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Hermann Göring und bei den

Nürnberger Prozessen.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer

Verteidigungsstrategien

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades

eines Magisters der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von:

Bernhard RAUTZ

am Institut für Geschichte Begutachter: Univ.- Dozent Dr. Martin Moll

GRAZ, Juli 2015

Danksagung:

Zunächst möchte ich mich an dieser Stelle bei meinen Eltern Kurt und Martha, sowie meiner Schwester Katrin Rautz bedanken, die mich während der Anfertigung dieser Diplomarbeit unterstützt und motiviert haben.

Ganz besonders gilt dieser Dank Herrn Dr. Martin Moll, der mich bei der Erstellung der Arbeit betreut hat. Vielen Dank für die Geduld und die Mühen.

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ...... 4

2. Abstract Deutsch/Englisch ...... 5

3. Forschungsfrage und Methode ...... 6

4. Allgemeiner Teil ...... 7 a. Albert Speer ...... 7 b. Hermann Göring ...... 17 c. Der Nürnberger Prozess ...... 25

5. Göring und Speer beim Nürnberger Prozess ...... 31

6. Die Anklagepunkte gegen Hermann Göring ...... 37

7. Die Verteidigung von Hermann Göring ...... 39

8. Das Urteil über Hermann Göring ...... 44

9. Die Anklagepunkte gegen Albert Speer ...... 50

10. Die Verteidigung von Albert Speer ...... 54

11. Das Urteil über Albert Speer ...... 73

12. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Strategien ...... 77

13. Biographien und deren Einfluss auf den Prozess ...... 80

14. Schlussfolgerung und Nachwort ...... 82

15. Literatur- und Quellenverzeichnis ...... 83

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1. Einleitung

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen die Angeklagten Hermann Göring und Albert Speer beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46. Ich möchte mit dieser Arbeit auf die beiden erwähnten Angeklagten bei diesem Prozess sowie auf ihre Verteidigungsstrategien eingehen. Das Anliegen dieser Arbeit ist es, das damalige Geschehen in Erinnerung zu rufen, die Hintergründe und Überlegungen, die zu diesem Prozess führten, darzustellen und schließlich die Personen Hermann Göring und Albert Speer in die europäische Geschichte einzubetten.

Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess vor britischen, französischen, sowjetischen Richtern und Richtern aus den Vereinigten Staaten war ein Novum in der Geschichte der Völker und des Völkerrechts. Der Gerichtshof wollte nicht auf Gewalt setzen, sondern auf das Recht mit der Folge, dass Angeklagte auch freigesprochen wurden oder nach der Auffassung von Zeitgenossen „zu billig wegkamen“. Deshalb möchte ich die Urteile über die Angeklagten Hermann Göring und Albert Speer analysieren und vergleichen.

In meiner Diplomarbeit möchte ich besonders auf die Personen Hermann Göring und Albert Speer eingehen sowie kurz allgemeine Aspekte des Nürnberger Prozesses behandeln.

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2. Abstract Deutsch/Englisch

Diese universitäre Abschlussarbeit befasst sich mit den einstigen NS-Größen Hermann Göring und Albert Speer beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46. Es werden hierbei Unterschiede und Gemeinsamkeiten der jeweiligen Verteidigungsstrategien, knapp die angeklagten Personen sowie der Prozessort erläutert. Am Beginn stehen die Biographien der beiden Angeklagten, gefolgt vom Gerichtsort Nürnberg. Die Arbeit behandelt danach ausführlich Anklagepunkte, Verteidigungen und Urteile betreffend die beiden Protagonisten. Ziel dieser Arbeit ist es, das unterschiedliche Auftreten der beiden Angeklagten beim Prozess widerzuspiegeln: Trotz identischer Anklagepunkte wurden Hermann Göring und Albert Speer ungleich bestraft. Dieser Unterschied des Strafausmaßes des Nürnberger Gerichtshofes wird in dieser Studie herausgearbeitet.

This thesis deals with the former prominent Nazi leaders Hermann Göring and Albert Speer at the trial held against the major war criminals in 1945/46. The paper explains the differences and common features of the defence strategies and contains a brief description of the defendants as well as of the place where the trial took place. This thesis starts with the biographies of the two defendants, followed by a description of the location of the trial, Nuremberg. The thesis then deals in detail with the indictment, the defence and the sentences the two protagonists received. The aim of this paper is to portray the differences in the way the two defendants presented themselves at the trial: despite convergent indictments, Hermann Göring and Albert Speer received divergent sentences. This difference in the degree of punishment pronounced by the Nuremberg Court will be elaborated on in this paper.

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3. Forschungsfrage und Methode

Mit meiner Forschungsfrage: Hermann Göring und Albert Speer bei den Nürnberger Prozessen. Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer Verteidigungsstrategien möchte ich diese beiden Personen genauer behandeln und ihre Strategien bei dem Prozess analysieren. Zuerst möchte ich die Akteure Göring und Speer genauer in einer kurzen Biographie vorstellen und die Beweggründe, die sie zur NSDAP führten, näher analysieren. Warum haben sie sich der NSDAP angeschlossen? Albert Speer, der zuerst nichts mit Politik zu tun und kein Interesse an der NSDAP hatte, schloss sich im Jahr 1932 der Partei an. Nach einer Kundgebung Adolf Hitlers war es wie ein „Aha-Erlebnis“ für ihn. Hermann Göring fand auf gänzlich anderem Weg zu der NSDAP. Seine Militärlaufbahn begann schon im Ersten Weltkrieg, bereits anfangs hatte er große Sympathie für und seine Idee eines künftigen Deutschland.

Um eine erfolgreiche Arbeit zu schreiben, habe ich mich für die Methode „Literaturrecherche“ entschieden. Es gibt zu meinem Thema genügend Literatur und Dokumente.

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4. Allgemeiner Teil

a. Albert Speer

Albert Speer wurde am 19. März 1905 als Sohn eines erfolgreichen Architekten in geboren und studierte nach dem Abitur von 1923 bis 1927 in Karlsruhe, München und auf Anraten seines Vaters statt Mathematik Architektur. Nach dem Diplom blieb er noch einige Jahre als Assistent von Prof. (1876-1950) an der Technischen Hochschule in Berlin- Charlottenburg. Beeindruckt von einer Rede, die Adolf Hitler am 4. Dezember 1930 im überfüllten Festsaal auf der Hasenheide im Berliner Bezirk Neukölln gehalten hatte, trat Albert Speer am 1. März 1931 der NSDAP bei (Mitgliedsnummer: 474.481). Ein Jahr später ließ er sich als selbstständiger Architekt in Mannheim nieder.1 Die Jugend von Albert Speer war sehr geregelt, d.h. er kam aus einer großbürgerlichen Familie und die Jugend verlief für ihn hauptsächlich ereignislos. Es gibt kaum Aufregendes zu berichten über die Jugendjahre des späteren Architekten Adolf Hitlers. Das Verhältnis zu seinen Eltern war sehr distanziert, d.h. der Vater war für Albert Speer unnahbar, auch die Mutter war sehr kühl und scheu zu seinen Brüdern und ihm. Es erweckt den Anschein, als ob die Mutter menschenscheu gewesen wäre und mit anderen Personen nichts zu tun haben wollte. Der Vater war, wie schon der Großvater väterlicherseits, Architekt und hatte sich im Mannheimer Raum mit Verwaltungsbauten, herrschaftlichen Wohnhäusern und Villen nicht nur einen Namen gemacht, sondern auch einigen Wohlstand erworben. Als er im Jahr 1900 die Tochter eines Mainzer Handelskaufmanns heiratete, der es vom Förstersohn zum erfolgreichen Unternehmer gebracht hatte und der seine Herkunft auf den Reichserbmarschall von Pappenheim zurückführte, war er darüber hinaus zu beträchtlichem Vermögen gelangt. Doch für Albert Speer waren diese gedrängten und reichen Verhältnisse nicht das Seine, deswegen fühlte er sich sehr wohl, als er 1918 nach übersiedelte. In Heidelberg blühte Albert Speer regelrecht auf, jedoch

1 URL: http://www.dieterwunderlich.de/Albert_Speer.htm. 7

blieb die Beziehung zu den Eltern schwierig.2 Auch die Beziehung zu seinen Geschwistern war nicht besser; die Brüder waren ganz anders als Albert, sie waren robust und laut, das komplette Gegenteil von Albert. Die Beziehung zum Vater war trotz großer Bewunderung von Albert Speer für ihn sehr schwierig. Er war ein prinzipienfester, lebensnaher Mann, immer korrekt gekleidet, mit goldener Uhrkette, Knebelbart und kurzgeschnittenem Haar.3 Bei aller Nüchternheit verfügte er über einen sicheren, aus Herkommen und neuem Familienstolz erwachsenen Bürgerinstinkt. Als er Mitte der dreißiger Jahre nach Berlin kam und abends mit seinem unvermittelt hochgestiegenen Sohn eine Theaterpremiere besuchte, bat Hitler ihn während der Pause in seine Loge. Kaum vorgestellt, überfiel ihn ein heftiges Zittern, bleich und wie gelähmt nahm er den Wortschwall hin, der auf ihn niederging. Albert Speer hat später vermutet, dass der Vater die furchteinflößende Andersartigkeit erfasste, die Hitler um sich verbreitete: Als werde ihm vom einen Augenblick zum anderen bewusst, dass da ein Mensch vor ihm stand, der „etwas ganz Fremdes“ an sich hatte, „etwa wie eine sonst ausgestorbene Urrasse, die völlig amoralisch noch geartet ist“, wie einer der zeitgenössischen Konservativen den Diktator beschrieben hat.4 Jedenfalls verabschiedete er sich, kaum dass Hitler geendet hatte, ohne ein Wort der Erwiderung, mit einer steifen Verbeugung.5 Politisch stand der Vater für den Liberalismus ein und vertrat die Interessen und freiheitlichen Überzeugungen des Bürgertums.6

In den Anfangsjahren hatte Albert Speer kein großes Interesse am politischen Geschehen in Deutschland, er wollte sich selber entwickeln und konzentrierte sich deswegen mehr auf sich. Albert Speer wollte nach seinem bestandenen Abitur nicht, wie der Vater gehofft hatte, das Architekturstudium beginnen, sondern wollte Mathematik studieren. Dieser Schritt war für den Sohn sehr schwer, da der Vater damit nicht einverstanden war. Nach seinem Vater könne Albert „nur“ Universitätsprofessor oder Lehrer werden. Am Ende überredete der Vater den

2 Fest. Speer. 23-25. 3 Ebd. 25. 4 Ebd. 25-26. 5 Ebd. 26. 6 Ebd. 8

Sohn doch zum Architekturstudium, damit die Familientradition fortgesetzt werden konnte.7 Die zweite „Enttäuschung“ für den Vater nach dem geplanten Mathematikstudium war Alberts Liebe zu Hausmeisterkindern und ärmlichen, nicht standesgemäßen Schulkameraden.8 Deswegen bekamen die Eltern von Albert Speer im Jahr 1922 einen großen Schock, da sich Albert in eine jüngere Tochter eines Schreiners verliebte. Zwar war der Schreinermeister Weber sehr erfolgreich und beschäftigte in seinem Betrieb an die 50 Mitarbeiter, jedoch war dies für die Eltern von Albert zu wenig. Als Albert nach geraumer Zeit, nach dem Abschluss seines Studiums, seine Heidelberger Jugendliebe, die Tochter des Schreinermeisters Margarete Weber heiratete, dauerte es sieben Jahre, bis die junge Dame ins Haus ihrer Schwiegereltern eingeladen wurde.9 Das Bürgertum dominierte im Hause der Eltern und dies war für Albert nicht immer ideal. Man hat später oft gefragt, warum das Bürgertum gerade in Deutschland dem Nationalsozialismus so widerstandslos erlegen ist, während es anderswo eine, wenn auch schwache, aber zuletzt erfolgreiche Abwehr gegen den politisch organisierten Radikalismus der Mitte zu leisten vermochte.10 Die umfassende Antwort muss eine Vielzahl von historischen, sozialen, politischen und anderen Gründen nennen, die der Entstehung einer gewachsenen und selbstsicheren bürgerlichen Schicht Hemmnisse bereitet haben. Bereits der Erste Weltkrieg, die Revolution sowie die Wirren, die ihr folgten, hatten das Bürgertum Schritt um Schritt aus den erst unlängst erlangten Schaltstellen gedrängt und nicht nur seine Schwächen ans Licht gebracht, sondern auch die tiefen Spaltungen, die kein einheitliches Interesse überbrückte.11 Der Liberalismus, den der Vater von Albert Speer so sehr mochte, war in keinster Weise besser. Trotz zahlreicher negativer Vorzeichen hielt der Vater an dieser politischen Richtung fest und hegte große Abscheu gegen Hitler sowie die politische Entwicklung in Deutschland. Der Vater war absoluter Gegner dieser Entwicklung, jedoch die Mutter war dieser Entwicklung vollkommen erlegen. Man vermutet, dass sie bereits im Jahr 1931 nach einem Aufmarsch der SA in

7 Fest. Speer. 27. 8 Ebd. 9 Ebd. 27-28. 10 Ebd. 28-29. 11 Ebd. 29. 9

Heidelberg der NSDAP beigetreten war. Diesen Beitritt hat die Mutter ihrem Ehemann und ihren Söhnen sehr lange verschwiegen, aufgrund dieses Schrittes sah man einen gewissen Bruch der Familientradition.12 Für Albert Speer selbst blieb auch nach Studienbeginn im nahen Karlsruhe die Politik weit außerhalb der Welt und allem, was ihm wichtig war.13 Speer hat eingeräumt, politisch hätten ihn in jenen Jahren ein paar Affekte und Parolen allenfalls gestreift, und was immer von ihm aus jener Zeit bekanntgeworden ist, belegt diese Äußerung: Versailles gehörte, wie bei jedermann, dazu, das überwältige Empfinden nationaler Kränkung sowie ein bald sich bildender vager Missmut über die Unzulänglichkeiten parlamentarischer Regierungspraxis. Aber nicht einmal der Wechsel auf die Universität, an der die starren Familienregeln vom Verbot politischer Gegenstände nicht galten, hat ihn der Politik auch nur einen Schritt nähergebracht.14

Der Schriftsteller und spätere Verleger hat 1932 in einem hellsichtigen Essay über die knapp Dreißigjährigen, zu denen auch Speer gehörte, geschrieben: „Das Berechnendste an ihnen ist ihr Mangel an Humanität, ihre Achtlosigkeit gegen das Menschliche.“15 Zu den Besonderheiten, die das Leben Speers fast bis zum Ende kennzeichnen, gehört, dass er sich stets auf einer Kammlinie bewegte. Er schloss sich keiner Richtung oder beschreibbaren Gruppe an und hatte doch an vielen der Tendenzen teil, die durch die unruhige Zeit vagabundierten. Sein Feld war die Unbestimmtheit, und schon deshalb hielt er sich von aller Politik fern. Weder die Ruhrbesetzung durch die Franzosen Anfang 1923, zu Beginn seiner Studienzeit, noch der Hitlerputsch vom November des gleichen Jahres haben eine blasse persönliche Erinnerungsspur in seinem Gedächtnis hinterlassen. Sogar die Inflation mit ihren zerrüttenden, in den tragödienhaften Zusammenbruch seiner eigenen Gesellschaftsschicht

12 Fest. Speer. 31. 13 Ebd. 32. 14 Ebd. 32-33. 15 Ebd. 34. 10

auslaufenden Wirkungen, hat er sichtlich nur aus einigem Abstand wahrgenommen.16 Im Herbst 1925 wechselte Speer zusammen mit einigen Studienfreunden von München an die Technische Hochschule Berlin, um sein Studium bei Hans Poelzig, einem der führenden Architekten der Zeit, fortzusetzen. Da Poelzig unter den Bewerbern eine strenge Auswahl traf und Speers zeichnerische Begabung unzureichend war, wurde er abgewiesen. Ein Ausweg bot sich an, als bald darauf Heinrich Tessenow nach Berlin kam, dessen Bauvorstellungen von wenigen klaren, eher einfachen und nahezu kargen Linien bestimmt waren.17 Mit der Nüchternheit seiner Entwürfe stellte er sich in bewussten Gegensatz zu der kühnen, bei aller Glätte häufig hochgespannten Modernität des Zeitstils. Der Mensch solle in Bauten, die er sich errichte, ein Zuhause finden, nicht eine ästhetische Utopie, lautete sein Credo, und verschiedentlich war ihm deshalb Phantasiearmut vorgeworfen worden. Viel eher kam es ihm auf die Wendung gegen allen falschen Bombast an, ferner auf den Versuch, die Überwältigungseffekte des zeitgenössischen Bauens in eine schlichte, im Handwerklichen begründete Architektur zurückzuführen. Vom ersten Augenblick an fasste Speer eine schülerhafte Neigung zu Tessenow und dessen strengen Grundsätzen.18 Im November 1926 war als an die Spitze der zerrütteten Berliner Partei berufen worden. Dreist und skrupellos, wie er war, hatte er augenblicklich begonnen, einen Schlägerhaufen zusammenzustellen, der durch Krawalle, Saalschlachten und Schießereien den hoch überlegenen und straff organisierten kommunistischen Gegner pausenlos attackierte.19 Niederlagen nahm Goebbels in Kauf, sofern sie ihn und die Partei ins Gerede brachten. Tote auf der eigenen Seite kamen ihm noch gelegener, da sie blutig besiegelte „Verschworenheitsgefühle“ weckten.20 Unvermeidlich war, dass Speer die Welt, gegen die er sich so blind machte, doch noch einholte. 1929 riefen die Nationalsozialisten zum „Sturm auf die Hochschulen“ auf, welcher ohne allen

16 Fest. Speer. 34. 17 Ebd. 39. 18 Ebd. 19 Ebd. 40. 20 Ebd. 41. 11

ideologischen Überzeugungsdrang durchgeführt wurde.21 Vielmehr vertrauten sie ein weiteres Mal auf die Überredungsgewalt, welche sich brachialer Mittel bedient, und setzten diese derart rücksichtslos ein, dass die Berliner Universität im Sommer 1931 für einige Zeit geschlossen werden musste.22 Gerade Speers Technische Hochschule verzeichnete im Übrigen die stärksten Zuwächse des NS- Studentenbundes. Innerhalb eines Jahres stieg dessen Anteil bei den AStA- Wahlen von knapp 40 Prozent auf zwei Drittel der abgegeben Stimmen.23 Doch selbst davon schien Speer kaum Notiz zu nehmen; jedenfalls klingt sein Bekunden glaubwürdig, er habe damals „nicht im Traum“ daran gedacht, dem studentischen Schwenk zur Sache Hitlers zu folgen.24 Allerdings war dieses politische Phlegma nicht ganz so unpolitisch, wie es schien. Denn indem es sich in eine Art verachtungsvolles Abseits stellte, half es zwar keiner der radikalen Kampfparteien, entlegitimierte jedoch die demokratischen Institutionen und machte zunehmend größere Kreise für jede Botschaft empfänglich, die eine Änderung der bestehenden Verhältnisse versprach.25 Das Missverständnis tritt in ganzer Schärfe bei Tessenow zutage. Obwohl er ein ausgemachter Gegner der Hitlerleute war, hielt er sich von aller Politik fern. Der „Philosoph der Architekten“, wie er häufig genannt wurde, stützte seine Auffassungen oftmals auf weit hergeholte Überlegungen. Umso fassungsloser nahm er wahr, wie viele zu dieser Zeit begannen, in Scharen zur NSDAP überzulaufen, wie auf der anderen Seite die Schüler Poelzigs zu den Linksparteien.26 Der Vorgang machte nicht nur die zunehmende Politisierung selbst auf der universitären Ebene sichtbar. Die Anziehungskraft der Nationalsozialisten auf die Studenten Tessenows hatte auch mit den vagen Verbindungslinien zu tun, die es von seinen Bauvorstellungen, trotz aller Gegnerschaft, zur Ideologie der aufsteigenden Massenbewegung gab. 27Sowohl Tessenow als auch die Nationalsozialisten waren von einem starken antizivilisatorischen Affekt, vom Modernitätshass und dem Schrecken vor dem

21 Fest. Speer. 41. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 42. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd. 12

„molochartigen“ Industriezeitalter erfüllt. Beide setzten das verklärte Bild des einfachen, in Volk, Erde, Ursprung und Unverdorbenheit begründeten Daseins dagegen.28 Diesen Streitigkeiten, die auch die Studenten ergriffen, hörte Speer zwar aufmerksam zu und warf, dem Zeugnis seiner Freunde zufolge, gelegentlich auch eine Bemerkung ein. Jedoch was er sagte, zeugte von großer Distanz und erweckte den Anschein, als seien die Auseinandersetzungen, in denen die andern sich so leidenschaftlich verfingen, nicht seine Sache. Gerade das politische Beben, welches im Untergrund solcher Meinungsgegensätze rumorte, hat ihn von jeder Parteinahme abgehalten und womöglich begann er damals auch, sich als Künstler zu begreifen, der über allem subalternen Tagesstreit stand.29 Aus dem gleichen Grund hat er auf die namhaften Architekten der Zeit, die ihre Bauideen häufig mit politischen Zukunftskonzepten verbanden, herabgesehen und am Avantgardismus30 der Epoche vorbeigelebt. Tessenow hat ihn gelehrt, dass alle Architektur von zeitüberdauernden Gesetzen bestimmt werde, während die Mies van der Rohe, Taut oder Gropius nur geistvoll und „aktuell“ wären. Vielleicht, hat er in einer seiner späten Selbstbefragungen angemerkt, habe er deshalb „auf Hitler geradezu gewartet“.31 Anfang Dezember 1930 drängten einige der Seminarteilnehmer Speer, eine politische Kundgebung in der „Neuen Welt“, einem Versammlungssaal in der Neuköllner Hasenheide, zu besuchen. Beim Eintreffen der kleinen Gruppe stieß sie auf mehr als 5.000 Professoren und Studenten, die einen Auftritt Hitlers erwarteten. Bereits die aufgeheizte Atmosphäre in dem heillos überfüllten Raum machte auf den politisch arglosen Speer einen überwältigenden Eindruck. Hier und da war ihm Hitler als ein hysterisch enthemmter, zur Tobsucht neigender Zirkusredner beschrieben worden, der sich mit Reitpeitsche, Braunhemd und wilder Mähne als eine Art „Hinterhausmessias“ den Massen darbot.32 Umso erstaunter war er über den Mann, der nun im dunkelblauen Anzug, sichtlich auf

28 Fest. Speer. 42 29 Ebd. 43. 30 Avantgardismus stammt ursprünglich aus dem Sprachschatz des französischen Militärs und bezeichnet die Vorhut. Das ist jener Truppenteil, der als erster zu Feindberührung kommt. 31 Fest. Speer. 43. 32 Ebd. 13

bürgerliche Korrektheit bedacht, an das Rednerpult trat und überdies nicht mit einer seiner theatralischen Zugnummern aufwartete, sondern einen besonnenen, nur stellenweise ins Demagogische umschlagenden Vortrag hielt.33 Hitler sprach von der Schwächung der Völker und ihrem Niedergang, von der „Politik der Minderwertigen“, aber auch von Einigung, Ehre und Wiederaufstieg, dies alles untermauert durch geschichtliche Exkurse und politische Scheinbeweise, denen Albert Speer kaum etwas entgegenzusetzen hatte.34 Hitler hielt sich nicht bei den tausend Alltagsnöten auf, sondern entwarf statt dessen einen welthistorischen Horizont, vor den er die gegenwärtige Krise stellte, den immerwährenden Kampf der Kräfte des Guten gegen die Kräfte des Bösen.35 Gerade diese programmatische Unbestimmtheit, die mit der Autorität des charismatischen Führers nichts versprach und alles befahl, hat bei Albert Speer und den Versammelten den stärksten Eindruck hinterlassen.36 Überwältigt und verwirrt, hatte er das Bedürfnis, allein zu sein, und fuhr mit seinem Wagen hinaus an die Havel. Erst Stunden später machte er sich auf den Weg nach Hause.37 Die Bedeutung des Abends geht über die Teilnahme an einer politischen Kundgebung, wie sehr sie Speer auch ergriffen haben mochte, weit hinaus. In einer auffälligen Wendung hat Speer bemerkt, Hitler habe ihn mit seiner Rede „berührt und seither nicht mehr freigegeben“. Einige Zeit zögerte er noch.38 Wenige Wochen später, als er von seinen Studenten aufgefordert wurde, eine von Goebbels veranstaltete Kundgebung im Berliner Sportpalast zu besuchen, war er von der schneidenden Suada des Redners und dessen kaltblütig arrangierten Entfesselungskünsten aufs Äußerste abgestoßen. Doch als beim Abschluss der Veranstaltung aus den Seitenstraßen berittene Polizei hervorsprengte und die abziehende Menge mit dem Gummiknüppel auseinandertrieb, schlug seine Stimmung abermals um. Am 1. März 1931 suchte

33 Fest. Speer. 43- 44. 34 Ebd. 35 Ebd. 44. 36 Ebd. 37 Ebd. 45. 38 Ebd. 14

Speer ein Parteibüro auf und trat, wie er schrieb, nicht in die NSDAP ein, sondern in die Partei Hitlers. Er erhielt die Mitgliedsnummer 474 481.39

Albert Speer wurde im Jahre 1934 Abteilungsleiter innerhalb der Arbeitsfront für die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse in den deutschen Betrieben, danach wurde er Beauftragter für Bauen im Stabe Heß.40 Die Begeisterung für Architektur verband Adolf Hitler und Albert Speer, sie wollten beide durch riesige Bauten in die Geschichte eingehen.41 Nicht nur die Architektur war ein verbindendes Element zwischen Adolf Hitler und Albert Speer, sondern auch die Kunst. Auch als Speer Jahre später Rüstungsminister wurde, änderte sich an der Besonderheit dieses Verhältnisses kaum etwas.42 Genau wegen dieser Verbundenheit entfernte sich Albert Speer immer mehr von seinem umschwärmten Lehrer Tessenow.43 Albert Speer wurde bereits 1933 Amtsleiter der Reichspropagandaleitung und im Jahre 1934 wurde er zudem noch Amtsleiter im Stab des Führers- Stellvertreters sowie Leiter des Amtes „Schönheit der Arbeit“ in der Deutschen Arbeitsfront.44 Im Jahre 1936, in welchem Albert Speer den Titel Professor verliehen bekam, war sich Hitler auch sicher, dass er in Albert Speer seinen Baumeister für seinen größten Auftrag gefunden hatte.45 Im selben Jahr beauftragte Hitler Speer, ein Gesamtprogramm für Berlin zu entwerfen, dieser Auftrag war zu dieser Zeit noch inoffiziell.46 Am 8. Februar 1942 stürzte Speers Vorgänger Dr. Todt mit dem Flugzeug ab und Albert Speer übernahm daraufhin seine Ämter. Einen Tag später ernannte Hitler Albert Speer als Nachfolger Todts zum Reichsminister für Bewaffnung und Munition, zum Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen und zum Generalinspektor für Wasser und Energie, außerdem wurde er am 10. Februar

39 Fest. Speer. 45-46. 40 Protokolle XVI. 563. 41 Speer, Ende eines Mythos. 54. 42 Ebd. 54. 43 Ebd. 56. 44 Ebd. 57-58. 45 Ebd. 58. 46 Ebd. 15

noch Generalbevollmächtigter für die Regelung der Bauwirtschaft.47 Am 15. Februar 1942 leistete der knapp 37 jährige Albert Speer folgenden Eid: „Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutsches Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, meine Kraft für das Wohl des deutschen Volkes einsetzen, die Gesetze wahren, die mir obliegenden Pflichten gewissenhaft erfüllen und meine Geschäfte unparteiisch gegen jedermann führen, so wahr mir Gott helfe“. Zweieinhalb Jahre später sollte Albert Speer diesen Eid auf den Führer jedoch brechen.48 Mitte des Jahres 1943 wollte Albert Speer Hitlers Nachfolger werden. Da Göring (er wurde von Hitler am 1. September 1939 als Nachfolger ernannt) bei Hitler nicht mehr so beliebt war, wollte Albert Speer diese Chance ergreifen, erinnerte sich Generalfeldmarschall .49 Im Frühjahr 1942 war das wichtigste Ziel Albert Speers, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, denn wenn dies nicht geschehe, würde Deutschland den Krieg verlieren.50 Im September 1943 erklärte Albert Speer in der Berliner Kroll- Oper den versammelten Reichsrednern und Gaupropagandaleitern: „In diesem Krieg der Technik ist es zweifellos notwendig, die Qualität der Waffen über die Quantität der Waffen zu stellen. Angesichts der Überlegenheit, die der Gegner uns an Zahl der Waffen und Menschen gegenüberstellt und immer gegenüberstellen wird, sind wir darauf angewiesen, auf allen Gebieten immer bessere Waffen zu erzeugen, als sie der Gegner aufbringen kann. Das ist die Chance, die wir in diesem Kriege haben“.51 Deswegen trieb der Rüstungsminister seine Arbeiterheere zu immer größerer Leistung an und proklamierte den Krieg als einen „Kampf bis zum Sieg“.52 Gerade wegen dieser letzten Chance, den Krieg doch noch zu gewinnen, versuchte Albert Speer alle möglichen Register zu ziehen. Daher erklärte Speer im Oktober 1943 den Gauleitern, dass im Allgemeinen doch noch etwa zehn Prozent Leistungsreserven im deutschen

47 Speer, Ende eines Mythos. 79. 48 Ebd. 71- 72. 49 Ebd. 91. 50 Ebd. 51 Ebd. 136. 52 Ebd. 92. 16

Arbeiter stecken, die man noch aktivieren könnte.53 Mittels KZ-Drohungen, welche in den Jahren 1942 und 1943 noch eher rhetorische Kraftmeierei waren, griff Albert Speer 1944 zu schärferen Maßnahmen.54 Zu seinem 40. Geburtstag am 19. März 1945 überreichte Speer Adolf Hitler eine Denkschrift, in der er in einem Satz den Führer warnte: „Jeder Schritt zurück wird die Niederlage in großem Ausmaß beschleunigen“.55

b. Hermann Göring

Hermann Göring wurde am 12. Januar 1893 in Rosenheim geboren und starb am 15. Oktober 1946 in Nürnberg. Hermann Göring stammte im Gegensatz zu Hitler, Goebbels und anderen führenden Nationalsozialisten aus einer großbürgerlichen Familie und wohnte als Kind in Schlössern. Schon in seiner frühen Jugend galt er als eigenwilliger Draufgänger.56 Die Militärlaufbahn begann er 1911, als er das Fähnrichsexamen mit Auszeichnung bestand. Danach trat er in ein Infanterieregiment in Mühlhausen ein, kehrte Anfang 1913 nach Lichterfelde zurück, wo er im Januar 1913 sein Abitur und im Dezember 1913 das Offiziersexamen ablegte. Am 20. Januar 1914 trat Hermann Göring seinen Dienst als Leutnant beim Infanterieregiment 112 „Prinz Wilhelm“ in Mühlhausen an, wo er auch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August desselben Jahres miterlebte. Diesen Krieg, den Göring als Mutprobe und Herausforderung ansah, erlebte er zunächst nur in einigen kleinen Scharmützeln, da er an einem ruhigen Frontabschnitt eingesetzt war; er erkrankte zudem bereits fünf Wochen nach Kriegsbeginn an Gelenkrheumatismus, weshalb er zuerst nach und dann weiter nach Freiburg in ein Krankenhaus verlegt wurde.57 Dort traf er auch einen Bekannten wieder, nämlich Leutnant , welcher gerade eine Fliegerschule absolvierte. Hermann Göring entschloss sich, das unbequeme Leben als Infanterist noch in bester Erinnerung, sich als Flugzeugbeobachter ausbilden zu lassen, was im

53 Speer, Ende eines Mythos. 142. 54 Ebd. 144. 55 Ebd. 152. 56 Wunderlich, Göring und Goebbels. 9-11. 57 Mosley. Göring. 21. 17

Herbst 1914 in Darmstadt und Trier auch geschah. Danach waren er (als Beobachter) und Loerzer (als Pilot) während der ersten Hälfte des Jahres 1915 bei der Fliegerfeldabteilung 25, führten Erkundungsflüge durch und erhielten beide im März 1915 das Eiserne Kreuz I. Klasse. Am 1. Juli 1915 kam Leutnant Göring auf die Fliegerschule in Freiburg, wo er nach zweieinhalb Monaten die Flugzeugführerprüfung bestand und daraufhin im Oktober 1915 als Flugzeugführer zur Jagdstaffel 5 versetzt wurde. Im folgenden Jahr errang Hermann Göring seine ersten Luftsiege, wobei er am 2. November 1916 abgeschossen und an der Hüfte schwer verletzt wurde. Nach seiner Genesung im Februar 1917 flog er zunächst im Jagdgeschwader 26, ab Mai 1917 als Staffelführer im Jagdgeschwader 27. Im Februar 1918 erkrankte er an einer Mandelentzündung, zeigte sich trotzdem sehr erbost darüber, dass man je 4 Jagdstaffeln zu einem Geschwader zusammenfasste, Hauptmann Manfred Freiherr von Richthofen und seinem Freund Bruno Loerzer je ein Geschwader übergab, ihm jedoch nicht.58 Göring befehligte weiterhin die Jagdstaffel 27 und erhielt am 2. Juni 1918 von Kaiser Wilhelm II. persönlich den Orden Pour le mérite verliehen. Am 7. Juli 1918 übernahm Göring das Kommando über das Jagdgeschwader 1 „Richthofen“ (Richthofen war am 21. April 1918 gefallen), bei dem er auch seine letzten Luftsiege erzielte und insgesamt auf eine Zahl von 22 Abschüssen kam.59 Anfang November 1918 befand sich das Jagdgeschwader in Tellancourt, wo Oberleutnant Göring am 9. November mitgeteilt wurde, dass ab sofort alle Luftoperationen untersagt seien. Am 10. November erfuhr er zudem, dass der Kaiser abgedankt hatte und erhielt den Befehl, seine Flugzeuge stehen zu lassen und sich den nächsten alliierten Truppen zu ergeben. Hermann Göring ignorierte diesen Befehl und flog mit seinem gesamten Geschwader am 11. November nach Darmstadt, wo er den Verband auflöste.60 Daraufhin begab er sich nach Berlin, wo die Sozialisten unter Friedrich Ebert die Regierung übernommen hatten und sich gerade darum bemühten, die Offiziere der deutschen Streitkräfte auf ihre Seite zu ziehen. Göring begab sich auf einer dieser Versammlungen ans Rednerpult, attackierte die bereits übergewechselten Offiziere heftig und

58 Irving. Göring. 46-52. Kormann. Angeklagten, 21-22. 59 Mosley. Göring, 53-62. Kormann. Angeklagten, 22. 60 Mosley. Göring, 64-68. Kormann. Angeklagten, 22. 18

appellierte an die Ehre, die es nicht zulassen könne, für jene Gesellen zu kämpfen, die ihnen nicht die gebührende Achtung erweisen würden.61 Damit hatte sich Hermann Göring, der für seine Ansprache donnernden Beifall erntete, den Weg in die künftige verbaut, und er kehrte zutiefst bedrückt nach München, wo seine Mutter lebte, zurück. Dort forderten ihn im Frühjahr 1919 die Fokker-Flugzeugwerke auf, in Dänemark eine Maschine für die Zivilluftfahrt vorzuführen, womit sich Hermann Göring unter der Bedingung einverstanden erklärte, er dürfte die Maschine danach behalten. So führte er von April bis August 1919 in Dänemark ein Flugzeug und automatische Fallschirme vor, ehe er sich nach Schweden begab und sich dort um eine Anstellung als Zivilpilot bemühte. Von Stockholm aus suchte er im Februar 1920 um seinen Abschied bei der Armee an, wobei er schrieb, er würde für eine Vorzugsbeförderung zum Hauptmann auf jeglichen Pensionsanspruch verzichten, da dies für seinen Zivilberuf von besonderem Vorteil wäre. Das Gesuch wurde im Juni 1920 bewilligt und Göring war somit Hauptmann a.D. In diesem Jahr lernte er auch die um fünf Jahre ältere und verheiratete Carin von Fock kennen und verliebte sich sofort in sie. Auch sie war in Hermann Göring verliebt, so dass sie bald in Stockholm eine gemeinsame Wohnung bezogen. 1921 indes kehrte Göring nach Deutschland zurück, um sich eine Existenz aufzubauen. Carin kam nach und ließ sich von seiner Mutter zur Scheidung überreden, so dass sie am 3. Februar 1923 in München heiraten konnten.62 Derweil hatte sich Hermann Göring an der Universität München immatrikuliert, jedoch fand er mit den Studenten wenige Gemeinsamkeiten, weshalb er sich immer öfter auf Veranstaltungen von national gesinnten Parteien sehen ließ. Im November 1922 hörte er bei einem solchen Besuch erstmals Hitler reden, von dem er sich derart bedruckt zeigte, dass er beschloss, dies sei der Mann und die Bewegung, denen er sich anschließen müsse. Tags darauf besuchte Hermann Göring Hitler im Münchner Parteibüro, wurde sofort von ihm empfangen und erhielt eine ausführliche Erläuterung des nationalsozialistischen Programms. Göring stellte sich sofort zur Verfügung, wurde als Kriegsheld und Galionsfigur

61 Mosley. Göring. 69-70. Kormann. Angeklagten. 22. 62 Mosley. Göring. 75-81. Kormann. Angeklagten. 22-23. 19

in die NSDAP aufgenommen und von Hitler sofort mit der Neugliederung der SA betraut.63 Hermann Göring selbst meinte später dazu, er habe sich der Partei angeschlossen, da er ein Revolutionär war, und nicht etwa wegen des ideologischen Krams64, wie er überhaupt als „geborener“ Nationalsozialist charakterisiert wird, wegen einem spontanen Verlangen nach kämpferischer Bewährung, sowie einem elementaren Hunger nach Macht, der noch dazu keine theoretischen Konzepte über Bord zu werfen hatte, da er nie welchen angehangen hatte.65 Seiner neuen Aufgabe widmete sich Hermann Göring intensiv und bewirkte wahre Wunder. Jedoch konnte er an den Putschvorbereitungen, die seit Sommer 1923 auf Hochtouren liefen, nicht sehr aktiv teilnehmen, da im August 1923 seine Mutter verstarb und seine Frau, welche an Tuberkulose litt, schwer erkrankte.66 Dennoch organisierte er seine SA für den sogenannten „Hitler-Putsch“ am 8. und 9. November vorbildlich, weshalb es einige Zeit lang den Anschein hatte, der Putsch werde tatsächlich gelingen. Durch einige Fehler Hitlers schien am Morgen des 9. November dennoch alles verloren, weshalb Hitler hoffte, mit dem Marsch zur Feldherrnhalle das Ruder nochmals herumreißen zu können. Bei diesem Marsch durften Hermann Göring und seine SA natürlich nicht fehlen. Bei der Eröffnung des Feuers der Polizei auf die Putschisten wurde Göring an der Hüfte getroffen und brach auf der Straße zusammen. Von Freunden gerettet und zunächst in München behandelt, organisierte seine Frau die Flucht nach Innsbruck, wo er aufgrund starker Schmerzen mit Morphium behandelt wurde. Nachdem die österreichische Polizei dem Ehepaar nahegelegt hatte, das Land zu verlassen, reisten sie im Mai 1924 nach Italien, wo Göring auch dem italienischen Duce, Benito Mussolini, begegnete. Erreichen konnte er bei ihm allerdings nichts, hingegen litt er an Drüsenstörungen und starken Schmerzen, so dass er zusehends dicker, schwammiger und zudem morphiumsüchtig wurde.67 Im Jahre 1925 konnte Hermann Göring noch immer nicht nach Deutschland zurück, obwohl Hitler bereits entlassen worden war, weshalb er und seine Frau

63 Mosley. Göring, 85-87. Kormann. Angeklagten 23. 64 Fest. Das Gesicht des Dritten Reiches. 105. Kormann. Angeklagten. 23. 65 Fest. Gesicht, 104. Kormann. Angeklagten. 23. 66 Mosley. Göring, 87-94. Kormann. Angeklagten. 23. 67 Mosley. Göring, 97-109. Kormann. Angeklagten. 24. 20

Carin über Österreich, die Tschechoslowakei, Polen und Danzig nach Schweden fuhren. In Schweden lebten die Görings von den Zuwendungen von Carins Familie und den Beträgen, die ihr ehemaliger Mann ihr überwies, da Hermann Göring aufgrund seiner Morphiumsucht nicht arbeitsfähig war und seine Frau neuerlich schwer erkrankte. Carins Familie übernahm schließlich die Kosten für eine Entziehungskur, jedoch wurde Hermann Göring im Krankenhaus derart rabiat, dass er am 1. September 1925 in die Irrenanstalt von Langbro eingeliefert wurde. Nach dreimonatiger Kur wurde er als geheilt entlassen, er erlitt aufgrund der schweren Erkrankung seiner Frau und seiner andauernden Arbeitslosigkeit einen Rückfall, weshalb er sich nochmals für zwei Monate einer Entziehungskur unterziehen musste, bis er im Sommer 1926 endgültig von seiner Sucht geheilt war.68 Durch seine Verwundung und eine damit einhergehende Störung seiner Drüsenfunktionen, sowie seine Morphiumsucht war er zwar unglaublich beleibt geworden, doch war er wieder gesund und konnte aufgrund einer Generalamnestie aller politisch Verfolgten im Herbst 1927 nach Deutschland zurückkehren. Göring wurde nicht, wie von ihm erwartet, mit offenen Armen von Hitler aufgenommen. Dieser teilte ihm klipp und klar mit, er wolle zwar die Verbindung mit ihm aufrechterhalten, doch solle er zunächst versuchen, in der Wirtschaft eine Stelle zu bekommen, um etwas Geld zu verdienen und auf eigenen Füßen zu stehen. Hermann Göring schaffte auch dies, erhielt Anfang November 1927 einen Vertrag der Bayerischen Motorenwerke und siedelte als deren Vertreter nach Berlin über. Da er in dieser Stellung erfolgreich war, konnte er Hitler zu Beginn des Jahres 1928 davon überzeugen, ihn als Kandidaten für die Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 aufzustellen. Er zog, obwohl die NSDAP lediglich 800.000 Stimmen und damit 12 Abgeordnetensitze erhielt, in den ein. Hermann Göring war endgültig zurück. Ab diesem Zeitpunkt zählte Hermann Göring zu einem der größten Aktivposten der NSDAP und war maßgeblich an dem Versuch beteiligt, die NSDAP gesellschaftsfähig zu machen, weshalb er überall in Deutschland Werbung für seine Partei machte. Der Erfolg stellte sich bei den Wahlen zum Reichstag am 14. September 1930 ein, bei welcher die NSDAP 6,38 Millionen Stimmen und 107

68 Mosley. Göring, 111-116. Kormann. Angeklagten, 24-25. 21

Abgeordnetensitze erhielt und somit zur zweitstärksten Partei Deutschlands wurde.69 Im Herbst 1931 war Reichspräsident Paul von Hindenburg erstmals bereit, mit den Vertretern der NSDAP zu sprechen. Diese Gespräche verliefen ergebnislos. Hermann Görings kränkelnde Frau Carin konnte mit dem Tempo ihres Mannes nicht mehr mithalten und verstarb am 10. Oktober 1931.70 Hermann Göring stürzte sich daraufhin in seine Arbeit, da Hitler für das Amt des Reichspräsidenten kandidierte, jedoch in der Stichwahl gegen Hindenburg im April 1932 scheiterte. Erneute Reichstagswahlen standen bevor, wobei die NSDAP am 31. Juli 1932 stärkste Fraktion im Reichstag mit 230 Sitzen wurde und somit Göring zum Reichstagspräsidenten avancierte. Die Verhandlungen über eine Regierungsbeteiligung der NSDAP scheiterten allerdings.71 Daraufhin war es Görings erklärtes Ziel, den deutschen Kanzler zu stürzen, was ihm durch ein Misstrauensvotum eindrucksvoll gelang. Der Reichstag wurde erneut aufgelöst, jedoch verlor die NSDAP am 6. November 1932 einige Stimmen und sackte auf 196 Abgeordnete ab. Göring arbeitete in der Folge vehement auf eine Kanzlerschaft Hitlers hin, was ihm mithilfe Franz von Papens und des Führers der Deutschnationalen Volkspartei, , gelang. Letztlich wurde Hitler am 30. Januar 1933 deutscher Kanzler und Göring selbst zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich und preußischen Innenminister ernannt.72 Bereits am nächsten Tag löste er den Reichstag auf und setzte Neuwahlen für den 5. März 1933 fest, die Hitler endgültig die Macht sichern sollten. Ein weiterer Schritt war, dass Göring als preußischer Innenminister die politische Polizei unter seine Fittiche brachte, deren Zügel er fest in die Hand nahm.73 Er säuberte die preußische Polizei von unzuverlässigen Beamten und ersetzte sie durch Personal aus der SA und der SS, ließ politische Gegner reihenweise verhaften und schuf für sie die ersten Konzentrationslager. Im September 1933 musste Göring eine erste Niederlage hinnehmen. Beim Prozess gegen die angeblichen Reichstagsbrandstifter blamierte er sich gehörig, was nicht nur seinem Ansehen beim Volk schadete, sondern auch seinem

69 Mosley. Göring, 117-126. Kormann. Angeklagten, 25. 70 Irving. Göring, 140. Kormann. Angeklagten, 25-26. 71 Irving. Göring. 142-145. Kormann. Angeklagten. 26. 72 Irving. Göring. 146-155. Kormann. Angeklagten. 26. 73Manvell. Reichsmarschall. 58-59. Kormann. Angeklagten, 26. 22

stärksten Rivalen in der Partei, dem der SA, Ernst Röhm, die Gelegenheit gab, bei Hitler mehr Einfluss zu gewinnen.74 So wurde Röhm im Dezember 1933 in die oberste Parteispitze aufgenommen und Göring musste im Frühjahr 1934 die Leitung der Konzentrationslager und der an den Reichsführer-SS, , abgeben. Im Gegenzug wurde er zum Reichsjäger- und Reichsforstmeister ernannt und begann mit dem Bau seines eigenen Palastes „Karinhall“ in der Schorfheide.75 Göring sah in Ernst Röhm einen ernsthaften Rivalen um Hitlers Gunst, weshalb er gemeinsam mit Heinrich Himmler Hitler immer öfter darauf hinwies und schließlich davon überzeugen konnte, dass Röhm eine ernste Gefahr darstellte. Im sogenannten „Röhm-Putsch“ vom 30. Juni bis zum 2. Juli 1934 wurden Röhm und seine Gehilfen sowie einige andere unbequeme Personen aus dem Weg geräumt. Göring war an diesen Maßnahmen entscheidend beteiligt, hielt aber seine schützende Hand über Franz von Papen.76 Am 10. April 1935 ehelichte Göring in Berlin die Schauspielerin Emmy Sonnemann. Er wurde am 1. Mai 1935 zum Oberbefehlshaber der neuen und am 4. April 1936 zum Devisen- und Rohstoffkommissar ernannt, gefolgt am 4. September des gleichen Jahres von der Ernennung zum Generalbevollmächtigten für den Vierjahresplan, dem zufolge und Wirtschaft in vier Jahren kriegsbereit sein mussten. In dieser neuen Stellung versuchte Göring die gesamte deutsche Wirtschaft in seine Hand zu bekommen, was ihm zumindest teilweise gelang, da er den bisherigen Wirtschaftsminister Ende 1937 aus seinem Amt drängen konnte und er dessen Nachfolger eindeutig kontrollierte. Diese Macht verlor er jedoch im Laufe des Jahres 1942, als die zentrale Planungsbehörde unter Albert Speer die Kontrolle über die Kriegswirtschaft übernahm.77 Göring wollte wohl Oberbefehlshaber der Wehrmacht werden und benutzte in der sogenannten Blomberg-Fritsch-Krise im Januar und Februar 1938 eine nicht standesgemäße Heirat des Reichskriegsminister dazu, ihn

74 Mosley. Göring, 176-179. Kormann. Angeklagten, 26-27. 75 Manvell. Reichsmarschall, 70-71. Kormann. Angeklagten, 27-28. 76 Manvell. Reichsmarschall. 73-74. Kormann. Angeklagten. 28. 77 Irving. Göring, 236-237. Kormann. Angeklagten, 28-29. 23

abzusägen. Gegen den logischen Nachfolger, den Oberbefehlshaber des Heeres, , zettelte er eine schmutzige Intrige an, in der Fritsch homosexuelle Vergehen vorgeworfen wurden, so dass auch er abgesetzt wurde, obwohl dieser, wie sich später herausstellte, völlig unschuldig war. Sein Ziel erreichte Göring dennoch nicht, denn Hitler ernannte sich selbst zum Oberbefehlshaber der Wehrmacht und speiste Göring mit der Beförderung zum Generalfeldmarschall ab.78

Diese Enttäuschung überwand Göring, indem er sich im Februar und März 1938 völlig auf den „“ Österreichs konzentrierte, bei dem er noch vor Hitler die führende Rolle spielte, worauf er nach dem Vollzug am 13. März 1938 auch nicht wenig stolz war.79 Am 2. Juni 1938 wurde seine Tochter Edda geboren. Dieses Ereignis konnte er nicht lange genießen, da es im September 1938 zu einer ernsten Krise wegen des Sudetenlandes kam, die erst im Münchener Abkommen vom 30. September 1938 mit der Abtretung des Sudetenlandes der Tschechoslowakei an Deutschland endete.80 Mit der Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 hatte Göring an sich nichts zu tun, sondern er regte sich über die entstandenen Schäden gehörig auf. Trotzdem war er es, der den Juden in Deutschland eine Kontributionszahlung in der Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegte.81

Aufgrund des schwelenden Konfliktes mit Polen im August 1939 versuchte Göring über den schwedischen Industriellen Birger Dahlerus, den Frieden aufrechtzuerhalten, doch dieser Versuch war mehr als halbherzig. Auch wenn Göring den Krieg nicht gewollt hatte, so wurde er doch am 30. August 1939 zum Vorsitzenden des Ministerrates für die Reichsverteidigung und am 1. September 1939 offiziell zum Nachfolger Hitlers ernannt; er führte erfolgreich den Luftkrieg gegen Polen und Frankreich, wofür er am 19. Juli 1940 zum Reichsmarschall

78 Irving. Göring, 288-299. Kormann. Angeklagten, 29-30. 79 Irving. Göring, 300-314. Kormann. Angeklagten. 30. 80 Irving. Göring, 317-337. Kormann. Angeklagten. 30. 81 Irving. Göring, 338-348. Kormann. Angeklagten. 30. 24

ernannt wurde.82 Görings politisches und militärisches Versagen im Verlauf des Zweiten Weltkriegs äußerte sich in einer Kette von Fehlurteilen und Entscheidungen, die zum Teil auf krankhafte Veränderungen von Görings psychischem und physischem Zustand zurückzuführen sind.83 Erst in den letzten Kriegsmonaten unternahm Göring den schwachen Versuch, dem sinnlos gewordenen Töten durch Verhandlungen mit den alliierten Gegnern ein Ende zu bereiten. Daraufhin enthob Hitler, vom eingeschlossenen Bunker der Berliner Reichskanzlei aus, am 23. April 1945 Göring aller Ämter und schloss ihn im „Politischen Testament“ vom 29. April aus der NSDAP aus. Neun Tage später begab sich Göring in amerikanische Gefangenschaft.84 Ab November 1945 hatte sich Göring vor dem Nürnberger Militärgerichtshof zu verantworten.85

c. Der Nürnberger Prozess

Die Sowjets, die immer auf Berlin bestanden hatten, gaben dem Drängen der Amerikaner nach, so dass Berlin zwar zum ständigen Sitz des Gerichtshofes erklärt wurde, an dem das Verfahren auch eröffnet werden sollte; doch war man sich auch darüber einig, dass der erste Prozess in Nürnberg stattfinden werde. Dort renovierte man in aller Eile den von Luftangriffen einigermaßen verschont gebliebenen Justizpalast in der Fürther Straße.86 Insbesondere wurde der Schwurgerichtssaal, mittlerweile weltweit als Saal 600 bekannt, zum Sitzungssaal für die Verhandlungen des Internationalen Militärgerichtshofs umgebaut. Die Hauptachse wurde dabei sozusagen um 90 Grad gedreht. Die Richterbank, üblicherweise an der östlichen Schmalseite des Saales, wurde vor der großen Fensterfront an der Südseite aufgebaut.87 Die Bank für die Angeklagten wurde situationsbedingt wegen der Vielzahl der Angeklagten verbreitert, verblieb aber an der Nordfront des Saales, von wo aus der Fahrstuhl in das Kellergeschoß

82 Wistrich. Lexikon, 121-122. Kormann. Angeklagten, 30-31. 83 Kube. Göring. 30. 84 Ebd. 85 Ebd. 86 Kastner. Die Völker. 37. 87 Ebd. 25

führte, mit direkter Verbindung zum Zellengefängnis. Die Anklagebehörden der vier Großmächte wurden in der Saalmitte platziert.88 Die bedeutendste Neuerung war der Einbau eines von IBM entwickelten, völlig neuartigen Simultan- Dolmetsch-Systems, welches die sofortige Übertragung eines jeden gesprochenen Wortes in die vier Verhandlungssprachen – Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch – ermöglichte.89 Während man sich in Berlin, Nürnberg und andernorts bemühte, rasch die rechtlichen, organisatorischen und materiellen Grundlagen für das Tribunal zu schaffen, befanden sich die als Angeklagte in Betracht kommenden NS-Größen noch in Bad Mondorf (Luxemburg), auf der Burg Kransberg im Taunus und die zwei in die Hände der Sowjets gefallenen, Raeder und Fritzsche, in Moskau. Ende 1945 wurden alle im Gewahrsam der Westmächte befindlichen Gefangenen ins Nürnberger Gefängnis in der Mannertstraße verlegt, die der Sowjets wurden nach Berlin gebracht.90 Im September und Anfang Oktober 1945 bemühten sich die vier Delegationen, eine Einigung über diejenigen Personen zu erzielen, die sich im ersten Verfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof zu verantworten haben würden. Die Anklageschrift wurde währenddessen im Entwurf – teils in , teils in Nürnberg – verfasst und am 6. Oktober vorläufig in Berlin unterzeichnet. Der sowjetische Richter Nikitschenko sollte die Eröffnungssitzung in Berlin und der britische Richter Lawrence die Verhandlungen in Nürnberg leiten.91 Unstimmigkeiten gab es bis zuletzt bezüglich des Inhalts des Entwurfes der Anklageschrift. Insbesondere als der sowjetische Vertreter die Forderung aufstellte, man solle sie um die 11.000 polnischen Offiziere ergänzen, welche im Herbst 1939 in deutsche Gefangenschaft geraten und im Herbst 1941 im Wald von Katyn (Weißrussland) getötet worden sein sollen.92 Die Übergabe der Anklageschrift im Rahmen der ersten öffentlichen Sitzung des Internationalen Militärgerichtshofes am 18. Oktober 1945 unter dem Vorsitz des sowjetischen Richters Nikitschenko war deshalb aufsehenerregend, weil der

88 Kastner. Die Völker. 37. 89 Ebd. 38. 90 Ebd. 40. 91 Ebd. 92 Ebd. 41. 26

dunkel getäfelte Hauptsitzungssaal des Kammergerichts im Berliner Kleistpark jener Ort war, an dem im Sommer 1944 der Präsident des Volksgerichtshofes, , die Männer des Widerstandes, die im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli verhaftet worden waren, brüllend, hetzend, schimpfend und bramarbasierend vor ihrer Verurteilung zum Tod zu entwürdigen versucht hatte.93 Im Gefängnis wurde den Angeklagten am Vormittag des 19. Oktober die deutsche Fassung der Anklageschrift übergeben, zusammen mit einer vom Gerichtshof erstellten Liste deutscher Rechtsanwälte, die zur Verteidigung der Angeklagten befugt und willens waren.94

Anklagepunkte:

Anklagepunkt Eins: Gemeinsamer Plan oder Verschwörung95

A: Die Nazi-Partei als Mittelpunkt des gemeinsamen Planes oder der Verschwörung.96 B: Gemeinsame Ziele und Methoden der Verschwörung.97 C: Grundsätze und ihre Anwendung in dem gemeinsamen Plan oder der Verschwörung.98 D: Die Erlangung totalitärer Kontrolle über Deutschland (politisch).99 E: Die Erlangung totalitärer Kontrolle in Deutschland – wirtschaftlich – und die Planung und Mobilmachung der Wirtschaft für einen Angriffskrieg.100 F: Verwendung der Nazi-Kontrolle für den Angriff auf das Ausland.101 G: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Grundsätze der Humanität, verübt in der Ausführung der Verschwörung.102

93 Kastner. Die Völker. 44. 94 Ebd. 95 Protokolle I. 30. 96 Ebd. 31. 97 Ebd. 32. 98 Ebd. 33. 99 Ebd. 100 Ebd. 37. 101 Ebd. 38. 102 Ebd. 44. 27

Anklagepunkt Zwei: Verbrechen gegen den Frieden103

Anklagepunkt Drei: Kriegsverbrechen (Verbrechen gegen das Kriegsrecht, insbesondere gegen die Haager und Genfer Konventionen)104 A: Ermordung und Misshandlung der Zivilbevölkerung von oder in besetzten Gebieten und auf hoher See.105 B: Deportation der Zivilbevölkerung von und aus besetzten Ländern zur Sklavenarbeit und für andere Zwecke.106 C: Mord und Misshandlung von Kriegsgefangenen und anderen Angehörigen der Streitkräfte solcher Länder, mit denen Deutschland im Kriege stand, und von Personen auf hoher See.107 D: Die Ermordung von Geiseln.108 E: Plünderung öffentlichen und privaten Eigentums.109 F: Die Eintreibung von Kollektiv-Strafen.110 G: Frevelhafte Zerstörung von großen und kleinen Städten und Dörfern, und Verwüstungen ohne militärisch begründete Notwendigkeit.111 H: Zwangsweise Rekrutierung von Zivilarbeitern.112 I: Zwang für Zivilbewohner besetzter Gebiete, einer feindlichen Macht den Treueid zu leisten.113 J: Germanisierung besetzter Gebiete.114

103 Protokolle I. 45. 104 Ebd. 46. 105 Ebd. 47. 106 Ebd. 54. 107 Ebd. 56. 108 Ebd. 58. 109 Ebd. 59. 110 Ebd. 65. 111 Ebd. 112 Ebd. 67. 113 Ebd. 114 Ebd. 68. 28

Anklagepunkte Vier: Verbrechen gegen die Humanität115 A: Ermordung, Ausrottung, Versklavung, Deportation und andere unmenschliche Handlungen gegen Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges.116 B: Verfolgung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen in Ausführung von und in Zusammenhang mit dem in Anklagepunkt Eins erwähnten gemeinsamen Plan.117

Die Anklagepunkte wurden durch das Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. August durchdacht und bestimmt. Der Prozess wurde von den vier Großmächten bestimmt und das Abkommen hatte folgenden Titel:

„Abkommen zwischen der Regierung des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland, der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, der Provisorischen Regierung der Französischen Republik und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Europäischen Achse“.118

Durch die darauf basierenden Prozesse wurden die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen, aber nicht nur Göring und Speer, sondern ferner den Bestimmungen der Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 folgend, diejenigen deutschen Offiziere und Mannschaften sowie Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, die für Grausamkeiten und Verbrechen verantwortlich wurden oder ihre Zustimmung zu solchen unmenschlichen Taten gegeben haben.119

Albert Speer wurde wie Hermann Göring in allen vier Anschuldigungen angeklagt, jedoch nicht für alle schuldig gesprochen. Er war seit 1932 Mitglied

115 Protokolle I. 70. 116 Ebd. 71. 117 Ebd. 71. 118 Ebd. 7. 119 Ebd. 29

der NSDAP und Mitglied des Reichstages. Er war der Chefarchitekt von Adolf Hitler und für die Großbauten in Berlin, München und Nürnberg zuständig. Außerdem war er als Reichsminister für Bewaffnung und Munition seit 1942 im Dritten Reich für die Rüstung verantwortlich. Er wurde am 23. Mai 1945 in -Mürwick festgenommen.120

120 Protokolle I. 50. 30

5. Göring und Speer beim Nürnberger Prozess

Der Prozess begann am 20. November 1945 mit dem Verlesen der Anklageschrift.121 Während der folgenden vier Monate traten amerikanische, britische, französische und russische Vertreter der Anklage vor dem Gericht auf, um Dokumente zu verlesen, leidenschaftlich Beschuldigungen vorzubringen, Filme zu zeigen und die Zeugen in detaillierte und peinliche Verhöre zu nehmen.122 Zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte wurde die Verhandlung auf diese Weise durchgeführt, dass jedes Wort, welches im Gerichtssaal gesprochen wurde, simultan übersetzt wurde. Es war zu verfolgen, wie alles, was Göring über die Kopfhörer hörte, sich in seinem Gesichtsausdruck und seinen Gesten widerspiegelte.123

Hermann Göring blieb nichts anderes über, als durch Handbewegungen und leise Zwischenbemerkungen auf das Gesagte zu reagieren, wenn er seine Aufmerksamkeit aufrechterhalten wollte.124 Es gab zwar Tage, an denen Filme von Konzentrationslagern gezeigt wurden, die ihn erschütterten und deprimierten, aber es gab auch Tage, an denen die Stimme des Dolmetschers, der die lange Aufzählung nationalsozialistischer Verbrechen rezitierte, monoton wurde und die „Schreckensstatistik“ durch die Masse der Aufzählungen an Wirkung verlor.125 Nach Eröffnung des Verfahrens beschloss Andrus, den Angeklagten wieder den Umgang miteinander zu erlauben. In den ersten Tagen kam es daher zu Szenen, die an eine Wiedersehensfeier alter Frontkämpfer erinnerten.126 Nur Julius Streicher127 wurde von den anderen gemieden. Göring wurde allgemein als die führende Persönlichkeit anerkannt und er hielt es für seine Pflicht, die Mitangeklagten bei Stimmung zu halten, ihnen zu raten, wie sie sich verteidigen

121 Mosley. Göring. 319. 122 Ebd. 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Ebd. 127 wurde am 12. Februar 1885 in Fleinhausen bei Augsburg geboren und starb am 16. Oktober 1946 in Nürnberg. Er war Gründer, Eigentümer und Herausgeber des antisemitischen und pornographischen Hetzblattes „Der Stürmer“. 31

sollten, oder gar sie zu ermahnen, gegenüber ihren Anklägern eine geschlossene Front zu bilden.128 An den Abenden führte Hermann Göring lange Gespräche mit dem Psychologen Dr. Gustav Gilbert129, in denen er seine Meinung über den Verlauf der Verhandlung und die Ereignisse des vergangenen Tages äußerte.130 Eines Tages sagte Göring zu Gilbert: „Wissen Sie, die Amerikaner sind bei diesem Spiel Amateure. Sie sind arrogant und naiv. Wir Deutschen haben die gleichen Fehler gemacht. Die Engländer sind in der Sache viel klüger. Sie haben schon ihre Erfahrungen. Es gibt ein Sprichwort: ‚Der Deutsche hat ein weiches Herz und eine harte Hand, der Engländer hat ein hartes Herz und eine weiche Hand.‘ Auf diese Weise haben sie sich an der Macht gehalten. Sie haben die Buren geschlagen und ihnen dann die weiche Hand gezeigt, so dass sie zehn Jahre später auf ihrer Seite kämpften. Jetzt tun sie es wieder. Sie sagen: ‚Mögen doch die Amerikaner die Gefangenenwärter und die Ankläger stellen. Wir vertreten unsere Sache ganz einfach. Wir haben einen Obersten Richter, der seine Unparteilichkeit beweist, hin und wieder sogar für die Rechte der Angeklagten eintritt. Sollen doch die Amerikaner die aggressive Rolle übernehmen und sich den Hass der Deutschen zuziehen.‘“131

Am 3. Januar 1946 wurde Hermann Göring von Albert Speer sehr enttäuscht; sein Handeln war ein erheblicher Rückschlag für die Verteidigung der Angeklagten. Bei der Zeugenvernehmung des Chefs der Einsatzgruppe D und Leiters des RSHA-Amtes III, Otto Ohlendorf, der die Massenmorde an Juden bestätigte, stand der Verteidiger Speers auf und fragte den Zeugen, ob er wisse, dass Speer versucht habe, Hitler umzubringen und Himmler an die Alliierten auszuliefern, um ihn zu zwingen, sich für seine Verbrechen zu verantworten. In der Pause ging Göring empört auf Speer zu und fragte ihn, wie er dazu käme, eine so

128 Mosley. Göring. 319. 129 Dr. Gustav Mark Gilbert wurde am 30. September 1911 in New York geboren und starb am 6. Februar 1977 in Manhasset, New York. Er war US-Gefängnispsychologe beim Nürnberger Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher. 130 Mosley, Göring. 319. 131 Ebd. 319-320. 32

hochverräterische Aussage machen zu lassen. Es kam zu einer minutenlangen scharfen Auseinandersetzung zwischen Speer und Göring.132

Am selben Abend war Göring angespannt, wütend und sagte zu Gilbert: „Heute war ein schlechter Tag. Dieser verdammte Narr Speer! Haben Sie gesehen, wie schmählich er sich heute vor Gericht betragen hat? Wie kann ein Mensch sich so erniedrigen und etwas so Schmutziges tun, nur um sein eigenes Fell zu retten! Ich bin vor Scham fast gestorben. Sich vorstellen zu müssen, dass ein Deutscher sich so dreckig benimmt, nur um dieses schmutzige Leben etwas zu verlängern. Glauben Sie, mir läge so viel an diesem lausigen Leben?“133

Am nächsten Tag war Göring immer noch wütend. Er saß mit den Generälen und Baldur von Schirach134 beim Mittagessen am gleichen Tisch und Gilbert hörte, wie er sagte: „Ich schere mich den Teufel darum, was der Feind mit uns macht, aber wenn ich erlebe, dass Deutsche sich gegenseitig verraten, dann macht es mich krank.“ Er nickte von Schirach zu und sagte: „Gehen Sie und sprechen Sie mit dem Idioten.“135 Auf Befehl von Göring hin begann Schirach ein ausführliches Gespräch mit Speer. Er sagte ihm, Göring sei der Ansicht, er beschmutze seine und die Ehre Deutschlands.136 Speer wies diesen Vorwurf zurück und berichtete später: „Ich sagte ihm, Göring hätte wütend sein sollen, als Hitler das ganze Volk ins Verderben führte. Als zweiter Mann im Reich hatte er die Verpflichtung, etwas dagegen zu unternehmen. Aber damals war er zu feige. Er stopfte sich lieber mit Morphiumtabletten voll und plünderte überall in Europa Kunstsammlungen.“137 Von diesem Tage an waren Göring und Speer erbitterte Feinde und während das Gerichtsverfahren sich in die Länge zog, bekämpften sie sich hinter den

132 Mosley, Göring. 320. 133 Ebd. 134 Baldur Benedikt von Schirach wurde am 9. Mai 1907 in Berlin geboren und starb am 8. August 1974 in Kröv an der Mosel, Rheinland-Pfalz. Er war Politiker der NSDAP und Reichsjugendführer. Er wurde bei den Nürnberger Prozessen von der Anklage der Vorbereitung eines Angriffskrieges freigesprochen. 135 Mosley. Göring. 320. 136 Ebd. 137 Ebd. 33

Kulissen.138 Göring versuchte Speer von den Mitangeklagten zu isolieren. Speer seinerseits war entschlossen, die gemeinsame Front aufzubrechen und Görings Einfluss auszuschalten.139 Speer war Göring in diesem Kampf überlegen, weil er bereit war, etwas zu tun, an das sein Gegner nie gedacht hätte: sich mit dem Feind verbünden, um Görings Einfluss auf seine Genossen zu sabotieren.140

Am 4. Januar feuerte Albert Speer den ersten Schuss ab, als er Gilbert sagte: „Sie wissen: Göring glaubt immer noch, er sei der große Mann und könnte noch als Kriegsverbrecher bestimmen, wie alles laufen soll. Noch gestern erklärte er mir, ‚Sie haben mir nicht einmal gesagt, dass Sie diese Aussage machen würden. Was sagen Sie dazu?‘“141Am Wochenende des 12. und 13. Januar ging Speer noch einen Schritt weiter und sagte Gilbert: „Wissen Sie, es ist keine sehr gute Idee, wenn Sie den Angeklagten erlauben, gemeinsam zu essen und spazieren zu gehen. Göring nutzt diese Gelegenheit dazu, die anderen bei der Stange zu halten. Es wäre viel besser, wenn sie, ohne von ihm eingeschüchtert zu sein, das aussagten, was sie wirklich denken, damit die Menschen ein für allemal die letzten Illusionen über den Nationalsozialismus loswerden.“142

Dr. Gustav Gilbert berichtete Oberst Andrus von seinem Gespräch mit Speer, der Oberst war recht beeindruckt davon. Von da an beobachteten nicht nur Gilbert, sondern auch die andern Beamten, die Kontakt mit Göring hatten, und hörten genau hin, was Göring sagte, um zu testen, wie stark sein Einfluss war.143 Am Abend des 15. Februar versammelte Gilbert die Angeklagten und las ihnen eine Verordnung des Kommandanten vor (die Angeklagten durften nicht mehr miteinander sprechen und wurden in Einzelhaft verlegt).144 Die Verordnung war für die Angeklagten ein weiterer tiefer Schlag.145 Göring war niedergeschlagen, denn er nahm zu Recht an, seine Führungsrolle, in der er sich gefiel und in der er

138 Mosley. Göring. 320-321. 139 Ebd. 321. 140 Ebd. 320- 321. 141 Ebd. 321. 142 Ebd. 320- 321. 143 Ebd. 321. 144 Ebd. 145 Ebd. 34

sich oft über seine Mitgefangenen lustig machte, habe etwas damit zu tun, dass die Einzelhaft angeordnet worden war.146 Für Albert Speer war diese neue Regelung angebracht und er sagte: „Sie kommt gerade zur rechten Zeit, denn einigen wird das diktatorische Verhalten von Göring schon peinlich, und er fängt jetzt erst richtig an, sie unter Druck zu setzen. Vor zwei Tagen ging er beim Spaziergang auf Funk zu und sagte ihm, er müsse sich damit abfinden, dass sein Leben verwirkt sei. Jetzt käme es nur noch darauf an, zu ihm zu stehen und den Märtyrertod zu sterben. Göring weiß, dass er geliefert ist, aber er möchte ein Gefolge von wenigstens zwanzig zweitrangigen Helden für seinen großartigen Einzug in Walhall!“147

Um Hermann Göring weiterhin zu isolieren, hatte sich Oberst Andrus am 18. Februar, an dem auch die Regelung der Einzelhaft aufgehoben wurde, eine neue Methode ausgedacht. Er befahl, dass die Angeklagten ab sofort ihr Essen in fünf verschiedenen Räumen einzunehmen hätten. Dabei sollten Speer, Fritzsche, von Schirach und Funk im sogenannten „Esszimmer für die Jugend“ essen, um, wie Gilbert sagte, Speer und Fritzsche die Gelegenheit zu geben, die beiden anderen gegen Göring zu beeinflussen.148 Das „Speisezimmer der älteren Generation“ wurde für von Papen, von Neurath, Schacht und Dönitz eingerichtet. Der Zweck war, den alten Konservativen eine Gelegenheit zu geben, sich gegen Hitler und von Ribbentrop zu wenden. Im dritten Zimmer aßen Frank, Seyß-Inquart, Keitel und Sauckel.149 Keitel sollte hier dem Einfluss Görings entzogen werden. Im vierten Zimmer nahmen Raeder, Streicher, Heß und von Ribbentrop Platz. Jodl, Frick, Kaltenbrunner und Rosenberg wurden zusammengesetzt, weil „sie nichts miteinander verband“.150 Hermann Göring musste allein essen. Göring war von den anderen isoliert worden und dies wollte Albert Speer erreichen. Gilbert schreibt: „Göring war wütend, weil er allein in einem Zimmer essen musste, und

146 Mosley. Göring. 321. 147 Ebd. 321- 322. 148 Ebd. 322. 149 Ebd. 150 Ebd. 35

beschwerte sich darüber, dass es schlecht geheizt sei und kein Tageslicht habe. Tatsächlich ärgerte er sich nur, weil er seine Zuhörer verloren hatte.“151

Am 9. März 1946 erfuhr Göring, dass seine Frau Emmy152 aus dem Gefängnis in Straubing entlassen worden war. Diese Nachricht hätte zu keinem günstigeren Augenblick kommen können, denn er war sehr schlechter Stimmung. Am Tag zuvor hatte das Gericht angefangen, die Verteidigung anzuhören, wobei der Anfang schlecht gewesen war.153 Der erste Zeuge der Verteidigung war General Karl Bodenschatz154, der seinem Chef noch die Treue hielt und bezeugte, wie Göring sich unablässig darum bemüht habe, hinter Hitlers Rücken Frieden mit England auszuhandeln.155 Er berichtete davon, wie Göring versucht habe, Häftlinge aus dem Konzentrationslager zu befreien, und stellte ihn als einen friedliebenden Mann dar. Bodenschatzʼ Aussage wurde zu Görings Unglück durch die Attacken des amerikanischen Hauptanklägers Robert H. Jackson156 in Stücke gerissen. Dieser brachte den unglücklichen Bodenschatz zu Fall, indem er ihn in einem Netz sich widersprechender Behauptungen und Zugeständnisse fing. Schacht genoss es, dass Göring in eine so unangenehme Lage geraten war, und bemerkte zu Gilbert: „Der Dicke hat jetzt allerhand auszuhalten. Ihr Staatsanwalt Jackson versteht es ausgezeichnet, die Leute ins Kreuzverhör zu nehmen. Auch wenn er nicht genau weiß, was dabei herauskommen wird, klopft er jeden Busch ab, um zu sehen, ob ein Kaninchen herausspringt und manchmal kommt eins!“157

151 Mosley. Göring. 322. 152 Emmy Göring wurde am 24. März 1893 in geboren und starb am 8.Juni 1973 in München. Sie war eine deutsche Schauspielerin und die zweite Ehefrau von Hermann Göring. 153 Mosley. Göring, 322. 154 Karl-Heinrich Bodenschatz wurde am 10. Dezember 1890 in Rehau geboren und starb am 25. August 1979 in . Er war deutscher Offizier, zuletzt General der Flieger im Zweiten Weltkrieg sowie Adjutant Hermann Görings. 155 Mosley. Göring. 322. 156 Robert Houghwout Jackson wurde am 13. Februar 1892 im Spring Creek Township, Warren County, Pennsylvania geboren und starb am 9. Oktober 1954 in Washington, D.C. Er war Attorney General (Regierungsbeamter für das Justizministerium), Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten und amerikanischer Hauptanklagevertreter bei den Nürnberger Prozessen. 157 Mosley. Göring. 322- 323. 36

6. Die Anklagepunkte gegen Hermann Göring

Ein entscheidendes Kriterium für Görings letztendliche Niederlage beim Prozess war mit Sicherheit die Umgestaltung der Tischordnung für die Mittagsmahlzeit der Angeklagten.158 Zu Beginn des Prozesses durften alle Angeklagten gemeinsam ihr Mittagessen einnehmen. Um Görings Einflussnahme auf die Angeklagten zu unterbinden, wurde Mitte Februar 1946 eine Neueinteilung vorgenommen. Dieser entscheidende Tipp kam von Albert Speer über Dr. Gustav Gilbert zu Oberst Andrus. Durch den Verlust seiner Zuhörer am Mittagstisch verlor Göring die gemeinsame Front gegen die Ankläger.159 Die Anklageschrift, die Göring natürlich in allen vier Punkten belastete, wurde ihm am 19. Oktober 1945 ausgehändigt.160 Die Auswahl seines Verteidigers überließ er dem Gericht, da er meinte, nie etwas mit Anwälten zu tun gehabt zu haben und außerdem ein guter Dolmetscher in diesem Prozess viel nützlicher wäre als ein Anwalt.161 So wurde ihm Dr. Otto Stahmer162, ein Richter aus Kiel, zur Verfügung gestellt.163 Die Verteidigung Görings war allerdings nicht einfach, da er sich selbst weigerte, etwas schriftlich auszuarbeiten.164 Von der Anklage wurde Hermann Göring fast alles vorgeworfen, was im Dritten Reich geschah, wozu sich Göring bereits am zweiten Verhandlungstag äußern wollte, als er lediglich erklären sollte, ob er sich für schuldig oder nicht schuldig erkläre.165 Göring erklärte sich natürlich für nicht schuldig. Das Verhalten Görings war bei den langen Verhandlungstagen nicht angemessen, da er Zeugen der Anklage beschimpfte oder einfach der Anklage demonstrativ nicht zuhörte.166

158 Kormann. Angeklagten. 37. 159 Ebd. 37. 160 Ebd. 161 Ebd. 162 Dr. Otto Franz Walter Stahmer wurde am 5. Oktober 1879 in Altona geboren und starb am 13. August 1968 in Kiel. Er war deutscher Jurist und der Verteidiger von Hermann Göring während des Nürnberger Prozesses von November 1945 bis September 1946. 163 Kormann. Angeklagten. 37. 164 Ebd. 165 Ebd. 37-38. 166 Ebd. 38. 37

Da Göring der erste Angeklagte war, wurde ihm ein Privileg zugebilligt: Er konnte zu jeder Frage, die ihm gestellt wurde, ausführlich Stellung nehmen. Dies nutzte Göring bei jeder Gelegenheit.167 Göring war schon ab 1922, als er der Partei beitrat und das Kommando über die SA übernahm, Ratgeber, aktiver Mitarbeiter Hitlers und einer der wichtigsten Führer der nationalsozialistischen Bewegung.168 Er baute die Gestapo auf und schuf die ersten Konzentrationslager für Adolf Hitler. Die Leitung dieser Konzentrationslager hat er 1934 an Himmler übergeben.169 Beim Anschluss Österreichs spielte er eine zentrale Rolle und beim Einmarsch in die Tschechoslowakei drohte Göring deren Präsidenten Hacha mit der Bombardierung von Prag, falls der Präsident nicht nachgeben sollte.170 Im Jahre 1938 war Göring einer der großen Befürworter der Judenverfolgung und zwar nicht nur jener in Deutschland lebenden Juden, sondern in allen besetzten Gebieten.171 Hermann Göring belegte die jüdische Bevölkerung außerdem mit einer Geldbuße in der Höhe von einer Milliarde Reichsmark.172

167 Kormann. Angeklagten. 38. 168 Mosley. Göring. 330. 169 Ebd. 330 – 331. 170 Ebd. 331. 171 Ebd. 331. 172 Ebd. 331. 38

7. Die Verteidigung von Hermann Göring

Görings Verteidigung begann am 8. März 1946. Der erste Zeuge von Görings Anwalt Dr. Otto Stahmer war General Karl Bodenschatz. Göring kannte Bodenschatz seit 1918. Er war während des Krieges Verbindungsoffizier zwischen Göring und dem Führerhauptquartier gewesen.173 Karl Bodenschatz wurde beim Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 schwer verletzt und litt weiterhin an seinen damaligen Verwundungen.174 Er war außerdem nicht mehr klar bei Sinnen, da er meinte, Göring habe erheblich dabei mitgewirkt, die Krise vom Herbst 1938 friedlich zu lösen. Er sei gegen den Krieg gegen England und die UdSSR gewesen, habe die Ausschreitungen gegen Juden in der Reichskristallnacht175 scharf kritisiert und habe Freunde vor der Gestapo176 beschützt.177 Diese Aussagen wurden vom amerikanischen Hauptankläger Robert H. Jackson analysiert, geprüft und schlussendlich wurde Bodenschatz vom Hauptankläger regelrecht „zerlegt”.178 Der nächste Zeuge war Görings ehemaliger Staatssekretär im Luftfahrtministerium und Generalluftzeugmeister, Erhard Milch.179 Milch war eine ganz andere Persönlichkeit als Bodenschatz. Zur Verteidigung Görings meinte er lediglich, dass die Luftwaffe der Verteidigung „Hitler-Deutschlands“ gedient habe und er nichts von den medizinischen Experimenten an Konzentrationslagerhäftlingen gewusst habe.180 Das einzige Risiko, das Milch für Göring darstellte, betraf das Jahr 1944: Die Luftwaffe und die gesamte Luftrüstung standen unter seinem Kommando. Dieses

173 Kormann. Angeklagten. 38. 174 Ebd. 175 Reichskristallnacht werden die Novemberpogrome 1938 genannt (Nacht vom 9. auf den 10. November 1938). Diese Nacht wurde vom NS-Regime organisiert und war eine gelenkte Gewaltmaßnahme gegen Juden im gesamten Deutschen Reich. Dabei wurden vom 7. bis 13. November 1938 etwa 400 Menschen ermordet oder zum Selbstmord getrieben. Ab dem 10. November wurden ungefähr 30.000 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert. 176 Die Geheime Staatspolizei, kurz Gestapo, war ein kriminalpolizeilicher Behördenapparat und die Politische Polizei in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945. 177 Kormann. Angeklagten. 38. 178 Ebd. 179 Erhard Milch wurde am 30. März 1892 in Wilhelmshaven geboren und starb am 25. Januar 1972 in Wuppertal. Er war von 1933 bis 1945 Staatssekretär des Reichsluftfahrministeriums, zugleich Generalinspekteur der Luftwaffe und von November 1941 bis Juli 1944 Generalluftzeugmeister. 180 Kormann. Angeklagten. 39. 39

Risiko war unbedeutend, da Milch Göring ohnehin nicht entlasten konnte. Im Kreuzverhör durch Jackson verwickelte Milch sich in Ungereimtheiten und dementierte zum Schluss seine Aussagen.181 Der nächste Zeuge war Görings persönlicher Adjutant Bernd von Brauchitsch182, dieser hatte jedoch nicht viel zu sagen. Das einzige, was von Brauchitsch beim Prozess klarstellte, war, dass Göring den Befehl Hitlers von 1944, „abgesprungene alliierte Terrorflieger“ zu töten, missachtete.183 Der Staatssekretär Görings in Preußen, Paul Körner, betrat als nächster den Zeugenstand. Paul Körner184 hatte Monate zuvor eine Aussage unterschrieben, dass er treulos gegen Göring aussagen würde. Dieses Protokoll wurde von der Anklage verlesen, weswegen seine Aussage nahezu wertlos war.185 Der nächste Zeuge, Generalfeldmarschall Albert Kesselring186, vertrat ebenfalls die Meinung Körners, dass die Luftwaffe in erster Linie zur Verteidigung gedient habe.187 Die Luftangriffe auf Warschau, Rotterdam und Coventry waren seiner Meinung nach militärisch notwendig und er verwies auf die Haager Landkriegsordnung. Diese Landkriegsordnung stammte aus dem Jahr 1907.188 Albert Kesselring blieb in diesem Kreuzverhör standhaft, da er von seiner Meinung nicht abwich, dass die Luftwaffe in erster Linie rein der Verteidigung diente. Der Hauptzeuge der Verteidigung war der schwedische Industrielle Birger Dahlerus.189 Dieser Zeuge sollte die Aussage bestätigen, dass Göring im August und September 1939 versucht habe, den Krieg zu verhindern und sich sozusagen

181 Taylor. Nürnberger Prozesse, 380-381. 182 Bernd von Brauchitsch wurde am 30. September 1911 in Berlin geboren und starb am 19. Dezember 1974. Er war Offizier in Reichswehr und Wehrmacht. 183 Kormann. Angeklagten, 39. 184 Paul Körner wurde am 2. Oktober 1893 in Pirna geboren und starb am 29. November 1957 in Tegernsee. Er war deutscher Politiker, Mitglied des Reichstags und SS-Obergruppenführer. Körner war die „rechte Hand“ Hermann Görings. 185 Kormann. Angeklagten, 39. 186 Albert Kesselring wurde am 30. November 1885 in Marktsteft geboren und starb am 16. Juli 1960 in Bad Nauheim. Er war deutscher Heeres- und Luftwaffenoffizier, ab 1940 Generalfeldmarschall. 187 Kormann. Angeklagten. 39. 188 Ebd. 189 Birger Dahlerus wurde am 6. Februar 1891 in Stockholm geboren und starb am 8. März 1957 ebenda. Er war schwedischer Industrieller und als Vermittler in den letzten Tagen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für Hermann Göring tätig. 40

gegen Adolf Hitler gestellt habe.190 Görings vermeintlicher Trumpf Dahlerus war eine herbe Enttäuschung, da Dahlerus für Göring keinesfalls ein entlastender Zeuge war. Er gab an, dass Göring Angst vor einem Zweifrontenkrieg hatte und die Friedensbemühungen der deutschen Regierung nicht wirklich überzeugend waren, da diese Regierung den Krieg wollte und ihn auch bekam.191 Alle Zeugen waren im Fall Göring eine große Enttäuschung, um nicht zu sagen ein Rückschlag, da keiner der Zeugen Göring entlasten konnte.192 Am Morgen des 13. März 1946 kam Hermann Göring in den Zeugenstand. Er hatte lange auf diesen Tag gewartet und war sichtlich nervös. Vor Beginn der Sitzung sagte er zu Gilbert: „Ich erkenne die Zuständigkeit des Gerichts immer noch nicht an. Wie Maria Stuart193 kann ich sagen, ich könnte nur vor ein Gericht gestellt werden, das mit Ebenbürtigen besetzt ist.“ Dabei grinste er und hob die Schultern. „Ein Staatsoberhaupt vor ein internationales Gericht zu stellen ist eine Anmaßung, wie sie in der Geschichte einzig dasteht.“194 Als jedoch der entscheidende Augenblick kam, war er gewappnet. In den folgenden vier Tagen führte er das Verhör sorgfältig, detailliert und geduldig durch die Geschichte der nationalsozialistischen Partei und seiner Beziehung zu Hitler, wie er sie erlebt und erfahren hatte. Sogar seine Gegner mussten zugeben, dass Görings Auftritt einen starken Eindruck auf sie machte. Es war phänomenal, wie er sich an Einzelheiten erinnerte. Er schilderte jeden Vorfall und jedes Gespräch, an dem er beteiligt gewesen war, so farbig und glaubwürdig, dass seine Zuhörer gefesselt waren. Zum ersten Mal herrschte im Gerichtssaal ein erwartungsvolles Schweigen. Nach diesem ersten Tag seines Auftretens vor Gericht gab sogar sein Gegner Albert Speer zu, dass das eine beachtliche Leistung gewesen sei. Ihm schien das Auftreten Görings die Tragödie des deutschen Volkes zu symbolisieren. Speer meinte: „Als man ihn (Göring) so ernst und ohne seine Diamanten und Orden sah, wie er sich zum Schluss nach all der Macht, dem

190 Kormann. Angeklagten. 40. 191 Ebd. 192 Ebd. 193 Maria Stuart wurde am 8. Dezember 1542 in Linlithgow Palace geboren und starb am 8. Februar jul. 18. Februar greg. 1587 in Fotheringhay Castle. Sie war vom 14. Dezember 1542 bis zum 24. Juli 1567 als Maria I. Königin von Schottland. 194 Mosley. Göring. 323. 41

Pomp und der Überschwänglichkeit vor dem Tribunal verteidigte, war man wirklich erschüttert.“195 Göring selbst sagte: „Sie müssen verstehen, dass es nach einer Haftzeit von fast einem Jahr und fünf Monaten, in denen ich kein Wort sprechen durfte, wirklich anstrengend für mich gewesen ist, besonders in den ersten zehn Minuten. Es hat mich verdammt geärgert, dass meine Hand zitterte.“ Er hob sie hoch. „ Sehen Sie, jetzt ist sie viel ruhiger.“196

Göring vollbrachte eine erstaunliche Leistung und wusste, dass er einen guten Eindruck machte. Er scheute sich auch nicht, die Verantwortung für vieles zu übernehmen. Unter anderem sagte er: „Ich möchte betonen, dass ich, obwohl ich mündliche und schriftliche Befehle, sowie Anweisungen vom Führer erhalten habe, diese Gesetze zu erlassen und in Kraft zu setzen, selbst die volle Verantwortung für sie übernehme. Sie tragen meine Unterschrift. Ich habe sie erlassen, folglich bin ich verantwortlich und werde mich in keiner Weise hinter den Befehlen des Führers verstecken.“197 Er rechtfertigte die Existenz des nationalsozialistischen Staates: „Ich bin für diesen Grundsatz eingetreten, und ich trete noch jetzt positiv und bewusst für ihn ein. Man darf nicht den Fehler begehen, zu vergessen, dass die politische Struktur in den verschiedenen Ländern verschiedenen Ursprungs ist und eine jeweils verschiedene Entwicklung durchgemacht hat. Etwas, das für ein Land ausgezeichnet passt, würde in einem anderen vollkommen falsch sein. In Deutschland hat in langen Jahrhunderten die Monarchie bestanden und es hat immer das Führerprinzip gegolten.“ Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: „Es ist das gleiche Prinzip, auf das sich die römisch-katholische Kirche und die Regierung der UdSSR stützen.“198 Göring bestritt außerdem, die Exzesse der Gestapo und der SS gebilligt zu haben (jedoch erwähnte Göring, als er noch direkte Beziehung zu diesen zwei Organisationen hatte, wurden Exzesse bestraft).199 Nach dem Verhör kam Hermann Göring ganz erschöpft in seine Zelle zurück, dieses Auftreten gefiel Albert Speer überhaupt

195 Mosley. Göring. 323. 196 Ebd. 324. 197 Ebd. 198 Ebd. 199 Ebd. 42

nicht und er vertraute Gilbert in einer Sitzung an, dass Görings korruptes Maulheldentum hinter der heroischen Fassade von Loyalität und Anständigkeit bloßgelegt werden müsse.200 Speer berichtete weiter, dass Göring ein korrupter Feigling war (Leben im privaten Luftschutzbunker, während Deutschland im Todeskampf lag).201 Jedoch nicht nur Speer erhoffte sich vom Kreuzverhör Jacksons viel, sondern auch die Alliierten. Denn der Auftritt von Hermann Göring hinterließ einen „positiven Eindruck“, d.h. der englische Jurist Sir (später Lord) Norman Birkett202 bezeichnete Göring als höflich, intelligent, schlagfertig, leistungsfähig und einfallsreich.203 Genau diese Strategie verfolgte Hermann Göring beim Prozess. Er war dem amerikanischen Hauptankläger in deutscher Geschichte überlegen und konnte daher Jackson immer wieder unterbrechen und ausbessern.204 Jackson war sehr irritiert, da aus dem Kreuzverhör hervorging, dass Göring alles für den Frieden getan hätte und den Juden helfen wollte.205 Auf dem Höhepunkt der Vernehmung warf Jackson seine Kopfhörer wütend auf den Tisch. Keiner von den Anklägern konnte dem Image Görings beim Prozess zu dieser Zeit etwas anhaben. Beim Verlassen des Gerichtsaals nach dem Verhör rief Göring den Mitangeklagten zu: „Wenn jeder von Ihnen seinen Mann steht wie ich, ist alles in Ordnung. Sie müssen vorsichtig sein. Jedes Wort, was Sie sagen, kann Ihnen im Munde verdreht werden“.206 Verhör und Kreuzverhör von Göring waren am 22. März beendet, die Schlussplädoyers der Anklage begannen jedoch erst am 26. Juli 1946.207

200 Mosley. Göring. 325. 201 Ebd. 202 William Norman Birkett wurde am 6. September 1883 in Ulverston geboren und starb am 10. Februar 1962 in Lancashire. Er war britischer Jurist, Politiker und stellvertretender britischer Richter am Militärgerichtshof beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. 203 Mosley. Göring. 325. 204 Ebd. 326. 205 Ebd. 206 Ebd. 326-327. 207 Ebd. 327. 43

8. Das Urteil über Hermann Göring

Hermann Göring wurde, wie schon erwähnt, nach allen vier Anklagepunkten angeklagt. Laut der Beweisführung war Göring nach Hitler der bedeutendste Mann des NS-Regimes.208 Er hatte in Staat und Partei unzählige Funktionen inne, beispielsweise Reichsführer der SA, Mitglied und Präsident des Reichstages, Preußischer Ministerpräsident, Präsident der Preußischen Polizei und Chef der Preußischen Geheimen Staatspolizei, Präsident des Preußischen Staatsrates, Beauftragter für den Vierjahresplan, Reichsluftfahrtminister, Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe.209 Bereits im Jahr 1922, als er der Partei beitrat und die Befehlsgewalt über die SA übernahm, war Göring Ratgeber, tatkräftiger Handlanger Hitlers und einer der allerersten Führer der Nazi- Bewegung.210

In seiner Funktion als Hitlers Stellvertreter trug Göring weitgehend dazu bei, die Nationalsozialisten 1933 an die Macht zu bringen. Göring baute die Gestapo auf und schuf die ersten Konzentrationslager für Hitler, deren Leitung er im Jahr 1934 an Himmler übergab. Im selben Jahr führte er mit Röhm sogenannte Säuberungsaktionen durch und leitete grausame Verfolgungen ein. Die Folge dieser schmutzigen Aktionen waren u.a., dass Werner von Blomberg211 und Werner von Fritsch212 aus dem Heer entfernt wurden.213 Im Jahr 1936 wurde Göring der Generalbevollmächtigte für den Vierjahresplan und war sozusagen der wirtschaftliche Diktator des Reiches.214 Nach dem Münchner Abkommen kündigte Göring an, die Luftwaffe auf das Fünffache zu vergrößern und im gleichen Zug die Aufrüstung zu beschleunigen.

208 Protokolle XXII. 596. 209 Kastner. Die Völker. 44-45. 210 Protokolle XXII. 596. 211 Werner Eduard Fritz von Blomberg wurde am 2. September 1878 in Stargard, Pommern geborgen und starb am 13. März 1946 in Nürnberg. Er war von 1933 bis 1938 Reichswehrminister und ab 1936 der erste Generalfeldmarschall der Wehrmacht. 212 Thomas Ludwig Werner Freiherr von Fritsch wurde am 4. August 1880 in Benrath geboren und starb am 22. September 1939 bei Praga, Warschau. Er war deutscher Offizier (zuletzt Generaloberst) sowie von 1936 bis 1938 Oberbefehlshaber des Heeres. 213 Protokolle XXII. 596. 214 Ebd. 597. 44

Ein besonderes Augenmerk wurde auf die Angriffswaffen gelegt.215 Göring war bei jeder wichtigen Konferenz der NS-Bewegung dabei, auch bei der Hoßbach- Konferenz216 vom 5. November 1937. Nicht Adolf Hitler alleine war beim Anschluss Österreichs eine zentrale Gestalt, es war Hermann Göring, welcher der Anführer in dieser Sache war.217 Vor dem Gerichtshof sagte er: „Ich muss die Verantwortung zu 100 Prozent auf mich nehmen... Ich überwand sogar Einwände des Führers und brachte alles zu seinem endgültigen Abschluss“.218 Bei einer Konferenz mit Hitler und dem Präsidenten der Tschechoslowakei Hacha drohte er diesem, Prag zu bombardieren, falls der Präsident nicht nachgebe.219 Bei der Sitzung vom 23. Mai 1939, als Hitler seinen militärischen Führern sagte: „Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen“, aber auch bei der am 22. August 1939 am , bei der die Weisungen dafür erteilt wurden, war Göring anwesend.220 Mit Hitlers Wissen benutzte Göring den schwedischen Geschäftsmann Dahlerus als Mittelsmann zu den Briten, damit diese ihre Garantie für Polen brachen. Göring befehligte die Luftwaffe beim Angriff auf Polen und auch alle weiteren Luftangriffe.221 Hinsichtlich der Pläne gegen Norwegen und die Sowjetunion teilte Göring mit, dass er sich widersetzt habe, jedoch tat er dies nur aus strategischen Gründen. Sobald Hitler eine Entscheidung getroffen hatte, folgte Göring ihm aufs Wort.222 Diese Meinungsverschiedenheiten mit Hitler waren niemals rechtlicher Natur, da Göring nur wütend über den Einfall in Norwegen war, weil er nicht rechtzeitig verständigt wurde, um die Offensive der Luftwaffe ordnungsgemäß vorzubereiten.223 Er hatte außerdem tätigen Anteil an der Vorbereitung und Durchführung der Feldzüge gegen Jugoslawien und Griechenland. Göring betrachtete die Sowjetunion als „die drohende Gefahr für Deutschland“, jedoch

215 Protokolle XXII. 597. 216 Oft auch als Hoßbach-Protokoll bezeichnet wird eine Notiz über eine Besprechung am 5. November 1937 in Berlin, in welcher Adolf Hitler in einem mehrstündigen Monolog den wichtigsten Vertretern der Wehrmacht und dem Außenminister von Neurath die Grundzüge seiner gewaltsamen Expansion darstellte. Dieses Protokoll ist eine zentrale Quelle für die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges. 217 Protokolle XXII. 597. 218 Ebd. 219 Ebd. 220 Ebd. 221 Ebd. 222 Ebd. 223 Ebd. 45

musste er zugeben, dass keine unmittelbare Notwendigkeit für den Angriff bestanden habe. Göring hatte nichts gegen den Angriffskrieg gegen die USSR einzuwenden, bis auf den Zeitpunkt d. Aus strategischen Gründen wollte Göring den Angriff hinauszögern, bis England besiegt war.224 Nach Görings Eingeständnis vor dem Gerichtshof in Nürnberg, seinen bekleideten Stellen und nach seinen öffentlichen Äußerungen kann kein Zweifel bestehen bleiben, dass Göring eine treibende Kraft hinter den Angriffskriegen war.225 Göring war der Pläneschmied und die Hauptkraft der militärischen und diplomatischen Kriegsvorbereitungen Deutschlands.226 Göring hat im Laufe des Verfahrens viele Eingeständnisse seiner Mitverantwortung betreffend Sklavenarbeiter gemacht, zum Beispiel:

„Wir verwendeten diese Arbeitskräfte aus ... Erwägungen der Sicherheit, um sie nicht in ihrem Lande dem Müßiggang und damit der Arbeit und dem Kampf gegen uns zur Verfügung zu stellen und andererseits dienten sie dazu, in dem Wirtschaftskrieg Vorteile für uns zu gewährleisten“.227

Andererseits wieder:

„...dass auch die Arbeiter unter Zwangsauflagen ins Reich geholt wurden. Das habe ich nicht bestritten“.228

Göring war Generalbevollmächtigter für den Vierjahresplan und war mit der Anwerbung und Zuteilung von Arbeitskräften betraut. Er verlangte von Himmler zusätzlich Arbeitssklaven für seine Flugzeugfabriken, damit die Luftwaffe auch weiterhin glänzte.229 Diese Schritte gab Göring beim Prozess zu.

224 Protokolle XXII. 598. 225 Ebd. 226 Ebd. 227 Ebd. 228 Ebd. 229 Ebd. 46

„Dass ich Konzentrationslagerhäftlinge für die Luftwaffenindustrie angefordert habe, ist richtig, ist auch in meinen Augen selbstverständlich“.230

Göring unterzeichnete als Generalbevollmächtigter eine Weisung über die Behandlung polnischer Arbeiter in Deutschland und ergänzte sie durch Ausführungsbestimmungen an den SD231, mit Einschluss der „Sonderbehandlung“.232 Außerdem gab Göring Richtlinien hinaus, sowjetische und französische Kriegsgefangene in der Rüstungsindustrie zu verwenden. 233 Es sollten auch Polen und Holländer ergriffen werden, mit der Absicht diese als Arbeitskräfte zu verwenden.234 Lange vor dem Kriege gegen die Sowjetunion stellte Göring Pläne zur Ausplünderung des Sowjetgebietes auf, jedoch nicht ausschließlich auf das Gebiet der Sowjets bezogen, sondern generell für die Ausplünderung der eroberten Gebiete.235 Göring wurde von Hitler schon zwei Monate vor dem Einfall in die Sowjetunion als Leiter der Wirtschaftsverwaltung dieses Gebietes ausgewählt. Göring setzte für die Aufgabe einen Wirtschaftsstab ein, wobei alle Weisungen von Göring ausgingen. Es wurde eine grüne Mappe angefertigt, welche alle Weisungen für die Wirtschaft, Ernährung und Landwirtschaft dieser Gebiete beinhaltete.236 Diese Weisungen bzw. Richtlinien hatten die Aufgabe, Plünderungen von Lebensmitteln für den deutschen Bedarf zu gewährleisten.237 Bei der Konferenz vom 16. Juli 1941, in der Adolf Hitler den Anwesenden mitteilte, dass die Nationalsozialisten nicht die Absicht hätten, die besetzten Länder jemals zu verlassen und dass „alle notwendigen Maßnahmen wie Erschießen, Aussiedeln usw.“ getroffen werden sollten, war Hermann Göring auch anwesend.238

230 Protokolle XXII. 598 231 Die Abkürzung SD steht für Sicherheitsdienst des Reichführers SS. Der SD war ein Teil des nationalsozialistischen Machtapparates im Deutschen Reich und während des Krieges im besetzten Europa. Er wurde 1931 als Geheimdienst der NSDAP gegründet und unterstand ab 1939 dem Reichssicherheitshauptamt. 232 Protokolle XXII. 598-599. 233 Ebd. 599. 234 Ebd. 235 Ebd. 236 Ebd. 237 Ebd. 238 Ebd. 47

Die Verfolgung der Juden, besonders nach den Pogromen vom November 1938, wurde von Göring sehr genau verfolgt. Seine Aufmerksamkeit beschränkte sich nicht nur auf Deutschland, wo er den Juden eine Buße von einer Milliarde Mark auferlegte, sondern auch auf alle eroberten Ländern.239 Am Anfang waren die Ziele der Verfolgung der Juden für Göring rein wirtschaftlicher Natur, jedoch mit der Ausdehnung des Deutschen Reiches wurde die Anzahl der judenfeindlichen Gesetze immer größer.240 Die Reichsgesetzblätter von 1939, 1940 und 1941 enthalten mehrere judenfeindliche Verordnungen, die Göring unterzeichnet hatte, obwohl die Ausrottung der Juden Himmler unterstand.241 Trotz seiner Beteuerungen im Zeugenstand war Göring in Wirklichkeit nicht so teilnahmslos oder untätig, wie er behauptet hatte. Seine Anordnung vom 31. Juli 1941 wies Heydrich an „eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa“ zu treffen.242 Aus diesem Grund konnte vom Gericht kein mildernder Umstand angeführt werden, da Hermann Göring oft bzw. fast immer die treibende Kraft hinter den Machenschaften war und nur seinem Führer Adolf Hitler nachstand.243 Er war eine leitende Persönlichkeit bei den Angriffskriegen (sowohl politisch als auch als militärischer Führer), Leiter des Sklavenarbeiterprogramms und der Urheber des Unterdrückungsprogramms gegen die Juden und andere Rassen im In- und Ausland.244 Alle diese Verbrechen wurden von Hermann Göring offen beim Prozess zugegeben, wobei es ausreichend Beweise gibt, um seine Schuld nachzuweisen. Für Göring lässt sich in dem gesamten Material, welches beim Prozess vorgelegt wurde, keine Entschuldigung finden.245 Der Gerichtshof sprach den Angeklagten Hermann Göring nach allen vier Anklagepunkten der Anklageschrift schuldig.246 Hermann Göring, der schon zu Beginn des Prozesses wusste, dass er ein toter Mann war, nahm den Schuldspruch des Gerichtshofes am 1. Oktober 1946 mit

239 Protokolle XXII. 599. 240 Ebd. 241 Ebd. 600. 242 Ebd. 243 Ebd. 244 Ebd. 245 Ebd. 246 Ebd. 48

einer gewissen Gelassenheit zur Kenntnis und verbeugte sich sogar kurz vor den Richtern.247 In der Nacht des 15. Oktober 1946 erhielt Hermann Göring noch einen letzten Besuch von seiner Frau Emmy, einige Stunden vor seiner festgesetzten Hinrichtung.248 Diese erlebte Göring jedoch nicht mehr, da er Selbstmord mit einer Zyankalikapsel beging.249

247 Kormann. Angeklagten. 46. 248 Ebd. 249 Ebd. 47. 49

9. Die Anklagepunkte gegen Albert Speer

Um die Anklagepunkte und das Urteil betreffend Albert Speer richtig beurteilen zu können, muss man die Geschehnisse im Februar 1945 berücksichtigen. Am 1. Mai 1945 erfuhr Speer, dass Hitler tot sei und Großadmiral Karl Dönitz250 die Regierung übernommen hatte. Speer wurde von Dönitz zum Reichswirtschafts- und Produktionsminister ernannt. Anstatt zu flüchten oder sich zu ergeben, hielt Speer eine Rede im Rundfunk mit dem Inhalt, den Wiederaufbau mit aller Energie vorantreiben zu wollen. Nachdem Hitler in Berlin seinen Regierungssitz hatte, hatte Karl Dönitz den seinigen in Flensburg-Mürwik. Dort hielt Dönitz ständig Sitzungen ab, welche Speer für überflüssig hielt. Nach der Kapitulation Deutschlands suchten immer wieder amerikanische Vernehmungsoffiziere Speer in Flensburg-Mürwik auf. Karl Dönitz und Albert Speer wurden am 23. Mai 1945 mit der gesamten Regierung verhaftet und nach Ashcan, Luxemburg gebracht. Während ihrer zweiwöchigen Unterbringung rechnete keiner der Gefangen mit einer Todesstrafe. Danach wurden sie nach Schloss Kansberg ins Lager Dusbin gebracht.251

Albert Speer glaubte nicht, dass die Alliierten ihn verurteilen würden, da sie ihn seiner Meinung nach brauchen würden. Dieser Glaube hielt jedoch nur kurz an und endete Ende August mit der Nachricht, dass er als Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg angeklagt werde. Diese Mitteilung traf ihn sehr, da er nicht geglaubt hatte, angeklagt zu werden.252 In Nürnberg ging es ihm anfänglich nicht besonders gut, jedoch verbesserte sich sein Wohlbefinden nach einer Woche. Douglas M. Kelley253 und Dr. Gustav Gilbert führten psychologische Untersuchungen bei den Hauptkriegsverbrechern durch. Speer fand diese Untersuchungen völlig „idiotisch

250 Karl Dönitz wurde am 16. September 1891 in Grünau bei Berlin geboren und starb am 24. Dezember 1980 in Aumühle. Er war deutscher Marineoffizier, ab 1943 Großadmiral, enger Gefolgsmann Adolf Hitlers und letztes Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches. 251 Sereny. Ringen. 546-645. 252 Speer. Erinnerungen. 507-509. 253 Douglas McGlashan Kelley wurde am 11. August 1912 in Truckee, Kalifornien geboren und starb am 1. Januar 1958 in Berkeley, Kalifornien. Er war US-Psychologe beim Nürnberger Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher. 50

und überflüssig“.254 Douglas M. Kelley vertrat die Meinung, dass Albert Speer nur die Architektur im Sinn hatte und keine Verbrechen. Anhand dieser Einschätzung von Kelley sieht man genau, wie wenig sich der US-Psychologe mit Albert Speer befasst hatte.255 Ganz anders sah dies Psychologe Gustav Gilbert. Gilbert hielt die Einschätzung Kelleys für völligen Schwachsinn. Speer habe sich von Anfang an von den anderen Angeklagten unterschieden.256 Seine anti-militärische und anti-hitlerische Überzeugung befand er für echt, jedoch die Frage nach der Verantwortung, Meinungen über den Prozess und die Meinung zu Hitler eher nicht.257 In seinen Gesprächen mit Albert Speer kam deutlich zur Geltung, dass dieser Prozess eine gewisse Notwendigkeit habe, da diese Verbrechen bestraft werden müssten. Jedoch wies Speer darauf hin, dass er von den angeführten Verbrechen keine Ahnung gehabt habe.258 Keine schönen Worte hatte er für Adolf Hitler übrig, dieser war für Speer ein „zerstörerischer Irrer“.259 Sein einziger Fehler war es, dass er zu lange an Hitler festgehalten und nichts gegen ihn unternommen habe.260 Albert Speer wurde die Anklageschrift, in denen er in allen vier Punkten angeklagt wurde, am 19. Oktober 1945 ausgehändigt. Diese Nachricht traf ihn sehr, da er noch immer nicht akzeptieren wollte, dass er angeklagt wird.261 Den Anwalt konnte er sich nicht selber aussuchen und das Gericht teilte ihm Dr. Hans Flächsner aus Berlin zu. Zu seinem Anwalt sagte Speer sofort, dass er sich für schuldig bekennen werde. Dieses Schuldbekenntnis könnte die Todesstrafe bringen, erwiderte Flächsner entsetzt.262

In den ersten zwei Anklagepunkten warf die Anklage Speer „nur“ vor, dass er von den Plänen Hitlers gewusst haben müsse und ein enger Freund von ihm gewesen sei. Diese zwei Anklagepunkte waren eine sehr schwache Begründung für einen Prozess diesen Ausmaßes. Die Anklagepunkte drei und vier warfen Speer vor,

254 Sereny. Ringen, 662. 255 Kormann. Angeklagten, 258. 256 Gilbert. Nürnberger Tagebuch. 29-30. 257 Ebd. 166-167. 258 Ebd. 30. 259 Ebd. 123-124. 260 Ebd. 166-167. 261 Sereny. Ringen. 658. 262 Ebd. 658-659. 51

dass er sich sehr unmoralisch im Krieg verhalten habe. Es bedeutete, dass er Kriegsgefangene in der Produktion der Fabriken eingesetzt hatte und deren Arbeitsverhältnisse sehr unmenschlich waren.263

Im November 1945 verfasste Speer einen Brief an den amerikanischen Hauptankläger Robert Jackson, welcher freiwillig geschrieben worden sein soll. Inhalt des Briefes waren seine Kenntnisse über den Verlauf des Krieges. Speer wollte auf diesem Weg eine mildere Strafe erreichen, da er sich offenkundig mit dem „Feind verbrüdern“ und die Sympathie Jacksons gewinnen wollte.264 Diese Ziele konnte Speer mit seinem Brief nicht erreichen. Am 26. September 1946 schrieb Jackson an das Kriegsministerium, dass jeder Angeklagte gleich behandelt werde und es für die angeklagten Verbrecher keine Gnade gebe.265 Einen Schnittpunkt in der „NS-Freundschaft“ unter den Angeklagten gab es am 3. Januar 1946, als der Anwalt Speers den Zeugen Otto Ohlendorf fragen ließ, ob er von Speers Plan, Hitler 1945 zu töten, gewusst habe, dieser verneinte jedoch. Diese Frage an den Angeklagten warf kein gutes Licht auf Speer, und folglich ging jeder dem Architekten Hitlers aus dem Weg.266

Am 20. Juni 1946 wurde Speer gleich nach der Befragung durch Dr. Flächsner von dem Verteidiger Dr. Servatius befragt. Goebbels hatte im Laufe des Krieges die Arbeitszeiten von Deutschen und Ausländern gleichmäßig auf zehn Stunden erhöht. Diese Anordnung wurde vom Angeklagten Speer bestätigt.267 In der Zeit vom April 1942 bis 1943 wurden von ohne Anforderung durch Speer mehr Arbeitskräfte für die Rüstung nach Deutschland „geliefert“.268 Aus einem Schreiben an Hitler betreffend die Beschaffung von Arbeitskräften geht hervor, dass Sauckel in der Tat mehr Arbeitskräfte für Speer beschafft hatte als es Speer lieb war.269 Ab August 1944 wurden auch Frauen und Jugendliche in den Fabriken für die Produktion eingesetzt, wobei Speer ab dem Jahr 1943 die

263 Kormann. Angeklagten. 260. 264 Sereny. Ringen. 674. 265 Ebd. 676. 266 Gilbert. Nürnberger Tagebuch, 105-106. 267 Protokolle XVI. 555. 268 Ebd. 558. 269 Ebd. 559. 52

Arbeitsreserven für die Produktion nutzte. Diese Forderung wurde bei der Zentralen Planung bearbeitet und berücksichtigt.270

270 Protokolle XVI. 559. 53

10. Die Verteidigung von Albert Speer

Die offizielle Verteidigung Speers begann am 19. Juni 1946, als er selbst der erste Zeuge von Dr. Hans Flächsner war. Am Anfang wurde Flächsner von den Anwesenden sehr belächelt. Dieser Blickwinkel änderte sich im Laufe des Prozesses. Da Albert Speer sehr redegewandt war und dies gekonnt im Prozess einsetzte, war es für ihn keine Herausforderung, die Anwesenden zu täuschen und zu manipulieren.271 Beim Prozessstart musste Speer den Eid „Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, dass ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde“272 leisten. Dr. Flächsner, Speers Verteidiger, begann mit der Befragung und ließ Speer seinen Werdegang bis zur Ernennung zum Minister schildern. Wie schon in der kurzen Biographie geschildert, berichtete Speer über seine Anfänge mit Adolf Hitler und seinen Beitritt zur NSDAP. Im Jahre 1934 wurde Adolf Hitler auf den Architekten aufmerksam, da Hitler ein fanatischer Bauherr war; er betraute Speer mit großen Bauaufgaben. Neben dem Neubau der Reichskanzlei in Berlin und den verschiedenen Bauten in Nürnberg wurden ihm auch viele Aufgaben bzw. die Leitung der Neugestaltung der Städte Berlin und Nürnberg übertragen. Hitler war ein großer Förderer von Kunstbauten, was die Grundlage ihrer Freundschaft darstellte (wenn überhaupt Hitler Freunde hatte, dann war Albert Speer einer davon). Trotz des Krieges wurden Friedensbauten bis ins Jahr 1941 weitergeführt, erst die Winterkatastrophe in Russland machte diesen Friedensbauten ein Ende. Diese Winterkatastrophe bedeutete eine Wende des Kriegsverlaufs.273

1941 wurde Speer von Hitler in den Reichstag entsandt, da dieser im Reichstag einen Künstler haben wollte. Die Tätigkeit als Minister begann am 8. Februar 1942, da sein Vorgänger Dr. Todt mit seinem Flugzeug abstürzte. Dr. Todt war unter anderem für das Bauen im „Dritten Reich“ zuständig, deshalb wurde Albert

271 Sereny. Ringen, 678. 272 Protokolle XVI. 475. 273 Ebd. 475-476. 54

Speer für die Position ausgewählt. Doch die Tätigkeit Speers lag nicht im Bauen, sondern in der Steigerung der Rüstung. Die Winterschlacht 1941 in Russland brachte enorme Materialverluste, deswegen wurde von Hitler eine Steigerung der Rüstung gefordert.274 Das Ministerium Speer hatte viele Aufgaben zu erfüllen und wichtige Ziele für Hitler zu erreichen. Speer war der Leiter eines Produktionsministeriums, das den Mangel an Rohstoffen, an Metallen, an Stahl usw. zu beseitigen als Aufgabe hatte, um die Rüstung wieder in Schwung zu bringen. Da ohne Rohstoffe die Rüstungsindustrie nicht funktionieren konnte, war das eine der wichtigsten Aufgaben seines Ministeriums. Dies war eine reine Kriegsaufgabe, weil sich im Frieden die Auftragslenkung nach dem natürlichen Ausgleich von Angebot und Nachfrage von selbst regelt, während im Krieg dieser regulierende Faktor fehlt.275 1944 bekam Speer neben der Heeresrüstung noch die gesamte Rüstungs- und Kriegsproduktion als Tätigkeitsbereich hinzu. Diese Zuständigkeitserweiterung war ein weiterer großer Schritt in der Laufbahn von Albert Speer. Im Jahre 1942 hatte Speer für die Heeresrüstung und für den Bau rund 2,600.000 Arbeiter unter sich. Im Jahre 1943 bekam Speer von Karl Dönitz auch die Marinerüstung als Tätigkeitsbereich hinzu. Damit hatte Speer zusammen 3,200.000 Arbeitskräfte. Ein weiterer großer Karriereschritt für Speer war die Übernahme der Luftrüstung von Hermann Göring am 1. August 1944.

Für die gesamten Aufgabenbereiche für das Großdeutsche Reich, exklusive der besetzten Gebiete, hatte Albert Speer 14 Millionen Arbeitskräfte.276 Die Verwaltungsabteilungen in den verschiedenen Waffenämtern behielten ihre Aufgaben, was zum Beispiel bedeutete, dass innerhalb des Heeres das Heereswaffenamt mit einigen tausend Mitarbeitern die Aufgaben bzw. Aufträge vergab. Für eine ordnungsgemäße Bezahlung der Aufträge, die in einem Monat etwa drei bis vier Milliarden Mark betrugen, wurden 6.000 ehrenamtliche

274 Protokolle XVI. 477. 275 Ebd. 482. 276 Ebd. 483. 55

Mitarbeiter eingesetzt. Nicht alle Wehrmachtsstellen unterstanden Albert Speer, die Munitionsanstalten und ähnliche Einrichtungen unterlagen der SS.277

Die Anklage warf Albert Speer ebenfalls die Mitverantwortung für die Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeiter, Kriegsgefangener und der Arbeitskräfte in den Konzentrationslagern vor. Der Aussage von Albert Speer folgend, war sein Ministerium unter anderem für die Arbeitsbedingungen verantwortlich. Die Verantwortung für die Arbeitsbedingungen wurde vom Ernährungsministerium, der Gewerbeaufsicht und dem Reichsinnenministerium betreffend den Gesundheitsdienst übernommen. Die Tatsache, dass sich die SS der staatlichen Kontrolle im Umgang mit ihren KZ-Häftlingen entzogen hat, fand keine Unterstützung bei Albert Speer oder seinem Ministerium.278

Albert Speer hat die Bestrafung von arbeitsunwilligen Arbeitern gebilligt, jedoch keine weiteren Maßnahmen gefordert. Diese wurden von der SS aus eigener Initiative vollzogen. Eine befriedigende Arbeitsleistung von 14 Millionen Arbeitern kann auf Dauer nur durch den guten Willen der Arbeiter erzielt werden, deswegen versuchte Albert Speer immer eine „zufriedene Belegschaft“ zu haben.279 Je näher das Ende des Krieges kam, desto mehr Arbeitsstunden musste seine Belegschaft leisten. Durch die Fliegerangriffe traten jedoch Stockungen in der Belieferung der Werke mit den Einzelteilen und dem Rohmaterial ein. Dadurch schwankte in den Betrieben die Arbeitsstundenzahl zwischen acht bis zwölf Stunden pro Tag. Der Durchschnitt dürfte nach den Schätzungen der Statistiken etwa bei 60 bis 64 Stunden pro Woche gelegen haben.280 Um die Belieferung der Werke dennoch aufrechtzuerhalten, wurden sogenannte Arbeitslager in den KZ-Sonderlagern errichtet. Die Arbeitslager hatten das Ziel, einerseits lange Arbeitswege zu ersparen und andererseits die Arbeitskräfte

277 Protokolle XVI. 483. 278 Ebd. 483-484. 279 Ebd. 485. 280 Ebd. 487. 56

sozusagen „frisch und arbeitslustig“ zu halten. Ein weiterer Punkt war die Verpflegung der Arbeitskräfte.

Diese hätten nicht immer, gemäß den Richtlinien des Ernährungsministeriums, rechtzeitig und pünktlich ihre Ernährung erhalten, da die Arbeiter von vielen Konzentrationslagern anreisen mussten.281 Die Arbeitsbedingungen mussten in allen Fabriken gleich hoch sein. In den unterirdischen Fabriken waren die modernsten Fertigungen und die neuesten Waffen untergebracht, wobei die Produktion einen hohen Standard erfüllen musste. Sie mussten einwandfreie Arbeitsbedingungen, eine staubfreie, trockene Luft, gutes Licht und große Frischluftanlagen besitzen, um auch in einer Nachtschicht den normalen Betrieb fortzusetzen. In den unterirdischen Fabriken waren ausschließlich deutsche Arbeitskräfte vertreten, da Speer großes Interesse hatte, die modernsten Produktionen nur mit den besten Arbeitskräften zu fertigen.282 Laut Albert Speer waren am Ende des Krieges bis zu 300.000 Quadratmeter unterirdischer Fabrikbauten in Betrieb und weitere drei Millionen Quadratmeter waren in Planung.283

Der Besuch des Konzentrationslagers Mauthausen war für Speer wichtig, da er die Stilllegung des Abbaus der Pflastersteine im Steinbruch Mauthausen verlangte. Diese Pflastersteine waren für die umfangreichen Bahnanlagen gedacht, diesen Arbeitsauftrag betrachtete Albert Speer als Friedensaufgabe und sie war beim damaligen Stand des Krieges nicht erforderlich. Die Arbeitskräfte sollten laut Speer besser eingesetzt werden, jedoch konnte Speer Grausamkeiten im Konzentrationslager Mauthausen nicht feststellen. Er hatte großes Interesse daran, dass seine Arbeitskräfte im Konzentrationslager gesund waren, wie er in Nürnberg behauptete.

Ab 1942 setzte Speer in der Rüstung eine Massenfertigung mit Fließbändern ein, welche von einem außerordentlich hohen Prozentsatz von Facharbeitern bedient

281 Protokolle XVI. 487. 282 Ebd. 489. 283 Ebd. 490. 57

wurden. Diese Facharbeiter erlangten für sein Ministerium einen besonders hohen Stellenwert.284 Albert Speer versuchte immer „gute“ Arbeitsbedingungen für seine Arbeitskräfte zu schaffen und zu erhalten. Jedoch wurde von der Anklage der Gesichtspunkt der sogenannten Vernichtung durch Arbeit erwähnt. Diese Art eines Wechsels der Arbeitskraft in einem Betrieb konnte laut Speer nicht erfolgreich sein und war für ihn daher untragbar. Speer konnte sich nicht vorstellen, dass eine Vernichtung durch Arbeit in einem deutschen Betrieb vorgekommen sei bzw. er nichts davon gehört oder gewusst habe.285 Am Verhandlungstag 20. Juni 1946 wurde Speer von Dr. Flächsner weiter zu dessen Wissen über die Arbeitsbedingungen, der Planung und den Kriegsgefangenen befragt. Außerdem gab Speer seinen Plan, Adolf Hitler zu töten, preis.

Bis 1944 war der größere Teil der Arbeitskräfte Speers Deutsche. Das waren zu dieser Zeit etwa 30 bis 40 Prozent. Ab August 1944, als Speer die Luftwaffe übernahm, hatte er keine Verwendung mehr für diese Arbeitskräfte. Grund hierfür waren die negativen Auswirkungen der Fliegerangriffe auf die Verkehrsanlagen der Rüstungsproduktion im Reich.286 Der Bedarf an Arbeitskräften war eng mit den vorhandenen Rohstoffen verbunden. Ohne Rohstoffe hatten die Arbeitskräfte keine Arbeit und die Fabriken keine Aufträge, welche sie ordnungsgemäß abarbeiten konnten. Die Aufmerksamkeit zwischen 1942 und 1944 lag voll und ganz bei der Heeresrüstung, d.h. die Waffenproduktion wurde versiebenfacht, die Panzerproduktion verfünfeinhalbfacht und die Munitionsproduktion versechsfacht, wobei die Anzahl der Arbeitskräfte nur um 30 Prozent erhöht wurde.287

In Deutschland wurde oft vom Begriff Rüstung gesprochen und geschrieben. Dieser Begriff beschränkte sich nicht nur auf Rüstung, sondern hatte Teilgebiete, die zu erledigen und zu erfüllen waren. Das klare Kennzeichen eines Rüstungsbetriebes war, dass er von Speers Rüstungsinspektionen in der

284 Protokolle XVI. 490-491. 285 Ebd. 491. 286 Ebd. 494. 287 Ebd. 58

Mittelinstanz betreut wurde. Zur Rüstung in Deutschland gehörte zum Beispiel die gesamte Herstellung von Rohstahl, alle Walzwerke, Gießereien oder Schmieden, die Herstellung oder Verarbeitung von Aluminium oder modernen Kunststoffen, die chemische Erzeugung von Stickstoff, Treibstoff oder Kunstgummi, die Erzeugung künstlicher Wolle, die Fertigung von Einzelteilen, bei deren Herstellung nicht feststand, ob sie in der Rüstung verwendet werden wie zum Beispiel Kugellager, Zahnräder, Ventile, Kolben für Motoren und so weiter. In den Fabriken, die Speer betreute, wurden zu zwischen 20 und 40 Prozent Waffen, Panzer, Flugzeuge oder Schiffe produziert. Die Firma Krupp hatte erst im Jahre 1944 in der Nähe von Breslau das erste größere Werk für Geschütze eingerichtet, zuvor hatte die Firma angeblich fast nichts mit der Kriegsproduktion zu tun.288 Die Nachfrage nach ausländischen oder deutschen Arbeitskräften war groß, jedoch hatte das Ministerium Speer keinen Einfluss auf die Herkunft der beschäftigten Arbeitskräfte. Speer wusste, dass in den Rüstungswerken, die von ihm beauftragt wurden, ausländische Arbeitskräfte beschäftigt waren. 289 Die Anforderungen von Arbeitskräften waren nach den verschiedenen Wirtschaftszweigen und in verschiedene Sektoren aufgeteilt. Es gab etwa fünfzehn Sektoren, welche Arbeitskräfte für die Heeres- und Marinerüstung von Albert Speer im Jahr 1943 anforderten. Die Luftrüstung hatte ihre eigene Arbeitseinsatzabteilung, die über das Reichsluftfahrtministerium tätig war. 290 Speer hatte keinen Einfluss auf die Zuteilung der Kriegsgefangenen an die Betriebe. Das OKW291 war für die Zuteilung der Kriegsgefangenen zuständig und musste die Regelungen der Genfer Konvention einhalten.292

Aus der Anklageschrift geht hervor, dass unter der Leitung von Albert Speer ungefähr 400.000 Kriegsgefangene mit der Herstellung von Rüstungsgegenständen beschäftigt waren. Davon waren 200.000 bis 300.000

288 Protokolle XVI. 495-496. 289 Ebd. 496. 290 Ebd. 497. 291 Das Oberkommando der Wehrmacht, kurz OKW genannt, zählte mit dem Oberkommando des Heeres (OKH), dem Oberkommando der (OKM) und dem Oberkommando der Luftwaffe (OKL) zu den höchsten Stabsstellen der Wehrmacht. Das OKW und die Oberkommandos der drei Teilstreitkräfte übernahmen in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich Planungsaufgaben. Sie waren dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, Adolf Hitler, unterstellt. 292 Protokolle XVI. 497-498. 59

italienische Militärinternierte.293 Speer hatte ebenfalls die Aufgabe, die Verteilung der verschiedenen Materialien auf die drei Wehrmachtsteile und die Steuerung der Kriegswirtschaft ab 1942 auf weite Sicht zu garantieren. Diese Aufgaben teilten sich bis dahin das Wirtschaftsministerium und das OKW. Jedoch waren diese zwei Komponenten zu schwach, um diese Aufgaben auf Dauer durchzusetzen. Deswegen wurde im März 1942 die Zentrale Planung innerhalb des Vierjahresplans errichtet.294 Entscheidungsberechtigt waren darin die drei Mitglieder Milch, Körner und Speer. Die Aufgaben der Zentralen Planung waren klar umrissen und durch einen von Speer entworfenen Erlass Görings festgelegt. Die Zusammenstellung der Forderungen an Arbeitskräften oder eine Verteilung der Arbeitskräfte waren in diesem Erlass nicht vorgesehen. Somit hatte Albert Speer keinen Einfluss auf die Verteilung der Arbeitskräfte in den Betrieben.295 Jedoch war Speer ab März 1942 im Vierjahresplan296 Rüstungsbevollmächtigter.297 Laut der Anklage habe Speer bei der Vergabe von ausländischen Arbeitskräften eine gewisse Mitverantwortung, da die Arbeitskräfte für sein Ministerium und in seinen Betrieben gearbeitet hatten. In seiner Aussage von 18. Oktober 1946 hat Albert Speer mehrmals bestätigt, dass er davon gewusst hat, dass die Arbeitskräfte aus besetzten Gebieten gegen ihren Willen nach Deutschland deportiert wurden.298 Die Vorgänge der Deportation hatte Speer zu dieser Zeit nicht untersucht, sein Hauptaugenmerk galt der Erfüllung seiner Aufgaben. Unter Gewaltmaßnahmen verstand Speer polizeiliche Maßnahmen wie Festnahmen, Razzien und dergleichen; all diese Dinge hat Speer laut seinen Angaben nicht geduldet. Aus einer Stellungnahme vom 11. Juli 1944 geht hervor, dass weder eine Erhöhung der Polizeikräfte, noch Razzien oder Gewaltmaßnahmen richtig seien.299 Speer hatte großes Interesse an einer geordneten Produktion. Durch Gewaltmaßnahmen dieser Art würde ein geordneter Arbeitseinsatz nicht

293 Protokolle XVI. 498. 294 Ebd. 499. 295 Ebd. 296 Vierjahresplan: Der zweite Vierjahresplan wurde am 22. Oktober 1936 von Hermann Göring vorgegeben. Ziel des Planes war die Ausrichtung der Wirtschaft auf die beschleunigte Rüstung, da Deutschland mit seiner Rohstoffabhängigkeit vom Ausland sonst keinen längeren Krieg führen konnte. 297 Protokolle XVI. 501. 298 Ebd. 502-503. 299 Ebd. 503. 60

funktionieren und er war deswegen gegen solche Gewaltaktionen.300 Im Jahre 1943 verlangte Speer die Übernahme der deutschen Gesamtproduktion vom Wirtschaftsministerium. Der Grund für die Übernahme war, dass laut Speer zu diesem Zeitpunkt nicht alle deutschen Betriebe die Friedenswirtschaft abgelegt und auf die Kriegswirtschaft zu 100 Prozent umgestellt hatten. Neben den deutschen Frauen lag aus der Sicht Speers hier die größte Reserve des innerdeutschen Arbeitseinsatzes.301 Dieser Plan war nur für die Produktion in Deutschland erfolgreich. Hintergrund war, dass es bereits vor dem Ausbruch des Krieges Pläne für zum Beispiel Frankreich gab, die nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurden. Auch Speer scheiterte bei dem Versuch, in Frankreich eine Rüstungsproduktion aufzubauen und erfolgreich zu organisieren. Der Plan funktionierte in Deutschland vollkommen, was bedeutete, dass Speer durch die Stilllegung ganzer Betriebe nicht nur deren Arbeitskräfte, sondern Fabrikraum, Verwaltungspersonal, Strom und Verkehrsvolumen freibekam. Das Wichtigste jedoch war, dass fast nur deutsche Arbeitskräfte beschäftigt wurden.302

Die Stilllegungen hatten auch erhebliche Nachteile. Ein wesentlicher war, dass nach jeder Kriegswirtschaft eine Umstellung auf die Friedenswirtschaft sechs bis acht Monate dauerte.303 Ein weiterer Nachteil waren die Fliegerangriffe, die Invasion wurde eingeleitet und so wurde ab Mai und Juni 1944 die Produktion in Frankreich als Folge dieser Angriffe auf die Betriebe stillgelegt und fast eine Million Arbeitskräfte waren ohne Arbeit. Speer hat trotz dieser Stilllegung der gesamten französischen Industrie den Befehl gegeben, die Produktion dennoch mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Aus den Besprechungen mit Hitler vom 19. und 22. Juni ging hervor, dass trotz den besetzten Westgebieten und den Transportschwierigkeiten die Produktion an Ort und Stelle zu erledigen sei. Die

300 Protokolle XVI. 503. 301 Ebd. 507. 302 Ebd. 303 Ebd. 508. 61

Speerbetriebe haben sogar den Lohn an die Arbeitskräfte, auch ohne Arbeit, weitergezahlt.304 Durch die gelungene Invasion sowie die Fliegerangriffe auf die Produktionsstätten hatten Speer und sein Ministerium eine Million Arbeitslose und dies bedeutete eine katastrophale Verschlechterung der Kriegslage für Deutschland. Jedoch verwies Albert Speer am 11. Juli 1944 abermals auf die Reserven, dass Transportschwierigkeiten keinen Einfluss auf die Produktion haben dürften und die Betriebe ihre Produktion weiterführen müssten.305 Um den Transport gewährleisten zu können, bat Speer die um Hilfe. Die Organisation hatte ausschließlich technische Aufgaben, das heißt, technische Bauten durchzuführen. Das waren im Osten hauptsächlich Bahn- und Straßenbau und im Westen der Bau von Betonbunkern, wie sie als sogenannter „Atlantik- Wall“ bekanntgeworden sind. Hierzu beschäftigte die Organisation Todt in einem unverhältnismäßig hohen Umfang ausländische Arbeitskräfte. Im Westen kamen auf einen deutschen Arbeiter etwa zwanzig ausländische Arbeitskräfte, in Russland auf eine deutsche Arbeitskraft etwa vier russische Arbeitskräfte. Der Grund dafür war, dass die Organisation Todt sich im Westen fast ausschließlich einheimischer Baufirmen bediente.306 Deswegen war ein sehr großer Teil der beschäftigten Arbeitskräfte der Organisation Todt freiwillig tätig, wobei natürlich nur ein minimaler Prozentsatz der Arbeitskräfte mit einer Art Dienstverpflichtung angestellt worden war.

Die Organisation Todt wurde als Gefolge der Wehrmacht bezeichnet. Dazu zählten nur die deutschen Arbeitskräfte und keine ausländischen Arbeitskräfte. Die Anklage hatte hiervon eine andere Auffassung.307 Im Mai 1944 wurde die Organisation vom Reich übernommen. Sie trug die Verantwortung für einzelne große Bauvorhaben und im Übrigen für die Steuerung des sogenannten Apparates des Generalbevollmächtigten für die Bauwirtschaft im Vierjahresplan.308 Albert Speer wurde von der Anklage auch beschuldigt, Häftlinge aus

304 Protokolle XVI. 515. 305 Ebd. 516. 306 Ebd. 518. 307 Ebd. 308 Ebd. 62

Konzentrationslagern in der Rüstungsindustrie beschäftigt zu haben. Zu dieser Beschuldigung erwiderte Speer nur, dass er im Februar 1942 die Heeresrüstung übernommen hatte und es Hitlers Forderung gewesen war, eine drastische Steigerung auf allen Gebieten zu schaffen. Dazu waren laut Speer zahlreiche Fabrikneubauten notwendig. Himmler bot Speer dabei seine Hilfe an, er solle sich die fehlenden Arbeitskräfte aus den Konzentrationslagern holen.309 Jedoch hat sich Speer nicht ausschließlich mit Arbeitskräften aus Konzentrationslagern versorgt. Himmler war in dieser Sache sehr ehrgeizig und riss diese Aufgabe an sich. Deswegen wurden Arbeitslager bei den Rüstungsbetrieben errichtet.310 Die Arbeitsleistung der Häftlinge betrug monatlich 240 Stunden, was einer Arbeitsleistung von 60 Stunden in der Woche entspricht. Häftlinge, die ihrer Arbeit z.B. aufgrund einer Erkrankung oder anderen Gebrechen nicht mehr nachgehen konnten, wurden aus der Arbeitswirtschaft entfernt. Die Zahl lag bei 30.000 bis 40.000 pro Monat. So etwas war für Albert Speer nicht tragbar und verantwortbar, was er Adolf Hitler nach der Besprechung am 5. Juni 1944 persönlich sagte. Die Arbeitskräfte sollten nach ihrer Erholung wieder an ihre Arbeitsstelle zurückkehren. Hitler war derselben Meinung, worauf diese Entscheidung von Speer an Himmler weiter geleitet wurde. Speer bekam von Himmler die Zusage, dass dies nicht mehr vorkommen werde. Speer hatte keinen Grund, an dieser Zusage Himmlers zu zweifeln, da dieser schließlich Reichsinnenminister war.311 Die Aussage der Anklage, dass Speer die Absicht hatte Arbeitskräfte aus den Konzentrationslagern zu holen, um dadurch die Produktion zu erhöhen, ist laut Albert Speer falsch.312

Laut der Vernehmung Sauckels313 vom 27. September 1946 sind Transportzüge mit ausländischen Arbeitern auf Speers besonderen Befehl angeordnet worden.314 Die Vernehmung von Speer ergab, dass die Disposition über Transportzüge

309 Protokolle XVI. 519. 310 Ebd. 519-520. 311 Ebd. 521-522. 312 Ebd. 522. 313 Ernst Friedrich Christoph Sauckel wurde am 27. Oktober 1894 in Haßfurt, Unterfranken, geboren und starb am 16. Oktober 1946 in Nürnberg. Er war seit 1927 NSDAP-Gauleiter in Thüringen und von 1942 bis 1945 Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz. 314 Protokolle XVI. 527. 63

ausschließlich von Sauckel und seinen Mitarbeitern entschieden wurde. Natürlich kann es durch eine plötzliche Änderung in einem Produktionsprogramm oder durch Fliegerangriffe auf Wunsch der Dienststelle Speers zu einer Umleitung der Transportzüge gekommen sein. Diese Entscheidung lag immer in der Verantwortung des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, also Sauckels.315 Ein weiterer Irrtum, laut der Vernehmung von Sauckel, war, dass Speer und Goebbels316 den „totalen Kriegseinsatz“ nach Stalingrad317 begonnen hatten. Der Kampf um Stalingrad endete im Januar 1943 und Goebbels begann den „totalen Kriegseinsatz“ im August 1944. Des Weiteren wurde die Arbeitseinsatzabteilung Speers von Sauckel erwähnt. Diese bestand darin, dass Speer die Arbeitseinsatzabteilungen, über welche jeder große Betrieb und Bedarfsträger ursprünglich selbst verfügte, zusammenfasste.318 Keine dieser Abteilungen hatten irgendeinen bedeutenden Einfluss auf die Aufgaben Sauckels.319 Eine weitere Behauptung in der Vernehmung des Angeklagten Sauckel war, dass Speer die Hereinbringung ausländischer Arbeiter nach Deutschland im April 1942 gefördert hätte und sie somit auf Speers Initiative zurückzuführen sei. Diese Anweisungen wurden von Sauckel selbst durchgeführt und Albert Speer hatte darauf nicht einwirken müssen bzw. brauchen.320 Eine weitere Richtigstellung lautete, dass im Wirtschaftsministerium die Bauindustrie vertreten war, sowie ab 1943 auch die Chemie und der Bergbau. Nach der Kenntnis von Albert Speer waren diese Zweige bereits vor September 1943 im Vierjahresplan berücksichtigt und waren somit unabhängig vom Wirtschaftsministerium.321

315 Protokolle XVI. 527. 316 Joseph Goebbels wurde am 29. Oktober 1897 in Rheydt geboren und starb am 1. Mai 1945 in Berlin. Er war einer der engsten Vertrauten Adolf Hitlers. Er war Gauleiter von Berlin ab 1926 und als Reichspropagandaleiter ab 1930 hatte er einen großen Anteil am Aufstieg der NSDAP. 317 Als „totaler Kriegseinsatz“ oder auch „totaler Krieg“ wird eine Art der Kriegführung bezeichnet, bei der die gesellschaftlichen Ressourcen umfassend für den Krieg in Anspruch genommen werden. Diese Parole wurde im Zweiten Krieg durch Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 während seiner Rede im Berliner Sportpalast wiederholt gebraucht. 318 Protokolle XVI. 528. 319 Ebd. 320 Ebd. 321 Ebd. 529. 64

Alle diese Dokumente, die von Speer unterzeichnet bzw. unterschrieben wurden, bewahrte er laut seiner Aussage nach über das Kriegsende hinaus auf, da er der Ansicht war bzw. sich in der Pflicht sah, beim Wiederaufbau die notwendigen Überleitungsmaßnahmen mit diesen Dokumenten zu treffen.322 Diese Dokumente wurden in Nürnberg unversehrt den alliierten Behörden übergeben. Dadurch hatte die Anklage alle bearbeiteten Schreiben, alle öffentlichen Reden, Gauleiterreden und sonstige Reden im Bereich Rüstung und Wirtschaft zur Verfügung. Das schriftliche Material umfasste ungefähr 4.000 Führerentscheidungen, 5.000 Seiten Stenogramme der Zentralen Planung, Denkschriften usw.323 Mit dieser Handlung wollte Albert Speer seine teilweise Unschuld beweisen. Diese frühe Kooperation mit den Alliierten zeigte im Laufe der Verhandlungen auch Wirkung. Auch das Verhältnis zu Adolf Hitler war für die Entscheidungen des Gerichts ausschlaggebend. Von 1937 bis September 1939 war Speer als Architekt im engsten Kontakt mit Hitler, doch durch die Kriegsverhältnisse lockerte sich ihr Verhältnis. Erst durch die Ernennung Speers zum Nachfolger Todts wurde das Verhältnis zu Hitler wieder enger, jedoch hatte Speer aufgrund seiner vielen Aufgaben im Reich wenige Gelegenheiten, ins Hauptquartier zu Hitler zu gelangen.324 Alle zwei bis drei Wochen kam Speer einmal ins Führerhauptquartier, dies war sehr selten, so konnten die Protagonisten Goebbels und Bormann325 diese Misere ausnutzen und die Position Speers bei Hitler schwächen.326 Diese kurzen Auftritte im Führerhauptquartier waren für Speer rein fürs Fachliche, deshalb sah Hitler in Speer nur einen Fachminister und keinen Minister, mit dem er politische oder personelle Probleme besprochen hätte.327 Jedoch wollte Speer seine Verantwortung als Fachminister nicht nur auf sein Arbeitsgebiet beschränken, da dieser Krieg eine unvorstellbare Katastrophe war, nicht nur für das deutsche Volk, sondern auch für die ganze Welt. Speer trug ab

322 Protokolle XVI. 529. 323 Ebd. 324 Ebd. 530. 325 wurde am 17. Juni 1900 in Halberstadt geboren und starb am 2. Mai 1945 in Berlin, er war in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus ein wichtiger Vertrauter Hitlers. Er war zuletzt Reichsminister der NSDAP. Bormann wurde bei den Nürnberger Prozessen am 1. Oktober 1946 in zwei von drei Anklagepunkten schuldig gesprochen und zum Tode durch den Strang verurteilt. 326 Protokolle XVI. 530-531. 327 Ebd. 531. 65

1942 die Gesamtverantwortung für die Dinge, die im Deutschen Reich vorgekommen waren.328 Speer berief sich nicht wie andere Angeklagte auf Führerbefehle, sondern übernahm selbst die volle Verantwortung. Deswegen hat Speer nicht alle Befehle aus dem Führerbunker ausgeführt.329 Der Krieg hätte eine andere Wendung genommen, wenn es keine Fliegerangriffe auf die Produktionsstätten gegeben hätte. Bis ins Jahr 1944 konnte Albert Speer trotz Fliegerangriffen eine Steigerung der Produktion erzielen. Es wurden zum Beispiel 130 Infanteriedivisionen und 40 Panzerdivisionen neu ausgestattet, das war eine Neuausstattung für rund zwei Millionen Mann.330 Jedoch wurde durch die vielen Fliegerangriffe die Massenproduktion der neuen Waffen sehr verzögert, dadurch gab es einen gewissen Bruch in der Endphase des Krieges. Ohne diese vielen Fliegerangriffe auf die wichtigen Produktionsstätten hätte der Kriegsverlauf anders ausgesehen, laut Speer.331 Diesen negativen Kriegsverlauf schilderte Speer, mündlich wie auch schriftlich, sehr eindrucksvoll Adolf Hitler. Im Zeitraum von Juni bis Dezember 1944 verfasste er zwölf Denkschriften.332 Auszug aus einer Mitteilung Speers an Hitler vom 30. Juni 1944:

„Dann wird aber zwangsläufig im September des Jahres der Anschluss an die zur Abdeckung des dringendsten Bedarfs der Wehrmacht notwendigen Mengen nicht mehr gewährleistet sein, d.h. es wird von diesem Zeitpunkt ab eine unüberbrückbare Lücke entstehen, die zu tragischen Folgen führen muss.“333

Trotz dieser Erkenntnisse waren Speer und andere Mitarbeiter weiterhin immer sehr bemüht, alles dafür zu tun, um den Krieg doch noch fortzusetzen oder gar zu gewinnen. In dieser Phase des Krieges täuschte Adolf Hitler alle, indem er 1944 präzise Angaben zirkulieren ließ. Dies wurde auch von Generaloberst

328 Protokolle XVI. 531. 329 Ebd. 330 Ebd. 532. 331 Ebd. 332 Ebd. 533. 333 Ebd. 66

auf der Anklagebank bestätigt.334 Zum Beispiel wurde die mehrmalige Anwesenheit des japanischen Botschafters verlangt, damit über Japan mit Moskau Gespräche geführt werden oder dass der Gesandte Neubacher335 angeblich auf dem Balkan Gespräche mit den Vereinigten Staaten geführt habe.336 Hitler verbreitete dadurch eine, sozusagen neue Hoffnung in der letzten Phase des Krieges. In dieser aussichtslosen Lage wollten Hitler sowie Japan Verhandlungen führen, um dem Volk das Letzte zu ersparen. Nicht nur die militärischen Führer und die Truppen wurden durch diese Hoffnungen getäuscht, sondern das ganze Volk. Hitler versprach eine neue Wunderwaffe zu präsentieren und den Sieg doch noch zu erlangen. Deswegen befahl er, den Widerstand aufrechtzuerhalten und noch härter für den Sieg zu kämpfen. Speer hat in dieser Zeit immer wieder darauf hingewiesen (Schreiben an Goebbels und selbst an Hitler), dass diese verhängnisvollen Hoffnungen reine Lügen seien.337 Es wurden, trotz Hitlers Hoffnungen, Zerstörungsbefehle für die Industrien in Frankreich, Belgien und Holland gegeben, jedoch verhinderte Speer die Ausführung diese Befehle. Die Verantwortung für deren Durchführung hatte zwar der Oberbefehlshaber West338, jedoch hat Speer diesem klargemacht, dass diese Zerstörungen sinnlos waren und daher wurden diese Befehle nicht ausgeführt.339 Diese Haltung Speers wurde Anfang Juli 1944 von den militärischen Führern noch einmal bestätigt, indem die Oberbefehlshaber ein Kriegsende im Oktober oder November voraussagten, da die Invasion ein voller Erfolg und die Treibstofflage zu dieser Zeit nicht gerade rosig war.340 Eine weitere Denkschrift vom 30. August 1944 von Speer an Hitler beweist wieder, wie sehr Speer versucht hat, dem Führer die Augen zu öffnen. In dieser Denkschrift wurden die missliche Treibstofflage, die Truppenschwäche und die fast zum Stillstand gelangte

334 Protokolle XVI. 533. 335 Hermann Neubacher wurde am 24. Juni 1893 in Wels, Oberösterreich, geboren und starb am 1. Juli 1960 in Wien, er war österreichischer Wirtschaftsfachmann und Politiker der NSDAP. Er war von 13. März 1938 bis 14. Dezember 1940 Bürgermeister von Wien. 336 Protokolle XVI. 533. 337 Ebd. 534. 338 Oberbefehlshaber West, kurz OB West genannt, war ein militärisches Oberkommando für die Truppen der deutschen Wehrmacht in den besetzten Westgebieten. 339 Protokolle XVI. 534. 340 Ebd. 67

Industrie angesprochen.341 Durch die aufgeregte, nervöse Situation im Hauptquartier hat Hitler nicht viel von der Nichtdurchführung der Zerstörungsmaßnahmen mitbekommen, erst im Januar 1945 über die französische Presse. In dieser Meldung berichteten die Franzosen über den schnellen Aufbau ihrer Industrie, was Speer schwerste Vorwürfe Hitlers einbrachte.342 Die Nichtbefolgung der Befehle wurden auch von Seyß-Inquart343 bestätigt. Am 5. September 1944 hat Speer unbefugt den Leitern der Kohlen- und Eisenproduktion und auch dem Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg die Weisungen gegeben, die Zerstörungen zu verhindern.344 Hitler hatte auch keine Absichten zur Erhaltung der Industrie und der Lebensmöglichkeiten der deutschen Bevölkerung, er verlangte die rücksichtslose Zerstörung aller lebenden und toten Sachwerte bei Annäherung des Feindes. Hinter diesen Absichten standen auch Bormann, Ley345 und Goebbels.346 Den Befehl „verbrannte Erde“, in dem es um die rücksichtslose Zerstörung aller Industrieanlagen ging, hat Speer am 14. September 1944 auf Eigenverantwortung sofort unterbunden und den Befehl zur Erhaltung der Industrie ausgegeben.347 Albert Speer war klar, dass dieser Befehl nicht lange standhalten könne, jedoch versuchte er die Industrie dennoch zu schützen. Denn ohne die Industrie würde auch das Rüstungspotenzial sinken, mit dieser Begründung wurde der Befehl von Speer gegenüber Hitler argumentiert.348

Im Januar 1945 begann die letzte Phase des Krieges und auch das Ende der Rüstungsproduktion. Hitler hat sein Schicksal mit dem des deutschen Volkes identifiziert und wollte ab März 1945 bewusst die Lebensmöglichkeiten des eigenen Volkes zerstören. Durch die Zerstörung der Treibstoffanlagen im Jahr

341 Protokolle XVI. 535. 342 Ebd. 343 Arthur Seyß-Inquart wurde am 22. Juli 1892 in Stannern geboren und starb am 16. Oktober 1946 in Nürnberg. Er war österreichischer Jurist und in der Zeit des Nationalsozialismus hatte er unterschiedliche politische Funktionen inne. 344 Protokolle XVI. 535-536. 345 wurde am 15. Februar 1890 in Niederbreidenbach geboren und starb am 25. Oktober 1945 in Nürnberg durch Selbstmord. Er war Reichsleiter der NSDAP und Leiter des Einheitsverbands Deutsche Arbeitsfront in der Zeit des Nationalsozialismus. 346 Protokolle XVI. 536. 347 Ebd. 537. 348 Ebd. 537-538. 68

1944 war ab Mitte Januar 1945 präzise auszurechnen, wann die Wirtschaft zusammenbrechen würde. Durch diese Ereignisse kam es zu einem Stillstand der militärischen Operationen, wodurch die Alliierten in kurzer Zeit den Krieg gewinnen konnten.349 Am 15. Dezember 1944 hat Speer für den Fall, dass Oberschlesien verlorengehen würde, eine ausführliche Denkschrift mit dieser Conclusio geschrieben:

„Die deutsche Rüstung wird nach dem Verlust von Oberschlesien nicht mehr in der Lage sein, auch nur im Entferntesten die Bedürfnisse der Front an Munition, Waffen und Panzern, die Verluste an der Front und den Bedarf für Neuaufstellungen zu decken.“350

Eine besondere Betonung schenkte Speer diesem Satz:

„Das materielle Übergewicht des Gegners ist danach auch nicht mehr durch die Tapferkeit unserer Soldaten auszugleichen!“351

Mit diesen Denkschriften zum Beispiel versuchte Speer, in der letzten Phase Deutschland und nach Kriegsende sich selbst zu schützen. Die Phrasen wurden im Gericht sehr wohlwollend aufgenommen, was bewies, dass Albert Speer genau wusste, wie er sich auf das Ende vorbereiten musste. Nicht nur mittels dieser Denkschriften, sondern auch durch sein behauptetes Attentat auf Adolf Hitler wollte er sich absichern. Speer wollte nicht nur den Führer im Frühjahr 1945 töten, sondern auch Bormann und Goebbels. Da Hitler ohne Rücksicht das deutsche Volk schädigen wollte, um den Krieg dennoch zu gewinnen, hatte Speer laut seiner Aussage keine andere Wahl mehr, als diese Akteure zu töten. Deswegen verlangte er eine Lieferung des neuen Giftgases. Das Attentat konnte Speer nur selbst durchführen, da nach dem 20. Juli 1944 nur noch die engsten Gefolgsleute Zutritt zum Führerbunker hatten. Speer teilte seinen Plan nur

349 Protokolle XVI. 539. 350 Ebd. 540. 351 Ebd. 69

Oberstleutnant Soika352 mit, welcher ihm mitteilte, dass dieses neue Giftgas nur wirksam sei, wenn es zur Explosion gebracht wird. Eine Explosion war im Führerbunker jedoch nicht möglich, da dessen Frischluftanlage aus dünnen Blechen bestand und durch eine Explosion wären diese Bleche zerrissen worden. Außerdem wurden die Bleche Mitte März 1945 durch einen vier Meter hohen Kamin ersetzt. Damit war die Durchführung des Plans nicht mehr möglich gewesen.353 Die letzten Befehle aus dem Hauptquartier konnte Speer auch verhindern. Diese beinhalteten die Zerstörung aller Industrieanlagen, aller wichtigen Elektrizitäts-, Wasser- und Gaswerke und so weiter, aber auch Lebensmittel- und Bekleidungslager. Die Befehle wurden von den Gauleitern erlassen, mit dem Ziel, eine Verkehrswüste zu schaffen.354 Die Bevölkerung würde in das Innere des Reiches abtransportiert werden, dazu gehörten auch die ausländischen Arbeiter und die Kriegsgefangenen. Das Ergebnis dieser Transporte wäre eine unvorstellbare Hungerkatastrophe. Am 19. März 1945 wurde von Adolf Hitler noch ein weiterer Befehl an die Heeresgruppen herausgegeben. Sie mussten ohne Rücksicht auf die eigene Bevölkerung den Kampf fortsetzen.355 Mit diesem Befehl war Hitlers Wort von 18. März in Erfüllung gegangen: „Es sei nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen, im Gegenteil sei es besser, selbst diese Dinge zu zerstören“.356

Albert Speer hat nach Rücksprache mit seinen Mitarbeitern versucht, die Durchführung dieser Befehle und somit die Zerstörung der Anlagen (z.B. Sprengstoff im Ruhrgebiet in den Kohlenschächten zu versenken oder Sprengstoffvorräte auf Baustellen zu vergraben) zu verhindern. Außerdem hat Speer angeordnet, Maschinenpistolen an die wichtigsten Werke zu verteilen, um sich gegen die Zerstörungen zu verteidigen. Speer selbst hat versucht, die Befehlshaber der Heeresgruppen von der Unsinnigkeit dieser Befehle zu

352 Oberstleutnant Soika, Angehöriger des Heereswaffenamts. 353 Protokolle XVI. 542-544. 354 Ebd. 548-549. 355 Ebd. 549. 356 Ebd. 70

überzeugen.357 Am 29. März 1945 wurde Speer zu Hitler bestellt, da er sich offen den Befehlen des Führers widersetzt und auch mit vielen Gauleitern über den verlorenen Krieg geredet und diskutiert hatte. Speer wollte den Führer nicht hintergehen, jedoch wollte Speer Hitler ein Ultimatum stellen. Im Gespräch verlangte Hitler von Speer eine Erklärung, wie er auf diesen „Blödsinn“, dass der Krieg verloren sei, käme. Hitler gab Speer 24 Stunden Bedenkzeit, in denen die Fragen Hitlers in einem Brief beantwortet werden sollten. Jedoch nahm Hitler diesen Brief nicht an. Trotzdem erklärte Speer Hitler, dass er auch in Zukunft auf ihn setzen könne, worauf Hitler ihm wieder die Verantwortung für die Zerstörungen übertrug.358 Durch diese Verantwortung konnte Speer die befohlenen Zerstörungen umgehen und die Industrieanlagen blieben verschont. Speer ignorierte dabei bewusst die von Hitler erlassenen Befehle. Am nächsten Tag traf sich Speer mit Seyß-Inquart (Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete) und mit zwei Gauleitern, alle drei hatten volles Verständnis und wussten auch, dass der Krieg verloren war.359 Jedoch konnte Speer die Zerstörung der Brücken in Deutschland, Österreich, Polen und so weiter nicht verhindern. Am 3. April 1945 erreichte Speer den Chef der Nachrichtentruppen, um die Durchführung des neuen Befehls mit dem Inhalt der Zerstörung der Nachrichtenanlagen, der Post, der Reichsbahn und der Rundfunksender zu verbieten.360

In der letzten Phase des Krieges kam es immer wieder zu Unstimmigkeiten in der Politik Hitlers und Speers, da sich Speer verpflichtet fühlte, seine Aufgaben zu erfüllen und bis zum Schluss dem deutschen Volk zu helfen und zu dienen. Speer hatte sogar dreimal die Möglichkeit zurückzutreten: im April 1944, ab Juli 1944 und am 29. März 1945.361 Speer konnte die Treue zu Hitler in der letzten Phase des Krieges nicht mehr gewährleisten. Der Grund dafür war, dass Hitler die Treue

357 Protokolle XVI. 549. 358 Ebd. 550. 359 Ebd. 360 Ebd. 551. 361 Ebd. 553. 71

zum eigenen Volk verloren hatte, was den Wendepunkt im Treueverhältnis Speer/Hitler darstellte.362 Durch die Befragung Albert Speers durch seinen Verteidiger Dr. Flächsner kam hervor, dass Speer in der letzten Phase des Krieges nicht nur für sich kämpfte, sondern großteils für das deutsche Volk. Die Strategie von Speer und seinem Verteidiger war, dass Speer die Verantwortung für seine Taten übernimmt. Durch die Befragungen kam zu Tage, dass Speer schon früh mit der „Sabotage“ des Deutschen Reiches begonnen und auch in Lebensgefahr für das Volk vieles gegeben hatte.

362 Protokolle XVI. 554. 72

11. Das Urteil über Albert Speer

Albert Speer wurde wie Hermann Göring nach allen vier Anklagepunkten angeklagt. Im Jahre 1932 trat Speer der NSDAP bei, im Jahre 1934 wurde er Architekt Hitlers und einer seiner engsten persönlichen Vertrauten.363 Einige Zeit später wurde er Abteilungsleiter in der Deutschen Arbeitsfront und Beauftragter für Städtebau im Stab des Stellvertreters des Führers.364 Am 15. Februar 1942 wurde Speer nach dem Tod von zum Chef der Organisation Todt und Reichsminister für Bewaffnung und Munition ernannt.365 Im März 1942 wurde er zum Generalbevollmächtigten für Bewaffnung und im April 1942 wurde seine Stellung als Mitglied der Zentralen Planung vervollständigt, außerdem war er von 1941 bis Kriegsende Mitglied des Reichstages.366 Der Gerichtshof von Nürnberg war der Ansicht, dass die Tätigkeit Albert Speers nicht darauf hinzielte, Angriffskriege zu planen, vorzubereiten oder einzuleiten.367 Denn alle Kriege hatten bereits begonnen, als Speer Chef der Rüstungsindustrie wurde; er konnte somit keinen direkten Einfluss auf die Angriffskriege.368 Jedoch unterstand ihm der deutsche Kriegseinsatz sowie jede Erzeugungsstätte, die der Kriegführung half. Speer wurde deswegen in den Anklagepunkten Eins und Zwei angeklagt.369 Speers Teilnahme am Zwangsarbeiterprogramm war auch der Grund für die Anklage in den Anklagepunkten Drei und Vier. Speer hatte jedoch keine unmittelbare verwaltungsmäßige Verantwortlichkeit für dieses Programm, obwohl er Generalbevollmächtigter war. Sauckel hatte die verwaltungsmäßige Kontrolle (Hitler ernannte Sauckel am 21. März 1942).370 Jedoch verfügte Speer als Reichsminister für Bewaffnung und Munition sowie als Generalbevollmächtigter für Bewaffnung im Vierjahresplan über weitreichende

363 Protokolle XVI. 657. 364 Ebd. 365 Ebd. 366 Ebd. 367 Ebd. 368 Ebd. 369 Ebd. 370 Ebd. 658. 73

Vollmachten auf dem Gebiete der Produktion (seine ursprüngliche Vollmacht erstreckte sich auf die Konstruktion und Erzeugung von Waffen für das OKH).371 Speers Verantwortung wurde immer wieder ausgedehnt, so dass er die Verantwortung über die Marinerüstung, die zivile Produktion und ab 1. August 1944 auch über die Luftrüstung bekam.372 Speer hatte als ein führendes Mitglied der Zentralen Planung die Befugnis, Sauckel Anweisungen zu erteilen und Arbeitskräfte für seine Industrien von Sauckel zu verlangen und zu beschaffen (dies gelang Speer auch).373 Speer meldete an Sauckel die Gesamtzahl des Bedarfs an Arbeitern und Sauckel musst diese Zahl an Arbeitskräften besorgen sowie diese Speers Industrien zuteilen.374 Speer nahm an Sitzungen teil, auf deren Tagesordnung die Ausdehnung des Zwangsarbeiterprogramms stand, also wusste er, dass diese Fremdarbeiter unter Zwang dienten.375 Speer wohnte der Sitzung vom 10. bis 12. August 1942 bei (Hitler und Sauckel waren auch anwesend), in der beschlossen wurde, dass Sauckel mit Gewalt Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten beibringen sollte (egal aus welchen Gebieten), damit der Arbeitermangel in den Industrien Speers behoben wird.376 Bei der Konferenz in Hitlers Hauptquartier am 4. Januar 1944, in der die Entscheidung getroffen wurde, dass Sauckel mindestens vier Millionen neue Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten besorgen sollte, um das Verlangen Speers zu befriedigen, war Speer persönlich anwesend, obwohl Sauckel diese Aufgabe ohne die Hilfe von Himmler nicht erfüllen hätte können.377 Sauckel informierte Speer und seine Stellvertreter fortlaufend darüber, dass diese Fremdarbeiter mit Gewalt herangezogen werden, jedoch verlangte Speer trotzdem diese Arbeiter. Speer verlangte manchmal auch Arbeitskräfte aus bestimmten Ländern, was aus der Konferenz vom 10. bis 12. August 1942 hervorging. Hier

371 Protokolle XVI. 658. 372 Ebd. 373 Ebd. 374 Ebd. 375 Ebd. 376 Ebd. 377 Ebd. 658-659. 74

verlangte Speer weitere vier Millionen russische Arbeitskräfte für seine Rüstungsindustrie.378 Aus einer Sitzung der Zentralen Planung am 22. April 1943 ging hervor, dass Speer nicht auf deutsche Arbeitskräfte für die Kohlengruben zurückgreifen wollte; er verlangte deswegen russische Arbeiter.379 Speer befürwortete außerdem die Reorganisation des Arbeitsprogramms, damit mehr Wert auf deutsche Arbeitskräfte im Kriegseinsatz in Deutschland gelegt wird. Die sogenannten „Sperrbetriebe“ wurden in besetzten Gebieten errichtet, welche die Aufgabe hatten, Waren für den Versand nach Deutschland zu erzeugen.380 Die Arbeiter in diesen Sperrbetrieben waren vor der Verschickung nach Deutschland geschützt und dies bedeutete, dass sie sich gegen eine Deportation entscheiden konnten.381 Dieses System war etwas weniger unmenschlich, dennoch ungesetzlich. Die Sperrbetriebe spielten nur eine kleine Rolle im Zwangsarbeiterprogramm, dennoch drängte Albert Speer auf die Zusammenarbeit, da er der größte Nutznießer war.382 Durch seine Position als Chef der Organisation Todt war Speer unmittelbar an der Verwendung von Zwangsarbeitern beteiligt, hauptsächlich in den besetzten Gebieten, wie z.B. für Projekte wie den Atlantikwall und den Bau von Militärstraßen.383 An der Verwendung von Kriegsgefangenen in der Rüstungsindustrie war Speer ebenfalls beteiligt, jedoch verwendete er, laut seiner Aussage, nur sowjetische Kriegsgefangene, die nicht unter die Genfer Konvention fielen.384 Albert Speer hatte nicht unmittelbar mit den Grausamkeiten bei der Durchführung des Zwangsarbeiterprogramms zu tun, obwohl er davon wusste.385 Bei Sitzungen, wie zum Beispiel jenen der Zentralen Planung, waren die Forderungen nach Arbeitskräften so groß, dass sie nur durch gewaltsame Werbemethoden bewältigt werden konnten. Bei der Sitzung der Zentralen Planung am 30. Oktober 1942 gab Speer offen zu, dass die SS und die Polizei ruhig härter zufassen könnten, da es zu

378 Protokolle XVI. 659. 379 Ebd. 380 Ebd. 381 Ebd. 382 Ebd. 383 Ebd. 659-660. 384 Ebd. 660. 385 Ebd. 75

viele Drückeberger, die sich krank meldeten, gäbe.386 Jedoch bestand Speer darauf, dass die Zwangsarbeiter angemessene Ernährung und Arbeitsbedingungen bekämen.387 Als mildernder Umstand muss anerkannt werden, dass Speers Sperrbetriebe viele Arbeiter in ihrer Heimat hielten und dass er im Endstadium des Krieges einer der wenigen Männer war, die Hitler offen die Wahrheit über die bevorstehende Niederlage im Krieg sagten.388 Er versuchte Schritte einzuleiten, um die sinnlose Vernichtung von Produktionsstätten zu verhindern. Speer sabotierte bewusst Hitlers Politik der verbrannten Erde, trotz beträchtlicher persönlicher Gefahr.389 Der Gerichtshof von Nürnberg sprach Speer in den Anklagepunkten Drei und Vier schuldig, jedoch in den Anklagepunkten Eins und Zwei nicht schuldig.390 Albert Speer wurde zu einer Haftstrafe von 20 Jahren verurteilt. Am 1. Oktober 1946 erfuhr Speer von seinem Urteil und meinte zu Gilbert: „Zwanzig Jahre! Nun, das ist gerecht genug.“391 Jedoch seinem Anwalt gegenüber zeigte Albert Speer andere Gefühle. Nach Flächsner war er geschockt über sein Urteil gewesen, da er sich auf die Todesstrafe vorbereitet hatte und nun zwanzig Jahre warten würde müssen, um frei zu sein.392 Am 18. Juli 1947 wurde der frühere Architekt Adolf Hitlers frühmorgens zum Flughafen gebracht und nach Berlin geflogen, von dort aus ging es mit einem Bus in das Gefängnis von Spandau weiter, wo Albert Speer nun der Häftling Nr. 5 war.393

386 Protokolle XVI. 660. 387 Ebd. 388 Ebd. 389 Ebd. 390 Ebd. 391 Kormann. Angeklagten. 267. 392 Ebd. 393 Ebd. 268. 76

12. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Strategien

In diesem Kapitel will ich noch einmal ein kurzes Resümee über die Protagonisten Hermann Göring und Albert Speer ziehen. Insbesondere möchte ich die möglichen Motive und Ziele der Protagonisten während des Prozesses darstellen. Hermann Göring war die Leitfigur der Angeklagten beim Prozess. Dies unterstreicht die Tatsache, dass er während des Prozesses Befehle ausgab und diese tatsächlich großteils ausgeführt wurden. Göring fühlte sich beim Prozess nicht als Angeklagter, sondern eher als Gast, da er sich keiner Schuld bewusst war, sondern er seiner Meinung nach nur Befehle ausgeführt habe. Göring war nach allen vier Punkten der Anklage angeklagt. Deswegen versuchte sein Verteidiger Dr. Otto Stahmer, Göring als einen Mann darzustellen, der kein typischer Nazi gewesen, der der „Bewegung“ vielmehr als Revolutionär und nicht um der Ideologie willen beigetreten war.394 Hierdurch wollte man dem Gericht vermitteln, dass Göring bis zum Schluss Gräueltaten zu verhindern sowie den Krieg zu stoppen und die Krise abzuwenden versucht habe. Dieses Vorgehen wurde vom Zeugen Karl Bodenschatz in seiner Aussage bestätigt. Dieser Zeuge versuchte den Anklägern und Richtern auch vorzuspiegeln, dass Hermann Göring hinter Adolf Hitlers und Joachim von Ribbentrops Rücken versucht habe, mit England zu verhandeln.395 Im Kreuzverhör konnte der Hauptankläger Jackson jedoch Ungenauigkeiten erkennen, so dass diese Aussagen bei Gericht nicht standhielten und eindeutig widerlegt wurden. Die Strategie, sich mit den Zeugen Bodenschatz oder Dahlerus den erhobenen Vorwürfen zu entziehen, wurde von Göring und Stahmer nicht ordentlich durchdacht und die Entwicklung ging in die falsche Richtung. Jedoch war der Hauptzeuge der Verteidigung der Schwede Birger Dahlerus, welcher beim Prozess Aussagen tätigte, die sich in Widersprüchen verfingen.396 Göring wies jegliche Schuld, wie alle anderen Angeklagten (mit Ausnahme von Albert Speer) von sich und verwies auf die Befehle Adolf Hitlers. Außerdem

394 Zeitschrift für die gesamte Strafrechtwissenschaft 123. 2011. 54. 395 Ebd. 55. 396 Ebd. 77

versuchte Göring dem Gericht klar zu machen, dass er von den Grausamkeiten nichts gewusst habe und diese nie gebilligt hätte.397 Er habe seine Befehle vom Führer erhalten und er führte diese auch ordnungsgemäß aus. Mit dieser Begründung rechtfertigte sich Göring vor Gericht für seine Taten. Die Strategie Göring verfing jedoch nicht, er wurde zum Tode verurteilt. Den Vollzug des Schuldspruches erlebte Göring nicht mehr, denn er beging Suizid mit Kaliumcyanid. Albert Speer verfolgte eine ganz andere Strategie. Anstatt sich den anderen Angeklagten anzuschließen, versuchte er sich mit den Hauptanklägern zu verbünden. Speer war der einzige, der Reue zeigte, jedoch wurde auch er in allen vier Punkten angeklagt. Wie in den vorigen Kapiteln schon erwähnt, versuchte Speer während des Krieges seinen Angaben zufolge alles Erdenkliche zu unternehmen, um seine Arbeitskräfte zu schützen. Im Zuge seiner Verteidigung stellte er klar, dass Nachforschungen über die Beschaffung von Arbeitskräften anzustellen, nicht seine Aufgabe war. Am Ende des Krieges erkannte Speer früher als andere, wo der Weg hingehen würde, wenn der Krieg verloren wäre. Deshalb versuchte er noch im Laufe des Krieges, sich abzusichern. Er verfasste Denkschriften mit der Niederlage im Krieg als Inhalt; diese Aufzeichnungen waren für Hitler bestimmt. Diese Dokumente waren beim Prozess sehr hilfreich für Albert Speer, da er diese als schriftlichen Widerstand gegen Hitler ausgeben konnte. Außerdem sabotierte Speer beim Prozess die übrigen Angeklagten und half den Hauptanklägern. Die neue Tischordnung für die Angeklagten beruhte auf Informationen Speers. Diese Aktion war ein Schlüsselinstrument beim Prozess, da die Leitfigur Hermann Göring von seinen Gefolgsleuten getrennt wurde. Dies war nur eine von vielen nützlichen Informationen, die Speer mit dem Psychologen Gustav Gilbert besprach und die dieser dann an den Hauptankläger Jackson weitergab. Die Strategie Speers ging Schritt für Schritt auf, er wurde vom Gericht schlussendlich nicht zum Tode verurteilt, sondern zu einer Haftstrafe. Die Unterschiede zu Göring sind klar gegeben. Speer versuchte nicht, die Schuld bei anderen zu suchen und sich auf den Gehorsam eines Soldaten zu stützen,

397 Zeitschrift für die gesamte Strafrechtwissenschaft 123. 2011. 56. 78

sondern er versuchte mit den Anklägern zu kooperieren und diese auch sinnvoll zu unterstützen. Diese Kooperation gepaart mit Unterstützung war für den Angeklagten Speer ein großer Vorteil, da er vom Gericht nicht so hart bestraft wurde wie etliche andere Protagonisten. Speer hat sich hinsichtlich seiner Gräueltaten meiner Meinung nach schon während des Krieges schriftlich mit Denkschriften und Dokumenten abgesichert, denn er wusste, was passieren wird, wenn der Krieg verloren ginge.

Hermann Göring und Albert Speer hatten eine große Gemeinsamkeit: Sie taten alles für das Dritte Reich und wollten bis zum Schluss den Krieg gewinnen. Diese Gemeinsamkeit wurde in den vorigen Kapiteln behandelt und mit Fakten unterstrichen. Jedoch erkannte Speer die negativen Prognosen früh und zeigte strategisches Geschick, indem er sich, anders als Göring, auf die Niederlage und seine Verteidigung vorbereitete.

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13. Biographien und deren Einfluss auf den Prozess

Das Kapitel „Biographien und deren Einfluss auf den Prozess“ soll den Einfluss der Biographien der Protagonisten Göring und Speer auf den Prozess in Nürnberg wiedergeben. Denn die Biographien der beiden hatten großen Einfluss auf die Richter, vor allem auf die Urteilsverkündung über die beiden Angeklagten Göring und Speer. In den Jugendjahren und im Familienleben beider Angeklagter war kaum ein Hauch von Rechtsextremismus vorhanden und trotzdem wurden beide zu den größten Nationalsozialisten des Dritten Reiches. Ich möchte die Biographien der Protagonisten einzeln analysieren und deren Motive kurz Revue passieren lassen. Hermann Göring trug maßgeblich zum Aufstieg der NSDAP bei und war von Anfang an einer der großen Protagonisten der Partei. Göring wurde schon in frühen Jahren mit Mord, Krieg und Totschlag konfrontiert, da er als junger Soldat im Ersten Weltkrieg kämpfte und von der Luftwaffe sehr angetan war. Wie auch Speer studierte Göring und besuchte im Kreis von Studenten Kundmachungen der NSDAP und Hitlers. Nicht nur Speer wurde in seiner Studienzeit von Hitler und seinen Kundgebungen beeinflusst, sondern auch Göring. Bei Göring hatte Hitler jedoch mehrere Ansatzpunkte, da der junge Göring bereits im Ersten Weltkrieg eingesetzt war. Schon in frühen Jahren wurde Göring Führer der SA (1922) und hatte beträchtliche Aufgaben von Hitler übertragen bekommen und diese auch mit Vergnügen ausgeführt. Göring war von der Ideologie der Partei überzeugt; dies konnte man am Verlauf seiner Karriere sehen. Er war von seinen und den Taten der Partei überzeugt, von Anfang bis zum Schluss. Selbst bei dem Prozess in Nürnberg fühlte sich Göring nicht als Angeklagter, sondern eher als Gast, da er sein Handeln als rechtens empfand. Erst im Verlauf des Prozesses erkannte Göring, dass diese Haltung nicht förderlich für ihn war, er brach daher mit dieser Linie. Er leugnete das Wissen über Gräueltaten, was in seiner Position mehr als unglaubwürdig wirkte; er versteckte sich beim Prozess unter dem Mantel des gehorsamen Soldaten, welcher nur Befehle befolgte und für seine Taten nicht verantwortlich sei. Hermann

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Göring war sich keiner Schuld bewusst und wies immer wieder darauf hin, dass er alles für den Frieden, den Widerstand und Deutschland getan habe. Bei Albert Speer dauerte der Anschluss an die Rechte eine Weile, da Speer aus einer eher linksgerichteten Familie kam, was besonders auf seinen Vater zutraf. Der junge Speer hatte anfangs kein großes Interesse an der Politik, da er eine Karriere als Architekt starten wollte. Folglich konzentrierte sich nur auf dieses Kapitel seines Lebens.

Speer erkannte früh, dass es ohne politischen Einfluss zu keinem geschichtlichen Höhepunkt kommen kann, deswegen besuchte er am 30. Dezember 1930 mit Studienkollegen eine politische Kundgebung von Adolf Hitler. Speer war von der Rede so angetan, dass der aus einer linksgerichteten Familie stammende und nicht politisch interessierende Speer sich Wochen später der Partei Hitlers anschloss. Albert Speer, ein Sohn eines ausschließlich links wählenden Vaters, bekannte sich zum rechtsradikalen Hitlertum. Diese Ansicht wurde beim Prozess meiner Meinung nach berücksichtigt, da die Anklage vermutete, dass Speer von Hitler und seiner Partei geblendet wurde und nicht das Extreme sah. Man muss sich die Frage stellen: Wie kann ein so hochintelligenter Mensch nur so von einem Mann geblendet werden, Gräueltaten anordnen und diese auch mit reinem Gewissen durchführen? Eine Erklärung ist sicher darin zu finden, dass Speer von Anfang an Karriere machen und einer der größten Architekten der Welt werden wollte. Diese Wunschvorstellung erkannte Hitler und lockte den jungen Speer mit Aufträgen, Versprechungen und hochrangigen Posten in der Partei. Hitler wusste genau, wie man den jungen Speer manipulieren und für die Partei nützlich einsetzen konnte. Jedoch erkannte Speer schon früh während des Krieges, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, da Hitler nicht nur ihn, sondern ganz Deutschland geblendet hatte.

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14. Schlussfolgerung und Nachwort

Der Nürnberg Hauptkriegsverbrecherprozess ist in jeder Hinsicht eine Einzigartigkeit im Laufe der Geschichte, da niemals zuvor versucht worden war, Kriege zu verurteilen und die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Einzigartigkeit dieses Prozesses zeigte, welch gewaltige und unfassbare Verbrechen Menschen anderen Menschen antun können und dass die Täter diese Gräueltaten unter Eid vor Gericht leugnen. Teilweise übernahmen Angeklagte die Verantwortung für ihre Taten und andere bekundeten eine Gesamtverantwortung für die Dinge, die im Kriege passierten. Viele der Angeklagten beriefen sich auf ihre Gehorsamspflicht als Soldaten im Krieg und waren sich, meiner Meinung nach, keiner Schuld bewusst.

Eine sehr wichtige Erkenntnis ergab sich aus den Kreuzverhören, wonach keiner der Angeklagten, weder Göring noch Speer, etwas vom Völkermord an den Juden gewusst haben wollte. Gerade Regierungsmitglieder wie Hermann Göring und Albert Speer waren ein Teil der Befehlskette. Sie hatten unmittelbaren Zugang zu den Plänen für das künftige Reich von Adolf Hitler und sie mussten daher von diesen schrecklichen Gräueltaten gewusst haben.

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15. Literatur- und Quellenverzeichnis

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Internet:

URL: http://www.dieterwunderlich.de/Albert_Speer.htm Abrufdatum: 2004.

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Erklärung:

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht verwendet und die den benützten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Weiters versichere ich, dass diese Arbeit mit jener vom

Begutachter beurteilten Arbeit übereinstimmt.

Graz, am 1. Juli 2015 Bernhard Rautz

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