Sven Hiemke

Heinrich Schütz

Bärenreiter Kassel · Basel · London · New York · Praha Auch als eBook erhältlich (epub: isbn 978-3-7618-7035-8 . epdf: isbn 978-3-7618-7034-1)

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© 2015 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel Umschlaggestaltung: +christowzik scheuch design unter Verwendung einer Abbildung von akg-images Lektorat: Jutta Schmoll-Barthel Innengestaltung und Satz: Dorothea Willerding Notensatz: Tatjana Waßmann, Winnigstedt Korrektur: Daniel Lettgen, Köln Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza isbn 978-3-7618-2206-7 www.baerenreiter.com Inhalt

Vorwort ...... 7

I. Tradition

1. Überzeitlich . Zwischen »alter« und »neuer Manier«...... 10

2. Beispielhaft . Wider den Dilettantismus ...... 15

3. Geordnet . Aufbau und Konzeption ...... 19

II. Handwerk

1. Voraussetzungen . »Nothwendige Requisita«...... 26

2. Sprache . »In die Music übersetzet« ...... 33

3. Kontroverse . Der Streit zwischen Scacchi und Siefert ...... 38

4. Aufführungspraxis . »Nicht alle Zeit einerley« ...... 43

III. Kommentare 1. Die fünfstimmigen Motetten ...... 51 Es wird das Zepter von Juda nicht entwendet werden (SWV 369) 51 . Er wird sein Kleid in Wein waschen (SWV 370) 52 . Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes (SWV 371) 53 . Verleih uns Frieden genädiglich (SWV 372) 56 . Gib unsern Fürsten und aller Obrigkeit (SWV 373) 57 . Unser keiner lebet ihm selber (SWV 374) 59 . Viel werden kommen von Morgen und von Abend (SWV 375) 61 . Sammlet zuvor das Unkraut (SWV 376) 62 . Herr, auf dich traue ich (SWV 377) 63 . Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten (SWV 378) 64 . So fahr ich hin zu Jesu Christ (SWV 379) 68 . Also hat Gott die Welt geliebt (SWV 380) 70

2. Die sechsstimmigen Motetten...... 72 O lieber Herre Gott, wecke uns auf (SWV 381) 72 . Tröstet, tröstet mein Volk (SWV 382) 74 . Ich bin eine rufende Stimme (SWV 383) 76 . Ein Kind ist uns geboren (SWV 384) 78 . Das Wort ward Fleisch (SWV 385) 79 . Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (SWV 386) 80 . Herzlich lieb hab ich dich, o Herr (SWV 387) 84 . Das ist je gewisslich wahr (SWV 388) 86 . Ich bin ein rechter Weinstock (SWV 389) 91 . Unser Wandel ist im Himmel (SWV 390) 92 . Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben (SWV 391) 93 . Was mein Gott will, das gscheh allzeit (SWV 392) 94

3. Die siebenstimmigen Motetten ...... 95 Ich weiß, dass mein Erlöser lebt (SWV 393) 95 . Sehet an den Feigenbaum und alle Bäume (SWV 394) 98 . Der Engel sprach zu den Hirten (SWV 395) 99 . Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehöret (SWV 396) 102 . Du Schalks knecht, alle diese Schuld hab ich dir erlassen (SWV 397) 103

IV. Rezeption 1. Frühe kompositorische Aneignungen ...... 104 2. Ausgaben ...... 110 3. Adaptionen im frühen 20. Jahrhundert ...... 113

Anhang Alphabetisches Verzeichnis der Motetten ...... 123 Heinrich Schütz’ Widmungstext ...... 124 »Vorrede« mit Übertragung in heutiges Deutsch ...... 126 Literatur ...... 132 Anmerkungen...... 141 Vorwort

Wer sich mit den zentralen Werken der abendländischen Kirchen musik beschäftigen will, kommt an der Geistlichen Chormusik von Heinrich Schütz nicht vorbei. Die 29 Kompositionen, die in diesem Kompendium enthalten sind, gelten in ihrer Gesamtheit nicht nur als das schönste Motettenwerk ihrer Zeit, sondern zählen zu den bedeutendsten Beiträgen zur protestan- tischen Kirchenmusik überhaupt. Das erste Kapitel der vorliegenden Einführung bemüht sich um eine Einordnung dieses Werkes in seinen musikgeschichtlichen Kontext. 1648 in Dresden veröff entlicht, entstanden die Kompositionen dieser Samm- lung in der Zeit eines tief greifenden Stilwandels, durch den die Gattung »Motette« zunehmend durch das generalbassbegleitete »Concert« verdrängt worden und eigentlich schon aus der Mode gekommen war. In der Geist- lichen Chormusik legte Schütz nieder, was ihm überzeitlich erhaltenswert zu sein schien. Und indem er hierin demonstrierte, wie das tradierte Regel- werk der Satztechnik anzuwenden war, ist seine Sammlung ein Kompen- dium für kunstgerechtes Komponieren schlechthin. Eine Glorifi zierung des Alten intendierte Schütz damit freilich nicht. Ebenso wenig war dem Dresdner Hofkapellmeister daran gelegen, den Generalbass zu diskreditieren, den er selbst seit 1625 in jede seiner Kompo- sitionen einbezogen hatte. Wichtig schien ihm nur, dass die Neuerungen in der Musik nicht zulasten ihrer qualitativen Substanz gingen und das kontrapunktische Regelwerk nicht relativierten oder gar außer Kraft setzten. Diese und andere Auffassungen erläuterte Schütz dem »günstigen Leser« seines inhaltsreichen Vorwortes mit Darlegungen zum Sinn und Zweck seiner Geistlichen Chormusik und dezidierten Vorschlägen zur Aufführungs- praxis. Diesen Hinweisen nachzugehen und das Vorwort auf seine Inhalte im Einzelnen zu befragen, ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Kompositorisch sind die Motetten der Geistlichen Chormusik natür- lich viel zu komplex, als dass sie auf einem Umfang von jeweils zwei bis drei Seiten erschöpfend zu analysieren wären. Kurze »Kommentare« im dritten Kapitel müssen genügen, um für jede Motette der Sammlung eine (erste) Orientierung zu bieten und womöglich zu helfen, Exemplarisches ( schneller) aufzufi nden.

Vorwort 7 Die Motettentexte, die den jeweiligen Kommentaren vorangestellt sind, entsprechen der Versgliederung der Bibel. Die Werkbesprechungen selbst folgen dem Notentext, den Werner Breig für die »Neue Schütz-Ausgabe« (2 Bände, Kassel 2003 und 2006) erarbeitet hat und die mit einem Vor- wort von Manfred Cordes und einer Continuo-Aussetzung von Antje Wisse- mann auch als Praktische Ausgabe erhältlich ist (2 Bände, Kassel 2012 und 2013). Im Sinne der besseren Lesbarkeit dieses Büchleins schien es in den Notenbeispielen mit nur einem System allerdings zweckmäßig, die Mensuralnotation (der Breigs Ausgabe verpfl ichtet ist) zugunsten von Taktstrichen aufzugeben und überhaupt von »Takten« zu sprechen. Die metrisch begrenzte Einheit von betonten und unbetonten Zählzeiten war bei Schütz schon viel stärker wirksam als noch in Werken der Vokal- polyphonie des 16. Jahrhunderts, weshalb schon Schütz’ Zeitgenossen »Taktstriche« in die gedruckten Exemplare nachgetragen haben. (Auch das Druckexemplar der Generalbass-Stimme der Geistlichen Chormusik hat be- reits gliedernde »Taktstriche«.) Diesem Ziel der Vereinfachung dient auch die heute übliche Schreibweise des Titels von Schütz’ Sammlung und die Bezeichnung der Vokalpartien mit den heutigen Stimmlagen eines Chores, anstatt korrekterweise von »Geistlicher Chor-Music« bzw. von »Cantus«, »Quintus« usw. zu sprechen, wie Breig dies in der »Neuen Schütz-Ausgabe« selbstverständlich tut. Die Rezeptionsgeschichte der Geistlichen Chormusik reicht weit zu- rück: Schon Schütz’ Zeitgenossen nahmen sich an dieser Sammlung ein Beispiel; mit ihr wurde Schütz Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt, und bis heute gehört sie – zumindest ausschnitthaft – zu seinen am häu- fi gsten aufgeführten Werken. Der Vorbildcharakter dieses Kompendiums lässt sich nicht zuletzt aus dem Umstand ersehen, dass um die Wende zum 20. Jahrhundert bedeutende Komponisten im Umfeld der kirchenmusika- lischen Erneuerungsbewegung den Werktitel Geistliche Chormusik für eigene Motettensammlungen adaptierten. Die Übertragung von Schütz’ »Vorrede« in heutiges Deutsch am Ende dieses Buches ist der wiederholten Seminar-Erfahrung des Autors geschul- det, Kirchenmusikstudierende mit der Bitte um eine Paraphrasierung der Inhalte schlicht überfordert zu haben. Kundigen Lesern mag die Idee einer »Übersetzung« redundant erscheinen – sie seien um Nachsicht gebeten. Bekundungen eines herzlichen Dankes sind dem Autor ein dringen- des Bedürfnis: Danke an Professor Dr. Klaus Hofmann und Professor Dr. Matthias Schneider für ihre kritische Lektüre des Manuskripts und ihre

8 vielen guten Ideen zur inhaltlichen und sprachlichen Optimierung, danke auch an Hendrik Dochhorn M. A. für seine profunden Stellungnahmen zu »Stil«-Fragen. Danke an Dorothea Willerding für die an sprechende Gestaltung des Buches und an Dr. Daniel Lettgen für seine aufmerksame Textkorrektur. Danke nicht zuletzt an Dr. Jutta Schmoll-Barthel, die die Entstehung dieses Büchleins von Anfang an kritisch begleitet hat. Von ihrem Gespür für das schönere Wort, die genauere Beschreibung, die tref- fendere Formulierung profi tierte mein Text in höherem Maße, als es der Dank für ihr einfühlsames Lek torat auszudrücken vermag.

Hamburg, im Sommer 2015 Sven Hiemke

Vorwort 9 I. Tradition

1. Überzeitlich . Zwischen »alter« und »neuer Manier« Modern waren sie nie. 1648 erschienen, zum Teil aber schon deutlich früher komponiert, galten die Motetten der Geistlichen Chormusik von Hein- rich Schütz manchem Zeitgenossen schon bei ihrer Veröff entlichung als unzeitgemäß. Wie viel fortschrittlicher waren doch die vokalen Concerti mit Generalbass! Schütz selbst freilich beabsichtigte mit der Sammlung keineswegs, einen Beitrag zu einem antiquierten Genre vorzulegen. Sein erklärtes Ziel war es vielmehr, Werke bereitzustellen, die sich mit der Empfehlung für angehende Komponisten verbanden, sich durch das Stu- dium dieses Kompendiums zunächst »das rechte Fundament eines guten Contrapuncts« anzueignen, um nicht dereinst Motetten produzieren zu müssen, die manchem unbedarften Hörer vielleicht vorkämen wie eine »himmlische Harmoni«, von Zeitgenossen mit »recht gelehrten Ohren« allerdings nicht höher eingeschätzt würden als eine »taube Nuß« (vgl. den originalen Wortlaut und seine Übertragung in heutiges Deutsch im An- hang dieser Werkeinführung).1 Dem alten Mann will die neue Musik nicht schmecken? Schütz sah die Gefahr eines solchen Verdikts durchaus. Anfang 1651 berichtete der 65-Jährige seinem Dienstherrn, dem sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. (1585–1656), von einem »mir wol bekandten, nicht übel qvalifi cirten Can- tor«, dessen »junge Ratsherren mit seiner alten Manier der Music, sehr übell zufrieden, und dahero seiner sehr gerne loos weren«. Und weil die junge Generation überhaupt der »alten Sitten und Manier bald pfl eget überdrüssig zu werden«, könne ihm, Schütz, »auch derogleichen […] wol von etlichen New anko[mm]enden Jungen Musicanten selbst wieder fahren, welche mit hindansetzung der alten, gemeiniglich Ihre newe Manier, wie wol mit schlechtem grunde, pfl egen hervor zu ziehen«.2 Schütz’ Protest fi ndet hier eine entscheidende Diff erenzierung: Nicht die »newe manier« schlechthin ist Gegenstand der Kritik, sondern Beiträge »mit schlech- tem grunde« werden angeprangert – jene Werke also, die das komposito- rische Rüstzeug ihrer Urheber vermissen ließen. Dieser Unkenntnis setzt

10 Schütz die Motetten der Geistlichen Chormusik entgegen, in denen er die »nothwendigen Requisita« für qualitätvolles Komponieren in prak- tischen Beispielen vorführt. Innovativ zu nennen ist Schütz’ Œuvre freilich nicht. Gewiss: Der Dresdner Hofkapellmeister rühmte sich zu Recht, den konzertierenden Stil samt Basso continuo, der durch den kontrastierenden Wechsel heterogener Klanggruppen charakterisiert ist, in Deutschland eingeführt zu haben. Und wohl hatte Schütz nach seiner lateinischsprachigen Motettensammlung Cantiones sacrae (Dresden 1625) nur noch Werke in diesem Stil geschaff en. Monodische Werke aber – instrumentalbegleitete Einzelgesänge, die von der italienischen Oper inspiriert waren und ihre Attraktivität aus einer aff ektiven Textdarstellung bezogen, ohne an eine bestimmte Form gebunden zu sein – fi nden sich bei Schütz nur am Rande; Instrumentalmusiken und Beiträge in modischen Genres, etwa Tanz- und Generalbasslieder, fehlen in seinem Schaff en völlig. Mustergültige Beispiele für Werke in »newer Manier« bieten im zeitlichen Umfeld der Geistlichen Chormusik allerdings die Symphoniae sacrae: Hier, in diesen Concerti mit obligaten Instrumental- stimmen in kleiner (Teil II, 1647) und großer Besetzung (Teil III, 1650), mit oft virtuosem Melos der Singstimmen und durchgängigem Basso con- tinuo, lieferte Schütz den Nachweis, durchaus kein gealterter Meister mit antiquierten Vorstellungen zu sein. Dass der über 60-jährige Komponist seinen Symphoniae sacrae II ein Verzeichnis seiner bisher im Druck erschienenen Werke beifügte und diesen rückwirkend die Opuszahlen 1 bis 9 zuordnete,3 steht hierzu nicht im Widerspruch, sondern lässt angesichts seines vergleichsweise hohen Lebens- alters und jahrzehntelangen Wirkens als kursächsischer Hofkapellmeister auf das Bedürfnis schließen, sein Lebenswerk mit abschließenden Publi- kationen in den jeweiligen Gattungen abzurunden. Zu diesem Vorhaben passen sowohl Schütz’ wiederholte Gesuche um Entlassung aus den Diens- ten des Kurfürsten (denen dieser allerdings nie entsprach) als auch die wiederholte Ankündigung, seine »unterschiedliche[n] angefangene[n] Mu sica lische[n] Wercke zu colligiren und completiren«, also zusammen- fassen und ergänzen zu wollen.4 Diese Absichtserklärung auf die Opera 10 bis 12 zu beziehen, bietet sich aufgrund der Veröff entlichungen der Samm- lungen in dichter zeitlicher Folge an, zumal sich in ihnen tatsächlich nicht nur neue, sondern auch früher entstandene Kompositionen fi nden.5 Was die Geistliche Chormusik betriff t, sind allerdings nur für zwei Motetten daraus defi nitive Nachweise von Frühfassungen zu erbringen:

I. Tradition 11 .für die Vertonung des 19. , »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes« SWV 386 (Nr. 18), die in einer Frühfassung aus der Mitte der 1630er-Jahre vorliegt (SWV 455). Schütz übersandte das Werk gemein- sam mit anderen Kompositionen an die Kasseler Hofkapelle.6 .für die sechsstimmige Motette »Das ist je gewisslich wahr« SWV 388 (Nr. 20), deren erste Version (SWV 277) als Begräbnismusik für den mit Schütz befreundeten Th omaskantor Johann Hermann Schein († 19. November 1630) erklungen und bereits als Einzeldruck erschienen war (Dresden 1631). Verschiedene Spekulationen machen allerdings noch für einige weitere Motetten der Geistlichen Chormusik eine frühere Entstehungszeit plausibel: .Die Motetten »Waß mein Gott will. à 6« und »Du Schalcksknecht à 7« von »H. S.« gehörten in dieser Zeit ebenfalls zum Kasseler Inventar. Dass es sich hierbei um Frühfassungen der gleichnamigen und identisch besetzten Motetten Nr. 24 und Nr. 29 der Geistlichen Chormusik han- delt, ist nicht zu belegen, weil die »Kasseler Versionen« nicht erhalten sind. Die Annahme einer Analogie zu »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes« liegt freilich nahe.7 .»Verleih uns Frieden genediglich &c. auff besondere Melodey in die Lauten und Clavicymbel von 5. Sängern«: Diese Musik erwähnt der Oberhofprediger Matthias Hoë von Hoënegg (1580–1645) in einem Be- richt über die Jahrhundertfeier der Reformation, die vom 31. Oktober bis 2. November 1617 in Dresden stattfand und deren musikalische Ausgestaltung in den Verantwortungsbereich des erst wenige Monate zuvor neu eingesetzten Hofkapellmeisters des sächsischen Kurfürsten- tums fi el.8 Es ist gut möglich, dass es sich hierbei um eine Frühfassung jener fünfstimmigen Motette handelt, die Schütz über 30 Jahre später in seine Geistliche Chormusik (Nr. 4) aufnahm.9 .Entstehung und Erstaufführung der Motetten »Unser keiner lebet ihm selber« (Nr. 6) und »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt« (Nr. 25) – auch sie gegebenenfalls in frühen Fassungen – stehen vielleicht im Zusammen- hang mit den Bestattungsfeierlichkeiten für Schütz’ Ehefrau Magda- lena (* 1601), die am 6. September 1625 an der Pest gestorben war: Beide Texte waren (neben anderen) Grundlage der Leichenpredigt, die Matthias Hoë von Hoënegg hielt, nachdem Magdalena Schütz, die »etliche Wochen vor ihrem Ende geahnet hat, daß unser Herr Gott sie bald abfordern würde […], etliche Lieder, die man ihr bey ihrem Be- gräbniß zu guter Letz singen sollte«, bestellt hatte.10 Sofern Schütz die

12 Worte, die seine Ehefrau sich gewünscht hatte, tatsächlich zu diesem Anlass und als Motetten vertont hat, ist nicht ausgeschlossen, dass ihre spätere Platzierung an die 6. und 25. Stelle der Geistlichen Chor- musik auf das Sterbedatum Magdalenas verweisen und damit an die ursprüngliche Bestimmung dieser Werke erinnern sollte.11 .In den ersten vier Takten der Motette »Ich bin ein rechter Weinstock« (Nr. 21) werden die beiden Singstimmen von einem selbstständig ge- führten Generalbass begleitet. Schütz’ Auskunft indes, die Geistliche Chormusik sei ihrer Idee nach ein »Wercklein ohne Bassum continuum«, macht es unwahrscheinlich, dass er das Stück speziell für diese Samm- lung komponierte. .Im Trauergottesdienst für den Geraer Fürsten Heinrich Posthumus Reuß (1572–1635), für den Schütz die Musicalischen Exequien (Dresden 1636) komponierte, erklang nach deren erstem Teil auf Wunsch des Verstorbe- nen das Lied »Herzlich lieb hab ich dich, o Herr« – vielleicht in Verbin- dung mit jener Motette, die als Nr. 19 in die Geistliche Chormusik einging? Festzuhalten bleibt, dass die Motetten der Geistlichen Chormusik nicht alle in dem gleichen Zeitraum und in einzelnen Fällen schon lange vor ihrer Veröffentlichung entstanden sind. In dem inhaltsreichen Vorwort zu seiner Motettensammlung bekundete Schütz u. a. seine Absicht, ein Lehrwerk vorzulegen, das die elementaren Prinzipien des Komponierens anhand praktischer Beispiele veranschaulichte. Diesem Ziel diente off enbar auch die Aufnahme eines Werkes, das gar nicht von Schütz selbst stammt: der Motette »Der Engel sprach zu den Hirten« (Nr. 27), der deutschsprachigen Version einer Motette von Andrea Gabrieli, deren Originalfassung »Angelus ad pastores ait« in der Sammlung Concerti di Andrea, et di Gio. Gabrieli (Venedig 1587) erschienen war und die hier nun, in der Geistlichen Chormusik, als ein Beispiel aus dem Reper- toire der alten »Classici Autores« fungierte. Zu diesen sind unter anderem jene Komponisten zu zählen, die der Schütz-Schüler Christoph Bernhard (1628–1692) als exemplarische Vertreter des »Stylus antiquus« benannte: Palestrina, Adrian Willaert, Josquin Desprez, Nicolas Gombert – und eben die beiden Gabrielis.12 Verbirgt sich hinter Schütz’ gleichzeitiger Empfehlung zum Studium auch der »Newen Classicos Autores« also der Anspruch, selbst ein solcher zu sein? Schütz wehrte diese Vermutung entschieden ab: Gegen die (nie erhobene) Unterstellung, »dieses oder [ein] eintziges meiner ausgelassenen Musicalischen Wercke […] iemand zur Information oder gewissen Modell

I. Tradition 13 vorstellen und recommendiren« zu wollen, wolle er »öff entlich protestiret« haben. Die im barocken Schrifttum verbreitete Figur der »Captatio bene- volentiae«, des »Erheischens von Wohlwollen« durch Höflichkeits- und Bescheidenheitsgesten, ist hier rhetorisch brillant umgesetzt – die Aussage selbst aber weithin unglaubhaft: Mit dem Insistieren auf der Notwendigkeit für angehende Tonsetzer, sich zunächst in der Vokalpolyphonie zu üben (und damit »kontrapunktisch« denken zu lernen), signalisierte Schütz dem Leser seiner »Vorrede« eindeutig, in der Geistlichen Chormusik eine Beispiel- sammlung für die mustergültige Anwendung der »zu einer Regulierten Composition nothwendigen Requisita« vorzufi nden. Mit diesem impliziten Anspruch aber präsentierte der Komponist sein Kompendium von vorn- herein als eine Zusammenstellung nicht nur von Motetten-, sondern von Modell-Kompositionen und insofern als ein veritables »Exemplum classicum«, das ein vielfältig schillerndes Panorama an Satztechniken bot. Viele Motetten der Geistlichen Chormusik leben noch von den mu- sikalischen Errungenschaften der italienischen Vokalpolyphonie, wie sie Andrea und gepfl egt hatten: antiphonale Wechsel von Stimmgruppen, blockhaft-akkordische Höhepunkte, auch instrumentale Techniken und rhythmische Innovationen. Andere Motetten der Geist- lichen Chormusik wurzeln in ihrem polyphonen Fluss noch in der Renais- sance, wiederum andere stehen mit ihren vielen Imitationen von kleinen, oft wortgezeugten Motiven der Monodie nahe. Fast scheint es, als habe der Dresdner Hofkapellmeister demonstrieren wollen, dass alle Stile – jene aus Italien ebenso wie solche aus dem franko-fl ämischen Raum und von deutschen Meistern – zu einer unerschöpflichen Inspirationsquelle werden konnten, sofern der Komponist nur über das kompositorische Rüstzeug, über die »nothwendigen Requisita«, verfügte. Die Th ese, Schütz habe sich als ein Vertreter der »Newen Classici« ver- standen, könnte auch erklären, warum er darauf verzichtete, ein Werk Gio- vanni Gabrielis in die Geistliche Chormusik aufzunehmen. Im Widmungstext seiner Symphoniae sacrae I (Venedig 1629) hatte Schütz seinem Lehrer emphatisch gehuldigt: »Ach Gabrieli, Ihr unsterblichen Götter, was für ein Mann!«;13 hier aber störte off enbar die Assoziation zu Ga brielis Sacrae symphoniae (Venedig 1597), deren Titel Schütz für gleich drei Sammlungen adaptierte, die für ein Kompendium mit deutschsprachigen Motetten aber keinen Bezugspunkt boten. Auch der zeitliche Abstand zwischen den »alten Classicos Autores« und ihm selbst war mit der Integration eines Werkes von Giovanni Gabrielis Onkel Andrea in die eigene Sammlung sinnfälliger.

14 2. Beispielhaft . Wider den Dilettantismus Man fragt sich, ob Schütz konkrete Werke im Sinn hatte, als er in der Vor- rede zur Geistlichen Chormusik Kompositionen anprangerte, denen Kenner allenfalls den Wert einer »tauben Nuß« zugestehen würden. Gewiss, die Veröff entlichung der eigenen Motettensammlung war »zu niemands Ver- kleinerung gemeinet«, wie Schütz betonte – der Dresdner Hofkapell- meister war viel zu nobel, um einzelne Kollegen oder deren Werke zu diskreditieren. Möglicherweise dachte Schütz dabei an die vielen Gelegen- heitswerke, wie sie von Lokalgrößen wie dem Oldenburger Kantor Johann Schwemmler komponiert worden waren: Dieser – so überlieferte es Wer- ner Braun – wusste »nicht einmal zwei Stimmen längere Strecken hindurch richtig miteinander zu verbinden«, was ihn aber nicht davon abhielt, »ein siebenstimmiges ›Werk‹ auf der Grundlage eines vierstimmigen Satzes von Schein« vorzulegen.14 Vielleicht dachte Schütz dabei auch an einige Passagen aus der Samm- lung Angst der Hellen und Frieden der Seelen (Jena 1623), einer Anthologie von 16 Motetten über Psalm 116, die der Jenaer Hofbeamte Burckhard Großmann (1575–1637) als Dank für eine »sonderbahre grosse Wolthat und wunderliche Errettung Gottes, so er mir im Jahr 1616 […] erwiesen«,15 bei 16 Komponisten der sächsisch-thüringischen Region (darunter auch Schütz) in Auftrag gegeben und im Druck veröff entlicht hatte. Die Bei- träge fi elen naturgemäß sehr unterschiedlich aus – auch qualitativ. In der Motette des Erfurter Kantors Michael Altenburg (1584–1640) etwa machen sich zahlreiche unvollständige Klänge bemerkbar (siehe Notenbeispiel 1.1). Solche Sätze mit terzlosen Klängen (bei denen der Continuo das fehlende Intervall also »nachliefern« muss), konnte Schütz nicht goutieren: Seiner Ansicht nach musste ein kontrapunktischer Satz auch ohne General bass harmonisch stets eindeutig sein. Eine andere Spur führt zu dem Musiktheoretiker Andreas Werckmeis- ter (1645–1706), der in seinen Schriften von 1686 und 1700 gegen die vielen Dilettanten und »Prahler« zu Felde zog, die lieber »ihrem eigenen Willen« als »den natürlichen Gesetzen folgen« und sich »vor grosse Componisten ausgeben«, obwohl sie »nicht einmahl die Geige temperate zu stimmen wis- sen«.16 Die Vielzahl an missratenen Werken sei indes lediglich die Folge der verbreiteten Unkenntnis des »rechten Musica lischen Fundamentes«, des Regelwerkes korrekten Komponierens. Denn wer dieses nicht beherrschte, so Werckmeister, könne eben »nicht anders urtheilen als ein Schaff s-Knecht«.17

I. Tradition 15 »zu sich selbst gefunden«.26 Heinrich Schütz, »Musicus poeticus«: 27 Wo immer die kompositorische Leistung des Dresdner Hofkapellmeisters zu würdigen war, stand meist seine Kunst der Textbehandlung an erster Stelle, wobei neben den Musicalischen Exequien und den Kleinen geistlichen Con- certen gerade auch die Motetten der Geistlichen Chormusik als Paradigmata solch kunstvoller Vertonungen einzustehen hatten. Zwangsläufi g ist eine solche Perspektive freilich nicht: Nirgends in seiner Vorrede zur Geist- lichen Chormusik kommt der Komponist auf Fragen der Textbehandlung oder gar auf das Figurenrepertoire der Musica poetica zu sprechen, deren Kenntnis leicht als ein »nothwendiges Requisitum« hätte benannt werden können. Doch auch dort, wo Schütz expressis verbis darauf hinwies, Texte »in die Music übersetzet« zu haben,28 setzte der Hofkapellmeister einen deutlichen Akzent auf das souveräne kompositorische Tun. Ein dem Text untergeordneter Charakter der Musik ist nicht erkennbar. Dies soll natürlich nicht heißen, Schütz habe dem Aspekt der Sprach- vertonung keinen Wert beigemessen, der Eigenart und Qualität seiner Musik konstituiere. Wie sehr dem Komponisten an einem refl ektier- ten Umgang mit Texten gelegen war, lässt sich aus der Empfehlung an seinen Schüler Matthias Weckmann (um 1616 – 1674) ersehen, er möge die hebräische Sprache erlernen, »weil es nützlich sein würde bei Componie- rung eines Textes aus dem alten Testament«.29 Und ganz fraglos war die Musica poetica für Schütz und seine Zeitgenossen ein vertrauter Begriff , wenn auch keineswegs im Sinne von »poetischer Musik« schlechthin: Ge- meint war nicht eine »beliebige« tonmalerische Textausdeutung, sondern ein Repertoire musikalischer Wendungen, das seit Joachim Burmeisters Musica poetica (Rostock 1606) in zahlreichen Abhandlungen systematisiert worden war und dessen Anwendung gewissen satztechnischen Freiheiten unterlag, mit denen »die Dissonantzen […] nicht wiederlich, sondern vielmehr annehmlich werden, und des Componisten Kunst an den Tag legen«, wie Christoph Bernhard formulierte.30 Dass Schütz dieses Reper- toire nicht nur kannte, sondern auch exegetisch-hermeneutisch nutzte – eine Möglichkeit, die Bernhard in seinem Traktat nirgends anspricht –, ist von Hans Heinrich Eggebrecht mit Passagen aus den Kleinen geistlichen Concerten und den Musicalischen Exequien erschöpfend nachgewiesen worden,31 ließe sich aber auch an Beispielen aus der Geistlichen Chor- musik zahlreich belegen – etwa anhand der »Hypotyposis«-Figuren, jenen musikalischen Wendungen also, die in Analogie zu einer begriff lichen Vorstellung gebildet sind:

34 zu lau fen den Weg, Notenbeispiel 2.3: Melisma als Tätigkeitsbild »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes« (Nr. 18), Alt, T. 70 ff .

mit Was ser; Gegenständliche Abbildung »Ich bin eine rufende Stimme« (Nr. 15), Sopran I, T. 54 ff .

fol gen ih nen, ih nen nach.

fol gen ih nen nach. Kanonische Bildung als Illustration der Nachfolge »Selig sind die Toten« (Nr. 23), Sopran I und II, T. 104 f.

und er wird mich her nach aus der Er den (Ton-)Räumliche Abbildung »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt« (Nr. 25), Sopran I, T. 34 ff .

ma chet auf dem Ge fil de e be neBahn un serm Gott!

ma chet auf dem Ge fil de e be neBahn un serm Gott!

ma chet auf dem Ge fil de e be neBahn un serm Gott! Unisono als Sinneseindruck (»ebene Bahn«) »Tröstet, tröstet mein Volk« (Nr. 14), Sopran I und II, Alt, T. 55 ff .

II. Handwerk 35 Als deskriptiv zu verstehen ist auch die »Fuga alio nempe sensu« (»Fuga in allerdings anderem Sinne«) – eine rhythmische Figur, die durch eine unvermittelt »fl üchtige« Tonbewegung im Kontext längerer Notenwerte gekennzeichnet ist 32 und von Schütz bevorzugt für die Darstellung des »Fliehens« oder »Vergehens« herangezogen wird.

8 ein Hort, da hin ich im mer flieh hen mö ge, Notenbeispiel 2.4: »Herr, auf dich traue ich« (Nr. 9), Tenor II, T. 65 ff .

ver ge hen, »Sehet an den Feigenbaum und alle Bäume« (Nr. 26), Vox [I], T. 144 Schütz war mit dem Repertoire der musikalischen Figuren also bestens vertraut – in dem Maße aber, in dem die Figurenlehre nicht nur der Ko- difi zierung von melodischen Wendungen mit semantischer oder aff ektiver Qualität diente, sondern gegebenenfalls auch eine großzügige Auslegung des kontrapunktischen Regelwerks legitimierte, musste ihm der Gedanke, derlei Lizenzen ausgerechnet in der Vorrede zur Geistlichen Chormusik zu propagieren, kontraproduktiv erscheinen – sein Anliegen war ja die Befolgung der Kontrapunktregeln. Hinzu kommt noch ein zweiter Aspekt: Viele Gestaltungsmittel, die Schütz für die »Übersetzung« des Textes in die Musik heranzog – etwa diff erenzierte polyphone Techniken, Stimm- gruppenwechsel und harmonische Dispositionen –, waren von der zeit- genössischen Th eorie als textausdeutende Parameter noch nicht erfasst und deshalb mit der Figurenlehre kaum hinreichend zu erklären. Dass Schütz auch in der rhythmischen Organisation des Tonsatzes als ein genuin »deklamierender« Komponist in Erscheinung tritt, hat Werner Breig (* 1932) herausgearbeitet.33 Breigs Erkenntnisse: .Ausgangspunkt von Schütz’ Sprachvertonung – gleichsam der »Normal- fall« – ist eine Textdeklamation, die durch ein syllabisches Fortschreiten (bei dem jede Silbe auf nur einem Ton erklingt) und ein mittleres Bewegungstempo (in Viertelnoten) gekennzeichnet ist. Und alle Ab- weichungen von diesem »Normalfall« begründen sich meistens – nicht immer – mit der Absicht des Komponisten, bestimmte Wörter bzw. deren Bedeutungen besonders herauszustellen.

36 .Wird das normale Zeitmaß der Deklamation »geraff t«, sodass die Ach- telnoten zu Silbenträgern werden und sich die Silbenzahl also verdoppelt, geht es Schütz oft darum, eine im Text ausgedrückte Bewegungs- beschleunigung zu illustrieren – beispielsweise das »Fliehen« in »Herr, auf dich traue ich« (T. 52 ff .). .Umgekehrt legt eine »gedehnte« Deklamation Vorstellungen nahe, wie sie etwa in der Initialzeile der Motette »Selig sind die Toten« zum Aus- druck kommen. Schütz nutzt solche Dehnungen aber auch für kurze Einschübe (wie bei »also« oder »aber«), gleichsam als komponierten Doppelpunkt. .Melismen (bei denen längere Tonfolgen auf einer Silbe gesungen werden) dienen meistens der Illustration konkreter Bewegungen – etwa des »Zähnklapperns« in »Viel werden kommen von Morgen und am Abend« (T. 49 ff .) oder des »Laufens« des Weges in »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes« (T. 68 ff .). Ihre eigentliche Wirkung entfalten die verschiedenen Deklamationstempi natürlich erst durch ihr Aufeinandertreff en, wie dies in der Motette »Ver- leih uns Frieden genädiglich« zu beobachten ist: Nach der gedehnten De- klamation des Anfangs beschwört die geraff te Deklamation des Abschnitts »der für uns könnte streiten« (T. 38 ff .) unweigerlich die Vorstellung auf- marschierender Truppen herauf. Gewiss: Insofern das (geänderte) Bewegungstempo eines bestimmten Ab- schnitts als Textentsprechung gedeutet werden kann, sind die Grenzen zwi- schen rhythmischer Deklamation und dem Repertoire der »Hypo typosis«- Figuren fl ießend. Die Perspektive aber ist dennoch eine andere: Breigs Zugang relativiert den Stellenwert der musikalisch-rhetorischen Figuren als eine unabdingbare Voraussetzung zum Verständnis von Schütz’ Musik, wie er seit Arnold Schering (1877–1941) lange Zeit behauptet worden war. Denn ein textlicher Bezug ist ja keineswegs eine Conditio sine qua non für die Anwendung dieser Satztechnik: In der sechsstimmigen Motette »O lieber Herre Gott, wecke uns auf« (Nr. 13) beispielsweise vertont Schütz den Gedanken des »Dienens mit reinem Herzen« in »geraff ter Deklamation«, ohne dass hierfür eine textliche Analogie plausibel zu machen wäre. Dass nicht nur der Modus eines Stückes den Aff ekt konstituiert, son- dern Schütz den Text bisweilen auch anderweitig harmonisch verdeutlicht, zeigt die Motette »So fahr ich hin« (Nr. 11), wo sich die Musik bei der Stelle »so schlaf ich ein« (T. 25 ff .) ganz unerwartet verlangsamt, von C- nach A-Dur rückt und Schütz diesen beiden Überraschungseff ekten gleich noch

II. Handwerk 37 Hier ein polyphoner, generalbassloser sechsstimmiger Chorsatz, dort eine Monodie, Generalbass und solistische Besetzung – und dennoch: Die Gemeinsamkeiten sind unübersehbar. Hierzu zählt auch die Gestaltung des Schlussabschnitts (»durch denselbigen deinen lieben Sohn Jesum Christum«, T. 73 ff .) auf Soggetti mit nahezu identischem Melos und De- klamationstempo einschließlich der Dehnung auf »Jesum Christum«.

durch den sel bi gen dei nen lie ben Sohn, Je sum Chri stum,

durch den sel bi gen dei nen lie ben Sohn, Je sum Chri stum, Notenbeispiel 3.11: »O lieber Herre Gott, wecke uns auf« Kleine geistliche Concerte, Sopran II, T. 71 ff . Geistliche Chormusik (Nr. 13), Sopran I, T. 76

Vergleichbar ist in beiden Schlussteilen auch die kontrapunktische Zuspit- zung des Satzes mittels einer »Connexio subiectorum«, einer Kombination von zwei Th emen: in dem Konzert durch Verbindung des Soggetto mit einem separaten »Amen«-Motiv, in der Geistlichen Chormusik mit der Trennung der beiden Textglieder in zwei Th emen aus Vierteln und Achteln bzw. halben Noten und deren kontrapunktische Verknüpfung (wobei Letzteres um die Worte »unsern Herren« ergänzt wird, T. 85 ff .).

14. Tröstet, tröstet mein Volk (SWV 382) Tröstet, tröstet mein Volk, redet mit Jerusalem freundlich, prediget ihr, dass ihre Ritterschaft ein Ende hat, denn ihre Missetat ist verge- ben, denn sie hat Zwiefältiges empfangen von der Hand des Herren um alle ihre Sünde. Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüsten: Be- reitet dem Herren den Weg, machet auf dem Gefi lde ebene Bahn unserm Gott! Alle Tal sollen erhöhet werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedriget werden, und was ungleich ist, soll eben werden und was höckerig ist, soll schlicht werden;

74 denn die Herrlichkeit des Herren soll off enbar werden, und alles Fleisch miteinander wird sehen, dass des Her- ren Mund redet. Jesaja 40, 1–5

Für die Vertonung des umfangreichen Textes »Tröstet, tröstet mein Volk« griff Schütz auf eine Kompositionstechnik zurück, die er bereits in den (Dresden 1619) erprobt hatte: den großfl ächigen Einsatz von syllabischer und gleichsam rezitativischer Deklamation in meist kleinen Notenwerten. Hierin zeigt sich diese Motette ebenso von italienischen Vorbildern inspiriert wie in dem relativ sparsamen Einsatz von Kontrapunktik und den zahlreichen Teilungen des Stimmverbandes in einen Hoch- und einen Tiefchor. Der eigenen Maßgabe, innerhalb des »stylo recitativo« auf »vielfältige repetitiones« zu verzichten,20 folgt Schütz in diesem Werk allerdings nicht. Im Gegenteil: Im Rahmen der syntak- tischen Anlage, die die einzelnen Zeilen in schlichter Reihung abhandelt, fi nden sich Wiederholungen einzelner Textabschnitte auffallend häufi g und in die verschiedensten Strukturen eingebettet (vgl. T. 3 ff ., 12 ff ., 43 ff ., 64 ff . und 90 ff .). Der ausgedehnte Mittelteil der dreiteiligen Motette ist im Dreiertakt gehalten (T. 43 ff .). Dabei vermittelt die schier verwirrende Fülle abbilden- der Figuren den Eindruck, als habe Schütz diesen Text vor allem seiner bildhaften Qualitäten wegen vertont. Da gibt es .die beiden in antiphonalem Wechsel musizierenden Trio- Stimmverbände des Hoch- und Tiefchores, die den Appell, »ebene« Bahn zu machen (T. 52), mit Tonrepetitionen im Unisono veranschaulichen, .die illustrative Behandlung der Zeile »Alle Tal sollen erhöhet werden« mit einer bogenförmig verlaufenden Linie, die ihren Tiefton über einen »dramatischen« verminderten Quartsprung erreicht (»Tal«, Sopran I: cis 1 ) und dann wieder aufsteigt (T. 61 ff .), .den musikalischen Nachvollzug des Auf und Ab der »Berge und Hügel«, die »erniedrigt« werden sollen (T. 66), .die kontrastierende Gegenüberstellung von »ungleich« und »eben« (T. 83 ff .), .die melismatische Herausstellung des »Höckerigen« in komplemen- tärer Rhythmik und gleichsam »unwegsamer« Stimmführung eines dreistimmigen Satzes (SSA), der dann zu »schlichter« Homophonie fi ndet (T. 87 ff .).

III. Kommentare 75 15. Ich bin eine rufende Stimme (SWV 383) Ich bin eine rufende Stimme in der Wüsten: Richtet den Weg des Herren! Ich taufe mit Wasser, aber er ist mitten unter euch getre- ten, den ihr nicht kennet. Der ist’s, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist, des ich nicht wert bin, dass ich seine Schuhriemen auflöse. Johannes 1, 23a, 26b, 27

War in dem visionären Text der vorangegangenen Motette von der »Stimme eines Predigers in der Wüsten« die Rede, so ist diese nun selbst zu hören. Im Vergleich von Motetten- und Bibeltext fällt auf, wie konsequent Schütz den Wortlaut der Vorlage gekürzt hat: Alle Passagen, die nicht in wörtlicher Rede stehen (Vers 23: »er sprach«; Vers 26: »Johannes antwor- tete« etc.), hat der Komponist gestrichen.21 So beginnt die Musik ganz unvermittelt mit der einzelnen »Stimme«, von der in dem Text die Rede ist und die mit einer Pendelbewegung zwischen der Quinte und ihrem oberen Wechselton anhebt und sich dann mit einem grundtönigen Oktav- sprung (d 1 – d 2 ) auf höchst wirkungsvolle Weise Gehör verschaff t. Weitere Stimmeinsätze folgen, zunächst in immer kürzeren Abständen und be- vorzugt auf gleicher Tonhöhe. Mit dem Auslaufen des Soggetto in eine absteigende Linie in sukzessiv verlangsamtem Bewegungstempo schlägt die drängende Wirkung dann in eine öde und unwirtliche Stimmung »in der Wüsten« um. Diese wird vollends spürbar, wenn sich dieser Abschnitt verselbstständigt und sich in freier Imitation (mit dissonanten Vorhalten, die sich nur langsam auflösen) gleichsam dahinschleppt (T. 14 ff .). Umso radikaler erscheint der Kontrast zum anschließenden Text- abschnitt »Richtet den Weg des Herren« (T. 30 ff .). Schütz vertont ihn mit einem groß angelegten Melisma in schneller punktierter Bewegung, wobei die unebene Führung der Stimmen wiederum abbildlich gemeint ist: »So schlecht, so holprig, wie die Tonlinie es zeichnet, sieht der Weg aus, der so gerichtet, geebnet werden soll, wie die ersten vier Noten es darstellen.«22 Werner Breig empfi ehlt eine Angleichung des Bassus an den punktierten Rhythmus: Schütz dürfte die »rhythmische Schärfung« entweder vergessen oder gemeint haben, »daß kurze Töne in tiefer Lage leicht undeutlich werden«.23 Indes trägt das rhythmische Gegeneinander von punktierten und »geraden« Noten Entscheidendes zu dem Eindruck eines »holprigen«

76 Weges bei; insofern käme eine Angleichung des Bassus einer Nivellierung der kompositorischen Intention gleich. Es schließt sich eine Fuge mit eintaktiger Einsatzfolge über ein Th ema an, in dem Hans Heinrich Eggebrecht ein Abbild der Taufhandlung er- kannte: »das Heben der Hand; ihr Eintauchen in das Taufbecken; wieder wird die Hand gehoben (Oktavsprung); und indem sie sich abermals senkt und hebt, träufelt das Wasser auf den Täufling herab.«24 Skeptische Leser werden gegen eine solche Detailgenauigkeit vielleicht einwenden, dass es sich bei der beschriebenen Linie doch lediglich um eine Variante des Eingangsthemas handelt (vgl. Notenbeispiel 3.12); insgesamt aber wird die deskriptive Qualität des Melos, das mit kadenziellen Tonschritten erst den gleichsam rituellen Akt der Taufe und dann das (melismatische) Fließen des Wassers nachzeichnet, bestätigt werden müssen.

Ich tau fe mit Was ser,

Ich bin ei ne ru fen de Stim me, ru Notenbeispiel 3.12: »Ich bin eine rufende Stimme« (Nr. 15) Sopran I, T. 44 ff . Sopran II, T. 1 ff .

Zu Beginn des zweiten großen Formteils (»aber er ist mitten unter euch getreten«, T. 58 ff .) etabliert Schütz ein rezitationsartiges Modell (Ton- repetitionen, lange Harmonien), das zunächst im Tenor I gegen den voll- stimmigen, halbtaktig versetzten Chor erscheint. Die konzise imitatorische Formel auf den Text »den ihr nicht kennet« in den Unterstimmen mündet in einen Halbschluss, doch auch die Wiederholung mit veränderter Be- setzung – konkret: ein Oberstimmentrio mit vorangestelltem Alt (T. 63 ff .) – führt zu keinem harmonisch befriedigenden Ende. Stattdessen folgt ein Abschnitt, in dem Schütz zwei inhaltlich analoge Zeilen mit demselben, in freier Imitation geführten Soggetto vertont und so die Vorstellung der Nachfolge nahelegt (T. 71 ff . und 76 ff .). Hier erst erscheint nun eine V-I-Kadenz (auf C), die ihrerseits als Ausgangspunkt für einen ausgedehn- ten Schlussteil dient: ein Fugato über zwei Motive (T. 82 ff .), von denen ab T. 101 nur noch das letztere durchgeführt wird.

III. Kommentare 77