. „Bei der haben könnte. „Vielleicht hat sie sich auch schwanger. Bei den indischen Bengalen, Entscheidung für ein Kind sind diese pri- direkt um das Kind gekümmert, während ergab eine Feldstudie, schafft es Papas vaten Unterstützungsnetze oft wichtiger die Mutter sich wieder zunehmend ihren Mutti tatsächlich, das Tempo der Kinder- als außerfamiliäre Betreuungsangebote“, sonstigen Pflichten widmete.“ produktion ihrer Schwiegertochter zu er- heißt es im Tagungspapier zum aktuellen In modernen Industriegesellschaften höhen – auf Kosten von deren Gesundheit. Altenbericht der Bundesregierung. rafft es kaum mehr ein Kind im Säug- Aber entscheidet wirklich die Biologie „Großmütter bedeuten einen erhebli- lingsalter dahin. Dennoch lässt sich das über Garstigkeit und Milde von Schwie- chen Überlebensvorteil für die Kinder“, evolutionäre Erbe auch noch in deutschen germüttern? Oder übertreiben die Evoluti- glaubt Jan Beise vom Max-Planck-Institut Großeltern der Jetztzeit nachweisen, fand onspsychologen hier ihre Deutungshoheit? für demografische Forschung in Rostock. der Psychologe Harald Euler von der Uni- Psychotherapeutin Jaeggi glaubt, dass „Allerdings trifft das hauptsächlich auf die versität Kassel bei einer Befragung heraus: es vor allem die Strukturen und Probleme mütterlichen Großmütter zu.“ Überall dort Am meisten kümmert sich die Großmutter moderner Familien sind, die das Schwie- nämlich, wo die Forscher nicht nur die ab- mütterlicherseits um die Enkel. Es folgt gerverhältnis belasten. So komme des Soh- solute Zahl, sondern auch das Wohlerge- deren Mann – noch vor der Mutter des nes Gefährtin in ein widersprüchliches hen der Enkel im Blick haben, ist fast im- Vaters. Dabei spielt es keine Rolle, wie „Geflecht von Gefühlen“ herein. „Sie wird mer Mamas Mutti im Spiel. weit entfernt die Großeltern wohnen. unter Umständen Erbin schwieriger Mut- Bei den äthiopischen Oromo etwa be- Auch schenkt die Oma den Kindern ih- ter-Tochter-Konstellationen“, meint Jaeggi. sucht die fleißige Helferin lieber die Toch- rer Töchter mehr und verbringt mehr Zeit „Ich sage nicht, dass die biologische Er- ter im anderen Dorf als die Familie des mit ihnen, sie ist sogar am ehesten bereit, klärung falsch ist“, sagt Martin Kohli, So- Sohnes nebenan. Ist sie noch am Leben, die Kleinen, wenn’s sein muss, zu adoptie- ziologe am Europäischen Hochschulinstitut wachsen die Kinder ihrer Töchter größer ren. Das spiegelt sich in der Zuneigung der Florenz. Aber es gebe auch „eine sehr heran. Vor allem aber haben ihre Enkel Enkel: Nur 12 bis 14 Prozent der Befragten plausible“ sozialwissenschaftliche Deutung eine größere Chance, die ersten drei kriti- nannten ihre Großmutter väterlicherseits des Befunds: „Es ist zu erwarten, dass eine schen Jahre ihrer Existenz in dieser kargen als Lieblingsoma. „Die heißt oft nur ,die Frau sich an die ihr am nächsten stehende Landschaft mit permanenter Wassernot zu andere Oma‘ oder ,die Oma aus Hanno- Person wendet, wenn sie Hilfe mit den überleben. Jungs hingegen, die im direkten ver‘“, berichtet Euler. „Dagegen ist die Kindern benötigt. Und diese Person ist mit Umfeld der väterlichen Großeltern leben, Großmutter mütterlicherseits das ,Omi- größerer Wahrscheinlichkeit ihre eigene scheinen sogar ein erhöhtes Risiko zu ha- lein‘, das ,Großmütterle‘, die ,liebe Oma‘.“ Mutter als ihre Schwiegermutter.“ ben, früh zu sterben. Ein tödlicher Effekt – Was ist also los mit den Schwiegermüt- Demnach läge das Problem eher bei den wie einst bei den Babys in Ostfriesland. tern der Frauen? Warum helfen sie bevor- Schwiegertöchtern: Sie lassen die „Oma Ähnliches beobachtete Beise, als er Be- zugt ihren eigenen Töchtern? Die Antwort, aus Hannover“ einfach nicht ran an ihre völkerungsdaten aus dem frisch besiedel- sagen die Evolutionspsychologen, liegt in kostbaren Kinderlein. Das hieße: Wo ten Québec des 17. und 18. Jahrhunderts einem Urproblem der Männer: der Vater- Schwiegermama darf, müsste sie sich also untersuchte. „Die einzig wirklich helfende schaftsunsicherheit – Mama’s Baby, Papa’s auch kümmern. unter den Großeltern ist die mütterliche maybe. So kann Oma sicher sein, dass ein Diese These scheint der Fall einer Groß- Großmutter“, berichtet er. Mit dramati- Spross ihrer Tochter auch immer ihre Gene mutter aus Berlin zu stützen: Von ihrem schem Effekt: Sie rettete jedes dritte ein- trägt. Aber wer weiß, ob die Schwieger- Sohn heillos entfremdet, hat die 61-Jähri- jährige und jedes vierte bis fünfte zwei- tochter ihrem Clan nicht ein Kuckuckskind ge dessen schwangere Frau nach der Tren- jährige Kind vor dem damals allgegenwär- unterschiebt? Warum in solche Brut inves- nung bei sich zu Hause aufgenommen. tigen frühzeitigen Tod. tieren? Dies allein reicht offenbar aus, auf Nun ist das Baby da, ihr Enkelkind, und sie Nach etwa 15 Monaten wurden die klei- ewig Misstrauen zu säen zwischen Schwie- hilft, es großzuziehen. nen Québécois damals abgestillt – daher germutter und -tochter. Ihr Enkelkind? Ist es das wirklich? Das vermutet Beise, dass das Wissen und die In der Krummhörn allerdings herrschte Ergebnis eines Vaterschaftstests, gibt die Erfahrung der Großmutter bei der Loslö- ein harsches, calvinistisch geprägtes Re- Schwiegermama zu, würde sie schon in- sung von der nährenden Mami geholfen gime. „Die väterlichen Omas konnten sich teressieren. Rafaela von Bredow

138 der spiegel 11/2006 den einfachen Beamtenbüros hingegen herrschte vielfach Tristesse. Etliche Zimmer wur- den nur indirekt durch Licht- schächte erhellt. Unter dem rasch zusammengezimmerten Teerpappendach war es im Sommer heiß und im Winter kalt. Verbindungsgänge zwi- schen den Dachbüros von Präsidialkanzlei und Reichs- kanzlei gab es nicht. Wer auf die andere Seite wechseln wollte, musste durch den Kel- ler laufen.

25FPS FILMPRODUCTION Eindrücklicher als jedes Computeranimation der Neuen Reichskanzlei: Mythos entzaubert Foto macht der Film auch an- schaulich, wie sehr Hitler mit den Wanderungen durch end- ZEITGESCHICHTE lose Gänge und Hallen aus- ländische Staatsgäste traktier- te. „Die werden auf dem lan- In Hitlers gen Weg vom Eingang bis zum Empfangssaal schon etwas abbekommen von der Macht Hinterhof und Größe des Deutschen Rei- Ein Grafiker hat die Neue Reichs- ches“, vermerkte Speer in sei- nen „Erinnerungen“ die sadis- kanzlei im Computer rekonstruiert tische Freude des Diktators. – der Animationsfilm macht Speer verstärkte die kühle und die bedrückende Atmosphäre des einschüchternde Atmosphäre Nazi-Bauwerks erfahrbar. der Neuen Reichskanzlei noch mit diversen Lichtspielereien emächlich wandert die Kamera und optischen Tricks. vorbei an der Fassade. Dann er- Dessen Mythos als genialer Gspäht das Objektiv geheime Fall- Architekt entzaubert Neubau- türen im Asphalt vor dem Protzbau des VERLAG SCHERL / SÜDDEUTSCHER er bereits mit den ersten Ein- Nazi-Architekten Albert Speer. Daneben Diktator Hitler*: Einschüchterung der Staatsgäste stellungen. Dass der spätere verschwindet plötzlich ein Lastwagen auf Rüstungsminister die Neue einer versteckten Hebebühne in der Tiefe. der Chef einer kleinen Grafikfirma in der Reichskanzlei innerhalb von nur knapp ei- In einer anderen Einstellung macht die südafrikanischen Hauptstadt Pretoria; nem Jahr aus dem Nichts geschaffen habe, Kamera einen Schwenk um 180 Grad im Neubauer ist mit einer Schwarzen liiert. so stellt die Sprecherin aus dem Off klar, Privathof Adolf Hitlers – und siehe da: Der Nach einem Urlaub mit ihr in seiner alten sei eine „Propagandalüge der Nazis, die Diktator blickte aus seinem Arbeitszim- Heimat war er angesichts hiesiger Frem- bis heute von Historikern und Journalisten mer auf schnöde Toilettenfenster. denfeindlichkeit entsetzt. fortgeschrieben“ werde. Das Auftauchen derart pikanter Auf- Rückendeckung erhält Neubauer durch Speer selbst berichtete in seinen „Erin- nahmen in der Öffentlichkeit wussten die den Historiker Laurenz Demps von der Ber- nerungen“, wie Hitler ihn Ende Januar Nazis stets zu verhindern. Erst jetzt – mehr liner Humboldt-Universität: Der Reichs- 1938 mit dem Bauauftrag überraschte und als 50 Jahre nachdem die letzten Reste der kanzlei-Film sei viel „zu nüchtern und zu den 10. Januar des kommenden Jahres als Neuen Reichskanzlei gesprengt wurden – kompliziert“, als dass sich die rechte Szene Frist setzte. „Tatsächlich war es die leicht- gibt es gestochen scharfe, bewegte Bilder daran delektieren könnte. „Faszinierend“ sinnigste Zusage meines Lebens“, kom- mit allerlei Details des Speerschen Groß- findet Demps die Animation; mit Fotos kön- mentierte Speer seinen vermeintlichen projekts. Der gebürtige Brandenburger ne „man die Stimmung, die von solchen Ge- Wagemut. Doch schon 1981 hat die Kunst- Christoph Neubauer, 34, hat den Prunkbau bäuden ausgeht, niemals so rüberbringen“. historikerin Angela Schönberger in ihrer per Computer als dreidimensionale Gra- Genau auf diesen Effekt setzt Neubauer, Dissertation „Die Neue Reichskanzlei von fik reanimiert. In knapp dreijähriger Arbeit der bei der Rekonstruktion am PC auch Albert Speer“ eine ganz andere Fakten- pixelte der Künstler eine aufwendige vir- noch die kleinsten Bronze-Kapitelle nach lage enthüllt. Demnach reichte Speer be- tuelle Kamerafahrt zusammen. historischem Vorbild modellierte. Die reits im März 1937 einen Kostenvoran- Seit wenigen Tagen ist der Animations- Animation zeigt zudem, wie sehr Speer schlag für den ersten Teil des Neubaus an film von etwa 90 Minuten Länge im Han- ausschließlich auf die Bedürfnisse seines der Voßstraße ein; insgesamt hatte er also del – und hat schon für einen kleinen Führers fixiert war; die Arbeitsbedingun- knapp zwei Jahre Zeit für das Bauwerk. Skandal gesorgt. Bei einer Präsentation gen der Bürobediensteten waren ihm ziem- Schönbergers Arbeit (sie ist heute wurde der Regisseur aus dem Publikum lich egal. Direktorin des Kunstgewerbemuseums in lautstark beschimpft. Ob er einen Lieb- Zwar hatte Hitlers Leibarchitekt den Berlin) bildete die Grundlage für den lingsfilm für Neonazis habe drehen wol- Mittelteil samt Arbeitszimmer seines Bau- Reichskanzlei-Film. Das Expertenwissen len, an dem diese sich ergötzen könnten? herrn großzügig und protzig gestaltet. In hatte Neubauer bitter nötig: Noch ein hal- „Mit den Neonazis habe ich nun wirk- bes Jahr nach Arbeitsbeginn an der Ani- lich nichts am Hut“, gibt sich Neubauer * Beim Empfang des sowjetischen Botschafters Wladimir mation hatte er keinen Fuß in die Voß- „völlig überrascht“. Seit vier Jahren lebt Dekanosow (M.) in der Neuen Reichskanzlei (1940). straße gesetzt. Frank Thadeusz

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Applaus ist Koks für die Seele“ Der Psychiater Borwin Bandelow über große Egos und Selbstzerstörung im Showbusiness, die Bühne als Therapie und die Liebe des Publikums zu psychisch kranken Superstars

SPIEGEL: Herr Bandelow, jeder könne in Zukunft für 15 Minuten berühmt sein, hat Andy Warhol in den siebziger Jahren pro- phezeit. Heute spielen Nobodys im Fern- sehen wochenlang Superstar. Schauen Sie auch manchmal Casting-Shows? Bandelow: Ja, klar. Da können Sie wun- derbar das Verhalten hochgradig narziss- tischer Persönlichkeiten studieren. Noch mehr interessieren mich aber die Klatsch- spalten. Die Affären und Unglücke der echten Megastars – als Psychiater lese ich das mit Interesse. Jeden Tag finde ich dort meine Theorie belegt: Wer es im Pop- und Showbusiness bis ganz nach oben schafft, kann kein ganz gesunder Mensch sein. SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch stellen Sie in Biografien so unterschiedlicher Promi- nenter wie Elvis, Robbie Williams, Edith Piaf, Marilyn Monroe oder Michael Jack- son pathologische Seelenverwandtschaften fest – per Ferndiagnose*. Gehört sich das für einen Psychiater? Bandelow: Ganz schön frech, nicht wahr? Aber bei derartigen Auffälligkeiten ist das durchaus möglich: All diese Showgrößen sind egozentrisch und selbstverliebt. Sie sind zutiefst unglücklich, obwohl sie Er- folg und Geld haben. In vielen Biografien können Sie klassische Symptome ver- schiedener Persönlichkeitsstörungen wie auf einer psychiatrischen Diagnose-Check- liste abhaken. Gleichzeitig üben diese Leu- te eine Faszination auf die Menschen aus, die alle Dimensionen sprengt. SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, eine kran- ke Persönlichkeit sei hilfreich, wenn man berühmt werden will?

PARAMOUNT Bandelow: Ganz recht. Die meisten Men- Schauspielerin Jolie (als „Lara Croft“) „Die Arme dramatisch aufgeschlitzt“ schen glauben, dass Stars durchdrehen, weil sie in Drogenkreise geraten oder den Ruhm schlecht verkraften. Ich behaupte: Borwin Bandelow Es ist genau umgekehrt. Erst ist man ver- ist Professor für Psychiatrie rückt, dann wird man berühmt – nicht und Leiter der Angst-Ambu- trotzdem, sondern gerade deswegen. lanz an der Uniklinik Göttin- SPIEGEL: Welche Art von Verrücktheit mei- gen. Die ersten Beobachtun- nen Sie? gen zum Zusammenhang Bandelow: Zwei Störungen sind entschei- zwischen Persönlichkeits- dend. Fangen wir mal mit der narzissti- störung und Publikumserfolg schen Persönlichkeitsstörung an. Wenn Sie machte Bandelow, 54, als darunter leiden, ist die Schauspielerei der Gitarrist in einer Rockband. ideale Beruf. Klaus Kinski ist die Bilder- In seinem neuesten Buch analysiert er die psychischen * Borwin Bandelow: „Celebrities. Vom schwierigen Glück, Krankheiten von Stars aus berühmt zu sein“. Rowohlt Verlag, Reinbek; 284 Seiten; 16,90 Euro.

FRITZ STOCKMEIER / BILDFOLIO STOCKMEIER FRITZ Musik- und Showbusiness. Das Gespräch führten die Redakteurinnen Beate Lakotta und Marianne Wellershoff.

142 der spiegel 11/2006 und Alkohol trank. Bob Dylan ist mit 13 von zu Hause abgehauen, Simon und Garfunkel genauso. Der Nirvana-Sänger Kurt Cobain war schon als Kind wegen ADHS in psychiatrischer Behandlung. Mit 13 unternahm er seinen ersten Suizid- versuch, mit 15 drehte er den Schmalfilm „Kurt begeht blutigen Selbstmord“. Sie alle wurden auffällig, bevor sie überhaupt an- gefangen hatten, Gitarre zu üben. Die meisten wurden nicht zum Star, weil sie so tolle Musiker waren, sondern weil sie sich exzentrisch verhielten. SPIEGEL: Es scheint, als könnten nicht viele Stars auf eine glückliche Kindheit zurück- blicken. Bandelow: Richtig. Nehmen Sie Michael Jackson. Sein Vater Joe schlug seine Frau

ASHFORD / SIEMONEIT und prügelte seine Kinder zur Karriere, er Pop-Idol Williams: „Zumindest eine narzisstische Persönlichkeit“ hat seinem Schwager das Auge ausge- schossen, ist impulsiv, sprunghaft, ag- buchinkarnation solch einer narzisstischen SPIEGEL: Diese destruktiven Verhaltens- gressiv. Die Kehrseite: Fehlt die problema- Störung. Er spielte ja nicht nur den Groß- weisen findet man auch bei anderen psy- tische Kindheit, reicht es oft nur für das kotz. Diese grenzenlose Egomanie und chischen Erkrankungen. Komponieren einer Kaufhausberieselungs- Selbstvergötterung, die ungesteuerten Im- Bandelow: Aber nie in dieser charakteristi- musik. Innovative Musiker kommen auf- pulse – ohne Rücksicht auf Verluste stoßen schen Mischung. Probleme mit der Sexua- fallend oft aus unglücklichen Familien. diese Menschen alle Konkurrenten aus lität können hinzukommen. Little Richard SPIEGEL: Und bemerkenswert häufig grün- dem Weg, um selbst überlebensgroß raus- zum Beispiel wurde verhaftet, als er auf den sie miteinander wieder unglückliche zukommen. Typisch: Trotz Punktabzug bei einer Herrentoilette als Voyeur unterwegs Familien – wie Kurt Cobain, der mit der den unmittelbaren Sympathiewerten hatte war. Jerry Lee Lewis hat eine 13-Jährige exaltierten Courtney Love ein Kind bekam, Kinski unglaublichen Erfolg beim weib- geheiratet. Pete Townsend von The Who bevor er sich mit der Schrotflinte erschoss. lichen Geschlecht. Man hätte ihm nie ver- hat sich Kinderpornografie herunter- Bandelow: Falls Sie damit auf die Frage der ziehen, wenn er im echten Leben der bra- geladen. Ein weiteres unverwechselbares Vererbung anspielen: Wie bei allen psy- ve Familienvater und Opel-Fahrer gewe- Symptom ist die Selbstverletzung, vor al- chischen Krankheiten spielt sie auch hier sen wäre. lem bei Frauen: Sie hauen den Kopf ge- eine Rolle. Sid Vicious etwa, der Bassist SPIEGEL: Aber denken Sie mal an Paul gen die Wand, drücken Zigaretten auf der Punk-Band Sex Pistols, war der Sohn Newman: ein Mann ohne Skandale. Nicht ihrem Körper aus oder schneiden sich mit einer alleinerziehenden Heroinsüchtigen. alle Schauspieler sind so gestört wie Rasierklingen. Die Schauspielerin Angeli- Als Kind hat er Katzen verstümmelt und Kinski. na Jolie hat sich mal die Arme so drama- getötet – ein klassisches Element in Bio- Bandelow: Nein, aber dann haben sie zu- tisch aufgeschlitzt, dass sie ins Kranken- grafien von Gewalttätern und Sexualver- mindest eine narzisstische Persönlichkeit haus kam. brechern. Er trank, nahm alle Drogen, die ohne Störung. Die habe ich selbst zum Bei- SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf, dass die er in die Finger bekam. Auf dem Höhe- spiel auch – wie alle Leute, die sich viel Störung die Ursache des Star-Ruhms ist punkt seines Ruhms erstach er seine Anerkennung wünschen, ohne sich des- und nicht die Folge davon? Freundin und starb mit 21 an einer Über- wegen krank zu fühlen oder von ihrer Um- Bandelow: Wenn man Star-Biografien ana- dosis Heroin. welt für krank gehalten zu werden. Nar- lysiert, entdeckt man die ersten Auffällig- SPIEGEL: Die amerikanische Hirnforsche- zisstische Persönlichkeiten sind mit sich keiten schon mit 13, 14 Jahren. Robbie Wil- rin Nancy Andreasen hat die kranke Psy- und der Welt mehr oder weniger im Ein- liams hatte an dem Tag, an dem er die che als kreative Antriebskraft untersucht: klang. Ganz anders sieht das bei der Bor- Nachricht bekam, dass er den Job bei Bei Schriftstellern beispielsweise fand sie derline-Störung aus, die besonders unter Take That gekriegt hat, in der Schule sei- eine Häufung von Depressionen und ma- Pop- und Rockstars verbreitet ist. ne Prüfungen versäbelt, weil er LSD nahm nisch-depressiven Erkrankungen … SPIEGEL: Laut Ihrer etwas waghalsigen Bandelow: … und von sieben amerikani- Ferndiagnose leiden zum Beispiel Michael schen Literatur-Nobelpreisträgern waren Jackson und Robbie Williams vermutlich fünf tatsächlich schwerste Alkoholiker. darunter. Was ist eine Borderline-Störung? Schon Aristoteles hat die Melancholie mit Bandelow: Die Psychiatrie bezeichnet sie der Dichtkunst assoziiert. Interessanter- auch als „emotional instabile Persönlich- weise stellte man fest, dass Schriftsteller keitsstörung“. Das Selbstzerstörerische ist sowohl in ihren manischen als auch in den hier existentiell, die vielen Suizidversuche depressiven Phasen kreativer waren als in und Drogenexzesse. Borderliner sind von ihrem Normalstadium. Häufig leiden sie stark wechselnden Stimmungen gequält. auch unter Ängsten: Denken Sie an Elfrie- Sie fühlen sich irgendwie leer und eklig. de Jelinek. Die sagt selbst, dass sie eine Sie sind reizbar und leiden unter Ängsten, soziale Phobie hat. Sie möchte ja nicht mal viele haben keine stabilen Beziehungen. den Nobelpreis überreicht bekommen. Janis Joplin etwa hatte Unmengen Kon- SPIEGEL: Eine Showgröße hätte Frau Jelinek takte mit Männern und Frauen und sagte mit dieser Persönlichkeit wohl nicht wer-

dann zu einem, mit dem sie seit ein paar / CINETEXT FILM IMPRESS / WERNER HERZOG den können? Wochen das Bett teilte: „Ich fühle mich Darsteller Kinski (in „Fitzcarraldo“, 1982) Bandelow: Nein. Die Psychopathologie der immer einsam!“ „Er hat den Großkotz nicht nur gespielt“ Rock- und Popmusiker ist viel auffälli-

144 der spiegel 11/2006 Wissenschaft ger. Robbie Williams hat mal gesagt: einem sehr interessanten Menschen „Wer kein überdimensionales Ego werden. zur Schau stellt, wird nie ein Pop- SPIEGEL: Was würden erfolgsver- star.“ wöhnte Stars wohl von Ihren ernüch- SPIEGEL: Kann sich ein Normalo nicht ternden Diagnosen halten? einfach fürs Star-Image als exaltier- Bandelow: Ach, vermutlich wissen te Persönlichkeit inszenieren und ein viele selbst, dass sie ein Problem ha- Hotelzimmer zerlegen? ben. Diese Störungen verursachen Bandelow: Könnte man meinen, ja. ja einen großen Leidensdruck. Et- Sam Phillips, der Mann, der Elvis liche Stars suchen ja auch Hilfe, wie entdeckt hat, sagte zu Johnny Cash, George Michael, der seit 15 Jahren als der ihm im Studio vorsang: „Be- auf der Couch liegt, oder Marilyn geh erst mal ein paar Sünden, und Monroe: Ihre Psychiatriekarriere dann komm wieder.“ Aber so funk- war ähnlich eindrucksvoll wie ihre tioniert das nicht. Der Tabubruch Filmkarriere. muss schon von innen kommen, da- SPIEGEL: Warum faszinieren uns aus- mit er die Leute fasziniert. Wer zog gerechnet diese schwerkranken Men- bei der ersten „Deutschland sucht schen so sehr? Steckt ein Teil ihrer den Superstar“-Staffel die meiste Obsessionen in uns allen? Aufmerksamkeit auf sich? Daniel Bandelow: Jeder Mensch hat ein Küblböck – der als Einziger das Gehirn voller böser Triebwünsche. wichtigste Auswahlkriterium nicht Freud würde sagen: Die Stars leben erfüllte: Er konnte nicht singen. stellvertretend für uns unsere verbo- Aber er frisierte sich merkwürdig tenen Triebe aus. Sie führen sich ex- und verhielt sich hochgradig hyste- hibitionistisch auf, beleidigen andere risch. Später ließ er sich von älteren Leute, schreien und weinen auf of- Damen umschwärmen, breitete seine fener Bühne. Die dürfen das. tragischen Familienverhältnisse in SPIEGEL: Offenbar bringt ihnen dieses der Öffentlichkeit aus und baute Ausagieren aber keine Linderung. ohne Führerschein einen Autounfall. Ebenso wenig verspricht der Erfolg SPIEGEL: Woher rührt der unbändi- Heilung. Es fällt auf, wie viele Stars ge Drang des Künstlers mit Border- nach so einem unheiligen Leben re- line-Syndrom nach Rampenlicht und ligiös werden. Was steckt dahinter? Beifall? Bandelow: Wenn mich auf dieser Bandelow: Jeder Mensch strebt nach Welt nichts retten kann, muss dies einer Erhöhung seines Glückshor- ein höheres Wesen tun – darum geht

monpegels. Dafür ist im menschli- / INTER-TOPICS / LANDOV EZIO PETERSEN es. Natürlich kommt für einen Su- chen Gehirn das sogenannte Beloh- Model Campbell: „Ständig irgendwelche Skandale“ perstar nicht die katholische Kirche nungssystem zuständig. Es regelt die an der nächsten Ecke in Frage. Es Ausschüttung von Endorphinen. Dieses wir noch keine entsprechenden Erkennt- muss etwas Ausgefallenes sein, möglichst neuronale System ist, wenn Sie so wollen, nisse. Aber vielleicht wird man eines fundamentalistisch und autoritär. Prince das Bindeglied zwischen Sex, Drogen und Tages durch bildgebende Verfahren die beispielsweise hat zwei kaputte Hüftgelen- Rock’n’Roll – alles drei Aktivitäten, die Endorphin-Ausschüttung live beobachten ke, angeblich weil er immer diese hohen unmittelbar glücklich machen. Ich be- können. Vermutlich ist sie ein Teil der Absätze trägt. Er muss ziemlich leiden; aber haupte, dass Borderliner entweder zu we- Triebkraft, um sich nach ganz oben durch- weil er als Zeuge Jehovas keine Bluttrans- nig Endorphine haben oder zu wenige Re- zuboxen. Aber es werden eben auch En- fusion bekommen darf, kann er sich keine zeptoren für diese Endorphine. Deswegen dorphine ausgeschüttet, wenn man sich künstlichen Hüftgelenke einbauen lassen. verlangen sie mehr als andere nach beispielsweise in den Arm schneidet. Evo- SPIEGEL: Sind Glamour und Tristesse wirk- Glückshormonausschüttungen. lutionsgeschichtlich hat das die Funktion, lich nur im Doppelpack zu haben? Es gibt SPIEGEL: Der Gefühlssturm während des bei einer Verletzung, etwa im Kampf, das doch Menschen, die einigermaßen normal Applauses ist vergleichbar mit dem Glücks- Schmerzempfinden auszuschalten. wirken und es trotzdem ins Scheinwerfer- gefühl, das Drogen auslösen? SPIEGEL: Gehören all diese Stars nicht eher licht geschafft haben. Bandelow: Genau. Wenn Sie mich fragen: auf die Couch als auf die Bühne? Immer- Bandelow: Ja, aber dann gibt es einen Wie werde ich glücklich?, würde ich ant- hin enden bestürzend viele Karrieren mit Punktabzug bei der Glamour-Wertung. worten: Spritzen Sie sich Heroin in die Suizid. Claudia Schiffer hat mal den Unterschied Vene! Das geht direkt an die Glückshor- Bandelow: Wer an solchen Störungen lei- zwischen ihr selbst und Naomi Campbell monrezeptoren. Beifall wirkt ähnlich – wie det, sollte sogar anstreben, Künstler zu beschrieben: „Naomi hat ständig irgend- Koks für die Seele. Michael Jackson hat werden. Die Bühne hilft vielleicht mehr welche Skandale, ich habe nie welche! Ich gesagt: „Es gibt nur wenige Momente, wo als unsere Therapiebemühungen. Die soll- bin stolz, dass ich so langweilig bin!“ Hei- ich glücklich bin, nämlich wenn ich auf der te man aber trotzdem in Anspruch neh- di Klum wirkt nett und bodenständig, aber Bühne stehe.“ Die Borderline-Störung ist men. Mindestens 99 Prozent der Bor- ihr fehlt der „internationale Superstar“- gewissermaßen die klassische Rampensau- derliner schaffen es schließlich nie ins Faktor, den etwa Kate Moss besitzt – erst Krankheit. Rampenlicht. Diese unglücklichen, sehr recht nach ihrer Kokain-Affäre. SPIEGEL: Eine gewagte Hypothese! gefährdeten Menschen sehen wir jeden Tag SPIEGEL: Wer zu nett und normal ist, kann Bandelow: Es gibt zahlreiche Befunde, die bei uns in der Klinik. 10 bis 15 Prozent kein Star werden? sie stützen. Alkoholiker und Spielsüchtige von ihnen nehmen sich das Leben. Der Bandelow: Star vielleicht schon. Megastar zum Beispiel haben erwiesenermaßen zu Faktor Zeit hilft übrigens: Überlebt man nicht. wenige Rezeptoren für das Dopamin-Be- die Jahre zwischen 20 und 30, kann man SPIEGEL: Herr Bandelow, wir danken Ihnen lohnungssystem. Bei Borderlinern haben zu einem völlig normalen, manchmal zu für dieses Gespräch.

146 der spiegel 11/2006 Wissenschaft

Außerdem wird die Haut bei MEDIZIN schlimmer Fettsucht jahrelang so überdehnt, dass sie ihre natürliche Eigenschaft verliert, Skalpell gegen sich zurückziehen zu können. Es sei wie mit einem Ballon, er- klärt der Arzt Al Aly, 49, aus den Knitter-Look Iowa City, der soeben ein Lehr- Neuer Trend in US-Kliniken: buch zum Thema vorgelegt hat: „Wenn Sie dann plötzlich die Chirurgen bringen Fettsüchtige Luft herauslassen, bleibt eine wieder in Form, die durch schrumpelige Hülle zurück.“ radikale Gewichtsabnahme zu Um aufgeblähte Leiber wie- Schlabberwesen wurden. der in Passform zu bringen, ge- hen die Plastischen Chirurgen ie junge Frau war gar nicht gut in aggressiver vor als beim ge- Form: Ihre Brüste hingen wie leere wöhnlichen Lifting. Bei der DWasserschläuche herunter und „umlaufenden Gürtel-Lipekto- reichten bis zum Nabel. An Bauch und mie“ etwa wird auf Höhe der Hüften hing ein Hautsack, der bald bis zu Hüften um den ganzen Rumpf den Knien schlabberte. herum Gewebe weggeschnip- Den Busen hat Tara Fairman, 30, bereits pelt. Durch den Rundumschlag im vergangenen Oktober richten und auf- sollen eine Taille und ein Po polstern lassen. Jetzt wird im Magee-Wo- entstehen. Falls nötig, werden mens Hospital in Pittsburgh, Pennsylva- Arme, Brust und Oberschenkel nia, auch der sackige Wanst zurückge- in gesonderten Durchgängen schnitten. Mit blauem Filzstift malt der hergerichtet. Da es letztlich um Arzt Peter Rubin, 40, Linien auf den Kosmetik geht, muss der Pa- Bauch. Schnitt für Schnitt entfernt er drei tient den Eingriff (der je nach große Lappen und legt sie auf eine Waage: Aufwand mehr als 20000 Dollar

2896 Gramm Haut, die keiner mehr PREZANT / CORBIS STEVE kostet) in aller Regel aus der braucht. Extremgewichtiger: „Wenn Sie die Luft herauslassen... eigenen Tasche bezahlen. In den USA leben Hunderttausende Den Ärzten zufolge ist es eine Menschen in einem Körper, der ihnen ein gute Investition. Nach einiger paar Nummern zu groß ist – und immer Zeit erinnerten nur noch uner- mehr der Betroffenen lassen sich ihn wie- hebliche Narben an das Zu- der passend schneidern. Bereits knapp rechtschneiden. Viele der Pa- 56000 Eingriffe waren es im vorvergange- tienten – zumindest jene, die nen Jahr (etwa 80 Prozent an Frauen). man bei einem Besuch in Pitts- Die Faltenmenschen, die unters Messer burgh sprechen kann – sind genommen werden, leiden nicht etwa an offenbar mehr als froh, ihren einem angeborenen Defekt. Vielmehr ver- Knitter-Look los zu sein. Evelyn körpern sie eine neue Gattung von Pa- Romano aus Clarksburg, West tienten, die von der US-Ärzteschaft erst Virginia, etwa betritt den Raum erschaffen wurde: durch den seinerseits und sagt: „Meine neue Haut stark zunehmenden Trend zur Magenver- passt mir doch wie angegossen.“

kleinerung. JEFF SWENSEN / GETTY IMAGES Die kleine, nunmehr schlan- Solche Eingriffe wurden voriges Jahr an ...bleibt eine schrumpelige Hülle zurück“: Chirurg Rubin ke Frau war 20 Jahre lang fett mindestens 170000 superdicken Amerika- (Höchstgewicht: 110 Kilogramm). nern durchgeführt – ein Anstieg um 260 Mittlerweile sind durch operative Ma- Durch eine Magenverkleinerung im August Prozent seit 2001. Die Nachfrage brummt, genverkleinerungen so viele der Schlab- 2004 wurde sie zum dünnen, jedoch falten- weil die Operation sich als eine äußerst bermenschen entstanden, dass um sie her- werfenden Wesen. Daraufhin hat Mrs Ro- wirksame Waffe gegen die hochgradige um eine Dienstleistung der Chirurgie her- mano sich 30000 Dollar bei der Bank gelie- Fettsucht erwiesen hat. Die Verdauungs- anwächst: das „Body Contouring nach hen und zwei Eingriffe von Rubin vorneh- organe werden derart verstümmelt und gewaltigem Gewichtsverlust“. men lassen. Jetzt trägt die 63-Jährige schicke umgebaut, dass sie kaum noch Kalorien Mit Sport und Gymnastik nämlich lässt Hosenanzüge, hat ihren Mann verlassen, aufnehmen können. Die Behandelten ver- sich der ausgebeulte Body kaum straffen. lebt in Cocoa Beach im warmen Florida und lieren massiv an Gewicht; ihr Bluthoch- Dies musste auch Tara Fairman erfahren, stottert den Kredit von der Rente ab. druck und ihre Zuckerkrankheit werden die nach ihrer Magenverkleinerung im Als Peter Rubin und Al Aly sich vor ei- merklich gelindert oder verschwinden. Sommer 2004 fast 70 Kilogramm abge- nigen Jahren auf das Gebiet spezialisierten, Doch je mehr Mägen verkleinert, je mehr nommen hatte. Sie ging ins Fitnessstudio sahen viele ihrer Kollegen keinen Markt. Dünndärme verkürzt werden, desto deutli- und spielte Volleyball im Verein. Fairman: Doch wenn die beiden in drei Wochen auf cher zeigt sich auch: Der Traum vom nor- „Doch diese hängende Haut überall woll- einer Chirurgentagung in Dallas ihre Ope- malen Körper wird vielen Patienten nicht so te dadurch nicht weggehen.“ rationsvarianten vorstellen, dürfte ihnen einfach erfüllt. Gewaltige Hautausbuchtun- „Rund um den aufgeblähten Körper ist die Aufmerksamkeit der Kollegen sicher gen an Brust, Hüfte, Oberarmen, Bauch, Po neue, zusätzliche Haut gewachsen, die sein. Kaum ein Segment der amerikani- und Schenkeln bleiben als Spuren des Dick- beim Abnehmen nicht mehr verschwin- schen Schönheitschirurgie wächst derzeit seins. In manchen Körperfalten breiten sich det“, erklärt Peter Rubin, der zum Medical stärker als das Zuschneiden der Fal- Ausschläge aus. Center der University of Pittsburgh gehört. tenmenschen. Jörg Blech

148 der spiegel 11/2006 Szene Kultur

REGISSEURE „Don Quijote der Filmkunst“ Die Schauspielerin Isabella Rossellini, 53, über ihren Vater, den italieni- schen Meisterregisseur Roberto Rossel- lini („Rom, offene Stadt“, „Stromboli“, „Deutschland im Jahre Null“), und die Rückkehr des Realismus ins interna- tionale Kino

SPIEGEL: Frau Rossellini, Ihr Vater Rober- to Rossellini wäre im Mai 100 Jahre alt geworden. Sie haben ihm einen Film und

ein Buch* gewidmet und stellen derzeit / H & K BELLAICHE CAROLE beides in Europa vor. In den sechziger Isabella Rossellini (2004) Jahren galt Ihr Vater als „nonbourgeois“, weil er Geschichten über das Proletariat Mutter Ingrid Bergman, aber oft eben erzählte. Selten aber waren seine hoch- auch mit Laien. Das tat er nicht nur gelobten Sozialdramen kommerziell er- wegen der Kosten, sondern weil er die folgreich. Hat ihn das geärgert? Darstellung möglichst realistisch wollte. Rossellini: Überhaupt nicht. Meinem Stilisierungen lehnte er ab. Vater war kommerzieller Erfolg nicht SPIEGEL: Glauben Sie, dass das Publikum

wichtig. Für ihn war Kino ein universa- DPA sich inzwischen mit allzu perfekt stili- les, demokratisches Medium, um Men- Bergman, Roberto Rossellini (1957) sierten Filmen langweilt und sich wieder schen zu bilden, um Kultur und Zeitge- realtitätsnahe Geschichten wünscht? schichte in ihr Leben zu bringen. Im SPIEGEL: Sie hat aber viele Regisseure be- Rossellini: Ich bin überzeugt davon, dass Rückblick kommt er mir vor wie eine einflusst. die glatte Oberflächlichkeit vieler Filme Art Don Quijote. Rossellini: Das stimmt. Federico Fellini die Zuschauer anödet, dass sie wieder Ge- SPIEGEL: Er wollte ein Kino, das die Mas- sagte immer: „Without Rossellini no Fel- fühle und Realität wollen. Das zeigt der sen aufklärt? lini.“ Ich denke, mein Vater wurde sehr Erfolg des fabelhaften Films „Brokeback Rossellini: Ja, denn meinem Vater ging es geachtet für seine Werke, für seinen Blick Mountain“. Kürzlich war ich bei einem um Bewusstheit, um Moral, um Gewis- auf die Welt, aber viele hielten ihn auch Treffen im Museum of Modern Art in sensbildung. Das isolierte ihn, denn die- für einen Träumer, für einen Verlierer. New York, das eine Retrospektive der Fil- se Haltung war nicht besonders populär Und was Geld betrifft: Er hatte eigentlich me meines Vaters plant. Der Kurator er- damals. immer finanzielle Schwierigkeiten. klärte mir, dass mein Vater mit Anna SPIEGEL: Drehte er deshalb auch häufig Magnani in „Rom, offene Stadt“ eine Art mit Laien? von Realismus geschaffen habe, die es so * Isabella Rossellini: „Im Namen des Vaters, der Toch- ter und der heiligen Geister. Erinnerungen an Roberto Rossellini: Er arbeitete ja durchaus mit vorher nicht gab. Und dass der Trend wie- Rossellini“. SchirmerGraf Verlag; 176 Seiten; 24,80 Euro. Profis wie Anna Magnani und meiner der dahin gehe. Ich denke, er hat recht.

SATIRE Hader) bekannt, in dem neuen Pro- komödie sei so entstanden, dramen- gramm „fremd“ schwerpunktmäßig theoretisch „eher Nestroy als Aristote- Armes Mönchengladbach über die Deutschen her. Eine Tragi- les“ verpflichtet. Vom Turmbau zu Babel über Angela Merkel bis zur er sich immer noch fragt, wo die Bildungsmisere reicht das Themen- Wdeutsche Wiedervereinigung statt- spektrum und gipfelt in der Sorge findet, erhält auf diese wie auf manche um den hiesigen Geburtenrückgang: andere Schicksalsfrage von Dienstag an „Was tun, wenn Mönchengladbach im Münchner Lustspielhaus eine bündi- leer steht?“ Der Vorteil sei, dass er ge Antwort: „In Österreich, wo ostdeut- „hier verstanden werde, ohne dazu- sche Gastarbeiter westdeutsche Urlau- zugehören“, sagt Dorfer. Und dass ber auf österreichischen Skihütten be- seine landsmannschaftliche Selbst- dienen.“ Zum ersten Mal macht sich ironie mindestens so bissig ausfällt der Wiener Satiriker Alfred Dorfer, 44, wie die nachbarschaftlichen Sottisen, dem Publikum nördlich der Alpen vor ganz im Geiste des großen Qualtin-

allem durch sein legendäres Pommes- PETER RIGAUD ger: „Der wusste nicht, ob er ein buden-Roadmovie „Indien“ (mit Josef Dorfer in „fremd“ Mensch ist oder ein Österreicher.“

der spiegel 11/2006 151 Szene

einem gewissen Historis- mus. Als Quelle der In- spiration kann vieles die- nen. Man bezieht sich auf Karl Marx und sein Hauptwerk „Das Kapi- tal“, auf die Ästhetik eines Rodin und den Achtziger-Jahre-Chic ei- nes Jeff Koons. Der Ma- ler Peter Doig, 46, ein Vertreter des Neoroman- tischen, hat sich und ei- nen Freund in histori- schen Kostümen gemalt. Die Fotografin Muzi Quawson, 27, verbindet das mystifizierte Gestern

MUZI QUAWSON (L.); PRIVATE COLLECTION (R.) COLLECTION (L.); PRIVATE MUZI QUAWSON mit der profanen Gegen- Quawson-Fotografie (2002), Doig-Bild „Gasthof“ (2004) auf der Triennale-Schau der Tate Britain wart und zeigt Bilder ei- ner „Post-Hippie-Fami- KUNST lie“ aus Woodstock. Die Botschaft aus Großbri- tannien lautet: Der Blick Ex-Sekten und Post-Hippies zurück ist hip. Daran hält sich auch eine tändig hält die Kunstszene Ausschau nach neuen Stars und Schau, die am Freitag im Londoner Royal College of Art beginnt SStilen. Weltweit werden dazu lauter Biennalen, Triennalen und von jungen Kuratoren zusammengestellt wurde. Sie haben und Quadriennalen veranstaltet, also jeweils im Zwei-, Drei- sich für den Titel „Again for Tomorrow“ und für solche Künst- oder Vierjahresrhythmus verheißungsvolle Gegenwartskünstler ler entschieden, „die sich der Vergangenheit zuwenden“. Zu präsentiert. In New York läuft gerade eine Biennale, die vom ihnen gehört der Däne Joachim Koester, 43. Er hat den einstigen Whitney Museum für amerikanische Kunst ausgerichtet wird. Wohnsitz des 1947 verstorbenen britischen Sex-und-Drogen- Ende März folgt eine Ausgabe der „Berlin Biennale“. Die ein- Okkultisten Aleister Crowley auf Sizilien besucht und den Zu- deutigste Trendaussage kommt aus London. Im Museum Tate stand des Gebäudes fotografisch dokumentiert. Wo früher düs- Britain eröffnete Anfang März eine Triennale mit „neuer bri- tere Orgien stattfanden, bröckelt heute der Putz. Alles ist ver- tischer Kunst“. Von wegen neu: Auffällig ist das Bekenntnis zu gänglich, zum Glück auch fragwürdige Utopien von gestern.

Kino in Kürze

„Die Wolke“ wabert über Deutschland: Ein Unfall in ei- nem bayerischen Atomkraftwerk löst eine Massenpanik aus und verseucht das halbe Land radioaktiv. Auch die 16-jährige Hannah (Paula Kalenberg), frisch verliebt in einen Klassenkameraden (Franz Dinda), versucht vor der tödlichen Strahlung zu fliehen. Nach einer langen Odyssee landet sie, schwer kontaminiert, auf einer Iso- lierstation. Pünktlich zum 20. Jahrestag der Reaktor- katastrophe von Tschernobyl beschwören Marco Kreuz- paintner (Drehbuch) und Gregor Schnitzler (Regie) den nuklearen Horror. Dabei gelingen dem Regisseur ein- drucksvolle Massenszenen, in denen jeder gegen jeden kämpft, zum Beispiel um einen Platz im rettenden Zug. Doch die politische Brisanz des Themas war den Fil-

memachern offenbar nicht telegen genug: Anders als in CONCORDE FILM Gudrun Pausewangs Romanvorlage (1987) kommt der Kalenberg in „Die Wolke“ Atom-GAU hier wie eine unvermeidbare Naturkata- strophe über die Menschen. Immerhin: Die 19-jährige Hauptdar- die Westküste entwickelt sich zwischen den beiden immer mehr stellerin Paula Kalenberg strahlt, Pardon, in jeder Szene. emotionale Nähe. In seinem Roadmovie erzählt Regisseur Dun- can Tucker eindringlich von der Sehnsucht nach familiärem Zu- „Transamerica“ handelt von dem Transsexuellen Bree (Felicity sammenhalt und der Verantwortung von Vaterschaft. Huffman, Huffman), der unmittelbar vor einer Geschlechtsumwandlung in Star der Fernsehserie „Desperate Housewives“, spielt Bree so eine Frau steht, als er erfährt, dass er einen inzwischen 17-jähri- warmherzig und liebenswert, dass der Zuschauer gar nicht anders gen Sohn (Kevin Zegers) hat. Auf einer Reise von New York an kann, als dieses seltsame Zwitterwesen ins Herz zu schließen.

152 der spiegel 11/2006 Kultur É. BOUBAT/RAPHO/LAIF (L.); J. TELLER (R.) TELLER (L.); J. É. BOUBAT/RAPHO/LAIF KARIN ROCHOLL Huppert-Fotos von Boubat (1985), Teller (2001), Rocholl (1990)

STARS April). Mal wirkt die Huppert entspannt lasziv, dann wieder gewohnt streng. Im Visier der Kamera Man könne sie sich eigentlich nur unge- schminkt vorstellen, denn nur so könne lle wichtigen Fotografen wollten sie sie „jede andere Person“ werden, Avor ihre Kamera holen. Henri Car- schreibt Elfriede Jelinek im Katalog „Isa- tier-Bresson, Eduard Boubat, Richard belle Huppert im Porträt“ (Knesebeck Avedon, Annie Leibovitz, Helmut New- Verlag). Der Titel der Schau –„In weiter ton, Peter Lindbergh, Nan Goldin, Juer- Ferne so nah“ – scheint passend. Wie gen Teller, Karin Rocholl haben es ge- dicht sich die Fotografen auch an die schafft; seit 1968 sind eindrucksvolle Auf- Schauspielerin heranwagten, sie zeigte nahmen der französischen Starschau- sich emotional, verletzlich, leidenschaft- spielerin Isabelle Huppert, 52, entstan- lich und wirkte dennoch unnahbar und den. Eine Auswahl ist nun in der Berli- distanziert. Das ist es wohl, was ihr un- ner C/O-Galerie zu sehen (bis zum 16. verwechselbares Charisma ausmacht.

LEGENDEN verwalten, in dem Buch gar nicht mehr vorkommen. „Dann müsste Rio Reiser Retorten-König ja das erste Retortenbaby der Welt gewesen sein“, klagt der frustrierte Autor. eit Rio Reiser, der selbstgekrönte „Kö- Anwalt Schertz hat Erfahrung im Bear- Snig von Deutschland“, 1996 im Alter beiten unliebsamer Biografien und stand von 46 Jahren starb, ist so mancher Zank diesbezüglich schon Größen wie Herbert um den Nachlass des ehemaligen Sängers Grönemeyer zur Seite. Überhaupt schal- der legendären Polit-Rocker ten Prominente und deren Ton Steine Scherben („Keine Familien immer öfter Juristen Macht für Niemand“) ent- ein, um strittige Veröffentli- brannt. Da rauften sich die chungen zu verhindern. So hinterbliebenen Brüder Gert wurde im vergangenen Jahr und Peter schon mal mit ei- zum Beispiel eine Hildegard- nem Musikerkollegen des Knef-Biografie gestoppt. Er- Künstlers, der bürgerlich staunlich ist am Reiser-Buch- Ralph Möbius hieß, ausgiebig zank vor allem, dass der Skan- um allerlei Rechte und Eitel- dalgehalt des Werks bei null keiten. Dieser Tage sorgt die liegt. Der Künstler wird so Reiser-Biografie „Das alles ehrfurchtsvoll und einfühlsam und noch viel mehr“ des detailverliebt geschildert, als Journalisten Hollow Skai für hätten seine Brüder dafür ge- schlechte Laune bei Familie zahlt. Und dass er schwul war Möbius. Das Buch, das jetzt in und zeitweilig zu viel Alkohol die Läden kommen sollte, verbraucht haben soll, sind missfällt den Brüdern Reisers keine neuen Sensationen. Neu so sehr, dass sie den Berliner ist aber die Reaktion des be- Medienanwalt Christian troffenen Heyne Verlags, der Schertz einschalteten, um die Biografie ab dieser Woche Nachbesserungen durchzuset- im Internet als E-Book zu- zen. Immerhin führte Skai, gänglich machen will. So der mit dem Musiker bekannt müssten im Beschwerdefall war und ihn einst ausgiebig keine gedruckten Bücher- befragte, mit den meisten stapel verstauben, es könnten relevanten Beteiligten inklusi- jederzeit umstrittene Punkte ve der Brüder Interviews. mit ein paar Klicks getilgt wer-

Nach Lektüre des Manuskripts (O.) PRESS (L.); NORDPOOL / RIEDIGER IMAGO SUCCO / ACTION RALF den. Der Pop-Exot Rio Reiser wollen Reisers Mutter und die Reiser-Brüder Peter hätte an dem Chaos sicher Brüder, die den Nachlass und Gert, Rio (1988) sein Vergnügen gehabt.

der spiegel 11/2006 153 Kultur

Ein Forum für Leser unter dem Motto „Leipzig liest“ erweisen rund 1500 Autoren, Schau- will die Leipziger Buchmesse auch in diesem Jahr wieder sein und sich spieler und Debattierer der Belletristik und dem Sachbuch Reverenz. damit vom übermächtigen Konkurrenten im Herbst, der Frankfurter Auch die SPIEGEL-Kulturredaktion tut das in gewohnter Form: Sie stellt Buchmesse, abheben. Weit mehr als 100000 Besucher werden erwar- ihre Auswahl von Neuerscheinungen dieses Frühjahrs vor – unter tet, wenn von diesem Donnerstag an bis zum Sonntag rund 2150 anderem eine Familiensaga aus der Schweiz, eine Unfallgeschichte Verlage aus 36 Ländern auf 53000 Quadratmeter Fläche ihre Bücher aus Frankreich, neue deutsche Romane und Tagebücher sowie die ausstellen. Bei den auf die ganze Stadt verstreuten Veranstaltungen Erinnerungen von Lars Brandt an seinen Vater Willy. DER SPIEGEL / OSTKREUZ MAHLER UTE Autoren Fühmann (2. v. r., 1973)*, Schleef (1997): „Mein Tagebuch, nur Fetzen, meine Not“

SCHRIFTSTELLER „Von hinten anschleichen“ Pünktlich zur Leipziger Buchmesse sind Tagebücher erschienen, die die DDR in neuem Licht zeigen, darunter Walter Kempowskis „Hamit“, in dem er die Wiederbegegnung mit Rostock 1990 beschreibt – überhaupt sind Journale in der deutschen Literatur derzeit sehr beliebt.

ein Haus in Nartum bei Bremen ist ben ist; 1990 wurde „Sirius“ vom Autor seine Tagebücher lieber heute als morgen. Wohnort, Arbeitsplatz, Museum, Ar- druckfertig gemacht – begleitet von Selbst- Und es ist nicht nur die alte Garde der nun Schiv und Heimat zugleich. Gern lädt zweifeln und der Frage, „ob es nicht zu weit über Siebzigjährigen wie Kempowski, Walter Kempowski Freunde und Fremde früh ist damit“. Jedenfalls wollte Kempow- Paul Nizon, Peter Rühmkorf, Martin Wal- dorthin ein. Als der Schriftsteller im Som- ski, Jahrgang 1929, nicht einfach nur seine ser und Christa Wolf, die in den vergange- mer 1983 – zum achten Mal – ein Litera- Notate abdrucken, sondern ein Buch kom- nen Jahren Teile ihrer Tagebücher veröf- turseminar abhielt, ertappte er allerdings ponieren, ein Album gewissermaßen: mit fentlicht hat, sondern auch die Autoren am letzten Tag eine Dame dabei, wie sie Fotos, Zeichnungen und im Schriftbild ab- der mittleren Generation und die noch heimlich in seinen Tagebüchern las. gehobenen Ergänzungen aus dem Jahr der Jüngeren sind emsig dabei – von Rainald „Dem wurde dann ein Riegel vorge- Überarbeitung und Publikation. Goetz über Durs Grünbein, Peter Handke, schoben“, notierte der wütende Gastge- Wie sollen es die Dichter mit ihren Auf- Helmut Krausser und Klaus Modick bis hin ber, doch er fügte sogleich die aufschluss- zeichnungen halten, die parallel zum Werk zu Einar Schleef (1944 bis 2001), dessen für reiche Bemerkung in Klammern hinzu: entstehen? Unbearbeitet, unverfälscht ru- „Wenn das keine Legitimation für eine hen lassen, bis die Nachwelt sich später Veröffentlichung der Tagebücher ist!“ vielleicht dafür interessiert und damit be- Walter Kempowski Es dauerte dann noch sieben Jahre, bis schäftigt? Oder doch selbst durchsehen und Hamit. Tagebuch 1990 das erste Journal Kempowskis tatsächlich auf literarische Tauglichkeit und Veröf- Knaus Verlag, publiziert wurde, ebenjenes aus dem Jahr fentlichungsreife hin überprüfen? Ist die München; 1983, in dem auch diese Szene beschrie- Trennung von Werk und Tagebuchnotizen 432 Seiten; nicht überhaupt altmodisch? 24,95 Euro * Mit Kollegin Irmtraud Morgner auf dem VII. Schrift- Wer etwas auf sich hält in der deutsch- stellerkongress der DDR in Ost-Berlin. sprachigen Gegenwartsliteratur, publiziert

154 der spiegel 11/2006 ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Autoren Walser (1955, l.)*, Kempowski: „Willenlose Beschäftigung mit dem leergewordenen Selbst“ die Publikation vorgesehenen Aufzeich- sich doch ganz von selbst in den klein- tock beschert. Es bereitet großes Vergnügen, nungen allerdings aus dem Nachlass her- schreibenden, sorgfältig notierenden Geist den Autor des Rostock-Romans „Tadellöser ausgegeben werden. ein, die Korrumpierung ist unvermeidbar!“ & Wolff“ (1971) auf seinen Streifzügen Walser, 78, der im vergangenen Herbst Walsers Kollege Kempowski hat das im- durch die Hansestadt zu begleiten. Gleich mit der Veröffentlichung seiner umfang- mer ganz anders gesehen: „Ein Schriftstel- nach Neujahr macht er sich auf, zusammen reichen Tagebücher begonnen hat (zu- ler, der kein Tagebuch schreibt, ist irgend- mit seinem älteren Bruder Robert, nicht nächst sind jene aus den Jahren 1951 bis wie schief gewickelt“, lautet sein Credo, ohne Hemmungen. „Beim Heraussuchen 1962 erschienen), wäre in jungen Jahren „mit dem stimmt was nicht.“ Er selbst ist der Anzüge langes Überlegen: Räuberzivil? darüber entsetzt gewesen. einer der eifrigsten Diaristen unserer Tage. oder in Schale werfen? – Als Herr zurück- Als er an seinem 30. Geburtstag im Seit seiner Entlassung aus dem DDR-Ge- kehren oder als verlorener Sohn? Ich wer- Krankenhaus liegt, hat er viel Zeit für fängnis Bautzen 1956 führt er konsequent de mich der Heimat in Tarnkleidern nähern, Notizen und glaubt: Wenn er „täglich vors und kontinuierlich Tagebuch (frühere Auf- das wird das beste sein. Von hinten an- Papier, eine Art Tagebuch gar, gezwungen zeichnungen dürften verloren sein). Die schleichen, kein Aufsehen erregen.“ würde, es wäre zum Sterben“. Er unter- Abschrift der handschriftlichen Notizen Das ist schönster Kempowski-Ton, und scheidet „diese Schmierereien“ vom „rich- umfasst heute mehr als 12000 Seiten („Tage es überrascht nicht, dass sich bei dem Be- tigen Schreiben“, fürchtet „die schlimmste ohne einen Eintrag kommen mir dumm sucher bald Enttäuschung, ja so etwas wie aller Posen: die willenlose Beschäftigung und leer vor“). Entsetzen einstellt. „Herrgott, wie sieht die mit dem leergewordenen Selbst“. Jetzt ist nach „Sirius“ (1990) und „Alkor“ Stadt aus!“, empört er sich. „Wo ist der Freilich erkennt er damals, 1957, auch (2001) das dritte oder – wenn man das „Echo- Zauber der alten Hansestadt geblieben? schon die Verlockung: „Nichts Schlimmeres lot“-Werktagebuch „Culpa“ (2005) mitzählt Wann haben sie der Stadt das Herz ausge- als das regelmäßige Tagebuch, auch wenn es – vierte Kempowski-Journal erschienen: rissen?“ Er sieht sich sonderbar unberührt gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt ist, „Hamit“. Das Titelwort ist der im Erzgebir- vom Wiedersehen: „Das ist es nun, dach- aber welches ist das nicht! Das schleicht ge gebräuchliche Begriff für „Heimat“. te ich. Alles ist noch wie früher, nur etwas „Hamit“ zeigt den Autor im Jahr der heruntergekommen.“ * Mit Heinrich Böll und Ingeborg Bachmann auf einer Wiedervereinigung, dem Jahr, das ihm auch Bei der Wiederbegegnung mit der Haft- Tagung der Gruppe 47 in West-Berlin. eine persönliche Wiederbegegnung mit Ros- anstalt Bautzen („Wie ein abgetakeltes

Martin Walser Einar Schleef Franz Fühmann Peter Handke Leben und Schrei- Tagebuch 1964 – Das Ruppiner Gestern unterwegs ben. Tagebücher 1976. Ostberlin Tagebuch Verlag Jung 1951 – 1962 Suhrkamp Verlag, Hinstorff Verlag, und Jung, Rowohlt Verlag, Frankfurt am Main; Rostock; Salzburg; Reinbek; 672 Seiten; 480 Seiten; 544 Seiten; 560 Seiten; 24,90 Euro 30 Euro 29,90 Euro 25 Euro

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Schlachtschiff liegt sie dort“) will etwas für Fans? Können sie je ein sich nicht einmal mehr Wut über größeres Publikum erreichen? das ihm widerfahrene Ungemach Und das Problem ist auch: Wie einstellen, über die verheerenden lässt sich die Menge der Notate, Folgen bis in den privatesten die bei vielen Autoren im Lauf Bereich hinein: „Ich hatte in der Jahre angefallen sind, sinn- Rostock nie eine Freundin, ich voll begrenzen? kam als ‚Jungfrau‘ ins Gefäng- Auf die Frage, ob er sein frühe- nis“, notiert er. „Heutzutage ha- res Tagebuch vor der Publika- ben die Knackis ‚Freigang‘. Wir tion bearbeitet habe, versteckte blieben auch mit diesem Kummer sich Walser hinter einer angeb- allein. Sexuell – verkorkst. Ver- lichen „Ethik des Tagebuch-Ver- korkst ist gar kein Ausdruck.“ öffentlichens“. Er selbst habe Allerdings lässt sich vor dem manches weglassen wollen, im Bautzen-Hintergrund bestens Verlag sei man jedoch dagegen nachvollziehen, warum gerade gewesen. Kempowski gegen jede Verharm- So ist ein schwer konsumier- losung des 1990 auslaufenden barer Brocken von mehr als 650 Staatsmodells namens DDR im- Seiten entstanden, in der einige mun gewesen ist. Fassungslos literarische Glanzlichter und for- verfolgt er in der ersten Hälfte sche Aperçus („Ehepaare müs- des Jahres die Skepsis bei vie- sen die erlaubte Liebe wieder zu len Westdeutschen angesichts der einer Art Sünde machen, um sich anbahnenden historischen zufrieden sein zu können“) ne- Chance zur Wiedervereinigung. ben reichlich unergiebigen ka- Ob da ein Sozialdemokrat im lendarischen Einträgen stehen: Januar 1990 (in einem SPIEGEL- „14. bis 17. 10. 1954/Gruppe 47 Interview) das „Gerede von der auf Burg Rothenfels.“ Soll das Wiedervereinigung“ nicht ertra- in den kommenden Bänden so

gen kann („Wir wollen eben nicht OHLBAUM ISOLDE weitergehen? nur einen Anschluss“) oder den Wanderer Handke in Triest (1988): Strenge Auswahl Peter Handke, 63, hat die Rei- Autor im Februar eine Auffor- he seiner eigenwilligen, zumeist derung erreicht, sich an einer Demon- nen Aufzeichnungen, wenn er wieder ein- auf Reisen und Wanderungen entstande- stration gegen die Wiedervereinigung zu mal auf die realen Schattenseiten gestoßen nen Notizbücher (das erste, mit dem Titel beteiligen („Der Brief war von den Grü- war – vor allem durfte er es in der DDR „Das Gewicht der Welt“, erschien 1977) nen abgestempelt“) – er kann nur den nicht veröffentlichen. Schließlich gab er vor kurzem mit dem fünften Band „Ges- Kopf schütteln. „Von Euphorie keine Rede. den Auftrag zurück. tern unterwegs“, der Aufzeichnungen von Am Radio-Telefon wurde ich gefragt, was „Mein Tagebuch, nur Fetzen, meine Ende 1987 bis Sommer 1990 enthält, für ich zu der Eile sage, mit der man die Not“, so notierte Ende 1968 der junge beendet erklärt – außerdem in jedem Jour- Dinge angeht? Ich antwortete wie ge- Einar Schleef, der die Zeit von 1964 bis nal eine strenge Auswahl getroffen. wöhnlich: ‚Die Mauer haben sie an einem 1976 in Ost-Berlin erlebte, wo er erste Er- Ohnehin sind dies keine Tagebücher im einzigen Tag gebaut.‘ Wenn man so was fahrungen am Theater sammelte. Diese herkömmlichen Sinn, sie geben nur indi- sagt, sind sie platt. Das verschlägt ihnen Zeitspanne umfasst der jetzt publizierte rekt Einblick in die Person des Autors. die Sprache.“ zweite Band der auf fünf Bände angelegten Es sind vielmehr poetische Kommentare, In den Jahrzehnten, während denen die Tagebuch-Edition. manchmal auch nur reizvolle Erzählkür- DDR existierte, kam der privaten und heim- Ein Leben zwischen Anpassung und zel, meditative Stenogramme. Die Poli- lichen Mitschrift des eigenen Lebens offen- Protest: 1968 unterschreibt er an der Ost- tik, die Nachrichtenwelt bleibt zumeist bar besondere Bedeutung zu. So notierte Universität eine Liste, mit der der Ein- außen vor. So lässt der Österreicher den Christa Wolf schon 1965, das Tagebuch sei marsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Mauerfall im November 1989 nur mit ei- vielleicht „die einzige Kunstform, in der Prag begrüßt wird; noch 1976, kurz bevor nem knappen Zitat von drei Zeilen vor- man noch ehrlich bleiben, in der man die er in den Westen geht, macht er bei der kommen. sonst überall nötig oder unvermeidlich wer- Wahl zur Volkskammer mit („Was sagte Keine Frage, dass es Kempowski ist, der denden Kompromisse vermeiden kann“. der Wahlleiter zu mir: Wir notieren, dass derzeit die unterhaltsamsten Tagebücher In zwei jetzt aus dem Nachlass edierten Sie dagewesen“) – dann wieder wird eine publiziert – obgleich oder gerade weil es Tagebüchern wird das besonders deutlich, „Haussuchung“ beklagt. sich deutlich um nachträglich arrangierte vor allem in dem Konvolut von Arbeitsno- Das Problem der Schleef-Tagebücher Werke handelt. In „Hamit“ wird das be- tizen, Gesprächs- und Beobachtungspro- aber ist die unstrukturierte Masse, die sonders klar: Die Reise nach Rostock zu tokollen aus den Jahren 1967/68, die Franz schier ungebremste Häufung von Notizen Beginn ist nichts anderes als eine große zu- Fühmann (1922 bis 1984) hinterlassen hat und späteren geschwätzigen Eigenkom- sammenhängende Reportage, eine auf Tage und die fast vier Jahrzehnte danach unter mentaren (der Autor selbst arbeitete bis aufgeteilte Erzählung. Und so ist es kein dem Titel „Das Ruppiner Tagebuch“ er- kurz vor seinem Tod an den Tagebüchern Wunder, dass „Hamit“ jetzt sogar anstelle schienen sind. und hinterließ ein Chaos verschiedener eines Romans als Fortsetzungsabdruck in Hintergrund für die Recherchen in der Fassungen, gespeichert in mehreren Com- der „Frankfurter Allgemeinen“ erscheint: Umgebung von Neuruppin war damals der puterdateien). Die Sorgfalt und der Re- ein öffentliches Tagebuch fürwahr. Auftrag, als Reporter auf den Spuren Fon- spekt der Editoren ist hier wie auch beim „Tagebuch schreiben. Warum? Wahr- tanes zu wandeln. Erwartet wurde ein Lob- Fühmann-Tagebuch zu loben, doch han- scheinlich, um festzustellen, wo ich meine lied auf die Errungenschaften des Sozialis- delt es sich in beiden Fällen um Ausgaben Zeit gelassen habe.“ So Walter Kempow- mus – Fühmann konnte das nicht liefern: für eine kleine Gemeinde von Liebhabern. skis entwaffnende Begründung. Vielleicht „Darf ich nicht schreiben“, heißt es in sei- Sind Tagebücher nicht grundsätzlich nur ist es wirklich so einfach. Volker Hage

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Der Wahrheit entgegen Artur Becker erzählt von historischer Schuld und Selbstjustiz. hrystian Brodd ist ein arbeitsloser CAkademiker, wie es viele gibt: Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, versucht seinem Sohn ein guter Vater und dessen Mutter ein nicht allzu unangeneh- mer Ex zu sein. Chrystian lebt in Bremen, wo sein Vater Hausmeister ist. Doch die Brodds stam- men aus dem polnischen I¬awa, das vor dem Zweiten Weltkrieg Deutsch-Eylau

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN hieß und in Ostpreußen lag. Der Groß- Deutsche Soldaten (1915)*: „Menschen gingen verloren wie Taschentücher“ vater von Chrystian arbeitete damals als Koch auf dem Hof von Richard Schmidtke, mon Meijer im Jahr 1870, in das ein unge- der Häftlinge aus dem Konzentrations- betener Gast mit blutverschmiertem Kopf- lager Stutthof bei Danzig beschäftigte. Zauberhafte verband hineinplatzt. Das Buch endet vier Kurz nach Ende des Kriegs landete auf ei- bis fünf Generationen später im Jahr 1945, nem nahen See ein Flugboot, besetzt mit Mischpoke als Hitler und die Deutschen sechs Millio- drei ehemaligen KZ-Häftlingen. Am fol- Charles Lewinsky schildert, wie es nen Juden umgebracht haben; darunter genden Tag wurde Schmidtke gefunden – einer jüdischen Familie zwischen eben jenen einst in Galizien geretteten und hingerichtet. 1871 und 1945 in der Schweiz erging. Sohn eines Zürcher Juden, der selbst Rab- Chrystian wird mit der alten Geschichte bi geworden war. konfrontiert, als Mona Juchelka in Bremen eit weg in Galizien tobt eine beson- Der Holocaust aber ist allenfalls die Flucht- aufkreuzt, eine Journalistin aus den USA. Wders wilde, blutige Schlacht des Ers- linie, nicht das Thema von Lewinskys win- Ihr Großvater gehörte zu den Insassen des ten Weltkriegs, in der „Menschen einfach dungsreichem, blendend recherchiertem Flugzeugs. Sie überredet Chrystian, mit verloren gingen wie ein Taschentuch oder Buch, das mit viel Liebe zum Detail und ihr nach Polen zu fahren, der Wahrheit ein Schlüsselbund“. Ein besorgter Vater zum richtigen jiddischen Ausdruck aufge- besteigt im sicheren Zürich den Zug, schrieben ist; ein ellenlanges Glossar am schlägt sich durch alle Frontlinien und Ende übersetzt Wörter wie Schmonzes spürt den schmerzlich vermissten Sohn im (wertlose Dinge) und Chossen (Bräutigam) Haus eines galizischen Rabbis auf. Das für kenntnislose Leser. Haus ist voll mit jüdischen Flüchtlingen „Melnitz“ ist, wie man so leichthin sagt, und umstellt von mordlüsternen Soldaten. die Beschwörung einer untergegangenen Der Vater aber beschmiert den Sohn mit Welt – jener, in der die Schweizer Juden Kot, wirft ihn über die Schulter und raunt lebten, seit sie (erst) in den sechziger und den Mordgesellen vor dem Haustor nur siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die

das Wort „Cholera“ zu. Als der Sohn sich wichtigsten Bürgerrechte wie das auf die JUERGEN BAUER auf der Zugfahrt nach Zürich für die Ret- freie Wahl des Wohnsitzes zugestanden be- Autor Becker tung bedanken will, sagt der Alte: „Ich bin kommen hatten. Unverwechselbarer Tonfall ein friedlicher Mensch, aber wenn man mir Lewinsky, 59, wird in der Schweiz als viel- feierlich kommt, werde ich wütend.“ begabter TV-, Lieder- und Buchautor be- entgegen. Es ist früher Frühling, und die Derart tollkühne, aberwitzige Geschichten wundert, in Deutschland ist er fast unbe- ersten Stinte werden schon gefischt. erzählt Charles Lewinsky in seinem Ro- kannt. Er lieferte das Drehbuch für Oliver Der in Polen geborene Autor Artur Becker, man „Melnitz“, und er tut es weitgehend Hirschbiegels Film „Ein gewöhnlicher 37, hat mit nie sentimentalem, unverwech- mit ähnlicher Abneigung gegen alles billig Jude“, der gerade ziemlich sang- und selbarem Tonfall für seine Novelle „Die Feierliche. Geschildert werden die Ge- klanglos im Kino lief, und begeisterte vor Zeit der Stinte“ eine dichtgewobene Ge- schicke einer jüdischen Familie in der ein paar Jahren ein paar Kritiker mit dem schichte über die Gegenwart der Vergan- Schweiz, beginnend mit einem Nachtmahl Roman „Johannistag“. In „Melnitz“ prä- genheit, über historische Schuld und Selbst- im Haus des Aargauer Viehhändlers Salo- sentiert Lewinsky nun eine vor Erzählbe- justiz erdacht und dazu die rührend-herbe geisterung überbordende Familiensaga, be- Beschreibung einer gerade aufkeimenden * Mit polnischen Juden. völkert mit vielen herzerweichenden, hin- Liebe geliefert. Joachim Kronsbein reißenden, schillernd widersprüchlichen Figuren. Der Titelheld dagegen ist bedauerlicher- Charles Lewinsky weise nur ein Gespenst. Als allwissender Artur Becker Melnitz Toter, als Mahner und Warner geistert die- Die Zeit der Stinte Verlag Nagel & Kimche, ser „Onkel Melnitz“ durch alle Kapitel und Deutscher Taschen- Zürich und München; Epochen, schon der erste Satz des Buchs buch Verlag, München; 776 Seiten; 24,90 Euro berichtet von ihm: „Immer wenn er ge- 200 Seiten; 14 Euro storben war, kam er wieder zurück.“ Wolfgang Höbel

158 der spiegel 11/2006 Nächtlicher Zuschauer Patrick Modiano beschreibt einen Unfall in Paris und dessen mysteriöse Folgen. ür eine erste Begegnung war der Zu- Fsammenstoß ein bisschen brutal. Die Fahrerin des wassergrünen Fiat hatte den Eindruck, dass der junge Mann absichtlich im falschen Augenblick über den Platz lief. Jedenfalls schien er nicht in seiner norma- len Verfassung zu sein. Der 30. Roman des französischen Schriftstellers Patrick Mo- diano, 60, beginnt mit einem Unfall in der

Nacht, und bereits der erste Satz legt in KLUBA ROBERT wenigen Worten Zeit, Raum und Hand- Place des Pyramides in Paris: Heilsamer Schock zur rechten Zeit lung einer Erzählung fest, in die der Leser sogleich wie in eine unsichtbare, rätselhaf- Concorde, als ein Wagen aus der Dunkel- am Knöchel, die Lenkerin mit einer te Schattenwelt hineingezogen wird: „Spät heit auftauchte.“ Das Auto wirft den ver- Schramme im Gesicht – werden beide von in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz wirrten Fußgänger um und prallt mit dem der Polizei ins Krankenhaus gebracht. bevor ich volljährig wurde, da überquerte Geklirr zerbrechenden Glases gegen einen Doch als der namenlose junge Mann aus ich die Place des Pyramides in Richtung Arkadenpfeiler. Leicht verletzt – das Opfer der Narkose erwacht, ist die schöne unbe- Krimis

Simone van der Vlugt: „Klassentreffen“. Aus Jo Nesbø: „Das fünfte Zeichen“. Aus dem dem Niederländischen von Eva Schweikart. Norwegischen von Günther Frauenlob. Claasen Diana Verlag, München; 384 Seiten; 19,95 Euro. Verlag, Berlin; 496 Seiten; 19,95 Euro. Die 23-jährige Sabine hatte einen Zusammen- Kommissar Harry Hole ist am Ende – beruflich und bruch und war in psychologischer Behandlung. privat. Seine Kollegin wird bei einem Einsatz getö- Langsam geht es ihr besser, da erhält sie eine tet, er beginnt wieder zu trinken, schließlich ver- Einladung zum Klassentreffen. Verdrängte Erin- lässt ihn seine Freundin. Die Entlassung aus dem nerungen kommen hoch; sie betreffen Isabel, Staatsdienst steht unmittelbar bevor. Es rettet ihn Sabines ehemalige Schulfreundin, die eines eine Serie von ebenso bizarren wie raffinierten Tages spurlos verschwand. Wurde Isabel, das Frauenmorden. Hole findet wieder zu sich selbst. attraktive Miststück, ermordet? Welche Rolle spielt Sabines neuer Liebhaber? Dieser süffig Alexander McCall Smith: „Das Herz des frem- erzählte Psychothriller entwickelt einen außer- den Toten“. Aus dem Englischen von Thomas ordentlichen Sog. Stegers. Karl Blessing Verlag, München; 288 Seiten; 16,95 Euro. P. D. James: „Wo Licht und Schatten ist“. Aus Sie darf wieder mal ihre Nase in anderer Leute dem Englischen von Ulrike Wasel und Angelegenheiten stecken. Isabel Dalhousie, Her- Klaus Timmermann. Droemer Verlag, München; ausgeberin der „Zeitschrift für angewandte Ethik“ 464 Seiten; 19,90 Euro. in Edinburgh, soll herausfinden, wer einem ent- Die große alte Dame des britischen Kriminal- fernten Bekannten von ihr das Herz gespendet romans hat wieder eines ihrer ausgeklügelten hat, das ihm nun Alpdrücken verursacht. Natürlich Meisterwerke um Commander Adam Dalgliesh verrennt sie sich in der Recherche und bekommt ausgetüftelt. Diesmal wird auf einer abgelegenen manch kniffliges Moralproblem zu lösen. Für Insel ein bekannter Schriftsteller ermordet. Fast Freunde strikt gewaltfreier, anspruchsvoller Krimis jeder der wenigen Bewohner hat ein Motiv, und mit viel schottischem Lokalkolorit. viele hatten auch noch die Gelegenheit zur Tat. Spannend und intelligent. Anne Chaplet: „Sauberer Abgang“. Kunstmann Verlag, München; 288 Seiten; 19,90 Euro. Sam Bourne: „Die Gerechten“. Aus dem Engli- Seit fast 25 Jahren trifft sich Will jeden Monat mit schen von Rainer Schmidt. Scherz Verlag, Freunden in einer Frankfurter Kneipe. Dann ist Frankfurt am Main; 448 Seiten; 17,90 Euro. einer von ihnen tot und bald darauf noch einer. Man musste damit rechnen: Nach dem Welterfolg Immer war die zwielichtige Putzfrau Dalia in der von Dan Browns „Das Sakrileg“ überschwemmen Nähe der Opfer, doch Will fragt sich, ob nicht das nun Nachahmerprodukte den Markt. Eines der Jahr 1981 mit den Morden zusammenhängt – als besten: „Die Gerechten“. Es geht um Morde auf er und seine Freunde mit schönen Mädchen rum- verschiedenen Kontinenten, jüdische Mystik hingen und gegen Brokdorf und den Bau der Start- und einen New Yorker Reporter, dessen Frau ent- bahn West kämpften. Autorin Chaplet erzählt mit führt wurde. Die Welt, man ahnte auch das viel Menschenkenntnis und großem Gespür für schon vorher, wird wieder mal rechtzeitig gerettet. die Abgründe hinter bürgerlichen Fassaden von Beruhigend. verlorenen Idealen, Freundschaft und Verrat.

160 der spiegel 11/2006 kannte Frau verschwunden. Dieser Unfall hatte sich nicht zufällig ereignet, davon ist der Angefahrene zutiefst überzeugt, der Zufall führt nur eine sehr begrenzte Men- ge von Begegnungen herbei. Es gibt auch glückliche Unfälle, und das banale Missge- schick im nächtlichen Paris bedeutete ei- nen Einschnitt, einen heilsamen Schock, der zur rechten Zeit passierte, denn das Opfer trieb einer weit schlimmeren Kata- strophe entgegen. Modiano erzählt von der Suche des jungen Mannes, der wie ein „nächtlicher Zu- schauer“ nach dem Vorbild von Rétif de la Bretonne scheinbar ausgestorbene Viertel, Straßen, Cafés und Restaurants durch- streift, um die verschwundene Frau, die

Patrick Modiano Unfall in der Nacht Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München; 144 Seiten; 15,90 Euro ihm durch den Unfall zu einem neuen An- lauf in einem zweiten, spannenderen Le- ben verhalf, wiederzufinden, als wäre sie seine unfreiwillige und doch schicksalhaf- te Retterin. Seine ganze Existenz fügt sich neu zusammen in einem gespensterhaften Paris voller Zeichen, Namen, Gesichter, Passanten und Träume. Ein nächtlicher Unfall also, der in Wahrheit ein Ruf zur Ordnung ist, der einen Schluss- strich zieht unter Jahre der Wirrnis und Ungewissheit und immer wieder aufstei- gender Kindheitsängste. „Es ist verrückt“, sagt am Ende die wiederaufgetauchte Frau, die sich gar nicht versteckt hatte, „wieviel Mühe Sie sich machen, um Gewissheit zu erlangen.“ Dabei gibt es nichts zu verber- gen, das Leben ist viel einfacher, als man glaubt, wenn man nur die verlorene Har- monie wiedergewinnt und die Leichtigkeit des Glücks der Tiefe der Seelenqual vor- zieht. Romain Leick Begabtes Ungeheuer Arne Karsten fesselt mit einer Karriere- und Charakterstudie des Barockstars Gianlorenzo Bernini. as Zeitalter des Barock war für den DVatikan eine teure Epoche. Der poli- tische Einfluss im katholischen Europa schrumpfte, und die wechselnden Päpste, ohnehin nicht gerade als Asketen bekannt, kaschierten den Bedeutungsverlust mit einem erhöhten Protz- und Prunkaufwand. Unsummen flossen in die Selbstdarstel- lung, in die sorgfältig gehegte Illusion eines der spiegel 11/2006 161 Kultur

gegen die Juden. Petr schreibt von einer selbstgebastelten kleinen Kanone, von Ma- thearbeiten, Schulfesten, den Spaziergän- gen mit dem Freund. Hineingestreut in die- se Notizen sind nüchterne Sätze über die Bedrückung: „Die Juden dürfen nicht mehr zum Friseur“, heißt es am 2. Juni 1942. Ein anderes Mal: „Wir turnten nur in Hemden, deswegen musste auch auf das Hemd ein Stern genäht werden. Also hat- te ich drei Sterne übereinander: auf dem Überzieher, auf dem Mantel und auf dem Hemd.“ Und immer wieder, wie ein Me- mento, steht da, wer von Ginz’ Freunden und Verwandten sich zum Abtransport ins KZ zu melden hat. Im Winter 1941 beob- achtet der Schüler: „Überall türmen sich Unmengen von Kirchenstühlen, sie wur- den aus den Synagogen dahin gebracht. Die Juden, die dort im Arbeitseinsatz wa- ren, mussten sie zu Brennholz klein hacken.“ Empörung versteckt sich in der Beobachtung: „Gefangenen, Geisteskran- ken und Juden werden keine Tabakmarken zugeteilt.“ Einmal fasst der junge Dichter

WILFRIED WIRTH / INTERFOTO WIRTH WILFRIED den schrecklichen Mangel in Verse: „Du Berninis Vierströmebrunnen (1651) in Rom: Dramatisches für die ewige Stadt meinst, ich übertreibe sehr? Verboten ist noch vieles mehr! Kauf lieber nichts – das nach wie vor mächtigen Kirchenstaates. Davon profitierte insbesondere ein Künst- ler: der Bildhauer und Architekt Gian- „Du meinst, ich lorenzo Bernini (1598 bis 1680). Sein Talent war enorm, sein Ehrgeiz grenzte an Be- übertreibe sehr?“ sessenheit. Der Berliner Kunsthistoriker Der jüdische Gymnasiast Petr Ginz führte Arne Karsten, Jahrgang 1969, hat sich im besetzten Prag der Jahre 1941/42 der Legende angenommen, sein Buch Tagebuch über seine verzweifelte Lage. schildert eine aufregende Einheit von Kunst, Leben und Zeitgeschichte. Tatsäch- r war hoch begabt, bekam in der Schu- lich gab Bernini der Ewigen Stadt ein neu- Ele lauter Einsen, zeichnete gut, schrieb PRESSBURGER CHAVA es, dramatisches Gesicht, er schuf aus- lange Geschichten im Stil seines Idols Tagebuch-Autor Ginz (um 1940) drucksstarke Büsten, Skulpturen, Grab- Jules Vernes. Aber Petr Ginz, Sohn eines „Drei Sterne übereinander“ mäler, ganze Kirchen und Paläste. Auch jüdischen Angestellten, hatte keine Chan- die Form des – aus Kostengründen nie voll- ce. Er wurde im Alter von 14 ins KZ The- ist der Witz.“ Die Bleistiftzeichnung von endeten – Petersplatzes geht auf seinen resienstadt deportiert und 1944 in Au- Petr Ginz „Mondlandschaft“ aus den letz- Entwurf zurück. Als Mensch konnte er elo- schwitz ermordet. Sein Leben haben die ten Lebensjahren erlangte tragische quent und witzig, aber auch ein ausge- Nazis dem wachen Schüler genommen, Berühmtheit. Der israelische Astronaut sprochenes Ungeheuer sein. Geplagt von aber nicht seine Zeugenschaft. Ginz führ- Ilan Ramon nahm eine Kopie als Erinne- Eifersucht, schickte der Künstler einst sei- te in den Jahren 1941 und 1942 Tagebuch, rung an die Shoah ins All mit. Am 1. Fe- nen Diener mit einem Rasiermesser und es gelangte nach dem Krieg auf einen bruar 2003 – es war Petrs Geburtstag – ver- dem Auftrag los, seiner schönen Gelieb- Dachboden, viel später nach Jad Waschem. glühte die US-Raumfähre „Columbia“ mit ten Costanza Bonarelli das Gesicht zu ent- Jetzt, mehr als 60 Jahre nach der Ermor- Ramon an Bord. Nikolaus von Festenberg stellen. Konkurrenten hatten unter seinen dung des Jungen, erscheint – herausgege- Intrigen zu leiden, Berninis wichtigster Wi- ben von seiner in Israel lebenden Schwes- dersacher, Francesco Borromini, brachte ter mit einem Vorwort von Mirjam Pressler sich schließlich um. Die kirchliche und – das „Prager Tagebuch 1941–1942“ auf Steig ein, Baby weltliche High Society aber riss sich um Deutsch. Was das Buch so besonders Miljenko Jergoviƒ erzählt von einem, der den begnadeten Bernini, ahnend, dass er macht, ist die Mischung der Einträge. Ba- sein Auto mehr liebt als die eigene Frau. sich und damit auch sie unsterblich ma- nales und Alltägliches findet sich neben chen würde. Ulrike Knöfel den Ungeheuerlichkeiten der Repression o manche Frau hat beim Kampf um die SLiebe eines Mannes schon gegen ein Auto verloren. Klar, dass es Angela, die Petr Ginz Arne Karsten gegen einen silberhell glitzernden Buick Prager Tagebuch Bernini. Der Schöpfer Rivera, Baujahr 1963, antritt, besonders 1941–1942 des barocken Rom schwer hat. Ihr Mann, der Bosnier Hasan Aus dem Tschechischen Verlag C.H. Beck, Hujdur, hegt und pflegt dieses Sinnbild von Eva Profousová. München; 272 Seiten; des American Dream „wie ein Archäolo- Berlin Verlag, Berlin; 24,90 Euro ge“, der „mit der Mumie eines Königs um- 192 Seiten; 19,90 Euro geht“, bringt ansonsten aber nicht viel auf die Reihe. Dem Krieg in Jugoslawien ent-

162 der spiegel 11/2006 flohen, lebt er nun mit seiner deutschen Autorin Naters Frau in Toledo, Oregon, und vertreibt sich Leidensbereit und radikal seine Zeit mit ein paar wortkargen Freun- den beim Billardspiel. Den Traum von der ihr das schon getan haben. Denn Naters’ Hollywood-Karriere als Regisseur hat Ha- Heldin Justyna ist anders: kompromisslo- san längst aufgegeben. Trotzdem hadert ser, leidensbereiter, radikaler. Das Buch der Mann keineswegs mit seinem Schick- beginnt 1979, da ist die Heldin 16 und lebt sal, auch dann nicht, als seine Ehe zu zer- in München. Sie bricht die Schule ab und brechen droht: „Du trauerst nicht den Ta- macht sich auf eine ruhelose Suche nach gen nach, in denen du nur darauf gewartet dem richtigen Leben: erst auf Jamaika, hast, dass die Zeit verstreicht, sondern du später in Berlin, mit Hilfe von Alkohol, trauerst um jene Jahre, in denen du etwas ein paar Drogen, Sex, vor allem aber von dir verlangt hast.“ Der in Sarajevo ge- Freundinnen und Freunden. Die Autorin

borene, heute in Zagreb lebende Miljenko JÖRG KLAUS / OSTKREUZ leuchtet einzelne Szenen in ihrer klaren, Jergoviƒ, 39, gilt auch als brillanter Schrift- geraden Sprache genau aus, lässt anderes steller. Mit Sprachgewalt und Komik lässt souverän im Dunklen. Nach Justynas 30. Jergoviƒ seinen gefühlsphlegmatischen Geburtstag gibt es einen Sprung von acht Helden im Verlauf der Geschichte gehörig Ruhelose Suche Jahren, ins Jahr 2001: Die Heldin führt aus der Kurve fliegen. Denn als Hasan Elke Naters beschreibt in „Justyna“ nun ein gesetztes, etwas zu ruhiges Le- eines Tages bei einem Autounfall dem eine radikale Jugend mit dem ben, mit Mann und Kindern. Ausgerech- Landsmann Vuko begegnet, wird er von unstillbaren Drang zum richtigen Leben. net da passiert etwas – und man weiß der Vergangenheit eingeholt, weit heftiger, nicht, ob man es wirklich ein Unglück als ihm lieb ist. verena araghi och eine Jugend in Deutschland. Man nennen kann. Anke Dürr Ndachte eigentlich, es reicht jetzt lang- sam mit nostalgischen Erinnerungen der Miljenko Jergoviƒ zwischen 1960 und 1975 in ein sattes Elke Naters Buick Rivera Deutschland hineingeborenen Autoren, Justyna Aus dem Kroatischen egal, ob aus Ost oder West. Aber nun hat Verlag Kiepenheuer & von Brigitte Döbert. auch Elke Naters, Jahrgang 1963, in ei- Witsch, Köln; Verlag Schöffling & Co., nem offenbar stark autobiografisch ge- 240 Seiten; Frankfurt am Main; 256 färbten Roman die Geschichte so einer 18,90 Euro Seiten; 19,90 Euro Jugend aufgeschrieben, und plötzlich spielt es keine Rolle mehr, wie viele vor Kultur

Unglückskinder Katharina Hacker erzählt von einem Paar, das kein Glück miteinander hat. ehn Jahre hat Jakob auf Isabelle ge- Zwartet. So viel Zeit ist vergangen, seit sie bei einem Waldspaziergang in Freiburg nach seiner Hand gegriffen hatte, danach aber doch zu ihrem Freund zurückgekehrt war. Und dann steht sie plötzlich neben ihm, in einer Bar in Berlin. Diesmal wer- den sie ein Paar. Die Grafikerin Isabelle, der Jurist Jakob, sie ziehen gemeinsam nach London, aber glücklich werden sie nicht miteinander. „Die Habenichtse“, der neue Roman von Katharina Hacker („Eine Art Liebe“), er- zählt von Armut. Subtil verwebt Hacker die Unfähigkeit ihrer Figuren Isabelle und Jakob, den anderen zu spüren, mit der

ganz realen Not ihrer neuen Nachbarn. DISNEY Denn in London wohnen Jakob und Isa- Duck-Comic-Thema Meer: „Fette Flunder, miese Makrele, räudiger Rollmops“ belle in Kentish Town, in derselben Straße, in der auch der Drogendealer Jim lebt und Vernunft“. Und jede Menge Kulturge- die Familie der beiden misshandelten und schichte. Ob „Fliegender Holländer“, Gol- verwahrlosten Kinder Sara und Dave. Ente ahoi denes Vlies oder die versunkene Stadt Auf äußerst beunruhigende Weise ist der Der Romancier Frank Schätzing sticht Atlantis: Auf dem Planet Entenhausen des Roman durchzogen von unterschwelliger mit Donald Duck in See. Carl Barks wohnen Bildungsbürger mit Gewalt, Erotik und Einsamkeit. Da sind Bürzel und großem Schnabel. „Fette die dumpfen Geräusche aus dem Nach- as Meer „ist der Raum der Hoffnung“, Flunder, miese Makrele, hässlicher Hecht, barhaus, wenn der Vater von Dave und Dbehauptete Friedrich Schiller. Von we- räudiger Rollmops“, fluchen die Ducks, Sara eines seiner Kinder gegen die Wand gen: Schiller kannte Donald Duck nicht. übersetzt von Erika Fuchs, denn „Fische schleudert, da ist Jakobs Der plattfüßige Wüterich ist auch auf ho- sind noch besser zum Schwimmen geeig- Faszination für seinen her See ein ewiger Pechvogel. Gnadenlos net“. Man ahnt: Der Leser hat Ober- homosexuellen Chef, der schickte Carl Barks, der legendäre Zeich- wasser. Martin Wolf tagelang verschwindet, ner und Texter einiger Phantastilliarden um sich seinen Aus- von Duck-Geschichten, seinen Helden im- schweifungen hinzuge- mer wieder aufs und ins Meer. Donald, die ben, und Isabelles Hin- lahme Ente, segelt um die Wette mit sei- Fremdheit des neigung zum Drogen- nem verhassten Rivalen Gustav Gans; er dealer Jim. paddelt durch einen Tsunami, taucht mit Vertrauten Das alles erzählt Hacker Meerjungfrauen, fischt mit Dynamit oder Lars Brandt porträtiert eindrucksvoll ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN vor dem Hintergrund jobbt („Der starke Arm des Retters naht“) seinen berühmten Vater. Autorin Hacker des ausbrechenden Irak- als Bademeister. Doch meistens – Blubb! Hand in Hand Kriegs. Das Schriftbild Blubb! – säuft er dabei ab. Nur Onkel riedrich Hölderlins Gedicht „Anden- dieses Buchs ist fast ab- Dagobert schwimmt im Geld. Fken“ rühmt neben dem Bordeaux-Wein satzlos und dicht und entspricht der düs- Donalds „Chronik fortgesetzten Schei- auch das, was dieser beschleunigt: das gute teren und vollgepackten Geschichte. Die terns“ vermittle dem Leser „ein Gefühl „Gespräch“, in dem „des Herzens Mei- beiden Wohlstandskinder Isabelle und von Geborgenheit“, analysiert Frank nung“ gesagt werden darf. Lars Brandt, der Jakob treiben immer weiter voneinander Schätzing, 48. Der Bestsellerautor, mit ma- 1951 geborene Sohn von Willy Brandt, ei- weg. ritimen Themen vertraut („Der Schwarm“), nes von vier Kindern des 1992 verstorbenen Dabei wäre das Glück in diesem analyti- hat für einen neuen Prachtband 25 Aben- ehemaligen Bundeskanzlers und SPD-Vor- schen Roman für sie zum Greifen nah, aber teuer der Enten-Sippe ausgewählt und sitzenden, hat dem Erinnerungsbuch an sei- keinem von beiden gelingt es, noch ein- fachkundig kommentiert. „Hinter dem nen berühmten Vater gewiss auch deswe- mal – wie auf dem Spaziergang in Freiburg scheinbaren Schwachsinn“ der Comics, gen diesen Hölderlin-Titel gegeben, weil – die Hand danach auszustrecken und es so Schätzing, verberge sich nicht nur die Herzlichkeit zwischen den beiden vor festzuhalten. Claudia Voigt „große Literatur“, sondern auch „tiefe allem eine des regelmäßigen Gesprächs ge- wesen ist. Die erste körperliche Berührung, an die sich Lars Brandt erinnert, war eine Barks / Schätzing späte Umarmung: Soeben hatte der Vater Katharina Hacker Die tollkühnen dem längst erwachsenen Sohn anvertraut, Die Habenichtse Abenteuer der Ducks „dass er sehr krank war“. Kommuniziert Suhrkamp Verlag, auf hoher See haben Vater und Sohn hingegen oft mit- Frankfurt am Main; Marebuchverlag, einander, indirekt sogar dann, wenn sie still 320 Seiten; 17,80 Euro Hamburg; 496 Seiten; beisammensaßen: beim Angeln im Urlaub 39,90 Euro oder morgens daheim – „wenn V. und ich frühstückten, überließen wir das Sprechen

164 der spiegel 11/2006 Kultur weitgehend dem Papagei“. Die Abkürzung des Vaters zu „V.“ wiederholt die Unter- schrift, mit der Brandt Briefe oder Post- Gefangen in der Hochaufgelöste karten an die Kinder zeichnete, sobald sie dem „Vati“-Ton entwachsen waren. Zu- Lebenslüge Lebensbilder gleich symbolisiert das V-Kürzel aber auch Meg Mullins erzählt von der Einsamkeit Tanja Dückers zeigt fünf Geschwister die Fremdheit des Vertrauten, jenen „Ne- eines iranischen Teppichhändlers mitten in dem Augenblick, als diese die bel“ (Lars Brandt) aus Geheimnistuerei, in New York. Nachricht vom Tod des Vaters erreicht. Selbstbezogenheit und Gefühlskälte, der . den Politiker umwallte und der immer dich- ine amerikanische Green Card zu ge- enjamin streicht gerade einen Schrank. ter wurde, je weiter er nach oben kam. Ewinnen gilt als Eintrittskarte zum BSylvia fürchtet sich auf dem Beifah- Vom Klischee des Gefühlsmenschen Brandt Glück. Als aber der Iraner Uschman Khan rersitz, während ihre Tochter Auto fahren lässt diese eindrucksvolle Bilanz einer un- die Arbeitserlaubnis für die USA erhält, übt. Anna muss noch mal umkehren, weil gewöhnlichen Vater-Sohn-Beziehung we- kommt es ihm vor wie eine Abschiebung. sie „Daddys“ Geburtstagsgeschenk ver- nig übrig. Einmal nennt der Autor seinen Seine Frau Farak wollte nach fünf Fehlge- gessen hat. David steckt zehn Tage vor der Vater einen „Durchlauferhitzer fremder burten Distanz, auch wenn sie das nie aus- Premiere in den Proben für seine neue gesprochen hat. Nun lebt Uschman Hauptrolle. Thomas beobachtet wieder allein in New York und verkauft mal den Flugzeugfriedhof vor seinem in einem Laden an der Madison Wohnwagen in der kalifornischen Wüste. Avenue jene Perserteppiche, die Fünf Momentaufnahmen, fünf Men- Farak ihm aus der Heimat schickt. schen, fünf Geschwister. Sie sind erwach- Uschman ist einsam, er kann sich sen, leben ihr Leben, haben sich einge- an den fremden Lebensstil nicht richtet, irgendwo zwischen Sehnen und gewöhnen und erst recht nicht mit Scheitern. Da erreicht sie die Nachricht, der Zerrüttung der Ehe abfinden. dass überraschend ihr 62-jähriger Vater ge- Deshalb ist er auch so abgestoßen storben ist. Unbestechlich und mit großer von seiner besten Kundin, der rei- Präzision betrachtet Tanja Dückers in chen, älteren Mrs Roberts, die mit ihrem sterbenden Mann in einer zu großen Wohnung lebt und sich mit den wertvollen Teppichen die Illu- sion einer schönen Zukunft geben will. Auch Uschman kann sich nicht aus seiner Lebenslüge befreien. Als seine Frau von einem anderen schwanger wird und sich scheiden lässt, fährt er zum Flughafen, um dort von ihrer Ankunft zu träumen. Zufällig lernt er die Studentin Stel- la kennen, die sich ihren Kommili- tonen unterlegen fühlt, weil sie noch Autorin Dückers nie mit einem Mann geschlafen hat. Versuchsanordnung mit Familie „Der Teppichhändler“, der Debüt- roman der Amerikanerin Meg Mul- ihrem neuen Roman „Der längste Tag des lins, 33, ist nicht nur eine aufschluss- Jahres“ die Lebenslagen und -lügen ihrer reiche Lektüre für Fans handge- Figuren, wie bei einer Versuchsanordnung. knüpfter Teppiche, sondern erzählt Indem die Autorin mit jedem der Ge- eine sehr eigenwillige Liebesge- schwister die Erzählperspektive wechselt,

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN schichte, die vom Abschied handelt: gelingt es ihr, jede ihrer Figuren gleicher- Lars, Willy, Peter Brandt (1961): Kühler Vater von der Illusion, dass man jemals maßen durch die mal kritischen, mal lie- nicht einsam sein könnte. Am bevollen Augen der jeweils anderen zu Empfindungen“. Trotz solch kritischer eindrucksvollsten ist dabei, wie die Auto- schildern und aus sich selbst sprechen zu Töne, zum Beispiel auch über manchen rin die Verlorenheit eines Ausländers in lassen. Kindheitserinnerungen wechseln außerehelichen „Blackout“ des Helden, der angeblich doch so weltoffenen, multi- mit oft schmerzhaften Einsichten der Er- zeichnet das Buch ein liebenswertes Vater- kulturellen Großstadt schildert. Dass es an wachsenen. Zusammengesetzt aus fünf bild – das menschlichste, das bisher von jeder Ecke eine Kebab-Bude gibt und auch hochaufgelösten Lebensbildern, beschleu- dieser großen, innerlich zerrissenen Per- genug Moscheen ist jedenfalls kein Mittel nigt durch die Dynamik des Todes, ent- sönlichkeit gezeichnet wurde. gegen Einsamkeit und Heimweh. steht eine faszinierende Porträtmontage. Mathias Schreiber Marianne Wellershoff Bettina Musall

Tanja Dückers Meg Mullins Der längste Tag Lars Brandt Der Teppichhändler des Jahres „Andenken“ Aus dem Englischen von Aufbau Verlag, Carl Hanser Verlag, Christiane Buchner. Berlin; 224 Seiten; München; Berlin Verlag, Berlin; 18,90 Euro 156 Seiten; 15,90 Euro 256 Seiten; 18 Euro

166 der spiegel 11/2006 Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik Sachbücher 1 (1) Daniel Kehlmann Die Vermessung 1 (1) Heiner Lauterbach der Welt Rowohlt; 19,90 Euro Nichts ausgelassen Droemer; 19,90 Euro

2 (5) Dan Brown Sakrileg 2 (2) Peter Hahne Schluss mit lustig Lübbe; 19,90 Euro Johannis; 9,95 Euro

3 (3) Eva-Maria Zurhorst 3 (2) Cecelia Ahern Zwischen Himmel Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro und Liebe W. Krüger; 16,90 Euro 4 (17) Harry G. Frankfurt Bullshit 4 (3) John Irving Bis ich dich finde Suhrkamp; 8 Euro Diogenes; 24,90 Euro 5 (5) Dietrich Grönemeyer 5 (4) Henning Mankell Kennedys Hirn Der kleine Medicus Rowohlt; 22,90 Euro Zsolnay; 24,90 Euro 6 (6) Corinne Hofmann Wiedersehen 6 (–) Bernhard Schlink Die Heimkehr in Barsaloi A 1; 19,80 Euro Diogenes; 19,90 Euro 7 (4) Lars Brandt Andenken 7 (9) Minette Walters Hanser; 15,90 Euro

Des Teufels Werk Goldmann; 19,95 Euro 8 (8) Eduard Augustin / Philipp von Keisenberg / Christian Zaschke 8 (7) Leonie Swann Glennkill Fußball Unser Goldmann; 17,90 Euro Süddeutsche Zeitung; 18 Euro 9 (6) François Lelord Hectors Reise 9 (9) Eric-Emmanuel Schmitt Piper; 16,90 Euro Mein Leben mit Mozart 10 (8) John Updike Landleben Ammann; 19,90 Euro

Rowohlt; 19,90 Euro 10 (11) Stephen Hawking / Leonard Mlodinow Die kürzeste 11 (10) Dan Brown Diabolus Geschichte der Zeit Rowohlt; 19,90 Euro Lübbe; 19,90 Euro 11 (7) Uwe Karstädt / Horst Janson 12 (–) Jürgen von der Lippe / Monika Das Dreieck des Lebens Cleves Sie und Er Titan; 24,80 Euro Eichborn; 12,95 Euro 12 (12) Christian Ankowitsch 13 (11) Joanne K. Rowling Harry Potter Dr. Ankowitschs Kleines und der Halbblutprinz Universal Handbuch Eichborn; 14,95 Euro Carlsen; 22,50 Euro 13 (–) Silvia Arroyo Camejo 14 (18) Simon Beckett Die Chemie Skurrile Quantenwelt des Todes Wunderlich; 19,90 Euro Springer; 29,95 Euro

15 (–) Ingrid Noll Ladylike 14 (15) Werner Tiki Küstenmacher / Diogenes; 19,90 Euro Lothar J. Seiwert Simplify your life Campus; 19,90 Euro 16 (12) Marc Levy Zurück zu dir 15 (18) Ben Schott Schotts Sammelsurium Knaur; 16,90 Euro Bloomsbury Berlin; 16 Euro 17 (15) Irene Dische 16 (13) Neil Strauss Die perfekte Masche Großmama packt aus – Bekenntnisse eines Aufreißers Hoffmann und Campe; 23 Euro List; 19,95 Euro

18 (16) Santo Cilauro / Tom Gleisner / 17 (16) Ben Schott Schotts Sammelsurium Rob Sitch Phaic Taˇn – Land Essen & Trinken Bloomsbury Berlin; 16 Euro des krampfhaften Lächelns 18 (19) Peter Wensierski Schläge im Heyne; 14,95 Euro Namen des Herrn DVA; 19,90 Euro

19 (–) Tanja Kinkel Venuswurf 19 (10) Maarten ’t Hart Mozart und ich Knaur; 19,90 Euro Piper; 19,90 Euro

20 (–) Wladimir Kaminer / Olga Kaminer 20 (–) Margit Schönberger Don’t worry, Küche totalitär Manhattan; 18 Euro be fifty Droemer; 14,90 Euro

der spiegel 11/2006 167 Thalheimer-Inszenierung von Büchners „Woyzeck“* KATRIN RIBBE KATRIN

Die Debatte ums moderne Regietheater ter“, aber auch von rühmlichen Ausnahmen berichtete. Der Beitrag spaltet das Feuilleton. Handelt es sich um eine schützenswerte Errun- löste eine heftige Diskussion aus. SPIEGEL-Autor Wolfgang Höbel, 43, genschaft oder bloß eine ästhetische Zumutung – eine krude Verherr- antwortet nun auf Lottmann und erkennt in dem Wunsch nach Sauber- lichung von Dreck, Elend und Chaos? In der vergangenen Woche keit, Ruhe und Sittsamkeit vor allem die Sehnsucht nach einer neuen legte der Schriftsteller Joachim Lottmann seinen Reisebericht durchs Bürgerlichkeit. Lebendiges, zeitnahes Theater muss, so Höbel, auch deutsche Theaterleben vor, in dem er vom vorgefundenen „Ekelthea- bisweilen schmutzig, laut und hässlich sein – aus guten Gründen.

THEATER Ausweitung der Schamzone Ein Plädoyer für die zeitgenössische Bühnenkunst. Von Wolfgang Höbel n Berlin fanden kürzlich ein paar Men- nenautor William Shakespeare, dessen blu- artikuliert: gegen die Zumutungen des mo- schen, es sei nun aber wirklich aller- tigstes Stück in „Schändung“ für unsere dernen Theaters, wo (so die Reizvokabeln) Ihöchste Zeit, dass sich jemand zur Wehr Zeit neu erzählt wird (SPIEGEL 44/2005). „Müll und Trash“, „Blut und Hoden“, setze gegen den Schmutz, den Lärm, vor al- Das Shakespeare-Original heißt „Titus „Gewalt und Sperma“ regierten. Herbei- lem aber die Gewalt auf der Theaterbühne. Andronicus“ und handelt fast ausschließ- gewünscht wird ein schmutzfreier Rück- „Schweine!“, brüllten die Protestierer lich von Machtgeilheit, Mordlust und Tot- zugsort fürs Wahre und Schöne der Kunst. während einer Vorstellung des Botho- schlagsraserei; es ist ein echt säuisches Dra- Nun ist es keineswegs neu, dass besorg- Strauß-Stücks „Schändung“ im Berliner En- ma über die Tiernatur des Menschen. te Menschen eine Rückbesinnung auf Sit- semble (BE) und: „Ihr geilt euch daran auf!“ „Ist unser Theater denn nur noch ver- te und Anstand in öffentlich subventio- Dann verließen die meisten der Erzürnten, saut?“, fragte in brennender Sorge jüngst nierten Theaterhäusern fordern, eine angeblich rund drei Dutzend, den Saal. An- die „Bild“-Zeitung den von einem Schau- Selbstbeschränkung der Bühnenkünstler lass der Empörung war eine Szene, in der spieler in einer Vorstellung attackierten auf mehr Textfrömmigkeit und traditio- eine junge Frau namens Lavinia vergewal- Chefkritiker der „Frankfurter Allgemei- nelle Mittel. Das Theater böte dann den tigt und verstümmelt wurde. nen“, Gerhard Stadelmaier – und zitiert Gegenentwurf zu einer Welt, in der wir Die gruselige Tortur der Lavinia, deren den Fachmann: „Dieses Müll- und Trash- dank einer ziemlich totalen Bilder- und In- Vergewaltiger ihr die Zunge abschneiden, Theater geht teilweise zu weit. Theater ist formationsversorgung täglich mit verstüm- hatte sich indes kein Regisseur und auch Phantasie. Blut muss nicht Sirup; Gier, melten Leibern und pornografischer Nackt- nicht der lebende Dichter Botho Strauß Pein und Sex müssen nicht Fleisch sein.“ heit konfrontiert sind; es könnte dienen ausgedacht, sondern der klassische Büh- Was geht zu weit? Wer legt die Grenzen als Stätte der Kontemplation, der zahmen des Erlaubten fest? Wer regelt die Auswei- Text- und Seelenbehandlung; es könnte * Mit Peter Moltzen, Peter Kurth, Norman Hacker und tung der Schamzone? Es ist eine merk- Trost und Erbauung spenden. Fragt sich Fritzi Haberlandt in Salzburg. würdige, erbitterte Abneigung, die sich da nur, was diese Idylle noch mit lebendiger

168 der spiegel 11/2006 Kultur

Aufführungen. Zu denen gehören (nur großartige Skandalinszenierungen wie Chris- zum Beispiel) die Inszenierungen von toph Marthalers „Wurzelfaust“ und Frank Michael Thalheimer, der mit großer Musi- Castorfs „Raststätte“ verantwortet; jetzt ist kalität, einer knappen, drastischen Bild- er Intendant der Münchner Kammerspiele, sprache und radikalen Textkürzungen eine deren Aufführungen wie Luk Percevals Theaterbeschleunigung betreibt, dank „Othello“ wieder von manchen Kritikern als der er in Hamburg und Berlin Stücke wie übles Sudeltheater beschimpft werden. Georg Büchners „Woyzeck“ und Goethes „Schon das Gerede darüber, dass Regis- „Faust“ in atemberaubende 90-Minuten- seure es heute angeblich immer auf Pro- Ereignisse verwandelt. vokation anlegen, ist Quatsch – kein Künst- Vollkommen anders, aber nicht weniger ler will das“, sagt Baumbauer. Einige der schlau, erschütternd und unterhaltsam ist Attacken auf das Gegenwartstheater fin- das Erzähltheater des Niederländers Johan det er „widerlich“, weil die Leser dieser Simons, der beispielsweise in München aus Polemik, die oft von weitgehend theater-

GERD ENGELSMANN / BERLINER ZEITUNG / PICTURE ALLIANCE / DPA ALLIANCE / PICTURE ZEITUNG / BERLINER GERD ENGELSMANN dem „Elementarteilchen“-Roman von Mi- abstinenten Moralisten stamme, „womög- Regisseur Thalheimer chel Houellebecq ein zartes, trauriglustiges lich denken, so sei das Theater wirklich“. Atemberaubende 90 Minuten Fest für zwei herausragende Schauspieler In einer Botschaft an die „lieben deut- (André Jung und Robert Hunger-Bühler) schen Theaterregisseure“ wettert jedenfalls Kunst zu tun hätte, die notwendig ein Spie- macht. Und auch der inszenierende Eigen- der „Bild“-Briefeschreiber Franz Josef gelbild ihrer Zeit ist, die von den Ängsten, brötler Armin Holz, den manche zum kon- Wagner: „Auf euren Bühnen wird geschis- Schrecken, Katastrophen der Gegenwart servativen Erlöser vom modernen Theater- sen, gefurzt, onaniert und Urin getrunken erzählen sollte und nicht nur museal aus- dreck verklären, zeigt in seinem jüngsten … Warum, frage ich mich, subventionieren stellen, was früher einmal war. Bochumer Oscar-Wilde-Streich mit „Ein wir die Theater, wenn doch jeder Porno- Woran liegt es, dass die Parolen der Thea- idealer Gatte“ nichts anderes als entschie- Shop das Gleiche bietet?“ tersaubermänner gerade jetzt ein bisschen denstes Regietheater und keineswegs puris- Anders als in Porno-Läden dient Sexua- dringlicher und zorniger formuliert werden tische Textklauberei: Er treibt Sebastian lität in einer heftig angegriffenen aktuellen als in den vergangenen Jahren? Es passt ganz Koch und den Rest eines tollen Ensembles Theaterinszenierung wie Martin KuΔejs In- gut zu einer neuen Sehnsucht nach neuer in ein bizarr gespreiztes Körperspiel, das terpretation des Ödön-von-Horváth-Stücks Bürgerlichkeit und besseren Manieren in der gerade Koch oft so aussehen lässt, als schö- „Zur schönen Aussicht“ im Hamburger bundesdeutschen Gesellschaft, die irgend- be er seinen Unterleib einen halben Meter Schauspielhaus nicht im mindesten der wie Schutz bieten sollen vor einer Realität vor seinem Restkörper her. Sehr komisch, Triebabfuhr, sie ist der reine Schrecken: der rücksichtslosen Globalisierung, brutaler steht so aber garantiert nicht im Text. Lauter Kriegsversehrte taumeln da durch Kriminalität und grausamer Attentate. „Menschen, die nicht mit der Zeit leben ein Hotel, das eine finstere Ruine ist; es Vermutlich ist es ganz nützlich, darüber und denken, spielen sich jetzt als Theater- sind vollkommen verrohte Menschen ei- zu diskutieren, was sich heute anfangen lässt Gralshüter auf“, sagt Frank Baumbauer. ner zusammengebrochenen Gesellschaft, mit den alten Bürgerwerten. Ganz sicher Baumbauer, ein freundlicher und gelassener die über ein Mädchen namens Christine gehört diese Diskussion, eben weil sie ein Mann mit einem grauweißen Schnauzbart herzufallen drohen; und es ist ein Zeichen Zeichen der Zeit ist, auch ins Theater. Es im Gesicht und etwas müden Augen, hat sich der Verkommenheit dieser Männer, dass wird aber so sein, dass man dort die Argu- in den achtziger Jahren als mente der neuen Sinnstifter nicht bloß Staatstheaterchef in Mün- fromm nachbetet, sondern auch munter auf chen legendären Ärger mit ihnen herumtrampelt und sie zum Vergnü- CSU-Politikern eingehandelt, gen des Publikums heiter zerlegt. weil seine Schauspieler auf Vergnügen, ja, denn das neuerdings so der Bühne Franz Josef Strauß gern beschimpfte moderne deutsche Re- verhöhnten; in den Neunzi- gietheater produziert durchaus jede Men- gern hat er als Schauspiel- ge hinreißende, komische, sinnliche, kluge hausdirektor in Hamburg

Castorf-Inszenierung*, Regisseur Castorf: „Einsamkeit und Schmerz“

einer von ihnen Urin in seinen Schlund kippt und ein anderer ausgiebig onaniert. Als atmosphärische Beschwörung einer Nachkriegshorrorwelt holt die Aufführung sehr exakt das zwischen den beiden Welt- kriegen entstandene Horváth-Stück in die Gegenwart Restjugoslawiens. Manche Bil- der erinnern auch an die Folter im iraki- schen Gefängnis Abu Ghureib. Als „Folter- und Quälmeister“ denunzie- ren Verächter des zeitgenössischen Regie-

* Bertolt Brechts „Im Dickicht der Städte“ mit Irina

CLAUDIA ESCH-KENKEL / DPA (L.); MAURICE WEISS / OSTKREUZ (O.) WEISS / OSTKREUZ (L.); MAURICE CLAUDIA ESCH-KENKEL / DPA Kastrinidis an der Berliner Volksbühne.

169 Kultur

Castorf, 54, lacht über solche Urteile. Kann er erklären, woher die stetig wie- derkehrende Wut aufs moderne Regietheater kommt? Es handle sich um „Stellvertreter- kriege, die nichts mit wirklicher Empörung zu tun haben oder mit echter Leidenschaft“. Er redet sich langsam warm. Die Debatte sage aber viel aus über den Zustand unseres Landes, seine „tumbe Vernarrtheit in die Gegenwart, seine Geschichtslosigkeit“. Jetzt ist er auf Betriebstemperatur. Manchmal bedauere er, dass Berlin Hauptstadt Deutsch- lands geworden sei, weil die Provinzialität der alten Bundesrepublik die Stadt erreicht habe. Man wolle die Anarchie, den Wildwuchs bekämpfen.

LEONARD ZUBLER (G.); THOMAS AURIN (K.) (G.); THOMAS ZUBLER LEONARD Also auch seine Arbeit. Simons-Inszenierung*, Regisseur Simons: Erschütternd und schlau „Herzlosigkeit und Spei- chelleckerei“ sieht Castorf bei theaters stets aufs Neue Regisseure wie drei Prozent aller deutschen den Anti-Regietheater-Agitato- KuΔej, was man getrost als Verniedlichung Theateraufführungen verstö- ren am Werk, aber verglichen echter menschlicher Bestialität werten darf. rende Bilder zeigen“, wie Frank mit den Pressionen gegen Es sei purer Sadismus, was den Zuschauern Baumbauer anmerkt. Vielleicht Künstler in der DDR sei das in den Theatersälen angetan werde. Und nur ist es auch sinnvoll, regelmäßig aktuelle Gezeter eine Lappalie. ganz wenige Mutige aus dem total ver- darüber aufzuklären, warum Zu DDR-Zeiten habe er eine schüchterten Publikum trauen sich offenbar der Vorwurf in die Irre geht, „Ästhetik des Trojanischen noch, wie jüngst der „Welt“-Autor Hellmuth Theaterregisseure verfolgten mit ihrer Ar- Pferdes“ entwickelt: Er habe die Texte von Karasek, über die „Belästigungen“ sowie die beit nur ihre privaten Obsessionen. Diese Goethe, Shakespeare und Heiner Müller „heuchlerisch sadistischen Erwartungen“ des Subjektivität, die Aneignung eines Stoffes genommen und darin etwas Vitales ver- „Theatervölkchens“ zu klagen. durch ein Regisseurs-Ich, ist der Kern der packt, etwas, das eingriff und angriff. Meh- Tatsächlich erwecken die Beleidigten Theaterkunst. rere seiner Arbeiten wurden in der DDR und Empörten gern den Eindruck, da sei Denn Inszenieren ist immer ein Akt schie- verboten. Jedes Verbot aber sei wie ein eine riesige Verschwörung im Gang, als rer Willkür, selbst bei ehemaligen Theater- Adelsschlag gewesen, es mache einen stär- hätte sich ein Haufen böswilliger Regis- wilden wie Peter Zadek und Peter Stein, die ker, „solange es einen nicht vernichtet“. seurinnen und Regisseure verabredet, um heute die Arbeit jüngerer Regisseure schmä- Er halte sich nicht für ein Vorbild oder den Zuschauer in Geiselhaft zu nehmen, hen: Jeder Regisseur tut dem Text, den er in- gar den Begründer einer Schule, sagt Cas- um ihn mit schlimmen Bildern, wüsten As- terpretiert, Gewalt an. Man kann deshalb torf. Aber er lasse sich seine Ästhetik und soziationen und dreisten Einfällen zu das Theaterspiel grundsätzlich ablehnen wie den Spaß nicht nehmen in diesem neuen malträtieren. Dabei tun die Theatermacher Aristoteles, der die Aufführung von Tragö- Deutschland, in dem das Kleinbürgertum nur ihre Arbeit: Sie interpretieren Texte, dien für ganz und gar überflüssig hielt, weil als einzig allumfassende Klasse herrsche. verwandeln sie in ein – manchmal magi- das Lesen der Texte vollkommen ausreiche, Demnächst geht Castorf mit der Volks- sches, manchmal läppisches – Spiel. um belehrt und geläutert zu werden (die bühne auf Gastspielreise nach Lateiname- Klar gibt es misslungenes, dummes, berühmte Katharsis eben). rika, wie er überhaupt schon seit Jahren scheußlich schlechtes Theater. Das ist Als schlimmster Gewalttäter des Re- den Ruhm des deutschen Regietheaters in gleichsam naturgegeben auf einem Markt, gietheaters unserer Zeit, als der große An- aller Welt verbreitet: Manchmal habe er auf dem eine „Schlägerei um die knappe stifter einer ganzen Generation von jüngeren sogar das Gefühl, dass die Menschen in Ressource Aufmerksamkeit“ stattfinde, Theatermachern wird häufig Frank Castorf São Paulo „besser als die deutschen Gries- wie der Frankfurter Theaterwissenschaftler angefeindet. Der Regisseur und Intendant grame“ verstehen, was er über die Sinn- Hans-Thies Lehmann in einem Essay der Berliner Volksbühne ist in gewisser Wei- lichkeit, die Einsamkeit, den Schmerz des schreibt. Zugleich gibt er zu bedenken: se tatsächlich an allem schuld. 1989 kam er Menschen erzählen wolle. „Brave Inszenierungen dürften mehr Tex- aus dem deutschen Osten, der damals noch Und er erklärt, dass es in seiner Regie- te ins sichere Vergessen versenkt haben als DDR hieß, und hat das gesamtdeutsche arbeit eine „Grundspielregel“ gebe. Man skandalöse Regie-Untaten.“ Stadttheater revolutioniert. Er ließ einen könne nicht polemisch eingreifen in das Übrigens erweist sich jenes Publikum, Hamlet aus dem Kühlschrank klettern, seine öffentliche Bewusstsein und sich dann be- das angeblich von mutwilligen Menschen- Schauspieler auf Kartoffelsalat rutschen und schweren, wenn jemand zum Gegenangriff quälern und Verschwörern drangsaliert sie munter aus ihren Rollen hüpfen. „Zer- übergeht. „Wer den Boxring betritt, muss wird, als ziemlich leidensfähig. Um die 20 trümmerung“ nannte man das damals. mit Schlägen des Gegners rechnen.“ Millionen Besucher zählten die Statistiker Nun sitzt Castorf in seinem Intendanten- Die Wutanfälle und Fausthiebe der fast konstant in den vergangenen Jahren büro unter einem Propagandaposter, das Theater-Reaktionäre gehen also in Ord- in öffentlich subventionierten deutschen den Genossen Stalin zeigt. Der Diktator als nung. Anlass zum Protest gibt es übrigens Theatern, noch mal über 10 Millionen amü- Friedensfürst, dem ein kleines Mädchen schon ein bisschen länger. Im 18. Jahrhun- sierten sich in privaten Theaterhäusern. Blumen reicht. Castorf trägt eine beige Adi- dert führten dreiste Regisseure Shake- Vielleicht muss man geduldig immer dasjacke mit roten Streifen, Jeans und Turn- speares Liebestragödie „Romeo und Julia“ aufs Neue sagen, dass allenfalls „zwei oder schuhe. Er sieht fit und kampflustig aus. als heiteren Schmachtfetzen auf – indem Seine jüngste Inszenierung, Brechts „Im sie dem Stück ein Happy End verpassten. Dickicht der Städte“, haben viele Kritiker Nicht um zu provozieren. Ein großer Teil * Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“ mit André Jung, Chris Nietvelt und Robert Hunger-Bühler an den verrissen. Zu mild und voll von Selbstzita- der Zuschauer sehnte sich nur schon da- Münchner Kammerspielen. ten sei der Abend geraten. Ein Alterswerk. mals nach einer schönen, heilen Welt. ™

170 der spiegel 11/2006 Stars Lane, Thurman in „The Producers“ „Hitler den heiligen Ernst nehmen“

im KZ Komik zu finden versucht. Er zeigt die Baracken, in denen Juden wie Vieh ge- halten werden, und reißt dabei Witze. Die Philosophie des Films ist: Der Mensch kommt über alles hinweg. Nein, kommt er nicht. Nicht über das KZ. SPIEGEL: Aber der Film hat doch viele Men- schen tief bewegt. Brooks: Ich habe mich immer nur gefragt: Sag mal, Roberto, bist du meschugge? Du hast schließlich keine Verwandten im Ho- locaust verloren, bist nicht einmal Jude. Du verstehst doch gar nicht, worum es geht. Die Amerikaner waren unglaublich beglückt, von ihm zu erfahren, dass es im KZ gar nicht so schlimm war. Und deshalb

VISUAL / ACTION PRESS / ACTION VISUAL haben sie ihm gleich einen Oscar in die Hand gedrückt. SPIEGEL: Es gibt also Grenzen des Humors? KINO Brooks: Unbedingt. Ich habe 1974 die Wes- ternparodie „Is’ was, Sheriff?“ gedreht, in der ständig das Wort „Nigger“ fällt. Doch „Den Führer zurechtstutzen“ ich wäre nicht im Traum auf die Idee ge- kommen zu zeigen, wie ein Schwarzer ge- Der jüdische Hollywood-Komiker Mel Brooks lyncht wird. Komisch ist es doch nur, wenn er dem Galgen entkommt. Über Hitler darf über Hitler als komische Figur, die Grenzen des Humors man sich lustig machen, weil man ihn so und seinen neuen Film „The Producers“ am besten auf Normalmaß zurechtstutzen kann. Ende der sechziger Jahre drehte der in in denen stand: Wie können Sie bloß SPIEGEL: Kann man sich auch durch Komik Brooklyn geborene Brooks erstmals die Scherze mit Hitler treiben? Der Mann hat an ihm rächen? Komödie „The Producers“ (deutscher sechs Millionen Juden ermorden lassen. Brooks: Ja, durchaus. Allerdings ist es un- Titel: „Frühling für Hitler“) um einen Doch in „Frühling für Hitler“ geht es ja möglich, Rache für sechs Millionen er- Broadway-Produzenten, der mit einem nicht um die Konzentrationslager und mordete Juden zu nehmen. Aber wir kön- schlechten Musical über Adolf Hitler nicht um den Holocaust. nen mit den Mitteln der Komödie versu- einen ungeahnten Erfolg feiert. Eine SPIEGEL: Kann man Hitler vom Holocaust chen, Hitler seiner posthumen Macht und Bühnenversion des Films läuft seit 2001 trennen? Mythen zu berauben. Dabei dürfen wir es überaus erfolgreich am Broadway und Brooks: Man muss es trennen. Ich habe uns aber auf keinen Fall zu leicht machen. wurde nun unter der Regie von Susan mich zum Beispiel maßlos über Roberto Denn Hitler hatte einige Talente. Er konn- Stroman erneut für die Leinwand adap- Benignis Komödie „Das Leben ist schön“ te einem ganzen Volk vormachen, sein tiert. Brooks, 79, produzierte den mit Na- geärgert. Ein bekloppter Film, der sogar Führer zu sein. Dabei war ihm diese Rolle than Lane, Matthew Broderick und Uma im Grunde ein paar Nummern zu groß – Thurman in den Hauptrollen besetzten doch dieses Manko hat er einfach über- Film, der diese Woche in die deutschen spielt. Kinos kommt. SPIEGEL: War er ein guter Schauspieler? Brooks: Ja, denn er hat viele Millionen SPIEGEL: Mr Brooks, fast alle Schurken in Deutsche überzeugt. Nicht umsonst dre- Ihren Filmen tragen einen Schnauzbart. Ist hen sich Komödien über Hitler oft um das der lange Schatten Hitlers? Schauspieler, die ihn darstellen sollen. Brooks: Von wegen! Auf der Leinwand tru- Denken Sie nur an Charlie Chaplins „Der gen die Schurken schon einen Schnauzer, große Diktator“ (1940) oder an Ernst als Hitler noch in kurzen Hosen rumlief. Lubitschs „Sein oder Nichtsein“ (1942). Kino-Bösewichter brauchen vor allem des- Keine Frage, Hitler war in der gleichen halb einen Bart, um ihn genüsslich zwirbeln Branche tätig wie wir: Er hat Illusionen zu können, während sie einen fiesen Plan geschaffen. aushecken. Dazu hätte es bei Hitler mit SPIEGEL: Der „Titanic“-Regisseur James seiner abgebrochenen Bürste nie gereicht. Cameron hat Hitler 2002 in einem Doku- SPIEGEL: In „The Producers“ zeigen Sie ei- mentarfilm über den Untergang des deut- nen tanzenden und singenden Hitler. Wie schen Schlachtschiffs „Bismarck“ als den haben die Zuschauer 1968 reagiert, als die „ultimativen Rockstar seiner Zeit“ be- erste Filmversion ins Kino kam? zeichnet. Brooks: Vor allem die Juden waren ent- Brooks: Da ist was Wahres dran. Hitler setzt. Ich bekam erbitterte Protestbriefe, muss eine magnetische Anziehungskraft

CINETEXT besessen haben, wie ein Rockstar konnte * Mit „The Producers“-Stars Matthew Broderick, Nathan Komiker Brooks (M.)* er mit seiner Stimme Zigtausende Zuhörer Lane am 9. Januar auf dem Walk of Fame in Los Angeles. „Rampensau der Weltgeschichte“ in seinen Bann ziehen. Da ist es nur kon-

172 der spiegel 11/2006 Kultur sequent, wenn wir Komiker ihn zur Ram- pensau der Weltgeschichte machen. Wir nehmen ihm den heiligen Ernst, von dem er immer noch umgeben ist. SPIEGEL: Sie haben selbst 1945 in Europa gegen die Nazis gekämpft, kamen unmit- telbar nach Kriegsende nach Berlin und blieben acht Monate dort. War von einer Hitler-Verehrung noch viel zu spüren? Brooks: Es herrschte allerorten große Er- leichterung, dass der Krieg endlich vorbei war. Ich selbst war erschüttert über das Ausmaß der Zerstörung. Die meisten Deutschen, die den Krieg überlebt hatten, waren einfach arme Schweine. Wird der Nationalsozialismus eigentlich an deut- schen Schulen behandelt? SPIEGEL: Ja, recht ausführlich. Brooks: Das ist beruhigend. Wenn man als Jude nach Berlin kommt, hat man ein mul- miges Gefühl, doch ich habe mich dort immer wohl gefühlt. Dort habe ich auch Brechts und Weills „Dreigroschenoper“ gesehen und war völlig aus dem Häuschen über diese Art des Musiktheaters. SPIEGEL: Haben Sie Oliver Hirschbiegels Film „Der Untergang“ gesehen? Brooks: Ja, und ich fand ihn großartig. Er zeigt uns Hitlers Selbstdemontage. Während Hitler von Goebbels angehim- melt wird wie der neue Christus, zerfällt er vor unseren Augen – und um dies zu ver- anschaulichen, reicht eine Einstellung auf seine zitternde Hand. SPIEGEL: Vermenschlicht der Film Hitler nicht zu sehr? Brooks: Nein, er weckt für Hitler nicht das geringste Mitleid. Er zeigt einen Mann, der dem Wahnsinn verfallen ist. Dabei hatte er auch nur als kleines, unschuldiges Baby angefangen. Seine monströse Fratze wirkt umso erschreckender, wenn man die kärg- lichen Überreste seiner Menschlichkeit noch spürt. SPIEGEL: Hatte Hitler Humor? Hätten Sie es geschafft, ihn zum Lachen zu bringen? Brooks: Ich leide ja nicht an Größenwahn. Hitler hat sich bestimmt nie auf die Schen- kel geschlagen und gerufen: „Was für ein phantastischer Spaß!“ Wenn er etwas lustig fand, dürfte es bei ihm wohl höchstens zu einem Zucken im Mundwinkel gereicht haben. SPIEGEL: Sie selbst haben Hitler in Ihrem Remake des Films „Sein oder Nichtsein“ gespielt … Brooks: … und ich hatte ihm in einer Ge- sangsnummer in „Frühling für Hitler“ be- reits meine Stimme geliehen. SPIEGEL: Was bedeutet es für einen Juden, in die Haut seines größten Feindes zu schlüpfen? Brooks: Es ist eine umgekehrte Macht- ergreifung. Viele Jahre lang war Hitler der mächtigste Mann der Welt und hätte uns fast vernichtet. Diese Macht zu besitzen und sie gegen ihn zu wenden – das ist ein- fach zu verlockend. Interview: Lars-Olav Beier der spiegel 11/2006 173 Medien Trends

FERNSEHEN Singen für den Sender enig Erfolg hat der TV-Konzern WProSiebenSat.1 mit dem Versuch, sein Fernsehprogramm mit einem eigenen Plattenlabel auch musikalisch zu vermarkten. So scheiterten die Fern- sehmacher damit, Annett Louisan als Sängerin für den Titelsong der neuen ProSieben-Telenovela „Lotta in Love“ für das neue hauseigene Label Starwatch Music zu gewinnen. Die Popsängerin ist an den Musikkonzern Sony BMG gebunden. Dort weigerte man sich vehe- ment, Louisan woanders veröffentlichen zu lassen: „Wir sind doch nicht verrückt und unterstützen die Konkurrenz“, heißt es bei Sony BMG. In der Vergan- genheit war die Verbindung aus Pop und Fernsehen durchaus erfolgreich: Melanie

KIRSTEN NEUMANN / DDP NEUMANN KIRSTEN C. landete mit dem Titelsong für die WAZ-Zentrale in Essen ZDF-Serie „Julia – Wege zum Glück“ ebenso einen Hit wie Nena, die für die PRESSE Telenovela „Verliebt in Berlin“ von Sat.1 sang. Die TV-Manager holten sich auch beim Plattenkonzern Universal einen WAZ entwickelt Gratiszeitung Korb: Dort wollte der TV-Konzern die er Essener Zeitungskonzern WAZ Verlage wie M. DuMont Schauberg oder Dentwickelt eine eigene Gratiszei- Axel Springer, die ebenfalls auf die Be- tung. Mit dem Projekt ist eine Arbeits- drohung aus Skandinavien reagieren gruppe unter der Leitung der Chef- wollen. „Wir möchten zeigen, dass wir redaktion der „WAZ“ betraut, bestätigen das allein können“, heißt es in Essen. Beteiligte. Der Zeitungskonzern reagiert Die Gratiszeitung sei auch nur für das damit auf Pläne skandinavischer Ver- bisherige Verbreitungsgebiet der „WAZ“ leger wie Schibsted und Metro, die be- im Ruhrgebiet gedacht und nicht für reits in mehreren europäischen Ländern andere Regionen oder Großstädte. Ent- erfolgreich Gratiszeitungen verlegen sprechend groß soll die Nähe des Gra-

und auch auf den deutschen Markt tisablegers zum Mutterblatt sein. Als PROSIEBEN drängen. Das Essener Projekt wird of- Vorbild dient dabei offenbar unter an- Szene aus „Lotta in Love“ fenbar stark vom neuen „WAZ“-Chef- derem die „Welt kompakt“, eine klein- redakteur Ulrich Reitz vorangetrieben: formatige Ausgabe der Tageszeitung Band Rosenstolz als Alternative zu Loui- „Mit dem weht ein frischer Wind“, „Die Welt“. Ob die WAZ-Gratiszeitung san gewinnen. Auf weitere Absagen heißt es aus der Redaktion. Die WAZ- allerdings erscheint, ist noch nicht ent- mögen es die TV-Manager nicht mehr Entwicklung steht nicht im Zusammen- schieden: „Wir sind aber auf jeden Fall ankommen lassen: Nun singt zwar doch hang mit Projekten anderer deutscher vorbereitet“, heißt es im Konzern. Louisan den Titelsong – allerdings wird er bei Sony BMG veröffentlicht.

SCHLEICHWERBUNG Schleichwerbeskandal und war im vergangenen Jahr von der Bavaria Produzent darf nicht geschasst worden, weil er Unternehmen wie das Reisebüro L’tur im „Marien- gefeuert werden hof“ platziert hatte. Die Firmen revan- chierten sich mit viel Geld bei der u Unrecht feuerte die TV-Produk- Produktionsgesellschaft Bavaria. Das Ztionsgesellschaft Bavaria den in den Arbeitsgericht erklärte die Kündigung Schleichwerbeskandal verwickelten des Produzenten für unwirksam, da Produzenten der ARD-Vorabendserie Bechtle offensichtlich auf Wunsch der „Marienhof“, Stephan Bechtle. Dies Geschäftsführung der Bavaria gehandelt stellte Ende vergangener Woche das habe. Bechtle will nun erreichen, dass Arbeitsgericht München in der münd- er wieder eingestellt wird. Ein end-

RALF SUCCO / ACTION PRESS SUCCO / ACTION RALF lichen Verhandlung fest. Bechtle gilt gültiges schriftliches Urteil wird erst im Bechtle als einer der Protagonisten im ARD- Juni erwartet.

174 der spiegel 11/2006 Medien Fernsehen TV-Vorschau Preuß) lehnt ihre kopftuchtragende Der Mann im Strom Türkisch für Anfänger Neuschwester Yagmur (Pegah Ferydoni) ab, weil die Muslimin durch unerbitt- Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Dienstag, 18.50 Uhr, ARD liches Beten nervt. Neubruder Cem Man muss schon sehr genau hingu- Ganz was Gutes: eine Vorabendserie (Elyas M’Barek) geriert sich als Türken- cken, um zu erkennen, dass die Vor- voller Witz, Charme und Ernst. Die Macho. Autor Bora Dagtekin, 27, ver- lage zu dieser Geschichte Jahrzehnte Psychotherapeutin Doris (Anna Stieb- steht sich auf Herz und Ironie. Humor- alt ist. Der Schriftsteller Siegfried Lenz lose Fundamentalisten-Reaktionen sind schrieb 1957 den Roman vom alleiner- zu befürchten, aber zu ignorieren. ziehenden Hafentaucher Hinrichs (Jan Fedder), der seine Papiere fälscht, sich Göring – Eine Karriere jünger macht, um eine Anstellung zu finden. Regisseur Lothar Kurzawa hat Dienstag, 20.15 Uhr, ZDF den Stoff geschickt modernisiert. Fed- Kodakbunt, wohlbeleibt, geradezu lach- der und Peter Kurth, der den Kumpel haft verkleidet als „Reichsjägermeister“ Kuddel spielt, zeichnen sich durch und „Reichsmarschall“, gleitet Obernazi wortkarge, aber glaubhafte Präsenz Hermann Göring in diesem dreitei- aus. Nur wenn das Arbeitermilieu ge- ligen Porträt von Jörg Müllner durchs schildert wird, merkt man dem Stoff Bild. Der Autor hat bisher unbekannte sein Alter an. 16-mm-Filme aus den Jahren 1935 bis 1938 aufgetan, den hochdramatischen Im Bordell geboren Kommentarton der Guido-Knopp-Werk- Sonntag, 21.15 Uhr, 3sat HARDY SPITZ / ARD SPITZ HARDY statt aber leider nicht immer vermieden. Preuß, M’Barek in „Türkisch …“ Im Rotlichtviertel von Kalkutta, wo Heiratsschwindlerin Kinder Geld eintreiben, Zuhälter ihre lich), mit ihrer gusseisernen alterna- mit Liebeskummer Prostituierten zur Strafe anzünden tiven Öko-Moral hoffnungslos hinter und Kleinkinder angekettet sind, dem Zeitgeist, beschließt, mit dem Dienstag, 20.15 Uhr, Sat.1 türkischen Kripo-Kommissar Metin Man kennt die Darstellerin Ann-Kathrin (Adnan Maral) zusammenzuziehen. Kramer als melancholisch-verschlossene Die Frau hat ihre Liebesentscheidung Kommissarin. In dieser Geschichte von ohne die Kinder, ihre eigenen und die der gutherzigen Heiratsschwindlerin, die von Metin, getroffen. Wo Toleranz Kramer mit Erwin Keusch geschrieben wachsen soll, gedeihen (zunächst) hat (Regie: Mark Schlichter), präsentiert Ablehnung und Vorurteil. Die Doris- sich die Blondine ungewohnt expressiv Tochter Lena (großartig: Josefine und tut des Guten fast zu viel. TV-Rückblick Leben sei ein uralter Menschheits- traum. Meiner nicht, denken da viele,

Joachim Bublath und entlarven die Behauptung des NDR Films als journalistische Phrase. Die Szene aus „Im Bordell geboren“ 8. März, ZDF Sache funktioniert ja zum Glück auch Im Rausch der rasenden Hochglanz- nicht. Kein Schockgefrieren, keine dachte kaum jemand ans Knipsen – bildmontagen ging unter, worüber sich kalte Salzlösung in den Adern, keine bis die New Yorker Fotografin Zana nachzudenken lohnt. Flink und noch so geschickte Kopiertechnik Briski kam. Sie drückte den Kindern flach behauptete die Sendung, die der zur Schaffung von Klonen können des Viertels Kleinbildkameras in die verdiente Wissenschaftsjournalist die Macht des Todes überwinden, Hand, damit diese ihren Alltag selbst Joachim Bublath moderierte, das ewige zeigte Bublath. Lebensverlängerung dokumentieren konnten. Tiefbewe- sei nur mit Unterstützung gend und elegant wie eine gute Foto- der evolutionären Auswahl reportage erzählt der Dokumentarfilm zu erreichen, indem sich von Briski und Ross Kauffman die Ge- Langlebende an der Zeugungs- schichte eines Erfolgs: Die ausdrucks- front durchsetzen. So lernte starken Fotos der 10- bis 14-Jährigen der Zuschauer „Methusalem- werden bei Sotheby’s versteigert, ge- Fliegen“ kennen, Summse- langen in den Kalender von Amnesty männer und -frauen, die im International, und der 12-jährige Avijit Labor durch die Zuchtwahl wird zum Kongress der World Press der Forscher erfolgreich auf Photo Foundation nach Amsterdam hohes Alter abgerichtet wer- eingeladen. Der Film über Kalkuttas den. Das geht nach und nach, Armut aus der Perspektive der Kinder braucht aber Geduld, und – erhielt im vergangenen Jahr den Oscar

TOBIAS SCHULTES; KERSTING JOHÄNNER / ZDF KERSTING SCHULTES; TOBIAS natürlich – schafft kein ewiges für die beste Dokumentation. Montage aus „Joachim Bublath: Das ewige Leben“ Leben.

176 der spiegel 11/2006 Medien

Popstars Tokio Hotel, Mariah Carey (bei der Grammy-Verleihung): Neuer Optimismus in der Industrie

INTERNET Ausgetauscht Illegale Online-Tauschbörsen galten jahrelang als existentielle Bedrohung der gesamten Musikindustrie. Doch ein US-Gerichtsurteil, professionelle Piratenjäger und die Erfolge neuer legaler Angebote wie iTunes sorgen dafür, dass immer mehr Anbieter entnervt aufgeben wollen.

ayne Rosso ist eine dieser typi- Jahr noch kaum jemand für möglich ge- war das US-Filmstudio MGM. Der Be- schen Erscheinungen, die das halten hatte. klagte: Rossos Tauschbörse Grokster. WShowgeschäft immer nur von Einst war Rosso Chef der Online-Tausch- Es wurde eine vernichtende Niederlage der Seitenlinie aus verfolgt haben, aber börse Grokster, einer Nachfolgerin der le- für Grokster, denn die Richter entschieden, trotzdem stets den großen Auftritt pflegen. gendären Internet-Plattform Napster, nur dass nicht wie bisher nur die Nutzer der In den siebziger Jahren war er mal PR- größer und besser. Millionen Internet-Sur- Tauschbörsen für das illegale Herunter- Manager der legendären Punkband Sex fer tauschten dort täglich Filme, Dateien laden von Musik und Filmen zur Verant- Pistols. Nun stellt er sich vor und sagt: „Ich und vor allem Musik – illegal und ohne wortung gezogen werden können. Künftig bin der Johnny Rotten der Internet-Tausch- dafür zu bezahlen. soll es auch die Unternehmen treffen, die börsen.“ Nun ist Rosso Chef der Online-Börse die Software für die Tauschbörsen ent- Rosso hat eigentlich wenig mit dem Sex- Mashboxx, wo bald Millionen Internet- wickeln und vertreiben. Pistols-Sänger gemein. Aber was er ge- Surfer Musik tauschen sollen – legal, mit Seitdem ist Schluss mit lustig: Weltweit nauso gut kann wie Rotten, ist, die Musik- Unterstützung der großen Musikkonzerne macht nun eine nach der anderen der industrie zu beschimpfen. Dann redet er und gegen Bezahlung. Vom Feind Num- führenden Tauschbörsen dicht oder sucht von den „ganzen Schleimscheißern der mer eins der Branche ist er zu ihrem neu- die Zusammenarbeit mit der Musik- und Plattenbranche“. Vor ihm sitzen in einem en besten Freund geworden. Filmindustrie. Grokster ist schon weg, großen Konferenzraum lauter Plattenma- Den größten Anteil an dieser Verwand- Limewire und Edonkey wollen demnächst nager, die ihn als Redner eingeladen ha- lung haben die amerikanischen Verfas- aufgeben, Kazaa ist ein hoffnungsloser Fall, ben. Sie tragen die Publikumsbeschimp- sungsrichter. Im vergangenen Sommer Bittorent hat bereits öffentlich der Illegalität fung mit Fassung. fällte der Supreme Court ein Urteil, das abgeschworen. Schließlich ist ausgerechnet der dicke, mittlerweile als wichtigste Entscheidung Und deswegen projiziert nun ausge- fluchende Mann dort vorn am Rednerpult für die Unterhaltungsindustrie in Ur- rechnet der ehemalige Tauschbörsen-Chef ein Symbol für den Wandel, den vor einem heberrechtsfragen überhaupt gilt. Kläger Rosso gleich zu Beginn seines Vortrages

178 der spiegel 11/2006 Deutschland zwar vier Prozent aller Inter- net-Nutzer illegal Musik herunterladen, aber schon fünf Prozent in ebenso beque- men wie legalen Online-Shops wie iTunes oder Musicload einkaufen. Nur die Internet-Piraten sind schwer zu überzeugen. „Daran müssen wir arbeiten“, sagt Kennedy. Und deswegen arbeiten die Musikkonzerne nun mit Leuten wie Rosso zusammen: Sie sollen aus den beliebten illegalen Tauschbörsen ebenso beliebte legale machen – und damit die Millionen von Nutzern als zahlende Kunden für die Musikindustrie erschließen. Das System würde das Gleiche bleiben: Die Benutzer neuer Plattformen wie Ros- sos Mashboxx oder Imesh können gegen- seitig in ihren virtuellen Bibliotheken stö- bern und Songs tauschen – allerdings künf- tig gegen Bezahlung und ohne Angst vor Haftstrafen. Auch die Zusammenarbeit zwischen Diensten wie Mashboxx und den Platten- firmen ist dabei ein Tauschgeschäft: Die Musikkonzerne stellen ihre Songs zur Ver- fügung, die legalen Tauschbörsen sollen dafür die Nutzer der dichtgemachten Pira- tenplattformen einfangen. Die komplizier- te Software dafür wird ausgerechnet von

KIRSTEN BORCHARD / PUBLICAD (L.); BORCHARD / PUBLICAD KIRSTEN (R.) GETTY IMAGES Shawn Fanning geliefert, dem Gründer der Ur-Börse Napster und lange die wichtigste eine Folie an die Wand: „Was ist der aktu- ein paar Meter vom Piccadilly Circus, Hassfigur jedes Plattenmanagers. Es ist, als elle Zustand der Online-Tauschbörsen?“, schlägt das Herz seiner Konterrevolution würde der Pate nun mit vollem Einsatz steht da. Seine Antwort: „Es ist vorbei!“ gegen die kostenlose Online-Welt. eine FBI-Arbeitsgruppe leiten. Die Plattenmanager applaudieren. Hier beginnen die Verfahren, die die Aber der Musikindustrie ist derzeit alles In der Musikindustrie ist ein neuer Op- Tauschbörsenmacher zermürben. Von hier recht, Hauptsache sie kommt an bisher timismus ausgebrochen, der noch vor kur- werden die Klagen koordiniert, mit denen unerreichte Zielgruppen: Bis zu 50 Pro- zem unmöglich schien. Jahrelang jammer- weltweit Tausende Internet-Nutzer über- zent der Tauschbörsennutzer, so glauben ten die Branchengrößen über den offenbar zogen werden. Kennedy kennt die Zahlen. Marktforscher, könnten sich für die neuen aussichtslosen Kampf gegen die Internet- Er weiß, dass im Januar noch 885 Millio- legalen Angebote interessieren. Wie viele Piraterie. Doch nun schlagen die Platten- nen Songs in Tauschbörsen angeboten sich am Ende von einem Wechsel über- bosse plötzlich andere Töne an. wurden, deutlich weniger als die 1,1 Mil- zeugen lassen, bleibt äußerst fraglich. „Nach fünf Jahren haben wir das Pro- liarden Mitte 2003, obwohl sich die Zahl Für viele Internet-Piraten geht es beim blem endlich in den Griff bekommen“, ju- der schnellen Breitbandanschlüsse seither kostenlosen Musikgenuss auch ums Prin- belt etwa Eric Nicoli, Chef des Musikriesen mehr als verdoppelt hat. Er weiß, dass in zip: Künstler sind ohnehin alle Millionäre, EMI. Der Verband der Musikindustrie ver- kündet: „Jetzt ist das Momentum auf un- serer Seite.“ Und für das Nachrichtenma- gazin „Newsweek“ ist der Kampf um die Vorherrschaft im Internet bereits entschie- den: „Die Musikkonzerne gewinnen.“ Nur: Ist dieser Optimismus wirklich ge- rechtfertigt? Wurden zuletzt nicht noch im- mer monatlich fast eine Milliarde illegale Downloads und angeblich bis zu neun Mil- lionen tägliche Nutzer von Online-Tausch- börsen gezählt? Und wandern die Nutzer dichtgemachter Tauschbörsen nicht ein- fach zu neuen Orten im Internet ab, um sich weiter kostenlos Musik zu holen? „Na ja“, antwortet John Kennedy auf solche Fragen, „ganz werden wir die Pira- terie sicher nie in den Griff bekommen. Aber wir wollen ja auch nur aus einer existenzgefährdenden Massenbewegung ein erträgliches Ärgernis machen.“ Ken- nedy ist Chef des Weltverbandes der Mu-

sikindustrie IFPI. Hier, in einem kolonialen JOCHEN TACK Prachtbau im Zentrum von London, nur Werbung für den MP3-Player iPod: 99 Cent pro Song

der spiegel 11/2006 179 38,5 Medien

CDs viel zu teuer und Plat- schon, sagt Klein. Dafür sind tenbosse skrupellose Ab- 34,5 Musikladen Internet in der Musikindustrie Profis zocker. Warum also ein wie Clemens Rasch zustän- schlechtes Gewissen haben, 32,0 verfügbare, illegale Musik- dig, Anwalt und Geschäfts- wenn man für Musik nicht 31,0 1800 dateien, in Millionen 180 führer der Firma Promedia bezahlt? 1600 Internet-Breitband- 160 mit dem vielsagenden Un- Deswegen sind die Ma- tertitel „Gesellschaft zum 1400 anschlüsse 140 cher der Tauschbörsen für in Millionen Schutz geistigen Eigentums“. viele Musikfans auch immer Weltmusikmarkt 1200 120 Rasch ist der Chef-Pira- noch so etwas wie die Robin Umsatz mit Tonträgern tenjäger der deutschen Mu- in Milliarden Dollar 1000 100 Hoods der Datenwelt. Nur sikindustrie. In seinen Ham- ist das eine grandiose Fehl- 800 80 burger Büroräumen stapeln einschätzung. Auch den ver- 600 60 sich beschlagnahmte Raub- meintlichen Helden geht es 400 40 kopien und Computer-Fest- vor allem ums Geld. platten. „Wir wollen nicht Da ist zum Beispiel Sam 200 alle Angaben weltweit 20 ganz Deutschland verkla- Quelle: IFPI Yagan, 28, Chef des po- 0 0 gen“, sagt Rasch. „Es soll nur pulären Tauschrings Edon- 2005 Jan. Juni Jan. Juni Jan. Juni Jan. klar sein, dass es für jeden 1999 2001 2003 2002 2003 2004 2004 2005 2005 2006 key und „ganz bestimmt we- geschätzt ein Risiko gibt, erwischt zu der Robin Hood noch Anar- werden.“ chist“. Seine erste Internet-Firma hat er allem durch das Geschäft mit erfolgreichen Und erwischen kann es tatsächlich so noch in seiner Studentenbude in Harvard Online-Shops wie iTunes. ziemlich jeden, denn die Jäger machen gegründet und 2001 für 3,8 Millionen Dollar Mit 44,6 Millionen Pfund sind das aber nichts anderes als die Piraten auch: Sie sur- verkauft. Seitdem betreibt er Edonkey. Die trotzdem bislang nur 5 Prozent vom EMI- fen in den Tauschbörsen und suchen nach Motive sind die Gleichen: „Es geht ums Umsatz. „In fünf Jahren werden es 25 Pro- bestimmten Musiktiteln. „Song ist nämlich Geschäft.“ Darin liegt aber auch sein Pro- zent sein, daran glaube ich fest.“ Weltweit nicht gleich Song“, erklärt Rasch. „Es blem: „Das hier ist kein Geschäft mehr.“ gibt es inzwischen fast 350 Online-Musik- macht einen großen Unterschied, ob ein Ti- Seit der Entscheidung des US-Verfas- läden. Einzelne Songs kosten meist rund tel in den Top Ten ist oder eine 20 Jahre alte sungsgerichts sucht auch Yagan nur noch einen Euro. Bei iTunes liegt der Hit-Preis Nummer von irgendeiner dubiosen Band.“ nach einem möglichst gewinnbringenden bei 99 Cent, ein Album gibt’s meist für 9,99 Deswegen bekommt er ständig neue Lis- Ausweg. „Schauen Sie sich doch um“, sagt Euro. Rund 70 Prozent der Umsätze blei- ten von den Plattenkonzernen mit aktuel- er, „wir können es uns nicht leisten, uns ben bei den Plattenfirmen hängen. Und zu len Musiktiteln, nach denen die Ermittler auf juristische Auseinandersetzungen ein- deren Freude drängen nun auch die Inter- dann in den Tauschbörsen suchen. Rund zulassen, nur um Zeit zu gewinnen.“ net-Schwergewichte Yahoo, Google und ein Dutzend Ermittler wühlt sich täglich Die zeitweilig populärste Tauschbörse Amazon auf den Markt. durchs Netz, jeder schafft knapp zehn Fäl- der Welt – das sind ein paar Rechner auf 20 Nun müsse man aber vor allem daran ar- le am Tag. Im Visier haben sie allerdings Quadratmetern in einem alten Backstein- beiten, die Tauschbörsennutzer zu bekeh- nicht jene, die Musiktitel aus dem Netz haus in Manhattan, 21. Straße, Nähe 6. ren: „Ich hoffe sehr, dass legale Tausch- herunterladen – sondern alle, die Songs Avenue. Keine gute Gegend. Der Konfe- börsen schon nächstes Jahr ein Massen- zum Herunterladen bereitstellen. renzraum ist eine fensterlose Abstellkam- markt sind. Wir unterstützen das mit aller „So einer wie der hier“, sagt Rasch und mer ohne Tür. Kraft.“ Erst vor ein paar Wochen hat Klein deutet über den Kopf eines Ermittlers auf Den anderen gehe es auch nicht besser, einen Vertrag mit dem Bertelsmann-Kon- einen PC-Monitor. Dort läuft ein Probe- sagt Yagan. Man kennt sich ja in der Szene. zern geschlossen, der eine eigene Platt- Download eines aktuellen Songs, der auch In den nächsten Monaten würden wohl die form namens GNAB aufbaut. Schon dieses auf der Liste der Plattenfirmen steht. Die meisten dichtmachen – oder versuchen, in Jahr wollen die Gütersloher damit über Internet-Adresse des Anbieters ist schon den neuen, legalen Angeboten aufzuge- 100 Millionen Euro umsetzen. ermittelt, denn er erfüllt alle Suchkriterien hen. Auch Yagan verhandelt mit den Die Plattenbosse wollen sich aber nicht der Piratenjäger. 128 zum Download frei- Großen. Er ist frustriert: „Ich habe denen darauf verlassen, dass die Kundschaft von geschaltete Titel, davon gleich mehrere so viele Vorschläge gemacht, habe ihnen selbst zu den Bezahlangeboten findet. „Ein gelistete Interpreten: Wir sind Helden, aufgemalt, wie man uns zu Kapital machen bisschen erziehen“ müsse man die Leute Rammstein, Pur. Der Fall wird dokumen- kann, habe ihnen angeboten, um- tiert und der Staatsanwaltschaft sonst für sie zu arbeiten, um unsere übergeben. Alternativen zu den Millionen Nutzer zu ihnen zu brin- etablierten Tauschbörsen wie Edon- gen. Aber die wollen nicht direkt mit key sieht der Piratenjäger bisher uns reden.“ nicht. „Vieles, was da als das neue Die, das sind Musikkonzerne wie große Ding gefeiert wird, ist zu EMI, Jahresumsatz 2,8 Milliarden kompliziert, zu speziell oder funk- Euro, Plattenfirma von Coldplay tioniert einfach nicht“, sagt Rasch. und den Beatles. Die US-Zentrale „FTP-Server, Freenet, russische von EMI liegt in der Nachbarschaft Plattformen, das ist alles nur noch von Yagans Büro, aber trotzdem was für ein paar tausend Profis, aber ganz weit weg: Hier ist die Welt aus keine Massenbewegung mehr.“ Marmor statt aus Backstein. Es geht zu Ende. Rasch ist sicher: „Das Internet ist eine ganz wun- „In einigen Jahren werden wir über derbare Sache“, sagt Adam Klein. den Tauschbörsenspuk reden wie Er ist Vorstand bei EMI und zustän- über den New-Economy-Hype. Wir

dig für das digitale Geschäft. Um 260 JÜRGEN FRANK FOTOS: werden nicht verstehen, dass es so Prozent sind seine Einnahmen im Tauschbörsenchef Yagan, Plattenboss Klein etwas überhaupt einmal gab.“ vergangenen Jahr gewachsen – vor „Es ist vorbei!“ Thomas Schulz

180 der spiegel 11/2006 SERVICE

Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Fragen zu SPIEGEL-Artikeln / Recherche E-Mail [email protected] ·SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] HERAUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002) KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737, Fax 9204449 Nachdruckgenehmigungen CHEFREDAKTEUR Stefan Aust (V. i. S. d. P.) für Texte und Grafiken: MÜNCHEN Dinah Deckstein, Heiko Martens, Bettina Musall, Conny Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit STELLV. CHEFREDAKTEURE Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß Neumann, Lerchenfeldstraße 11, 80538 München, Tel. (089) 4545950, Fax 45459525 schriftlicher Genehmigung des Verlags. Das gilt auch DEUTSCHE POLITIK Leitung: Dietmar Pieper, Hans-Ulrich Stoldt für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und (stellv.). Redaktion: Georg Bönisch, Annette Bruhns, Per Hinrichs, STUTTGART Felix Kurz, Eberhard Straße 73, 70173 Stuttgart, Tel. Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. Carsten Holm (Hausmitteilung), Dr. Hans Michael Kloth, Bernd Kühnl, (0711) 664749-20, Fax 664749-22 Merlind Theile. Autoren, Reporter: Henryk M. Broder, Dr. Thomas Deutschland, Österreich, Schweiz: REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND Darnstädt, Hans-Joachim Noack, Hartmut Palmer, Dr. Klaus Wiegrefe Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 AMSTERDAM Gerald Traufetter, Keizersgracht 431s, 1017 DJ Amster- E-Mail: [email protected] HAUPTSTADTBÜRO Leitung: Gabor Steingart, Jan Fleischhauer (stellv.), Konstantin von Hammerstein (stellv.). Redaktion Politik: dam, Tel. 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Redaktion: Dr. Philip Bethge, Rafaela von Bredow, Manfred Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika Hackenbroch, Julia Koch, PARIS Dr. Stefan Simons, 12, Rue de Castiglione, 75001 Paris, Tel. Abonnenten-Service Schweiz Beate Lakotta, Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Katja Thimm, (00331) 58625120, Fax 42960822 DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern Christian Wüst PEKING Andreas Lorenz, Sanlitun Dongsanjie Gongyu 2-1-31, Telefon: (0041) 41-329 22 55 Fax: (0041) 41-329 22 04 KULTUR Leitung: Dr. Romain Leick, Matthias Matussek. Redak- Peking 100 600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 E-Mail: [email protected] tion: Verena Araghi, Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Nikolaus von PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. + Fax (00420) 2-24220138, 2-24221524 Festenberg, Angela Gatterburg, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Ulri- RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Caixa Postal 56071, AC Urca, Abonnement für Blinde ke Knöfel, Dr. Joachim Kronsbein, Dr. Johannes Saltzwedel, Elke Rio de Janeiro-RJ, CEP 22290-970, Tel. (005521) 2275-1204, Fax 2543- Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Schmitter, Klaus Umbach, Moritz von Uslar, Claudia Voigt, Marian- 9011 Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 ne Wellershoff, Martin Wolf. Autoren: Wolfgang Höbel, Urs Jenny, Dr. Mathias Schreiber ROM Alexander Smoltczyk, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) E-Mail: [email protected] 6797522, Fax 6797768 GESELLSCHAFT Leitung: Lothar Gorris, Cordt Schnibben. Redak- Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt tion: Anke Dürr, Fiona Ehlers, Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, SHANGHAI Dr. Wieland Wagner, Grosvenor House 8 E/F, Jinjiang Frankfurt am Main Ralf Hoppe, Ansbert Kneip. Reporter: Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Hotel, 59 Maoming Rd. (S), Shanghai 200020, Tel. (008621) 54652020, Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 Jochen-Martin Gutsch, Barbara Supp Fax 54653311 E-Mail: [email protected] SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Maik Großekathöfer, SINGAPUR Jürgen Kremb, Bureau Southeast Asia / Pacific, 59 A, Abonnementspreise Detlef Hacke, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger Merryn Road, 298530 Singapur, Tel. (0065) 62542871, Fax 62546971 Inland: zwölf Monate ¤ 166,40 SONDERTHEMEN Leitung: Stephan Burgdorff, Norbert F. Pötzl WARSCHAU P.O.Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau, Sonntagszustellung per Eilboten Inland: ¤ 494,00 (stellv.). Redaktion: Karen Andresen, Horst Beckmann, Wolfram Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365 Bickerich, Joachim Mohr, Manfred Schniedenharn, Peter Stolle, WASHINGTON Georg Mascolo, 1202 National Press Building, Wa- Studenten Inland: zwölf Monate ¤ 114,40 inkl. Dr. Rainer Traub, Kirsten Wiedner 6-mal UniSPIEGEL shington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina WIEN Marion Kraske, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Schweiz: zwölf Monate sfr 291,20 Stegelmann Europa: zwölf Monate ¤ 221,00 5331732, Fax 5331732-10 Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 299,00 CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), Holger Wolters (stellv.) DER SPIEGEL als E-Paper: zwölf Monate ¤ 166,40 DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Axel Pult (stellv.), Peter Wahle SCHLUSSREDAKTION Regine Brandt, Reinhold Bussmann, Lutz Halbjahresaufträge und befristete Abonnements (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Diedrichs, Dieter Gellrich, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Maika werden anteilig berechnet. Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Heinz Egleder, Kunze, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Manfred Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Cordelia Petersen, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio ✂ Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, Abonnementsbestellung Sirkka, Ulrike Wallenfels bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Catrin Hammy, Thorsten Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim gestaltung), Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt, Anke Well- Immisch, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate 20637 Hamburg – oder per Fax: (040) 3007-3070. nitz; Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thorsten Gerke, Heidrun Kemper-Gussek, Jan Kerbusk, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Ich bestelle den SPIEGEL Günther, Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Peer Peters, Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, für ¤ 3,20 pro Ausgabe (Normallieferung) Dilia Regnier, Sabine Sauer, Karin Weinberg. 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LAYOUT Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe, Reinhilde Wurst; Michael Abke, Christel Basilon, Katrin Bollmann, Claudia Franke, Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart Teichert, Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: Grit Frenzel, Petra Gronau, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Barbara Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Ursula Wamser, Peter Wetter, Rödiger, Till Schlünz, Martina Treumann, Doris Wilhelm Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Sonderhefte: Rainer Sennewald LESER-SERVICE Catherine Stockinger PRODUKTION Name, Vorname des neuen Abonnenten Christiane Stauder, Petra Thormann NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / TITELBILD Stefan Kiefer; Iris Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg, Washington Post, New York Times, Reuters, sid Arne Vogt SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. 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184 der spiegel 11/2006 Chronik 4. bis 10. März SPIEGEL TV

DONNERSTAG, 16. 3. 22.40 – 23.35 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA „IQ“ 130 – Von Schlaumeiern und Intelligenzbestien Spitzenreiter unter den Superhirnen fallen schon im Kleinkindalter auf. Sogenannte Inselbegabte können bereits mit drei Jahren lesen und schreiben. SPIEGEL TV Extra über kleine Genies, Rechenkünstler und andere Intelligenzbestien.

FREITAG, 17. 3. 21.50 – 23.50 UHR VOX SPIEGEL TV THEMA Am Weltfrauentag erfreut ein Supermarkt in Venedig Krimsekt, Kaviar und Karrieren – seine Kundinnen mit als Moskau im Wandel Ware verpackten Männern. Nach New York ist die russische Metro-

GIANFRANCO ANGELICO BENVENUTO / DPA BENVENUTO ANGELICO GIANFRANCO pole die Nummer zwei unter den Städten mit der höchsten Millionärsdichte der SAMSTAG, 4. 3. ENTSCHEIDUNG Das höchste Berufungs- Welt. Davon profitieren auch Dienstleis- gericht der kanadischen Provinz Ontario ter aus dem Westen. SPIEGEL TV Thema TERRORDROHUNG Qaida-Vize Aiman lehnt ein Gesuch des Waffenhändlers über Moskauer Superreiche und den All- al-Sawahiri ruft nun auch zum Boykott Karlheinz Schreiber ab, das Ausliefe- tag deutscher Zuwanderer. deutscher Produkte auf und droht mit rungsverfahren an die Bundesrepublik neuen Anschlägen. Deutschland zu stoppen. SAMSTAG, 18. 3. 21.40 – 23.40 UHR VOX SONNTAG, 5. 3. DONNERSTAG, 9. 3. SPIEGEL TV SPECIAL SCHNEECHAOS Der Süden Deutschlands versinkt im Schnee. 48 Stunden schneit TUMULT Zum Abschluss eines Staats- Tüftler, Forscher und Genies – es ununterbrochen. Bayern und Baden- besuchs von Polens Präsident Lech Deutsche Erfinder und ihre großen Ideen Württemberg stecken im Verkehrschaos. Kaczy´nski stürmen deutsche und pol- Zahnpasta, Helikopter oder die Ku- nische Schwule und Lesben die Aula ckucksuhr sind deutsche Erfindungen, die MONTAG, 6. 3. der Berliner Humboldt-Universität, sich weltweit durchgesetzt haben. Und um einen Auftritt des nationalkonser- die Erfolgsgeschichte geht weiter: Der GAS-FUSION Der Industriegase-Hersteller vativen Staatsoberhaupts zu verhindern. Unternehmer Willy Bogner demonstriert Linde will für 12,4 Milliarden Euro den Kaczy´nski sei „ein Antidemokrat“ in St. Moritz seinen neuen Ski aus britischen Konkurrenten BOC kaufen. und diskriminiere Homosexuelle. Bambus, und die Computerexperten des Fraunhofer-Instituts erläutern, wie aus FUSSBALL Franz Beckenbauer, Präsident FUND Die US-Weltraumbehörde Nasa einem Geistesblitz die Erfolgsgeschichte von Bayern München, kritisiert die des MP3-Formats wurde. Abwesenheit von Bundestrainer Jürgen gibt bekannt, dass ihre Sonde „Cassini“ möglicherweise flüssiges Wasser auf Klinsmann bei einem internationalen SONNTAG, 19. 3. WM-Workshop in Düsseldorf. einem Mond des Planeten Saturn ent- deckt hat. 22.35 – 23.30 UHR RTL DIENSTAG, 7. 3. SPIEGEL TV AUSSTAND Die Streiks im Öffentlichen MAGAZIN VOGELGRIPPE Eine Übertragung des Virus Dienst erreichen einen vorläufigen Jugend in virtuellen Welten – Spielsucht auf Fische hält die Bundesforschungs- Höhepunkt. Rund 41000 Beschäftigte bei Minderjährigen; Das Kaltwasser- anstalt für Tiergesundheit für „sehr legen die Arbeit nieder, inzwischen Riff und der Wurm – unbekannte Unter- unwahrscheinlich“. Bereits am Montag wird in zwölf Bundesländern gestreikt. wasserwelten; Nervenkitzel und die Lust hatte die Seuche Polen erreicht und am Verbotenen – illegale Kneipen in war bei lebenden Katzen in Österreich FREITAG, 10. 3. Berlin. nachgewiesen worden. AUSSCHUSS Linksfraktion, FDP und Grü- ENTTÄUSCHUNG I Werder Bremen verliert ne im Bundestag einigen sich darauf, die 1:2 in der Champions League beim Gast- Zusammenarbeit von Geheimdienstlern geber Juventus Turin. des BND mit der CIA im Irak durch einen Parlamentarischen Untersuchungs- MITTWOCH, 8. 3. ausschuss klären zu lassen. AUFSCHWUNG Vor Eröffnung der Cebit- Messe in Hannover rechnet die Branche IRAK Die amerikanische Geisel Tom Fox, mit stabilen Zuwachsraten. als Mitarbeiter einer Hilfsorganisation im November 2005 in Bagdad entführt,

ENTTÄUSCHUNG II In der Champions wird tot im Irak aufgefunden, meldet / LAIF MELANIE DREYSSE League unterliegt Bayern München 1:4 ein Sprecher des State Department in Jugendliche beim Computerspiel beim AC Mailand. Washington.

der spiegel 11/2006 185 Register

gestorben fentlichkeit völlig unbekannte Frau zeigte: ein nacktes Callgirl, das neben einer heißen Gordon Parks, 93. Er war der erste afro- Affäre mit dem verheirateten Profumo, ei- amerikanische Fotograf, der beim legen- nem der ranghöchsten britischen Geheim- dären Reportagemagazin „Life“ ins Team nisträger, ebenso hautnahen Kontakt zum geholt wurde, und der erste seiner Ethnie, sowjetischen Marineattaché Jewgenij Iwa- der von einem großen Hollywood-Studio now pflegte. Auf dem Höhepunkt des Kal- als Regisseur weitgehend freie Hand bekam. ten Krieges in Verdacht geraten, mit dem Als eines von 15 Kindern wuchs Parks unter ältesten aller Tricks erpressbar geworden ärmlichen Verhältnissen auf, und er nahm oder gar ausspioniert worden zu sein, muss- seine Kamera als „Waffe gegen das Elend“ te Profumo zurücktreten; wenig später gab in die Hand. Sein Foto „American Gothic, auch der konservative Premier Harold Washington D.C.“ von MacMillan sein Amt auf. John Profumo 1942 – eine abgezehr- starb in der Nacht zum 10. März in London. te afroamerikanische Putzfrau vor dem Ster- Ali Farka Toure, 67. Der stolze Barde aus nenbanner – gehört Mali erzählte alte afrikanische Geschichten heute zur Ikonografie – doch seine Stimme und Gitarre klangen der US-Sozialgeschich- oft wie die der amerikanischen Blues- PATRICK PLEUL / DPA PLEUL PATRICK te. Parks war ein Uni- Größen. In Martin Scorseses Dokumentar- versaltalent; er verfass- film „Feel Like Going Home“ erscheint te einen autobiogra- Toure als Beweis für die afrikanischen Wur-

fischen Roman („The / REUTERS FREDDIE LEE zeln des Blues. Der Musiker spielte das ein- Learning Tree“), den er heimische Instrument Njurkle, ehe er auf 1969 auf die Leinwand brachte, und mehre- die Gitarre umstieg. Der internationalen re andere Bücher, er komponierte, schrieb Szene machte der Amerikaner Ry Cooder Gedichte und erfand den einflussreichs- den Malier bekannt. ten schwarzen Kinohelden: Privatdetektiv Alben von Toure ge- „Shaft“ (1971), der unschlagbar cool seine wannen zwei Gram- Abenteuer bestand. Sein Schöpfer gilt vie- mys. Seine unerwarte- len als der coolste Held überhaupt. Gordon ten späten Einkünfte Parks starb am 7. März in New York. nutzte er zum Kauf einer Farm in seinem Ruth Weiss, 97. Schon immer von China Heimatort Niafunke am fasziniert, folgte die promovierte Wiener Niger. Als Bürgermeis- Literaturwissenschaftlerin ihrem chinesi- ter organisierte er dort

schen Freund 1933 nach Shanghai. Weiss REDFERNS / FOTEX.DE Kampagnen zur Be- wurde 1955 chinesische Staatsbürgerin – kämpfung von Malaria wie rund hundert andere Ausländer, die und für die Aufforstung der Wüstenregion. Augenzeugen von Maos Revolution und Ali Farka Toure starb am 7. März in Malis seinen blutigen Kampagnen waren. Sie zog Hauptstadt Bamako an Knochenkrebs. nach Peking, wo die „Freundin Chinas“ als Journalistin, Lektorin und Autorin arbeite- Henry Morris, 87. Bald schwebt er durchs te. Im Gegensatz zu vielen anderen Wahl- Paradies, umflattert von Engeln, die ihn Chinesen überstanden sie und ihre zwei lobpreisen – es sei denn, er hat sich viel- Söhne die Kulturrevo- leicht doch verspekuliert. Morris gilt als lution (1966 bis 1976), Begründer des Kreationismus, jener Lehre, ohne ins Gefängnis die aus der Bibel scheinwissenschaftlich die geworfen zu werden. gesamte Erdgeschichte herleitet. Demnach Während viele ihrer seien Berge, Täler, Kontinente nicht in ausländischen Freunde Jahrmilliarden von Naturkräften gestaltet die KP-Diktatur zu- worden; Gott persönlich habe mittels der mindest öffentlich nie Sintflut in kürzester Zeit alles zusammen- kritisierten, nahm sie geschwallt. Was die Fauna betrifft, so kal- das Tiananmen-Massa- kulierte der Ingenieur für Noahs Arche ker am 4. Juni 1989 eine Tonnage von umgerechnet 522 Güter- nicht hin. In ihren Memoiren „Am Rande waggons – Stallraum für reichlich 35000 der Geschichte“ forderte sie die Partei auf, Tiere. Sein Buch „The Genesis Flood“ gilt gegenüber den Opfern „Reue über diese als zweite Bibel der Bibeltreuen. Morris himmelschreiende Verfehlung“ zu zeigen. legte rund 60 weitere Werke nach, und er Ruth Weiss starb am 6. März in Peking. gründete das bis heute einflussreiche „In- stitut für Schöpfungsforschung“ im kalifor- John Profumo, 91. Eines der aufsehener- nischen Santee, wo Forscher, die anderswo regendsten Pressefotos der sechziger Jahre nicht ernst genommen wurden, und ver- wurde dem damaligen britischen Kriegs- sprengte Prediger eine Heimstatt fanden. minister 1963 zum Verhängnis, obwohl es Henry Morris starb, wie erst jetzt bekannt nicht ihn, sondern eine bis dahin der Öf- wurde, am 25. Februar bei San Diego.

186 der spiegel 11/2006 Personalien

Madonna, 47, rast- und ruhe- Tanja Gönner, 36, baden-württember- lose Popsängerin („Confes- gische Umweltministerin, verbat sich bei sions on a Dancefloor“) mit einer Wahlkampfveranstaltung der CDU- Neigung zu platter Mystik, Südwest in Karlsruhe männliche Hilfestel- sucht ein Haus in Israel. Dort lung. Zum Auftakt hatte der CDU-Bun- soll ein Zentrum entstehen destagsabgeordnete und ehemalige Welt- zum Studium der „Kabbala“, meister Eberhard Gienger, 54, zusammen einer unter Hollywood-Zele- mit Sportfreund Bernd Effing, 57, Kunst- britäten grassierenden Heils- stücke am Reck vorgeführt. Dann holten lehre, die mit dem traditionel- die beiden die Ministerin mit ans Reck. len, gelehrten jüdischen Mysti- Aber schon als Gienger und Effing die ehe- zismus nur den Namen gemein malige Vorsitzende der Volleyballabteilung hat. Bevorzugter Ort ist die des TSV Bad Saulgau an die Reckstange kleine unterhalb der Golan- hoben, maulte sie, sie könne das schon Höhen gelegene galiläische allein. Mehrmals während der Übung rie- Gemeinde Rosh Pina. Dort fen die Reckturner, sie möge sich ihren soll, nach Meinung von Gläu- Anweisungen fügen. bigen, der Messias zur Erde Zum Abschluss der zurückkehren. Madonnas Su- Vorstellung sollte die che nach dem Sinn des Da- Ministerin eigentlich seins, materialisiert in der Su- nur die Reckstange che nach einer Behausung, loslassen, damit Gien- konzentriert sich auf ein etwa ger und Effing ihr hundert Jahre altes Haus, das mit einem einfachen Shiri Hazkin gehört, der Toch- Salto zum Abgang ter eines wohlbekannten israe- hätten verhelfen kön- lischen Sängers. Die will es ei- nen. Doch bevor es gentlich nicht verkaufen, „aber dazu kam, interve- für Madonna …“ So verlangt nierte die Politikerin sie für das Gemäuer eine Mil- wieder, sie könne das

lion Dollar, was, wenn es zum allein. Da zischte der OSSENBRINK FRANK

Kauf käme, für den Showstar HOGAN / GETTY IMAGES DAVE Bundestagsabgeord- Gienger, Gönner, Madonna ein Klacks wäre. Madonna nete Gienger in fei- Effing nem Hochschwäbisch: Renate Künast, 50, Vorsitzende der Grü- Komikers Olli „Dittsche“ Dittrich, Texas „Hier am Reck hörscht uns zu, sonst geht’s nen-Fraktion im Bundestag, entpuppt sich Lightning. Als ihre Favoriten schließlich schief. In Sturgart isch es euer Ding, da als heimlicher Fan von Schlagermusik. Ge- gewannen, war die Ober-Grüne vor Be- kannscht rede, was willscht.“ bannt verfolgte die frühere Verbraucher- geisterung kaum mehr zu bremsen. Mitten schutzministerin am vorigen Donnerstag in der Nacht bombardierte sie Partei- Julia Bonk, 19, jüngste Abgeordnete im vor dem heimischen Fernseher in Berlin freunde mit triumphierenden SMS: „Ich sächsischen Landtag, versuchte Ge- die deutsche Vorausscheidung zum „Euro- habe mitgeholfen. Dittsche verschafft schlechtsgenossinnen mit einer drastischen vision Song Contest“. Auch bei der an- uns eine Gewinnchance – nur für den Aktion für Gleichstellung zu begeistern. schließenden Ted-Abstimmung war sie mit Fall, dass die Fußballer bei der WM Auf dem Dresdner Albertplatz, unweit des dabei: Künast votierte für die Band des schwächeln.“ Regierungsviertels, verteilte die Parlamen-

wesen, dass „die Torpfosten rund“ waren, erklärte „Münte“ den verdutzten SPD- Granden Christoph Matschie, 44, und Claus Möller, 63. Per „Beschluss im zu- ständigen Bundestagsausschuss“ sollten „wieder die eckigen Pfosten“ eingeführt werden, verlangte der Minister. Dann sei es „gar nicht mal so unwahrscheinlich“, dass Deutschland Weltmeister werde. „Die von unseren Jungs gegen die flache Innenseite des Pfostens geschossenen

FRANK OSSENBRINK (L.); RICHIARDI / WITTERS (R.) OSSENBRINK (L.); RICHIARDI / WITTERS FRANK Bälle“, erläuterte Müntefering, ohne eine Müntefering, Matschie, Möller, Szene aus dem Länderspiel Italien – Deutschland Miene zu verziehen, würden so, anders als beim Italienspiel, ins Tor „hinein- Franz Müntefering, 66, SPD-Arbeits- Weltmeister“, frotzelten die. Müntefering schlüpfen“. Während „anderen Nationen und Sozialminister, langweilte sich am nahm den Ball auf und verblüffte Jour- mit anderer Schusstechnik runde Pfosten vergangenen Montag vor einer Tagung nalisten und Genossen mit einer sonder- mehr nützen“. Kurzum, so der Witzbold im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Herum- bar launigen Analyse des 1:4 im Fuß- aus dem Sauerland, „eine kleine Aufgabe stehende Fotografen bat er: „Erzählt mir ballländerspiel gegen Italien. Mit ein für den deutschen Bundestag kann große mal was Lustiges.“ „Deutschland wird „Hauptgrund für die Niederlage“ sei ge- Auswirkungen für die Nation haben“.

188 der spiegel 11/2006 bekommen. Damals war Berlusconi Zög- ling einer katholischen Bildungsanstalt und bereits geschäftstüchtig. Er vermietete das Heft minutenweise an Mitschüler. Für Süßigkeiten und kleine Leckereien erhiel- ten sie das Recht, so der für Schlüpfrig- keiten bekannte Premier, „zehn Minuten allein mit dem Playmate des Monats verbringen zu dürfen“. Die Titelseite und den Ausfalter in der Mitte der ersten „Playboy“-Ausgabe vom Dezember 1953

SVEN DOERING / VISUM SVEN schmückte die seinerzeit noch wenig be- Bonk kannte Marilyn Monroe. tarierin der Linkspartei am Internationalen Laurence Parisot, 46, erste Frau an der Frauentag aufmunternde Aufkleber an Spitze des mächtigen französischen Ar- Passantinnen: „Ab heute oben liegen“. Auf beitgeberverbands Medef und bisher für der mitgebrachten Campingliege sollte das viele Französinnen ein Vorbild weiblicher Motto möglichst vor Ort auch mal auspro- Emanzipation, hat mit einem Auftritt in biert werden, wobei die Herren wahlweise Saudi-Arabien empörte Reaktionen her- den ebenfalls vorrätigen Aufkleber „Auch vorgerufen. Als Mitglied einer von Frank- Männer haben ihre Tage“ hochhalten reichs Staatspräsident Jacques Chirac, konnten. Englische Medien hatten Bonk 73, angeführten Besucherdelegation ver- schon früh mit dem Thema Sex verbun- hüllte sich die Spitzenlobbyistin der Wirt- den, wie der Internet-Seite der Politikerin schaft bei einem Empfang in Riad von Kopf zu entnehmen ist. Nach ihrer Wahl 2004 tauchte Bonk unter dem Stichwort „10 things we didn’t know this time last week“ in den BBC-News auf mit dem Hinweis, ihr Name habe im Deutschen längst nicht die spaßige Bedeutung wie im Englischen. „To bonk“ wird auf der Insel als Slangausdruck für „Sex haben“ verwendet.

Jean-Pierre Elkabbach, 68, Leiter des Ra- diosenders Europe 1 und für „unabhängi- ge Berichterstattung“ gerühmter französi- scher Journalist, konsultierte ausgerechnet

den französischen Innenminister Nicolas / AFP KOVARIK PATRICK Sarkozy als Personalberater. Der rechts- Chirac, Parisot konservative Politiker möge sich aussu- chen, welcher Journalist künftig über die bis Fuß in einen schwarzen Umhang nebst Regierungspartei UMP, deren Vorsitzen- dazugehörendem Kopftuch und beugte der Sarkozy ist, berichten solle. Als Eu- sich damit den strengen Vorschriften der rope-1-Mitarbeiter ihren Chef zur Rede Gastgeber. Die Medef-Präsidentin habe stellten, gab er zu: Sarkozy habe ihm „zwei wohl „auf ihre Art“ den Internationalen oder drei Namen“ genannt. Der Innen- Frauentag vom 8. März begehen wollen, minister selbst machte erst gar kein Hehl kommentierte sarkastisch der Verband aus der Unterredung: „Aber natürlich, das Ethic, in dem sich rund 1500 kleinere und ist schließlich normal. Elkabbach ist doch mittlere Unternehmen zusammengeschlos- nicht der Einzige, der das tut.“ sen haben. Damit habe sie „unter dem Vorwand einer offiziellen Silvio Berlusconi, 69, ita- kulturellen Toleranz“ die lienischer Ministerpräsi- Erniedrigung der Frauen dent, hat sich schon in gebilligt, kritisierte der Ver- jungen Jahren der Verfüh- band, der sich seinen Sta- rungskunst von Medien be- tuten zufolge für harmoni- dient. Vor einer Delegation schere und menschlichere von italo-amerikanischen Beziehungen innerhalb der Kongressabgeordneten er- Unternehmen einsetzt. Dies zählte der Politiker bei sei- sei umso unverständlicher, nem US-Besuch vorvergan- als in Frankreich viele Fir- gene Woche, er habe die menchefs mit dem Verbot erste Ausgabe des Herren- von muslimischen Kopf- magazins „Playboy“ als 17- tüchern am Arbeitsplatz Jähriger von einem Onkel einen Beitrag zur Emanzi- aus Amerika zugeschickt „Playboy“-Titel Nr. 1 pation leisteten.

der spiegel 11/2006 189 Hohlspiegel Rückspiegel Aus dem „Handelsblatt“: „Der Vorsitzen- Zitate de des Bundestags-Rechtsausschusses, Andreas Schmidt, gab vergangene Woche Die „taz“ zum SPIEGEL-Gespräch zu bedenken: ,Nicht alles, was legal ist, ist mit dem polnischen Staatspräsidenten auch legitim, nicht alles, was verboten ist, Lech Kaczy´nski über das Verhältnis ist auch erlaubt.‘“ zu Deutschland und die Rolle seines Landes in der EU „Die Schuld würde wieder relativiert“ (Nr. 10/2006):

Noch vor einer Woche hofften viele deut- sche Politiker, dass der Antrittsbesuch des polnischen Staatschefs in Berlin eine Wende in den deutsch-polnischen Bezie- hungen bringen könne. Ein Interview Lech Hinweis auf einer Pistazientüte Kaczy´nskis im SPIEGEL dämpfte diese Er- wartungen. Polens Präsident kennt weder das heutige Deutschland noch seine Be- Aus „Sonntag aktuell“ über Angela Merkel: wohner. Auch als Oberbürgermeister War- „Sie hat auf ihrem langen Weg an die Macht schaus interessierte er sich nicht für die – wer spricht heute eigentlich noch vom Partnerstadt Berlin. Schlüsselbegriffe zum miserablen Wahlergebnis? – jede Menge Verständnis der Deutschen sind für den Mannsbilder erfolgreich weggebissen, bis 56-Jährigen der Zweite Weltkrieg, die Nazi- hin zu einem kastrierten Edmund Stoiber.“ KZs im besetzten Polen, die Zwangsarbei- ter und die vielen Toten.

Die österreichische „Presse“ zur SPIEGEL-Meldung „Panorama – Sorge um Österreich“, wonach die Bundes- regierung offenbar einen Ausstieg Öster- reichs aus dem Eurofighter- Kleinanzeige aus dem „Fränkischen Tag“ Programm befürchtet (Nr. 10/2006):

Ein vertraulicher Bericht des deutschen Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“: „Drei Verteidigungsministeriums an den Bun- Grad minus hat es in der Stadt. Auf Hei- destag, der am Montag im Nachrichten- delbergs Hausberg waren es diesmal noch magazin DER SPIEGEL veröffentlicht wur- einige Grade weniger – schätzungsweise de, hat das Streitthema Eurofighter-Ankauf so um den Gefrierpunkt.“ für das österreichische Bundesheer wieder akut werden lassen. Darin ist die Rede da- von, dass die deutsche Bundeswehr auf Aus dem „Delmenhorster Kreisblatt“: zwei Maschinen verzichtet, um zu verhin- „Seit Jahren nun zieht das Virus mit der dern, dass Österreich „ein vertraglich ver- Bezeichnung H5N1 seine Bahn, über Län- einbartes Rücktrittsrecht ausübt“. Ein der und Kontinente hinweg, globalisierend Halbsatz, der Wasser auf den Mühlen der wirkend und immer mit der Angst im österreichischen Eurofighter-Gegner ist: Nacken, zu einem Supervirus zu mutieren Hat es doch bisher immer geheißen, dass und zu einer ernsten Gefahr für den Men- ein Ausstieg aus dem Vertrag praktisch schen zu werden.“ unmöglich ist – oder mit derart hohen Kos- ten verbunden, dass es sich nicht lohnen würde.

Die „Frankfurter Rundschau“ zum SPIEGEL-Bericht „Affären – Wofür hat Reiner Calmund 580000 Euro aus Bayer Leverkusens Kasse entnommen?“ (Nr. 10/2006):

Aus der Illustrierten „Neue Post“ Der tränenreiche Abschied von Reiner Cal- mund bei Bayer Leverkusen am 8. Juni 2004 ist nichts anderes als eine Schmieren- Aus dem „Mannheimer Morgen“ über eine komödie gewesen. In Wahrheit ist der ge- exotische Pflanze: „Die Alternative besteht wichtige Manager wegen windiger finanzi- darin, sie im Haus oder in der Wohnung zu eller Bargeld-Transaktionen entlassen wor- belassen. Aber nicht im Osten, denn das den, wie die Geschäftsführung von Bayer gefällt ihr nicht. Es sei denn, die Luft- Leverkusen erst jetzt bestätigt hat … Es feuchtigkeit ist hoch und das Zimmer wird geht, wie nun der SPIEGEL enthüllt hat, nicht beheizt. Allerdings würden bei diesen um eine dubiose Zahlung von 580000 Euro klimatischen Bedingungen die Wände von in bar, die Calmund an seinen Freund, den der Tapete fallen.“ Spielerberater Volker Graul, leistete.

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