Deutschland R. JANKE / ARGUS R. JANKE Jubilar Genscher: Er wollte belegen, wie alles gewesen ist und was er dazu beigetragen hat

JUBILÄEN Genschman ganz oben Rudolf Augstein zu Hans-Dietrich Genschers 70. Geburtstag ls Hans-Dietrich Genscher 1995 sei- ne Memoiren herausbrachte, waren Aviele seiner engsten Bekannten ent- täuscht. Dieser witzige und stets mit Anek- doten befrachtete Politiker hatte genau das nicht getan, was man von ihm erwartet hat- te: ein noch so dickes Buch, randvoll mit witzigen Erinnerungen und Anekdoten ge- schrieben. Er hatte etwas anderes getan, was sich auf die Dauer mehr auszahlen wird, nicht in Geld, das er nicht braucht und auf das er keinen Wert legt. Er hatte für den aufmerksamen Leser ein Kompendium der Außenpolitik verfaßt, das jeder zur Hand nehmen muß, der sich mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der politischen jedenfalls, beschäftigen will. Vergnügen kann einem das zu umfang- reiche Buch nicht durchweg bereiten, Gen- schers Genauigkeit auch in biographischen Details läßt das nicht zu.Aber hier liegt sei-

ne Stärke ohnehin nicht, und das hat er S. SIMON zweifelsfrei gewußt. Wahlkämpfer Genscher, Augstein 1972 in Rheda-Wiedenbrück: „Und den Kandidaten loben?“

56 12/1997 Man kann die Leute nicht backen, man muß sie nehmen, wie sie sind. Genschers Anliegen war eben nicht, als geistreicher Witzbold in die Geschichte der Diploma- tie einzugehen, niemand kann wider seine Natur. Vielmehr wollte er belegen, wie al- les gewesen ist und was er dazu beigetra- gen hat. Da gibt es wenige, die sich mit ihm messen können. Um zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich meinerseits eine selbsterlebte und darum wahre Anekdote erzählen. Im Wahlkampf 1972 hatte ich mir den un- dankbaren, aber lehrreichen Wahlkreis Pa- derborn aussuchen können. Da dies der Wahlkreis des damaligen Kanzlerkandida- ten war, hatte ich dort die ge- samte FDP-Prominenz zu Gast. Genscher und mir war die gloriose Auf- gabe zugefallen, abends auf dem Markt- platz der Stadt Rheda zu den Massen zu sprechen.Wir hatten jeweils 300 Leute vor uns, von denen aber kaum einer länger als fünf Minuten stehenblieb. Unterwegs hat- te mich der Minister des Inneren, Hans- Dietrich Genscher, gefragt, was er sagen solle. Ich antwortete: „Das Übliche.“ Er fügte hinzu: „Und den Kandidaten loben?“ – „Ja, natürlich, auch das.“ Vor Ort erfuhren wir, daß sich die beiden Stadtteile Rheda und Wiedenbrück feind- lich zueinander verhielten, weil man sie zur Stadt Rheda-Wiedenbrück zwangsver- einigt hatte. Dies mußte also das spezielle Thema sein. Nach wenigen Minuten sah ich, daß der Minister sein Manuskript gar nicht mehr umblätterte, sondern frei das sozusagen „Übliche“ von sich gab. Hinterher fragte ich ihn, wozu er überhaupt das Manuskript mitgebracht habe. „Um mich daran fest- zuhalten“, war seine Antwort, die unmit- telbar einleuchtete. Man kann nicht sagen, daß wir beide die Veranstaltung als einen riesigen Erfolg betrachtet hätten. Er fuhr nach Bonn, ich flog nach . Am nächsten Morgen um sieben Uhr früh – es war ein Samstag – rief mich des Ministers Referent Klaus Kinkel in Ham- burg an, zu einer für mich ungewohnten Stunde also. Ja, er wolle mir nur mitteilen, sagte er, und zwar im Auftrag des Mini- sters, daß der Minister mit hohem Fieber im Bett liege. Nur so sei es zu erklären, daß er vergessen habe, den Kandidaten zu lo- ben. Ich war schwer beeindruckt, aber auch schwer sauer. Als Genscher nach dem Rücktritt Willy Brandts Außenminister werden sollte, stemmten sich Brandts Leute dagegen. Er kam mich besuchen und fragte, ob er denn unbedingt darauf bestehen müsse, Außen- minister zu werden. Ich ahnte, welche Ant- wort er erwartete, war aber im übrigen auch überzeugt davon, daß ein gegenteili- ger Rat nichts bewirkt hätte. Er mußte es werden, er wußte das, aber Bestätigung von möglichst vielen Leuten tat ihm wohl. Noch war er nicht der legendäre Gensch-

der spiegel 12/1997 Deutschland A.F.P. / DPA A.F.P. Außenminister Genscher, Kollegen 1990*: Große Rolle im Vereinigungsprozeß man, und Angst vor sprachlichen Proble- beschallten Unterton. Er sagt das nicht, und stens so große Rolle gespielt hat wie Hel- men hatte er auch. hat er das etwa nötig? Wer so viel geleistet mut Kohl selbst. Man kann nicht von ihm Als Innenminister ließ er kein Mittages- hat wie er, darf sich getrost mit 65 Jahren verlangen, daß er auch noch ein guter Öko- sen vorübergehen, ohne sich dreimal zu sei- aus dem strapaziösen Amt entfernen. Daß nom ist (: „Herr Genscher nem Funkauto Forelle I oder Forelle II hin- er die Strapazen nunmehr vermißt, ist bei ist ein Rechtsanwalt“). ausrufen zu lassen. Als Außenminister hat- Genscher ebenfalls selbstverständlich. Auch was er zu Maastricht gedacht und te er das nicht mehr nötig, da gab es genug Seine Frau Barbara beteuert, sie könne getan hat, kann nicht als entscheidend gel- Gelegenheiten, sich sehen zu lassen, und er ihren Mann nicht ändern, und das glaubt ten. Erstens mag es ja klappen, obwohl zur nutzte sie alle, zum Wohle aller Deutschen, man ihr gern. Worüber viele von uns sich Zeit wenig dafür spricht. Und zweitens wird wie sich später herausstellte. Man konnte manchmal mokiert haben – er saß ja mehr er nie etwas tun, wenn er sicher sein kann, mit ihm Freund sein, auch wenn er in manch im Flugzeug als sogar Rita Süssmuth –, das damit aufzulaufen. Sicher ist nur, daß der wichtiger Frage, siehe Nachrüstung, anderer eben hat sich ausgezahlt, als es auf einen in Vertrag von deutscher Seite lückenhaft, Ansicht war als man selbst. wenn nicht stümperhaft behandelt worden Oder besser, man konnte mit ihm wegen Hans-Dietrich Genscher kannte ist. Die Folgen sehen wir bereits, aber das einer sachlichen Meinungsverschiedenheit alle, die man kennen ist nicht in erster Linie die „Schuld“ Gen- nicht sein Feind werden. Er war doch zu schers und auch nicht der FDP. Es hat auch sehr Profi. Und niemals konnte man wis- mußte, und er genoß Vertrauen die Opposition die gewichtigen Einwände sen, wer wen am Ende noch einmal brau- nicht gesehen und nicht vorgebracht. Und chen würde. den Geschäften derart erfahrenen Außen- Wunder gibt es ja auch. Die Bevölkerung spürte das, und so stand minister ankam. Er kannte alle, die man Mir bedeutet die Bekanntschaft, die Genschman ganz oben auf der Skala der kennen mußte, und er genoß Vertrauen. dann in Freundschaft übergegangen ist, Beliebtheit. Von Macken, wie etwa seinem Dies allerdings nicht für ein halbes Jahr sehr viel. Ich verdanke ihr Einblicke, die ich gelben Pullunder, ließ er sich nicht abbrin- in Washington. Dort hielt man 1990 für sonst nicht gewonnen hätte. gen. Und auch Forelle I und Forelle II sind möglich, daß Genscher auf eigene Faust Man wird Geschichte, wie wir sie zu le- im Ruhestand wiederaufgetaucht, er trägt eine nicht abgestimmte Außenpolitik sen gewohnt sind, im nächsten Jahrhun- sein Handy beim Berliner Presseball. zwecks Wiedervereinigung betreiben wür- dert vielleicht gar nicht mehr schreiben. Hier muß ich mich berichtigen. Es kann de, und das auch noch mit Erfolg. Wer im- Der Strukturwandel in der Welt erlaubt für Hans-Dietrich Genscher, notabene samt mer das gedacht hat, sagen wir George die noch übliche Personalisierung vielleicht Frau Barbara, natürlich nur einen Unru- Bush, kann von Genschers geprägtem Na- gar nicht mehr.Wenn aber doch, wird man hestand geben. Das Wappen der Insel Man turell nicht die geringste Ahnung gehabt den Außenpolitiker Hans-Dietrich Gen- könnte zu ihm passen: „Er steht, wohin haben. Er würde nichts tun, was ohne jede scher nicht in einer Fußnote unterbringen Du ihn auch wirfst.“ Erfolgsaussicht war, er würde sich immer können. Weder Schläge noch Ratschläge Man hat ihn oft gefragt, warum er denn abstimmen. Tatsache ist, in Camp David kann man einem 70jährigen geben. Bisher überhaupt zurückgetreten sei, manchmal saß Kohl ohne seinen Genscher, Bush aber hat er ja offensichtlich gewußt, was er ge- mit einem bösen, aus dem Kanzleramt nicht ohne dessen Pendant James Baker. wollt hat. Im übrigen: „das Übliche“. Die Phantasie reicht nicht aus, sich ande- re Gründe einfallen zu lassen. * James Baker, Eduard Schewardnadse, Roland Dumas, Rudolf Augsteins Artikel erscheint als Beitrag in einer Markus Meckel, Douglas Hurd bei einer Zwei-plus-Vier- Für mich steht nicht in Frage, daß Gen- vom Auswärtigen Amt herausgegebenen Festschrift Verhandlung in Bonn. scher im Vereinigungsprozeß eine minde- anläßlich Genschers 70. Geburtstags am 21. März.

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