Erklärung der IG Metall anlässlich des 20. Jahrestages der politischen Wende in Ostdeutschland

Die soziale Einheit schaffen! Impressum

Herausgeber: Berthold Huber, Detlef Wetzel, Bertin Eichler v.i.S.d.P.: Martin Allespach

Redaktion: Funktionsbereich Gesellschaftspolitik und Grundsatzfragen (verantwortl.), Funktionsbereich Koordination der Vorstandsaufgaben, Berliner Büro, Bezirk Berlin--Sachsen, Bezirk , Bezirk Küste, Bezirk Niedersachsen und Sachsen-Anhalt

Gestaltung: WAHLE & WOLF, 56479 Elsoff Titelfoto: transit Berlin Druck: ???

November 2009 2 Jahre0 Die soziale Einheit schaffen! nach der

Erklärung der IG Metall anlässlich des 20. Jahrestages der politischen Wende Wendein Ostdeutschland

1 4 Wendezeiten – Ruf nach Demokratie

I. Wendezeiten – Ruf nach Demokratie

Der politische Aufbruch im Herbst 1989 markiert eine friedliche Revolution für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte.

Zwanzig Jahre danach befinden wir uns wieder in einem Vertrauensleute auf die Straße gegangen, um für eine gerech- Umbruch. Ob es auch ein Wendepunkt wird, muss sich noch te Zukunft zu kämpfen. Sie haben sich in Ostdeutschland zeigen. Die Politik und die Ökonomie müssen neu ausge- seitdem mit aller Kraft für Demokratie, für wirtschaftlichen richtet werden. Die Vorherrschaft der Finanzmärkte, die Gier Erfolg und für soziale Gerechtigkeit engagiert. Zahlreiche Kol- nach kurzfristigen, immer höheren Renditen muss durch eine leginnen und Kollegen aus dem Westen haben sich einge- neue Politik einer sozial und ökologisch verträglichen Wirt- reiht, als es darum ging, die Organisation neu aufzubauen. 2schaftsweise abgelöst werden. Auch heute gilt: Diese Rich- tungsänderung kommt nicht von allein. Ohne demokratische Auch heute steht die IG Metall für den Grundsatz gleich- Bewegung wird es keine Neuausrichtung der überlebten wertiger Lebensverhältnisse, für Demokratie in den Betrie- politischen und ökonomischen Logik geben. ben und in der Gesellschaft ein. Zwanzig Jahre nach der 0»Wende« sind uns Anlass, zurückzublicken und aktuelle In den neuen Bundesländern wurde viel erreicht, aber die Forderungen zu formulieren. Bilanz der letzten zwanzig Jahre fällt trotzdem zwiespältig aus. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich ist groß. Vie- I Das Wendejahr 1989 / 1990 len Menschen geht es materiell besser als 1989, viele sind Die politische Wende in Osteuropa fiel nicht vom Himmel, aber auch unverschuldet in die soziale Falle Arbeitslosigkeit sondern sie wurde von den Menschen erkämpft. Das alte und Hartz IV geraten. Trotzdem ist festzustellen: Die Herrschaftssystem war wirtschaftlich und moralisch bank- Umwelt hat profitiert. Die Infrastruktur ist nicht zu verglei- rott. Der Wandel in der Sowjetunion nahm ihm auch die chen mit dem Stand der Wendezeit. Die Industrie ist nach politische Machtgrundlage. Der Druck des Volkes auf die einem dramatischen Absturz wieder erheblich gewachsen. alte Führung im Jahr 1989 war so groß, dass der Einsatz Auf der anderen Seite wurden für Millionen von Menschen von Militär und Waffengewalt verhindert und ein Blutver- Lebensperspektiven zerstört. Langanhaltende Arbeitslosig- gießen vermieden werden konnte. keit und die Abhängigkeit von Sozialleistungen sind in vie- len Regionen immer noch doppelt so hoch wie im Westen Überall – in den Betrieben, in den Universitäten, in den Deutschlands. Wir beobachten krasse Unterschiede zwi- Medien – wurden alte Strukturen in Frage gestellt, Verant- schen Erfolg und Frustration, zwischen echten Wachstums- wortliche davongejagt. Dies galt auch für die Gewerkschaf- zentren und einer großen Zahl zurück bleibender Regionen. ten. Der FDGB hatte genau wie die SED sein Vertrauen bei Und: Es gibt zum Teil eine erhebliche Enttäuschung über den Beschäftigten in der DDR verspielt. das politische System der Bundesrepublik. In seiner Funktion als Erfüllungsgehilfe der SED hatte er Die IG Metall steht seit 1989 für eine Aufbau-Ost-Politik der die Partei höher gestellt als die Vertretung der Interessen Solidarität. Dafür sind tausende Metaller, Betriebsräte und der Arbeiter und Angestellten.

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Neue Interessenvertreter wurden gewählt, neue Parteien ostdeutschen Wirtschaft und der Einbruch der alten DDR- entstanden. Eine kurze Zeit lang mussten sich sogar die Exportmärkte waren eine allein nicht zu bewältigende Hypo- Geschäftsführer der Betriebe einem demokratischen Forum thek, abgesehen von der international instabilen Lage. Jahrestellen, wo über Vertrauensentzug und Neuwahl durch die Belegschaften entschieden wurde. Das Wort »Demokratie« Im Jahr 1990 wurden Weichen gestellt. An dem überwölben- wurde plötzlich mit Leben gefüllt. den Ziel »Einheit« hat es kaum Zweifel gegeben. Wer sich dagegen stellte, wurde von den Wählern abgestraft. Doch Die Menschen wollten Freiheit: Ein selbstbestimmtes Leben unterhalb des allseits akzeptierten Hauptziels »Einheit« setz- führen ohne Bevormundung, sich überall informieren und te die Bundesregierung unter Helmut Kohl Grundprinzipien ohne Angst kritisch äußern können, sich für die eigenen durch, die die Handlungsmöglichkeiten späterer Aufbau-Ost- Interessen ungehindert zusammenschließen dürfen und Politik einschränkten und die finanziell einseitig zu Lasten auch die Möglichkeit, frei zu reisen. Dieser Freiheitsgewinn der Arbeitnehmer in ganz Deutschland gingen: war enorm. Freiheit erfordert aber auch materielle Sicher- heit und Planbarkeit des Lebens. Diese notwendige Vorraus- • Bundesregierung und Bundestag entschieden sich für setzung von Freiheit sollte sich als problematisch erweisen. »Beitritt statt Neubeginn«. Die deutsche Einheit kam über den Grundgesetz-Artikel 23 zustande, nicht über Die »Wende« und der Wechsel in eine neue gesellschaft- den ebenfalls möglichen und auch von der IG Metall liche und ökonomische Ordnung waren mit großen Erwar- favorisierten Weg des Artikels 146. Dieser hätte einen tungen verknüpft. Die Menschen in der DDR wollten mit- gleichberechtigteren Zusammenschluss und eine klare bestimmen statt über sich bestimmen zu lassen. Sie wollten Zäsur für alle bedeutet. Stattdessen mussten sich nur auch denselben Wohlstand wie die Westdeutschen. die Ostdeutschen dem neuen Staat anpassen. Für die Westdeutschen änderte sich erst einmal nichts. Auch Nach der langen Zeit der Unzufriedenheit war die Begeis- heute noch wäre eine neue gesamtdeutsche Verfassung terung über den eigenen Erfolg und für die Idee einer ein erstrebenswertes Ziel, das der inneren Einheit gut täte. demokratischen Gesellschaft, in der man mitentscheiden kann, riesengroß. Für einen kurzen Moment schien ein • Die Übernahme der Rechtsordnung der BRD fand ihren neuer Weg möglich: Weg vom Staatssozialismus der DDR, Niederschlag im Alltag jedes einzelnen Menschen in aber auch nicht hin zum bloßen Anschluss an das politi- den neuen Bundesländern. Nicht nur die politischen und sche und wirtschaftliche System der BRD. ökonomischen Strukturen wandelten sich, sondern ebenso die Arbeitsbeziehungen und die rechtliche Dieser Moment des Aufbruchs, insbesondere in den Basis- Situation des einzelnen Arbeitnehmers oder Sozialver- gruppen und der Bürgerbewegung, dauerte nur Wochen, sicherten. dann war er durch die Entwicklung überholt. Der deutlich höhere Wohlstand im Westen zog an. Die Abstimmung mit In einer Phase größter Unsicherheit und Unübersicht- den Füßen, vom Westen gefördert, sowie die Schwäche der lichkeit waren es vor allem die Gewerkschaften aus der

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Bundesrepublik, die den Menschen mit Information und • Entscheidungen für eine gerechte Finanzierung der Ein- Beratung zur Verfügung standen, ihnen bei der Vertre- heit wurden nicht getroffen. Bis nach den Bundestags- tung ihrer Interessen halfen und ihnen Rechtsbeistand wahlen 1990 behauptete die Bundesregierung, die Kosten gewährten. Hunderte ehrenamtlicher wie hauptamtlicher der Einheit seien durch wirtschaftliches Wachstum gegen IG Metall-Kollegen-/innen, aktive wie ehemalige Betriebs- zu finanzieren. Schon Monate später begann die Fehl- räte-/innen haben Beschäftigten aus den neuen Bundes- finanzierung der deutschen Einheit über die Sozialver- ländern die Orientierung im neuen System erleichtert sicherungen. Zusätzlich wurde der Solidaritätszuschlag und damit einen wichtigen Beitrag zum friedlichen eingeführt. Im Ergebnis zahlten und zahlen die Arbeit- Verlauf der Transformationsprozesse geleistet. nehmerinnen und Arbeitnehmer in West und Ost den 2 Löwenanteil der Kosten der Einheit. Der Netto-Transfer • Der Umtauschkurs der Währungsunion war für die DDR- allein in der Arbeitslosenversicherung betrug 2003 neun Betriebe zu hoch, mehr an Wählerstimmen als an öko- Milliarden Euro, in der Rentenversicherung 26 Milliarden nomischer Entwicklung orientiert. Die Modalitäten der Euro. Währungsunion waren für die DDR-Betriebe ruinös.0 Da- durch gerieten sie betriebswirtschaftlich im Sommer 1990 Dieses wirtschaftspolitische Vorgehen hatte zur Folge, dass sofort in die Schieflage. Die Währungsunion setzte die die Eigeninitiative aus der ostdeutschen Wirtschaft heraus ostdeutsche Industrie außerdem über Nacht dem kapita- stark blockiert wurde. Eine eigenständige Entwicklung konnte listischen Weltmarkt aus. Weite Teile der Wirtschaft waren sich nur langsam und begrenzt herausbilden. nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Folge waren die höchs- ten Beschäftigungsverluste aller osteuropäischen Trans- Die IG Metall hat frühzeitig und mit aller Kraft für den de- formationsländer innerhalb der kürzesten Zeit. mokratischen Neubeginn und gegen die drohende Massen- arbeitslosigkeit gekämpft. Wir haben Erfolge errungen und • Der Umgang mit Grundeigentum entschied sich an den Niederlagen einstecken müssen. Vom ersten Tag an ist die Vermögensinteressen von Alteigentümern, ohne Rücksicht IG Metall eine der engagiertesten gesellschaftlichen Orga- auf die Interessen der Allgemeinheit. Mit dem Prinzip nisationen in Ostdeutschland. »Rückgabe vor Entschädigung« wurden den Betrieben nach dem Verlust der Absatzmärkte im Osten und nach • Bereits am 6. Dezember 1989 vereinbarten die Spitzen dem Kostendruck durch die Währungsumstellung auch von IG Metall und der alten IG Metall der DDR ein So- noch die wichtigsten Vermögenspositionen aus den fortprogramm zum Gewerkschaftsaufbau in der DDR. Bilanzen genommen. Ihre Schulden dagegen wurden Am 1. Januar 1990 wurde die IG Metall der DDR neuge- nicht erlassen. gründet. Dieser Demokratisierungsprozess bewirkte eine Loslösung aus der Umklammerung des FDGB und • Staatliche Unternehmensbeteiligungen zur Sicherung indus- eine finanzielle und organisatorische Eigenständigkeit trieller Substanz wurden verworfen. Die Treuhandanstalt – um dann, Monate später, allen Mitgliedern den Ein- wurde einseitig auf schnelle Privatisierung ausgerichtet. tritt in die nun gesamtdeutsche IG Metall zu empfehlen.

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Anders als manche Partei und die meisten Organisa- rifniveaus West und mit dem Ziel, in drei Jahren auf tionen beschloss die IG Metall einen radikalen Schnitt. 100 Prozent zu kommen. 1993 wurden die Verträge Jeder Einzelne konnte sich frei für den Beitritt ent- von der Arbeitgeberseite rechtswidrig aufgekündigt. Jahrescheiden, es gab keine bürokratische Überschreibung Es kam zu Arbeitskämpfen in Mecklenburg-Vorpom- von Mitgliederlisten. »Eine IG Metall für Deutschland« mern und Sachsen. Der Konflikt endete mit einer hieß die Schlagzeile der »Metall«-Sonderausgabe für Schlichtung zur Änderung des Stufenplans und zur die DDR, die am 11. Juni 1990 gemeinsam vom IG Einführung sogenannte Härtefallklauseln. Metall-Vorstand und dem Zentralvorstand der IG Metall der DDR herausgegeben wurde. Ab 1. Januar • Die IG Metall erarbeitete politische Forderungen für 1991 gab es nur noch eine IG Metall für die BRD. In Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Im Juli 1990 forderte sie den neuen Bundesländern hatte sie zu diesem Zeit- Strukturkonzepte und Investitionshilfen für die DDR. punkt 740 000 Mitglieder. Die IG Metall plädierte für einen schnellen politischen Zusammenschluss, nachdem die Betriebe mit der Wirt- • Die IG Metall begann schon im Juni 1990 die ersten schafts-, Währungs- und Sozialunion in große Schwie- Tarifverhandlungen für die Beschäftigten in der DDR. rigkeiten geraten waren. Die Position der IG Metall Denn ab 1. Juli 1990 warteten mit der Wirtschafts-, Wäh- damals wie heute: »Für Einheit und soziale Sicherheit.« rungs- und Sozialunion steigende Preise auf die Beschäf- tigten. Mit einer tarifpolitisch historischen Leistung wurde • Mit Demonstrationen auf der Straße und Forderungen die Arbeitszeit von 43,45 Stunden auf 40,0 Stunden auf Betriebsrätekonferenzen wurde auf den gesellschaft- reduziert, der Urlaub, das Einkommen und der Kündi- lichen Umbau Einfluss genommen. Zum Beispiel waren gungsschutz bis 30. Juni 1991 geregelt. Der Pilotab- die Reaktivierung der Zeiss-Stiftung und das Entstehen schluss wurde im Bezirk Küste erkämpft. Die IG Metall von Jenoptik der Erfolg der politischen Arbeit von Kol- stellte sich der Aufgabe, die Kaufkraft der Beschäftigten leginnen und Kollegen, die sich in der Größenordnung im Osten zu sichern und gleichzeitig das Lohngefälle von 30 000 Beschäftigten vor den Toren versammelten. zwischen Ost und West möglichst schnell anzugleichen. Auf ihren Druck hin veranlasste Ministerpräsident Duchacz Sonst drohten einerseits Billiglohnkonkurrenz im eige- die Regierung dazu, den Prozess finanziell mitzutragen. nen Land und andererseits Substanzverlust durch die Abwanderung gut qualifizierter Arbeitskräfte in Rich- • Im Oktober 1991 folgten Vorschläge zur Sanierung der tung Westen. Im Ergebnis erreichte die IG Metall Ein- Betriebe, die sich noch im Eigentum der Treuhandanstalt malzahlungen von 400 DM, einen Kündigungsschutz befanden (Treuhand-Industrieholding). »Sie muss das sowie die grundsätzliche Übertragung der Tarifverträge Kernstück einer vorwärts gerichteten Modernisierungs- zwischen den jeweiligen IG Metall-Partnerbezirken strategie werden«, hieß es in den »Darmstädter Thesen« West-Ost. Bereits 1991 wurden in allen ostdeutschen des IG Metall-Vorstandes. Die Bundesregierung hat diese Bezirken die Tarifverträge aus dem Westen übertragen, Vorschläge nicht aufgegriffen, sondern die Politik der beginnend mit einem Niveau von 62,5 Prozent des Ta- vorrangigen Privatisierung durchgezogen.

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• Die IG Metall hat den Aufbau Ost immer als eine Aufgabe führen, zu qualifizieren und so Voraussetzungen für des ganzen Landes verstanden. Dazu gehört die Forde- einen Wiederaufschwung zu schaffen. Dies wurde durch rung nach solidarischer Finanzierung. »Wir wollen alte viele Aktionen der Betroffenen vor Ort, vor den Land- Ungerechtigkeiten bei der Verteilung des vorhandenen tagen und in Berlin unterstützt. Volkseinkommens in Westdeutschland nicht übergehen. Wir wollen neue Ungerechtigkeiten bei der Verteilung • Die IG Metall hat sich immer wieder mit neuen Vor- des künftigen Vermögenszuwachses in Ostdeutschland schlägen für die Aufbau-Ost-Politik zu Wort gemeldet. nicht in Kauf nehmen«, schrieb der 1. Vorsitzende der In den einzelnen Ländern wurden industriepolitische IG Metall, Franz Steinkühler, im Vorwort der Broschüre Kampagnen entwickelt wie »Arbeit Leben Zukunft« in 2»Zur solidarischen Finanzierung der deutschen Einheit« Mecklenburg-Vorpommern. im Oktober 1991. Deshalb forderte die IG Metall, die Vermögenden stärker zur Finanzierung der Einheits- • 1998 legte die IG Metall das »Memorandum für die ost- kosten heranzuziehen. Zugleich stellte sie ein Modell deutsche Industrie« vor und forderte eine Neuausrich- zur betriebsübergreifenden Kapitalbeteiligung 0der tung der Förderpolitik. »Die Stärke der ostdeutschen Arbeitnehmer vor. Industrie ist eine der Schlüsselfragen, an denen sich die Zukunft unseres Landes entscheidet: Entweder für mehr • Gegen massive Entlassungen und Werksschließungen Gerechtigkeit oder für weitere Entsolidarisierung«, entwickelte die IG Metall unter anderem das Konzept schrieb der 1. Vorsitzende der IG Metall, Klaus Zwickel. der sogenannten ABS-Gesellschaften (Gesellschaften zur 2001 beteiligte sich die IG Metall mit dem Positionspa- Arbeitsförderung, Beschäftigungssicherung und Struk- pier „Grundsätze für das zweite Jahrzehnt im Aufbau turförderung). Hiermit sollten zunächst die entlassen- Ost“ an der Diskussion um den Solidarpakt II und for- den Unternehmen in die Pflicht genommen werden, derte eine »Politik neuer Ehrlichkeit« für Ostdeutsch- für die Betroffenen andere Arbeitsplätze zu schaffen. land. 2005 folgte das «Zukunftsprogramm Ost« mit Schon Mitte 1991 gab es eine Vereinbarung mit der einer breiten Palette an Vorschlägen und Forderungen Treuhand und den Länderregierungen, ABSen unab- »für eine Aufbau-Ost-Politik der Solidarität«. Der 1. Vor- hängig von den abgebenden Unternehmen zu finanzie- sitzende der IG Metall, Jürgen Peters, unterstrich im Vor- ren. 1993 kam es schließlich in einer abschließenden wort: »Es ist im Interesse des ganzen Landes, im Osten Regelung zu ABS-Fonds. In der Folgezeit wurden aus zu einer tragfähigen wirtschaftlichen Entwicklung zu diesen Mitteln massenhaft arbeitsmarktpolitische Pro- kommen, damit die erhebliche volkswirtschaftliche Bela- jekte für die Betroffenen unterstützt (Qualifizierung, stung durch den Aufbau Ost zurückgeführt werden kann. Sanierung von Altlasten, kommunale Infrastruktur etc.) Zudem gilt es, Angriffe gegen das im Grundgesetz veran- Die IG Metall suchte und fand neue Wege, um Men- kerte Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in der Bun- schen vor der drohenden Gefahr der Langzeitarbeits- desrepublik abzuwehren. Denn ausgleichende Regional- losigkeit zu bewahren. Es gelang, viele Menschen in politik und solidarische Finanzverfassung sind im Inter- Beschäftigung zu halten, sinnvolle Projekte durchzu- esse aller Arbeitnehmer.«

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II. Bestandsaufnahme

I 20 Jahre danach: Gesellschaft Gewerkschaften und Betriebsräte haben es in diesem Klima Wichtiges Merkmal der Entwicklung in Ostdeutschland ist das besonders schwer, Gehör zu finden. Die Vertretung eigener Nebeneinander von Erfolg und Misserfolg. Einige Beschäf- Interessen erscheint vielen Kolleginnen und Kollegen nach- Jahretigtengruppen – besonders in den boomenden Teilen der rangig oder sogar falsch, wenn sie an die vielen Deklassier- Industrie – haben Erfolg im Beruf und das Ziel gleichwertiger ten im eigenen Bekanntenkreis oder der Nachbarschaft den- Lebensverhältnisse erreicht. Der größte Teil der Beschäftigten ken. Gewerkschaften haben durchaus im Osten Organisations- erzielt trotz gleicher Arbeitsbedingungen und zum Teil länge- erfolge, aber z. B. stoßen sie mitunter auch in nicht tarif- rer Arbeitszeiten weiterhin nur Entgelte, die je nach Branche gebundenen Betrieben bei schlecht bezahlten Belegschaften um 20 – 30 Prozent unter der Bezahlung für vergleichbare auf Ablehnung. Der Satz »Sozial ist, was Arbeit schafft« hat Arbeit in Westdeutschland liegen. 2006 lagen die durch- viele geprägt. Die Aussage »besser einen schlechten Job als schnittlichen Nettoverdienste von Vollzeitbeschäftigten in keinen« teilen viele Menschen. Westdeutschland bei 2 025 Euro, in Ostdeutschland nur bei 1 499 Euro, also bei 75 Prozent. Darüber hinaus ist ein rele- Die starke Bindung an den Betrieb, verbunden mit der vanter Teil der erwerbstätigen Bevölkerung – teils in der In- Angst, nie wieder Beschäftigung zu finden, erklärt manches dustrie, stärker in den Dienstleistungsbereichen – trotz harter von der hohen Bereitschaft zu Zugeständnissen, die viele Arbeit auf aufstockende Leistungen nach ALG II angewiesen. Ostdeutsche an den Tag legen. Gleichzeitig hält die über- wältigende Mehrheit in Ostdeutschland am Ziel der Lohn- Die soziale Schieflage lässt sich besonders deutlich daran angleichung und gleichwertiger Arbeits- und Lebensver- erkennen, dass gerade Familien ihren Lebensunterhalt oft hältnisse fest. Diesen Widerspruch zu überwinden und nicht durch eigene Arbeit sichern können. 22 Prozent aller den Arbeitnehmern die disziplinierende Angst zu nehmen, Beschäftigten erhalten sogenannte Armutslöhne, also unter ist eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben 50 Prozent des Durchschnittseinkommens. Gemessen am in Ostdeutschland. bundesdeutschen Durchschnitt sind es sogar 40 Prozent. Hunderttausende sind abgewandert, viele ostdeutsche Auffällig sind die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien in Erwerbstätige pendeln in die alten Bundesländer, in Thü- Ostdeutschland. In diesem Zusammenhang wird argumen- ringen z. B. jeder achte. Eine große Gruppe ist seit Jahren, tiert, dass ausgeprägte rechte Einstellungen bei den Ost- häufig schon seit 1990, vom Arbeitsleben abgekoppelt. deutschen besonders verbreitet seien. Solche Deutungen Diese sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen treffen nicht zu. Wesentliche Merkmale rechtsextremer Grund- Entwicklungen spalten die Gesellschaft tief. einstellungen – Nationalismus, Antisemitismus, Verharmlo- sung des NS-Faschismus – sind in den alten Bundesländern Viele Menschen empfinden oder erleben so Perspektivlosig- ebenso vorhanden. Diese Einstellungen sind in Ostdeutsch- keit und Deklassierung. Dabei ist nicht nur die eigene Arbeits- land nicht wesentlich häufiger, werden aber offener gezeigt. losigkeit entscheidend, sondern die Angst vor Abstieg und Die Erfahrungen der ostdeutschen Bürger scheinen auch ins- mangelnder Perspektive. Diese Gefühlslage gibt es in ganz gesamt eine größere Skepsis gegenüber demokratischen Deutschland, aber im Osten ist sie stärker verbreitet. Institutionen und Verfahren bewirkt zu haben.

7 10 Bestandsaufnahme

Es besteht die Gefahr, dass die Wahlerfolge der Rechts- Die wirtschaftliche Dynamik ist regional sehr unterschied- extremen nicht nur kurzfristiger Natur sind. Das Problem lich ausgeprägt. Die Regionen entlang der Autobahn A4 „Rechte in Ostdeutschland“ wird sich nicht von selbst er- von Dresden bis Eisenach sowie im Umland von Berlin ledigen: Die Rechtsextremen sind in nicht wenigen Gemei- haben sich kräftig entwickelt, und die Lebensqualität ist nden und Städten in Ostdeutschland fest verankert. Die mit westdeutschen Standorten zumindest vergleichbar. Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus ist Auf- Dagegen sind viele der ohnehin dünnbesiedelten Regionen gabe aller zivilgesellschaftlichen Kräfte und staatlichen von weiterer Abwanderung, überdurchschnittlicher Arbeits- Einrichtungen. Sie ist ein politischer Auftrag und muss losigkeit und verbreiteter Hoffnungslosigkeit geprägt. Die öffentlich gefördert werden. meisten Kommunen sind finanziell zu schwach, um wirk- 2 sam gegenhalten zu können. Die IG Metall wird auch zukünftig den Rechtsextremismus energisch bekämpfen. Seit Jahren werden Projekte mit Ein wichtiger Indikator für den deutschen Einigungsprozess betrieblicher oder gesellschaftspolitischer Orientierung ist die Einkommensangleichung. Die anfangs schnelle Ein- durchgeführt, die über Rechtsextremismus aufklären0 und kommensangleichung stockt seit Mitte der 90er Jahre. Regio- Zivilcourage fördern. In vielen Verwaltungsstellen betei- nale Unterschiede der durchschnittlichen Einkommen gibt ligen sich daran insbesondere junge Kollegen und Kolle- es auch innerhalb der alten Bundesrepublik, aber das Gefäl- ginnen zusammen mit anderen Gewerkschaften und dem le ist sehr viel flacher als zwischen Ost und West. Es gibt DGB. Betriebsräte nutzen vielerorts die Möglichkeiten des eine weitverbreitete Gewöhnung an Niedriglöhne, sowohl Betriebsverfassungsgesetzes, um auch in den Unterneh- bei Arbeitgebern als auch bei Arbeitnehmern. So erhalten in men gegen rechtsextreme Umtriebe vorzugehen. Betriebs- Ostdeutschland – auch im verarbeitenden Gewerbe – 14 Pro- vereinbarungen können Hilfestellung bieten, wie die Bei- zent der Beschäftigten Entgelte unter 7,50 Euro (West sechs spiele EKO-Stahl (Eisenhüttenstadt) oder Jenoptik (Jena) Prozent). Selbst in Boombranchen wie der Solarindustrie zeigen. Die IG Metall ist fester Bestandteil der Zivilgesell- wird nicht mehr gezahlt. Es wird sogar mit den niedrigen schaft im Kampf gegen die neuen Nazis vor Ort und in Löhnen als Standortfaktor geworben. den Regionen. I 20 Jahre danach: Industrie I 20 Jahre danach: Wirtschaft Die Industrie ist Anfang der 90er Jahre regelrecht abgestürzt. Der Aufholprozess gegenüber westdeutschen Wirtschafts- Auf die Umbruchsituation folgte die Wirtschaftskrise 1993/94, leistungen kommt seit Ende der 90er Jahre nur noch sehr die besonders den Maschinenbau hart getroffen hat. Die langsam voran. Zeitweilig kam er zum Erliegen. Die Beschäftigung in der Industrie brach von ca. drei Millionen gesamtwirtschaftliche Produktivität steigt schneller als in (1989) über 1,6 Millionen im Jahr 1991 auf 540 000 im Jahr den westdeutschen Bundesländern und wird 2010 bei 80 1997 ein. Viele Betriebe überlebten nur durch das ausdau- Prozent des westdeutschen Niveaus liegen, aber ange- ernde Engagement ihrer Betriebsräte. Während sich Treu- sichts des fehlenden Wirtschaftswachstums in Deutschland handanstaltzuständige, Geschäftsführer und Unternehmens- kommt kein Beschäftigungsaufbau in Gang. berater die Klinke in die Hand gaben, blieben die Betriebs-

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räte in vielen Fällen die einzige Konstante und haben oft abteilungen ist deutlich geringer. Aber auch der Erfolg der durch ihre Aktionen die industriellen Kerne für die Zukunft »Leuchttürme« muss nicht von Dauer sein. Fördergelder erhalten. haben hier oftmals eine höhere Bedeutung als regionales JahreKnow-how. Dazu kommt die überwiegend kleinbetriebliche Seit 1997 ist die ostdeutsche Industrie auf niedrigem Niveau Struktur der ostdeutschen Wirtschaft, die den Aufbau von schnell gewachsen. Vor der aktuellen Wirtschafts- und Finanz- Forschung und Entwicklung erschwert oder verhindert. krise stand sie zuletzt relativ gut da. Die Zukunft erscheint heute wieder ungewiss. Die Umsätze haben sich mehr als Die kleinbetriebliche Struktur der ostdeutschen Industrie verdoppelt. Die Beschäftigung stieg um mehr als 200 000. erschwert die Wahrnehmung von strategischen Aufgaben wie Noch ist die industrielle Basis bei allen Wachstumserfolgen den Aufbau von Forschungs- und Entwicklungspotenzialen verglichen mit den alten Bundesländern schmaler: Die Indus- und die nötige Qualifizierung. Dazu benötigen diese Betriebe trie trug im Jahr 2008 19,6 Prozent zum ostdeutschen Unterstützung. Besonders gut eignen sich dafür Netzwerk- Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. In den alten Bundesländern strukturen, die an den jeweiligen Problemlagen angepasst trägt die Industrie 24,5 Prozent zum deutlich höheren west- sind und Verbindungen zu externen Einrichtungen herstellen deutschen BIP bei. Allerdings blieb das Einkommensgefälle können. Der Aufbau solcher Netzwerke bedarf öffentlicher beträchtlich. Auch in der metallverarbeitenden Industrie lag Förderung. Die betrieblichen Interessenvertreter müssen das Einkommen im Jahre 2006 bei ca. 70 Prozent brutto im darin vertreten sein, um ihre Akzeptanz und Wirkung sicher- Vergleich zu Westdeutschland. Eindeutig anders ist die zustellen und die Ideen der Beschäftigten einzubeziehen. Situation in den tarifgebundenen Betrieben. Hier liegen die Entgelte bei über 90 Prozent des Westniveaus. Daran Für die Stabilisierung der ostdeutschen industriellen Sub- lässt sich die Wirkung gewerkschaftlicher Arbeit deutlich stanz ist ein Beteiligungsfonds zur Unternehmenssiche- ablesen. rung (public equity) erforderlich, den die IG Metall bun- desweit fordert. Durch den Zusammenbruch der Finanz- Die Achillesferse der ostdeutschen Industrie ist die insgesamt und Vermögensmärkte steht zu wenig privates Beteili- schwache Innovationsleistung. In den ostdeutschen Betrie- gungskapital (private equity) zur Verfügung, um die Krise ben arbeiten weniger als halb so viele Forscher und Entwick- zu überbrücken. Deshalb ist es erforderlich, ausreichend ler wie im Westen. Ihr Altersdurchschnitt ist hoch, es fehlt öffentliches Beteiligungskapital (public equity) bzw. Bürg- an Nachwuchs. Viele Betriebe sind als »verlängerte Werk- schaften und Kredite bereitzustellen. Allerdings könnte die bänke« oder reine Produktionsbetriebe ohne Forschung und ostdeutsche Wirtschaft einen besonderen Beitrag zu einer Entwicklung konzipiert. Deren Konzept baut auf relativ ökologisch sinnvollen Erneuerung der industriellen Pro- geringem Lohnniveau und der kapitalbezogenen Wirt- duktionsweise leisten, vor allem auf dem Gebiet der er- schaftsförderung auf. Damit besteht eine erhebliche neuerbaren Energien. Der größte Teil der Forschung, Ent- Gefahr der Verlagerung in Billiglohnländer, und es werden wicklung und Produktion von Fotovoltaikanlagen findet weniger qualifizierte Arbeitsplätze geschaffen. Die Zahl der bereits in den neuen Bundesländern statt. Auch Wind- Unternehmen mit eigenen Forschungs- und Entwicklungs- und Bioenergie sind stark vertreten. In der Herstellung

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und Entwicklung, aber auch in der Installation und War- In Ostdeutschland sind die fatalen Wirkungen von ungesi- tung solcher Anlagen liegen erhebliche Beschäftigungs- cherter Beschäftigung und niedriger Bezahlung durch die potenziale. Hartz-Gesetze u. a. besonders deutlich spürbar, vor allem für Familien mit Kindern. Nach 2004 ist beispielsweise in Die Nutzung dieser Chancen ist in starkem Maße von einer Sachsen der Anteil der im Niedriglohnsektor arbeitenden gezielten öffentlichen Förderung abhängig, die auch mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten auf 26,6 Pro- politischen Auflagen wie Tarifbindung der Betriebe, Ausbil- zent angestiegen und liegt damit weit über dem Niveau der dungsbereitschaft usw. verbunden sein müsste. Die neuen alten Bundesländer. Leiharbeit und befristete Beschäftigungs- Bundesländer könnten so eine Pionierrolle für einen sozial- verhältnisse und alle Formen prekärer Beschäftigung sind 2ökologischen Industrieumbau spielen. in Ostdeutschland besonders stark verbreitet und werden von Arbeitgebern vor dem Hintergrund der doppelt so hohen I 20 Jahre danach: Arbeitsmarkt, Ausbildung, Arbeitslosigkeit auch gezielt als Disziplinierungsinstrument Altersversorgung und demografische Entwicklung gegen die Kernbelegschaften eingesetzt. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt in Ostdeutschland0 trotz neuer Arbeitsplätze in der Industrie und den unternehmens- Die geringe Kaufkraft der Arbeitslosengeld-Bezieher drückt bezogenen Dienstleistungen, trotz größter Mobilität und zusätzlich auf die Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutsch- trotz geringerer Löhne bei 1,1 Millionen (Juni 2009). Die land. Nur ein Viertel der arbeitslos Gemeldeten erhält Quote ist seit Jahren unverändert fast doppelt so hoch Leistungen nach dem ALG I. Alle Anderen sind auf das wie in den alten Bundesländern. geringe ALG II angewiesen. Eine Erhöhung des ALG II- Satzes und ein Sys-tem der gesetzlichen Absicherung Auch verstärktes Wachstum und offensivere Anwendung von von Mindestentgelten sind gerade in Ostdeutschland Arbeitszeitpolitik wird auf absehbare Zeit nicht ausreichen, dringend erforderlich. um die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland zu beseitigen. Viele Langzeitarbeitslose haben zudem nach vielen Enttäuschun- Hinzu kommen dramatische demografische Veränderungen. gen jede Hoffnung auf einen anständig bezahlten Vollzeit- Seit 1989 sind aus den neuen Bundesländern über zwei arbeitsplatz verloren oder sind wegen fehlender Mobilität Millionen Menschen abgewandert. Nach wie vor verlassen oder gesundheitlicher Einschränkungen kaum vermittelbar. Jahr für Jahr etwa 50 000 Personen Ostdeutschland. Dabei Aktive Arbeitsmarktpolitik ist weiterhin erforderlich. Unter den handelt es sich überproportional um junge Menschen, 1,1 Millionen Arbeitslosen in Ostdeutschland sind 330 000 Frauen und qualifizierte Fachkräfte. Zugleich ist die Gebur- über 50 Jahre alt, davon 180 000 über 55 Jahre. Dies sind tenzahl erheblich zurückgegangen. Die Folge ist eine star- Menschen, die auf dem heutigen Arbeitsmarkt kaum noch ke Überalterung, das Fehlen von Arbeitskräften und das eine Chance haben. Die Arbeitsmarktpolitik muss deutlich Ausdünnen der Bevölkerung in bestimmten Regionen, in aktiver werden, um Angebote für sozialversicherungs- denen es immer schwieriger wird, die nötige Infrastruktur pflichtige Beschäftigung zu ermöglichen sowie einen glei- aufrecht zu erhalten. Dadurch wird die ostdeutsche Wirt- tenden Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen. schaft zusätzlich belastet.

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Dies hat auch den ostdeutschen Arbeitsmarkt in den ver- und Universitäten gefordert, entsprechende Ausbildungs- gangenen Jahren gewaltig verändert. Seit Mitte der 90er gänge anzubieten. Jahre verließen im Jahr zwischen 220 000 bis 240 000 Schü- Jahreler die allgemeinbildenden Schulen, während jährlich nur Die IG Metall unterstützt zum einen praktische Modelle bei 80 000 – 90 000 Personen in Rente gingen. Damit war das der Rekrutierung von jungen Fachkräften, gerade auch aus ohnehin im Umbruch befindliche Ausbildungssystem über- dem Kreis der beruflich schlecht integrierten jungen Men- fordert, und selbst für die ausgebildeten Jugendlichen gab schen. Zum anderen fordern wir von den Betrieben Konse- es wenig berufliche Chancen. Von den geburtenstarken quenzen bei der Entgeltpolitik. Solange ostdeutsche Betrie- Jahrgängen hat ca. ein Drittel aller Schulabgänger keinen be deutlich niedrigere Entgelte zahlen als westdeutsche Einstieg in eine akzeptable Erwerbstätigkeit gefunden. Betriebe und darüber hinaus schlechtere Arbeitsbedingun- Man spricht daher auch von einer »verlorenen Generation«. gen bieten, besteht ein Anreiz zur Abwanderung nach West- Hier besteht ein dringender Handlungsbedarf. Diese jungen deutschland. Die Betriebe müssen in ihrem eigenen Interes- Menschen müssen in einen beruflichen Alltag integriert se tarifliche Entgelte und Arbeitsbedingungen bieten, um werden, der ihnen wieder Perspektiven bietet. Fachkräfte in Ostdeutschland zu halten bzw. zurückzuholen. Die Mitgliedschaft in tarifgebundenen Arbeitgeberverbänden Seit 2005 schlägt die demografische Situation um. Die Zahl und die Einhaltung von Flächentarifverträgen müssen zum der Schulabgänger geht rasant zurück. Sie werden sich bei Gütesiegel für Betriebe werden, um Abwanderung zu ver- weniger als der Hälfte der bisherigen Zahlen stabilisieren. hindern. Dagegen wächst die Zahl der Personen, die aus dem Erwerbs- leben ausscheiden. Damit droht heute ein einschneidender Ohne eine sofortige massive Bildungs-, Ausbildungs- und Facharbeitermangel, der die wirtschaftliche Entwicklung er- Weiterbildungsoffensive stehen die Betriebe auch wegen heblich belasten wird. Die IG Metall hat bereits frühzeitig verstärkter Verrentungen in den nächsten Jahren vor großen auf die sich anbahnende, demografisch bedingte Nachwuchs- Personalproblemen. Für die Auszubildenden und Arbeitneh- lücke hingewiesen. Heute stehen die Betriebe vor den Er- mer bietet dies die Chance, mit Hilfe der IG Metall tarifliche gebnissen ihrer eigenen Untätigkeit. Schon jetzt macht sich Ausbildungsvergütungen ebenso durchzusetzen wie eine wei- das Fehlen des Facharbeiternachwuchses deutlich bemerk- tere Angleichung der Entgelte. bar. Aufgrund der geringen Schulabgängerzahlen sollten die ostdeutschen Betriebe verstärkt um Auszubildende und Stu- Anders ist die Situation bei den ostdeutschen Rentnerinnen dierende werben. Dazu zählen bei den Auszubildenden ins- und Rentnern. Ihre Renten liegen deutlich über der allgemei- besondere tarifliche Ausbildungsvergütungen und eine unbe- nen Einkommensangleichung. Dennoch droht vielen zukünf- fristete Übernahme in ein Ausbildungsverhältnis. Für Studie- tigen ostdeutschen Rentnerinnen und Rentnern Altersarmut. rende könnte durch Stipendienregelungen eine Bindung an Die Ursachen sind – neben der allgemeinen Absenkung des die Betriebe gefördert werden. Die Zahl der Studierenden Rentenniveaus und der Anhebung der Altersgrenzen – die im Praxisverbund (duales Studium) ist in Ostdeutschland häufig langen Zeiten der Arbeitslosigkeit sowie das insge- deutlich niedriger als in Westdeutschland. Hier sind Betriebe samt niedrigere Lohnniveau. Zudem sind Betriebsrenten in

11 14 Bestandsaufnahme

Ostdeutschland kaum verbreitet. Wir wollen auch in Ost- Eine effektive und zielgenauere Wirtschaftsförderung ist deutschland Renten, die die Altersarmut vermeiden und den möglich, wenn das Wissen der Betriebsräte genutzt wird. Lebensstandard sichern. Auch wenn es keine einfachen Lö- Direkte Finanzhilfen und Bürgschaften an Betriebe sollten sungen gibt, hält die IG Metall an der Gleichstellung der Ren- obligatorisch an eine Stellungnahme der Arbeitnehmerseite ten fest. Dies wäre durch die Umsetzung der Vorschläge der gebunden werden. Betriebsrat und zuständige Gewerk- IG Metall für einen Neuen Generationenvertrag gewährleistet. schaft äußern sich darin über die Einhaltung des arbeits- und tarifrechtlichen Rahmens und über die Beschäfti- I 20 Jahre danach: Wirtschaftsförderung gungsrelevanz der beantragten Förderung. Die bisherige Wirtschaftsförderung der Unternehmen hat An- 2siedlungen und Wachstum der Betriebe vorangebracht. Ihre I 20 Jahre danach: Finanzierung Schwerpunkte entsprechen aber nicht mehr dem erreichten Die IG Metall tritt für eine solidarische Finanzierung der Stand der Betriebe und Branchen. Förderung von Investitio- öffentlichen Aufgaben ein. Dies gilt auch für den regionalen nen ist angesichts des wirtschaftlichen Gefälles auch in Zu- Ausgleich. Dafür müssen hohe Einkommen und Vermögen kunft unverzichtbar, sie kann aber effektiver gestaltet 0werden. stärker zur Steuerleistung herangezogen werden. Ohne soli- darisch finanzierte öffentliche Haushalte werden schwächere Die IG Metall hat bereits 2005 gefordert, das finanziell be- Regionen dem wirtschaftlichen Strukturwandel kraftlos aus- deutendste Förderinstrument in den neuen Bundesländern, geliefert. Deshalb bleiben die finanziellen Anstrengungen die Investitionszulage, nicht weiter zu verlängern, sondern auch für den Aufbau Ost richtig. Aber auch im früheren Zo- stattdessen gezielter zu fördern. Ziele wären Stärkung von nenrandgebiet, in Norddeutschland, im Ruhrgebiet und in Clusterstrukturen, Netzwerken und Innovationskraft. Diese anderen Regionen über ganz Deutschland verstreut liegen Position bleibt richtig. Der Rechtsanspruch auf Investitions- strukturschwache Gebiete mit hoher Arbeitslosigkeit, die auf zulage führt zu unnötigen Mitnahmeeffekten. Viele Unterneh- die Solidarität des Bundes und der starken Länder ange- mer haben sich zu sehr an die pauschale Förderung gewöhnt wiesen sind. Die solidarische, kooperative Finanzverfassung und vernachlässigen die Zukunftsaufgaben Innovation und zu verteidigen, ist im Interesse aller Arbeitnehmerinnen und Qualifizierung. Dieser Haltung muss durch inhaltliche Förder- Arbeitnehmer. ziele und Auflagen begegnet werden. Die Haushalte der ostdeutschen Bundesländer werden in Personalentwicklung, Arbeitsorganisation und Arbeitsgestal- den nächsten Jahren unter mehrfachen Druck geraten: Die tung sind weitere Schlüsselfaktoren für die wirtschaftliche EU-Mittel und die Zahlungen aus dem Solidarpakt II wer- Entwicklung. Investitionshilfen müssen verbindlicher als bis- den – unabhängig vom Stand der wirtschaftlichen Ent- her an die Schaffung von Arbeitsplätzen und an Qualifizie- wicklung – zurückgehen. Der Länderfinanzausgleich wird rungsprogramme geknüpft werden. Wirtschaftsförderung für dies nicht auffangen. Und die Schuldenbremse trifft alle Unternehmen muss zurückgefordert werden, wenn angekün- finanzschwächeren Länder ganz besonders. Als Folge wer- digte Investitionen oder Arbeitsplätze ausbleiben oder Pro- den die öffentlichen Investitionen in Ostdeutschland zu- duktionsverlagerungen ins Ausland erfolgen. rückgehen. Heute ausbleibende Investitionen in Straßen

1512 Bestandsaufnahme

oder Schulen gehen aber zu Lasten künftiger Generatio- Die Arbeitgeber haben den Konsens frühzeitig verlassen und nen und Wachstumspotenziale. den Stufentarifvertrag 1993 gekündigt. Diesen Angriff konn- te die IG Metall durch einen Streik abwehren. JahreSchließlich: Der Anteil der Sozialleistungen an den Ge- samteinkommen ist in vielen Regionen Ostdeutschlands Viele Arbeitgeber organisierten sich allerdings gar nicht viel höher als im Westen. So liegt der Anteil der Renten erst in Arbeitgeberverbänden. Das galt vor allem für die am verfügbaren Einkommen in Ostdeutschland bei 21 zahlreichen Neugründungen. In den folgenden Jahren des Prozent, im Westen bei 14 Prozent. Der Anteil des Arbeits- industriellen Niedergangs, der Arbeitslosenquoten um 20 losengeldes bei sieben Prozent gegenüber drei Prozent Prozent und der Herausbildung der kleinbetrieblich ge- im Westen. prägten Struktur, sank die Organisationskraft der IG Me- tall. Parallel entwickelten die organisierten Arbeitgeber Sollte der Staat wegen der Finanzkrise und der Verschuldung neue Strategien, die bis heute Einfluss auf die ostdeut- zu Kürzungen im Sozialbereich greifen, würde dies die sche Tariflandschaft nehmen. In Sachsen kündigte ein gro- ostdeutschen Länder noch einmal ungleich stärker treffen als ßer Teil dieser Arbeitgeber seine Mitgliedschaft im Ver- den Westen. Die IG Metall fordert eine finanzpolitische band und damit die Bindung an den Flächentarif und ging Umkehr. Die verfassungsrechtlich ohnehin zweifelhafte Schul- in einen neuen Verband ohne Tarifbindung. Damit gibt es denbremse sollte aufgehoben werden. Die strukturpoliti- keinen relevanten Arbeitgeberverband mehr. Die Arbeitge- schen Aufgaben müssen solidarisch finanziert werden und ber wollen aus der Verantwortung für die Tarifautonomie alle ostdeutschen Bundesländer und Kommunen hand- flüchten und durch Verträge mit Organisationen ohne wirk- lungsfähig bleiben. liche Mitgliederbasis in den Betrieben und ohne Durchset- zungskraft die gewerkschaftliche Interessenvertretung I 20 Jahre danach: spalten. Sie entziehen sich damit bewusst ihren gesell- Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen schaftspolitischen Verpflichtungen und ihrer Verantwor- Die IG Metall strebt gleichwertige Lebensverhältnisse in tung als Sozialpartner. allen Regionen Deutschlands an. Sie nimmt den grundge- setzlichen Auftrag ernst. Flächentarifverträge bilden eine Höhepunkt dieser negativen Entwicklung war die Auseinan- verlässliche Grundlage zur Schaffung und Sicherung gleich- dersetzung um die Angleichung der Wochenarbeitszeiten im wertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Sie sind das Jahr 2003. Der Arbeitskampf im Tarifgebiet Sachsen im Instrument für Min-deststandards und gegen Lohndum- Jahr 2003 zur Einführung der 35-Stunden-Woche konnte ping. Dass diese Grundsätze auch für die neuen Bundes- nicht erfolgreich beendet werden. Bis heute gilt mit der 38- länder gelten sollten, stand für IG Metall und Arbeitgeber- Stunden-Woche in der ostdeutschen Metallindustrie eine verbände im Jahr 1990 außer Frage. Der im Jahr 1991 ab- um drei Stunden längere Arbeitszeit als im Westen. Dagegen geschlossene Stufentarifvertrag zur Angleichung der Löhne konnte in der ostdeutschen Stahlindustrie die 35-Stunden- und Gehälter bis 1994 war das Ergebnis dieser gemeinsa- Woche durchgesetzt werden. Sie trat am 1. Oktober 2009 in men tarifpolitischen Verantwortung. Kraft.

13 16 Bestandsaufnahme

Auch die in Westdeutschland gewachsene demokratische zwischen West und Ost nicht dauerhaft aufrecht erhalten. Mitbestimmungskultur wurde und wird in Ostdeutschland Gerade gut ausgebildete Beschäftigte und Schulabgänger zum Teil in Frage gestellt, zum Teil massiv bekämpft. In vie- werden sich auf Dauer nicht mit den heutigen Entgeltunter- len Betrieben werden Betriebsratsgründungen behindert schieden abspeisen lassen. Aus diesem Grund entdeckt oder verhindert. Beschäftigte werden mit unwahren Behaup- inzwischen eine wachsende Zahl von Arbeitgebern wieder tungen gegen Gewerkschaften oder Betriebsratswahlen in den Wert verlässlicher Tarifbeziehungen. Das bietet eine Stellung gebracht bis hin zu körperlichen Angriffen auf aktive große Chance zur Stärkung der Tarifverträge. Die Tarifbin- Gewerkschafter. Gerade in Betrieben der erneuerbaren Ener- dung der Unternehmen in Ostdeutschland wird allerdings gien werden sogenannte Mitarbeitervertretungen installiert – im Durchschnitt wohl noch über Jahre hinweg geringer als 2mit geringeren Rechten als Betriebsräte. Die massive Ein- in den alten Bundesländern sein. Aber der Tiefpunkt der schüchterung erschwert die Bildung von Betriebsräten. Entwicklung scheint überschritten. Die IG Metall wird des- halb wo irgend möglich im Zusammenwirken mit aktiven Die IG Metall verteidigt ausdrücklich die verfassungsgemäßen Belegschaften die Tarifbindung für zusätzliche Betriebe Rechte von Beschäftigten auf die freie Wahl von Betriebsrä-0durchsetzen. ten und auf den freien Zugang von Gewerkschaften zu den Betrieben. Sie tritt zugleich weiterhin für starke Flächentarif- Die Regelung qualitativer Inhalte ist ein weiterer Weg, um verträge in den neuen Bundesländern und eine Annäherung die Tarifbindung zu stärken. Denn die IG Metall regelt mit an das Westniveau ein. Damit führen wir eine auch industrie- den Tarifpartnern nicht nur Löhne, Gehälter und Arbeitszei- politisch zentrale Auseinandersetzung. Die Weigerung vieler ten. Sie regelt auch Bereiche der Ausbildung (wie in Meck- Unternehmen, Tarifverträge abzuschließen oder ihr Austritt lenburg-Vorpommern), der Beschäftigungssicherung und aus den Verbänden bringt ihnen allenfalls kurzfristige Vor- Qualifizierung, der Alterssicherung (Metall-Rente), bis hin teile. Ein Kostenunterbietungswettlauf ist von niemandem zur Absicherung wachstumsorientierter regionaler Unter- zu gewinnen. Die allgemeine »Billig-Philosophie« höhlt die nehmenskooperation (Tarifvertrag zur Arbeitnehmerüberlas- Leistungsfähigkeit der Betriebe aus, sie geht zu Lasten der sung in Chemnitz) bzw. Unternehmenssicherung (Thürin- Arbeitsbedingungen wie der Produktqualität, mittelfristig zu gen). Lasten der Innovationsfähigkeit. Wer sich als Billiganbieter profiliert, gibt die ertragsstärkeren und zukunftsentscheiden- den Märkte auf. Er wird auch auf Dauer als Arbeitgeber un- attraktiv und wird die aktiven und leistungsfähigen Beschäf- tigten an tariflich zahlende Arbeitgeber in West oder Ost verlieren.

Angesichts der demografischen Probleme und daraus resul- tierender Fachkräfte- und Nachwuchsknappheit lässt sich der aktuelle Abstand zwischen den Entgelten und Arbeitszeiten

1417 Blick nach vorn

III. Blick nach vorn

Politik, Gesellschaft und wir selbst können aus der „Wende“ von 1989 und der Entwicklung seitdem lernen. Jahre• Der Kampf für ein »Gutes Leben« muss täglich geführt Die ehemalige DDR ist zu einem Gebiet geworden, in dem werden. Wer stehen bleibt, fällt zurück in der Auseinan- sich ein sozial wenig gebändigter Kapitalismus durchgesetzt dersetzung mit den Gegnern der Demokratie und aus- hat. Dies muss auch Konsequenzen für Westdeutschland beuterischen Unternehmern. Wir müssen unsere Orga- haben. Spätestens mit dem Ausbruch der Finanzkrise sind nisation stärken. solche Wirtschaftsformen auf breiter Front in die Kritik gera- ten. Es kommt jetzt darauf an, bei der Krisenbekämpfung • Mitbestimmungsrechte sind Aktivposten, keine Brems- auch für die neuen Bundesländer die Weichen richtig zu klötze. Wer die demokratische Bewegung von 1989 feiert, stellen. sollte über Demokratie im Alltag und im Betrieb nicht schweigen. Betriebsräte und Arbeitnehmer wissen gerade Für die weitere Entwicklung in den neuen Ländern sind in der Krise am besten, was für ihren Betrieb zu tun ist. folgende Projekte/Ziele für die IG Metall wichtig: Sie müssen gestärkt und nicht geschwächt werden. 1. Die Angleichung der Lebensverhältnisse bleibt für uns • Deutschland braucht eine starke Industrie. Die industriel- zentrale Perspektive. Dies kann dauerhaft nicht allein le Arbeit ist die wichtigste wirtschaftliche Basis, die wir über staatliche Transfers geschehen. Deshalb gilt es, an haben. Der Aufbau Ost ist erst mit dem Wiedererstarken der weiteren Angleichung der Entgelte und Arbeitszei- der Industrie in Tritt gekommen. Die industrielle Sub- ten festzuhalten. Regionale Unterschiede, wie sie be- stanz in Deutschland muss erhalten bleiben, damit reits seit längerer Zeit, z. B. zwischen Nord- und Süd- Beschäftigung, Einkommen und »Gutes Leben« möglich deutschland bestehen, werden sich nicht völlig ver- sind. meiden lassen. Dies ändert nichts an dem Ziel, sie möglichst gering zu halten. • Privatisierung und ungeregelte Märkte sind kein Allheil- mittel und kein Naturgesetz. Die Entstaatlichungs-Ideolo- 2. Die fünf neuen Länder haben keine Zukunftsperspektive gie von Treuhandanstalt und Kohl-Regierung darf sich in als Regionen minderen Rechts und niedrigster Löhne für der jetzigen Krise nicht wiederholen. Öffentliches Eigen- die dort lebenden Menschen. Wir brauchen eine breite tum auch an Industriebetrieben muss möglich sein. gesellschaftliche Verständigung darüber, dass angemes- sen bezahlte, gute Arbeit und Wertschätzung sowie Mit- • Außerordentliche Herausforderungen müssen gerecht bestimmung am Arbeitsplatz die einzig lohnende Per- finanziert werden. Es ist ökonomisch sinnvoller und spektive für die Wirtschaft in den neuen Ländern dar- gerechter, dafür die hohen Einkommen und Vermögen stellt. Dies muss sich sowohl in der Entgeltpolitik der heranzuziehen, als die laufenden Masseneinkommen Betriebe wie in der Wirtschaftsförderung niederschlagen. noch stärker zu belasten. Die IG Metall fordert deshalb, öffentliche Förderung

15 18 Blick nach vorn

nur an Betriebe zu vergeben, die die Bildung von Be- Forschungsinstitute die Aufgabe, die kleineren Betriebe triebsräten und deren Tätigkeit sowie Gewerkschafts- in Innovationsnetzwerken einzubinden. aktivitäten nicht behindern. 6. Das Fehlen von Nachwuchskräften ist eines der größten 3. Die Angleichung der Lebensverhältnisse ist eine öffent- Probleme für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung liche Aufgabe, die finanziell solidarisch unterstützt wer- in den neuen Bundesländern. Es kann nur gestoppt den muss. Eine Förderung der ostdeutschen Wirtschaft werden, wenn die Entwicklungsperspektiven für junge ist nach wie vor nötig. Die IG Metall setzt sich allerdings Menschen – gerade auch für junge Frauen, die beson- dafür ein, dass anstelle der pauschalen Investitionszula- ders zahlreich abwandern – in Ost- wie Westdeutsch- 2ge eine gezielte Förderung tritt. Dadurch sollen unpro- land sich weiter annähern. Hierzu müssen aus den duktive Mitnahmeeffekte vermieden werden und inno- Betrieben die notwendigen Signale bei Ausbildungs- vative Kerne gestärkt, Netzwerke ausgebaut und Maß- vergütung, Einstiegsentgelten und Berufsperspektiven nahmen gefördert werden, die langfristig Arbeitsplätze kommen. Wir fordern auch, Wege wie das duale Studium schaffen. Finanzhilfen und Bürgschaften an Betriebe0 soll- und Stipendien wesentlich stärker auszubauen. Der ten an eine Stellungnahme der Arbeitnehmerseite ge- Fachkräftemangel bietet aber auch Chancen, zu mehr bunden werden. Eine mögliche Kreditverknappung muss und besseren Tarifregelungen zu gelangen. durch öffentliche Finanzierungsprogramme ausgeglichen werden. 7. In den neuen Bundesländern ist eine offensive Arbeits- marktpolitik notwendig. Die großen Unterschiede bei 4. Die Industrie hat sich in den letzten Jahren zu dem Wachs- der Abhängigkeit von Sozialleistungen (insbesondere tumsfaktor in Ostdeutschland entwickelt. Sie hat entge- ALG II) zwischen Ost und West dürfen nicht hingenom- gen dem immer noch verbreiteten Bild von der Entin- men werden. Diejenigen, die heute oft schon jahrelang dustrialisierung heute in einzelnen Regionen durchaus Hartz IV-Leistungen beziehen, dürfen nicht abgeschrie- wieder eine Bedeutung wie in westdeutschen Regionen. ben werden. Wir brauchen eine flächendeckende Struk- Diese Stärke muss auch in der Krise bewahrt werden. tur von Aktivitäten zur Reintegration dieser Menschen Hierfür ist auch das Instrument der öffentlichen Beteili- in Erwerbsleben und Gesellschaft. Auch die Betriebe gung in Form eines Beteiligungsfonds zur Unternehmens- müssen diese Anstrengungen mittragen. Das ALG II sicherung (public equity) einzusetzen. selbst muss verbessert werden.

5. Für die weitere Entwicklung der ostdeutschen Industrie Dazu gehören Qualifikationsmaßnahmen, aber auch öf- ist die Stärkung ihrer Innovationskraft von zentraler fentlich geförderte Arbeitsplätze oder Arbeitseinstiege. Bedeutung. Wir fordern die größeren Unternehmen auf, Dringend gebraucht werden Modelle für die sogenannte die »verlängerten Werkbänke« um Forschung und Ent- »verlorene Generation«, also diejenigen jungen Arbeit- wicklung anzureichern. Gleichzeitig haben diese »Leucht- nehmer/-innen, die seit Mitte der 90er kaum Fuß fassen türme« sowie die Hochschulen und die unabhängigen konnten, oft sogar mit Fachausbildung nicht.

1916 Blick nach vorn

Nötig sind dafür längerfristige Projekte, weil es hierbei 10. In der Tradition der friedlichen Revolution von 1989 muss auch um psychische und soziale Stabilisierung geht. die demokratische Kultur in den neuen Bundesländern gestärkt werden. Rechtsextreme Parteien und Organisa- Jahre8. Es müssen auch Perspektiven geschaffen werden für tionen werden von uns entschieden bekämpft. Die Her- ältere Arbeitnehmer, die keine reale Chance auf Berufs- stellung stabiler Tarifstrukturen, der Aufbau von Betriebs- tätigkeit mehr haben. Die IG Metall schlägt vor, das in räten in möglichst vielen Betrieben und die Durchfüh- Sachsen-Anhalt erfolgreich erprobte Programm »Aktiv rung von Betriebratswahlen unter breiter Beteiligung der zur Rente« auf alle neuen Bundesländer auszuweiten. Beschäftigten ist eine wesentliche Initiative der Gewerk- Das Programm ermöglichte es bis 2005, über 55-jähri- schaften zur Stärkung der Demokratie in den neuen gen Langzeitarbeitslosen durch Lohnkostenzuschüsse Bundesländern. Deshalb werden wir in mehr Betrieben eine sozialversicherungspflichtige fünfjährige vollwerti- Betriebsratswahlen durchführen und dadurch einen be- ge Beschäftigung in gesellschaftlich sinnvollen sozialen sonderen Beitrag zur Ausweitung von demokratischen Bereichen zu verschaffen. Durch die gebrochenen Erwerbs- Beteiligungsstrukturen leisten. biographien droht langfristig eine dramatische Alters- armut der Rentner. Der von der IG Metall geforderte neue Generationenvertrag mit einer zunächst auf fünf Jahre befristete Beschäftigungsbrücke ist in den neuen Bundesländern besonders dringlich. Er bedeutet für die Älteren einen sozialverträglichen Weg in den Ruhe- stand und für die Jüngeren bessere Beschäftigungs- chancen.

9. In den neuen Bundesländern gibt es erhebliche Poten- ziale für einen ökologischen Umbau der Wirtschaft, ins- besondere für eine Wende in der Energiepolitik. Manche Landkreise produzieren ihre elektrische Energie bereits heute überwiegend aus alternativen Quellen. Die Pro- duktion, Installation, Wartung und Weiterentwicklung alternativer Energieträger ist ausbaufähig und könnte ein erheblicher Beschäftigungsfaktor sein. Die nötige öffentliche Förderung müsste allerdings an klare Vor- gaben – wie das Vorhandensein von Tarifbindung und Betriebsräten – gebunden sein. Unter diesen Umständen könnte die Wirtschaft in den neuen Bundesländern sogar ein Stück Vorbildcharakter für den Westen erhalten.

17 20 Forschungsergebnisse der Otto Brenner Stiftung zu Ostdeutschland

OBS-Arbeitshefte Frankfurt/Main, November 2009

Bestellungen unter www.otto-brenner-stiftung.de

Die deutsche Einheit zwischen Lust und Frust – Ergebnisse Im Windschatten beschleunigt: Die Automobilindustrie in der »Sächsischen Längsschnittstudie« Ostdeutschland 1995-2006 – Ansatzpunkte einer arbeits- Peter Förster, Yve Stöbel-Richter, Hendrik Berth, Elmar Brähler orientierten Branchenstrategie Arbeitsheft 60, Juli 2009 Christoph Scheuplein, Ulrich Jürgens, Heinz-Rudolf Meißner und Andreas Hüner Die Elektroindustrie in Ostdeutschland – Entwicklung Arbeitsheft 49, September 2007 1995-2006 und Ansatzpunkte einer arbeitsorientierten Branchenstrategie Der Maschinenbau in Ostdeutschland – Ansatzpunkte Jörg Hennersdorf, Gregor Holst, Walter Krippendorf einer arbeitsorientierten Branchenstrategie Arbeitsheft 58, April 2009 Michael Berka, Jörg Hennersdorf, Gregor Holst, Walter Krippendorf, Ursula Richter Solarindustrie als neues Feld industrieller Qualitäts- Arbeitsheft 47, März 2007 produktion – das Beispiel Photovoltaik Ursula Richter, Georg Holst und Walter Krippendorf Entschuldungsinitiative Ost? – Eine Bewertung der Finanz- Arbeitsheft 56, September 2008 politik in Ostdeutschland Dr. Dieter Vesper Die Holz- und Möbelindustrie in Ostdeutschland – Entwick- Arbeitsheft 46, November 2006 lung 1995-2006 und Ansatzpunkte einer arbeitsorientier- ten Branchenstrategie Die Struktur der Bahnindustrie in Ostdeutschland – Walter Krippendorf, Christoph Scheuplein unter Mitarbeit Ansatzpunkte einer arbeitsorientierten Branchenstrategie von Gregor Holst Michael Berka, Jörg Hennersdorf, Gregor Holst, Arbeitsheft 53, April 2008 Walter Krippendorf, Ursula Richter Arbeitsheft 45, November 2006 Wie spezifisch sind die Entwicklungen in Ostdeutschland? Angleichung der industriellen Modernisierungsprozesse in Erfolgreiche Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe Ost- und Westdeutschland Ostdeutschlands – Ansätze für eine wirtschaftspolitische Anja Jakszentis und Ulrich Hilpert Gestaltungsperspektive Arbeitsheft 52, Dezember 2007 Michael Behr, Thomas Engel, Andreas Hinz, Rudi Schmidt Arbeitsheft 44, Juli 2005 Perspektiven der ostdeutschen Textilindustrie – Grundrisse einer arbeitsorientierten Branchenstrategie Aufbau Ost und die Rolle der Förderpolitik Ursula Richter Dr. Astrid Ziegler Arbeitsheft 50, Oktober 2007 Arbeitsheft 43, Juli 2005

2118 Regionale Entwicklungsunterschiede in Ostdeutschland im Sozialbeziehungen in der gewerblichen Metallwirtschaft Vergleich – Differenzierungen in den neuen Bundesländern Mecklenburg-Vorpommerns als Teil der Ostseeregion – von und Angleichungen an die alten Länder der Industrialisierung bis zur Gegenwart Anja Jakszentis, Prof. Dr. Ulrich Hilpert Dr. Friedrich Stamp Arbeitsheft 42, Juli 2005 Arbeitsheft 35, November 2003

Gesamtwirtschaftliche Aspekte des Aufbau Ost Arbeitsmarktpolitische Reformen im Kontext der Vorschläge Thomas Krause der Hartz-Kommission – Chancen und Risiken für den Arbeitsheft 41, Juli 2005 ostdeutschen Arbeitsmarkt Dr. Alexandra Wagner, Dr. Karsten Schuldt Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Personal- und Arbeitsheft 34, Oktober 2003 Qualifizierungspolitik angesichts von Abwanderung und Überalterung am Beispiel der Werftindustrie in Vorpommern Genossenschaftliche Entwicklungsstrategien zur Schaffung Dr. Rainer Benthin, Ralf Hamm und Sicherung neuer Arbeitsplätze in Stadtteilgenossen- Arbeitsheft 40, Mai 2005 schaften und Beschäftigungsinitiativen unter besonderer Berücksichtigung von Beispielen aus Berlin, Brandenburg Auswirkungen der Brennstoffzellentechnologie auf die KFZ- und Sachsen Zuliefererindustrie in der Automobilregion Südwestsachsen Michael Sobanski, Berliner Service-Genossenschaft eG Ursula Richter, Lutz Reichelt Arbeitsheft 33, Juli 2003 Arbeitsheft 39, Oktober 2004 Analyse veränderter Tätigkeitsinhalte, Arbeits- und Arbeitslosigkeit und Gesundheit – Ergebnisse der Sächsi- Lebensbedingungen in der sächsischen Textilindustrie schen Längsschnittstudie, 17. Welle 2003 Alrun Fischer, IMU Institut Berlin/Dresden Prof. Dr. Peter Förster, Dr. Hendrik Berth, Arbeitsheft Nr. 32, März 2003 Prof. Dr. Elmar Brähler Arbeitsheft 37, Juni 2004 Zwangsarbeit in der Berliner Metallindustrie 1939 bis 1945 – eine Firmenübersicht Die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen als Chance Tanja von Fransecky für die Region Berlin-Brandenburg – Perspektiven eines Arbeitsheft Nr. 31, März 2003 regionalen Kompetenzzentrums für Ost-West-Kooperation im Rahmen der EU-Osterweiterung Diesseits und jenseits des Tarifvertrages – Die Gestaltung Prof. Dr. Stefan Krätke, Renate Borst der Lohn- und Leistungsbedingungen in der ostdeutschen Arbeitsheft 36, März 2004 Metall- und Elektroindustrie Robert Hinke, Silke Röbenack, Rudi Schmidt Arbeitsheft Nr. 30, September 2002

19 22 Quantitative Grundlage für eine »Evaluation« der Sanie- Standorte, Unternehmenskompetenz und Netzwerkbildung rungs- und Konsolidierungspolitik in Ostdeutschland – – Bedingungen unterschiedlicher betrieblicher Wirtschafts- Ziele, Arbeitsergebnisse und Erfahrungen und Beschäftigungsentwicklung und ihre regionalen Aus- Dr. Elke Hochmuth in Zusammenarbeit mit Dipl.-Sozialwir- wirkungen tin Anja Kolle Prof. Dr. Ulrich Hilpert Arbeitsheft Nr. 29, September 2002 Arbeitsheft Nr. 19, August 2001

Herausforderungen für den Flächentarifvertrag in Ost- Einflussfaktoren auf die Akzeptanz flächentarifvertraglicher deutschland – Entwicklungen in der Tarifpolitik am Beispiel Regelungsstandards und Austauschmuster in Ostdeutsch- der Metall- und Elektroindustrie in Sachsen land Dr. Burkard Ruppert, Thomas Koch Rainer Weinert Arbeitsheft Nr. 28, Juni 2002 Arbeitsheft Nr. 6, 1999

Leipziger Beratungsstelle für Opfer rechtsextremistischer Metallspezifische Fachkräftelücken auf dem Arbeitsmarkt Gewalt – Ziele, Arbeitsergebnisse und Erfahrungen in Sachsen-Anhalt Dr. Roland Bieber unter Mitarbeit von Diana Eichhorn und Dieter Behrendt, Uwe Neumann Brigitte Moritz Arbeitsheft Nr. 4, April 1999 Arbeitsheft Nr. 27, Juli 2002

Qualifikationsbedarfe und berufliche Weiterbildung in der Metall- und Elektroindustrie in Sachsen-Anhalt Branchendialog Metall- und Elektroindustrie in Sachsen-Anhalt Wilfried Kurtzke, Uwe Neumann Arbeitsheft Nr. 26, Mai 2002

Zwangsarbeit in der Metallindustrie 1939 bis 1945 – Das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern Eine Studie im Auftrag der Otto Brenner Stiftung Dr. Friedrich Stamp Arbeitsheft Nr. 24, November 2001 Diese und weitere Publikationen der OBS finden Sie unter Terror unterm Hakenkreuz – Orte des Erinnerns in Nieder- www.otto-brenner-stiftung.de sachsen und Sachsen-Anhalt Otto Brenner Stiftung Reinhard Jakobs M. A. Wilhelm-Leuschner-Straße 79 Arbeitsheft Nr. 20, März 2001 D-60329 Frankfurt/Main

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