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Sendung vom 27.11.2007, 20.15 Uhr

Dr. Alexander Wrabetz Generaldirektor ORF im Gespräch mit Christoph Lindenmeyer

Lindenmeyer: "Österreich ist ein Labyrinth, in dem sich jeder auskennt", ein Satz von Helmut Qualtinger. Wir reden heute im alpha-forum, das aus Wien, aus dem Fernsehsendezentrum des Österreichischen Rundfunks kommt, über Österreich mit einem Gast, der sich besonders gut in Österreich auskennt, dem Generaldirektor des Österreichischen Rundfunks. Herr Dr. Alexander Wrabetz, herzlich willkommen. Es gibt von Gustav Mahler den schönen Satz: "In Österreich wird jeder das, was er nicht ist." Wie sind Sie geworden, was Sie sind? Und: Sind Sie das geworden, was Sie sind? Wrabetz: (lacht) Ich glaube schon, dass ich das geworden bin, was ich bin, wobei das jedoch eine längere Geschichte ist, die durchaus nicht so geplant war. Anders als viele Österreicher hatte ich nicht den Kindheitstraum, Generaldirektor des ORF zu werden, wenngleich das in der Tat einer der tollsten Jobs im Land ist. Ich war lange Jahre in verschiedenen Bereichen in der Wirtschaft tätig und kam dann als kaufmännischer Direktor – vergleichbar dem Verwaltungsdirektor in Deutschland – in den ORF. Vor einem Jahr wurde ich Generaldirektor. Lindenmeyer: Ich habe gestern gelernt, dass Ihr Name "Wrabetz" aus dem Tschechischen entlehnt ist und auf Deutsch "Spatz" heißt. Spatzen gelten als anpassungsfähig, als besonders intelligent und werden sehr geliebt. Ist der Spatz ein Wappentier für Sie? Wrabetz: Nein, eigentlich nicht, denn ich komme aus einer bürgerlichen Familie und da gibt es keine Wappentiere. Lindenmeyer: Sie sind auch heute in diesem Gespräch im alpha-forum Ihrer Farbe, was die Krawatte betrifft, treu geblieben, denn Sie tragen gerne lila, also eine liturgische Farbe. Wie ist das zu erklären? Wrabetz: Erstens habe ich gerne farbige Krawatten. Man muss aber in Österreich aufpassen, dass nicht irgendetwas in die Farbe der Krawatte hineininterpretiert wird, obwohl man das gar nicht wollte, weil fast alle Farben irgendwie politisch besetzt sind. Es ist ja bekannt, dass es im Stiftungsrat bei meiner Wahl eine sehr, sehr breite, sehr, sehr bunte Koalition von Unterstützern gegeben hat. Die einzige Farbe, die in diesem Zusammenhang neutral war, war die Farbe Lila. Lindenmeyer: Sie hätten ja auch Weiß tragen können. Wrabetz: Ja, schon, aber das ist nicht so schön, da passt das Lila besser. Inzwischen gefällt mir diese Farbe auch ganz gut, obwohl ich von der Weltanschauung her ein Rapid-Anhänger bin, also ein Fan der Fußballmannschaft Rapid Wien. Die Farbe von Rapid Wien wäre Grün-Weiß, während Lila akkurat die Farbe von Austria Wien ist, dem den Rapidlern verfeindeten Klub. Aber ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. Lindenmeyer: Können Sie sich auf Führungsetagen Menschen vorstellen, die vom Fußball überhaupt nichts verstehen? Wrabetz: Ach ja, selbstverständlich, denn das spielt dort letztlich überhaupt keine Rolle. Es ist lustig, über Fußball zu reden, über Fußball zu streiten, aber es gibt auch noch viele andere Dinge, über die man sehr gut reden kann. Lindenmeyer: Sie sind erst eine relativ kurze Zeit Generaldirektor des Österreichischen Rundfunks. Ihre Vorgänger waren alle noch Generalintendanten. Wo ist dieser Titel geblieben? Wrabetz: In den Wirrungen und Irrungen des ORF-Gesetzes des Jahres 2001. Damals hat man gesagt, man möchte den ORF in seiner Führungsstruktur näher an eine Aktiengesellschaft anlehnen. Daher nahm man dann den aus der Wirtschaft kommenden Titel "Generaldirektor" und nicht mehr den zugegebenermaßen viel schöneren Titel "Generalintendant". Lindenmeyer: Sind Sie mehr General oder mehr Direktor im Sinne eines Dirigenten? Wrabetz: Nun, das sind eben die zwei Komponenten, die zu einer Führungsfunktion dazugehören. Ich glaube, man kann heute kein modernes Unternehmen, schon gar nicht ein modernes Medienunternehmen, in militärischer Art und Weise führen. Ich habe zwar die Letztentscheidung, und die muss ich manchmal auch einsetzen, und trage die Verantwortung: Das ist vielleicht der Anteil des "Generals" bei meiner Arbeit. Aber ansonsten hat das doch mehr mit einem Orchester zu tun, bei dem man ja auch versucht, die verschiedenen Instrumente optimal zum Zusammenwirken zu bringen. Da können auch nicht alle einfach nur irgendwie durcheinander spielen. Lindenmeyer: Es gibt aber den einen wichtigen Unterschied, dass Sie dabei dem Publikum nicht den Rücken zudrehen. Wrabetz: (lacht) Ja, so ist es. Lindenmeyer: Der ORF ist eine sehr große öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt. 50 Prozent seiner Finanzierung stammen aus Rundfunkgebühren, 50 Prozent muss er selbst verdienen. Es gibt viele Stimmen, die sagen, der Weg von einer Rundfunkanstalt zu einem Rundfunkunternehmen müsse vollzogen werden. Andere jedoch sagen, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender kein Unternehmen sein kann wie eine Maschinenfabrik oder eine Gurkenfabrik. Wie ist Ihre Einstellung dazu? Wrabetz: Ich glaube, dass es da tatsächlich einen großen Unterschied gibt und dass wir kein Unternehmen wie jedes andere sein können – und das auch nicht wollen. Denn dann würden wir unseren Auftrag nicht erfüllen können. Der ORF hat einen besonders umfassenden Auftrag in Relation zur Größe des Landes von der österreichischen Politik, vom Gesetzgeber, von der Gesellschaft bekommen – aber nie ausreichende Mittel dafür. Stattdessen hat man von Anfang an gesagt: "Wir wollen einen großen und starken ORF, aber er muss sich einen guten Teil seiner Mittel selbst auf dem Markt verdienen, weil in einem so kleinen Land wie Österreich keine so hohe Gebührendeckung zu erzielen ist wie in anderen, größeren Ländern." Daraus hat sich dann eigentlich von Anfang an der ORF in einer Art von Hybridfunktion entwickelt: Wir gaben und geben einerseits ein klares Bekenntnis zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk ab und waren und sind in vielen Bereichen sogar Vorreiter und gutes Beispiel für den öffentlich- rechtlichen Rundfunk. Gleichzeitig mussten wir aber auch ein starkes Gespür für kommerzielle Funktionen entwickeln. Im Idealfall wirkt das beides synergetisch zusammen. Es gibt aber auch Bereiche, wo sich das beißt. Lindenmeyer: Sie sind angetreten mit dem Vorsatz, den Österreichischen Rundfunk, Hörfunk wie Fernsehen und Online-Angebot, einer Reform zu unterziehen, also noch besser zu werden. Skeptiker sagen ja gelegentlich: "Wer eine Reform veranstaltet, hat die Jahre zuvor zu wenig getan." Wrabetz: Nein, in unserem Fall stimmt das nicht. Der ORF hat sich eigentlich immer wieder erneuert. Die letzte grundlegende Erneuerung fand unter Gerhard Zeiler Mitte der 90er Jahre statt. Lindenmeyer: Der war noch Generalintendant. Wrabetz: Ja, und er war als Generalintendant mein Vor-Vor-Vorgänger. Er machte damals eine sehr grundlegende Reform: Medienhistorisch betrachtet hat er sogar als Erster im öffentlich-rechtlichen Bereich versucht, eine Antwort auf die Herausforderungen durch die kommerziellen Anbieter zu geben. Das hat an sich sehr gut funktioniert und wurde dann zehn Jahre lang nur graduell weiterentwickelt. Nach gut zehn Jahren gab es aber dann einige Dinge, bei denen wir uns doch noch einmal einen größeren Ruck geben mussten. Wir mussten einfach versuchen bestimmte Dinge zu ändern, um auf die mittlerweile noch schärfer gewordenen Herausforderungen Antwort geben zu können. Lindenmeyer: Einer der Rucks galt einer Nachrichtensendung, nämlich der Nachrichtensendung "" im österreichischen Fernsehen. Diese Sendung ist auch in grenznahen Gebieten Bayerns recht gut bekannt. Die Sendung "Zeit im Bild", kurz und liebevoll "ZIB" genannt, bekam einen neuen Hintergrund. Aber die Öffentlichkeit hat über diesen neuen Hintergrund geschimpft, er sähe aus wie ein ungebügeltes Leintuch. Über die Inhalte wurde nicht ganz so stark gestritten. Wie sehen nun Ihre Erkenntnisse aus im Hinblick auf diesen Reformprozess, der ja nun schon eine ganze Weile läuft? Ich denke, nicht alles hat so geklappt, wie Sie sich das vorgestellt haben. Einer Ihrer Vorgänger, ein früher Generalintendant, hat diese Reform sogar öffentlich heftig kritisiert. Das mag eine Stilfrage sein, wie sehen Sie das? Wrabetz: Es war fast 50 Jahre hindurch eine gute Übung, dass die Vorgänger ihre Nachfolger im ORF nicht öffentlich kommentiert haben. Daran haben sich ganz weitgehend alle gehalten. Ich betrachte diesen Einzelfall eher als Ausrutscher, der zum Glück nicht zum Dauerkommentar von der Galerie geworden ist. Ansonsten ist es ja selbstverständlich, dass man sich der Kritik gegenüber diesen Dingen stellt und auch offen darüber diskutiert, wenn etwas nicht so geworden ist, wie man sich das vorgestellt hat. Das Wichtigste bei meinem Amtsantritt war ja, dass der ORF in den vergangenen eineinhalb, zwei Jahren massiv in die Diskussion gekommen war, und zwar in Bezug auf die politische Unabhängigkeit, die Kritikfähigkeit und die politische Objektivität. Das war eine Debatte, die von fast allen Seiten im Lande geführt wurde. Wir haben das, wie ich denke, was das Inhaltliche betrifft, ganz gut hinbekommen. Es wird uns auch von allen Seiten attestiert, dass bei uns wieder die journalistische Arbeit im Vordergrund steht, dass wir wieder mutiger, angriffslustiger sind und auch den Konflikt nicht scheuen. Das ist das, was inhaltlich passiert ist. Das ist mir wichtig und das wird auch allgemein als positiv anerkannt. Das wird also auch vom Publikum bemerkt: Wenn man das testet und Umfragen macht, dann erfährt man, dass das Publikum in diesen Fragen eigentlich sehr feinfühlig ist. Der zweite Punkt ist, dass wir die "Zeit im Bild" inhaltlich meiner Meinung nach deutlich verbessert haben. Auch daran hat es keine Kritik gegeben. Die Kritik am Design, diese Diskussion um die berühmten Streifen im Studiohintergrund, zähle ich ehrlich gesagt zu den Dingen, bei denen ich einfach nicht konsequent genug war: Mir haben diese Streifen von Anfang an nicht gefallen, aber da gab es halt sehr kompetente Leute in der Graphik- und Designabteilung, die ganz überzeugt davon waren, dass das eine tolle Lösung sei. Dennoch sind diese Streifen beim Publikum nicht so gut angekommen. Das Tolle bei der "Zeit im Bild" ist ja, und das ist für unsere Kollegen bei vergleichbaren Sendeformaten im Ausland absolut unbegreiflich, dass sie derart anerkannt und wichtig ist. In jenen Tagen nach der Reform musste man in Österreich zu einem Bergbauern, einem Industriearbeiter, einem Hochschulprofessor oder wem auch immer nur sagen: "Was sagst du zu den Streifen?" Und schon bekam man eine Antwort, weil jeder sofort gewusst hat, worum es geht. Man musste also gar nicht dazusagen, dass es um den ORF und um eine bestimmte Sendung im ORF geht. Jeder wusste das ohnehin und hatte auch eine Meinung dazu! Besser wäre es natürlich gewesen, die Meinung dazu wäre eine positive gewesen, aber selbst diese Reaktion hat gezeigt, welch starke Stellung der ORF bzw. "Zeit im Bild" einnimmt. Diese Streifen konnte man jedenfalls relativ rasch auch wieder ändern. Lindenmeyer: Der Österreichische Rundfunk als Streifenhörnchen. Sie sprachen von Versuchen einer politischen Einflussnahme. Diese gibt es selbstverständlich überall, in allen Ländern, in denen es einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt. Diese Einflussnahme gibt es im Übrigen auch gelegentlich bei den privat-kommerziellen Fernsehsendern. Mir ist jedenfalls aufgefallen und ich würde Sie gerne fragen, ob meine Beobachtung richtig ist: In deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wird härter kommentiert und im Österreichischen Rundfunk sind die Kommentare auch noch vergleichsweise seltener. Beim ORF wird jedoch härter gefragt und nachgefragt. Diese härteren Fragen sind im Grunde genommen eine angelsächsische Tradition, die die Kontinentaleuropäer von der BBC in London übernommen haben. Schätze ich damit den Österreichischen Rundfunk richtig ein? Wrabetz: Das ist eine Beobachtung, der ich einiges abgewinnen kann. Das Wichtige ist für uns wirklich das harte Fragen: dass an unseren Fragen nicht vorbeigegangen wird, dass von unserer Seite aus die entscheidenden Fragen gestellt werden, dass wir es nicht akzeptieren, wenn sich Politiker den Fragen entziehen, indem sie gar nicht zum Gespräch kommen. Wir haben jetzt schon wieder ein paar Mal mit dem "leeren Stuhl" gearbeitet. Das heißt, man kann eine Diskussion nicht dadurch vermeiden, dass man nicht hingeht zum ORF. Denn genau dieses Problem hatten wir einige Zeit lang mit der Politik. Mittlerweile ist es aber doch wieder so, dass die Politiker auch kommen, wenn sie eingeladen sind, und sich den Debatten stellen, obwohl dort hart und gut gefragt wird. Auch beim Kommentar könnte es sein, dass Sie Recht haben. Allerdings versuchen wir auch eine Kommentarkultur zu entwickeln. Aber da haben wir noch ein Stück Weg vor uns. Es gab da mal einen Giganten beim ORF, den jeder sofort im Kopf hat, wenn es um die Frage des Kommentars geht: Das war der Hugo Portisch, der über Jahre hinweg der Chefkommentator des ORF gewesen ist. Lindenmeyer: Eine legendäre Figur. Wrabetz: Ja, eine wirkliche Legende. An diese Tradition müssen wir erst noch Anschluss finden. Lindenmeyer: Vielleicht sollten wir jetzt ein paar Worte über die Struktur Ihres Senders verlieren. Wir sagten schon, dass Sie sich zu 50 Prozent privat über Werbung finanzieren müssen, währen die andere Hälfte Ihres Etats über Rundfunkgebühren hereinkommt. Der Österreichische Rundfunk ist relativ groß für ein kleines Österreich. Er hat fast den Charakter eines Senders in einem Weltreich wie dem alten Habsburger Reich. Sie haben über 4000 festangestellte Mitarbeiter, die Freelancer, also die freien Mitarbeiter nicht mitgezählt. Wenn man genauer hinsieht, dann erklärt sich das alles sehr wohl, denn beim ORF gibt es nicht nur Programme, die aus Wien kommen, sondern auch Programme, die aus den Regionen kommen. Dies gilt für den Hörfunk genauso wie für das Fernsehen. Wrabetz: Wir haben immerhin zwölf Radioprogramme, drei nationale und neun regionale, sodass auch für kleine Bundesländer mit nur 250000 Einwohnern ein 24-Stunden-Nachrichtenprogramm gemacht wird. Lindenmeyer: Das sind die Sender "", "", "" usw. Wrabetz: Genau. Diese Regionalprogramme sind sehr erfolgreich und sogar ganz wesentliche Träger der regionalen Identität und Vielfältigkeit Österreichs. Es wird auch immer wieder über sie diskutiert, denn das unterscheidet uns z. B. von Bayern. Bayern ist ja wohl nicht so viel kleiner als Österreich, aber der Bayerische Rundfunk hat, soweit ich das weiß, nur zwei weitere Regionalstudios außerhalb Münchens, also jedenfalls nicht neun voll etablierte Landesstudios mit Fernsehen, Radio und Internet. Ich glaube aber, dass das einer der Gründe für unsere relative Stärke ist. Natürlich kostet so etwas viel Geld, das ist keine Frage, aber die Landesstudios haben eine Nähe zu ihrer Bevölkerung, die wirklich unglaublich ist. Ich war vor kurzem einmal im Burgenland und einmal in Niederösterreich bei Tagen der offenen Tür der jeweiligen Landesstudios. Alleine im Burgenland kamen zu diesem Tag der offenen Tür des Landesstudios Burgenland mehrere Tausend Menschen! Das sind gleich ein paar Prozent der Bevölkerung. Es waren wirklich fast 10000 Leute da: Man sieht, die Menschen in der Region leben wirklich mit ihrem Regionalstudio. Ich halte das für eine unserer Stärken, auch wenn das Geld kostet. Aber das müssen wir uns einfach leisten. Lindenmeyer: Wenn ein Österreicher mitteilen möchte, er wäre besonders wichtig, dann sagt er: "Ich kenne jemanden beim ORF!" Auch das ist ja ein Zeichen einer gewissen Verankerung des Senders in der Bevölkerung. Wrabetz: Ja, nun gut. Lindenmeyer: Aber auch Sie sind inzwischen nicht mehr alleine auf dem Markt, denn es gibt auch für den ORF privatwirtschaftliche Konkurrenz, kommerzielle Konkurrenz. Was bedeutet das für Österreich, für den Österreichischen Rundfunk, der diese Konkurrenz im dualen System wesentlich später erlebt hat als z. B. der Bayerische Rundfunk und alle anderen öffentlich- rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland. Wrabetz: Ich bin mir da gar nicht sicher, ob das wirklich sehr viel später der Fall war. Denn von Beginn der Kabel- und Satellitenverbreitung an hat bei uns etwas begonnen, das den österreichischen Medienmarkt bis heute dominiert, nämlich das Hereinstrahlen der deutschen Fernsehprogramme: der öffentlich-rechtlichen, aber vor allem der privaten. Mittlerweile können 90 Prozent der österreichischen Haushalte alle deutschen Programme empfangen. Wir sprechen ja bekanntlich im Wesentlichen die gleiche Sprache: Dadurch ergibt sich in Österreich die Besonderheit, dass wir als ORF Programm machen für ein Land mit acht Millionen Einwohnern, aber die Konkurrenz eines Sprachraums von 90 Millionen Menschen haben, eines Sprachraums mit all den Möglichkeiten, die ein Programm in Deutschland nun einmal hat. Das ist schwer für uns, denn damit treten wir an gegen RTL, gegen die ARD, den Bayerischen Rundfunk und das ZDF, gegen ProSieben und Sat.1, also gegen den kompetitivsten Medienmarkt ganz Europas. Das ist für uns als ORF schon nicht so ganz einfach. Gleichzeitig ist das aber für die privaten Anbieter in Österreich noch viel schwerer. Und das ist das Problem von ATV, dem österreichischen Privatsender, der vor drei Jahren als österreichischer Sender begonnen hat: Dort muss man sich im Wettbewerb nicht nur gegen einen starken ORF stellen, sondern muss den noch viel härteren Wettbewerb gegen die deutschen Privatsender wie RTL, ProSieben, Sat.1, RTL 2 etc. aushalten. Deswegen ergibt das immer eine Art zwiespältiges Bild, wenn man sich den österreichischen Markt anschaut: In Österreich sind wir ein Riese, der wirklich groß und stark ist, aber wenn man uns als Bestandteil des deutschsprachigen Medienmarktes betrachtet, dann sind wir halt auch "nur" ein regionaler Spieler. Und für die privaten Anbieter ist das in Österreich eben noch krasser. Lindenmeyer: In meinem Hotel in Wien lag heute die Tageszeitung "Die Presse" aus Wien auf, und zwar mit einer Sonderbeilage "40 Jahre Ö1". "Österreich 1" bzw. "Ö1" ist ein sehr erfolgreiches, vielleicht sogar das erfolgreichste Kultur- und Informations-Hörfunkprogramm in Europa. Das Jahr 2007 steht ganz im Zeichen dieses Jubiläums. Die "Presse" bezeichnet dieses Programm allerdings als den "letzten Mohikaner". Dahinter steckt der Vorbehalt, "Ö1" könnte die letzte Kulturinsel im öffentlich-rechtlichen Rundfunkprogramm in ganz Österreich sein, also eine Art "Restreservat für Kultur". Welche Rolle spielt eigentlich die Kultur in einem modernen Medienhaus und in einem Sender, der sich so aufgestellt hat wie der Österreichische Rundfunk in Hörfunk, Fernsehen und in seinen Internetangeboten? Wrabetz: Erstens sind wir natürlich sehr stolz auf "Ö1": Das war wirklich eine der Glanzleistungen von Gerd Bacher vor 40 Jahren, zu erkennen, dass man in diese Art von Strukturprogrammen gehen und ein Programm wie "Ö1" gründen muss. Alfred Treiber als Programmchef von "Ö1" hat das in vielen Jahren dann zu dieser tollen Erfolgsmarke des ORF gemacht. Wir haben da wirklich eine Reichweite von zehn Prozent der Bevölkerung jeden Tag! Für ein sehr klar strukturiertes Kulturprogramm ist das – auch international gesehen – etwas, worauf wir sehr stolz sein können. Die Kultur im ORF jedoch nur darauf zu reduzieren würde viel zu kurz greifen. Ich finde z. B., dass unser Radioprogramm "FM4" ein Jugendkulturradio ist. Lindenmeyer: Das ist das jüngste Programm des ORF. Wrabetz: Das ist ein Programm, das im Bereich der Jugendkultur bzw. der jüngeren Kultur sehr, sehr herzeigbar und eindeutig ein Bereich unseres Kulturauftrags ist. Aber auch im Fernsehen haben wir mit Naturdokumentationssendungen, Religionssendungen usw. fast jeden Tag eine Kultursendung im Programm, die immer sehr gut gemacht ist und die auch immer überdurchschnittliche Marktanteile – gemessen an vergleichbaren Sendungen – aufweist. Lindenmeyer: Marktanteil heißt für Sie Erfolg? Wrabetz: Ja, das heißt Erfolg. Natürlich haben diese Sendungen anderen Marktanteilskriterien zu genügen als ein Film oder ein Massenprogramm. Aber wir wissen, dass wir in Österreich auch eine sehr kulturinteressierte Bevölkerung haben. Das ist eben auch mit einer der Gründe dafür, warum "Ö1" so gut funktioniert: weil es eben in Österreich eine Bevölkerung gibt, die das schätzt. Lindenmeyer: Ist das stärker eine städtische, eine großstädtische Bevölkerung? Wrabetz: Das ist natürlich in Wien am stärksten, Wien ist nun einmal eine Kulturstadt mit einer doch sehr kulturaffinen Bevölkerung. Aber das gilt quer durch bis in die ländlichen Gebiete. Der Jugendkultursender "FM4" wird z. B. draußen in den Regionen viel stärker gehört und noch viel stärker als wichtig wahrgenommen als in Wien, weil das dort eben die Verbindung zur Welt darstellt; teilweise ist das bei "Ö1" auch so. Weil Sie die Kultur auch im Fernsehen angesprochen haben: Wir hatten in diesem Jahr vier Mal Oper live im Hauptabendprogramm: zwei Mal aus der Wiener Staatsoper, einmal von den Salzburger Festspielen und einmal von den Bregenzer Festspielen. Das ist doch ein klares Bekenntnis unsererseits zur Kultur. Wenn man das zusammenzählt, dann kann man erkennen, dass wir mit solchen Opernübertragungen etwa ein Drittel der österreichischen Bevölkerung erreichen und damit natürlich viel, viel mehr Leute, als selbst in einem Kulturland wie Österreich Leute pro Jahr in die Oper gehen. Den lieben Kollegen von den Printmedien wird das aus ihrem Blickwinkel nie genug sein. Aber wir haben gerade in diesem Jahr bei unserer Reform wirklich einige ganz klare Akzente im Kulturbereich gesetzt – auch unter Inkaufnahme von Quotenverlusten. Es ist halt auch immer so: Der eine Teil des Feuilletons wirft einem am Monatsende immer den Quotenverlust vor und der andere beklagt, dass es immer noch zu wenig Kultur im Fernsehen gibt. Aber gut, damit können wir leben. Lindenmeyer: Und ein Teil der Printmedien ist eben auch beteiligt an privaten Fernseh- und Rundfunkanbietern. Wrabetz: Ja, die sind natürlich schon eng verflochten. Aber das würde ich ja noch verstehen bei den Zeitungen, wenn sie über uns schlecht schreiben, weil sie damit ihren eigenen privatwirtschaftlichen Unternehmungen nützen wollen. Das versteht man schon, weil da dann halt ein klares Interesse dahintersteht. Aber es gibt in Österreich eben auch diese ganz bestimmte Spezialität, die Karl Kraus einmal als die "uneigennützige Gemeinheit" bezeichnet hat. Das heißt, man schimpft über den anderen, ohne dass man selbst davon etwas hätte. Das ist schon eine ganz besondere Spezialität der österreichischen "Landschaft". Lindenmeyer: Im Übrigen gehen wir natürlich davon aus, dass es eine Trennung zwischen verlegerischen und journalistischen Interessen gibt. Wrabetz: Ja, aber selbstverständlich, das sowieso. Lindenmeyer: Ich hatte Sie vorhin nach der Kultur im Österreichischen Rundfunk gefragt. Sie haben dann einige Beispiele von bildungsorientierten Sendungen genannt. Es gibt aber auch durchaus vernünftige Fernsehleute, die sagen, Fernsehen tauge nicht, um Menschen zu bilden, es könne höchstens unterhalten oder informieren, aber für Bildung sei es das falsche Medium. Wie sehen Sie das? Wrabetz: Für Bildung im engeren Sinne, also für Bildung im Sinne schon fast von Schulfernsehen, gibt es heute meiner Meinung nach idealere Medien als das Fernsehen. Ich denke hierbei natürlich vor allem an den Internetbereich und dortige Lernprogramme, bei denen Lernvorgänge einfach besser ablaufen können als im Fernsehen. Ich halte es in der Tat für ein grundlegendes Missverständnis, das Fernsehen sozusagen als die zentrale Bildungsinstitution der Nation zu betrachten und immer daran zu messen. Was wir jedoch sehr wohl können als öffentlich-rechtlicher Fernsehveranstalter, ist Interesse zu wecken, Plattform für Diskussionen zu sein und Anregungen zu geben. Das können wir und das ist auch unsere Aufgabe. Aber den klassischen Bildungsvorgang, der in Schule, Elternhaus, Universität, Volkshochschule usw. wahrgenommen werden sollen, zu substituieren, hielte ich für ein Missverständnis. Lindenmeyer: Sie haben vorhin die schwierige Situation beschrieben, in einem kleinen Land Programm zu machen gegen eine übermächtige internationale Konkurrenz. Partnerschaften können hier einiges erleichtern. Der Österreichische Rundfunk hat z. B. eine Partnerschaft mit dem Bayerischen Rundfunk, insbesondere beim Bildungskanal BR-alpha. Welchen Stellenwert hat eine solche Partnerschaft für den ORF? Wrabetz: Das ist für uns eine wichtige Kooperation, die wir nun ja auch schon seit einigen Jahren haben. Vor kurzem haben wir die 1000. Sendung gemacht, die wir in BR-alpha gestalten konnten. Lindenmeyer: Das ist "alpha-Österreich". Wrabetz: Ja, ich halte das wirklich für ganz wichtig. In diesem Punkt war uns der Bayerische Rundfunk mit der Etablierung dieses Kanals vor knapp zehn Jahren in der Tat voraus. Wir haben dann unter meinem Vor-Vorgänger Gerhard Weis gesagt: "Ja, da machen wir mit!" Wir waren auch sehr froh, dass wir eingeladen wurden vom Bayerischen Rundfunk, "alpha-Österreich" zu gestalten und mitzumachen. Digitale Welt bedeutet, dass man Spartenangebote machen muss: Sie sind besser zu leisten, sie werden aber auch notwendiger. Es ist also notwendig, bestimmte Aufgaben in Spartenkanälen zu erfüllen. Insofern ist BR-alpha eine wichtige Kooperation für uns. Das gilt natürlich auch für unsere Mitarbeit bei "", wo wir ebenfalls bei einem Gemeinschaftsprogramm mit dabei sind, oder auch für die Kooperation mit "". Denn als kleines Land können wir einfach nicht alles alleine machen: In diesem Fall sind wir sogar Nutznießer der Tatsache, dass wir eine gemeinsame Sprache sprechen. Lindenmeyer: Da geht es also um Programmaustausch. Wrabetz: Ja, das ist Programmaustausch. Lindenmeyer: Werden Sie solche Kooperationsformen in Zukunft eher verstärken oder bleibt das auf dem jetzigen Niveau? Wrabetz: Ich glaube, wir müssen generell viel offener sein für Kooperationen, weil wir immer mehr Inhalte werden anbieten müssen. Wir denken allerdings auch selbst über einen ORF-Informationskanal nach, also über einen Kultur- und Spartenkanal im Fernsehen. Diesen werden wir, so glaube ich zumindest, noch in dieser Geschäftsführungsperiode beginnen können. Wir werden allerdings bei der Bestückung dieses Kanals wiederum auf Kooperation mit BR-alpha stark angewiesen sein. Die Antwort lautet also eindeutig "ja", wir müssen die internationalen Kooperationen verstärken. Lindenmeyer: Sie sagen "in dieser Geschäftsperiode" und meinen damit Ihre Amtsperiode. Sie gelten als ein Generaldirektor, der jeden Tag genau mitteilen kann, wie lange er in dieser Geschäftsperiode noch im Amt ist. Wissen Sie das heute auch auf den Tag genau? Wrabetz: Nein, heute weiß ich das nicht mehr. Am Anfang habe ich das noch gezählt. Lindenmeyer: Sie sind also gelassener geworden inzwischen. Wrabetz: Ja, sicher. Es ist einfach so, dass es in Österreich das wirklich rituelle Spiel gibt, quasi am Tage des Amtsantritts bereits zu fragen, ob man sich beim nächsten Mal noch einmal bewerben wird. Genau darauf habe ich mit dieser Zählerei am Anfang angespielt. Lindenmeyer: Mein Taxifahrer gestern sagte, ein richtiger Wiener muss eine böhmische Mutter und einen ungarischen Vater haben oder umgekehrt. Der "Wrabetz", das sagten wir bereits, kommt aus dem Tschechischen. Sie selbst sind in Wien aufgewachsen und haben in Wien studiert. Zog es Sie während des Studiums und danach in die Welt? Wrabetz: Schon während des Studiums war ich viel unterwegs. Danach hatte ich in der Wirtschaft eine sehr internationale Tätigkeit, bei der ich sehr viel für österreichische Unternehmen unterwegs war. Lindenmeyer: Ihr Vater war Anwalt und Sie wurden dann ebenfalls Jurist. Warum? Wrabetz: Ich hatte nie die Ambition Anwalt zu werden, denn ich hatte schon relativ früh den Wunsch, in die Wirtschaft zu gehen. Dafür ist Jura nun einmal ein gutes Grundlagenstudium und deshalb habe ich dann eben Rechtswissenschaften studiert. Lindenmeyer: Hatten Sie bereits als Student ein Medieninteresse? Wrabetz: Schon! Wir sind eine Familie, in der extrem viel über Politik diskutiert wird und das durchaus sehr kontrovers. Medien wie Zeitungen und Fernsehen spielten und spielen eine große Rolle in unserer Familie. Ich selbst habe von Anfang an in Medien mitgearbeitet: Das fing bei der Schülerzeitung an und ging bis zum ORF als freier Mitarbeiter während des Studiums. Ja, das ist mir immer wichtig gewesen im Leben. Lindenmeyer: Ihr Herz schlägt links, sagen Kritiker, sagen Freunde. Sie stehen also der Sozialdemokratie nahe. Wer waren Ihre großen politischen Vorbilder? Zum Beispiel Bruno Kreisky? Wrabetz: Natürlich, das war schon jemand, der eine ganze Generation geprägt hat. Lindenmeyer: Willy Brandt? Wrabetz: Ja, Brandt, Palme, Kreisky, das waren doch Personen, die ein ganzes Jahrzehnt, nämlich die 70er Jahre, in denen ich selbst ein Jugendlicher war, geprägt haben. Lindenmeyer: Sie haben dann nach Ihrer Promotion viele Jahre in der Wirtschaft verbracht, in unterschiedlichen Tätigkeits- und Verantwortungsbereichen. Wie war dann der Wechsel von der Wirtschaft in den Österreichischen Rundfunk? Ein Schock? Eine Herausforderung? Oder beides? Wrabetz: Das war ja ein bisschen ein fließender Übergang, weil ich zuerst im Kuratorium, also im Verwaltungsrat gesessen bin. Ich war in der Wirtschaft zum Schluss Vorstand einer Tochterfirma von Fresenius, einem großen deutschen Konzern, bei dem ich weltweit im Gesundheitswesen tätig war. Ich saß damals 150 Tage im Jahr im Flugzeug auf dem Weg nach Asien, Afrika, USA. Es kam dann dieses Angebot, in den ORF einzusteigen; danach ging es dann mehr nach St. Pölten, nach Salzburg usw. Wenn wir mal zu den Kollegen nach Deutschland gefahren sind, dann war das schon ein großes Hinausgreifen in die Welt. Ja, das war schon ein bisschen eine Umstellung in Bezug auf das Tätigkeitsgebiet. Aber ansonsten sind wir, obwohl ich immer Wert darauf lege, dass wir nicht mit einer Gurkenfabrik vergleichbar sind, eben doch auch "nur" ein großes Unternehmen. Das heißt, die Mechanismen und Fragen, wie man etwas weiterbringt, wie man am Produkt arbeiten kann, mit welchem Engagement man am Produkt arbeitet, sind doch recht ähnlich. Das Phantastische beim ORF ist allerdings dieser große Einsatz von vielen Mitarbeitern und ihre Begeisterung, für dieses Unternehmen tätig zu sein. Das macht den eigentlichen Unterschied aus, denn in der Wirtschaft gibt es zwar schon auch Leute, die sich dann, wenn sie lange in derselben Firma arbeiten, mit dieser Firma identifizieren, aber beim ORF ist das noch einmal etwas ganz anderes. Lindenmeyer: Ein Wirtschaftler würde jetzt dieses schreckliche Wort "Humankapital" benützen. Wrabetz: Die Mitarbeiter sind immer wichtig für ein Unternehmen, aber beim ORF ist es eben in ganz besonderem Ausmaß der Fall, dass sich die Mitarbeiter mit dem Unternehmen identifizieren. Sie bringen dabei auch die Bereitschaft mit, sich ganz besonders anzustrengen. Wir als öffentlich-rechtliches Unternehmen haben ja gelegentlich das Problem, dass sich das – weil es eben auch Einzelfälle gibt, bei denen das leider nicht so ist – in der Außenansicht anders darstellt, als es innerhalb des ORF tatsächlich der Fall ist. Ich kann also nur Folgendes feststellen: Das, was wir in diesem Jahr beim ORF alles bewegt haben, wäre in einem "normalen" Unternehmen gar nicht möglich gewesen. Die Energie, die da mobilisierbar war, war schon enorm. Die Mitarbeiter haben sich unglaublich angestrengt, um all diese Dinge zu bewegen, zu verändern. Das war schon beeindruckend. Lindenmeyer: Helmut Markwort, der Chefredakteur des "Focus", im Nebenberuf Moderator im Bayerischen Fernsehen, hat seine Führungsstil einmal als "management by walking" bezeichnet. Er sagte: "Ich gehe immerzu durch das Haus, denn zu mir kommen immer nur Menschen, die sich beschweren oder die mehr Geld wollen!" Wie würden Sie Ihren Führungsstil kennzeichnen? Wrabetz: Ja, ich gehe gerne durchs Haus und bin gerne mit dabei bei Aktivitäten. Man kann auf diese Weise schon sehr viel an Kommunikation aufrechterhalten. Selbstverständlich hat auch das seine Grenzen, weil immer mehr Leute mit mir etwas besprechen wollen, sodass das länger dauern würde, als der Tag Stunden hat. Ich glaube schon, dass ich einen offenen und partizipativen Führungsstil habe, denn das Wichtigste ist, dass man möglichst offen die Dinge erfährt und bespricht. Es ist natürlich auch klar, dass ich in sehr, sehr vielen Fällen demjenigen, der etwas von mir möchte, der mir einen Vorschlag macht, keinen positiven Bescheid geben kann. Aber das liegt in der Natur der Sache, denn wir bräuchten mindestens zehn Sender für die vielen Ideen, die es gibt, um sie umsetzen zu können. Aber es ist schon so: Das Gespräch ist mir wichtig. Lindenmeyer: Sie vertreten ja beides, als früherer Manager in Wirtschaftsunternehmen die wirtschaftliche Intelligenz und zugleich die öffentlich-rechtliche Verantwortung, Programmverantwortung, Personalverantwortung und auch Qualitätsverantwortung. Die Wirtschaft orientiert sich am Profit, der öffentlich-rechtliche Rundfunk an sogenannten Werten. Es gibt nun einen neuen Begriff in Europa, den die BBC erarbeitet hat und den nun auch die deutschen Rundfunkanstalten übernommen haben, das ist der Begriff "Public Value". Wie würden Sie einem Zuschauer erklären, was Public Value ist? Und vor allem, wozu brauchen Sie eine Ermittlung des Public Value? Wrabetz: Ich glaube, dass wir hier ein neues Bewertungssystem brauchen, ein Bewertungssystem im Hinblick auf die Diskussion, die in der EU geführt wird und die von den Privaten immer wieder gegen uns angestrengt wird. Zweitens brauchen wir dieses neue Bewertungssystem auch für den Konsumenten, weil nämlich so manche von unseren Alleinstellungsmerkmalen in der digitalen Überflussgesellschaft nicht mehr so deutlich herauskommen. Aus diesem Grund sind wir sicher gut beraten, den Mehrwert, den wir schaffen für den Einzelnen, für die Gesellschaft, für das Land, für Europa auch zu definieren. Es ist natürlich eine sehr, sehr harte Arbeit zu definieren, worin denn dieser Mehrwert besteht. Anschließend müssen wir versuchen, diesen Begriff messbar zu machen: Das ist erneut ein sehr schwieriges Unterfangen, aber das ist diese Sache auch wert. Und drittens müssen wir diesen Mehrwert dann auch öffentlich vertreten, müssen wir versuchen, ihn argumentativ in die Öffentlichkeit zu bringen. Lindenmeyer: Ist denn der Wert z. B. von Literatur messbar? Ist der Wert einer Oper oder einer Opernübertragung messbar? Wrabetz: Nun ja, wir arbeiten alle daran, hier sinnvolle Kriterien zu finden: die BBC genauso wie unsere Kollegen von der ARD, vom ZDF oder vom Schweizer Fernsehen. Denn natürlich lässt sich Qualität nicht einfach messen. Dasselbe Problem gibt es bei der Vielfalt. Denn wie misst man Vielfalt? Man kann sie beschreiben, aber einen Index der Vielfalt zu erstellen, sodass man z. B. sagen könnte: "Was würde in der Gesellschaft an kulturell- geistiger Verarmung stattfinden, wenn wir unsere Leistungen wegdenken?", das ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Lindenmeyer: Gilt das im Umkehrschluss auch? Kann es sein, dass sich die öffentlich- rechtlichen Anstalten wie z. B. der ORF aufgrund der Ermittlung des Public Value von bestimmten Aufgaben trennen, die bisher der Tradition entsprachen? Wrabetz: Nein, das sehe ich eigentlich nicht, im Gegenteil. Unsere Werte, unsere Anforderungen an unsere Tradition werden sogar stärker werden. Sie werden in Zukunft noch mehr unsere Stärke ausmachen. Wir beim ORF sind ja froh und glücklich darüber, dass wir die besten amerikanischen Filme und die neuesten Serien ausstrahlen können und dass diese Dinge von unserem Publikum sehr geschätzt werden, weil wir diese Filme eben ohne Werbeunterbrechung senden können. Aber man muss auch erkennen, dass der Wert dieses amerikanischen Filmprodukts geringer wird, weil aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten wie DVDs, Video- Download usw. das Fernsehen seine Funktion als Transporteur dieser Filme verliert. In dem Maße, in dem das der Fall ist, wird sozusagen das Alleinstellungsmerkmal des selbst produzierten Films, des in Österreich, des in Europa produzierten Films wichtiger, als das noch vor ein paar Jahren der Fall gewesen ist. Für die strategische Entwicklung unserer Anstalten wird das sogar noch viel wichtiger werden. Meiner Meinung nach soll also der Public Value die Stärken, die wir öffentlich-rechtlichen Sender haben, klarer herausstreichen und ihnen in der Argumentation mehr Gewicht geben. Gleichzeitig soll er aber auch gewisse Kriterien für die zukünftige Entwicklung definieren. Ein wichtiger und grundsätzlicher Bestandteil des Public Value ist für mich, dass wir, dass die öffentlich- rechtlichen Anstalten bestimmte Inhalte bereitstellen, die der Markt in dieser Form eben nicht bereitstellt. Es gehört aber auch die Reichweite zum Public Value mit dazu, die Reichweite in Bezug auf das Zielpublikum, das man erreichen möchte. Lindenmeyer: Man möchte also nicht nur gut sein, man möchte auch erfolgreich sein. Wrabetz: Ja, ganz klar. Denn zu einem Selbstzweck dürfen wir auf keinen Fall werden. Es gehört also immer mit dazu, dass man zumindest diejenigen, für die man das alles macht, die man ansprechen will – das wird nun nicht bei jeder Sendung ein Millionenpublikum sein –, auch tatsächlich erreicht. Auch das gehört also zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit dazu. Lindenmeyer: Bitte eine kurze Antwort auf eine Frage, die immer wieder gestellt wird: Das Publikum wird immer älter, demographisch wird die Bevölkerung älter, aber die Fernseh- und Rundfunkverantwortlichen setzen auf eine Verjüngung der Programme. Wie kann das funktionieren? Wrabetz: Ich glaube schon, dass wir als ORF auch die jüngere Bevölkerungshälfte erreichen müssen, also die unter 50-Jährigen, die ja tatsächlich die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Das ist für unsere Legitimation ganz entscheidend. Klar ist aber auch, dass genau das immer schwerer wird, weil die Alten und Älteren immer mehr werden und auch länger fernsehen, während die Jüngeren weniger werden und tendenziell weniger fernsehen. Insofern muss man also aufpassen, dass man nicht einer unerreichbaren Zielgruppe hinterher rennt. Aber bis zu einem gewissen Grad ist es nun einmal notwendig, auch die jüngere Bevölkerungshälfte anzusprechen und zu versorgen. Noch stellen die Jüngeren, also die unter 50-Jährigen, ja wirklich die Hälfte der Bevölkerung, aber irgendwann werden sie nur noch ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Lindenmeyer: Dies ist auch schon deshalb notwendig, damit die Programme nicht vergreisen. Wrabetz: Das ist vor allem auch eine Frage der Gebührenlegitimation. Denn wenn der aktive, der auch beruflich aktive Bevölkerungsteil sagen würde, der ORF gehöre eher in den Rahmen der Rentenversorgung, weil er selbst dessen Angebote überhaupt nicht mehr wahrnimmt, dann würden wir auf die Dauer doch in große Schwierigkeiten kommen. Lindenmeyer: Herr Dr. Wrabetz, meine vorletzte Frage an Sie und nun direkt an den Generaldirektor des ORF: Wie sieht es mit der Frauenquote im Österreichischen Rundfunk aus? Wrabetz: Historisch nicht sehr gut. Wir sind ein männlich dominiertes und strukturiertes Unternehmen. Ich habe mir aber vorgenommen, dass wir das schrittweise ändern, dass wir also den weiblichen Anteil bei den Führungskräften erhöhen. Lindenmeyer: Sie selbst haben ja eine weibliche Führungskraft abgelöst, nämlich Ihre Vorgängerin Monika Lindner. Sie soll Sie in Sitzungen gelegentlich liebevoll "Baby" genannt haben. Wrabetz: (lacht) Das ist in dieser Form nun wirklich nicht oft vorgekommen: Das war eben ihre spezielle Ausdrucksform, die halt einmal ein Journalist mitgehört hat. Aber in Sitzungen hat sie mich definitiv nie so genannt. Und sonst? Älter wird man unvermeidbarerweise. Lindenmeyer: Herr Dr. Wrabetz, ich danke Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch. Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für die Aufmerksamkeit für dieses alpha-forum, das heute aus dem ORF-Fernsehzentrum in Wien kam.

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