APuZAus Politik und Zeitgeschichte 65. Jahrgang · 6/2015 · 2. Februar 2015

Israel und Deutschland

Shimon Stein · Mordechay Lewy 50 Jahre diplomatische Beziehungen

Markus Kaim Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson

David Witzthum · Sylke Tempel Gegenseitige Wahrnehmungen

Marcel Serr Zur Geschichte der Rüstungskooperation

Lorena De Vita Annäherung im Schatten der Hallstein-Doktrin

Arndt Kremer Brisante Sprache? Deutsch in Palästina und

Yoav Sapir Berlin, Berlin! Junge Israelis und die deutsche Hauptstadt Editorial Im März 1965 beschloss die Bundesregierung unter Kanzler Ludwig Erhard, dem Staat Israel diplomatische Beziehungen anzubieten. Zwei Monate später, am 12. Mai 1965, wurde der gegenseitige Austausch von Diplomaten vereinbart. Dem Ange- bot ging ein Jahrzehnt wechselseitiger Bemühungen um offizi- elle bilaterale Kontakte voraus. Während es in Israel jedoch we- nige Jahre nach der Shoah noch höchst umstritten gewesen war, mit Deutschland zu kooperieren, war die Bundesrepublik da- rum bemüht, im Anerkennungswettbewerb mit der DDR ihre Beziehungen zu den arabischen Staaten nicht zu belasten.

Unterhalb der offiziellen diplomatischen Ebene gab es indes seit Längerem eine gut funktionierende Zusammenarbeit. Die Bundesrepublik lieferte, insbesondere seit dem „Wiedergutma- chungsabkommen“ von 1952, zahlreiche Industriegüter, wenig später im Geheimen auch Waffen. Frühe Kontakte zur gegen- seitigen Verständigung knüpften auch die Gewerkschaften bei- der Länder; die Bundeszentrale für politische Bildung organi- siert bereits seit 1963 Studienreisen nach Israel.

Heute sind die deutsch-israelischen Beziehungen auf offi- zieller Ebene konstant sehr gut. In der Breite aber scheint die Shoah als historischer Erinnerungsort und gemeinsamer Refe- renzpunkt zu verblassen, womit insbesondere bei vielen jünge- ren Deutschen auch das Bewusstsein für eine besondere Ver- antwortung gegenüber dem jüdischen Staat schwindet. Kritik an der israelischen Politik gerät so bisweilen zu sehr grund­ sätz ­licher „Israelkritik“ – ein Wort, das viel mehr impliziert als ­bloßen Unmut über bestimmte politische Maßnahmen. Bei ­Israelis hingegen ist Deutschland so beliebt wie nie, insbeson- dere B­ erlin ist für viele ein attraktives Reiseziel geworden. Die Aufgabe, das gewachsene Vertrauensverhältnis (wieder) breiter in die B­ evölkerung zu tragen, stellt sich derzeit vor allem auf deutscher Seite.

Johannes Piepenbrink Shimon Stein · Mordechay Lewy Ungeachtet der Motive für die ständige Temperaturprüfung auf deutscher Seite fällt eine Einschätzung der Beziehungen nach Von Einzigartigkeit 50 Jahren eindeutig positiv aus. Die politi- schen Kontakte haben sich im Laufe der Jahre trotz Rückschlägen gut entwickelt, und zwar über Normalität nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch im Rahmen der Europäischen Union. Eben- zu Staatsräson:­ so positiv fällt die Bilanz der Sicherheitszu- sammenarbeit und militärischen Kontakte aus, die schon vor 1965 aufgenommen worden 50 Jahre diplomati- waren und sowohl für internationalen wie für innenpolitischen Wirbel in beiden Ländern sorgten. ❙7 Auch die Entwicklung der wirt- sche Beziehungen schaftlichen und wissenschaftlichen Bezie- Essay hungen ist mehr als zufriedenstellend. Schuld und Versöhnung onrad Adenauer wünschte sich, durch Kdas Luxemburger Abkommen 1953 „zu Der Schatten eines zivilisatorischen Bruchs einem ganz neuen Verhältnis zwischen dem wie der Shoah ❙8 scheint indes immer noch deutschen und dem jü- Shimon Stein dischen Volk wie auch ❙1 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 4. 3. ​ B. A., M. A., geb. 1948; Senior zu einer Normalisie- 1953, S. 12095. Das Luxemburger Abkommen ist als Research Fellow am Institute rung der Beziehun- „Wiedergutmachungsabkommen“ bekannt. Es wur- for National Security Studies gen“ zu gelangen. ❙1 de am 10. 9. 1952 unterschrieben und vom Deutschen (INSS) der Universität Tel Aviv; Bundestag am 18. 3. 1953 ratifiziert. Israel wurde in 2001 bis 2007 israelischer Bot­ Außenminister Wal- diesem Abkommen als Vertreter des jüdischen Volkes angesehen. schafter in Berlin. ter Scheel beschrieb ❙2 „Unser Verhältnis zu Israel ist wie zu anderen [email protected] die deutsch-israeli- Ländern. Die Normalisierung besteht darin, dass schen Beziehungen wir frühere vertragliche Abmachungen als Berei- Mordechay Lewy 1969 als „normal“. ❙2 nigung bestimmter Tatbestände der Vergangenheit B. A., M. A., geb. 1948; 2000 bis Willy Brandt prägte durch eine ganz normale Zusammenarbeit abgelöst 2004 israelischer Gesandter in während seines Israel­ haben“. vom 16. 12. 1969, zit. nach: Markus A. Weingardt, Deutsche Israel- und Nahost­ Berlin und 2008 bis 2012 Bot­ be­su­ches im April politik. Die Geschichte einer Gratwanderung seit schafter beim Heiligen Stuhl; 1973 die Formulie- 1949, Frank­furt/M. 2002, S. 198. derzeit Promovend an der rung, „normale Bezie- ❙3 Zit. nach: ebd., S. 223. Goethe-Universität Frankfurt am hungen mit einem be- ❙4 Zit. nach: ebd., S. 306, Fn. 4. 5 Main über endzeitliche Spuren sonderen Charakter“. ❙3 ❙ „Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanz- in mittelalterlichen Weltkarten. Helmut Kohls Regie- ler vor mir waren der besonderen historischen Ver- antwortung Deutschlands für die Sicherheit Isra- [email protected] rungssprecher Peter els verpflichtet. Diese historische Verantwortung Boenisch meinte, dass Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Lan- die Beziehungen sich nicht auf Auschwitz des.“ Die Rede im Wortlaut unter: www. welt.de/ar- ­beschränken sollten. ❙4 ticle1814071 (12. 1. 2015). ❙6 Vgl. Daniel Friedrich Sturm, Gauck rückt von Seitdem hat sich die deutsche „Tempera- Merkels Staatsräson-Formel ab, 29. 5. 2012, www. welt.de/article106389740 (12. 1. 2015). turprüfung“ der Beziehungen auf eine sach- ❙7 Vgl. Niels Hansen, Aus dem Schatten der Kata- lichere Ebene verlagert. Angela Merkel hat strophe. Die deutsch-israelischen Beziehungen in der bei ihrem Israelbesuch 2008 das Eintreten Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion, Düs- für die sichere Existenz Israels als deutsche seldorf 2002. Siehe hierzu auch den Beitrag von Mar- Staatsräson definiert. ❙5 Als Joachim Gauck cel Serr in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). ❙8 das Land 2012 besuchte, wiederholte er diese Der Begriff Shoah ist dem theologisch besetzten Be- griff Holocaust (griechisch: Brandopfer) vorzuziehen. Definition nicht, betonte aber, dass die Exis- Shoah bedeutet auf Hebräisch Katastrophe; damit soll tenz Israels für die deutsche Politik „bestim- die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit der Ju- mend“ sei. ❙6 denvernichtung zum Ausdruck gebracht ­werden.

APuZ 6/2015 3 lang. Die schier obsessive Intensität, mit der dass Demokratien Konflikte ohne Gewalt- man sich auf deutscher Seite bemühte, Nor- anwendung regeln, hätte für Israel in die- malität zu beschwören, wirkt bisweilen eher ser gewaltbetonten Nachbarschaft schwer- wie ein Versuch, sich von der Schuld frei- wiegende Folgen. Man ist besser beraten, ein zumachen. Daher auch die scharfen Wor- Schaf im Wolfspelz zu sein als ein Wolf im te des israelischen Schriftstellers Amos Oz: ­Schafsfell. „Vor allem: Keine Normalisierung.“ ❙9 Doch schwingt angesichts der Schwierigkeit jü- Adenauers Schuldbekenntnis und sei- discherseits, Vergebung zu erteilen, auch ne Bereitschaft, sich der moralischen Ver- Unverständnis mit. Die Rollenverteilung antwortung und materiellen Wiedergutma- zwischen Opfer und Täter ist noch immer chung zu stellen, fand in den 1950er Jahren eindeutig. Oft werden zwei Monologe ge- wenig Zuspruch in der deutschen Öffent- halten, die auf unterschiedlichen kollektiven lichkeit. Dass der Lauf der Geschichte keiner Erfahrungen basieren, wobei auch die unter- moralischen Weisung gehorcht, ist zwar be- schiedlichen historischen Erfahrungen eine dauernswert, aber unvermeidbar. Geschichte nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Bei ist kein Gerichtshof. Von einer „Stunde null“ Deutschen dominiert die Lehre „Nie wieder konnte keine Rede sein. In der frühen Bun- Krieg“, während bei Israelis die Erkenntnis desrepublik waren nostalgische Einstellun- „Nie wieder wehrlos“ lautet. Dies bedeutet gen zur Nazizeit weit verbreitet, verbunden nicht, dass auf der sachlichen Alltagsebe- mit einem latenten, aber stabilen Antisemi- ne keine Verständigung möglich ist. Auf der tismus, der leider Bestandteil der deutschen Metaebene erscheint aber eine jüdische Ver- wie auch der europäischen Seelenlandschaft gebung im theologischen Sinne vorläufig blieb. Aus realpolitischen, aber auch morali- nicht erreichbar. schen Überlegungen war es Adenauer wich- tig, diplomatische Beziehungen zum Staat Die Versöhnung ist das säkulare Pendant Israel aufzunehmen. In der Tat wollte die der Vergebung, und auch sie scheint nicht im- deutsche Seite die Aufnahme der Beziehun- mer in greifbarer Nähe zu sein. Das deutsche gen mit dem Luxemburger Abkommen von Selbstverständnis ist in einer europäischen 1953 verknüpfen. Dieser Vorschlag war für Identität eingebettet und damit längst in die Israel jedoch moralisch inakzeptabel. Aus postnationale Phase eingetreten. In Israel hat realpolitischen Überlegungen schlug Israel indes das Primat der Selbstverteidigung das schließlich in der zweiten Hälfte der 1950er nationale Selbstverständnis entscheidend ge- und Anfang der 1960er Jahre vor, diplomati- prägt. Israel sieht sich mit einer Nachbar- sche Beziehungen aufzunehmen – und wur- schaft konfrontiert, die immer noch Schwie- de nun zurückgewiesen. Im Mai 1965 „stol- rigkeiten hat, das Recht des jüdischen Volkes perte“ die Bundesrepublik gewissermaßen in auf sein Heimatland zu akzeptieren. Darüber die Beziehungen mit Israel hinein. Im Mit- hinaus hat sich im Nahen Osten die Schwel- telpunkt der bundesdeutschen Nahostpo- le zur Gewaltanwendung als Mittel zur Kon- litik standen damals die Hallstein-Doktrin fliktregelung erheblich gesenkt. Auch wenn und die Aufrechterhaltung der deutschen In- Israel sich mit den besten Vorsätzen tauben- teressen im arabischen Raum. ❙10 ­Israel spielte haft gerieren sollte, wäre dies keine Friedens- eine untergeordnete Rolle. garantie, da Tauben in der Regel von Falken erlegt werden. Die unbewiesene Behauptung, Seitdem ist viel Wasser den Rhein bezie- hungsweise die Spree und den Jordan hin- untergeflossen. Politiker und namhafte Mit- ❙9 „Normale Beziehungen zwischen Deutschland glieder der deutschen Elite haben sich aus und Israel sind nicht möglich und nicht angemes- sen. Normale Beziehungen können zwischen Nor- moralisch-historischen Gründen kontinu- wegen und Neuseeland bestehen oder zwischen ierlich zum Existenzrecht und zur Sicherheit Uruguay und Sri Lanka. Zwischen Deutschland des Staates Israel bekannt. Es gilt als poli- und dem jüdischen Volk herrschen seit über zwei- tisch korrekt. Einerseits können diese Ver- hundert Jahren ambivalente Beziehungen, intensi- sicherungen als Unterstützung aufgefasst ve, tiefe und verletzte, komplizierte und vielschich- werden, andererseits begnügt sich ­Israel tige Beziehungen. Keine normalen Beziehungen. Und das gilt für diese Beziehungen auch in der Zu- kunft.“ Amos Oz, Israel und Deutschland, Frank­ ❙10 Siehe hierzu auch den Beitrag von Lorena De Vita furt/M. 2005, S. 7. in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

4 APuZ 6/2015 nicht immer mit verbalen Freundschaftsbe- Die Bilanz auf der praktischen Ebene der kenntnissen. Und nicht selten kam ein sol- bilateralen Beziehungen ist eindrucksvoll. ches Freundschaftsbekenntnis zusammen Der deutsche Beitrag fiel zunächst aus ver- mit einem Freibrief, legitime, manchmal ständlichen Gründen wesentlich größer aus. aber auch unqualifizierte Kritik an Isr­ ael zu Die Zusammenarbeit intensivierte sich und üben. war auch für Deutschland von großem Nut- zen – sei es im verteidigungspolitischen Be- Angesichts der endemischen Instabilität in reich oder im hochtechnologischen Sektor. der Region, sei es durch Irans nukleare Am- Doch führte hier der deutsche Versuch, die bitionen oder durch den radikalen Islamis- eigenen Nahostinteressen durchzusetzen, zu mus, kann nie ausgeschlossen werden, dass Unmut bei den Israelis, weil in ihrer histo- die Frage der sicheren Existenz Israels auf die risch bedingten Erwartungshaltung inbe- aktuelle politische Tagesordnung Deutsch- griffen ist, dass Deutschland Israel durch sei- lands rückt. Die meisten Politiker würden ne Politik nicht gefährdet. sich solch einer Gretchenfrage entziehen wol- len. Die Deutungshoheit darüber, wann eine Der Politologe Friedemann Büttner hat Bedrohungssituation vorliegt, wird vermut- auf die Aussichtslosigkeit des deutschen Un- lich in Deutschland bleiben. terfangens hingewiesen, im Nahen Osten eine Politik der Ausgewogenheit verfolgen zu wollen: Die deutsche Nahostpolitik kön- Regierungsebene ne diesen Vorsatz nicht durchhalten, weil die Beziehungen zu Israel nie Teil „normaler“ Nach der Aufnahme diplomatischer Bezie- außenpolitischer Beziehungen gewesen sei- hungen mit Israel 1965 setzte sich die Gro- en und dies auch in absehbarer Zukunft nicht ße Koalition unmittelbar nach ihrem Regie- sein könnten. Sie seien vielmehr Gegenstand rungsantritt 1966 das Ziel, eine ausgewogene deutscher Innenpolitik, die ihnen eine Prio- Nahostpolitik zu betreiben, um den deut- rität verleihe, die mit einer Außenpolitik ge- schen Einfluss in der Region auszubauen. genüber der arabischen Seite nicht in Ein- Das bedeutete, sich trotz der historisch-mo- klang gebracht werden könne. ❙11 ralischen Verpflichtung nicht einseitig für Israel einzusetzen, sondern die deutschen Im Rückblick auf die Beziehungen werden Interessen auch im arabischen Raum zu die Konturen eines Musters erkennbar, dem- wahren. So wurde in der politischen Praxis zufolge jedes Jahrzehnt von einer Vertrau- 1973 etwa die Verladung von US-Waffen, die enskrise heimgesucht wurde. Auslöser in den von Bremen nach Israel verschifft werden 1950er Jahren waren die deutschen Reparati- sollten, unterbunden. Seit dem Ölschock im onszahlungen an Israel, die nur eine schmale selben Jahr begann die deutsche Politik, sich Unterstützung in Deutschland fanden – was im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft die israelische Seite wiederum enttäuschte. In auch für das Selbstbestimmungsrecht der den 1960er Jahren waren es die deutschen In- Palästinenser auszusprechen. Damit wurde genieure, die Israels damaligem Feind Ägyp- eine deklaratorische Ausgewogenheit auf- ten zur Raketenentwicklung verhalfen. In rechterhalten. den 1970er Jahren war es die Unterbindung der US-Waffenlieferungen aus Deutschland Die deutsche Nahostpolitik scheint in ge- während des Jom-Kippur-Krieges. In den wisser Weise einem Nullsummenspiel zum frühen 1980er Jahren war es der deutsche „Opfer“ gefallen zu sein: Denn solange der Plan, Leopard-Panzer an Saudi-Arabien zu arabisch-israelische Konflikt nicht beige- verkaufen, die eine persönlich geführte Feh- legt ist, können Schritte für die eine Seite als de zwischen Premierminister Menachem Be- Schritte gegen die andere interpretiert wer- gin und Bundeskanzler Helmut Schmidt zur den. Eine wichtige Bühne, auf der Deutsch- Folge hatte. In den 1990er Jahren waren es die land seine Position gestalten und sich anderen deutschen Firmen im Irak des Saddam Hus- anschließen oder auch hinter ihnen verbergen konnte, war und ist die EU. Es muss jedoch ❙11 Vgl. Friedemann Büttner, The Dilemmas of a „Po- betont werden, dass sich Deutschland inner- licy of Even-Handedness“, in: Haim Goren (Hrsg.), halb der Union zunehmend als Fürsprecher Germany and the Middle East, Jerusalem 2003, der Belange Israels entwickelt hat. S. 115–159.

APuZ 6/2015 5 sein, die am Aufbau der chemischen Industrie öffentliche Meinung Deutschlands auf Dis- beteiligt und infolgedessen in die Entwick- tanz zu ­Israel.“ ❙12 lung chemischer Waffen verstrickt waren. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts waren Es gab auch Jahre der großen Begeiste- es die unerfüllten deutschen Erwartungen an rung für Israel, wie zum Beispiel unmittel- Israels Regierung, den Friedensprozess wei- bar nach dem Sechstagekrieg 1967. Wahr- ter zu betreiben. Und im aktuellen Jahrzehnt scheinlich kompensierte diese Bewunderung war es die übermäßig erscheinende Gewalt- zum Teil auch, dass ein martialisches Auftre- anwendung Israels gegen die Palästinenser, ten Deutschlands nicht mehr legitim war. So die zu Unmutswellen in Deutschland führ- erhielt Israel damals auch Beifall aus der fal- te. Bis 2000 waren die meisten Vertrauenskri- schen Ecke. Heute kann die öffentliche Mei- sen auf die Enttäuschung israelischer Erwar- nung in Deutschland zu Israel als indifferent tungen zurückzuführen, da realpolitischer und eher negativ beschrieben werden. Seit Nutzen die moralischen Verpflichtungen ins der ersten Intifada 1987 scheint die Einstel- Hintertreffen gerieten ließ. Bei den Krisen im lung der deutschen Bevölkerung von der je- 21. Jahrhundert ist es bislang andersherum: weiligen israelischen Regierungspolitik ge- Israelisches Verhalten hielt deutschen Erwar- genüber den Palästinensern geprägt zu sein. tungen nicht stand. Meinungsumfragen von Globescan im Auf- trag der BBC weisen im Laufe des vergange- Langfristige bilaterale Beziehungen, die nen Jahrzehnts auch global auf ein angeschla- noch dazu ausbaufähig sind, stehen auf zwei genes Ansehen von Israel. ❙13 Pfeilern – dem politischen und dem zivilge- sellschaftlichen. Eine deutsche Politik, der Die israelische Politik spielt auch eine zen- die historisch-moralische Verpflichtung ge- trale Rolle bei der Aufarbeitung der deut- genüber den Juden und dem Staat Israel nach schen Vergangenheit. Bei dem Versuch, sich wie vor bewusst ist, hat ihren Beitrag zum von eigenen Schuldgefühlen zu entlasten, ist Aufbau und zur Vertiefung der Beziehungen es für manche nämlich hilfreich, auf Israels geleistet. Deutsche Regierungen, von Konrad Verhalten hinzuweisen und vereinfachend Adenauer bis heute, haben aus der morali- zu konstatieren, dass auch Opfer bisweilen schen Verpflichtung für die Sicherheit Israels zu Tätern werden können. Einigen Deut- heraus einen wichtigen Beitrag geleistet, und schen ist auch eine genuine Enttäuschung zwar in manchen Fällen trotz innerer und über die Entwicklung Israels – einst ein Pio- äußerer Widerstände. Dies gilt ebenso für die nierstaat mit Modellcharakter – nicht abzu- israelische Seite, die sich der realpolitischen sprechen. Notwendigkeiten bewusst war und entspre- chend handelte. Was die öffentliche Meinung in Israel über Deutschland angeht, zeichnet sich in den de- moskopischen Ergebnissen des israelischen Zivilgesellschaftliche Ebene PORI-Instituts seit etwa 15 Jahren eine kla- re Tendenz für eine normalisierte Haltung In der Zivilgesellschaft waren es auf beiden ab. ❙14 Insbesondere Berlin übt auf junge Is- Seiten die „Eingeschworenen“, die aus un- raelis zuletzt große Anziehungskraft aus. ❙15 terschiedlichen Gründen einen Beitrag leis- teten, um Brücken über den historischen Abgrund zu errichten. Der Jugendaus- ❙12 Michael Wolffsohn/Thomas Brechenmacher, Is- tausch und die Städtepartnerschaften sind rael, in: Sigmar Schmidt/Gunter Hellmann/Richard zukunftsweisend konzipiert worden und Wolf (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Außenpoli- tik, Wiesbaden 2007, S. 506–520, hier: S. 518. waren wichtige Säulen beim Aufbau der in- ❙13 Letzte Erhebung vom Juni 2014: www.globe­ tensiven Beziehungen. Nur waren es auf bei- scan.com/images/images/pressreleases/bbc2014_ den Seiten nicht allzu viele Eingeschworene. country_ratings/​2014_country_rating_poll_bbc_ Die Themen Israel und Juden sind für eine globescan.pdf (12. 1. 2015). 14 Mehrheit der Deutschen keine Herzens- ❙ Vgl. Moshe Zimmermann, Facelift: Das Image angelegenheiten. Der Historiker Michael der Deutschen in Israel seit der Wiedervereinigung, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 42 Wolffsohn etwa schrieb: „Nicht wegen, (2013), S. 288–304. sondern trotz der Bemühungen aller ver- ❙15 Siehe hierzu auch den Beitrag von Yoav Sapir in antwortlichen Parteien geht seit Jahren die dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

6 APuZ 6/2015 ­Jedoch ist in beiden Ländern ein Gefälle hört auch Israel, aber nicht wegen Israel, son- zwischen der öffentlichen Meinung und den dern wegen Deutschland.“ ❙18 So bleiben Isra- politischen Verantwortungsträgern zu ver- el und die Juden ebenso ein Bestandteil der zeichnen. Es scheint, als ob die deutsch-isra- deutschen Auseinandersetzung mit der ei- elischen Beziehungen ein Projekt der Eliten genen Identität wie es umgekehrt Deutsch- seien, die vor allem aus einer historisch-mo- land und die Shoah für die israelisch-jüdische ralischen Verpflichtung heraus agierten. Das sind. Tausendfach beschworen, wirken die Gefälle zwischen verschiedenen Sektoren drei V – Völkermord, Verantwortung, Ver- in der deutschen Gesellschaft könnte einem pflichtung – als deutsche Staatsräson weiter, auf lange Sicht große Sorgen bereiten, zumal obwohl Auschwitz längst wieder Oświęcim der Zuzug verschiedener Immigrantengrup- heißt. pen aus dem Nahen Osten die Bedingungen eher noch erschweren dürfte. ❙16 Regierungen Ein zentraler Begriff ist in diesem Zusam- in Demokratien ringen um Legitimation ih- menhang Erinnerung – und die hat im Ge- rer Politik und wollen auch wiedergewählt gensatz zur Realpolitik mit Gefühlen zu tun, werden. Fehlende Unterstützung für etwas, mit Trauer, Freude, Schuld oder Dank. Sol- das heute (noch) als politisch korrekt gilt, che Kategorien bestimmen normalerwei- kann langfristig zu schwerwiegenden Folgen se nicht die Beziehungen zwischen Staaten, auch für die deutsch-israelischen Beziehun- doch lassen sie sich aus dem Verhältnis zwi- gen führen. schen Deutschland und Israel nicht wegden- ken. Interessen – und erst recht Erinnerung – sind Dinge, die sich ändern. Insofern bleibt Staatsräson und Erinnerung es spannend, wie künftige Generationen mit Fragen der Erinnerung und Identität umge- Was die Beziehungen einzigartig macht, ist hen werden. die Shoah beziehungsweise die Erinnerung daran als Staatsräson. ❙17 Der Herausgeber der Angesichts des wachsenden zeitlichen Ab- „Zeit“, Josef Joffe, sagte 2008 in einer Rede standes zum Zweiten Weltkrieg, des Ab- zum 60-jährigen Bestehen Israels: „Diese schieds von Zeitzeugen und der sich ver- Staatsräson ist zwar eng mit Israel verknüpft, ändernden Erinnerungskultur ist aber zu aber Israel ist nur ein Teil davon. Diese Rä- befürchten, dass – wie etwa die israelische son geht weit über Israel hinaus, sie ruht, wie Historikerin Yfaat Weiss meint – die Einzig- die Republik selber, auf einem ‚Narrativ‘, das artigkeit der deutschen Geschichte durch den die Erinnerung verinnerlicht hat, das heilig- sich wandelnden Charakter der Debatte her- hält, was Nazi-Deutschland geschändet hat. untergespielt wird. Weiss argumentiert, dass Man darf es auf einen Imperativ reduzieren: es einen Prozess der Universalisierung der ‚Nie wieder‘. Nie wieder wollen wir sein, was Shoah gebe, der dazu führe, dass aus einer wir einmal waren. Zu diesem Narrativ ge- konkreten historischen Verantwortung auf der Grundlage einer ganz bestimmten deut- schen Erfahrung eine politisch-moralische, ❙16 In einer Studie des Berliner Instituts für em- in universell gültiger Sprache formulier- pirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) wurde festgestellt, dass die Bevölkerung in te Verantwortung werde. Wie nie zuvor re- Deutschland mehrheitlich ein positives Gefühl zu lativiere diese neue Formel die tatsächlichen ihrem Land hat: „Ausgangspunkt dieses positiven Ereignisse. Man kann nur erahnen, welche Selbstbildes ist die Wiedervereinigung. Sie stellt für grundlegenden Folgen dieser Prozess haben 49 Prozent der Bevölkerung das zentrale historische und wie er die deutsch-israelischen Bezie- Ereignis dar, welches Deutschland heute am besten hungen beeinflussen könnte. Das Bild, das beschreibt. Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sind hingegen kaum mehr prä- sich die Deutschen von ihrer eigenen Ver- gend für das Selbstbild (16 Prozent), und der Ho- gangenheit machen werden, kann uns Israe- locaust wird nur von 0,5 Prozent der Befragten ge- lis nicht gleichgültig sein, wenn wir unseren nannt.“ Vgl. Naika Foroutan et al., Deutschland langfristigen politischen Beziehungen mit postmigrantisch I – Gesellschaft, Religion, Identi- Deutschland weiterhin hohe Bedeutung bei- tät. Erste Ergebnisse, Berlin 2014, S. 6, https://ju- messen wollen. nited.hu-berlin.de/deutschland-postmigrantisch-1 (12. 1. 2015). ❙17 Vgl. Merkels Rede vor der UN-Vollversammlung 2007 und in der Knesset 2008 (Anm. 5). ❙18 Zit. nach Aufzeichnungen d. A.

APuZ 6/2015 7 Mit Blick auf den sich verändernden Dis- Markus Kaim kurs sollte gefragt werden, wie die deutsch- israelischen Beziehungen noch ausgebaut werden könnten. Deutschland wird als füh- Israels Sicherheit als rendes Mitglied der Europäischen Union ein entscheidender und strategischer Partner für Israels Zukunft bleiben. Doch wird Israel für deutsche Staatsräson: Deutschland von Bedeutung sein? Es gibt keine Zwangsläufigkeit, dass sich das, was in Was bedeutet das den zurückliegenden fünf Jahrzehnten her- angewachsen ist, auch weiterhin so gut ent- wickeln wird. Die Aufarbeitung der Shoah konkret? als tragender, wenn nicht gar einziger Pfeiler der Beziehungen wird in Zukunft nicht aus- or fast sieben Jahren, am 18. März 2008, reichen. Der Wandel der Erinnerungskultur Vhielt Bundeskanzlerin Angela Merkel könnte sich womöglich als Beitrag zur Nor- vor dem israelischen Parlament eine Rede, malisierung erweisen. Ob diese Entwicklung deren Schlüsselsatz, in Israel konsensfähig sein wird, bleibt abzu- mehr noch aber des- Markus Kaim warten. sen Rezeption, den PD Dr. habil., geb. 1968; Leiter Eindruck erweckte, der Forschungsgruppe Sicher­ Trotz aller Schwierigkeiten sollte betont die Kanzlerin habe heitspolitik, Stiftung Wissen­ werden, dass es schon einem Wunder gleich- eine völlig neue Leit- schaft und Politik, Ludwig­ kommt, was sich in den Jahrzehnten seit der linie der deutschen kirchplatz 3–4, 10719 Berlin. Shoah zwischen Deutschen und Juden ereig- Außenpolitik for- [email protected] net hat. Um die historische Perspektive nicht muliert, aus der sich aus den Augen zu verlieren, sollten wir uns nunmehr andere Schritte in den deutsch-is- das Jahr 1492 ins Gedächtnis rufen, als die raelischen Beziehungen ableiten würden als Juden aus Spanien vertrieben wurden, wor- bislang: „Diese historische Verantwortung aufhin das jüdische Volk Spanien 500 Jahre Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines lang boykottierte. Hingegen fanden bereits Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist kurze Zeit nach der Shoah die ersten Ge- für mich als deutsche Bundeskanzlerin nie- spräche zwischen Deutschen und Juden statt, mals verhandelbar.“ ❙1 und Überlebende trafen die Entscheidung, in Deutschland wieder Fuß zu fassen. Sicher- Mit dieser Ansprache verhält es sich je- lich waren es auch realpolitische Überlegun- doch wie mit dem Scheinriesen im Kinder- gen, die eine entscheidende Rolle spielten. buch: Je weiter die Rede zurückliegt, umso Und dennoch: Angesichts des Abgrunds, der gewichtiger und paradigmatischer erscheint sich zwischen Deutschen und Juden aufge- sie dem politischen Beobachter. Je näher man tan hatte, hätte es zu diesem eindrucksvollen ihr tritt, umso relativer scheint ihr Gewicht. Aufbau nicht unbedingt kommen müssen. Denn die Kanzlerin hatte mit dem zentra- Allerdings soll man sich nach einem präze- len Verweis auf die Sicherheit Israels als Teil denzlosen Ereignis wie der Shoah nicht wun- deutscher Staatsräson lediglich das wieder- dern, dass die dunkle Wolke, die uns perma- holt, was bereits zuvor Rudolf Dreßler, von nent verfolgt, sich kaum vertreiben lässt. Sie 2000 bis 2005 deutscher Botschafter in Israel, wird uns vorerst noch begleiten, was auch in einem Aufsatz ausgeführt hatte: „Die ge- immer geschieht. sicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unse- rer Staatsräson.“ ❙2 Zudem hatte die Kanzlerin selbst mit ihrer Rede gar nicht den Eindruck erwecken wollen, dass sie etwas Neues ver- künde oder sich gar von ihren Vorgängern ab- grenze, sondern deutlich darauf verwiesen, in welcher Kontinuität sie stehe und wie tradiert diese politische Prioritätensetzung sei: „Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen

8 APuZ 6/2015 Verantwortung Deutschlands für die Sicher- in internationalen Organisationen, die glei- heit Israels verpflichtet.“ ❙3 Schließlich ließen chermaßen Israels Sicherheit zum Ziel hat. auch die anderen Elemente ihres Besuchspro- gramms in Israel nicht auf einen Neuansatz in der deutschen Außenpolitik schließen, im Ge- Bilaterale Dimension: Verpflichtung genteil: Die Tagesordnung der ersten deutsch- zur militärischen Unterstützung israelischen Regierungskonsultationen, die am Vortag begonnen hatten, sollte gezielt den Die deutsch-israelische Rüstungskooperati- Eindruck breiter, gereifter und letztlich un- on reicht bis in die 1950er Jahre zurück und problematischer bilateraler Beziehungen er- reflektierte – angesichts der Ermordung von wecken. über sechs Millionen europäischer Juden während der nationalsozialistischen Gewalt- Im engeren Sinn hatte die Bundeskanzle- herrschaft – schon damals die besondere Ver- rin mit ihrer Rede auf eine Frage geantwor- pflichtung der Bundesrepublik gegenüber tet, die sich für die deutsche Außenpolitik Israel. Bereits 1955/56 lieferte die junge Bun- nicht wirklich stellt. Niemand wird primär desrepublik zwei Patrouillenboote. ❙4 In den Deutschland konsultieren, wenn Israels Si- folgenden Jahrzehnten führten beide Staa- cherheit unmittelbar durch einen Aggressor ten diese Kooperation fort, in der Regel je- bedroht sein sollte – nicht die israelische Re- doch unter weitgehendem Ausschluss der gierung, der solch militärische Fähigkeiten Öffentlichkeit und nur rudimentär formali- zur Verfügung stehen, dass die territoriale In- siert. Häufig erfolgte die rüstungspolitische tegrität oder politische Souveränität des Lan- Kooperation über die jeweiligen Auslands- des nicht ernsthaft gefährdet sind, und erst geheimdienste. Dabei entwickelte sich eine recht nicht ein möglicher Aggressor. Daher Praxis, die bis heute anhält. Die Lieferungen geht auch die Erwartung sicherlich fehl, dass deutscher Rüstungsgüter an Israel werden die Aussage der Bundeskanzlerin als eine in- zu einem hohen Anteil, zum Teil sogar voll- formelle militärische Beistandsverpflichtung ständig von der Bundesrepublik bezahlt. In- zu interpretieren sei, die möglicherweise nenpolitisch waren diese Lieferungen wenig durch die Entsendung deutscher Truppen- umstritten und Teil des Konsenses, auf den kontingente zur Verteidigung ­Israels unter- Angela Merkel in ihrer Rede verwiesen hat mauert werden müsste. und dem Gerhard Schröder als ihr Vorgän- ger ebenfalls öffentlich Ausdruck verliehen Jedoch lässt sich die Bekräftigung der deut- hat: „Ich will ganz unmissverständlich sagen: schen Israelpolitik, die Angela Merkel vor der ­Israel bekommt das, was es für die Aufrecht- Knesset abgegeben hat, in mehrfacher Hin- erhaltung seiner Sicherheit braucht, und es sicht konkretisieren. Sie ist erstens als Ver- bekommt es dann, wenn es gebraucht wird.“ ❙5 pflichtung zu lesen, einen deutschen Beitrag zur militärischen Unterstützung beziehungs- Eine breitere Öffentlichkeit nahm diese weise Überlegenheit Israels zu leisten; sie lässt Kooperation erst wahr, als Bundeskanzler sich zweitens als Aufgabe interpretieren, dass Helmut Kohl 1991 entschied, dass Deutsch- die Bundesregierung sich für die Gestaltung land sechs U-Boote an Israel liefern wür- eines regionalen Umfelds einsetzt, das Isra- de. Hintergrund war der zweite Golfkrieg, els Sicherheit begünstigt. Dies betrifft den arabisch-israelischen Konflikt, daneben aber auch vor allem die internationalen Verhand- ❙4 Zur Frühgeschichte der bilateralen Rüstungs- lungen, die zum Ziel haben, dass Iran kein Nu- kooperation vgl. David Th. Schiller, Anfänge der klearwaffenprogramm entwickelt. Schließlich Rüstungskooperation zwischen Israel und der Bun- desrepublik Deutschland in der Zeit vor der Aufnah- umfasst sie drittens die Politik Deutschlands me diplomatischer Beziehungen, in: Milena Uhlmann (Hrsg.), Die deutsch-israelischen Sicherheitsbezie- hungen. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Ber- ❙1 Verantwortung – Vertrauen – Solidarität. Rede von lin 2008, S. 115–123; Otfried Nassauer/Yves Pallade/ Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. 3. 2008 vor Christopher Steinmetz, Die deutsch-israelische Rüs- der Knesset in Jerusalem, S. 15. tungszusammenarbeit, in: Wissenschaft und Frieden, ❙2 Rudolf Dreßler, Gesicherte Existenz Israels – 20 (2002) 4, S. 34–43. Siehe auch den Beitrag von Mar- Teil der deutschen Staatsräson, in: APuZ, (2005) 15, cel Serr in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). S. 2–8, hier: S. 8. ❙5 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 25. 4. ​ ❙3 A. Merkel (Anm. 1), S. 15. 2002, S. 23115.

APuZ 6/2015 9 in dessen Verlauf Saddam Hussein Isra- umgekehrt nahmen im selben Zeitraum 254 el mit Raketen beschossen hatte. Das ira- deutsche Soldaten an entsprechenden Ange- kische Chemiewaffenarsenal, das entgegen boten der israelischen Armee teil. ❙8 ersten Befürchtungen doch keine Verwen- dung fand, war mit Hilfe deutscher Fir- men aufgebaut worden. Darum unterstütz- Regionale Dimension I: te Deutschland Israel in den Folgejahren bei Bemühen um Friedensregelung der Gewährleistung der nuklearen Abschre- ckung durch eine seegestützte Komponen- Die zweite Facette der häufig als „Merkel- te. Hintergrund dieser Entscheidung war, Doktrin“ vereinfacht beschriebenen Ver- dass Israel angesichts seiner geringen Grö- pflichtung der deutschen Außenpolitik zu- ße durch einen erfolgreichen Nuklearangriff gunsten Israels ist das Bemühen, in der Region faktisch ausgelöscht werden könnte. Die von des Nahen Ostens ein politisches Umfeld zu Deutschland gelieferten U-Boote gewähr- schaffen, das die Spannungen zwischen Israel leisten die israelische Zweitschlagfähigkeit, und seinen arabischen Nachbarn abfedert und also die Möglichkeit, einen Gegner selbst den arabisch-israelischen Konflikt einer dau- nach einem vernichtenden Angriff noch zu erhaften Regelung zuführen soll. Diese Poli- treffen. Das vierte dieser U-Boote ist im tik basiert auf der Annahme, dass der Sicher- September 2014 an Israel ausgeliefert wor- heit Israels am besten damit gedient sei, wenn den, die beiden ausstehenden sollen bis 2017 es zu einer Friedensregelung käme, die wiede- fertiggestellt werden. Daneben sind andere, rum den Weg zu einer Zusammenarbeit zwi- im Umfang kleinere Lieferungen getreten, schen Israel und seinen arabischen Nachbarn sodass hinter den USA die Bundesrepublik in einer Vielzahl von Feldern ermöglichte (in- mit einem Marktanteil von etwa 17 Prozent traregionaler Handel, Umweltschutz, Ver- der zweitgrößte Lieferant Israels für Rüs- kehrsinfrastruktur und anderes mehr). Dieses tungsgüter geworden ist. Umgekehrt war mittelbare Bemühen um Israels Sicherheit war Israel in den Jahren 2009 bis 2013 mit acht und ist die Triebfeder hinter diversen Initia- Prozent der deutschen Rüstungsexporte der tiven und dem entsprechenden Engagement drittgrößte Empfänger (nach den USA und der deutschen Außenminister in den vergan- Griechenland). ❙6 Diese Entwicklung ver- genen Jahrzehnten. ❙9 Die Beispiele dafür sind lief erstaunlich bruchlos trotz der Tatsache, vielfältig: der Sieben-Punkte-Plan des dama- dass vor allem während der Regierungszeit ligen Amtsinhabers Joschka Fischer aus dem von Gerhard Schröder die Kriterien für Rüs- Jahr 2002, der zum Ziel hatte, den Friedens- tungsexporte schärfer gefasst worden sind prozess zwischen Israelis und Palästinensern und aus Teilen der SPD und Bündnis 90/Die neu zu beleben; die deutschen Vorschläge zur Grünen immer wieder Kritik an dieser Un- Schaffung des sogenannten Nahostquartetts terstützung Israels geäußert worden ist. ❙7 (bestehend aus den USA, Russland, der EU und den Vereinten Nationen) oder zuletzt die Ergänzt wird diese rüstungspolitische Ko- direkten Vermittlungsbemühungen von Au- operation durch eine vertiefte Zusammenar- ßenminister Frank-Walter Steinmeier um ei- beit im Bereich der Ausbildung der beiden nen Waffenstilstand zur Beendigung des Ga- Streitkräfte, die seit 2008 durch ein entspre- za-Kriegs im Sommer 2014. ❙10 Dabei handelte chendes Abkommen („Vereinbarung über ge- genseitige Ausbildung zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland“) formali- ❙8 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Klei- siert ist. In den vergangenen 30 Jahren haben ne Anfrage der Abgeordneten Christine Buchholz, 493 israelische Offiziere, Offiziersanwär- Jan van Aken, Annette Groth, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion Die Linke, BT-Drs. 18/2787, ter und andere Soldaten an Ausbildungspro- Deutsch-israelische militärische Zusammenarbeit, grammen der Bundeswehr teilgenommen, 9. 10. 2014, S. 3. ❙9 Vgl. Oz Aruch, Reevaluating Germany’s Com- mitment to Israel’s Security, in: The Israel Journal of ❙6 Vgl. Siemon T. Wezeman/Pieter D. Wezeman, Foreign Affairs, 7 (2013) 1, S. 45–57, hier: S. 52 ff. Trends in International Arms Transfers, 2013, SIPRI ❙10 Vgl. Muriel Asseburg/Jan Busse, Deutschlands Fact Sheet, Stockholm 2014, S. 2. Politik gegenüber Israel, in: Thomas Jäger/Alexander ❙7 Vgl. Helene Bartos, Israel-German Relations in the Höse/Kai Oppermann (Hrsg.), Deutsche Außenpo- Years 2000–2006: A Special Relationship Revisited, litik. Sicherheit, Wohlfahrt, Institutionen und Nor- Oxford 2007, S. 48 ff. men, Wiesbaden 20112, S. 693–716, hier: S. 700 ff.

10 APuZ 6/2015 es sich teilweise um nationale Initiativen, an- hat die EU rund 250 Millionen Euro an Un- gesichts der fortschreitenden Europäisierung terstützung für die Palästinensischen Gebie- der deutschen Nahostpolitik in den vergan- te geleistet. ❙12 genen Jahren aber zunehmend auch um deut- sche Initiativen innerhalb eines europäischen Nicht zuletzt ist die im September 2006 be- Rahmens. ❙11 schlossene deutsche Beteiligung an der mari- timen Dimension der United Nations Interim Solange diese Bestrebungen, besonders be- Force in Lebanon (UNIFIL) ein Ausdruck züglich des israelisch-palästinensischen Ver- des Bemühens, einen Beitrag zur militäri- handlungsstrangs, ergebnislos bleiben und schen Deeskalation und Vertrauensbildung die sich verschlechternde Lebenssituation in der Region im Sinne der Sicherheit Israels vieler Palästinenser den Konflikt immer neu zu leisten. Der Auftrag dieser von der UN ge- zu befeuern droht, lässt sich auch die finanzi- führten Operation ist, nach dem Krieg zwi- elle Unterstützung der Bundesregierung für schen Israel und der Hisbollah-Miliz im die Palästinensischen Gebiete als ein Element Libanon den Waffenschmuggel vor der libane- lesen, die Sicherheit Israels zu gewährleisten. sischen Küste zu unterbinden und die Seewe- Dadurch, dass die Folgen einer ausbleibenden ge zu kontrollieren. Insbesondere Waffenlie- politischen Regelung abgemildert werden be- ferungen an die Hisbollah sollen unterbunden ziehungsweise die deutsche Hilfe der palästi- werden. Eine aktive Entwaffnung der schiiti- nensischen Bevölkerung unmittelbar zugute- schen Miliz sieht das Mandat allerdings nicht kommt, soll diese dazu bewegt werden, den vor. Die Bundesrepublik beteiligt sich zur- fragilen Friedensprozess auch weiterhin zu zeit mit einem Kontingent von 125 Soldatin- unterstützen. nen und Soldaten an dieser Mission, was vom Bundestag erst einmal bis zum 30. Juni 2015 Dies erklärt, warum Deutschland sich seit mandatiert ist. ❙13 Eine ähnlich vertrauensbil- Langem in den Palästinensischen Gebie- dende Funktion hatte die von Deutschland ten engagiert und eines der größten bilatera- unterstützte europäische Mission zur Über- len Geberländer ist. Schwerpunkte des deut- wachung des Grenzverkehrs zwischen Israel schen Engagements sind dabei die Bereiche und dem Gazastreifen (EUBAM Rafah). Glei- Wasser, Wirtschaftsentwicklung, öffentli- ches würde für die Beteiligung an einer mög- che Sicherheit, gute Regierungsführung und lichen UN-Friedenstruppe gelten, die – sollte Bildung. Insgesamt unterstützte die Bundes- es zu einer endgültigen und umfassenden is- regierung die palästinensische Bevölkerung raelisch-palästinensischen Friedensvereinba- 2013 mit einem Gesamtvolumen von rund rung kommen – die Einhaltung eines solchen 150 Millionen Euro, davon mit rund 100 Mil- Abkommens überwachen würde. ❙14 lionen Euro im Rahmen bilateraler Projekte, das verbleibende Drittel durch Beiträge an die Das deutsche Bemühen um eine arabisch- EU. Die bilateralen Projekte verteilen sich zu israelische Friedensregelung dient aber nicht knapp zwei Dritteln auf die Entwicklungszu- nur israelischen Sicherheitsinteressen. Ein sammenarbeit (60 Millionen Euro), zu einem kooperativer Modus Operandi innerhalb des Drittel auf humanitäre Hilfe (etwa 34 Millio- Nahen Ostens würde der deutschen Politik nen Euro), auf zivile Krisenprävention (etwa größere Handlungsspielräume und eine fle- 3 Millionen Euro) sowie Kultur und Bildung xiblere Politik in der Region erlauben. Auch (etwa 5 Millionen Euro). Ergänzt wird die- ließen sich gute Beziehungen sowohl zu ses Engagement durch den Finanzrahmen ­Israel als auch zu den arabischen Akteuren der EU, die traditionell die wichtigste Gebe- rin für die Palästinensischen Gebiete ist. Das ❙12 Zu den Zahlen vgl. Auswärtiges Amt, Hilfe für Brüsseler Engagement, zu dem Deutschland die palästinensischen Gebiete, Stand: 8. 1. 2014, www. mit etwa 20 Prozent beiträgt, beläuft sich seit auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Regionale- 2008 auf rund 3 Milliarden Euro. Allein 2013 Schwerpunkte/NaherMittlererOsten/IsraelPalaes- tinensischeGebiete/ZukunftPalaestina/Uebersicht_ node.html (14. 1. 2015). ❙11 Vgl. Patrick Müller, The Europeanization of ❙13 Vgl. Dieter Stockfisch, Die Deutsche Marine Germany’s Foreign Policy Towards the Israeli-Pa- im UNIFIL-Einsatz, in: Europäische Sicherheit & lestinian Conflict. Between Adaption to the EU and Technik, 63 (2014) 11, S. 39 ff. National Projection, in: Mediterranean Politics, 16 ❙14 Vgl. Werner Sonne, Staatsräson? Wie Deutschland (2011) 3, S. 385–403. für Israels Sicherheit haftet, Berlin 2013, S. 228 ff.

APuZ 6/2015 11 miteinander in Einklang zu bringen. Denn bisch-persischen Golf zu verhindern, sondern auch der Umkehrschluss stimmt: Je konfron- daneben auch die Absicht, Israels Sicherheit tativer die regionale Handlungsdynamik ist, dadurch zu gewährleisten, dass die iranischen umso schwieriger ist es für die deutsche Po- Anreicherungsbemühungen begrenzt und litik, diese beiden Ziele ihrer Nahostpolitik dem Kontrollregime der IAEO unterworfen gleichermaßen zu verfolgen. werden. Einerseits bieten die E3+3-Akteure Iran dabei eine umfassende Kooperation für den Fall an, dass er in der Frage seines Nu- Regionale Dimension II: klearprogramms mit den internationalen Or- Iranisches Nuklearprogramm ganisationen kooperiert. Andererseits dient das internationale Sanktionsregime dem Ziel, In ihrer Jerusalemer Rede von 2008 rück- Iran zum Einlenken in der Nuklearfrage zu te die Kanzlerin die Formulierung „Teil der bewegen. Bis zu einer endgültigen Vereinba- Staatsräson“ unmittelbar in den Kontext des rung, für die nunmehr der Verhandlungszeit- iranischen Nuklearprogramms: „Und wenn raum bis zum 30. Juni 2015 verlängert worden das so ist, dann dürfen das in der Stunde ist, wird auch Berlin am modifizierten Sank- der Bewährung keine leeren Worte bleiben. tionsregime festhalten. Zugleich hat Deutsch- Deutschland setzt gemeinsam mit seinen land Israel in den vergangenen Jahren immer Partnern auf eine diplomatische Lösung. Die von einem Militärschlag gegen Iran abgeraten Bundesregierung wird sich dabei, wenn der und, wie ausgeführt, das israelische Abschre- Iran nicht einlenkt, weiter entschieden für ckungspotenzial mit aufgebaut. Sanktionen einsetzen.“ ❙15 Für die deutsche Außenpolitik ergibt sich daraus eine konkre- te Verpflichtung. Internationale Dimension: Unterstützung in multilateralen Organisationen Seit dem Jahr 2002 hegen viele Staaten Zweifel am friedlichen Charakter des irani- Die dritte Dimension der deutschen Ver- schen Nuklearprogramms. Die Internationale pflichtung zugunsten Israels umfasst eine Atomenergie-Organisation (IAEO), der UN- Haltung in internationalen Organisationen, Sicherheitsrat und die E3+3-Staaten (Russ- die die eigene Politik (respektive das entspre- land, China, USA, Frankreich, Großbritan- chende Abstimmungsverhalten) an den Inte- nien und Deutschland) haben Iran immer ressen beziehungsweise der Sicherheit Israels wieder zur Zusammenarbeit und Transparenz orientiert. Dies ist vor allem augenfällig bei aufgefordert. Trotz des im November 2013 derjenigen Dimension des israelisch-palästi- vereinbarten „Aktionsplans“ ist nach wie vor nensischen Konfliktes, die in den Vereinten fraglich, inwiefern Teheran den in zahlreichen Nationen ausgetragen wird. Versuchen, dem Resolutionen beschlossenen Auflagen des Si- Anliegen der palästinensischen Staatlichkeit cherheitsrats und der IAEO nachgekommen durch eine völkerrechtliche Aufwertung der ist, sein Nuklearprogramm zu suspendieren Palästinensischen Gebiete in den UN Auftrieb und mit der IAEO zusammenzuarbeiten, um zu verschaffen, haben Bundesregierungen im- die Fragen der internationalen Gemeinschaft mer skeptisch gegenüber gestanden. So gehör- nach einer möglichen militärischen Dimensi- te Deutschland zu den 41 Staaten, die sich im on des Programms zu klären. Angesichts der November 2012 in der UN-Generalversamm- konfrontativen, zuweilen aggressiven Rheto- lung bei der Abstimmung über eine Anerken- rik der iranischen Regierung gegenüber Israel nung Palästinas als beobachtendes Nicht-Mit- besteht die Befürchtung, dass sich eine mög- glied enthielten. In diesem Sinne hat sich die liche Drohung mit einer Nuklearwaffe vor al- Bundesregierung bislang auch immer gewei- lem gegen Jerusalem richten würde. gert, eine völkerrechtliche Anerkennung Pa- lästinas zu unterstützen, denn dies schade den Seit 2003 verfolgt die deutsche Politik im Bemühungen für neue Verhandlungen zwi- Kontext der E3+3-Verhandlungen mit Iran schen Israelis und Palästinensern. daher nicht nur das Ziel, das globale Nichtver- breitungsregime zu erhalten und einen regio- Zuletzt hat dies Angela Merkel im Novem- nalen, nuklearen Rüstungswettlauf am ara- ber 2014 betont, da innerhalb der EU zuneh- mend die Position erodiert, Palästina als Staat ❙15 A. Merkel (Anm. 1), S. 15. erst nach einer Verhandlungslösung mit Is-

12 APuZ 6/2015 rael anzuerkennen. Denn die Parlamente in Exekutive und Legislative hineinreicht. Aus Schweden, Großbritannien und Frankreich nachvollziehbaren Gründen ist dies vor allem haben Ende 2014 entsprechende Beschlüsse dann der Fall, wenn der arabisch-israelische gefasst, auch wenn diese vorwiegend symbo- beziehungsweise der israelisch-palästinen- lische Bedeutung besitzen. Ähnlich zurück- sische Konflikt militärisch eskaliert, wie in haltend haben sich deutsche Regierungsver- den vergangenen Jahren mit trauriger Regel- treter in der aktuellen Debatte über einen mäßigkeit geschehen, oder wenn es den An- Beitritt Palästinas zum Internationalen Straf- schein hat, dass die israelische Armee unver- gerichtshof geäußert. Mit der Unterzeich- hältnismäßig Gewalt einsetzt. Diese Kritik nung des sogenannten Rom-Statuts hat der manifestiert sich dann zum Beispiel in Emp- palästinensische Präsident Mahmud Abbas fehlungen, die bilaterale Rüstungszusam- den Beitritt zu diesem Gericht in die Wege menarbeit einzustellen oder EU-Handelsbe- geleitet. Da dieses prinzipiell auch für Ver- günstigungen für Israel auszusetzen oder gar brechen in Palästina einschließlich des Gaza- vollständig zu streichen. streifens zuständig wäre, könnten in Zukunft grundsätzlich auch israelische Politiker und Aber auch die grundsätzliche Frage, ob Militärs für schwere Kriegsverbrechen auf Deutschland eine besondere Verantwortung palästinensischem Gebiet in Den Haag be- für Israel trage beziehungsweise Israels Sicher- langt werden. heit Teil der deutschen Staatsräson sei, wird von weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit zunehmend anders beantwortet als von den Fazit politischen Eliten. Auffällig ist die deutlich kritischere Haltung vor allem in Ostdeutsch- Diese kurzen Betrachtungen unterstreichen land – hier wirkt möglicherweise das schwieri- das Wesen der seit 2008 geltenden rhetori- ge Verhältnis der DDR zu Israel ohne formelle schen Verknüpfung von Israels Sicherheit mit diplomatische Beziehungen nach. ❙16 Daneben der deutschen Staatsräson: Es handelt sich fällt auf, dass vor allem auch jüngere Men- nicht um eine neue Leitlinie, aus der sich prä- schen eine besondere Verantwortung für Isra- zise Schritte für das zukünftige außenpoli- el ablehnen. Hier wird man vermuten können, tische Handeln der Bundesrepublik ableiten dass die wachsende historische Distanz wirkt: lassen. Und in der Tat lässt sich auch nicht Was für weite Teile der Generation derjenigen erkennen, was denn in den vergangenen sie- Deutschen, die noch eigene Erinnerungen an ben Jahren anders in den deutsch-israelischen Nationalsozialismus und Holocaust besitzen, Beziehungen geworden wäre. Vielmehr hat ein Eckpfeiler deutscher Außenpolitik gewor- die Bundeskanzlerin mit ihrem Diktum ei- den ist, verliert für die jüngere Generation zu- nen Rahmen aufgespannt, mit dem alle be- nehmend an Bindewirkung. ❙17 reits existierenden Grundentscheidungen der deutschen Israelpolitik zum wiederholten Sollte sich an dieser Tendenz in Zukunft Male bekräftigt und programmatisch über- nichts ändern, droht die gesellschaftliche wölbt wurden. Unterfütterung der außenpolitischen Selbst- verpflichtung zugunsten Israels auf Dau- Geht man der Frage nach, warum Angela er immer dünner zu werden. Das muss nicht Merkel sich gerade zu diesem Zeitpunkt ge- zwingend zu einem Politikwechsel führen, äußert hat beziehungsweise überhaupt die aber zukünftige Bundesregierungen müssen Notwendigkeit gesehen hat, sich in diese sich wachsender innenpolitischer Widerstän- Richtung zu äußern, so wird vor allem in de gewahr sein. Rechnung zu stellen sein, dass die innenpoli- tische Grundierung der deutschen Israelpoli- tik in jüngster Zeit einem erheblichen Wandel ❙16 Das Verhältnis der DDR zu Israel kann an dieser unterliegt. So verweisen viele Beobachter seit Stelle nicht weiter behandelt werden. Vgl. dazu Ange- Jahren darauf, dass die grundsätzlich pro­ lika Timm, Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestör- israe­lische Orientierung der deutschen Poli- te Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, tik von weiten Teilen der Bevölkerung nicht Bonn 1997. ❙17 Vgl. die Meinungsumfragen bei M. Asseburg/​ länger geteilt wird. Im Gegenteil ist derjeni- J. Busse (Anm. 10), S. 711. ge Anteil gestiegen, der Israel gegenüber eher kritisch eingestellt ist, was bis in Teile der

APuZ 6/2015 13 Gegenseitige Wahrnehmungen

Israel ist für Deutsche kein Land wie alle anderen, Gleiches gilt für Deutschland aus israeli- scher Sicht. Fällt der Name des einen Landes im anderen, werden bei Deutschen und ­Israelis unweigerlich bestimmte Bilder und Konzepte aufgerufen. Welche das sind, scheint sich mit zunehmender zeitlicher Distanz zur Shoah zu ändern, wenngleich die tradierten keineswegs ganz verschwinden. Wie sich das in der gegenseitigen Wahrnehmung auswirkt, beschreiben David Witzthum für die israelische und Sylke Tempel für die deutsche Seite.

David Witzthum lich in eine deutsche Fernsehkamera. Hier stellt sich die Frage: Haben wir es mit einem Trend, einer Mode, einer Pose zu tun – oder Israelische eher mit einem tieferen Prozess unter Israe- lis und ihren früheren Identitäten? Oder sind wir mit einer Herausforderung kultureller Deutschlandbilder oder politischer Natur konfrontiert, die sich auf uns selbst bezieht – mit einer Trotzreak- tion auf die israelische Gesellschaft? Handelt Essay es sich also um eine innerisraelische Debatte, die mit der politischen Situation des Landes Jahre nach dem Fall der Berliner Mau- zu tun hat? Um diese Behauptung wird es im 25er findet in Israel ein komplexer und Folgenden gehen. lebhafter Diskurs über Deutschland statt, der die traditionellen David Witzthum Deutschlandbilder in Deutsche Identität in Israel M. A., geb. 1948; Chefredak­ Israel radikal verän- teur, Moderator und außen­ dert. Deutschland war Von Beginn an spielten die deutschen Juden politischer Kommentator, einst ein Land, das so- bei der Etablierung der israelisch-deutschen Israel Broadcasting Authority, wohl Furcht als auch Beziehungen nach der Shoah eine besondere Television House, Rommema, Bewunderung auslös- Rolle. Tatsächlich fühlten sich viele von ih- 91071 Jerusalem/Israel. te. Mittlerweile gehört nen als Deutsche, die nur von den Nazis da- [email protected] es in den israelischen ran erinnert worden waren, dass ihre Iden- Medien (und offen- tität (auch) jüdisch ist. Die Nazis hatten sie sichtlich nicht nur in den israelischen) zu den zu Fremden in ihrer Heimat gemacht, und sie beliebtesten Ländern. Bundeskanzlerin An- waren – fast paradoxerweise – die Pioniere, gela Merkel ist in Israel wahrscheinlich noch die nach dem Krieg die Verbindung wieder populärer als in ihrem eigenen Land. Sogar aufnahmen. Zahlreiche Akademiker, Schrift- der deutsche Fußball, von hiesigen Kommen- steller, Künstler und Musiker gingen zurück tatoren früher mit Nazivokabular beschrie- nach Deutschland – zunächst als Besucher, ben, ist uns sympathisch geworden – und manche später auch dauerhaft als Heimkeh- eine Quelle des Neids. Berlin steht im Zen- rer, in den Osten wie in den Westen. trum eines intensiven Diskurses, als Option nicht nur für den Tourismus, sondern sogar Von Anfang an waren israelische Journa- für die Emigration: ein Land unbegrenzter listen deutscher Herkunft maßgeblich daran Möglichkeiten – nicht in der Neuen Welt, den beteiligt, das Image Deutschlands in Israel USA, sondern mitten in Europa. zu gestalten. Sie schrieben für die israelische Öffentlichkeit, und kritisierten Deutschland Seit Kurzem ist sogar eine neue Definition häufig, wie etwa Gershom Schocken, He- von Identität im medialen Umlauf – mit ei- nem langen historischen Echo: „Ich bin ein Übersetzung aus dem Englischen: Sandra H. Lustig, Berliner Israeli“, sagte ein junger Mann kürz- Hamburg.

14 APuZ 6/2015 rausgeber der Tageszeitung „Ha’aretz“. Auch Menachem Begin 1977 Premierminister wur- Azriel Carlebach gehörte dazu, der Heraus- de, wurde das Gedenken an den Holocaust geber der „Ma’ariv“, die unter seiner Leitung politisiert. Es nahm einen zentralen Platz die beliebteste Zeitung Israels wurde, und in der israelischen Perspektive gegenüber später Uri Avneri, der den „Spiegel“ als sein Deutschland ein, während auf der östlichen journalistisches Vorbild bezeichnete und in Seite der Berliner Mauer weiterhin jegliches Rudolf Augstein so etwas wie einen berufli- Signal verweigert wurde. chen Zwilling sah. ❙1

Da sie auf Hebräisch schrieben, konnten Verändertes Image seit der „Wende“ diese Journalisten die öffentliche Meinung in Israel mitprägen; und sie taten dies unter All dies – und noch viel mehr – veränder- der schützenden Hand von Premierminis- te sich in der historischen Nacht des 9. No- ter David Ben-Gurion, der die Beziehungen vember 1989. Plötzlich sahen sehr über- zum „anderen Deutschland“ – und zu sei- raschte Israelis Bilder schierer menschlicher nem Partner in dieser Sache, Konrad Ade- Freude über die neu gewonnene Freiheit. nauer – brauchte und förderte. Schon bald Diese Bilder zerstörten bestehende Stereoty- entstanden starke und komplexe Verbindun- pe über Deutschland und brannten sich tief gen; sie begannen mit der „Wiedergutma- in das israelische kollektive Gedächtnis ein. chung“ und gipfelten, nach einigen Jahren Der Mauerfall hatte in Israel jedoch nicht verdeckter militärischer Kooperation, 1965 nur aufgrund der Freude in Europa eine tief in der Aufnahme diplomatischer Beziehun- greifende Wirkung, sondern auch wegen des gen, die trotz aller Krisen niemals schwer- Verhältnisses der Mauer zur israelischen Re- wiegenden Schaden erlitten. Aber dies alität: der andauernden Erfahrung eines Le- macht nur einen Teil des deutschen Images bens im Belagerungszustand, hinter Gren- in Israel aus. Ein weiterer wichtiger Teil ist zen, Mauern und Zäunen. Dies ist für Israelis der Beitrag der deutschen Juden zur Kultur, immer noch ein tiefes Trauma und hat in der den Künsten, dem Rechtssystem, der Archi- jüngsten Zeit zu dem geführt, was als Para- tektur, der Musik und der Bildung in ­Israel. digmenwechsel im israelischen Denken über Generationen von Israelis sind in der hebrä- den israelisch-palästinensischen Konflikt be- ischen Sprache und Kultur aufgewachsen, schrieben werden kann – von Besetzung zu ohne zu wissen, wie viel von Deutschland Separation. Diese Verlagerung hat ihre In- hier verwurzelt ist. spiration möglicherweise in Berlin gefunden, wurde aber erst mit der zweiten Intifada und Das Image Deutschlands in Israel war stets ihren Terrorangriffen sowie dem wachsenden janusköpfig: auf der einen Seite die verehr- Verlangen nach endgültigen, sicheren Gren- te Kultur, ein Vorbild seit Herzls „Altneu- zen politisch wirksam. land“, und auf der anderen die Nazis, die Tä- ter der Shoah. Ironischerweise blockierten Der Wandel des deutschen Images in Isra- beide Gesichter einen großen Teil der kon- el war derart tief, dass auch schlechte Nach- kreten Bezüge zum realen Deutschland, je- richten die Uhren diesbezüglich nicht mehr nem geteilten Land, das mit der Nachkriegs- zurückdrehen konnten – weder die Ent- situation zu kämpfen hatte. Aus israelischer hüllungen über den deutschen Beitrag zu Sicht wurde Deutschland fast zu einem frem- Saddam Husseins Chemiewaffen noch die den Land, ominös und stets kurz davor, sich Gewalt von deutschen Neonazis gegen Aus- in ein „Viertes Reich“ zu verwandeln, wo- länder und Juden im Winter 1992/93. Es hat rauf zahlreiche Kolumnisten – nicht nur in sich gezeigt, dass das Bild Deutschlands trotz Israel, sondern auch in Europa und sogar in einiger Schwankungen positiv blieb und bis Deutschland – rasch hinwiesen, wenn Beun- ­heute positiv ist. ❙2 ruhigendes geschah: Gewalt durch Neona- zis, Schändung jüdischer Friedhöfe, antise- 2 mitische Äußerungen, Nachsicht gegenüber ❙ Vgl. David Witzthum, The Image of Germany in Kriegsverbrechern und so weiter. Und als the Israeli Media, Masterarbeit, Hebräische Univer- sität Jerusalem, 2002 (hebräisch); aktuell: Konrad- Adenauer-Stiftung (Hrsg.), Das Heilige Land und ❙1 Vgl. Uri Avneri, Optimist. An Autobiography, Tel die Deutschen, Januar 2015, www.kas.de/wf/doc/ Aviv 2014 (hebräisch). kas_40104-544-1-30.pdf (13. 1. 2015).

APuZ 6/2015 15 Es besteht jedoch eine bedeutende Dicho­ mann zur Verfügung stehen, sowohl Israelis tomie, was die Sicht der beiden Länder auf als auch Deutsche fehlerhafte Informationen einander betrifft: Der Historiker Moshe übereinander und ein fehlerhaftes Verständ- Zimmermann hat festgestellt, dass zwar die nis voneinander haben. Ich selbst habe von breite israelische Öffentlichkeit Deutsch- deutschen Reportern in Israel häufig die Kla- land im Laufe der Jahre immer positiver sieht ge gehört, dass sie hauptsächlich über den is- (90 Prozent bejahen die Frage „Halten Sie raelisch-palästinensischen Konflikt berich- die Beziehungen für normal?“), ❙3 die israeli- ten müssen und dass ihnen kaum Zeit oder schen Eliten (Politiker, Journalisten, Wissen- Raum für andere Themen eingeräumt wird. schaftler und andere) aber deutlich reservier- Kein Wunder, dass auch faire Berichterstat- ter sind – vermutlich, weil sie sich als „Hüter“ tung über Israel das Land so darstellt, als des offiziellen israelischen Diskurses sehen, würde es sich ausschließlich um den Kampf der in Bezug auf Deutschland nach wie vor gegen Araber kümmern, wohingegen die Be- eher von der Shoah geprägt ist. richterstattung über Deutschland, wie ich noch ausführen werde, in den israelischen Eine parallele Dichotomie – wenngleich in Medien sehr vielfältig ist. umgekehrter Richtung – ist in den deutschen Einstellungen zu Israel zu erkennen: Die of- Wenn wir jedoch tiefer in die Materie ein- fiziellen Vertreter Deutschlands – Minister, dringen, stellen wir fest, dass die israelische Parlamentsmitglieder, Amtsträger und kultu- Berichterstattung über Deutschland sehr relle Eliten betonen eher die Verantwortung stark vom Charakter der eigenen Gesell- Deutschlands aufgrund seiner Vergangenheit, schaft und Kultur ausgeht – und die Ereig- und Kanzlerin Merkel hat sogar beteuert, nisse in Deutschland entsprechend interpre- dass die Sicherheit Israels Teil der deutschen tiert und bewertet werden. Informationen Staatsräson sei. Dagegen ist die deutsche Öf- werden jeweils nach ihrem Bezug zum is- fentlichkeit viel stärker antiisraelisch einge- raelischen Diskurs bewertet. Genau wie der stellt. Dies wird von zahlreichen Meinungs- Fall der Mauer als Metapher für die versteck- umfragen bestätigt: Viele Deutsche sehen in ten Sehnsüchte der Israelis wahrgenommen Israel eine „Gefahr für den Weltfrieden“ ❙4 wurde, so handeln auch viele andere Ge- und sind der Ansicht, die israelische Politik schichten (nicht nur) aus Deutschland tat- gegenüber den Palästinensern sei so grausam sächlich von uns, und in gewisser Weise er- und ungerecht, dass sie gar der Politik Na- füllen die Deutschen in diesen Geschichten zideutschlands ähnele. Dieses Paradox – die dabei den gleichen Zweck wie Figuren in ei- breite und wachsende Sympathie in Israel ge- ner Parabel. ❙5 genüber Deutschland, verglichen mit wach- sender deutscher Antipathie gegenüber Is- Überdies: Über Deutschland wird haupt- rael – ist keineswegs einzigartig: In anderen sächlich aus der Ferne berichtet – denn in europäischen Ländern ist die Lage ähnlich. den vergangenen Jahren schicken die israeli- schen Medien immer weniger Korresponden- ten dauerhaft nach Deutschland, und die gro- Deutschland als Spiegel ßen Medienunternehmen verlassen sich auf freischaffende Reporter, Nachrichtenagentu- Eine Erklärung für diese Diskrepanz ist ren und das Internet. Bei wichtigeren Ange- das Paradox, dass trotz der scheinbar end- legenheiten – etwa Besuche von Staatschefs, und grenzenlosen Informationen, die jeder- große nationale oder internationale Veran- staltungen – arbeiten sie mit Korresponden- ten, die nicht zur Auslandsredaktion gehö- ❙3 Vgl. Moshe Zimmermann, Facelift – Das Image der Deutschen in Israel seit der Wiedervereinigung, ren, aber Spezialisten für Diplomatie, Militär Jerusalem 2013, www.tau.ac.il/GermanHistory/ oder den Nahen Osten sind. Die Redakteu- TAJB_2013_Zimmermann.pdf (13. 1. 2015). re selbst ziehen Geschichten vor, die einen ❙4 Die berüchtigtste Umfrage war das „Eurobaro- meter“ vom November 2003: http://ec.europa.eu/ public_opinion/flash/fl151_iraq_full_report.pdf ❙5 Die Historikerin Yfaat Weiss behauptet, dass das (13. 1. 2015). Eine BBC-Umfrage im Frühjahr 2014 schwache Echo deutscher Angelegenheiten in Is­ rael hat ermittelt, dass nur 14 Prozent der Deutschen Is- ein Ergebnis tief verwurzelter Stereotype ist. Vgl. rael positiv sehen. Vgl. A Turning Point in German- Yfaat Weiss, The Faint Echoes of German Discourse Israeli Relations, 24. 2. 2014, www.dw.de/​a-17449202 in Israel, in: Partisan Review, 68 (2001) 3, S. 396–404.

16 APuZ 6/2015 israe­lischen Bezug oder Kontext haben (eine im Januar 1996 während eines Deutschland- Tendenz, die überall in den Medien anzutref- besuchs sagte: „Ich kann nicht verstehen, wie fen, aber in Israel besonders stark ausgeprägt Juden hier leben können.“ Überdies werden ist), und so kann man in den Berichten über die orthodoxen Rabbiner, die ihre Stimme ge- Kultur, Sport oder Wirtschaft in Deutsch- gen das Kölner Urteil erhoben, von der säku- land auch „israelische“ Geschichten finden, laren und liberalen Öffentlichkeit in Israel als etwa wenn es um israelische Künstler, Sport- Bedrohung für ihren Lebensstil wahrgenom- ler oder Unternehmer in Deutschland geht. men, weshalb sie in den israelischen Medien Aber auch Geschichten über den Holocaust ohnehin nur wenig Sympathie für ihre Anlie- zählen dazu – über Überlebende, Experten gen wecken können. oder andere, die daran beteiligt sind, das kol- lektive Gedächtnis und Gedenken aufrecht- Wenn wir uns nun wieder der Berichter- zuerhalten. stattung über Israelis in Berlin zuwenden, ist die Ironie augenfällig: Während junge Israe- Sogar Skandale mit Ursprung in Deutsch- lis in Berlin als „Berliner Israelis“ eine Iden- land scheinen „israelisch“ zu werden, wenn tität zurückfordern, die ihren Vorfahren ge- sie hier behandelt werden: Dies war im April raubt wurde, sehen wir sie in den israelischen 2012 etwa der Fall bei dem idiotischen „Ge- Medien, und unser Diskurs über sie und Ber- dicht“ von Günter Grass über die Gefahr und lin dreht sich eigentlich nicht wirklich um das Schweigen zur israelischen Atombom- Deutschland, sondern nur um uns selbst. Er be im Vergleich mit dem iranischen Regime. dreht sich um Israel und die Schwierigkeiten, Nachdem die israelischen Medien sich einen die das Land seiner jungen Generation berei- Tag lang mit Grass und seiner SS-Vergan- tet – und sie zwingt, im Ausland nach einem genheit beschäftigt hatten, wandten sie sich besseren Leben zu suchen. ❙6 zügig unserem eigenen Innenminister Elija- hu Yishai zu, der entschied, Grass in Israel zur persona non grata zu erklären. Hohn und Deutschland in den Fernsehnachrichten Kritik an Yishai drängten Grass selbst rasch an den Rand der Berichterstattung. Dasselbe Um meine These vom „israelzentrischen“ geschah mit Martin Schulz, Präsident des Eu- Charakter des Images von Deutschland in ropäischen Parlaments, als er im Februar 2014 den israelischen Medien zu untermauern, in der Knesset ein paar unglückliche Sätze habe ich eigens für diesen Beitrag die Haupt- zum ungleichen Wasserverbrauch der Paläs- themen mit Deutschlandbezug untersucht, tinenser und Israelis sprach. Die Berichter- die in den zurückliegenden zehn Jahren in stattung wandte sich fast sofort der grund- der Abendnachrichtensendung des öffent- legenden Frage nach Palästinensern, Siedlern lich-rechtlichen Channel 1 aufgegriffen wur- und dem Zugang zu Wasser zu. Und so strit- den. Die Ergebnisse (Tabelle) belegen die ten linke und rechte israelische Stimmen über beschriebenen Hauptargumente: Sogar in Nachrichtenquellen und die Frage, ob die na- Berichten über Deutschland nehmen die bi- tionalreligiöse Partei „Jüdisches Heim“ takt- lateralen Themen, das heißt der Umgang mit los gehandelt habe, als sie aus Protest den Saal Israel und den Israelis, mit 69 (von 335) Be- verließ, während der Gast aus Europa noch richten den ersten Platz ein: Dies ist natürlich sprach. auch ein klares Zeichen dafür, dass die bila- teralen Beziehungen selbst für Israel umfas- Sogar als das Landgericht Köln im Juni 2012 send, eng und wichtig geworden sind. Ein do- die (jüdische wie muslimische) Beschneidung minantes Thema in dieser Berichterstattung von minderjährigen Jungen für ungesetzlich sind die häufigen Zusammenkünfte in Ber- erklärte, weil diese eine Körperverletzung lin und Jerusalem, nicht nur von Staatschefs, darstelle, mobilisierte diese Nachricht in Is- sondern auch von ganzen Regierungen. Be- rael keine antideutschen Gefühle. Vielmehr sondere Aufmerksamkeit schenkten die isra- hatte dies für viele mit der jüdischen Gemein- elischen Medien auch der Rolle Deutschlands schaft und Existenz in Deutschland zu tun, als Mediator zwischen Israel und der Hamas die in Israel traditionell als problematisch er- oder Israel und der Hisbollah. achtet wird. Ezer Weizmann, von 1993 bis 2000 israelischer Präsident, verlieh dieser ❙6 Siehe hierzu auch den Beitrag von Yoav Sapir in Geisteshaltung typischen Ausdruck, als er dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

APuZ 6/2015 17 Neben den bloßen Zahlen steht qualita- Tabelle: Deutschland in den Nachrichten tiv der Eindruck, dass die allgemeine Ein- von Channel 1 stellung der israelischen Medien gegenüber Anzahl Thema Deutschland außerordentlich zustimmend Berichte ist. Kanzlerin Merkel wird als ideale Staats- chefin gesehen – und schneidet im Vergleich Deutsch-israelische Beziehungen 69 mit der israelischen Führung positiv ab. Wie Sport 46 Deutschland mit seiner Vergangenheit um- geht, wird als tief greifend und ernsthaft Holocaust und Kriegsgedenken 42 wahrgenommen, und überhaupt wird es als Unterhaltung/Verschiedenes freundliches und einladendes Land angese- (Freizeit, Tourismus, Prominente, 41 hen – sei es für Tourismus, Geschäftsbezie- Wetter, Katastrophen u. a. m.) hungen oder gar als Wohnort für Studium, Deutschland und die Welt 35 Arbeit oder noch mehr. Innenpolitik und Wirtschaft 26 Jüdische Angelegenheiten, Sogar im Zusammenhang mit den Konflik- 20 ten zwischen Deutschland und Griechen- ­Antisemitismus land wegen der europäischen Hilfsprogram- Kultur 19 me und den Forderungen nach griechischen Reformen berichteten die israelischen Medi- Kriminalität 17 en positiv über die deutsche Position. Davon Gesundheit und Medizin 12 ausgenommen war nur ein Thema: die Ab- wicklung des griechischen öffentlich-rechtli- Terrorismus 4 chen Rundfunks, was uns in Israel daran er- Die Recherche betraf alle Meldungen von Ende De- innerte, dass Channel 1 selbst am Rande der zember 2004 bis Dezember 2014. Die Schlüsselwörter Schließung steht. Daher handelt auch diese lauteten „Deutschland“, „Berlin“, „Merkel“, „Grass“ Geschichte eigentlich von uns. und „Schulz“. 335 Berichte wurden analysiert.

Fazit anhalten, werden sich viele Deutsche der jüngeren Generationen den kritischen und 70 Jahre nach der Zerstörung Deutsch- antiisraelischen Stimmen anschließen, die lands, Europas und des europäischen Juden- sich beispielsweise in Kampagnen wie der tums kann man möglicherweise zum ersten internationalen BDS-Kampagne (boycott, Mal sagen, dass die Erinnerung an die Shoah divestment, sanctions) ausdrücken und ei- die israelisch-deutschen Beziehungen nicht nen vollständigen Boykott Israels und sei- trübt. Im Gegenteil: Sie trägt zu diesen Bezie- ner Produkte fordern. Diese Stimmen sind, hungen Tiefe und Ernsthaftigkeit bei, sowohl sowohl in Deutschland als auch in Israel, als Ergebnis der anhaltenden „Auseinander- bislang vor allem außerhalb der etablierten setzung“ mit der Vergangenheit als auch mit Massenmedien zu hören – im Internet und der fortdauernden Verantwortung, zu der in sozialen Netzwerken, die von Einzelper- Deutschland sich nach wie vor bekennt. Isra- sonen und zivilgesellschaftlichen Gruppen elische Medien berichten auch über Themen, betrieben werden. Dieser neue Diskurs je- die sie für die Unzulänglichkeiten Deutsch- doch, von alten Einschränkungen und Ver- lands halten – übertriebene political correct- pflichtungen befreit, kann die Art und Wei- ness, konservative und manchmal übermä- se verändern, in der wir einander sehen und ßige Vorsicht, die radikalen bis extremen wahrnehmen – nicht nur in Deutschland und Stimmen am Rande von Politik und Gesell- Israel, sondern auch in unseren stark unter- schaft oder Projektionen von Schuld auf das schiedlichen Regionen, Gesellschaften und Handeln Dritter. Aber verglichen mit den Kulturen. gegenteiligen Tendenzen geht der Anteil der kritischen Berichte immer stärker zurück.

Israels Problem liegt nicht nur in den Me- * dien, sondern auch in der Politik. Und so- lange die gegenwärtigen Tendenzen darin

18 APuZ 6/2015 Sylke Tempel nem Gedicht traf Grass offensichtlich eine Stimmungslage weiter Teile der deutschen Öffentlichkeit. Die Zustimmung in den On- Deutsche Israelbilder­ lineforen quer durch die Medienlandschaft jedenfalls war überwältigend und reichte von Dank, dass nun „endlich mal ausgesprochen Essay wird“, was man ja „nicht sagen darf“ bis hin zu ganz offen antisemitischen Postings. ass „Öffentlichkeiten“ im Netz mit un- Dgeheurer Geschwindigkeit geschaf- Dass der Nahostkonflikt zu den Aufregern fen werden, ist längst kein neues Phänomen in sozialen Medien und Leserkommentaren mehr. Günter Grass gehört, ist nicht neu. Dennoch erstaunte, in Sylke Tempel kommt jedoch das welcher Geschwindigkeit und Masse sich die Dr. phil., geb. 1963; Journalistin eher zweifelhafte Ver- Zustimmung manifestierte – und dass diese und Buchautorin; Chefredak­ dienst zu, eine der – in gewaltigem Gegensatz zur „veröffentlich- teurin der von der Deutschen im deutschen Kontext ten Meinung“ zu stehen schien. Wie schon Gesellschaft für Auswärtige jedenfalls – auffälligs- bei früheren vergangenheitspolitischen De- Politik (DGAP) herausgegebe­ ten digitalen „Mei- batten waren auch in der Diskussion um das nen Zeitschrift „Internationale nungslawinen“ losge- Gedicht zahlreiche Intellektuelle und Publi- Politik“ (IP), Rauchstraße 17–18, treten zu haben. „Was zisten vertreten. Und fast alle (mit Ausnahme 10787 Berlin. gesagt werden muss“ des französischen Publizisten Alfred Grosser [email protected] heißt das Gedicht, das und des Präsidenten der Akademie der Küns- am 4. April 2012 pa- te, Klaus Staeck) äußerten sich ablehnend rallel von der „New York Times“, dem „Cor- zum einseitigen Bild, das der Autor von der riere della Sera“ und der „Süddeutschen Zei- politischen Situation Israels gezeichnet hatte. tung“ veröffentlicht wurde und vor allem in Dass Grass die Medien ob dieser ungewöhn- Deutschland eine über mehrere Wochen an- lich einhelligen Kritik als „gleichgeschaltet“ dauernde Debatte auslöste. bezeichnete – und dass dieser Vorwurf heu- te in den Pegida-Demonstrationen mit dem Mit wenigen, inhaltlich wie literarisch eher ebenfalls aus der Terminologie des Natio- klobigen Zeilen war es dem Nobelpreisträger nalsozialismus stammenden Begriff „Lügen- für Literatur gelungen, Leitmotive anklingen presse“ aufgenommen wird –, ist schon eine zu lassen, die in der Diskussion über Israel und besondere Ironie. damit auch in der Wahrnehmung Israels immer wieder auftauchen: Nicht nur der Titel, auch Wie das Umfrageinstitut Infratest/dimap der Beginn des Gedichts („Warum schweige im Auftrag der „Welt am Sonntag“ in einer ich, verschweige zu lange …“) impliziert, es repräsentativen Umfrage im selben Jahr her- gebe ein aus der historischen Verantwortung ausfand, spiegelte die überwältigende Zustim- Deutschlands für den Holocaust entstande- mung zum Grass-Gedicht in den Onlineforen nes Tabu, Israel zu kritisieren, das, wenn ge- jedoch nicht die Mehrheitsmeinung wider: brochen, geradezu unweigerlich mit dem Vor- 58 Prozent der Deutschen waren demnach der wurf des Antisemitismus belegt werde: „Das Meinung, das iranische Atomprogramm be- allgemeine Verschweigen (…) empfinde ich drohe Israel, und 49 Prozent empfanden Iran als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in als größere Gefahr für den Frieden (18 Pro- Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird; das zent behaupteten dies für Israel, 22 Prozent Verdikt ‚Antisemitismus‘ ist geläufig.“ ❙1 waren der Ansicht, von beiden Länder gehe eine Gefahr für den Frieden aus). 75 Prozent Israel wird in Deutschland vorwiegend im gaben an, Israel könnte in Deutschland ge- Kontext eines seit Jahrzehnten andauernden nauso kritisiert werden wie andere Länder. ❙2 Konflikts wahrgenommen, in Grass’ Gedicht Die Parteipräferenz spielte bei diesen Ergeb- obendrein als die Partei, die durch beständi- ge Aggression die Haupt-, wenn nicht die al- ❙1 leinige Verantwortung dafür trage. Der isra- Das Gedicht im Wortlaut: www.sueddeutsche.de/ kultur/-1.1325809 (14. 1. 2015). elisch-palästinensische Konflikt, oder besser, ❙2 Vgl. Klare Mehrheit der Deutschen steht an Isra- Israels Verhalten, berge Grass zufolge sogar els Seite, 21. 4. 2012, www.welt.de/article106211569 die Gefährdung des „Weltfriedens“. Mit sei- (14. 1. 2015).

APuZ 6/2015 19 nissen übrigens kaum eine Rolle – mit einer tung eines Palästinenserstaates „nur“ inner- Ausnahme: Anhänger von Die Linke antwor- halb der Grenzen von 1967 zu torpedieren. ❙5 teten zu 46 Prozent, dass es eben doch ein Tabu gebe, Israel zu kritisieren – obgleich ge- Die auf wiederholte Anschläge folgenden rade diese Partei durch eine konsequente und Abriegelungen des Westjordanlandes durch zuweilen extrem kritische Haltung gegenüber die israelische Armee wurden in den deut- Israel auffällt. ❙3 schen Medien jedoch überwiegend als „Ver- geltungsmaßnahme“ porträtiert, die nur zu Dies weist auf den eigentlichen Kern der „größerer Frustration“ unter den Palästinen- Klagen über ein vermeintliches Tabu hin. sern führe. Der Begriff „Vergeltung“ wurde Kritik an Israel ist nicht „verboten“; eher (und wird) dabei meist nicht im Kontext ei- beklagen jene, die Israel überzogen, einsei- ner durchaus existierenden sicherheitspoli- tig oder verzerrend darstellen, die Kritik an tischen Doktrin der Abschreckung verwen- der Kritik. Es geht ihnen also nicht darum, det, sondern mit der immer wiederkehrenden das Recht auf Kritik zu verteidigen, son- Metapher einer Politik von „Auge um Auge, dern vielmehr darum, die eigenen Vorurtei- Zahn um Zahn“ verknüpft, was eine Verbin- le gegen Einwände zu verwahren. Das Tabu- dung zwischen „jüdischem Staat“ und „alt- „Argument“, so die Leiterin des Zentrums testamentarischem Rachegeist“ suggeriert. ❙6 für Antisemitismusforschung an der TU Ber- lin, Stefanie Schüler-Springorum, sei mithin Der positive, wenn nicht gar enthusiasti- selbst „Teil des antisemitischen Diskurses“. ❙4 sche Moment in den Monaten nach der Ver- handlungsaufnahme vor mittlerweile über 20 Jahren ist längst verflogen. Von wenigen Nichts als Konfliktpartei Ausnahmen abgesehen scheinen aus dem Na- hen Osten schlechte Nachrichten nur von Alles nur ein medialer beziehungsweise digi- noch schlechteren Nachrichten abgelöst zu taler Hype also? Schön wäre es. Der Konflikt werden. In besonders dramatischen Krisen- mit den Palästinensern ist (und bleibt vermut- zeiten wie während der Gaza-Kriege, zuletzt lich) der wesentliche Rahmen, auf den sich im August 2014, mag die Aufmerksamkeit die Berichterstattung beschränkt und in dem wieder wachsen und die Anzahl der Sonder- Israel wahrgenommen wird. Dies mag gera- sendungen zum Thema „Frieden in Nahost“ de in den Anfangszeiten des Osloer Verhand- wieder hochschnellen. Generell aber hat sich lungsprozesses noch positive Auswirkungen ein Gefühl der Ermüdung für einen Kon- auf das Bild Israels gehabt haben – die Initi- flikt breit gemacht, der auf kaum zu entwir- ative für die Verhandlungen war ja von isra- rende Weise politische, religiöse und sozia- elischer Seite ausgegangen. Premier Jitzchak le Elemente enthält. Als Haupthindernis für Rabin und dessen Außenminister Shimon einen Frieden machen Medien und Öffent- Peres galten als glaubwürdig an einem umfas- lichkeit dabei häufig den (ohne Zweifel poli- senden Frieden interessiert, und die israeli- tisch de­struk­ti­ven und völkerrechtlich inak- sche Armee zog sich nach dem Abschluss des zeptablen) Bau israelischer Siedlungen in den Grundsatzabkommens im September 1993 in besetzten Gebieten aus. Den Attentaten der kürzester Zeit aus fast allen palästinensischen Hamas wird diese Bedeutung dagegen nicht Städten zurück. Die Attentate der radikalis- zugemessen – sie werden in der medialen lamischen Hamas auf die Zivilbevölkerung in Darstellung in Deutschland bisweilen als eine Israel wurden (noch) als das gesehen, als was Art „Frustrationsabbau“ (wahlweise über die Hamas sie selbst bezeichnete: als Versu- Arbeitslosigkeit oder Perspektivlosigkeit pa- che, eine Kompromisslösung und die Errich- lästinensischer Jugendlicher) interpretiert.

❙3 So nahmen die Abgeordneten Annette Groth und ❙5 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Antisemitismus und Ingo Hoeger sowie der ehemalige außenpolitische Antizionismus in der Charta der Hamas, 4. 7. 2011, Sprecher der Partei, Norman Paech, an der umstrit- www.bpb.de/​36358 (14. 1. 2015). tenen und von türkischen Islamisten organisierten ❙6 Es handelt sich hier um ein grundsätzliches (theo- Mission der Flottilla „Mavi Marnara“ teil, die am logisches) Miss- oder Unverständnis der entspre- 31. Mai 2010 von der israelischen Armee aufgebracht chenden Stellen im 2. Buch Mose, Kap. 21: Mit die- wurde. ser Formel ist eben keine Rache beabsichtigt, sondern ❙4 „Die Fixierung der Linken auf Israel ist seltsam“, das Gegenteil: das Verbot von Willkür und Rache, an 13. 9. 2011, www.welt.de/article13601179 (14. 1. 2015). deren Stelle eine der Tat angemessene Strafe tritt.

20 APuZ 6/2015 Nur selten wird als weiterer Erklärungs- tende Abneigung gegen den jüdischen Staat. grund für das andauernde Scheitern aller 42 Prozent der Befragten haben eine negati- großen Verhandlungsrunden seit 1994 die ve Meinung von Israel, 41 Prozent stimmen Weigerung der palästinensischen Führung sogar der Aussage zu, dass das Verhalten des ausgemacht, einen Kompromiss in der Frage israelischen Staates gegenüber den Palästi- des Rückkehrrechts palästinensischer Flücht- nensern vergleichbar sei mit dem der Nazis linge zu finden. Dass Israels Premier Ehud gegenüber den Juden im „Dritten Reich“. Olmert 2008 hingegen ein weitgehendes Ver- Dass es hauptsächlich der Filter „Konflikt“ handlungsangebot unterbreitete, das von der ist, durch den Israel wahrgenommen wird, palästinensischen Seite als „unzureichend“ legen auch die Werte zur israelischen Regie- abgelehnt wurde, ❙7 hat die deutsche Öffent- rung nah: Nur 19 Prozent der Befragten ha- lichkeit kaum zur Kenntnis genommen. ben eine gute Meinung von ihr. ❙9

Vor diesem Hintergrund konnten die Er- gebnisse einer Umfrage des Magazins „Stern“, Die Deutschen desinteressieren sich die kurz vor dem Staatsbesuch von Bundes- präsident Joachim Gauck in Israel im Mai Die Feststellung, dass die Antworten eben 2012 veröffentlicht wurde, nicht weiter ver- je nach Frage unterschiedlich ausfallen und wundern. 70 Prozent der Befragten waren der dadurch zuweilen durch unmittelbar prägen- Auffassung, Israel verfolge seine Interessen de Ereignisse schwankende Resultate entste- ohne Rücksicht auf andere Völker. Dies waren hen, ist wahrlich auch für die Meinungsfor- immerhin elf Prozentpunkte mehr als bei ei- schung nicht neu. Und dennoch lässt sich ein ner vergleichbaren Umfrage vom Januar 2009, klarer Trend feststellen. Die deutsche Öf- unmittelbar nach dem ersten Gaza-Krieg, in fentlichkeit interessiert sich jenseits der Auf- dem Israel von vielen Kommentatoren Unver- regungswellen im Rahmen des Konflikts hältnismäßigkeit in seiner militärischen Ant- mit den Palästinensern nicht weiter für Isra- wort auf den Raketenbeschuss der Hamas el. Sie entfernt sich von Israel, aber auch von vorgeworfen worden war. 59 Prozent der Be- der politischen Elite in Deutschland. Deut- fragten beurteilten Israel in der „Stern“-Um- sche Politiker, inklusive der Kanzlerin, mö- frage als „aggressiv“, drei Jahre zuvor waren gen israelische Politik wie den Siedlungsbau es noch 50 Prozent gewesen. 36 Prozent fan- offen und deutlich kritisieren. Auf politisch- den Israel „sympathisch“ – ein Rückgang um diplomatischer Ebene aber sind die Bezie- neun Prozentpunkte im Vergleich zu 2009. ❙8 hungen zwischen Deutschland und Israel eng und vertrauensvoll. Die israelische ist Einiges weist darauf hin, dass Israel be- eine der wenigen Partnerregierungen, mit sonders dann an Sympathiepunkten verliert, denen die Bundesregierung regelmäßige Ka- wenn es direkt im Kontext des Nahostkon- binettstreffen abhält. Seit vielen Jahren fin- flikts bewertet werden soll – was durch Fra- det ein intensiver Austausch zwischen israe- gen nach einer grundsätzlichen „Aggres- lischen und deutschen Soldaten statt, zudem sivität“ beziehungsweise nach der Art der liefert die Bundes­republik atomar bestück- Durchsetzung seiner Interessen ja impli- bare U-Boote an ­Israel. 2011 vermittelte die ziert wird. Wird aber allgemeiner gefragt, Bundesrepublik zur Freilassung des von der so ergeben sich weniger dramatische Werte. Hamas gekidnappten israelischen Soldaten Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann- Gilad Shalit. Und nicht zuletzt nimmt Berlin Stiftung gibt immerhin knapp die Hälfte, mit einem jüngst abgeschlossenen Abkom- nämlich 46 Prozent, der Deutschen an, eine men konsularische Aufgaben für israelische positive Meinung von Israel zu haben. Die- Staatsbürger in Ländern wahr, in denen Isra­ jenigen aber, die Israel ablehnen, hegen of- el keine diplomatische Vertretung besitzt – fensichtlich fast zur Gänze eine radikale, ja was ja nichts weniger bedeutet, als dass die in der Forschung sogar als antisemitisch gel- israelische Regierung das Wohlergehen ih- rer Bürger in manchen Ländern Deutschland ­anvertraut. ❙7 Vgl. PA Rejects Olmert’s Offer to Withdraw From 93 % of West Bank, 12. 8. 2008, www..com/-1.​ 25​1​5​78 (14. 1. 2015). ❙9 Vgl. Stefan Hagemann/Roby Nathanson, Deutsch- ❙8 Vgl. Israel verliert bei den Deutschen an Ansehen, land und Israel. Verbindende Vergangenheit, tren- 12. 5. 2012, www.stern.de/​1830648.html (14. 1. 2015). nende Gegenwart?, Gütersloh 2015 (i. E.).

APuZ 6/2015 21 Die deutsche Öffentlichkeit allerdings was in einer tiefen Abneigung gegen alles Mili- scheint sich gerade im Nahostkonflikt po- tärische resultiert. Das gilt nicht nur in Bezug litische Neutralität zu wünschen. Zwar auf den Nahostkonflikt; die Ablehnung mili- befürworten laut der genannten Bertels- tärischer Interventionen, inklusive des Afgha- mann-Studie 48 Prozent der Deutschen nistan-Einsatzes der Bundeswehr, ist seit Jahr- eine diplomatisch-politische Unterstützung zehnten konstant. Für Israelis hingegen gilt ­Israels, was diese jedoch konkret bedeutet, die Lehre „Nie wieder Auschwitz“ oder auch bleibt im Ungefähren. Man darf davon aus- „Nie wieder wir“. ❙11 Und dazu gehört selbst- gehen, dass damit eine generelle Befürwor- verständlich auch die Legitimität des Einsatzes tung einer Zweistaatenlösung gemeint ist, die militärischer Mittel. Hätte es, so die geradezu eben auch Israel sichere Grenzen garantieren einhellige Auffassung in Israel, 1933 schon ei- müsste. Nur 19 Prozent hingegen sprechen nen jüdischen, zur Selbstverteidigung und zur sich dafür aus, dass auch deutsche Waffen an Rettung jüdischer Bürger fähigen Staat gege- Israel geliefert werden – in diesem Fall dürf- ben, dann wäre es nie zur Shoah gekommen. te eben doch die Mehrzahl der Bundesbür- ger mit Günter Grass übereinstimmen, der Neben diesen nicht miteinander zu verein- ja gerade die Lieferung atomar bestückbarer barenden Lehren aus der Geschichte könnten U-Boote für einen „Skandal“ hielt. auch die Lebenswirklichkeiten von Israelis und Deutschen unterschiedlicher nicht sein. Auch „die“ Vergangenheit scheint Deutsch- Deutschland ist postmilitärisch, postnationa- land nicht mehr so stark mit Israel zu verbin- listisch und postreligiös. Israel ist und kann den. Die Mehrheit der Befragten in der Ber- nichts davon sein. Deutschland ist spätestens telsmann-Studie, nämlich 61 Prozent, erkennt nach 1989 nur von Freunden umgeben; Eu- zwar eine besondere, nicht näher bestimmte ropa befand sich wenigstens bis zur Ukrai- Verantwortung Deutschlands aufgrund sei- ne-Krise in einer außergewöhnlich günstigen ner Geschichte an, aber die Bereitschaft zur Sicherheitslage. Deutschland hat sich in den Auseinandersetzung mit dem Zweiten Welt- vergangenen Jahrzehnten immer stärker in die krieg und mit dem Mord an den europäischen Europäische Union integriert, ja es ist einer Juden bleibt offensichtlich selbstbezogen der wesentlichen Treiber der Integration. Is- und in gewisser Weise politisch konsequenz- rael war eine Integration in die Nachbarschaft los. Denn nur 40 Prozent der Befragten emp- verwehrt (mit Ausnahme des kalten Friedens finden eine Verantwortung für das jüdische mit Ägypten und Jordanien, der gänzlich Volk. Klar ist: Dass die Sicherheit Israels – aus auf Kontakte zwischen politischen Entschei- der der militärische Aspekt von „Sicherheit“ dungsträgern beschränkt blieb). Deutschland ja nicht ausgeblendet werden kann – zur deut- verfügt (spätestens seit 1990) über sichere und schen Staatsräson zählen soll, wie Bundes- klar definierte Grenzen; Israels Grenzverlauf kanzlerin Angela Merkel 2008 im israelischen ist bis zu einem Endstatus-Abkommen mit Parlament betonte, ❙10 leuchtet einer großen den Palästinenser umstritten, sein Existenz- Mehrheit der Bundesbürger wohl weder ein, recht wird von zahlreichen staatlichen und noch wäre auf große Unterstützung der deut- nichtstaatlichen Kräften in der Region be- schen Gesellschaft zu hoffen, sollte diese Si- stritten, und der Zerfallsprozess arabischer cherheit tatsächlich auch durch deutsche Waf- Staaten in der Region scheint unaufhaltsam. fen garantiert werden müssen. Einem vielleicht wachsenden Patriotismus in Deutschland zum Trotz ist und bleibt das Ursachenforschung Thema „Nation“ ein schwieriges – zudem gibt Deutschland im Rahmen der EU natio- Welche Gründe mag es für die Entfremdung nale Souveränität bewusst ab. In Israel ist das geben? Deutsche und Israelis haben ganz ver- nation-building dagegen nicht abgeschlossen, schiedene Lehren aus der Geschichte gezogen: solange es auch nicht über sichere Grenzen „Nie wieder Krieg“ auf der deutschen Seite,

❙11 Diana Pinto, Ein Minenfeld von Missverständ- ❙10 Vgl. Merkel: Wir sind mit Israel auf immer ver- nissen, in: Internationale Politik (IP), (2015) 1, bunden, 18. 3. 2008, www.faz.net/-1513658.html (14. 1. ​ S. 120–132, https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die- 2015). Siehe hierzu auch den Beitrag von Markus zeitschrift/archiv/jahrgang-2015/januar-februar/ein- Kaim in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). minenfeld-von-missverstaendnissen (14. 1. 2015).

22 APuZ 6/2015 verfügt. Zudem lehnt ein nicht geringer Teil Marcel Serr der israelischen Bevölkerung – die Ultraor- thodoxen – den jüdischen Staat aus religiösen Gründen ab, während die arabische Bevölke- Zur Geschichte der rung – immerhin fast ein Viertel der in Israel lebenden Menschen – den Gründungsmythos deutsch-israelischen Israels nicht teilen kann. Sie ist ja nicht in das Land ihrer Vorväter zurückgekehrt, um dort endlich selbstbestimmt und als Mehrheit im Rüstungs­kooperation eigenen Staat zu leben. Der jüdische Staat ist bei seiner Gründung 1948 in Form einer „Ka- nde September 2014 wurde im Hafen von tastrophe“ (Nakba) über sie gekommen. EHaifa die Ankunft der „INS Tanin“ ge- feiert. Damit nahm das vierte in Deutschland Und schließlich: Über 60 Prozent der Is- produzierte U-Boot raelis mögen sich als säkular bezeichnen, sie der Dolphin-Klasse in Marcel Serr fühlen sich aber der jüdischen Tradition und der israelischen Ma- M. A., geb. 1984; Historiker Geschichte durchaus verpflichtet. Dies hat rine den Dienst auf. und Politikwissenschaftler, auch eine politische Dimension: Würde die Zwei weitere sollen in promoviert an der Universität jüdische Bevölkerung Israels ihre historische den nächsten Jahren zum Thema der An­ Verbindung zum „Heiligen Land“ kappen, folgen. Im Gegenzug passungs- und Lernfähigkeit dann würde sie auch ihr Recht auf die Exis- hat die Bundeswehr der israelischen Streitkräfte; tenz eines jüdischen Staates an diesem Ort israelische Drohnen wissenschaftlicher Assistent am unterminieren. Die deutsche Gesellschaft für den Afghanistan- Deutschen Evangelischen Insti­ hingegen wird immer säkularer, durchaus im einsatz geleast und tut für Altertumswissenschaft Sinne von „religiös unmusikalisch“ oder gar lässt deutsche Solda- des Heiligen Landes, areligiös. Religiöse Aspekte eines Konflikts ten von den Streit- P. O. Box 18463, sind ihr zutiefst suspekt. kräften Israels (Israel 91184 ­Jerusalem/​Israel. Defense Forces, IDF) [email protected] Diese trennenden Elemente sind nicht zu in urbaner Kriegs- überwinden, da sie völlig unterschiedlichen führung ausbilden. ❙1 Dies sind aktuelle Bei- politischen Umständen geschuldet sind. Sehr spiele für die Rüstungskooperation zwischen wohl aber könnten sie zur Kenntnis genom- Deutschland und Israel. Die Zusammenar- men – und als mögliche Ursache für die Un- beit der beiden Staaten in diesem sensiblen terschiedlichkeit politischen Handelns oder Politikbereich hat jedoch eine lange und teil- die Unterschiedlichkeit der Bewertung von weise geheimnisumwitterte Geschichte – sie politischem Handeln verstanden werden. In- begann rund zehn Jahre vor der formalen des: Es fehlt, wie Shimon Stein, der ehemali- Aufnahme der diplomatischen Beziehungen ge Botschafter Israels in Deutschland, einmal 1965. beklagte, an „Empathie“ ❙12 – und das könnte man durchaus als mangelnde Bereitschaft in- terpretieren, den jüdischen Staat jenseits der Anfänge Vergangenheit und innerhalb seiner gesam- ten schwierigen Gegenwart wahrzunehmen. Die Anfänge der deutsch-israelischen Rüs- Solange diese Empathie fehlt, solange Israel tungskooperation liegen in den 1950er Jah- nur als Konfliktpartei wahrgenommen wird, ren. Der junge jüdische Staat sah sich einer nicht aber in seiner gesamten politischen Brei- feindseligen arabischen Nachbarschaft gegen- te, nicht in seiner gesamten Komplexität, dürf- über und suchte händeringend nach Kriegsge- te die Entfremdung der deutschen Öffentlich- rät für die noch im Aufbau befindliche IDF. keit von Israel wohl noch weiter wachsen. Die Bundesrepublik schien hierfür ein ver- lässlicher Partner zu sein. Die Politik des ers- ten Bundeskanzlers Konrad Adenauer war 12 ❙ Vgl. „Germany is a Bridgebuilder“, in: IP – Trans- von einer moralischen Verpflichtung gegen- atlantic Edition, (2005) Fall, https://ip-journal. dgap.org/ip-journal/topics/„germany-bridgebuil- der“ (14. 1. 2015). ❙1 Vgl. Thorsten Jungholt, Bundeswehr soll in Isra- el den Tunnelkampf lernen, 10. 8. 2014, www.welt.de/ politik/deutschland/article131057577 (2. 1. 2015).

APuZ 6/2015 23 über Israel geprägt. Nach Abschluss des Lu- Nachbarstaaten wurden in erster Linie aus xemburger Abkommens 1952 ❙2 kam es daher den Arsenalen Moskaus versorgt. Bereits nach zu vorsichtigen Annäherungsversuchen zwi- der Suezkrise 1956 stellte Israels Militär den schen beiden Staaten im Bereich der Rüstung. Deutschen erbeutete sowjetische Waffentech- Schon Anfang der 1950er Jahre erwarb Israel nologie zur Verfügung. Darüber hinaus liefer- Dual-use-Güter von Deutschland – Güter, die te Israel unter anderem Munition, Uniformen sowohl im zivilen als auch im militärischen und allem voran die berühmte israelische Uzi- Sektor genutzt werden können (zum Beispiel Maschinenpistole an die B­ undeswehr. ❙5 Fahrzeugketten). Der erste größere Waffen- deal 1956/57 umfasste zwei Patrouillenboote In Israel wurden derartige Geschäfte mit von der Bremer Jacht & Bootswerft Burmes- Deutschland anfangs kritisch gesehen. Als ter, die noch bis in die 1980er Jahre wichtiger im Sommer 1959 Munitionsexporte nach Bestandteil der israelischen Marine waren. ❙3 Deutschland bekannt wurden, brach ein Sturm der Entrüstung in der Knesset los. Isra- Die Intensivierung der bilateralen Rüstungs- els Premierminister David Ben Gu­ rion mach- zusammenarbeit ist in erster Linie Shimon Pe- te jedoch unmissverständlich klar: „Nur Idi- res, damals Generaldirektor im israelischen oten und politische Scharlatane (…) können Verteidigungsministerium, und dem damali- nicht einsehen, dass es Israels Position in der gen Bundesverteidigungsminister Franz Jo- Welt, seiner Zukunft und vielleicht sogar sei- sef Strauß zuzuschreiben. Im Winter 1957 ner Existenz schaden würde, wenn wir uns kam es zu einem ersten, konspirativen Tref- eine Großmacht, deren politisches und öko- fen in Strauß’ Privathaus in Rott am Inn. Peres nomisches Gewicht ständig zunimmt, zum war zuvor inkognito in Paris gelandet, hatte Feind machen und den Arabern als Verbünde- sich das kleinste Auto gemietet, das er finden te überlassen. (…) Und ich sehe keine morali- konnte, und sich über vereiste, neblige Straßen schen, emotionalen oder andere Hindernisse auf nach Oberbayern gemacht. Während der dagegen, ebenso wenig wie ich ein moralisches abenteuerlichen Fahrt versagte nicht nur die oder emotionales Verbot für Gespräche mit Autoheizung, sondern Peres verfuhr sich noch England akzeptiere, obwohl England früher kurz vor dem Ziel. Diskret versuchte er, nach Juden aus seinen Landesgrenzen vertrieben dem Weg zu fragen, und bekam mit dem wenig hat – ich kenne keine Nation der Welt, die das diplomatischen Kommentar „Ach, Sie wollen nicht getan hat. Adenauer ist nicht Hitler.“ ❙6 zum Verteidigungsminister Strauß!“ den Weg gewiesen. Schließlich angekommen, markierte Ab 1962 wurde die Rüstungskooperation das Treffen den Beginn einer geheimen, aber ausgeweitet. War bisher in erster Linie über- engen Kooperation zwischen den Verteidi- schüssiges und ausgemustertes deutsches gungsministerien Deutschlands und Israels. ❙4 Kriegsmaterial nach Israel verschifft worden (unter anderem LKWs und Panzerabwehr- Schon in der Anfangsphase handelte es sich raketen), konzentrierten sich die folgenden dabei keineswegs um eine Einbahnstraße. Die Waffenlieferungen auf militärisches Großge- Kooperation mit Israel hatte auch für die Bun- rät. Auf Israels Wunschliste standen Schnell- desrepublik eine sicherheitspolitische Rele- boote, U-Boote, Haubitzen, Hubschrauber, vanz: Bonn benötigte dringend geheimdienst- Transportflugzeuge, Panzer und Flugabwehr- liche Erkenntnisse über die Waffensysteme der geschütze in einem Gesamtwert von 240 Mil- So ­wjet­union. Israel war hierfür die perfekte lionen DM. ❙7 Adenauer gab im August 1962 Informationsquelle, denn dessen arabische grünes Licht für die Lieferungen, die unter

❙2 Darin wurden langfristige finanzielle Entschädi- ❙5 Vgl. Niels Hansen, Geheimvorhaben „Frank/Kol“. gungen durch die Bundesrepublik an Israel und an Zur deutsch-israelischen Rüstungszusammenarbeit individuelle Opfer der Naziverbrechen vereinbart. 1957–1965, in: Historisch-politische Mitteilungen, 6 ❙3 Vgl. Yeshayahu A. Jelinek, Zwischen Moral und (1999), S. 229–264, hier: S. 230, S. 234; Y. A. Jelinek Realpolitik, Gerlingen 1997, S. 69 f.; Shlomo Shpiro, (Anm. 3), S. 71 f. Communicating Interests Across History, in: Haim ❙6 Zit. nach: Tom Segev, The Seventh Million, New Goren (Hrsg.), Germany and the Middle East, Jeru- York 1991, S. 314. salem 2003, S. 318. ❙7 Vgl. Aufzeichnung von Carstens, 4. 1. 1965, Anl. 3, ❙4 Vgl. Franz Josef Strauß, Erinnerungen, Berlin in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesre- 1989, S. 377–381; Shimon Peres, David’s Sling, New publik Deutschland (AAPD) 1965, Bd. 1, München York 1970, S. 69 ff. 1996, S. 10.

24 APuZ 6/2015 höchster Geheimhaltung vonstattengehen ärgert, verwies auf die Erpressbarkeit Bonns sollten, um die arabischen Staaten nicht zu und bestand auf die Lieferung der verein- verärgern. Die Zahl der Eingeweihten wurde barten Waffensysteme. Israels Premiermi- so gering wie möglich gehalten. Auch die Lie- nister Levi Eshkol erklärte in der Knesset: ferung der Waffensysteme musste vertuscht „Deutschland trägt eine beispiellose, schwere werden. ❙8 Verteidigungsminister Franz Josef Verantwortung. Es ist seine Pflicht, Israel mit Strauß berichtete von abenteuerlichen Metho- der für seine Sicherheit notwendigen Ausrüs- den: „Wir haben die Israel zugesagten Gerä- tung beizustehen; eine Entschädigung und te und Waffen heimlich aus den Depots der Ersatzleistung können nicht an Stelle der Er- Bundeswehr geholt und hernach als Ablen- füllung dieser Verpflichtung treten.“ ❙11 kungsmanöver bei der Polizei in einigen Fäl- len Diebstahlanzeige erstattet.“ ❙9 Nicht alles Gleichzeitig versuchte Bonn, Nasser vom verlief reibungslos: M-48-Panzer, die für Is- Verzicht oder zumindest vom Aufschub des rael bestimmt waren, blieben etwa auf dem Ulbricht-Besuchs zu überzeugen. Doch ver- Bahntransport nach Italien in einem Tunnel geblich – vom 24. Februar bis 1. März 1965 stecken. Israel war mit den Waffenlieferungen besuchte Ulbricht das Land am Nil. Die Bun- durchaus zufrieden – Shimon Peres bemerk- desrepublik stellte daraufhin die Wirtschafts- te: „Die Qualität war ausgezeichnet und der hilfe für Ägypten ein und zog den Botschaf- Umfang beträchtlich – im Vergleich zu dem, ter zurück. Die DDR sprang mit bilateralen was wir gewohnt waren (…). Zum ersten Mal Abkommen über die Zusammenarbeit in ver- fühlte sich die ärmliche israelische Armee, die schiedenen Bereichen ein (Wirtschaft, Kul- mit ihren kargen Beständen aufs äußerste hat- tur, Wissenschaft). Im Gegenzug kündigte te knausern müssen, fast verwöhnt.“ ❙10 Kairo die Eröffnung eines Konsulats in Ost- Berlin an. ❙12

Deutsche Nahostkrise Auch das Verhältnis zwischen Bonn und Je- rusalem war eisig. Im März 1965 wurde daher Im Herbst 1964 wurde in der ägyptischen der CDU-Abgeordnete Kurt Birrenbach nach Presse von der deutsch-israelischen Rüs- Israel geschickt, um als Kompensation für die tungskooperation berichtet. Schlagartig ver- ausbleibenden Waffenlieferungen die Auf- schärfte sich die Rhetorik der arabischen nahme diplomatischer Beziehungen anzubie- Staaten: Sie drohten, die DDR anzuerken- ten. Jahrelang hatte sich die Bundesrepublik nen, sollte die Bundesrepublik den jüdischen vor diesem Schritt gescheut. Denn in Zeiten Staat weiterhin militärisch unterstützen. Als der Hallstein-Doktrin fürchtete Bonn die Ge- Reaktion auf die Waffenlieferungen kündig- genreaktion der arabischen Staaten: die Aner- te Ägyptens Staatschef Gamal Abdel Nasser kennung der DDR und – dem Automatismus im Januar 1965 den Besuch des DDR-Staats- der Doktrin folgend – der Abbruch der Bezie- ratsvorsitzenden Walter Ulbricht an. In Bonn hungen seitens der Bundesrepublik zu diesen schrillten die Alarmglocken. Sollte dies der Staaten. ❙13 Nach zähen Verhandlungen einig- erste Schritt zur Anerkennung der DDR ten sich Deutschland und Israel, die ausste- sein? Entsprechend der Hallstein-Doktrin henden Lieferungen in eine Ablösesumme von würde dies automatisch den Abbruch der di- 140 Millionen DM umzuwandeln. Mit diesem plomatischen Beziehungen zu Kairo nach Geld konnte Israel die Waffen anderweitig ein- sich ziehen. Die Regierung unter Ludwig Er- kaufen. Nachdem dies geklärt war, stand der hard wurde nervös und ließ verlauten, fortan Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen Waffenlieferungen in Spannungsgebiete ein- am 12. Mai 1965 nichts mehr im Wege. ❙14 zustellen – dies treffe auch auf Israel zu. Bonn versuchte, die Israelis von der Umwandlung ❙11 Zit. nach: N. Hansen (Anm. 5), S. 257 f. der Waffenlieferungen in andere Güter zu ❙12 Vgl. Dalia Abu Samra, Deutschlands Außen- überzeugen. Doch Jerusalem reagierte ver- politik gegenüber Ägypten, Diss. FU Berlin 2002, S. 66 ff. Zu den deutsch-deutschen Zusammenhängen siehe auch den Beitrag von Lorena De Vita in dieser ❙8 Vgl. Aufzeichnung Pauls, 21. 10. 1964, in: AAPD Ausgabe (Anm. d. Red.). 1964, Bd. 2, München 1995, S. 1164 ff.; N. Hansen ❙13 Vgl. S. Peres (Anm. 4), S. 68, S. 83 ff. (Anm. 5), S. 241 ff. ❙14 Vgl. N. Hansen (Anm. 5), S. 260–263. Unmittel- ❙9 F. J. Strauß (Anm. 4), S. 381. bar nach Aufnahme der Beziehungen zogen 13 arabi- ❙10 S. Peres (Anm. 4), S. 72. sche Länder ihre Botschafter aus Bonn ab. In einigen

APuZ 6/2015 25 Gegenseitiger Nutzen im Kalten Krieg Leopard II wurde daher mit einer 120 mm Glattrohrkanone ausgestattet. Die techno- Nach der Aufnahme diplomatischer Bezie- logischen Rückschlüsse der deutschen Inge- hungen und den Beteuerungen deutscher nieure wurden wiederum an das israelische Politiker, keine Waffen mehr in den Nahen Militär weitergegeben. Die gleiche Kanone Osten zu liefern, ging die Rüstungskoope- wurde Ende der 1980er Jahre auch im israeli- ration in angepasster Form weiter. Zum ei- schen Merkava III verbaut. ❙17 nen rückten unauffälligere Rüstungsgüter (wie Funk-, Radar- und Navigationsgeräte) In den 1970er Jahren kam es zum geheimen sowie Einzelteile für die Waffenproduktion und bis dahin größten deutsch-israelischen ins Zentrum deutscher Exporte nach Israel. Rüstungsprojekt: Unter dem Codenamen Eine gewichtige Rolle spielten hierbei Die- „Cerberus“ wurde Israel mit der Entwick- selmotoren der Motoren- und Turbinen-Uni- lung eines Radarstörsenders für den neuen on Friedrichshafen (MTU) und Getriebe der Tornado-Kampfbomber der deutschen Luft- Augsburger Firma Renk für die israelischen waffe beauftragt. Das elektronische Kampf- Merkava-Kampfpanzer. Dagegen wurden die mittel (im Militärjargon: Tornado Self-Pro- Munitionslieferungen Israels nach Deutsch- tection Jammer, TSPJ) sollte es dem Flugzeug land unverändert beibehalten. Zwischen 1977 erlauben, von sowjetischen Radarstationen und 1991 nahmen sie einen Umfang von rund unentdeckt Ziele weit hinter dem Eisernen 1,3 Milliarden DM an. ❙15 Vorhang zu bekämpfen. ❙18 Nach der Fertig- stellung wurden die deutsche Luftwaffe und Zum anderen konzentrierte sich die Zu- die Israeli Air Force (IAF) mit dem damals sammenarbeit auf die gemeinsame Beurtei- weltweit fortschrittlichsten System ausge- lung von gegnerischen Waffensystemen und stattet, das seine Leistungsfähigkeit im Li- die Waffenentwicklung. Israel war aufgrund banonkrieg 1982 beeindruckend unter Be- fortdauernder Konflikte mit den arabischen weis stellte. Die IAF zerstörte 16 syrische Staaten und des entsprechenden kontinu- Luftabwehrbatterien an einem Tag und ierlichen Zugangs zu sowjetischer Militär- schoss über 120 syrische Kampfflugzeuge technologie ein wertvoller Partner. ❙16 Israels ohne eigene Verluste ab. Nach diesem Erfolg Auslandgeheimdienst Mossad teilte mit der blieb die elektronische Kriegsführung ein Bundesrepublik die Auswertung der erbeu- Sektor mit besonders engen Kontakten zwi- teten Waffensysteme, teilweise wurde deut- schen Deutschland und Israel. ❙19 schen Experten auch direkter Zugang zu den Waffen gewährt. Die deutsche Rüstungsin- Ab den 1970er Jahren rückten für die Bun- dustrie profitierte davon enorm, da diese Er- desrepublik neben der Bedrohung durch den kenntnisse in die Entwicklung und Produk- Warschauer Pakt die Gefahren des nationalen tion neuer Waffensysteme einflossen. Die und internationalen Terrorismus verstärkt in Kenntnisse über den sowjetischen T-62-Pan- den sicherheitspolitischen Fokus. Hierbei bot zer und BMP-1-Schützenpanzer, die die Is- sich Israel mit seiner langen Erfahrung in der raelis im Jom-Kippur-Krieg erbeutet hatten, Terrorbekämpfung als Ideengeber und Bera- wirkten sich direkt auf die Entwicklung des ter an. So waren Israels Spezialeinheit Sajeret deutschen Leopard-II-Panzers und des Mar- Matkal und die Antiterroreinheit YAMAM der-Schützenpanzers aus: So wurde festge- Vorbilder beim Aufbau der deutschen GSG 9 stellt, dass das Standardkaliber der NATO der Bundespolizei. ❙20 mit 105 mm nicht genug Schaden an der neu- en sowjetischen Panzerung anrichtete. Der ❙17 Vgl. O. Nassauer (Anm. 15); S. Shpiro (Anm. 3), S.. 322 f arabischen Ländern kam es auch zu Demonstrati- ❙18 Vgl. S. Shpiro (Anm. 3), S. 323 f. onen vor den bundesdeutschen Botschaften. Vgl. ❙19 Vgl. ders., Shadowy Interests. West German-Is- D. A. Samra (Anm. 12), S. 80–83. raeli Intelligence and Military Cooperation, 1957– ❙15 Vgl. Otfried Nassauer, Besondere Beziehungen. Die 1982, in: Clive Jones/Tore T. Petersen (Hrsg.), Israel’s deutsch-israelische Rüstungskooperation, Berlin 2010, Clandestine Diplomacies, Oxford 2013, S. 182 ff. www.bits.de/public/bes-beziehungen.htm (2. 1. 2015). ❙20 Vgl. S. Shpiro (Anm. 3), S. 317. Die GSG-9 wur- ❙16 So hatte Israel beispielsweise als erstes westliches de 1972 gegründet. Anlass hierzu gab der gescheiter- Land direkten Zugriff auf einen MiG-21-Kampfjet. te Polizeieinsatz zur Beendigung der Geiselnahme der Vgl. Ian Black/Benny Morris, Israel’s Secret Wars, israelischen Mannschaft während der Olympischen New York 1991, S. 206–210. Spiele in München durch palästinensische Terroristen.

26 APuZ 6/2015 Aus Rücksichtnahme auf die arabischen rungs- und Zielerfassungssysteme Litening Staaten war Geheimhaltung stets ein wich- Pod und Recce Lite an. ❙24 tiger Faktor der Kooperation. In Bonn und Jerusalem präferierte man daher persönliche, informelle Kontakte, um unkompliziert und Deutsche U-Boote für Israels Marine ohne großes Aufsehen agieren zu können. ❙21 In jüngster Zeit steht die Lieferung deutscher U-Boote an Israel im Zentrum der Rüstungs- Intensivierung nach dem Ende kooperation. Schon Mitte der 1980er Jahre des Kalten Krieges bemühte sich Israel um die Entwicklung neu- er U-Boote beim Ingenieurkontor Lübeck Mit der Vereinigung Deutschlands 1990 und (IKL) und der Howaldtswerke-Deutsche dem Ende des Kalten Krieges veränderte sich Werft (HDW). Doch die Produktionskos- die Rüstungszusammenarbeit der beiden ten überstiegen die Möglichkeiten Jerusalems Länder. Es kam vermehrt zur offenen und bei Weitem. Erst mit dem Golfkrieg 1990/91 direkten Zusammenarbeit von deutschen änderte sich diese Situation: Der irakische und israelischen Rüstungsunternehmen und Machthaber Saddam Hussein feuerte Rake- zu intensiveren Beziehungen im Bereich ten auf Israel ab und drohte, diese mit che- der militärischen Forschung und Entwick- mischen Gefechtsköpfen zu versehen. Wie lung. ❙22 Zunächst lieferte Deutschland eine sich herausstellte, hatten deutsche Unterneh- Großzahl sowjetischer Waffensysteme aus men maßgeblichen Anteil an der Entwick- den NVA-Beständen an Israel. Zur Tarnung lung und Produktion der irakischen Che- wurden die brisanten Gerätschaften vom miewaffen; wesentliche Bauteile, Substanzen BND als zivile Güter ausgegeben. Doch im und Know-how stammten aus der Bundesre- Oktober 1991 entdeckte die Polizei in Ham- publik. ❙25 Die Regierung unter Helmut Kohl burg eine dieser Lieferungen: 14 Container geriet in Erklärungsnot gegenüber Jerusalem voll mit Waffen – darunter Panzerwagen, und sagte die Finanzierung von zwei U-Boo- Raketen, Ersatzteile für den T-72-Panzer ten (Gesamtpreis rund 880 Millionen DM) und die Radareinheit des MiG-29-Kampf- als Teil eines kompensatorischen Hilfspa- jets – waren als „land- und forstwirtschaft- kets an Israel zu. Das Verteidigungsministe- liches Gerät“ deklariert worden. ❙23 rium hatte ohnehin ein starkes Interesse an einem solchen Großauftrag, um die Fähigkei- Mit der erfolgreichen Entwicklung des ten deutscher Unternehmen zum Bau solcher Cerberus-Systems hatte sich Israel als kom- Waffensysteme am Leben zu erhalten, bis die petenter Partner in komplexen Hightech- Bundesmarine selbst die Mittel zum Auftrag Rüstungsprojekten etabliert. Die israelische für eigene neue U-Boote (U-212A) einrei- Rüstungsindustrie konzentrierte sich auf chen konnte. 1994/95 wurde vereinbart, ein hochtechnologische und vielseitig kompa­ drittes U-Boot zu produzieren. Die U-Boo- tible Komponenten in den Bereichen Avio- te der Dolphin-Klasse wurden 1999/2000 nik, Sensorik, Kommunikationselektronik nach Israel überstellt. ❙26 Es handelte sich da- und elektronische Kriegsführung. Die Ko- bei um die ersten größeren Rüstungsexporte operation mit deutschen Rüstungsunter- Deutschlands nach Israel seit 1965. nehmen als Türöffner für den europäischen Markt ermöglichte deutsch-israelischen Joint Ventures lukrative Geschäfte. So erhielten die ❙24 Vgl. O Nassauer (Anm. 15); ders./​C. Steinmetz deutsche DASA und die israelische Firma El- (Anm. 22), S. 28 f. ❙25 bit 1999 den Zugschlag zur Modernisierung Vgl. Hans Leyendecker/Richard Rickelmann, Die Giftgaslieferungen an den Irak waren kein Zufall – der griechischen Phantom-Kampfflugzeuge. deutsche Waffenexporte in den Nahen Osten, in: Ge- Zeiss Optronics und das israelische Unter- werkschaftliche Monatshefte, 42 (1991), S. 203–207. nehmen Rafael bieten gemeinsam die Aufklä- ❙26 Vgl. S. Shpiro (Anm. 3), S. 326 f. Die U-Boote der Dolphin-Klasse weisen eine markante Besonder- heit auf: Sie verfügen über Torpedorohre mit vergrö- ❙21 Vgl. O. Nassauer (Anm. 15). ßertem Durchmesser (650 mm anstatt der üblichen ❙22 Vgl. ders./Christoph Steinmetz, Rüstungskoope- 533 mm). Militärexperten sind überzeugt, dass Isra- ration zwischen Deutschland und Israel, Berlin 2003, el dadurch nuklearbestückte Marschflugkörper ab- S. 5. feuern kann. Vgl. Otfried Nassauer, Sechs Dolphin- ❙23 Vgl. S. Shpiro (Anm. 3), S. 325 f. U-Boote für Israels Abschreckung, Berlin 2011.

APuZ 6/2015 27 2002/03 bemühte sich Israel um weitere deut- Bundesrepublik gegenüber Israel aufgrund sche U-Boote mit einem neuartigen Brenn- der Shoah, greifen als Erklärungsversuche je- stoffzellenantrieb, der es erlaubt, noch länger doch zu kurz. Vielmehr hatten beide Staaten unter Wasser zu bleiben (Dolphin II). Für Is- auch gewichtige sicherheitspolitische Interes- raels Marine sind diese Waffensysteme uner- sen an der Kooperation im Rüstungsbereich. lässlich – sie sind die einzige Möglichkeit, um Israel benötigte so schnell wie möglich Waf- unbemerkt im Arabischen Meer und Indischen fen, um gegen die arabischen Nachbarstaaten Ozean zu operieren. ❙27 Erneut war die Finan- bestehen zu können, und Deutschland suchte zierungsfrage die entscheidende Hürde. Bun- dringend nach geheimdienstlichen Informa- deskanzler Gerhard Schröder stellte 2002 klar: tionen über sowjetische Waffensysteme, um „Israel bekommt das, was es für die Aufrecht- sich als Frontstaat im Kalten Krieg militärisch erhaltung seiner Sicherheit braucht, und es be- zu wappnen. Die deutsch-israelische Zusam- kommt es dann, wenn es gebraucht wird.“ ❙28 menarbeit verlief zur beidseitigen Zufrieden- Entsprechend half die Bundesregierung mit heit und schuf so das notwendige Vertrauen der Finanzierung. Israel bestellte zwei neue zur späteren formalen Aufnahme der diplo- U-Boote im Wert von etwa einer Milliarde matischen Beziehungen. Euro, Deutschland trug ein Drittel der Kos- ten. Schröder unterzeichnete diese Regelung Neben dieser bedeutenden politischen Im- 2005 am letzten Arbeitstag der rot-grünen Re- plikation hatte die deutsch-israelische Rüs- gierung. Unter Bundeskanzlerin Angela Mer- tungszusammenarbeit auch eine militärische kel wurde im Mai 2006 die Baugenehmigung Relevanz: Sie leistete einen wesentlichen Bei- für das sechste Dolphin-U-Boot erteilt. ❙29 trag zur Steigerung der militärischen Stär- ke beider Streitkräfte. Auf israelischer Sei- te trug die Kooperation zu technologischen Reflexionen und militärischen Fähigkeiten bei, die maß- geblichen Anteil an den Erfolgen der IDF ab Ein zentrales Charakteristikum der deutsch- 1967 hatten. Die deutsche Luftwaffe nutzte israelischen Rüstungskooperation war lan- israelische Technologie in der elektronischen ge deren strenge Geheimhaltung. Hieran hat- Kriegsführung bei Lufteinsätzen im Jugosla- ten beide Seiten ein großes Interesse: Anfangs wienkonflikt und im Kosovo in den 1990er war die Zusammenarbeit mit Deutschland in Jahren. Derzeit schätzt die Bundeswehr vor Israel äußerst unpopulär. Noch Anfang der allem die israelische Drohnentechnologie 1950er Jahre hatte die Knesset vor der Wieder- und die Erfahrung der IDF in asymmetri- bewaffnung Deutschlands gewarnt und „tiefe schen Konfliktszenarien. Furcht“ bekundet. Der israelische Abgeord- nete Jitzchak Tabenkin warf Ben Gurion vor, Einen besonderen Stellenwert nehmen die er begehe den größten Fehler seines Lebens. ❙30 deutschen U-Boot-Lieferungen an Israel Bonn fürchtete dagegen die internationalen ein. Sehr wahrscheinlich können diese Waf- Konsequenzen einer offenen Zusammenarbeit fensysteme Marschflugkörper abfeuern, die durch die arabischen Staaten. Die Regierun- auch mit Nuklearsprengköpfen ausgestattet gen der beiden Länder gingen daher mit der werden könnten. Angesichts der hohen Mo- Rüstungszusammenarbeit gerade in der Früh- bilität, der schweren Ortung der U-Boote so- phase große Risiken ein. Verweise auf das Kal- wie der vermuteten nuklearen Fähigkeiten Is- kül Israels, in Deutschland einen an Wieder- raels würde dies den jüdischen Staat mit einer gutmachung interessierten Partner zu haben, nuklearen Zweitschlagfähigkeit ausstatten. sowie auf die moralische Verpflichtung der Insofern kommt dieser deutschen Waffenlie- ferung eine maßgebliche strategische Bedeu- ❙27 Vgl. O. Nassauer (Anm. 15). tung für Israels Sicherheit zu. ❙28 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 25. 4. ​ 2002, S. 23115. Ein Blick auf die deutsche Waffenexport- ❙29 Vgl. O. Nassauer (Anm. 15); Muriel Asseburg/Jan politik in toto zeigt, dass Israel gegenwärtig Busse, Deutschlands Politik gegenüber Israel, in: Tho- zu den wichtigsten Empfängerländern deut- mas Jäger/Alexander Höse/Kai Oppermann (Hrsg.), schen Militärgeräts zählt. Doch ist der Nahe Deutsche Außenpolitik, Sicherheit, Wohlfahrt, Insti- tutionen, Normen, Wiesbaden 2011, S. 698–705. und Mittlere Osten insgesamt ein bedeuten- ❙30 Vgl. N. Hansen (Anm. 5), S. 235 ff.; Y. A. Jelinek der Absatzmarkt für deutsche Rüstungsgüter: (Anm. 3), Dok. 172, S. 504. Der Anteil deutscher Waffenexporte in die

28 APuZ 6/2015 Region stieg von 17 Prozent (2011) auf 34 Pro- Lorena De Vita zent (2012). 2013 ging noch rund ein Viertel der deutschen Waffenlieferungen in den Na- hen Osten. ❙31 Waren die arabischen Staaten Annäherung lange zweitrangige Empfängerländer, änder- te sich dies in den 2000er Jahren: 2005 lie- im Schatten der ferte Deutschland Fuchs-Spürpanzer an die Vereinigten Arabischen Emirate, Ende 2014 unterstützte Berlin den Kampf der Peschmer- ­Hallstein-Doktrin: ga-Armee gegen den „Islamischen Staat“ mit Waffen und Kommunikationsgeräten, und im Das deutsch-deutsch- April 2014 wurde die Lieferung von Patrouil- lenbooten im Wert von über einer Milliarde Euro an Saudi-Arabien vereinbart. ❙32 israelische 1965

Durch die fortwährende Rüstungskoope- ur zwei Monate nachdem Bundeskanz- ration mit Israel agiert die Bundesrepublik in Nler Ludwig Erhard im März 1965 einen jüngster Zeit gegen den europäischen Main- entsprechenden Vorschlag formuliert hatte, stream. Während sich einige europäische nahmen die Bundes- Länder im Herbst 2014 zu Schritten der uni- republik Deutschland Lorena De Vita lateralen Anerkennung eines palästinensi- und der Staat Isra- M. A., geb. 1987; Politikwissen­ schen Staates hinreißen ließen und damit el volle diplomatische schaftlerin, Doktorandin am angesichts verheerender palästinensischer Beziehungen auf. 1965 Department of International Terroranschläge in Jerusalem im Oktober/ markiert somit einen ­Politics, Aberystwyth Univer­ November 2014 ein bedenkliches Zeichen Meilenstein in der Er- sity, SY23 3FE Aberystwyth, setzten, tritt die Bundesregierung weiterhin folgsgeschichte der Wales/Vereinigtes Königreich. für die Sicherheit Israels ein. Um die Tücken deutsch-israelischen [email protected] und Fallstricke der internationalen Dimen- Versöhnung – einen sion des israelisch-palästinensischen Kon- Meilenstein der transnationalen Aussöhnung fliktes zu meiden, erfolgen die Waffenliefe- und insbesondere der deutsch-jüdisch-israe- rungen aus Deutschland bevorzugt in Form lischen Beziehungen nach dem Holocaust. ❙1 maritimer Wehrtechnik. Diese wird grund- sätzlich als weniger problematisch betrachtet, Ohne die symbolische Bedeutung dieses weil sie in bürgerkriegsähnlichen Konflikten Jahres für die bilateralen Beziehungen zwi- nur eine marginale Rolle spielt. Ganz in die- schen der Bundesrepublik und Israel infra- sem Sinne wurde im Herbst 2014 bekannt, ge stellen zu wollen, soll in diesem Artikel dass Berlin ein Drittel der Kosten der von Is- jedoch ein anderer Aspekt beleuchtet wer- rael bestellten Korvetten bei der Kieler Fir- den, der aber für das Verständnis von Er- ma ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) hards Entscheidung, dem jüdischen Staat übernimmt. Die israelische Marine benötigt diplomatische Beziehungen anzubieten, we- diese zum Schutz von Gasfeldern vor der ei- sentlich ist: die Gestaltung der bundesdeut- genen Küste im Mittelmeer. ❙33 Die Geschichte schen Israel­politik zwischen 1956 und 1965 der deutsch-israelischen Rüstungskooperati- im Kontext der deutsch-deutschen System- on wird sich also auch in absehbarer Zukunft konkurrenz während des Kalten Krieges. Er- fortsetzen. hards Entscheidung reifte unter den spezi- fischen Bedingungen des Wettstreits beider deutscher Staaten um internationale Aner- ❙31 Vgl. Gemeinsame Konferenz Kirche und Ent- wicklung, Rüstungsexportbericht 2014, Berlin–Bonn kennung und Legitimität – und ist somit un- 2014, S. 83. trennbar mit dem Kalten Krieg verbunden. ❙32 Vgl. die entsprechenden Länderportraits des Bonn International Center for Conversion, www.bicc.de. Übersetzung aus dem Englischen: Sandra H. Lustig, ❙33 Vgl. O. Nassauer/​C. Steinmetz (Anm. 22), S. 19, Hamburg. S. 25; Barak Ravid, Missile Boat Crisis Ends as Ger- ❙1 Vgl. Amos Oz, Israel und Deutschland. Vier- many Gives Israel $ 382 Million Discount, 19. 10. 2014, zig Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehun- www.haaretz.com/-1.621447 (2. 1. 2015). gen, Bonn 2005; Lily Gardner Feldman, Germany’s Foreign Policy of Reconciliation, Lanham 2012, S. 133–199.

APuZ 6/2015 29 Israelpolitik im Kontext reagieren werde. Weniger als ein Jahrzehnt später wurde die Doktrin nun direkt heraus- des Kalten Krieges gefordert. Niemals zuvor war Ulbricht auf ei- nen Staatsbesuch außerhalb des sowjetischen Im Januar 1965 ergab sich für die Bundes­ Blocks eingeladen worden. „Wer Ulbricht als regie ­rung ein bislang ungekanntes Problem: Staatsoberhaupt eines souveränen Volkes be- Auslöser war die Nachricht, dass der DDR- handelt, paktiert mit den Spaltern der deut- Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht nach schen Nation“, ❙6 betonte Bundeskanzler Er- Kairo eingeladen worden war. ❙2 Wenige Tage hard vor dem Deutschen Bundestag. In Bonn vor der Abreise aus Ost-Berlin notierte Ul- war man sich rasch darüber einig, dass es brichts Ehefrau Lotte: „Ich bin freudig erregt. eine Reaktion auf Nassers Provokation geben (…) Vor mir liegt das umfangreiche Reisepro- müsse – jedoch nicht darüber, wie diese aus- gramm; daraus ist zu entnehmen, daß für den sehen solle. ❙7 Empfang Walter Ulbrichts alle Ehrungen vorgesehen sind, die einem Staatsoberhaupt Die Nachricht von Ulbrichts Einladung beim Besuch eines fremden Landes zukom- nach Ägypten folgte einer Reihe von Presse- men. Unser Arbeiter-und-Bauern-Staat gilt berichten über geheime Verhandlungen zwi- also etwas in der Welt!“ ❙3 Lottes Enthusias- schen der Bundesrepublik und Israel über mus über die bevorstehende Reise stand im Waffenlieferungen – zu einer Zeit, als offi- krassen Gegensatz zum westdeutschen Ent- ziell noch die Politik verfolgt wurde, keine setzen über die baldige Ankunft des SED- Waffen in Spannungsgebiete zu liefern. Die Chefs in Kairo. Würde es Ulbricht gelingen, bereits von Bundeskanzler Konrad Adenau- nach Ägypten zu reisen und von Präsident er getroffene Vereinbarung mit Israel ❙8 war Gamal Abdel Nasser als Staatsoberhaupt von seinem Nachfolger Erhard bekräftigt empfangen zu werden, drohte dem außen- worden, als dieser einer geheimen Lieferung politischen Fundament, auf dem die Bun- von US-amerikanischen Panzern über Ita- desrepublik ihre internationale Glaubwür- lien nach Israel widerstrebend zugestimmt digkeit aufgebaut hatte, eine empfindliche hatte. ❙9 „Durch das Bekanntwerden unserer ­Schwächung. Waffenlieferungen an Israel ist unsere Poli- tik im Nahen Osten in eine äußerst kritische Dieses Fundament bildete Mitte der 1960er Phase geraten“, warnte das Auswärtige Amt Jahre der sogenannte Alleinvertretungsan- im Januar 1965. ❙10 Viele waren jedoch der An- spruch: Da die Bundesrepublik der einzige le- sicht, dass das Problem nicht nur die Haltung gitime deutsche Staat sei, könne auch nur sie gegenüber dem Nahen Osten betraf. Ende allein Deutschland außenpolitisch vertreten. des Monats bemerkte der bundesdeutsche Artikuliert wurde dieser Anspruch in der Botschafter in Kairo, Georg Federer, dass die Hallstein-Doktrin. ❙4 In der ursprünglichen aktuelle Situation nun die Bundesrepublik an Formulierung von 1955 hieß es darin, dass die Bundesrepublik jegliche Anerkennung der 6 DDR als „unfreundlichen Akt“ ❙5 interpretie- ❙ Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 17. 2. ​ ren und mit einem wirtschaftlichen und di- 1965, S. 8104. ❙7 Vgl. Horst Osterheld, Außenpolitik unter Bundes- plomatischen Boykott des jeweiligen Landes kanzler Ludwig Erhard: 1963–1966, Düsseldorf 1992, S. 154. ❙8 Vgl. Niels Hansen, Geheimvorhaben „Frank/ ❙2 Vgl. Rainer A. Blasius, „Völkerfreundschaft“ am Kol“. Zur deutsch-israelischen Rüstungszusammen- Nil: Ägypten und die DDR im Februar 1965, in: arbeit 1957–1965, in: Historisch-Politische Mitteilun- Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46 (1998) 4, gen, 6 (1999), S. 229–264. S. 747–805. ❙9 Vgl. Memorandum of Conversation between Pre- ❙3 Zit. nach: „Russisch half hier wenig“, in: Der Spie- sident Johnson and Chancellor Erhard, Washington, gel, Nr. 49 vom 1. 12. 1965, S. 68. 12.. 6 1964, in: Foreign Relations of the United Sta- ❙4 Vgl. William Glenn Gray, Germany’s Cold War. tes (FRUS), 1964–1968, Bd. 15, Germany and Ber- The Global Campaign to Isolate East Germany, lin, Washington 1999. Sämtliche zitierte FRUS-Do- 1949–1969, Chapel Hill 2003; Werner Kilian, Die kumente sind online einsehbar: https://history.state. Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwi- gov/historicaldocuments (9. 1. 2015). schen der BRD und der DDR 1955–1973, Berlin 2001. ❙10 Kabinettsvorlage des Auswärtigen Amts, 4. 1. 1965, ❙5 Jede Anerkennung der „DDR“ ein unfreundlicher in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepu- Akt, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes blik Deutschland (AAPD) 1965, Bd. 1, München 1996, der Bundesregierung, 13. 12. 1955, S. 1. S. 3.

30 APuZ 6/2015 einen „Scheideweg, nicht nur unserer Nah- schen Kollegen Anfang 1955 an, „wenn ich ost-Politik, sondern unserer Deutschland- dies unter Freunden sagen darf, Ihr hier in Politik“ stelle. ❙11 der Bundesrepublik erfasst nicht im Gerings- ten, welch erschreckenden Grund von Feind- seligkeit Ihr Deutschen durch das Israelab- Offizielle und geheime Kontakte kommen in den arabischen Ländern für Euch gelegt habt. Bei der weiteren Entwicklung der Der Zusammenhang zwischen Deutschland- Dinge wird es eines Tages noch schwer auf politik und Israelpolitik – und damit der Zu- Euch zurückfallen.“ ❙15 sammenhang zwischen der deutsch-deut- schen Rivalität im Kalten Krieg und dem Das Problem der diplomatischen Beziehun- arabisch-israelischen Konflikt – war zehn gen zu Israel beherrschte auch die Gespräche Jahre zuvor vom Auswärtigen Amt offizi- beim Treffen der bundesdeutschen Nahost- ell bestätigt worden. Im Oktober 1955, nach Botschafter in Istanbul im April 1956. Ange- Abschluss eines Rüstungsgeschäfts zwischen sichts der potenziell explosiven Situation in Ägypten und der Tschechoslowakei, das in der Region waren sich die Diplomaten einig, vielen westlichen Hauptstädten für Aufre- dass es – jedenfalls zunächst – notwendig war, gung gesorgt hatte, ❙12 empfahl der bundes- die Entwicklung offizieller Beziehungen zwi- deutsche Botschafter in Kairo, Walter Be- schen Bonn und Jerusalem zu stoppen, zumal cker, dass die Bundesrepublik alles tun solle, die arabischen Staaten mit der Etablierung di- um ihre Position in der Region aufrecht zu plomatischer Beziehungen zur DDR kontern erhalten. ❙13 könnten. ❙16 Westdeutsche Vertreter, die dem jüdischen Staat zuvor noch vorgeschlagen Anfang 1956 gab der Leiter der Nahost- hatten, diplomatische Beziehungen aufzuneh- abteilung im Auswärtigen Amt, Hermann men, wiesen nach der Konferenz israelische Voigt, zu verstehen, dass zwei Umstände Anfragen nach einem Botschafteraustausch den westdeutschen Spielraum in der Region zurück. ❙17 In der Zwischenzeit blühte aber im jedoch einengten: Das sei erstens allein die Geheimen die militärische und Sicherheits- Existenz „der sogenannten DDR“, und zwei- kooperation zwischen beiden Ländern auf. ❙18 tens „das Israel-Abkommen“: „zwei Fragen, die übrigens zwar nicht begrifflich, aber doch Im Kontext dieser Teilung der Bonner Is- tatsächlich in einer gewissen Interdependenz raelpolitik in zwei getrennte Dimensionen miteinander stehen“. ❙14 Ersteres hatte mit dem (offen und geheim) erwies sich die Existenz Ziel der Bundesrepublik unter der Hallstein- des ostdeutschen Staats in gewisser Weise als Doktrin zu tun, jeglichen diplomatischen Er- Vorteil. Vertreter der Bundesrepublik konn- folg der DDR zu verhindern. Letzteres bezog ten die arabische Drohung, die DDR anzu- sich auf das Luxemburger Abkommen von erkennen, als Möglichkeit nutzen, um dem 1952 („Wiedergutmachungsabkommen“), in israelischen Drängen, Botschafter auszutau- dem sich die Bundesrepublik dazu verpflich- schen, etwas entgegenzusetzen. Während- tet hatte, drei Milliarden DM in Sachleistun- dessen konnten sich geheime Sicherheitsbe- gen an Israel zu zahlen. „Glauben Sie mir, ziehungen mehr oder weniger ungehindert Herr Steffen“, merkte ein libanesischer Ver- entwickeln, da westdeutsche Diplomaten treter im Gespräch mit einem bundesdeut- kursierende Spekulationen darüber als DDR- Propaganda abtun konnten. Nur wenige Tage

❙11 Federer an Staatssekretär Carstens, 26. 1. 1965, in: AAPD 1965, S. 194. ❙15 PA AA, B11 1397, Ref. 308, Vermerk, Steffen, ❙12 Vgl. Guy Laron, Cutting the Gordian Knot. The 4. 3. 1955. Post-WWII Egyptian Quest for Arms and the 1955 ❙16 Vgl. Sven Olaf Berggötz, Nahostpolitik in der Ära Czechoslovak Arms Deal, CWIHP Working Paper Adenauer, Düsseldorf 1998, S. 422; Katja Engler, Die 55/2007. deutsche Frage im Nahen Osten, Berlin 2007, S. 49. ❙13 Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts ❙17 Vgl. Yeshayahu Jelinek, Deutschland und ­Israel (PA AA), B11 381, Telegramm, Becker, 15. 10. 1955. 1945–1965. Ein neurotisches Verhältnis, München ❙14 Referat von Generalkonsul I, Voigt, AA, über die 2004, S. 265 ff. politische Lage im Nahen Osten, 23. 1. 1956, in: Yes- ❙18 Vgl. Milena Uhlmann (Hrsg.), Die deutsch-isra- hayahu Jelinek (Hrsg.), Zwischen Moral und Real- elischen Sicherheitsbeziehungen, Berlin 2008. Sie- politik: deutsch-israelische Beziehungen 1945–1965, he hierzu auch den Beitrag von Marcel Serr in dieser Gerlingen 1997, S. 368 f. Ausgabe (Anm. d. Red.).

APuZ 6/2015 31 nach der ersten Zusammenkunft von drei ten, dass die Bundesrepublik „die Lebensin- Vertretern des israelischen Verteidigungsmi- teressen Deutschlands“ um „geschenkweise nisteriums mit Bundesverteidigungsminister gegebene“ Waffenlieferungen willen riskiere, Franz Josef Strauß im Dezember 1957 wies die erläuterte etwa Ludger Westrick, der Erhard- bundesdeutsche Botschaft in Kairo Gerüch- Vertraute und Minister für besondere Aufga- te einer beginnenden Sicherheitskooperation ben, dem Leiter der Israel-Mission in Köln, mit Israel zurück und nannte sie „törichte(n) Felix Shinnar. ❙23 Dieses Argument wiederhol- Unsinn“, der nur die ostdeutschen Bemü- te Erhard in einem Brief an den israelischen hungen zeige, die arabischen Staaten gegen Premierminister Levi Eshkol, der später von die Bundesrepublik aufzubringen. ❙19 In der einer „deutschen Kapitulation gegenüber Vertretung in Damaskus war man derselben Nasser“ sprach. ❙24 Es folgte eine wuchtige Meinung und sprach von „reine(r) Ostzonen- Pressekampagne gegen die Bundesrepublik. propaganda“. ❙20 Tatsächlich sollten die bun- Zahlreiche internationale jüdische Organi- desdeutsch-israelischen Verbindungen hinter sationen kritisierten die Bonner Linie, und dem Rücken der arabischen Staaten zu einer Rufe nach einem internationalen Boykott der Kernbotschaften der DDR-Propaganda westdeutscher Waren wurden laut. im Nahen Osten werden.

Entsprechend drohte Bonn ein diplomati- Erhards Entscheidung sches Debakel, als sieben Jahre später, Ende 1964, Anfang 1965, die geheimen Waffen- Eineinhalb Jahre nach seinem Amtsantritt lieferungen der Bundesrepublik an Isra- als Bundeskanzler revolutionierte Ludwig el publik wurden. Zunächst versuchten die Erhard die westdeutsche Nahostpolitik, wie westdeutschen Vertreter ihre arabischen sie 1956 bei der Istanbuler Botschafterkon- Amtskollegen zu beruhigen. Die „Presse- ferenz verkündet worden war: Entgegen der kampagne“ über Waffenlieferungen, so die Befürchtungen – und Empfehlungen – des Erläuterung aus Bonn, werde „als bewußtes Auswärtigen Amtes nahm er Anfang 1965 Störmanöver von interessierter Seite“ insze- seine Richtlinienkompetenz in Anspruch, niert, um die deutsch-arabischen Beziehun- um I­srael diplomatische Beziehungen an- gen zu belasten. ❙21 Auch wenn ein Vertreter zubieten. Nur sehr wenige wären zu die- der DDR im Nahen Osten Berichten zufol- ser Zeit überhaupt in der Lage gewesen, Er- ge anmerkte, dass die Polemik zur Bonner hards Entscheidung vorherzusehen. Noch Militärhilfe für Israel Ost-Berlin tatsächlich im März 1964 hatte er auf dem CDU-Partei- „viele Millionen wert“ sei, ❙22 war es schlicht tag betont, dass man „in dieser Frage pfleg- nicht mehr haltbar, die Waffenlieferungen lich operieren“ ❙25 müsse und die Aufnahme zu leugnen. diplomatischer Beziehungen mit Israel für die nahe Zukunft de facto verworfen. Doch Viele Mitglieder der Bundesregierung schon auf dem folgenden Parteitag ein Jahr glaubten zwar, dass die Berichte über die darauf kommentierte er stolz seine Entschei- Waffenlieferungen eher ein Vorwand für dung, Botschafter mit dem jüdischen Staat Nassers Einladung an Walter Ulbricht wa- auszutauschen. ❙26 Was hatte Erhard zu dieser ren, nicht deren Ursache. Nichtsdestotrotz Kehrtwende veranlasst? bestand in Bonn aber weitgehende Einigkeit, dass es notwendig wäre, die Lieferungen zu stoppen. Wie vorherzusehen war, bewerte- ❙23 Gespräch zwischen Erhard, Westrick und Shin- ten die Israelis diese Nachricht nicht posi- nar,. 11. 2 1965, in: AAPD 1965, S. 301. ❙24 tiv – aber die Bonner Linie war sehr deutlich. Telegram from the Embassy in Israel to the De- partment of State, Tel Aviv, 15. 2. 1965 in: FRUS, Israel könne vernünftigerweise nicht erwar- 1964–1968, Bd. 18, Arab-Israeli Dispute, 1964–1967, Washington 2000. ❙25 CDU, Protokoll vom 12. Bundesparteitag, 14.– ❙19 PA AA, B12 1045, Telegramm, Welck, 31. 12. 1957. 17. 3. 1964, S. 540, www.kas.de/upload/ACDP/CDU/ ❙20 PA AA, B12 1045, Diplogerma Damaskus, Knoke, Protokolle_Bundesparteitage/​1964-03-14-17_Proto- 4. 1. 1958. koll_12.Bundesparteitag_Hannover.pdf (9. 1. 2015). ❙21 PA AA, B36 114, Vermerk, Deutsche Waffenliefe- ❙26 CDU, Protokoll vom 13. Bundesparteitag, 28.– rungen an Israel, 29. 10. 1964. 31. 3. 1965, S. 35 www.kas.de/upload/ACDP/CDU/ ❙22 PA AA, B36 114, Fernschreiben aus Kairo, Müller, Protokolle_Bundesparteitage/​1965-03-28-31_Proto- 3. 11. 1964. koll_13.Bundesparteitag_Duesseldorf.pdf (9. 1. 2015).

32 APuZ 6/2015 Von den Faktoren, die Erhards Entschei- reagiere Bonn ständig nur auf ostdeutsche dung beeinflusst haben könnten, sind zwei Bedrohungen des westdeutschen Alleinver- besonders hervorzuheben: erstens die Berich- tretungsanspruchs. Die Etablierung voller te über Meinungsumfragen, die einen besorg- diplomatischer Beziehungen zu Israel solle niserregenden Rückgang von Erhards Popu- genau das Gegenteil sein – ein Schritt, der die larität sowohl in der Bundesrepublik als auch Wichtigkeit unterstreicht, „von uns aus aktiv in den USA feststellten, und zweitens die zu ­werden“. ❙32 „energisch(en)“ ❙27 Ermahnungen der westli- chen Alliierten (besonders der US-Amerika- ner), es nicht zu wagen, die Beziehungen zu Folgen Ägypten abzubrechen, um Nasser nicht „in die Hände der Kommunisten“ zu treiben. ❙28 Genau in diesen Tagen, vom 6. bis zum Beides erhöhte das Unbehagen in Erhards 9. März 1965, besuchte der britische Premier- Partei und in seinem Kabinett und setzte ihn minister Harold Wilson die Bundesrepublik. unter Druck, sowohl gegenüber Israel als In seinen Memoiren heißt es: Erhards „Ge- auch gegenüber Ägypten eine klare Haltung danken waren vor allem bei Krise der deut- einzunehmen. Über diese unmittelbaren Ur- schen Beziehungen zum Nahen Osten. (…) sachen hinaus spielten auch die zurücklie- Der Aufnahme diplomatischer Beziehungen genden Jahre eine Rolle: ein Jahrzehnt ver- zwischen der Bundesrepublik und Israel war weigerter diplomatischer Beziehungen mit die Anerkennung der DDR durch die ara- Israel, aus Angst davor, dass die arabischen bischen Staaten gefolgt, und zwar mit allen Staaten aus Vergeltung die DDR anerken- Konsequenzen, die ein solcher Schritt ent- nen würden; ein Jahrzehnt, in dem sich die sprechend der Hallstein-Doktrin für Bonn deutsch-deutsche Rivalität des Kalten Krie- mit sich brachte.“ ❙33 Wilsons Erinnerung trog ges mit dem arabisch-israelischen Konflikt ihn jedoch. Hätten die arabischen Staaten die überschnitt, wobei neue, zunehmend kom- DDR wirklich anerkannt, wäre die gesamte plexe diplomatische Herausforderungen ent- außenpolitische Weltanschauung der Bun- standen. desrepublik zerfallen. Tatsächlich brachen zehn Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga Während der gesamten Krise hatte Er- zwei Monate später (im Mai 1965) die Be- hard stets wiederholt, dass es notwendig ziehungen zur Bundesrepublik ab. Dennoch sei, Bonns Alleinvertretungsanspruch auf- tauschten sie mit Ost-Berlin keine Botschaf- rechtzuerhalten. ❙29 Auch seine Frustration ter aus. Wilsons fälschliche Darstellung der über die Unfähigkeit der westlichen Alliier- Bonner Nahostkrise ist ein aufschlussreiches ten, die außenpolitische Haltung Bonns zur Beispiel dafür, wie wenig die westlichen Alli- deutschen Frage ernst zu nehmen, hatte er ierten die Komplexität der Bonner Außenpo- mehrfach bestätigt. ❙30 Am 9. März 1965, zwei litik und seines Alleinvertretungsanspruchs Tage nach seiner Entscheidung, Israel diplo- verstanden. ❙34 Sie verweist außerdem auf ein matische Beziehungen anzubieten, erläuterte Schlüsselelement, das den Ausgang der Krise Erhard, was ihn dazu gebracht hatte. ❙31 Da- prägen sollte – nämlich auf Bonns schlimms- bei erwähnte er zum einen die heiklen in- te Befürchtung, die Anerkennung der DDR nenpolitischen Auswirkungen einer Krise, durch die arabischen Staaten, die 1965 jedoch die im Grunde außenpolitischer Natur ge- nicht eintrat. ❙35 wesen war, zum anderen den Willen, die Be- ziehungen zu den westlichen Alliierten zu 32 verbessern. Schließlich betonte er, wie wich- ❙ Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 18, tig es sei, dass es nicht länger erscheine, als 1965, bearb. von Josef Henke und Christoph See- mann, 156. Sitzung, 9. 3. 1965, München 2008, S. 123. ❙33 Harold Wilson, The Labour Government 1964– ❙27 Zit. nach: H. Osterheld (Anm. 7), S. 166. 1970, London 1971, S. 118. ❙28 Gespräch Erhards mit den Botschaftern der Drei ❙34 Vgl. Gerald R. Hughes, Britain, Germany and the Mächte, 5. 3. 1965, in: AAPD 1965, S. 459. Cold War: The Search for a European Détente 1949– ❙29 Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 1967, New York, 2007, S. 129 f. 12. 2. 1965, S. 8105. ❙35 Der entscheidende Durchbruch für die DDR, ❙30 Vgl. zum Beispiel Gespräch Erhards mit dem auch von nichtsozialistischen Ländern anerkannt zu amerikanischen Botschafter McGhee, 22. 2. 1965, in: werden, ging dennoch vom Nahen Osten aus, jedoch AAPD 1965, S. 372. erst 1969 (zunächst durch den Irak, gefolgt von Su- ❙31 Vgl. H. Osterheld (Anm. 7), S. 171. dan, Syrien, Südjemen und Ägypten).

APuZ 6/2015 33 Gleichzeitig herrschte aber Unzufrieden- sie erwarteten von der Bundesrepublik, an- heit darüber, wie das westdeutsche politi- gesichts von Nassers Provokation Festigkeit sche Establishment die Krise gemanagt hat- und Entschiedenheit zu demonstrieren. Dies, te. „Ich kann mich an keinen derart akuten so legten sie nahe, sei die einzige vernünftige und allgemein empfundenen Tiefpunkt erin- Reaktion, die man von einem so großen und nern“, berichtete Ende März 1965 ein US-Di- mächtigen Land wie der Bundesrepublik er- plomat über die schlechte Stimmung, die „aus wartete. ❙40 Der Ausgang der Krise schien ih- einem Zusammentreffen bestimmter Enttäu- nen Recht zu geben. Im Dezember desselben schungen resultiert, großer wie kleiner“. ❙36 Jahres liefen bereits geheime Verhandlungen, Die DDR verurteilte den Austausch von Bot- um die diplomatischen Beziehungen zu den- schaftern zwischen Bonn und Jerusalem (be- jenigen arabischen Ländern wiederherzustel- ziehungsweise Tel Aviv, das zum Sitz der len, die sie wenige Monate zuvor abgebro- bundesdeutschen Botschaft wurde) und ver- chen hatten. suchte, die arabischen Staaten gegen die Bun- desrepublik zu mobilisieren. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen „kann nicht an- 1965 erinnern, ders als eine demonstrative Unterstützung den Kalten Krieg vergessen? der aggressiven Politik der israelischen Re- gierung, die als imperialistisches Werkzeug In der westdeutschen Zivilgesellschaft hatte gegen die arabische Befreiungsbewegung aus- seit Anfang der 1960er Jahre die Anzahl der genutzt wird, gewertet werden“, hieß es aus Initiativen, die sich für eine Aufnahme diplo- Ost-Berlin. ❙37 Gleichwohl, und das ist bedeu- matischer Beziehungen zu Israel einsetzten, tend, brachen nicht alle Mitglieder der Ara- stetig zugenommen. ❙41 Erhards Entscheidung bischen Liga ihre Beziehungen zur Bundes- für den Botschafteraustausch war jedoch republik ab: Libyen, Tunesien und Marokko mehr als ein Erfolg „ehrgeiziger Innenpoliti- schlossen sich der mehrheitlich in der Liga ker“ in ihrem Kampf für eine „Ausrichtung vertretenen Position nicht an. Überdies be- der Außenpolitik an moralischen Geboten“. ❙42 hielten diejenigen Länder, die sich für einen Tatsächlich ist sein Entschluss teilweise auf Abzug ihrer Botschafter aus Bonn entschie- die allmähliche Verschlechterung seines Rufs den, ihre „konsularischen, wirtschaftlichen sowohl in der westdeutschen als auch in der und kulturellen Beziehungen“ zur Bundes­ internationalen (besonders der US-amerika- repu ­blik weiterhin bei. ❙38 nischen) Öffentlichkeit zurückzuführen, der Erhard mit einer kraftvollen symbolischen Möglicherweise bewies die arabische Reak- Geste begegnen wollte. Ein weiterer Faktor tion, dass Felix Shinnar die ganze Zeit Recht war die Gefährdung der Hallstein-Doktrin. gehabt hatte. Im Februar 1965 hatte der isra- Erhard sah in seiner Entscheidung eine Mög- elische Vertreter in der Bundesrepublik seine lichkeit, Nasser für die Einladung Ulbrichts Bonner Kollegen ermahnt, sich der eigenen nach Kairo abzustrafen – hatte diese dem Stärke bewusst zu sein und entsprechend zu DDR-Staatschef doch beispiellose internati- handeln. ❙39 Eine ähnliche Botschaft war von onale Aufmerksamkeit gebracht, verbunden den westlichen Alliierten gekommen. Auch mit dem Risiko, Ulbricht als politischen Füh- rer und die Existenz der DDR als deutschen Staat zu legitimieren. ❙36 Vgl. Memorandum from the Chairman of the Poli- cy Planning Council (Rostow) to the Assistant Secre- Mit der Aufnahme diplomatischer Bezie- tary of State for European Affairs (Tyler), Washing- hungen zwischen beiden Ländern „wurde ton,. 20. 3 1964, in: FRUS (Anm. 9). ein seit langem nach einer Regelung drängen- ❙37 Erklärung der Regierung der Deutschen Demo- kratischen Republik zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und Israel, 14. 5. 1965, in: Dokumente zur Au- ❙40 Vgl. Gespräch Erhards mit den Botschaftern ßenpolitik der DDR (DADDR), Bd. 13, Berlin 1969, (Anm. 28), S. 457 ff. S. 146. ❙41 Aufzeichnung von Krapf, in: AAPD 1965, S. 243, ❙38 .Vgl. S. O Berggötz (Anm. 16), S. 457. Anm. 7. ❙39 Vgl. Gespräch zwischen Erhard, Westrick und ❙42 Hannfried von Hindenburg, Demonstrating Re- Shinnar (Anm. 23); Felix E. Shinnar, Bericht eines conciliation: State and Society in West German For- Beauftragten: die deutsch-israelischen Beziehungen eign Policy Towards Israel, 1952–1965, New York 1951–1966, Tübingen 1967, S. 108 ff. 2007, S. 1.

34 APuZ 6/2015 des Problem der deutschen Politik gelöst“, Arndt Kremer erklärte die Bonner Regierung. ❙43 Im Deut- schen Bundestag lobte Erhard im Mai 1965 den Austausch von Botschaftern zwischen Brisante Sprache? Israel und der Bundesrepublik als „ein(en) entscheidende(n) Beitrag zu einem Neube- ginn“. ❙44 Deutsch in Palästina Fünfzig Jahre später ist die special relation- und Israel ship zwischen beiden Ländern tatsächlich im- mer noch lebendig und auf einem hohen Ni- veau – und dies wird auch auf lange Sicht der inguläre Ereignisse eignen sich nicht für Fall bleiben. Aber die politischen Entschei- SVerallgemeinerungen. Aber sie eignen sich dungen von 1965 gingen über die Beson- durchaus für Symbolik. Und das deutsch-is- derheit der bilateralen deutsch-israelischen raelische Verhältnis ist Beziehungen weit hinaus. Die Auseinander- nach den Schrecken Arndt Kremer setzungen zwischen beiden deutschen Staa- der Shoah hochgra- Dr. phil., geb. 1973; Lehrbeauf­ ten im Kalten Krieg, ihr Wettstreit um die dig symbolisch auf- tragter für Deutsch als Fremd­ legitime internationale Vertretung Deutsch- geladen. Kleinste rhe- sprache und Mehrsprachigkeit lands, waren entscheidende Elemente für das torisch-symbolische an der Universität zu Köln und Auslösen der Ereigniskette, durch die Bun- Verfehlungen, gering- der Westfälischen Wilhelms- deskanzler Erhard angestoßen wurde, Israel fügigste Unebenheiten Universität Münster; zuvor diplomatische Beziehungen anzubieten. können zu kommuni- Postdoctoral Fellow am Franz kativen Katastrophen Rosenzweig Minerva Center an Die westdeutsche Debatte über die Nah- führen. Wie sehr sich der Hebrew University Jerusa­ ostkrise Anfang 1965 warf zudem ein jedoch die diploma- lem und DAAD-Lektor an der Schlaglicht darauf, dass die Auffassungen tischen Beziehungen University of Malta. über die damalige politische Krise und darü- zwischen Israel und [email protected] ber, wie sie zu managen sei, erheblich vari- Deutschland seit ihrer ierten – innerhalb und zwischen politischen offiziellen Aufnahme 1965 entwickelt haben, Schlüsselinstitutionen. ❙45 Aber trotz dieser und zwar positiv, lässt sich gut an drei Ereig- Differenzen gab es einen Gesichtspunkt, nissen aufzeigen, die einige Jahre auseinander über den sich die meisten Beobachter einig liegen – und die symbolisch reichste und fra- waren: Viele in Bonn betrachteten die Krise gilste Ebene betreffen: die Sprache. vom März 1965 nicht nur als Krise innerhalb der deutsch-jüdisch-israelischen Beziehun- Noch bevor Bundespräsident Johannes gen in der Folgezeit des Holocaust, sondern Rau am 16. Februar 2000 als erster nichtjü- auch als entscheidende Krise des (deutschen) discher Deutscher überhaupt in der Knesset Kalten Krieges. sprechen durfte, und das auch noch in sei- ner Muttersprache, hatte es heftige Protes- te gehagelt. Der Likud-Abgeordnete Danny Navh merkte an, dass die Zeit noch nicht ge- kommen sei, um in der Knesset Deutsch zu sprechen und zu hören, und für den ehema- ligen Parlamentspräsidenten Dov Shilanski bedeutete die Rede eines deutschen Politikers in deutscher Sprache gar „eine Schändung des ❙43 Erklärung der Bundesregierung zur Aufnahme ❙1 der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bun- Holocaust-Andenkens.“ Der Sondersitzung desrepublik Deutschland und Israel, in: Auswärtiges selbst, in welcher Rau das israelische Volk um Amt (Hrsg.), 40 Jahre Außenpolitik der Bundesrepu- Vergebung für die Verbrechen des National- blik Deutschland, Bonn 1989, S. 169. sozialismus an den Juden bat, blieb ein Drit- 44 ❙ Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 10. 11. ​ tel der Abgeordneten fern. 1965, S. 32. ❙45 Vgl. Kabinettsprotokolle der Bundesregierung (Anm. 32). ❙1 Zit. nach: Peter Pragal, Rau bittet Israel um Ver- gebung, 17. 2. 2000, www.berliner-zeitung.de/​108​10​5​ 90,​97​70​356.html (12. 1. 2015).

APuZ 6/2015 35 Auch die Rede des auf Rau folgenden Bun- verlassen. Dies zeigt: Deutsch als Sprache im despräsidenten Horst Köhler am 2. Februar höchsten israelischen Repräsentantenhaus – 2005 geriet schon im Vorfeld in die Kritik, bis weit in die 1990er Jahre undenkbar – ist weil Köhler Deutsch sprechen wollte. Ge- sicher noch keine Normalität oder Selbstver- sundheitsminister Dani Naveh kündigte sei- ständlichkeit, aber sie ist an sich nur noch be- nen Boykott der Feier zum 40-jährigen Be- dingt ein Impulsgeber für Konflikte. stehen diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland an, und der stellver- Die Debatten rührten an eine alte Fra- tretende Parlamentspräsident Hemi Doron ge: Kann Sprache unschuldig sein, lässt sich brachte die Gefühle vieler anderer Shoah- Sprache also von den Untaten derjenigen, die Überlebender zum Ausdruck, als er in der sie sprechen, trennen? Oder sind nicht viel- Tageszeitung „Ma’ariv“ schrieb: „Ich kann es mehr die Worte, vor allem bestimmte Worte, nicht ertragen, diese Sprache im Abgeordne- unrettbar diskreditiert, weil die Nationalso- tenhaus des jüdischen Volkes zu hören.“ ❙2 zialisten sie missbraucht, manipuliert und für ihre brutalen Zwecke eingesetzt haben? Wer Angela Merkels Rede in der Knesset am Letzteres bejaht, übersieht, dass Sprache kein 18. März 2008, die sie wie Köhler mit einem lebendiger Organismus mit einem ethischen Gruß auf Hebräisch begann und auf Deutsch Bewusstsein ist, sondern ein Kulturmit- fortführte, war indes schon kaum mehr von tel des Menschen, wenn auch sein vielleicht Protesten begleitet. ❙3 Und als am 12. Februar wichtigstes. Wer andererseits die erste The- 2014 der deutsche EU-Parlamentspräsident se von der Unschuld oder besser: moralischen Martin Schulz in der Knesset eine Rede hielt, Unabhängigkeit der Sprache bejaht, vergisst, wiederum auf Deutsch, kam es zwar zu ei- dass Worte immer auch unsere emotionale nem Eklat, bei dem elf Mitglieder der rechten Seite berühren. Zwar stimmt, was der (inzwi- Regierungspartei „Jüdisches Heim“ während schen gestorbene) letzte Shoah-Überlebende der Rede demonstrativ und lautstark den Saal unter den Knessetabgeordneten, Josef Lapid, verließen. Dies jedoch war kritischen Äu- angesichts der Rede Köhlers angemerkt hatte: ßerungen von Schulz zur israelischen Sied- Deutsch sei die Sprache von Hitler, Goebbels lungspolitik und zum ungleichen Wasser- und Eichmann, aber eben „auch die Spra- verbrauch von Israelis und Palästinensern che von Goethe, Schiller und Heine“. ❙6 Doch geschuldet. Zwar merkte die israelische Kul- auch Hemi Dorons Einwand ist zweifelsfrei turministerin Limor Livnat von der Likud- richtig, dass die Mördermaschinerie nun mal Partei an, dass der Protest der israelischen auf Deutsch erdacht, geplant und ausgeführt Abgeordneten verständlich sei, wenn ein wurde. Zudem wird wohl kaum jemand, dem EU-Politiker sich hinstelle und „solche Sa- das Gebrüll von KZ-Aufsehern, Nazi-Scher- chen sagt, und noch dazu auf Deutsch“, ❙4 aber gen und SS-Leuten in der Erinnerung nach- es war gerade nicht die Form – die Sprache –, hallt, dadurch von seinen Wunden geheilt, sondern der Inhalt, der für Aufregung sorgte. dass er an Goethes Maigedichte denkt. Zugleich distanzierten sich auch viele ande- re Abgeordnete von der Protestaktion gegen Doch es gibt eine Gruppe von Juden in Is- Schulz. ❙5 Hätte er seine kritischen Bemerkun- rael, die den Querstand zwischen beiden gen unterlassen, hätte wohl niemand den Saal Thesen – von der moralischen Diskreditiert- heit der Sprache einerseits und der Bindung an die Sprache als unschuldiger Liebe ande- ❙2 Zit. nach: Deutsch in der Knesset: Abgeordne- rerseits – selbst erfahren hat. Es handelt sich te drohen mit Boykott der Köhler-Rede, 17. 1. 2005, um die immer kleiner werdende Gruppe der www.spiegel.de/politik/deutschland/-a-337123.html aus Deutschland und Österreich stammen- (12. 1. 2015). ❙3 Vgl. Merkel: Wir sind mit Israel auf immer verbun- den Juden, der sogenannten Jeckes. Sie kön- den, 18. 3. 2008, www.faz.net/-1513658.html (12. 1. ​ nen Zeugnis ablegen von den Schwierigkei- 2015). ten, Chancen und Erfolgen, die sie erlebten, ❙4 Zit. nach: Torsten Teichmann, Präsident des als sie in den 1930er Jahren aus Deutschland EU-Parlaments spricht in Jerusalem: Empörung fliehen mussten. Sie kamen in ein Land, in über Schulz in der Knesset, 12. 2. 2014, www.tages- schau.de/schulz-rede-knesset100.html (12. 1. 2015). ❙5 Vgl. Inge Günther, Israel zeigt sich gespalten, ❙6 Zit. nach: Köhler vor der Knesset: „Ich verneige 13. 2. 2014, www.fr-online.de/​147​26​02,​26​18​7​904.html mich in Scham und Demut“, 2. 2. 2005, www.spie- (12. 1. 2015). gel.de/politik/ausland/-a-339825.html (12. 1. 2015).

36 APuZ 6/2015 dem ihre Muttersprache als Sprache der Ju- bekannteste Persönlichkeit Paul Nathan zu- denfeinde diskreditiert war – die aber den- gleich Vorstandsmitglied im „Centralverein noch ihre Muttersprache blieb, da man sie deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ nicht abstreifen konnte „wie eine Haut“. ❙7 war, unterhielt seit den ersten größeren Ein- wanderungswellen russischer Juden nach Palästina ab 1905 eigene Schulen in dieser Frühe Siedlungen, erste Kontroversen Provinz des kränkelnden Osmanischen Rei- ches. Die Bildungsarbeit in Palästina warf Die Geschichte der Präsenz der deutschen rasch die Frage nach der ersten Unterrichts- Sprache in Palästina ist älter, als gemeinhin sprache an den jüdischen Schulen und hö- angenommen wird. Und es ist eine Geschich- heren Lehranstalten auf. An ihr entzünde- te von Sprachkonflikten. In größerer Zahl te sich ein langwieriger Konflikt zwischen emigrierten Deutsche zum ersten Mal 1868 meist antizionistischen Antihebraisten und nach Palästina, das damals noch zum Osma- zumeist prozionistischen Hebraisten, der in nischen Reich gehörte. ❙8 In diesem Jahr ka- den deutschsprachigen jüdischen Presseor- men einige Hundert protestantische Bauern ganen des wilhelminischen Kaiserreichs of- von der christlichen Gemeinschaft der Temp- fen ausgetragen wurde. ❙11 ler aus Baden-Württemberg mit dem Schiff über Genua ins Heilige Land. Sie gründeten Sollte den jüdischen Einwandererkindern Kolonien, unter anderem in Jaffa, Haifa und nach Palästina, viele davon aus Deutsch- Jerusalem, deren Spuren noch heute sichtbar land oder dem jiddischsprachigen Russland sind: Kirchen, Schulen, Friedhöfe mit deut- und Polen, der Lehrstoff primär auf Heb- schen Namen, Bürgerhäuser, an deren Tü- räisch oder auf Deutsch vermittelt werden? ren Segenssprüche auf Deutsch zu lesen sind. Wie zu erwarten, plädierte der Hilfsverein Nach den Weltkriegen jedoch geriet Deutsch für die deutsche Sprache. Das war ideolo- zur lingua non grata. Weil zu Beginn des gisch, aber auch machtpolitisch begründet. Zweiten Weltkrieges 1939 auch viele Mitglie- Schließlich hatte sich der Hilfsverein gegen- der der Templergemeinschaft dem „Führer“ über der kaiserlichen Regierung verpflichtet, zujubelten, internierte die britische Mandats- Rücksicht auf den „deutschen Charakter“ der regierung die Templer und vertrieb sie. Als Schulen zu nehmen. ❙12 Während der „Sitzung stumme Zeugen einer protestantisch-deut- des Kuratoriums des Technikums in Berlin“ schen Vergangenheit blieben Häuser und Na- am 26. Oktober 1913, in der eine endgültige men wie HaMoshava HaGermanit, das deut- Regelung des Sprachenstreits für das Tech- sche Quartier in Jerusalem. nikum in Palästina getroffen werden soll- te, standen sich schließlich zwei nur schwer Einige Jahrzehnte zuvor, im Jahre 1913, versöhnliche Standpunkte gegenüber. Die war Deutsch in Palästina auch im innerjü- zionistischen Vertreter, unter ihnen der be- dischen Diskurs erstmalig zum Objekt ei- kannte Kulturzionist Achad Haam, wollten ner heftigen Kontroverse geworden. ❙9 Der Hebräisch als pädagogische Leitvarietät etab- „Hilfsverein der deutschen Juden“, ❙10 dessen lieren; denn das Hebräische diene, wie Haam betonte, nicht allein dem Zweck der Verstän- ❙7 Diese Metapher wurde von liberalen deutschen Ju- digung: „Für uns handelt es sich nicht darum, den früh benutzt, um die Unmöglichkeit einer Tren- daß die Kinder hebräisch sprechen können, nung von der deutschen Sprache und Kultur zu illus- es handelt sich darum, daß die Kinder hebrä- trieren. Vgl. zum Beispiel Alphonse Levy, Umschau, isch fühlen.“ ❙13 in: Im deutschen Reich, (1903) 1, S. 73. ❙8 Vgl. Kurt-Jürgen Voigt, Deutsche Emigranten in Pa- Paul Nathan und der Hilfsverein hielten lästina: Schwaben im gelobten Ländle, 19. 4. 2010, www. spiegel.de/einestages/-a-950043.html (12. 1. 2015). dem entgegen, dass fehlende Lehrmateriali- ❙9 Die folgenden Ausführungen basieren auf meiner en sowie mangelnde Berufsperspektiven der Dissertation: Deutsche Juden – deutsche Sprache. Jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte und -konflikte 1893–1933, Berlin 2007, S. 306–319. ❙11 Vgl. vor allem Yehuda Eloni, Zionismus in Deutsch- ❙10 Der 1901 mit Hauptsitz in Berlin gegründete Ver- land, Gerlingen 1987. ein hatte vor 1914 rund 20 000 Mitglieder. Er widme- ❙12 Vgl. ebd., S. 320. te sich vor allem der Erziehungstätigkeit in Palästina ❙13 Protokoll der Sitzung des Kuratoriums des Jüdi- und Osteuropa und war liberaljüdisch und tendenzi- schen Instituts für technische Erziehung in Palästina ell antizionistisch orientiert. am 26. 10. 1913, CZA Z3/1569, zit. nach: ebd.

APuZ 6/2015 37 Schulabsolventen eine derartige Bevorzugung Vor allem die nichtzionistischen unter den des Hebräischen unmöglich machten. Das deutschen Juden, die nicht aus ideologischen Zünglein an der Waage spielten schließlich Gründen, sondern allein aus dem Zwang der die US-amerikanischen Kuratoren des Tech- Umstände nach Palästina gekommen waren, nikums, auf deren finanzielle Unterstützung führten eine Exilexistenz am Rande oder so- der Hilfsverein angewiesen war. Sie dräng- gar in Opposition zur Mehrheitsgesellschaft. ten erfolgreich darauf, Hebräisch nach einer Nicht nur, dass diese Gruppe deutscher Ju- Übergangsfrist von sieben Jahren als alleinige den eine starke emotionale Bindung an das als Unterrichtssprache in allen Fächern des Tech- Heimatraum empfundene Deutschland beibe- nikums zu etablieren. ❙14 Und so konnte das hielt; sie konnten auch Palästina weder als al- Zionistische Actions-Comité 1914 in einer ei- ten Kulturraum akzeptieren noch mit neuem gens publizierten Schrift zufrieden verkün- kulturellen Interieur füllen, wodurch sie die den: „Die Prinzipien, für die wir gekämpft Außenperspektive der Exilanten nicht wirk- haben, haben sich durch­gesetzt.“ ❙15 lich verließen. „In Palästina. In der Fremde“ – so lautet die letzte Eintragung im Taschenka- lender des Schriftstellers Arnold Zweig für Sprachenstreit nach 1932 das Jahr 1933, nicht lange nach seiner Ankunft in Haifa am 21. Dezember 1933. ❙18 Eine zweite Kontroverse um Sprache entzün- dete sich 14 Jahre später. Schätzungen zufolge Dabei war das Exil vieler deutscher Juden flohen im Zuge der fünften ­Alija (Einwande- letztlich ein totales, denn eine Rückkehr nach rungswelle; hebräisch wörtlich für „Auf- Deutschland war nicht möglich – nicht in das stieg“) bis 1938/39 insgesamt rund 75 000 ❙16 verloren gegangene, das nur noch als Erinne- Juden aus dem nationalsozialistischen rungsraum existierte, und schon gar nicht in Deutschland nach Palästina. Sie trafen auf ein das tatsächlich bestehende Deutschland, in relativ geschlossenes, sich selbst verwaltendes dem man ihnen nach dem Leben trachtete. jüdisches Gemeinwesen (Jischuw), das sich Mit Israel als Raum des Ankommens verban- vor allem aus der zweiten Alija (1904–1914) den sie keine biografischen Erinnerungen. rekrutierte; auf eine vorwiegend osteuropä- Zudem waren ihnen als liberale, reformier- isch geprägte, stark idealistische Bevölkerung te, mitunter recht säkularisierte Juden die re- mit zionistischen und sozialistischen Ideolo- ligiösen Bedeutungen der Sakralzeichen „Je- gien; auf einen Lebensstandard, der im Ver- rusalem“ und „Eretz Israel“ entfremdet. Sie gleich zu den Jahrzehnten zuvor sehr hoch, erkannten das Hebräische zwar als heilige im Vergleich zu Westeuropa eher niedrig war; Sprache an, empfanden es aber nicht als Mut- und auf eine zum Nationalsymbol geworde- tersprache und taten sich schwer mit dem Er- ne Sprache, das Neuhebräische (­Ivrit), das lernen des Hebräischen als Umgangsspra- sich zunehmend als Umgangssprache etab- che. ❙19 Die deutsche Sprache wurde vielen lierte. Westjüdische „cravat jews“ trafen auf zum Ersatz für den verlorenen Heimatraum, ostjüdische „caftan jews“, ❙17 Liberalismus zu einem vertrauten Orientierungspunkt, und Bürgertum auf Zio­nismus und T­ radition. konkretisiert und aktualisiert in der Lektü- re von Literatur ebenso wie von Zeitungen, ❙14 Vgl. ebd., S. 341 f., S. 354. veräußert im kommunikativen Gespräch mit ❙15 Zionistisches Actions-Comité (Hrsg.), Im Kampf anderen, rekonstruiert durch das ohnehin um die hebräische Sprache, Berlin 1914, S. 71. auch sprachlich verfasste Erinnern und Träu- ❙16 Vgl. Yoav Gelber, The Historic Role of the Central men und emotionalisiert durch Familien­ European Immigration to Israel, in: Leo Baeck Insti- metaphern wie „Muttersprache“. tute (Hrsg.), Year Book 38, London 1993, S. 323–339, hier: S. 326. ❙17 Der aus Südafrika stammende US-amerika- Arnold Zweig, der 1933 über einige Zwi- nisch-israelische Historiker Steven E. Aschheim schenstationen nach Palästina kam, bildet wählt diese stereotypische Dichotomie bewusst, um dabei einen interessanten, aber auch tragi- zu zeigen, mit welcher Arroganz viele akkulturier- te Juden in Deutschland vor 1933 das Klischee vom mauschelnden, unzivilisierten, gerissenen und aber- ❙18 Zit. nach: Jost Hermand, Arnold Zweig, Reinbek gläubischen Ostjuden aufrechterhielten. Vgl. Steven 1990, S. 74. E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East Euro- ❙19 Vgl. Joachim Schlör, Kanton Iwrith, in: Karl E. pean Jew in German and German-Jewish Conscious- Grözinger (Hrsg.), Sprache und Identität im Juden- ness, 1800–1923, Madison 1982, S. 58–79. tum, Wiesbaden 1998, S. 231–254.

38 APuZ 6/2015 schen Fall, der eine gewisse Symptomatik für „lashon chaja leuma chaja“ („Eine lebendige die Schicksale manch anderer deutscher Ju- Sprache für eine lebendige Nation“) konnte den haben könnte. Zweig, berühmt gewor- nach Überzeugung des Jischuw nur in der den vor allem durch seinen Antikriegsro- heiligen, weil religionsursprünglichen Spra- man „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ che Hebräisch verwirklicht werden. „Rakh von 1927, hat sich wiederholt gegen die sei- Iwrith“ („Sprich hebräisch“) hieß deshalb ner Meinung nach ungerechte Behandlung der Imperativ besonders all jenen gegenüber, durch den Jischuw zur Wehr gesetzt, vor al- die mit dem Deutschen die Sprache der Mör- lem in der deutschsprachigen Zeitschrift der lebendig zu halten versuchten.­ ❙25 „Orient“. ❙20 Die Metapher der „Verwurze- lung“ aufgreifend, entgegnet Zweig mit iro- Der als Fritz Rosenthal geborene Schrift- nischer Spitze dem Vorwurf, „dass ich mich steller Schalom Ben-Chorin erinnert sich, noch immer als Emigrant fühle, noch im- dass das Deutsche im Palästina der 1930er mer im Lande nicht verwurzelt sei – woraus und 1940er Jahre „einem oft zügellosen Haß sich mein sonderbares Verhalten herleite, zu ausgesetzt“ gewesen sei und bezweifelt rein deutschen Juden deutsch zu sprechen“. ❙21 Bei sprachpragmatische Motive als Ursache: „Es Zweig kommt hinzu, dass gerade er, der einst ging nicht mehr um die Vorherrschaft und gefeierte Schriftsteller, in Palästina halb er- den Bestand des Hebräischen. Es ging um die blindend und vollständig erfolglos, den Ver- tragische Verwechslung von Staat und Spra- lust der Sprachheimat besonders intensiv er- che.“ ❙26 Sprache wurde immer mehr zum Po- lebt haben muss. ❙22 Er beklagte wiederholt litikum. Deutsch war nun nicht mehr die „die Ortlosigkeit meiner Arbeit“ und fühl- Sprache, in der auch Theodor Herzl seinen te sich „um meinen Lebensraum betrogen“. „Judenstaat“ verfasst und in der auf den ers- „Ich mache mir nichts mehr aus dem Land ten Zionistenkongressen kommuniziert wor- der Väter“, schrieb er am 21. Januar 1934 an den war, sondern vor allem die Sprache Hit- Sigmund Freud. ❙23 lers und Goebbels.

In den Augen vieler „Ostjuden“ (aus Ost- Als Arnold Zweig 1942 bei einer Veran- europa stammende, häufig jiddisch spre- staltung der von ihm und anderen linken In- chende Juden) wiederum war und blieb der tellektuellen gegründeten prosowjetischen „Westjude“ ein „Ausgedajtscher“, für den „Liga Victory“ im Cinema Esther einen Vor- Palästina keine Herzensangelegenheit, son- trag auf Deutsch halten wollte, eskalierte die dern lediglich ein Fluchtpunkt vor den Na- Lage; Zweig wurde gewaltsam am Weiterre- tionalsozialisten und damit ein notwendi- den gehindert: „Rechts eingestellte Zionis- ges Übel war. Allein schon dadurch schien ten pfiffen und johlten im Kino. Sie brüll- er eine Gefahr für ein gelebtes Judentum zu ten: ‚Hier wird nicht die Sprache Hitlers sein. „Kommst du aus Überzeugung oder gesprochen!‘ (…) Mit Knüppeln, die sie un- kommst du aus Deutschland?“ wurde zum ter den Jacken verborgen hatten, begannen geflügelten Wort. ❙24 Der in vielen hebräisch- die Randalierer eine Prügelei. Vierzehn Per- sprachigen Zeitschriften artikulierte Slogan sonen wurden schwer verletzt in ein Kran- kenhaus eingeliefert.“ ❙27 Zweigs Schicksal ist ❙20 Vgl. Wolfgang Yourgrau, Kleines Jubiläum, in: zwar nicht repräsentativ für das deutschspra- Orient, (1942) 26, S. 3. chige Judentum in Palästina insgesamt, wohl ❙21 Arnold Zweig, Verwurzelung, in: Orient, (1942) 14, S. 5. ❙22 Sigmund Freud/Arnold Zweig: Briefwechsel, ❙25 Sätze wie „Die deutsche Sprache ist die Sprache Frank­furt/M. 1984, S. 68 f. Zu Zweigs Palästinaauf- unserer Feinde“ waren teilweise auch auf Häuser- enthalt vgl. Geoffrey V. Davis, Arnold Zweig im pa- wänden zu lesen. Vgl. Kampf um Hebräisch, in: Jüdi- lästinensischen Exil, in: Hans-Otto Horch (Hrsg.), sche Welt-Rundschau vom 5. 2. 1940, S. 4. Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur, ❙26 Shalom Ben-Chorin, Sprache als Heimat, in: Peter Tübingen 1988, S. 289–316. Nasarski (Hrsg.), Sprache als Heimat: Auswanderer ❙23 Brief an Helene Weyl vom 13. Juni 1934, in: Ilse erzählen, Berlin 1981, S. 12–23, hier: S. 15. Lange (Hrsg.), Arnold Zweig/Helene Weyl: Komm ❙27 Günter Stillmann, Berlin – Palästina und zurück, her, wir lieben dich, Berlin 1996, S. 361–364. Berlin 1989, S. 95. Auch in den deutschsprachigen jü- ❙24 Vgl. Anne Betten/Myriam Du-nour (Hrsg.), Wir dischen Zeitungen wurde über dieses Ereignis breit sind die Letzten. Fragt uns aus: Gespräche mit den berichtet: Vgl. Arnold Zweig’s V-Liga-Versammlung, Emigranten der dreißiger Jahre in Israel, Gerlingen in: Blumenthal’s Neueste Nachrichten vom 31. Mai 1995, S. 7. 1942, S. 1.

APuZ 6/2015 39 aber für jene Gruppe, die sich nicht oder nur schenstationen zu erwähnen, von denen die spät in den neuen Kultur- und Sprachraum israelische Historikerin Yfaat Weiss eine einfinden konnte. Wie Zweig verließen viele sehr wichtige erst kürzlich wieder ins Licht von ihr das Land nach 1945 – oder sie arran- gerückt hat: Die Rückkehr des Deutsch-als- gierten sich mit den Verhältnissen, indem sie Fremdsprache-Unterrichts im akademischen „mit enormem Energieaufwand“ Hebräisch Betrieb in Israel. Lange, so zeigt Weiss’ Auf- lernten. ❙28 satz, hatte es deutliche Ressentiments unter jüdischen Akademikern und Künstlern gege- Die enge und lang andauernde Bindung ben, den noch bis 1934 gelehrten, dann aber vieler deutscher Juden in Israel an den auch abgeschafften Deutschunterricht an der He- sprachlichen Erinnerungsraum der Herkunft bräischen Universität in Jerusalem nach 1945 wird durch eine beeindruckende Studie der wieder einzuführen. ❙31 Erst 1960, also fünf deutschen und israelischen Sprachwissen- Jahre vor dem Beginn diplomatischer Bezie- schaftlerinnen Anne Betten und Myriam hungen zwischen Israel und Deutschland, Du-nour gestützt: In dem Band, der 150 Ge- wurde Deutsch als Fremdsprache wieder in spräche mit deutsch-jüdischen Palästina- den Lehrbetrieb der Hebräischen Universität Emi ­gran­ten versammelt, wird deutlich, dass aufgenommen, 1977 in Form einer eigenen die deutsch-jüdische Sprachkultur im Ji- Abteilung für Deutsche Sprache und Litera- schuw mehr Stabilität bewiesen hat, als ur- tur, auf die 2007 das Zentrum für Deutsch- sprünglich angenommen. Demnach hät- studien folgte. ten sich viele Jeckes bis in die 1980er und 1990er Jahre hinein eine Art „konserviertes Die Rolle der Germanistik in Israel ist Deutsch“ bewahrt, das sie selbst als „Weima- weder stark noch gesichert, daran hat der rer Deutsch“ b­ ezeichneten. ❙29 deutschstämmige israelische Germanist Ja- kob Hessing erinnert, ❙32 und vielleicht ist sie, In gewisser Weise lebt die Tradition des wie der amerikanisch-israelische Literatur- deutschsprachigen Judentums noch fort in wissenschaftler Marc Gelber behauptet hat, der „MB Yakinton“, einer 1932 als „Mit- im Ganzen tatsächlich nur eine ­Illusion. ❙33 teilungsblatt der Hitachduth Olej Germa- nia“ (also der Vereinigung der Einwanderer In der außerakademischen Erwachsenen­ aus Deutschland) gegründeten Zeitschrift. bildung ist eine kleine Renaissance des Nach der Einstellung der 1935 gegrün- Deutschen aber nicht zu übersehen. Die deten und bis 2011 in Tel Aviv edierten Goethe-Institute in Tel Aviv und Jerusa- „ ­Israel-Nachrichten“ („Chadaschot ­Israel“) lem sowie das Haifa Zentrum für Deutsch- ist die „MB Yakinton“ das letzte und zu- und Europastudien erfreuen sich einiger gleich langlebigste Presseorgan, das ne- Zuwachsraten bei den Teilnehmerzahlen, ❙34 ben dem hebräischsprachigen Teil auch ei- vielleicht auch, weil Berlin zu einem belieb- nen Nachrichtenteil in deutscher Sprache in ten Urlaubsziel unter jungen Israelis gewor- ­Israel veröffentlicht. ❙30 den ist. „Deutsch ist zur Zeit in Israel en vogue“, bestätigt zumindest der Leiter der Heute wieder en vogue? ❙31 Vgl. Yfaat Weiss, Rückkehr in den Elfenbeinturm, Der Sprung zur Situation der deutschen in: Naharaim, (2014) 2, S. 227–245. Sprache im heutigen Israel ist groß, vielleicht ❙32 Vgl. Jakob Hessing, Germanistik in Israel oder: etwas zu groß. Es sind deshalb zentrale Zwi- Die Wiederkehr des Verdrängten, in: Christian Kohl- ross/Hanni Mittelmann (Hrsg.), Auf den Spuren der Schrift, Berlin 2011, S. 7–18. ❙28 .A Betten/​M. Du-nour (Anm. 24), S. 10. ❙33 Vgl. Mark H. Gelber, Wieso gibt es eigentlich kei- ❙29 Ebd., S. 10. Vgl. auch dies., Sprachbewahrung ne Germanistik in Israel?, in: ebd., S. 19–30. nach der Emigration – das Deutsch der 20er Jahre in ❙34 „Die vom Goethe-Institut Israel angebotenen Israel, Bd. 2: Analysen und Dokumente, Berlin 2000, Deutschkurse verzeichnen eine permanent steigen- S. 157. Betten spricht dort von der „Konservierung ei- de Nachfrage, seine Kapazitäten sind nahezu aus- nes Bildungsbürgerdeutsch“. geschöpft.“ Länderinformationen des Auswärtigen ❙30 Vgl. Goethe-Institut Israel, Das „Irgun“ in Tel Amtes zu Israel, Oktober 2014, www.auswaerti- Aviv und sein deutsches Mitteilungsblatt, ­Januar ges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderin- 2013, www.goethe.de/ins/il/lp/kul/mag/dsi/tel/de​10​ fos/Israel/Kultur-UndBildungspolitik_node.html 36 ​4​190.htm (12. 1. 2015). (12. 1. 2015):

40 APuZ 6/2015 Spracharbeit und stellvertretende Instituts- Yoav Sapir leiter des Goethe-Instituts Tel Aviv, Jörg Klinner. ❙35 Die Deutschkurse am Goethe- Institut seien ausgebucht, 2013 habe es mit Berlin, Berlin! 1800 Teilnehmern eine Rekordzahl gegeben. Die Motive dafür seien sehr unterschiedlich: Während einige für eine Zeit in Deutsch- Junge Israelis und land studieren wollten, vor allem im ange- sagten Berlin, hätten sich andere zum Ziel die deutsche Haupt- gesetzt, ihre Familiengeschichte zu erfor- schen oder aber deutsche Literatur im Ori- ginal zu lesen. stadt. Kritische

Vielleicht wird gerade dadurch die Spra- che entlastet, weil entideologisiert. Sie kann, Auseinandersetzung das sollte nicht vergessen werden, ein Seis- mograf für moralische Erschütterungen eines Befangenen sein, eine frühe Spiegelfläche für den Terror und die Entmenschlichung des Menschen, wie es der Romanist Victor Klemperer in Essay Zeiten des Faschismus und Totalitarismus in Deutschland beschrieben hat. ❙36 Sprache kann in diesem Zusammenhang auch miss- ber Israelis in Berlin zu schreiben und sie braucht werden und manipulieren. Insofern Üals Phänomen zu beschreiben, gestaltet ist sie eine brisante Größe. Aber sie vermag sich für mich als ziemlich schwierige Aufgabe, eben auch ein Türöffner zu sein zwischen obwohl oder vielleicht Räumen, die lange Zeit verschlossen waren. gerade deswegen, weil Yoav Sapir Sei es auf den Straßen von Tel Aviv oder in ich meinen Lebens- M. A., geb. 1979; arbeitet Berlin, sei es im Deutschen Bundestag oder mittelpunkt vor knapp ­freiberuflich als Journalist, in der Knesset. neun Jahren in diese ­Referent, Übersetzer und Stadt verlegt habe. Oft ­Stadtführer in Berlin. habe ich über uns in www.sapir-berlin.com der einen oder anderen [email protected] Zeitung gelesen, ohne mich und die anderen Israelis, die ich hier ken- ne, in dem Beschriebenen wiederzufinden. Es scheint sich bei diesem Thema um zweierlei zu handeln, um zwei verschiedene Aspekte, die nur bedingt miteinander zu tun haben, auch wenn beide unter dem Titel „Israelis in Berlin“ stehen.

Zum einen geht es um die Lebenswirklich- ❙35 Zit. nach: Gerold Meppelink, Die Liebe zur Spra- keit Berliner Israelis: Warum ist Berlin bei che führt nach Tel Aviv, 13. 2. 2014, www.gn-on- manchen so beliebt, und was macht für uns line.de/Nachrichten/-56589.html (12. 1. 2015). Al- die Faszination der Stadt aus? Was sind die lerdings fehlen umfangreichere Erhebungen. Der Motive zu kommen oder gar zu bleiben? Wie Sprachwissenschaftler Ulrich Ammon unterstreicht auf der Basis der zuletzt erhobenen Zahlen von 2005, geht es Israelis in Berlin? Mit welchen Er- dass „nur 2079 Israelis Deutsch an Schulen (…) und wartungen kommen sie, welche erfüllen sich, in der Erwachsenenbildung“ gelernt hätten. Ulrich welche sind illusorisch? Und nicht zuletzt: Ammon, Deutsch im Verhältnis zu anderen Spra- Welche Rolle spielt die Geschichte? Hier geht chen, in: C. Kohlross/​H. Mittelmann (Anm. 32), es also um Einzelschicksale, die zu verallge- S. 247–268, hier: S. 261. meinern kaum möglich ist. Ob meine persön- ❙36 Vgl. Victor Klemperer, LTI. Aus dem Notizbuch eines Philologen, Darmstadt 1966. liche Situation als Israeli in Berlin von Vorteil ist oder eine hinderliche Befangenheit dar- stellt, sei an dieser Stelle dahingestellt.

APuZ 6/2015 41 Zum anderen aber geht es um die deutsche Botschaft dar. Als israelische Staatsbürger Wahrnehmung, um das von Einzelschicksa- sind wir nämlich, so steht es ausdrücklich im len losgelöste Phänomen, das deutsche Medi- Reisepass, zur Anmeldung in der israelischen en „Israelis in Berlin“ nennen. Inwiefern wird Botschaft verpflichtet. Doch wie hoch der das mediale Phänomen durch die tatsächliche Anteil derer ist, die dieser Pflicht nicht nach- Praxis gedeckt? Und warum ist das deutsche kommen, bleibt ebenfalls unklar; im Konsu- Interesse, die deutsche Neugier so groß? lat scheint man dies jedenfalls mit mediterra- ner Gelassenheit zu nehmen und spricht von Da dieser Text in deutscher Sprache er- etwa 3000 Israelis in Berlin, was den Glau- scheint und an eine deutsche Leserschaft ge- ben an die tatsächliche Existenz eines großen richtet ist, möchte ich mit Letzterem begin- Phänomens wesentlich unterminiert. nen, um die mehr oder weniger objektiven Rahmenbedingungen zu erklären, bevor ich Wie sehen es die deutschen Behörden? zu den eher subjektiven Aspekten israeli- Auch das Amt für Statistik Berlin-Branden- schen Lebens komme. Zum Schluss möchte burg dementiert alle Gerüchte fünfstelliger ich über die jeweilige Bedeutung nachden- Zahlen und spricht von weniger als 4000 ken, die in diesen beiden Zusammenhängen Personen mit israelischer Staatsangehörig- der Vergangenheit beigemessen wird. keit, die in Berlin gemeldet sind. Allerdings gibt es gute Gründe, sich nicht auf diese Sta- tistik zu verlassen: Während bei anderen „Israelis in Berlin“ als Phänomen Nationalitäten mit ziemlicher Sicherheit auf die Anmeldestatistik zurückgegriffen wird, Sprechen wir von Israelis in Berlin, so stellt zeigt sich bei Israelis eine andere Situation. sich eine grundlegende Herausforderung: Wie Zum einen ist Israel in puncto Staatsange- groß ist dieses Phänomen? In der Praxis ist es hörigkeit liberaler als Deutschland, sodass sehr schwer, herauszufinden, inwiefern es die- der Besitz mehrerer Staatsangehörigkeiten ses Phänomen tatsächlich gibt. Wie viele Isra- für Israelis unproblematisch und eine rela- elis genau in dieser Stadt leben, weiß niemand, tiv weit verbreitete Erscheinung ist. Zum an- es lässt sich auch kaum schätzen. Lokale Me- deren stammen bekanntermaßen viele Isra- dien haben in den vergangenen Jahren unter- elis aus Europa, was ihnen den Erwerb von schiedliche Zahlen genannt, häufig ist von Staatsangehörigkeiten europäischer Län- 20 000, 30 000 und jüngst in der „Berliner Zei- der ermöglicht. Dank des europäischen Ei- tung“ (17. Januar 2015) sogar von 50 000 die nigungsprozesses wird diese Möglichkeit Rede. Es liegt der Verdacht nahe, dass hier jü- seit ungefähr anderthalb Jahrzehnten von dische Israelis und nichtisraelische Juden zu immer mehr Israelis in Anspruch genom- einer Menge vermischt werden – ein Problem, men. Sie oder ihre Kinder können dann in das ich später noch näher erörtere. Solche Deutschland die europäische Freizügigkeit Zahlen werden zuweilen auch von Israelis an- beanspruchen und melden sich folglich nicht gegeben, und zwar mit der Begründung, man als Israelis, sondern als Polen, Tschechen, höre auf Berliner Straßen ja so oft Hebräisch. Rumänen oder Angehörige anderer Staaten. Dass dem so ist, kann ich bestätigen, jedoch Manchen Israelis ebnet Artikel 116, Absatz 2 ist das in erster Linie auf Touristen zurück- des deutschen Grundgesetzes den Weg, denn zuführen: Verglichen mit der sehr beschau- als Nachkommen ehemaliger, verfolgter lichen Größe des Landes und seiner (hebrä- Reichsbürger können sie sich hier als Deut- ischsprachigen, also jüdischen) Bevölkerung sche niederlassen. Das statistische Amt zählt spielt Israel eine relativ große Rolle in der Ber- etwas mehr als 2000 Menschen, auf die das liner Tourismusindustrie. Knapp 85 000 Israe- zutrifft. Kann es sein, dass die Rede von „Is- lis sind allein 2013 nach Berlin gekommen (aus raelis in Berlin“ ein eher mediales als tat- den ganzen USA waren es im selben Zeitraum sächliches Phänomen ist? 327 000 Menschen). Aber nicht um die Touris- ten geht es hier, sondern um die Existenz einer Nicht ganz. Denn bei der Anmeldung in echten Community von Israelis, die in Berlin Berlin hat der Zugezogene auch seine vor- leben. Wie steht es also um diese? herige Adresse anzugeben. Somit lässt sich behördlich ermitteln, wie viele Einwohner – Die nächstliegende Quelle für aufschluss- egal welcher Staatsangehörigkeit – bei ihrer reiche Informationen stellt die israelische ersten Anmeldung in Berlin angegeben ha-

42 APuZ 6/2015 ben, aus Israel gekommen zu sein. Von diesen Lapid erinnert, der (ebenfalls auf Facebook) gab es 2013 etwas mehr als 9000. ❙1 2015 könn- seine Kritik an der jüdischen Auswanderung ten es also schon knapp 10 000 sein, womit nach Berlin zum Ausdruck brachte, wobei wir immerhin, wenn auch mit Verspätung, „Berlin“ in diesem Fall eher als Projektions- im fünfstelligen Bereich gelandet sind. Es fläche für einen innerisraelischen politischen muss jedoch angemerkt werden, dass hierin Schlagabtausch diente. auch Palästinenser mit israelischer Staatsan- gehörigkeit enthalten sind. Es ist wiederum Zugegebenermaßen haben auch wir Israe- unmöglich zu wissen, wie hoch ihr Anteil lis in Berlin an diesem medialen Boom mit- ist, doch meinem Eindruck nach sind es nicht gewirkt. 2012 gelang einigen von uns die wenige, die hier ihr Glück suchen. Nichtsdes- Gründung eines hebräischen Stadtmagazins toweniger kommen sie als „Israelis in Berlin“ namens „Spitz“, das wir gerne als das erste kaum zu Wort und werden sehr selten als sol- seit den 1930er Jahren feiern. Dieses erscheint che wahrgenommen. zweimonatlich und wird dank Sponsoren kostenlos an etwa 2000 Personen geschickt, Doch wenn die real existierenden Israelis in die mehrheitlich in Berlin wohnen. Nicht nur Berlin eine verschwindend kleine Minderheit aufgrund des persönlichen Bezugs erscheint unter fast 3,5 Millionen Einwohnern sind, mir unser Magazin als passende Metapher für woher rührt die Vorstellung, der Begriff von uns Israelis in Berlin – gefangen in dem gro- „Israelis in Berlin“? ßen Abstand zwischen dem medialen Phä- nomen und den tatsächlichen Bedingungen. Kaum ein Monat vergeht, ohne dass ein Denn unterm Strich ist es eine sehr beschau- deutsches, oft ein Berliner Medium über uns liche Existenz, die unserem kleinen Projekt schreibt oder sendet. Auch wenn die fakti- (noch?) vergönnt ist. Dies trifft auch verall- sche Existenz einer großen Community sich gemeinert auf uns zu: Ja, wir sind hier, aber kaum nachweisen lässt, sind wir zumindest unsere Community entfaltet sich in einem als mediales Phänomen objektiv vorhanden. wesentlich weniger glamourösen Umfang als Gelegentlich wirkt sich der hiesige Enthusi- dies angesichts mancher Berichterstattung zu asmus auch auf die israelische Medienland- sein scheint. Denn obwohl seit Kurzem ein schaft aus, die seit einigen Jahren begonnen gewisses Gemeinschaftsgefühl nicht mehr zu hat, sich für die Israelis in Berlin zu inter- bestreiten ist, befindet sich das Ganze noch essieren. Ihren vorläufigen Höhepunkt hat in den Anfängen, keineswegs vergleichbar zu diese Entwicklung 2014 mit dem sogenann- anderen, sehr aktiven israelischen Communi- ten Schokopudding-Protest erlebt: Ein vor- ties weltweit, über die jedoch kaum berich- läufig in der deutschen Hauptstadt weilender tet wird. Israeli hat auf Facebook seine Landsleute zur Auswanderung nach Berlin aufgerufen, weil Somit gelangen wir zu der Frage, warum Schokopudding (als Symbol für die allge- die Israelis in Berlin trotz alledem ein Phä- meinen Lebenskosten) hier billiger ist. Eini- nomen geworden sind. Die Antwort, die ich ge Wochen später ist der Initiator selbst nach auf diese Frage bieten kann, wird kaum über- Israel zurückgekehrt, und das Thema Ber- raschen, aber sie vermag zu erklären, warum lin scheint, ohne dass eine tiefer eingehende israelische Palästinenser, obwohl nicht weni- Auseinandersetzung mit der etwaigen Exis- ger israelisch als ihre jüdischen Mitbürger, in tenz einer israelischen Community in Berlin diesem medialen Phänomen kaum eine Rol- stattgefunden hätte, bis auf Weiteres wieder le spielen. Auch hier sei dahingestellt, in- in Vergessenheit geraten zu sein. In diesem wiefern meine Situation – diesmal als Nicht- Zusammenhang sei auch an die frühere Af- deutscher – mir helfen kann, das deutsche färe um den israelischen Finanzminister Yair Phänomen zu verstehen, in dem ich sozusa- gen unwillkürlich eine kleine Rolle spiele. ❙1 Alle aktuell, nämlich Ende 2014, vorliegenden Sta- tistiken beziehen sich sinngemäß auf 2013. Dabei ist Unsere Gegenwart als Israelis in Berlin ist, das Thema „Israelis in Berlin“ seit etwa einem hal- wie mir scheint, in erster Linie eine Gegen- ben Jahrzehnt in den Medien präsent. Es gibt keiner- wart als Juden. So banal dies klingt, so wich- lei Gründe anzunehmen, dass die von den Medien behaupteten 20 000 oder gar 50 000 gerade in den ver- tig ist es wohl, darüber nachzudenken: Un- gangenen Monaten schlagartig in Berlin aufgetaucht sere Bezeichnung als „Israelis“ ist oft nur ein wären. Hinweis auf unser Jüdischsein. Dies könnte

APuZ 6/2015 43 erklären, wie manche Medien Zahlen nen- Medien als solches wahrgenommen wird. nen, die nur dann Sinn ergeben, wenn man Im Gegenteil: Unsere bescheidene Existenz die rund 10 000 Mitglieder der jüdischen Ge- und der mediale Hype scheinen sich zu wi- meinde dazurechnet. dersprechen. Dies sind die Rahmenbedin- gungen, innerhalb derer das Leben einzelner Gleichzeitig geht es aber nicht nur um das Israelis in Berlin stattfindet. Diese Wider- bloße Jüdischsein. Was die Deutschen so sehr sprüchlichkeit, die ich hier zu schildern ver- interessiert, ist das Phänomen eines besonde- sucht habe, ist wohl das wichtigste Charakte- ren Jüdischseins, das sich vom Gemeindele- ristikum von „Israelis in Berlin“. ben der Diasporajuden abhebt. Unter diesem Aspekt erscheinen die Israelis als die „Neuen Hebräer“, wie eine an das deutsche Publikum Wirklichkeit von Israelis in Berlin gerichtete Ausstellung in Berlin vor einigen Jahren betitelt wurde. Denn wir Israelis kom- Schauen wir nun nicht mehr auf den deut- men ja aus einem Land, in dem wir – ganz im schen Hype, sondern fokussieren uns auf die Gegensatz zu allen anderen Juden weltweit – Lebensrealität der hier lebenden Israelis. Wie keine Minderheit sind. Im Gegenteil: Dort zuletzt beim Pudding-Protest, geht es auf entfaltet sich die jüdische Identität, die hier- der israelischen Seite beim Thema „Berlin“ zulande (wie überall in der Diaspora) doch – wohl gegen deutsche Erwartungen – nicht sehr auf das Religiöse beschränkt ist, in allen, so sehr um Geschichte, sondern um die Wirt- ja auch machtpolitischen Aspekten. Das typi- schaft. Es ist immer wieder die Wirtschaft. sche Bild eines jungen Israelis in Berlin ist das eines gewesenen Soldaten (oder Soldatin) – für Man muss schon zugeben, dass der Hype manche Einheimischen vielleicht das Bild ei- in den israelischen Medien um den Pudding- nes Täters. Der hiesige Kontext verleiht uns Protest, wie auch der Protest selbst, nicht un- also eine ganz neue Brisanz, die aus Individu- berechtigt war. Milchprodukte sind in Isra- en ein Thema macht, ein Phänomen. el etwa fünfmal so teuer wie in Deutschland, weil der israelische Milchmarkt seit Jahrzehn- In der deutschen Hauptstadt erscheinen die ten mit einer zentralistischen, konkurrenzlo- Israelis folglich nicht als Fortsetzung oder sen Planwirtschaft staatlich verwaltet wird. Wiederbelebung der jüdischen Existenz vor Dabei ist der Milchmarkt nur ein Beispiel für der Katastrophe der Shoah (diese Rolle be- viele objektiv vorhandene Probleme. Tatsäch- ziehungsweise Wahrnehmung ist den Dia- lich hat Israel noch einen langen Weg vor sich, sporajuden vorbehalten), sondern als etwas um das sozialistische Erbe seiner Gründungs- anderes, ganz anderes. Denn eine Commu- väter zu überwinden. Weder dem Initiator des nity von Israelis in Berlin ist zweifelsoh- Pudding-Protestes noch der israelischen Öf- ne ein historisches Novum, während es hier fentlichkeit ging es wirklich um den Pudding, schließlich seit 1671 immer schon Diaspora- sondern um die allgemeinen Lebenshaltungs- juden gegeben hat – nicht nur vor dem Zwei- kosten, bis hin zu den Immobilienpreisen. ten Weltkrieg, sondern auch währenddessen, danach und erst recht heute, infolge der jü- Tatsächlich ist die israelische Migration dischen Immigration aus der ehemaligen So­ nach Berlin in den vergangenen Jahren durch wjet ­union. Doch die ehemals sowjetischen die Suche nach einem höheren Lebensstan- Juden wurden hergeholt, ihre Einwanderung dard gekennzeichnet. Die Geschichte, die in wurde vom deutschen Staat gewollt, geför- den deutschen Medien verständlicherweise dert und organisiert. Ganz anders – abermals eine große Rolle spielt, ist den meisten Israelis anders – verhält es sich bei den Israelis, deren von zweitrangiger Bedeutung. Wie schwer es Weg nach Berlin von keiner offiziellen Sei- Deutschen fällt, sich die wirtschaftliche Pro- te unterstützt, geschweige denn organisiert blematik in Israel vorzustellen, zeigt sich in wird. Warum kommen sie bloß? der Diskrepanz zwischen der allgegenwärti- gen Kritik in Berlin an den gestiegenen Woh- Dieser Frage gehe ich im nächsten Teil nungs- und Mietpreisen und der israelischen nach. Doch vorab ist festzuhalten: Es sind Wahrnehmung derselben Preise als sehr bil- nicht die innerisraelischen Beweggründe der lig. Um es mit einem zufälligen, aber treffen- (relativ wenigen) Migranten, die sie zu dem den Beispiel zu veranschaulichen: Während Phänomen werden lassen, das von deutschen ich diesen Text schreibe, habe ich eine Mail

44 APuZ 6/2015 bekommen, in der Bekannte meiner Mutter Amsterdam zu gehen, tat eben das. Weniger um meine Hilfe bitten, in Berlin eine Woh- Vermögende verschlug es in billigere ­Städte, nung zu erwerben, da sie sich auf dem israe- wobei Berlin sich schon seit den 1990er Jah- lischen Markt, wo sich fast alle Grundstücke ren als die internationale, alternative und landesweit im staatlichen Besitz befinden, subversive unter den großen und dennoch keine Wohnung leisten können. billigen Metropolen profilierte. Man sollte also bedenken, dass die Beliebtheit Berlins in Als ich mit meiner deutschen Freundin (in- künstlerischen Kreisen keine israelische Be- zwischen Ehefrau) vor anderthalb Jahren auf- sonderheit ist und dass die Migration israeli- grund steigender Mietpreise in das Haus ge- scher Künstler nach Berlin eigentlich Teil ei- zogen bin, in dem wir seitdem wohnen, hatten nes internationalen Phänomens ist. wir hier noch keine israelischen Nachbarn. Seitdem sind drei dazugekommen, die hier am Dabei dürften sowohl bei Israelis als auch Rande der Stadt ebenfalls Zuflucht gefunden bei allen anderen Künstlern, die für eine län- haben: ein Gastronom, ein Informatiker und gere oder kürzere Zeit nach Berlin gekom- ein Anwalt. Bei allen war die Wirtschaft ein men sind, die vom deutschen Staat aufge- zentraler Faktor bei der Entscheidung, hier- stellten Rahmenbedingungen ebenfalls von her zu kommen. Dass sie gebildet sind, ist kein Bedeutung gewesen sein. Man denke in die- Zufall, sondern ebenfalls charakteristisch für sem Zusammenhang etwa an die Künstlerso- die Israelis, die es in den zurückliegenden Jah- zialkasse, die in anderen westlichen Ländern ren nach Berlin verschlagen hat: Es ist absur- wie den USA oder eben Israel noch ihresglei- derweise gerade die Mittelschicht, die Israel chen sucht (wobei wir es hier wiederum nicht verlässt. Die sogenannte Unterschicht kann mit einem Berliner Spezifikum zu tun haben). sich ein solches Unterfangen kaum leisten. Kurzum: Berlin galt – und es gilt gewis- Es ist also eine Verallgemeinerung, die mir sermaßen immer noch – als chancenreiche aber tragfähig erscheint: Viele, vielleicht so- Etappe in der Karriere angehender Künstler, gar die meisten Israelis zieht es aus wirtschaft- wenn nicht aufgrund von Vorzügen, die al- lichen Gründen ins Ausland, darunter auch lein für Berlin gelten, so doch aufgrund der diejenigen, die nach Berlin gekommen sind. Gesamtwirkung verschiedener Faktoren auf Größtenteils sind sie nicht enttäuscht bei der der internationalen, der deutschlandweiten Begegnung mit der hiesigen Marktwirtschaft, wie auch der städtischen Ebene, deren Zu- auch wenn Berlin teurer geworden ist. Es ist sammenkunft in Berlin die Stadt zum An- eine auffällig bürgerliche Migration, die auch ziehungspunkt gemacht haben. „Berlin“, so Familien umfasst. Es geht also nicht nur um könnte man sagen, ist in den vergangenen junge, unabhängige Menschen, sondern durch- beiden Jahrzehnten ein Distinktionsmerk- aus auch um Eltern, die wohlüberlegt mit ih- mal gewesen, mit dem man überall im Westen ren Kindern nach Berlin ziehen, damit diese angeben konnte – darunter eben auch in den schon mit der deutschen Sprache aufwachsen. künstlerischen Kreisen Israels. Dies steht in starkem Gegensatz zu früheren Migrantentypen wie etwa den Künstlern. Inzwischen hat sich aber einiges verän- dert: Die Stadt ist nicht mehr so billig, um Ja, es waren „die Künstler“, die früher in is- jede Ausschreibung bewerben sich zahlrei- raelischen Kreisen den Ton angaben und de- che Konkurrenten, und insgesamt soll Berlin, ren Ausstrahlung bis heute noch das Berliner wie heutzutage in solchen Kreisen zu verneh- Bild vom coolen, alternativen, typischerwei- men ist, einfach nicht mehr so einmalig sein, se linken Israeli prägt: jung, alleinstehend, wie es mal war. Auch die israelische Künst- oft homosexuell. Als Berlin noch recht bil- lerszene in Berlin zeigt sich nunmehr weniger lig war, galt der kreative Typ – der Maler, die subversiv und dafür bürgerlicher: Es existie- Sängerin – als Sinnbild der Berliner Israelis ren schon einige Galerien, die sich auf israeli- schlechthin. Nichtsdestoweniger war es da- sche Kunst spezialisieren. mals freilich kein israelisches Spezifikum, sondern Teil einer allgemeinen Entwicklung, Gehen wir in die Mitte der 2000er ­Jahre, die Kreative und Schaffende aus verschiede- so kommen wir auf die Gruppe, in die wohl nen Teilen der Welt an die Spree zog. Wer auch ich einzuordnen bin: die „Germano- es sich leisten konnte, nach New York oder logen“. Diesen Begriff verwendeten mei-

APuZ 6/2015 45 ne Kommilitonen und ich als Selbstbezeich- Israelis geben (möglicherweise bis auf ei- nung; gemeint waren diejenigen, die sich nige der oben beschriebenen Germanolo- aus Leidenschaft auf Deutschland speziali- gen), bei denen die Geschichte der Grund sierten – in Geschichte, Literatur, Philoso- war, den eigenen Lebensmittelpunkt doch in phie und so weiter. Ehrlich gesagt sind wir diese Stadt zu verlegen. Daraus ist man fast Germanologen eine recht kleine, dafür aber gezwungen zu folgern, dass die Geschichte mit sehr eigentümlichen Charakteristika auch bei denjenigen, die sich zumindest vor versehene Gruppe: Obwohl keine Mutter- dem eigenen Familienhintergrund als Be- sprachler, können Germanologen schon gut troffene verstehen, eine allenfalls zweitran- Deutsch, bevor sie kommen – und sie kom- gige Rolle spielt. men meistens nicht als Einzelgänger, son- dern auf akademischen Wegen. Es geht ihnen Dies bedeutet allerdings nicht, dass der nicht um Finanzen oder Karriere, für die sich Holocaust unwichtig wäre. Auch und gera- an einem Tag in Berlin, am nächsten jedoch de in der zweitrangigen Rolle bleibt er stets woanders gute Chancen bieten, sondern um im Hintergrund, manchmal im wortwört- eine ganz bewusste Entscheidung, Deutsch- lichen, visuellen Sinne, etwa in Gestalt der land und dem Deutschen ein gutes Stück ih- allgegenwärtigen Stolpersteine oder des un- res Lebens zu widmen. Aber vielleicht ist das übersehbaren Stelenfeldes. Allerdings ist das eine viel zu romantische Darstellung von mir eine Frage, die nicht nur Israelis, sondern alle und meinesgleichen: Wenn die Gefahr be- Juden in Berlin betrifft. Hier zeigt sich noch- steht, dass meine persönliche Situation mei- mals, dass es bei dem Thema „Israelis in Ber- ne Sicht auf die Dinge verzerrt, dann wohl in lin“ nicht wortgenau um „Israelis“, sondern diesem Punkt. eigentlich um „Juden aus Israel“ geht.

Damit will ich sagen, dass eine persönliche Wo bleibt der Holocaust? Auseinandersetzung mit Berlin als Haupt- stadt der NS-Diktatur und als dem Ort, an Welche Rolle spielt also bei den hiesigen Isra- dem die schrecklichsten Verbrechen am jüdi- elis „die Geschichte“, die in diesem Zusam- schen Volk erdacht wurden, dem alltäglichen menhang ja letztendlich auf den Holocaust Leben als Israeli in Berlin innewohnt – sie ist hinausläuft und gerade aus deutscher Sicht eine gewissermaßen natürliche, unvermeidli- bei der Wahrnehmung dieser Israelis doch che Entwicklung bei wohl jedem Israeli (und so zentral ist? Wie in den bereits dargelegten weil eine solche Auseinandersetzung eben Punkten kann es auch hier keine Antwort ge- sehr persönlich ist, erlaube ich mir hier keine ben, die für beide Seiten gleichermaßen gilt. weiteren Verallgemeinerungen über etwaige Dass der deutsche Völkermord am europäi- Ergebnisse solcher individuellen Entwick- schen Judentum auf deutscher Seite eine grö- lungen). Andererseits möchte ich betonen, ßere Rolle spielt als auf israelischer Seite, er- dass eine solche Auseinandersetzung – so un- gibt sich letztendlich schon daraus, dass die vermeidlich sie im Laufe der Zeit ist – eben Israelis in dieser Stadt zahlenmäßig nicht eine indirekte Folge der Zuwanderung nach sonderlich ins Gewicht fallen. Da sie also in Berlin ist und in den allermeisten Fällen we- keinem Bereich bedeutsamen Einfluss aus- der ihr Grund noch ihre beabsichtigte Ziel- üben können, ist es selbstverständlich, dass setzung. Insofern muss festgehalten werden, ihnen beziehungsweise uns als Gruppe – zu- dass die für die deutsche Wahrnehmung von mal als eine jüdische – keine andere Bedeu- Israelis in Berlin so zentrale „gemeinsame“ tung zugeschrieben werden kann als eine his- Geschichte für die Israelis selbst, als Indivi- torische und symbolische. duen, keine primäre, gar alles andere über- schattende Bedeutung hat. Das heutige Le- Eine ganz andere Funktion erfüllt die Ge- ben ist weitaus wichtiger, und so wird durch schichte bei den Israelis – und so sehr diese die vielen kleinen und großen Freuden oder Sache persönlich jeweils anders ausfällt, er- Miseren des Alltags sogar der Holocaust in laube ich mir hier zu verallgemeinern. Denn den Hintergrund gedrängt. es gibt Israelis, bei denen der Holocaust ein Grund ist, Deutschland und Berlin nicht zu besuchen, geschweige denn, sich hier nie- derzulassen. Aber es wird in Berlin kaum

46 APuZ 6/2015 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86 53113 Bonn

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Shimon Stein · Mordechay Lewy 3–8 50 Jahre diplomatische Beziehungen Angesichts des Abgrunds, der sich zwischen Deutschen und Juden aufgetan hatte, ist das gute Verhältnis zwischen Deutschland und Israel keine Selbstverständlich- keit. Doch gibt es eine Schere zwischen politischer und gesellschaftlicher Ebene.

Markus Kaim 8–13 Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson Als Angela Merkel 2008 vor der Knesset betonte, dass Israels Sicherheit Teil deut- scher Staatsräson sei, bedeutete das keine Neuerung der deutschen Israelpolitik. Vielmehr hat die Kanzlerin damit bestehende Grundentscheidungen bekräftigt.

David Witzthum · Sylke Tempel 14–23 Gegenseitige Wahrnehmungen Auch wenn die Bilder voneinander immer weniger von der Shoah geprägt zu sein scheinen: Weder ist Deutschland für Israelis, noch ist Israel für Deutsche ein Land wie jedes andere. Wie wirkt sich das in den jeweiligen Wahrnehmungen aus?

Marcel Serr 23–29 Zur Geschichte der Rüstungskooperation Die deutsch-israelische Rüstungskooperation begann bereits in den 1950er Jahren.­ Unter Geheimhaltung entwickelten die Länder eine Zusammenarbeit, die Ver- trauen schuf und bis heute wichtiger Bestandteil ihrer Beziehungen ist.

Lorena De Vita 29–35 Annäherung im Schatten der Hallstein-Doktrin Die Entscheidung, Israel 1965 diplomatische Beziehungen anzubieten, reifte unter den spezifischen Bedingungen des Wettstreits beider deutscher Staaten um inter- nationale Anerkennung. Sie ist somit untrennbar mit dem Kalten Krieg verbunden.

Arndt Kremer 35–41 Brisante Sprache? Deutsch in Palästina und Israel Die Geschichte der Präsenz der deutschen Sprache in Palästina und Israel ist älter, als gemeinhin angenommen wird. Während sie in Israel lange Zeit eine lingua non grata war, bedeutete sie für viele vertriebene Juden ein letztes Stück Heimat

Yoav Sapir 41–46 Berlin, Berlin! Junge Israelis und die deutsche Hauptstadt Auch wenn die Existenz einer großen Community sich kaum nachweisen lässt, sind die Israelis in Berlin zumindest als mediales Phänomen objektiv vorhanden. Ihre Motive zu kommen, sind meist weit weniger glamourös als vielfach angenommen.