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Geschichte der Evangelischen Elisabeth Klinik Berlin

ELI_Buch_Vers_1.indb 1 16.08.12 12:05

Paul Gerhardt Diakonie (Hg.) Geschichte der Evangelischen Elisabeth Klinik Berlin Berlin 2012

Autor: Clemens Tangerding Mitarbeit: Justyna Gralak

Gestaltung: Gesa Meyer

© Paul Gerhardt Diakonie 2012

ELI_Buch_Vers_1.indb 2 16.08.12 12:05 INHALT

Vorwort 4 1833 – 1836 | Ein Verein für kranke Frauen 7 1833 – 1844 | Krankheit und Sünde 18 1836 – 1837 | Umzug in ein Haus am Stadtrand 25 ab 1837 | Eine Wohltäterin aus Bayern 34 ab 1837 | Leben und Sterben 46 ab 1837 | Ein Mutterhaus entsteht 51 1847 – 1849 | Kanonenschüsse am Schloss 55 1858 – 1867 | Eindrücke aus Indien 61 1866 – 1872 | Die ersten männlichen Patienten 64 ab 1871 | Arme und wohlhabende Kranke 72 1914 – 1918 | Diakonissen im Kriegsdienst Gottes 77 1918 – 1919 | Der wichtigste Fürsprecher dankt ab 86 ab 1918 | Geld sammeln 88 | Die Gründung des Vereins zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser und der Streit um die Krankenhausseelsorge 94 1933 – 1945 | Kooperation und Opposition 102 1940 – 1944 | Ein Widerstandskämpfer im Kuratorium 118 1945 – 1950 | Das Ausmaß der Zerstörung 124 1949 – 1954 | Wiederaufbau in langsamen Schritten 134 ab 1945 | Der Rückzug der weißen Hauben 140 ab 1970 | Mehmet Türkers lange Reise an die Spree 150 1969 – 1976 | Die Kosten des Älterwerdens 153 1977 – 1987 | Drohende Stilllegung 157 ab 1975 | Die Kinder vom Bahnhof Zoo 164 1979 – 1982 | Hausbesetzer in der Ambulanz 168 ab 1990 | Bauarbeiter von der größten Baustelle Europas 170 1998 – 2012 | Roboter am Krankenbett 178

ELI_Buch_Vers_1.indb 3 16.08.12 12:05 Vorwort

Die Evangelische Elisabeth Klinik ist mit Abstand das älteste Krankenhaus der Paul Gerhardt Diakonie. Es gehört in die neue Aufbruchszeit der Diakonie im 19. Jahrhundert, die sich damals „Innere Mission“ nannte. Verglichen mit der 175-jährigen Geschichte des Krankenhauses dauert das Engagement der Paul Gerhardt Diakonie, früher Verein zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser, in der Klinik allerdings noch nicht lange an. 1969 schloss der Vorstand des Vereins mit dem Kuratorium der damaligen Stiftung Elisabeth Diakonissen- und Krankenhauses einen Betriebsführungsvertrag, der in die Übernahme vor einigen Jahren mündete.

Ein Blick in die Geschichte einer Institution, hier eines Krankenhauses, verschafft der Wahrnehmung Tiefenschärfe: Was eine Institution ist, verstehen wir besser, wenn wir erfah- ren, wie sie geworden ist. Gerade weil sich das Krankenhaus - wesen in diesen 175 Jahren so sehr verändert hat, lässt sich aus der Geschichte lernen. Was uns heute fremd vorkommt, kann gerade in der Verfremdung Aha-Erlebnisse auslösen. Denn da- mals wie heute sind Menschen am Werk, mit Mut und Ent - schluss-Freudigkeit, aber auch mit Fehlern und Versagen. Des - wegen ist dem Autor Clemens Tangerding dafür zu danken, dass er aus Anlass des 175-jährigen Geburtstags des Hauses diese Geschichtsstudie erarbeitet hat. Mit Spannung und bisweilen auch mit Beklemmung liest man die Darstellung und sieht dabei, wie sich immer wieder der Blick in die deutsche Geschichte, auch mit ihren Verirrungen öffnet.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 4 16.08.12 12:05 Vorwort In den Dank an den Autor schließe ich auch den langjähri- gen Verwaltungsdirektor, Jens-Martin Rudloff, den Architekten Die Evangelische Elisabeth Klinik ist mit Abstand das Peter Pawlik, Diana Thomas, Berit Roßig und Petra Herms ein. älteste Krankenhaus der Paul Gerhardt Diakonie. Es gehört in Daneben möchte ich Klaus Roeber von der Gossner Mission für die neue Aufbruchszeit der Diakonie im 19. Jahrhundert, die sich wichtige Hinweise zur Anfangszeit des Krankenhauses danken. damals „Innere Mission“ nannte. Verglichen mit der 175-jährigen Schwester Brigitte von Below und Schwester Magdalene Riedel Geschichte des Krankenhauses dauert das Engagement der Paul haben wertvolle Anmerkungen zur neueren Geschichte einge - Gerhardt Diakonie, früher Verein zur Errichtung evangelischer bracht. Zu danken ist darüber hinaus den Archivaren und Mit - Krankenhäuser, in der Klinik allerdings noch nicht lange an. arbeitern des Archivs des Diakonischen Werkes der EKD, der 1969 schloss der Vorstand des Vereins mit dem Kuratorium der Fliedner-Kulturstiftung in Düsseldorf-Kaiserswerth, des Evange- damaligen Stiftung Elisabeth Diakonissen- und Krankenhauses lischen Zentralarchivs und des Evangelischen Landesarchivs einen Betriebsführungsvertrag, der in die Übernahme vor einigen , des Landesarchivs Berlin und des Bundesarchivs. Jahren mündete. Schließlich möchte ich dem ehemaligen Regierenden Bürger - meister von Berlin, Eberhard Diepgen, und allen anderen In- Ein Blick in die Geschichte einer Institution, hier eines terviewpartnern für ihre Zeit und Aufmerksamkeit Danke sagen. Krankenhauses, verschafft der Wahrnehmung Tiefenschärfe: Was eine Institution ist, verstehen wir besser, wenn wir erfah- Die Broschüre richtet sich an die Menschen, die der Evan- ren, wie sie geworden ist. Gerade weil sich das Krankenhaus - gelischen Elisabeth Klinik oder der Paul Gerhardt Diakonie ver - wesen in diesen 175 Jahren so sehr verändert hat, lässt sich aus bunden sind: Mitarbeiter, Patienten, Freunde des Hauses. Sie der Geschichte lernen. Was uns heute fremd vorkommt, kann erhebt nicht den Anspruch einer umfassenden historischen gerade in der Verfremdung Aha-Erlebnisse auslösen. Denn da- Dokumentation, sondern will anhand einzelner Episoden die mals wie heute sind Menschen am Werk, mit Mut und Ent - Entwicklung des Krankenhauses beschreiben. schluss-Freudigkeit, aber auch mit Fehlern und Versagen. Des - wegen ist dem Autor Clemens Tangerding dafür zu danken, dass Ich bin überzeugt, dass die Leserinnen und Leser mit die - er aus Anlass des 175-jährigen Geburtstags des Hauses diese ser Darstellung eine anregende und erhellende Lektüre finden. Geschichtsstudie erarbeitet hat. Mit Spannung und bisweilen auch mit Beklemmung liest man die Darstellung und sieht dabei, Dr. Karl-Heinrich Lütcke wie sich immer wieder der Blick in die deutsche Geschichte, Aufsichtsratsvorsitzender der Paul Gerhardt Diakonie e.V. Berlin und Wittenberg auch mit ihren Verirrungen öffnet.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 4 16.08.12 12:05 ELI_Buch_Vers_1.indb 5 16.08.12 12:05 Gedenkstein für Johannes Evangelista Gossner, o.D. | (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik)

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ELI_Buch_Vers_1.indb 6 16.08.12 12:05 1833 — 1836

Ein Verein für kranke Frauen

„In einer Dachstube, deren Anblick Entsetzen und Schreck einflößte, wurde eine halb bekleidete Person mit abgemagerten Kindern im größten Elende ganz verlassen gefunden. Sie hatten nichts als täglich zusam- men eine Portion Suppe, die heute die Mutter isst, während die Kinder hungern, und morgen die Kinder , während die Mutter hungert. Bei näherer Erkundigung fand man, dass es ein verrufenes Haus ist, ein Zufluchtsort des verworfensten Gesindels, ein Schlupfwinkel der Schande, denen nach den polizeilichen Gesetzen nur so viel gewährt wird, dass sie nicht vor Hunger und Kälte sterben.“ | 1

Die Jahres-Berichte des Frauen-Kranken-Vereins enthal- ten viele Schreckensbilder. Sie erzählen von Begegnungen in den Häusern armer und kranker Menschen in Berlin. Es war der Prediger der Bethlehemskirche, Johannes Evangelista Gossner, der diesen Verein 1833 ins Leben rief. Einige Frauen aus seiner Gemeinde schlossen sich ihm an. Sie besuchten Notleidende in der Stadt, versorgten sie und verteilten Essen, Kleidung und Bettwäsche.

In Bayerisch Schwaben geboren, wurde Gossner zunächst ka tholischer Priester. Eine Benefiziantenstelle führte ihn an die Münch ner Frauenkirche. Stärker als der römischen Kirche fühlte er sich aber der Erweckungsbewegung zugehörig. Die mei sten ihrer Anhänger waren evangelische Christen, andere waren Mitglieder der katholischen Kirche, wieder andere gehörten zu Freikirchen. Sie glaubten daran, dass Gott sich nur demjenigen

Gedenkstein für Johannes Evangelista Gossner, o.D. offenbaren würde, der ein wahres christliches Leben führte. Die | (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) Prediger der Erweckungsbewegung riefen die Menschen in ihren

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ELI_Buch_Vers_1.indb 6 16.08.12 12:05 ELI_Buch_Vers_1.indb 7 16.08.12 12:05 Schriften und Predigten zur Bekehrung auf. Die Gültigkeit der meisten Dogmen und Lehrsätze bezweifelten sie dagegen.

Die katholische Kirche lehnte diese Vorstellungen ab. Zwar besaß in ihrem Verständnis die Beziehung zwischen dem ein zel - nen Menschen und Gott einen hohen Stellenwert. Doch glaubten sie nicht daran, dass Gott die Gläubigen im Alltag erwecke, wie es die Bewegung predigte, wohl möglich auch noch außerhalb der Kirche. Vielmehr sei seine Ge gen wart in den Sakramenten gegenwärtig, bei der Feier der Eucharistie zum Bei spiel oder bei der Beichte. Zwischen diesen Welten bewegte sich Gossner.

Zur einen gehörte er, zur anderen fühlte er sich hingezogen. Der Pfarrer schloss sich der kleinen katholischen Erweckungs - ge meinde an und vertrat ihre Ideen auch in seinen Veröffent li- chun gen in der Münchener Zeit. Dies führte zu Konflikten mit den Oberen seiner Diözese. Also verließ er Bayern und ging zu - nächst nach St. Petersburg. Neben den Gottesdiensten hielt er dort Gebetsver sammlungen für Gläubige aller Konfessionen ab. Bei Teilen der orthodoxen Priesterschaft und des Hof-Adels riefen diese Veranstal tungen Unmut hervor. Wieder musste Gossner gehen und kehrte nach Deutschland zurück. Es began- nen seine Vagabundenjahre, wie er selbst einmal schrieb. Von Berlin zog er nach Hamburg, dann weiter nach Leipzig, schließ- lich nach Schlesien. Dort bekannte er sich 1826 zum evangeli- schen Glauben. Zum Zeitpunkt des Übertritts in die evan geli- sche Kirche war er bereits 52 Jahre alt und seit 28 Jahren Priester. Nachdem er eine Prüfung absolviert und eine Probepredigt ge - halten hatte, musste er mehr als zwei Jahre warten, bevor er eine Berufung an die Berliner Bethlehemskirche erhielt.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 8 16.08.12 12:05 1833 — 1836

Schriften und Predigten zur Bekehrung auf. Die Gültigkeit der meisten Dogmen und Lehrsätze bezweifelten sie dagegen.

Die katholische Kirche lehnte diese Vorstellungen ab. Zwar besaß in ihrem Verständnis die Beziehung zwischen dem ein zel - nen Menschen und Gott einen hohen Stellenwert. Doch glaubten sie nicht daran, dass Gott die Gläubigen im Alltag erwecke, wie es die Bewegung predigte, wohl möglich auch noch außerhalb der Kirche. Vielmehr sei seine Ge gen wart in den Sakramenten gegenwärtig, bei der Feier der Eucharistie zum Bei spiel oder bei der Beichte. Zwischen diesen Welten bewegte sich Gossner.

Zur einen gehörte er, zur anderen fühlte er sich hingezogen. Der Pfarrer schloss sich der kleinen katholischen Erweckungs - ge meinde an und vertrat ihre Ideen auch in seinen Veröffent li- chun gen in der Münchener Zeit. Dies führte zu Konflikten mit den Oberen seiner Diözese. Also verließ er Bayern und ging zu - nächst nach St. Petersburg. Neben den Gottesdiensten hielt er dort Gebetsver sammlungen für Gläubige aller Konfessionen ab. Bei Teilen der orthodoxen Priesterschaft und des Hof-Adels riefen diese Veranstal tungen Unmut hervor. Wieder musste Gossner gehen und kehrte nach Deutschland zurück. Es began- nen seine Vagabundenjahre, wie er selbst einmal schrieb. Von Berlin zog er nach Hamburg, dann weiter nach Leipzig, schließ- lich nach Schlesien. Dort bekannte er sich 1826 zum evangeli- schen Glauben. Zum Zeitpunkt des Übertritts in die evan geli- sche Kirche war er bereits 52 Jahre alt und seit 28 Jahren Priester. Nachdem er eine Prüfung absolviert und eine Probepredigt ge - halten hatte, musste er mehr als zwei Jahre warten, bevor er eine Berufung an die Berliner Bethlehemskirche erhielt. Johannes Gossner, o.D. (Abb.: Gossner Mission)

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ELI_Buch_Vers_1.indb 8 16.08.12 12:05 ELI_Buch_Vers_1.indb 9 16.08.12 12:05 IN BAYERISCH SCHWABEN GEBOREN, WURDE GOSSNER ZUNÄCHST KATHOLISCHER PRIESTER. EINE BENEFIZIANTENSTELLE FÜHRTE IHN AN DIE MÜNCHNER FRAUENKIRCHE. STÄRKER ALS DER RÖMISCHEN KIRCHE FÜHLTE ER SICH ABER DER ERWECKUNGSBEWEGUNG ZUGEHÖRIG.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 10 16.08.12 12:05 1833 — 1836

IN BAYERISCH SCHWABEN GEBOREN, WURDE GOSSNER ZUNÄCHST KATHOLISCHER PRIESTER. EINE BENEFIZIANTENSTELLE FÜHRTE IHN AN DIE MÜNCHNER FRAUENKIRCHE. STÄRKER ALS DER RÖMISCHEN KIRCHE FÜHLTE ER SICH ABER DER ERWECKUNGSBEWEGUNG ZUGEHÖRIG.

Gossners Geburtshaus in Hausen bei Günzburg in Bayern, o.D. (Foto: Gossner Mission) 10 Ein Verein für kranke Frauen Ein Verein für kranke Frauen 11

ELI_Buch_Vers_1.indb 10 16.08.12 12:05 ELI_Buch_Vers_1.indb 11 16.08.12 12:05 Kolorierter Kupferstich von Johann Georg Rosenberg: Mauerstraße mit | Böhmischer Kirche, um 1776 (Abb.: wikimedia commons)

Er hatte im Laufe der Jahre einige Schriften verfasst, die seinen Namen bekannt machten. Neben Bibelauslegungen veröf- fentlichte er religiöse Erbauungsschriften für den alltäglichen Gebrauch. Seiner St. Petersburger Gemeinde widmete er 1825 das „Schatzkästchen ent haltend biblische Betrachtungen mit er- baulichen Liedern auf alle Tage im Jahre zur Beförderung häus - licher Andacht und Gottse ligkeit“. 1827 legte er ein Buch mit dem Titel

„ WeG zur SeliGkeit in Frag und Antwort nach Anleitung der heiligen Schrift nebst Worten der e rmahnung an alle HeiliGe unD SünDer“

vor. In Berlin nun widmete er sich stärker als vorher der Seelsorge. Auf seinen Hausbesuchen erlebte Gossner laut einem seiner Biografen „im mer wieder das namenlose Elend der armen Bevölkerung Berlins“.| 2

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Es regte sich das Bedürfnis in ihm, der Fürsorge für die ar- men und kranken Menschen in seiner Gemeinde einen Rahmen zu geben. Aus dem Wunsch wurde nach einem Hausbesuch bei einer befreundeten russischen Familie ein Plan, so erzählt es eine Legende. Deren Diener war schwer erkrankt, dennoch wur- de ihm keine Hilfe zuteil. Gossner berichtete sieben Gemeinde - mitgliedern von seinem Erlebnis und bat die Männer, den Kranken zu besuchen und ihn zu pflegen. Einer aus der Gruppe war Wund- arzt und übernahm die ärztliche Betreuung. Dennoch starb der

Kolorierter Kupferstich von Johann Georg Rosenberg: Mauerstraße mit Diener. Nach dessen Tod beschlossen die Männer zusammen mit | Böhmischer Kirche, um 1776 (Abb.: wikimedia commons) Johannes Gossner, einen Verein zu gründen, dessen Aufgabe darin bestehen sollte, arme und kranke Männer in der Gemeinde zu pflegen und ihnen Trost zu spenden. Die Sieben bildeten künf- Er hatte im Laufe der Jahre einige Schriften verfasst, die tig den Vorstand und besuchten ab diesem Zeitpunkt regelmäßig seinen Namen bekannt machten. Neben Bibelauslegungen veröf- hilfsbedürftige Männer, behandelten ihre Leiden mit einfachen fentlichte er religiöse Erbauungsschriften für den alltäglichen Mitteln und beteten gemeinsam mit den Kranken. So entstand Gebrauch. Seiner St. Petersburger Gemeinde widmete er 1825 das im September 1833 der „Männer-Kranken-Verein“. „Schatzkästchen ent haltend biblische Betrachtungen mit er- baulichen Liedern auf alle Tage im Jahre zur Beförderung häus - Wenige Wochen später fanden sich bei Gossner einige Frau- licher Andacht und Gottse ligkeit“. 1827 legte er ein Buch mit en zusammen, die den „Frauen-Kranken-Verein“ gründeten, der dem Titel in seiner Struktur und Zielsetzung dem Männer-Kranken-Ver- ein vergleichbar war. Zunächst waren es sechs weibliche Ge - „ in Frag und WeG zur SeliGkeit meindemit glieder, die Gossner später als seine „Avantgarde“ Antwort nach Anleitung der heiligen Schrift nebst Worten der bezeichnete.| 3 Später kamen rasch weitere Unter stützerinnen e rmahnung an alle hinzu. Das Gründungsdatum war der 16. November 1833. Die Mit- HeiliGe unD SünDer“ glieder beider Vereine trafen sich einmal pro Woche, tauschten vor. In Berlin nun widmete er sich stärker als vorher der sich über die Hausbesuche aus und berieten darüber, welche Seelsorge. Auf seinen Hausbesuchen erlebte Gossner laut einem Patienten zusätzlich zur Pflege Sach- und Geldspenden erhal - seiner Biografen „im mer wieder das namenlose Elend der armen ten sollten. Gossner gelang es, Marianne von Hessen-Homburg Bevölkerung Berlins“.| 2 als Protektorin des Frauen-Kranken-Vereins zu gewinnen. Sie

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ELI_Buch_Vers_1.indb 12 16.08.12 12:05 ELI_Buch_Vers_1.indb 13 16.08.12 12:05 war mit einem Bruder von König Friedrich Wilhelm III. ver hei- ratet. Um die Mittel der Vereine zu erhö hen, rief Goss ner die Gläubigen in seinen sonntäglichen Predigten zur Unter stüt- zung auf. Besonders war er an festen Mitgliedschaften in den beiden Vereinen interessiert. Die Mitglieder mussten einen Mo - nats bei trag zahlen. Dies sollte den Einrichtungen ein festes Bud- get verschaf fen und sie von einmaligen Spenden unabhängig machen. „Der Erfolg dieser Aufrufe Gossners war überraschend“| 4, heißt es in einem Buch über die Entstehung des Vereins. „Schon nach Jahresfrist zählte der [Frauen-Kranken-]Verein mehrere hundert Mitglieder, die sich aus allen Schich ten der Bevölke- rung Berlins zusammengefunden hatten, aber zum größten Teil dem Handwer ker stand entstammten.“ Gossner listete die erhal - tenen Sach- und Geldspenden für den Frauen-Kranken-Verein in einem jährlich erscheinenden Jahresbericht auf. Daher wis - sen wir, dass allein im ersten Jahr 3410 Suppenmarken an Frau- en ausgegeben wurden, 24 Hemden, sieben Laken, fünf ganze Bettzüge, drei Schlafröcke, zwei wollene Unterröcke, zwei Kopf - kissen, ein Oberbett, ein Unterbett und eine Jacke. Darüber hin- aus verteilten die Helferinnen Holz und Torf zum Heizen an die Notleidenden. 187 hilfsbedürftige Frauen in ganz Berlin erhielten zwischen November 1833 und November 1834 Unterstützung.| 5

Gossner hatte zu Beginn ein Leitungsorgan berufen. Die - ses Gremium bestand zunächst aus fünf Personen. Es fällte alle wichtigen Entscheidungen, verwaltete die Finanzen und stand mit den Behörden in Kontakt. Während der Ausschuss in den Anfangsjahren ausschließ lich aus Männern bestand, waren die Aufgaben der Bezirksvorsteher allein für Frauen bestimmt. Sie

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ELI_Buch_Vers_1.indb 14 16.08.12 12:05 1833 — 1836

war mit einem Bruder von König Friedrich Wilhelm III. ver hei- leisteten den eigentlichen Dienst am Kranken, denn sie besuch- ratet. Um die Mittel der Vereine zu erhö hen, rief Goss ner die ten und pflegten die Notleidenden. Laut der Satzung des Vereins Gläubigen in seinen sonntäglichen Predigten zur Unter stüt- war das Stadtgebiet Berlins in verschiedene Bezirke aufgeteilt, zung auf. Besonders war er an festen Mitgliedschaften in den die nicht den Verwaltungsbezirken entsprachen. Die Vorsteherin- beiden Vereinen interessiert. Die Mitglieder mussten einen Mo - nen wurden in dem Bezirk tätig, in dem sie wohnten. Hier kann- nats bei trag zahlen. Dies sollte den Einrichtungen ein festes Bud- ten sie sich am besten aus. Wie weit sich ihr Wirkungskreis er - get verschaf fen und sie von einmaligen Spenden unabhängig strecken sollte, lag zu Beginn allein in der Verantwortung der machen. „Der Erfolg dieser Aufrufe Gossners war überraschend“| 4, einzelnen Bezirksvorsteherin. In dem sonst rechtlich-nüchtern heißt es in einem Buch über die Entstehung des Vereins. „Schon formulierten Statut von 1837 heißt es zu diesem Punkt, die Größe nach Jahresfrist zählte der [Frauen-Kranken-]Verein mehrere des Bezirks richte sich „nach der Zahl der Vorsteherinnen und hundert Mitglieder, die sich aus allen Schich ten der Bevölke- nach dem Maaße ihrer Zeit, Kraft und Liebe.“ | 6 rung Berlins zusammengefunden hatten, aber zum größten Teil dem Handwer ker stand entstammten.“ Gossner listete die erhal - Den Bezirksvorsteherinnen standen Helferinnen zur Sei- tenen Sach- und Geldspenden für den Frauen-Kranken-Verein te, die sich, wie sie selbst, unentgeltlich um die Frauen küm- in einem jährlich erscheinenden Jahresbericht auf. Daher wis - merten. Sie wurden in erster Linie für Nachtwachen und die sen wir, dass allein im ersten Jahr 3410 Suppenmarken an Frau- „Wartung“ der Kranken eingesetzt, die Pflege also. Obwohl die en ausgegeben wurden, 24 Hemden, sieben Laken, fünf ganze Helferinnen ohne Lohn arbeiteten, mussten sie sich einem Aus - Bettzüge, drei Schlafröcke, zwei wollene Unterröcke, zwei Kopf - wahlverfahren unterziehen. Nach ihrer Bewerbung wies das kissen, ein Oberbett, ein Unterbett und eine Jacke. Darüber hin- Kuratorium jede Anwärterin einer Bezirksvorsteherin zu, die sie aus verteilten die Helferinnen Holz und Torf zum Heizen an die bei ihrer Arbeit zu begleiten hatte. Es lag an der Vorsteherin, „sie Notleidenden. 187 hilfsbedürftige Frauen in ganz Berlin erhielten dabei zu beobachten und dann dem Vorstand über die Qualifi- zwischen November 1833 und November 1834 Unterstützung.| 5 kation derselben bei der nächsten Zusammenkunft Vortrag zu halten“| 7. Über die Aufnahme entschied das Kuratorium. Ver - Gossner hatte zu Beginn ein Leitungsorgan berufen. Die - mutlich konnten die angenommenen Helferinnen nach eini- ses Gremium bestand zunächst aus fünf Personen. Es fällte alle ger Zeit selbst Vorsteherinnen werden und einen eigenen Be - wichtigen Entscheidungen, verwaltete die Finanzen und stand zirk betreuen. mit den Behörden in Kontakt. Während der Ausschuss in den Anfangsjahren ausschließ lich aus Männern bestand, waren die Aufgaben der Bezirksvorsteher allein für Frauen bestimmt. Sie

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ELI_Buch_Vers_1.indb 14 16.08.12 12:05 ELI_Buch_Vers_1.indb 15 16.08.12 12:05 Auch bei der Frage, für welche kranken Frauen die Be zirks- vorsteherinnen mit ihren Gehilfen sorgen sollten, lag die Entschei- dung beim Kuratorium. Wer genau die Bezirksvorsteherinnen waren, wissen wir nicht. Während jeder Wechsel im Kuratorium in den Jahresberichten festgehalten wurde, blieben die Namen der Vorsteherinnen unerwähnt. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei ihnen um die Ehefrauen von mittleren Beamten, Hand - werkern und Kaufleuten handelte. Denn aus diesen Berufsgrup - pen setzte sich in der Anfangszeit auch der Vorstand zusammen. Auch über die Helferinnen ist uns wenig bekannt. Es waren in jedem Fall weibliche Laien, die den notleidenden Frauen halfen,

„mitleidige, barmherzige FrAuen“ | 8, wie Gossner sie beschreibt.

Offenbar fürchteten die Kuratoren, dass manche der Mit - glieder davon ausgingen, bevorzugt behandelt zu werden, soll - ten sie selbst ein mal Hilfe benötigen. Wie die Spendengeber ge - hörten auch die Helferinnen und die Bezirksvorsteherinnen dem Verein als Mitglieder an.

Diese Möglichkeit schloss das Statut kategorisch aus, in- dem es fest legte: „Die Mitgliedschaft giebt Niemand vorzugs - weise Anspruch auf Unterstützung des Vereins, sondern nur die größere Hülfsbe dürftigkeit.“| 9 Auch legte das Regelwerk fest, dass das Leitungsgremium sich jederzeit ohne Begründung von den Helferinnen trennen konnte.

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Auch bei der Frage, für welche kranken Frauen die Be zirks- | 1 Bericht des Frauen-Kranken-Vereins [künftig: Jahresbericht] im Jahre 1836, S. 2 f. vorsteherinnen mit ihren Gehilfen sorgen sollten, lag die Entschei- | 2 Hermann Lang: Die Gründung und Frühzeit des Elisabeth- Diakonissen- und dung beim Kuratorium. Wer genau die Bezirksvorsteherinnen Krankenhauses in Berlin (1837-1859), Berlin 1964, S. 26. waren, wissen wir nicht. Während jeder Wechsel im Kuratorium | 3 Lang: Gründung, S. 29. in den Jahresberichten festgehalten wurde, blieben die Namen | 4 Ebda. der Vorsteherinnen unerwähnt. Es ist davon auszugehen, dass es | 5 Johannes Gossner: Der Frauen-Kranken-Verein, Berlin 1836, S. 11 f. sich bei ihnen um die Ehefrauen von mittleren Beamten, Hand - | 6 Statut des Frauen-Kranken-Vereins in Berlin vom 04.07.1837, LAB, A Pr. Br. Rep. 030-04 werkern und Kaufleuten handelte. Denn aus diesen Berufsgrup - Nr. 2999. pen setzte sich in der Anfangszeit auch der Vorstand zusammen. | 7 Ebda. Auch über die Helferinnen ist uns wenig bekannt. Es waren in | 8 Gossner: Frauen-Kranken-Verein, S. 3. jedem Fall weibliche Laien, die den notleidenden Frauen halfen, | 9 Statut des Frauen-Kranken-Vereins in Berlin vom 04.07.1837, LAB, A Pr. Br. Rep. 030-04 Nr. 2999. „mitleidige, barmherzige FrAuen“ | 8, wie Gossner sie beschreibt.

Offenbar fürchteten die Kuratoren, dass manche der Mit - glieder davon ausgingen, bevorzugt behandelt zu werden, soll - ten sie selbst ein mal Hilfe benötigen. Wie die Spendengeber ge - hörten auch die Helferinnen und die Bezirksvorsteherinnen dem Verein als Mitglieder an.

Diese Möglichkeit schloss das Statut kategorisch aus, in- dem es fest legte: „Die Mitgliedschaft giebt Niemand vorzugs - weise Anspruch auf Unterstützung des Vereins, sondern nur die größere Hülfsbe dürftigkeit.“| 9 Auch legte das Regelwerk fest, dass das Leitungsgremium sich jederzeit ohne Begründung von den Helferinnen trennen konnte.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 16 16.08.12 12:05 ELI_Buch_Vers_1.indb 17 16.08.12 12:05 Krankheit und Sünde

Die Zahl der versorgten Kranken stieg rasch an. 187 Frauen unter stützte der Verein im Gründungsjahr, 1835 waren es 350, im Folgejahr 380 und im Jahr 1837 bereits 524. | 1 Die Bezirks vorsteh‑ erinnen und ihre Helferinnen verteilten bei ihren Besuchen auch Sachspenden. Nach einiger Zeit mussten sie feststellen, dass die abgegebenen Güter wie Möbel, Decken und Bettzeug häufig gar nicht den Frauen selbst zugutekamen, sondern von deren An‑ gehörigen eingeheimst wurden. „Vielfach wurde nämlich festge‑ stellt“, heißt es in einem Buch zur Krankenhaus ge schich te, „dass die Kranke immer noch im gleichen schmutzigen Winkel auf Stroh ohne das ihr zugedachte Bettzeug lag“| 2. Um dies künftig zu verhindern, sollten die Kranken an einem Ort außerhalb ihrer Wohnungen behandelt werden. Auch die langen, zeitraubenden Besuche würden weg fal len, wenn es einen festen Platz für die Ver‑ sorgung der Kranken geben würde. Noch dazu wäre die Versor‑ gung in einem Haus oder eine Wohnung deswegen einfacher, weil sie dort für einen Arzt einfacher zu erreichen wären. Aus diesen Gründen machten sich die Ku ra toren um Gossner auf die Suche nach einer geeigneten Bleibe. Diese fanden sie schließlich in der Hirschelstraße, der heutigen Stre semannstraße. In einem ge‑ wöhnlichen Wohnhaus mietete das Kura torium eine Zwei‑Zim‑ mer‑Wohnung an. Die Mietkosten übernahm die Oberhofmeiste‑ rin Gräfin von Reeden, mit der Gossner in diesen Jahren in engem Kontakt stand. Ab Juli 1836 lagen dort kranke Frauen, die von einem Arzt behandelt und von den Vorsteherinnen und Helfe ‑ rinnen gepflegt wurden.

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Krankheit und Sünde Der Jahresbericht verdeutlicht, welchen Fortschritt die Anmietung der Wohnung für die Pflege der Frauen bedeutete: Die Zahl der versorgten Kranken stieg rasch an. 187 Frauen unter stützte der Verein im Gründungsjahr, 1835 waren es 350, im „Die Freude, welche die armen Kranken fühlen, wenn sie aus ihren finstern, Folgejahr 380 und im Jahr 1837 bereits 524. | 1 Die Bezirks vorsteh‑ feuchten Kammern herausgeholt und in die gesunde, reinliche und erinnen und ihre Helferinnen verteilten bei ihren Besuchen auch freundliche Wohnung gebracht werden, ist nicht zu beschreiben. Die gute Sachspenden. Nach einiger Zeit mussten sie feststellen, dass die Pflege, die freundliche Umgebung, die gegen ihre vorige Verlassenheit, abgegebenen Güter wie Möbel, Decken und Bettzeug häufig gar wo ihnen nicht mehr als Alles fehlte, so sehr absticht, erfüllt sie mit dem nicht den Frauen selbst zugutekamen, sondern von deren An‑ gerührtesten Dank gegen Gott und ihre Wohlthäter.“ |3 gehörigen eingeheimst wurden. „Vielfach wurde nämlich festge‑ stellt“, heißt es in einem Buch zur Krankenhaus ge schich te, „dass Die Kuratoren teilten den Lesern des Jahresberichts aber die Kranke immer noch im gleichen schmutzigen Winkel auf nicht nur mit, wie sehr die medizinische Versorgung der Kranken Stroh ohne das ihr zugedachte Bettzeug lag“| 2. Um dies künftig zu sich in dem neuen Heim verbesserte. Sie berichteten auch von den verhindern, sollten die Kranken an einem Ort außerhalb ihrer Bekehrungen dieser Frauen im Schutz des Frauen‑Kranken‑Ver‑ Wohnungen behandelt werden. Auch die langen, zeitraubenden eins. Allzu oft trafen die Bezirksvorsteherinnen Frauen, die ihrer Besuche würden weg fal len, wenn es einen festen Platz für die Ver‑ Meinung nach nicht nur äußerlich im Elend lebten, sondern auch sorgung der Kranken geben würde. Noch dazu wäre die Versor‑ innerlich. Nicht selten brachten die Vereinsmitglieder die Armut gung in einem Haus oder eine Wohnung deswegen einfacher, weil und Krankheit der Patientinnen mit deren Abkehr von Gott in sie dort für einen Arzt einfacher zu erreichen wären. Aus diesen Verbindung. In einem Fall deutete ein Mitglied des Frauen‑Kran‑ Gründen machten sich die Ku ra toren um Gossner auf die Suche ken‑Vereins die Alkoholsucht einer Frau als Versuch, sich Gott nach einer geeigneten Bleibe. Diese fanden sie schließlich in der zu entziehen: Hirschelstraße, der heutigen Stre semannstraße. In einem ge‑ wöhnlichen Wohnhaus mietete das Kura torium eine Zwei‑Zim‑ „Eine andere Witwe wurde geschwollen am ganzen Leibe und voll Unge- mer‑Wohnung an. Die Mietkosten übernahm die Oberhofmeiste‑ ziefer in unser Krankenhaus gebracht. Ihre einzige Nahrung vorher war rin Gräfin von Reeden, mit der Gossner in diesen Jahren in engem Branntwein und Brod. Da sie ohne Gott in der Welt war, so war sie auch Kontakt stand. Ab Juli 1836 lagen dort kranke Frauen, die von ohne Trost, und der Branntwein sollte ihr Gott und den Trost ersetzen, sie einem Arzt behandelt und von den Vorsteherinnen und Helfe ‑ suchte sich mit diesem Gift zu betäuben. Nachdem sie gereinigt war und rinnen gepflegt wurden. Speise und Bett erhalten hatte, schlief sie drei Tage lang, Tag und Nacht, ohne wieder aufzuwachen – denn in der dritten Nacht war sie todt – getödtet durch das Seel- und Leibverderbende Gift des Branntweins.“| 4

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ELI_Buch_Vers_1.indb 18 16.08.12 12:05 ELI_Buch_Vers_1.indb 19 16.08.12 12:05 ALLZU OFT TRAFEN DIE BEZIRKSVOR- STEHERINNEN FRAUEN, DIE IHRER MEINUNG NACH NICHT NUR ÄUßERLICH IM ELEND LEBTEN, SONDERN AUCH INNERLICH. NICHT SELTEN BRACHTEN DIE VEREINSMITGLIEDER DIE ARMUT UND KRANKHEIT DER PATIENTINNEN MIT DEREN ABKEHR VON GOTT IN VERBINDUNG.

20 Theodor Hosemann: Armut im Vormärz, 1840 (Abb.: wikimedia commons)

ELI_Buch_Vers_1.indb 20 16.08.12 12:06 1833 — 1844

ALLZU OFT TRAFEN DIE BEZIRKSVOR- STEHERINNEN FRAUEN, DIE IHRER MEINUNG NACH NICHT NUR ÄUßERLICH IM ELEND LEBTEN, SONDERN AUCH INNERLICH. NICHT SELTEN BRACHTEN DIE VEREINSMITGLIEDER DIE ARMUT UND KRANKHEIT DER PATIENTINNEN MIT DEREN ABKEHR VON GOTT IN VERBINDUNG.

20 Theodor Hosemann: Armut im Vormärz, 1840 (Abb.: wikimedia commons) Krankheit und Sünde 21

ELI_Buch_Vers_1.indb 20 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 21 16.08.12 12:06 Eine andere Frau konnte in der Vorstellung Gossners und seiner Gefolgschaft weder gesund werden noch Seelenfrieden finden so lange sie ihre Liaison mit einem Mann nicht auflöste:

„Eine Kranke wurde im tiefsten Elende gefunden, in Lumpen gehüllt, ohne Bette, mit zwei anderen Familien in einer Stube wohnend. Es war sichtbar, dass sie dem Tod nicht fern war. Auf alles Zureden starrte sie nur so vor sich hin, oder seufzte tief bewegt ohne sprechen. Durch nähere Erkundigung bei anderen ergab sich, dass ihr Mann gestorben und sie mit einem ande- ren in wilder Ehe lebte, der sich mit ihrem Sohne aus erster Ehe beständig betränke und sie dann schrecklich misshandele.“| 5

Der Bezirksvorsteherin gelang es nach eigenem Bekun‑ den, die Frau noch kurz vor ihrem Ableben zu bekehren. Sie wurde erweckt, wenn auch erst sehr spät:

„Es wurden ihr Vorstellungen über dieses unerlaubte Verhältnis und über ihr nahes Ende gemacht, dass sie ja in diesem Zustande nicht getrost aus der Zeit in die Ewigkeit gehen könnte. Sie weinte heftig und sagte: wie gern wollte sie es ändern, aber wie kann ich – ohne Geld, ganz verlassen?! Mein Mann verlacht mich, kein Mensch hilft mir; Sie sind seit Jahren die Einzige, die freundlich mit mir spricht. – Da es ihr ernst war, sich zu bessern, so versprach man ihr, ihr zu helfen, und sie hatte darüber unaus sprächliche Freude und bat, so bald wie möglich es zu thun. Es wurde auch mit dem Manne und Sohne gesprochen, dass sie ihrem sündlichen Leben entsagen sollten, sie zeigten Reue und man hatte die unbeschreibliche Freude, zu sehen, dass es allen dreien Ernst war. So wurde sie dann zwei Tage vor ihrem Tode getraut und ging dann selig aus der Zeit.“| 6

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Eine andere Frau konnte in der Vorstellung Gossners und Das körperliche Leid eines Menschen war oft, so stellten es seiner Gefolgschaft weder gesund werden noch Seelenfrieden sich Gossner und seine Anhänger vor, durch eine Abkehr von Gott finden so lange sie ihre Liaison mit einem Mann nicht auflöste: verursacht worden. In einem der Jahresberichte heißt es dazu:

„Eine Kranke wurde im tiefsten Elende gefunden, in Lumpen gehüllt, ohne „Wer weiß nicht, der nur einige Erfahrungen in dieser Sache hat, wie sehr Bette, mit zwei anderen Familien in einer Stube wohnend. Es war sichtbar, leibliche Gaben bei der armen Klasse dem Missbrauch ausgesetzt sind, dass sie dem Tod nicht fern war. Auf alles Zureden starrte sie nur so vor und dass bei einer äußeren Hülfe manchem Armen doch nicht geholfen ist, sich hin, oder seufzte tief bewegt ohne sprechen. Durch nähere Erkundigung und die größte Wohltätigkeit seine Lage nicht verbessert, wenn nicht sein bei anderen ergab sich, dass ihr Mann gestorben und sie mit einem ande- innerer Sinn und Geist gebessert, tief gewurzelte Vorurtheile, Leichtthun, ren in wilder Ehe lebte, der sich mit ihrem Sohne aus erster Ehe beständig Arbeitsscheu, Unreinlichkeit, ungeregelte Lebensweise, Unglauben oder betränke und sie dann schrecklich misshandele.“| 5 Aberglaben zuerst getheilt und der besseren Erkenntnis der Liebe zur Zucht und Ordnung, dem gläubigen Gottvertrauen, der Geduld und Erge- Der Bezirksvorsteherin gelang es nach eigenem Bekun‑ benheit in Gottes Wege und Führungen Platz macht.“| 7 den, die Frau noch kurz vor ihrem Ableben zu bekehren. Sie wurde erweckt, wenn auch erst sehr spät: Noch deutlicher wird es an anderer Stelle: „Die meisten Krankheiten sind Folgen der Sünde, der Unmäßigkeit, Unkeusch‑ „Es wurden ihr Vorstellungen über dieses unerlaubte Verhältnis und über ihr heit, des Zorns, Ärgers u. dgl.“| 8 Gossner gehörte zu einer größe ‑ nahes Ende gemacht, dass sie ja in diesem Zustande nicht getrost aus der ren Gruppe von evange lischen Pfarrern, die so dachten. Johann Zeit in die Ewigkeit gehen könnte. Sie weinte heftig und sagte: wie gern Hinrich Wichern, der Begründer der Inneren Mission, beklagte wollte sie es ändern, aber wie kann ich – ohne Geld, ganz verlassen?! Mein die „gottlose Armut“|9 in den Städten. Die Polizei, so Wichern, Mann verlacht mich, kein Mensch hilft mir; Sie sind seit Jahren die Einzige, kämpfe fortwährend gegen „Verbrechen und Laster aller Art, die die freundlich mit mir spricht. – Da es ihr ernst war, sich zu bessern, so zur Armut führen oder in der Armut wuchern.“|10 Die Aufgabe der versprach man ihr, ihr zu helfen, und sie hatte darüber unaus sprächliche evangelischen Diakonie sollte es daher sein, die Armen mit dem Freude und bat, so bald wie möglich es zu thun. Es wurde auch mit dem zu versorgen, was sie zum äußeren Leben brauchten und ihre Manne und Sohne gesprochen, dass sie ihrem sündlichen Leben entsagen Krankheiten zu lindern, dabei aber immer auf Gott und seinen Weg sollten, sie zeigten Reue und man hatte die unbeschreibliche Freude, hinzuweisen. Fürsorge ohne Seelsorge war für die meisten Grün‑ zu sehen, dass es allen dreien Ernst war. So wurde sie dann zwei Tage vor der von kirchlichen Wohlfahrtseinrichtungen undenkbar. Das ge‑ ihrem Tode getraut und ging dann selig aus der Zeit.“| 6 meinsame Gebet diente folglich nicht nur der inneren Stärkung des Patienten. Es war für den Heilungsprozess unverzichtbar.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 22 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 23 16.08.12 12:06 | 1 Lang: Gründung, S. 32. | 2 Lang: Gründung, S. 32. | 3 3. Jahresbericht 1836, S. 6. | 4 5. Jahresbericht 1838, S. 3. | 5 7. Jahresbericht 1840, S. 4 f. | 6 Ebda. | 7 11. Jahresbericht 1844, S. 5 f. | 8 Johannes Gossner: Wie müssen christliche Krankenpflegerinnen oder evangelische barmherzige Schwestern beschaffen sein?, in: Anna Sticker (Hg.): Die Entstehung der neuzeitlichen Krankenpflege, 1960, S. 184-189, hier: S. 185. | 9 zit. bei: Hans Adolf Oelker: Milde Stiftungen und Sozialstaat, in: Kaspar Elm, Hans-Dietrich Loock (Hg.): Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Berlin/New York 1990, S. 513-524, hier: S. 518. | 10 Ebda.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 24 16.08.12 12:06 1836 — 1837

| 1 Lang: Gründung, S. 32. Umzug in ein Haus am Stadtrand | 2 Lang: Gründung, S. 32. | 3 3. Jahresbericht 1836, S. 6. Nach dem Einzug in die kleine Wohnung mussten die Ver‑ | 4 5. Jahresbericht 1838, S. 3. einsvorsteher ein sehr weltliches Problem lösen. In den beiden | 5 7. Jahresbericht 1840, S. 4 f. Zimmern in der Hirschelstraße wurde es den Patientinnen und | 6 Ebda. ihren Pflegerinnen bald zu eng. Außerdem kündigte der Vermieter | 7 11. Jahresbericht 1844, S. 5 f. dem Verein an, den Vertrag nicht verlängern zu wollen. Zum einen | 8 Johannes Gossner: Wie müssen christliche Krankenpflegerinnen oder evangelische missfiel den anderen Parteien im Haus die dauernde Anwesen‑ barmherzige Schwestern beschaffen sein?, in: Anna Sticker (Hg.): Die Entstehung der heit von Kranken.|1 Was die Familien in den anderen Wohnungen neuzeitlichen Krankenpflege, Stuttgart 1960, S. 184-189, hier: S. 185. jedoch noch mehr störte, waren die Särge, die regelmäßig durch | 9 zit. bei: Hans Adolf Oelker: Milde Stiftungen und Sozialstaat, in: Kaspar Elm, das Treppenhaus getragen wurden. Von den insgesamt 72 kran‑ Hans-Dietrich Loock (Hg.): Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge von Kirche und ken Frauen, die in der Krankenstation in der Hirschelstraße in‑ Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Berlin/New York 1990, nerhalb von weniger als einem Jahr behandelt wurden, starben S. 513-524, hier: S. 518. 26.|2 Die Todesursachen waren oft Krankheiten, bei denen zu | 10 Ebda. dieser Zeit wenig Chancen auf Besserung bestanden. Dies galt sowohl für Lungentuberkulose als auch für Leberzirrhose und ein Lungenleiden, das die Zeitgenossen als Brustwassersucht be‑ zeichneten und heute wohl Pleuraerguss genannt würde. Dabei handelt es sich um eine Ansammlung von Flüssigkeit in der Brusthöhle, zwischen Lunge und Rippen.

Das Wendlandsche Grundstück vor dem Potsdamer Tor in der heutigen Lützowstraße, 1836 (Abb.: Landesarchiv Berlin, F Rep. 270 A 105) |

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ELI_Buch_Vers_1.indb 24 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 25 16.08.12 12:06 Der Frauen‑Kranken‑Verein hatte große Schwierigkeiten, freiwillige Helferinnen für die Pflege der Kranken in der Woh‑ nung zu finden. Nur eine einzige erklärte sich dazu bereit. Der Vorstand hätte eine bezahlte Kraft einstellen müssen, um die Versorgung der Patientinnen gewährleisten zu können. Doch dazu fehlte das Geld. Auch deshalb musste Gossner ein eigenes Haus für die Kranken finden. Die Suche begann. „Wir glaubten auch öfter [ein Gebäude] gefunden zu ha ben,“ schreibt der Pastor in einem Bericht, „wurden aber immer wieder getäuscht, bis uns das Wendlandsche Grundstück vor dem Potsdamer Tore gera‑ ten wurde, und die Besitzerin sich so geneigt zeigte, gerade uns dasselbe käuflich zu überlassen, dass sie alle anderen Kauf‑ lustigen abwies, bis wir uns entschieden dafür erklärt hatten.“| 3 Der Pastor kannte das Gelände gut, denn auf dem Nebengrund‑ stück stand sein Gartenhaus, das ihm ein wohlhabender Freund überlassen hatte.

Auf dem Wendlandschen Grundstück in der heutigen Lützowstraße stand ein Wohnhaus, das laut Gossner „für ein Krankenhaus so zweckmäßig gebaut ist, als wenn es gleich an‑ fangs dazu bestimmt gewesen wäre.“| 4 In einem Seitengebäude waren eine kleine Wohnung, zwei Remisen und Ställe unterge ‑ bracht. Auch Treib‑ und Gewächshäuser befanden sich auf dem Gelände. Hier sollte das neue Krankenhaus des Frauen‑Kranken‑ Vereins entstehen.

Doch was verstand man im Jahr 1837 unter einem KranKenhaus? Krankenhäuser des frühen 19. Jahrhunderts waren keine offenen Einrichtungen wie heute. Sie waren in erster Linie für

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ELI_Buch_Vers_1.indb 26 16.08.12 12:06 1836 — 1837

Der Frauen‑Kranken‑Verein hatte große Schwierigkeiten, arme Men schen gedacht. Ein Medizinalrat aus dem Großher‑ freiwillige Helferinnen für die Pflege der Kranken in der Woh‑ zogtum Baden schlug 1838 vor, ein Allgemeines Krankenhaus nung zu finden. Nur eine einzige erklärte sich dazu bereit. Der in jeder größeren Stadt zu errichten und begründete dies mit der Vorstand hätte eine bezahlte Kraft einstellen müssen, um die „Anfälligkeit der ärmeren Bevölkerungsschichten für eine Viel‑ Versorgung der Patientinnen gewährleisten zu können. Doch zahl von Krankheiten“|5. Zu den Leiden, die vermehrt auftauch‑ dazu fehlte das Geld. Auch deshalb musste Gossner ein eigenes ten und auf deren Heilung sich die Medizin der Zeit konzentrier‑ Haus für die Kranken finden. Die Suche begann. „Wir glaubten te, gehörten tatsächlich viele, die wegen mangelnder Hygiene auch öfter [ein Gebäude] gefunden zu ha ben,“ schreibt der Pastor ausbrachen. Vor allem Feuchtigkeit in den Wohnungen und Man‑ in einem Bericht, „wurden aber immer wieder getäuscht, bis uns gel an fließendem Wasser führten in der Gründungsphase des das Wendlandsche Grundstück vor dem Potsdamer Tore gera‑ Hauses zu Choleraepidemien, die verheerende Ausmaße annah‑ ten wurde, und die Besitzerin sich so geneigt zeigte, gerade uns men. Im Jahr 1831 fielen laut einer zeitgenössischen Statistik in dasselbe käuflich zu überlassen, dass sie alle anderen Kauf‑ Preußen lustigen abwies, bis wir uns entschieden dafür erklärt hatten.“| 3 32.647 Menschen Der Pastor kannte das Gelände gut, denn auf dem Nebengrund‑ stück stand sein Gartenhaus, das ihm ein wohlhabender Freund allein der Cholera zum Opfer.| 6 Wegen der mangelnden überlassen hatte. Sauberkeit in ihren Wohnungen brachen diese Krankheiten über‑ durchschnittlich oft bei Menschen in armen Vierteln aus. Auf dem Wendlandschen Grundstück in der heutigen Lützowstraße stand ein Wohnhaus, das laut Gossner „für ein Außerdem bestand nicht wie heute ein Anspruch auf Be‑ Krankenhaus so zweckmäßig gebaut ist, als wenn es gleich an‑ handlung. Der Zugang unterlag strikten Kriterien, das Aufnah‑ fangs dazu bestimmt gewesen wäre.“| 4 In einem Seitengebäude meprozedere war genau festgelegt. Die Bezirks‑Vorsteherinnen waren eine kleine Wohnung, zwei Remisen und Ställe unterge ‑ des Frauen‑Kranken‑Vereins schlugen dem Vorstand Frauen vor, bracht. Auch Treib‑ und Gewächshäuser befanden sich auf dem die in das Haus aufgenommen werden sollten. Diesen Kranken Gelände. Hier sollte das neue Krankenhaus des Frauen‑Kranken‑ stattete daraufhin ein männliches Vorstands ‑Mitglied einen Vereins entstehen. Besuch ab und begutachtete ihre Krankheiten. Auf einen Platz in der Anstalt konnten zunächst ausschließlich Patientinnen Doch was verstand man im Jahr 1837 unter einem mit Akuterkrankungen hoffen. Litt eine Frau unter einer chro‑

KranKenhaus? nischen Krankheit, wurde sie nicht zur Behandlung zuge‑ Krankenhäuser des frühen 19. Jahrhunderts waren keine lassen. Sie erhielten Nahrungsmittel in ihren Wohnungen und offenen Einrichtungen wie heute. Sie waren in erster Linie für wurden dort auch von der Bezirksvorsteherinnen versorgt. Die

26 Umzug in ein Haus am Stadtrand 27

ELI_Buch_Vers_1.indb 26 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 27 16.08.12 12:06 Zahl der Kranken, die zuhause Hilfe erhielten, war im Übrigen auch nach Aufnahme des Kran‑ kenhausbetriebs weitaus höher als die der stationär Behandel‑ ten.|7

Auch Altersschwache wur‑ den in der Regel abgewiesen.| 8 Dasselbe galt für Frauen mit an‑ steckenden Krankheiten. Diese sollten zunächst ausschließlich in ihren eigenen vier Wänden versorgt werden.|9 Nicht zuletzt behielt sich der Verein vor, kranke Frauen aus disziplinari‑ schen Gründen zu ent lassen. Wer den Anweisungen der Ärzte und Wärterinnen nicht folgte, konnte nach Hause geschickt werden. Dies geschah nicht sel‑ ten.|10 Darüber hinaus konnte

Alfred Rethel: Der Tod als Würger, 1847/48 das Krankenhaus auch aus fi‑ | (Abb.: wikimedia commons) nanziellen Gründen die Be ‑ handlung verweigern. Wenn der Verein zu wenig Spenden einnahm, musste die Zahl der Patien‑ tinnen reduziert werden. In den ersten Jahren nach dem Um‑ zug in das neue Haus reichten die Mittel nur für die Versorgung von etwa 20 Frauen gleichzeitig aus, obwohl in den Krankensä‑ len bis zu 40 Betten standen.| 11

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Zahl der Kranken, die zuhause Aufnahmen konnten auch an praktischen Hindernissen Hilfe erhielten, war im Übrigen scheitern. 1839 etwa wurde die Behandlung von Frauen mit Un‑ auch nach Aufnahme des Kran‑ terleibkrebs vorübergehend eingestellt, da der Verbrauch an Bett‑ kenhausbetriebs weitaus höher laken bei der Behandlung zu hoch war.| 12 Da kein Anspruch auf als die der stationär Behandel‑ medizinische Versorgung bestand, konnte der Frauen‑ Kranken‑ ten.|7 Verein solche Beschränkungen nach eigenem Ermessen beschlie‑ ßen und wieder aufheben. Die Statuten des Krankenhauses leg ‑ Auch Altersschwache wur‑ ten auch fest, dass ausschließlich Frauen und nur Frauen „aus den in der Regel abgewiesen.| 8 hiesiger Residenz“, also aus Berlin, behandelt würden. Die Kon‑ Dasselbe galt für Frauen mit an‑ fession der Frauen spielte bei der Entscheidung für oder gegen die steckenden Krankheiten. Diese Aufnahme in das Krankenhaus dagegen keine Rolle: sollten zunächst ausschließlich in ihren eigenen vier Wänden „Da wir in der Stadt und im Krankenhause alle Kranke von allen versorgt werden.|9 Nicht zuletzt Confessionen und Gesinnungen, Gute und Böse, Gläubige und Ungläubige, behielt sich der Verein vor, Protestanten aller Art, und Katholiken, auch Juden und Heiden ohne kranke Frauen aus disziplinari‑ Unterschied annehmen, und sie mit derselben Liebe pflegen, so geht schen Gründen zu ent lassen. unsere Bitte und Aufforderung auch an alle Herzen ohne Unterschied, was Wer den Anweisungen der Ärzte für eine Farbe oder Rock sie haben mögen, dass sie uns ihre hilfreiche und Wärterinnen nicht folgte, Hand reichen und sich unseren Kranken nicht entziehen.“| 13 konnte nach Hause geschickt werden. Dies geschah nicht sel‑ Die Mitglieder des Vereins waren sich jedoch bewusst, dass ten.|10 Darüber hinaus konnte die Anhänger anderen Konfessionen, für deren Behandlung sich

Alfred Rethel: Der Tod als Würger, 1847/48 das Krankenhaus auch aus fi‑ das Kuratorium hier aussprach, nur eine kleine Minderheit dar‑ | (Abb.: wikimedia commons) nanziellen Gründen die Be ‑ stellten. 92,3 Prozent der Gesamtbevölkerung Berlins im Jahr handlung verweigern. Wenn der 1849 war evangelisch. Katholiken machten 3,7 Prozent, Juden 2,3 Verein zu wenig Spenden einnahm, musste die Zahl der Patien‑ Prozent aus. Zu anderen christlichen Kirchen bekannten sich tinnen reduziert werden. In den ersten Jahren nach dem Um‑ gerade einmal 1,3 Prozent der Einwohner.| 14 zug in das neue Haus reichten die Mittel nur für die Versorgung von etwa 20 Frauen gleichzeitig aus, obwohl in den Krankensä‑ len bis zu 40 Betten standen.| 11

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ELI_Buch_Vers_1.indb 28 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 29 16.08.12 12:06 Wenn eine Vertreterin einer anderen Glaubensgemein‑ schaft im Krankenhaus aufgenommen wurde, berichteten die Kuratoren davon im Jahresbericht. Hinter der bloßen Informa‑ tion über die Behandlung verbarg sich die Botschaft, dass die Andersgläubigen sich letztlich zum evangelischen Christentum hingezogen fühlten:

„Ein kleines Judenmädchen war sechs Monate im Krankenhause zur Erbauung; sie lernte Gebete und Lieder auswendig, hörte gern biblische Geschichten und die Predigten. Wenn sie ein Lied zweimal singen hörte, konnte sie Lied und Melodie auswendig. ‚Weil ich Jesu Schäflein bin‘ war ihr Lieblingslied. Wenn man sie fragte, ob sie denn Jesu Schäflein sei? sagte sie: ‚O wie gern möchte ich, wenn ich nur dürfte‘.“| 15

Dass in erster Linie arme Frauen im Krankenhaus und an‑ deren Anstalten aufgenommen wurden, hatte nicht nur recht ‑ liche, formale und medizinische Gründe, sondern auch sozio ‑ kulturelle. Der Besuch eines Krankenhauses war für Vertreter des gehobenen Bürgertums und Adels bis an die Wende zum 20. Jahrhundert in der Regel nicht vorstellbar. Litt die Mutter einer bürgerlichen Familie unter einer schweren Krankheit, kümmerten sich die Familienmitglieder sowie das Personal um die Patientin. Ein befreundeter Arzt übernahm die medizini‑ sche Versorgung und untersuchte die Frau an ihrem Kranken‑ bett in kurzen Abständen. All dies geschah im Haus dieser Fa‑ milie, das selbstverständlich über fließendes Wasser verfügte, an die Kanalisation angeschlossen war und in dem ausreichend saubere Wäsche vorhanden war. Das eigene Haus galt im geho ‑ benen Bürgertum und im Adel als Ort der Genesung von Krank ‑ heiten, die man sich außerhalb der eigenen vier Wände, im

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Wenn eine Vertreterin einer anderen Glaubensgemein‑ Schmutz der Stadt, zugezogen hatte. Unter den Armen dagegen schaft im Krankenhaus aufgenommen wurde, berichteten die war die eigene Wohnung der Ort, in dem Krankheiten ausbra‑ Kuratoren davon im Jahresbericht. Hinter der bloßen Informa‑ chen und von dem sich die Frauen erst entfernen mussten, um tion über die Behandlung verbarg sich die Botschaft, dass die gesund werden zu können. Andersgläubigen sich letztlich zum evangelischen Christentum hingezogen fühlten: | 1 31. Jahresbericht 1864, S. 6. „Ein kleines Judenmädchen war sechs Monate im Krankenhause zur | 2 Lang: Gründung, S. 36. Erbauung; sie lernte Gebete und Lieder auswendig, hörte gern biblische | 3 Johannes Gossner: Der Anfang – Jahresbericht 1837, in: Walter Augustat (Hg.): Geschichten und die Predigten. Wenn sie ein Lied zweimal singen hörte, 125 Jahre Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus in Berlin, Berlin 1962, S. 46-51, konnte sie Lied und Melodie auswendig. ‚Weil ich Jesu Schäflein bin‘ war hier: S. 47. ihr Lieblingslied. Wenn man sie fragte, ob sie denn Jesu Schäflein sei? | 4 Ebda. sagte sie: ‚O wie gern möchte ich, wenn ich nur dürfte‘.“| 15 | 5 zit. bei Axel Hinrich Murken: Vom Armenhospital zum Großklinikum. Die Geschichte des Krankenhauses vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Köln 1995, S. 97. Dass in erster Linie arme Frauen im Krankenhaus und an‑ | 6 Allgemeine Zeitung München, Beilage Nr. 256 vom 13.09.1857, S. 4091. deren Anstalten aufgenommen wurden, hatte nicht nur recht ‑ | 7 Lang: Gründung, S. 38. liche, formale und medizinische Gründe, sondern auch sozio ‑ | 8 9. Jahresbericht 1842, S. 10. kulturelle. Der Besuch eines Krankenhauses war für Vertreter | 9 31. Jahresbericht 1864, S. 8 f. des gehobenen Bürgertums und Adels bis an die Wende zum | 10 Lang: Gründung, S. 40. 20. Jahrhundert in der Regel nicht vorstellbar. Litt die Mutter | 11 Lang: Gründung, S. 37. einer bürgerlichen Familie unter einer schweren Krankheit, | 12 6. Jahresbericht 1839, S. 6. kümmerten sich die Familienmitglieder sowie das Personal um | 13 8. Jahresbericht 1841, S. 11. die Patientin. Ein befreundeter Arzt übernahm die medizini‑ | 14 Horst Matzerath: Wachstum und Mobilität der Berliner Bevölkerung im 19. und frühen sche Versorgung und untersuchte die Frau an ihrem Kranken‑ 20. Jahrhundert, in: Kaspar Elm, Hans-Dietrich Loock (Hg.): Seelsorge und Diakonie bett in kurzen Abständen. All dies geschah im Haus dieser Fa‑ in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden milie, das selbstverständlich über fließendes Wasser verfügte, 20. Jahrhundert, Berlin, New York 1990, S. 201-222, hier: S. 214. an die Kanalisation angeschlossen war und in dem ausreichend | 15 11. Jahresbericht 1844, S. 7. saubere Wäsche vorhanden war. Das eigene Haus galt im geho ‑ benen Bürgertum und im Adel als Ort der Genesung von Krank ‑ heiten, die man sich außerhalb der eigenen vier Wände, im

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ELI_Buch_Vers_1.indb 30 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 31 16.08.12 12:06 32

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„WIR GLAUBTEN AUCH ÖFTER [EIN GEBÄUDE] GEFUNDEN ZU HABEN,“ SCHREIBT GOSSNER IN EINEM BERICHT, „WURDEN ABER IMMER WIEDER GETÄUSCHT, BIS UNS DAS WEND- LANDSCHE GRUNDSTÜCK VOR DEM POTSDAMER TORE GERATEN WURDE, UND DIE BESITZERIN SICH SO GENEIGT ZEIGTE, GERADE UNS DAS- SELBE KÄUFLICH ZU ÜBERLASSEN, DASS SIE ALLE ANDEREN KAUFLUSTIGEN ABWIES, BIS WIR UNS ENTSCHIEDEN DAFÜR ERKLÄRT HATTEN.“

Das ursprüngliche Krankenhaus mit dem ersten Anbau, o.D. (Abb.: Gossner Mission) 32 Umzug in ein Haus am Stadtrand 33

ELI_Buch_Vers_1.indb 32 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 33 16.08.12 12:06 Eine Wohltäterin aus Bayern

Das Grundstück und die Gebäude am Potsdamer Tor musste der Frauen-Kranken-Verein aus eigenen Mitteln bezahlen. Beides zusammen kostete 22.000 Taler. Der Überschuss des Frauen-Kran- ken-Vereins betrug allerdings nur etwa 10 bis 15 Taler pro Jahr. Um den Kauf bestreiten zu können, schlug Gossner zwei Wege ein: Erstens veröffentlichte er fort an Spendenlisten in den Jahres- berichten, in denen die Geldgeber mit Namen, Titel und Beruf er- schienen. Diese Strategie verfehlte ihre Wirkung nicht. Die ein- gehenden Spenden stiegen merklich an. Zum zweiten wandte sich Gossner an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. und bat diesen um Unterstützung beim Kauf des neuen Kranken- hauses. Das Bittgesuch hatte Erfolg. Der König gab 6.000 Taler.

Die Spendenbereitschaft des Monarchen war Teil seines politischen Programms zur Bekämpfung der massenhaften Ar - mut in den Städten Preußens. Im Kabinettsbefehl vom 13. Novem- ber 1843 forderte er seine Oberpräsidenten dazu auf, „sich der ver- wahrlosten und der nö tigen Aufsicht entbehrenden Kinder (...) und der in Not geratenen Ar men anzunehmen und Vereinsbil- dungen anzuregen zur Minderung oder zur Abwehr des Paupe - rismus oder der Abwehr (...) des sittlichen und sozialen Verder - bens.“|1 Mit Pauperismus war die massenhafte Verarmung vor allem in den Städten gemeint. Sie war Folge der rasanten Ver - städterung einerseits und der fehlenden sozialen Sicherung für unterbürgerliche Schichten andererseits. Zu den von Armut und Krankheit bedrohten Menschen zählten Dienstboten, Kleinhand- werker, Tagelöhner, Kutscher, alleinerziehende Frauen und Wit- wen sowie deren Kinder.

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Eine Wohltäterin aus Bayern Die Gründung wohltätiger Vereine kam in den Berliner Kir- chengemeinden sowie in den Lesezirkeln, Salons und Klubs im Das Grundstück und die Gebäude am Potsdamer Tor musste ersten Drittel des 19. Jahrhunderts sehr in Mode. Ihre Mitglieder der Frauen-Kranken-Verein aus eigenen Mitteln bezahlen. Beides suchten sich stets eine dieser Gruppen aus und gründeten einen zusammen kostete 22.000 Taler. Der Überschuss des Frauen-Kran- Verein zu deren Unterstützung. Es existierten Vereine für Dienst - ken-Vereins betrug allerdings nur etwa 10 bis 15 Taler pro Jahr. mädchen und Witwen von Dienstboten, für arme Schulkinder und Um den Kauf bestreiten zu können, schlug Gossner zwei Wege Zöglinge von berufstätigen Eltern. Nach demselben Muster grün- ein: Erstens veröffentlichte er fort an Spendenlisten in den Jahres- deten Gossner und einige Anhänger den Frauen-Kranken-Verein berichten, in denen die Geldgeber mit Namen, Titel und Beruf er- und den Männer-Kranken-Verein. Die Zahl der Vereine stieg in schienen. Diese Strategie verfehlte ihre Wirkung nicht. Die ein- der Zeit des Pauperismus sprunghaft an. gehenden Spenden stiegen merklich an. Zum zweiten wandte sich Gossner an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. Von den 386 im Jahr 1842 in Berlin existierenden und bat diesen um Unterstützung beim Kauf des neuen Kranken- Wohlfahrts- hauses. Das Bittgesuch hatte Erfolg. Der König gab 6.000 Taler. einrichtungen wurden 247 im im frühen 19. Jahrhundert 2 Die Spendenbereitschaft des Monarchen war Teil seines gegründet.| politischen Programms zur Bekämpfung der massenhaften Ar - Die meisten Gründer und Unterstützer der Vereine gehör - mut in den Städten Preußens. Im Kabinettsbefehl vom 13. Novem- ten, wie auch im Falle des Frauen-Kranken-Vereins, dem gehobe - ber 1843 forderte er seine Oberpräsidenten dazu auf, „sich der ver- nen Bildungsbürgertum oder dem niederen und mittleren Adel wahrlosten und der nö tigen Aufsicht entbehrenden Kinder (...) an. Zu den Gründungsmitgliedern im Gossnerschen Frauen- und der in Not geratenen Ar men anzunehmen und Vereinsbil- Kranken-Verein zählten allerdings auch Handwerker. dungen anzuregen zur Minderung oder zur Abwehr des Paupe - rismus oder der Abwehr (...) des sittlichen und sozialen Verder - Bis in die 1880er Jahre beschränkte sich die Bekämpfung bens.“|1 Mit Pauperismus war die massenhafte Verarmung vor des Pau perismus in Preußen im Wesentlichen darauf, kirchliche allem in den Städten gemeint. Sie war Folge der rasanten Ver - und bürgerliche Wohlfahrtsvereine zu unterstützen. Das erste städterung einerseits und der fehlenden sozialen Sicherung für städtische Krankenhaus in Berlin wurde erst 1874 im Friedrichs- unterbürgerliche Schichten andererseits. Zu den von Armut und hain eröffnet.| 3 Krankheit bedrohten Menschen zählten Dienstboten, Kleinhand- werker, Tagelöhner, Kutscher, alleinerziehende Frauen und Wit- wen sowie deren Kinder.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 34 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 35 16.08.12 12:06

Seidenbild von Elisabeth von Preußen, 1847 | (Abb.: wikimedia commons)

Der König war sich dessen bewusst, dass er bei der Armen- fürsor ge in den Städten auf Menschen wie Johannes Gossner ge - radezu angewiesen war. Ohne ihr Engagement wären die aller - meisten Notleidenden sich selbst überlassen gewesen. Daher spendete Friedrich Wilhelm III. dem Frauen-Kranken-Verein nicht nur eine beträchtliche Summe, um den Kauf des Grundstückes zu ermöglichen. Er hielt auch seine Schwiegertochter an, sich für wohltätige Vereine und Stiftungen wie die junge Krankenanstalt einzusetzen. Elisabeth, die Frau des späteren Königs Friedrich Wilhelm IV., spendete ebenfalls Geld an den Verein. Der Pastor kannte sie bereits seit einigen Jahren. Aus Dankbarkeit fragte Gossner die Kronprinzessin daraufhin, ob der Verein das neue

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Krankenhaus nach ihr benennen dürfe. Elisabeth willigte ein. Ab 1838 hieß das Haus „Elisabeth-Krankenhaus“| 4.

1846, bereits als Frau des neuen Königs, wurde sie Protek - torin des Krankenhauses. Wenn Gossner sich an Elisabeth wand- te, tat er das auch deshalb, weil denselben Weg schon einige an- dere Fürsorgeanstalten erfolgreich beschritten hatten. Die Kron- prinzessin hatte sich seit ihrer Vermählung und dem Umzug nach Berlin 1823 schon für mancherlei Vereine und Stiftungen ein- gesetzt und Anstalten ihren Namen verliehen. Ein Jahr nach ihrer Hochzeit gründete sie das „Elisabeth-Stift“ in Potsdam. 1827 nahm die „Königliche Elisabethschule“ in der Kochstraße ihren Betrieb auf. 1843 erklärte sich die spätere Königin zur Protek - torin des „Elisabeth-Kinder-Hospitals“. Im selben Jahr verlieh

Seidenbild von Elisabeth von Preußen, 1847 sie dem „Königin Elisabeth Hospital“ und dem „Diakoniewerk | (Abb.: wikimedia commons) Königin Elisabeth“ in Lichtenberg ihren Namen. 1856 wurde das „Elisabeth-Siechenhaus“ eingeweiht. Das Engagement der Köni- gin spiegelt sich auch in ihrem Testament wider. Darin bedachte Der König war sich dessen bewusst, dass er bei der Armen- sie 51 Stiftungen mit insgesamt 74.200 Talern. 400 davon er - fürsor ge in den Städten auf Menschen wie Johannes Gossner ge - hielt der Frauen-Kranken-Verein.| 5 radezu angewiesen war. Ohne ihr Engagement wären die aller - meisten Notleidenden sich selbst überlassen gewesen. Daher Das Eintreten Elisabeths für wohltätige Vereine ging nicht spendete Friedrich Wilhelm III. dem Frauen-Kranken-Verein nicht ohne politisches Kalkül vonstatten. Ihr Schwiegervater, Fried - nur eine beträchtliche Summe, um den Kauf des Grundstückes rich Wilhelm III., legte großen Wert darauf, dass die Kronprin- zu ermöglichen. Er hielt auch seine Schwiegertochter an, sich für zessin sich möglichst volksnah und hilfsbereit präsentierte. Sie wohltätige Vereine und Stiftungen wie die junge Krankenanstalt war Tochter des bayerischen Königs Maximilian I. Joseph. Von einzusetzen. Elisabeth, die Frau des späteren Königs Friedrich München aus zog die Katho likin nach Berlin und sollte einmal Wilhelm IV., spendete ebenfalls Geld an den Verein. Der Pastor Königin im weitgehend protestantischen Preußen wer den. Erst kannte sie bereits seit einigen Jahren. Aus Dankbarkeit fragte sieben Jahre nach ihrer Vermählung trat sie zum evangelischen Gossner die Kronprinzessin daraufhin, ob der Verein das neue Glauben über. Elisabeth sollte möglichst bald von der Bevöl -

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ELI_Buch_Vers_1.indb 36 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 37 16.08.12 12:06 kerung ihrer neuen Heimat akzeptiert werden, daher empfahl Friedrich Wilhelm III. ihr, sich für Fürsorgeanstalten einzu - setzen. Dieses Engagement half nicht nur den Armen, es wurde auch von den bürgerlichen und adeligen Mitgliedern der Verei- ne wahrgenommen. Elisabeths Einsatz für viele Fürsorge-Ein- richtungen in der Stadt diente also auch der Verwurzelung ei- ner Bayerin in Preußen.

Ohne Frage profitierte das Elisabeth-Krankenhaus von der Hilfe der Königsfamilie. Doch es stellte sich zugleich auch in den Dienst des Monarchen. Die Statuten des Vereins und die Gemein- nützigkeit des Krankenhauses mussten von Friedrich Wilhelm III. und seinen Nachfolgern anerkannt werden. Auch die Korpora- tionsrechte verlieh der preußische Monarch. Sie erlaubten dem Vereinsvorstand, eigenständig Grundstücke zu erwerben und Ka- pitalien aufzunehmen. Der König unterstellte das Krankenhaus dem preußischen Kultusministerium, das neben der Bildungs- und Kirchenpolitik auch das Gesundheitswesen des Staates ver- antwortete. Ebenso erging es auch den vielen anderen Wohl - fahrtseinrichtungen in der Stadt. Die Bindung an das Herrscher- haus war für sie überlebenswichtig.

In den ersten Jahren konnten die Vorsteherinnen, wie be - reits erwähnt, nur 20 bis 30 kranke Frauen gleichzeitig behan- deln, obwohl dop pelt so viele Betten im Haus standen. Der Verein hatte nämlich trotz vieler Spenden Schulden. Die Tilgung dauer - te einige Zeit. Trotzdem gab der Frauen-Kranken-Verein bereits 1839 einen Neubau in Auftrag. Es sollten künftig nicht mehr nur 50 bis 60, sondern 100 kranke Frauen im Elisabeth-Krankenhaus versorgt werden können.

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kerung ihrer neuen Heimat akzeptiert werden, daher empfahl Angesichts der finanziellen Belastung des Vereins erschei- Friedrich Wilhelm III. ihr, sich für Fürsorgeanstalten einzu - nen die Pläne auf den ersten Blick überraschend. Man könnte als setzen. Dieses Engagement half nicht nur den Armen, es wurde Grund vermuten, dass das vorhandene Gebäude für einen Kran- auch von den bürgerlichen und adeligen Mitgliedern der Verei- kenhausbetrieb nicht geeignet war. Doch Gossner selbst hatte ne wahrgenommen. Elisabeths Einsatz für viele Fürsorge-Ein- 1837 geschrieben. Das Grundstück sei so zweckmäßig, „dass richtungen in der Stadt diente also auch der Verwurzelung ei- wir keine wesentlichen Veränderungen im Hause zu machen, ner Bayerin in Preußen. sondern bloß Nebendinge zu verbessern und die Krankenstu - ben mit dem Allernötigsten einzurichten“ hätten.| 6 Die Motive Ohne Frage profitierte das Elisabeth-Krankenhaus von der für den Bau mussten also andere sein. Hilfe der Königsfamilie. Doch es stellte sich zugleich auch in den Dienst des Monarchen. Die Statuten des Vereins und die Gemein- Die Neubau-Pläne lassen sich eher nachvollziehen, wenn nützigkeit des Krankenhauses mussten von Friedrich Wilhelm III. man sich die öffentliche Wirkung einer Krankenhaus-Einwei- und seinen Nachfolgern anerkannt werden. Auch die Korpora- hung vor Augen führt. Das Elisabeth-Krankenhaus war das erste tionsrechte verlieh der preußische Monarch. Sie erlaubten dem evangelische Kranken haus in Berlin und zugleich das zweite, Vereinsvorstand, eigenständig Grundstücke zu erwerben und Ka- das überhaupt in der Stadt gegründet wurde. Neben der Charité pitalien aufzunehmen. Der König unterstellte das Krankenhaus als dem ältesten und bislang einzigen bestanden zwar Fürsorge- dem preußischen Kultusministerium, das neben der Bildungs- und Kirchenpolitik auch das Gesundheitswesen des Staates ver- Das Krankenhausgelände, 1856 antwortete. Ebenso erging es auch den vielen anderen Wohl - (Abb.: Landesarchiv Berlin, F Rep. 270 A 568 Bl. 8) | fahrtseinrichtungen in der Stadt. Die Bindung an das Herrscher- haus war für sie überlebenswichtig.

In den ersten Jahren konnten die Vorsteherinnen, wie be - reits erwähnt, nur 20 bis 30 kranke Frauen gleichzeitig behan- deln, obwohl dop pelt so viele Betten im Haus standen. Der Verein hatte nämlich trotz vieler Spenden Schulden. Die Tilgung dauer - te einige Zeit. Trotzdem gab der Frauen-Kranken-Verein bereits 1839 einen Neubau in Auftrag. Es sollten künftig nicht mehr nur 50 bis 60, sondern 100 kranke Frauen im Elisabeth-Krankenhaus versorgt werden können.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 38 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 39 16.08.12 12:06 einrichtungen und Hilfsvereine. Auch diesen Einrichtungen standen Ärzte zur Seite, die sich um die Hilfsbedürftigen küm- merten. Und auch diese Organisationen unterhielten eigene Häuser, in denen sie Menschen aufnahmen. Doch ihr Hauptau - genmerk lag nicht auf der medizinischen Versorgung, sondern darauf, Menschen vor der Armut zu bewahren oder ihnen bei der Suche nach einer Ausbildung behilflich zu sein. Als Kranken- haus mit ausgebildeten Pflegerinnen und Ärzten verschiedener Fachrichtungen, mit Krankensälen und Behandlungsräumen existierte bislang nur die Charité. Gossner und seine Kuratoren konnten also damit rechnen, dass der Neubau von der gebildeten Öffentlichkeit wahrgenommen würde. Dies durften sie umso mehr erwarten, da weite Teile der Bevölkerung über Maßnahmen zur Bekämpfung des Pauperismus diskutierten. Die gelehrten

Das frühere Krankenhaus Bethanien, 2012 | (Foto: wikimedia commons)

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einrichtungen und Hilfsvereine. Auch diesen Einrichtungen Zeitschriften und Zeitungen übertrafen sich gegenseitig mit Ana- standen Ärzte zur Seite, die sich um die Hilfsbedürftigen küm- lysen, Kommentaren und Statistiken zu Ursachen und Auswir - merten. Und auch diese Organisationen unterhielten eigene kungen der massenhaften Verarmung in den Städten und stell - Häuser, in denen sie Menschen aufnahmen. Doch ihr Hauptau - ten Modelle zu ihrer Eindämmung vor. In den Lesezirkeln und genmerk lag nicht auf der medizinischen Versorgung, sondern Salons stellte es das Debattenthema schlechthin dar. Es wurden darauf, Menschen vor der Armut zu bewahren oder ihnen bei der Diskussionen darüber geführt, wie man den schlechten Gesund - Suche nach einer Ausbildung behilflich zu sein. Als Kranken- heitszustand der Armen verbessern könne. Ein Nährboden für haus mit ausgebildeten Pflegerinnen und Ärzten verschiedener die breite Wahrnehmung des Neubaus war also vorhanden. Fachrichtungen, mit Krankensälen und Behandlungsräumen Den Kuratoren des Frauen-Kranken-Vereins war je doch ebenso existierte bislang nur die Charité. Gossner und seine Kuratoren bewusst, dass sie sich die öffentliche Aufmerksamkeit mit vie - konnten also damit rechnen, dass der Neubau von der gebildeten len anderen wohltätigen Einrichtungen teilen mussten. Kinder- Öffentlichkeit wahrgenommen würde. Dies durften sie umso bewahr-Anstalten bekämpften mit ihren begrenzten Mitteln mehr erwarten, da weite Teile der Bevölkerung über Maßnahmen die rasant gestie gene Armut in der Stadt. Schulen für weibliche zur Bekämpfung des Pauperismus diskutierten. Die gelehrten Dienstboten und zahlreiche andere Einrichtungen rangen um die Aufmerksamkeit von zahlungskräftigen Stadtbewohnern. Ent-

Das frühere Krankenhaus Bethanien, 2012 scheidend für die rasche Verwirklichung des Neubaus aber | (Foto: wikimedia commons) könnte gewesen sein, dass inzwischen ganz in der Nähe Pläne für den Bau eines großen Krankenhauses geschmiedet wurden. Das Grundstück lag auf dem Köpenicker Feld und damit nicht weit vom Elisabeth-Krankenhaus entfernt. 1847 wurde es als Kranken- anstalt des Diakonissen-Mutterhauses Bethanien eröffnet. In dem Neubau konnten 350 Kranke versorgt werden. Friedrich Wilhelm IV. unterstützte dieses Bauprojekt finanziell sogar deutlich stär- ker als das Elisabeth-Krankenhaus und erklärte sich dazu bereit, für die dortige Behandlung von 100 der 350 Patienten mit jähr - lich 10.500 Talern aufzukommen.| 7

Es musste Gossner daher daran gelegen sein, die Erweite - rung des Elisabeth-Krankenhauses noch vor der Fertigstellung des Krankenhauses Bethanien und so schnell wie möglich voran

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ELI_Buch_Vers_1.indb 40 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 41 16.08.12 12:06 zu treiben, wenn er sich der finanziellen Unterstützung von Friedrich Wilhelm III. und der Mitglieder des Vereins sicher sein wollte. Bereits damals herrschte eine gewisse Konkurrenz un- ter den wohltätigen Vereinen.

Das Gebäude entstand schließlich neben dem alten Wohn- haus, in dem bislang behandelt wurde. Der Bau begann 1839 und endete ein Jahr später. In den Sälen des Neubaus standen ins - gesamt 60 Betten. Nun konnte das Elisabeth-Krankenhaus 100 Kranke beherbergen. Unter dem Dach des neuen Gebäudes be - fanden sich vier Krankensäle, eine Badeanstalt, eine Küche und ein Waschhaus sowie verschiedene Wirtschaftsräume. Kurz nach der Eröffnung dieses Hauses schaffte das Kuratorium eine Dampf- maschine für die Wäscherei an. Darüber hinaus hielt das Kran- kenhaus eigene Kühe „zur Erhaltung eigner Milch“| 8. Das Grund- stück bot hierfür ausreichend Platz. Die Kühe dienten zunächst nur als Nutzvieh. Dies änderte sich 1855, als eine neue Abteilung für „Brustleiden“, also Lungenkrankheiten, ihren Betrieb auf- nahm. Die Behandlung der Kranken erfolgte zum Teil im Kuh- stall. Bis zu einem Dutzend Frauen konnten sich darin zu The - rapiezwecken aufhalten, allerdings wegen der Temperatur nur im Frühling und Sommer. Die „animalische atmosphäre unserer Kühe“|9,

also die Ausdünstungen der tierischen Exkremente, sollten die Leiden der Patientinnen lindern.

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zu treiben, wenn er sich der finanziellen Unterstützung von Die finanzielle Unterstützung für den Neubau war ähnlich Friedrich Wilhelm III. und der Mitglieder des Vereins sicher sein großzügig wie beim Ankauf des Grundstücks: Friedrich Wilhelm wollte. Bereits damals herrschte eine gewisse Konkurrenz un- III. gab 3.000 Taler und Alexandra Fjodorowna als Kaiserin von ter den wohltätigen Vereinen. Russland 2.000. Sie war die älteste Tochter des preußischen Kö - nigs und Ehefrau von Zar Nikolaus I.| 10 Zahlreiche weitere Gön- Das Gebäude entstand schließlich neben dem alten Wohn- ner spendeten kleinere und größere Summen. Außerdem konnten haus, in dem bislang behandelt wurde. Der Bau begann 1839 und die Kuratoren Grundstücke aus ihrem Besitz Gewinn bringend endete ein Jahr später. In den Sälen des Neubaus standen ins - verkaufen.|11 Wie beim Grundstückskauf verkündete der Jahres - gesamt 60 Betten. Nun konnte das Elisabeth-Krankenhaus 100 bericht stolz die Namen und Summen der gekrönten Spendenge - Kranke beherbergen. Unter dem Dach des neuen Gebäudes be - ber. Davon erhofften sich die Kuratoren um Gossner eine Signal - fanden sich vier Krankensäle, eine Badeanstalt, eine Küche und wirkung bei den Mitgliedern. Neben ihren Namen sollte auch ein Waschhaus sowie verschiedene Wirtschaftsräume. Kurz nach der eigene in der Liste der Wohltäter im Jahresbericht auftau - der Eröffnung dieses Hauses schaffte das Kuratorium eine Dampf- chen. Diese Strategie hatte Erfolg. Die Baukosten von 8.000 Ta- maschine für die Wäscherei an. Darüber hinaus hielt das Kran- lern waren rasch beglichen. kenhaus eigene Kühe „zur Erhaltung eigner Milch“| 8. Das Grund- stück bot hierfür ausreichend Platz. Die Kühe dienten zunächst Sehr früh eröffnete das Kuratorium Sonderabteilungen: nur als Nutzvieh. Dies änderte sich 1855, als eine neue Abteilung Die erste wurde im Jahr 1838 noch im alten Wohnhaus einge - für „Brustleiden“, also Lungenkrankheiten, ihren Betrieb auf- richtet und war Frauen vorbehalten, bei denen Krankheiten wäh- nahm. Die Behandlung der Kranken erfolgte zum Teil im Kuh- rend der Schwangerschaft oder Komplikationen bei der Geburt stall. Bis zu einem Dutzend Frauen konnten sich darin zu The - auftraten. Die Station bestand aus einem Saal mit sieben Betten rapiezwecken aufhalten, allerdings wegen der Temperatur nur und wurde von einem eigens dafür berufenen Arzt für Frauen - im Frühling und Sommer. Die heilkunde geleitet. Mit der Einrichtung der Station konnte „einem längst gefühlten Bedürfniß einigermaßen abgeholfen“| 12 wer- „animalische atmosphäre den. Die Sterblichkeit von Frauen im Kindsbett war hoch. Zu den häufigen Krankheitsbildern gehörten sogenannte Wochen- unserer Kühe“|9, schäden. Damit waren unter anderem Schäden nach der Geburt also die Ausdünstungen der tierischen Exkremente, sollten gemeint.|13 Welche Therapiemethoden der Stationsarzt an- die Leiden der Patientinnen lindern. wandte, ist nicht überliefert. Wir wissen jedoch, dass er bis - weilen einen „mechanischen beziehungweise operativen Ein- griff“|14 durchführte.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 42 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 43 16.08.12 12:06 1841 richteten die Kuratoren eine Hausapotheke ein und eröffneten eine Homöopathie-Station. Die Geburtsstunde die - ser Behandlungslehre lag inzwischen bereits 40 Jahre zurück: 1796 stellte Christian Friedrich Samuel Hahnemann seine Ideen erstmalig gebündelt in einem Aufsatz vor. Der Gründervater der Homöopathie schlug einen völlig neuartigen therapeuti- schen Ansatz vor. Auf der Basis eines in einem Selbstversuch gefundenen Heil prinzips verschrieb Hahnemann jedem Patien- ten ein einzelnes Heilmittel, das eine Umstimmung der Lebens - kraft bewirken sollte. Die homöopathischen Arzneimittel stellte er anfangs selbst aus pflanzlichen, tierischen und mineralischen Substanzen her. Diese verdünnte er, bis sie ihre heilsame, „geistartige Wirkung“|15 im kranken Organismus entfalten soll- ten. Bis die neue Fachrichtung von einer breiteren Ärz teschaft anerkannt wurde, vergingen allerdings Jahrzehnte. Das erste ho- möopathische Krankenhaus in einem deutschen Staat wurde 1833 in Leipzig eröffnet.| 16

Auch für die Homöopathie-Abteilung berief das Kranken- haus einen Spezialisten.|17 Spätestens im Jahr 1851 befand sich außerdem eine „Abteilung für Sexual-Kranke“ unter dem Dach des Elisabeth-Krankenhauses.|18 Ähnlich wie bei der Station für Frauenheilkunde halten sich die offiziellen Berichte mit Beschreibungen der Therapiemethoden in der Station für „Se - xual-Kranke“ zurück. Krankenakten aus der Zeit sind nicht er - halten.

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1841 richteten die Kuratoren eine Hausapotheke ein und | 1 Oelker: Stiftungen, S. 513. eröffneten eine Homöopathie-Station. Die Geburtsstunde die - | 2 Oelker: Stiftungen, S. 521. ser Behandlungslehre lag inzwischen bereits 40 Jahre zurück: | 3 Günter Richter: Zwischen Revolution und Reichsgründung (1848-1870), 1796 stellte Christian Friedrich Samuel Hahnemann seine Ideen in: Wolfgang Ribbe (Hg.): Geschichte Berlins, Bd. 2: Von der Märzrevolution bis zur erstmalig gebündelt in einem Aufsatz vor. Der Gründervater Gegenwart, Berlin 2002, S. 605-687, hier: S. 683 f. der Homöopathie schlug einen völlig neuartigen therapeuti- | 4 Dorothea Minkels: Königin Elisabeth von Preußen (1801-1873) in Berlin, schen Ansatz vor. Auf der Basis eines in einem Selbstversuch in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin, 2009, gefundenen Heil prinzips verschrieb Hahnemann jedem Patien- S. 141-193, hier: S. 160. ten ein einzelnes Heilmittel, das eine Umstimmung der Lebens - | 5 Ebda. kraft bewirken sollte. Die homöopathischen Arzneimittel stellte | 6 Gossner: Anfang, S. 48. er anfangs selbst aus pflanzlichen, tierischen und mineralischen | 7 Urkunde zitiert bei: Karl Kupisch: Bethanien in Berlin, Berlin 1969, S. 20 f. Substanzen her. Diese verdünnte er, bis sie ihre heilsame, | 8 Das Elisabeth-Krankenhaus, in: Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Balley Brandenburg, „geistartige Wirkung“|15 im kranken Organismus entfalten soll- 1865, S. 255. ten. Bis die neue Fachrichtung von einer breiteren Ärz teschaft | 9 22. Jahresbericht 1855, S. 5. anerkannt wurde, vergingen allerdings Jahrzehnte. Das erste ho- | 10 31. Jahresbericht 1864, S. 12. möopathische Krankenhaus in einem deutschen Staat wurde | 11 Stiftung Elisabeth-Diakonissen-und Krankenhaus (Hg.). 150 Jahre (1837-1987) 1833 in Leipzig eröffnet.| 16 Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus, Berlin 1987, S. 16. | 12 5. Jahresbericht 1838, S. 9. Auch für die Homöopathie-Abteilung berief das Kranken- | 13 Adam Elias von Siebold, Handbuch zur Erkenntniß und Heilung von haus einen Spezialisten.|17 Spätestens im Jahr 1851 befand sich Frauenzimmerkrankheiten, II/2, /Main 1823, S. 269 ff. außerdem eine „Abteilung für Sexual-Kranke“ unter dem Dach | 14 6. Jahresbericht 1839, S. 6. des Elisabeth-Krankenhauses.|18 Ähnlich wie bei der Station | 15 Christian Lucae, Homöopathie an deutschsprachigen Universitäten, Heidelberg 1998, für Frauenheilkunde halten sich die offiziellen Berichte mit S. 24. Beschreibungen der Therapiemethoden in der Station für „Se - | 16 Thomas Faltin, Homöpathie in der Klinik, Stuttgart 2002, S. 17. xual-Kranke“ zurück. Krankenakten aus der Zeit sind nicht er - | 17 31. Jahresbericht 1864, S. 11. halten. | 18 18. Jahresbericht 1851, S. 7.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 44 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 45 16.08.12 12:06 Leben und Sterben

Auch über den Alltag im Krankenhaus sind nur Bruch‑ stücke über liefert. Wir wissen, dass es zur Aufgabe der Wärter‑ innen gehörte, vor der Ankunft einer neuen Patientin das Bett zu reinigen und frisch zu beziehen. Dann führte die Pflegerin die Kranke zu ihrem Bett, entkleidete und wusch sie. Die Körperreini‑ gung war deshalb so wichtig, weil viele Kranke in schmutzigen Kleidern und Verunreinigungen am ganzen Leib das Kranken‑ haus betraten. „Es ist unglaublich“, schreibt Gossner, „wie viele, oft wohl Bekleidete, ihren Körper vernachlässigen, so dass er mit Schmutz und Ungeziefer der ekelhaftesten Art überfüllt ist.“ | 1 Nach dem Waschen kleidete die Wärterin die Patientin neu ein. Anschließend trug sie den Namen, den Beruf und die Anschrift der Kranken in ein Journal ein. Die Schwestern blieben den gan‑ zen Tag lang in den Sälen, in denen zwischen sechs und acht Patientinnen lagen. Nachts hielt eine der Pflegerinnen Wache. Die dauerhafte Präsenz der Schwestern im Krankensaal diente dazu, Schmerzen der kranken Frauen sofort zu bemerken und den Arzt umgehend verständigen zu können. In einer Ordnung legte Gossner fest: „Sie besuchen wiederholt die Kranken, von Bett zu Bett gehend und eilen auf jeden Ruf, auf jedes Seufzen oder Klopfen sogleich wieder zur Hilfsbedürftigen, um ihr jeden nötigen Beistand zu leisten.“| 2 Außerdem sollten sie eine gewis‑ se Kontrolle über die kranken Frauen ausüben, denn längst nicht alle ließen die Behandlung ohne weiteres über sich ergehen, zumal der Aufenthalt im Krankenhaus Wochen, manchmal sogar Monate dauerte. Gossner meinte hierzu:

„Da die Armenkranken größtenteils ungebildet, unwissend, voll Vorurteile sind, sich allerlei Unanständigkeiten, oft Gemeinheiten erlauben

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Leben und Sterben und nicht gehorchen wollen, so müssen die Wärterinnen auf unbedingten Gehorsam dringen, dass der Anstand, die vorgeschriebene Hausordnung Auch über den Alltag im Krankenhaus sind nur Bruch‑ bewahrt und alle Anordnungen ohne Widerrede befolgt werden.“| 3 stücke über liefert. Wir wissen, dass es zur Aufgabe der Wärter‑ innen gehörte, vor der Ankunft einer neuen Patientin das Bett Es passierte nicht selten, dass Frauen im Krankensaal ver ‑ zu reinigen und frisch zu beziehen. Dann führte die Pflegerin die starben. Kündigte sich der Tod einer Patientin an, durften die Kranke zu ihrem Bett, entkleidete und wusch sie. Die Körperreini‑ Angehörigen wann immer sie es wünschten im Krankensaal er‑ gung war deshalb so wichtig, weil viele Kranke in schmutzigen scheinen. Die Schwestern sollten die Sterbenden begleiten, da der Kleidern und Verunreinigungen am ganzen Leib das Kranken‑ Seelsorger nur für einzelne Gespräche erschien. Gossner legte haus betraten. „Es ist unglaublich“, schreibt Gossner, „wie viele, fest, was die Pflegerin vor dem Tod einer Patientin zu tun hat‑ oft wohl Bekleidete, ihren Körper vernachlässigen, so dass er mit te: „Naht die letzte Stunde, so betet die Schwester am Bett der Schmutz und Ungeziefer der ekelhaftesten Art überfüllt ist.“ | 1 Sterbenden und empfiehlt sie der Gnade und Barmherzigkeit Nach dem Waschen kleidete die Wärterin die Patientin neu ein. ihres Erlösers.“| 4 Der Pfarrer ordnete auch an, wie sie mit den Anschließend trug sie den Namen, den Beruf und die Anschrift Todkranken sprechen sollten: „Ruhe des Geistes, geduldige Er‑ der Kranken in ein Journal ein. Die Schwestern blieben den gan‑ gebung, gläubige Erwartung muss sie vor allem, mit Gottes Gna‑ zen Tag lang in den Sälen, in denen zwischen sechs und acht de, dem Kranken einzuflößen suchen. Das ist die beste Medizin, Patientinnen lagen. Nachts hielt eine der Pflegerinnen Wache. die sie ihm reichen kann, die unfehlbar schnell hilft oder zu ei‑ Die dauerhafte Präsenz der Schwestern im Krankensaal diente nem seligen Tod vorbereitet.“ | 5 Das Sterben einer Patientin er‑ dazu, Schmerzen der kranken Frauen sofort zu bemerken und lebten die anderen Frauen im Krankensaal hautnah mit. Dies den Arzt umgehend verständigen zu können. In einer Ordnung mag einer der Gründe dafür sein, weshalb sich viele Frauen vor legte Gossner fest: „Sie besuchen wiederholt die Kranken, von Bett dem Krankenhausaufenthalt fürchteten und die Behandlung so zu Bett gehend und eilen auf jeden Ruf, auf jedes Seufzen oder lange wie möglich hinauszuzögern versuchten. Die Konsequen‑ Klopfen sogleich wieder zur Hilfsbedürftigen, um ihr jeden zen daraus schildern Berichte wie dieser: nötigen Beistand zu leisten.“| 2 Außerdem sollten sie eine gewis‑ se Kontrolle über die kranken Frauen ausüben, denn längst nicht „Oft freilich kommen sie zu spät. Aber das ist nun einmal nicht anders. alle ließen die Behandlung ohne weiteres über sich ergehen, Die armen, im bittersten Elend lebenden Menschen warten meist das zumal der Aufenthalt im Krankenhaus Wochen, manchmal sogar Äußerste ab, ehe sie sich überhaupt nach ärztlicher Hülfe umsehen. – Monate dauerte. Gossner meinte hierzu: Und ehe sie gar entschließen, ihre Gatten und Kinder oder Eltern und Geschwister zu verlassen, um in einem ihnen unbekannten Hause „Da die Armenkranken größtenteils ungebildet, unwissend, voll Vorurteile aufgenommen zu werden, da muss gar oft die letzte Stunde erst ganz sind, sich allerlei Unanständigkeiten, oft Gemeinheiten erlauben nahe kommen.“ | 6

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ELI_Buch_Vers_1.indb 46 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 47 16.08.12 12:06 Die zu spät getroffenen Entscheidungen, sich behandeln zu lassen, setzten bisweilen einen regelrechten Teufelskreis in Gang: Die hohe Sterblichkeit führte zu einer Scheu vor der Auf‑ nahme ins Krankenhaus, was zu einer noch höheren Sterblich‑ keit führte. Die Ärzte berichteten immer wieder, dass sie mehr Leben retten könnten, wenn ihnen nur die Möglichkeit dazu nicht genommen würde. Aus Angst aber, schreiben sie 1865, „kommen Viele erst in den allerelendsten und vorgerücktesten Krankheitszuständen heraus, so dass man sich deshalb nicht wundern kann, dass von den 6.000 bis 7.000 Kranken, die von 1837 bis 1858 aufgenommen und gepflegt wurden, fast der vier‑ te Theil gestorben ist.“ | 7 Gegen die Angst der Menschen vor dem Krankenhaus konnten die Ärzte nicht viel ausrichten. Wohl aber konnten sie den Tod so gut wie möglich vor den übrigen Patienten und den Angehörigen verbergen. Die erste Maßnahme bestand darin, die Leichen aus dem Kranken zimmer zu tragen, bevor eine neue Patientin den Raum betrat, welche den Platz der eben Verstorbenen einnehmen sollte. | 8 Zum zweiten schuf das Kuratorium einen eigenen, vom Krankenhaus abgetrennten Bereich für die Toten. 1841 wurde ein Leichenhaus eröffnet. | 9 Dorthin trugen die Schwestern die Leichname der Patientinnen wenige Stunden nach dem Exitus. Im Leichenhaus wuschen die Pflegerinnen die Körper und kleideten sie nach den Wünschen der Angehörigen an. | 10 1865 wurde, nachdem das Krankenhaus erheblich größer geworden war, ein „dringend nötiges“ neues Leichenhaus gebaut. | 11

Eine Gefahr für Leib und Leben aller Patienten ging nach Auffassung der Kuratoren besonders von den Angehörigen aus. Zwei Mal in der Woche durften Verwandte ihre kranken Angehö ‑

Johann Baptist Sonderland: „Armenpflege“ aus der Serie, Arbeitsgebiete der Kaiserswerther Diakonissen‘, um 1850 | (Abb.: Fliedner-Kulturstiftung) 48

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Die zu spät getroffenen Entscheidungen, sich behandeln zu lassen, setzten bisweilen einen regelrechten Teufelskreis in Gang: Die hohe Sterblichkeit führte zu einer Scheu vor der Auf‑ nahme ins Krankenhaus, was zu einer noch höheren Sterblich‑ keit führte. Die Ärzte berichteten immer wieder, dass sie mehr Leben retten könnten, wenn ihnen nur die Möglichkeit dazu nicht genommen würde. Aus Angst aber, schreiben sie 1865, „kommen Viele erst in den allerelendsten und vorgerücktesten Krankheitszuständen heraus, so dass man sich deshalb nicht wundern kann, dass von den 6.000 bis 7.000 Kranken, die von 1837 bis 1858 aufgenommen und gepflegt wurden, fast der vier‑ te Theil gestorben ist.“ | 7 Gegen die Angst der Menschen vor dem Krankenhaus konnten die Ärzte nicht viel ausrichten. Wohl aber konnten sie den Tod so gut wie möglich vor den übrigen Patienten und den Angehörigen verbergen. Die erste Maßnahme bestand darin, die Leichen aus dem Kranken zimmer zu tragen, bevor eine neue Patientin den Raum betrat, welche den Platz der eben Verstorbenen einnehmen sollte. | 8 Zum zweiten schuf das Kuratorium einen eigenen, vom Krankenhaus abgetrennten Bereich für die Toten. 1841 wurde ein Leichenhaus eröffnet. | 9 Dorthin trugen die Schwestern die Leichname der Patientinnen wenige Stunden nach dem Exitus. Im Leichenhaus wuschen die Pflegerinnen die Körper und kleideten sie nach den Wünschen der Angehörigen an. | 10 1865 wurde, nachdem das Krankenhaus erheblich größer geworden war, ein „dringend nötiges“ neues Leichenhaus gebaut. | 11

Eine Gefahr für Leib und Leben aller Patienten ging nach Auffassung der Kuratoren besonders von den Angehörigen aus. Zwei Mal in der Woche durften Verwandte ihre kranken Angehö ‑

Johann Baptist Sonderland: „Armenpflege“ aus der Serie, Arbeitsgebiete der Kaiserswerther Diakonissen‘, um 1850 | (Abb.: Fliedner-Kulturstiftung) 48 Leben und Sterben 49

ELI_Buch_Vers_1.indb 48 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 49 16.08.12 12:06 rigen besuchen. Die Wärterinnen hatten darauf zu achten, dass die Familienmitglieder den Patientinnen keine Lebensmittel und Getränke gaben, die der Behandlung schaden konnten. | 12 Ein wesentlicher Teil der medizinischen Fürsorge bestand näm‑ lich darin, die Patienten auf Diät zu setzen. Über die ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen ist, wie bereits erwähnt, leider wenig bekannt. Wir wissen aber, dass in den Anfangsjah‑ ren und bis 1845 drei Mediziner die Patienten versorgten. | 13 In den Sonderabteilungen arbeitete je ein weiterer Arzt.

| 1 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 188 f. | 2 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 185. | 3 Ebda. | 4 Ebda. | 5 Ebda. | 6 10. Jahresbericht 1843, S. 2. | 7 Das Elisabeth-Krankenhaus, in: Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Balley Brandenburg, 1865, S. 256 f. | 8 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 188. | 9 31. Jahresbericht 1864, S. 13. | 10 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 188 f. | 11 31. Jahresbericht 1864, S. 13. | 12 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 189. | 13 31. Jahresbericht 1864, S. 11.

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rigen besuchen. Die Wärterinnen hatten darauf zu achten, dass Ein Mutterhaus entsteht die Familienmitglieder den Patientinnen keine Lebensmittel und Getränke gaben, die der Behandlung schaden konnten. | 12 Die Bezirksvorsteherinnen waren, wie Ein wesentlicher Teil der medizinischen Fürsorge bestand näm‑ wir heute sagen, ehrenamtlich im Frauen- lich darin, die Patienten auf Diät zu setzen. Über die ärztlichen Kranken-Verein tätig. Ob sie Kompetenzen in Untersuchungen und Behandlungen ist, wie bereits erwähnt, der Kran kenpflege mitbrachten, spielte zu- leider wenig bekannt. Wir wissen aber, dass in den Anfangsjah‑ nächst nur eine untergeordnete Rolle. Im Kran- ren und bis 1845 drei Mediziner die Patienten versorgten. | 13 kenhaus verhielt sich dies anders. Dort arbei- In den Sonderabteilungen arbeitete je ein weiterer Arzt. teten ausgebildete Schwestern in Vollzeit. Zu Beginn und damit ab 1837 waren es knapp zehn, ihre Zahl stieg im Laufe der Jahre an. | 1 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 188 f. Ihnen standen Probeschwestern zur Seite, die

| 2 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 185. sich bereits um die Kranken kümmerten, je - Theodor Fliedner, o.D. | 3 Ebda. doch in erster Linie von einem Arzt unterrich- (Abb.: Fliedner- | | 4 Ebda. tet wurden. Am Ende ihrer Ausbildung erhiel- Kulturstiftung) | 5 Ebda. ten sie eine Art Abschlusszeugnis. Gossner | 6 10. Jahresbericht 1843, S. 2. lud unverheiratete Frauen dazu ein, eine solche Ausbildung als | 7 Das Elisabeth-Krankenhaus, in: Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Balley Schwester im Krankenhaus zu absolvieren. Der Pastor orientier - Brandenburg, 1865, S. 256 f. te sich dabei am Modell des Diakonissenmutterhauses in Kaisers- | 8 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 188. werth am Rhein. Dieses rief 1836, also ein Jahr vor der Gründung | 9 31. Jahresbericht 1864, S. 13. des Elisabeth-Krankenhauses, der evangelische Pfarrer Theodor | 10 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 188 f. Fliedner ins Leben. Die Frauen, die in das Mutterhaus eintraten, | 11 31. Jahresbericht 1864, S. 13. ließen sich gemeinsam ausbilden, lebten zusammen und erhiel - | 12 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 189. ten vom Mutterhaus einen geringen Lohn. Anders als katholische | 13 31. Jahresbericht 1864, S. 11. Ordensschwestern gelobten sie nicht, ihr restliches Leben in der Gemeinschaft zu verbringen. Sie verpflichteten sich für jeweils fünf Jahre. In Kaiserswerth war der Austritt möglich, wenn eine Diakonisse heiraten wollte. In katholischen Orden hingegen ge - lobten die Schwestern Ehelosigkeit bis zum Lebensende.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 50 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 51 16.08.12 12:06 Die Schwesternschaft des Elisabeth-Krankenhauses ver- fügte nicht über eine so feste Struktur wie das Mutterhaus in Kai- serswerth. Während Theodor Fliedner die Diakonissen vorüber - gehend an Fürsorgeeinrichtungen aussandte, sie dabei aber weiterhin dem Mutterhaus unterstellte, war die Bindung der Ber- liner Schwestern an ihr Haus längst nicht so stark ausgeprägt. Sie konnten nach ihrer Ausbildung das Elisabeth-Kranken- haus gänzlich verlassen und andernorts eine Arbeitsstelle an- nehmen. | 1 Dies taten viele. Von den 160 Schwestern, die seit der Gründung im Krankenhaus gearbeitet haben, waren im Jahr 1858 nur noch 13 übrig. | 2

Die mangelnde Bindung der Schwestern an das Elisabeth- Krankenhaus könnte in den Anfangsjahren auch mit der Entloh- nung zu tun gehabt haben. In Kaiserswerth war die Bezahlung der Diakonissen recht genau geregelt: Das Geld erhielt das Mutter - haus von den Fürsorgeeinrichtungen oder Krankenhäusern, in denen Schwestern tätig waren. Die Diakonissen erhielten ihren Lohn jedoch direkt vom Mutterhaus. | 3 Eine solch feste Regelung existierte für die Schwestern im Elisabeth-Krankenhaus des Frauen-Kranken-Vereins nicht. Johannes Gossner scheint sich ohnehin für Fragen der Struktur der Anstalt nicht so sehr inte - ressiert zu haben wie der Gründer des Kaiserswerther Diakonis - senhauses. | 4 Fliedner richtete sein Augenmerk bei der Gründung ebenso stark auf die Schwestern wie auf die Armen und Kran- ken, bei Gossner standen die Notleidenden deutlich im Vorder - grund.

Beiden Pastoren war gemeinsam, dass sie von den Schwe - stern Gehorsam und Unterordnung verlangten. Diese Sichtweise

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ELI_Buch_Vers_1.indb 52 16.08.12 12:06 ab 1837

Die Schwesternschaft des Elisabeth-Krankenhauses ver- entsprach nicht nur dem Frauenbild vieler evangelischer Pfarrer, fügte nicht über eine so feste Struktur wie das Mutterhaus in Kai- sondern auch weiter Teile des Bürgertums und Adels. Anders serswerth. Während Theodor Fliedner die Diakonissen vorüber - als in liberalen Kreisen begründeten Geistliche wie Gossner das gehend an Fürsorgeeinrichtungen aussandte, sie dabei aber Gebot des Dienens jedoch religiös. In welch hohem Maß er die weiterhin dem Mutterhaus unterstellte, war die Bindung der Ber- unbedingte Hingabe der Schwestern an die Kranken und damit liner Schwestern an ihr Haus längst nicht so stark ausgeprägt. an Gott verlangte, legte er in einer Schrift über die Anforderun- Sie konnten nach ihrer Ausbildung das Elisabeth-Kranken- gen an Krankenpflegerinnen dar: haus gänzlich verlassen und andernorts eine Arbeitsstelle an- nehmen. | 1 Dies taten viele. Von den 160 Schwestern, die seit der „Der gute Wille zur Krankenpflege ist zwar gut, aber nicht hinreichend; es Gründung im Krankenhaus gearbeitet haben, waren im Jahr 1858 muss wahre Liebe zum Beruf und Beruf zum liebevollen Dienst, unver - nur noch 13 übrig. | 2 drossene Bereitwilligkeit um Christi willen und Christus selbst zu dienen da sein, so dass auch das Schwerste und Unangenehmste mit Lust und Die mangelnde Bindung der Schwestern an das Elisabeth- Freuden getan wird – ja, dass die Wärterin von den ekelhaftesten und Krankenhaus könnte in den Anfangsjahren auch mit der Entloh- schwersten Geschäften mit solcher Heiterkeit zurückkehrt, als hätte sie nung zu tun gehabt haben. In Kaiserswerth war die Bezahlung der den angenehmsten Vergnügungen beigewohnt. Bei solcher Liebe wird Diakonissen recht genau geregelt: Das Geld erhielt das Mutter - kein Kranker über rauhe und harte Behandlung klagen und nie denken haus von den Fürsorgeeinrichtungen oder Krankenhäusern, in können, dass er zur Last falle, vielmehr wird er fühlen, dass die Schwester denen Schwestern tätig waren. Die Diakonissen erhielten ihren sich über ihn freut und Gott und ihm dankt, dass er ihr Gelegenheit gibt, Lohn jedoch direkt vom Mutterhaus. | 3 Eine solch feste Regelung ihren Beruf zu erfüllen und Gott und ihm dienen zu können.“ | 5 existierte für die Schwestern im Elisabeth-Krankenhaus des Frauen-Kranken-Vereins nicht. Johannes Gossner scheint sich Unter Gossner hatte die Gemeinschaft der Schwestern noch ohnehin für Fragen der Struktur der Anstalt nicht so sehr inte - eine recht lockere Organisation. Feste Strukturen schuf erst Goss- ressiert zu haben wie der Gründer des Kaiserswerther Diakonis - ners Nachfolger Karl Kuhlo und die Vorsteherin der Schwestern - senhauses. | 4 Fliedner richtete sein Augenmerk bei der Gründung schaft Anna von Arnim-Blumberg. Pfarrer Kuhlo führte auch ebenso stark auf die Schwestern wie auf die Armen und Kran- regelmäßige Andachten mit Psalmengesängen ein. Wenn das Zu- ken, bei Gossner standen die Notleidenden deutlich im Vorder - sammenleben der Schwestern zu Beginn noch wenigen festge - grund. schriebenen Regeln folgte, lag das auch daran, dass das Arbeits - aufkommen der Frauen sich in Grenzen hielt. Wegen ökono - Beiden Pastoren war gemeinsam, dass sie von den Schwe - mischer Schwierigkeiten des Hauses in der Anfangszeit war die stern Gehorsam und Unterordnung verlangten. Diese Sichtweise Zahl der Patientinnen nämlich nie besonders hoch. Ab den 1860er

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ELI_Buch_Vers_1.indb 52 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 53 16.08.12 12:06 Jahren aber stabilisierte sich die finanzielle Lage, so dass Neu- bauten eröffnet und mehr Kranke versorgt werden konnten. Um die gestiegenen Anforderungen zu meistern, führten die Kuratoren und Oberinnen zunehmend verbindliche Regeln ein. Dies geschah nicht immer aus freien Stücken. Die Pflege ver - wundeter Soldaten im Preußisch-Deutschen Krieg 1866 und im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 verlangte eine Neuord- nung der Arbeitsvorgänge. Spätestens nach dem Ende der Krie - ge war aus der anfänglich relativ lose organisierten Gemein- schaft von Schwestern ein eigenes Diakonissen-Mutterhaus mit festen Strukturen geworden.

| 1 Werner von Rotenhan: Die Geschichte des Hauses. Bericht zur Hundertjahrfeier 1937, in: Walter Augustat (Hg.): 125 Jahre Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus in Berlin, Berlin 1962, S. 52-76, hier: S. 53 f. | 2 Ebda. | 3 Annett Büttner: Das internationale Netzwerk der evangelischen Mutterhausdiakonie (Internetpublikation), S. 65. | 4 Franz Segbers: Bekehrung der Herzen – Bekehrung der Strukturen. Zum 150. Todestag Johannes Evangelista Gossners, 30. März 1858, in: Ulrich Schöntube (Hg.): Zwischen Wort und Tat. Beiträge zum 150. Todestag von Johannes Evangelista Gossner, Erlangen 2009, S. 130-155, hier: S. 130. | 5 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 186.

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Jahren aber stabilisierte sich die finanzielle Lage, so dass Neu- Kanonenschüsse am Schloss bauten eröffnet und mehr Kranke versorgt werden konnten. Um die gestiegenen Anforderungen zu meistern, führten die Die Schwestern, die 1846 im Elisabeth-Krankenhaus tätig Kuratoren und Oberinnen zunehmend verbindliche Regeln ein. waren, erhielten wie alle Berliner im Sommer die Nachricht, dass Dies geschah nicht immer aus freien Stücken. Die Pflege ver - die Getreideernte dieses Jahres sehr schlecht ausfallen würde. wundeter Soldaten im Preußisch-Deutschen Krieg 1866 und im Auch erfuhren sie, dass die Menge der geernteten Kartoffeln nur Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 verlangte eine Neuord- etwa der Hälfte des Vorjahresertrags entsprach. Schon an Orten nung der Arbeitsvorgänge. Spätestens nach dem Ende der Krie - mit mäßig steigenden Bevölkerungszahlen führte eine solche ge war aus der anfänglich relativ lose organisierten Gemein- Missernte zu größten Schwierigkeiten. Im rasant wachsenden schaft von Schwestern ein eigenes Diakonissen-Mutterhaus mit Berlin wirkte sie verheerend. Die Preise für Mehl und Kartoffeln festen Strukturen geworden. schnellten so stark in die Höhe, dass sich die meisten Menschen nur noch wenige Grundnahrungsmittel leisten konnten. Dies traf auch die Verantwortlichen im Elisabeth-Krankenhaus: „Täg- | 1 Werner von Rotenhan: Die Geschichte des Hauses. Bericht zur Hundertjahrfeier 1937, lich gegen 100 Personen (mit dem Hauspersonale) erhalten, und in: Walter Augustat (Hg.): 125 Jahre Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus in Berlin, den Kranken alle Bedürfnisse an Arzneien und anderen kostspie- Berlin 1962, S. 52-76, hier: S. 53 f. ligen Sachen verschaffen in einer so drückenden Zeit, wo das | 2 Ebda. Brod so klein, Mehl und Fleisch und Alles so theuer war (...). Das | 3 Annett Büttner: Das internationale Netzwerk der evangelischen Mutterhausdiakonie war eine schwere Aufgabe.“ | 1 Wegen der ge stiegenen Preise san- (Internetpublikation), S. 65. ken außerdem die Mitgliederzahlen und damit die Ein nahmen. | 4 Franz Segbers: Bekehrung der Herzen – Bekehrung der Strukturen. Zum 150. Todestag Den Kuratoren stand also weniger Geld zur Verfügung, obwohl Johannes Evangelista Gossners, 30. März 1858, in: Ulrich Schöntube (Hg.): die Kosten deutlich anstiegen. Ihnen blieb jedoch keine Wahl Zwischen Wort und Tat. Beiträge zum 150. Todestag von Johannes Evangelista Gossner, als die an wesenden Kranken so gut wie möglich zu ernähren, Erlangen 2009, S. 130-155, hier: S. 130. obwohl „wir Alles noch so theuer kaufen mussten.“ | 2 | 5 Gossner: Krankenpflegerinnen, S. 186. Am Berliner Gendarmenmarkt brachen während eines Markttages im April 1847 Streitereien zwischen Bauern und den Käufern ihrer Produkte aus. Die Menschen an den Ständen gerie - ten angesichts der Preissteigerungen bei den wichtigsten Nah- rungsmitteln außer sich und bedrohten die Bauern. Am näch- sten Tag erschienen viele Landwirte erst gar nicht beim Wochen-

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ELI_Buch_Vers_1.indb 54 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 55 16.08.12 12:06 56

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markt auf dem Alexanderplatz. Teile der wartenden Menschen- gruppen plünderten daraufhin anliegende Ladenlokale. Die Garni- son rückte aus und beendete die Unruhen, die als „Kartoffelre - volution“ in die Geschichte eingingen. Einige Hunderte derjeni- gen, die besonders unter der Missernte zu leiden hatten, standen am Abend des 18. März 1848 vor dem Berliner Stadtschloss. Ar - beiter zählten dazu und kleine Handwerker, Kutscher, Transpor - teure und Dienstboten. Sie hatten sich einigen liberalen Köpfen aus dem gehobenen Bildungsbürgertum angeschlossen, die eben- falls zum Schloss geeilt waren. Dort forderten sie gemeinsam lauthals vom preußischen König die Aufhebung der Zensur, die Gewährung von Pressefreiheit, die Einsetzung von Parlamenten sowie freie Wahlen.

Zunächst verlief der Abend friedlich, irgendwann aber fie - len Schüs se. Daraufhin brachen heftige Kämpfe zwischen den Demonstran ten und dem preußischen Militär aus. Mehrere Stun- den lang herrschten Zustände wie im Bürgerkrieg. Den Kanonen- donner hörten auch die Kranken auf den Stationen des Elisa- beth-Krankenhauses.| 3 Während der nächtlichen Kämpfe kamen etwa 300 Menschen ums Leben. Am nächsten Tag wurden diese am Schloss aufgebahrt. Als „Märzgefallene“ wurden sie zu Mär - tyrern der liberal-demokratischen Oppositionsbewegung.

Gossner und seine Kuratoren wiesen die Forderungen der Demonstranten mit aller Schärfe zurück. Der Jahresbericht be - zeichnet die Verfechter demokratischer Bürgerrechte abschätzig

Theodor Hosemann: Der Schlossergeselle Heinrich Glasewaldt und der | Schlosserlehrling Ernst Zinna auf der Barrikade an der Ecke Jäger-/Friedrichstraße, 1848 (Abb.: PD-Kunst)

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ELI_Buch_Vers_1.indb 56 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 57 16.08.12 12:06 als „Weltbeglücker“, ihr politisches Programm als „Wühlerei“ | 4. Diese Haltung teilte der Pastor mit vielen konservativ gestimm- ten Pfarrern. Sie betrachteten, wie es der Historiker Wolfgang Hardtwig zusammenfasst, die Revolution als „Folge eines mora- lisch-religiösen Fehlverhaltens der Menschen, des Ab falls von Gott, und Gott hat sie [die Revolution] geschickt, um zu strafen, vor allem aber, um die Menschen wieder zur inneren Einkehr zu bewegen und auf den Weg des Heils zurückzuführen.“ | 5 Johann Hinrich Wichern, der mit seiner berühmten Rede vom 22. Sep - tember 1848 der Inneren Mission zum Durchbruch verhalf, kri- tisierte darin das „Ungewitter der communistischen Revoluti- on“ | 6. Von Gossner ist als Reak tion auf die Ereignisse im März 1848 der Satz überliefert: „Die Zeit ist böse, sehr böse, aber unser Gott ist gut, sehr gut! und bleibt‘s in Ewigkeit!“ | 7 Wenn Gossner sich so eindeutig gegen die demokratische Opposition stellte, mag das nicht nur an seiner politischen Haltung gele - gen haben. Auch die Bindungen des Vereins an das Königshaus haben dabei sicher eine Rolle gespielt. Zwei Jahre vor den Un- ruhen nämlich hatte Elisabeth, seit 1840 Königin, das Protekto - rat übernommen. Ihr Ehemann, der preußische König Friedrich Wilhelm IV., hatte dem Gründer des Frauen-Kranken-Vereins 1847 einen ruhigen Lebensabend gewünscht, nachdem der Pastor sein Pfarramt in der Bethlehemskirche Berlin niedergelegt hatte. „Möge die Ruhe“, so schließt das Schreiben des Monarchen, „welche Sie jetzt genießen, dazu beitragen, Ihnen ein friedliches Alter zu gewähren und Ihre Jahre zu verlängern.“ | 8 Gossner wusste, wie sehr er vom Wohlwollen der Königsfamilie abhing. Angesichts der vielen Neueröffnungen von Fürsorgeeinrichtun- gen und der Eröffnung des Krankenhauses Bethanien im Jahr zuvor muss ihm daran gelegen gewesen sein, die Verbindung

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ELI_Buch_Vers_1.indb 58 16.08.12 12:06 1847 — 1849

als „Weltbeglücker“, ihr politisches Programm als „Wühlerei“ | 4. zum Königshaus weiter zu stärken. Dieser Wunsch mag die Feder Diese Haltung teilte der Pastor mit vielen konservativ gestimm- geführt haben, als die Autoren des Jahresberichtes von 1849 auf ten Pfarrern. Sie betrachteten, wie es der Historiker Wolfgang die Revolution des Vorjahres zurückblickten: Hardtwig zusammenfasst, die Revolution als „Folge eines mora- lisch-religiösen Fehlverhaltens der Menschen, des Ab falls von „ Wenn die UnrUhestifter und Wühler je Gott, und Gott hat sie [die Revolution] geschickt, um zu strafen, geschmeckt hätten und wüssten, welches Glück und welche freud das ist, vor allem aber, um die Menschen wieder zur inneren Einkehr zu sie würden Krankenhäuser, spitäler, erziehungs- und bewegen und auf den Weg des Heils zurückzuführen.“ | 5 Johann rettungshäuser für Arme, Kranke, Hinrich Wichern, der mit seiner berühmten Rede vom 22. Sep - Verwahrloste, bauen und stiften, statt Klubs und tember 1848 der Inneren Mission zum Durchbruch verhalf, kri- aufrührerische Vereine und dergleichen zu bilden.“ | 9 tisierte darin das „Ungewitter der communistischen Revoluti- on“ | 6. Von Gossner ist als Reak tion auf die Ereignisse im März Wenige Jahre nach den Revolutionsversuchen von 1848 1848 der Satz überliefert: „Die Zeit ist böse, sehr böse, aber und 1849 ließ das Kuratorium einen weiteren Neubau errichten. unser Gott ist gut, sehr gut! und bleibt‘s in Ewigkeit!“ | 7 Wenn Er wurde 1851 bezogen und enthielt erstmals Pensionärszimmer. Gossner sich so eindeutig gegen die demokratische Opposition Diese waren für wohl habende Patientinnen gedacht, die eine stellte, mag das nicht nur an seiner politischen Haltung gele - monatliche Miete zu entrichten hatten. Für den Betrag erwar - gen haben. Auch die Bindungen des Vereins an das Königshaus ben sie nicht nur den Anspruch auf eine Wohnung im Einzel - haben dabei sicher eine Rolle gespielt. Zwei Jahre vor den Un- zimmer. Ihnen standen auch Pflege, Arztbesuche und Gesprä- ruhen nämlich hatte Elisabeth, seit 1840 Königin, das Protekto - che mit einem Geistlichen zu. | 10 Worin die Gründe für die Ein- rat übernommen. Ihr Ehemann, der preußische König Friedrich richtung der Pensionärszimmer lagen, geht aus den Quellen Wilhelm IV., hatte dem Gründer des Frauen-Kranken-Vereins 1847 nicht hervor. Es ist anzunehmen, dass die Kuratoren damit die einen ruhigen Lebensabend gewünscht, nachdem der Pastor sein schwankenden Spendenbeträge auszugleichen versuchten. Zwar Pfarramt in der Bethlehemskirche Berlin niedergelegt hatte. erhielt die Anstalt immer wieder namhafte Schenkungen. | 11 Doch „Möge die Ruhe“, so schließt das Schreiben des Monarchen, ob und wann diese eingingen und wie hoch sie ausfielen, war „welche Sie jetzt genießen, dazu beitragen, Ihnen ein friedliches nicht abzusehen. Um den Krankenhaus betrieb dauerhaft auf- Alter zu gewähren und Ihre Jahre zu verlängern.“ | 8 Gossner rechterhalten zu können, sollte das Haus nun selbst Geld er - wusste, wie sehr er vom Wohlwollen der Königsfamilie abhing. wirtschaften. Diese Entwicklung setzte sich in der Folgezeit fort. Angesichts der vielen Neueröffnungen von Fürsorgeeinrichtun- Spätestens 1865 verlangten die Kuratoren für die Behandlung gen und der Eröffnung des Krankenhauses Bethanien im Jahr aller Patientinnen, die über ausreichende Mittel verfügten, ein zuvor muss ihm daran gelegen gewesen sein, die Verbindung Kostgeld. Ab 1859 nahm das Krankenhaus auch kranke Dienst -

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ELI_Buch_Vers_1.indb 58 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 59 16.08.12 12:06 mädchen auf, für deren Behandlung die Familien aufkamen, in denen sie arbeiteten. | 12 Allerdings sollte dadurch der Grund- satz, notleidende Patientinnen kostenlos zu behandeln, nicht verloren gehen: „Die ärmsten, verlassensten und schwersten Kranken haben stets von allen Angemeldeten den Vorzug ge - habt.“ | 13 1865 berichtete das Kuratorium, es sei „durch die zahl - reichen Beiträge ermöglicht, oft 2/3 der Kranken ganz unentgelt - lich zu verpflegen.“ | 14

| 1 14. Jahresbericht 1847, S. 3. | 2 Ebda. | 3 15. Jahresbericht 1848, S. 5. | 4 Ebda. | 5 Wolfgang Hardtwig: Die Kirchen in der Revolution 1848/49. Religiös-politische Mobilisierung und Parteienbildung, in: Ders. (Hg.): Revolution in Deutschland und Europa 1848/1849, Göttingen 1998, S. 79-108, hier: S. 88. | 6 Johann Hinrich Wichern: Improvisierte Rede vom 22. September 1848, in: Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.): Johann Hinrich Wichern auf dem Kirchentag in Wittenberg 1848, Berlin o.J., S. 13-24, hier: S. 15. | 7 Aus den ersten dreißig Jahren des Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhauses, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 1/1 (1914), S. 2. | 8 von Rotenhan: Geschichte, S. 52. | 9 16. Jahresbericht 1849, S. 3 f. | 10 18. Jahresbericht 1851, S. 4. | 11 von Rotenhan: Geschichte, S. 55. | 12 Das Elisabeth-Krankenhaus, in: Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Balley Brandenburg, 1865, S. 250. | 13 Ebda. | 14 Das Elisabeth-Krankenhaus, in: Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Balley Brandenburg, 1865, S. 257.

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mädchen auf, für deren Behandlung die Familien aufkamen, Eindrücke aus Indien in denen sie arbeiteten. | 12 Allerdings sollte dadurch der Grund- satz, notleidende Patientinnen kostenlos zu behandeln, nicht Der Mann, der das Elisabeth-Kranken- verloren gehen: „Die ärmsten, verlassensten und schwersten haus und den Frauen-Kranken-Verein ins Le - Kranken haben stets von allen Angemeldeten den Vorzug ge - ben gerufen hatte und von Beginn an leitete, habt.“ | 13 1865 berichtete das Kuratorium, es sei „durch die zahl - starb 1858. Johannes Evangelista Gossner reichen Beiträge ermöglicht, oft 2/3 der Kranken ganz unentgelt - hatte das junge Haus mit „fester und energi- lich zu verpflegen.“ | 14 scher Hand“| 1 geleitet, wie es in einer Rück- schau heißt, und dabei ein „durchaus monar- chisches Regiment“ an den Tag gelegt. Zur Er - | 1 14. Jahresbericht 1847, S. 3. innerung an den Gründervater der Anstalt | 2 Ebda. gaben die Kuratoren einem Neubau auf dem

| 3 15. Jahresbericht 1848, S. 5. Gelände seinen Namen. Das „Gossner-Haus“ Dettloff Prochnow, o.D. | 4 Ebda. wurde 1860 eröffnet und beherbergte neben (Foto: Gossner Mission) | | 5 Wolfgang Hardtwig: Die Kirchen in der Revolution 1848/49. Religiös-politische einer Wohnung für den Krankenhausseelsor- Mobilisierung und Parteienbildung, in: Ders. (Hg.): Revolution in Deutschland und ger auch Zimmer für die sogenannten Missionszöglinge.| 2 Denn Europa 1848/1849, Göttingen 1998, S. 79-108, hier: S. 88. der Pastor hatte neben Hilfsvereinen und dem Krankenhaus | 6 Johann Hinrich Wichern: Improvisierte Rede vom 22. September 1848, auch einen Missionsverein gegründet. Die ersten Schüler hatte in: Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.): Johann Hinrich er in seinem Gartenhaus unterrichtet, das neben dem Kranken- Wichern auf dem Kirchentag in Wittenberg 1848, Berlin o.J., S. 13-24, hier: S. 15. haus stand. Er hatte ab 1836 Männer und später auch Missions - | 7 Aus den ersten dreißig Jahren des Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhauses, schwestern auf Stationen im Ausland ausgesandt.| 3 in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 1/1 (1914), S. 2. | 8 von Rotenhan: Geschichte, S. 52. Nach Gossners Tod übernahm Dettloff Prochnow die Lei- | 9 16. Jahresbericht 1849, S. 3 f. tung der Mission.| 4 Die beiden hatten sich lange gekannt. Der | 10 18. Jahresbericht 1851, S. 4. Theologe hatte die ersten Schüler unterrichtet.| 5 1840 brachen | 11 von Rotenhan: Geschichte, S. 55. Prochnow und seine Frau selbst zu einer Missionsreise nach | 12 Das Elisabeth-Krankenhaus, in: Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Balley Indien auf. Die längste Zeit verbrachte er in der Stadt Kotgarh Brandenburg, 1865, S. 250. im äußersten Norden des heutigen Indien. Die Station der | 13 Ebda. Missionare lag am Fuße eines Berges. Dort hielt er Gottesdienste | 14 Das Elisabeth-Krankenhaus, in: Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Balley und verteilte Traktate an die einheimische Bevölkerung. Mehrere Brandenburg, 1865, S. 257.

60 Eindrücke aus Indien 61

ELI_Buch_Vers_1.indb 60 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 61 16.08.12 12:06 Male brach er zu längeren Predigtreisen auf. Er begegnete in dieser Zeit ab und an buddhistischen Wandermönchen, deren Aussehen und Rituale ihm Unbehagen bereiteten:

„Das macht alles einen eigentümlichen Eindruck, der noch erhöht wird durch die vielen Mönche, die man in langen, wehenden Gewändern – rot und gelb ist die heilige Farbe – höchst schmutzig umhergehen sieht, manche mit, manche ohne Kopfbedeckung, einige mit täglich rasierten Glatzen, andere mit langen, zottigen Haaren, wieder andere mit Zöpfen. Und wo sie sich blicken lassen, da eilen die Leute herzu, entblößen ihre Köpfe und beugen sich, damit der Lama seine segnenden Hände ihnen aufs Haupt legt.“| 6

Prochnow studierte diese Eigenheiten genau und brachte sich, um sich besser verständigen zu können, die Sprache Hin- du bei. Daher konnten er und andere Missionare eine Schule er - öffnen, in der den Kindern Lesen, Schreiben, Mathematik und Geographie gelehrt wurden. Der Erfolg der von ihm so bezeich- neten Heidenmission blieb jedoch begrenzt. Nicht nur die feste Verankerung der Bevölkerung in ihrer traditionellen Weltan- schauung stand seinen Bemühungen oft im Weg. Auch die Tat - sache, dass die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche von einigen Autoritäten des Landes nicht geduldet wurde, | 7 mag da- für verantwortlich gewesen sein, dass Prochnow nur sehr weni- ge Menschen taufen konnte. Wäre seine Frau nicht schwer er - krankt, hätte er seine Mission sicher fortgesetzt. So aber kehrten die Eheleute 1858 aus Indien nach Berlin zurück. Da Gossner bei seiner Ankunft in Berlin bereits verstorben war, übernahm Proch- now nun die Leitung der Mission. Ermutigt durch seine eigenen Erfahrungen, sandte er die meisten Gossner-Missionare nach

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ELI_Buch_Vers_1.indb 62 16.08.12 12:06 1858 — 1867

Male brach er zu längeren Predigtreisen auf. Er begegnete in Indien aus. Die Zentrale der Mission an der Potsdamer Straße dieser Zeit ab und an buddhistischen Wandermönchen, deren stand mit dem Krankenhaus und dem Diakonissen-Mutterhaus Aussehen und Rituale ihm Unbehagen bereiteten: noch Jahrzehnte lang in engem Kontakt. Erst im Jahr 1889 ver- legten die Missionare ihren Sitz nach Berlin-Friedenau. „Das macht alles einen eigentümlichen Eindruck, der noch erhöht wird durch die vielen Mönche, die man in langen, wehenden Gewändern – rot und gelb ist die heilige Farbe – höchst schmutzig umhergehen sieht, | 1 von Rotenhan: Geschichte, S. 54. manche mit, manche ohne Kopfbedeckung, einige mit täglich rasierten | 2 27. Jahresbericht 1860, S. 3. Für viele Hinweise zur Gossner-Mission danke ich Glatzen, andere mit langen, zottigen Haaren, wieder andere mit Zöpfen. Klaus Roeber. Und wo sie sich blicken lassen, da eilen die Leute herzu, entblößen | 3 Zur Gossner-Mission s. Klaus Roeber: Johannes Evangelista Gossner und Albert Ludwig ihre Köpfe und beugen sich, damit der Lama seine segnenden Hände Carl Büchsel. „Missionsväter und Kirchenväter“ im Berlin des 19. Jahrhunderts, ihnen aufs Haupt legt.“| 6 Berlin 2005; Oda-Gebbine Holze-Stäblein, Ulrich Schöntube (Hg.): 175 Jahre Missionsgeschichte. Die Gossner Mission in Porträts, Neuendettelsau 2011; Prochnow studierte diese Eigenheiten genau und brachte Hermann Dalton: Johannes Gossner. Ein Lebensbild aus der Kirche des neunzehnten sich, um sich besser verständigen zu können, die Sprache Hin- Jahrhunderts, Berlin 1898. Walter Holsten, Johannes Evangelista Gossner. Glaube du bei. Daher konnten er und andere Missionare eine Schule er - und Gemeinde, Göttingen 1949; öffnen, in der den Kindern Lesen, Schreiben, Mathematik und | 4 von Rotenhan: Geschichte, S. 55. Geographie gelehrt wurden. Der Erfolg der von ihm so bezeich- | 5 Dr. Dettloff Prochnow. Gossners Missionar und Nachfolger. Ein Lebensbild, entworfen neten Heidenmission blieb jedoch begrenzt. Nicht nur die feste von Konsistorialrat a. D. Foertsch, Halle an der Saale, in: Die Biene, 1938, S. 34. Verankerung der Bevölkerung in ihrer traditionellen Weltan- | 6 Foertsch: Prochnow, S. 45. schauung stand seinen Bemühungen oft im Weg. Auch die Tat - | 7 Foertsch: Prochnow, S. 47. sache, dass die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche von einigen Autoritäten des Landes nicht geduldet wurde, | 7 mag da- für verantwortlich gewesen sein, dass Prochnow nur sehr weni- ge Menschen taufen konnte. Wäre seine Frau nicht schwer er - krankt, hätte er seine Mission sicher fortgesetzt. So aber kehrten die Eheleute 1858 aus Indien nach Berlin zurück. Da Gossner bei seiner Ankunft in Berlin bereits verstorben war, übernahm Proch- now nun die Leitung der Mission. Ermutigt durch seine eigenen Erfahrungen, sandte er die meisten Gossner-Missionare nach

62 Eindrücke aus Indien 63

ELI_Buch_Vers_1.indb 62 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 63 16.08.12 12:06 Die ersten männlichen Patienten

Der erste Missionsinspektor nach Johannes Gossner, Dett‑ loff Proch now, blieb bis 1867 Leiter der Mission und Hausgeistli‑ cher des Krankenhauses. Er erlebte also auch den Ausbruch des Preußisch‑Deut schen Krieges 1866 mit, in dem die Truppen Preu‑ ßens und einiger Verbün de ter gegen Österreich und die meisten Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes in den Krieg zogen. Die ersten verwundeten Soldaten wurden bereits beim Ausbruch des Krieges im Juni des Jahres in ein eigens eingerichtetes Laza‑ rett auf dem Krankenhausgelände eingeliefert. Die Leitung der Anstalt musste Platz für sie schaffen. Ein neues Haus mit 170 Betten war zwar ge rade fertiggestellt worden, jedoch noch nicht bezugsfertig.| 1 Also schloss man die Kinderstation, die erst 1860 eröffnet worden war.| 2 In ihren Räumen lagen nun die zivilen Patientinnen.| 3 Die Aufnahme dieser kranken Frauen aus der Stadt wurde jedoch erheblich eingeschränkt.

Insgesamt 140 kranke und verwundete Soldaten behandel‑ ten die Ärzte und Schwestern im Jahr des Preußisch‑Deutschen Kriegs. 50 von ihnen hatten sich Schusswunden mit Knochen‑ verletzungen zugezogen, 29 litten an Typhus, drei Soldaten wa‑ ren mit Bajonettstichen und Säbelhieben eingeliefert worden.| 4 Das Lazarett schloss im April 1867.

In den Folgejahren war der Aufenthalt im Krankenhaus wieder nur Frauen vorbehalten. Im deutsch‑ französischen Krieg von 1870/1871 richtete die Hausleitung erneut eine Kranken‑ station für Verwundete ein. Diesmal fand das Lazarett in einer Baracke im Garten und im älteren Krankenhausgebäude Platz.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 64 16.08.12 12:06 1866 — 1872

Die ersten männlichen Patienten Der Neubau war inzwischen funktionstüchtig und in Betrieb.| 5 Die Pflege der Soldaten endete im Februar 1872.| 6 Der erste Missionsinspektor nach Johannes Gossner, Dett‑ loff Proch now, blieb bis 1867 Leiter der Mission und Hausgeistli‑ Bis zu diesem Zeitpunkt durften nicht einmal die Pensio‑ cher des Krankenhauses. Er erlebte also auch den Ausbruch des närszimmer von Männern bewohnt werden, obwohl ihre Be‑ Preußisch‑Deut schen Krieges 1866 mit, in dem die Truppen Preu‑ wohner für den Aufenthalt zahlten. In der Stadt standen je‑ ßens und einiger Verbün de ter gegen Österreich und die meisten doch offenbar zu wenige Betten zur Verfügung, um die verletzten Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes in den Krieg zogen. Die Soldaten andernorts zu versorgen. Finanziell brachte die Ein‑ ersten verwundeten Soldaten wurden bereits beim Ausbruch richtung des Lazaretts keine Nachteile: Die Kosten für die Pfle‑ des Krieges im Juni des Jahres in ein eigens eingerichtetes Laza‑ ge der Männer trug ein Verein, der eigens zu diesem Zweck rett auf dem Krankenhausgelände eingeliefert. Die Leitung der gegründet worden war. Er kam nicht nur für deren Versorgung Anstalt musste Platz für sie schaffen. Ein neues Haus mit 170 auf, sondern stellte auch die Ausstattung für die Soldaten‑ Sta‑ Betten war zwar ge rade fertiggestellt worden, jedoch noch nicht tionen zur Verfügung, welche das Krankenhaus anschließend bezugsfertig.| 1 Also schloss man die Kinderstation, die erst 1860 behalten durfte.| 7 Außerdem flos sen der Anstalt von diesem eröffnet worden war.| 2 In ihren Räumen lagen nun die zivilen Verein 500 Taler zusätzlich zu.| 8 Im Krieg von 1870/1871 finan‑ Patientinnen.| 3 Die Aufnahme dieser kranken Frauen aus der zierte der Verein erneut die Lazarett‑Aufenthalte der Verwun‑ Stadt wurde jedoch erheblich eingeschränkt. deten.| 9 Während nach dem Krieg von 1866 die Versorgung von zivilen Männern untersagt blieb, führte das Kuratorium 1872 Insgesamt 140 kranke und verwundete Soldaten behandel‑ eine eigene Männerstation ein.| 10 Diese wurde gleich drei Jahre ten die Ärzte und Schwestern im Jahr des Preußisch‑Deutschen später erheblich erweitert. Kriegs. 50 von ihnen hatten sich Schusswunden mit Knochen‑ verletzungen zugezogen, 29 litten an Typhus, drei Soldaten wa‑ ren mit Bajonettstichen und Säbelhieben eingeliefert worden.| 4 Das Bombardement von Paris im Januar 1871 (Foto: Bundesarchiv Bild 183-S50916) | Das Lazarett schloss im April 1867. In den Folgejahren war der Aufenthalt im Krankenhaus wieder nur Frauen vorbehalten. Im deutsch‑ französischen Krieg von 1870/1871 richtete die Hausleitung erneut eine Kranken‑ station für Verwundete ein. Diesmal fand das Lazarett in einer Baracke im Garten und im älteren Krankenhausgebäude Platz.

64 Die ersten männlichen Patienten 65

ELI_Buch_Vers_1.indb 64 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 65 16.08.12 12:06 Vorderansicht des Haupthauses, 1886 (Abb.: Fliedner- Kulturstiftung)

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ELI_Buch_Vers_1.indb 66 16.08.12 12:06 1866 — 1872

INSGESAMT 140 KRANKE UND VERWUNDETE SOLDATEN BEHANDELTEN DIE ÄRZTE UND SCHWESTERN IM JAHR DES PREUSSISCH-

Vorderansicht des DEUTSCHEN KRIEGS 1866. VON IHNEN HATTEN Haupthauses, 1886 SICH 50 SCHUSSWUNDEN MIT KNOCHEN- (Abb.: Fliedner- Kulturstiftung) VERLETZUNGEN ZUGEZOGEN, 29 LITTEN AN TYPHUS, DREI SOLDATEN WAREN MIT BAJONETTSTICHEN UND SÄBELHIEBEN EINGELIEFERT WORDEN.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 66 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 67 16.08.12 12:06 Die Bindung der Anstalt an die Königsfamilie gewann während des Kriegs Preußens gegen Österreich eine neue Qua‑ lität. Zwischen dem Eli sabeth‑Krankenhaus und den Hohenzol‑ lern trat eine stille Vereinbarung in Kraft, die lange währen sollte. Der König und Mitglieder seiner Familie trafen regelmäßig im Krankenhaus ein, um sich nach dem Wohl der Soldaten zu er ‑ kundigen. Für die Besuche bedankten sich die Kuratoren an‑ schließend öffentlich und unterstrichen damit die Bedeutung des Hauses für die Krankenfürsorge in der Stadt Berlin:

„Da wir von dem Ruhm und Gnade Gottes sprechen, so müssen wir unsers theuren Königshauses erwähnen. Der Besuch unsers theuren Königs ist ein nachhaltiger Segen für alle Herzen geblieben und bewegt sie mit inniger Dankbarkeit. Mit herzgewinnender Freundlichkeit sprach er mit jedem Verwundeten, erkundigte sich nach allen näheren Umständen und drückte seine Theilnahme durch Wort und That einem jeden Einzelnen aus.“ | 11

Damit stellten sich die Kuratoren öffentlich hinter König Wil helm I. und seine Kriege, für welche die Berliner Bevölkerung anfangs nur begrenzt Begeisterung aufbrachte. Erst nach dem Sieg über Österreich machten sich ein gewisser Stolz und die Phantasie von der Weltmetropole Berlin breit. | 12

Das Leitungsgremium hatte jedoch bereits vor Kriegsaus‑ bruch seine Verbundenheit zum Monarchen kundgetan. Die Ku‑ ratoren schrieben 1865 über die Spendengeber des Krankenhau‑ ses, „aus dem ‚kleinsten’, aus dem ‚geringsten’ Kreis seiner ur‑ sprünglichen Gründer und Mitglieder hat sich allmählich ein ‚mächtiges Volk’ zusammengefunden, mächtig der Zahl nach einerseits und der Lebensstellung nach andererseits; denn an seiner Spitze steht unser Königshaus.“ | 13

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ELI_Buch_Vers_1.indb 68 16.08.12 12:06 1866 — 1872

Die Bindung der Anstalt an die Königsfamilie gewann Ähnliches spielte sich im Krieg Preußens gegen Frankreich während des Kriegs Preußens gegen Österreich eine neue Qua‑ 1870/1871 ab. Mehrere Male besuchten Mitglieder der Königs‑ lität. Zwischen dem Eli sabeth‑Krankenhaus und den Hohenzol‑ familie die Verwundeten, wovon dem breiten Leserkreis der Jah‑ lern trat eine stille Vereinbarung in Kraft, die lange währen sollte. resberichte anschließend nicht ohne Stolz berichtet wurde. | 14 Der König und Mitglieder seiner Familie trafen regelmäßig im Krankenhaus ein, um sich nach dem Wohl der Soldaten zu er ‑ Im Vergleich zu 1866 war die Kriegsbegeisterung der Berli‑ kundigen. Für die Besuche bedankten sich die Kuratoren an‑ ner Bevölkerung 1870 allerdings weitaus stärker ausgeprägt. Die schließend öffentlich und unterstrichen damit die Bedeutung Stadt unter stützte den Feldzug durch Kriegsanleihen, und die des Hauses für die Krankenfürsorge in der Stadt Berlin: Bürger leisteten Dienst in den zahlreichen improvisierten La‑ zaretten, von denen die meisten auf dem Tempelhofer Feld auf ‑ „Da wir von dem Ruhm und Gnade Gottes sprechen, so müssen wir unsers gestellt wurden, während ein großer Teil der männlichen Be ‑ theuren Königshauses erwähnen. Der Besuch unsers theuren Königs ist ein völkerung auf den Schlachtfeldern Frankreichs kämpfte. | 15 nachhaltiger Segen für alle Herzen geblieben und bewegt sie mit inniger Dankbarkeit. Mit herzgewinnender Freundlichkeit sprach er mit jedem Man nahm, wohl auch wegen der anhaltenden Unterstüt‑ Verwundeten, erkundigte sich nach allen näheren Umständen und drückte zung des Königshauses, neben der Behandlung von Männern seine Theilnahme durch Wort und That einem jeden Einzelnen aus.“ | 11 zwei weitere Veränderungen in Kauf: Die erste bestand darin, Schwestern des Johanniterordens zur Arbeit im Krankenhaus zu‑ Damit stellten sich die Kuratoren öffentlich hinter König zulassen. Dieser Ritterorden stellte einen Teil seiner Mitglieds‑ Wil helm I. und seine Kriege, für welche die Berliner Bevölkerung beiträge für die Krankenpflege zur Verfügung. Einige Johanni‑ anfangs nur begrenzt Begeisterung aufbrachte. Erst nach dem terschwestern ließen sich im Elisabeth‑Krankenhaus ausbilden, Sieg über Österreich machten sich ein gewisser Stolz und die manche von ihnen verließen den Orden sogar und traten in das Phantasie von der Weltmetropole Berlin breit. | 12 Elisabeth‑Diakonissenmutterhaus ein. Ein Grund für die Einbin‑ dung der Johanniterschwestern mag gewesen sein, dass man Das Leitungsgremium hatte jedoch bereits vor Kriegsaus‑ Mühe hatte, eigenen Nachwuchs zu finden. Seit 1864 warben bruch seine Verbundenheit zum Monarchen kundgetan. Die Ku‑ die Kuratoren eindringlich um junge, unverheiratete Frauen in ratoren schrieben 1865 über die Spendengeber des Krankenhau‑ Anzeigen wie dieser: „Möchten sich doch von den vielen Jung ‑ ses, „aus dem ‚kleinsten’, aus dem ‚geringsten’ Kreis seiner ur‑ frauen, die keine Pflichten in ihrer Familie binden und die mü ‑ sprünglichen Gründer und Mitglieder hat sich allmählich ein ßig am Markt stehen, Viele finden zum Dienst des Herrn an ‚mächtiges Volk’ zusammengefunden, mächtig der Zahl nach den armen Kranken und Leidenden.“| 16 Der Mangel an jungen einerseits und der Lebensstellung nach andererseits; denn an Schwestern wurde nach der Eröffnung des Neubaus umso spür ‑ seiner Spitze steht unser Königshaus.“ | 13

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ELI_Buch_Vers_1.indb 68 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 69 16.08.12 12:06 barer, als man nun deutlich mehr Kranke versorgen konnte als zuvor. Die Zusammenarbeit zwischen dem Orden und der An‑ stalt verfestigte sich im Laufe der folgenden Jahre und fand ih‑ ren Höhepunkt in einem Vertrag im Jahr 1886. Darin verpflichte ‑ ten sich die Diakonissen des Elisabeth‑ Krankenhauses, „im Fall eines Krieges alle Kräfte in den Dienst des Ordens zu stellen.“ | 17 Welche Gegenleistungen die Schwestern dafür erhielten, geht aus den Quellen nicht hervor. Klar ist jedoch, dass auch dieser Schritt die Verbindung des Krankenhauses zum Königshaus stärkte. Denn die Ordensritter entstammten der Führungsschicht des Staates und dem Adel.| 18 Zu ihrem ersten Herrenmeister wählten sie Friedrich Carl, den Bruder von Friedrich Wilhelm IV. Der König selbst hatte sich für die Neugründung des Ordens 1852 eingesetzt.

Die zweite Neuerung war für die Diakonissen sicherlich die gravierendste. Ab 1866 mussten sie auch in Lazaretten in der Nähe der Kriegsgebiete arbeiten. Die ersten Schwestern, die zur Pflege der Verwundeten abreisten, fuhren 1866 nach Dresden. Von den sechs, die im Juni nach Sachsen aufbrachen, blieben fünf bis Ende November und brachten einen Teil der Verwunde ‑ ten mit ins Elisabeth‑Krankenhaus.|19 1870 wurden vier Schwe‑ stern zur französischen Grenze geschickt, wo sie die Lazarett‑ arbeit aufnahmen. Sie behandelten Verwundete in Saarbrücken, Forbach und vor Metz. Die Diakonissen kehrten im Dezember 1870 nach Berlin zurück. Im Januar sandte die Vorsteherin des Diakonissenhauses erneut sechs ihrer Schwestern aus. Die Front rückte weiter Richtung Westen, weshalb diese Schwestern in Amiens eingesetzt wurden.| 20 Diese kehrten zwei Monate später zurück.|21

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ELI_Buch_Vers_1.indb 70 16.08.12 12:06 1866 — 1872

barer, als man nun deutlich mehr Kranke versorgen konnte als Das Krankenhaus hatte während der beiden Kriege seine zuvor. Die Zusammenarbeit zwischen dem Orden und der An‑ Gestalt verändert. Es behandelte nun auch Männer, sogar deutlich stalt verfestigte sich im Laufe der folgenden Jahre und fand ih‑ mehr als Frauen, und auf den Stationen arbeiteten zeitweilig auch ren Höhepunkt in einem Vertrag im Jahr 1886. Darin verpflichte ‑ Schwestern des Johanniterordens. Die Realität hatte Gossners ten sich die Diakonissen des Elisabeth‑ Krankenhauses, „im Fall Krankenanstalt für hilfsbedürftige kranke Frauen eingeholt. eines Krieges alle Kräfte in den Dienst des Ordens zu stellen.“ | 17 Welche Gegenleistungen die Schwestern dafür erhielten, geht aus den Quellen nicht hervor. Klar ist jedoch, dass auch dieser | 1 33. Jahresbericht 1866, S. 2. Schritt die Verbindung des Krankenhauses zum Königshaus | 2 27. Jahresbericht 1860, S. 2. stärkte. Denn die Ordensritter entstammten der Führungsschicht | 3 33. Jahresbericht 1866, S. 2. des Staates und dem Adel.| 18 Zu ihrem ersten Herrenmeister | 4 Anekdoten und Gedicht o.S, ArchELI. wählten sie Friedrich Carl, den Bruder von Friedrich Wilhelm | 5 37. Jahresbericht 1870, S. 1. IV. Der König selbst hatte sich für die Neugründung des Ordens | 6 39. Jahresbericht 1872, S. 2. 1852 eingesetzt. | 7 34. Jahresbericht 1867, S. 1. | 8 Ebda. Die zweite Neuerung war für die Diakonissen sicherlich | 9 Ebda. die gravierendste. Ab 1866 mussten sie auch in Lazaretten in der | 10 von Rotenhan: Geschichte, S. 61. Nähe der Kriegsgebiete arbeiten. Die ersten Schwestern, die zur | 11 33. Jahresbericht 1866, S. 7 f. Pflege der Verwundeten abreisten, fuhren 1866 nach Dresden. | 12 Richter: Revolution, S. 683. Von den sechs, die im Juni nach Sachsen aufbrachen, blieben | 13 Das Elisabeth-Krankenhaus, in: Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Balley Brandenburg, fünf bis Ende November und brachten einen Teil der Verwunde ‑ 1865, S. 248. ten mit ins Elisabeth‑Krankenhaus.|19 1870 wurden vier Schwe‑ | 14 40. Jahresbericht 1873, S. 2. stern zur französischen Grenze geschickt, wo sie die Lazarett‑ | 15 Richter: Revolution, S. 686. arbeit aufnahmen. Sie behandelten Verwundete in Saarbrücken, | 16 32. Jahresbericht 1865, S. 8. Forbach und vor Metz. Die Diakonissen kehrten im Dezember | 17 59. Jahresbericht 1892, S. 9. 1870 nach Berlin zurück. Im Januar sandte die Vorsteherin des | 18 Silke Marburg: sub estos signis militamus. Adlige Selbstsymbolisierung in der Diakonissenhauses erneut sechs ihrer Schwestern aus. Die Front Genossenschaft des Johanniterordens im Königreich Sachsen, in: Josef Matzerath, rückte weiter Richtung Westen, weshalb diese Schwestern in Silke Marburg (Hg.): Der Schritt in die Moderne, Köln 2001, S. 17-44, hier: 22. Amiens eingesetzt wurden.| 20 Diese kehrten zwei Monate später | 19 Episoden und Gedicht o.S., ArchELI. zurück.|21 | 20 37. Jahresbericht 1870, S. 1. | 21 38. Jahresbericht 1871, S. 2.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 70 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 71 16.08.12 12:06 Arme und wohlhabende Kranke

Ein weiterer Grundsatz des Gründervaters geriet in den 1860er Jah ren ins Wanken. Gossner hatte Wert darauf gelegt, dass arme Patien tinnen kostenlos behandelt wurden. Zwar nahmen die für die Patienten unentgeltlichen Aufenthalte ab, doch sie blieben bis 1871 möglich. In diesem Jahr änderte sich die Finan‑ zierung der Versorgung von mittel losen Kranken. Das Kurato‑ rium richtete einen Freibetten‑Fonds ein. Aus dem Budget dieses Fonds sollten Behandlungskosten von Menschen beglichen wer‑ den, die ihren Aufenthalt nicht selbst bezahlen konnten. Die ersten Gelder stammten aus einer Kirchenkollekte.| 1 In den Fonds wurden immer wieder kleinere und größere Summen einge‑ zahlt. Die größte Spende ging 1893 beim Freibetten‑Fonds ein, sie betrug 129.000 Mark, der Währung des jungen Deutschen Kai‑ serreiches. Die Finanzierung von Behandlungen für mittellose Menschen erfolgte zwar nach wie vor im Krankenhaus, aber für die Finanzierung kam das Kuratorium nicht mehr auf. Es erhielt nun selbst Geld für die Versorgung der armen Kranken aus dem Freibetten‑Fonds. Die Gelder des Fonds tauchten daher auch nicht in der Abrechnung des Hauses auf.| 2

Für die Behandlung der Armen nahm das Elisabeth‑ Kran‑ kenhaus nun also auch Geld ein, ebenso wie für die Versorgung aller anderen Patienten. Die Wohlhabenderen mussten für die Aufenthalte selbst aufkommen. Das Krankenhaus führte spätes‑ tens 1867 drei verschiedene Behandlungsklassen und damit drei Tagespreise ein.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 72 16.08.12 12:06 ab 1871

Arme und wohlhabende Kranke Patienten im Krankensaal zahlten zehn Groschen pro Tag, in Zimmern mit drei Personen 25 Groschen und in Einzelzimmern Ein weiterer Grundsatz des Gründervaters geriet in den 50 Groschen.| 3 Der Satz für die höchste Klasse lag also fünf Mal 1860er Jah ren ins Wanken. Gossner hatte Wert darauf gelegt, dass höher als für die niedrigste. Die Einführung des Dreiklassen‑ arme Patien tinnen kostenlos behandelt wurden. Zwar nahmen Systems und die Einrichtung des Freibetten‑ Fonds markieren die für die Patienten unentgeltlichen Aufenthalte ab, doch sie einen Meilenstein auf dem Weg des Krankenhauses vom Spen‑ blieben bis 1871 möglich. In diesem Jahr änderte sich die Finan‑ denempfänger zum selbständig wirtschaftenden Betrieb. zierung der Versorgung von mittel losen Kranken. Das Kurato‑ rium richtete einen Freibetten‑Fonds ein. Aus dem Budget dieses Allerdings bezog das Krankenhaus nur für die Behand‑ Fonds sollten Behandlungskosten von Menschen beglichen wer‑ lung von Patienten Geld, die stationär aufgenommen wurden. den, die ihren Aufenthalt nicht selbst bezahlen konnten. Die Immer wieder erschienen in den Arztzimmern jedoch auch ein‑ ersten Gelder stammten aus einer Kirchenkollekte.| 1 In den Fonds zelne Frauen und Männer oder Eltern mit ihren Kindern, die wurden immer wieder kleinere und größere Summen einge‑ sich verletzt hatten oder erkrankt waren. 1878 trugen die Ärzte die zahlt. Die größte Spende ging 1893 beim Freibetten‑Fonds ein, sie Namen von 3.000 Personen ins Journal ein, die um eine ambu ‑ betrug 129.000 Mark, der Währung des jungen Deutschen Kai‑ lante Hilfe baten. Ihre Zahl muss jedoch deutlich höher gewe ‑ serreiches. Die Finanzierung von Behandlungen für mittellose sen sein. Wenn nämlich ein bereits erfasster Patient ein zweites Menschen erfolgte zwar nach wie vor im Krankenhaus, aber für oder drittes Mal erschien, wurden seine Daten nicht neu in das die Finanzierung kam das Kuratorium nicht mehr auf. Es erhielt Buch eingetragen. nun selbst Geld für die Versorgung der armen Kranken aus dem Freibetten‑Fonds. Die Gelder des Fonds tauchten daher auch Die Mediziner schätzten, dass sie 1878 tatsächlich nicht in der Abrechnung des Hauses auf.| 2 etwa 6.000 aMbulante Für die Behandlung der Armen nahm das Elisabeth‑ Kran‑ behanDlungen kenhaus nun also auch Geld ein, ebenso wie für die Versorgung durchgeführt hatten. aller anderen Patienten. Die Wohlhabenderen mussten für die Aufenthalte selbst aufkommen. Das Krankenhaus führte spätes‑ tens 1867 drei verschiedene Behandlungsklassen und damit drei Tagespreise ein.

72 Arme und wohlhabende Kranke 73

ELI_Buch_Vers_1.indb 72 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 73 16.08.12 12:06 Krankensaal, o.D. (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) 74

ELI_Buch_Vers_1.indb 74 16.08.12 12:06 ab 1871

PATIENTEN IM KRANKENSAAL ZAHLTEN ZEHN GROSCHEN PRO TAG, IN ZIMMERN MIT DREI PERSONEN 25 GROSCHEN UND IN EINZEL- ZIMMERN 50 GROSCHEN. DER SATZ FÜR DIE HÖCHSTE KLASSE LAG ALSO FÜNF MAL HÖHER ALS FÜR DIE NIEDRIGSTE.

Krankensaal, o.D. (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) 74 Arme und wohlhabende Kranke 75

ELI_Buch_Vers_1.indb 74 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 75 16.08.12 12:06 Die Kosten der Therapien waren gering, da die Ärzte in der Regel keine Arzneimittel verabreichten. Verbandmaterial war nicht teuer. Die Mediziner entschieden sich in Absprache mit dem Kuratorium dazu, diesem Teil der Krankenversorgung einen ei‑ genen Namen zu geben und ihn als eigenen Bereich zu ver‑ stehen. So entstand, nicht geplant, sondern „lediglich durch all‑ mähliche Gewohnheit“| 4 eine Poliklinik, die bereits als solche bezeichnet wurde. Zunächst wurden die Kranken in den Arzt‑ zimmern behandelt. 1906 schließlich errichtete man ein eigenes Gebäude.| 5 Obwohl die Grundidee dieser Abteilung war, allen Patienten schnelle und kostengünstige Hilfe anzubieten, galten auch hier Aufnahmebeschränkungen. Nicht nur sogenannten Geisteskranken verwehrte man den Zutritt, sondern auch Patien‑ ten mit Krankheiten, die als ansteckend galten. Dazu zählten Syphilis, Cholera und Flecktyphus.| 6

| 1 Ebda. | 2 Ebda. | 3 35. Jahresbericht 1868, S. 2. | 4 45. Jahresbericht 1878, S. 8. | 5 73. Jahresbericht 1906, S. 2. | 6 Königlich statistisches Bureau (Hg.): Krankenhaus-Lexikon für das Königreich Preussen, Berlin 1885, S. 84.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 76 16.08.12 12:06 1914 — 1918

Die Kosten der Therapien waren gering, da die Ärzte in der Diakonissen im Kriegsdienst Gottes Regel keine Arzneimittel verabreichten. Verbandmaterial war nicht teuer. Die Mediziner entschieden sich in Absprache mit dem Zu dieser Zeit lebten 174 Diakonissen im Mutterhaus. Die Kuratorium dazu, diesem Teil der Krankenversorgung einen ei‑ gestiegene Zahl der Eintritte lag wohl auch daran, dass der Be ‑ genen Namen zu geben und ihn als eigenen Bereich zu ver‑ ruf der Krankenschwester an Professionalität und damit auch an stehen. So entstand, nicht geplant, sondern „lediglich durch all‑ Ansehen gewann. Die Ausbildung wurde vereinheitlicht und mähliche Gewohnheit“| 4 eine Poliklinik, die bereits als solche vom Staat festgelegt. 1907 trat das erste Krankenpflegegesetz in bezeichnet wurde. Zunächst wurden die Kranken in den Arzt‑ Kraft, das Art und Inhalte des Un terrichts und der Abschluss‑ zimmern behandelt. 1906 schließlich errichtete man ein eigenes prüfungen festlegte.| 1 Ab 1910 mussten Krankenschwestern ein Gebäude.| 5 Obwohl die Grundidee dieser Abteilung war, allen Staatsexamen ablegen.| 2 Die Bemühungen um eine Professio ‑ Patienten schnelle und kostengünstige Hilfe anzubieten, galten nalisierung des Schwesterberufs gingen allerdings weniger von auch hier Aufnahmebeschränkungen. Nicht nur sogenannten den Frauenklöstern und Mutterhäusern als von weltlichen Or ‑ Geisteskranken verwehrte man den Zutritt, sondern auch Patien‑ ganisationen aus. Um die Jahrhundertwende entstanden freibe ‑ ten mit Krankheiten, die als ansteckend galten. Dazu zählten rufliche Krankenpflegeeinrichtungen, denen sich viele allein‑ Syphilis, Cholera und Flecktyphus.| 6 stehende Frauen anschlossen. | 3 Vorher war die Ausbildung zur Krankenschwester an den Eintritt in eine Gemeinschaft gekop ‑ pelt gewesen. Diese Verknüpfung löste sich nun auf. | 1 Ebda. | 2 Ebda. Im Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten | 3 35. Jahresbericht 1868, S. 2. 191 Diakonissen im Mutterhaus. Die Älteren unter ihnen erleb‑ | 4 45. Jahresbericht 1878, S. 8. ten mit, dass das Krankenhaus wie bereits in den vorangegan‑ | 5 73. Jahresbericht 1906, S. 2. genen Kriegen seinen Betrieb völlig umstellte. Bereits im August | 6 Königlich statistisches Bureau (Hg.): Krankenhaus-Lexikon für das Königreich Preussen, 1914 und damit unmittelbar nach Kriegsbeginn räumte es 50 Berlin 1885, S. 84. Betten für verwundete Soldaten frei. Die Poliklinik wurde ge ‑ schlossen, in ihren Räumen wurde die Kinderstation eingerich‑ tet. In den Zimmern der Kinder‑Abteilung wurden nun Frauen behandelt. Die Plätze für die Soldaten reichten jedoch bereits im ersten Jahr nicht mehr aus. Die Zahl der Verwundeten übertraf alle Befürchtungen. Schon im ersten Kriegsjahr musste das Eli‑ sabeth‑Krankenhaus 635 Soldaten behandeln. | 4 Zu dieser Zeit

76 Diakonissen im Kriegsdienst Gottes 77

ELI_Buch_Vers_1.indb 76 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 77 16.08.12 12:06 konnten die Schwestern noch nicht ahnen, wie lange der Krieg dauern würde und dass sie vier Jahre später sogar 1.274 Solda‑ ten versorgen würden. | 5 Die Aufenthalte dieser Patienten dau‑ erten oft Monate. Daher verwandelte sich das Krankenhaus 1914 in ein Wohnheim für Soldaten mit medizinischer Versorgung und blieb es bis Kriegsende.

Neben den sogenannten Feldgrauen nahmen die Diako‑ nissen auch Kinder auf, deren Väter an der Front kämpften und deren Mütter berufstätig waren oder sich aus anderen Gründen nicht um die Kleinen kümmern konnten. | 6 Da für die Kinder nur 23 Plätze zur Verfügung standen, mussten die Diakonissen häu ‑ fig Neuaufnahmen ablehnen.

Auch den Angehörigen der Soldaten stellten die Diakonis‑ sen eigene Räume zur Verfügung. Sie reisten teils von weit ent ‑ fernten Orten an, um ihre Väter, Söhne und Brüder am Kran‑ kenbett zu besuchen oder sich von ihnen zu verabschieden. Manchmal zogen ganze Großfamilien ein, die so lange auf dem Krankenhausgelände lebten, bis der Verwundete entlassen wur‑ de oder starb. | 7

Wie bei den vorherigen Kriegen mussten einige Diakonis ‑ sen auch diesmal in die Kriegsgebiete reisen, um in den dortigen Lazaretten zu arbeiten. Bereits zehn Tage nach der allgemeinen Mobilmachung vom 1. August 1914 machten sich die ersten auf den Weg. Wieder kamen Johanniterschwestern hinzu. In Pots ‑ dam trafen die Elisabeth‑Diakonissen auf die Schwestern ande ‑ rer Mutterhäuser und des Roten Kreuzes. Alle zusammen, 50 an der Zahl, fuhren daraufhin nach Belgien. Von dort aus wurden

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konnten die Schwestern noch nicht ahnen, wie lange der Krieg dauern würde und dass sie vier Jahre später sogar 1.274 Solda‑ ten versorgen würden. | 5 Die Aufenthalte dieser Patienten dau‑ erten oft Monate. Daher verwandelte sich das Krankenhaus 1914 in ein Wohnheim für Soldaten mit medizinischer Versorgung und blieb es bis Kriegsende.

Neben den sogenannten Feldgrauen nahmen die Diako‑ nissen auch Kinder auf, deren Väter an der Front kämpften und deren Mütter berufstätig waren oder sich aus anderen Gründen nicht um die Kleinen kümmern konnten. | 6 Da für die Kinder nur 23 Plätze zur Verfügung standen, mussten die Diakonissen häu ‑ fig Neuaufnahmen ablehnen.

Auch den Angehörigen der Soldaten stellten die Diakonis‑ Soldaten und Diakonissen, o.D. sen eigene Räume zur Verfügung. Sie reisten teils von weit ent ‑ (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) | fernten Orten an, um ihre Väter, Söhne und Brüder am Kran‑ kenbett zu besuchen oder sich von ihnen zu verabschieden. Manchmal zogen ganze Großfamilien ein, die so lange auf dem sie auf verschiedene Lazarette in Belgien und Frankreich ver ‑ Krankenhausgelände lebten, bis der Verwundete entlassen wur‑ teilt. Die größte Gruppe von Schwestern aus dem Elisabeth‑ Dia‑ de oder starb. | 7 konissenmutterhaus fuhr in das französische Anizy‑le‑château, das etwa 130 Kilometer nordöstlich von Paris liegt. | 8 Eine ande‑ Wie bei den vorherigen Kriegen mussten einige Diakonis ‑ re Gruppe reiste von Berlin aus nach Russland. sen auch diesmal in die Kriegsgebiete reisen, um in den dortigen Lazaretten zu arbeiten. Bereits zehn Tage nach der allgemeinen Die Diakonissen druckten während des Krieges viele Brie‑ Mobilmachung vom 1. August 1914 machten sich die ersten auf fe von Schwestern in ihrer Hauszeitschrift ab, die in Lazaretten den Weg. Wieder kamen Johanniterschwestern hinzu. In Pots ‑ arbeiteten. Bislang hatten nur die Oberinnen aus dem Kranken‑ dam trafen die Elisabeth‑Diakonissen auf die Schwestern ande ‑ hausalltag berichtet, nun taten dies auch andere. Die Inhalte der rer Mutterhäuser und des Roten Kreuzes. Alle zusammen, 50 an Briefe sollten den Lesern, die sich nach wahren Geschichten der Zahl, fuhren daraufhin nach Belgien. Von dort aus wurden von der Front sehnten, authentisch erscheinen. In Wirklichkeit

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ELI_Buch_Vers_1.indb 78 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 79 16.08.12 12:06 folgten die Inhalte Mustern, an die sich alle Diakonissen strikt hielten. Es gehörte zu diesen ungeschriebenen Gesetzen, in pa‑ thetischen Worten die Hingabe zum Kai ser auszudrücken. Nach‑ dem Wilhelm II. im Januar 1915 das Lazarett in Anizy‑le‑Château besucht hatte, schrieb eine der Schwestern:

„34 1/2 Minuten hat dieser unvergessliche Besuch unseres geliebten Kaisers gedauert.“| 9

Aussagen wie diese entsprachen zu Beginn des Krieges der Haltung weiter Teile der Berliner Bevölkerung.

Die Beliebtheit des Kaisers im Sommer 1914 war so hoch wie nie zu vor. Der Krieg weckte Begeisterung. Politische und so‑ ziale Gegensätze wurden fast vergessen, der „Geist von 1914“ schuf eine bislang nicht erlebte Solidarität.| 10 Diese hielt aller‑ dings nur bis etwa 1916 an. Danach schwand die Zustimmung für den Krieg. Soziale Unterschiede brachen wieder auf und führ ‑ ten zu Protesten in den linken politischen Gruppen.

Gerade ab dieser Zeit jedoch stellten die Kuratoren und Diakonissen ihre Verbundenheit zum Kaiser öffentlich dar und schrieben damit eine Tradition fort, die in der Gründung des Hauses ihren Anfang genommen hatte. Selbstverständlich be ‑ lohnten die Mitglieder der Kaiserfamilie diese Haltung auch in diesem Krieg mit Besuchen und materiellen Zuwendungen.

Neben der Treue zum Kaiser handelten die Briefe, die in der Hauszeitschrift abgedruckt wurden, auch von der Tapferkeit

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folgten die Inhalte Mustern, an die sich alle Diakonissen strikt der Verwundeten, die weder Zweifel noch Verzweiflung kannten. hielten. Es gehörte zu diesen ungeschriebenen Gesetzen, in pa‑ Über die Soldaten im Berliner Krankenhaus ‑Lazarett schreibt thetischen Worten die Hingabe zum Kai ser auszudrücken. Nach‑ eine Schwester: dem Wilhelm II. im Januar 1915 das Lazarett in Anizy‑le‑Château besucht hatte, schrieb eine der Schwestern: „Es kommt so manchem vor, als brächte er jetzt erst ein wirkliches Opfer fürs Vaterland. Jetzt lernen sie leiden ohne zu klagen. ‚Mein Bein ist mir „34 1/2 Minuten hat dieser unvergessliche abgeschossen‘, sagt da ein Strahlender. ‚Ich hab‘s gern gegeben für‘s Vaterland.‘ Man hört‘s in großem, ehrfurchtsvollem Staunen. Jetzt bringen 9 Besuch unseres geliebten Kaisers gedauert.“| sie ihre Opfer, in stillem Stolz und heimlicher Freude, Tag um Tag auf‘s neue. ‚Wir hätten uns in Stücke reißen lassen für unser Vaterland!‘ Und Aussagen wie diese entsprachen zu Beginn des Krieges der diese Leute reißen sich täglich wieder zusammen.“ | 11 Haltung weiter Teile der Berliner Bevölkerung. Selbst die jüngsten unter den Verwundeten werden in den Die Beliebtheit des Kaisers im Sommer 1914 war so hoch Briefen als Personen dargestellt, die keinerlei Ängste kennen und wie nie zu vor. Der Krieg weckte Begeisterung. Politische und so‑ ihr Schicksal in die Hände ihres Vaterlands gelegt haben: ziale Gegensätze wurden fast vergessen, der „Geist von 1914“ schuf eine bislang nicht erlebte Solidarität.| 10 Diese hielt aller‑ „Was gibt es für schreckliche Verwundungen! Unser Paulchen, der junge dings nur bis etwa 1916 an. Danach schwand die Zustimmung für Kriegsfreiwillige mit dem Eisernen Kreuz, ist vorgestern gestorben; den Krieg. Soziale Unterschiede brachen wieder auf und führ ‑ ich vermisse ordentlich sein ‚Trinken, Schwesterchen, trinken‘, und wenn ten zu Protesten in den linken politischen Gruppen. er Ruhe hatte und keine Schmerzen, war er so niedlich und lustig. Dann noch ein anderer 18jähriger, auch ein Kriegsfreiwilliger, dem beide Augen Gerade ab dieser Zeit jedoch stellten die Kuratoren und ausgeschossen waren, er lag immer so still und ohne zu klagen auf seiner Diakonissen ihre Verbundenheit zum Kaiser öffentlich dar und Matratze, das war wirklich ein kleiner Held.“ | 12 schrieben damit eine Tradition fort, die in der Gründung des Hauses ihren Anfang genommen hatte. Selbstverständlich be ‑ Auffällig ist auch, dass die Diakonissen den Krieg als Auf‑ lohnten die Mitglieder der Kaiserfamilie diese Haltung auch in trag Gottes betrachteten. Am prägnantesten bringt dies eine diesem Krieg mit Besuchen und materiellen Zuwendungen. Passage aus dem Jahr 1914 zum Ausdruck: „Wer hätte gedacht, dass es schon gleich nach dem 1. August wieder heißen würde: Neben der Treue zum Kaiser handelten die Briefe, die in unser Krankenhaus ein Lazarett! im Kriegszustand! im Kriegs ‑ der Hauszeitschrift abgedruckt wurden, auch von der Tapferkeit dienst Gottes!“| 13

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ELI_Buch_Vers_1.indb 80 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 81 16.08.12 12:06 Von der Silvesternacht 1914 sind folgende Gedanken einer Schwester überliefert:

„Die Silvesterglocken läuten über das so viel stillere Berlin. Das neue Jahr bricht an. Was wird es bringen? Schon bald den heißersehnten Sieg und Frieden? Wir wissen‘s nicht. Nur Eins wissen wir: Gottes guter und gnädiger Wille wird geschehen, an unserem Volk und an jedem Einzelnen, und in dieser Gewissheit gehen wir festen Schrittes und getrosten Mutes hinein ins Dunkel des Jahres 1915.“ | 14

Noch ein weiteres Muster weisen die Briefe auf. Die Dia‑ konissen verwendeten bisweilen Begriffe der militärischen Spra‑ che auch in der Beschreibung ihrer eigenen Tätigkeiten. Sie reisten als „Trupp“ in die Lazarette an der Front, nicht etwa als Gruppe.| 15 Als Ersatz für die „im Feld dienenden Schwe‑ stern“| 16 stellte die Hausleitung Hilfskräfte ein. Eine in Belgien verstorbene Diakonisse wurde „in der Reihe der Männer, die starben ‚fürs heilige Vaterland‘“, | 17 beerdigt.

Soldaten geben ein Konzert im Garten, o.D. | (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik)

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ELI_Buch_Vers_1.indb 82 16.08.12 12:06 1914 — 1918

Von der Silvesternacht 1914 sind folgende Gedanken einer | 1 Stiftung Elisabeth-Diakonissen-und Krankenhaus (Hg.): 150 Jahre (1837-1987) Schwester überliefert: Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus, Berlin 1987, S. 49. | 2 von Rotenhan: Geschichte, S. 70. „Die Silvesterglocken läuten über das so viel stillere Berlin. Das neue Jahr | 3 Stiftung Elisabeth-Diakonissen-und Krankenhaus (Hg.): 150 Jahre (1837-1987) bricht an. Was wird es bringen? Schon bald den heißersehnten Sieg und Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus, Berlin 1987, S. 49. Frieden? Wir wissen‘s nicht. Nur Eins wissen wir: Gottes guter und | 4 81. Jahresbericht 1914, S. 10. gnädiger Wille wird geschehen, an unserem Volk und an jedem Einzelnen, | 5 85. Jahresbericht 1918, S. 5. und in dieser Gewissheit gehen wir festen Schrittes und getrosten | 6 82. Jahresbericht 1915, S. 8. Mutes hinein ins Dunkel des Jahres 1915.“ | 14 | 7 Von der Hospiz-Arbeit, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 2/3 (1915), S. 8. | 8 81. Jahresbericht 1914, S. 4 f. Noch ein weiteres Muster weisen die Briefe auf. Die Dia‑ | 9 Aus den Briefen unserer Kriegsschwestern, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus konissen verwendeten bisweilen Begriffe der militärischen Spra‑ 2/3 (1915), S. 3. che auch in der Beschreibung ihrer eigenen Tätigkeiten. Sie | 10 Michael Erbe: Berlin im Kaiserreich (1871-1918), in: Wolfgang Ribbe (Hg.): reisten als „Trupp“ in die Lazarette an der Front, nicht etwa Geschichte Berlins, Bd. 2: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, Berlin 2002, als Gruppe.| 15 Als Ersatz für die „im Feld dienenden Schwe‑ S. 691-796, hier: S. 791. stern“| 16 stellte die Hausleitung Hilfskräfte ein. Eine in Belgien | 11 Unsere Verwundeten, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 1/3 (1914), S. 1 f. verstorbene Diakonisse wurde „in der Reihe der Männer, die | 12 Aus den Briefen unserer Kriegsschwestern, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus starben ‚fürs heilige Vaterland‘“, | 17 beerdigt. 2/3 (1915), S. 3 f. | 13 Unsere Verwundeten, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 1/3 (1914), S. 1 f. | 14 Kriegsweihnachten 1914, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 4/1 (1915), S. 4.

Soldaten geben ein Konzert im Garten, o.D. | 15 81. Jahresbericht 1914, S. 4 f. | (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) | 16 Mitteilungen aus unserer Arbeit, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 3/1 (1914), S. 5. | 17 Mitteilungen aus unserer Arbeit, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 3/1 (1914), S. 3.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 82 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 83 16.08.12 12:06 1914 KONNTEN DIE SCHWESTERN NOCH NICHT AHNEN, WIE LANGE DER KRIEG DAUERN WÜRDE UND DASS SIE VIER JAHRE SPÄTER SOGAR 1.274 SOLDATEN VERSORGEN WÜRDEN. DIE AUFENTHALTE DIESER PATIENTEN DAUERTEN OFT MONATE. DAHER VERWANDELTE SICH DAS KRANKENHAUS IM ERSTEN WELTKRIEG IN EIN WOHNHEIM FÜR SOLDATEN MIT MEDIZINISCHER VER- SORGUNG UND BLIEB ES BIS KRIEGSENDE.

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1914 KONNTEN DIE SCHWESTERN NOCH NICHT AHNEN, WIE LANGE DER KRIEG DAUERN WÜRDE UND DASS SIE VIER JAHRE SPÄTER SOGAR 1.274 SOLDATEN VERSORGEN WÜRDEN. DIE AUFENTHALTE DIESER PATIENTEN DAUERTEN OFT MONATE. DAHER VERWANDELTE SICH DAS KRANKENHAUS IM ERSTEN WELTKRIEG IN EIN WOHNHEIM FÜR SOLDATEN MIT MEDIZINISCHER VER- SORGUNG UND BLIEB ES BIS KRIEGSENDE.

Männliche Patienten bei der Einkleidung im Krankenhaus, o.D. (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) 84 Diakonissen im Kriegsdienst Gottes 85

ELI_Buch_Vers_1.indb 84 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 85 16.08.12 12:06 Der wichtigste Fürsprecher dankt ab

Umso schwerer trafen die Anstalt die Ereignisse des Jah‑ res 1918. Der 9. November begann mit Demonstrationen der Ar‑ beiter, die sich in großen Umzügen in Richtung Zentrum beweg‑ ten. Die Polizei war von der Bildfläche verschwunden, das Mili‑ tär griff an diesem Tag nicht ein.

Parallel zu den Aufmärschen gab der letzte von Wilhelm II. ernannte Kanzler, Prinz Max von Baden, die Abdankung des Kai‑ sers bekannt. Danach übergab er Friedrich Ebert (SPD) die Ge‑ schäfte. Wenig später rief Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstages die Republik aus. Karl Liebknecht verkündete vom Balkon des Schlosses am Nachmittag des 9. November er‑ neut die Republik, diesmal die „Freie Sozialistische Republik Deutschland“.| 1

Das Krankenhaus hatte mit den Hohenzollernkönigen und ‑kaisern seine wichtigsten Fürsprecher und Gönner verloren. Die Diakonissen mussten sich neu positionieren und nun auch unter den großteils kirchenfernen Anhängern der Republik Gehör und genug Mitglieder finden. Die Kuratoren hegten Zweifel, ob ihnen dies tatsächlich gelingen würde. Im Jahresbericht von 1918 gaben sie ihren Bedenken offen Ausdruck: „Das verflossene Jahr endete unter den Stürmen der Revolution, welche eine Erschütterung aller Verhältnisse zur Folge hatte. Wir wissen nicht, wie sich die Lage unserer Diakonissen‑ und Krankenhäuser gestalten wird.“|2 In den Folgejahren verließen zahlreiche Diakonissen das Mutter‑ haus, sie „hatten sich eben doch vom Geist der Zeit erfassen las ‑ sen“|3, wie es ein späterer Vorstand ausdrückte. Vielleicht aus

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ELI_Buch_Vers_1.indb 86 16.08.12 12:06 1918 — 1919

Der wichtigste Fürsprecher dankt ab

Umso schwerer trafen die Anstalt die Ereignisse des Jah‑ res 1918. Der 9. November begann mit Demonstrationen der Ar‑ beiter, die sich in großen Umzügen in Richtung Zentrum beweg‑ ten. Die Polizei war von der Bildfläche verschwunden, das Mili‑ tär griff an diesem Tag nicht ein.

Parallel zu den Aufmärschen gab der letzte von Wilhelm II. ernannte Kanzler, Prinz Max von Baden, die Abdankung des Kai‑ sers bekannt. Danach übergab er Friedrich Ebert (SPD) die Ge‑ schäfte. Wenig später rief Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstages die Republik aus. Karl Liebknecht verkündete vom Balkon des Schlosses am Nachmittag des 9. November er‑ neut die Republik, diesmal die „Freie Sozialistische Republik 1 Deutschland“.| Wachtkommando in der Kuppelhalle des Reichstagsgebäudes am Standbild Kaiser Wilhelms I., 1918 (Foto: Bundesarchiv Bild 146-1970-058-20) | Das Krankenhaus hatte mit den Hohenzollernkönigen und ‑kaisern seine wichtigsten Fürsprecher und Gönner verloren. Die Diakonissen mussten sich neu positionieren und nun auch unter Vorsicht gegenüber der neuen politischen Stimmung in der Stadt, den großteils kirchenfernen Anhängern der Republik Gehör und vielleicht aus finanziellen Erwägungen heraus stellte das Kurato‑ genug Mitglieder finden. Die Kuratoren hegten Zweifel, ob ihnen rium im Folgejahr den Vertrieb der Jahresberichte ein.| 4 dies tatsächlich gelingen würde. Im Jahresbericht von 1918 gaben sie ihren Bedenken offen Ausdruck: „Das verflossene Jahr endete unter den Stürmen der Revolution, welche eine Erschütterung | 1 Henning Köhler: Berlin in der Weimarer Republik (1918-1932), in: Wolfgang Ribbe (Hg.): aller Verhältnisse zur Folge hatte. Wir wissen nicht, wie sich die Geschichte Berlins, Bd. 2: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, Berlin 2002, Lage unserer Diakonissen‑ und Krankenhäuser gestalten wird.“|2 S. 797-923, hier: S. 798 f. In den Folgejahren verließen zahlreiche Diakonissen das Mutter‑ | 2 85. Jahresbericht 1918, S. 6. haus, sie „hatten sich eben doch vom Geist der Zeit erfassen las ‑ | 3 von Rotenhan: Geschichte, S. 71. sen“|3, wie es ein späterer Vorstand ausdrückte. Vielleicht aus | 4 90. Jahresbericht 1923, S. 1.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 86 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 87 16.08.12 12:06 Geld sammeln

Die Kuratoren vertrauten dem neuen Staat nicht und fürch‑ teten, dass die Regierungen kirchliche Krankenhäuser schlie‑ ßen oder verstaatlichen könnten. | 1 Diese Angst teilten sie nicht nur mit den anderen Diakonissen‑Mutterhäusern Berlins, son‑ dern auch mit vielen privaten und freien gemeinnützigen Ein‑ richtungen. Die Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht.

Die verantwortlichen Politiker ließen die konfessionellen Häuser bestehen. Allerdings blieb die finanzielle Unterstützung des Staates und der Kommunen für die Krankenhäuser nach Kriegsende weit hinter dem zurück, was diese sich erhofften. Die Pflegesätze reichten nicht aus, um die Kosten des Kranken‑ hauses zu decken. Hinzu kam, dass sich im ganzen Land eine beispiellose Geldentwertung in Gang setzte. Der Fehlbetrag des Krankenhauses wuchs von Monat zu Monat und betrug im Jahr 1921 nicht weniger als 386.385,71 Mark. Da von der öffentlichen Hand keine Hilfe zu erwarten war, versuchte das Kuratorium, bei den evangelischen Christen von Berlin und Brandenburg um Spenden zu werben. Der Vorstand hoffte, eine Kollekte in allen Gemeinden der Region durchführen zu dürfen. Hierzu musste er die Zustimmung vom Evangelischen Konsistorium der Mark Brandenburg einholen. Das Kuratorium hatte dies schon häu ‑ figer versucht, die Kirchenbehörde hatte die Bitte aber jedes Mal mit ähnlich lautenden Argumenten abgelehnt. Die Zahl der Kollekten sei schon so groß, dass „die Kirchen‑Gemeinden daran Anstoß zu nehmen beginnen“ | 2, hieß es 1869. Nicht anders klang die Ablehnung 1902. Die Gläubigen seien bereits „so stark in Anspruch genommen, daß zu befürchten ist, daß der Wohl‑

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Geld sammeln

Die Kuratoren vertrauten dem neuen Staat nicht und fürch‑ teten, dass die Regierungen kirchliche Krankenhäuser schlie‑ ßen oder verstaatlichen könnten. | 1 Diese Angst teilten sie nicht nur mit den anderen Diakonissen‑Mutterhäusern Berlins, son‑ dern auch mit vielen privaten und freien gemeinnützigen Ein‑ richtungen. Die Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht.

Die verantwortlichen Politiker ließen die konfessionellen Häuser bestehen. Allerdings blieb die finanzielle Unterstützung des Staates und der Kommunen für die Krankenhäuser nach Kriegsende weit hinter dem zurück, was diese sich erhofften. Die Pflegesätze reichten nicht aus, um die Kosten des Kranken‑ hauses zu decken. Hinzu kam, dass sich im ganzen Land eine beispiellose Geldentwertung in Gang setzte. Der Fehlbetrag des Krankenhauses wuchs von Monat zu Monat und betrug im Jahr 1921 nicht weniger als 386.385,71 Mark. Da von der öffentlichen Hand keine Hilfe zu erwarten war, versuchte das Kuratorium, bei den evangelischen Christen von Berlin und Brandenburg um Spenden zu werben. Der Vorstand hoffte, eine Kollekte in allen Gemeinden der Region durchführen zu dürfen. Hierzu musste er die Zustimmung vom Evangelischen Konsistorium der Mark Brandenburg einholen. Das Kuratorium hatte dies schon häu ‑ figer versucht, die Kirchenbehörde hatte die Bitte aber jedes Mal mit ähnlich lautenden Argumenten abgelehnt. Die Zahl der Kollekten sei schon so groß, dass „die Kirchen‑Gemeinden daran Anstoß zu nehmen beginnen“ | 2, hieß es 1869. Nicht anders klang die Ablehnung 1902. Die Gläubigen seien bereits „so stark in Anspruch genommen, daß zu befürchten ist, daß der Wohl‑ Diakonisse, o.D. (Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik)

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ELI_Buch_Vers_1.indb 88 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 89 16.08.12 12:06 tätigkeitssinn der Bevölkerung durch eine weitere Vermehrung der Sammlungen leiden könnte.“ |3 Wegen der vielen Kollekten für Vereine und Stiftungen, so das Konsistorium 1869, würden „die auf die Einnahmen aus kirchlichen Sam mlungen angewie‑ senen Kirchen die Schmälerung dieser Einnahmen schmerzlich beklagen.“| 4

Umso mehr musste es den Vorstand freuen, dass ein neues Gesuch bewilligt wurde. Das Konsistorium genehmigte eine Kol‑ lekte für Sonntag, den 16. Oktober 1921, in allen evangelischen Gemeinden Berlins und der Mark Brandenburg. Es empfahl, Flugblätter zu drucken und vorher in den Kirchen auslegen zu lassen, um die Spendenbereitschaft der Gottesdienstbesucher am Tag der Kollekte zu erhöhen. Das Kuratorium folgte dieser Empfehlung und schickte mehrere tausend Exemplare der Spen‑ denaufrufe an die Kirchenbehörde, welche diese an die Gemein‑ den weiterleitete. In dem Aufruf erinnerten die Kuratoren ihre evangelischen Mitchristen daran, dass sie selbst sicherlich auch einmal hilfsbedürftig gewesen seien:

„Unsere Not ist groß. Hilfe tut uns dringend not. Unsere Kranken und Kin- der und sonstigen Pflegebefohlenen strecken bittend ihre Hände aus. Mag die Dankbarkeit für selbst erfahrene Gottesgnade – und welcher Christ wüßte von solcher Gnade nichts zu sagen? – viele Herzen willig machen und viele Hände öffnen, damit das gesegnete Werk Gossners weiter im Segen bleibe und wirke an den armen Kranken Berlins und an vielen Gemeinden unserer Mark.“ | 5

Das mittels Kollekte eingenommene Geld verlor allerdings so rasch an Wert, dass es die Schulden des Krankenhauses kaum

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tätigkeitssinn der Bevölkerung durch eine weitere Vermehrung mindern konnte. Erst die Einführung der Rentenmark im Novem‑ der Sammlungen leiden könnte.“ |3 Wegen der vielen Kollekten ber 1923 drückte die Inflation auf ein zu verkraftendes Niveau für Vereine und Stiftungen, so das Konsistorium 1869, würden herab. Das Elisabeth‑Krankenhaus hatte zwar seine Schuldenlast „die auf die Einnahmen aus kirchlichen Sam mlungen angewie‑ nicht verloren, aber die Verantwortlichen konnten wieder Pla‑ senen Kirchen die Schmälerung dieser Einnahmen schmerzlich nungen vornehmen. Im Jahr danach äußerte sich der Vorstand beklagen.“| 4 trotz der anhaltend schwierigen finanziellen Lage erleichtert darüber, dass „infolge der Festigung der deutschen Mark wie‑ Umso mehr musste es den Vorstand freuen, dass ein neues der geordnete Verhältnisse im Wirtschaftsbetrieb“ | 6 einkehrten. Gesuch bewilligt wurde. Das Konsistorium genehmigte eine Kol‑ lekte für Sonntag, den 16. Oktober 1921, in allen evangelischen Große Um‑ und Anbauten konnten aus eigenen Mitteln Gemeinden Berlins und der Mark Brandenburg. Es empfahl, nicht be stritten werden. Immerhin aber ließen die Verantwort‑ Flugblätter zu drucken und vorher in den Kirchen auslegen zu lichen einige Stationen nach dem neuesten Stand der Technik lassen, um die Spendenbereitschaft der Gottesdienstbesucher umrüsten. Das Haupthaus erhielt eine Signal‑Lichtanlage. Diese am Tag der Kollekte zu erhöhen. Das Kuratorium folgte dieser erlaubte es den Patienten, die Schwestern in ihre Zimmer zu ru‑ Empfehlung und schickte mehrere tausend Exemplare der Spen‑ fen, ohne dass Klingelgeräusche die Ruhe störten. Auch eine in‑ denaufrufe an die Kirchenbehörde, welche diese an die Gemein‑ terne Telefonanlage wurde installiert, welche die Abteilungen den weiterleitete. In dem Aufruf erinnerten die Kuratoren ihre aller Gebäude miteinander verband. Darüber hinaus gab das evangelischen Mitchristen daran, dass sie selbst sicherlich auch Kuratorium den Einbau eines elektrischen Fahrstuhls für Kran‑ einmal hilfsbedürftig gewesen seien: kentransporte und eines Speiseaufzugs in Auftrag.

„Unsere Not ist groß. Hilfe tut uns dringend not. Unsere Kranken und Kin- Trotz der Schuldenlast musste der Vorstand ein Baupro‑ der und sonstigen Pflegebefohlenen strecken bittend ihre Hände aus. jekt in An griff nehmen, das er nicht länger verschieben konnte: Mag die Dankbarkeit für selbst erfahrene Gottesgnade – und welcher Es musste drin gend neuer Wohnraum für die Diakonissen ge ‑ Christ wüßte von solcher Gnade nichts zu sagen? – viele Herzen willig schaffen werden, die ihr Arbeitsleben beendet hatten. Da der Ru‑ machen und viele Hände öffnen, damit das gesegnete Werk Gossners hestand zu dieser Zeit als Feierabend bezeichnet wurde, hieß weiter im Segen bleibe und wirke an den armen Kranken Berlins und an das geplante Gebäude Feierabendhaus. Es wurde 1928 eröffnet. vielen Gemeinden unserer Mark.“ | 5 Für diesen Neubau musste das Kuratorium ein Darlehen Das mittels Kollekte eingenommene Geld verlor allerdings in Höhe von 300.000 Mark bei der Reichsversicherungsanstalt so rasch an Wert, dass es die Schulden des Krankenhauses kaum für Angestellte auf nehmen.| 7 Kurz darauf beantragte der Vor‑

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ELI_Buch_Vers_1.indb 90 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 91 16.08.12 12:06 stand für den Kauf eines Grundstücks im Blumeshof erneut 100.000 Mark bei dieser Anstalt. | 8 Auch dieser Antrag wurde bewilligt. Nie zuvor in seiner Geschichte hatte der Vorstand einen solch hohen Betrag aufnehmen müssen. In der An fangszeit des Krankenhauses konnte das Kuratorium Bauprojekte finan‑ zieren, weil es ausreichend Spendengelder sowie Schenkungen erhielt und Erbschaften zugesprochen bekam. Inzwischen hatte sich die Finanzierung von Behandlungen grundlegend geändert. Viele Angestellte waren inzwischen krankenversichert, und die entstandenen Kosten wurden von der Versicherung erstattet. Die bezahlten Beträge fielen jedoch zu gering aus, um Gewinne erwirtschaften und davon Bauprojekte finanzieren zu können. Neben den Krankenversicherten gab es zwei Gruppen von Men‑ schen, die über keinen Versicherungsschutz verfügten. Dies waren zum einen die Selbstzahler, die wohlhabend genug wa‑ ren, um die Behandlungen aus eigener Tasche zu bezahlen, zum anderen die sogenannten Wohlfahrtspatienten, die keiner ver‑ sicherungspflichtigen Beschäftigung nachgingen und dement‑ sprechend keine Kran kenversicherung besaßen. Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde die erste Gruppe kleiner, die andere hingegen größer. 1931 beklagte das Kuratorium:

„Die Zahl derer, die noch auf eigene Kosten sich in ein Krankenhaus bege- ben können wird immer geringer. Derer, die aufgrund unserer Sozialversi- cherungen Mitglieder einer Krankenkasse sind, werden infolge der immer zunehmenden Arbeitslosigkeit immer weniger.“ | 9

Der Vorstand konnte kaum etwas dagegen unternehmen, dass sich weniger Selbstzahler im Elisabeth‑ Krankenhaus be‑ handeln ließen. Er konnte sich jedoch immerhin dafür einsetzen,

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stand für den Kauf eines Grundstücks im Blumeshof erneut dass der Staat die Versorgung von Wohlfahrtspatienten im Eli‑ 100.000 Mark bei dieser Anstalt. | 8 Auch dieser Antrag wurde sabeth‑Krankenhaus finanzierte. Kranke ohne Versicherungs‑ bewilligt. Nie zuvor in seiner Geschichte hatte der Vorstand einen schutz durften laut Gesetz zu dieser Zeit ausschließlich in städti‑ solch hohen Betrag aufnehmen müssen. In der An fangszeit sche Häuser aufgenommen werden. Nur jüdischen oder katho‑ des Krankenhauses konnte das Kuratorium Bauprojekte finan‑ lischen Wohlfahrtspatienten war es erlaubt, sich in ein jüdisches zieren, weil es ausreichend Spendengelder sowie Schenkungen oder katholisches Krankenhaus einliefern zu lassen. Protestanten erhielt und Erbschaften zugesprochen bekam. Inzwischen hatte war die Wahl verwehrt. Auf Druck der evangelischen Kirche wur‑ sich die Finanzierung von Behandlungen grundlegend geändert. de diese Ungleichheit 1931 aufgehoben. Zu den Organisationen, Viele Angestellte waren inzwischen krankenversichert, und die die sich für die Gesetzesänderung eingesetzt hatten, gehörte entstandenen Kosten wurden von der Versicherung erstattet. auch der Verein zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser. Die bezahlten Beträge fielen jedoch zu gering aus, um Gewinne Diesen hatten kurz zuvor einige teils hochrangige Vertreter der erwirtschaften und davon Bauprojekte finanzieren zu können. evangelischen Kirche in Berlin mit dem Ziel gegründet, mehr Neben den Krankenversicherten gab es zwei Gruppen von Men‑ evangelische Krankenhäuser in der Stadt zu erbauen. Die Kurato‑ schen, die über keinen Versicherungsschutz verfügten. Dies ren des Elisabeth‑Krankenhauses kon n ten damals noch nicht waren zum einen die Selbstzahler, die wohlhabend genug wa‑ ahnen, dass ihr Krankenhaus viele Jahre später Teil dieses Ver ‑ ren, um die Behandlungen aus eigener Tasche zu bezahlen, zum eins sein würde. anderen die sogenannten Wohlfahrtspatienten, die keiner ver‑ sicherungspflichtigen Beschäftigung nachgingen und dement‑ sprechend keine Kran kenversicherung besaßen. Nach Ende des | 1 86. Jahresbericht 1919, S. 1. Ersten Weltkriegs wurde die erste Gruppe kleiner, die andere | 2 Konsistorium der Provinz Brandenburg an Kuratorium des hingegen größer. 1931 beklagte das Kuratorium: Elisabethkrankenhauses am 15.04.1869, ArchELI Nr. 38. | 3 Der königliche Regierungs-Präsident an Kuratorium des „Die Zahl derer, die noch auf eigene Kosten sich in ein Krankenhaus bege- Elisabethkrankenhauses am 03.07.1902, ArchELI Nr. 38. ben können wird immer geringer. Derer, die aufgrund unserer Sozialversi- | 4 Konsistorium der Provinz Brandenburg an Kuratorium des cherungen Mitglieder einer Krankenkasse sind, werden infolge der immer Elisabethkrankenhauses am 15.04.1869, ArchELI Nr. 38. zunehmenden Arbeitslosigkeit immer weniger.“ | 9 | 5 Flugblatt vom 28.06.1921, ArchELI Nr. 38. | 6 91. (87.) Jahresbericht 1924, S. 1. Der Vorstand konnte kaum etwas dagegen unternehmen, | 7 Antrag auf Hypothekendarlehen bei der Reichsversicherungsanstalt dass sich weniger Selbstzahler im Elisabeth‑ Krankenhaus be‑ für Angestellte 1926-1927. ADW CA/WI 36. handeln ließen. Er konnte sich jedoch immerhin dafür einsetzen, | 8 Ebda. | 9 94. Jahresbericht 1931, S. 5.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 92 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 93 16.08.12 12:06 Die Gründung des Vereins zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser und der Streit um die Krankenhausseelsorge

1929 gründeten hochrangige Vertreter der evangelischen Kirche in Berlin den Verein zur Errichtung evangelischer Kran- kenhäuser e.V. (VzE). Der Präses der Provinzialsynode gehörte dem Vorstand ebenso an wie drei Generalsuperintendenten. Einer von ihnen war Otto Dibelius, der spätere Bischof von Berlin-Brandenburg und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Gründung des Vereins zielte, wie sein Name schon sagt, darauf ab, evangelische Krankenhäuser in Berlin und später auch andernorts zu bauen und zu unter - halten. Dieser Wunsch entstand in den Leitungsgremien der evangelischen Kirche aus mehreren Gründen. Zum einen be - richtete die Berliner Presse in den Jahren 1927 und 1928 von der Überfüllung der städtischen Krankenhäuser. In der Zei- tung „Vorwärts“ etwa stand im Oktober 1928 ein Artikel mit dem Titel „Über die Krankenhausnot“, der von geplanten Be - helfsbaracken am Schöneberger Krankenhaus zur Linderung des Bettenmangels handelt. |1 Tatsächlich wirkte sich der Bet- tenmangel in diesen Jahren zum Teil katastrophal aus. Allein im Gründungsmonat des VzE, Februar 1929, mussten die Ber - liner Krankenhäuser 872 Patienten wegen Überfüllung abwei- sen.|2 Die evangelische Kirche beriet daraufhin, ob sie weitere Häuser bauen sollte, um der Unterversorgung Herr zu werden. Während die katholische Kirche 1927 bereits den Grundstein für ihr 14. Berliner Krankenhaus legte, bestanden bis Mitte Juni desselben Jahres nur acht evangelische Krankenhäuser. Dies empfanden die Verantwortlichen der evangelischen Kirche

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ELI_Buch_Vers_1.indb 94 16.08.12 12:06 Die Gründung des Vereins zur Errichtung in einem evangelisch geprägten Landstrich als unhaltbar. | 3 evangelischer Krankenhäuser und der Streit um Hinzu kam von 1928 an eine heftige politische Auseinander - die Krankenhausseelsorge setzung um die Krankenhausseelsorge, die im Bezirk Neukölln ihren Anfang nahm. Der Neuköllner Gesundheitsdezernent 1929 gründeten hochrangige Vertreter der evangelischen Richard Schmincke, Mitglied der Kommunistischen Partei Kirche in Berlin den Verein zur Errichtung evangelischer Kran- Deutschlands, hatte sich dafür eingesetzt, die Rechte der Seel - kenhäuser e.V. (VzE). Der Präses der Provinzialsynode gehörte sorger an städtischen Kliniken zu beschränken. |4 Grundlage dem Vorstand ebenso an wie drei Generalsuperintendenten. für das Vorhaben waren antikirchliche Strömungen in der Einer von ihnen war Otto Dibelius, der spätere Bischof von kommunistischen Partei und in Teilen der Sozialdemokratie. Berlin-Brandenburg und Ratsvorsitzende der Evangelischen Die Seelsorger sollten das Recht der Einsicht in die Aufnahme - Kirche in Deutschland. Die Gründung des Vereins zielte, wie bücher verlieren, die Klinikleitung um Erlaubnis für ihre Besu - sein Name schon sagt, darauf ab, evangelische Krankenhäuser che bitten und ohnehin nur noch dann die Kranken betreten, in Berlin und später auch andernorts zu bauen und zu unter - wenn die Patienten bei der Aufnahme der Betreuung eines Seel- halten. Dieser Wunsch entstand in den Leitungsgremien der sorgers zugestimmt hatten. Auch die von einem Seelsorger für evangelischen Kirche aus mehreren Gründen. Zum einen be - alle Patienten gesprochenen Tischgebete und Gottesdienste so- richtete die Berliner Presse in den Jahren 1927 und 1928 von wie religiöse Feiern für alle Patienten sollten verboten werden. der Überfüllung der städtischen Krankenhäuser. In der Zei- Schmincke trug seine Vorschläge in Form eines Antrags seiner tung „Vorwärts“ etwa stand im Oktober 1928 ein Artikel mit Partei in den Magistrat von Groß-Berlin. In der Debatte im Ab - dem Titel „Über die Krankenhausnot“, der von geplanten Be - geordnetenhaus machten sich beide Seiten schwere Vorwürfe. helfsbaracken am Schöneberger Krankenhaus zur Linderung Zwei Abgeordnete des Zentrums und der deutschnationalen des Bettenmangels handelt. |1 Tatsächlich wirkte sich der Bet- Volkspartei warfen Schmincke vor, dass er „den Patienten tenmangel in diesen Jahren zum Teil katastrophal aus. Allein geistlichen Zuspruch verweigern“ |5 würde. Oberbürgermeister im Gründungsmonat des VzE, Februar 1929, mussten die Ber - Gustav Böß unterstellte den Abgeordneten daraufhin plumpe liner Krankenhäuser 872 Patienten wegen Überfüllung abwei- Wahltaktik und entgegnete, „die Zentrumsfraktion sei wohl sen.|2 Die evangelische Kirche beriet daraufhin, ob sie weitere schlecht informiert, denn „anders sei ihre Erregung, die doch Häuser bauen sollte, um der Unterversorgung Herr zu werden. wohl nicht mit der bevorstehenden Wahl zusammenhänge, kaum Während die katholische Kirche 1927 bereits den Grundstein zu verstehen.“|6 Bei der Abstimmung am 26. April 1928 votier - für ihr 14. Berliner Krankenhaus legte, bestanden bis Mitte Juni ten 105 Abgeordnete für den Antrag, 89 dagegen. |7 Die Seel- desselben Jahres nur acht evangelische Krankenhäuser. Dies sorger erhielten nun keine Einsicht in Patientendaten mehr und empfanden die Verantwortlichen der evangelischen Kirche mussten ihre Besuche anmelden. Tischgebete, Gottesdienste

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ELI_Buch_Vers_1.indb 94 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 95 16.08.12 12:06 und Weihnachtsfeiern waren ab sofort freiwillig und muss - ten zum Teil an gesonderten Orten abgehalten werden. |8 Nach wie vor konnten Patienten jedoch Andachten und Gottes - dienste besuchen, Gespräche mit Pastoren am Krankenbett führen und die letzte Ölung erhalten: „Die Seelsorge soll aber auf Wunsch jedem Patienten gewährt werden“ |9, beschloss die Magistratsmehrheit. Diese Regelungen flossen 1928 in die neue Krankenhausordnung für Groß-Berlin ein und galten somit für alle kommunalen Häuser. Die Reaktionen aus der evangelischen Kirche legen Zeugnis ab von der Radikalisierung politischer Positionen in der Weimarer Republik. Das Zentralorgan der In- neren Mission beklagte den „Neuköllner Terror“ |10, die Preußi- sche Zeitung den „Triumph der roten Kirchenfeinde“ |11. Nicht weniger kämpferisch gab sich ein Journalist der Zeitung „Evan- gelisches Berlin“: „Verhinderung der Krankenhausseelsorge überhaupt, das ist die allzudeutliche Tendenz jenes Antrags, und alle Beteuerungen der Linken können nicht darüber hin- wegtäuschen, dass hier mit allen Mitteln einer intoleranten Machtpolitik der Versuch gemacht wird, einen neuen Kultur - kampf heraufzubeschwören.“|12 Am Palmsonntag 1928 demon- strierten Tausende von Katholiken gegen die Neuregelung. |13 Der Protest war auch deshalb so stark, weil Schmincke vor - her eine Weihnachtsfeier sowie einer Gruppe von Patienten das gemeinsame Tischgebet untersagt hatte. |14 Die Vorwürfe der christlichen Kirchen konzentrierten sich dabei auf Ri - chard Schmincke, obwohl auch der Berliner Oberbürger - meister, eine Reihe Senatoren und nicht zuletzt die Mehr - heit der Abgeordneten für die Neuregelung gestimmt hatten. Eine Rückschau auf die Vereinsgründung aus dem Jahr 1935 spricht von der „marxistischen Krankenhauspolitik in Berlin,

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ELI_Buch_Vers_1.indb 96 16.08.12 12:06 und Weihnachtsfeiern waren ab sofort freiwillig und muss - wie sie in jenen unglückseligen Zeiten durch den Namen ten zum Teil an gesonderten Orten abgehalten werden. |8 Nach des berüchtigten kommunistischen Stadtrats Schminke[sic] wie vor konnten Patienten jedoch Andachten und Gottes - repräsentiert wurde.“|15 Auch intern zeigten sich die Verant- dienste besuchen, Gespräche mit Pastoren am Krankenbett wortlichen des VzE empört. In einem Brief schreibt Wilhelm führen und die letzte Ölung erhalten: „Die Seelsorge soll aber Siegert, der Geschäftsführer des Vereins, 1932 rückblickend: auf Wunsch jedem Patienten gewährt werden“ |9, beschloss die „Mir insbesondere ist in dieser Zeit, in der es Deutschland so Magistratsmehrheit. Diese Regelungen flossen 1928 in die neue schlecht wie noch nie geht, die Aufgabe zuteil geworden, nicht Krankenhausordnung für Groß-Berlin ein und galten somit für nur das Martin-Luther-Krankenhaus, sondern Krankenhäuser alle kommunalen Häuser. Die Reaktionen aus der evangelischen zu errichten, um das Vordringen der katholischen Kirche und Kirche legen Zeugnis ab von der Radikalisierung politischer den Angriffen aus den Reihen der Freidenker entgegen zu tre - Positionen in der Weimarer Republik. Das Zentralorgan der In- ten.“|16 Hans Harmsen, einer der Gründungsväter des Vereins, neren Mission beklagte den „Neuköllner Terror“ |10, die Preußi- übernahm ebenfalls in einem internen Schreiben die Sprach- sche Zeitung den „Triumph der roten Kirchenfeinde“ |11. Nicht regelung der evangelischen Presse und bezeichnete die neue weniger kämpferisch gab sich ein Journalist der Zeitung „Evan- Krankenhausordnung als „Terror, der von sozialer Seite gegen gelisches Berlin“: „Verhinderung der Krankenhausseelsorge die Ausübung der Seelsorge“ |17 verbreitet werde. überhaupt, das ist die allzudeutliche Tendenz jenes Antrags, und alle Beteuerungen der Linken können nicht darüber hin- Die Fronten zwischen den Befürwortern uneinge - wegtäuschen, dass hier mit allen Mitteln einer intoleranten schränkter Rechte der Seelsorger und den Gegnern kirchlicher Machtpolitik der Versuch gemacht wird, einen neuen Kultur - Riten und Rituale in kommunalen Häusern waren verhärtet. kampf heraufzubeschwören.“|12 Am Palmsonntag 1928 demon- Beide Seiten stellten die jeweils andere als zivilisatorische strierten Tausende von Katholiken gegen die Neuregelung. |13 Bedrohung dar. Die Kirchen reagierten auf den Beschluss, indem Der Protest war auch deshalb so stark, weil Schmincke vor - sie im preußischen Staatsministerium intervenierten. Sie grün- her eine Weihnachtsfeier sowie einer Gruppe von Patienten deten ihren Protest auf zwei Artikeln der Weimarer Reichsver - das gemeinsame Tischgebet untersagt hatte. |14 Die Vorwürfe fassung. Artikel 118 garantierte das Recht auf freie Meinungs - der christlichen Kirchen konzentrierten sich dabei auf Ri - äußerung und verbot die Zensur, während Artikel 135 das Recht chard Schmincke, obwohl auch der Berliner Oberbürger - auf „ungestörte Religionsausübung“ |18 festsetzte. Das preußi- meister, eine Reihe Senatoren und nicht zuletzt die Mehr - sche Staatsministerium hob schließlich am 16. September 1930 heit der Abgeordneten für die Neuregelung gestimmt hatten. den Magistratsbeschluss auf. |19 Die Seelsorger erhielten alle Eine Rückschau auf die Vereinsgründung aus dem Jahr 1935 ihre Privilegien zurück, auf die sie gut zwei Jahre hatten ver- spricht von der „marxistischen Krankenhauspolitik in Berlin, zichten müssen.|20

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ELI_Buch_Vers_1.indb 96 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 97 16.08.12 12:06 | 1 Vorwärts vom 14.10.1928. | 2 Berliner Wohlfahrtsblatt vom 27.04.1928. | 3 Anonym: Der „Verein zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser“ und seine Aufgaben, in: Hans Harmsen (Hg.): Aufgaben und Bedeutung des „Vereins zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser“. Sonderausgabe der Gesundheitsfürsorge, Berlin 1931, S. 3-8, hier: S. 3. | 4 Zu Schmincke s. Elfriede Fölster, Horst Jentzsch: Richard Schmincke, in: Bernhard Meyer, Hans-Jürgen Mende (Hg.): Berliner jüdische Ärzte in der Weimarer Republik, Berlin 1996, S. 179-211, hier: S. 199 ff. Darin wird auch die Ausgrenzung Schminckes im Nationalsozialismus beschrieben. Schmincke verlor als Jude bald nach 1933 seine politischen Ämter und seine Zulassung als Arzt, wurde nach der Reichskristallnacht vorübergehend inhaftiert und beging 1939 Suizid. | 5 Ebda. | 6 Ebda. | 7 Die Innere Mission im evangelischen Deutschland 23/6, Juni 1928. In dem Artikel ist wohl fälschlicherweise vom 27. April als Tag der Abstimmung im Magistrat die Rede. Die Vossische Zeitung vom 27. April 1928 spricht in ihrer Ausgabe vom 27. April jedoch von der „gestrigen Sitzung“. Leider ist das Protokoll der Magistratssitzung im Landesarchiv nicht erhalten, s. LAB, A Rep 001-001 Nr. 3208 (Magistratssitzungen April 1928). | 8 In einem Schreiben des Evangelischen Konsistoriums beklagt sich der Autor, dass Geist- liche nicht mehr in die Aufnahmebücher sehen und dort die Konfession der Patienten nachsehen und nicht mehr zu allen Zeiten die Klink betreten dürften, sondern nur noch zu vorher mit der Krankenhausleitung abgestimmten Zeiten. Außerdem müssten die Patienten nun bei der Aufnahme gefragt werden, ob sie seelsorgerisch betreut werden wollten oder nicht. Da dies nach Ansicht des Autors dem Art. 141 der Reichsverfassung widersprach, erwog er, gerichtlich gegen dagegen vorzugehen, Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg an den Oberkirchenrat Berlin am 28.03.1930, EZAB, 7/4165.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 98 16.08.12 12:06 | 1 Vorwärts vom 14.10.1928. | 9 Vossische Zeitung vom 27.04.1928. | 2 Berliner Wohlfahrtsblatt vom 27.04.1928. | 10 Die Innere Mission im evangelischen Deutschland 23/6, Juni 1928. | 3 Anonym: Der „Verein zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser“ und seine Aufgaben, | 11 Preußische Zeitung vom 16.02.1929. in: Hans Harmsen (Hg.): Aufgaben und Bedeutung des „Vereins zur Errichtung | 12 Das evangelische Berlin vom 06.05.1928. evangelischer Krankenhäuser“. Sonderausgabe der Gesundheitsfürsorge, Berlin 1931, | 13 Die Innere Mission im evangelischen Deutschland 23/6, Juni 1928. S. 3-8, hier: S. 3. | 14 Vossische Zeitung vom 27.04.1928, s. auch Die Innere Mission im evangelischen | 4 Zu Schmincke s. Elfriede Fölster, Horst Jentzsch: Richard Schmincke, Deutschland 23/6, Juni 1928. in: Bernhard Meyer, Hans-Jürgen Mende (Hg.): Berliner jüdische Ärzte in der Weimarer | 15 Das evangelische Berlin vom 20.01.1935. Republik, Berlin 1996, S. 179-211, hier: S. 199 ff. Darin wird auch die Ausgrenzung | 16 Wilhelm Siegert an Paul Pilgram am 28.05.1932, Archiv der Paul Gerhardt Diakonie Schminckes im Nationalsozialismus beschrieben. Schmincke verlor als Jude bald nach (ArchPGD), Protokolle Verein, Alte Akten MLK. 1933 seine politischen Ämter und seine Zulassung als Arzt, wurde nach der | 17 Hans Harmsen an den Vorstand des Evangelischen Diakonievereins am 04.05.1928, in: Reichskristallnacht vorübergehend inhaftiert und beging 1939 Suizid. Liselotte Katscher: Krankenpflege und ‚Drittes Reich‘. Der Weg der Schwesternschaft des | 5 Ebda. Evangelischen Diakonievereins 1933-1939, Stuttgart 1990, S. 26. | 6 Ebda. | 18 Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.08.1919, Art. 135. | 7 Die Innere Mission im evangelischen Deutschland 23/6, Juni 1928. In dem Artikel ist | 19 Unter Top 10 heißt es schlicht „Kirchenpolitik. Religiöse Betreuung von Kranken in wohl fälschlicherweise vom 27. April als Tag der Abstimmung im Magistrat die Rede. Die öffentlichen Krankenanstalten. Zustimmung zum Erlassentwurf“, s. Nr. 241: Sitzung des Vossische Zeitung vom 27. April 1928 spricht in ihrer Ausgabe vom 27. April jedoch von Staatsministeriums am 16. September 1930, in: Acta Borussica, Neue Folge, 1. Reihe, der „gestrigen Sitzung“. Leider ist das Protokoll der Magistratssitzung im Landesarchiv Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38, hgg. von der Berlin- nicht erhalten, s. LAB, A Rep 001-001 Nr. 3208 (Magistratssitzungen April 1928). Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Jürgen Kocka | 8 In einem Schreiben des Evangelischen Konsistoriums beklagt sich der Autor, dass Geist- und Wolfgang Neugebauer, Bd. 12/I: 04. April 1925 bis 10. Mai 1938, bearb. v. Reinhold liche nicht mehr in die Aufnahmebücher sehen und dort die Konfession der Patienten Zilch, Hildesheim/Zürich/New York 2004, S. 262. nachsehen und nicht mehr zu allen Zeiten die Klink betreten dürften, sondern nur noch | 20 Hans-Walter Schmuhl: Evangelische Krankenhäuser und die Herausforderung der zu vorher mit der Krankenhausleitung abgestimmten Zeiten. Außerdem müssten die Moderne, hg. v. Wolfgang Helbig , Leipzig 2002, S. 52 f. Patienten nun bei der Aufnahme gefragt werden, ob sie seelsorgerisch betreut werden wollten oder nicht. Da dies nach Ansicht des Autors dem Art. 141 der Reichsverfassung widersprach, erwog er, gerichtlich gegen dagegen vorzugehen, Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg an den Oberkirchenrat Berlin am 28.03.1930, EZAB, 7/4165.

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Nun konnte auch das Elisabeth-Krankenhaus arme Pa- tienten ohne Versicherungsschutz aufnehmen und bekam die Leistungen von der öffentlichen Hand erstattet. Bedenkt man, dass der Anteil evangelischer Christen in Berlin mehr als 90 Prozent betrug, bedeutete dies, dass sich faktisch kein Wohl - fahrtspatient mehr gegen seinen Willen in einer städtischen Klinik behandeln lassen musste.

Ab 1932 durfte man auf eine neue Gruppe von Patienten hoffen. In diesem Jahr eröffnete der Vorstand die Abteilung für Geburtshilfe. Zwei Diakonissen ließen sich an der Universitäts- Frauenklinik in Göttingen zu Hebammen ausbilden. Ein versier - ter Arzt erklärte sich dazu bereit, die Station mit 15 Betten zu lei- ten. Die Auslastung auf dieser Station stellte den Vorstand rasch zufrieden. Das erste Kind kam in dieser Abteilung am 17. Oktober 1932 und damit zwei Tage nach Inbetriebnahme zur Welt. Von der Eröffnung bis Ende 1934 wurden dort 758 Kinder geboren. | 1

Dennoch sank die Auslastung des Krankenhauses Anfang der 1930er Jahre so schnell, dass sich die Kuratoren ernsthafte Sorgen machten: „Gewiss, wir hatten immer noch das tägliche Brot, und noch darüber hinaus. Und doch kann es einen recht bedenklich stimmen, dass (...) die Zahl der bei uns verpflegten Kranken gegenüber dem Vorjahr um 439, und die Zahl der Ver - pflegungstage um 4.866 zurückgegangen ist. Das bedeutet ge - genüber dem Etat einen Einnahmeausfall von nahezu 40.000 Mark an Verpflegungsgeldern.“| 2

| 1 95.-97. Jahresbericht über das Elisabeth-Diakonissen- und 1932-1934, S. 4. | 2 93. Jahresbericht 1930, S. 7.

In der Abteilung für Geburtshilfe, o.D. 100 | (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) Geld sammeln 101

ELI_Buch_Vers_1.indb 100 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 101 16.08.12 12:06 Kooperation und Opposition

Die Kuratoren begründeten die mangelhafte Belegung mit der Wirtschaftskrise und der Abwanderung vieler Menschen aus der Stadt in die Vororte, aber auch mit einer gewachsenen Konkurrenz in der Stadt: „Einen der Gründe für diese Unterbe‑ legung sehen wir in der Tatsache, dass in den allerletzten Jah‑ ren in nicht weiter Entfernung von uns mehrere neue Kranken‑ häuser und Kliniken entstanden sind. Abgesehen davon ist dies aber eine Erscheinung, unter der mehr oder weniger alle charitativen Krankenhäuser von heute zu leiden haben.“ | 1 Die Verantwortlichen im Elisabeth‑Krankenhaus dachten dabei aber weniger an andere evangelische Krankenhäuser wie das Mar ‑ tin‑Luther‑Krankenhaus, das im Jahr 1931 eröffnet wurde: „Das Elisabeth‑Diakonissen‑ und Krankenhaus liegt fast als einziges Berliner Krankenhaus im Zentrum der Stadt. Es ist umgeben von modernen, grossenteils in jüdischen Händen befindlichen Privatkliniken.“| 2

Die Akten zum Elisabeth‑Krankenhaus verdeutlichen, wie schnell sich der Vorstand nach der Machtergreifung 1933 nati‑ onalsozialistische Propaganda zu eigen machte, um Unterstüt‑ zung für das verschuldete und unterbelegte Krankenhaus zu erlangen. Die Kuratoren verfolgten den Plan, das Krankenhaus völlig umzugestalten und zu modernisieren, um im Wettbewerb bestehen zu können. Dafür benötigten sie weitere Darlehen und die Zustimmung des Reichsarbeitsministeriums. In einem Schrei‑ ben an das Ministerium aus dem Jahr 1933 beklagt der Vorsteher der Schwesternschaft, Werner von Rotenhan, die Feindseligkeit der städtischen Behörden gegenüber dem eigenen Haus: „Es

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Kooperation und Opposition wurde dem Haus übel ver ‑ merkt, dass Angehörige der S.A. Die Kuratoren begründeten die mangelhafte Belegung mit und des Stahlhelm selbstver‑ der Wirtschaftskrise und der Abwanderung vieler Menschen ständlich stets mit Liebe be ‑ aus der Stadt in die Vororte, aber auch mit einer gewachsenen traut wurden.“| 3 Damit spielte Konkurrenz in der Stadt: „Einen der Gründe für diese Unterbe‑ er auf den starken Anteil von legung sehen wir in der Tatsache, dass in den allerletzten Jah‑ Sozialdemokraten in der Se ‑ ren in nicht weiter Entfernung von uns mehrere neue Kranken‑ natsverwaltung bis 1933 an. häuser und Kliniken entstanden sind. Abgesehen davon ist dies aber eine Erscheinung, unter der mehr oder weniger alle Der „Stahlhelm“ stellte charitativen Krankenhäuser von heute zu leiden haben.“ | 1 Die eine paramilitärische Vereini‑ Verantwortlichen im Elisabeth‑Krankenhaus dachten dabei aber gung dar, die über den Status weniger an andere evangelische Krankenhäuser wie das Mar ‑ einer Partei verfügte. Seine tin‑Luther‑Krankenhaus, das im Jahr 1931 eröffnet wurde: „Das Mitglieder waren wie die der Elisabeth‑Diakonissen‑ und Krankenhaus liegt fast als einziges S.A. oft an Gewaltakten gegen Berliner Krankenhaus im Zentrum der Stadt. Es ist umgeben Kommunisten und Sozialde‑ von modernen, grossenteils in jüdischen Händen befindlichen mokraten beteiligt. Die verfein‑ 2 Privatkliniken.“| Emma von Bunsen und Werner von deten Lager trugen ihre Kämp‑ Rotenhan, o.D. (Foto: Archiv der | fe bisweilen auf offener Straße Die Akten zum Elisabeth‑Krankenhaus verdeutlichen, wie Evangelischen Elisabeth Klinik) aus. In einer Sonntagnacht im schnell sich der Vorstand nach der Machtergreifung 1933 nati‑ Mai 1930 zum Beispiel versam‑ onalsozialistische Propaganda zu eigen machte, um Unterstüt‑ melten sich 25 Nationalsozialisten in einem Lokal in der Lützow‑ zung für das verschuldete und unterbelegte Krankenhaus zu straße. Mehrere Kommunisten, die davon erfuhren, postierten erlangen. Die Kuratoren verfolgten den Plan, das Krankenhaus sich davor und warteten darauf, dass die Nationalsozialisten völlig umzugestalten und zu modernisieren, um im Wettbewerb die Gaststätte verließen. Als diese die Tür öffneten und sahen, bestehen zu können. Dafür benötigten sie weitere Darlehen und dass die Kommunisten in der Minderheit waren, stürmten sie die Zustimmung des Reichsarbeitsministeriums. In einem Schrei‑ hinter ihnen her. Dann fielen Schüsse. Kommunisten hatten ben an das Ministerium aus dem Jahr 1933 beklagt der Vorsteher sich in Hausfluren aufgestellt und feuerten auf ihre Gegner. Die der Schwesternschaft, Werner von Rotenhan, die Feindseligkeit Kugeln trafen jedoch nicht diese, sondern Passanten. Eine junge der städtischen Behörden gegenüber dem eigenen Haus: „Es Frau und ein Mann erlitten Beinschüsse und mussten im Elisa‑

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ELI_Buch_Vers_1.indb 102 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 103 16.08.12 12:06 beth‑Krankenhaus behandelt werden. | 4 Im Juni 1931 zog eine Gruppe von Nationalsozialisten vom selben Lokal aus zum Mag‑ deburger Platz und überfiel einige Anhänger des „Reichsbanners“, eine mehrheitlich sozialdemokratische Vereinigung. Zwei von ihnen mussten anschließend ins Haus eingeliefert werden. | 5

In der Lützowstraße wurden also auch Verletzte linker Gruppierungen versorgt. Der Kuratoriumsvorsitzende hob in dem Schreiben jedoch die Behandlung der Nationalsozialisten besonders hervor. Auch wenn die Belegungszahlen ein anderes Bild vermitteln, fügte er hinzu: „Die nationale Revolution wirkt sich auch für unser Haus günstig aus.“| 6 Die Machtergreifung Adolf Hitlers lag nur wenige Wochen zurück. Um seinem Wunsch nach Unterstützung Nachdruck zu verleihen, erwähnte von Ro‑ tenhan dem Arbeitsministerium gegenüber, dass auch der neue Chefarzt für Innere Medizin die geplante Umgestaltung des Eli‑ sabeth‑Krankenhauses für außerordentlich wichtig hielt. Fried‑ rich‑Wilhelm Bremer habe sogar eine „Weiterexistenz des Hau‑ ses mit bisherigen Mitteln für unmöglich erklärt.“| 7 Dieser Bremer war selbst Mitglied der S.A. und trat laut einer Akte der Reichsärztekammer bis 1944 weiteren NS‑ Organisationen wie der SS und dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärzte‑ bund bei. Er war laut diesem Schriftstück auch Schriftführer des Verbandes der Krankenhausärzte, allerdings ist die Zeitspanne dieser Tätigkeit darauf nicht angegeben.| 8 Am 1. August 1935 trat der Internist in die NSDAP ein.| 9

Friedrich‑Wilhelm Bremer leitete nicht nur die Innere Me‑ dizin des Hauses, sondern richtete auch eine neue Station ein, die Abteilung für Erbbiologie. „Aufgrund des Entgegenkom‑

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beth‑Krankenhaus behandelt werden. | 4 Im Juni 1931 zog eine mens“| 10 Bremers, wie der Historiker Hans ‑Walter Schmuhl Gruppe von Nationalsozialisten vom selben Lokal aus zum Mag‑ gezeigt hat, konnte das Kaiser‑Wilhelm‑Institut für Anthropo‑ deburger Platz und überfiel einige Anhänger des „Reichsbanners“, logie und Vererbungsforschung einige Plätze dieser neuen Ab‑ eine mehrheitlich sozialdemokratische Vereinigung. Zwei von teilung als Belegbetten „zu einem günstigen Preis“ nutzen. In ihnen mussten anschließend ins Haus eingeliefert werden. | 5 einer Publikation des Elisabeth‑Krankenhauses wird die erbbio‑ logische Abteilung sogar als „klinische Abteilung des Kaiser‑Wil‑ In der Lützowstraße wurden also auch Verletzte linker helm‑Instituts für Anthropologie und Vererbungsforschung“ | 11 Gruppierungen versorgt. Der Kuratoriumsvorsitzende hob in bezeichnet. dem Schreiben jedoch die Behandlung der Nationalsozialisten besonders hervor. Auch wenn die Belegungszahlen ein anderes Das Institut war 1927 gegründet worden. Die Forscher der Bild vermitteln, fügte er hinzu: „Die nationale Revolution wirkt Vererbungsforschung verfolgten unter anderem das Ziel, den sich auch für unser Haus günstig aus.“| 6 Die Machtergreifung Einfluss der Erbanlage einerseits und der Umwelt andererseits Adolf Hitlers lag nur wenige Wochen zurück. Um seinem Wunsch für den Ausbruch bestimmter Krankheiten voneinander zu un‑ nach Unterstützung Nachdruck zu verleihen, erwähnte von Ro‑ terscheiden. Die Wissenschaftler des KWI erforschten diesen tenhan dem Arbeitsministerium gegenüber, dass auch der neue Komplex vor allem mithilfe der Zwillingsmethode, die auch im Chefarzt für Innere Medizin die geplante Umgestaltung des Eli‑ Elisabeth‑Krankenhaus angewandt wurde. Sie bestand „in der sabeth‑Krankenhauses für außerordentlich wichtig hielt. Fried‑ vergleichenden Untersuchung von erbgleichen eineiigen und rich‑Wilhelm Bremer habe sogar eine „Weiterexistenz des Hau‑ den biologisch als Geschwister zu betrachtenden zweieiigen ses mit bisherigen Mitteln für unmöglich erklärt.“| 7 Dieser Zwillingen.“| 12 Die Methode diente am Kaiser‑Wilhelm‑Institut Bremer war selbst Mitglied der S.A. und trat laut einer Akte weniger dazu, psychische oder körperliche Behinderungen zu der Reichsärztekammer bis 1944 weiteren NS‑ Organisationen erforschen, die „in den eugenischen Debatten der späten Wei‑ wie der SS und dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärzte‑ marer Republik eine Rolle spielten. Zwillingsforschung wurde bund bei. Er war laut diesem Schriftstück auch Schriftführer des am KWI‑A [Kaiser‑Wilhelm‑Institut für Anthropologie, mensch‑ Verbandes der Krankenhausärzte, allerdings ist die Zeitspanne liche Erblehre und Eugenik, C.T.] vielmehr als Grundlagenfor‑ dieser Tätigkeit darauf nicht angegeben.| 8 Am 1. August 1935 trat schung verstanden.“| 13 Die Wissenschaftler begriffen ihre For‑ der Internist in die NSDAP ein.| 9 schungen als politisch neutral und behaupteten, sich ausschließ‑ lich von wissenschaftlichem Erkenntnisdrang leiten zu lassen. Friedrich‑Wilhelm Bremer leitete nicht nur die Innere Me‑ Es überrascht daher nicht, dass auch die Abteilung für Erbbio ‑ dizin des Hauses, sondern richtete auch eine neue Station ein, logie in einer Broschüre des Elisabeth‑ Krankenhauses der Öf‑ die Abteilung für Erbbiologie. „Aufgrund des Entgegenkom‑ fentlichkeit vorgestellt wurde. | 14 Im Oktober 1934 wurden Gäste zu einem Vortrag über Zwillingsforschung eingeladen. | 15

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ELI_Buch_Vers_1.indb 104 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 105 16.08.12 12:06 In der Realität aber verhielt es sich anders: Der Leiter des Instituts und seine Mitarbeiter waren zum Beispiel darin er ‑ folgreich, die Ausformulierung des Gesetzentwurfs zur eugeni‑ schen Sterilisierung von 1932 zu beeinflussen. Die Regierung setzte den Entwurf jedoch nicht wie von den Forschern ge‑ wünscht um. Nach der Machtergreifung erzwangen die Natio‑ nalsozialisten die Selbstgleichschaltung des Instituts. „Nach einer kurzen Phase der Irritationen und Friktionen“, schreibt der Historiker Hans‑Walter Schmuhl, stellte das Institut „sein Ex‑ pertenwissen bereitwillig in den Dienst des neuen Regimes“ | 16 Die Forscher besetzten daraufhin einige Schlüsselpositionen:

„Die Kollaborationen mit dem nationalsozialistischen Staat führten dazu, dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des KWI-A in verschiedenen Positionen und Funktionen an den von diesem Staat ins Werk gesetzten Ver- brechen teilhatten: an den rassenhygienischen Massensterilisierungen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, der „Euthanasie“- Aktion, der Verfolgung und Vernichtung der Juden, Sinti und Roma und den Planungen zu ethnischen Neuordnungen des besetzten Osteuropas.“ | 17

Die Person Friedrich‑Wilhelm Bremers ist noch wenig er‑ forscht. Wir wissen aber, dass er zwischen 1943 und 1944 an einer Sitzung der „Erbpathologischen Arbeitsgemeinschaft“ teilnahm. Dieses Expertengremium aus Klinikern, Genetikern und Humangenetikern sprach einmal im Monat über „die Tätig ‑ keit der Institutsmitglieder bei der erbärztlichen Beratung, der Beratung von Gesundheitsämtern, Erbgesundheits‑ und Erb‑ gesundheitsobergerichten usw.“| 18

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In der Realität aber verhielt es sich anders: Der Leiter des Da die Erbgesundheitsgerichte Zwangssterilisationen an‑ Instituts und seine Mitarbeiter waren zum Beispiel darin er ‑ ordneten, muss Bremer hierüber genaue Kenntnisse gehabt ha‑ folgreich, die Ausformulierung des Gesetzentwurfs zur eugeni‑ ben. Aus den vorliegenden Akten geht nicht hervor, dass im Eli‑ schen Sterilisierung von 1932 zu beeinflussen. Die Regierung sabeth‑Krankenhaus tatsächlich Zwangssterilisationen durchge‑ setzte den Entwurf jedoch nicht wie von den Forschern ge‑ führt wurden.| 19 Bekannt ist allerdings, dass das Haus hierzu wünscht um. Nach der Machtergreifung erzwangen die Natio‑ die Berechtigung besaß. Diese hatte das preußische Innenmi‑ nalsozialisten die Selbstgleichschaltung des Instituts. „Nach nisteriums in einem Runderlass am 13. März 1934 erteilt. | 20 Von einer kurzen Phase der Irritationen und Friktionen“, schreibt der den dort aufgeführten 92 evangelischen Krankenhäusern gehör‑ Historiker Hans‑Walter Schmuhl, stellte das Institut „sein Ex‑ ten 20 dem Kaiserswerther Verband an, eines davon war das pertenwissen bereitwillig in den Dienst des neuen Regimes“ | 16 Elisabeth‑Krankenhaus. Die Historikerin Heide‑Marie Lauterer Die Forscher besetzten daraufhin einige Schlüsselpositionen: kommt in ihrer Studie über die Diakonissenmutterhäuser des Kaiserswerther Verbands zu dem Schluss: „Sollten auch Diako‑ „Die Kollaborationen mit dem nationalsozialistischen Staat führten dazu, nissenkrankenhäuser an der Sterilisation mitarbeiten, so musste dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des KWI-A in verschiedenen ihre Zustimmung eingeholt werden.“ | 21 Aus der Hauszeitschrift Positionen und Funktionen an den von diesem Staat ins Werk gesetzten Ver- geht nur hervor, dass eine Ärztin im August 1934 im Schwestern‑ brechen teilhatten: an den rassenhygienischen Massensterilisierungen nach saal einen Vortrag „über Vererbung und Sterilisation“ | 22 hielt. dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, der „Euthanasie“- Aktion, der Verfolgung und Vernichtung der Juden, Sinti und Roma und den Wie sich das Mutterhaus zum System des Nationalsozia‑ Planungen zu ethnischen Neuordnungen des besetzten Osteuropas.“ | 17 lismus positionierte, lässt sich aufgrund der mangelhaften Quel‑ lenlage nicht eindeutig belegen. Die wenigen greifbaren Aussa‑ Die Person Friedrich‑Wilhelm Bremers ist noch wenig er‑ gen des Vorstehers Werner von Rotenhan bestätigen zwar, dass forscht. Wir wissen aber, dass er zwischen 1943 und 1944 an die Schwesternschaft sich in der Öffentlichkeit klar zum Natio‑ einer Sitzung der „Erbpathologischen Arbeitsgemeinschaft“ nalismus bekannte. Eine offizielle Broschüre aus dem Jahr 1935 teilnahm. Dieses Expertengremium aus Klinikern, Genetikern oder 1937, die ohne Zustimmung von Rotenhans sicherlich nicht und Humangenetikern sprach einmal im Monat über „die Tätig ‑ hätte veröffentlicht werden können, betont die „sehr gerade keit der Institutsmitglieder bei der erbärztlichen Beratung, der nationale Haltung“ | 23 des Hauses. In der Zeitschrift „Grüße Beratung von Gesundheitsämtern, Erbgesundheits‑ und Erb‑ aus dem Elisabeth‑Krankenhaus“ berichtet ein Artikel aus dem gesundheitsobergerichten usw.“| 18 Jahr 1938 von einem fröhlichen Kameradschaftsabend im „Na‑ tionalhof“| 24. Auch die Einverleibung eines Teils der Tschecho‑ slowakei 1938 wurde in dem Hausorgan begrüßt: „Noch stehen

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ELI_Buch_Vers_1.indb 106 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 107 16.08.12 12:06 Kundgebung der Diakoniegemeinschaft in Berlin am 15.11.1933 | (Foto: Fliedner-Kulturstiftung )

wir ganz unter den Eindruck des Großen, was unser Volk soeben erlebt hat. Nicht nur, dass uns der Friede erhalten blieb, ein großer Sieg ist erfochten. Das Land der Sudetendeutschen ist zu uns gekommen. Das Sehnen unserer deutschen Brüder und Schwestern in jenen Gegenden wurde erfüllt. Sie sind heim‑ geführt ins Reich.“| 25 Doch inwieweit und bis zu welchem Punkt das Diakonissenmutterhaus mit den NS‑Behörden kooperierte, um etwa den 1933 eröffneten Krankenhaus‑Neubau| 26 zu Wege zu bringen, lässt sich nicht sagen.

Fest steht, dass 50 Diakonissen des Mutterhauses am 15. November 1933 an einer Kundgebung der Diakoniegemeinschaft teilnahmen.| 27 Diese neue Vereinigung versammelte verschie ‑

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dene Mutterhausverbände und einige freien Schwesternschaf‑ ten. An diesem Tag feierten sie in einem Saal am Berliner Alexanderplatz ihren Zusammenschluss. Die Gründung der Dia‑ koniegemeinschaft ist von einigen Historikern als Versuch ge‑ wertet worden, sich der Eingliederung in die NS‑ Schwestern‑ schaft zu entziehen. Diese Bewertung ist allerdings recht um‑ stritten.| 28 Geleitet wurde der Festakt von Siegfried von Lüt ‑ tichau, dem Vorsitzenden des Kaiserswerther Verbandes. Zu der Veranstaltung erschienen auch ein Vertreter des Reichsinnen‑ ministeriums, der stellvertretende Gauleiter von Groß‑ Berlin und Hans Harmsen von der Inneren Mission. | 29 Die Versamm‑ lung schickte ein Grußtelegramm an , in dem sie „dem uns von Gott gesetzten Führer opferbereiten Dienstwillen und unwandelbare Treue“ | 30 versprachen. Oberin Emma von Bunsen berichtete ihren Schwestern anschließend: Kundgebung der Diakoniegemeinschaft in Berlin am 15.11.1933 | (Foto: Fliedner-Kulturstiftung ) „Es waren wohl an die tausend Schwestern da und außerdem noch eine Menge Gäste, also Behörden usw. Die Chöre der verschiedenen Häuser wir ganz unter den Eindruck des Großen, was unser Volk soeben sangen einzeln und gemeinsam. S. Elisabeth musste die Chöre dirigieren. erlebt hat. Nicht nur, dass uns der Friede erhalten blieb, ein Die Probe dazu hatte bei uns stattgefunden. Es waren zirka 150 Schwes- großer Sieg ist erfochten. Das Land der Sudetendeutschen ist tern, die mitsangen! P. Lüttichau leitete die ganze Versammlung, sie zu uns gekommen. Das Sehnen unserer deutschen Brüder und war sehr eindrucksvoll und schön und hat uns gerade durch die Gemein- Schwestern in jenen Gegenden wurde erfüllt. Sie sind heim‑ samkeit viel gegeben.“ | 31 geführt ins Reich.“| 25 Doch inwieweit und bis zu welchem Punkt das Diakonissenmutterhaus mit den NS‑Behörden kooperierte, Innerhalb des Kaiserswerther Verbands der Diakonissen‑ um etwa den 1933 eröffneten Krankenhaus‑Neubau| 26 zu Wege mutterhäuser vermied von Rotenhan eine eindeutige Positionie‑ zu bringen, lässt sich nicht sagen. rung. 1934 versammelten sich einige Theologen in Wuppertal ‑ Barmen, die sich der Gleichschaltung der Evangelischen Kirche Fest steht, dass 50 Diakonissen des Mutterhauses am 15. entgegenstellen wollten. Außerdem richtete sich ihre Kritik gegen November 1933 an einer Kundgebung der Diakoniegemeinschaft das Engagement der Deutschen Christen, die sich der Ideologie teilnahmen.| 27 Diese neue Vereinigung versammelte verschie ‑

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ELI_Buch_Vers_1.indb 108 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 109 16.08.12 12:06 des Nationalsozialismus in weiten Teilen anschlossen. Die Theo‑ logen verabschiedeten auf dem Treffen in Barmen sechs Thesen, die unter anderem die Autonomie der Kirche gegenüber dem Staat verteidigten und die heute als Barmer Erklärung bezeich‑ net werden. Siegfried von Lüttichau lehnte diese ab. Werner von Rotenhan folgte ihm darin und begründete dies damit, dass er zur Annahme der Thesen nicht berechtigt sei. „Denn ein Mutter‑ haus kann nicht über seine Schwestern verfügen, dass diesel ‑ ben einer bestimmten Organisation beitreten sollen.“ | 32

Ein Vorgang aus dem Jahr 1938 belegt aber, dass die Dia‑ konissen den Einfluss der NS‑Schwesternschaft auf das Haus zu verhindern versuchten. Die konfessionellen Schwesternschaften gehörten ab 1933 zur „Reichsfachschaft deutscher Schwestern und Pfleger“. Zu den Mitgliedern gehörten neben katholischen und evangelischen Schwesternschaften auch freie Zusammen‑ schlüsse und NS‑Schwesternschaften.| 33 Die Diakonissenmut‑ terhäuser verloren also sehr rasch ihre Unabhängigkeit. Trotzdem konnten sie zunächst selbständig und von den Behörden rela‑

Siegfried von Lüttichau mit Silberjubilarinnen, 1936 | (Foto: Fliedner-Kulturstiftung)

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des Nationalsozialismus in weiten Teilen anschlossen. Die Theo‑ tiv unbeobachtet weiterbestehen. Im Jahr 1938 aber wandte logen verabschiedeten auf dem Treffen in Barmen sechs Thesen, sich ein Mitglied des Central‑Ausschusses für Innere Mission, die unter anderem die Autonomie der Kirche gegenüber dem der Oberbehörde der organisierten Diakonie, an den Vorstand Staat verteidigten und die heute als Barmer Erklärung bezeich‑ des Elisabeth‑Krankenhauses. Er bat die Verantwortlichen des net werden. Siegfried von Lüttichau lehnte diese ab. Werner von Hauses darum, NS‑Schwesternschülerinnen aufzunehmen und Rotenhan folgte ihm darin und begründete dies damit, dass er auszubilden und gab zu Bedenken, dies sei „auch im Interesse zur Annahme der Thesen nicht berechtigt sei. „Denn ein Mutter‑ der Anstalt selbst“ | 34. Als Grund für die Anfrage nannte er die haus kann nicht über seine Schwestern verfügen, dass diesel ‑ Empfehlung eines einflussreichen Beamten: „Herr Hauptamt‑ ben einer bestimmten Organisation beitreten sollen.“ | 32 leiter Hilgenfeldt, der mehrere Wochen im Elisabeth‑ Kranken‑ haus als Patient gelegen hätte, sei von dem Hause so angetan, Ein Vorgang aus dem Jahr 1938 belegt aber, dass die Dia‑ dass er es als Ausbildungsstätte für die NS‑ Schwesternschüle‑ konissen den Einfluss der NS‑Schwesternschaft auf das Haus zu rinnen wünsche.“ Erich Hilgenfeldt unterstand die NS‑ Schwes‑ verhindern versuchten. Die konfessionellen Schwesternschaften ternschaft.| 35 Das Kuratorium verweigerte jedoch die Koopera‑ gehörten ab 1933 zur „Reichsfachschaft deutscher Schwestern tion. Der Central‑Ausschuss erneuerte die Anfrage mehrere Male und Pfleger“. Zu den Mitgliedern gehörten neben katholischen und versuchte, auch über den Kaiserswerther Verband und den und evangelischen Schwesternschaften auch freie Zusammen‑ Chefarzt Friedrich‑Wilhelm Bremer Einfluss auf die Entschei‑ schlüsse und NS‑Schwesternschaften.| 33 Die Diakonissenmut‑ dung zu nehmen. Doch die Kuratoren hielten an ihrer Ablehnung terhäuser verloren also sehr rasch ihre Unabhängigkeit. Trotzdem fest, Bremer verweigerte das Gespräch. Der Vertreter des Central ‑ konnten sie zunächst selbständig und von den Behörden rela‑ Ausschusses bedauerte daraufhin, „keine Möglichkeit mehr zu haben eine große Anstalt, noch dazu in Berlin, vor einem Fehler 36 Siegfried von Lüttichau mit Silberjubilarinnen, 1936 zu bewahren.“| | (Foto: Fliedner-Kulturstiftung) Zugunsten der NS‑Schwesternschaft verließen ab Mitte der 1930er Jahre relativ viele Frauen katholische und evangeli‑ sche Lebensgemeinschaften. Offenbar wollte der Vorstand ver‑ hindern, dass die NS‑Schwestern nun auch im Elisabeth‑ Diako‑ nissenmutterhaus für ihre Sache warben. Der starke Einfluss der „braunen Schwestern“ war ohnehin mit dafür verantwortlich, dass 1944 keine einzige Schwester in das Mutterhaus eintrat.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 110 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 111 16.08.12 12:06 Diese Entwicklung war für das Diakonissenhaus jedoch weniger folgenreich als für das Krankenhaus. Während des Krie‑ ges wurden einige Ärzte einberufen. Unter ihnen war laut Reichs‑ ärzteregister auch Heinrich Gesenius, der 1938 die Leitung der Geburtshilfe‑Abteilung übernommen hatte und bereits im ersten Kriegsjahr seinen Dienst im Heer aufnehmen musste. | 37 Die Dia‑ konissen mussten versuchen, diese Ausfälle durch Mehrarbeit auszugleichen.

Die Belastung der Schwestern stieg noch einmal an, als die ersten Luftschutzverordnungen erlassen wurden. Neben der täglichen Arbeit mussten sie nun das Gebäude nach bestimm‑ ten Vorschriften verdunkeln. Als weitaus aufwändiger erwies es sich jedoch, Luftschutzräume für die Kranken zu schaffen. Sie mussten aus ihren Zimmern in Kellerräume verlegt werden. Dort blieben sie zunächst vorübergehend. Je kürzer die Intervalle zwischen den Bombenalarmen Ende 1943 jedoch wurden, desto länger mussten sie in den Untergeschossen der Gebäude aushar‑ ren: „Dadurch, dass diese [die Patienten, C.T.] zum guten Teil, zuletzt fast ohne Ausnahme Tag und Nacht in den Luftschutz ‑ räumen gelagert wurden, war die ärztliche und pflegerische Be‑ treuung oft recht erschwert. Was bei dem Mangel an Luftzufuhr, inmitten all des Dunkels, oft bei kümmerlicher Kerzenbeleuch‑ tung, unter äußerer und innerer Bedrängnis geleistet wurde, das auch nur anzudeuten, ist nicht möglich.“ | 38

Die Bombenangriffe am 23. November 1943 und 29. Januar 1944 richteten große Schäden auf dem Krankenhausgelände an. Phosphorbomben, Luftminen und Sprengbomben rissen mehr

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Diese Entwicklung war für das Diakonissenhaus jedoch als die Hälfte aller Gebäude nieder. Bei der Einnahme des Ge ‑ weniger folgenreich als für das Krankenhaus. Während des Krie‑ ländes durch die Sowjetarmee im Jahr darauf wurden weitere ges wurden einige Ärzte einberufen. Unter ihnen war laut Reichs‑ Teile der Anlage zerstört. ärzteregister auch Heinrich Gesenius, der 1938 die Leitung der Geburtshilfe‑Abteilung übernommen hatte und bereits im ersten Der Vorsteher fertigte in den Wochen danach eine Liste Kriegsjahr seinen Dienst im Heer aufnehmen musste. | 37 Die Dia‑ mit Materialien an, die in den zerbombten Gebäuden zerstört konissen mussten versuchen, diese Ausfälle durch Mehrarbeit worden waren. Allein für eines der Häuser zählte er 13 Betten, auszugleichen. 20 Schränke, 8 Wäschekörbe, 40 Hängelampen, 35 Nachttisch‑ lampen, 13 Rosshaar‑Matratzen, 52 Wolldecken und einige wei‑ Die Belastung der Schwestern stieg noch einmal an, als tere Dinge auf, die einen Gesamtwert von 11.000 Reichsmark die ersten Luftschutzverordnungen erlassen wurden. Neben der hatten.| 39 Die Oberin reichte im Dezember 1944 Rechnungen täglichen Arbeit mussten sie nun das Gebäude nach bestimm‑ beim Bezirksbürgermeister von Berlin‑Tiergarten ein und bat um ten Vorschriften verdunkeln. Als weitaus aufwändiger erwies es die Erstattung der Kosten. Denn sie hatte vorher für 3.000 Reichs‑ sich jedoch, Luftschutzräume für die Kranken zu schaffen. Sie mark Verdunkelungsrollos für die Fenster und Sandsäcke ge ‑ mussten aus ihren Zimmern in Kellerräume verlegt werden. Dort kauft, die dem Brandschutz dienen sollten. | 40 Die Gefahr wei‑ blieben sie zunächst vorübergehend. Je kürzer die Intervalle terer Angriffe war zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebannt, ob ‑ zwischen den Bombenalarmen Ende 1943 jedoch wurden, desto wohl viele Bezirke der Stadt bereits in Schutt und Asche lagen. länger mussten sie in den Untergeschossen der Gebäude aushar‑ ren: „Dadurch, dass diese [die Patienten, C.T.] zum guten Teil, Statt alliierter Flieger näherten sich im Frühjahr 1945 zuletzt fast ohne Ausnahme Tag und Nacht in den Luftschutz ‑ sowjetische Truppen. Mehrmals trafen Kugeln der Artillerie ‑ räumen gelagert wurden, war die ärztliche und pflegerische Be‑ Geschütze die Gebäude. Trotzdem wurde der Krankenhausbe‑ treuung oft recht erschwert. Was bei dem Mangel an Luftzufuhr, trieb nicht unterbrochen. Über das Eintreffen der sowjetischen inmitten all des Dunkels, oft bei kümmerlicher Kerzenbeleuch‑ Soldaten im Elisabeth‑Krankenhaus ist ein Augenzeugenbe‑ tung, unter äußerer und innerer Bedrängnis geleistet wurde, richt erhalten. Überliefert hat ihn der Schriftsteller und Jour‑ das auch nur anzudeuten, ist nicht möglich.“ | 38 nalist Curt Riess, der in Deutschland geboren wurde und 1933 in die Vereinigten Staaten emigrierte. Riess war Jude. Zunächst Die Bombenangriffe am 23. November 1943 und 29. Januar berichtete er für verschiedene Zeitungen aus und über Deutsch‑ 1944 richteten große Schäden auf dem Krankenhausgelände land, gegen Ende des Krieges wurde er Kriegsberichterstatter an. Phosphorbomben, Luftminen und Sprengbomben rissen mehr der US‑Navy. Nachdem der Kampf um Berlin beendet war, reiste

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ELI_Buch_Vers_1.indb 112 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 113 16.08.12 12:06 er in das zerstörte Berlin und sprach dort mit vielen Menschen über ihre Kriegserfahrungen. Im Elisabeth‑Krankenhaus traf er mit der Operationsschwester Käthe Eckstein zusammen, die ihm über die Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1945 berichtete:

„Gegen zehn Uhr abends arbeiteten sich russische Stoßtrupps immer nä- her an unser Krankenhaus heran. Dort, auf der anderen Seite, lagen hinter all den eilig aufgeschichteten Steinbarrikaden SS-Leute, die Reste einer Panzerkompanie. Sie wollten sich nicht ergeben. Aus allen Ruinen flammten ohne Unterbrechung die Mündungsfeuer der Gewehre. Dann ertönten furchtbare Schreie aus den hinteren Flügeln des Krankenhauses. Ich hörte Schüsse und Handgranaten. Ich stürzte auf den Gang. Verwundete, denen ihre Verbände in Fetzen herunterhingen, schleppten sich die Gänge entlang, krochen auf allen Vieren die Treppen hinauf. ‚Die Russen sind da!‘ Plötzlich war mein Zimmer voll von Krankenschwestern. Sie lagen auf den Knien und beteten oder liefen angsterfüllt hin und her. Dann ging die Tür auf. Soldaten in erdbraunen Uniformen stürzten herein, rissen einige Schwestern aus dem Zimmer. Ich floh in das nächste Zimmer, dann in das nächste, riss eine Tür auf, wieder eine. Und immer näher kamen die Gra- naten an unser Krankenhaus heran, manche schlugen schon ein, plötzlich roch ich, dass es brannte. Ich rannte durch die Krankensäle. Überall waren nun Russen, zerrten Krankenschwestern oder Patientinnen mit sich, rissen ihnen die Kleider vom Leibe, begossen sie mit Schnaps, schossen in die Wand. Einige Rotarmisten kauerten am Fenster und schossen auf die ande- re Seite der Straße. Aber schon nach ein paar Schuss nahmen auch sie [die Rotarmisten, die am Fenster gekauert hatten, C.T.] an den Vergewalti - gungen teil. Und dann verbarrikadierten sie die Türen, damit ihre Kamera- den nicht kommen konnten, um ihren Platz einzunehmen.“ | 41

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er in das zerstörte Berlin und sprach dort mit vielen Menschen Das bereits beschädigte Haupthaus ging in Flammen auf. über ihre Kriegserfahrungen. Im Elisabeth‑Krankenhaus traf er Käthe Eckstein berichtet, dass die Soldaten es anzündeten und mit der Operationsschwester Käthe Eckstein zusammen, die einige von ihnen, betrunken, in dem Feuer verbrannten, das sie ihm über die Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1945 berichtete: selbst gelegt hatten. Unter den Trümmern der Kirche fanden Angestellte später die Leiche der Kirchenschwester. Eine andere „Gegen zehn Uhr abends arbeiteten sich russische Stoßtrupps immer nä- Frau wurde durch herabfallendes Gestein verschüttet und starb. her an unser Krankenhaus heran. Dort, auf der anderen Seite, lagen hinter Sie war Krankenpflegerin, zu dieser Zeit aber selbst als Patien‑ all den eilig aufgeschichteten Steinbarrikaden SS-Leute, die Reste einer tin im Krankenhaus. | 42 Eine Diakonisse, die bei Kriegsende in Panzerkompanie. Sie wollten sich nicht ergeben. Aus allen Ruinen flammten einem Kinderheim im Oderbruch tätig war, wurde auf dem Weg ohne Unterbrechung die Mündungsfeuer der Gewehre. Dann ertönten von einem Haus zum anderen erschossen. Der Chefarzt der furchtbare Schreie aus den hinteren Flügeln des Krankenhauses. Ich Chirurgie und seine Frau kamen am 1. Mai ums Leben, auf wel ‑ hörte Schüsse und Handgranaten. Ich stürzte auf den Gang. Verwundete, che Weise verschweigen die Berichte. Vielleicht wurden sie im denen ihre Verbände in Fetzen herunterhingen, schleppten sich die Gänge Kampf der Sowjets mit den letzten verbliebenen deutschen Sol ‑ entlang, krochen auf allen Vieren die Treppen hinauf. ‚Die Russen sind daten von einer Kugel getroffen. In den eigens ausgehobenen da!‘ Plötzlich war mein Zimmer voll von Krankenschwestern. Sie lagen auf Splittergräben beerdigten der Vorstand und die Diakonissen den Knien und beteten oder liefen angsterfüllt hin und her. Dann ging die anschließend 50 Menschen. Tür auf. Soldaten in erdbraunen Uniformen stürzten herein, rissen einige Schwestern aus dem Zimmer. Ich floh in das nächste Zimmer, dann in das nächste, riss eine Tür auf, wieder eine. Und immer näher kamen die Gra- | 1 94. Jahresbericht 1931, S. 5. naten an unser Krankenhaus heran, manche schlugen schon ein, plötzlich | 2 Werner von Rotenhan an den Reichsarbeitsminister am 10.06.1933, ADW, CA/WI 36. roch ich, dass es brannte. Ich rannte durch die Krankensäle. Überall waren | 3 Ebda. nun Russen, zerrten Krankenschwestern oder Patientinnen mit sich, rissen | 4 Neue Vossische Zeitung vom 26.06.1930. ihnen die Kleider vom Leibe, begossen sie mit Schnaps, schossen in die | 5 Neue Vossische Zeitung vom 24.06.1931. Wand. Einige Rotarmisten kauerten am Fenster und schossen auf die ande- | 6 Werner von Rotenhan an den Reichsarbeitsminister am 10.06.1933, ADW, CA/WI 36. re Seite der Straße. Aber schon nach ein paar Schuss nahmen auch sie | 7 Ebda.. [die Rotarmisten, die am Fenster gekauert hatten, C.T.] an den Vergewalti - | 8 BArch, Reichärztekammer F, Nr.5, Gefallenen-Anzeige Friedrich-Wilhelm Bremer. gungen teil. Und dann verbarrikadierten sie die Türen, damit ihre Kamera- | 9 BArch 3200 C0025, NSDAP-Ortskartei, Mitgliedsnummer 3671655. den nicht kommen konnten, um ihren Platz einzunehmen.“ | 41 | 10 Hans-Walter Schmuhl: Grenzüberschreitungen, Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927-1945, Göttingen 2005, S. 240. | 11 Das Elisabeth- Diakonissen- und Krankenhaus, Berlin o.J., S. 8.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 114 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 115 16.08.12 12:06 | 12 Jürgen Simon: Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920 – 1945, Münster u.a. 2001, S. 78. | 13 Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 88. | 14 Das Elisabeth- Diakonissen- und Krankenhaus, Berlin o.J., S. 8. | 15 Aus der Chronik unseres Hauses, in: Grüße aus dem Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus 9/6 (1934), S. 3. | 16 Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 13. | 17 Ebda. | 18 Alexander von Schwerin: Experimentalisierung des Menschen. Der Genetiker Hans Nachtsheim und die vergleichende Erbpathologie 1920-1945, Göttingen 2004, S. 277. | 19 Zu Zwangssterilisationen s. Uwe Kaminsky: Zwischen Rassenhygiene und Biotechnologie. Die Fortsetzung der eugenischen Debatte in Diakonie und Kirche, 1945-1969, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 116 (2005), S. 204-241. | 20 Heide-Marie Lauterer: Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft. Der Kaiserwerther Verband deutscher Diakonissenmütterhäuser in den ersten Jahren des NS-Regimes, Göttingen 1994, S. 117. | 21 Ebda. | 22 Mitteilungen für die Diakonissen von St. Elisabeth 9/1934, S. 2. | 23 Das Elisabeth- Diakonissen- und Krankenhaus, Berlin o.J., S. 2. | 24 Hauschronik, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 13/3 (1938), S. 4. | 25 Werner von Rotenhan: Etwas von der deutschen Evangelischen Kirche in Böhmen und Mähren, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 13/5 (1938), S. 3. | 26 95.-97. Jahresbericht 1932-1934, S. 5. | 27 Emma von Bunsen an die Schwestern des Elisabeth-Diakonissen-Mutterhauses am 20.11.1933, in: Mitteilungen für die Diakonissen von St. Elisabeth, Dezember 1933, S. 4. | 28 Lauterer: Liebestätigkeit, S. 59 ff. | 29 Lauterer: Liebestätigkeit, S. 63. | 30 Lauterer: Liebestätigkeit, S. 64. | 31 Emma von Bunsen an die Schwestern des Elisabeth-Diakonissen-Mutterhauses am 20.11.1933, in: Mitteilungen für die Diakonissen von St. Elisabeth, Dezember 1933, S. 4.

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| 12 Jürgen Simon: Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus | 32 Werner von Rotenhan an die Schwestern des Elisabeth-Diakonissen-Mutterhauses am 1920 – 1945, Münster u.a. 2001, S. 78. 22.07.1934 in: Mitteilungen für die Diakonissen von St. Elisabeth, August 1934, S. 1 ff. | 13 Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 88. | 33 Schmuhl: Evangelische Krankenhäuser, S. 98 f. | 14 Das Elisabeth- Diakonissen- und Krankenhaus, Berlin o.J., S. 8. | 34 Fichtner (Centralausschuss für Innere Mission): Aktennotiz über das Elisabeth- | 15 Aus der Chronik unseres Hauses, in: Grüße aus dem Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus als Ausbildungsstelle für NS-Schwesternschülerinnen vom 10.08.1938, Krankenhaus 9/6 (1934), S. 3. ADW, CA/G 708. | 16 Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 13. | 35 Ebda. | 17 Ebda. | 36 Ebda. | 18 Alexander von Schwerin: Experimentalisierung des Menschen. Der Genetiker Hans | 37 BArch, Reichsärzteregister, Karte Heinrich Gesenius. Nachtsheim und die vergleichende Erbpathologie 1920-1945, Göttingen 2004, S. 277. | 38 Otto Harless: Krieg und Zerstörung. Jahresbericht von 1943 bis 1945, in: Augustat (Hg.): | 19 Zu Zwangssterilisationen s. Uwe Kaminsky: Zwischen Rassenhygiene und 125 Jahre Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus in Berlin, S. 77-91, hier: S. 82. Biotechnologie. Die Fortsetzung der eugenischen Debatte in Diakonie und Kirche, | 39 Otto Harless: Antrag auf Entschädigung vom 22.04.1944, LAB A Rep. 005-07 Nr. 702. 1945-1969, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 116 (2005), S. 204-241. | 40 Irma Carius an Bezirksbürgermeister Berlin Tiergarten am 22.12.1944, LAB A Rep. 005-07 | 20 Heide-Marie Lauterer: Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft. Der Kaiserwerther Nr. 702. Verband deutscher Diakonissenmütterhäuser in den ersten Jahren des NS-Regimes, | 41 Curt Riess: Berlin Berlin, o.J. (EA 1953), S. 9 f. Göttingen 1994, S. 117. | 42 Harless: Krieg und Zerstörung, S. 87. | 21 Ebda. | 22 Mitteilungen für die Diakonissen von St. Elisabeth 9/1934, S. 2. | 23 Das Elisabeth- Diakonissen- und Krankenhaus, Berlin o.J., S. 2. | 24 Hauschronik, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 13/3 (1938), S. 4. | 25 Werner von Rotenhan: Etwas von der deutschen Evangelischen Kirche in Böhmen und Mähren, in: Grüße aus dem Elisabeth-Krankenhaus 13/5 (1938), S. 3. | 26 95.-97. Jahresbericht 1932-1934, S. 5. | 27 Emma von Bunsen an die Schwestern des Elisabeth-Diakonissen-Mutterhauses am 20.11.1933, in: Mitteilungen für die Diakonissen von St. Elisabeth, Dezember 1933, S. 4. | 28 Lauterer: Liebestätigkeit, S. 59 ff. | 29 Lauterer: Liebestätigkeit, S. 63. | 30 Lauterer: Liebestätigkeit, S. 64. | 31 Emma von Bunsen an die Schwestern des Elisabeth-Diakonissen-Mutterhauses am 20.11.1933, in: Mitteilungen für die Diakonissen von St. Elisabeth, Dezember 1933, S. 4.

116 Kooperation und Opposition 117

ELI_Buch_Vers_1.indb 116 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 117 16.08.12 12:06 Ein Widerstandskämpfer im Kuratorium

Auch den Vorsitzenden des Kuratoriums verlor die Anstalt, Ulrich von Hassell. Bereits sein Vater hatte dem Leitungsgremium angehört.| 1 Dessen Frau hatte die Diakonissen ab und an be‑ sucht, um gemeinsam mit ihnen Altardecken zu sticken. | 2 Ihr Sohn Ulrich von Hassell war Diplomat und wurde 1932 zum deut‑ schen Botschafter in Rom ernannt. Diese Stelle verlor er 1938, als Adolf Hitler seine Außenpolitik neu ausrichtete und einige en‑ ge Gefolgsleute auf strategisch wichtige Botschaften verteilte. | 3

Die Erkenntnis, dass Hitler und sein neuer Außenminister Joachim von Ribbentrop den Angriff auf Polen forcierten und das Risiko eines erneuten Krieges gegen die Westmächte bewusst in Kauf nahmen, weckte den Willen des Diplomaten zum Wider‑ stand. Er trat in Kontakt mit Carl Goerdeler, dem ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig, und mit Ludwig Beck. Dieser war als einer der wenigen führenden Militärs aus Protest gegen Hit‑ lers Kriegskurs von seinem Posten als Generalstabschef des Hee‑ res zurückgetreten. Aus einem anfänglichen Austausch zwischen den Männern entwickelte sich nach dem Überfall auf Polen eine enge Kooperation.| 4

Von Hassell selbst galt als einer der wenigen Vermittler zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb des konser‑ vativen Widerstands. Er suchte das Gespräch auch mit den jün‑ geren Oppositionellen um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg. Ihre konspirativen Treffen fan‑ den in Kreisau, dem schlesischen Gut Moltkes, statt. Deshalb wurde diese Gruppe später als Kreisauer Kreis bezeichnet. | 5

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ELI_Buch_Vers_1.indb 118 16.08.12 12:06 1940 — 1944

Ein Widerstandskämpfer im Kuratorium Von Hassell war ab dem Frühsommer 1940 unter anderem Mitglied des Vorstands des „Mitteleuropäischen Wirtschafts‑ Auch den Vorsitzenden des Kuratoriums verlor die Anstalt, tages“. Dies eröffnete ihm die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen. Ulrich von Hassell. Bereits sein Vater hatte dem Leitungsgremium Die Aufenthalte in anderen europäischen Städten nutzte von angehört.| 1 Dessen Frau hatte die Diakonissen ab und an be‑ Hassell, um Kontakte zu knüpfen. | 6 Das Ziel dieser Bemühun‑ sucht, um gemeinsam mit ihnen Altardecken zu sticken. | 2 Ihr gen bestand vor allem darin, die Voraussetzungen und Beding‑ Sohn Ulrich von Hassell war Diplomat und wurde 1932 zum deut‑ ungen zu erfahren, unter denen die Kriegsgegner einem Waffen‑ schen Botschafter in Rom ernannt. Diese Stelle verlor er 1938, als stillstand zustimmen konnten, sollte den Oppositionellen der Adolf Hitler seine Außenpolitik neu ausrichtete und einige en‑ Sturz Hitlers gelingen. | 7 Von Hassell war sich zwar dessen ge Gefolgsleute auf strategisch wichtige Botschaften verteilte. | 3 bewusst, dass seine Aktivitäten für ihn gefährlich werden konn‑ ten. Er scheint aber keine konkreten Anhaltspunkte für eine be‑ Die Erkenntnis, dass Hitler und sein neuer Außenminister sondere Aufmerksamkeit der Dienste an seiner Person gesehen Joachim von Ribbentrop den Angriff auf Polen forcierten und das zu haben. Ihm fiel nicht auf, dass er mitunter regelrecht be ‑ Risiko eines erneuten Krieges gegen die Westmächte bewusst schattet wurde.| 8 Schließlich verweigerte das Auswärtige Amt in Kauf nahmen, weckte den Willen des Diplomaten zum Wider‑ von Hassell die Ausreise ins Ausland.| 9 Sein Aktionsradius war stand. Er trat in Kontakt mit Carl Goerdeler, dem ehemaligen jetzt deutlich eingeschränkt. | 10 Aus strategischen Gründen ver‑ Oberbürgermeister von Leipzig, und mit Ludwig Beck. Dieser war ließ er den „Mitteleuropäischen Wirtschaftstag“. Bislang waren als einer der wenigen führenden Militärs aus Protest gegen Hit‑ alle Bemühungen um Kontakte vor allem mit der amerikani‑ lers Kriegskurs von seinem Posten als Generalstabschef des Hee‑ schen und der britischen Regierung ohnehin erfolglos verlau ‑ res zurückgetreten. Aus einem anfänglichen Austausch zwischen fen.| 11 Auch die sondierenden Gespräche mit führenden deut ‑ den Männern entwickelte sich nach dem Überfall auf Polen eine schen Militärs waren ernüchternd verlaufen. | 12 Von Hassell enge Kooperation.| 4 musste feststellen, dass die überwiegende Mehrzahl der Gene ‑ räle auch dann nicht bereit war, ihre Haltung zu ändern, als Von Hassell selbst galt als einer der wenigen Vermittler sich die militärische und politische Lage für Deutschland dra‑ zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb des konser‑ matisch verschärft hatte. | 13 Ihm machte offenbar besonders die vativen Widerstands. Er suchte das Gespräch auch mit den jün‑ Frage zu schaffen, weshalb die Generäle, wenn sie denn schon geren Oppositionellen um Helmuth James Graf von Moltke und nicht durch strategische Argumente zu überzeugen waren, nicht Peter Graf Yorck von Wartenburg. Ihre konspirativen Treffen fan‑ wenigstens aus den von Hitler angeordneten Greueltaten im Osten den in Kreisau, dem schlesischen Gut Moltkes, statt. Deshalb Konsequenzen zogen. Für den Diplomaten selbst bildeten diese wurde diese Gruppe später als Kreisauer Kreis bezeichnet. | 5 Verbrechen die vielleicht wichtigste Motivation, am Aufbau einer

118 Ein Widerstandskämpfer im Kuratorium 119

ELI_Buch_Vers_1.indb 118 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 119 16.08.12 12:06 deutschen Opposition mitzuarbeiten und sich an den Vorberei‑ tungen für einen Staatsstreich zu beteiligen. | 14

Grundsätzlich stellten sich von Hassell und andere füh‑ rende Vertreter der „Goerdeler‑Beck‑von Hassell‑Gruppe“ einen starken, autoritären Staat vor. Eine parlamentarische Demokratie lehnten sie entschieden ab. Der von ihnen geplante Staat sollte jedoch, anders als der derzeitige, ein Rechtsstaat sein.

Von Hassell war am Widerstand des 20. Juli 1944 selbst nicht beteiligt. Trotzdem wurde er am 28. Juli verhaftet. Er wurde zunächst in das Konzentrationslager Ravensbrück in Mecklen‑ burg und schließlich am 18. August wieder nach Berlin gebracht, wo ihm der Prozess gemacht wurde. Er versuchte sich mit dem Hinweis zu verteidigen, er habe „stets mit offenem Visier ge‑ kämpft und seine abweichende Auffassung dem Führer offen ge‑ sagt“. An den konkreten Vorbereitungen auf den Staatsstreich sei er „unbeteiligt“ gewesen. Er habe es aber für seine Pflicht gehalten, „sich im Falle eines Zusammenbruchs Deutschlands zur Verfügung zu stellen.“| 15 Am 8. September wurde von Has‑ sel zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde noch am selben Tag in Berlin‑Plötzensee vollstreckt.| 16 60 Jahre später, im September 2004, erschien der Sohn des Diplomaten zu einer Gedenkfeier für Ulrich von Hassell im Krankenhaus. Bei der Veranstaltung wurde auch eine Ausstellung eröffnet. Sie trug den Titel „In der Wahrheit leben. Aus der Geschichte von Widerstand und Oppo ‑ sition im 20. Jahrhundert.“| 17

Von Hassels Tod war nicht der einzige Sterbefall, den die Diakonissen beklagen mussten. Im Frühjahr 1946 konnte Obe ‑ rin Irma Carius in einem Schreiben an das Evangelische Hilfs ‑ werk ihre Bestürzung über die Verluste nicht verbergen:

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ELI_Buch_Vers_1.indb 120 16.08.12 12:06 1940 — 1944

deutschen Opposition mitzuarbeiten und sich an den Vorberei‑ „Gern bin ich bereit Ihnen mündlich ausführlich über unsere Lage zu tungen für einen Staatsstreich zu beteiligen. | 14 berichten. Das Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus verlor im Laufe eines reichlichen Jahres seinen verdienten Vorsitzenden (Botschafter Grundsätzlich stellten sich von Hassell und andere füh‑ Ulrich v. Hassell) als Opfer des 20. Juli, seine beiden Chefärzte durch den rende Vertreter der „Goerdeler‑Beck‑von Hassell‑Gruppe“ einen Tod, den stellvertretenden Vorsitzenden im Felde, den Vorsteher zu Weih- starken, autoritären Staat vor. Eine parlamentarische Demokratie nacht 1945 nach langem Leiden, vier Fünftel des hiesigen Werkes gingen lehnten sie entschieden ab. Der von ihnen geplante Staat sollte in den letzten Kriegsjahren in Trümmer, der Wiederaufbau ist sehr jedoch, anders als der derzeitige, ein Rechtsstaat sein. schwierig und geht äußerst langsam vor.“| 18

Von Hassell war am Widerstand des 20. Juli 1944 selbst nicht beteiligt. Trotzdem wurde er am 28. Juli verhaftet. Er wurde | 1 Ulrich von Hassell: Erinnerungen aus meinem Leben 1848-1918, Stuttgart 191, S. 161. zunächst in das Konzentrationslager Ravensbrück in Mecklen‑ | 2 Ebda, S. 160. burg und schließlich am 18. August wieder nach Berlin gebracht, | 3 Gregor Schöllgen: Ulrich von Hassell 1881-1944. Ein Konservativer in der Opposition, wo ihm der Prozess gemacht wurde. Er versuchte sich mit dem München 2004, S. 136. Hinweis zu verteidigen, er habe „stets mit offenem Visier ge‑ | 4 Schöllgen: von Hassell, S. 100. kämpft und seine abweichende Auffassung dem Führer offen ge‑ | 5 Schöllgen: von Hassell, S. 102. sagt“. An den konkreten Vorbereitungen auf den Staatsstreich | 6 Schöllgen: von Hassell, S. 109 f. sei er „unbeteiligt“ gewesen. Er habe es aber für seine Pflicht | 7 Schöllgen: von Hassell, S. 111. gehalten, „sich im Falle eines Zusammenbruchs Deutschlands | 8 Schöllgen: von Hassell, S. 129. zur Verfügung zu stellen.“| 15 Am 8. September wurde von Has‑ | 9 Schöllgen: von Hassell, S. 130. sel zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde noch am selben Tag in | 10 Schöllgen: von Hassell, S. 130 f. Berlin‑Plötzensee vollstreckt.| 16 60 Jahre später, im September | 11 Schöllgen: von Hassell, S. 131. 2004, erschien der Sohn des Diplomaten zu einer Gedenkfeier | 12 Schöllgen: von Hassell, S. 166. für Ulrich von Hassell im Krankenhaus. Bei der Veranstaltung | 13 Schöllgen: von Hassell, S. 167. wurde auch eine Ausstellung eröffnet. Sie trug den Titel „In der | 14 Schöllgen: von Hassell, S. 168. Wahrheit leben. Aus der Geschichte von Widerstand und Oppo ‑ | 15 Schöllgen: von Hassell, S. 172. sition im 20. Jahrhundert.“| 17 | 16 Schöllgen: von Hassell, S. 174. | 17 Entwurf Pressemitteilung „Gedenkfeier für Widerstandskämpfer Ulrich von Hassell“ 2004, Von Hassels Tod war nicht der einzige Sterbefall, den die ArchELI. Diakonissen beklagen mussten. Im Frühjahr 1946 konnte Obe ‑ | 18 Irma Carius an Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland am 09.04.1946, ADW, rin Irma Carius in einem Schreiben an das Evangelische Hilfs ‑ ZBB 2970. werk ihre Bestürzung über die Verluste nicht verbergen:

120 Ein Widerstandskämpfer im Kuratorium 121

ELI_Buch_Vers_1.indb 120 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 121 16.08.12 12:06 Ulrich vom Hassell beim Prozess im Volksgerichtshof, Juli 1944 (Foto: Bundesarchiv Bild 151-22-35)

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ELI_Buch_Vers_1.indb 122 16.08.12 12:06 1940 — 1944

Ulrich vom Hassell beim Prozess DER KURATORIUMSVORSITZENDE DES im Volksgerichtshof, Juli 1944 (Foto: Bundesarchiv Bild 151-22-35) ELISABETH-KRANKENHAUSES ULRICH VON HASSELL WAR AM WIDERSTAND DES 20. JULI 1944 NICHT SELBST BETEILIGT. TROTZDEM WURDE ER AM 28. JULI VERHAFTET. AM 8. SEPTEMBER WURDE ER ZUM TODE VERUR- TEILT. DAS URTEIL WURDE NOCH AM SELBEN TAG IN BERLIN-PLÖTZENSEE VOLLSTRECKT.

122 Ein Widerstandskämpfer im Kuratorium 123

ELI_Buch_Vers_1.indb 122 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 123 16.08.12 12:06 Das Ausmaß der Zerstörung

Als der Krieg zu Ende war, begriffen die Diakonissen, Ärzte und Vorsteher erst, welches Ausmaß die Zerstörung hatte. Das 1867 gebaute Krankenhaus mit 220 Betten, die Kirche und der Schwesternsaal, das Feierabendhaus, ein Angestelltenhaus mit Haushaltungsschule, das Gossner-Haus, das alte Schwestern- haus und das Kesselhaus waren vernichtet. | 1 Bevor die Verant- wortlichen überhaupt darüber nachdenken konnten, welche Gebäude sie wieder aufbauen konnten und welche sie nieder - reißen mussten, hatten sie sich um die Versorgung der Kran- ken zu kümmern, die inmitten der Trümmer auf Hilfe warteten. Nicht einmal eine Küche gab es mehr. Vorübergehend richteten die Diakonissen daher Küche und Speisesaal in einer steiner - nen Baracke im Garten ein, von der aus die Patienten und alle Bewohner der Anstalt mit Lebensmitteln versorgt wurden. | 2 Sie lag inmitten des Geländes und diente bislang als Gartenhaus.

Die Beschaffung jeglichen Materials war kompliziert. Jede Wärmflasche und jedes Nähgarn musste die Oberin beantragen. Doch die Behörden konnten oft auch nicht mehr tun, als solche Anträge förmlich zu bewilligen. Oberin Irma Carius klagte in ei- nem Schreiben an das Evangelische Hilfswerk: „Wir hoffen im- mer, es würde mal etwas geben und stehen dauernd mit unserm zuständigen Wirtschaftsamt in Verbindung, das zwar gern be - willigt, aber keine Bezugsquellen erschließen kann.“| 3 Sie nan- nte dem Adressaten Dinge, die im Krankenhaus am dringendsten gebraucht wurden und bat darum, diese zu besorgen. Krüge und Kannen waren darunter, Umschläge, Eisbeutel, elektrische Bir- nen und Stecker, Arbeitskleidung und Schuhe. Wohl um ange -

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ELI_Buch_Vers_1.indb 124 16.08.12 12:06 1945 — 1950

Das Ausmaß der Zerstörung

Als der Krieg zu Ende war, begriffen die Diakonissen, Ärzte und Vorsteher erst, welches Ausmaß die Zerstörung hatte. Das 1867 gebaute Krankenhaus mit 220 Betten, die Kirche und der Schwesternsaal, das Feierabendhaus, ein Angestelltenhaus mit Haushaltungsschule, das Gossner-Haus, das alte Schwestern- haus und das Kesselhaus waren vernichtet. | 1 Bevor die Verant- wortlichen überhaupt darüber nachdenken konnten, welche Gebäude sie wieder aufbauen konnten und welche sie nieder - reißen mussten, hatten sie sich um die Versorgung der Kran- ken zu kümmern, die inmitten der Trümmer auf Hilfe warteten. Nicht einmal eine Küche gab es mehr. Vorübergehend richteten die Diakonissen daher Küche und Speisesaal in einer steiner - nen Baracke im Garten ein, von der aus die Patienten und alle Bewohner der Anstalt mit Lebensmitteln versorgt wurden. | 2 Sie lag inmitten des Geländes und diente bislang als Gartenhaus.

Die Beschaffung jeglichen Materials war kompliziert. Jede Wärmflasche und jedes Nähgarn musste die Oberin beantragen. Doch die Behörden konnten oft auch nicht mehr tun, als solche Anträge förmlich zu bewilligen. Oberin Irma Carius klagte in ei- nem Schreiben an das Evangelische Hilfswerk: „Wir hoffen im- mer, es würde mal etwas geben und stehen dauernd mit unserm zuständigen Wirtschaftsamt in Verbindung, das zwar gern be - willigt, aber keine Bezugsquellen erschließen kann.“| 3 Sie nan- nte dem Adressaten Dinge, die im Krankenhaus am dringendsten gebraucht wurden und bat darum, diese zu besorgen. Krüge und Kannen waren darunter, Umschläge, Eisbeutel, elektrische Bir- nen und Stecker, Arbeitskleidung und Schuhe. Wohl um ange -

Die Rückfront des Hauptgebäudes, 18.02.1949 124 (Foto: Landesarchiv BerlinDas Ausmaß F Rep. 290der Zerstörung125297) 125

ELI_Buch_Vers_1.indb 124 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 125 16.08.12 12:06 sichts der langen Wunschliste nicht unhöflich zu erscheinen, schloss sie das Gesuch mit den Worten: „Selbstverständlich möchten wir nicht von allem Aufgeführten haben, nur dass aller Mangel bekannt ist; selbstverständlich begnügen wir uns auch mit gebrauchten Sachen.“| 4

Die größten Sorgen machten sich die Schwestern und Angestellten um den Wiederaufbau. Dieser Ungewissheit ver- suchte die Oberin in ihrem Einladungsschreiben zur Jahresfeier 1946 etwas Positives abzugewinnen. Zwar überragten die Ruinen des Haupthauses die ganze Umgebung und Schwestern- und Feierabendhaus lägen in Trümmern, zwar stünden von der Kir - che nur noch einige Außenmauern. „Das Leben jedoch hat sich an den übrigen Stellen entfaltet, gleichsam dem Erdboden nä- her und umso fester gegründet.“| 5

Reichpietschufer (rechte Bildhälfte) und Schöneberger Ufer mit Landwehrkanal, | um 1949 (Foto: Landesarchiv Berlin F Rep. 290/Siegfried Blohm)

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ELI_Buch_Vers_1.indb 126 16.08.12 12:06 1945 — 1950

sichts der langen Wunschliste nicht unhöflich zu erscheinen, Es herrschten unterschiedliche Ansichten darüber, ob schloss sie das Gesuch mit den Worten: „Selbstverständlich und wie das Krankenhaus wieder aufgebaut werden sollte. Der möchten wir nicht von allem Aufgeführten haben, nur dass aller Evangelische Hilfsverein lehnte eine finanzielle Unterstützung Mangel bekannt ist; selbstverständlich begnügen wir uns auch für Aufbauprojekte im Juli 1946 mit dem Argument ab, dass mit gebrauchten Sachen.“| 4 dem Vorstand „seitens maßgeblicher Stellen“| 6 davon abgera- ten worden sei, den Wiederaufbau am selben Ort zu beginnen. Die größten Sorgen machten sich die Schwestern und Auch der Vorstand gestand ein, dass es „zunächst zweifelhaft Angestellten um den Wiederaufbau. Dieser Ungewissheit ver- war, ob das Haus seine Arbeit wieder beginnen könnte.“| 7 Eine suchte die Oberin in ihrem Einladungsschreiben zur Jahresfeier andere Meinung vertraten das Gesundheitsamt und vor allem 1946 etwas Positives abzugewinnen. Zwar überragten die Ruinen die britischen Besatzungsbehörden, die letztlich die Entschei- des Haupthauses die ganze Umgebung und Schwestern- und dung trafen.| 8 Doch auch sie konnten zunächst nicht viel mehr Feierabendhaus lägen in Trümmern, zwar stünden von der Kir - tun, als ihr Einverständnis für den Wiederaufbau zu geben und che nur noch einige Außenmauern. „Das Leben jedoch hat sich ihr Mitgefühl für die Nöte der Menschen im Krankenhaus aus - an den übrigen Stellen entfaltet, gleichsam dem Erdboden nä- zudrücken. Schließlich bewilligte der noch unter alliierter Auf - her und umso fester gegründet.“| 5 sicht stehende Magistrat 1946 eine Auszahlung von 100.000 Reichsmark.| 9 Damit konnte ein Teil des Schutts abgetragen

Reichpietschufer (rechte Bildhälfte) und Schöneberger Ufer mit Landwehrkanal, und der regelmäßige Krankenhausbetrieb wieder aufgenom- | um 1949 (Foto: Landesarchiv Berlin F Rep. 290/Siegfried Blohm) men werden. Für die Räumarbeiten stellten sich auch auswär - tige Helfer zur Verfügung. Der Weltkirchenrat entsandte einige Personen, die Quäker schickten Studenten. Sie wohnten in be - nachbarten, leerstehenden Wohnungen. | 10

Zwar ging der Aufbau nur in kleinen Schritten voran. Zur Freude des Vorstehers überließ der Magistrat dem Krankenhaus 1947 aber ein benachbartes Grundstück am Schöneberger Ufer, in dessen Parterre eine Station für Innere Medizin mit 45 Bet - ten und in dessen oberen drei Etagen eine Hospitalabteilung für 80 alte Menschen eingerichtet wurden. | 11 Hierfür musste das Kuratorium selbst nur eine geringe Summe aufbringen. 1955 kaufte der Vorstand dieses Grundstück samt Gebäude. 1958 zog

126 Das Ausmaß der Zerstörung 127

ELI_Buch_Vers_1.indb 126 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 127 16.08.12 12:06 die Innere Station in ein neues Haus um. Es hieß Dibelius- Haus und wurde nach dem Bischof in Berlin und Brandenburg und Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland benannt. Otto Dibelius nahm selbst an der Eröffnungsfeier teil. Ab dann wohnten nur noch alte und chronisch kranke Patien- ten in dem Haus. | 12 Heute befindet sich in diesem Bau die Ver- waltung.

Die Chroniker, die Kranken auf der Inneren und der Chi- rurgischen Station sowie die Patienten der Poliklinik waren je- doch nicht die einzigen, die in den Nachkriegsjahren im Kran- kenhaus behandelt wurden. Es kamen Hunderte von Flüchtlin- gen hinzu, die den langen Weg aus Schlesien, Pommern, West- und Ostpreußen und einigen anderen Gebiete bewältigt hatten. Sie wurden von den Ärzten zusätzlich zu ihrer sonstigen Arbeit versorgt, im Mutterhaus erhielten sie warmes Essen und durf- ten in den Räumen der Anstalt schlafen, bis sie an ihre Ver- wandten weitervermittelt werden konnten. | 13

Der Vorsteher und die Oberin waren zunächst mit dem Wiederaufbau überfordert, der neben dem laufenden Betrieb organisiert werden musste. Also holten sie sich bei verschiede-

Otto Dibelius bei der Eröffnung des Dibelius-Hauses, 1958 |(Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik)

ELI_Buch_Vers_1.indb 128 16.08.12 12:06 1945 — 1950

die Innere Station in ein neues Haus um. Es hieß Dibelius- Haus und wurde nach dem Bischof in Berlin und Brandenburg und Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland benannt. Otto Dibelius nahm selbst an der Eröffnungsfeier teil. Ab dann wohnten nur noch alte und chronisch kranke Patien- ten in dem Haus. | 12 Heute befindet sich in diesem Bau die Ver- waltung.

Die Chroniker, die Kranken auf der Inneren und der Chi- rurgischen Station sowie die Patienten der Poliklinik waren je- doch nicht die einzigen, die in den Nachkriegsjahren im Kran- kenhaus behandelt wurden. Es kamen Hunderte von Flüchtlin- gen hinzu, die den langen Weg aus Schlesien, Pommern, West- und Ostpreußen und einigen anderen Gebiete bewältigt hatten. Das Gebäude von Innerer Station und Hospitalabteilung, o.D. Sie wurden von den Ärzten zusätzlich zu ihrer sonstigen Arbeit (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) | versorgt, im Mutterhaus erhielten sie warmes Essen und durf- ten in den Räumen der Anstalt schlafen, bis sie an ihre Ver- nen Stellen Rat, unter anderem beim Geschäftsführer des Ver- wandten weitervermittelt werden konnten. | 13 eins zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser. Der Verein stellte seinen Architekten als Berater zur Verfügung, weigerte Der Vorsteher und die Oberin waren zunächst mit dem sich jedoch, dem Vorstand einen Kredit einzuräumen. | 14 Darum Wiederaufbau überfordert, der neben dem laufenden Betrieb hatte der Kuratoriumsvorsitzende, Gerhard Jacobi, den Ge- organisiert werden musste. Also holten sie sich bei verschiede- schäftsführer, Walter Schian, nämlich gebeten, denn neben Fachwissen und Erfahrung fehlte es vor allem an Geld.

Otto Dibelius bei der Eröffnung des Dibelius-Hauses, 1958 |(Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) Zusätzlich erschwert wurde die Lage durch den Geldüber- hang nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Menge an Reichsmark, die im Umlauf war, stand in keinem Verhältnis mehr zu den ge- ringen Mengen an Gütern, die man dafür erwerben konnte. Die Menschen lehnten die offizielle Währung ab und schufen Er- satzwährungen. Bezahlt wurde oft nicht mehr mit Banknoten,

Das Ausmaß der Zerstörung 129

ELI_Buch_Vers_1.indb 128 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 129 16.08.12 12:06 Potsdamer Brücke, 28.04.1952 | (Foto: Landesarchiv Berlin F Rep. 290 0018225)

sondern mit Zigaretten, Kohlen, Holz oder Wintermänteln. Für Privatleute, die Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände nur für den Eigenbedarf erwerben mussten, war der Tauschhandel, wenn auch eher schlecht als recht, möglich. Für einen Wirt - schaftsbetrieb, wie es das Elisabeth-Krankenhaus auch war, stellte er keine Alternative dar. Die Akten geben keine genauen Auskünfte darüber, woher das Krankenhaus nach dem Krieg Lebensmittel, medizinisches Gerät und Dinge des täglichen Le - bens bezog. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es all dies einerseits von Hilfsorganisationen bezog, andererseits von den britischen Behörden festgelegte Rationen per Zuteilung erhielt.

Das Haus verfügte über einige Reserven an Geldmitteln, doch waren diese nach der Währungsreform von 1948 fast wert - los. Danach erhielten Privatpersonen ein Kopfgeld in Höhe von 40 Mark, später weitere 20 Mark. Betriebe wie das Elisabeth-

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ELI_Buch_Vers_1.indb 130 16.08.12 12:06 1945 — 1950

Krankenhaus bekamen als Erstausstattung einen Betrag von 60 Mark pro Arbeitnehmer ausbezahlt. Offenbar verzögerte sich dies aber, so dass der Vorstand sich von den Diakonissen helfen las - sen musste: „Was an Bargeld auf den Konten lag, war verloren. Tagelang waren wir ohne Zahlungsmittel. Wir mussten unsere Schwestern bitten, die Hälfte ihres Kopfgeldes zur Verfügung zu stellen, damit Lebensmittel eingekauft werden konnten.“| 15

Die Sowjets verstanden die Einführung der neuen Wäh- rung in Berlin als Provokation. Sie hatten ein einheitliches Zahlungsmittel in allen vier Sektoren verlangt, was die drei

Potsdamer Brücke, 28.04.1952 Westalliierten ablehnten und die neue Mark nun allein in ihren | (Foto: Landesarchiv Berlin F Rep. 290 0018225) drei Sektoren einführten. Als Reaktion auf die Währungsreform sperrten die Sowjets am 24. Juni 1948 alle Landwege zwischen sondern mit Zigaretten, Kohlen, Holz oder Wintermänteln. Für der Westzone und den Westsektoren Berlins ab. Die Berlin-Blo - Privatleute, die Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände nur ckade begann. Binnen weniger Tage setzten die Westalliierten für den Eigenbedarf erwerben mussten, war der Tauschhandel, der Absperrung eine Versorgung mittels Flugzeugen entgegen, wenn auch eher schlecht als recht, möglich. Für einen Wirt - die als Berliner Luftbrücke in die Geschichte einging. schaftsbetrieb, wie es das Elisabeth-Krankenhaus auch war, stellte er keine Alternative dar. Die Akten geben keine genauen Während der Zeit der Notversorgung aus der Luft mussten Auskünfte darüber, woher das Krankenhaus nach dem Krieg die Ärzte und Diakonissen manche Einschränkungen hinneh- Lebensmittel, medizinisches Gerät und Dinge des täglichen Le - men. Wie gravierend die Einschnitte waren, legt ein Bericht des bens bezog. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es all dies Vorstands dar: einerseits von Hilfsorganisationen bezog, andererseits von den britischen Behörden festgelegte Rationen per Zuteilung erhielt. „In 24 Stunden gab es nur zweimal zwei Stunden Strom und Gas. Während für die Dauer einer Operation Strom besonders Das Haus verfügte über einige Reserven an Geldmitteln, angefordert werden konnte, war doch die Arbeit der Röntgen- doch waren diese nach der Währungsreform von 1948 fast wert - station, der Sterilisation, der Küche und des Waschhauses los. Danach erhielten Privatpersonen ein Kopfgeld in Höhe von äußerst eingeschränkt und behindert, zumal auch der Gasdruck 40 Mark, später weitere 20 Mark. Betriebe wie das Elisabeth- nachließ. (...) Die Lieferung von Kohlen und Koks wurde

130 Das Ausmaß der Zerstörung 131

ELI_Buch_Vers_1.indb 130 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 131 16.08.12 12:06 auf ein Drittel des Jahresdurchschnittes beschränkt. Im Winter brachten wir es in den Zimmern, auch der Kranken, auf 14 Grad. Die Ernährung be- stand im wesentlichen aus Trockenkartoffeln, Trockengemüse und Konserven. Für den Lichtstrom stellte die Englische Militärregierung ein Aggregat zur Verfügung, ein zweites kauften wir für das Hospital. Beide konnten wir wegen der begrenzten Benzinzuteilung auch nur begrenzt lau- fen lassen, aber die Dunkelheit des Winters wurde doch erhellt. Einen Vorzug genossen wir: wir mussten alle früh schlafen gehen, während über unseren Häusern in kurzen Abständen die Transportflugzeuge ihre lebens- rettende Fracht brachten. Wie atmeten wir alle auf, als es plötzlich hieß, die Blockade wäre beendet.“| 16

| 1 Walter Augustat an Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland am 27.02.1950, ADW, ZBB 2970. | 2 Harless: Krieg und Zerstörung, S. 89. | 3 Irma Carius an Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland am 09.04.1946, ADW, ZBB 2970. | 4 Ebda. | 5 Irma Carius: Einladung zur Krankenhaus-Jahresfeier 1946 ADW, ZBB 2970. | 6 Hilfswerk der Evangelischen Kirche an Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus am 06.07.1946, ADW, ZBB 2970. | 7 Walter Augustat an Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland am 27.02.1950, ADW, ZBB 2970. | 8 Herbert Hass an Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland am 26.08.1946, ADW, ZBB 2970. | 9 Walter Augustat an Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland am 27.02.1950, ADW, ZBB 2970.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 132 16.08.12 12:06 1945 — 1950

auf ein Drittel des Jahresdurchschnittes beschränkt. Im Winter brachten | 10 Walter Augustat: Neubeginn in einer neuen Zeit. Bericht über die Zeit nach dem wir es in den Zimmern, auch der Kranken, auf 14 Grad. Die Ernährung be- 2. Weltkrieg 1945 bis 1962“, in: Ders. (Hg.): 125 Jahre Elisabeth-Diakonissen- und stand im wesentlichen aus Trockenkartoffeln, Trockengemüse und Krankenhaus in Berlin, S. 100 ff. Konserven. Für den Lichtstrom stellte die Englische Militärregierung ein | 11 Herbert Hass an Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland am 26.08.1946, Aggregat zur Verfügung, ein zweites kauften wir für das Hospital. Beide ADW, ZBB 2970. konnten wir wegen der begrenzten Benzinzuteilung auch nur begrenzt lau- | 12 Augustat: Neubeginn, S. 95 f. fen lassen, aber die Dunkelheit des Winters wurde doch erhellt. Einen | 13 Herbert Hass: St. Elisabeth, Burg der Barmherzigkeit in Berlin, 1946, ADW, ZBB 2970. Vorzug genossen wir: wir mussten alle früh schlafen gehen, während über | 14 Walter Schian: Aktennotiz vom 31.07.1950, PGDArch, Elisabeth-Krankenhaus 1949-1971. unseren Häusern in kurzen Abständen die Transportflugzeuge ihre lebens- | 15 Augustat: Neubeginn, S. 96 f. rettende Fracht brachten. Wie atmeten wir alle auf, als es plötzlich hieß, | 16 Augustat: Neubeginn, S. 97 f. die Blockade wäre beendet.“| 16

| 1 Walter Augustat an Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland am 27.02.1950, ADW, ZBB 2970. | 2 Harless: Krieg und Zerstörung, S. 89. | 3 Irma Carius an Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland am 09.04.1946, ADW, ZBB 2970. | 4 Ebda. | 5 Irma Carius: Einladung zur Krankenhaus-Jahresfeier 1946 ADW, ZBB 2970. | 6 Hilfswerk der Evangelischen Kirche an Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus am 06.07.1946, ADW, ZBB 2970. | 7 Walter Augustat an Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland am 27.02.1950, ADW, ZBB 2970. | 8 Herbert Hass an Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland am 26.08.1946, ADW, ZBB 2970. | 9 Walter Augustat an Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland am 27.02.1950, ADW, ZBB 2970.

132 Das Ausmaß der Zerstörung 133

ELI_Buch_Vers_1.indb 132 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 133 16.08.12 12:06 Wiederaufbau in langsamen Schritten

Nach dem Ende der Luftbrücke erhielt das Kuratorium ein Darlehen von einer Versicherung. | 1 Damit waren immerhin kleine Bauprojekte möglich. Das Haupthaus an der Lützowstraße war zwar sehr stark zerstört. In der Mitte des Gebäudes klaffte eine große Lücke. Doch die Seitenbereiche waren im Erdgeschoss erhalten ge‑ blieben. Auf dem Grund des Haupthauses errichtete der Vorstand nun zwei Gebäu‑ de, die durch eine Einfahrt für Rettungsfahrzeuge ge‑ trennt waren.

Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus: Einweihung des neuen Kirchsaals, 1952 | (Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, Berlin)

Der erste der beiden Bauten wurde im Dezember 1952 eröffnet. Von der Lützowstraße aus gesehen lag er rechts. Er be‑ herbergte die Hauptverwaltung und den neuen Fest‑ und Kirch‑ saal und erhielt später den Namen „Gossner‑Haus“, das ur‑ sprüngliche „Gossner‑Haus“ war ohnehin zerstört. Die Predigt des Kuratoriumsvorsitzenden Gerhard Jacobi bei der Einweihung führte der Festgemeinde vor Augen, wie stark sich die An‑ staltsleitung in den Nachkriegsjahren beschränken musste: „Wir haben sparsam gebaut. Es ist ein bescheidenes Haus, das wir einweihen. Ich nehme an, dass nachher – nach der Besichtigung – nichts entdeckt wird, was als Luxus anzusprechen wäre.“| 2

Frontseite der Kirche, 26.07.1949 Foto: Landesarchiv Berlin F Rep. 290 125298 134 |

ELI_Buch_Vers_1.indb 134 16.08.12 12:06 1949 — 1954

Wiederaufbau in langsamen Schritten

Nach dem Ende der Luftbrücke erhielt das Kuratorium ein Darlehen von einer Versicherung. | 1 Damit waren immerhin kleine Bauprojekte möglich. Das Haupthaus an der Lützowstraße war zwar sehr stark zerstört. In der Mitte des Gebäudes klaffte eine große Lücke. Doch die Seitenbereiche waren im Erdgeschoss erhalten ge‑ blieben. Auf dem Grund des Haupthauses errichtete der Vorstand nun zwei Gebäu‑ de, die durch eine Einfahrt für Rettungsfahrzeuge ge‑ trennt waren.

Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus: Einweihung des neuen Kirchsaals, 1952 | (Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, Berlin)

Der erste der beiden Bauten wurde im Dezember 1952 eröffnet. Von der Lützowstraße aus gesehen lag er rechts. Er be‑ herbergte die Hauptverwaltung und den neuen Fest‑ und Kirch‑ saal und erhielt später den Namen „Gossner‑Haus“, das ur‑ sprüngliche „Gossner‑Haus“ war ohnehin zerstört. Die Predigt des Kuratoriumsvorsitzenden Gerhard Jacobi bei der Einweihung führte der Festgemeinde vor Augen, wie stark sich die An‑ staltsleitung in den Nachkriegsjahren beschränken musste: „Wir haben sparsam gebaut. Es ist ein bescheidenes Haus, das wir einweihen. Ich nehme an, dass nachher – nach der Besichtigung – nichts entdeckt wird, was als Luxus anzusprechen wäre.“| 2

Frontseite der Kirche, 26.07.1949 Foto: Landesarchiv Berlin F Rep. 290 125298 134 | Wiederaufbau in langen Schritten 135

ELI_Buch_Vers_1.indb 134 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 135 16.08.12 12:06 Neben dem Haupthaus stand die Kirche. Sie war so stark be‑ schädigt, dass sie im selben Jahr abgerissen wurde. Die Glocke holte die Feuerwehr zuvor mit einer Leiter aus 26 Metern Höhe herunter. Einige Jahre später ließ der Vorstand ein Holzgestell auf dem Gelände errichten, von dem aus sie wieder erklang.| 3

Im Folgejahr hielt sich Bundeskanzler Konrad Adenauer eine Stunde lang im Krankenhaus auf. In seinem Arbeitstage ‑ buch findet sich unter dem 23. Juni 1953 der Eintrag:

„ 13 Uhr bis 14 Uhr : Besuch einiger Verletzter im Elisabeth-Krankenhaus“ | 4.

Adenauer kam in Begleitung des Regierenden Bürger ‑ meisters Ernst Reuter, sprach mit Kranken an ihren Betten und gab Interviews.

Nach dem 17. Juni waren nämlich insgesamt 84 DDR ‑Bür‑ ger eingeliefert worden, die von Polizisten bei den Demonstra‑ tionen in Ost‑Berlin verletzt worden waren. | 5 Der Arbeiterauf‑ stand hatte einen Tag vorher begonnen. Die Bauarbeiter am Krankenhaus Friedrichshain waren eine der Gruppen, von de ‑ nen der Protest ausging. Wenige Tage später benannte der Ber ‑ liner Senat die Straße zwischen Brandenburger Tor und Sieges ‑ säule in „Straße des 17. Juni“ um. Der Bundestag erklärte kurz darauf den 17. Juni zum „Tag der deutschen Einheit“. Zwei Tage nach dem Aufenthalt Adenauers in Berlin berichtete die „Neue Zeitung“ von seinem Besuch im Elisabeth‑ Krankenhaus. Das Blatt erschien im US‑amerikanischen Sektor und wurde von der Militärverwaltung kontrolliert. Der Text informiert nicht nur

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ELI_Buch_Vers_1.indb 136 16.08.12 12:06 1949 — 1954

Neben dem Haupthaus stand die Kirche. Sie war so stark be‑ über das Ereignis selbst, sondern erinnert auch daran, dass die schädigt, dass sie im selben Jahr abgerissen wurde. Die Glocke Sowjets das Krankenhaus 1945 in Brand gesetzt hatten. | 6 Der holte die Feuerwehr zuvor mit einer Leiter aus 26 Metern Höhe Kalte Krieg und mit ihm sein Kampf um die Deutung der Ge ‑ herunter. Einige Jahre später ließ der Vorstand ein Holzgestell schichte hatten begonnen. auf dem Gelände errichten, von dem aus sie wieder erklang.| 3 Ein Jahr darauf lud die Hausleitung einige Gäste zur Er ‑ Im Folgejahr hielt sich Bundeskanzler Konrad Adenauer öffnung des zweiten Teilgebäudes ein, das den Namen „Oberin‑ eine Stunde lang im Krankenhaus auf. In seinem Arbeitstage ‑ von‑Arnim‑Haus“ erhielt und damit den Namen der Oberin, unter buch findet sich unter dem 23. Juni 1953 der Eintrag: deren Führung sich die Anstalt gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Diakonissen‑Mutterhaus entwickelt hatte. Konrad Adenauer „ 13 Uhr bis 14 Uhr : Besuch einiger Verletzter im hatte veranlasst, dass dem Haus für den Neubau 30.000 Mark 7 Elisabeth-Krankenhaus“ | 4. bewilligt wurden.| Von der Lützowstraße aus gesehen, lag es links. In dem Gebäude waren ebenerdig die Unfallstation, die Adenauer kam in Begleitung des Regierenden Bürger ‑ Poliklinik und ein Labor untergebracht, in der ersten Etage eine meisters Ernst Reuter, sprach mit Kranken an ihren Betten und Arztwohnung und die Apotheke. | 8 An das Gebäude, das bald gab Interviews. schlicht als „Arnim‑Haus“ bezeichnet wurde, schloss sich die erhalten gebliebene Privatstation des alten Krankenhausgebäu‑ Nach dem 17. Juni waren nämlich insgesamt 84 DDR ‑Bür‑ des an. Hier standen nun die Betten der Chirurgie, dazu beher ‑ ger eingeliefert worden, die von Polizisten bei den Demonstra‑ bergte es den Operationssaal und die Röntgenabteilung. tionen in Ost‑Berlin verletzt worden waren. | 5 Der Arbeiterauf‑ stand hatte einen Tag vorher begonnen. Die Bauarbeiter am | 1 Augustat: Neubeginn, S. 100 ff. Krankenhaus Friedrichshain waren eine der Gruppen, von de ‑ | 2 Gerhard Jacobi: Predigt bei der Einweihung des Kirchsaales des nen der Protest ausging. Wenige Tage später benannte der Ber ‑ Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhauses am 21. 12.1952, ADW, ZBB, 2970. liner Senat die Straße zwischen Brandenburger Tor und Sieges ‑ | 3 Augustat: Neubeginn, S. 102. säule in „Straße des 17. Juni“ um. Der Bundestag erklärte kurz | 4 Für den Hinweis danke ich Holger Loettel von der Stiftung Bundeskanzler- darauf den 17. Juni zum „Tag der deutschen Einheit“. Zwei Tage Adenauer-Haus. nach dem Aufenthalt Adenauers in Berlin berichtete die „Neue | 5 Jahresbericht vom 01.10.1952 bis 30.9.1953, ArchELI. Zeitung“ von seinem Besuch im Elisabeth‑ Krankenhaus. Das | 6 Neue Zeitung vom 25. Juni 1953. Blatt erschien im US‑amerikanischen Sektor und wurde von der | 7 Gerhard Jacobi an Konrad Adenauer am 29. 12.1953, BArch B 136/6758. Militärverwaltung kontrolliert. Der Text informiert nicht nur | 8 Jahresbericht vom 01.10.1952 bis 30.9.1953, ArchELI.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 136 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 137 16.08.12 12:06  HIELT SICH BUNDESKANZLER KONRAD ADENAUER EINE STUNDE LANG IM KRANKEN HAUS AUF. IN SEINEM ARBEITSTAGEBUCH FINDET SICH UNTER DEM . JUNI DER EIN TRAG: „  UHR BIS  UHR: BESUCH EINIGER VERLETZTER IM ELISABETHKRANKENHAUS“.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 138 16.08.12 12:06 1949 — 1954

 HIELT SICH BUNDESKANZLER KONRAD ADENAUER EINE STUNDE LANG IM KRANKEN Konrad Adenauer HAUS AUF. IN SEINEM ARBEITSTAGEBUCH und Ernst Reuter im Elisabeth-Krankenhaus, FINDET SICH UNTER DEM . JUNI DER EIN 23.06.1953 (Foto: Archiv TRAG: „  UHR BIS  UHR: BESUCH EINIGER der Evangelischen VERLETZTER IM ELISABETHKRANKENHAUS“. Elisabeth Klinik)

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ELI_Buch_Vers_1.indb 138 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 139 16.08.12 12:06 Der Rückzug der weißen Hauben

In den Obergeschossen der beiden Häuser wohnten Schwestern, im Armin-Haus zusätzlich einige Vorschülerinnen. Letztere erhielten Unterricht in Hauswirtschaftskunde, medizi- nischen Fächern und sie lernten die Stationsarbeit kennen. Der Vorstand hoffte, dass die jungen Frauen anschließend eine Ausbildung zur Krankenschwester aufnehmen und in die Schwesternschaft des Diakonissen-Mutterhauses eintreten wür- den. Die Schule warb damit, dass die Ausbildung kostenlos war und dass Aussicht auf eine anschließende Beschäftigung im Krankenhaus bestünde.

1949 lebten noch 109 berufstätige Schwestern im Mutter - haus, 19 waren bereits im Ruhestand.| 1 Damit hatte sich ihre Zahl in den vergangenen 30 Jahren etwa halbiert. Wenn diese Ent - wicklung anhielt, so befürchtete die Leitung, stand die Zukunft dessen auf dem Spiel, was man gerade unter größten Anstren- gungen wieder aufbaute. Das Elisabeth-Krankenhaus konnte nur bestehen, weil die Diakonissen aus dem Mutterhaus die

große Mehrheit der Pflege-, Verwaltungs- und Wirtschaftsstel - Sr. Magdalene Riedel, o.D. len besetzten. Umgekehrt hing die Existenz des Mutterhauses (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) | davon ab, dass die Schwestern im Krankenhaus Arbeit fanden.

Der Hausvorsteher des Mutterhauses verdeutlichte 1954, welche Vorteile ein Leben als Diakonisse im Gegensatz zu einer Frau in einem üblichen Angestelltenverhältnis mit sich bringen würden: „Hier braucht niemand arbeitslos sich nach einer Stel - lung umsehen. Auch für den, der nicht mehr voll arbeitsfähig ist, gibt es eine geeignete Tätigkeit. Hier kann jeder wirken mit

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ELI_Buch_Vers_1.indb 140 16.08.12 12:06 ab 1945

Der Rückzug der weißen Hauben den Kräften, die ihm gegeben sind, und an dem Platz, der ihm nach bestem Ermessen zuteil ward.“| 2 In den Obergeschossen der beiden Häuser wohnten Schwestern, im Armin-Haus zusätzlich einige Vorschülerinnen. Es wurde immer deutlicher, dass sich für dieses Lebens - Letztere erhielten Unterricht in Hauswirtschaftskunde, medizi- modell immer weniger Frauen interessierten. Diese Entwicklung nischen Fächern und sie lernten die Stationsarbeit kennen. vollzog sich in zwei Schritten. Nach Kriegsende war die Zahl der Der Vorstand hoffte, dass die jungen Frauen anschließend eine Eintritte noch relativ konstant. Im Laufe der Zeit aber lernten Ausbildung zur Krankenschwester aufnehmen und in die viele der ausgebildeten Schwestern Männer kennen, mit denen Schwesternschaft des Diakonissen-Mutterhauses eintreten wür- sie ein gemeinsames Leben verbringen wollten. Nach vier bis den. Die Schule warb damit, dass die Ausbildung kostenlos war fünf Jahren wurden sie „weggeheiratet“ und verließen damit und dass Aussicht auf eine anschließende Beschäftigung im nicht nur die Schwesternschaft, sondern gaben allzu oft auch Krankenhaus bestünde. ihren Beruf auf. | 3 In der zweiten Phase, die danach einsetzte, gingen die Eintritte spürbar zurück. 1949 lebten noch 109 berufstätige Schwestern im Mutter - haus, 19 waren bereits im Ruhestand.| 1 Damit hatte sich ihre Zahl Für den Nachwuchsmangel des Mutterhauses war mitver- in den vergangenen 30 Jahren etwa halbiert. Wenn diese Ent - antwortlich, dass Deutschland weite Gebiete im Osten verloren wicklung anhielt, so befürchtete die Leitung, stand die Zukunft hatte. Aus den ländlichen Gegenden jenseits der Oder-Neiße- dessen auf dem Spiel, was man gerade unter größten Anstren- Linie stammten bislang viele der Anwärterinnen. Eine von ihnen gungen wieder aufbaute. Das Elisabeth-Krankenhaus konnte heißt Schwester Magdalene Riedel. nur bestehen, weil die Diakonissen aus dem Mutterhaus die große Mehrheit der Pflege-, Verwaltungs- und Wirtschaftsstel - Sr. Magdalene Riedel, o.D. len besetzten. Umgekehrt hing die Existenz des Mutterhauses (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) | davon ab, dass die Schwestern im Krankenhaus Arbeit fanden.

Der Hausvorsteher des Mutterhauses verdeutlichte 1954, welche Vorteile ein Leben als Diakonisse im Gegensatz zu einer Frau in einem üblichen Angestelltenverhältnis mit sich bringen würden: „Hier braucht niemand arbeitslos sich nach einer Stel - lung umsehen. Auch für den, der nicht mehr voll arbeitsfähig ist, gibt es eine geeignete Tätigkeit. Hier kann jeder wirken mit

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ELI_Buch_Vers_1.indb 140 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 141 16.08.12 12:06 „AUS DEM GLAUBEN AN DEN HERRN, DER SICH FÜR UNS GEOPFERT HAT, SOLL AUCH DIE DIAKONISSE SICH OPFERN. SIE OPFERT SICH IN MANNIGFACHER BEZIEHUNG. SIE BEAN- SPRUCHT NICHT DEN TARIFLOHN, SIE TRÄGT UNABLÄSSIG (AUCH AUF URLAUB) DIE TRACHT, DIE IHR UNWILLKÜRLICH MANCHEN VERZICHT AUFERLEGT, UND NICHT NUR DEN VERZICHT AUF DIE MODE, VOR ALLEM OPFERT SIE SICH FÜR IHRE KRANKEN.“

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„AUS DEM GLAUBEN AN DEN HERRN, DER SICH FÜR UNS GEOPFERT HAT, SOLL AUCH DIE DIAKONISSE SICH OPFERN. SIE OPFERT SICH IN MANNIGFACHER BEZIEHUNG. SIE BEAN- SPRUCHT NICHT DEN TARIFLOHN, SIE TRÄGT UNABLÄSSIG (AUCH AUF URLAUB) DIE TRACHT, DIE IHR UNWILLKÜRLICH MANCHEN VERZICHT AUFERLEGT, UND NICHT NUR DEN VERZICHT AUF DIE MODE, VOR ALLEM OPFERT SIE SICH FÜR IHRE KRANKEN.“ Diakonissen beim Musizieren an einem Adventsabend, 1957 (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) 142 Der Rückzug der weißen Hauben 143

ELI_Buch_Vers_1.indb 142 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 143 16.08.12 12:06 Sie wurde im niederschlesischen Liegnitz, dem heutigen Legni- ca, geboren und kam als Flüchtling ins Elisabeth-Diakonissen- mutterhaus. Dort trat sie als Probeschwester ein und arbeitete zunächst in der Küche, weil sie gelernte Diätassistentin war. Nach einiger Zeit begann sie am Virchow-Klinikum eine Kran- kenschwester-Ausbildung und wechselte nach dem Examen in die chirurgische Station. Auf Frauen aus Schlesien und Ostpreu- ßen, aus Pommern und Danzig konnte man nach 1945 nicht mehr hoffen. Erschwerend kam seit dem 13. August 1961 hinzu, dass auch aus der DDR kein Nachwuchs mehr zu erwarten war. Aus dem übrigen Bundesgebiet zogen aber bereits vorher kaum noch junge Frauen nach West-Berlin, um in das Mutter - haus einzutreten. Eine der wenigen war Schwester Brigitte von Below. In Ostpreußen geboren, zog sie als Kind mit ihrer Familie nach Ostwestfalen. Dort betrieben ihre Eltern, die acht Kinder hatten, einen landwirtschaftlichen Betrieb. 1953 besuchte eine Diakonisse von der Lützowstraße die Familie. Die junge Brigitte von Below ließ sich von den Erzählungen der Schwester begeis - tern, die im Operationssaal tätig war. Kurze Zeit später verließ sie den Hof und trat in das Elisabeth-Diakonissenmutterhaus ein.

Ohne Unterlass warb der Kuratoriumsvorsitzende Gerhard Jacobi in den 1960er Jahren für den Eintritt in das Mutterhaus. Dabei appellierte er an Werte, mit denen sich viele junge Frau - en offenbar nicht mehr identifizieren wollten:

„Aus dem Glauben an den Herrn, der sich für uns geopfert hat, soll auch die Diakonisse sich opfern. Sie opfert sich in mannigfacher Beziehung. Sie beansprucht nicht den Tariflohn, sie trägt unablässig (auch auf Urlaub) die

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ELI_Buch_Vers_1.indb 144 16.08.12 12:06 ab 1945

Sie wurde im niederschlesischen Liegnitz, dem heutigen Legni- Tracht, die ihr unwillkürlich manchen Verzicht auferlegt, und nicht nur ca, geboren und kam als Flüchtling ins Elisabeth-Diakonissen- den Verzicht auf die Mode, vor allem opfert sie sich für ihre Kranken. mutterhaus. Dort trat sie als Probeschwester ein und arbeitete (...) Als ich einmal im Elisabeth-Krankenhaus als Patient lag, war es mir, zunächst in der Küche, weil sie gelernte Diätassistentin war. dem Vorsitzenden des Kuratoriums, nicht möglich, die Stationsschwester Nach einiger Zeit begann sie am Virchow-Klinikum eine Kran- um 19.30 Uhr von der Station fortzuschicken. Sie ging noch bis 20.30 Uhr, kenschwester-Ausbildung und wechselte nach dem Examen in gar nicht selten bis 21.00 Uhr, von einem Krankenbett zum andern, ob- die chirurgische Station. Auf Frauen aus Schlesien und Ostpreu- wohl sie um 5.45 Uhr aufstand. Die Diakonisse verzehrt sich! Heute sicher - ßen, aus Pommern und Danzig konnte man nach 1945 nicht lich noch mehr als zu Fliedners Zeiten, weil die freien Schwestern nach mehr hoffen. Erschwerend kam seit dem 13. August 1961 hinzu, achtstündiger Dienstzeit aus dem Hause entlassen werden müssen.“| 4 dass auch aus der DDR kein Nachwuchs mehr zu erwarten war. Aus dem übrigen Bundesgebiet zogen aber bereits vorher Doch ohne diese freien Schwestern konnte der Kranken- kaum noch junge Frauen nach West-Berlin, um in das Mutter - hausbetrieb nicht aufrechterhalten werden. Bereits 1955 gelang haus einzutreten. Eine der wenigen war Schwester Brigitte von es nicht, die Führung einer Pflegestation neu zu besetzen, deren Below. In Ostpreußen geboren, zog sie als Kind mit ihrer Familie bisherige Leiterin verstorben war. | 5 Es kündigte sich an, dass nach Ostwestfalen. Dort betrieben ihre Eltern, die acht Kinder sich dies in Zukunft oft wiederholen hatten, einen landwirtschaftlichen Betrieb. 1953 besuchte eine würde. Also stellte man nun auch Diakonisse mit Hund „Purzel“, Diakonisse von der Lützowstraße die Familie. Die junge Brigitte Schwestern ein, die nicht der Schwe - um 1957 (Foto: Archiv der | von Below ließ sich von den Erzählungen der Schwester begeis - sternschaft der Diakonissen angehör- Evangelischen Elisabeth Klinik) tern, die im Operationssaal tätig war. Kurze Zeit später verließ sie ten, und bot ihnen sogar ein günsti- den Hof und trat in das Elisabeth-Diakonissenmutterhaus ein. ges Apartment in einem Wohnheim an, das im Oktober 1962 eröffnet wur - Ohne Unterlass warb der Kuratoriumsvorsitzende Gerhard de. Unter seinem Dach lebten fortan Jacobi in den 1960er Jahren für den Eintritt in das Mutterhaus. sowohl freie Arbeitskräfte als auch pen- Dabei appellierte er an Werte, mit denen sich viele junge Frau - sionierte Diakonissen miteinander. Bei en offenbar nicht mehr identifizieren wollten: der nächsten Erhebung im Jahr 1964 gehörten dem Mutterhaus nur noch „Aus dem Glauben an den Herrn, der sich für uns geopfert hat, soll auch 85 Diakonissen an. 37 von ihnen lebten die Diakonisse sich opfern. Sie opfert sich in mannigfacher Beziehung. Sie im Ruhestand, 34 der sogenannten beansprucht nicht den Tariflohn, sie trägt unablässig (auch auf Urlaub) die weißen Hauben arbeiteten im Kran- kenhaus.| 6

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ELI_Buch_Vers_1.indb 144 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 145 16.08.12 12:06 Die Verwaltung des Krankenhauses schloss immer mehr Arbeitsverträge mit zivilen Krankenschwestern ab. Kurz nach dem 125-jährigen Jubiläum des Hauses 1962 fassten die Verant - wortlichen daher den Beschluss, dieser unaufhaltsamen Ent- wicklung Rechnung zu tragen und den Posten des Vorstehers der Diakonissen nicht neu zu besetzen. Dieser war bislang in alle Entscheidungen, die den Krankenhausbetrieb betrafen, eingebunden. Er repräsentierte jedoch immer weniger Mitar - beiter. Die administrativen Aufgaben im Krankenhaus sollten künftig allein in den Händen eines Verwaltungsleiters liegen. Auch die Oberin war fortan nicht mehr kraft ihres Amtes gleich- zeitig leitende Krankenschwester. Im Krankenhaus wurde mit der Pflegedirektion eine neue Stelle geschaffen.| 7 Zusammen mit dem leitenden Arzt und dem Verwaltungsleiter bildete die Pflegedirektorin künftig den Krankenhausvorstand. So schmerz- lich dies für viele Diakonissen auf der einen Seite auch war, so Gewinn bringend war es auf der anderen. Endlich konnten sich die jüngeren von ihnen um die betagten Feierabendschwestern kümmern, welche die berufstätigen Diakonissen ab Mitte der 1960er Jahre zahlenmäßig übertrafen. Von den 64 Schwestern des Mutterhauses waren 1968 bereits 52 über 65 Jahre alt.| 8

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Die Verwaltung des Krankenhauses schloss immer mehr | 1 Fragebogen des Central-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Arbeitsverträge mit zivilen Krankenschwestern ab. Kurz nach Evangelischen Kirche an die Mutterhäuser und Schwesternschaften der Ostzone vom dem 125-jährigen Jubiläum des Hauses 1962 fassten die Verant - 10.02.1949, ADW, CA, Stat. Slg. 571. wortlichen daher den Beschluss, dieser unaufhaltsamen Ent- | 2 Jahresbericht vom 01.10.1953 bis 30.09.1954, ArchELI. wicklung Rechnung zu tragen und den Posten des Vorstehers | 3 Susanne Kreutzer: Vom „Liebesdienst“ zum modernen Frauenberuf. Die Reform der der Diakonissen nicht neu zu besetzen. Dieser war bislang Krankenpflege nach 1945, Frankfurt/Main, New York, S. 28. in alle Entscheidungen, die den Krankenhausbetrieb betrafen, | 4 Gerhard Jacobi: Die Mutterhaus-Diakonie 1837 und 1962, in: Augustat (Hg.): eingebunden. Er repräsentierte jedoch immer weniger Mitar - 125 Jahre Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus in Berlin, S. 13-39, hier: S. 15. beiter. Die administrativen Aufgaben im Krankenhaus sollten | 5 Jahresbericht 1955, ELAB 1/531. künftig allein in den Händen eines Verwaltungsleiters liegen. | 6 Ebda. Auch die Oberin war fortan nicht mehr kraft ihres Amtes gleich- | 7 Stiftung Elisabeth-Diakonissen-und Krankenhaus (Hg.): 150 Jahre (1837-1987) zeitig leitende Krankenschwester. Im Krankenhaus wurde mit Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus, Berlin 1987, S. 36. der Pflegedirektion eine neue Stelle geschaffen.| 7 Zusammen | 8 Walter Schian und Dietrich von Grunelius an Evangelisches Konsistorium am 12.12.1968, mit dem leitenden Arzt und dem Verwaltungsleiter bildete die ELAB 1/531. Pflegedirektorin künftig den Krankenhausvorstand. So schmerz- lich dies für viele Diakonissen auf der einen Seite auch war, so Gewinn bringend war es auf der anderen. Endlich konnten sich die jüngeren von ihnen um die betagten Feierabendschwestern kümmern, welche die berufstätigen Diakonissen ab Mitte der 1960er Jahre zahlenmäßig übertrafen. Von den 64 Schwestern des Mutterhauses waren 1968 bereits 52 über 65 Jahre alt.| 8

146 Der Rückzug der weißen Hauben 147

ELI_Buch_Vers_1.indb 146 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 147 16.08.12 12:06 Zwei Schwestern beim Musizieren, um 1980 (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik)

ENDLICH KONNTEN SICH DIE JÜNGEREN UM DIE BETAGTEN FEIERABENDSCHWESTERN KÜMMERN. VON DEN 64 DIAKONISSEN DES MUTTERHAUSES WAREN 1968 BEREITS 52 ÜBER 65 JAHRE ALT.

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Zwei Schwestern beim Musizieren, um 1980 (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik)

ENDLICH KONNTEN SICH DIE JÜNGEREN UM DIE BETAGTEN FEIERABENDSCHWESTERN KÜMMERN. VON DEN 64 DIAKONISSEN DES MUTTERHAUSES WAREN 1968 BEREITS 52 ÜBER 65 JAHRE ALT.

148 Der Rückzug der weißen Hauben 149

ELI_Buch_Vers_1.indb 148 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 149 16.08.12 12:06 Mehmet Türkers lange Reise an die Spree

Das Krankenhaus suchte nun für alle Arbeitsbereiche zi- vile Mitarbeiter. Ihre Zahl war Ende der 1960er Jahre in West- Berlin allerdings sehr begrenzt. Mit Zuzügen aus dem restlichen Bundesgebiet war nicht zu rechnen, sie blieben die Ausnahme. Dieses Problem betraf nicht nur Krankenhäuser, sondern auch Industrieunternehmen. Aus diesem Grund warb der Senat nun verstärkt Menschen aus anderen Staaten an. Besonders hoch war der Anteil der in West-Berlin arbeitenden Türken. Dies lag daran, dass West-Berlin erst später als die übrigen Länder der Bundesrepublik Arbeiter aus dem Ausland anwarb. Die ande - ren Regierungen hatten sich auf Menschen aus Italien, Grie - chenland und Spanien konzentriert. Das Reservoir an Arbeits - kräften aus diesen Staaten war bereits nahezu erschöpft, als Ber- lin sich zur systematischen Anwerbung entschloss. Der Senat bemühte sich daher um Jugoslawen, vor allem aber um Türken. Um diesen die Arbeit in Berlin reizvoll zu machen, verlängerte

Mehmet, Evren und Schükran Türker (v.l.n.r.), 2010 | (Foto: Mehmet Türker )

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Mehmet Türkers lange Reise an die Spree die Berliner Regierung die Geltungsdauer der Arbeitserlaub - nisse, die zunächst für nur ein Jahr bestand. Viele sogenannte Das Krankenhaus suchte nun für alle Arbeitsbereiche zi- Gastarbeiter reagierten auf diese Ausweitung, indem sie ihre vile Mitarbeiter. Ihre Zahl war Ende der 1960er Jahre in West- Familien nachkommen ließen. | 1 Dies hatte auch Auswirkungen Berlin allerdings sehr begrenzt. Mit Zuzügen aus dem restlichen auf die Sozialstruktur der Berliner Bevölkerung insgesamt, wie Bundesgebiet war nicht zu rechnen, sie blieben die Ausnahme. der Historiker Wolfgang Ribbe zeigen konnte: „Da mehr als 40 Dieses Problem betraf nicht nur Krankenhäuser, sondern auch Prozent der Türken und Griechen, fast 30 Prozent der Jugosla- Industrieunternehmen. Aus diesem Grund warb der Senat nun wen und fast 20 Prozent der Spanier mit ihren Ehepartnern verstärkt Menschen aus anderen Staaten an. Besonders hoch in Berlin lebten, war bereits 1971 jedes fünfte in West-Berlin war der Anteil der in West-Berlin arbeitenden Türken. Dies lag geborene Kind von ausländischen Eltern. | 2 daran, dass West-Berlin erst später als die übrigen Länder der Bundesrepublik Arbeiter aus dem Ausland anwarb. Die ande - Von dem Angebot aus Berlin erfuhr Mehmet Türker als ren Regierungen hatten sich auf Menschen aus Italien, Grie - er 18 Jahre alt war. Er lebte im türkischen Turgutlu, nahe der chenland und Spanien konzentriert. Das Reservoir an Arbeits - Hafenstadt Izmir. Dort wurde er darauf aufmerksam, dass das kräften aus diesen Staaten war bereits nahezu erschöpft, als Ber- Berliner Arbeitsamt Arbeitskräfte aus seinem Land nach Berlin lin sich zur systematischen Anwerbung entschloss. Der Senat holen wollte. Der junge Mann folgte dem Ruf und flog nach Ber- bemühte sich daher um Jugoslawen, vor allem aber um Türken. lin-Tempelhof. Kurz darauf fand er eine Anstellung als Schwei- Um diesen die Arbeit in Berlin reizvoll zu machen, verlängerte ßer in einem Betrieb in Berlin-Kreuzberg. Doch nach wenigen Jahren in Berlin erhielt er 1972 seine Einberufung und musste

Mehmet, Evren und Schükran Türker (v.l.n.r.), 2010 in die Heimat zurückkehren. Den Militärdienst verbrachte er | (Foto: Mehmet Türker ) als Funker. 1974 flog er wieder nach Deutschland und erhielt die Nachricht, dass die Firma in Kreuzberg seine Wiedereinstel - lung ablehnte, obwohl die Geschäftsführung ihm vor seinem Weggang das Gegenteil versprochen hatte. Türker war arbeits - los. Im selben Jahr besetzten türkische Streitkräfte Nordzypern. Aus diesem Grund erhielt Türker seine zweite Einberufung. Doch diesmal verweigerte er den Militärdienst. Mehr als ein Jahr lang suchte er eine neue Stelle in Berlin und fand sie schließlich in der technischen Abteilung des Elisabeth-Krankenhauses. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete seine Mutter dort bereits in der Kü -

150 Mehmet Türkers lange Reise an die Spree 151

ELI_Buch_Vers_1.indb 150 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 151 16.08.12 12:06 che und seine Schwester absolvierte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Der Verwaltungsleiter, Jens-Martin Rudloff, hatte sich erfolgreich um seine Familie und weitere Gastar - beiter bemüht. Die zweite Schwester zog bald ebenfalls nach und nahm ebenfalls im Elisabeth-Krankenhaus eine Schwestern- ausbildung auf. 1975 lernte Mehmet Türker in einem öffentli- chen Stadtbus seine spätere Frau kennen, die als eine der vielen ausländischen Arbeiterinnen bei Siemens und damit in einem Industriebetrieb ihr Geld verdienten. Auch sie war Türkin. Die beiden heirateten und bekamen zwei Kinder. Türker begegne - te bei seiner Arbeit im Elisabeth-Krankenhaus immer wieder südkoreanischen Krankenschwestern. Denn speziell für die Be - setzung von Stellen im Pflegebereich suchte das Arbeitsamt dort nach ausgebildeten Krankenschwestern. So konnte das Elisa- beth-Krankenhaus einige Schwestern aus Asien einstellen.

| 1 Wolfgang Ribbe: Vom Vier-Mächte-Regime zur Bundeshauptstadt (1945-2000), in: Ders. (Hg.): Geschichte Berlins, Bd. 2: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, Berlin 2002, S. 1027-1210, hier: S. 1165 f. | 2 Ebda.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 152 16.08.12 12:06 1969 — 1976

che und seine Schwester absolvierte eine Ausbildung zur Die Kosten des Älterwerdens Krankenschwester. Der Verwaltungsleiter, Jens-Martin Rudloff, hatte sich erfolgreich um seine Familie und weitere Gastar - Für die Hausleitung des Krankenhauses bedeutete die Be - beiter bemüht. Die zweite Schwester zog bald ebenfalls nach schäftigung der ausländischen Mitarbeiter eine große Erleich- und nahm ebenfalls im Elisabeth-Krankenhaus eine Schwestern- terung. Endlich konnte man die Lücke, die durch den Rückzug ausbildung auf. 1975 lernte Mehmet Türker in einem öffentli- der Diakonissen aus dem Krankenhausbetrieb entstanden war, chen Stadtbus seine spätere Frau kennen, die als eine der vielen wieder füllen. Sorgen bereiteten dem Kuratorium allerdings die ausländischen Arbeiterinnen bei Siemens und damit in einem Altersversorgung der Diakonissen. Bislang erhielt das Mutter- Industriebetrieb ihr Geld verdienten. Auch sie war Türkin. Die haus vom Krankenhaus Geld für die Arbeit der Schwestern. beiden heirateten und bekamen zwei Kinder. Türker begegne - Hauptsächlich mit diesem Stationsgeld finanzierte das Mutter - te bei seiner Arbeit im Elisabeth-Krankenhaus immer wieder haus seinen Betrieb. Die Einnahmen wurden für die Unterbrin- südkoreanischen Krankenschwestern. Denn speziell für die Be - gung und Verpflegung der seiner Schwestern verwendet, denen setzung von Stellen im Pflegebereich suchte das Arbeitsamt dort ein kleines Taschengeld bezahlt wurde, sowie für die Pflege der nach ausgebildeten Krankenschwestern. So konnte das Elisa- kranken und nicht mehr arbeitsfähigen Schwestern. Dadurch, beth-Krankenhaus einige Schwestern aus Asien einstellen. dass die Zahl der im Krankenhaus tätigen Diakonissen abnahm, verringerte sich nun entsprechend das eingenommene Stations - geld. Dieser Zustand musste binnen weniger Jahre zu großen Schwierigkeiten führen. Die Leitung des Mutterhauses stell - | 1 Wolfgang Ribbe: Vom Vier-Mächte-Regime zur Bundeshauptstadt (1945-2000), te sich nun die Frage, wie sie in Zukunft die Altersversorgung in: Ders. (Hg.): Geschichte Berlins, Bd. 2: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, der Feierabendschwestern gewährleisten könne. Doch nicht Berlin 2002, S. 1027-1210, hier: S. 1165 f.

| 2 Ebda. Diakonissen beim Spaziergang, um 1980 (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) |

152 Die Kosten des Älterwerdens 153

ELI_Buch_Vers_1.indb 152 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 153 16.08.12 12:06 nur die Versorgung der alten Schwestern beschäftigte die Ver - antwortlichen. Der Kuratoriumsvorsitzende, Dieter von Grune - lius, gestand ein, dass „es schon heute sehr schwierig und in absehbarer Zeit völlig unmöglich [sei], dem Haus durch diese Diakonissen eine besondere Prägung noch zu geben.“| 1 In ei- ner Sitzung des Kuratoriums fasste man daher den Beschluss, nach einer Einrichtung zu suchen, in deren Hände man die Lei- tung des Krankenhauses legen könnte und die auch für die Ver - antwortung für die Altersbezüge der pensionierten Schwestern übernehmen würde. Der Kuratoriumsvorsitzende wandte sich deshalb an den Verein zur Errichtung evangelischer Kranken- häuser, dessen Vorstand das Elisabeth-Krankenhaus bereits beim Wiederaufbau unterstützt hatte. Der Geschäftsführer des Vereins, Walter Schian, erlebte zu dieser Zeit mit, wie eines der bekanntesten evangelischen Krankenhäuser der Stadt schlie - ßen musste. Das Krankenhaus Bethanien, dem ebenfalls ein Diakonissen-Mutterhaus angeschlossen war, sollte stillgelegt werden. Der Schwesternmangel war auch dort einer der Gründe für die Schließung des Hauses. Ein solcher Vorgang dürfe sich nicht wiederholen, forderte Schian. Er sagte, dass,

„wenn schon die kirchliche Seite unter dem Zwang der Verhältnisse sich entschlossen habe, das Krankenhaus Bethanien mit 400 Betten aufzugeben, die Aufgabe eines weiteren evangelischen Krankenhauses eine Krise in der evangelischen Krankenhausarbeit heraufbeschwören würde und von Seiten des Senates weitgehende Folgen haben könnte.“| 2

Schian sprach sich also grundsätzlich dafür aus, dass der Verein die Leitung des Elisabeth-Krankenhauses übernehmen sollte. Allerdings waren sich beide Seiten darin einig, dass die

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ELI_Buch_Vers_1.indb 154 16.08.12 12:06 1969 — 1976

nur die Versorgung der alten Schwestern beschäftigte die Ver - Altersversorgung der Feierabendschwestern „ein erhebliches antwortlichen. Der Kuratoriumsvorsitzende, Dieter von Grune - wirtschaftliches Risiko“ darstellte, das der Verein nicht tragen lius, gestand ein, dass „es schon heute sehr schwierig und in konnte. Man beschloss daher, die evangelische Kirche von Ber - absehbarer Zeit völlig unmöglich [sei], dem Haus durch diese lin und Brandenburg um eine Garantieerklärung zu bitten. Diakonissen eine besondere Prägung noch zu geben.“| 1 In ei- Wichtig war den Beteiligten des Mutterhauses und des Vereins ner Sitzung des Kuratoriums fasste man daher den Beschluss, dabei, dass die alten Schwestern an der Lützowstraße woh- nach einer Einrichtung zu suchen, in deren Hände man die Lei- nen bleiben durften.| 3 Die Gespräche mit der Kirchenbehörde tung des Krankenhauses legen könnte und die auch für die Ver - nahmen einige Zeit in Anspruch. Im Jahr 1970 erklärte sich das antwortung für die Altersbezüge der pensionierten Schwestern Konsistorium schließlich dazu bereit, für die Altersversorgung übernehmen würde. Der Kuratoriumsvorsitzende wandte sich der Diakonissen aufzukommen. Nun stand auch einer langfris - deshalb an den Verein zur Errichtung evangelischer Kranken- tigen Kooperation zwischen dem Verein und dem Krankenhaus häuser, dessen Vorstand das Elisabeth-Krankenhaus bereits nichts mehr im Wege. 1969 hatten beide Parteien einen kurz - beim Wiederaufbau unterstützt hatte. Der Geschäftsführer des fristigen Betriebsführungsvertrag unterzeichnet, der 1970 auf Vereins, Walter Schian, erlebte zu dieser Zeit mit, wie eines der 15 Jahre verlängert wurde. Damit verpflichtete sich der Ver - bekanntesten evangelischen Krankenhäuser der Stadt schlie - ein, Behandlung und Pflege der Patienten, die Verwaltung, die ßen musste. Das Krankenhaus Bethanien, dem ebenfalls ein Besetzung von Leitungsfunktionen und die Finanzierung von Diakonissen-Mutterhaus angeschlossen war, sollte stillgelegt Bauprojekten zu gewährleisten. Die Vertragspartner vereinbar- werden. Der Schwesternmangel war auch dort einer der Gründe ten außerdem, dass das Amt des Kuratoriumsvorsitzenden der für die Schließung des Hauses. Ein solcher Vorgang dürfe sich Stiftung künftig ein Vorstandsmitglied des Vereins innehaben nicht wiederholen, forderte Schian. Er sagte, dass, sollte.| 4 Denn das Elisabeth-Krankenhaus ging dadurch nicht in das Eigentum des Vereins über, sondern bestand als eigen- „wenn schon die kirchliche Seite unter dem Zwang der Verhältnisse sich ständige „Stiftung Elisabeth-Diakonissen- und Krankenhaus“ entschlossen habe, das Krankenhaus Bethanien mit 400 Betten weiter. aufzugeben, die Aufgabe eines weiteren evangelischen Krankenhauses eine Krise in der evangelischen Krankenhausarbeit heraufbeschwören Der erste Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung wurde würde und von Seiten des Senates weitgehende Folgen haben könnte.“| 2 Pastor Eckhard Kutzer. In seine Amtszeit fiel die Verabschie - dung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes im Jahr 1972. Das Schian sprach sich also grundsätzlich dafür aus, dass der Bundesgesetz sah vor, dass der Staat künftig für Neu- und Um- Verein die Leitung des Elisabeth-Krankenhauses übernehmen bauten derjenigen Krankenhäuser aufkommen müsse, die er sollte. Allerdings waren sich beide Seiten darin einig, dass die in seinen Bedarfsplan aufgenommen hatte. Die Pläne wurden

154 Die Kosten des Älterwerdens 155

ELI_Buch_Vers_1.indb 154 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 155 16.08.12 12:06 für jedes Bundesland einzeln angelegt. In die Liste für West- Berlin schrieb der Gesundheitssenator die Namen aller Häuser mit Bettenzahlen und Spezialisierungen, die er als unverzicht - bar für die Versorgung der Berliner Bevölkerung einstufte. Das Elisabeth-Krankenhaus gehörte dazu. Vor Verabschiedung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes gestaltete sich die Finan- zierung von Großprojekten ganz anders. Für Baumaßnahmen hatte die Krankenhausleitung einzelne Anträge an den Senat sowie an private und öffentliche Stiftungen stellen müssen und nicht voraussehen können, ob das Projekt bewilligt werden würde oder nicht. Diese Unsicherheit wich nun der Gewissheit, dass die öffentliche Hand die nötigen Bauprojekte fördern wür - de. Mithilfe der Gelder konnte das Haus 1976 zum Beispiel eine neue Abteilung für Intensivmedizin einrichten.

| 1 Protokoll der Vorstandssitzung vom 20.09.1968, ArchPGD, Vorstands-Protokolle 01.01.1960-31.12.1970. | 2 Ebda. | 3 Herbert Jagow an Evangelisches Konsistorium am 06.11.1968, ArchPGD, Elisabeth-Krankenhaus 1949-1971. | 4 Protokoll der Vorstands-Sitzung vom 29.11.1972, , ArchPGD, Protokolle 01.01.1971-31.12.1972.

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für jedes Bundesland einzeln angelegt. In die Liste für West- Drohende Stilllegung Berlin schrieb der Gesundheitssenator die Namen aller Häuser mit Bettenzahlen und Spezialisierungen, die er als unverzicht - Die Sicherheit, die das neue Gesetz der Hausleitung und bar für die Versorgung der Berliner Bevölkerung einstufte. Das den Angestellten verschaffte, war allerdings nur von kurzer Elisabeth-Krankenhaus gehörte dazu. Vor Verabschiedung des Dauer. Denn fünf Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes Krankenhausfinanzierungsgesetzes gestaltete sich die Finan- und der Bekanntgabe des ersten Bedarfsplans erhielt Eckhard zierung von Großprojekten ganz anders. Für Baumaßnahmen Kutzer die Vorlage für einen neuen Plan. Laut diesem Schrift - hatte die Krankenhausleitung einzelne Anträge an den Senat stück sollten im Elisabeth-Krankenhaus künftig nur noch chro - sowie an private und öffentliche Stiftungen stellen müssen und nisch Kranke behandelt werden. Alle Akutabteilungen wie In- nicht voraussehen können, ob das Projekt bewilligt werden nere Medizin und Chirurgie sollten geschlossen werden. Den würde oder nicht. Diese Unsicherheit wich nun der Gewissheit, Verantwortlichen war klar, dass die Umsetzung der Vorlage dass die öffentliche Hand die nötigen Bauprojekte fördern wür - zur Stilllegung der Bereiche führen müsste. Ohne die Förde - de. Mithilfe der Gelder konnte das Haus 1976 zum Beispiel eine rung aus Steuergeldern würden die Abteilungen nicht über - neue Abteilung für Intensivmedizin einrichten. leben können. Die Nachricht vom neuen Planentwurf ereilte die Kuratoriumsmitglieder am 10. Februar 1977. Eine Woche spä- ter protestierte der Verband evangelischer Krankenhäuser in | 1 Protokoll der Vorstandssitzung vom 20.09.1968, ArchPGD, Vorstands-Protokolle Absprache mit der Hausleitung gegen die Planungen. Im März 01.01.1960-31.12.1970. sprachen Kuratoren mit einigen hohen Mitarbeitern des Ge - | 2 Ebda. sundheitssenators und baten sie, das Vorhaben zu überdenken. | 3 Herbert Jagow an Evangelisches Konsistorium am 06.11.1968, ArchPGD, Doch auch die Appelle des Kuratoriums konnten die beteiligten Elisabeth-Krankenhaus 1949-1971. Politiker nicht umstimmen. Anfang des nächsten Jahres setzte | 4 Protokoll der Vorstands-Sitzung vom 29.11.1972, , ArchPGD, der Senat seine Überlegungen in die Tat um. Im Februar 1982 Protokolle 01.01.1971-31.12.1972. gab die Berliner Regierung einen neuen Bedarfsplan bekannt, der dem Elisabeth-Krankenhaus tatsächlich nur 120 Betten für Chroniker zugestand. Der Senat blieb also bei seiner Entschei- dung, obwohl 1979 eine Bäderabteilung im Haus eröffnet wur - de, die er mit sechs Millionen Mark gefördert hatte. | 1

Kurz danach traf sich das Kuratorium erneut mit einigen Politikern. Diesmal kam man allerdings nicht mit Vertretern

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ELI_Buch_Vers_1.indb 156 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 157 16.08.12 12:06 des Gesundheitssenators Erich Pätzold von der SPD zusam- men, sondern mit Abgeordneten der CDU und der FDP. Unter ihnen war auch der spätere Regierende Bürgermeister, Eber - hard Diepgen. Der Grund dafür, diese Politiker zu einem Ge - spräch einzuladen, war der Wunsch, dass „eventuell neue Kon- stellationen in der Gesundheitspolitik zu völlig anderen Pla- nungsergebnissen führen könnten.“| 2

Bei diesem Treffen vereinbarte man unter anderem, den Vorsitzenden des Verbands evangelischer Krankenanstalten

darum zu bitten, die Hausleitung des evangelischen Johannes - Peter Reeg protestiert vor dem Krankenhaus, 1977 stifts in Berlin-Spandau zu kontaktieren. Dort wurde zu dieser (Foto: Archiv der Paul Gerhardt Diakonie) | Zeit einen Neubau für 100 Betten geplant. Der Verbandsvorsit - zende sollte anfragen, ob das Johannesstift auf die Erweiterung verzichten würde, damit dem Elisabeth-Krankenhaus dieselbe Zahl an Betten erhalten bleiben könnte. Den Beteiligten war al - lerdings nicht klar, ob sich der Senat auf diesen Handel über - haupt einlassen würde. Doch die Leitung des Johannesstifts lehnte den Vorschlag postwendend ab. | 3 Das Kuratorium be- schloss nach dieser ernüchternden Erfahrung, dass „keine wei- teren Aktivitäten gegen andere diakonische Einrichtungen oder in Richtung auf Umstellung in ein Krankenhaus oder andere Arbeitsfelder ergriffen werden.“| 4 Stattdessen wollte man „auf seinem Standpunkt beharren und den Kampf um seine Exis - tenz fortsetzen.“| 5

Zur selben Zeit kämpften einige Mitarbeiter auf eigene Weise für den Fortbestand des Hauses. Im Juni 1977 verteilte der Arzt Peter Reeg Einladungen zu einer Versammlung der Ge - werkschaft „Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr“ (ÖTV),

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ELI_Buch_Vers_1.indb 158 16.08.12 12:06 1977 — 1987

des Gesundheitssenators Erich Pätzold von der SPD zusam- men, sondern mit Abgeordneten der CDU und der FDP. Unter ihnen war auch der spätere Regierende Bürgermeister, Eber - hard Diepgen. Der Grund dafür, diese Politiker zu einem Ge - spräch einzuladen, war der Wunsch, dass „eventuell neue Kon- stellationen in der Gesundheitspolitik zu völlig anderen Pla- nungsergebnissen führen könnten.“| 2

Bei diesem Treffen vereinbarte man unter anderem, den Vorsitzenden des Verbands evangelischer Krankenanstalten darum zu bitten, die Hausleitung des evangelischen Johannes - Peter Reeg protestiert vor dem Krankenhaus, 1977 stifts in Berlin-Spandau zu kontaktieren. Dort wurde zu dieser (Foto: Archiv der Paul Gerhardt Diakonie) | Zeit einen Neubau für 100 Betten geplant. Der Verbandsvorsit - zende sollte anfragen, ob das Johannesstift auf die Erweiterung der er selbst angehörte. Der Internist, der auch Mitglied der verzichten würde, damit dem Elisabeth-Krankenhaus dieselbe Mitarbeitervertretung im Elisabeth-Krankenhaus war, hatte be - Zahl an Betten erhalten bleiben könnte. Den Beteiligten war al - reits zuvor Schriftstücke der ÖTV verteilt. Kurz nach seiner neu - lerdings nicht klar, ob sich der Senat auf diesen Handel über - erlichen Werbung für die Gewerkschaft erhielt er ein Schreiben haupt einlassen würde. Doch die Leitung des Johannesstifts des Verwaltungsleiters Jens-Martin Rudloff, in dem stand: „Die lehnte den Vorschlag postwendend ab. | 3 Das Kuratorium be- von Ihnen verteilten Einladungsschreiben bedeuten eine uner- schloss nach dieser ernüchternden Erfahrung, dass „keine wei- trägliche Hetze und rufen zum Arbeitskampf im Krankenhaus teren Aktivitäten gegen andere diakonische Einrichtungen oder auf. Sie stellen einen äußerst schwerwiegenden Verstoß gegen in Richtung auf Umstellung in ein Krankenhaus oder andere die Wahrung des Arbeitsfriedens in unserem Hause dar, wel - Arbeitsfelder ergriffen werden.“| 4 Stattdessen wollte man „auf cher keinesfalls geduldet werden kann.“| 6 Dem Arzt wurde seinem Standpunkt beharren und den Kampf um seine Exis - fristlos gekündigt. Reeg ging anschließend gerichtlich gegen tenz fortsetzen.“| 5 die Kündigung vor und gewann den ersten Prozess. Höhere Ins - tanzen bestätigten dann aber die Linie der Hausleitung. Zur selben Zeit kämpften einige Mitarbeiter auf eigene Weise für den Fortbestand des Hauses. Im Juni 1977 verteilte Die Mitarbeitervertretung protestierte gegen die Entschei- der Arzt Peter Reeg Einladungen zu einer Versammlung der Ge - dung des Verwaltungsdirektors, Reeg zu entlassen. Sie warf der werkschaft „Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr“ (ÖTV), Hausleitung vor, schon lange einen Grund gesucht zu haben, sich

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ELI_Buch_Vers_1.indb 158 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 159 16.08.12 12:06 Aufkleber des Fördervereins, 1985 | (Foto: Archiv der Paul Gerhardt Diakonie)

von dem Arzt trennen zu können. Dabei hätte dieser sich wie kein zweiter für das Wohl seiner Kollegen engagiert. Sie lobte vor allem Reegs Einsatz für die Beschäftigten der Intensivabtei- lung, auf der er selbst gearbeitet hatte. Erst aufgrund seiner Bemühungen hätte die Hausleitung eine Reihe zusätzlicher Kräfte eingestellt.

Doch in dem Konflikt stritten beide Parteien nur vorder - gründig über das Schicksal eines einzelnen Arztes. Im Mittel - punkt stand vielmehr die Frage, wie man angemessen auf den Senatsbeschluss reagieren sollte. Die Mitarbeiterschaft ver - suchte, die Stilllegung der Akutabteilungen vor allem mit dem Argument zu verhindern, dass sonst viele Arbeitsplätze verloren gehen würden. Sie nahm dabei eine pro-gewerkschaftliche Haltung ein und opponierte offen gegen den Berliner Senat für Gesundheit. Dem stand die Linie der Hausleitung, des Vereins - vorstands und des Kuratoriums gegenüber, die sich um die Un- terstützung der Entscheidungsträger in der Politik bemühten und die Beschlüsse mit Verhandlungsgeschick umzukehren versuchten.

Da sich an der Haltung der Regierung bis 1984 nichts änderte, beschloss das Kuratorium, mit einer weiteren Maßnah- me gegen die Schließungsabsichten vorzugehen. Man gründete den Förderverein „Elisabeth muss bleiben!“ und bemühte sich, die Berliner Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Die Vereinsmit-

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ELI_Buch_Vers_1.indb 160 16.08.12 12:06 1977 — 1987

glieder sammelten Unterschriften in der Bevölkerung und ver -

Aufkleber des Fördervereins, 1985 suchten, der Presse die Folgen einer Stilllegung der Akutbetten | (Foto: Archiv der Paul Gerhardt Diakonie) vor Augen zu führen. Im Oktober 1984 erschien ein Artikel in der Bild-Zeitung mit der Überschrift von dem Arzt trennen zu können. Dabei hätte dieser sich wie „Elisabeth-Klinik schließt: kein zweiter für das Wohl seiner Kollegen engagiert. Sie lobte vor allem Reegs Einsatz für die Beschäftigten der Intensivabtei- GEfahr für das LEbEn in dEr City?“ lung, auf der er selbst gearbeitet hatte. Erst aufgrund seiner Bemühungen hätte die Hausleitung eine Reihe zusätzlicher In dem Beitrag ließ sich der Chefarzt der Chirurgie, Klaus Kräfte eingestellt. Zander, mit den Worten zitieren: „Wenn unser Haus dichtge - macht wird, müssten Notpatienten – zum Beispiel nach Unfäl - Doch in dem Konflikt stritten beide Parteien nur vorder - len – weite Wege bis ins Martin-Luther-Krankenhaus oder ins gründig über das Schicksal eines einzelnen Arztes. Im Mittel - Klinikum [Steglitz] hinnehmen.“| 7 In einer Anzeige, die der För- punkt stand vielmehr die Frage, wie man angemessen auf den derverein in mehreren Zeitungen veröffentlichen ließ, warnte Senatsbeschluss reagieren sollte. Die Mitarbeiterschaft ver - die Chefärztin der Inneren Medizin, Maria-Elisabeth Kessel: „Dro - suchte, die Stilllegung der Akutabteilungen vor allem mit dem gen und Herzinfarkte töten schnell. Tag für Tag geraten im Bal - Argument zu verhindern, dass sonst viele Arbeitsplätze verloren lungsraum City Menschen durch Stressbelastung und Drogen- gehen würden. Sie nahm dabei eine pro-gewerkschaftliche vergiftung in akute Lebensgefahr.“| 8 Haltung ein und opponierte offen gegen den Berliner Senat für Gesundheit. Dem stand die Linie der Hausleitung, des Vereins - vorstands und des Kuratoriums gegenüber, die sich um die Un- | 1 B.Z. vom 18.01.1979. terstützung der Entscheidungsträger in der Politik bemühten | 2 Protokoll der Vorstands-Sitzung vom 29.11.1978, ArchPGD , Vorstands-Protokolle und die Beschlüsse mit Verhandlungsgeschick umzukehren 01.01.1975-31.12.1979. versuchten. | 3 Ebda. | 4 Ebda. Da sich an der Haltung der Regierung bis 1984 nichts | 5 Ebda. änderte, beschloss das Kuratorium, mit einer weiteren Maßnah- | 6 Dokumentation „Weg mit der Kündigung von Peter Reeg!“ 1977, ArchPGD, Schriftverkehr me gegen die Schließungsabsichten vorzugehen. Man gründete Vorstand 01.01.1976-31.12.1987. den Förderverein „Elisabeth muss bleiben!“ und bemühte sich, | 7 Bild-Zeitung Berlin vom 27.10.1984. die Berliner Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Die Vereinsmit- | 8 Elisabeth-Krankenhaus Förderkreis, ArchPGD.

160 Drohende Stilllegung 161

ELI_Buch_Vers_1.indb 160 16.08.12 12:06 ELI_Buch_Vers_1.indb 161 16.08.12 12:06 Haupteingang, 1985 (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) 162

ELI_Buch_Vers_1.indb 162 16.08.12 12:07 1977 — 1987

DIE VEREINSMITGLIEDER SAMMELTEN UNTER- SCHRIFTEN IN DER BEVÖLKERUNG UND VERSUCHTEN, DER PRESSE DIE FOLGEN EINER STILLLEGUNG DER AKUTBETTEN VOR AUGEN ZU FÜHREN.

Haupteingang, 1985 (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) 162 Drohende Stilllegung 163

ELI_Buch_Vers_1.indb 162 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 163 16.08.12 12:07 Die Kinder vom Bahnhof Zoo

Damit sprach die Internistin eine Gruppe von Patienten an, für deren Behandlung das Elisabeth-Krankenhaus weit über die Grenzen des Bezirks bekannt war. Ein Grund dafür, war - um gerade dieses Haus viele Suchtkranke behandelte, war die Nähe zum Bahnhof Berlin-Zoologischer Garten und damit zu ei - nem der größten Drogen-Umschlagplätze West-Berlins. Noch mehr Menschen mit Vergiftun- gen kamen jedoch aus der Disko - thek „Sound“, die in der Genthi- ner Straße lag. Im Sound tanzten Jugendliche zu experimenteller Musik, es beherbergte eine Gast- stätte und ein Kino sowie ein ei- genes Tonstudio. In der nach ei- genen Angaben größten Disko- thek Europas wurden allerdings auch harte Drogen wie Heroin verkauft und konsumiert. Die be - kannteste Besucherin war Christi- ane F. In ihrem Buch „Wir Kin- der vom Bahnhof Zoo“ schreibt sie nicht nur über Nächte im Sound, sondern berichtet auch, wie die Jugendlichen ihr Geld für den Drogenkauf auf dem be - nachbarten Strich auf der Kur-

Ralf Arndt als Jugendlicher, o.D. fürstenstraße verdienten. | (Foto: Ralf Arndt)

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Die Kinder vom Bahnhof Zoo

Damit sprach die Internistin eine Gruppe von Patienten an, für deren Behandlung das Elisabeth-Krankenhaus weit über die Grenzen des Bezirks bekannt war. Ein Grund dafür, war - um gerade dieses Haus viele Suchtkranke behandelte, war die Nähe zum Bahnhof Berlin-Zoologischer Garten und damit zu ei - nem der größten Drogen-Umschlagplätze West-Berlins. Noch mehr Menschen mit Vergiftun- gen kamen jedoch aus der Disko - thek „Sound“, die in der Genthi- ner Straße lag. Im Sound tanzten Jugendliche zu experimenteller Musik, es beherbergte eine Gast- stätte und ein Kino sowie ein ei- genes Tonstudio. In der nach ei- genen Angaben größten Disko- thek Europas wurden allerdings auch harte Drogen wie Heroin verkauft und konsumiert. Die be - kannteste Besucherin war Christi- ane F. In ihrem Buch „Wir Kin- der vom Bahnhof Zoo“ schreibt sie nicht nur über Nächte im Sound, sondern berichtet auch, wie die Jugendlichen ihr Geld für den Drogenkauf auf dem be - nachbarten Strich auf der Kur-

Ralf Arndt als Jugendlicher, o.D. fürstenstraße verdienten. | (Foto: Ralf Arndt)

Sr. Brigitte von Below, o.D. 164 (Foto: Archiv der EvangelischenDie Elisabeth Kinder vom Klinik) Bahnhof Zoo 165

ELI_Buch_Vers_1.indb 164 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 165 16.08.12 12:07 Die Diskothek „Sound“, 1974 | (Foto: Gerhard Doerries)

Zu den regelmäßigen Gästen der Diskothek gehörte auch Ralf Arndt, der damals an Drogensucht litt:

„Ich selber bin damals ziemlich stark in die Drogenszene eingestiegen und fand mich, wenn ich mal im Sound auf der Toilette eine Überdosis erwischt hatte, im Elisabeth-Krankenhaus auf einer Aufwachstation oder Intensiv- station wieder. Manchmal wusste ich auch gar nicht, wie ich da hingekom- men war. Bei einer Überdosis ist der Körper ja auch erst einmal leblos.“| 1

Arndt lernte im Elisabeth-Krankenhaus die Fürsorge - schwester Brigitte von Below kennen, die sich auch um Drogen- und Alkoholkranke kümmerte. Wenn ein Patient aufgewacht und ansprechbar war, begann sie die Kontaktaufnahme häufig, indem sie ihm ein Lied vorsang. Oft schlossen sich daran Ge - spräche an, in denen die Diakonisse ihr Gegenüber dazu ein-

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lud, mit ihr eine Freikirche am Nollendorfplatz zu besuchen. Einige Patienten ließen sich auf das Experiment ein, andere nicht. Für Ralf Arndt war die Begegnung mit Schwester Brigitte wegweisend:

„Schwester Brigitte war für uns in der Drogenzeit ein Unikum. Eine Mutter Teresa, ich kann es nicht in andere Worte fassen. Sie ist mit einer Herz - lichkeit mit den Menschen umgegangen, die einfach jeden entwaffnet hat. Auch wenn man kein Christ war oder sogar gegen die Kirche, spürte man, bei dieser Frau sprühte die Liebe Gottes.“ | 2

Die Diskothek „Sound“, 1974 Arndt gelang es nach einigen Jahren, seine Sucht abzu - | (Foto: Gerhard Doerries) bauen. 1982 schloss er sich sogar einer christlichen Einrich- tung an, die sich drogenkranker Menschen annimmt. Der Dro - genverkauf verlagerte sich zu dieser Zeit vom Bahnhof Zoo Zu den regelmäßigen Gästen der Diskothek gehörte auch zum Kottbusser Tor in Kreuzberg. Wenn Ralf Arndt bei seiner Ralf Arndt, der damals an Drogensucht litt: Freiwilligenarbeit Menschen begegnete, die sich eine Überdo - sis gesetzt hatten, brachte er sie nach wie vor oft ins Elisabeth- „Ich selber bin damals ziemlich stark in die Drogenszene eingestiegen und Krankenhaus. fand mich, wenn ich mal im Sound auf der Toilette eine Überdosis erwischt hatte, im Elisabeth-Krankenhaus auf einer Aufwachstation oder Intensiv- station wieder. Manchmal wusste ich auch gar nicht, wie ich da hingekom- | 1 Interview Ralf Arndt am 15.07.2012. men war. Bei einer Überdosis ist der Körper ja auch erst einmal leblos.“| 1 | 2 Ebda.

Arndt lernte im Elisabeth-Krankenhaus die Fürsorge - schwester Brigitte von Below kennen, die sich auch um Drogen- und Alkoholkranke kümmerte. Wenn ein Patient aufgewacht und ansprechbar war, begann sie die Kontaktaufnahme häufig, indem sie ihm ein Lied vorsang. Oft schlossen sich daran Ge - spräche an, in denen die Diakonisse ihr Gegenüber dazu ein-

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ELI_Buch_Vers_1.indb 166 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 167 16.08.12 12:07 Hausbesetzer in der Ambulanz

Neben den Drogenkranken wurden im Elisabeth-Kran- kenhaus Anfang der 1980er Jahre auch immer wieder verletz - te Hausbesetzer behandelt. Die Szene, deren Mitglieder sich selbst als Instandbesetzer bezeichneten, wuchs von 1979 bis 1981 sprunghaft an. Ihr Protest richtete sich gegen diejenigen Eigentümer, die Häuser als Spekulationsobjekte betrachteten und die deshalb ihre Immobilien sanierten, um eine höhe - re Mietrendite zu erhalten. Der Leiter des Archivs der Jugend - kulturen, Klaus Farin, schreibt: „1980 gab es nach offiziellen Schätzungen in der Bundesrepublik mehr als eine Million Woh- nungssuchende, gleichzeitig standen Tausende Häuser leer – häufig aus Spekulationsgründen.“| 1 Auch kritisierten sie die Praxis, alte Wohnungen zu sanieren, um sie anschließend deut - lich teurer zu vermieten, und Häuser abzureißen, um Neubau - ten mit einer größeren Anzahl von Wohnungen an derselben Stelle errichten zu können. Um dies zu verhindern, drangen die Protestgruppen in manche der Gebäude ein. Allein in dem einen Jahr zwischen 1980 und 1981 stieg die Zahl der besetzten Häuser von 18 auf 150.

Demonstration von Instandbesetzern, o.D. | (Foto: Kurt Jotter)

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ELI_Buch_Vers_1.indb 168 16.08.12 12:07 1979 — 1982

In den Immobilien lebten insgesamt zwischen Hausbesetzer in der Ambulanz 2.000 und 3.000 Personen illegal. | 2 Neben den Drogenkranken wurden im Elisabeth-Kran- kenhaus Anfang der 1980er Jahre auch immer wieder verletz - Die Polizei ging in vielen Fällen gegen die te Hausbesetzer behandelt. Die Szene, deren Mitglieder sich widerrechtlichen Bewohner vor, indem sie die selbst als Instandbesetzer bezeichneten, wuchs von 1979 bis Häuser stürmte, die Besetzer aus den Wohnungen 1981 sprunghaft an. Ihr Protest richtete sich gegen diejenigen entfernte und die Häuser unzugänglich machte. Eigentümer, die Häuser als Spekulationsobjekte betrachteten An die Räumungen schlossen sich häufig Demon- und die deshalb ihre Immobilien sanierten, um eine höhe - strationen mit bis zu 15.000 Teilnehmern an. re Mietrendite zu erhalten. Der Leiter des Archivs der Jugend - Dabei kam es nicht selten zu gewaltsamen Aus- kulturen, Klaus Farin, schreibt: „1980 gab es nach offiziellen einandersetzungen zwischen Polizisten und Pro- Schätzungen in der Bundesrepublik mehr als eine Million Woh- testierenden. Einige der Verletzten ließen sich an- nungssuchende, gleichzeitig standen Tausende Häuser leer – schließend im Elisabeth-Krankenhaus behan- 1 häufig aus Spekulationsgründen.“| Auch kritisierten sie die deln. Es kam auch vor, dass Polizisten Demon- Jens-Martin Rudloff, Praxis, alte Wohnungen zu sanieren, um sie anschließend deut - stranten in die Ambulanz des Krankenhauses um 1980 (Foto: | lich teurer zu vermieten, und Häuser abzureißen, um Neubau - brachten. Nach einem der Protestmärsche musste Jens-Martin Rudloff) ten mit einer größeren Anzahl von Wohnungen an derselben der Verwaltungsdirektor Jens-Martin Rudloff das Stelle errichten zu können. Um dies zu verhindern, drangen Krankenhaus selbst vor Eindringlingen schützen: die Protestgruppen in manche der Gebäude ein. Allein in dem einen Jahr zwischen 1980 und 1981 stieg die Zahl der besetzten „Eines Tages wollten Demonstranten das Elisabeth-Krankenhaus stürmen Häuser von 18 auf 150. und ihre Freunde befreien. Die waren festgenommen worden und wurden unter Bewachung der Polizei behandelt. Die Demonstranten näherten sich

Demonstration von Instandbesetzern, o.D. dem Gelände. Ich verständigte einige kräftige Mitarbeiter und postierte | (Foto: Kurt Jotter) sie am Zaun. Die Polizei war auch zugegen. So haben wir die Eindringlinge abgehalten.“| 3

| 1 Klaus Farin: Hausbesetzer II, in: Dossier „Jungendkulturen in Deutschland“, Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): 2010 [Internetpublikation] | 2 David Clay Large: Berlin. Biographie einer Stadt, München 2000, S. 462. | 3 Interview Jens-Martin Rudloff am 13.06.2012.

168 Hausbesetzer in der Ambulanz 169

ELI_Buch_Vers_1.indb 168 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 169 16.08.12 12:07 Bauarbeiter von der größten Baustelle Europas

Dies geschah in der Zeit, in der die Krankenhaus-Mitarbeiter wegen der Schließungsabsichten um ihren Arbeitsplatz fürchteten. Bis 1984 mussten sie davon ausge - hen, dass die Akutabteilungen ge- schlossen werden. In diesem Jahr wurde Eberhard Diepgen zum Re- gierenden Bürgermeister von Ber- lin gewählt. Der Förderverein „Eli- sabeth muss bleiben!“ bemühte sich weiterhin darum, die Entschei- dung des vormaligen Senats rück- gängig zu machen. Die Anstren- gungen nahm auch Eberhard Diep-

Eberhard Diepgen bei einer Grund- gen war: „Initiativen wie der För- | steinlegung, 1984 (Foto: Landesar- derverein ‚Elisabeth muss bleiben!‘ chiv Berlin F Rep. 290 260868) führten zu einer Überprüfung der politischen Machbarkeit. In der Po- litik hat man ein Interesse daran, dass Entscheidungen nicht gegen alle Gruppierungen getroffen werden. Sie müssen demo - kratisch durchsetzbar sein und zu einer gewissen Minimierung des Ärgers beitragen.“| 1 In der Tat prüfte die neue Berliner Lan- desregierung die Schließungspläne erneut und kam zu einer anderen Einschätzung der Lage als ihre Vorgänger aus der SPD. Im Jahr 1985 teilte Diepgen in einem Schreiben mit, dass der Senat „der Erhaltung des Elisabeth-Krankenhauses grundsätz- lich positiv gegenüber“| 2 stünde. Allerdings seien hierfür we -

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ELI_Buch_Vers_1.indb 170 16.08.12 12:07 ab 1990

Bauarbeiter von der größten Baustelle Europas niger die Initiativen des Fördervereins ausschlaggebend gewe - sen, als eine andere Einschätzung der Bevölkerungsentwick- Dies geschah in der Zeit, in lung. Die Entscheidung des vormaligen Gesundheitssenators der die Krankenhaus-Mitarbeiter Pätzold, die Akutbetten abzubauen, beruhte nämlich auf Vor - wegen der Schließungsabsichten hersagen, wonach sich die Einwohnerzahl Berlins bis 1990 er - um ihren Arbeitsplatz fürchteten. heblich verringern würde. Diesen Prognosen schenkte Diepgen Bis 1984 mussten sie davon ausge - weniger Glauben: „Richard von Weizsäcker [der Vorgänger Eber - hen, dass die Akutabteilungen ge- hard Diepgens als Regierender Bürgermeister, C.T.] und ich ha- schlossen werden. In diesem Jahr ben die Auffassung vertreten, dass wir zwei Millionen Einwoh- wurde Eberhard Diepgen zum Re- ner als Zielgröße zugrunde legen müssen. Damit veränderte sich gierenden Bürgermeister von Ber- die Bettenbedarfsplanung.“| 3 Bei den Überlegungen habe auch lin gewählt. Der Förderverein „Eli- die Trägerschaft des Elisabeth-Krankenhauses eine Rolle ge - sabeth muss bleiben!“ bemühte spielt: „Nach dem Wechsel der politischen Verantwortung in sich weiterhin darum, die Entschei- Berlin in den 1980er Jahren gab es einen Grundsatz, der mög - dung des vormaligen Senats rück- lichst erhalten werden sollte, nämlich eine Drittelung der Träger: gängig zu machen. Die Anstren- gemeinnützige Träger, staatliche Träger und private Träger.“| 4 gungen nahm auch Eberhard Diep-

Eberhard Diepgen bei einer Grund- gen war: „Initiativen wie der För- Diese Einschätzung führte nach Ansicht des damaligen | steinlegung, 1984 (Foto: Landesar- derverein ‚Elisabeth muss bleiben!‘ Regierenden Bürgermeisters dazu, dass die Akutbetten des Eli- chiv Berlin F Rep. 290 260868) führten zu einer Überprüfung der sabeth-Krankenhauses 1986 wieder im Bedarfsplan erschienen. politischen Machbarkeit. In der Po- Seit der Bekanntgabe der Schließungsabsichten waren neun Jah- litik hat man ein Interesse daran, dass Entscheidungen nicht re vergangen. Der Senat bewilligte dem Kuratorium noch im sel - gegen alle Gruppierungen getroffen werden. Sie müssen demo - ben Jahr Mittel in Höhe von mehr als 26 Millionen Mark. | 5 Die kratisch durchsetzbar sein und zu einer gewissen Minimierung lange verzögerte Modernisierung des Krankenhauses konnte des Ärgers beitragen.“| 1 In der Tat prüfte die neue Berliner Lan- beginnen. desregierung die Schließungspläne erneut und kam zu einer anderen Einschätzung der Lage als ihre Vorgänger aus der SPD. In die Unterschriftenlisten des Fördervereins „Elisabeth Im Jahr 1985 teilte Diepgen in einem Schreiben mit, dass der muss bleiben!“ hatte sich als einer von 30.000 Menschen | 6 auch Senat „der Erhaltung des Elisabeth-Krankenhauses grundsätz- Rainer Ostertag eingetragen. | 7 Er hatte zu diesem Zeitpunkt lich positiv gegenüber“| 2 stünde. Allerdings seien hierfür we - noch nicht gewusst, dass er selbst bald im Krankenhaus arbeiten

170 Bauarbeiter von der größten Baustelle Europas 171

ELI_Buch_Vers_1.indb 170 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 171 16.08.12 12:07 ab 1990

Berliner Regierung hatte das Krankenhaus allerdings dazu ver - pflichtet, die Chroniker-Abteilung zu schließen. Auch dies ge - schah im Jubiläumsjahr 1987. | 9 In der Abteilung hatte einige Jahre lang die Bildhauerin Hilde Leest gelebt. Eines ihrer be - kanntesten Werke war ein Mahnmal aus Stein, das 1962 an der Chausseestraße in der Nähe der Grenze zu Berlin-Ost aufge - stellt wurde. Es zeigt zwei Menschen, die sich gegenüberste - hen und sich die Hände reichen. Das Kunstwerk symbolisierte die Teilung der deutschen Staaten, die wenige Jahre später zu Ende gehen sollte. Eckhard Kutzer legt den Grundstein zum neuen Behandlungstrakt, 1987 | (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) 1989 erschütterte eine Tragödie das Elisabeth-Kranken- haus. Einem schwer alkoholkranken Patienten sollte bei einer würde. 1987 bewarb er sich um die Stelle des Technischen Lei- Operation ein Schlauch vom Bauch zur Halsvene gelegt wer - ters und erhielt eine Zusage. In diesem Jahr feierte das Kranken- den. Der Mediziner bereitete die Operation vor, rechnete aber haus sein 150-jähriges Bestehen. Bei dem Festakt legte die Haus - erst für den Folgetag mit der Lieferung des Schlauchs. Zu - leitung den Grundstein für einen Funktionstrakt. Der Neubau sammen mit seinem Chefarzt begann er, während der Dienst - wurde 1989 eröffnet. | 8 zeit Alkohol zu trinken. Der Schlauch traf jedoch noch am selben Tag ein. Der Mediziner unterschätzte die Wirkung des Ostertag stattete das Gebäude mit einem Computersys - Alkohols und führte die Operation in angetrunkenem Zustand tem aus, an das alle wichtigen Funktionen wie Strom- und Gas - durch. Während des Eingriffs verletzte er die Blutgefäße des versorgung, Brandschutz und Lüftung angeschlossen wurden. Patienten schwer. Der Mann starb. Eine der anwesenden Kran- Die Informationen liefen im Zentralbüro des Technischen Lei- kenschwestern meldete den Fall umgehend der Hausleitung. ters zusammen. Die computergestützte Vernetzung des Traktes Gegen den Arzt wurde ein Verfahren eröffnet. Er wurde zu stellte 1987 eine Neuerung dar. Vorher mussten Mitarbeiter der 30 Monaten Haft wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. In dem Stationen Unregelmäßigkeiten an das technische Personal mel - Prozess sagte die Krankenschwester als Zeugin aus und verur - den, die daraufhin die entsprechende Stelle prüften. Das neue teilte die Tat ihres ehemaligen Kollegen mit den Worten: „Wir System funktionierte so gut, dass Ostertag es bald auf das ganze haben den Patienten, der sich vertrauensvoll in unsere Hände Krankenhaus ausweitete. Die Fördergelder für den Einbau wie begeben hat, totoperiert.“| 10 Über den Fall berichtete die Pres - für den gesamten Trakt erhielt die Hausleitung vom Senat. Die se ausführlich.

172 Bauarbeiter von der größten Baustelle Europas 173

ELI_Buch_Vers_1.indb 172 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 173 16.08.12 12:07 ab 1990

Berliner Regierung hatte das Krankenhaus allerdings dazu ver - pflichtet, die Chroniker-Abteilung zu schließen. Auch dies ge - schah im Jubiläumsjahr 1987. | 9 In der Abteilung hatte einige Jahre lang die Bildhauerin Hilde Leest gelebt. Eines ihrer be - kanntesten Werke war ein Mahnmal aus Stein, das 1962 an der Chausseestraße in der Nähe der Grenze zu Berlin-Ost aufge - stellt wurde. Es zeigt zwei Menschen, die sich gegenüberste - hen und sich die Hände reichen. Das Kunstwerk symbolisierte die Teilung der deutschen Staaten, die wenige Jahre später zu Ende gehen sollte. Eckhard Kutzer legt den Grundstein zum neuen Behandlungstrakt, 1987 | (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) 1989 erschütterte eine Tragödie das Elisabeth-Kranken- haus. Einem schwer alkoholkranken Patienten sollte bei einer würde. 1987 bewarb er sich um die Stelle des Technischen Lei- Operation ein Schlauch vom Bauch zur Halsvene gelegt wer - ters und erhielt eine Zusage. In diesem Jahr feierte das Kranken- den. Der Mediziner bereitete die Operation vor, rechnete aber haus sein 150-jähriges Bestehen. Bei dem Festakt legte die Haus - erst für den Folgetag mit der Lieferung des Schlauchs. Zu - leitung den Grundstein für einen Funktionstrakt. Der Neubau sammen mit seinem Chefarzt begann er, während der Dienst - wurde 1989 eröffnet. | 8 zeit Alkohol zu trinken. Der Schlauch traf jedoch noch am selben Tag ein. Der Mediziner unterschätzte die Wirkung des Ostertag stattete das Gebäude mit einem Computersys - Alkohols und führte die Operation in angetrunkenem Zustand tem aus, an das alle wichtigen Funktionen wie Strom- und Gas - durch. Während des Eingriffs verletzte er die Blutgefäße des versorgung, Brandschutz und Lüftung angeschlossen wurden. Patienten schwer. Der Mann starb. Eine der anwesenden Kran- Die Informationen liefen im Zentralbüro des Technischen Lei- kenschwestern meldete den Fall umgehend der Hausleitung. ters zusammen. Die computergestützte Vernetzung des Traktes Gegen den Arzt wurde ein Verfahren eröffnet. Er wurde zu stellte 1987 eine Neuerung dar. Vorher mussten Mitarbeiter der 30 Monaten Haft wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. In dem Stationen Unregelmäßigkeiten an das technische Personal mel - Prozess sagte die Krankenschwester als Zeugin aus und verur - den, die daraufhin die entsprechende Stelle prüften. Das neue teilte die Tat ihres ehemaligen Kollegen mit den Worten: „Wir System funktionierte so gut, dass Ostertag es bald auf das ganze haben den Patienten, der sich vertrauensvoll in unsere Hände Krankenhaus ausweitete. Die Fördergelder für den Einbau wie begeben hat, totoperiert.“| 10 Über den Fall berichtete die Pres - für den gesamten Trakt erhielt die Hausleitung vom Senat. Die se ausführlich.

172 Bauarbeiter von der größten Baustelle Europas 173

ELI_Buch_Vers_1.indb 172 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 173 16.08.12 12:07 Das Jahr 1990 veränderte die medizinische Versorgungs - lage in Berlin von einem auf den anderen Tag. Bislang hatte die Bonner Politik die West-Berliner Insulaner mit hohen Subven- tionen unter anderem im Gesundheitssektor versorgt. Nach der Wiedervereinigung bildete West-Berlin keine Insel mehr, die es zu subventionieren galt. Fördergelder flossen ab sofort in die neuen Länder. Die bedeutendsten Krankenhäuser der DDR standen mit der Charité und den großen Kliniken in Buch in Ost-Berlin, auch West-Berlin verfügte über mehrere Universi- tätskliniken. Der Berliner Senat musste folglich überlegen, wie er mit dem Erbe zweier komplett voneinander getrennter Uni- versitätskrankenhäuser umgehen solle.

Bald wurde deutlich, dass sich die Zahl der 40.000 Berliner KranKenhaus-Betten um etwa die h älfte würde verringern müssen.

Die Mitarbeiter des Krankenhauses an der Lützowstra- ße hatten jedoch aus zwei Gründen wenig zu befürchten. Ers - tens waren bereits vor der Wiedervereinigung Fördergelder für

Pflegeheim, o.D. | (Foto: Peter Pawlik)

ELI_Buch_Vers_1.indb 174 16.08.12 12:07 ab 1990

Das Jahr 1990 veränderte die medizinische Versorgungs - lage in Berlin von einem auf den anderen Tag. Bislang hatte die Bonner Politik die West-Berliner Insulaner mit hohen Subven- tionen unter anderem im Gesundheitssektor versorgt. Nach der Wiedervereinigung bildete West-Berlin keine Insel mehr, die es zu subventionieren galt. Fördergelder flossen ab sofort in die neuen Länder. Die bedeutendsten Krankenhäuser der DDR standen mit der Charité und den großen Kliniken in Buch in Ost-Berlin, auch West-Berlin verfügte über mehrere Universi- tätskliniken. Der Berliner Senat musste folglich überlegen, wie er mit dem Erbe zweier komplett voneinander getrennter Uni- versitätskrankenhäuser umgehen solle. Der Potsdamer Platz in Richtung Süden, 2001 (Foto: wikimedia commons) | Bald wurde deutlich, dass sich die Zahl der 40.000 Berliner

KranKenhaus-Betten um etwa mehrere Bauabschnitte in Höhe von etwa 30 Millionen Mark die h älfte würde verringern müssen. genehmigt worden und der 3. Oktober 1990 fiel genau in die Zeit, in der die Mittel an das Krankenhaus ausbezahlt wurden. Die Mitarbeiter des Krankenhauses an der Lützowstra- Der Bau des neuen Funktionstraktes wurde wie auch die dar - ße hatten jedoch aus zwei Gründen wenig zu befürchten. Ers - auf folgenden Maßnahmen aus diesem Budget bezahlt, zum tens waren bereits vor der Wiedervereinigung Fördergelder für Beispiel die Sanierung des Arnim-Hauses mit seinen chirurgi- schen Behandlungsräumen. Wegen der vom Land geförderten

Pflegeheim, o.D. Modernisierung war es unwahrscheinlich, dass der Senat dem | (Foto: Peter Pawlik) Krankenhaus erneut die Schließung androhen würde. Zweitens war ohnehin nicht damit zu rechnen, dass der neue Gesund - heitssenator das Haus nur vier Jahre nach der Wiederaufnahme in den Bedarfsplan wieder aus der Liste der subventionierten Krankenhäuser streichen würde. Tatsächlich musste die Haus - leitung weder wie andere Häuser Stationen aufgeben noch war es von der Stilllegung bedroht.

Bauarbeiter von der größten Baustelle Europas 175

ELI_Buch_Vers_1.indb 174 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 175 16.08.12 12:07 Sichtbar wurde den An- gestellten des Krankenhauses die Wiedervereinigung zu- nächst dadurch, dass sich nach Öffnung der Grenzen viele Menschen aus dem Ost- Teil der Stadt im Kranken-

Der Schreibtisch von Hegel, 2012 haus behandeln ließen. Noch | (Foto: Archiv der Evangelischen deutlicher manifestierte sich Elisabeth Klinik) das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten je- doch nach dem Beschluss des Bundestages im Juni 1991, seinen Sitz vom Rhein an die Spree zu verlegen. Die Entscheidung löste einen Bauboom besonders auf dem Potsdamer Platz aus, der bislang zum Großteil aus Brachland bestand. Konzerne wie Sony und Daimler-Benz sicherten sich die besten Grundstücke und ließen auf dem Feld gewaltige Firmengebäude errichten. Andere Unternehmen folgten ihrem Vorbild. Die Ärzte und Pfleger be - kamen es daher bis Ende der 1990er Jahre oft mit Bauarbeitern zu tun, die sich bei ihrer Arbeit auf der größten Baustelle Europas verletzt hatten. Doch damit schien der Chefarzt der Chirurgie, Reza Assadi, bereits 1991 gerechnet zu haben, als er erklärte:

„Wenn der benachbarte Potsdamer Platz eines Tages wieder Verkehrskno- tenpunkt mit Weltstadtniveau sein wird, kann unser Haus in noch um- fassenderem Maße seiner speziellen Aufgabenstellung gerecht werden.“| 11

Eine Kooperation der ganz eigenen Art ging das älteste Krankenhaus im ehemaligen West-Berlin mit der Humboldt- Universität im einstigen Ost-Berlin ein. Das Elisabeth-Kranken- haus durfte den Schreibtisch des Philosophen Georg Wilhelm

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ELI_Buch_Vers_1.indb 176 16.08.12 12:07 ab 1990

Sichtbar wurde den An- Friedrich Hegel sein eigen nennen. Seine Witwe soll das Stück gestellten des Krankenhauses dem Kuratorium im 19. Jahrhundert als Geschenk überlassen die Wiedervereinigung zu- haben. Die Humboldt-Universität, an der Hegel gelehrt und der nächst dadurch, dass sich er von 1829 bis 1830 als Rektor vorangestanden hatte, fragte bei nach Öffnung der Grenzen der Hausleitung an, ob sie den Schreibtisch für eine gewisse viele Menschen aus dem Ost- Zeit in den eigenen Gebäuden ausstellen dürfte. Die Bitte ging Teil der Stadt im Kranken- im Jahr nach der Wiedervereinigung bei der Hausleitung ein 12 Der Schreibtisch von Hegel, 2012 haus behandeln ließen. Noch und wurde von dieser zunächst abgelehnt. | Fünf Jahre später | (Foto: Archiv der Evangelischen deutlicher manifestierte sich entschied man sich um und unterzeichnete einen Leihvertrag Elisabeth Klinik) das Zusammenwachsen der mit der Alma Mater. Seitdem präsentiert die Universität den beiden deutschen Staaten je- Schreibtisch, an dem auch Johannes Gossner gearbeitet haben doch nach dem Beschluss des Bundestages im Juni 1991, seinen soll, gelegentlich in Ausstellungen. Zuletzt war er 2010 im Ja- Sitz vom Rhein an die Spree zu verlegen. Die Entscheidung löste cob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum zu sehen. | 13 einen Bauboom besonders auf dem Potsdamer Platz aus, der bislang zum Großteil aus Brachland bestand. Konzerne wie Sony und Daimler-Benz sicherten sich die besten Grundstücke und | 1 Interview Eberhard Diepgen am 03.07.2012. ließen auf dem Feld gewaltige Firmengebäude errichten. Andere | 2 Eberhard Diepgen an Karlheinz Neukamm am 20.02.1985, ADW, PB 685. Unternehmen folgten ihrem Vorbild. Die Ärzte und Pfleger be - | 3 Interview Eberhard Diepgen am 03.07.2012. kamen es daher bis Ende der 1990er Jahre oft mit Bauarbeitern zu | 4 Ebda. tun, die sich bei ihrer Arbeit auf der größten Baustelle Europas | 5 Senator für Gesundheit und Soziales an Spitzenverbände der Freien Wohlfahrstpflege verletzt hatten. Doch damit schien der Chefarzt der Chirurgie, am 26.01.1987, ArchPGD, Vorstands-Protokolle 01.01.1985-31.12.1987. Reza Assadi, bereits 1991 gerechnet zu haben, als er erklärte: | 6 Tagesspiegel vom 13.03.2006. | 7 Interview Rainer Ostertag am 13.06.2012. „Wenn der benachbarte Potsdamer Platz eines Tages wieder Verkehrskno- | 8 Berlin Morgenpost vom 02.11.1989. tenpunkt mit Weltstadtniveau sein wird, kann unser Haus in noch um- | 9 Protokoll der Hauskonferenz am 08.10.1986, ArchELI, Hauskonferenz und Protokolle fassenderem Maße seiner speziellen Aufgabenstellung gerecht werden.“| 11 ab 1982. | 10 Berliner Morgenpost vom 15.01.1991 Eine Kooperation der ganz eigenen Art ging das älteste | 11 Berliner Morgenpost vom 22.09.1991. Krankenhaus im ehemaligen West-Berlin mit der Humboldt- | 12 Protokoll der Hauskonferenz am 13.11.1991, ArchELI, Hauskonferenz und Protokolle ab 1982. Universität im einstigen Ost-Berlin ein. Das Elisabeth-Kranken- | 13 die tageszeitung vom 24.04.2010. haus durfte den Schreibtisch des Philosophen Georg Wilhelm

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ELI_Buch_Vers_1.indb 176 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 177 16.08.12 12:07 Roboter am Krankenbett

Für das Elisabeth-Krankenhaus wie für alle anderen Häu - ser in der Stadt zeichnete sich nach der Wiedervereinigung ab, dass der Bedarfsplan, der dem Krankenhausfinanzierungsge - setz zugeordnet war, sich bald erheblich ändern würde. Die von den Ländern geförderten Bauprojekte sollten zahlenmäßig zu- rückgehen und die eigenfinanzierten Maßnahmen dafür stei- gen. Auf diese neue Entwicklung machte der Kuratoriumsvor - sitzende, Ulrich Metzmacher, beim Festakt zur Eröffnung des neuen chirurgischen Bettenhauses 1998 aufmerksam. In seiner Rede bedankte er sich bei der Gesundheitssenatorin für die För- derung der gesamten Baukosten, fügte aber hinzu:

„Nun ist es heutzutage, wer weiß dies nicht, gar nicht mehr selbstverständ- lich, in Krankenhäusern Neubauten einzuweihen. Sicher, es wird weiterhin an viele Stellen gebaut, aber die goldenen Jahre liegen erst einmal hinter uns, und es bedarf (...) sorgfältiger Überlegungen, wo die knappen Mittel am sinnvollsten einzusetzen sind.“| 1

Nicht nur wegen der knapper werdenden Förderbeträge freute sich die Hausleitung im ersten Frühjahr des neuen Jahr - tausends über ein ungewöhnliches und auffallend großes Ge - schenk. Die Rentnerin Paula Klippstein vererbte dem Haus 500.000 Mark. Sie hatte vier Jahre lang in einem der beiden Pflegeheime gewohnt, die sich ebenfalls auf dem Krankenhaus - gelände befanden. Beide Gebäude sind inzwischen abgerissen worden, um Platz für ein neues Seniorenheim zu schaffen.

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Roboter am Krankenbett Die Dame vermachte dem Krankenhaus allerdings Für das Elisabeth-Krankenhaus wie für alle anderen Häu - nicht nur Geld, sondern überließ ihm auch fünf ser in der Stadt zeichnete sich nach der Wiedervereinigung ab, Goldbarren, Schmuck, wertvolle Bilder und einige Pelze. | 2 dass der Bedarfsplan, der dem Krankenhausfinanzierungsge - setz zugeordnet war, sich bald erheblich ändern würde. Die von Paula Klippstein konnte nicht mehr miterleben, wie sich den Ländern geförderten Bauprojekte sollten zahlenmäßig zu- das Krankenhaus in den kommenden zehn Jahren verwandeln rückgehen und die eigenfinanzierten Maßnahmen dafür stei- sollte. Als Ulrich Metzmacher im Sommer 2002 den Ärztlichen gen. Auf diese neue Entwicklung machte der Kuratoriumsvor - Direktor des Hauses, Reza Assadi, in den Ruhestand verab - sitzende, Ulrich Metzmacher, beim Festakt zur Eröffnung des schiedete, bereitete er die anwesenden Mitarbeiter auf die an- neuen chirurgischen Bettenhauses 1998 aufmerksam. In seiner stehenden Neuerungen vor: „Neue Abrechnungssysteme stehen Rede bedankte er sich bei der Gesundheitssenatorin für die För- vor der Tür, die Transparenz des ärztlichen Handelns und des - derung der gesamten Baukosten, fügte aber hinzu: sen Evaluierung werden einen Wandel im Selbstverständnis vieler Mediziner mit sich bringen müssen, und die Organisation „Nun ist es heutzutage, wer weiß dies nicht, gar nicht mehr selbstverständ- des Krankenhauses wird relativ zügig einige neue Formen an- lich, in Krankenhäusern Neubauten einzuweihen. Sicher, es wird weiterhin nehmen.“| 3 Ein halbes Jahr später griff Metzmacher das Thema an viele Stellen gebaut, aber die goldenen Jahre liegen erst einmal in einer weiteren Ansprache auf. Anlass seiner Rede war erneut hinter uns, und es bedarf (...) sorgfältiger Überlegungen, wo die knappen eine Verabschiedung, diesmal die des langjährigen Verwal - Mittel am sinnvollsten einzusetzen sind.“| 1 tungsdirektors Jens-Martin Rudloff:

Nicht nur wegen der knapper werdenden Förderbeträge „Wir können mit großer Sicherheit sagen, dass das Elisabeth-Krankenhaus freute sich die Hausleitung im ersten Frühjahr des neuen Jahr - in zehn Jahren nicht mehr so aussehen wird wie jetzt.“| 4 tausends über ein ungewöhnliches und auffallend großes Ge - schenk. Die Rentnerin Paula Klippstein vererbte dem Haus Die größte Veränderung des neuen Jahrtausends betraf 500.000 Mark. Sie hatte vier Jahre lang in einem der beiden nicht die äußere, sondern die innere Struktur des Hauses. 2003 Pflegeheime gewohnt, die sich ebenfalls auf dem Krankenhaus - wurden in allen deutschen Krankenhäusern die Diagnosis Rela- gelände befanden. Beide Gebäude sind inzwischen abgerissen ted Groups (DRG) eingeführt. Dieses neue Abrechnungssystem worden, um Platz für ein neues Seniorenheim zu schaffen. basierte auf einer genauen Klassifikation aller Behandlungen in

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ELI_Buch_Vers_1.indb 178 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 179 16.08.12 12:07 einem Krankenhaus, die nun als Fälle bezeichnet wurden. Das DRG-System etablierte ein einheitliches Verfahren der Finan- zierung von Krankenhausleistungen in den Bundesländern. Ab 2003 bekam das Elisabeth-Krankenhaus für eine Blinddarm- Operation genauso viel Geld erstattet wie alle anderen Häuser in Berlin.

Im selben Jahr schloss sich das Elisabeth-Krankenhaus ei- ner Entwicklung an, die an vielen Häusern zu beobachten war. Es wurde das erste Zentrum eröffnet. Bei diesen Einrichtungen, die in großer Zahl nach 2000 ins Leben gerufen wurden, handelte es sich um Spezialabteilungen, in denen Ärzte verschiedener Fachrichtungen in Zusammenarbeit einen Patienten untersuch- ten, Diagnosen stellten und eine Therapie festlegten. Im Abdo-

Hans-Peter Berlien, o.D. | (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik)

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einem Krankenhaus, die nun als Fälle bezeichnet wurden. Das minalzentrum im Elisabeth-Kran- DRG-System etablierte ein einheitliches Verfahren der Finan- kenhaus betreuen seit 2003 Inter- zierung von Krankenhausleistungen in den Bundesländern. Ab nisten und Chirurgen Patienten 2003 bekam das Elisabeth-Krankenhaus für eine Blinddarm- mit Erkrankungen der Organe im Operation genauso viel Geld erstattet wie alle anderen Häuser Bauchraum gemeinsam. in Berlin. Bereits zwei Jahre nach der Im selben Jahr schloss sich das Elisabeth-Krankenhaus ei- ersten konnte das Kuratorium zur ner Entwicklung an, die an vielen Häusern zu beobachten war. Einweihung eines weiteren Zent-

Es wurde das erste Zentrum eröffnet. Bei diesen Einrichtungen, rums einladen. Dem Vorstand des Einführung der mobilen Visite, 2007 die in großer Zahl nach 2000 ins Leben gerufen wurden, handelte Vereins zur Errichtung evangeli- (Foto: Archiv der Evangelischen | es sich um Spezialabteilungen, in denen Ärzte verschiedener scher Krankenhäuser war es ge - Elisabeth Klinik) Fachrichtungen in Zusammenarbeit einen Patienten untersuch- lungen, den Spezialisten für Laser- ten, Diagnosen stellten und eine Therapie festlegten. Im Abdo- medizin Hans-Peter Berlien an das Elisabeth-Krankenhaus zu holen, das sich seit 2003 „Elisabeth Klinik“ nannte. Berlien war

Hans-Peter Berlien, o.D. zuvor am Klinikum Neukölln tätig, von dem aus nicht nur er, | (Foto: Archiv der Evangelischen Elisabeth Klinik) sondern 35 Mitarbeiter an die Lützowstraße wechselten. Das Be- handlungsspektrum dieses Zentrums umfasst die Behandlung von Gefäßmissbildungen, Tumoren, Gallensteinen und aus der Mode gekommenen Tätowierungen.

Die Patienten auf den chirurgischen und inneren Sta- tionen durften ab 2007 bei den morgendlichen Visiten nicht mehr nur das Ärzteteam, sondern auch eine Art Roboter begrüßen. Der Computer ist etwa eineinhalb Meter hoch und lässt sich von Zimmer zu Zimmer rollen. Auf dem Bildschirm können die Medi- ziner alle Patientendaten einsehen, die sie vorher in Aktenmap - pen bei sich getragen hatten. Bei der Visite können die Ärzte nun auch ihre Anweisungen an die Schwestern in den Compu - ter eintragen. Unleserliche Dokumentationen gehörten ab die - sem Jahr der Vergangenheit an.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 180 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 181 16.08.12 12:07 1998 — 2012

Das Kunstwerk von Die Veränderungen im Gesundheitswesen nach 2000 Juan Garaizabal, 2012 führten im Vorstand des Vereins zur Errichtung evangelischer (Foto: Juan Krankenhäuser zu der Frage, ob man das Krankenhaus nicht Garaizabal Studio) noch enger mit den anderen Krankenhäusern des Vereins ver - binden könnte. Metzmacher und seine Vorstandskollegen plan - ten gerade ohnehin eine Neuorganisation des Vereins, dessen Struktur ihnen nicht mehr zeitgemäß erschien.

Der Verein als Träger wandelte sich zu einer strategischen Management-Holding. Ihre Organisation entsprach nun der ei - nes Konzerns. An der Spitze steht seitdem ein Aufsichtsrat, der den Vorstand überwacht. Der Vorstand setzt sich nun aus vier hauptamtlichen Mitgliedern zusammen. Er führt die Kranken - häuser als Tochtergesellschaften. Kernabteilungen wie Finan- zen, Personalwesen und Einkauf fanden sich nicht mehr in den verschiedenen Häusern, sondern in der Spandauer Zentrale ge - bündelt. Die Kliniken werden seit dieser Zeit wie Unternehmen geführt. Es bot sich an, das Krankenhaus an der Lützowstraße in eine weitere Tochtergesellschaft umzuwandeln und an die zentralen Abteilungen anzuschließen.

Nach einigen Gesprächen fasste der Vorstand den Be - schluss, das Krankenhaus ab dem 1. Januar 2006 dem Verein zu unterstellen. Als Zeichen der Neuerung benannte der Vor - stand das Haus von „Elisabeth Klinik“ in „Evangelische Eli- sabeth Klinik“ um. Die meisten anderen Krankenhäuser des Konzerns trugen den Zusatz bereits im Namen. Die Stiftung Elisabeth-Diakonissen und Krankenhaus wurde im Januar 2007 aufgelöst, nachdem das Konsistorium der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und die Senats -

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ELI_Buch_Vers_1.indb 182 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 183 16.08.12 12:07 1998 — 2012

Das Kunstwerk von Die Veränderungen im Gesundheitswesen nach 2000 Juan Garaizabal, 2012 führten im Vorstand des Vereins zur Errichtung evangelischer (Foto: Juan Krankenhäuser zu der Frage, ob man das Krankenhaus nicht Garaizabal Studio) noch enger mit den anderen Krankenhäusern des Vereins ver - binden könnte. Metzmacher und seine Vorstandskollegen plan - ten gerade ohnehin eine Neuorganisation des Vereins, dessen Struktur ihnen nicht mehr zeitgemäß erschien.

Der Verein als Träger wandelte sich zu einer strategischen Management-Holding. Ihre Organisation entsprach nun der ei - nes Konzerns. An der Spitze steht seitdem ein Aufsichtsrat, der den Vorstand überwacht. Der Vorstand setzt sich nun aus vier hauptamtlichen Mitgliedern zusammen. Er führt die Kranken - häuser als Tochtergesellschaften. Kernabteilungen wie Finan- zen, Personalwesen und Einkauf fanden sich nicht mehr in den verschiedenen Häusern, sondern in der Spandauer Zentrale ge - bündelt. Die Kliniken werden seit dieser Zeit wie Unternehmen geführt. Es bot sich an, das Krankenhaus an der Lützowstraße in eine weitere Tochtergesellschaft umzuwandeln und an die zentralen Abteilungen anzuschließen.

Nach einigen Gesprächen fasste der Vorstand den Be - schluss, das Krankenhaus ab dem 1. Januar 2006 dem Verein zu unterstellen. Als Zeichen der Neuerung benannte der Vor - stand das Haus von „Elisabeth Klinik“ in „Evangelische Eli- sabeth Klinik“ um. Die meisten anderen Krankenhäuser des Konzerns trugen den Zusatz bereits im Namen. Die Stiftung Elisabeth-Diakonissen und Krankenhaus wurde im Januar 2007 aufgelöst, nachdem das Konsistorium der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und die Senats -

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ELI_Buch_Vers_1.indb 182 16.08.12 12:07 ELI_Buch_Vers_1.indb 183 16.08.12 12:07 verwaltung für Justiz des Landes Berlin den Auflösungsbe - schluss des Kuratoriums der Stiftung genehmigt hatten. In die - sem Jahr feierte die Klinik ihren 170. Geburtstag.

2011 wurde der Abriss der beiden Pflegeheime beschlos - sen. Derzeit entsteht ein neues Seniorenstift an der Lützow - straße. Es erscheint wie ein Zufall, dass zur selben Zeit die Kir - che, in der Johannes Gossner 175 Jahre zuvor predigte, zu neuem Leben erweckt wird. Sie war 1943 bei Bombenangriffen zerstört und 1963 abgerissen worden. Eine ihrer Seitenmauern wurde in die Grenzanlage „Checkpoint Charlie“ integriert. Der spanische Künstler Juan Garaizabal ließ die Bethlehemskirche im Jahr 2012 an ihrem alten Standort auferstehen. Er errichtete ein 30 Meter hohes Stahlgerüst, dessen Streben dort verlaufen, wo sich die Au- ßenfassade befand. Nachts leuchtet die alte Kirche, obwohl sie längst verschwunden ist.

| 1 Ulrich Metzmacher: Einweihungsfeier des chirurgischen Bettenhauses im Elisabeth-Krankenhaus am 24.06.1998, ArchPGD. | 2 B.Z. vom 25.03.2000. | 3 Ulrich Metzmacher: Verabschiedung CA/ÄD Dr. Assadi ELI 31.05.2002, ArchPGD. | 4 Ulrich Metzmacher: Verabschiedung VD Rudloff ELI 20.12.2002, ArchPGD.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 184 16.08.12 12:07 verwaltung für Justiz des Landes Berlin den Auflösungsbe - schluss des Kuratoriums der Stiftung genehmigt hatten. In die - sem Jahr feierte die Klinik ihren 170. Geburtstag.

2011 wurde der Abriss der beiden Pflegeheime beschlos - sen. Derzeit entsteht ein neues Seniorenstift an der Lützow - straße. Es erscheint wie ein Zufall, dass zur selben Zeit die Kir - che, in der Johannes Gossner 175 Jahre zuvor predigte, zu neuem Leben erweckt wird. Sie war 1943 bei Bombenangriffen zerstört und 1963 abgerissen worden. Eine ihrer Seitenmauern wurde in die Grenzanlage „Checkpoint Charlie“ integriert. Der spanische Künstler Juan Garaizabal ließ die Bethlehemskirche im Jahr 2012 an ihrem alten Standort auferstehen. Er errichtete ein 30 Meter hohes Stahlgerüst, dessen Streben dort verlaufen, wo sich die Au- ßenfassade befand. Nachts leuchtet die alte Kirche, obwohl sie längst verschwunden ist.

| 1 Ulrich Metzmacher: Einweihungsfeier des chirurgischen Bettenhauses im Elisabeth-Krankenhaus am 24.06.1998, ArchPGD. | 2 B.Z. vom 25.03.2000. | 3 Ulrich Metzmacher: Verabschiedung CA/ÄD Dr. Assadi ELI 31.05.2002, ArchPGD. | 4 Ulrich Metzmacher: Verabschiedung VD Rudloff ELI 20.12.2002, ArchPGD.

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ELI_Buch_Vers_1.indb 184 16.08.12 12:07 DerDerDer Historiker HistorikerHistoriker Clemens ClemensClemens tttangerangerangerDDDinginging stelltstellt stellt DerDDerDDDerieieie evangelisCH evangelisCH HistorikerevangelisCH HistorikerHistoriker Clemens ClemenseClemensee eeelisabetlisabetlisabet tttangerangerHangerHH k kklinikliniklinikDDDinginging in inin stelltstellt stellt DeinzelnenDeinzelnenDeinzelnenieieie evangelisCH evangelisCHevangelisCH e eepisopisopisoDeDeDe en en eeneelisabetlisabetlisabet vonvon von i iiHHHHrenHrenHren k kklinikliniklinik a aanfängennfängennfängen in inin im imim einzelnenJaeinzelnenJaeinzelnenJaHHHrrr 1837 18371837 bis bis bis e eepisopisopiso in inin D DDDDieenieenieen g g vongvon vonegenwartegenwartegenwart i iiHHHrenrenren a a vor.avor. vor.nfängennfängennfängen im imim JaJaJaHHHrrr 1837 18371837 bis bisbis in inin D DDieieie g ggegenwartegenwartegenwart vor.vor. vor. Paul Gerhardt Diakonie (Hg.) Diakonie Gerhardt Paul (Hg.) Diakonie Gerhardt Paul (Hg.) Diakonie Gerhardt Paul Paul Gerhardt Diakonie (Hg.) Diakonie Gerhardt Paul (Hg.) Diakonie Gerhardt Paul (Hg.) Diakonie Gerhardt Paul

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