KONSERVATORIUM WIEN Privatuniversität

kontra.ZEITSCHRIFT FÜR KLANG, BEWEGUNG UND SPRACHE | APRIL 2006 | NR. 8

IMPROVISATION

EDITORIAL 1

Ranko Markovic´, Foto: Susanne Wunderl

Editorial

Improvisieren — das tun wir im alltäglichen nationale Jazzgröße in einer ungewöhnlichen Leben immer wieder: aus dem Augenblick Formation zu erleben sein: Joe Zawinul führt heraus Entscheidungen treffen, weil in dem mit dem Symphonieorchester unseres Hauses IMPRESSUM ganzen Stress zur sorgfältig durchdachten seine Stories of the Danube auf. KONTRA. Planung keine Zeit mehr bleibt. Für musikali- Der vorliegende kontra. nähert sich dem The- Die Zeitschrift für Klang, Bewegung und sche Improvisatoren stellt sich die Situation ma Improvisation von verschiedenen, durch- Sprache erscheint 8-mal jährlich als Magazin der Konservatorium Wien Privatuniversität anders da: Bewusst gönnen sie sich nicht die aus auch gegensätzlichen Richtungen an. Als Zeit, um ihre musikalische Vision zu notie- Einführung verfasste Reinhard Kager, Neue HERAUSGEBER, EIGENTÜMER ren, zu modifizieren und vielleicht wieder zu Musik- und -Redakteur beim SWR, einen Konservatorium Wien GmbH verwerfen. Stattdessen vertrauen sie dem brisanten Essay, in dem er kritisch der Frage Johannesgasse 4a, 1010 Wien Telefon: (+43-1) 512 77 47 Moment, dem spontanen Impuls. Sie riskieren nachgeht, wie sehr der Jazz heute denn Fax (+43-1) 512 77 47-7913 den Sprung ins Unvorhergesehene — wissend, überhaupt noch den Rang des Improvisatori- E-Mail: [email protected] dass das musikalische Resultat sie selbst schen für sich beanspruchen kann. www.konservatorium-wien.ac.at Für den Inhalt verantwortlich überraschen könnte: in seiner unmittelbaren Der experimentierfreudige Grazer Jazzpianist Ranko Markovic´, künstlerisch-pädagogischer Frische und der Authentizität seines Aus- Stefan Heckel, der Anfang April einen Impro- Leiter, Geschäftsführer drucks. visationsworkshop für unsere Jazz-Studie- Redaktion und Gestaltung Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein pflegten renden veranstaltet, stand uns gemeinsam Christian Arseni [email protected] Mag. Margarethe Lasinger auch Musiker mit ,klassischer‘ Ausbildung das mit Wolfgang Puschnig, einem der spannend- [email protected] Improvisieren. Wer allerdings würde von sten österreichischen Jazzer, und Thomas Grafische Umsetzung, Layout einem Pianisten heute ernsthaft erwarten, Huber, Vorstand der Abteilung Jazz, zu einem DI Priska Pieczara [email protected] dass er die Kadenzen eines Konzerts selbst Gespräch zur Verfügung. Als er vom Thema Inserentenbetreuung Mag. (FH) Astrid Zwanzleitner komponiert, geschweige denn improvisiert? dieses kontra. erfuhr, war es dem gerade am [email protected] Dabei verschafft gerade das Improvisieren Haus anwesenden Geigenstar Maxim Vengerov GRAFISCHES KONZEPT die Erfahrung von Kreativität aus einer inne- ein spontanes Bedürfnis, ein Statement abzu- Strobelgasse Werbegesellschaft mbH ren Notwendigkeit, einem Ausdrucksbedürfnis geben, das wir mit Freude abdrucken. www.strobelgasse.at heraus — eine Erfahrung, die auch für heuti- Illustriert ist diese Ausgabe mit drip-pain- ge ‚Interpretatoren‘ von großem Wert wäre. tings von Jackson Pollock: Bilder, die das In der westlichen Musik behauptet die Im- Improvisatorische und die dynamische Kraft provisation nur mehr im Jazz sicher ihre ihrer Entstehung in unvergleichlicher Weise Stellung. So verwundert es nicht, dass diese dem Betrachter vermitteln. Ausgabe des kontra. im wesentlichen eine Es sei nicht vergessen, dass sich im April auch Jazz-Nummer darstellt. Anlass sind nicht zu- die Tanz-Abteilungen der Konservatorium Coverabbildung: Jackson Pollock, Number 29, letzt einige bevorstehende Highlights im Ver- Wien Privatuniversität in ihrer ganzen Vielfalt 1950, 1950, 121,9 x 182,9 cm, National Gallery of Canada, Ottawa. © VBK Wien, 2006 anstaltungskalender der Konservatorium Wien präsentieren: Die Abende ballett/modern/ Privatuniversität: tanzt und FC Tanz möchte ich Ihnen beson- Die Abbildungen in dieser Ausgabe entstammen: Am 25. April findet im Gläsernen Saal des ders ans Herz legen. Kirk Varnedoe/Pepe Karmel, Jackson Pollock, Ausstellungskatalog (New York, The Museum of Musikvereins bereits zum dritten Mal unser Einen freudigen Frühlingsbeginn wünscht Modern Art/London, Tate Gallery, 1998/1999), Konzert Best of Jazz statt. Im Goldenen Saal New York: The Museum of Modern Art, 1998. desselben Hauses wird am 18. Mai eine inter- Ihr Ranko Markovic´ Fotos S. 11—13: Natalie Stefan/media wien

Konservatorium Wien GmbH — ein Unternehmen der 2

Jackson Pollock, Number 7, 1950, 1950, 58,5 x 277,8 cm, The Museum of Modern Art, New York. © VBK Wien, 2006 IMPROVISATION 3

I’m attracted to improvisation because of something I value. That is a freshness, a certain quality, which can only be obtained by improvisation, something you cannot possibly get from writing. It is something to do with the ‘edge’. Always being on the brink of the unknown and being prepared for the leap. And when you go on out there you have all your years of preparation and all your sensibilities and your prepared means but it is a leap into the unknown. If through that leap you find something then it has a value which I don’t think can be found in any other way. I place a higher value on that than on what you can prepare. But I am also hooked into what you can prepare, especially in the way that it can take you to the edge. What I write is to take you to the edge safely so that you can go on out there and find this other stuff. But really it is this other stuff that interests me and I think it forms the basic stuff of jazz.

Steve Lacy 4

Reinhard Kager Spontaneität versus Reproduktion Einige Gedanken zur Situation des Improvisierens heute

Ist von Improvisation die Rede, wird damit duellen Tonfalls zu fördern, und sicherlich „Selbst die vielberufenen Improvisationen meistens Jazz assoziiert. Das sollte eigentlich auch angetrieben durch die kulturindustriell [...] haben bloß ornamentale, nie konstrukti- verwundern. Zumal diese Assoziation auf dem erzeugte Dominanz eines musikalischen Neo- ve und formsetzende Bedeutung. Nicht bloß Ethnozentrismus des Westens und einer Fehl- konservativismus vom Schlage des medial ist ihnen stereotyp ihre Stelle, bis auf die einschätzung der Musikgeschichte beruht. omnipräsenten Clans um den Trompeter Taktzahl, zugewiesen; nicht bloß ihre Länge Nicht nur wird die Musik vieler großer Kultur- Wynton Marsalis hat sich nun ein Traditiona- und harmonische Struktur als die einer völker geradezu dominiert von improvisatori- lismus im Jazz breitgemacht, der zu ersti- Dominanzwirkung genau vorbestimmt. Sogar schen Impulsen — man denke an die Techni- cken droht, was einst zu seinen Stärken zähl- ihre melodische Gestalt und ihre simultanen ken der harmonisch hochdifferenzierten „ma- te: die Spontaneität und Unvorhersehbarkeit, Kombinationsmöglichkeiten lassen auf ganz qamate“ in der arabischen Musik oder an die die Kreativität und den Drang zur permanen- wenige Grundformen: der Umschreibung der rhythmisch hochkomplexen Ragas in der indi- ten Erneuerung, die heute einer stumpfen Kadenz, des harmonisch figurativen Kontra- schen —, sondern auch unserer eigenen, Repetition des Gewesenen gewichen sind. punkts sich zurückführen.“1 Was Theodor W. westlichen Musiktradition war das Improvisa- Adorno, der den Jazz eigentlich gründlich torische bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht Fräulein Cäcilie! Sie wissen, dass die missverstehende Philosoph der neuen Musik, so fremd, wie es heute erscheinen mag. Musik gewissermassen eine Art Spra- 1936 in seinem vieldiskutierten Aufsatz „Über Während Bach noch viele seiner Choräle frei che ist, durch welche die Empfindun- Jazz“ geschrieben hatte, war zwar falsch, nach den Harmonien des Generalbasses ge- gen und Gefühle ausgedrückt werden bezogen auf die überaus kreative und die staltet und Mozart häufig die Kadenzen sei- können, welche das Gemüth erfüllen Schemata der Standards stets von neuem ner Konzerte nach bestimmten harmonischen und bewegen. Eben so ist Ihnen be- brechende Jazzszene dieser bewegten Zeit, Regeln improvisiert hatte, begannen die kannt, dass man auf einem musikali- erwies sich jedoch im Nachhinein als gerade- Komponisten und großen Interpreten gegen schen Instrumente, und vorzüglich zu prophetisch, was die derzeitige Stagnation Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Zwang auf dem Fortepiano, Vieles ausführen des auf Reproduktion des Gewesenen fixier- zu immer größerer Virtuosität die ursprüng- kann, was weder vorher aufgeschrie- ten Mainstream betrifft. lich frei gespielten Solopassagen zu notieren. ben, noch einstudiert und vorbereitet Diese ewige Wiederkehr des Gleichen erklärt Bis zuletzt die braven Schüler der Akademien worden, sondern was blos die Frucht bis zu einem gewissen Grad auch die relativ anfingen, berühmt gewordene Kadenzen Note einer augenblicklichen und zufälligen hohe Popularität des heutigen Mainstream- für Note auswendig zu lernen. Womit die Eingebung ist. Man nennt dies: Fanta- Jazz unter den älteren Jazzfans: „Standard- Improvisation aus der Welt des Komponierten sieren, oder Improvisieren. verfahren, die unbestritten herrschen und verdrängt ward. Obwohl hierzu, wie zur Musik über- über sehr lange Zeiträume gehandhabt wer- Ähnliches widerfährt heute dem Jazz. Oder haupt, natürliches Talent gehört, so den, bringen Standardreaktionen hervor“, genauer: jener Spielform des Mainstream, die kann das Fantasieren doch auch nach schrieb Adorno 1953 in seinem zweiten gro- gemeinhin mit Jazz identifiziert wird, meist gewissen Grundsätzen studiert, ange- ßen Jazz-Aufsatz „Zeitlose Mode“2 — erneut jedoch auf der Verleugnung von dessen inner- wöhnt, und geübt werden, und ich die damalige Umbruchphase vom Bebop zum sten Prinzipien beruht. Dazu zählt zweifels- bin überzeugt, dass Jedermann, der Cool Jazz völlig verkennend, doch die heuti- ohne die Improvisation, die — ursprünglich im Spielen eine mehr als mittelmässi- ge Situation durchaus treffend vorwegneh- vermittelt durch die rhythmische Spontanei- ge Stufe erreicht hat, auch der Kunst mend. Diese Reproduktion des Tradierten er- tät der afrikanischen Völker und deren Lust des Improvisierens, wenigstens bis zu klärt andererseits aber auch, warum viele am ornamentalen Variieren der meist nach einem gewissen Grade, nicht unfähig der Mainstream-Produktionen so hoffnungslos dem Call-and-Response-Muster vorgetragenen ist. Aber hierzu gehört, dass man bey veraltet klingen, wie ein mattes Echo aus der Songs — in den knapp über hundert Jahren Zeiten sich zu üben anfange, (was lei- glorreichen Zeit des Jazz in den vierziger und der bisherigen Jazzgeschichte eine ungemein der die meisten Spieler versäumen,) fünfziger Jahren: Indem der Mainstream die rasante Entwicklung hinsichtlich ihrer harmo- und dass man unverdrossen die sich Zeitgebundenheit des musikalischen Materi- nischen und rhythmischen Differenzierung stets vermehrende Erfahrung, welche als ignoriert und das einst neu Entwickelte vollzogen hat. Nicht zuletzt unter dem Ein- man durch das Einstudieren zahlrei- als einstudierte Floskel benutzt, gerinnt ihm fluss zahlloser, in den letzten Jahrzehnten cher fremder Compositionen gewinnt, der früher gesellschaftlich so brisante und entstandener Jazzschulen, die ihre Eleven auch auf das eigene Fantasieren an- kritische Tonfall des Jazz zu einer harmlos- dazu anhalten, die transkribierten Soli be- zuwenden lerne. betulichen Hommage ans längst Vergangene. rühmter Jazzimprovisatoren nachzuspielen, Carl Czerny Eine Wendung des deutschen Jazzpapstes anstatt die Entfaltung eines eigenen, indivi- Joachim-Ernst Berendt könnte in dieser Hin- ESSAY 5

sicht wohl fatale Folgen gehabt haben: „Zur nischen Komponisten Franco Evangelisti ge- nicht vorhersehbares Musikstück, bei dem es Improvisation gehört also offensichtlich das, gründet worden. In Rom entstand zu dieser vor allem darauf ankommt, wie gut die musi- was ,er-improvisiert‘ wurde und nun, nach- Zeit auch die Musica Elettronica Viva, ein — kalische Kommunikation zwischen den Spie- dem es einmal er-improvisiert ist, in einer auch mit elektronischen Instrumenten experi- lern funktioniert. Form, die sich als gut erwiesen hat, wieder- mentierendes — Improvisationsensemble um Damit soll nicht jenem Begriff des „non-idio- holt wird.“3 Geflissentlich ignorierend, dass die Amerikaner Frederic Rzewski, Alvin matischen Improvisierens“ das Wort geredet Berendt wenige Zeilen später zumindest ein- Curran und Richard Teitelbaum. Einen Son- werden, mit dem der britische Gitarrist schränkend hinzuschreibt, dass das Er-Impro- derfall stellt der italienische Komponist Derek Bailey mehr Verwirrung als Klarheit ge- visierte vom ursprünglichen Improvisator Giacinto Scelsi dar, der häufig am Klavier im- schaffen hatte. Denn natürlich kann das in „nicht getrennt und etwa aufgezeichnet und provisiert hatte, um diese auf Tonband auf- freien Improvisationen Gespielte nicht ohne einem dritten und vierten Musiker zum Ab- gezeichneten Improvisationen danach tran- bestimmte Voraussetzungen entstehen: Ohne spielen übergeben werden“ könne4, hat sich skribieren zu lassen und zu Kompositionen solide musikalische Ausbildung, mithin ohne das Moment der Wiederholung und der — umzuformen. Nicht zuletzt hatte auch der Kenntnis des im Lauf der Geschichte der wenngleich oft geringfügig variierten — Re- britische Komponist Cornelius Cardew, poli- westlichen Musik entstandenen musikalischen produktion allbekannter rhythmischer For- tisch motiviert, häufig mit kollektiven impro- Materials, über das wiederum auch subkuta- meln und harmonischer Wendungen zum fata- visatorischen Ansätzen operiert, um sich ne Elemente der jeweils gesellschaftlich-ge- len Kennzeichen des Mainstream entwickelt. schließlich Mitte der sechziger Jahre als schichtlichen Gegenwart ins Spiel einfließen, Kein Wunder, dass ein solcherart gealterter Cellist der frei improvisierenden Gruppe AMM könnte wohl nie sinnvoll improvisiert werden. Jazz von den Kids als hoffnungslos antiquiert um den Gitarristen anzuschließen. Vielleicht lässt sich das am besten mit dem taxiert und als Instrument kritischer Refle- Cardews Beispiel folgen heute zahlreiche Akt des Sprechens vergleichen, der auch die xion der durch die elektronischen Medien ra- Komponisten der jüngeren Generation. Im Beherrschung der Grundregeln einer Sprache sant vorangetriebenen gesellschaftlichen Um- Unterschied zu den meisten genannten histo- voraussetzt, ehe diese in Diskussionsrunden brüche der Gegenwart als gänzlich unange- rischen Versuchen, Improvisation auch in der virtuos verwendet werden kann. Indem der messen empfunden wird, so dass die großen, komponierten Musik wieder heimisch zu ma- Gestus des Miteinander-Sprechens zum maß- traditionellen Jazzfestivals derzeit eher ei- chen, findet diesmal nämlich ein Schulter- geblichen Kriterium für die frei Improvisie- ner fröhlichen Altherrenrunde gleichen. schluss mit der freien Improvisationsszene renden wird, kommt es also wesentlich da- Daraus den Schluss zu ziehen, dass der Jazz des Jazz statt. Das ist kein Zufall. Denn die rauf an, wie kreativ eine einmal zur Diskus- nun an sein vielbeschworenes Ende gekom- experimentellen Improvisatoren der Gegen- sion gestellte musikalische Formulierung von men sei, ist so falsch wie kurzsichtig zu- wart haben sich mittlerweile vom Improvisa- den Mitspielern weiterverarbeitet wird, um gleich. Wer eine solche Diagnose stellt, über- tionsbegriff des klassischen Jazz völlig ge- diese durch eigene musikalische Gedanken zu sieht nämlich, dass sich in den letzten Jahr- löst. Die Definitionen von Improvisation, die ergänzen, zu erweitern und fortzuspinnen. zehnten an den Seitenadern des verödenden man in traditionellen Handbüchern des Jazz Dass in einer solchen kommunikativen musi- ,Hauptflusses‘ eine freie Improvisationsszene immer wieder findet: dass deren Ausgangs- kalischen Improvisationssituation, die selbst entwickelt hat, die in eine selbst in der basis entweder in einer 32-taktigen Liedform mit denselben Spielern nie restlos identisch Phase des heroischen wohl kaum nach dem AABA-Schema unserer Volkslieder wiederholt werden kann, vorgegebene Har- für möglich gehaltene Richtung mäandert: oder in der 12-taktigen Bluesform bestünde, moniemuster oder ostinate Grooves, über die auf Kurs zu einem offenen Dialog mit dem die als rhythmisch-harmonische Grundstruk- solistisch gespielt wird wie im Mainstream, Hauptstrang des westlichen Musikdenkens, tur die gesamte Zeit des Improvisierens über keine Rolle mehr spielen, dürfte evident der komponierten Musik, die ihrerseits ver- wirksam bleibe, sind für diese neue Genera- sein. Dadurch aber rückt die Klangsprache sucht, wieder improvisatorische Impulse für tion der Improvisatoren obsolet geworden. der freien Improvisation ziemlich nahe an die sich nutzbar zu machen. Entscheidend dazu Bereits im Free Jazz der sechziger Jahre hat- der neuen komponierten Musik heran. „Mit beigetragen haben sicher die Entwicklung der ten sich solch strikte harmonische Muster der Entwicklung des Free Jazz und der aus Elektronik und der Einsatz von Computern in aufzulösen begonnen. Gerüttelt wurde vor ihm herauswachsenden improvisierten Musik“, der Musik, durch die auch im Bereich der allem auch an der Vorstellung, Improvisieren schreibt der Leipziger Jazzexperte Bert komponierten Musik plötzlich wieder die Lust müsse stets von einem Solisten vollzogen Noglik, „stellten sich nicht nur Fragen der to- am Spiel und die Freude an Spontaneität und werden, der mit seinen „licks“, kunstvoll zu nalen bzw. frei atonalen Organisation, son- Unvorhersehbarem geweckt worden waren. einem Ganzen zusammengesetzten musikali- dern auch solche, die die Klangfarbenorgani- Die ersten Versuche reichen allerdings etwas schen Fragmenten oder Formeln, die harmo- sation und den Übergang von tonhöhenfixier- weiter zurück: Bereits in den sechziger Jah- nische Standardsituation mehr oder minder ten Klängen in den Bereich des Geräuschhaf- ren hatten Komponisten wie Vinko Globokar virtuos umspielt. Ins Zentrum rückte allmäh- ten betreffen.“5 oder Mauricio Kagel versucht, improvisatori- lich vielmehr jener Begriff des kollektiven Mit anderen Worten: Die Klangwelten eines sche Momente in ihre Kompositionen zu inte- Improvisierens, der heute zur Grundsituation — so wenig er wissen wollte vom grieren. Gleichfalls in den sechziger Jahren der freien Improvisationsszene gehört: Jazz — oder eines Helmut Lachenmann sind war die mittlerweile legendäre Improvisati- Gleichberechtigte Improvisatoren entwickeln der improvisierten Musik heute ganz nahe ge- onsgruppe Nuovo Consonanza um den italie- gemeinsam ein spontan entstehendes und rückt. Und so verwundert es nicht, dass viele 6

Jackson Pollock, Number 6, 1948: Blue, Red, Yellow, 1948, 57,2 x 77,8 cm, Privatbesitz. © VBK Wien, 2006

Ich kopierte Horace Silver, McCoy Tyner, zum Schluss noch , und dann wurde es einfach Zeit, ich musste meine Stimme finden. Ich war zu Hause, als mir das so bewusst wurde, ging zum Klavier und sagte mir, jetzt schalte ich mal den Kopf aus und lass einfach die rechte Hand laufen. Ich merkte, dass da andere Dinge rauskamen, und ich dachte: Das bist Du. Das war wie eine Zündung, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Es waren gewisse Noten- kombinationen. Ich ließ einfach nur die Hand laufen, und merkte, die Musik ist am besten, wenn man den Kopf ausschaltet. Du musst zwar viel studieren zu Hause, aber wenn es zum Spielen kommt, musst Du den Kopf auch ausschalten können.

Joachim Kühn ESSAY 7

Komponisten der Gegenwart den Schreib- Trotz dieser Interaktion zwischen Komposi- Das Improvisieren war für die größten tischstuhl oft mit dem Keyboardhocker auf tion und Improvisation, die sich in jüngster Komponisten — Mozart, Beethoven, der Improvisationsbühne vertauschen: Richard Zeit etwa in der Integration der zwei elektro- Schubert und viele andere — eine Barrett oder in Großbritannien, nisch improvisierenden Komponisten Richard Selbstverständlichkeit. Es bildete ein Hans-Joachim Hespos in Deutschland oder Barrett und Paul Obermayer in Evan Parkers entscheidendes Element, ja so etwas Walter Fähndrich in der Schweiz, Karlheinz Electro-Acoustic Ensemble manifestiert hat, wie die Grundlage der kompositori- Essl, Bernhard Lang oder Wolfgang Mitterer in wäre es dennoch falsch, die beiden Bereiche schen Tätigkeit. Und das Publikum er- Österreich — um nur einige wenige zu nennen blank zu identifizieren. Bei aller Ähnlichkeit wartete die Improvisation eines Musi- — setzen die klanglichen Erfahrungen aus der klanglichen und geräuschartigen Perspek- kers in seinen Kadenzen mit großer ihren komponierten Werken auch in Improvi- tiven bleibt doch die Spielhaltung der Impro- Spannung. sationen mit Musikern aus der freien Szene visierenden signifikant: „Improvisation insis- Heute hat sich das Improvisieren bei ein. Auf der Gegenseite begannen immer tiert auf dem Jetzt, setzt die Wahrheit des den klassischen Musikern leider so gut mehr Jazzmusiker, wie , Augenblicks an die Stelle gefrorener Par- wie verloren. Wir verfügen über eine oder George Lewis, zu komponie- titur-Zeitdramaturgie, impliziert daher auch so große Menge an Musikliteratur, ren. andere Kriterien musikalischen ,Gelingens‘ dass wir nur mehr mit dem Notenler- Die Schnittstelle dabei bildet heute zumeist als die der strukturellen Stringenz oder der nen beschäftigt sind. Seit meinem der Computer, der sowohl bei der Notation werkgetreuen Interpretation.“ Trotz des oft fünften Lebensjahr war es allerdings von Partituren als auch zur Generierung elek- beschworenen Begriffs vom „instant compos- mein Traum, improvisieren zu kön- tronischer Sounds verwendet wird, ob nun in ing“7 ist Improvisation also die Kunst des nen, und als Kind habe ich es auch er- improvisierter oder komponierter Musik. Wo- kreativen Augenblicks geblieben, wie sie folgreich gemacht. Innerhalb des rus- mit sich die Grenzen zwischen den beiden Peter Niklas Wilson so treffend beschreibt. In sischen Ausbildungssystems war es Bereichen noch stärker zu verwischen begin- diesem Moment des kommunikativen Mitein- dann nicht mehr möglich. Ich hatte nen, meint George Lewis, einer der führen- ander ist es eben auch entscheidend, wie die besten Professoren, Improvisieren den Protagonisten und Theoretiker der Associ- rasch und konstruktiv aufeinander reagiert aber war offiziell nicht erlaubt. Dabei ation for the Advancement of Creative wird. Womit die freie Improvisation heute wäre die Improvisation gerade auch Musicians in Chicago: „Der Computer wird au- weit getreuer als der erstarrte Mainstream für uns Interpreten so wertvoll! Sie genscheinlich zu einem wichtigen und nicht jene Vision fortführt, die den Jazz immer ist wie eine ganz eigene Sprache, sie mehr wegdenkbaren Teil der kulturellen und schon begleitet hatte: Die Utopie einer be- öffnet Tore zu neuen musikalischen sozialen Geschichte der Künste [...]. Insbe- freiten Gesellschaft, die auf dem fluktuieren- Welten. Das Schönste an der Impro- sondere improvisationsfähige Computerpro- den Dialog mündiger Individuen beruht. visation ist das Auskosten des Mo- gramme helfen, den Unterschied zwischen ments, das Erlebnis von Musik, die Komposition und Improvisation, der so viele Reinhard Kager ist Redakteur für Neue jetzt, in diesem Augenblick, entsteht, Diskussionen belebt hat, weiter zu problema- Musik/Jazz im Südwestrundfunk in Baden- die noch nie vorher zu hören war. Im- tisieren und zu erklären.“6 Die Entwicklung Baden. provisieren macht einen auch im Spiel der Technik führte mittlerweile dazu, dass immer freier. Die Frische, die ich auf dem Computer — oft auch über Keyboard- beim Improvisieren empfinde, versu- Tastaturen — mit derselben Flexibilität im- che ich auch bei der Interpretation provisiert werden kann wie auf einem norma- von Werken zu erlangen: Beethovens len Instrument. Mit einem massiven Unter- 1 Theodor W. Adorno, „Über Jazz“, in: Moments Violinkonzert sollte immer wie ein schied: Zum Einsatz kommen zumeist Klänge, musicaux, in: Gesammelte Schriften, Bd. 17 (Musi- Uraufführung klingen! die zuvor im Studio in langwieriger Arbeit kalische Schriften IV), hrsg. von Rolf Tiedemann, Die Improvisation ist allerdings nicht entwickelt worden waren, oder so genanntes Frankfurt a. M. 1982, S. 74—108. Hier: S. 82f. ohne bestimmte Voraussetzungen 2 Theodor W. Adorno, „Zeitlose Mode. Zum Jazz“, Sound Processing, das es ermöglicht, Instru- in: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frank- möglich, im Gegenteil: Sie ist sogar mentalklänge auf der Basis einer vorher ent- furt a. M. 1955, S. 144—161. Hier: S. 152. die schwierigste Disziplin! Man muss wickelten Software in Echtzeit zu verändern. 3 Joachim-Ernst Berendt, Das Jazzbuch. Von New bestimmte harmonische und rhytmi- Orleans bis Free Jazz, Frankfurt a. M. 1968, S. 113. Der Anteil der — im Sinne des lateinischen sche Regeln beherrschen, sie aber im 4 Ebd., S. 113. „componere“ — zusammengefügten Klänge 5 Bert Noglik, Klangspuren. Wege improvisierter Augenblick des Improvisierens selbst ist in der heutigen Improvisationsmusik also Musik, Berlin 1990, S. 287. vergessen können. Meiner Meinung größer geworden. Dieser Umgang mit kompo- 6 George E. Lewis, „Leben mit kreativen Maschi- nach sollte das Improvisieren in der nen. Reflexionen eines improvisierenden Musikers“, sitorischen Verfahren wirkt sich zweifellos in: improvisieren …, hrsg. v. Wolfram Knauer (Darm- Instrumentalausbildung schon von strukturierend auf Improvisationen aus, wäh- städter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 8), Hofheim Anfang an gelernt werden — Hand in rend im Gegenzug Improvisationserfahrungen 2004, S. 139f. Hand mit dem Interpretieren. 7 Peter Niklas Wilson, „Spiegelsymmetrie des Ver- — vor allem mit elektronischen Klängen — langens. Neue Kammermusik und Improvisation“, auch für Kompositionen fruchtbar gemacht in: Programmheft der Wittener Tage für neue Kam- Maxim Vengerov werden. mermusik 1993, S. 49—55. Hier: S. 52. 8

Jackson Pollock, Number 13A, 1948: Arabesque, 1948, 94,6 x 295,9 cm, Yale University Art Gallery, New Haven, Connecticut. © VBK Wien, 2006 IMPROVISATION 9

To tell you the truth, I never really thought about what you think about when you’re playing. I imagine if I really went into it, I notice sometimes [...] I have the ability to put my mind completely out of what I’m doing. I can play a solo and play 20 choruses and not even think of the fact that I’m playing. Then I realize, Wow, I played a long time, and I stop, because my mind is on some woman uptown.

Cannonball Adderley 10

Das Unvorhergesehene erforschen Stefan Heckel, Wolfgang Puschnig und Thomas Huber im Gespräch über Improvisation

Was ist das Faszinierende am Improvisieren — auch im Hinblick auf das Zusammenspiel mit anderen Musikern? Was ist eigentlich Improvisation und Stefan Heckel, Du veranstaltest am 3. und wie sehr ist Jazz mit ihr gleichzuset- 4. April einen Workshop mit dem Titel Free Wolfgang Puschnig Die spontane Kreation aus zen? Improvisation — Spontaneous Composition. dem Augenblick heraus ist unglaublich span- Ist das Improviseren ein bewusster Wie definierst Du Improvisation? nend: gemeinsam den unwiederholbaren Mo- Prozess und kann man es überhaupt ment einer musikalischen Erschaffung erle- erlernen? Stefan Heckel Ich bezeichne Improvisation in ben. Warum haben klassische Musiker mit der Musik als spontane Komposition, „real- dem Improvisieren oft Probleme? time composing“. Improvisieren bedeutet un- Thomas Huber Das Faszinierende am Impro- mittelbares und intuitives Musizieren nach visieren ist, dass man seine eigene musikali- Drei Jazzmusiker erklärten sich be- mehr oder weniger vorbestimmten Struktu- sche Persönlichkeit, sein momentanes Em- reit, Antworten auf schwierige Fragen ren. Dabei fließen die eigene musikalische pfinden, Ideen, Vorlieben, Sound, Phrasie- zu finden. Persönlichkeit, die Erfahrung, das eigene Re- rung etc. zum Ausdruck bringen kann. Beson- Neben Thomas Huber, dem Vorstand pertoire und die Interaktion mit dem Umfeld ders spannend wird das in einer Gruppe, wo der Abteilung Jazz an der Konserva- ein. sich dann musikalische Kommunikation her- torium Wien Privatuniversität, konnte stellt, wo aufeinander eingegangen wird und kontra. zwei renommierte Jazzer für Lebt der Jazz von der Improvisation? sozusagen kollektiv ein Statement abgegeben das Gespräch gewinnen: wird. Der Grazer Pianist und Akkordeonist Thomas Huber Improvisation ist das dominie- Stefan Heckel macht mit seinem wei- rende Merkmal des Jazz. Es werden nicht nur Stefan Heckel Je mehr Spieler beteiligt sind, ten stilistischen Horizont und seinen Solos einzelner Musiker improvisiert, auch desto komplexer wird die Interaktion, desto experimentierfreudigen Projekten der Unterbau — die Rhythmusgruppe — funk- geforderter ist das musikalische Ohr als Im- seit Jahren auf sich aufmerksam. Er tioniert weitgehend improvisiert über die ge- pulsgeber. Sobald mindestens zwei Spieler ist unter anderem Mitbegründer der gebenen Rahmenbedingungen. Diese Rah- miteinander improvisieren, kommt ja ein ex- frei improvisierenden Formation menbedingungen können eine Originalkom- terner Trigger beziehungsweise die Reaktion OHMSK und rief 2001 die Improvised position sein, zum Beispiel ein Song — oft auf ein solches Signal hinzu. Prinzipiell faszi- Music Meetings in Graz, 2003 die auch mit Text —, eine Form wie die 12-takti- niert mich das Unvorhergesehene, welches Improvised Music Nights in Wien ins ge Bluesform, eine bestimmte Harmoniefolge man beim Improvisieren erforscht. Leben. oder auch stilistische Vorgaben wie Traditio- Der Saxophonist und Flötist Wolfgang nal- oder Modern-Jazz, Latin, Avantgarde und Wie sieht es mit dem Verhältnis der impro- Puschnig ist seit den 1980er Jahren andere Stile. visierenden Musiker zum Publikum aus? ein internationales Aushängeschild der österreichischen Jazzszene — Stefan Heckel Der Jazz ist ja in einer Zeit Thomas Huber Das Publikum und die Umge- weltoffen, doch seiner Kärntner Hei- entstanden — in der ersten Hälfte des 20. bung spielen natürlich eine Rolle. Aus meiner mat musikalisch stets verbunden. Jahrhunderts —, als die Improvisation in der Sicht spielt man jedoch nicht in erster Linie so genannten Kunstmusik sukzessive ver- für das Publikum, sondern mit den Mitmusi- Das Gespräch führte Christian Arseni. drängt worden war zugunsten der Fixierung kern. und der exakten Reproduktion, zugunsten des Komponisten und des Interpreten. Im Jazz Stefan Heckel Ich finde schon, dass alle hingegen ist die Improvisation das zentrale Faktoren des Umfelds — der Raum, die Akus- Element. Ich selbst definiere Jazz für mich tik, das Publikum — das musikalische Gesche- zuallererst über die Improvisation. Der Jazz hen beim Improvisieren beeinflussen. Idea- hat sich durch die Improvisation weiterent- lerweise trifft man auf hoch motivierte musi- wickelt und wird durch eben dieses Element kalische Partner und ein offenes und ‚hörbe- auch weiterleben und sich fortentwickeln. gieriges‘ Publikum. GESPRÄCH 11

Prinzipiell kann man Improvisationen ja no- Thomas Huber Grundlage ist meist eine tieren und nachspielen. Das Ergebnis ist Komposition, die sich im wesentlichen auf aber doch nie mit der eigentlichen Impro- Melodie, harmonische Grundlage und rhyth- visation vergleichbar — warum? misches Konzept beschränkt. Die Durchfüh- rung ergibt sich aus der Interaktion der Mit- Wolfgang Puschnig Reproduktion ist eben musiker, ist also auch zu einem guten Teil im- nicht Kreation. provisiert. Über diese Komposition — meist eine überschaubare Form — können die Musi- Thomas Huber Improvisierte Musik lässt sich ker ihre Solo-Statements abgeben. natürlich meist transkribieren. Das ist ein wichtiges Element im Lernprozess. Es gibt Stefan Heckel Ich schreibe konkrete Stücke heute unzählige Solo-Transkriptionen zu kau- mit Melodien und Akkordfolgen genauso wie fen. Diese erfüllen aber nur in Verbindung offenere Konzepte, zum Beispiel Zeit-Abläu- mit der Originalaufnahme einen Sinn. Wirk- fe, die mit Improvisation zu füllen sind. So lich wertvoll sind von Studierenden selbst er- gesehen ist das Erforschen des Spannungs- stellte Transkriptionen, da sich durch das oft- verhältnisses zwischen Komposition und Im- malige Hören Informationen weit über die provisation genau das, was mich am Musik- Stefan Heckel gespielten Noten hinaus erhalten lassen: über machen interessiert. Sound, Timing, Phrasing, Effekte etc. Improvisation setzt eine Liebe zur Ver- Wie sieht es mit jenen Improvisatoren aus, änderung voraus. Die kann man wahr- Wie stark ist beim Improvisieren das Be- die sich nicht an die erwähnten Rahmen- scheinlich nur haben oder nicht haben. wusstsein involviert? bedingungen — an einen Song oder ein be- Wenn man sie hat, führt sie einen stimmtes Taktschema — halten, sondern schon den richtigen Weg entlang. Wolfgang Puschnig Im Idealfall wird der Kopf wie die Free Jazz-Musiker alle Parameter — ausgeschaltet. Harmonie, Rhythmik, Melodik etc. — frei improvisieren, ja selbst auf ein gleichblei- Kann man Improvisieren überhaupt erler- Stefan Heckel Der ideale Zustand ist wohl, bendes Metrum verzichten? nen? Wie erwirbt man die Grundlagen, wie die Musik getragen von einer stimmigen kol- ‚übt‘ man Improvisieren? lektiven Energie einfach fließen zu lassen, Thomas Huber Improvisation ohne alle Vor- ohne in jedem Moment über das nachzuden- gaben kann sehr spannend sein, wenn die be- Wolfgang Puschnig Das eigentliche Improvi- ken, was man tut. Das Bewusstsein kann aber teiligten Musiker in der Lage sind, aufeinan- sieren ist nicht wirklich erlernbar. Hilfreich nicht ganz ausgeschaltet werden, es wird der einzugehen, miteinander zu kommunizie- sind jedenfalls Angstfreiheit, Offenheit und zum Reagieren in Schlüsselmomenten benö- ren, ihr Ego in den Hintergrund, sozusagen in Ego-Zurückstellung. tigt, zum Beispiel für Cues verschiedener Art: den Dienst des Gesamten zu stellen. Dabei Noten, Zeichen, akustische Impulse und so können sich spontan und temporär gewisse Stefan Heckel Improvisation setzt meiner weiter. Strukturen, Stimmungen herausbilden und Meinung nach eine Liebe zur Veränderung wieder auflösen, einzelne Musiker ergreifen voraus. Die kann man wahrscheinlich nur Thomas Huber Ja, das Bewusstsein sollte die Initiative und geben sie wieder ab. Dies haben oder nicht haben. Wenn man sie hat, wach sein für Interaktion, für Stimmungen, zu verfolgen kann auch für das Publikum sehr führt sie einen schon den richtigen Weg ent- für mögliche Entwicklungen. Was in den spannend oder auch schwierig sein. Für mich lang. Musikalisch gesehen ist es wichtig, sich Hintergrund treten sollte, ist das rationale als Musiker macht die Interaktion mit den an- Vorbilder zu suchen und mit diesen in Denken der linken Hirnhälfte betreffend deren Musikern den wirklichen Spaß aus. Kontakt zu treten, sei es durch Aufnahmen Harmoniefolge, mögliche Skalen — also das oder durch persönlichen Kontakt. Imitation Tonmaterial —, geübte Patterns, Form, Phras- Stefan Heckel Ich glaube nicht, dass man spielt phasenweise eine wichtige Rolle. Ein ing, Timing. All diese Dinge sollten im ohne Parameter Musik machen kann. Im Free einziger Satz kann ausreichen, um von ihm Übungsprozess verinnerlicht werden und so- Jazz geht es oft um wichtige Parameter, die jahrelang inspiriert zu werden. So antworte- zusagen im Unterbewusstsein abrufbereit lie- beim Improvisieren über konventionelle For- te Lester Bowie, ein Mitbegründer des Art gen. men wie etwa Akkordfolgen nicht beachtet Ensemble Of Chicago, bei einem Workshop werden, etwa um Energie, Dichte und Klang- auf die Frage nach der passenden Einstellung Wie ist in Eurer Musik das Verhältnis zwi- farbe. zur Improvisation: „Buy yourself a one way schen Geplantem, Komponiertem und spon- ticket to South America.“ tan Improvisiertem? Wolfgang Puschnig Wie viele Parameter im vorhinein festgelegt werden, ist letztlich im- Thomas Huber Kein Jazzmusiker erlernt Im- Wolfgang Puschnig Das Verhältnis ist bei mir mer eine Frage der persönlichen Einstellung provisieren im ,freien Raum‘. Man baut auf immer anders. und Ästhetik. einer mittlerweile recht langen Tradition mit 12

Verdankt der Jazz die Möglichkeit, die ver- ses, eloquentes Solo völlig kalt lässt und schiedensten musikalischen Idiome in sich damit für mich nicht ,gut‘ ist. aufzunehmen, gerade der Improvisation? Kommt es vor, dass man sich während des Wolfgang Puschnig Diese Fähigkeit verdankt Improvisierens großartig fühlt, das Ergebnis der Jazz seiner Offenheit und absolut huma- beim nachträglichen Anhören aber uninter- nen Grundeinstellung. essant findet?

Stefan Heckel Die Offenheit für Neues ist na- Thomas Huber Als Musiker habe ich normaler- türlich auch eine Grundhaltung beim Impro- weise schon ein Gefühl dafür, ob das, was ich visieren. Es ist daher nicht überraschend, gerade spiele, gut ist. Entscheidend ist, ob dass der Jazz alle möglichen ethnischen ich im Moment in der Lage bin, das auszu- Musikstile einbeziehen kann. drücken, was ich musikalisch sagen möchte. Neben meiner eigenen Disposition hängt das Thomas Huber Es ist sicher von Bedeutung, zu einem guten Teil von der Unterstützung dass die Wurzeln des Jazz einer unterdrück- der Mitmusiker ab. Thomas Huber ten Volksgruppe — den Schwarzen in Amerika — entstammen. Er war ursprünglich Ausdruck Ist man von der Spieltechnik her beim Ob ein improvisiertes Solo wirklich des Widerstands der Unterdrückten gegen das Improvisieren weniger festgelegt als in der gut ist, entscheidet für mich letztlich Establishment, also Subkultur. Aufgrund die- klassischen Musik? die emotionale Komponente: Berührt ser Grundhaltung und der Tatsache, dass Jazz mich das, was gespielt wird? Erzählt der Improvisation so breiten Raum lässt, Stefan Heckel In der Klassik ist die Sprache der Musiker eine Geschichte mit sei- stand er Einflüssen anderer Minderheiten vorgegeben, um sie zu beherrschen, muss ner Improvisation? Erscheint mir der ziemlich offen gegenüber. So prägten zum man sich die geeignete Technik aneignen. Musiker emotional aufrichtig oder Beispiel kubanische Einflüsse die Entwicklung Beim Improvisieren ist die Technik ein un- sind die Emotionen nur aufgesetzt, des Latin-Jazz. Heute ist es zum Teil Mode trennbarer Teil der eigenen musikalischen gespielt? geworden, verschiedenste ethnische Kompo- Sprache. Man kann mit sehr wenig ,konven- nenten zu involvieren. Jazz ist nicht mehr tioneller‘ Technik sehr viel erreichen. Ziel ist vielen unterschiedlichen Stilvarianten auf. In nur die Musik der Afro-Amerikaner, seine mu- der richtige Einsatz der Mittel. jeder dieser Stilrichtungen gibt es ein typi- sikalischen Prinzipien haben sich weltweit Ein Beispiel im Jazz ist der Pianist Thelonious sches Vokabular in melodischer, harmonischer durchgesetzt. Monk, dessen Handhaltung von vielen Piani- und rhythmischer Hinsicht. Die mühevolle sten als völlig absurd bezeichnet wurde. Aufgabe besteht also darin, ein Vokabular — Nach welchen Qualitätskriterien kann man Tatsächlich ging es ihm unter anderem da- aus unterschiedlichen Quellen, nach ver- eine Improvisation, die ja viel ganz Persön- rum, am Klavier wie auf einem Schlagzeug schiedenen Vorbildern — zu verinnerlichen liches, gar nicht Bewusstes enthält, sinn- spielen zu können und langsam zu seiner eigenen Sprache zu voll beurteilen? Was für Kriterien legt man finden und im Idealfall wirklich Neues zu da gerade als Lehrender an? Kann eine klassische Ausbildung und die schaffen. mit ihr einhergehende Einstellung zum Thomas Huber Es gibt natürlich objektive Werk auch ein Hindernis fürs Improvisieren Ist man auch dann, wenn man seinen per- Kriterien, zum Beispiel ob jemand über ein sein? Im Mai wird Joe Zawinul mit dem sönlichen Stil gefunden hat, noch offen für kompliziertes Harmonieschema ,richtig‘ spie- Symphonieorchester der Konservatorium Einflüsse und Vorbilder? len kann, ob er die Sprache des Jazz und sein Wien Privatuniversität seine Stories of the Instrument technisch gut beherrscht und ob Danube im Musikverein aufführen. Manche Wolfgang Puschnig Man wird durch alles, was er einen ansprechenden Sound auf seinem Abschnitte dieses Stücks müssen improvi- man hört, mehr oder minder beeinflusst — Instrument hat. siert werden. Gerade klassische Musiker bewusst oder unbewusst. Ob ein improvisiertes Solo aber wirklich gut sind aber oft überfordert, wenn sie impro- ist, entscheidet für mich letztlich die emo- visieren sollen. Stefan Heckel Ich arbeite daran, meinen ei- tionale Komponente: Berührt mich das, was genen Improvisationsstil immer weiter zu gespielt wird? Erzählt der Musiker eine Wolfgang Puschnig Das liegt daran, dass entwickeln und hoffe, dass ich diesen Prozess Geschichte mit seiner Improvisation? Er- Improvisation in der Klassik kein Thema ist. am Leben erhalten kann. Vorbilder gab und scheint mir der Musiker emotional aufrichtig gibt es dabei immer wieder. Manche bleiben oder sind die Emotionen nur aufgesetzt, ge- Thomas Huber Das müsste allerdings nicht so lebenslange Begleiter, andere verschwinden spielt? So kann es passieren — des öfteren sein. Improvisation ist großen Bereichen der wieder, nachdem sie ,ihren Job erledigt auch bei Weltstars, die vielleicht gerade in klassischen Musik abhanden gekommen. haben‘. schlechter Verfassung sind —, dass ein virtuo- Dabei geht zum Beispiel aus Joseph Haydns GESPRÄCH 13

Biografie hervor, dass er jeden Tag seine mu- nicht immer. Das ist auch gut so — die Angst sikalische Arbeit mit ein bis zwei Stunden davor sollte man gleich zu Hause lassen. Improvisieren begann. Auf diese Weise sind dann wohl auch viele seiner Kompositionen Kann es sein, dass selbst Jazzmusiker die- entstanden. sen Sprung ins Unbekannte, Unvorherseh- Ein Grund für die Unfähigkeit zu improvisie- bare nicht immer riskieren wollen und sich ren liegt sicher im herkömmlichen Ausbil- beim Improvisieren eine gewisse Routine dungskonzept der klassischen Musik. Kinder einstellt — besonders dann, wenn man lan- werden von der ersten Unterrichtsstunde an ge in derselben Formation mit denselben darauf trainiert, nach Noten zu spielen. Das Leuten spielt? führt meiner Meinung nach dazu, dass sehr frühzeitig eine direkte Verbindung vom No- Stefan Heckel Routine kann in der Improvi- tenblatt zur Tastatur, zum Griffbrett oder sation etwas ganz Positives sein, es kommt zum Griffsystem hergestellt wird und dabei darauf an, wie man sie definiert. Ich genieße das Ohr, das Gehör, übergangen wird. Schüler es, wenn Veteranen nach 20 Jahren noch hören unter Umständen gar nicht, was sie immer frisch klingen, weil sie Individuen ge- spielen und sind daher auch unfähig, etwas blieben sind, die gut zueinander passen. Die Wolfgang Puschnig zu spielen, was sie mit ihrem inneren Ohr bewusste Konfrontation mit neuen Mitspie- hören — also zu improvisieren. Moderne Aus- lern kann natürlich eine sehr interessante Für mich ist das ‚Selbst‘ uninteres- bildungsmethoden schenken diesem Umstand Erfahrung sein, bei der man vielleicht sogar sant, es geht beim Improvisieren viel- allerdings zunehmend Beachtung und bevor- den idealen Spielpartner für die kommende mehr um die Auslöschung des Selbst. zugen einen spielerischen, intuitiven Zugang Schaffensperiode findet. Im Idealfall offenbart sich dann zum Instrument. das Universum. Was offenbart sich denn nun beim Impro- Stefan Heckel Ein Grund für die Probleme visieren eigentlich? Das ‚Selbst‘ des Musi- klassischer Musiker mit dem Improvisieren ist kers? ren — sie ist auf jeden Fall da. Beim Improvi- eine große Angst vor dem Unbestimmten, sieren ist man Komponist und Interpret in vielleicht auch davor, die Kontrolle, die man Stefan Heckel Bei einer Solo-Improvisation einem. sich so mühsam angeeignet hat, zu verlieren kommt das ,Selbst‘ ganz stark zum Vorschein, und Blößen zu zeigen. alle Stärken, alle Schwächen. Bei der Inter- Wolfgang Puschnig Für mich ist das ‚Selbst‘ In der improvisierten Musik passiert es wohl pretation anderer Stücke schwingt die Per- uninteressant, es geht beim Improvisieren jedem immer wieder, dass man schwache sönlichkeit des Komponisten zumindest mit, vielmehr um die Auslöschung des Selbst. Im Momente beim Spielen hat. Es gelingt einfach man kann diese berücksichtigen oder ignorie- Idealfall offenbart sich dann das Universum. 14

Wolfram Knauer Improvisation als Illusion?

Improvisation als Illusion? Kein geringer als einander beim Spielen musikalisch sagen, Hier finden wir die extremen Auffassungen der Säulenheilige des Jazz, Duke Ellington, deckt nicht die ganze Bandbreite des musika- der Jazz-Ästhetik: Jazz, das sei eine sponta- hat sich 1962 in einem Aufsatz für das Music lischen Prozesses und schon gar nicht die des ne Musik, im Augenblick erfunden, immer Journal auch zum Phänomen der Improvisati- musikalischen Ergebnisses ab. Zur Musik ge- kreativ, immer neu. Dieses ästhetische Pos- on geäußert. Seine Worte sind, wie oft, wohl hört immer — und zur afro-amerikanischen tulat aber machte alles Schriftliche, alles gewählt und versuchen zu entmystifizieren: Musik vielleicht ja doch noch mehr als in an- Wiederholte, alles Wiederholbare suspekt. „Es gibt da die Theorie, dass es so etwas wie deren Traditionen — der Hörer! Immerhin ist der Jazz die erste Musikform, in die reine Improvisation ohne Vorbereitung Es käme auf den Versuch an: Setzen Sie ein der das Postulat der Improvisation so voll- oder Vorplanung gäbe. Ich glaube fest, dass Publikum in ein Konzert mit improvisierter kommen in den Vordergrund gerückt wurde. noch nie irgendjemand auch nur zwei Takte Musik und sagen Sie ihm, hierbei handele es In diesem Sinne war Jazz denn auch tatsäch- geblasen hat, die zu hören es Wert war, der sich um ein Jazzkonzert. Setzen Sie ein ande- lich eine Alternative zur eurozentrischen Kul- nicht wenigstens eine Idee dessen gehabt res Publikum ins selbe Konzert und sagen Sie turauffassung, in der Schriftlichkeit, Wieder- hatte, was er spielen würde, und zwar, bevor ihm, es handele sich um ein Konzert mit holbarkeit, Nachvollziehbarkeit zu unver- er zu spielen begann. Wenn man nur durch Neuer Musik. Ich bin mir sicher, dass Sie am zichtbaren Bedingungen eines ,Kunstwerks‘ Skalen jagt oder Akkorde umspielt, dann sind Ende zwei völlig unterschiedliche Wahrneh- wurden. Dass der Jazz Einfluss auf andere das nichts als musikalische Etüden. Improvi- mungen desselben Konzerts erhalten würden. Kunstbereiche hatte, auf die Malerei genauso sation besteht darin, einen Einfall hier zu Die Neuordnung musikalischer Gesten also, wie auf die Literatur, Jackson Pollock oder wählen und ihn mit einem anderen Einfall zu die Musiker beim Improvisieren vornehmen, die Beat Poets, hängt mit dieser Einzigartig- verbinden, an der Stelle den Rhythmus zu besteht nicht nur aus der Neuordnung ihrer keit der Improvisationsästhetik im Jazz zu- wechseln und an jener eine Pause einzule- eigenen Gedanken und Erfahrungen, sondern sammen, die eine spontane Gefühlsäußerung gen; letzten Endes gehen etliche Gedanken betrifft auch die Gedanken und Erfahrungen impliziert, die Fähigkeit, emotionale Erfah- jeder gespielten Phrase voraus, sonst wäre ihrer Hörer, die je nach der eigenen musikali- rungen im Moment ausdrücken zu können. das Ergebnis inhaltslos. Der heutige Jazz be- schen Sozialisation wahrnehmen. Das Problem der Jazzästhetik als einer Ästhe- steht, wie immer in der Vergangenheit, aus Dies bringt uns schließlich zu einem der tik improvisierter Kunst ist, dass der Jazz in nachdenklicher Kreation, nicht ziellosem Ins- wichtigsten und zugleich problematischen äs- einer Welt des Wiederholbaren lebt. Wie oft tinkt […].“ thetischen Postulate des Jazz, dass dieser erlebt man als Veranstalter, dass nach einem Ist also Improvisation eine große Illusion? Nur nämlich eine improvisierte Musik sei, dass gelungenen Konzert Zuhörer fragen: „Habt dann, wenn man sie als erreichbare Utopie Improvisation und absolute Spontaneität Ihr das mitgeschnitten?“, weil sie das Erleb- betrachtet, nicht dann aber, wenn man um gleichzusetzen seien, dass Jazzmusik nur im nis hörend nachvollziehen wollen. Und es ihr eigentliches Wesen weiß, dass nämlich spontanen Erfinden neuer musikalischer Zu- geht einem ja auch selbst so, dass man Musik improvisatorische Kreativität (wie überhaupt sammenhänge wertvoll sei. Dieses ästheti- wieder und wieder anhört, sich hineinver- Kreativität) nicht im kompletten Neuerfinden sche Postulat zieht sich durch die Jazzge- tieft, die ursprünglich improvisierten Klänge besteht, sondern im Neuordnen der Voka- schichte. Etliche Jazzmusiker vor allem der als Kunstwerk begreift und rezipiert und sich beln. In der Literatur verlangt ja niemand, ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hielten die Bedeutung desselben immer wieder be- dass ein jeder Autor seine Sprache neu erfin- beispielsweise mit Bedacht den Schein auf- wusst macht, indem man sich selbst zuruft: den müsse, um als kreativ zu gelten. Es geht recht, mit ihrer Notenfestigkeit sei es nicht „... und das ist alles improvisiert!!!“. um die Neuordnung der existierenden Wörter zum Besten bestellt. Der Jazz schließlich und Sätze, um die Neuordnung von Gedanken lebte von Spontaneität und Improvisation. und Gedankenfolgen. In der Musik ist das so Nur so sind die Legenden um Jazzmusiker zu anders nicht: Auch beim Improvisieren ist das verstehen, die keine Noten lesen konnten. Neuordnen wichtiger als das Neuerfinden. Als Erroll Garner 1977 starb, wurde diese Tat- Die Improvisationsgrundlage „tabula rasa“ ist sache selbst in den deutschen Fernsehnach- schlechterdings nicht möglich, weil musikali- richten als etwas Besonderes gewürdigt. Und sche Improvisation mit zeitlichem Raum spielt, dass Art Tatum, um ein anderes Beispiel zu also mit der Erinnerung von Zeit, weil sie nennen, über die Jahre eingeschliffene Solo- sich erinnernder Momente unseres Bewusst- abläufe entwickelte, die er Mal für Mal in Aus: Wolfram Knauer, „Noodlin’ and Doodlin’ and seins bedient und damit auf all der Erfahrung seinen Interpretationen wiederholte, nicht Playin’ Around … Zum sich wandelnden Selbstver- aufbaut, die Erinnerung im Klangbereich in Note für Note vielleicht, aber durchaus in ständnis des Jazz als improvisierter Musik“, in: improvisieren …, hrsg. v. Wolfram Knauer uns auslöst. […] Selbst die Kommunikation ihrem festen Ablaufplan, stand bei Kritikern (Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 8), auf der Bühne, das, was Musiker sich unter- für Voraussehbarkeit, mangelnde Kreativität. Hofheim: Wolke Verlag, 2004, S. 19—38. 15

Felix Thürlemann Jackson Pollocks drip-paintings

Jackson Pollock hatte mit seiner Malerei in des gestikulierenden Malers, die Harold ausreichend charakterisieren. Er erlaubt je- den frühen 50er Jahren einen ausserordentli- Rosenberg die Formel suggerierten: „The doch, das besondere Verhältnis zu fassen, das chen Erfolg und er wurde von den Kritikern painter has become an actor.“ sie zur Zeitlichkeit unterhält. Wie keine an- als der eigentliche Repräsentant der neuen, Der ausserordentliche Erfolg von Rosenbergs dere kann Pollocks Malerei den dynamischen genuin amerikanischen Avantgarde gefeiert, Formel lag vor allem darin begründet, dass Verlauf, der zu ihrer Hervorbringung geführt die sich von den europäischen Vorbildern an- sie der ästhetischen Hauptforderung des da- hat, im Resultat als dauerhafte, sichtbare geblich radikal losgelöst hatte. mals en vogue stehenden Existentialismus Spur festhalten. Mit deutlichem Bezug auf Pollocks Schaffen entsprach, wonach jede Trennung zwischen Anders aber als es Rosenbergs Formel „action entwickelte Harold Rosenberg im Jahre 1952 Kunst und Leben aufgehoben werden sollte. painting“ suggeriert, ist der Maler nicht die den Begriff action painting, der Furore mach- Gegenüber den malerischen Werken und einzige Instanz im Produktionsprozess. te und in dem die verschiedensten künstleri- deren genuinen ästhetischen Eigenschaften Pollocks Malerei ist nicht allein aus dem schen Bewegungen der nachfolgenden Jahre, aber machte die Formel blind. Agieren des Malers hervorgegangen. Sie ist wie „happening“, „performance“ und „body Pollocks Malerei der 50er Jahre besitzt zwar das Resultat einer Interaktion, der Auseinan- art“ ihre konzeptuelle Begründung fanden. einen ausgeprägt dynamischen Charakter, dersetzung des Künstlers mit seinen eigenwil- Obwohl Pollock in Rosenbergs programmati- doch rührt dieser nicht von einer neuen ligen „Partnern“, den mit Kunstharz und Öl schem Aufsatz „The American action pain- Selbsteinschätzung des Malers als „actor“ gebundenen Farbpigmenten. ters“ (erschienen in der Dezembernummer her; er beruht auf der besonderen, von von Art News) nicht namentlich erwähnt Pollock entwickelten Maltechnik, die es er- wurde, musste es jedem informierten Leser möglichte, das Spiel der Kräfte, die zur Her- klar sein, dass dieser Maler es war, der für vorbringung des Werkes führten, im Resultat den Autor die neue künstlerische Bewegung sichtbar aufzuheben. Das Besondere am neu- in exemplarischer Weise vertrat. en Verfahren, als „dripping“ oder „pouring“ Wie bereits Clement Greenberg kritisch an- bezeichnet, bestand darin, dass die Farbe merkte, geht Rosenberg in seiner Analyse je- nicht wie üblich mit dem Pinsel auf den doch nicht vom malerischen Werk Pollocks Bildträger aufgetragen, sondern von einem aus, sondern von den Fotografien und vor bewegten Stab oder einem anderen Hilfsmit- allem vom Film Hans Namuths [Jackson tel abgeworfen wurde und — einem Lasso Pollock, 1950/51, 10 Min.]. Wenn etwa der ähnlich — noch oberhalb der auf dem Boden Kritiker die Leinwand als „an arena“ defi- ausgebreiteten Leinwand in der Luft geformt niert, „in which to act“, so beruht dies auf wurde. […] Aus: Felix Thürlemann, „Gelenkter Zufall. Der Prozess des Malens“, in: Improvisation, hrsg. v. dem von Pollock im Film gesprochenen off- Dieser Hinweis auf die Besonderheit von Walter Fähndrich, Winterthur: Amadeus Verlag, Text. Es waren der Kommentar und die Bilder Pollocks Methode kann seine Malerei nicht 1992, S. 63—73.

Jackson Pollock während der Arbeit an Autumn Rhythm: Number 30, 1950. © VBK Wien, 2006 16

Auch Improvisieren will gelernt sein! Stellenausschreibung

Ab WS 2006/2007 ist in der Abteilung Ballett folgende Stelle zu besetzen: Beteiligten ganz genau aufeinander hören. Umgelegt auf andere Bereiche bedeutet das, Halbe Lehrverpflichtung dass Kommunikation und Dialogfähigkeit im für Korrepetition Vordergrund stehen und dass Beteiligung bzw. in den Zentralen künst- Mitbestimmung gelebt wird. Vor allem in lerischen Fächern meiner Funktion als Jugendstadträtin be- Ballett Tanztechnik und trachte ich es als meine Aufgabe, Kindern Moderne Tanztechnik und Jugendlichen zuzuhören und ihrer im Ausmaß von 10 Wochenstunden Stimme Gewicht zu verleihen. Unter dem Stichwort Partizipation laden wird daher seit Anforderungen: vielen Jahren vor allem die jüngeren Wiener- - Einschlägige Berufserfahrung im Bereich Innen ein, ihre Ideen und Vorstellungen ein- Ballett-Korrepetition zubringen und die Stadt von morgen mitzuge- - Erfahrung in der Begleitung Moderner stalten. Beispiele wie die gemeinsame Erar- Tanztechnik und Improvisation beitung des Wiener Jugendschutzgesetzes, - Hervorragende künstlerische und die Mitarbeit in den Kinder- und Jugendpar- künstlerisch-pädagogische Qualifikation lamenten, die Planung von Skateranlagen oder des Jugendzentrums Arthaberbad zei- Ihren Unterlagen schließen Sie bitte an: Improvisieren: Das heißt immer auch Lösun- gen, wie Partizipation in der Kinder- und Ju- - Lebenslauf gen zu finden, die in einer ganz bestimmten gendarbeit gelebt wird. Im Vorjahr konnten - Dokumente über eine entsprechende Situation die richtigen sind. Es sind Lösun- Jugendliche ab 16 erstmals bei den Wiener künstlerische Ausbildung gen, für die man sich vielleicht schon einmal Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen - Nachweise facheinschlägiger künstleri- in einer ähnlichen Form entschieden hat, als ihre Stimme abgeben. Und — worauf ich be- scher und pädagogischer Tätigkeiten Ganzes stellen sie aber immer etwas Neues sonders stolz bin — viele von ihnen haben dar. Für mich als Politikerin können improvi- diese Gelegenheit auch genutzt. Denn sie Nach Sichtung der Unterlagen werden sierende JazzmusikerInnen in verschiedener sind weder zu jung noch desinteressiert an ausgewählte BewerberInnen zu einem Hinsicht vorbildlich sein: Ich denke dabei ei- den Vorgängen in Verwaltung und Politik. Im Hearing (bestehend aus einer künstleri- nerseits an deren Sensibilität für das Hier Gegenteil: Viele haben spannende Ideen und schen Präsentation, der Begleitung einer und Jetzt, für den konkreten Raum, in dem engagieren sich aktiv — wenn man sie nur Trainingseinheit und einem Kolloquium) sie gerade auftreten, und für das konkrete lässt und sie ernst nimmt. Das ist wie bei der voraussichtlich am 13. Juni 2006 einge- Publikum, vor dem sie gerade spielen. In die- musikalischen Improvisation: Auch sie gelingt laden. sem Sinn bedeutet Improvisieren immer, nur, wenn alle mitmachen und wenn alle ei- genau auf die jeweilige Situation abgestimm- nander ernst nehmen. Und alle haben etwas Kosten, die im Zusammenhang mit einer te Lösungen zu erarbeiten. Das heißt nicht, davon — die beteiligten MusikerInnen und das Bewerbung an der Konservatorium Wien dass man von der strategischen Gesamtlinie Publikum. In anderen Bereichen bedarf es Privatuniversität entstehen, können abweicht. Ganz im Gegenteil: Erst das Vor- größerer Überzeugungsarbeit und es liegt leider nicht ersetzt werden. handensein einer klaren Linie, eines erklär- noch ein Stück Weg vor uns, bis das Anliegen, ten Willens und das gemeinsame Arbeiten dass alle Beteiligten für voll genommen wer- Schriftliche Bewerbungen bitte bis zum daran machen es möglich, von dieser Linie den, auch ein Teil unserer Kultur geworden 5. Mai 2006 an: auch leicht abzuweichen, unvorhergesehene ist. Bei Jugendlichen beginnt der Weg mit Aspekte zu berücksichtigen, eben: zu impro- der Heranbildung eines gesunden Selbstbe- Konservatorium Wien Privatuniversität visieren. wusstseins. Der Grundstein dafür wird sowohl z. H. Mag. Dagmar Hüttl Andererseits bezieht sich Improvisation im- von den Eltern als auch in den unterschiedli- 1010 Wien, Johannesgasse 4a mer auch auf das Zusammenspiel mehrerer chen Bildungseinrichtungen, zu denen auch Tel.: (+43-1) 512 77 47-89311 MusikerInnen: Es ist also ein wechselseitiger die Konservatorium Wien Privat-universität Fax: (01) 512 77 47 99-89311 Prozess, ein Geben, aber auch Nehmen. Man gehört, gelegt. Fax internat.: (+43-1) 512 77 47-7913 nimmt den Impuls eines/einer anderen auf, [email protected] antwortet auf ihn, führt ihn weiter oder er- Grete Laska, Vizebürgermeisterin und www.konservatorium-wien.ac.at gänzt ihn. Voraussetzung dafür ist, dass alle Bildungsstadträtin der Stadt Wien

Textnachweise S. 3: Derek Bailey, Improvisation. Its Nature and Practice, 2., erweiterte Ausgabe, o. O.: Da Capo Press, 1992; dt. Übers. der 1. Ausgabe: Derek Bailey, Improvisa- tion. Kunst ohne Werk, Hofheim: Wolke Verlag, 1987; S. 4: Carl Czerny, Briefe über den Unterricht auf dem Pianoforte von Anfang bis zur Ausbildung: als Anhang zu jeder Clavierschule, Wien o. J. [Anfang 19. Jh.]; S. 6: „Improvisation und musikalische Realität: Ein Gespräch zwischen Joachim Kühn und Bert Noglik“, in: improvi- sieren …, hrsg. v. Wolfram Knauer (Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 8), Hofheim: Wolke Verlag, 2004, S. 167—181; S. 9: Martin Pfleiderer, „Improvisie- ren — ästhetische Mythen und psychologische Einsichten“, in: ebd, S. 81—99. www.konservatorium-wien.ac.at

Das Ziel des improvisierenden Musikers ist es, eine bestimmte Zeit (eines Konzerts, einer Platte, eines Stücks) mit musikalischer Entwicklung zu füllen, die irgendwie seine eigene musikalische Auseinandersetzung widerspiegelt und zu transportieren vermag. Transportieren wohin? Auf ein ihm wohlgesonnenes, interessiertes Publikum. Transportieren warum? Weil wir nicht im gesellschaft- lichen Vakuum leben, sondern uns mitteilen wollen. Hier ist die Improvisation stärker als alle anderen Formen musikalischen Ausdrucks eine Art Spiegel dessen, was wir tagtäglich erleben: dass wir uns mit unserer durch sehr persönliche Erfahrungen be- einflussten Individualität in der Gesellschaft anderer Menschen durchschlagen, mit ihnen kommunizieren, ,Arbeitsbündnisse‘ [...] eingehen, dabei aber die Individualität unserer selbst nicht verlieren wollen. Lernen: ja, anpassen: ja, aufgeben: nein.

Wolfram Knauer