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Sendung vom 12.06.2006, 20.15 Uhr

Dr. h.c. Walther Leisler Kiep Ehrenvorsitzender Atlantik-Brücke im Gespräch mit Sigmund Gottlieb

Gottlieb: Willkommen im alpha-forum, Walther Leisler Kiep. Herr Leisler Kiep, was ist denn eigentlich Ihre Profession? Sind Sie Politiker, sind Sie Geschäftsmann, sind Sie Brückenbauer, sind Sie Multi-Kommunikator? In Ihrem Alter muss man ja so langsam selbst bestimmen können, was man ist, und auch, was man war. Was sind Sie? Kiep: Ich bin eigentlich seit langer Zeit zumindest im Geiste Politiker. Nach dem Krieg und dem Zusammenbruch, an den ja viele der heute lebenden Menschen keine eigene Erinnerung mehr haben können, war neben den materiellen Problemen das Schlimmste eigentlich das Moralische und die Hoffnungslosigkeit, ob Deutschland jemals wieder eine Chance bekommt, in die westliche Völkerfamilie zurückkehren oder sogar einen neuen Versuch in Richtung Demokratie machen zu können. Das hat mich damals alles sehr bewegt und ich wollte eigentlich auswandern. Gottlieb: In die USA? Kiep: Nein, das ging damals nicht. Es gab nur zwei Länder, in die ich hätte auswandern können: Südafrika oder Kanada. Dann hat aber, und das ist im Wesentlichen ein Verdienst der Amerikaner, diese Demokratisierungswelle eingesetzt: Es wurden Zeitungen gegründet, Parteien zugelassen, Radiosender betrieben usw. und auf einmal gab es in Hessen, wo ich lebte, die erste Kommunalwahl und dann die erste Landtagswahl. Das hat mir Hoffnung gegeben und deswegen habe ich mir vorgenommen: "Wenn das alles wirklich kommt, dann ist jeder, der dazu in der Lage ist, verpflichtet, sich bei dieser Politik zu engagieren!" Denn die Weimarer Republik war ja nicht an den Prügeleien zwischen Nazis und Kommunisten zugrunde gegangen, sondern am Mangel an Demokraten in der Mitte. Gottlieb: Wobei die Initialzündung für Ihr Engagement, wenn ich das richtig gelesen haben, das Jahr 1961 gewesen ist. Kiep: Das war das Jahr, in dem mir klar war, dass ich jetzt in eine Partei eintreten muss. Gottlieb: Der Schock über den Mauerbau war so groß, dass Sie sich sagten, Sie müssen jetzt selbst aktiv werden und in eine Partei eintreten. Kiep: Ich hatte eigentlich immer die FDP gewählt und sie auch entsprechend meinen damaligen Möglichkeiten unterstützt. Ich bin dann aber doch in die CDU eingetreten. Gottlieb: Warum? Kiep: Weil ich auch aufgrund der Geschichte der Weimarer Republik eine tief sitzende Aversion hatte und habe gegen das, was ich deutsch-national nennen möchte. Ich hatte damals die Möglichkeit, den Vorsitzenden der FDP kennen zu lernen; ein Freund von mir in der FDP hatte das vermittelt. Ich bin dann eben nach diesem langen Abend in diesem Haus nicht in die FDP eingetreten. Die SPD stand damals noch vor Godesberg, deshalb wäre auch das ein bisschen schwierig gewesen. Und so bin ich eben zur CDU gegangen. Wenn ich in die FDP gegangen wäre, wäre es vielleicht sogar noch interessanter gewesen. Gottlieb: Herr Leisler Kiep, Sie schreiben, wenn ich das richtig zurückrechne, seit Ihrem 15. Lebensjahr Tagebuch. Kiep: Ja. Gottlieb: Das ist ja nun ein volles pralles Menschenleben lang – mit wenigen Unterbrechungen. Daraus kann man nun zwei Schlüsse ziehen. Entweder nimmt dieser Mann das, was er tut und macht, so wichtig, dass er alles aufschreiben muss, oder aber er möchte sich vergewissern über das, was er tut und was er lässt – und das möglichst zeitnah. Denn so lange Zeit ein Tagebuch zu führen ist ja sehr ungewöhnlich und verlangt natürlich auch ein hohes Maß an Disziplin. Kiep: Ja, das kann man sagen. Ich war hierbei jedoch ein bisschen "vorbelastet", weil schon man Vater ein Tagebuch geführt hatte. Aber dieses Tagebuch meines Vaters, das ich dann später gelesen habe, war eigentlich leider nur ein Terminplan mit einigen kurzen, trockenen Kommentaren. Mein Tagebuch geht jedoch etwas weiter. Als ich jetzt mein Buch schrieb und veröffentlichte, hätte ich das ohne mein Tagebuch gar nicht gekonnt. Die große Gefahr wäre nämlich, dass man, wenn man kein Tagebuch geschrieben hätte, aus der Sicht von heute über Dinge von vor 20 Jahren schreibt und, das ist eine ganz natürliche menschliche Reaktion, die Dinge eben so schildert, wie man sie heute sieht. Das eigene Handeln sieht man dabei dann wohl auch etwas milder, und deshalb ist es gut, wenn man nachlesen kann, was man selbst unmittelbar in jener Zeit geschrieben hat. Gottlieb: Sie sprechen von Ihrem Vater: Sie sind an der Alster groß geworden. Sie sind also ein Hamburger Junge, das jüngste von fünf Kindern in Ihrer Familie. Sie hatten wohl, wenn man Ihre biographischen Notizen liest, auch ein sehr weltoffenes Elternhaus. Kann man das so sagen? Kiep: Ja, das kann man so sagen. Gottlieb: Wie hat Sie das geprägt? Wie hat Sie das sozusagen in Ihr Leben hineingeführt? Kiep: Das hat mich dadurch sehr geprägt, dass bei uns zu Hause sehr offen gesprochen wurde. Gottlieb: Auch über Politik? Kiep: Ja, auch über Politik. Ich hatte offensichtlich ein frühes Talent zum Zeitungsvorlesen. Ich bin daher beim Frühstück oft aufgefordert worden, Artikel aus der Zeitung vorzulesen. Das habe ich wohl in "technischer" Hinsicht ganz gut gemacht. Es kamen in diesen Artikeln aber selbstverständlich auch schwierige Worte vor: Dabei sind auch sehr komische Szenen passiert. Ich habe dann mein Vorlesen unterbrochen und in die Runde gefragt, was dieses Wort denn bedeutet. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang besonders an den 30. Juli 1934, also an den so genannten Röhm-Putsch. Ich habe an diesem Tag also einen schauerlichen Bericht vom Tegernsee vorgelesen und dass dort der Führer seinen obersten SA-Mann mit "Lustknaben" angetroffen hätte. Daraufhin habe ich das Vorlesen unterbrochen und gefragt, was denn, bitte schön, Lustknaben seien. Daraufhin hat mir meine ältere Schwester gesagt: "Das sind Clowns im Zirkus!" Und damit war der Friede beim Vorlesen wieder hergestellt. Gottlieb: In Ihrem Buch erzählen Sie, dass Sie auch von Ihrer Mutter sehr stark geprägt worden seien. Sie hatten wohl eine sehr enge Beziehung zu Ihrer Mutter: Sie waren ihr Lieblingssohn, wenn man so sagen darf. Kiep: Ich war der Jüngste und in einer anderen Phase ihres Lebens eben auch der Einzige, der da war für sie. Als wir im Jahr 1936 in die Türkei zogen, war ich als einziges Familienmitglied ganz da für sie. Ich bin dadurch überhaupt meinen Eltern sehr viel näher gekommen. Denn damals wohnten wir nicht in einem großen Haus, sondern in einer Wohnung. Das hat sicherlich auch dazu beigetragen. Gottlieb: Sie haben in und später dann in Istanbul die Schule besucht. Das hat Sie, wie man wohl sagen kann, sehr multikulturell geprägt. Kiep: Ja, das stimmt. Gottlieb: Und Sie haben dann ja auch später sehr viel Engagement für die Türkei gezeigt. Kiep: Ich habe die Türkei und die Menschen dort sehr gerne. Das hat sich dann nach einer längeren Pause, und als ich inzwischen in die Politik gegangen war, fortgesetzt in dem Sinne, dass ich zuerst für , dann für und später auch noch für Gerhard Schröder auf diesem Gebiet in bestimmten Fragen tätig war. Gottlieb: Wie bewerten Sie die Beitrittsdiskussion zum Thema "Türkei"? Kiep: Sie ist, wie Sie wissen, im Gange und sie ist schwierig. Es ist eine Sache, eine Verfassung zu ändern, und es ist eine andere Sache, das, was nun in der Verfassung drin steht, auch in die Köpfe der Menschen zu implementieren. Da sehe ich nach wie vor eine große Schwierigkeit. Das gilt für die Justiz, das gilt auch besonders für die Polizei und das gilt ebenfalls für den Umgang mit Minderheiten wie z. B. den Kurden. Das Thema "Umgang mit den Kurden" ist ja momentan auch durch den Irak-Krieg wieder etwas angeheizt mit den dortigen ungelösten Problemen. Ich denke schon, dass das alles also noch länger dauern wird. Aber ich sehe auch und gerade bei der jungen Generation in der Türkei eine ganz große Europabegeisterung, weil sie den Eindruck haben: "Dies ist eine einmalige Chance für uns, weil es diesen Druck der Europäischen Union auf uns gibt. Denn sonst würden wir hier in der Türkei ja nie diese Veränderungen erleben können." Das ist eigentlich die zweite Revolution von oben, die die Türken dadurch erleben. Die erste Revolution von oben kam von Atatürk: Er war mit seinen Reformen ja sehr heftig und kräftig. Dies ist nun also die zweite Revolution von oben. Ich bin der Meinung, dass es gerade mit Blick auf die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen wichtig wäre, wenn wir die Türkei im europäischen Lager hielten. Gottlieb: Wir kommen auf Ihr politisches Engagement in all seinen Facetten gleich noch einmal zu sprechen. Aber davor würde ich gerne noch etwas ansprechen. Sie sind ja auch ein Geschäftsmann: Sie haben ganz offenbar das Gen des Geschäftsmannes immer schon in sich getragen. Sie sind in früher Jugend bei Ford quasi ein Auto-Mann geworden. Auch das war ja kein gewöhnlicher Weg. Kiep: Das stimmt. Gottlieb: Von dort aus sind Sie dann aber sehr schnell ins Versicherungsgeschäft gewechselt und dort auch relativ groß und erfolgreich eingestiegen, u. a. auch als Gesellschafter. Sie sind also eigentlich etwas anderes als der typische Politiker. Sie sind eigentlich jemand, wie man ihn sich heute als Politiker immer wünscht: Es sollen vor allem Leute in die Politik gehen, die unabhängig sind und die dort sozusagen ihr eigenes Sinnen und Trachten realisieren können. Bei Ihnen war diese Basis vorhanden, denn Sie hatten ja zunächst einen ganz anderen Berufsweg gewählt. Kiep: Ich hatte eigentlich immer schon die Absicht, in die Politik zu gehen, dies aber nur unter einer Bedingung. Die Bedingung war, nicht von meinem finanziellen Einkommen in der Politik abhängig sein zu müssen. Als ich 1965 dann die Möglichkeit hatte, für den Wahlkreis, in dem ich lebte, für den zu kandidieren, war ich eigentlich noch nicht so weit, dass ich dachte, ich könnte diese Bedingung bereits erfüllen. Aber die Gelegenheit war günstig und deswegen habe ich dann diesen Sprung gewagt. Gottlieb: Sie haben in diesem Wahlkampf im Jahr 1965 einen sehr amerikanischen Wahlkampf geführt. Kiep: Ich war ja völlig unbekannt, mich kannte kein Mensch. Und so musste ich eben etwas unkonventionellere Wege einschlagen, wie z. B. in der Limesstadt, die damals in unserer Nähe gerade entstand, von Wohnblock zu Wohnblock und von Tür zu Tür zu gehen und sich bekannt zu machen. Das hatte letztlich ja auch Erfolg. Wobei ich allerdings besonders Glück hatte, weil die Wahl in meinem Wahlkreis um 14 Tage verschoben wurde wegen des Todes eines Kandidaten einer ganz kleinen Partei. Deutschland wählte also und wir in unserem Wahlkreis mussten 14 Tage lang weiter Wahlkampf machen. Meine beiden Gegner, der SPD-Mann und der FDP- Mann, waren auf der Landesliste abgesichert, sodass ich ihnen am Sonntagabend, als der "Rest" von Deutschland gewählt hatte, ein fulminantes Telegramm schicken und ihnen zu ihrer Wahl gratulieren konnte. Sie haben sich natürlich gewehrt gegen diese Gratulation: "Nein, nein, unsere Wahl kommt ja erst in 14 Tagen!" Aber ich hatte dann eben in der Tat in diesen 14 Tagen die große Chance mit Wahlkampf machen zu können. Gottlieb: Heute ist jedem, der das wissen will, deutlich, wie kräftezehrend, nervenaufreibend und gesundheitszerstörend das politische Geschäft ist, wenn man es mit vollem Engagement betreibt. Wie war das zu Ihrer Zeit? Was hat sich seitdem Ihrer Meinung nach geändert? War das damals überschaubarer? War das doch noch eine Spur langsamer und für einen selbst nicht so Kräfte zehrend wie heute? Hat sich da Ihrer Meinung nach etwas verändert? Kiep: Die Akzeptanz war früher sicherlich anders: die Akzeptanz des Politikers durch die Bürger. Das ist auch eine der großen Sorgen, die mich heute bewegen. Ich habe nämlich den Eindruck, dass die Distanz zwischen der politischen Klasse und den Bürgern größer geworden ist. Gottlieb: Woran liegt das? Kiep: Ich fürchte, das liegt daran, dass die Parteien ihren Verfassungsauftrag, nämlich bei der Willensbildung des Volkes mitzuwirken, wie es so in etwa im Grundgesetz heißt, viel zu extensiv ausgelegt haben. Wir informieren die Bürger viel zu wenig, wir beziehen sie viel zu wenig ein. Unsere Wahlkämpfe sind ja selten in der Gefahr, sich zu einer Art von Ideenwettbewerb mit dem politischen Gegner zu entwickeln. Stattdessen ist es doch eine sehr geringe Menge an Informationen, die selbst in Wahlkampfzeiten rüber kommt. Gottlieb: Wobei allerdings auch die Informationsmenge seit Ihrer aktiven Zeit geradezu explodiert ist und sich vervielfacht hat. Das ist natürlich auch für den Politiker selbst ein riesiges Problem. Kiep: Genau. Dennoch müssten wir dem Bürger erklären, was denn diese Europäische Union eigentlich wirklich bedeutet. Was bedeutet es, dass wir eine Währungsunion machen? Was bedeutete die Aufgabe der D-Mark? Was bedeutet die Erweiterung der EU? Wie sieht die Kompetenzsituation heute aus? Der Bundestagsabgeordnete, der heute in seinem Wahlkreis herumgeht, hat ja im Grunde genommen im Vergleich zu einem Bundestagsabgeordneten des Jahren 1965 einen ganz großen Teil seiner Zuständigkeiten verloren. Das wissen die Bürger und sie wollen dann wenigstens, zumindest nach meinem Eindruck, Zuwendung haben, damit sie informiert sind. Gottlieb: Was könnte man denn gegen diese Verdruß-Entwicklung tun? Kiep: Ich würde zuerst einmal den Parteien insgesamt inklusive meiner eigenen Partei eine größere Bescheidenheit anempfehlen auch hinsichtlich des Aufwands. Zweitens würde ich meiner Partei zu überlegen geben, ob wir nicht – wir sind zwar eine repräsentative Demokratie und wollen das aus vielen Gründen auch nicht ändern – durch Einführung von so etwas wie einer Primärwahl im Wahlkreis etwas verbessern könnten. Die CDU oder die SPD könnten z. B. den Bürgern in einem Wahlkreis zwei oder in einem großen Wahlkreis sogar drei Kandidaten zur Kandidatenwahl stellen. Heute hat doch der Bürger nur die Möglichkeit, denjenigen zu wählen, der von der Partei vorgeschlagen wurde. Wenn er CDU wählen will, dann muss er denjenigen wählen, der von der örtlichen CDU aufgestellt wurde. Wenn der Wähler aber meinetwegen ein Unternehmer ist und einen Mann vom Sozialausschuss der CDU nicht so gerne sieht – oder umgekehrt –, dann wird diese Wahl für den Wähler schon schwierig und es ist sofort eine Distanz da. Gottlieb: Es war ja interessant, Herr Leisler Kiep, dass Sie sich zu Beginn Ihrer politischen Tätigkeit neben der Außenpolitik auch sehr stark auf das Thema "Entwicklungspolitik" gestürzt haben. Sie haben in diesem Zusammenhang auch einmal vom Faszinosum der Entwicklungspolitik und der Entwicklungshilfe gesprochen. Was meinen Sie damit? Kiep: Das ist auch heute noch meine Meinung. Die Zielvorgabe für den Etat der Entwicklungshilfe lautete damals: 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts soll für Entwicklungshilfe ausgegeben werden. Wir fanden das damals alle viel zu wenig! Heute liegt der Prozentanteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt bei 0,2 oder 0,3 Prozent! Die Entwicklungspolitik ist mir dadurch nahe gebracht worden, dass Herr Barzel mich zu sich in sein Büro bestellte. Ich war damals ganz neu im Bundestag und er fragte mich, ob ich gesund sei. Ich war etwas verwirrt durch diese Frage und antwortete ihm: "Ja, doch, doch, mir geht es gut!" Er meinte aber: "Das meine ich nicht. Ich meine, ob Sie in die Tropen reisen können." "Jawohl, das kann ich!" "Sie vertragen also die notwendigen Impfungen usw.?" "Ja, das vertrage ich alles!" Dann sagte er zu mir: "Wunderbar, dann werden Sie Vorsitzender des Entwicklungsausschusses!" Diese Aufgabe, die mich ungeheuer interessierte und mich in meiner ganzen politischen Zeit bis heute beschäftigt hat und immer noch beschäftigt, ist mir also auf diese Weise quasi in den Schoß gefallen. Gottlieb: Ein zweites Faszinosum, vielleicht sogar das größere, war für Sie natürlich die Deutschlandpolitik, die . Dabei haben Sie von Ihrer Unabhängigkeit, auch von Ihrer materiellen Unabhängigkeit Gebrauch machen können, indem Sie damals im Jahr 1973 gegen die Linie Ihrer eigenen Partei und Fraktion gestimmt haben. Sie haben nämlich für diese Verträge gestimmt. Ist Ihnen das schwergefallen? Gab es große Widerstände dagegen? Gab es viele Versuche, Sie umzustimmen und in die Fraktionsdisziplin einzunorden? Kiep: Ja, das war natürlich nicht ganz einfach. Es war üblich, dass man, wenn man anderer Meinung war, das in der Fraktion äußerte, bevor es zu einer Abstimmung kam. Wenn man die Absicht hatte, anders abzustimmen, dann war es üblich, dass man vor der Abstimmung in der Fraktionssitzung sagte: "Ich werde so und so abstimmen!" Da war man dann schon einem gewissen Druck ausgesetzt. Ich habe mich aber immer wieder darüber gewundert, dass damals auch Zeitungskommentatoren usw. davon sprachen, dass für diese Sache Fraktionszwang bestünde. Fraktionszwang ist aber extrem verfassungswidrig! Ich würde sogar sagen, das ist fast strafbar! Wenn man einen Fraktionszwang auf mich hätte ausüben wollen, dann hätte ich dem wirklich mit aller Kraft widerstanden. Ich bin also nie gezwungen worden. Gottlieb: Mit Ihnen konnte man das eben nicht machen. Aber bei Abgeordneten, die sich in anderen wirtschaftlichen Situationen befinden – was ja bis zum heutigen Tag in den Parlamenten für die Mehrheit der Abgeordneten gilt –, ist das natürlich etwas anderes. Kiep: Und es gab und gibt natürlich auch welche, die sich nicht so sehr für Außenpolitik interessieren. Gottlieb: Springen wir gleich noch einmal ein paar Jahre zurück: Im Jahr 1971 sind Sie Schatzmeister der Bundespartei geworden. Ihr Finanzinteresse hat sich also schon damals deutlich ausgeprägt oder war das eher eine "Zufallsbegegnung", dieses Amt des Schatzmeisters? Kiep: Das war keineswegs Ausdruck eines Finanzinteresses, Herr Gottlieb, sondern das war eigentlich eine Überlegung, die mir sehr schwergefallen ist. Wenn ich heute zurückblicke, dann frage ich mich in der Tat, ob es klug gewesen ist, das gemacht zu haben. Aber ich habe das damals gemacht, gerade weil ich in einer sehr exponierten Position in meiner Partei war: insbesondere angesichts der Außenpolitik, genauer gesagt der Ostpolitik und der Deutschlandpolitik. Ich sagte mir daher: "Wenn ich für meine Partei" – die damals ja in großen finanziellen Schwierigkeiten war – "hier etwas bewegen kann, dann festigt das meine Position und erleichtert mir in Zukunft die außenpolitischen Vorstellungen, die ich habe, auch durchzusetzen." Gottlieb: Zum Thema "Geldbeschaffung" kommen wir gleich noch. Wir schauen aber zuerst einmal auf das Jahr 1976, denn in diesem Jahr haben Sie sich erneut mit den Finanzen beschäftigt. Sie wurden nämlich in Niedersachsen in der Regierung von Ernst Albrecht Finanzminister. Sie sind damit in die Landespolitik gegangen und haben dort das Finanzressort übernommen. Mit vollem Herzen und vollem Engagement? Kiep: Ja, und in ziemlicher Unkenntnis des Amtes eines Finanzministers, wie ich hinzufügen möchte. Gottlieb: Wie hatte sich das damals ergeben? Kiep: Es war so, dass ich damals in Hannover bei einem Freund zu einem Sonntagsfrühstück eingeladen war. Bei diesem Frühstück war auch Ernst Albrecht. Er fragte mich dabei: "Sie kennen sich doch in der Fraktion in Bonn aus. Ich brauche einen Wirtschafts- und Finanzminister." Ich habe mir das angehört und fragte ihn dann: "Wie sieht dieses Amt denn konkret aus? Wie stellen Sie sich das genau vor?" Usw. usf. Ich habe ihm so viele Fragen gestellt, dass Ernst Albrecht mit einem Mal sagte: "Sagen Sie mal, interessiert Sie das nicht vielleicht selbst?" Ich antwortete ihm: "Ja, das könnte schon sein." Wissen Sie, wir waren damals in Bonn ja in der Opposition. Ich hatte von dieser Arbeit in der Opposition wirklich genug: Das ist ja auch wirklich ein mühsames Geschäft. Das war vor allem auch deshalb so mühsam, weil ich mit ansehen musste, dass meine Partei trotz allen Zuredens an einer außenpolitischen Linie festhielt, von der ich wusste, dass sie uns noch mindestens zwei, drei Bundestagswahlen kosten wird. Denn in der Außenpolitik ist ja das, was abgeschlossen und ratifiziert ist, Völkerrecht! Das heißt, man muss rechtzeitig von der Inhaltskritik zur Anwendungskritik übergeben und darf die Inhalte selbst nicht mehr in Frage stellen! Das haben wir aber nicht getan in der CDU in Bonn und so haben wir dann bis 1980, das war die letzte Bundestagswahl, die wir damals verloren haben und bei der Franz Josef Strauß Kanzlerkandidat der Union war... Gottlieb: Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen, auf den Bundestagswahlkampf unter der Führung von Franz Josef Strauß gegen Helmut Schmidt. Sie waren damals ja auch in der Kernmannschaft von Franz Josef Strauß: Sie waren quasi der von ihm bestimmte Schatten- Außenminister. Wie haben Sie diesen Wahlkampf erlebt? Wie haben Sie Franz Josef Strauß erlebt? Kiep: Ich habe ihn erlebt als einen ungewöhnlich interessanten Menschen. Ich habe zwei Seiten von Franz Josef Strauß erlebt: eine, von der ich sagen möchte, dass sie fast überwältigend war. Das war sein Geschichtsbewusstsein, das... Gottlieb: Das Sie ja übrigens auch haben, denn auch Sie sind an Geschichte sehr interessiert. Kiep: Ja. Das war wirklich sehr, sehr imponierend an ihm. Das konnte auch zu wunderbaren Gesprächen führen, wenn er in der richtigen Verfassung und Stimmung war. Aber seine Stimmung konnte eben auch jäh umschlagen: Das war die zweite Seite an ihm und die habe ich im Wahlkampf im Jahr 1980 auch erlebt, ebenso wie bei anderen Gelegenheiten. Da brach einfach bei ihm etwas anderes durch. Dieses andere, das da bei ihm durchbrach, hat die Sachlichkeit seiner Ausführungen so stark beeinträchtigt, dass man wirklich Probleme hatte, ihm zu folgen. Ich weiß noch, wie er mich damals fragte, was er denn meiner Meinung nach im Wahlkampf mit Helmut Schmidt machen solle. Ich sagte ihm: "Sie müssen ihn bei jeder Rede loben und dann sagen, dass er leider eine Partei hat, die nicht hinter ihm steht." Gottlieb: Hat er diesen Rat angenommen? Kiep: Er hat eine solche Rede gehalten, nämlich in Bremerhaven. Ich hörte dann hinterher, dass er wütend gewesen war, weil der Beifall, den er erwartet hatte, nicht gekommen war. Denn ein sachlicher, ruhig sprechender Franz Josef Strauß war nicht das, was die Leute sehen wollten: Die Leute wollten einfach etwas erleben, wenn sie zu Franz Josef Strauß gingen. Deshalb hat er meinem Empfinden nach zwar aus 48-Prozentigen 49-Prozentige gemacht, aber nicht aus 20-Prozentigen 60-Prozentige. Das heißt, er hat im Grunde genommen nichts dazu beigetragen, um unserer Partei zusätzliche Stimmen zu bringen. Gottlieb: Damals muss Ihnen während des Wahlkampfes relativ schnell klar geworden sein, dass diese Wahl mit Franz Josef Strauß an der Spitze nicht zu gewinnen ist. Kiep: Ja, das war mir ziemlich klar. Gottlieb: Sie wurden von publizistischer Seite aus stellenweise als das nördliche Gegenmodell zu ihm bewertet. Kiep: Ja. Gottlieb: Wenn man mal von Franz Josef Strauß absieht, wie haben Sie denn in Ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit in der Union Ihre Schwesterpartei CSU bei der Gestaltung der politischen Arbeit empfunden? Welche Figuren sind Ihnen aus dieser Zeit als besonders prägend in Erinnerung geblieben? Kiep: Die bayerische Landespolitik war schon auch faszinierend. Es ist ja ein wirklich besonderes Phänomen, wenn man sich vorstellt, dass eine Partei, die wirklich konservativ und auch wirtschaftskonservativ war, gleichzeitig in der Lage war, in einem so großen Bundesland wie Bayern tatsächlich die unbestrittene Partei Nummer 1 zu werden. Der CDU ist das vor kurzem wohl wieder ein bisschen klar geworden, als wir gewisse Probleme hatten und feststellen mussten, dass die Innenpolitik der CSU, dass die Sozialpolitik der CSU im Grunde genommen mit den Gewerkschaften in Bayern kein Streitthema darstellt. Stattdessen gibt es dort sogar eine große Nähe. Das hat die CSU zumindest in Bayern zu einer Volkspartei gemacht. Gottlieb: Ihr früheres Amt als Schatzmeister der CDU hat Ihnen Ihr Leben in den letzten Jahren ja nicht unbedingt leicht gemacht, wie Sie selbst geschrieben haben. Haben Sie sich da selbst etwas vorzuwerfen? Haben Sie da etwas falsch gemacht? Oder würden Sie sagen, dass Ihnen da übel mitgespielt worden ist? Oder ist das eine Mischung aus allem und Sie haben das für sich selbst vielleicht noch gar nicht alles sortiert? Kiep: Doch das habe ich schon. Denn diese Zeit war doch sehr unangenehm für mich – nicht nur für mich persönlich, sondern vor allem auch für die Familie. Glücklicherweise ist das nun alles vorbei. Man fragt sich natürlich und legt sich selbst Rechenschaft ab, was man eigentlich falsch gemacht hat. Ich hatte ja, wie gesagt, diese Parteifinanzen im Jahre 1971 übernommen. Als ich dann in Niedersachsen Finanzminister war, ruhte mein Amt für fast vier Jahre. Ich habe aber diese Zeit genutzt, um mich mit Parteifinanzierung eingehender zu befassen. Ich habe mir den Leiter meiner Steuerabteilung bestellt und zu ihm gesagt: "So, jetzt möchte ich mal diese ganzen Quittungen sehen, die hier im Umlauf sind!" Ich habe dabei gesehen, dass unsere Hauptfinanzierungsquelle, die "Staatsbürgerliche Vereinigung 1954 e. V." in Köln, später Koblenz, absolut nicht in Ordnung war, dass die vermeintliche Abzugsfähigkeit der Spenden, die diese Vereinigung an die Partei überwies – diese Spenden hatte ich ja vorher als Schatzmeister der CDU in Empfang genommen –, im Grunde genommen den Tatbestand der Beihilfe zur Steuerhinterziehung darstellte. Das haben wir dann geändert. Wir haben im Jahr 1978 diese "Staatsbürgerliche Vereinigung" abgehängt: mit furchtbaren Schwierigkeiten. Dabei hat mich Helmut Kohl sehr unterstützt, obwohl wir wussten, dass uns das Lücken in der Finanzierung einbringen wird. Wir haben also diese Vereinigung nicht mehr benutzt. Sie hat dann aber noch weiter existiert. Insofern war das also eine gute Tat gewesen. Insgesamt ist aber die Finanzierung der Parteien in Deutschland ein Minenfeld: Da kann man eben auch sehr dumme Sachen machen. Eine meiner großen Torheiten war dann ja diese Geschichte im Jahr 1991. Gottlieb: Stichwort "Schweiz". Kiep: Ja, damals habe ich in der Schweiz von einem deutschen Staatsbürger, der jetzt in Kanada lebt, nämlich von Herrn Schreiber, eine Spende angenommen. Ich habe sie nicht persönlich entgegengenommen, aber ich habe sie für die Partei angenommen und sie dann dem zuständigen Mann in der CDU übergeben. Das war sehr, sehr töricht und ich habe das auch sehr bereut und bedauert und das hatte natürlich auch unangenehme Folgen für mich. Aber insgesamt war in meiner Zeit als Schatzmeister die Partei 22 Jahre lang finanziell in der Lage ihre Aufgaben erfüllen zu können: auch in den vielen Jahren der Opposition bis zum Beginn der achtziger Jahre. Die Dinge, die da sonst noch vorgefallen sind und die z. T. ja noch offen und ungeklärt sind – Herr Schreiber wird ja möglicherweise wieder hier in Deutschland erscheinen –, und die Tatsache, wie das in anderen Parteien gehandhabt wird, zeigen, dass das Ganze kein besonderes Ruhmesstück der parlamentarischen Demokratie darstellt. Man kann aber auch Folgendes sagen: Die Politik hat sich bei der Gründung der Bundesrepublik nicht genügend Gedanken darüber gemacht, wie die Parteien zu finanzieren sind. Gottlieb: Hat man sich denn diese Gedanken inzwischen gemacht? Kiep: Man hat sie sich inzwischen gemacht. Ich glaube auch, dass die Lage heute bei weitem nicht mehr so brisant ist. Vor allen Dingen war es damals als Schatzmeister ja unmöglich, vor einer Wahl ein Abkommen mit den anderen Parteien über die Begrenzung der Wahlkampfkosten zu schließen. Das war einfach nicht möglich. Wir hatten, wie gesagt, damals diese staatsbürgerliche Vereinigung im Hintergrund, die SPD bezog Ihre Spenden über Israel, denn sie hatte dort auch eine Stiftung. Diese Stiftung in Israel war natürlich stark tabuisiert. All das gibt es heute jedoch nicht mehr. Insoweit haben wir also heute eine solidere Zeit. Gottlieb: Wobei Sie damals "bewirkt" haben, dass sich aus der "Affäre Kiep", die das ja zunächst einmal war, eine riesige Affäre in der CDU und damit natürlich von Helmut Kohl entwickelte. Kiep: Nun gut, diese Geschichte ist ja wohl entstanden durch die Aussagen, die Helmut Kohl selbst gemacht hat: Ich meine damit diese Spenden, die "auf Ehrenwort" gegeben worden waren, weswegen sich Helmut Kohl dann gebunden fühlte. Gottlieb: Haben Sie sich mit Helmut Kohl irgendwann einmal in diesem Umfeld darüber ausgetauscht? Kiep: Nein. Gottlieb: Das wäre auch nicht Ihr Sinnen und Trachten gewesen? Kiep: Ja, das war nicht mein Sinnen und Trachten. Ich bin ja 1992 als Schatzmeister ausgeschieden. Hinterher habe ich mich dann mit Helmut Kohl über diese Dinge nicht mehr auseinander gesetzt. Gottlieb: Wenn man das alles im Rückblick so betrachtet, und Sie haben vorhin ja auch von den Auswirkungen auf Ihre Familie gesprochen, dann kann man ja doch die Frage stellen, ob es das eigentlich wert war. Sagen Sie sich im Nachhinein, dass Sie sich selbst und Ihrer Familie das alles vielleicht auch hätten ersparen können? Kiep: Es gibt gar keinen Zweifel daran, dass dieser Gedanke vorhanden war – insbesondere als der Höhepunkt kam und ich dann plötzlich mit einem Haftbefehl gesucht wurde, während ich mich ganz friedlich in München aufhielt und meiner Arbeit nachging. Das war sicherlich eine Zumutung, aber ich glaube doch, dass dieses Engagement insgesamt notwendig und richtig gewesen ist. Der Fehler, den ich gemacht habe, bestand vielleicht darin zu glauben, ich müsste meine politische Position, ich müsste das, was ich politisch machen wollte, durch eine Tätigkeit als Schatzmeister absichern. Gottlieb: Sie sind heute Ehrenvorsitzender der "Atlantik-Brücke", weil Sie seit vielen Jahrzehnten ein Promoter, ein Antreiber des deutsch-amerikanischen Verhältnisses sind. Was hat Sie da bewegt? Denn Sie waren ja schon sehr früh sehr amerikanophil in Ihrem Tun, in Ihrem Trachten, in Ihren geschäftlichen Engagements? Woher kam das? Gut, Sie haben einen Vorfahren, der irgendwann einmal vor drei Jahrhunderten in New York sogar Gouverneur gewesen ist. Kiep: Mit einem sehr unglücklichen Ende. Gottlieb: Woher kommt bei Ihnen diese tiefe amerikanische Bindung, die Sie ja zeitlebens hatten? Kiep: Zunächst einmal war das die Konsequenz bzw. die Reaktion auf das, was ich 1945/46 erlebt habe. Ich sagte vorhin schon: Wenn die Menschen das Jahr 1945 hören, dann denken viele nur an die Trümmer. Aber in Wirklichkeit gab es auch "Trümmer", die man nicht anfassen konnte: Das war dieser vollständige moralische Zusammenbruch, der ja alle Werte, die wir als junge Menschen in unserem Leben hatten, in Mitleidenschaft gezogen hatte. Es ging vor allem um die Frage, wie wir als Deutsche da wieder herauskommen: Werden wir da jemals wieder herauskommen? Da war der amerikanische Einsatz für eine Demokratisierung in Westdeutschland bzw. für die, wie die Amerikaner das selbst nannten, Reeducation sicherlich ein ganz entscheidendes Erlebnis für mich. Das hat mich dann auch dazu veranlasst, die Amerikaner später nicht mehr als die Sieger, die Zerstörer von Dresden zu empfinden, sondern als die Macht, die sich, nachdem wir besiegt waren, dafür eingesetzt hat, dass wir diesen Wiedereintritt in die westliche Völkerfamilie verwirklichen konnten. Dazu kam dann z. B. noch der Berliner Air-Lift bei der Blockade von Berlin. Die Ostpolitik wurde mir dann nahegebracht, als ich Beobachter des US- Wahlkampfes von 1968 war und mit den Herren Nixon und Kissinger in den USA unterwegs war. Die beiden erklärten mir damals, dass sie nun eine neue Politik gegenüber Moskau betreiben würden – und auch gegenüber Peking. Denn das Wettrüsten könne in dieser Form einfach nicht mehr weitergehen, weil die Gefahren dabei einfach zu groß seien und der nukleare Holocaust drohe. Ich habe das als Aufforderung empfunden, dass auch wir uns auf eine neue Weise mit der DDR und der Tschechoslowakei befassen müssen, und zwar im Gegensatz zu der Haltung, die wir uns seit dem Mauerbau angewöhnt hatten. Mir wurde also klar, dass auch die CDU eine eher "mittelständische" Ostpolitik betreiben müsse. Das war zusammengenommen eben auch wieder ein amerikanischer Einfluss. Ich erinnere mich an die Nacht vor der Abstimmung über die Ostverträge. Wir bekamen in dieser Nacht vom amerikanischen Botschafter die Mitteilung, Präsident Nixon sei überhaupt nicht daran interessiert, diese Ostpolitik scheitern zu sehen. Für mich wurde das damit eben auch zu einer Frage des deutsch-amerikanischen Verhältnisses. Gottlieb: Dieses deutsch-amerikanische Verhältnis hat ja in den letzten Jahren zweifellos gelitten. Kiep: Ja, sehr. Gottlieb: Wo stehen wir da heute in diesem Verhältnis? Kiep: Es hat sehr gelitten. Es hat gelitten, was unsere Beziehung angeht, es hat aber vor allem – und das ist eigentlich das Schlimmere – auch in globaler Hinsicht gelitten, weil das Standing Amerikas, weil die Glaubwürdigkeit Amerikas in Frage gestellt wurde. All das, was die USA nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht haben: Nürnberger Prozesse, Marshallplan usw. – ist eigentlich in Mitleidenschaft gezogen worden durch das Vorgehen der amerikanischen Regierung, durch den Irakkrieg, durch die Erklärung "Wir sind jetzt im Krieg!" und durch all die Maßnahmen, die dann in den USA hinsichtlich der Einschränkung der Freiheit der Menschen stattgefunden haben: Das war in verschiedenen Bereichen sogar ein weitgehend verfassungswidriges Verhalten der Regierung. Das Ideal "Amerika" ist dadurch für mich ganz groß in Frage gestellt worden. Ich habe das mal in einer Diskussion in den USA folgendermaßen ausgedrückt: "Ihr macht es verdammt schwer, euch zu lieben!" Sie fragten mich nach dem Stand des deutsch-amerikanischen Verhältnisses heute. Ich bin der Meinung, dass wir uns in einem Stadium der Veränderung befinden. Nicht etwa deswegen, weil das der amerikanische Präsident nun unbedingt so machen will, denn er selbst steht ja nicht zur Wiederwahl, sondern deswegen, weil die USA heute feststellen müssen: Auch die stärkste Militärmacht der Erde kann die Lebensprobleme – und die haben die USA eben auch – , nicht aufgrund von militärischer Stärke lösen. Da hat man nun auch wieder entdeckt, dass Verbündete recht nützlich sind. Bush hielt ja bis vor einigen Jahren nicht viel von Verbündeten. Wenn man sich jedoch heute die Tonlage im State Department anhört, wenn man mit Condoleezza Rice spricht und das dann vergleicht mit dem, was im Weißen Haus gesagt wird, dann sieht man, dass da wirklich eine Entwicklung in Gang gekommen ist. Ich glaube, dass man bereits bei den nächsten Wahlen – im Herbst wird in den USA ja das Repräsentantenhaus neu gewählt ebenso wie ein Drittel des Senats – gewisse Veränderungen sehen wird. Ich denke jedenfalls, Amerika kehrt zurück zu einer multilateralen Außenpolitik. Ich habe es zwei Mal erlebt, dass Amerika einen Fehler letztlich doch erkennt und dann eine neue Strategie verfolgt. Das erste Mal war die Zeit von McCarthy: Ich habe das damals in den USA selbst erlebt. Das war eine ganz schreckliche Geschichte. Es ging damals um die Verfolgung von vermeintlichen Kommunisten. Man glaubte, dass hinter jedem kritischen Hollywoodfilm ein Kommunist stecken würde usw. Das zweite Mal, dass ein Fehler eingesehen wurde, war der Vietnamkrieg. Diesen Krieg habe ich nicht nur in Vietnam erlebt, sondern vor allem in Amerika, und zwar im Jahr 1968, als der arme Humphrey das Erbe von Johnson übernahm und in den Wahlkampf ziehen musste. Auch hier hat Amerika wieder den richtigen Kurs gefunden. Ich glaube also, dass wir auch heute wieder in einer Phase sind, in der sich bestimmte Dinge ändern werden. Gottlieb: Haben die Europäer eigentlich diese Chance und diese Veränderungsmöglichkeit in der Politik begriffen? Kiep: Ich glaube schon. Mir hat es sehr, sehr gut gefallen, dass Frau Merkel, als sie Anfang des Jahres zu George Bush fuhr, vor ihrer Abreise hier bei uns gesagt hat: "Guantanamo ist eine Sache, die wir nicht tolerieren können." Ich glaube, dass das der richtige Ton war, dass diese Politik von deutscher Seite aus fortgesetzt wird und dass wir in diesen Dingen tatsächlich eine Änderung erleben werden. Ich hoffe jedenfalls, dass wir es vermeiden können, dass es zu einer Katastrophe kommt. Denn man muss sich ja nur einmal anschauen, was jetzt gerade im Umlauf ist hinsichtlich eines militärischen Schlages gegenüber dem Iran: Er soll ja möglicherweise sogar mit nuklearen Waffen geführt werden, weil die nuklearen Vorbereitungen des Irans, wenn sie denn stattfinden, teilweise durch eine Oberflächenzerstörung gar nicht zu beseitigen sind. Wenn man sich das alles ansieht, dann bekommt man natürlich neue Sorgen. Ich kann in diesem Zusammenhang immer nur an Folgendes erinnern. Der Kalte Krieg und die nukleare Konfrontation haben "funktioniert", führten also nur deshalb nicht zur Katastrophe, weil eine Sache ganz klar war: Es war absolut sichergestellt, dass ein nuklearer Angreifer selbst total zerstört werden würde. Die Formel lautete damals: "mutual assured destruction". Das muss man sich erneut vor Augen führen, wenn man heute über den Iran spricht. Deshalb bin ich nicht der Meinung, dass das die richtige Tonlage ist. Stattdessen meine ich, dass die USA direkt mit dem Iran sprechen sollten. Gottlieb: Sie sprechen hier also mit tiefer Besorgnis über die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, denn das könnte sich in der Tat zu einer Weltkrise entwickeln. Wie stark ist denn eigentlich der praktische Einfluss des Elder Statesman Kiep auf diese Dinge, wie Sie sie jetzt hier im Gespräch artikulieren? Wie stark können Sie heute noch Ihre Meinung auch dort anbringen, wo sie Wirkung zeigt, also in Washington oder anderswo? Kiep: Das ist eigentlich auch durch die Atlantik-Brücke gegeben, weil wir da eine Menge von Aktivitäten und Begegnungen haben, insbesondere auch mit jungen Menschen. Davon mache ich auch Gebrauch. Aber das Schwierige dabei ist eben: Wenn man an der Westküste oder an der Ostküste über diese Themen spricht, dann braucht man gar nicht viel sagen. Das wissen die Leute alle und sie vertreten absolut ihre eigene Meinung bei einem kritischen Gespräch über Politik. Dennoch hat George W. Bush diese zweite Wahl gewonnen. Deshalb ist es eben viel wichtiger im mittleren Westen der USA über Politik zu diskutieren als in New York oder Washington oder Miami. Im Augenblick befindet sich jedenfalls die amerikanische öffentliche Meinung in einem Umbruch. Ich bin auch deshalb so engagiert, weil ich weiß, dass wir auch in Zukunft dieses Amerika brauchen. Das vereinigte Europa braucht unbedingt die Vereinigten Staaten. Amerika braucht aber auch die Bundesrepublik Deutschland. Wir kritisieren also Amerika nicht etwa aus Schadenfreude, sondern wir wollen, dass Amerika wieder das Amerika wird, das von 1945 bis 1989 den Frieden gesichert und es uns ermöglicht hat, unser Land wiederzuvereinigen. Gottlieb: Herr Leisler Kiep, eines Ihrer Bücher trägt den Titel "Was bleibt, ist große Zuversicht". Wenn Sie Ihr langes und pralles Leben Revue passieren lassen: Was war es, das diese Zuversicht ins Wanken hat bringen können? Kiep: Nun ja, die Gefährdung des Ziels unserer Politik durch die Politik, die wir eben im Zusammenhang mit dem Irakkrieg erlebt haben. Ich muss Ihnen ganz offen sagen, dass mich auch die Situation heute angesichts der Irankrise ein wenig ins Wanken geraten lässt. Wir hatten ja einen Weg mit dem Iran gefunden, indem die Europäer, die Europäische Union, vertreten u. a. auch durch die Bundesregierung, diese Gespräche führte. Auch die UN waren ja eingeschaltet. Meine Sorge ist, dass wir diesen Weg verlassen. Der Gedanke eines militärischen Präventivschlags gegen den Iran hat mich mit großer Sorge erfüllt. Ich glaube aber nicht, dass es dazu kommen wird. Gottlieb: Man hat Sie einmal gefragt, wie Sie denn einst in Erinnerung bleiben möchten. Sie haben darauf geantwortet: "Ich möchte bezeichnet werden als jemand, der etwas bewegt hat." Nun, "etwas bewegen" ist ja zunächst beliebig: Was würden Sie gerne bewegt haben? Kiep: Ich würde vielmehr sagen: Ich möchte als jemand in Erinnerung bleiben, der etwas bewegen wollte und der vielleicht auch tatsächlich eine gewisse Wirkung gehabt hat. Aber das sind natürlich immer die Anstrengungen von vielen: Ich glaube nicht, dass man als Einzelner den Anspruch erheben könnte, bei diesen Dingen eine fundamental wichtige Rolle gespielt zu haben. Dazu waren ja auch die Positionen, die ich in meinem Leben innehatte, gar nicht geeignet: Ich habe ja eigentlich immer nur persönlich meine Meinung zu diesen Dingen vertreten. Ich bin ja als Schatten- Außenminister von Franz Josef Strauß auch leider nicht Außenminister geworden. Aber ich glaube, mein Handeln hat vielleicht doch dazu beigetragen, dass diese Politik der Vereinigung Europas im Einklang mit den USA auf unserer Seite, also in unserer Bevölkerung ein zusätzliches positives Echo gefunden hat. Ich denke auch, dass das Interesse Amerikas an uns, bewirkt durch viele, viele Besuche und Tätigkeiten in Amerika, zugenommen hat. So viel würde ich mir vielleicht erlauben zu sagen, bewegt zu haben. Gottlieb: Was würden Sie denn heute einem jungen Menschen raten, der sich für Politik interessiert, der aber daran zweifelt, ob das System, in dem sich die Politik heute abspielt, für ihn das geeignete ist? Kiep: Das ist eine ganz, ganz wichtige Frage. Früher kamen nach jeder Versammlung – egal, wo auch immer im Land das gewesen ist – mindestens drei, vier junge Leute auf einen zu und sagten: "Das interessiert uns, können wir da irgendwo mitmachen? Können wir darüber auch mal intensiver diskutieren?" So etwas erlebt man heute leider eigentlich gar nicht mehr. Heute ist es schwer, einen jungen Menschen dazu zu bewegen, der Politik näher zu treten. Natürlich gibt es auch heute welche, die das tun... Gottlieb: Aber die machen das aus anderen Gründen. Kiep: Genau, das ist dann eine Karrieregeschichte. Ich glaube, dass das in den anderen Parteien nicht anders aussieht: Da gibt es eigentlich keinen Unterschied. Wobei ich aber sagen muss, dass eigentlich die FDP für Menschen, die hauptsächlich an ihre Karriere denken, die ideale Partei wäre: Sie ist zwar klein, aber man kommt in ihr schneller nach oben! Ich glaube jedenfalls, dass sich die Parteien ein bisschen mehr Sorgen darüber machen sollten, warum keine jungen Leute mehr kommen, die interessiert sind, die mitmachen wollen, und dass diejenigen, die sich tatsächlich engagieren, das aus Berufs- bzw. aus Karrieregründen machen. Wenn das jedoch so ist, dann übt man als junger Politiker so gut wie keine Anziehungskraft mehr aus auf andere junge Menschen. Gottlieb: Wobei der Wille zum Engagement bei den jungen Menschen ja durchaus vorhanden ist. Kiep: Ja, der ist absolut da. Gottlieb: Er muss eben nur entsprechend kanalisiert werden. Kiep: Ganz genau. Gottlieb: Walther Leisler Kiep, herzlichen Dank für das Gespräch im alpha-forum im Bildungskanal des Bayerischen Fernsehens. Vielen Dank.

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