Plenarprotokoll 15/4

Deutscher

Stenografischer Bericht

4. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 1: BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 116 A Regierungserklärung des Bundeskanz- lers mit anschließender Aussprache . . . . . 51 A Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... 117 A Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 51 B Reinhold Robbe SPD ...... 119 A Dr. CDU/CSU ...... 61 B Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministe- rin BMZ ...... 120 C Franz Müntefering SPD ...... 69 D Dr. Christian Ruck CDU/CSU ...... 122 C Dr. FDP ...... 74 B Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ . . . 123 D Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 77 D Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 124 D CDU/CSU ...... 81 C , Bundesministerin BMJ . . . . 125 D Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 81 D Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 127 D (Neuruppin) SPD ...... 82 B Dr. Dieter Wiefelspütz SPD ...... 130 C CDU/CSU ...... 84 C Hans-Joachim Hacker SPD ...... 131 D Sabine Bätzing SPD ...... 88 C FDP ...... 134 D SPD ...... 90 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 136 A fraktionslos ...... 92 D , Bundesminister BMI ...... 137 D Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 93 D CDU/CSU ...... 139 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ...... 97 A Otto Schily SPD ...... 141 C SPD ...... 100 A Jörg Tauss SPD ...... 142 A Dr. FDP ...... 102 A BÜNDNIS 90/ Dr. Angelica Schwall-Düren SPD ...... 104 B DIE GRÜNEN ...... 144 A CDU/CSU ...... 106 A Dr. FDP ...... 145 C SPD ...... 108 B Wolfgang Bosbach CDU/CSU ...... 146 B Dr. FDP ...... 110 A Hartmut Koschyk CDU/CSU ...... 147 B Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 111 C Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU ...... 113 C DIE GRÜNEN ...... 150 B Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 115 C Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . . 150 C Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU ...... 115 D Dr. CDU/CSU ...... 151 B II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Monika Griefahn SPD ...... 152 D Dr. Peter Paziorek CDU/CSU ...... 166 C Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP ...... 154 C BÜNDNIS 90/ Günter Nooke CDU/CSU ...... 155 C DIE GRÜNEN ...... 169 A Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 157 B Nächste Sitzung ...... 170 D Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 158 C Ulrike Mehl SPD ...... 161 B Birgit Homburger FDP ...... 163 A Anlage 1 Michael Müller (Düsseldorf) SPD ...... 164 D Liste der entschuldigten Abgeordneten ...... 171 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 51

(A) (C)

4. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Beginn: 10.00 Uhr

Präsident : Wir haben den Auftrag, Gemeinsinn und Verantwor- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die tungsbereitschaft zu stärken, Solidität, aber auch Solida- Sitzung ist eröffnet. rität zu organisieren und diesen Auftrag werden wir erfül- len. Die Menschen in Deutschland wissen, dass wir in Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf: wirtschaftlich schwierigen Zeiten leben. Sie wissen um die Gefahren durch den internationalen Terrorismus; sie Regierungserklärung des Bundeskanzlers wissen um die Gefahren durch regionale Konflikte – alles mit anschließender Aussprache Gefahren, die unsere innere Sicherheit, aber auch unseren wirtschaftlichen Wohlstand bedrohen; sie wissen, dass Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die heutige Aussprache nach der Regierungserklärung neun uns der veränderte Altersaufbau unserer Bevölkerung und Stunden, morgen ebenfalls neun Stunden und am Don- der Wandel im Erwerbsleben zu weit reichenden Verände- nerstag drei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einver- rungen bei den Systemen der sozialen Sicherung, zu Spar- standen? – Dann ist so beschlossen. samkeit, zu höherer Effizienz und zu größerer Gerechtig- (B) keit zwingen. (D) Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Aber die Menschen in Deutschland haben sich aus- der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, drücklich nicht dafür entschieden, den Sozialstaat abzu- Gerhard Schröder. schaffen, wahllos Leistungen zu kürzen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Lachen bei der CDU/CSU) DIE GRÜNEN) oder gar die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmer zurückzudrehen. Gerhard Schröder, Bundeskanzler: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- DIE GRÜNEN) ren! Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen ha- ben am 22. September von den Wählerinnen und Wählern Sie haben der neuen Regierung eben nicht den Auftrag er- den Auftrag zur weiteren sozialen und ökologischen Er- teilt, die Interessen von Gruppen und Verbänden über das neuerung unseres Landes erhalten. Gemeinwohl zu stellen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der DIE GRÜNEN) CDU/CSU) Wir wissen um den Wählerauftrag und deshalb überneh- – Das mag Ihnen komisch vorkommen; aber es war so. men wir Verantwortung für das Ganze. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Ja, mit Lug und Betrug!) Die Entwicklung der internationalen Finanz- und Aktienmärkte, die Zurückhaltung von Konsumenten und Ich habe schon gelegentlich feststellen müssen, dass Sie Investoren in allen großen Volkswirtschaften, eine anhal- das vielleicht ein bisschen anders erwartet hatten. Aber tende Unsicherheit auf den Rohstoff- und Energiemärkten nehmen Sie zur Kenntnis: Sie saßen auf der Oppositions- durch die explosive Lage im Nahen Osten, das alles gibt seite, Sie sitzen da und Sie werden da sitzen bleiben. wenig Anlass zu der Hoffnung auf eine kurzfristige Bes- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem serung der Weltwirtschaft. Deshalb kommt es für uns da- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter rauf an, im Inland die Kräfte für Wachstum und Erneue- Ramsauer [CDU/CSU]: Arroganter Heuchler!) rung zu stärken. 52 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Dabei stehen die klassischen Instrumente, um den Meine Damen und Herren, zur weiteren Konsolidie- (C) Konsum und die Investitionstätigkeit durch Subventio- rung der öffentlichen Haushalte gibt es keine vernünftige nen, durch Finanzspritzen zu stimulieren, nicht mehr zur Alternative. Wir brauchen Zukunftsinvestitionen statt Zins- Verfügung; denn diese Instrumente können in einer Zeit zahlungen. Wir dürfen heute also nicht das konsumieren, der fortschreitenden wirtschaftlichen Verflechtung keine was wir unseren Kindern und Enkeln als Zukunftschan- Wirkung entfalten. cen eröffnen wollen. Die bereits beschlossene nächste Stufe der Steuer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ reform, die wir zur Beseitigung der nicht vorhersehbaren DIE GRÜNEN) Flutschäden um ein Jahr verschieben mussten, tritt mit Wir brauchen und wir werden Spielräume im Etat schaf- ihren bedeutenden Entlastungseffekten im Jahr 2004 in fen, um Vorsorge für unsere Volkswirtschaft treffen zu Kraft. Weitere Entlastungen werden folgen. Sie sind für können, und werden bei Bedarf gezielt gegensteuern. Die 2005 bereits beschlossen und werden die Wachstums- Bundesregierung hält an dem Ziel fest, bis 2006 einen kräfte in Deutschland stärken. ausgeglichen Bundeshaushalt zu erreichen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der Gerade weil die Politik der abgestuften Steuersenkun- CDU/CSU und der FDP) gen weiterverfolgt wird, Dabei muss klar sein: Der Stabilitätspakt selbst steht ( [CDU/CSU]: nicht zur Diskussion. Was wir aber brauchen, ist seine Steuererhöhungen!) konjunkturgerechte Ausgestaltung. ist es nötig, einzelne Ausnahme- und Subventionstatbe- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) stände im Steuerrecht auf ihre Zweckmäßigkeit und auf Gerade in der gegenwärtigen Situation muss es möglich ihre Zielgenauigkeit hin zu überprüfen und gegebenen- sein, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen. falls auch abzuschaffen. Die in der Koalition vereinbarten Erforderlich ist also mehr Flexibilität, um in konjunktu- Einsparungen und Einschnitte sind in sich ausgewogen. rell schwierigen Zeiten gegensteuern zu können. Sie dienen allein dem Ziel, neue Handlungsmöglichkeiten für Zukunftsinvestitionen und damit für Wachstum und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beschäftigung zu eröffnen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Angesichts der schwierigen weltwirtschaftlichen Lage, DIE GRÜNEN) die natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die Kon- (B) junktur und das Wachstum in Deutschland hat, müssen (D) Obenan stehen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im wir eines erkennen: Es ist jetzt nicht die Zeit, neue Forde- Bildungswesen. Wir müssen und wir werden die Qualität rungen zu stellen, ohne zu neuen Leistungen bereit zu von Bildung und Ausbildung deutlich verbessern und damit sein. Wer nur seine Ansprüche pflegt, der hat wirklich die Lebenschancen insbesondere junger Menschen erhöhen. noch nicht verstanden, worum es geht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ Gegen vielfachen Widerstand werden wir die Familien CSU]: Das kann ich Ihnen sagen!) fördern und die Sozialsysteme reformieren, Wer soliden Wohlstand, nachhaltige Entwicklung und (Widerspruch bei Abgeordneten der neue Gerechtigkeit will, der wird Verständnis dafür auf- CDU/CSU) bringen, dass man bei bestimmten staatlichen Leistungen auch kürzer treten muss und dass auf das erreichte ohne den Grundsatz der Solidarität preiszugeben. Leistungsniveau des Staates und der Sozialversicherun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen nicht fortwährend draufgesattelt werden kann. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wir setzen einen Schwerpunkt öffentlicher Investitio- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nen bei der Wiederherstellung und der weiteren Moderni- Zur Reform und Erneuerung gehört auch, manche An- sierung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern. sprüche, Regelungen und Zuwendungen des deutschen Damit stärken wir die innovativen Kräfte in der Wirt- Wohlfahrtsstaates zur Disposition zu stellen. Manches, schaft, und zwar ganz gleich ob in kleinen, mittleren oder was auf die Anfänge des Sozialstaates in der Bismarck- großen Unternehmen. Zeit zurückgeht und vielleicht noch vor 30, 40 oder (Zuruf von der FDP: Insolvenzen!) 50 Jahren selbstverständlich und berechtigt gewesen sein mag, hat heute seine Dringlichkeit und damit seine Be- Es geht uns darum, unsere Spitzenposition in der For- rechtigung verloren. schung und bei der Anwendung neuer Technologien so- wie bei der ökologischen Modernisierung zu halten und Diese Bundesregierung, diese Koalition hat eine ge- sie, wo immer es geht, auszubauen. lungene Mischung aus mehr wachstumsfördernden Inves- titionen des Staates, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Lachen bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 53

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) intelligentem Sparen, mehr Steuerehrlichkeit und mehr Die Mehrheit in unserem Land hat Anspruch auf einen (C) Steuergerechtigkeit vereinbart. Staat, der Gemeinwohl befördert, Chancen eröffnet und Gerechtigkeit organisiert. Gerechtigkeit ist nach unserer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auffassung viel mehr als die Forderung, dass alle Opfer DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und bringen müssen. Mehr als auf die Verteilung knapper wer- der FDP) dender öffentlicher Mittel kommt es heute auf die Vertei- Wer in einer labilen konjunkturellen Situation noch lung von Chancen in unserer Gesellschaft an. Unsere po- höhere Einsparungen des Staates fordert, der nimmt in litische Generation steht vor der historischen Aufgabe, Kauf, dass die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung zu definie- Bürger Schaden nehmen. ren und sie politisch zu organisieren. Das ist der Grund, warum wir die Menschen in Deutschland, auch diejenigen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die in diesem Hause auf welcher Seite auch immer Politik DIE GRÜNEN) machen, zu einer Verantwortungspartnerschaft aufrufen. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich ( [CDU/CSU]: Ach, wie schön!) kann ja verstehen, dass Sie wegen der verlorenen Wahl immer noch ein wenig sauer sind. Gemeinsam können wir die gewiss großen, aktuellen Schwierigkeiten überwinden und weit über diese Legisla- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) turperiode hinaus die Kräfte und das Können unseres Lan- Wenn man in Ihre Gesichter schaut, merkt man es Ihnen des für ein in jeder Hinsicht reicheres Leben der heutigen an. Ich kann das gut nachvollziehen. Sie alle haben sich und der künftigen Generationen mobilisieren. schon auf der Regierungsbank sitzen sehen und nun ist es wieder nichts geworden. Wenn Sie so weitermachen, wird (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es auch so bleiben; seien Sie sich dessen ganz sicher. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vordringliche Aufgabe in der beginnenden Legislatur- DIE GRÜNEN – Dr. [CDU/ periode ist nach unserer festen Überzeugung die Reform CSU]: Sie sind ein richtiger Aufschneider!) der Arbeitsmärkte. Wir haben in Deutschland nicht nur eine zu hohe Arbeitslosigkeit; wir haben auch zu viele Wie man hört, sind Sie auf dem besten Wege, so weiter- Überstunden, zu viel Schwarzarbeit und zu viele offene, zumachen. also nicht besetzte Stellen. (Michael Glos [CDU/CSU]: Hochmut kommt Mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission ist es ge- vor dem Fall!) lungen, nach mehr als 30 Jahren fortwährender Diskus- (B) Zu der Politik, die wir vereinbart haben, gibt es keine sionen um Reformen auf dem Arbeitsmarkt ein schlüssi- (D) vernünftige, jedenfalls keine verantwortbare Alternative. ges Gesamtkonzept vorzulegen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Ich sage es noch einmal: Wer in einer labilen konjunktu- Diese Vorschläge, die wir ohne Abstriche umsetzen, wer- rellen Situation noch höhere Einsparungen des Staates den die größte Arbeitsmarktreform seit Bestehen der Bun- fordert, der nimmt in Kauf, dass die berechtigten Anlie- desrepublik bewirken. Ich denke, wir alle sollten die Ge- gen der Bürgerinnen und Bürger ernsthaft Schaden neh- legenheit nutzen, um Herrn Hartz und den Mitgliedern der men. Theoretisch gibt es eine Alternative: Wir hätten, wie Kommission für ihre Arbeit zu danken, und darangehen, es ja gelegentlich vorgeschlagen worden ist, über die be- die Ergebnisse umzusetzen. schlossenen und notwendigen Einsparungen – etwa bei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den konsumtiven Ausgaben und bei den Subventionen – DIE GRÜNEN) hinaus in allen Ressorts einen gleich hohen Prozentsatz der Leistungen ersatzlos streichen können. Das wäre aber Was wir mit dieser Reform erreichen werden, ist eben das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit gewesen. nicht nur eine schnellere und effizientere Vermittlung von Arbeitslosen in offene Stellen. Nein, wir eröffnen darüber Wir brauchen vor allem Investitionen in Zukunfts- hinaus neue Beschäftigungsmöglichkeiten, vor allen Din- chancen; das werden wir organisieren. Wir wollen des- gen in den Dienstleistungsberufen. Wir schaffen auch bei halb keinen Staat, der verarmt und damit handlungsun- geringem Eigenkapital neue Chancen auf Selbstständig- fähig wird. keit und Existenzgründung. Wir sorgen für neue Flexibi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lität durch die Einrichtung von Personal-Service-Agentu- DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt ren und geben den Menschen die Chance, sich auf Zeit [FDP]: Haben wir ja schon!) beruflich zu bewähren. Vor allem Langzeitarbeitslose er- halten endlich wieder Gelegenheit, auf diese Weise in Es bleibt dabei – das ist unsere gemeinsame Überzeugung –: Beschäftigung zu kommen. Einen solchen Nachtwächterstaat kann sich nur eine kleine Minderheit von Mächtigen und Privilegierten leisten. Die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mehrheit in unserem Land kann und will das nicht. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir machen mit dieser Reform gerade bei den Dienst- DIE GRÜNEN) leistungen legale Arbeit attraktiv und verringern so die 54 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Versuchung, Arbeitskraft illegal anzubieten. Damit keine alter der Globalisierung und strukturellen Veränderungen (C) Missverständnisse aufkommen: Schwarzarbeit ist nach des Wirtschaftens und des Arbeitens Gerechtigkeit herge- unserer Auffassung kein Kavaliersdelikt, sondern ein stellt bzw. gesichert werden kann. Deshalb begreifen wir Missbrauch unserer Sozialsysteme. Diesen Missbrauch es als unsere vordringliche Aufgabe, Deutschland zu ei- müssen wir mit aller Konsequenz bekämpfen. nem wirklich kinderfreundlichen Land zu machen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Bei allem geht es mit dieser Reform nicht um eine und zwar zu einem Land, in dem Kinder so gut betreut falsch verstandene Öffnung der Arbeitsmärkte durch be- werden, dass sie beim Spielen lernen können und beim denkenlose Beschneidung von Arbeitnehmerrechten. Uns Lernen das Spielen nicht vergessen müssen. geht es um die Eröffnung neuer Möglichkeiten. Die Vor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schläge der Hartz-Kommission und die Beschlüsse der DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: Vier Jahre Bundesregierung, die dort erarbeiteten Ergebnisse unver- habt ihr nichts gemacht!) wässert umzusetzen, demonstrieren auch etwas, das weit über die dringlichen Reformen auf dem Arbeitsmarkt hin- Meine Damen und Herren, wir werden erreichen, dass ausweist: Hier ist gezeigt worden, dass auch in vermach- Frauen wirkliche Wahlfreiheit zwischen Familie und teten, teilweise verkrusteten Strukturen die nötigen Verän- Beruf haben. derungen möglich und politisch machbar sind, jedenfalls (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dann, wenn alle Beteiligten ihre Kraft zur gemeinsamen DIE GRÜNEN) Verantwortung in die Waagschale werfen. Wir werden erreichen, dass das Großziehen von Kindern (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Werden Sie mal eben nicht als Last oder gar als Risiko empfunden wird. konkret!) Wir werden die Bedingungen dafür schaffen, dass Kinder- Aus diesem großen Reformprojekt können wir eine erziehung als selbstverständlicher und glücklicher Ab- zentrale Botschaft herauslesen, die auch die Maxime in schnitt eines erfüllten Lebens erfahren werden kann. den vor uns liegenden Regierungsjahren sein wird und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – das füge ich hinzu – sein muss: Es geht nicht darum, DIE GRÜNEN) immer nur zu fragen, was nicht geht. Es geht vielmehr da- rum, zu fragen, was jede und jeder Einzelne von uns dazu Wir wollen also ein Land sein, das seinen Kindern alle beitragen kann, dass es geht. Möglichkeiten einräumt, in einer sicheren Umwelt mit ge- sunden und bezahlbaren Lebensmitteln aufzuwachsen, (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und das allen eine erstklassige Bildung und Ausbildung (D) DIE GRÜNEN) garantiert. Die Bundesregierung tritt ihr neues Mandat mit dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ festen Willen an, unser Land weiter zu erneuern. Innova- DIE GRÜNEN) tionen, wie wir sie uns vorgenommen haben, brauchen ge- wiss Geduld und gelegentlich einen langen Atem. Auch Allein dafür stellen wir in den nächsten vier Jahren 4 Mil- wenn der Weg der Reformen mitunter beschwerlich ist – liarden Euro für die Einrichtung von 10 000 neuen Ganz- wir werden nicht nachlassen. tagsschulen zur Verfügung. In der Koalitionsvereinbarung sind für viele Bereiche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wichtige Schritte benannt. Gelegentlich sind es erst be- DIE GRÜNEN) scheidene Schritte. Ich meine aber, in allen Punkten ist Damit wollen wir mithelfen, dass Deutschland in zehn festzustellen, dass die Richtung stimmt. Jahren wieder zu den führenden Bildungsnationen zählt. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode die Genauso wenig, wie der Zugang zu erstklassigen Bil- Voraussetzungen für eine Politik der Gerechtigkeit, der dungsangeboten vom Geldbeutel der Eltern abhängen Erneuerung und der Nachhaltigkeit geschaffen. In den darf, dürfen Bildungschancen vom Wohnort bestimmt nächsten vier Jahren werden wir diese Politik weiterhin sein. konsequent in die Wirklichkeit des Alltags umsetzen. Denn das ist der Maßstab unserer Politik: Sie hat sich im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Alltag der Menschen zu bewähren. DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Hannover! Glogowski!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir werden daher gemeinsam mit den Ländern einen Kern DIE GRÜNEN) von nationalen Bildungs- und Leistungsstandards erarbei- Vieles von dem, was wir bereits begonnen haben oder ten. Den Schulen schließlich müssen wir mehr Autonomie womit wir jetzt beginnen, weist über die nächsten vier gewähren und sie zu mehr Wettbewerb und Eigenverant- Jahre hinaus. Manches bei den Veränderungen an den So- wortlichkeit herausfordern. zialsystemen, an der Finanzstruktur und bei der Entfal- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tung neuer Wirtschaftskraft wird erst nach einiger Zeit DIE GRÜNEN) vollends zur Wirkung kommen. Unsere große Chance ist es, die Gestaltung des gesamten Jahrzehnts in Angriff zu Für Kinder bis zum Alter von drei Jahren werden wir nehmen und damit die Frage zu beantworten, wie im Zeit- eine gesetzliche Betreuungsquote von 20 Prozent errei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 55

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) chen. Dies finanzieren wir über die Entlastung der Kom- niveau. Lebensqualität umfasst die ganze Vielfalt des Le- (C) munen durch die Reformen am Arbeitsmarkt. bens der Menschen in unserem Land, hat also sehr viel mit Freiheit zu tun, und zwar Freiheit von Angst und Not. Das (Widerspruch bei der CDU/CSU) heißt aber auch Freiheit zur Verwirklichung ganz persönli- Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Gerechtigkeit und cher Lebensentwürfe. Dies ist deswegen so, weil wir Frei- Zukunftsinvestitionen erreicht werden können, wenn un- heit eben nicht auf Gewerbefreiheit reduzieren. sere Politik ganzheitlich auf diese Ziele ausgerichtet wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Freiheit heißt für uns, dass jede und jeder Einzelne die Wir werden unsere rechtsstaatliche Demokratie stär- Chance auf ein selbstbestimmtes und eigenverantwortli- ken und weiter ausbauen. Die demokratische Teilhabe ches Leben hat. werden wir entwickeln und fördern. Deshalb halten wir an Wir wollen ein Land sein, das seine Spitzenstellung im unserem Ziel fest, Volksinitiative, Volksbegehren und Umwelt- und Klimaschutz sowie in Forschung und Tech- Volksentscheid auf Bundesebene einzuführen. nologie behauptet und weiter ausbaut. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des DIE GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir setzen auf eine umfassende Politik der Integration Wir schaffen auf diese Weise einen neuen Zusammenhalt, gegen jede Ausgrenzung sozialer, ethnischer, religiöser der auf Freiheit, auf Selbstbestimmung und auf Nachbar- oder kultureller Gruppen und Minderheiten. schaft gründet. Wir wollen einen neuen Gemeinsinn und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einen Staat, der öffentliche Güter wie Gesundheit, Sicher- DIE GRÜNEN) heit und Mobilität bereitstellt, ohne in das private Leben der Menschen hineinzuregieren. Deshalb brauchen wir Dabei verstehen wir unter Integration weder die zwang- nicht einfach weniger oder mehr Staat, sondern vor allem hafte Angleichung noch die Akzeptanz von Parallelge- einen effizienten, an den Interessen und Bedürfnissen der sellschaften. Integration heißt für uns vollkommene Teil- Bürgerinnen und Bürger orientierten Staat, der in der habe an den Chancen, aber natürlich auch an den Pflichten Wirtschafts- und in der Gesellschaftspolitik wichtige und unseres Gemeinwesens. Eine gesteuerte Zuwanderung vor allem richtige Impulse gibt. wird die Zukunftschancen aller Menschen in Deutschland erhöhen und denjenigen, die zu uns kommen, weil sie zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten uns kommen dürfen, eine sichere Lebensperspektive bie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) ten. Dazu gehört das Angebot, aber auch die Verpflichtung Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, aber zur Integration. auch der Unternehmen in die Zukunft unseres Landes zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stärken sowie die Binnennachfrage und die Investitionen DIE GRÜNEN) anzukurbeln, brauchen wir eine Wirtschafts- und eine Ar- beitsmarktpolitik aus einem Guss. Diese Politik steht auf Von entscheidender Bedeutung ist dabei auch die nach- fünf Säulen: strategische Investitionen in Bildung, For- holende Integration der Ausländerinnen und Ausländer, schung und Infrastruktur für die Familien und zur besse- die bei uns leben. Zugleich werden wir die Ausreisepflicht ren Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie für die für die Nichtbleibeberechtigten konsequent durchsetzen. ökologische Erneuerung unseres Landes, Fortsetzung der (Michael Glos [CDU/CSU]: Das wäre etwas Haushaltskonsolidierung und Einsparungen bei den kon- Neues!) sumtiven Staatsausgaben und den Subventionen, nachhal- tige Entlastung der Menschen von Steuern und Abgaben, Wir werden mit einer umfassenden Integrationspolitik nicht zuletzt die Versäumnisse früherer Jahrzehnte korri- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) gieren. Strukturreformen am Arbeitsmarkt, bei Rente und Ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sundheit, um die sozialen Sicherungssysteme zukunfts- DIE GRÜNEN) fähig zu machen und, wo immer es geht, die Lohn- nebenkosten zu senken, Unser Ziel ist, ein Land zu schaffen, in dem der Mensch wirklich im Mittelpunkt aller gesellschaftlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und politischen Entscheidungen steht. Das ist auch ein DIE GRÜNEN – Beifall bei der FDP) Grund dafür, dass wir den Verbraucherschutz über die und Abbau unnötiger Bürokratie. Lebensmittelsicherheit hinaus stärken und eine moderne Familienpolitik fortsetzen, damit die Menschen leben Deutschland ist ein Land mit einem großartigen wirt- können, wie sie leben wollen, anstatt sich vorschreiben zu schaftlichen Potenzial und enormen eigenen Wachstums- kräften. Unsere Position auf den Weltmärkten im Export, lassen, wie sie leben sollen. das Qualifikationsniveau unserer Arbeitnehmerinnen und Vergessen wir aber auch nicht: Mehr Wachstum und Arbeitnehmer, die Vielzahl der bei uns entwickelten Ver- mehr Produktion bedeuten nicht automatisch mehr Frei- fahren und Patente und die gute Infrastruktur sind Stärken, heit für den Einzelnen. Für uns ist Lebensqualität mehr die wir weiterentwickeln müssen und werden, um auch in als Lebensstandard, mehr als Konsum oder Einkommens- Zeiten ungünstiger Weltkonjunktur bestehen zu können. 56 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Wir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeit und fähig zu guter Nachbarschaft und zu friedlicher Zusam- (C) einen neuen Aufschwung bei den Existenz- und Unter- menarbeit nach außen, aber eben auch zu den notwendi- nehmensgründungen. gen Veränderungsmaßnahmen nach innen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die demographische Entwicklung unserer Bevölke- rung etwa kann nicht ohne Auswirkung auf die Struktur Dazu bündeln wir die Mittelstandsförderung. Wer sich unserer Systeme der sozialen Sicherung bleiben. Medi- aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig machen will zinischer Fortschritt und gestiegene Lebensqualität haben und kann, den werden wir dabei unterstützen. unsere Gesellschaft erfreulich verändert, die Lebenser- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wartungen der Menschen verlängert und immer mehr BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Krankheiten therapierbar gemacht. Doch wenn ein immer kleinerer Teil der Gesellschaft die Beiträge für die Kassen In den ostdeutschen Bundesländern werden wir in den aufbringen muss, deren Leistungen im Gesundheitswe- Inno-Regio-Prozess durch weiterentwickelte Fördermaß- sen und bei der Altersversorgung von einem immer nahmen zur Gründung neuer Unternehmen eingreifen und größeren Teil in Anspruch genommen werden, dann be- ihn ergänzen. Wir werden die Entwicklung eines neuen droht das auf Dauer die Funktionsfähigkeit der Solidarge- Mittelstandes im Dienstleistungssektor fördern und die meinschaft. Existenzbedingungen kleiner Dienstleistungsbetriebe systematisch verbessern. (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das wahr?) Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir Die Bundesregierung setzt alles daran, das hohe Ni- Aufbau Ost und Ausbau West gleichermaßen voranbrin- veau der medizinischen Versorgung, das es in unserem gen. Wir werden die Planung von Bauvorhaben verein- Land Gott sei Dank gibt, zu sichern und – das ist das Ent- fachen und auf diese Weise Investitionen beschleunigen. scheidende – für jede und für jeden zugänglich zu halten. Auf der Grundlage des Solidarpakts II, der bis ins Jahr 2019 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Planungssicherheit gewährt, werden wir die Wirtschafts- DIE GRÜNEN) entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern vorantrei- ben. Ostdeutschland muss besser in die überregionale und Wir werden dieses leistungsfähige Gesundheitswesen internationale Arbeitsteilung eingebunden werden. dann und nur dann auch für das Wohlergehen aller Men- schen nutzen können, wenn wir die Strukturen verändern, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Systeme öffnen und in hohem Maße vorhandene Effi- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zienzreserven auch wirklich nutzen. Besonderes Augenmerk legen wir dabei auch auf die För- Wir wollen keine Zweiklassenmedizin und mit uns (B) derung von Direktinvestitionen in den ostdeutschen Län- (D) wird es sie nicht geben. dern und Regionen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Lammert [CDU/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz (CDU/CSU): CSU]: Das ist doch nicht zu fassen!) Donnerwetter!) Was wir aber brauchen und was wir schaffen werden, sind Es bedarf nicht erst jener grausamen terroristischen mehr Verantwortung und mehr Wettbewerb im System, Bedrohung, deren Aktualität uns auch in diesen Tagen eine Stärkung der Prävention und mehr Zusammenarbeit ständig vor Augen geführt wird, um zu erkennen: Sicher- zwischen Kassen, Patienten, Ärzten, Krankenhäusern und heit ist in unserer einen Welt längst nicht mehr mit natio- Gesundheitszentren. nalen Maßnahmen allein, sondern nur durch internatio- nale Zusammenarbeit zu gewährleisten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Rolle der Patienten werden wir durch mehr Rechte des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und verbesserte Schutzvorkehrungen stärken. Wir wollen mündige Patienten, die aktiv an der Vorsorge und der Aber auch im nationalen Maßstab, in unserer eigenen Ge- Pflege ihrer Gesundheit teilnehmen. sellschaft, ist Sicherheit eben nicht allein Sache von Poli- zei, Justiz oder Militär. Die Bundesregierung hat schon In der Rentenpolitik haben wir mit der zusätzlichen ka- frühzeitig national und international einen erweiterten Si- pitalgedeckten Altersvorsorge begonnen, das Siche- cherheitsbegriff definiert und dafür geworben. Dazu ge- rungssystem wirklich zukunftstauglich zu machen. Den hört die Sicherheit von Leib und Leben vor Krieg und Kri- Weg zu mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbewerb, minalität, keine Frage, aber eben auch die materielle, den wir mit der Errichtung der zweiten Säule in der Al- soziale und kulturelle Sicherheit, eben zur Vergewisse- tersvorsorge eingeschlagen haben, werden wir fortsetzen, rung der eigenen Identität, und nicht zuletzt die Sicherheit um so auf Dauer die Renten sicherer zu machen und die des Rechts und die Absicherung gegen Krankheit und an- Beiträge bezahlbar zu halten. dere Lebensrisiken. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Sowohl die Gesundheits- als auch die Altersversor- Wir sind davon überzeugt: Erst eine Gesellschaft, die in gung werden wir nach dem Muster reformieren, mit dem dieser Weise umfassend Sicherheit bereitstellen kann, ist wir in der Hartz-Kommission Blockaden beseitigt und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. 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Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) neue Wege eröffnet haben. Im Gesundheitswesen erwar- in der Welt langfristig gewandelt und der 11. Septem- (C) ten wir von allen Beteiligten die unbedingte Orientierung ber 2001 hat die Sicherheit in der Welt insgesamt drama- an den gemeinsamen Zielen: der Bereitstellung des medi- tisch verändert. Mir liegt daran, dass Folgendes immer zinisch Notwendigen, dem effizienten Einsatz der Mittel wieder deutlich wird: Deutschland ist heute mit fast und der Entlastung bei den Arbeitskosten. Dabei folgen 10 000 Soldatinnen und Soldaten nach den Vereinigten wir dem Grundsatz: „Soziale Sicherheit durch Solidarität Staaten von Amerika der größte Truppensteller, was in- und Verantwortung“ heißt auch in diesen Bereichen: för- ternationale Einsätze angeht. Der Kampf gegen den inter- dern, aber die Betroffenen auch fordern. nationalen Terrorismus, der – was wir gerade in diesen Ta- gen wieder spüren – längst nicht gewonnen ist, wird uns Neben der sozialen Sicherheit ist die innere Sicherheit auch weiterhin ebenso substanzielles Engagement abfor- ein wesentliches Fundament unserer Gesellschaft und dern wie unsere langfristig eingegangenen Sicherheits- eine wesentliche Bedingung unserer Freiheit. Wir haben und Aufbauverpflichtungen, etwa auf dem Balkan, aber deshalb stets betont, dass es keinen Widerspruch zwi- auch in Afghanistan. schen Sicherheit auf der einen Seite und Bürgerrechten auf der anderen Seite geben kann und geben darf. Gleichzeitig befindet sich die Bundeswehr im größten Reformprozess ihrer Geschichte, der sie für ihre komple- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) xen Aufgaben von heute und morgen tauglicher als in der Wir verstehen Sicherheit als ein elementares Bürgerrecht. Vergangenheit machen soll. Die Bundesregierung – mir liegt daran, das hier deutlich zu machen – dankt den Sol- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ datinnen und Soldaten ausdrücklich für ihr großes profes- DIE GRÜNEN) sionelles Engagement unter diesen enormen Belastungen. So verstandene Sicherheit ist nur durch das Zusam- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ menspiel dreier Schlüsselelemente zu gewährleisten: ei- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ner effizienten, gut ausgerüsteten und bürgernahen Poli- CDU/CSU und der FDP) zei, entwickeltem Bürgersinn und aktiver Zivilcourage sowie einer unabhängigen Justiz in einem starken Rechts- Völlig zu Recht genießen unsere Soldatinnen und Solda- staat. Diesem Konzept bleibt die Bundesregierung ver- ten das große Vertrauen der Menschen, für die sie, ob in pflichtet. Kabul, in Bosnien-Herzegowina oder in Mazedonien, im Kosovo oder in Georgien, immer auch Hoffnung auf Frie- Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen werden den und auf Sicherheit verkörpern. Welch glückhafter wir auf der Basis der europäischen Beschlüsse die Zu- Wandel in der deutschen Geschichte! sammenarbeit weiter verbessern. Im Strafprozess stärken wir die Rechte der Verbrechensopfer. Die Strafvorschrif- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) (D) ten gegen sexuellen Missbrauch, insbesondere von Kin- DIE GRÜNEN) dern, werden wir fortentwickeln. Die Fortsetzung der Reform unserer Streitkräfte setzt Parallel dazu setzen wir die Reformen in der Gesell- voraus, dass wir das Gesamtspektrum der Aufgaben der schaftspolitik fort. Die Gleichstellung und die gleiche Bundeswehr unter heutigen sicherheitspolitischen Bedin- Berücksichtigung von Frauen und Männern setzen wir für gungen analysieren und bereit sind, die daraus notwen- den Bereich der Bundesregierung als durchgängiges Leit- digen Konsequenzen zu ziehen. Dies erfordert auch eine prinzip durch. umfassende Prüfung dessen, was wir unter diesen neuen Bedingungen an materieller Ausrüstung und an Personal (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirklich benötigen. Bis Ende der Legislaturperiode wer- DIE GRÜNEN) den wir überprüfen, ob über das beschlossene und ins Auf die völlig neue Bedrohungssituation nach den Ter- Werk Gesetzte hinaus weitere Strukturanpassungen oder roranschlägen vom 11. September 2001 haben wir umfas- gar eine Änderung der Wehrverfassung nötig sind. send und schnell reagiert. Bis Mitte der Legislaturperiode (Beifall der Abg. [Augsburg] werden wir die Antiterrorgesetzgebung den Erforder- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nissen weiter anpassen. Moderne Methoden zur Iden- titätsfeststellung und zur Aufklärung von Straftaten wer- Auch wenn wir infolge unserer wiedererlangten staat- den wir weiterentwickeln und selbstverständlich nutzen. lichen Einheit und der damit erlangten vollen Souveränität wiederholt unsere nunmehr selbstverständliche Bereit- Der erweiterte Sicherheitsbegriff ist auch Leitmotiv schaft unter Beweis gestellt haben und stellen, ge- der Bundesregierung in der Außen-, in der Sicherheits- gebenenfalls unseren militärischen Beitrag für Frieden und und in der Entwicklungspolitik. Wir setzen die Politik der Sicherheit zu leisten, ist sich die Bundesregierung jedoch guten Nachbarschaft fort und kommen unserer Verant- bewusst: Sicherheit ist heute weniger denn je mit militäri- wortung nach, die sich aus Deutschlands politischer und schen Mitteln, geschweige denn mit militärischen Mitteln geographischer Lage im Herzen Europas, aus der Part- allein herzustellen. nerschaft im Altantischen Bündnis und aus der Wertege- meinschaft für Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gerechtigkeit ergibt. DIE GRÜNEN) Die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderun- Wer Sicherheit schaffen und aufrechterhalten will, der gen lassen sich an zwei Daten anschaulich festmachen: muss – das ist klar – einerseits Gewalt entschieden be- Durch den 9. November 1989 hat sich Deutschlands Rolle kämpfen, andererseits aber auch das Umfeld befrieden, in 58 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) dem Gewalt entsteht, und zwar durch präventive Kon- Die Finanzierungsbasis für die Entwicklung haben wir (C) fliktregelung, durch Schaffung sozialer und ökologischer festgeschrieben; wir werden bis zum Jahr 2006 das Ziel Sicherheit, durch ökonomische Zusammenarbeit und einer Quote von 0,33 Prozent für die Entwicklungsarbeit durch das Eintreten für Menschen- und auch für Minder- umsetzen. heitenrechte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Deutschlands Platz bei der Durchsetzung universeller Einer solchen präventiven und umfassend ansetzenden Werte unter Wahrnehmung unserer internationalen Ver- Außen- und Sicherheitsrepublik bleibt die Bundesregie- antwortung bleibt durch die feste Verankerung in unseren rung verpflichtet. Bündnissen, unsere Rolle in der Europäischen Union und unsere Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Ame- Wir haben nicht erst durch die Attentate von New York, rika bestimmt. Washington, Djerba, Bali und zuletzt Moskau schmerz- lich erfahren müssen, dass die Modernisierungs- und Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ flechtungsprozesse unserer heutigen Welt weder zwangs- DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: läufig friedlich verlaufen noch automatisch zu mehr Schöne Freundschaft!) Freiheit und Demokratie führen. Umso größer ist unsere Unsere transatlantischen Beziehungen, die auf der So- Verpflichtung, den Prozess der Globalisierung nicht nur lidarität freiheitlicher Demokratien und auf unserer tief anzunehmen, sondern ihn auch aktiv politisch zu gestalten. empfundenen Dankbarkeit für das Engagement der Verei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nigten Staaten beim Sieg über die Nazibarbarei und bei DIE GRÜNEN) der Wiederherstellung von Freiheit und Demokratie beru- hen, sind von strategischer Bedeutung und von prinzipi- Sicherheit setzt gerade bei beschleunigten, aber un- ellem Rang. gleichzeitigen Entwicklungen voraus, dass wir uns ständig (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ um Interessenausgleich und auch um eine gerechtere Ver- DIE GRÜNEN) teilung der Globalisierungsgewinne bemühen. Wir wer- den unter den Bedingungen einer enger zusammengerück- Diese Beziehungen finden ihren Ausdruck in einer Viel- ten Welt keine Sicherheit erreichen, wenn wir Unrecht, zahl von politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und zi- Unterdrückung und Unterentwicklung weiter gären lassen. vilgesellschaftlichen Kontakten und Freundschaften. Dies schließt aber unterschiedliche Bewertungen in öko- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nomischen und politischen Fragen nicht aus. DIE GRÜNEN) (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D) Gegen die neue Gefahr einer privatisierten Gewalt von Kriegsherren, Kriminellen und Terroristen setzen wir in- Wo es sie gibt, werden sie sachlich und im Geiste freund- ternationale Allianzen gegen Terrorismus und gegen Un- schaftlicher Zusammenarbeit ausgetragen. freiheit. Wir wollen die Stärkung von Gewaltmonopolen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ durch starke, legitimierte internationale Organisationen, DIE GRÜNEN) allen voran die Vereinten Nationen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat im- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mer deutlich gemacht, dass Deutschland die Prioritäten bei DIE GRÜNEN) der Bekämpfung des internationalen Terrorismus im fortge- Dies werden wir auch durch unsere Mitarbeit im Weltsi- setzten Engagement bei Enduring Freedom und in der Fort- cherheitsrat und den Vorsitz, den Deutschland dort tur- setzung und Stärkung internationaler Koalitionen gegen den nusgemäß übernehmen wird, bekräftigen. Terror sieht. Wir wissen, dass gerade der Nahe und Mitt- lere Osten dringend Hoffnung auf greifbare Fortschritte in Die Bundesregierung tritt in ihrer internationalen Ver- Richtung eines dauerhaften und gerechten Friedens brau- antwortung dafür ein, dass mit der Globalisierung der chen. In diesem Sinne hat sich die Bundesregierung inten- Märkte eine Globalisierung der Menschenrechte und der siv für ein Ende der tödlichen Spirale von Terror und Gewalt sozialen Sicherheit einhergeht. in Israel und in Palästina eingesetzt. Mit unseren europä- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ischen und amerikanischen Partnern sind wir uns einig, dass DIE GRÜNEN) Frieden im Nahen Osten nur durch ein Ende der Gewalt und die Ermöglichung eines Zusammenlebens von Israelis und In diesem Sinne haben wir uns zuletzt auf dem Welt- Palästinensern in zwei eigenständigen, anerkannten Staaten nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg mit sicheren Grenzen erreicht werden kann. (Michael Glos [CDU/CSU]: Außer Spesen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nichts gewesen!) DIE GRÜNEN) für konsequente Armutsbekämpfung, Öffnung der Welt- Eine solche Lösung muss auf dem Verhandlungsweg ge- märkte sowie eine weltweite Anstrengung für Klima- funden werden. schutz und ökologische Energienutzung engagiert. Um die Gefahr, die von Massenvernichtungswaffen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ausgeht, zu mindern, haben wir unsere technischen, per- DIE GRÜNEN) sonellen und sachlichen Mittel angeboten und werden die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 59

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Mission der VN-Waffeninspektoren im Irak mit allen Wir haben gewusst, dass wir diese historische Chance nur (C) Kräften, die wir haben, unterstützen. nutzen können, wenn sich die Mitgliedstaaten im Europa der Fünfzehn vor dem Ende der Beitrittsverhandlungen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) also noch in diesem Jahr, auf ein belastbares finanzielles Konzept vor allem bei der Agrarfinanzierung einigen. Mit Die Region und die gesamte Welt brauchen genaue dem Brüsseler Kompromiss, vor allem auch durch die Zu- Kenntnis über die Waffenpotenziale des Regimes im Irak. sammenarbeit mit unseren französischen Freunden, ist ein Wir brauchen die Gewissheit, dass die dortigen Massen- Ergebnis erzielt worden, das den Erfordernissen der Be- vernichtungswaffen vollständig abgerüstet werden. grenzung der Agrarkosten in der erweiterten Europä- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ischen Union Rechnung trägt, DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Über den Weg zu diesem Ziel hat die Bundesregierung das die historische Tragweite der Entscheidung, um die es frühzeitig ihre Auffassung und auch ihre Besorgnisse zum geht, aber nie aus den Augen gelassen hat. Zusammen mit Ausdruck gebracht. unseren Partnern sind wir der gemeinsamen Verantwor- Die zwischenzeitliche Entwicklung und die internatio- tung vor der europäischen Geschichte gerecht geworden nale Diskussion vor allen Dingen im Weltsicherheitsrat und haben die Grundlagen dafür gelegt, dass nun auch in zeigen, dass die Chance besteht, eine militärische Kon- Europa zusammenwachsen kann, was zusammengehört. frontation am Golf doch noch zu vermeiden. Ich bekräftige (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in diesem Zusammenhang unsere Haltung, dass wir auf DIE GRÜNEN) unbeschränktem Zugang der Waffeninspektoren zu den Arsenalen Saddam Husseins beharren. Angesichts der be- Wir werden nunmehr beim europäischen Gipfel im De- drohlichen Lage im Nahen Osten und der Notwendigkeit, zember in Kopenhagen die Beitrittsverhandlungen mit den Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf zehn mittel- und osteuropäischen Ländern abschließen. möglichst breiter Grundlage zu führen und ihn dann zu ge- Dabei wissen wir: Gerade uns Deutschen bieten sich mit winnen, setzt die Bundesregierung auf die Ausschöpfung der Vertiefung und der Erweiterung der Europäischen aller Möglichkeiten von internationalen Inspektionen. Union großartige politische wie ökonomische Möglich- Gegenüber dem Irak und anderen Gefahrenherden keiten. müssen eine konsequente Politik der Abrüstung und in- Wir wissen: Die Geschichte der Einigung Europas ist ternationale Kontrollen vorrangiges Ziel bleiben. Das ist eine Erfolgsgeschichte. Der Prozess der wirtschaftlichen einer der Gründe, warum wir immer gesagt haben – das Integration mit der Herstellung des größten Binnenmarkts (B) gilt nach wie vor –, dass wir uns an einer militärischen In- der Welt und der Einführung einer gemeinsamen (D) tervention im Irak nicht beteiligen werden. Währung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, Nationalis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men in Europa klein zu halten oder sie zu überwinden. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, unsere Politik für Frieden, DIE GRÜNEN) Menschenrechte und Sicherheit ist und bleibt eine Politik Aber, meine Damen und Herren, unser Europa zeichnet in Europa, für Europa und als Folge dessen auch von Eu- sich durch mehr aus als durch wirtschaftliche Stärke, Leis- ropa aus. Wir setzen die Politik der freundschaftlichen tungsfähigkeit, Erfindergeist und Arbeitsfleiß. Europa, das Partnerschaft mit Russland in gemeinsamer Verantwor- ja nie geographisch, sondern immer politisch definiert tung fort. Wir unterstreichen unsere Solidarität mit der russischen Bevölkerung angesichts brutaler Terroran- war, steht nach unserer Auffassung für eine ganz spezifi- schläge wie zuletzt in Moskau. Gleichzeitig setzen wir auf sche Kultur und auch Lebensform. In Europa, unserem eine politische Lösung der Konflikte in Tschetschenien Europa, hat sich ein eigenes, auch einzigartiges Zivilisa- und in der gesamten Kaukasusregion. tions- und Gesellschaftsmodell durchgesetzt, das auf dem Gedanken der europäischen Aufklärung fußt und auf Teil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ habe aller Menschen als Triebkraft für seine Entwicklung DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: setzt. Dieses Europa, das so mühevoll aus seiner blutigen Merkwürdig schwach!) Vergangenheit zur freiheitlichen und friedlichen Gegen- Dies ist auch zentrale Forderung der gemeinsamen euro- wart und Zukunft gefunden hat, ist eine echte Werte- päischen Außen- und Sicherheitspolitik, die zu stärken gemeinschaft geworden. und auszubauen unser Ziel ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ende der vergangenen Woche ist es dem Europäischen DIE GRÜNEN) Rat in Brüssel gelungen, eine tragfähige Grundlage für die Das europäische Modell der Verbindung aus Eigeninitia- Erweiterung der Europäischen Union zu schaffen. Da- tive und Gemeinsinn, aus Individualität und Solidarität, mit kann das zentrale europäische Projekt am Anfang die- hat sich bewährt. Wir, die Deutschen, haben unseren Bei- ses Jahrhunderts, nämlich die endgültige Überwindung trag dazu geleistet. Es ist ein Modell, das sich auch in Zei- der schmerzlichen Teilung Europas, erfolgreich abge- ten der Globalisierung durchsetzen kann und ohne dass wir schlossen werden. es exportieren können oder wollen, auch vielen anderen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Entwicklungschancen bietet. Die Europäische Union ist DIE GRÜNEN) die Antwort der Völker auf Krieg und Zerstörung. Sie ist 60 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) unsere Antwort auf die Globalisierung und auch auf die Es ist gewiss richtig, dass der Staat nicht die Bereiche or- (C) Herausforderung durch Instabilität und durch Terrorismus. ganisieren soll, in denen es die Gesellschaft besser kann. Deshalb brauchen wir weniger Bürokratie und weniger (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Obrigkeitsdenken, aber nicht unbedingt weniger Staat. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ebenso klar ist: Der allgegenwärtige Wohlfahrtsstaat, Allerdings hat sich in der vergangenen Zeit das eigent- der den Menschen die Entscheidungen abnimmt und sie liche Problem in der Konstruktion der Europäischen durch immer mehr Bevormundung zu ihrem Glück zwin- Union zunehmend bemerkbar gemacht. Ich meine vor al- gen will, ist nicht nur unbezahlbar, er ist am Ende auch lem die Zuordnung der Verantwortlichkeiten. Wir müssen ineffizient und inhuman. dafür Sorge tragen – das ist in dieser Legislaturperiode möglich –, dass die Europäische Union auch mit 25 oder (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gar mehr Mitgliedstaaten politisch führbar bleibt. Unser Deshalb fördern wir die Eigenverantwortung und die Ziel ist eine starke und handlungsfähige, eine verständlich Kräfte zur Selbstorganisation unserer Gesellschaft. Vor organisierte und demokratisch legitimierte Europäische allem die vielen Tausend ehrenamtlich und freiwillig Täti- Union, die sich durch Transparenz und Bürgernähe aus- gen in kulturellen und sozialen Projekten sowie in Pro- zeichnet. jekten des Sports brauchen größere Gestaltungsräume. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wir fördern diese Verantwortung für das Gemeinwohl BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht nur, wir fordern sie auch. Dieses Ziel wollen wir bis zur Regierungskonferenz im (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Jahr 2004 erreichen. Mit der in Nizza beschlossenen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Grundrechte-Charta liegt bereits ein wichtiges Element Der Reichtum und die Kreativität unseres Landes wer- für eine künftige europäische Verfassung vor. Was wir da- den wesentlich bestimmt durch großartige kulturelle rüber hinaus zur Komplettierung der europäischen Ver- Leistungen und Angebote. Die Bundesregierung hat be- fassung benötigen, wird im Konvent unter Vorsitz von reits in der vergangenen Legislaturperiode begonnen, den Giscard d’ Estaing beraten. Dialog mit Künstlern, Intellektuellen und Kulturschaffen- Die Bundesregierung unterstützt die Arbeit des Kon- den wieder aufzunehmen. Das Amt des Beauftragten für vents mit allen Kräften. Wir werden daran mitwirken, ei- Kultur und Medien hat sich als segensreich erwiesen, und nen Verfassungsentwurf zu präsentieren. Er muss bein- zwar nicht nur für die Kultur, sondern auch für unser halten: eine eindeutigere Abgrenzung der Kompetenzen ganzes Land und unsere Gesellschaft. zwischen den Mitgliedstaaten auf der einen Seite und der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Europäischen Union auf der anderen Seite; die Schaffung DIE GRÜNEN) (D) einer starken und zugleich auch politisch verantwort- lichen Kommission, deren Präsident vom Europäischen Mir liegt daran, dass deutlich wird: Für die Bundes- Parlament zu wählen ist; ein in seinen Rechten deutlich regierung ist Kultur nicht einfach eine angenehme Ne- gestärktes Europäisches Parlament, die Reform des Rates, bensache im Leben der Menschen. Wir wissen vielmehr, der grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit entscheiden dass Sicherheit, Identität und die Fähigkeit zur friedlichen soll, sowie eine verbesserte Zusammenarbeit der Ge- Nachbarschaft in erheblichem Maße kulturelle Errungen- meinschaft in Fragen der inneren und der äußeren Sicher- schaften sind. Wir wissen, dass Kunst und Kultur wesent- heit. Die bevorstehenden historischen Weichenstellungen liche Bausteine für eine Gesellschaft der Partnerschaft wie auch die Arbeiten an der europäischen Verfassung und auch für eine Gesellschaft der Gerechtigkeit sind. werden wir in enger Abstimmung mit unseren französi- An diesem Ziel richten wir unsere Kulturpolitik aus – im schen Freunden betreiben. Innern, aber auch im Rahmen der auswärtigen Bezie- hungen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben in Brüssel gesehen, dass wir ohne ein ge- Die Aufgabe ist klar: Um die Erneuerung Deutschlands meinsames deutsch-französisches Vorgehen – auch wenn voranzutreiben und die wirtschaftlichen Probleme zu gelegentlich schmerzhafte Kompromisse gemacht werden meistern, um neue Chancen zu eröffnen und neue Ge- müssen – ein Europa der Bürger, dessen Nutzen aus Vertie- rechtigkeit zu organisieren, brauchen wir das Mitwirken fung und Erweiterung allen Europäern zugute kommen aller auf allen Ebenen. Wir brauchen eine neue Selbstver- soll, nicht werden schaffen können. antwortung und auch eine neue unternehmerische Verant- wortung. Wir stehen vor großen Reformen auf den Ar- Wir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeit beitsmärkten sowie bei Bildung und Ausbildung und und der geteilten Verantwortung. Deshalb fördern wir die auch – wir wissen, dass dies manchen schmerzen wird – weitere Stärkung der freiheitlichen und sozialen Bürger- in unserem Sozialsystem. gesellschaft. Ich will allerdings deutlich machen: Wir wollen die Zivilgesellschaft nicht deshalb stärken, damit Dabei setzen wir auf die vielen Tausend Frauen und sich der Staat aus seinen originären Aufgaben zurückzie- Männer, die in diesen Bereichen engagiert tätig sind. Sie sind die eigentlichen Vorantreiber des Wandels. Wir wer- hen kann. den, wo immer es geht, den Konsens mit den volkswirt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaftlichen Akteuren, den Bürgern und den gesellschaft- DIE GRÜNEN) lichen Gruppen suchen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 61

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Aber genauso klar muss sein: Wir lassen am Primat den, aufgelistet haben, kam mir ein Satz aus dem Johan- (C) der Politik nicht rütteln. nesevangelium in den Sinn: „Mein Reich ist nicht von die- ser Welt.“ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bei aller Bereitschaft zum Dialog – dies wird ja gele- Ich füge hinzu: Ihre Wahrnehmung der Realität, Herr gentlich als Vorwurf konstruiert – und aller Bereitschaft Bundeskanzler, und Ihre Regierungserklärung sind auch zum Konsens muss am Ende die Politik, das heißt die nicht von dieser Welt. Bundesregierung und ihre parlamentarische Mehrheit, die notwendigen Entscheidungen treffen – und sie wird es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tun. Eigentlich war man mehr als eine Stunde lang versucht, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Satz herauszubrüllen: Die Wahrheit ist konkret, Ge- DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: In nosse! – Das haben wir vermisst, Herr Bundeskanzler. vielen Kommissionen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Frage, ob unser Land politisch geführt oder mäch- neten der FDP) tigen Interessengruppen überlassen wird, ist entscheidend Sie haben manches Problem durchaus richtig beschrie- für unsere Zukunft. ben. Aber man konnte bei mancher Problembeschreibung (Michael Glos [CDU/CSU]: Zitter, zitter! – Ihnen und denjenigen, die Ihnen zugehört haben, förmlich [CDU/CSU]: Was hat der ansehen, dass sie sich dabei ziemlich schlecht fühlen. DGB gesagt?) Denn Lyrik ist nötig. Ich frage Sie: Wen wollen Sie dies- mal zum Schuldigen stempeln? Eine Gesellschaft, deren Regierung nicht für die Nutzung aller Chancen und für den gleichen Zugang zu den Chan- Die Probleme von heute können Sie eben nicht mehr cen sorgt, wird unter den Fliehkräften der Globalisierung der imaginären Erblast von 16 Jahren in die von innen in Schwierigkeiten kommen, wenn nicht gar Schuhe schieben. zusammenbrechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Für Zusammenhalt und Wohlergehen der Gesellschaft [SPD]: Wir haben immer noch in Zeiten äußerer Risiken, in Zeiten äußerer Unsicherhei- 40 Milliarden Euro für Zinsen!) ten und in Zeiten tief greifender innerer Veränderungen zu Sie spüren es und Sie haben es die ganze Zeit gespürt. sorgen, das verstehen wir als die zentrale Aufgabe dieser Das, Herr Bundeskanzler, lastet auf Ihrer Rede. Sie wis- (B) Regierung in den nächsten vier Jahren. Das Ziel unseres sen, es gibt eine Erblast und Sie tragen schwer daran, aber (D) Weges ist klar: ein Leben reicher an Chancen, reicher an es ist Ihre eigene Erblast, die rot-grüne Erblast, die Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsformen, reicher an Deutschland bremst und Wachstum unmöglich macht. Dienstleistungen und Märkten, reicher an Zukunftshoff- nungen sowie an Kultur und Sicherheit, aber durchaus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – auch reicher an Einkommen und Vermögen für alle. Ludwig Stiegler [SPD]: Das haben die Deut- schen aber anders gesehen!) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Staatskassen wollen sich partout nicht füllen, die Gemeinsam werden wir dieses Ziel erreichen und ge- Löcher werden täglich größer. Die Rentenversicherung meinsam werden wir damit für uns und unsere Kinder verlangt mehr Beiträge und gibt weniger Sicherheit, das eine lebenswerte Zukunft schaffen. Gesundheitssystem schluckt das Geld wie ein Pillensüch- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. tiger die Pillen. Daran werden auch die Ankündigungen eines Vorschalt- oder Nachschaltgesetzes nichts ändern, (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem das wird so bleiben. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Bundeskanzler, das Schlimmste ist: Die Arbeits- losigkeit sinkt nicht, sondern wird weiter steigen. Dabei Präsident Wolfgang Thierse: geht es nicht um irgendeine Zahl, um 4 Millionen oder Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel, CDU/ 4,5 Millionen in diesem Winter; nein, hier geht es um CSU-Fraktion. Menschen, um Familien, um das Selbstwertgefühl dieser Menschen, um Hoffnungen, um Verletzungen, um Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) täuschungen, um richtige menschliche Schicksale. Es ist keine nackte Zahl und deshalb sage ich Ihnen: Keines die- Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): ser konkreten Schicksale hat in den letzten 65 Minuten in diesem Saal eine Rolle gespielt und das werfen wir Ihnen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- vor. ren! Herr Bundeskanzler, beim Zuhören, insbesondere bei der letzten Passage Ihrer Regierungserklärung, in der Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – so salbungsvoll die hehren Ziele Ihrer Politik – ein Leben Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger reicher an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten, Unsinn! Sie haben keine richtige Wahrneh- reicher an Zukunftshoffnungen, reicher an Einkommen –, mung! Das stand schon gestern in Ihrem Kon- die wir – so haben Sie gesagt – gemeinsam erreichen wer- zept!) 62 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Angela Merkel (A) Man hätte sich gewünscht, dass Sie nach der mit Ach Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturel- (C) und Krach gerade einmal so gewonnenen Bundestags- len Situation ökonomisch unsinnig und deswegen wahl diesmal richtig durchstarten. ziehen wir sie auch nicht in Betracht. ( [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Gerhard Schröder in der ARD am 26. Juli 2002. GRÜNEN]: Gewonnen ist gewonnen!) (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Der Titel Ihres Koalitionsvertrags ist durchaus viel ver- Wir halten die Rentenbeiträge langfristig stabil. sprechend. „Erneuerung – Gerechtigkeit – Nachhaltig- keit“ – das ist Ihr Angebot an die Gesellschaft. Gerhard Schröder in der „Frankfurter Rundschau“ am (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist 18. Juni 2002. es! Das ist auch gut so!) (Michael Glos [CDU/CSU]: Wie nennt man Sie wollen das mit einem Kabinett, das insgesamt an das?) Lebensalter auf 800 Jahre kommt, durchsetzen. Ich würde Ich bin sicher, wir kriegen keinen blauen Brief aus sagen: So alt waren Aufbruch und Erneuerung selten in Brüssel. Deutschland. Herr Eichel am 17. September 2002, fünf Tage vor der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wahl, in der ARD-Sendung mit dem schönen Titel „Ihre Aber wenn man sich einmal die Mühe macht, die darin Wahl 2002“. enthaltenen Absichtserklärungen zu verstehen und mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dem zu vergleichen, was Ihre Regierung heute, in den Ta- gen vor und in den Tagen nach der Wahl gesagt hat, Meine Damen und Herren, ich erspare Ihnen, dies alles kommt es noch schlimmer. Herr Bundeskanzler, es kann auf die Waagschale zu legen. Ich nenne hier nur das Bei- nur ein einziges Urteil geben: Dies ist ein Koalitionsver- spiel Eichel: Von einer Neuverschuldung in Höhe von trag der Enttäuschung, es ist ein Koalitionsvertrag der 2,5 Prozent war am Tag vor der Wahl die Rede, von Täuschung und es ist ein Koalitionsvertrag der Vertu- 2,9 Prozent am Tag nach der Wahl und 14 Tage später war schung. Dies werden wir auch weiterhin beim Namen von einem blauen Brief aus Brüssel die Rede. Inzwischen nennen. ist er froh, wenn er ihn bekommt und vonseiten der Kom- missare in Brüssel nicht noch mehr draufgepackt wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist die Wahrheit. Man weiß ja auch schon, was jetzt kommt: Wahlkampf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (B) fortsetzen, schlechte Verlierer, CDU-Staat beenden, Ket- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist (D) tenhunde loslassen, Helfershelfer und so weiter und so völliger Quatsch!) fort. Die Wahrheit ist so konkret, dass man sagen kann: Jede (Jörg Tauss [SPD]: Richtig!) Familie in diesem Lande wird draufzahlen. Die Menschen Aber damit bekommen Sie nicht einmal mehr die Treues- kommt die Wahl buchstäblich teuer zu stehen. 200 Euro im ten der Treuen in Ihren eigenen Reihen hinter dem Ofen Monat beträgt die Mehrbelastung für jede deutsche Durch- hervorgelockt. schnittsfamilie mit zwei Kindern und 30 000 Euro Ein- kommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Die deutsche Öffentlichkeit fällt auf so etwas schon doch Unsinn!) lange nicht mehr herein. Dies alles bestätigt nur den Ein- druck, dass Ihnen diese knapp gewonnene Wahl ziemlich Zur Kürzung der Eigenheimzulage: in den Knochen steckt. Sie haben heute schon Angst vor (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Man der Quittung, die Sie in Niedersachen und Hessen be- weiß doch noch gar nicht, was am Ende kommen werden. kommt!) (Widerspruch bei der SPD) – Richtig, Herr Schmidt, man weiß nicht, was am Ende Wir werden es den Menschen auch immer wieder sagen. kommt. Dies ist das Einzige, was bei Ihnen Gültigkeit hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie zeigen an diesen Stellen auch schon Verfolgungs- Ich füge nur noch hinzu: Es ist gut, dass es uns gibt, wahn. Aber nicht wir haben Ihnen Verfolgungswahn vor- (Lachen bei der SPD –Wilhelm Schmidt [Salz- geworfen, sondern die „Süddeutsche Zeitung“, die Sie gitter] [SPD]: Hören Sie doch auf!) wahrscheinlich noch nicht zu den Kettenhunden des kon- servativen Lagers zählen können, Herr Bundeskanzler. sonst wüssten die Leute nicht, was kommt. Wenn sie nur Sie hätten, würde es ganz schlimm kommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dass Ihr Koalitionsvertrag ein Vertrag der Täuschung Nun zur Eigenheimzulage: Hören Sie sich einmal Ihre und Vertuschung ist, belegen einige Zitate: Abgeordnete aus Stade an. Sie sagt: Die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 63

Dr. Angela Merkel (A) Streichung der Eigenheimzulage ist ein Schlag ins Ge- lance, von der Sie bei diesen Belastungen so gerne spre- (C) sicht der deutschen Bauwirtschaft. chen? (Michael Glos [CDU/CSU]: Wo sie Recht hat, ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ha- hat sie Recht!) ben Sie auch Antworten oder nur Fragen?) – Wo Sozialdemokraten Recht haben, haben sie Recht. Besteht schon deshalb eine Balance und ein Gleichge- wicht, weil alle in diesem Lande gemeinsam am Boden (Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]) liegen? Das kann doch nicht die Balance sein, die Sie mei- Sie begreifen doch gar nicht, was Sie den Menschen nen. antun! Wissen Sie, was dies für eine Familie bedeutet, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ein Haus bauen will? Sie weiß, dass sie ohne diese Förde- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das rung bei der Bank – dies ist doch der entscheidende ist doch unglaublich! Sie zeichnen hier ein Punkt – nicht mehr kreditfähig ist. Zerrbild!) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Selbst Gabriel weiß das!) Deshalb heißt die schlichte Schlussfolgerung: Rot- Grün macht arm Riesige Bauunternehmen machen heute mit Fertigteil- häusern Dumpingangebote und zerstören so die kleinen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Baubetriebe vor Ort. Herr Stolpe, hier frage ich Sie: Was und, noch schlimmer, Rot-Grün bietet den Menschen tun Sie mit solchen Plänen eigentlich für die Bauwirt- überhaupt keine Aussicht in Bezug auf die Frage, wie in schaft im Osten? diesem Lande Wachstum und damit wieder mehr Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schäftigung entstehen können. Dem Stichwort Eigenheimzulage kann man hinzufü- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen: Gassteuer, Tabaksteuer, Steuerreform verschoben, neten der FDP) höhere Rentenbeiträge und höhere Krankenkassenbei- Wirklich schlimm an Ihrer Politik ist, dass Sie wissen, träge. Dies zusammen macht die Mehrbelastung in Höhe dass die Lage der öffentlichen Haushalte viel schlechter von 200 Euro pro Familie und Monat aus. ist, als Sie uns heute sagen. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ Jetzt sind wir einmal gespannt, wie Sie DIE GRÜNEN]: Und was ist jetzt Ihr Vor- sparen!) schlag?) (B) Dann behaupten Sie, Ihre Maßnahmen seien nicht nur Deshalb werden Sie uns, vor allen Dingen nach dem (D) notwendig, sondern gerecht und maßvoll und träfen vor 2. Februar, scheibchen- und tröpfchenweise weitere allem diejenigen, die noch mehr tragen können. Maßnahmen zumuten. Darum frage ich heute schon ein- (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ mal vorsorglich: Was haben Sie mit dem Ehegattensplit- DIE GRÜNEN]: Was ist Ihr Vorschlag, Frau ting vor? Merkel? Werden Sie einmal konkret!) (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ Schauen Sie sich doch einmal an, was das in Wahrheit be- DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn vor, Frau deutet. Es trifft alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Merkel? Sagen Sie uns das doch!) in diesem Lande, es trifft alle Autofahrer und insbeson- Was soll mit dem Sparerfreibetrag geschehen? Was wird dere die Pendler. Es trifft die, die Lebensmittel einkaufen, aus der Entfernungspauschale? Verändert sich an der denn sie sind von der Erhöhung der Preise der landwirt- Mehrwertsteuer noch mehr? Beabsichtigen Sie, die Le- schaftlichen Vorprodukte betroffen. Es trifft die Leis- bensversicherungen noch stärker zu belasten? Es ist doch tungsträger – das sind die Facharbeiter, die Gesellen, die- kein Zufall, dass das alles in den Koalitionsgesprächen jenigen, die Überstunden machen in diesem Lande –, weil aufgetaucht und anschließend wieder in der Schublade Sie die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen. verschwunden ist. (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ Deshalb sagen wir Ihnen sehr bewusst: Wir verlangen DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Ihr Vorschlag, im Namen der Bürger dieses Landes, Frau Merkel?) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die ha- Es trifft die Mieter in diesem Lande, es trifft die, die für ben Sie gar nicht autorisiert! Finden Sie sich ihre Altersvorsorge Wertpapiere gekauft haben, und es endlich damit ab!) trifft natürlich wie immer – weil die Sie nicht wählen – ganz besonders die Bauern; das ist schon fast Routine. dass Sie uns heute und diese Woche hier reinen Wein in Bezug auf das einschenken, was Sie in den nächsten Mo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – naten vorhaben. Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – DIE GRÜNEN]: Kein einziger Vorschlag von Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ Ihnen, Frau Merkel!) DIE GRÜNEN]: Wir würden gern wissen, was Man muss doch wirklich einmal fragen dürfen: Was ist Sie vorschlagen! – Gegenruf des Abg. Volker an diesen Belastungen eigentlich gerecht? Wo ist die Ba- Kauder [CDU/CSU]: Sie regieren doch!) 64 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Angela Merkel (A) Es ist ganz klar: Sie, die Sie dort sitzen, sind keine Re- Für wie dumm halten Sie eigentlich die deutsche Bevöl- (C) gierung der Erneuerung, sondern eine Regierung der Ver- kerung? Die Menschen werden das nicht vergessen. teuerung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: doch der Kanzler gerade erklärt! Sie hören ja Sie sind eine Opposition der Nörgelei!) nicht einmal zu! Sie halten die alten Reden! – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das war kein hatte doch Recht: Dolmetscherfehler! Das hat er so gesagt!) (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Wahrheit und die Politik sind – Herr Schmidt, da DIE GRÜNEN) können Sie so viel schreien, wie Sie wollen – eben nicht Nicht der Mut wächst, Herr Bundeskanzler, sondern die Wut so einfach. der Menschen in diesem Lande über diese Art der Politik. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stimmt! Darum sind Sie auch nicht gewählt neten der FDP) worden!) Herr Bundeskanzler, man möchte es mit einem Ihrer Wie steht es denn mit der Beantwortung der vielen kon- Lieblingsworte kommentieren: Wie Sie mit den Men- kreten Fragen, die sich ergeben? Wie wird sich die Bun- schen in diesem Lande umgehen, das ist schlicht und er- desregierung verhalten? Ist sie bereit, sich an einer greifend unanständig. UN-Peacekeeping-Maßnahme nach einer militärischen Auseinandersetzung mit dem Irak zu beteiligen? Zu wel- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen Hilfsmaßnahmen wäre sie bereit, wenn der Irak Israel Unanständig ist das, was Sie machen, angreift? Was machen die ABC-Spürpanzer in Kuwait im Falle eines militärischen Konfliktes? Würden deutsche (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihre Soldaten Hilfe für die verwundeten US-Soldaten leisten? Rede ist unanständig!) Würde die Bundesregierung dem NATO-Mitglied Türkei und unanständig ist vor allen Dingen das Brechen von militärisch zu Hilfe kommen, wenn sie vom Irak ange- Versprechen. griffen würde? Wie verhält sich die Bundesregierung bei einer Abstimmung über eine Resolution des UN-Sicher- Ich möchte auf die Debatte vom 13. September 2002 heitsrates nach dem 1. Januar? hier in diesem Hause zurückkommen. Ich habe mich da- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch mals gar nicht lange mit den vielen gebrochenen Verspre- breit getretener Quark! Unsinn ohne Ende!) (B) chen in der Arbeitsmarkt-, Gesundheitspolitik usw. auf- (D) gehalten, Wollen Sie alleine mit Syrien mit Nein stimmen? Diese Fragen interessieren uns. Wir wollen sie beantwortet ha- (Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat alles nichts ben. Auf eine Antwort warten wir schon lange. geholfen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sondern ich habe Ihnen nur eines gesagt: Die größte Täu- schung der Nachkriegszeit ist Ihre Haltung im Zusammen- Herr Bundeskanzler, Sie haben es bis heute nicht ge- hang mit einem militärischen Einsatz gegen den Irak. schafft, unser nationales Interesse zu definieren. Deshalb sage ich Ihnen für die CDU und die CSU: Wir alle wollen (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ keinen Krieg. DIE GRÜNEN]: Was?) (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE Es hat sich jetzt erwiesen, dass meine Aussage richtig war. GRÜNEN]: Ach!) (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Das habe ich schon damals deutlich gemacht und tue es [Salzgitter] [SPD]: Sie haben überhaupt nichts jetzt wieder. Wann immer Konflikte diplomatisch oder kapiert!) politisch gelöst werden können, sollte in dieser Beziehung Ihre Haltung war und ist der größte Betrug am deutschen nichts unversucht gelassen werden. Wähler in der Nachkriegsgeschichte. Vor der Wahl gab es Eine kurze Anmerkung zum Wochenende sei mir in nur ein einziges Wort: Nein. Nein zur UN, nein zum Ver- diesem Zusammenhang gestattet. Wir alle sind gegen ter- bleib der ABC-Panzer in Kuwait, nein zu Sanktionen. roristische Angriffe. Ich hätte mir deswegen von Ihnen, (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja, genau!) Herr Bundeskanzler, schon gewünscht, Sie hätten dem russischen Präsidenten Putin mit aller Klarheit deutlich Nach der Wahl besitzt der Bundesaußenminister die gemacht, dass wir mit Nachdruck erwarten, dass auch po- Dreistigkeit, einer englischen Zeitung auf die Frage, was litische Anstrengungen in Tschetschenien unternommen mit dem so genannten deutschen Weg sei, zu antworten, werden. Das wurde versäumt. er könne natürlich nicht für den Kanzler sprechen, aber: Forget it! – Auf Deutsch: Vergesst es! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist es, was Sie hoffen und wovon Sie ausgehen. CDU und CSU sind bereit, die von der UN erwarteten Beschlüsse gegen den Irak zu unterstützen. Wir sind im (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist die Übrigen der Auffassung, dass die französischen Ansätze Arroganz der Macht!) hierfür eine gute Grundlage bieten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 65

Dr. Angela Merkel (A) Ich komme zu einem Punkt, zu dem Sie auch nicht staltung, die dem Leben eine Richtung gibt und die Zu- (C) Stellung genommen haben, der aber schon im November sammenhänge herstellt. Ich glaube, dies ist die vor- aktuell wird. CDU und CSU erwarten, dass sich die Bun- nehmste Aufgabe der Politik. desregierung auf dem NATO-Gipfel in Prag, auf dem (Jörg Tauss [SPD]: Da haben Sie Recht!) das Thema Irak mit Sicherheit zur Sprache kommen wird, nicht aus dem Kreis der Verbündeten stiehlt, sondern sich Sie wollen, wie Sie gesagt haben, eine „rot-grüne Epo- für eine gemeinsame Position der NATO-Mitgliedstaaten che“ beginnen. einsetzt. (Jörg Tauss [SPD]: Ja! – Ludwig Stiegler (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) [SPD]: Die dürfen Sie in der Opposition beglei- ten!) Ich möchte nicht erleben – das sage ich für die Union –, dass Norwegen, Ungarn und Polen auf der Seite der Ame- „Epochen muss man begründen können.“ rikaner sind und wir nicht. Deutschland hat Freundschaf- (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr! – ten. Diese Freundschaften sind an Werte gebunden und Ludwig Stiegler [SPD]: Sie gründen sich aus müssen in einem Bündnis etwas zählen. sich selbst!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Hören Sie doch zu, Herr Stiegler! „Das ist mit diesen Das alles sage ich mit Blick auf die Zukunft. Wir ahnen 90 Seiten Koalitionsvertrag nicht getan.“ – Auch das habe doch schon, wie es ablaufen wird, wenn es Weihnachten wiederum nicht ich, sondern das hat der stellvertretende wird, der Januar kommt und die Wahlen in Niedersachen Fraktionsvorsitzende Erler im jüngsten „Spiegel“ gesagt. und in Hessen vor der Tür stehen. Sie werden in Hessen die alten Plakate aus dem Jahr 1991 auspacken, auf denen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- steht: Kein Blut für Öl. – Ich kann Ihnen sagen: Genau das neten der FDP) wird nicht funktionieren, weil sich die Menschen im Lande Herr Erler, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl! Es ziemlich erstaunt die Augen reiben und sich fragen werden: gibt selbst in der SPD-Fraktion einen kleinen Hoffnungs- War der Irak nicht das Wahlkampfthema? In den Koalitions- schimmer. Es ist eben so: Ausrufen allein reicht nicht. Es vereinbarungen sucht man diesen Punkt vergeblich. Vom macht die Sache fast noch schlimmer, weil ein ganz Kosovo, von Mazedonien und von Afghanistan ist zu lesen, merkwürdiges und unsicheres Gefühl bleibt; es ist wie ein aber vom Irak ist nicht mit einer Silbe die Rede. Pfeifen im Walde. (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!) Meine Damen und Herren, was ist Ihr Gestaltungsan- Ich vermute, wenigstens der Außenminister hat Sie daran spruch der Politik? Finanzminister Eichel hatte sich mit (B) gehindert, Ihre Lügen in der Koalitionsvereinbarung auch seinem Sparkurs beinahe ein Stück weit in die Herzen der (D) noch in Schriftform zu fassen. Menschen eingegraben. Am Tag der Unterzeichnung der Koalitionsvereinbarung in der Neuen Nationalgalerie er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- klärte er aber dem staunenden deutschen Publikum, dass derspruch bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: es mit dem Stabilitätspakt nun vorbei sei, dass man ihn Furchtbar! – Joachim Poß [SPD]: Unglaublich! irgendwie anders auslege und dass man ihn konjunktur- – Weiterer Zuruf von der SPD: Alte Dreck- bedingt interpretieren müsse. Er tut das Gegenteil von schleuder!) dem, was er vier Jahre lang versucht hat, den Menschen Wenn man sich anschaut, was in den letzten fünf Wo- beizubringen; das zerstört die Politik. chen passiert ist, dann drängt sich die Frage auf, was Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wirklich wollen. Warum gehen Sie so vor? „Man erkennt Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unsinn! nicht, wohin es eigentlich geht.“ Was steht denn im Koalitionsvertrag?) (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben keine her- Auf der einen Seite erhöhen Sie die Arbeitskosten meneutische Kompetenz!) durch steigende Sozialbeiträge für Rente und Gesundheit So klage nicht nur ich, so klagte auch der thüringische – das ist unstrittig – und auf der anderen Seite wollen Sie SPD-Landesvorsitzende Matschie am Wochenende. ebendiese Arbeitskosten über die 500-Euro-Jobs – dort halbherzig – und die Ich-AGs wieder heruntersubventio- Wo der Mann Recht hat, hat er Recht; denn genau das nieren. Meine Damen und Herren, fördern Sie doch den ist das Problem dieses Bundeskanzlers. Man weiß nicht, gesamten deutschen Mittelstand – denn dann erhalten Sie wo es hingeht. Ich sage es mit meinen Worten: Herr Bun- mehr Arbeitsplätze –, deskanzler, welchen Wert hat für Sie eigentlich der Ge- staltungsanspruch der Politik gerade jetzt, also in, wie Sie (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Machen wir so gerne betonen, unserer Zeit der Globalisierung? Sehen doch längst! Dazu brauchen wir Sie nicht!) Sie überhaupt einen Gestaltungsanspruch oder sehen Sie statt mit Ich-AGs und sonstigen Hilfskonstruktionen an- in der Globalisierung immer nur einen imaginären Schul- zufangen! Das bringt Deutschland nicht weiter. digen? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage: Gestaltung ist nicht punktuelles Handeln und nicht das Reagieren auf kurzfristige Ereignisse, neu- Und dann das viel gelobte Hartz-Konzept: Die Wirt- deutsch auch Krisenmanagement genannt – selbst wenn schaftsweisen – das waren also nicht wir – haben die Er- auch das manchmal erforderlich ist. Ich meine eine Ge- wartung, dass die Arbeitslosigkeit auf unter 2 Millionen 66 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Angela Merkel (A) sinken könnte, einhellig als schlicht und ergreifend „illu- technischen Sachverstand nur zu einem nachhaltigen Mo- (C) sorisch“ bezeichnet. torschaden führen. (Michael Glos [CDU/CSU]: Hartzer Käse!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Meine Damen und Herren, es ist ziemlich doll, dass der Superminister Clement – noch bevor er vereidigt war – Die Latte der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. die Sachverständigen bezichtigte, dass sie keinen Sach- Der Bundesumweltminister reist heute nach Neu Delhi. verstand haben. So wird es nicht gehen. Sie werden die Sie haben das Klimaschutzziel für 2005 auf ganz ge- Statistik fälschen und versuchen, zu tricksen und zu täu- schickte Art und Weise eliminiert. Was ist denn nun mit der schen; aber damit werden Sie keinem einzigen Menschen Minderung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent bis zum in Deutschland wirklich helfen. Jahr 2005? Das Ziel taucht nicht mehr auf, weil es in Ihre (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ Legislaturperiode fällt. Dafür haben Sie ein Ziel für 2020 DIE GRÜNEN]: Sie auch nicht!) formuliert – unter dem Vorbehalt, dass auch die anderen eu- ropäischen Staaten ihren Beitrag dazu leisten. Wir erwarten Wir werden das zum Thema machen und Sie zur Rede heute von Herrn Trittin, dass er uns genau sagt – ich per- stellen. sönlich habe mir oft Anschuldigungen anhören müssen –,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) welches Ziel Sie unterstützen und wie hoch die CO2-Min- derung für das Jahr 2005 sein wird. Wir wollen wissen, Auf der einen Seite wollen Sie, wie das vernünftig ist, welches das konkrete Ziel für diese Legislaturperiode ist. die Menschen zu mehr Eigenverantwortung heranziehen, auf der anderen Seite bestrafen Sie aber diejenigen, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diese – auch ohne staatliche Förderung – wahrnehmen Um Ihr widersprüchliches Verhalten noch einmal deut- könnten, indem Sie die Beitragsbemessungsgrenze bei der lich zu machen: Sie haben in der vergangenen Legislatur- Rente wieder hochsetzen und damit den Menschen die periode das Erdgas von der Ökosteuer-Regelung aus- Möglichkeit nehmen, eine eigenständige private Vorsorge drücklich ausgenommen, weil es so umweltverträglich ist zu treffen. Das ist widersprüchlich und nachhaltig falsch. und weil Sie wollten, dass die Menschen dies als Anreiz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und begreifen, möglichst viel mit Erdgas zu heizen. der FDP) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) Sie führen die Nachhaltigkeit groß im Munde. Deshalb Nun tun das 15 Millionen Menschen in Deutschland. Was ist es das Allerdollste, dass Sie mit der Erhöhung der Bei- machen Sie? Als Dankeschön wird Erdgas mit der Öko- tragsbemessungsgrenze heute Rentenansprüche begrün- steuer belegt. (B) den, von denen Sie wissen, dass Sie sie in der Zukunft nie- (D) mals werden erfüllen können; das muss den Grünen im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herzen wirklich weh tun. Das ist es, was die Menschen so missmutig stimmt. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Herr Bundeskanzler, dieser Missmut ist auch nicht da- Unsinn!) durch aus der Welt zu schaffen, dass Sie heute eine neue Maxime aufgestellt haben – sozusagen der Kennedy-Ver- Das ist eine nachhaltige Täuschung, nicht mehr und nicht schnitt aus Hannover. weniger. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben uns gesagt: Hören wir auf, immer nur zu fragen, Sie haben – das war durchaus richtig – in der vergan- was nicht geht; fragen wir uns, was jeder Einzelne dazu genen Legislaturperiode die Steuern auf einbehaltene Ge- beitragen kann, dass es geht. winne gesenkt, um die Investitionskraft zu stärken. Nun aber, wo die Unternehmen dadurch, dass ihre Investitions- (Jörg Tauss [SPD]: Dann fangen Sie einmal kraft gestärkt wurde, wieder an Wert gewinnen könnten, damit an! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] planen Sie, die Eigentümer durch die Besteuerung von [SPD]: Dazu haben Sie bisher noch keinen Bei- Aktiengewinnen zu bestrafen. Wozu führt das? Das führt trag geleistet!) dazu, dass die Gewinne natürlich sofort einbehalten wer- Nun muss ich Sie einmal fragen: Was ist „es“? den, dass nicht investiert wird, dass die Menschen nicht besser dastehen und dass die Eigentümerstrukturen wech- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) seln, weil in anderen Ländern keine Steuern bezahlt wer- „Es“ ist nämlich im September 2001 die uneinge- den müssen. schränkte Solidarität mit den Amerikanern. Aber „es“ ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – im September 2002 der deutsche Sonderweg in Bezug auf Joachim Poß [SPD]: Ist das Ihre Forderung? den Irak. „Es“ ist während der Flut der Gemeinsinn und Keine Steuern mehr? – Olaf Scholz [SPD]: die Hilfe. Aber „es“ ist am Tage der Unterschrift unter die Keine Steuern?) Koalitionsvereinbarung, dass man allen, die spenden wol- len, eines vor das Schienbein gibt und die Abzugsfähig- Deshalb hat Professor Sinn zu Recht gesagt: Alles, was keit der Spenden streicht. So werden Sie die Dinge nicht Sie vorschlagen, ist Gas geben und zugleich bremsen. Ich regeln können. warte auf den Tag, Herr Bundeskanzler, an dem Sie uns das als großer Autofreak einmal praktisch vormachen: (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bremsen und zugleich Gas geben. Das kann nach meinem bei der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 67

Dr. Angela Merkel (A) Ihre Maxime ist in Wahrheit: Wer etwas leistet, wird Gebraucht wird aber das Gegenteil: Wir brauchen die (C) vom Staat zusätzlich belastet. Wer mehr Verantwortung Rückkehr des Politischen. für sich oder andere übernehmen will, dem werden (Zurufe von der SPD: Ui! – Wilhelm Schmidt Steine in den Weg gelegt. Wer bereit ist, sich für eine si- [Salzgitter] [SPD]: Jetzt wird’s konkret!) chere Zukunft und die notwendigen Veränderungen ein- zusetzen, der wird von der Regierung spätestens nach Darüber gäbe es Einvernehmen. Wir brauchen die Rück- ein paar Monaten allein gelassen. – Deshalb, Herr Bun- kehr des Politischen, nicht ein Verwalten des Augen- deskanzler, hätten Sie besser die Finger von Kennedy blicks. Denn Politik hat die Aufgabe, Weichen zu stellen gelassen. Oder aber, Herr Bundeskanzler, Sie hätten ihn und – Richtungen zu geben – Veränderungen über den wirklich beim Wort genommen: Frage nicht, was dein Tellerrand des Hier und Jetzt hinaus. Land für dich tun kann, sondern frage, was du für dein (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: 40 Minu- Land tun kannst. ten heiße Luft! – Lothar Mark [SPD]: Sie haben (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was ha- immer noch nichts Konkretes gesagt!) ben Sie denn für einen Beitrag geleistet?) Das bedeutet auf der einen Seite die Fähigkeit zu Verän- Ich bin sicher: Viele Menschen würden gerne etwas derungen auch gegen Stagnation und auf der anderen tun. Aber die Menschen können nichts tun, wenn sie einen Seite das Setzen von Grenzen und Orientierungspunkten. Koalitionsvertrag vorgelegt bekommen, der das Papier (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht wert ist, auf dem er geschrieben ist, und der schon Sehr konkret!) gar nicht die Miete des Museums wert ist, in dem er ab- geschlossen worden ist. Es ist keine plumpe Machbarkeitsidee, sondern es geht darum, Maßstäbe zu setzen und Linien zu entwickeln, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) über eine längere Zeit durchgehalten werden. Weil hinter der Streichliste kein Konzept erkennbar (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt ist, lässt sich jeder einzelne Punkt mit Aussicht auf [Salzgitter] [SPD]: Kommen Sie doch mal zur Erfolg angreifen. Sache! – Weitere Zurufe von der SPD) Auch das stammt nicht von mir, sondern das hat gestern – Dass Sie so schreien, zeigt doch nur, wie schlecht es Ih- die „Süddeutsche Zeitung“ festgestellt. nen geht. Was heute gesagt wird, ist morgen überholt. Was mor- Wir von der CDU/CSU wollen ein Deutschland, das gen gesagt wird, steht im Widerspruch zu dem, was vor- die Bürger ermuntert, füreinander einzustehen: her galt. Die Halbwertszeit Ihrer Aussagen wird immer (B) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D) kürzer. So regieren Sie zurzeit: im Hier und Jetzt, ohne ein Sehr gut!) Bewusstsein für das, was gestern war und was morgen kommt. Das ist das Schlimme. in der Ehe, in der Familie, im Ehrenamt, durch die Sozial- pflichtigkeit des Eigentums. Wir meinen, dass die Vo- Ihr Kronprinz aus Niedersachsen, Herr Bundeskanz- raussetzung dafür in einem transparenten, gerechten und ler, der voll auf Ihrer Linie liegt, hat es wieder einmal einfachen Steuersystem besteht, das Sie bis heute nicht auf den Punkt gebracht. Gabriel sagte auf die Frage, geschaffen haben. warum Rot-Grün seine Vorhaben eigentlich nicht vor der Wahl offen gelegt hat: „Das hätten Sie wohl gerne (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Dagmar gehabt.“ Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vorhin waren Sie dagegen, Frau Merkel!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Falls Sie der Meinung sind, Sie wollten das auch, muss Meine Damen und Herren, das ist das, was Sie in der man sich doch wundern, dass nicht nur der Bundeskanz- Sozialdemokratie unter Politik verstehen. Politik braucht ler, sondern zehn, 20 oder 30 Leute an einer Koalitions- aber kein kurzfristiges Ereignismanagement, sondern sie vereinbarung arbeiten und nicht merken, dass sie mit dem muss mehr denn je gestalten können. Streichen der Spendenabzugsfähigkeit für bestimmte In- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt stitutionen genau diesen Gemeinsinn zerstören. Dafür kommen endlich mal ein paar Antworten von brauchen Sie erst die Bevölkerung und die Opposition. Ihnen! Nun aber los!) Das ist doch das Dilemma in diesem Lande. Denn es geht in der Tat um die Frage, wie wir aus Verän- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- derungen Nutzen ziehen können. Deshalb ist es doch so neten der FDP) fatal, dass der Bundeskanzler von Augenblick zu Augen- Wir wollen ein Deutschland, das im internationalen blick lebt. Da ist es doch geradezu folgerichtig, dass er als Wettbewerb besteht und damit die Chancen der Globalisie- Freund großer symbolischer Handlungen genau zu Be- rung nutzt. Genau dafür brauchen wir die Stärkung der klei- ginn dieser Legislaturperiode die Grundsatzabteilung im nen Einheiten, der Familien, aber vor allen Dingen auch der Kanzleramt schließt. Politik ohne Grundsätze – das ist die Kommunen und der Gebietskörperschaften. Diese brauchen Botschaft für diese Legislaturperiode. keine Geschenke von oben, hier 10 000 Ganztagsschulen und dort ein paar Brosamen, (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ Auch da haben Sie nichts verstanden!) DIE GRÜNEN]: Brosamen? Kinderbetreuung 68 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Angela Merkel (A) ist Brosame? Ganztagsschulen sind Brosa- Wenn Sie in diesen Tagen über Europa sprechen, dann (C) men?) halte ich es für einen Fehler – ich würde es für einen be- sonders großen Fehler halten, wenn dies auch noch Teil sondern sie brauchen langfristige Möglichkeiten, ihre eines Kompensationsgeschäfts wäre –, wenn Sie über den Kommunen so zu entwickeln, wie es die Menschen wol- Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sprechen. len, und zwar inklusive Tagesbetreuung und Kindergär- ten. Die ordentliche finanzielle Ausstattung der Kommu- (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!) nen ist das Gebot der Stunde. Sie wissen doch, dass Ihre Kollegen von der Friedrich- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Ebert-Stiftung genauso wie die von der Konrad- SPD: Wie finanzieren Sie das?) Adenauer-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung alle Hände voll damit zu tun haben, zu verhindern, dass sie Wir wollen ein Deutschland, das Sicherheit im umfas- nicht jahrzehntelang ins Gefängnis müssen. Ich sage Ih- senden Sinn garantiert: soziale Sicherheit, Sicherheit des nen: Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, an dem wir über den Verbrauchers und Sicherheit im Inneren genauso wie Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sprechen soll- im Äußeren. Deswegen brauchen wir eine Politik – der ten. Lassen Sie das sein! Das ist nicht zum Wohle der Eu- Bundeskanzler hat darauf hingewiesen; er tut aber nichts ropäischen Union. dafür –, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Doch!) neten der FDP) die das Zusammenwachsen von innerer und äußerer Wir wollen ein Deutschland, das sich europäischer Tra- Sicherheit besser bewältigt. Wir brauchen ein Sicherheits- dition und Werte – ich sage ganz besonnen: gerade auch paket III, damit endlich bestimmte Lücken geschlossen der christlich-abendländischen – bewusst ist. Deshalb werden, die uns im Kampf gegen den Terrorismus behin- brauchen wir eine Politik, die fest verwurzelt ist und sich dern. Dazu enthält Ihre Koalitionsvereinbarung nur ver- gleichzeitig Neuem öffnet. Das ist dann eine Politik, die schwommene Formulierungen, nichts Konkretes. um die Bedeutung von Halt, Heimat und Orientierung der (Beifall bei der CDU/CSU) Menschen in Zeiten der Globalisierung weiß. Wie wich- tig dies gerade auch für jüngere Menschen in unserem Herr Bundeskanzler, wir brauchen ein Zuwande- Land ist, hat noch einmal die Shell-Studie in diesem Jahr rungsgesetz, durch das die Integration der bei uns leben- gezeigt. den ausländischen Bürgerinnen und Bürger verbessert wird. Wir wollen ein Deutschland, das selbstbewusst ist und das sein Licht nicht unter den Scheffel stellt. Aber dieses (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat (B) selbstbewusste Deutschland werden wir nur bekommen, (D) er doch gesagt! Das steht im Gesetz! Das Gesetz wenn wir ein verlässlicher Partner sind. Verlässlichkeit ist bekämpfen Sie!) die Voraussetzung dafür, dass wir Leadership in Partner- Diese erfolgt vor Ort. Wir haben bisher nichts darüber ge- ship wirklich leben können. lesen, welche finanziellen Maßnahmen Sie auf den Weg (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bringen wollen, damit die Integration gelingen kann. Sie haben zwar pro forma von „Steuerung der Zuwanderung“ Sie haben auf diesem Gebiet Vertrauen verspielt. Wir von gesprochen. Aber Sie haben das Wort „Begrenzung der der Opposition werden versuchen, es so weit wie möglich Zuwanderung“ nicht in den Mund genommen. Ich sage wiederzugewinnen. Ihnen: Bei Ihnen gibt es viel zu viele, die noch immer ihre (Beifall bei der CDU/CSU) multikulturellen Tagträume träumen und sich nicht um die eigentlichen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger küm- Deshalb heißt die Rückkehr des Politischen, dass wir mern. den Gestaltungsanspruch der Politik bei dem, was wir wollen, auch wieder zur Geltung bringen, dass die Men- (Beifall bei der CDU/CSU) schen wissen, was sie von einer Regierung erwarten kön- Wir wollen wie Sie ein verlässliches, zusammenwach- nen, und zwar nicht nur von Montag bis Dienstag, sondern sendes und klar geregeltes Europa. Wir begrüßen, wann über vier Jahre bzw. – besser – über einen noch längeren immer es in die richtige Richtung geht, die Arbeit des Zeitraum. EU-Konvents. Keine Frage, Herr Fischer, wir freuen uns (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Deshalb über Ihren Sitz im Konvent. Wenn Sie, Herr Bundeskanz- machen wir das auch! Völlig richtig!) ler, uns aber – wie neulich bei der Frage, wie Opposition und Regierung gut zusammenarbeiten könnten – großher- Deshalb sage ich Ihnen – hören Sie noch einmal genau zu –: zige Angebote machen, dann müsste es doch möglich „Wir sind zurzeit dabei auszutesten, wo es beginnt, die Wett- sein, dass neben dem Bundesaußenminister auch wir von bewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und der deutschen der Opposition einen Sitz in dem EU-Konvent für den Unternehmen zu gefährden.“ – Das sagte Herr Supermini- ausgeschiedenen Bundestagsabgeordneten Meyer be- ster Clement vorgestern bei „Sabine Christiansen“. Lassen kommen. Herr Schäuble wäre ein toller Partner für Herrn wir uns dieses Wort „austesten“ wirklich einmal auf der Fischer gewesen. Es wäre zum Wohle Deutschlands ge- Zunge zergehen: die Wettbewerbsfähigkeit der deut- wesen. Das hätte ich unter Großherzigkeit verstanden, schen Industrie als Versuchskaninchen von Rot-Grün. Herr Bundeskanzler. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Quatsch!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 69

Dr. Angela Merkel (A) Da kann ich nur sagen: Der Superminister wird zum Su- wörtlich: „Sie wollen vielleicht Kanzler werden, aber Sie (C) per-GAU für diese Bundesrepublik Deutschland. haben nicht die Fähigkeiten dazu.“ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Ich antworte Ihnen, und zwar im Lichte dessen, was Sie [SPD]: Das ist unsinnig!) heute hier vorgetragen haben und was wir in den letzten Wenn Sie so viel schreien, muss man doch einfach einmal Wochen gehört haben: fragen: Haben Sie eigentlich verstanden, was Globalisie- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rung ist? Sie haben ja nicht einmal die Fähigkeit zur Op- (Zurufe von der SPD: Ja!) position!) Wissen Sie, dass Globalisierung eine permanente Wettbe- Sie, Herr Bundeskanzler, wollen vielleicht dieses Land ir- werbssituation für jeden kleinen und großen deutschen gendwie von Ereignis zu Ereignis bringen; aber die Fähig- Betrieb bedeutet? Wissen Sie, wie viele Betriebe sich in keit, es zum Wohle der Menschen in diesem Land zu diesem Land mit der Absicht tragen, das Land zu verlas- führen und die schöpferischen Kräfte in diesem Land zu sen, weil sie diese Koalitionsvereinbarung gelesen haben? wecken, haben Sie nicht. Wenn Sie dann schon einen Supermann für Superwirt- schaft aus dem angeblichen Superland holen und der als (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall Erstes erklärt, dass er jetzt mal ein paar Versuchsballons bei der FDP) startet, dann kann ich nur sagen: Sie haben nicht verstan- Die haben Sie nicht, weil Sie keine Idee haben und weil den, wie ernst es um die Arbeitsplätze in dieser Bundes- Sie die Menschen in diesem Land nicht ernst nehmen. republik Deutschland steht. Und weil Sie die Menschen nicht ernst nehmen, wird die (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall Union gebraucht, mehr denn je, CDU und CSU. Ich sage bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Ihnen: Wir nehmen genau diesen Auftrag – und dann auch [SPD]: Sie haben immer noch keine eigene Ant- noch mit Freude – an. wort gegeben!) Herzlichen Dank. Deshalb sage ich Ihnen: Wir stehen in diesem Parla- (Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – ment für Verlässlichkeit. Wir wissen, dass unsere Gesell- Beifall bei der FDP) schaft vor großen Herausforderungen steht. Und wir wis- sen, dass es wichtig ist, dass wir eine neue bürgerliche Gesellschaft in diesem Lande schaffen, Präsident Wolfgang Thierse: (B) (D) (Ludwig Stiegler [SPD]: Ihr seid in der Oppo- Ich erteile dem Kollegen Franz Müntefering, SPD- sition und da dürft ihr auch bleiben! – Joachim Fraktion, das Wort. Poß [SPD]: Das wird aber nicht einfach für Sie (Beifall bei der SPD) mit Herrn Merz zusammen!)

eine Gesellschaft, in der jeder Einzelne bereit ist, Initia- Franz Müntefering (SPD): tive zu ergreifen und Verantwortung zu übernehmen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- (Zuruf von der SPD: Von Ihnen haben wir ren! Der Start in eine Legislaturperiode ist immer die Ge- dazu nichts gehört!) legenheit, die politischen Ziele der kommenden Jahre zu Wir sind bereit, mit den Menschen genau in diesem Sinne markieren und auch die ersten konkreten Schritte festzu- einen Vertrag zu schließen, weil wir langfristig berechen- legen. Das hat der Herr Bundeskanzler auf der Grundlage bar sind. der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen heute für die Regierung getan. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die ha- ben den Vertrag am 22. September geschlos- (Michael Glos [CDU/CSU]: Märchenonkel! – sen!) Zurufe von der CDU/CSU: Wo? – Wann?) – Hören Sie doch zu! Sie wollen doch immer wissen, wie Wir 251 von der SPD werden in der Koalition mit den wir unsere Oppositionszeit verstehen. Grünen zusammen alles dafür tun, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder und diese Regierung gute Politik für (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dazu unser Land machen können. Die Arbeit kann beginnen. haben Sie in 50 Minuten nichts gesagt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir verstehen uns als Wächter, nicht als Blockierer, und DIE GRÜNEN) zwar als Wächter im Sinne der Menschen dieses Landes: im Bundestag, im Bundesrat und auf allen Ebenen, in de- Das Wahlergebnis vom 22. September war knapp, aber nen wir Verantwortung haben, sei es als Regierung oder klar. Die Mehrheit der Menschen hat Gerhard Schröder sei es als Opposition. als Bundeskanzler gewollt und gewählt, auch bewusst die Koalition von SPD und Grünen gewählt. Herr Bundeskanzler, Sie haben in der Debatte am 13. September, der letzten vor der Bundestagswahl, in der (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Ihnen eigenen bescheidenen Art dem Kanzlerkandidaten Glos [CDU/CSU]: Die Leute sind getäuscht der Union, Edmund Stoiber, gesagt – ich wiederhole es worden!) 70 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Franz Müntefering (A) Die Verlierer vom 22. September heißen Edmund Stoiber Deutschland ist mit dieser Regierung auf gutem Weg. (C) und Angela Merkel. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katrin (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – GRÜNEN]) Michael Glos [CDU/CSU]: Der Verlierer heißt Politik hat eine große Verantwortung, aber sie schafft Deutschland!) nicht alles allein. Wir wollen Verantwortungspartner- Die Opposition hat in der Demokratie eine wichtige Funk- schaft. Wir wollen die Koalition mit den Menschen in un- tion – das wissen wir und das respektieren wir –, aber Herr serem Land. Dazu suchen wir das offene und, wo es nötig Stoiber hat es vorgezogen, nicht im Deutschen Bundestag ist, auch streitige Gespräch um den richtigen Weg. Wir dabei zu sein und nun aus München Strippen zu ziehen. kehren nichts unter den Teppich. Wir machen deutlich, wo Ihnen, Frau Merkel, will ich sagen: Es macht keinen gemeinsame Anstrengungen erforderlich sind. Wir wollen Sinn, dass Sie uns heute wieder Ihre verkorksten Wahlre- den Dialog und den Kompromiss. zepte anbieten. Was Sie heute vorgelesen haben, war eine Wir brauchen viele, die diesen Weg aktiv mitgehen, Rede aus der Wahlkampfzeit. zum Beispiel in den Vereinen, in den Verbänden, in den (Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] Gewerkschaften, in den Kirchen, in den Initiativen und in [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) den Gruppen. Es sind Millionen, die sich für die Gesell- schaft aktiv und oft mit viel Einsatz von Zeit und mit Sie hätten in der Zwischenzeit lesen sollen, was wir uns ihrem wenigen Geld engagieren. Das ist der gesellschaft- für diese Legislaturperiode vorgenommen haben. liche Kitt, der dazu beiträgt, Lebensqualität in den Städ- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten und Dörfern zu garantieren. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) Mit genau den Thesen, die Sie heute vorgetragen haben, Diejenigen, die sich zum Beispiel in den kleinen Sport- sind Sie am 22. September gescheitert. Die Menschen vereinen engagieren, tun für die Entwicklung der Kinder wollen Ihre Politik nicht. Auch deshalb haben sie uns ge- und Jugendlichen unendlich viel. Diese Menschen haben wählt und uns das Vertrauen für die kommenden vier Dank verdient und wir brauchen sie auch weiterhin. Jahre für die Regierung in Deutschland gegeben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie, Frau Merkel, sind gut beraten, neu zu beginnen. Unser Land braucht auch das Engagement der Ent- Lassen Sie Ihre in der Wahl gescheiterten Positionen (B) scheidungsträger in der Wirtschaft. Die meisten dieser (D) friedlich ruhen und denken Sie neu nach! Kümmern Sie Entscheidungsträger werden akzeptieren, dass sie auf ei- sich vor allem um Ihre Selbstfindungskommission, von nige steuerliche Privilegien in Zukunft verzichten müs- der man lesen konnte! Da haben die lange Zeit etwas zu sen, weil die Lage der Staatskasse und das Gemeinwohl tun, zum Beispiel in der Geschichte mit dem Tafelsilber. das erfordern. Sie werden deswegen nicht arm und sie Klären Sie sicherheitshalber auch, ob die Herren Merz bleiben wettbewerbsfähig. Man konnte lesen – Frau und Koch denn Ihre Helfer oder Ihre Helfershelfer sind! Merkel zitierte das eben –, dass einige über die Verlage- Schauen Sie, ob das mit den Referenten denn jetzt unter- rung des Standorts ihres Unternehmens ins Ausland nach- einander geklärt ist! denken. Diejenigen, die das tun, darf man daran erinnern, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht um- Glos [CDU/CSU]: Oh, wie billig!) gekehrt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen hier über (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Politik, nicht über die Neuroseprobleme von CDU/CSU BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sprechen. Es gibt schwerwiegende politische Herausfor- Wer mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in derungen in Deutschland – nur Ignoranten verdrängen Deutschland über Jahrzehnte Erfolge erzielt und Reich- das –, aber diese Probleme sind lösbar; nur Angsthasen tum erworben hat, der muss auch seine Verantwortung für leugnen das. Deutschland ist ein starkes Land mit großem die Menschen und Regionen in Deutschland sehen. Ver- Potenzial, mit tüchtigen Unternehmern und tüchtigen Un- ehrte Bosse, so viel Patriotismus muss schon sein, dass ternehmerinnen, mit tüchtigen Arbeitnehmern und Ar- man nicht wegläuft, wenn es im eigenen Land einmal an- beitnehmerinnen, mit einer tragfähigen Infrastruktur, mit strengend wird. erstklassigen Forschungseinrichtungen und vielen Paten- ten, mit leistungsfähigen Schulen und Hochschulen, mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einem Wohlstand wie nie zuvor in der Geschichte, mit ei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – nem stabilen sozialstaatlichen Aufbau, mit Menschen, die Michael Glos [CDU/CSU]: Jawohl, Genosse!) zu Anstrengungen bereit sind – der Gegenwart und der In diesen Tagen wird vieles gleichzeitig angemahnt – Zukunftsfähigkeit wegen. mit Recht. Wir wissen: Es wird nicht leicht. Aber die deutschen So- Erstens. Die Konsolidierung des Haushalts muss wei- zialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind voller Zu- tergehen; die Neuverschuldung muss sinken. 2006 muss versicht in die Gestaltbarkeit der Dinge und der Zukunft. die Nettokreditaufnahme des Bundes bei null sein. Ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) möchte Sie an das erinnern, was Sie uns 1998 hinterlassen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 71

Franz Müntefering (A) haben: Das, was wir da geerbt haben, bedeutete, dass wir nen Reihen genau diejenigen befinden, die das System (C) an jedem Tag in Bonn und dann in Berlin 220 Milli- durch illegale Beschäftigung massiv unterlaufen. Die Ver- onen DM Schuldzinsen zu zahlen hatten – nicht Schulden, bände sollten sich um die schwarzen Schafe in ihren ei- sondern Zinsen für Schulden! Das darf so nicht weiter- genen Reihen kümmern. Wenn sie das täten, dann wäre gehen. Wir werden mit dafür sorgen, dass viel gewonnen. Die Verbände sollten zugeben, dass Kün- die Nettokreditaufnahme sinkt; denn wir wollen unseren digungsschutz für Arbeitnehmer und Flächentarife unver- Kindern etwas anderes als Schuldscheine und Hypo- zichtbare Stabilisatoren unserer wirtschaftlichen Ordnung theken vererben. Das bleibt das Ziel unserer Politik. sind und bleiben müssen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN) Konsolidierung des Haushalts, steigende Investitions- Zweitens. Es geht um die Investitionen des Bundes in quote, sinkende Steuern, stabile Sozialversicherungs- Bildung, Forschung und Infrastruktur. Diese Investi- beiträge – das alles bei den gegebenen weltwirtschaft- tionen müssen weitergehen, und zwar mit steigender Ten- lichen Rahmenbedingungen gleichzeitig zu erreichen ist denz. In die Infrastruktur muss auch deshalb investiert nicht leicht, aber möglich. Wir werden das schaffen. Dazu werden, weil wir nicht von der Substanz leben dürfen. müssen alle einen Beitrag leisten, der ihren Möglichkei- Übrigens, die Investitionen des Bundes sind im kommen- ten entspricht. Privilegien werden beschnitten, Ausgaben den Jahr höher als je zuvor: gekürzt, eine gerechte Verteilung der Lasten gesichert. Starke Schultern werden mehr zu tragen haben als ( [CDU/CSU]: Was?) schwächere, damit alle Chancen haben, die Chance auf Sie liegen bei fast 29 Milliarden Euro. Bildung und auf Beschäftigung ganz vorneweg. Deshalb machen wir diese Politik. Drittens. Die Steuern müssen sinken. Das werden sie 2004 und 2005. Das entsprechende Gesetz ist beschlossen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und gilt. Nach Ablauf von sechs Jahren werden wir den DIE GRÜNEN) Eingangssteuersatz von 25,9 Prozent auf 15 Prozent und Zu dieser für die kommenden Jahre dominierenden den Spitzensteuersatz ebenfalls deutlich gesenkt haben. Aufgabe gehört es auch, die Verkrustungen des Fördera- Das ist eine steuerpolitische Großtat, von der Sie nur träu- lismus in unserem Land aufzubrechen und wieder mehr men können. Wir haben die Steuern gesenkt und wir wer- Klarheit über Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten den das auch weiterhin tun. zwischen Bund und Ländern einschließlich Gemeinden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu schaffen. Bürgernähe, Demokratie und moderne Ver- DIE GRÜNEN) waltung brauchen klare Regeln. Die Gemeindefinanz- (B) reform, die in Vorbereitung ist, wird uns dicht an dieses (D) Viertens. Die Lohnnebenkosten müssen sinken. Dafür Thema heranführen. Es wäre gut, wenn jenseits der Ta- zu sorgen ist besonders schwer, weil die Last in Zeiten ho- gesaktualitäten ein zielführendes Nachdenken über die her Arbeitslosigkeit auf wenigen Schultern liegt. Wir wer- Frage begänne, wie sich deutsche Politik in einem unbe- den die Entwicklung der Rentenversicherungs- und der strittenen förderalen System so organisiert, dass sie effi- Krankenversicherungsbeiträge sehr bald gesetzlich stabi- zient und unkompliziert zeitgemäß wirken kann und neue lisieren. Sie alle werden dann Gelegenheit haben, dafür zu Impulse möglich werden. Ich fordere keinen Konvent, stimmen und mit dafür zu sorgen, dass das, was wir alle aber doch einen zielgerichteten Dialog hierzu. Ich hoffe, miteinander wollen, nämlich stabile Lohnnebenkosten, er- dass sich keine Seite des Hauses diesem Dialog entzieht. reicht wird. Man darf gespannt sein, ob diejenigen, die dem Grundsatz heute Beifall zollen, mitmachen, wenn es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ um die Umsetzung in konkrete Maßnahmen geht. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Unabhängig davon werden wir mit unserer Entschei- dung vor allem zu Arbeitsmarkt-, Steuer- und Finanzpoli- Zum Kapitel Lohnnebenkosten gehört auch, dass wir tik jetzt die Basis für die großen politischen Projekte der illegalen Beschäftigung – der am schnellsten wach- schaffen, die wir in dieser Legislaturperiode voranbringen senden Branche überhaupt – noch massiver als bisher den wollen, die sich von dem Motto der Koalitionsvereinba- Kampf ansagen. Ein Bauunternehmer mit 20 Angestell- rung „Erneuerung – Gerechtigkeit – Nachhaltigkeit“ ab- ten, für die er ordnungsgemäß Arbeitnehmer- und Arbeit- leiten. Ein Projekt heißt: Beschäftigung. Beschäftigung geberbeiträge entrichtet, wird von solchen Bauunterneh- schafft Wachstum, Wachstum schafft Beschäftigung. Da- mern ausgetrickst, die durch Ausbeutung illegal ran orientieren wir uns bei der Umsetzung der Hartz-Vor- Beschäftigter die Preise unterbieten. Es darf nicht so blei- schläge und bei der Mittelstandsinitiative. ben, dass die ehrlichen Unternehmer und die ehrlichen Ar- beitnehmer in Deutschland die Dummen sind, während Hartz nimmt den zentralen Gedanken auf, dass die Ar- sich die anderen ins Fäustchen lachen. beit, die es in Deutschland gibt, von denen getan werden muss, die legalerweise in Deutschland sind. Wir können (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten es uns nicht leisten, über 4 Millionen gezählte Arbeitslose, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) über 1 Million offene Stellen und wachsende illegale Be- schäftigung zu akzeptieren. Es verwundert schon, dass die Spitzen der Unterneh- merverbände die Bundesregierung wegen der zu hohen Vermittlung ist nicht alles – klar – aber gezieltere Ver- Lohnnebenkosten attackieren, obwohl sich in ihren eige- mittlung ist schon wichtig. Personal-Service-Agenturen, 72 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Franz Müntefering (A) die Arbeitnehmer auf Zeit vermitteln, sie nicht in die Ar- ist aber offensichtlich, dass die unzureichenden Möglich- (C) beitslosigkeit zurückfallen lassen, sondern sie sozial si- keiten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganz chern und qualifizieren, werden nicht das ganze Problem besonders junge Frauen und Mütter behindern. Das wol- lösen, aber doch zur Lösung beitragen. Kapital für Arbeit len wir ändern. Betreuungsangebote für die Kinder wer- hilft den Arbeitgebern, die Arbeitslose dauerhaft einstel- den verbessert, bei den 0- bis 3-Jährigen im Krippenalter len, ihre Eigenkapitaldecke und ihre Investitionskraft zu und bei den Grundschülern im Hortalter ist der Nachhol- stärken. bedarf besonders groß. Den Ausbau des Angebots an Ganztagsschulen und Krippenplätzen werden wir mit Beschäftigung schaffen, Vermittlung verbessern, kun- Bundesmitteln forcieren. Das ist gut für die Kinder, aber denfreundliche und effiziente Strukturen in der Arbeits- auch für die Eltern. marktpolitik schaffen, das will das Konzept Hartz. Mein Appell geht an das ganze Haus, als Gesetzgeber das rund- Die in anderen Ländern gemachten Erfahrungen leh- um vernünftige Konzept Hartz schnell auf den Weg zu ren: Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeu- bringen. Sie werden in wenigen Tagen dazu alle mitei- tet mehr Kinder, nicht weniger. Das bedeutet im Übrigen nander Gelegenheit haben. auch, das Können und die Kreativität der Frauen stärker als bisher in die Volkswirtschaft einzubeziehen. Eine Er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werbsquote von nur 60 Prozent bei den Frauen im Westen DIE GRÜNEN) der Republik ist zu wenig. Es müssen noch mehr eine Es wird uns wichtige Schritte voranbringen und der Chance bekommen. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dienen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dazu gehört aber auch die Mittelstandsinitiative als DIE GRÜNEN) weiterer zusätzlicher Impuls, der bald realisiert werden Noch etwas zum Thema junge Frauen: Diese müssen muss. Unser Land braucht mehr Unternehmerinnen und mehr Chancen im Bereich der Informations- und Kom- Unternehmer. In der Wissensgesellschaft sind mehr denn munikationstechnologien bekommen. Dass Studienplätze je Menschen gefragt, die den Mut haben, eigene unterneh- in diesem Bereich bisher überwiegend von jungen Män- merische Initiativen und Ideen zu verwirklichen, Verant- nern besetzt werden, ist nicht gut. Frauen beherrschen das wortung zu übernehmen und Arbeitsplätze zu schaffen. Thema und die Technik mindestens genauso gut wie die Wir werden deshalb mit einer neuen Gründerinitiative den Männer. Wir wollen – das steht in unserer Koalitionsver- Sprung in die berufliche Selbstständigkeit fördern und einbarung –, dass bis 2005 Frauen mindestens 40 Prozent begleiten. Es geht um Beratung und Information, um Exis- der Studien- und Ausbildungsplätze in den IT-Berufen tenzgründerlehrstühle, um verbesserte Finanzierung. Dazu einnehmen. So konkret sieht bei uns die Schaffung von gehört auch, den unternehmerischen Generationswechsel Chancengleichheit aus. Das werden wir auch durchsetzen. (B) zu erleichtern und den Berufszugang sowie die Vereinbar- (D) keit von Familie und Beruf zu verbessern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir werden im Handwerksbereich den eingeleiteten Liberalisierungsprozess fortführen und darauf hinwirken, Übrigens gibt es nicht nur bei Frauen auf dem Arbeits- dass das Handwerksrecht einen wirksamen Beitrag zur markt Nachholbedarf, sondern generell auch bei älteren Bekämpfung der Schwarzarbeit erbringen kann. Wir wol- Menschen. Zu den Älteren zählen heute vielfach schon len die erleichterte Betriebsübernahme durch langjährige 50-Jährige und nicht selten noch Jüngere. Wir wollen mit Gesellen und Lockerung des Inhaberprinzips auch bei den entsprechenden Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt dafür Personengesellschaften. sorgen, dass sich das ändert. 55-Jährige gehören nicht in den Vorruhestand. Sie gehören an die Arbeit und können (Beifall bei der SPD) das auch. Existenzgründer werden in den ersten vier Jahren von (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Richtig!) Beiträgen zur Industrie- und Handelskammer freigestellt. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Deutsche Dass in Deutschland das Arbeitsleben im Durchschnitt Ausgleichsbank werden zu einem Förderinstitut zur Un- mit 21 Jahren beginnt und mit circa 59 Jahren endet, hat terstützung der mittelständischen Wirtschaft mit dem Ziel zu schlimmsten Verwerfungen in unserem Sozialstaat ge- kostengünstiger Förderinstrumente zusammengelegt. Die führt. 38 Jahre Lebensarbeitszeit sind zu wenig. Wir Umsetzung der Idee einer Mittelstandsinitiative ist eine werden daran arbeiten müssen, dass man ins Arbeitsleben der zentralen Punkte dieser Bundesregierung für die kom- früher hineinkommt und später aussteigt. mende Legislaturperiode. Das hat die volle Unterstützung Das offizielle Renteneintrittsalter von 65 Jahren muss der SPD-Bundestagsfraktion. nicht erhöht werden. Wer wie Herr Merz das fordert, re- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten det Unsinn. Wer wirklich zu einem Invaliden wird, muss des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sozial abgesichert sein, egal wann er Invalide wird. Mit unseren Maßnahmen kommen wir aber auf ein faktisches Ein Projekt heißt: Deutschland kinder- und familien- Renteneintrittsalter von 62 oder 63 Jahren, nicht mehr wie freundlicher machen. In den vergangenen vier Jahren ha- bisher von 59 Jahren. In den sozialen Sicherungssystemen ben wir in diesem Bereich viel aufgeholt. Es bleibt aber macht das einen riesigen Unterschied aus. Wir müssen die auch noch genug zu tun. Die Familien müssen selbst ent- Trendwende in den kommenden Jahren schaffen. scheiden, wie sie leben und wie sie ihr Leben organisie- ren wollen. Wir machen da niemandem Vorschriften. Die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des eine Lebensform ist genauso viel wert wie jede andere. Es BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 73

Franz Müntefering (A) Auch für die Betroffenen ist das übrigens wichtig. Die al- Ein Projekt heißt: ökologische Modernisierung. Die (C) lermeisten wollen nicht mit 59 oder 55 oder 52 oder noch Naturkatastrophen rücken näher an die Zivilisation heran. früher vom Arbeitsmarkt verdrängt werden; sie wollen ar- Jahrhunderthochwasser sind wahrscheinlich gar keine beiten. Sie können das auch, sie haben Erfahrung, sie ha- Jahrhunderthochwasser mehr. Wir müssen noch massiver ben Wissen. Die Unternehmen in unserem Land müssten Klimaschutz betreiben und den Weg eines vernünftigen verrückt sein, wenn sie diese Altersklasse abschrieben. Energiemix gehen. Diesen Menschen muss eine Chance im Leben und auf dem Arbeitsmarkt gegeben werden. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) In der vergangenen Legislaturperiode haben wir im Deut- schen Bundestag 17-mal über wichtige Umweltgesetze Damit hängt noch ein Weiteres zusammen: Ich höre von abgestimmt. Darunter waren die Gesetze zum Klima- den Unternehmensverbänden, es fehlten Hunderttausende schutz, zu erneuerbaren Energien, zur Nutzung von Sonne qualifizierterArbeitnehmer. Dazu sage ich: Erstens. Bil- und Wind, zur Verstärkung der Kraft-Wärme-Kopplung. den Sie doch aus, Herr Rogowski und Herr Hundt. 15-mal haben CDU/CSU dagegen gestimmt. (Beifall bei der SPD) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Personalentwicklungspolitik ist doch auch Ihre Aufgabe. Hört! Hört!) Zweitens. Vergessen Sie die Älteren nicht und ver- Die Menschen in Deutschland waren gut beraten, dass sie steigen Sie sich nicht auf Zuwanderung als einzige Mög- auch an dieser Stelle uns und nicht dem selbst ernannten lichkeit. Gegen das, was die Kochs und Becksteins da Umweltexperten Stoiber vertrauten. erzählen, ist festzuhalten: Mit unserem Zuwanderungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesetz wird Arbeitsmigration gelenkt und gesteuert und DIE GRÜNEN) nicht ausgeweitet. Es wird kein Mandat für 100 000 Inge- nieure in der Altersklasse zwischen 30 und 35 Jahren von Ein Projekt heißt: das Gesundheitswesen solidarisch or- irgendwo aus der Welt geben, während hier im Land ganisieren und paritätisch finanzieren. Die gesetzliche Ingenieure und qualifizierte Facharbeiter, die älter als Krankenversicherung ist das solidarischste System über- 45 Jahre sind, arbeitslos sind. Dafür werden wir sorgen. haupt. Sie kann nur funktionieren, wenn alle wissen: Viele müssen mehr einzahlen, als sie herausbekommen, damit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einige, die darauf angewiesen sind, mehr an Sachleistung Ein Projekt heißt: die Jungen an die Arbeit. Kluge herausbekommen, als sie eingezahlt haben. So funktio- Kommentatoren vermissen Visionen in unserer Koali- niert das. Aber jeder kann betroffen sein, jeder kann hilfs- tionsvereinbarung. Da steht aber: bedürftig werden, kann auch schon in jungen Jahren auf (B) qualifizierte medizinische Hilfe angewiesen sein. (D) Kein junger Mensch darf nach der Schule in die Ar- beitslosigkeit entlassen werden. Das System kann gesichert werden, wenn alle Betei- ligten mithelfen, seine Effizienz zu verbessern und da zu Wenn das nicht ein Anspruch ist, vielleicht sogar eine sparen, wo es ohne Einschränkung in der Qualität mög- Vision! Es ist nämlich das Schlimmste, was jungen Men- lich ist. Darauf richten sich unsere Bemühungen um eine schen passieren kann, dass sie in der Schule – erfolgreich umfassende Gesundheitsreform. Im Vorgriff darauf wird oder weniger erfolgreich – pauken und nach der Schule es darum gehen, die Versicherungsbeiträge schnell zu sta- die Perspektivlosigkeit folgt. Die jungen Menschen müs- bilisieren. sen die Chance haben, weiter zu lernen und zu studieren. Mehr von ihnen als bisher müssen studieren oder aber Ein Projekt heißt: lebendige Demokratie, offene Ge- eine duale Ausbildung bekommen oder aber anderswie an sellschaft. Ausbildung oder Arbeitsfähigkeit herangeführt werden. Es gibt in unserer Gesellschaft Minderheiten unter- Modulare Ausbildung wird dabei ein größeres Gewicht schiedlichster Art. Sie alle können sich darauf verlassen: So- bekommen; denn eines ist klar: Wer 22 oder 25 Jahre alt lange Sozialdemokraten regieren, solange diese Koalition ist und seinen Tag nie zu strukturieren brauchte, nie or- regiert, werden sie nicht ausgegrenzt, sondern akzeptiert. dentlich zu lernen oder zu arbeiten brauchte, ist für den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Arbeitsmarkt verloren. Politik und Wirtschaft, Städte und DIE GRÜNEN) Arbeitsverwaltung sowie Schulen und Familien sind ge- fordert. Auch die 6 bis 8 Prozent der jungen Menschen, Wir haben in den vergangenen Jahren in Deutschland viele die die Schule ohne Abschluss verlassen, brauchen eine böse Heimsuchungen durch Menschen erlebt, die Minder- Chance, gerade sie. heiten beschimpft und drangsaliert haben, einige bis zum schlimmsten Exzess. Wir wollen in einem Land leben, in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem kein Mensch Angst haben muss, nur weil er anders ist DIE GRÜNEN) als andere, und zwar unabhängig von seiner Hautfarbe, Es wird auch deutlich, wie wichtig es ist, dass unsere Schul- seiner Religion, seiner Herkunft, seiner Eigenart. Das wol- kinder die deutsche Sprache lernen, dass sie sie beherrschen. len wir zusammen mit allen Gutwilligen erreichen: ein Diese Aufgabe beginnt im Vorschulalter und in der Integra- Land der guten Nachbarschaft sein nach innen und nach tionsförderung, aber auch in den Familien, gerade dort. außen, ein Land ohne Bundesprüfstelle für Leitkultur. (Albert Deß [CDU/CSU]: Da gibt es in Nord- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rhein-Westfalen Nachholbedarf!) DIE GRÜNEN) 74 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Franz Müntefering (A) Ein Projekt heißt: Deutschland, ein normales Land in die erste Regierungserklärung dieser Legislaturperiode (C) Europa. Lange Zeit war Deutschland getrennt und wir wirklich bemerkenswert ist. Deutschen in West und in Ost lebten in einer besonderen (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ Situation. Wir hatten ein Vaterland, aber wir lebten in zwei DIE GRÜNEN]: Wo ist Frau Flach, Herr Welten. Unsere Situation war unnormal. Wie tief greifend Westerwelle?) die Entwicklung seit 1990 für unser Land und für uns als Deutsche in diesem Land sein würde, haben wir 1990 Sie haben den Text der Regierungserklärung, der Ihnen vielleicht noch nicht geahnt. aufgeschrieben wurde und der selbst ohne Schwung ist, Jetzt ist Deutschland ein normales Land in Europa ohne Dynamik und ohne Temperament vorgetragen. mit Rechten und Pflichten und in der Verantwortung, sei- (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ nen Beitrag für das Gelingen Europas zu leisten. Bundes- DIE GRÜNEN]: Wo ist Frau Flach, Herr kanzler Gerhard Schröder tut das, selbstbewusst die In- Westerwelle? Wir wollen Frau Flach sehen!) teressen Deutschlands wahrend – das hat sich in den vergangenen Tagen nicht zum ersten Mal gezeigt –, aber So kann man das Land nicht in Schwung bringen. auch darauf bedacht, dass Deutschland seinen Beitrag (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dazu leistet, dass dieses Europa weiter wachsen kann und eine Region des Friedens, der Demokratie und des Wohl- Diese Regierungserklärung war eine Regierungser- stands bleibt. Die Bundesregierung hat dafür unsere Un- klärung der babylonischen Sprachverwirrung. Als ich terstützung. gestern Nacht diesen Text zum ersten Mal lesen konnte, den Sie heute im Stile eines Notars bis auf wenige Ab- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weichungen eins zu eins verlesen haben, ist mir wie dem DIE GRÜNEN) gesamten Bundestag heute ein Wort aufgefallen, das es Vor mehr als zehn Jahren meinten manche in Deutsch- verdient, noch einmal erwähnt zu werden: intelligentes land, die Zeit der Sozialdemokratie sei vorbei, sie habe Sparen. Herr Bundeskanzler, es ist zwar gut, dass Sie, nahezu alles erreicht. Diejenigen, die damals dieser Mei- wenn auch unbeabsichtigt, Ihren Wortwitz in Anbetracht nung waren, haben sich geirrt. Die Sozialdemokraten der Erblast, die Schröder Schröder hinterlassen hat, nicht regieren heute. Wir werden dafür sorgen, dass sich dieses verloren haben. Aber man muss schon fragen: Was heißt Land erneuert; denn die Erneuerung zu gestalten ist drin- eigentlich intelligentes Sparen? Intelligentes Sparen heißt gend notwendig in einer Zeit der Globalisierung, der Eu- für die Deutschen nichts anderes als höhere Steuern, ropäisierung, der tief greifenden demographischen Verän- höhere Abgaben, höhere Schulden und weicher Euro. Sie derung und der neuen Kulturtechniken. Wir sichern dabei haben eine babylonische Sprachverwirrung vorgetragen, (B) soziale Gerechtigkeit. Denn das ist und bleibt der Kern so- aber keine sachliche, vernünftige und konkrete Regie- (D) zialdemokratischer Politik: das Soziale und das Demo- rungserklärung. kratische. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir wissen, dass Politik heute nur gut sein kann, wenn Man muss im Detail nachlesen, was Sie im Koalitions- sie auch morgen und übermorgen gut ist. Nachhaltigkeit vertrag aufgeschrieben haben. Zunächst einmal haben Sie ist für manche nur ein Modewort. Aber sie ist unverzicht- Ihren Koalitionsvertrag mit „Erneuerung – Gerechtigkeit bar. Deshalb gilt für unsere Politik in den kommenden – Nachhaltigkeit“ überschrieben. vier Jahren und, wie wir hoffen, weit darüber hinaus, was über der Koalitionsvereinbarung steht, nämlich das Land (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) zu erneuern, soziale Gerechtigkeit zu sichern und für Das sind ebenfalls drei Worte der babylonischen Sprach- Nachhaltigkeit zu sorgen. Wir wollen zusammen mit den verwirrung. Denn nach rot-grüner Lesart heißen Erneue- Grünen Deutschland voranbringen. Wir nehmen uns viel rung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit Folgendes: Er- vor. Wir werden es schaffen. neuerung heißt bei Ihnen neue Steuern und neue Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Schulden. Gerechtigkeit heißt bei Ihnen: Alle haben die Chance, arbeitslos zu werden. Nachhaltigkeit heißt bei Ih- (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem nen: Solange Rot-Grün regiert, wird es auch so bleiben. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Deswegen ist es notwendig, dass wir auf das hinweisen, was Sie vor der Wahl gesagt haben und was Sie nach der Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Westerwelle, Wahl sagen. Vor der Wahl haben Sie gesagt, die Steuern FDP-Fraktion, das Wort. würden nicht erhöht. Nach der Wahl haben Sie allen mit- (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: teilen müssen, dass die Steuern natürlich erhöht werden. Oh!) (Lothar Mark [SPD]: Was ist mit den 18 Pro- zent?) Dr. Guido Westerwelle (FDP): Vor der Wahl haben Sie gesagt – auch das ist bemerkens- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- wert –, die Abgaben würden nicht steigen. Mittlerweile ren! Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Regierungser- wissen wir, dass alle Abgaben für die sozialen Siche- klärung in einer Geschäftsmäßigkeit abgegeben, die für rungssysteme steigen werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 75

Dr. Guido Westerwelle (A) Vor der Wahl haben Sie davon gesprochen, man dürfe Beitrag sei. In Wahrheit haben Sie dabei vergessen, dass (C) keine Politik zulasten der Jungen machen und dement- Sie damit nur an den Symptomen kurieren werden. Als sprechend dürfe unser Land nicht mit neuen Schulden Herr Hartz im Sommer dieses Jahres das erste Mal mit sei- konfrontiert werden. Mittlerweile wissen wir, dass Sie die nem Konzept an die Öffentlichkeit gegangen ist, Schulden entgegen dem, was Sie sich für die nächsten (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Die erste Fas- Jahre vorgenommen hatten, deutlich erhöhen werden, und sung war gut!) zwar schon nach jetzigem Stand vermutlich um weit mehr als 6 Milliarden Euro. Das ist ein falscher Weg der Regie- da konnte man noch hoffen, dass aus „Hartz“ irgendwann rung und das wird Ihnen zunehmend entgegengehalten. einmal ein Bernstein wird. Mittlerweile haben wir fest- stellen können, dass durch die Intervention Ihrer Gewerk- Wir haben in der letzten Woche bemerkenswerte Kron- schaftsfunktionäre und Ihrer Regierungsmitglieder die zeugen bekommen, die ich Ihrer Aufmerksamkeit emp- notwendigen Strukturmaßnahmen, die seinerzeit von fehle. Nach Ihrer Lesart sind das ja die „Kettenhunde“ der Hartz vorgeschlagen worden sind, weich gespült und aus- Opposition. Die Repräsentanten großer Verbände, die am geblendet wurden. gesellschaftlichen Leben mitwirken, auf dem Bundespar- teitag der SPD als Kettenhunde zu bezeichnen, allein das Der eigentliche Problempunkt ist: Sie drücken sich vor ist schon eine bemerkenswerte Wortwahl. dem, was Deutschland wirklich braucht. Die Regierung geht den Weg der ungeplanten Planwirtschaft, anstatt den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Katrin Weg der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft zu ge- Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE hen. Das wird Ihnen auf die Füße fallen. GRÜNEN]: Sie haben Kettenhunde in Ihrer ei- genen Partei!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- chen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt übrigens einen weiteren Beitrag zur babyloni- schen Sprachverwirrung. Von Herrn Müntefering haben Genauso wie Sie vor der Bundestagswahl zu all unse- wir gerade Entsprechendes gehört. Er hat über Toleranz ge- ren Vorhaltungen gesagt haben, das sei Propaganda der genüber Minderheiten gesprochen und festgestellt, dass sie Opposition, notwendig ist. Aber als bei der Kanzlerwahl eine Stimme (Jörg Tauss [SPD]: 18 Prozent!) aus Ihren Reihen fehlte, haben Sie großspurig hinaus- posaunt: Wir werden den schuldigen Abweichler finden. sagen Sie jetzt vor der Hessenwahl und der Niedersach- senwahl wieder nicht die Wahrheit. Sie werden die Steu- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Übel! – Zurufe ern nach der Hessen- und der Niedersachsenwahl weiter von der SPD: Oh!) erhöhen. (B) Das ist Ihr Parlamentsverständnis und Ihr Toleranzver- (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- (D) ständnis. Es ist ein politischer Treppenwitz, was Sie als NIS 90/DIE GRÜNEN – Katrin Dagmar Göring- politischer Wächter für Kultur hier einbringen. Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie werden nicht mehr im Landtag sein!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeord- neten der CDU/CSU – Widerspruch beim Sie werden an die Mehrwertsteuer herangehen und den BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bürgern noch kräftiger in die Tasche greifen. Deswegen werden wir in diesen beiden Landtagswahlkämpfen auf Ich möchte für Sie aus dem Herbstgutachten der Folgendes aufmerksam machen: Wer sich diesem Abkas- führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, das letzte Wo- sieren entgegenstellen will, wer eine Politik der wirt- che veröffentlicht worden ist, zitieren. Dies muss aus un- schaftlichen Vernunft will, der hat bei den beiden Land- serer Sicht vorgetragen werden. Mögen Sie die führenden tagswahlen die Möglichkeit zu einer schnellen Revanche Wirtschaftsköpfe in unserem Lande auch Kettenhunde gegen Rot-Grün. nennen; sie haben Ihnen die Wahrheit ins Stammbuch ge- schrieben. Wörtlich stand im Herbstgutachten der letzten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- Woche: derspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Koalitionsvereinbarungen zur Anhebung von Steuern und Sozialabgaben sind das Gegenteil des- In der Wirtschafts-, in der Steuer- und in der Finanzpo- sen, was wachstumspolitisch geboten ist. ... Auch litik gibt es keine Perspektive. hier hat sich die Politik in den vergangenen Jahren in (Johannes Kahrs [SPD]: Kümmern Sie sich die falsche Richtung bewegt. mal um die FDP!) Aus meiner Sicht füge ich hinzu: All das, was Sie hier Man sollte sich einmal ansehen, mit welcher Flickschus- zur Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik vor- terei Sie an die Steuersystematik herangegangen sind. Es getragen haben, ist exakt das Gegenteil von dem, was macht schon fast Freude, sich die Details einmal anzu- Deutschland braucht, damit es einen besseren Weg ein- schauen. Wir erleben beispielsweise, dass die Umsatzbe- schlagen kann. steuerung der landwirtschaftlichen Vorprodukte erhöht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wird. Bei der Landwirtschaft findet die Mehrwert- der CDU/CSU) steuererhöhung jetzt schon statt, das haben Sie beschlos- sen. Davon ausgenommen sind die Futterzubereitung für Sie haben ja die Hartz-Kommission als Generallö- Hunde und Katzen sowie Kuchen und Kauspielzeuge für sungsmittel eingeführt, so als ob das der entscheidende Hunde und andere Tiere. 76 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Guido Westerwelle (A) Ich kann Ihnen sagen, wie so etwas zustande kommt. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort (C) Ich habe da so eine Ahnung: Als Rote und Grüne am Ko- Hartz: Hartz immer wieder und überall, alitionstisch zusammengesessen sind, haben sie sich ge- (Jörg Tauss [SPD]: Wie Möllemann!) sagt, die Bauern können wir strafen, sie haben uns nicht gewählt, aber unter den Katzenliebhabern könnte es noch als ob damit irgendjemandem geholfen wäre. Ich trage Ih- ein paar Anhänger geben, deshalb können wir die Steuer nen das Zitat eines weiteren Kettenhundes der Opposi- nicht erhöhen. Das ist Ihre Steuer- und Abgabenpolitik tion, des Altbundeskanzlers – der ist ein ohne Sinn und Verstand, Herr Bundeskanzler. echter Kettenhund der Opposition –, vor. Er sagt in der „Zeit“: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das war alles für Die hartzschen Vorschläge vom Sommer dieses Jah- die Katz! Das ist Steuerpolitik für die Katz!) res gehen in die richtige Richtung, aber sie betreffen höchstens ein Drittel der gebotenen Deregulierung Dann gibt es die Kettenhunde. Ich möchte Ihnen einen des deutschen Arbeitsmarktes. Kettenhund der Opposition vorstellen. (Franz Müntefering [SPD]: Das wäre doch (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ schon was!) DIE GRÜNEN]: Wo ist Herr Möllemann?) Im Bereich der Lohnfindung muss der flächen- – Frau Kollegin, da Sie von den Grünen mit Ihrem Zwi- deckende Tarifvertrag verschwinden, dazu muss im schenruf auf unser Spendenkonto in Nordrhein-Westfalen Tarifvertragsgesetz die Verordnung der Allgemein- anspielen, möchte ich Ihnen Folgendes dazu sagen: Wis- verbindlichkeit gestrichen sen Sie, was der Unterschied ist? Bei uns gibt es einen Vorgang, den wir aufklären, bei Ihnen kann man eine pri- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ein ganz vate Urlaubsreise auf Staatskosten nach Bangkok antreten Schlimmer! Ihr müsst ihn ausschließen!) und wird danach in die Regierung befördert. Das ist der und im Betriebsverfassungsgesetz müssen jene Unterschied in unserem Moralverständnis. Wo ist denn Paragraphen abgeschafft werden, die es den Ge- Herr Schlauch? schäftsleitungen und den Betriebsräten verbieten, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Betriebsvereinbarungen über Löhne, Arbeitszeiten und Bedingungen abzuschließen. Grüne als moralische Instanz? Das ist doch wohl ein Witz. Herrgott, dieser Kettenhund der Opposition, Helmut Ich möchte jetzt auf die Kettenhunde der Opposition Schmidt, hat so Recht, dass Sie endlich einmal auf ihn eingehen, denn das ist ein bemerkenswerter Punkt. hören sollten. Sie werden mit Hartz ein bisschen an den (B) (D) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Symptomen herumdoktern, wie Sie es bis jetzt auch ge- NEN]: Was ist mit Herrn Gerhardt?) macht haben, die Ursachen der Arbeitslosigkeit werden Sie jedoch nicht bekämpfen; denn die Ursache heißt: Ar- Ein Kettenhund der Opposition, der IG-BAU-Chef und beit in Deutschland wird durch zu hohe Steuern und Ab- SPD-Politiker Wiesehügel – er ist ein echter Kettenhund, gaben und zu viel Bürokratie zu teuer. er saß bisher für die Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag –, sagt zu dem, was Sie bei der Eigenheimzu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lage vorhaben, wörtlich: der CDU/CSU) Finger weg von der Eigenheimzulage! Rot-Grün ris- Sie stehen für mehr Steuern, für mehr Abgaben und für kiert, zehntausende Jobs in der Baubranche wegzu- mehr Bürokratie. Das ist genau der Weg, der in Deutsch- sparen. Normalverdiener verlieren die Möglichkeit, land gestoppt werden muss. der Mietspirale zu entkommen und privates Wohnei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gentum zu bilden. der CDU/CSU) So schnell fällt Ihr Lügengebäude zusammen, denn in Sie haben mittlerweile einige Beschlüsse gefasst. Ich Wahrheit machen Sie keine Politik für Familien. Was ist habe sie gelesen und gebe zu, dass mir eine Passage auch das für eine Familienpolitik, wenn man künftig ein Ei- deshalb besonders aufgefallen ist, weil sie ausgerechnet in genheim nur noch mit Zulage bauen kann, wenn man der zweiten oder dritten Zeile auf der Seite 18 Ihres Ko- sechs Kinder hat und in einen Neubau einziehen will? Das alitionsvertrags stand. Da ist Bemerkenswertes enthalten. ist doch keine Familienpolitik. Wir müssen allen Familien mit Kindern helfen, wir müssen alle, die mit Kindern zu- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE sammenleben, finanziell entlasten. GRÜNEN]: Das tut ja weh!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dort schreiben Sie allen Ernstes nicht nur, dass Sie die Abgaben erhöhen wollen – vor der Wahl war dies alles Sie gehen den Weg der Bestrafung von Familien und Be- nicht wahr –, sondern Sie schreiben auch hinein, dass Sie ziehern kleiner Einkommen. noch weiter an die Schwankungsreserve der Renten ge- Entscheidend ist auch, dass Sie sich vor notwendigen hen wollen. Die Bürgerinnen und Bürger, die uns jetzt zuschauen, wissen vielleicht nicht, was sich dahinter ver- Strukturreformen drücken. steckt. Ich möchte es ihnen sagen: Die Schwankungsre- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: serve ist nichts anderes als der Notgroschen, den man für Völliger Unsinn!) die Rente braucht. Mit Ihrer Politik gehen Sie an diesen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 77

Dr. Guido Westerwelle (A) Notgroschen der Rente. Sie verschulden die Rente. Dies nächst Mitglied der Europäischen Union. Solange in tür- (C) ist eine Katastrophe für Deutschland und für die Rentne- kischen Gefängnissen gefoltert wird, kann der Türkei rinnen und Rentner. doch nicht allen Ernstes durch solche unbedachten Äuße- rungen von Ihnen eine konkrete Beitrittsperspektive ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Horst geben werden. Kubatschka [SPD]: Das stimmt doch nicht!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nun zu Bundesfinanzminister Hans Pinocchio Eichel, der vor der Wahl erzählt hat: Die 3 Prozent werden wir Wo ist denn Ihr Eintreten für Menschenrechte geblieben? nicht reißen. – Ich saß gemeinsam mit Herrn Kollegen Nun ein letzter und entscheidender Punkt: Zur Bundes- Merz und Ihnen wenige Wochen vor der Wahl in einer wehr haben Sie gesagt, was alles getan werden muss, und Fernsehsendung. Dort haben wir Ihnen gesagt: Sie wer- Sie haben der Bundeswehr für ihre Aufgabenerfüllung ge- den natürlich die 3 Prozent reißen. dankt. Dies ist wohl wahr. Aber über das rhetorische Be- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Er hat es kenntnis zur Bundeswehr sind Sie nie hinausgekommen. gewusst!) Vor der Wahl hieß es – von Herrn Struck initiiert –: Solda- ten für Schröder. Nach der Wahl heißt es: Schröder gegen – Sie haben es gewusst und gesagt, dies sei alles Propa- ganda der Kettenhunde der Opposition. Soldaten. Sie kürzen weiter und weiten gleichzeitig die Aufgaben der Bundeswehr aus. Dies ist nicht in Ordnung. Mittlerweile kann man erkennen, dass Sie in der Tat den Wählern vorher die Unwahrheit gesagt haben. Des- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wegen sagen wir Ihnen, Herr Bundeskanzler: Bei einer Herr Bundeskanzler, Sie haben in Richtung der Oppo- flexiblen Auslegung der Stabilitätskriterien, von der Sie sition gesagt: Sie saßen da, Sie sitzen da und Sie werden jetzt sprechen, bekommen Sie den Widerstand der Oppo- da sitzen bleiben. Ich sage Ihnen: Sie saßen da, Sie sitzen sition zu spüren. Wir wollen einen Euro, der so stabil ist da, aber Sie werden da so gemütlich nicht sitzen bleiben. und bleibt, wie es die D-Mark war. Wir wollen keinen Dies werden Ihnen die nächsten beiden Landtagswahlen Euro nach dem Vorbild der italienischen Lira. Genau da- und einige danach noch zeigen. Die Leute haben gemerkt, hin geht aber Ihre Politik mittel- und langfristig, weil die dass Sie mit Lug und Trug, mit der Vorspiegelung falscher anderen Länder nachmachen werden, was Deutschland Tatsachen zu Ihrer knappen Mehrheit gelangt sind, meine und Frankreich an Verletzung der Kriterien vormachen. sehr geehrten Damen und Herren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rainer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Fornahl [SPD]: So ein Schwachsinn!) Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Frau Kollegin Merkel hat in ihrer bemerkenswerten GRÜNEN]: Und das von der FDP! – Jörg Tauss (B) Rede zur Außenpolitik [SPD]: 18 Prozent: Lug und Trug! – Dr. Uwe (D) Küster [SPD]: Das war der Lug-und-Trug-Spre- (Lachen bei der SPD) cher!) – in ihrer außergewöhnlich bemerkenswerten Rede; dies hat Ihnen nicht gepasst, aber es muss einmal gesagt wer- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: den – Das Wort hat der Kollege Fischer, Bundesminister des (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Auswärtigen, Bündnis 90/Die Grünen. Tauss [SPD]: Der Merz war besser! Der Merz war immer besser!) Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: schon vieles gesagt und ich will dazu nur zwei Sachen nachtragen: Ich glaube, es ist schon ein bemerkenswerter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- Vorgang, dass Sie vor einer Wahl mit der Angst vor einem lege Westerwelle, von Sprachverwirrung konnte ich bei Krieg, mit Antiamerikanismus Wahlkampf gemacht ha- Ihnen nichts feststellen; Sie sprachen deutsch. Aber ich ben. Mit Antiamerikanismus und dem Schüren der Angst frage mich: In welcher Realität sind Sie eigentlich zu vor einem Krieg sind Sie an die Macht gekommen. Sie ha- Hause, wenn Sie hier der Bundesregierung und der Ko- ben andere in der Öffentlichkeit mehr oder weniger als alition Lug und Trug vorwerfen? Das sagt einer der Kriegstreiber dargestellt. Hauptprotagonisten des Projekts 18, (Jörg Tauss [SPD]: Antisemitische Flugblätter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verteilen!) das sagt ausgerechnet derjenige, der hier meinte, mit einer Dies war schäbig. Mittlerweile sieht man auch, welchen Politik vorankommen zu können, die sich nicht zu schade Schaden Sie damit angerichtet haben. war, Antisemitismus und antisemitische Stimmungen zu mobilisieren. Sie haben jetzt den außenpolitischen Schaden wieder gutzumachen, den Sie angerichtet haben. Hierzu nenne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich das Beispiel Türkei. und bei der SPD) (Horst Kubatschka [SPD]: Das sagen Sie von Von so jemandem wird Wahrheit und Klarheit eingefor- der FDP!) dert. Es ist doch schlechterdings unvorstellbar, dass man der Es rentiert sich eigentlich nicht, auf diese Rede weiter Türkei jetzt mit konkreten Daten sagt: Ihr werdet dem- einzugehen. Allerdings lohnt es sich, etwas zu der Frage 78 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundesminister Joseph Fischer (A) der politischen Kultur in diesem Lande zu sagen. Das wer- Djerba, angesichts von Bali oder auch angesichts des (C) den Sie nicht hinbekommen, Herr Westerwelle, indem Sie jüngsten tschetschenischen Terrors wirklich gut beraten sagen, Möllemann sei der allein Verantwortliche; die FDP sind, hier eine Prioritätenveränderung vorzunehmen. Ich und der Vorsitzende der FDP hätten mit der Strategie des meine, nein. Der Terrorismus ist die große strategische kalkulierten Wahnsinns, wie die „FAZ“ es genannt hat, Bedrohung für uns. Aber den Antworten darauf muss im nichts zu tun. Sinne des Bundeskanzlers ein umfassender Sicherheits- begriff zugrunde liegen; man darf hier nicht versuchen, Ich werde nie das nette und kesse Sprüchlein – dafür durch Lippenbekenntnisse einen innenpolitischen Vorteil sind Sie ja immer gut – vergessen, das Sie damals auf dem zu erlangen. Auch dazu haben Sie bis zur Stunde keine FDP-Parteitag in der Auseinandersetzung mit Herrn Antwort gegeben. Möllemann formuliert haben: Auf allem, was da dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt, und das bin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich, Guido Westerwelle. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Stattdessen haben Sie, Frau Merkel – das sollten Sie ru- hig weiterhin machen –, aus Ihrer Rede eine Fragestunde Aber es rentiert sich nicht, weiter darauf einzugehen. gemacht, in der Sie Fragen an die Bundesregierung ge- Die entscheidende Frage ist die Herausforderung, vor der stellt haben. Das fand ich sehr bemerkenswert. Das heißt, unser Land, vor der wir tatsächlich stehen. Frau Merkel, Sie nehmen die Oppositionsrolle an; die Opposition fragt Sie sind vorhin noch einmal auf die Bundestagswahlen zu und die Regierung muss darauf antworten. sprechen gekommen. Mir wird, nachdem ich Ihrer Rede zugehört habe, sehr klar, warum Sie diese Wahlen verlo- Aber das wird zur Gestaltung der Zukunft unseres Lan- ren haben. des nicht reichen. Die Koalition hat hier eine klare Posi- tion. Wir müssen Erneuerung, Wachstum, Nachhaltigkeit (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) und Gerechtigkeit für unser Land erreichen. In der Die Opposition kann die Regierung in der jetzigen Situa- gegenwärtigen negativen wirtschaftlichen Entwicklung tion kritisieren; das verstehe ich wohl. Das ist Ihre Pflicht, werden die Probleme und Schwachstellen in unserem die Sie freudig erfüllen. – Das „freudig“ streichen wir, das Wirtschaftssystem und unserem Sozialsystem, die wir seit ist natürlich nicht wahr, das wissen Sie so gut wie ich; Sie langem mit uns herumschleppen, offen gelegt. Deswegen würden lieber auf der Regierungsbank sitzen. Aber Sie ha- müssen wir sie anpacken. Es hätte mich gefreut, wenn Sie ben die Wahlen verloren, weil Sie in Ihrer Rede wie im mit Blick auf die Wirtschaftskrise etwas zu Ihren alter- Wahlkampf nicht die alternativen Vorstellungen der nativen Konzepten gesagt hätten. Union, was in diesem Land konkret anders gemacht wer- Was sind denn die konkreten Antworten in dieser Si- (B) den soll, dargestellt haben. tuation? Wie geht die Union denn mit der Tatsache um, (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass es allein im Bundeshaushalt – von den anderen staat- und bei der SPD) lichen Ebenen rede ich erst gar nicht – ein Defizit von annähernd 14 Milliarden Euro gibt? Wie soll dieses Loch Sie haben keine eigene Antwort gebracht – von Herrn denn geschlossen werden? Denkt die Union an Steuerer- Westerwelle rede ich da gar nicht –, weder auf die Frage höhungen? Ist das ihr Konzept? Oder spricht sie von der gerechten Gestaltung der Globalisierung und Deutsch- Einsparungen? In diesem Fall würde es uns interessieren, lands Rolle in diesem Zusammenhang noch auf die Krise wo sie Einsparungsalternativen sieht. Die Koalition hat der Weltwirtschaft. Sie können die Regierung trefflich hierzu ihre Vorstellungen klar auf den Tisch gelegt. Oder kritisieren; aber Sie können nicht ignorieren, dass es kein ist die Union vielleicht für Leistungskürzungen? Dann Spezifikum der bundesrepublikanischen Wirtschaft ist, sollten Sie, Frau Merkel, hier im Deutschen Bundestag sa- sondern im gesamten EU-Raum, in den Vereinigten Staa- gen, dass Sie zum Beispiel die Renten kürzen wollen und ten und in Japan so ist, dass wir mit einer krisenhaften wenn, in welcher Größenordnung. Entwicklung der Weltwirtschaft rechnen müssen. Sie ha- ben dazu nichts gesagt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Mich würde einmal interessieren, wie die Antwort der Union darauf ist. Wenn wir Wachstumszahlen zwischen Eine solche Diskussion macht nur dann Sinn, wenn wir 0,2 und 0,6 Prozent schreiben, können wir dann noch die- konkret werden. Die Koalition ist konkret geworden. Als selben Antworten geben wie bei Wachstumszahlen über erste unmittelbare Reaktion auf den Koalitionsvertrag er- 1 Prozent, 2 Prozent oder gar 3 Prozent? Ich behaupte, se- leben wir jetzt, dass alle Interessengruppen aufschreien. riöse Politik kann das nicht. Von der Opposition muss man Das ist in einer Demokratie aber auch völlig legitim. verlangen können, dass sie sich hierzu äußert. Als ich von den Koalitionsverhandlungen nach Hause (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ging, begegnete ich einem Apotheker. Er hielt mich an und bei der SPD) und sagte mir: Das könnt ihr doch nicht allen Ernstes be- schließen. Ich fragte ihn: Was? Er antwortete nur: Das, Schließlich zu der Frage – das werden wir im außen- was ihr in eurem Vorschaltgesetz vorhabt. Ich habe ihn ge- politischen Teil noch etwas ausführlicher zu debattieren fragt, was wir denn genau vorhätten. Es stellte sich he- haben – der terroristischen Bedrohung. In diesem Zu- raus: Er hat jahrelang die Legende geglaubt, dass es Wind- sammenhang wünsche ich mir eine Aussprache darüber, fall-Profite für die deutsche Pharmaindustrie geben soll. ob der Irak in der Tat das zentrale Problem ist, ob wir an- Deswegen dürften wir nicht den Handel über Internet ein- gesichts des 11. September letzten Jahres, angesichts von führen und hätten am Forschungsstandort Deutschland Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 79

Bundesminister Joseph Fischer (A) höhere Preise. Sieht man sich die Situation in anderen im Steuersystem. Aber wehe, man geht einen konkreten (C) Ländern an, so stellt man aber fest, dass an den Punkt an: Dann kommt eine Interessengruppe und sagt, Forschungsstandorten Großbritannien, Japan und USA das sei eine Steuererhöhung. Natürlich ist der Abbau von kräftig geforscht wird, teilweise auch von deutschen Un- Subventionen keine Steuersenkung. Für denjenigen, der ternehmen in Größenordnungen, die beachtlich sind. Ich die Subvention bekommt, ob es nun ein halber Mehrwert- höre aber nicht, dass dort die Preise höher sind. steuersatz ist oder ein Fördersteuersatz, wirkt der Abbau Deswegen frage ich Sie ganz konkret: Wird die Union natürlich belastend. Aber das ist mehr oder weniger die etwas gegen die Freigabe des Internethandels einwen- Konsequenz eines solchen Abbaus staatlicher Leistungen. den? Haben Sie etwas dagegen, dass zum Beispiel das Wir haben die Erfahrung gemacht – das galt heute auch Verbot des Mehrfacheigentums an Apotheken angegan- für Frau Merkel –, dass Sie sich hinstellen und sagen, gen wird? Oder ich frage Sie nach dem Monopol der Kas- einerseits würden wir zu wenig an Subventionen abbauen, senärztlichen Vereinigungen. Man lernt hier ja einiges. andererseits würden unsere Maßnahmen aber höhere Be- Wollen wir dieses Monopol tatsächlich infrage stellen? lastungen für die Menschen bedeuten. Sie müssen schon Soll die Wahlfreiheit von Kassenpatienten – hier spricht sagen, wie Sie es gerne hätten, gnädige Frau. ein Kassenpatient – auch in Zukunft in den Händen der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kassenärztlichen Vereinigungen bleiben oder wollen und bei der SPD) wir darüber hinausgehen und direkte Beziehungen zwi- Ich komme zurück zu Hartz. Der entscheidende Punkt schen Ärzten und den Kassen ermöglichen, um somit kos- ist: Der Arbeitsmarkt ist bei uns in der Bundesrepublik tengünstigere Strukturen zu schaffen? Das sind Fragen, Deutschland so gestaltet, dass bei einem Wachstum von auf die wir uns auch von Ihnen Antworten wünschen etwa 2 Prozent und mehr eingestellt wird. Bei unseren würden. Wir hätten heute gerne die Position der Opposi- Nachbarländern, die früher notwendige Reformen ange- tion gehört. packt haben, wurde diese Eintrittsschwelle des Wieder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einstellens gesenkt. Genau um diese Aufgabe wird es in und bei der SPD) Zukunft gehen. Ich sage Ihnen: Die Reform des Arbeits- marktes ist für die Koalition der strategische Ansatzpunkt, Ich komme nun zu der entscheidenden Problematik, um die Systeme der sozialen Sicherung zu erneuern und mit der wir es zu tun haben. Reden wir also nicht darum zu entlasten, um unseren Sozialstaat neu zu gestalten und herum. Der Bundeskanzler hat zu Recht auf den 9. No- um die Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen. vember 1989 hingewiesen. Die deutsche Einheit ist ein großes Glück für unser Land. Aber es ist zugleich eine Ich möchte Ihnen jetzt kurz erläutern, worin der strate- langfristige Herausforderung, die Folgen von Nationalso- gische Ansatz liegt: Gegenwärtig ist die Situation so, dass (B) zialismus, Zweitem Weltkrieg und vier Jahrzehnten deut- es aufgrund des konjunkturellen Wegbrechens der Welt- (D) scher Teilung zu überwinden. Dass die bundesrepublika- wirtschaft ab dem Frühsommer des letzten Jahres trotz der nische Volkswirtschaft diese großen Herausforderungen Zuzahlung über die Ökosteuer – etwa bei den Rentenver- stemmen kann, zeigt, wie stark sie tatsächlich ist. sicherungen und dem Staatsanteil – zu einer Überwölbung gekommen ist, sodass die Arbeitslosigkeit die Reformen, Doch es führt umgekehrt kein Weg daran vorbei, zu be- die wir angepackt haben, aufzufressen droht oder bereits greifen, was der Aufbau Ost, der eine langfristige He- aufgefressen hat. rausforderung darstellt, die nur die Bundesrepublik Deutschland im EU-Wirtschaftsraum hat, tatsächlich be- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Unfug!) deutet. Für diese Herausforderung sind wir dankbar. Aber – Herr Merz, es ist überhaupt kein Unfug, dass es auf- wir müssen doch auch begreifen, dass deswegen diese grund der steigenden Arbeitslosigkeit zu höheren Belas- ganzen Schlusslicht-Debatten hinken. Bedeutende Mit- tungen kommt – Sie können das pro Hunderttausend so- gliedstaaten der Europäischen Union, die 1 Prozent ihres gar quantifizieren – und dass diese Belastungen Bruttoinlandsprodukts durch Transfers von Brüssel be- entsprechend negativ wirken. kommen und gleichzeitig meinen, uns Ratschläge geben zu können, sollten das angesichts dieser Sondersituation, (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das hat mit der in der wir uns befinden, besser sein lassen. Wir werden die Weltwirtschaft nichts zu tun!) Erneuerung anpacken, wissend, dass wir mit dem Zusam- – Entschuldigung, das Wegbrechen der Konjunktur im menwachsen unseres Landes eine Sonderherausforderung Frühjahr letzten Jahres – – Die Bundestagswahlen sind langfristiger Natur zu stemmen haben. Das werden wir jetzt doch vorbei. schaffen. Das versprechen wir den Menschen in den neuen Bundesländern. (Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Selbst von einem Weltökonomen wie Ihnen kann jetzt, und bei der SPD) nach den Bundestagswahlen, doch anerkannt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland bezogen auf die Ich komme auf Hartz zu sprechen. Was ist das Problem Wachstumszahlen in der EU nicht mehr Schlusslicht ist, des deutschen Arbeitsmarktes? Es wird immer so schön sondern dass wir uns mit unseren niedrigen Wachstums- darüber geredet und gesagt, der Arbeitsmarkt sei zu stark zahlen im unteren Mittelfeld bewegen. Das kann doch reguliert. Wir haben nicht nur hinsichtlich der Debatte auch der Weltökonom Merz nicht abstreiten. über den Arbeitsmarkt, sondern auch im Zusammenhang mit unserem Steuersystem die Erfahrung gemacht, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und alle sagen, wir brauchten den Abbau von Subventionen bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU) 80 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundesminister Joseph Fischer (A) – Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie sich so aufre- Entwicklung, unter vielen Gesichtspunkten immer als (C) gen. großes Vorbild hingestellt. Damit ich nicht missverstan- den werde: Ich behaupte gar nicht, dass wir Amerika ko- (Michael Glos [CDU/CSU]: Wer regt sich pieren können. Der kulturelle und der historische Hinter- denn auf?) grund im Europa der Nationalstaaten ist nämlich anders. – Ich verstehe es wirklich nicht. Die Zuwanderung ist aber einer der wesentlichen dyna- mischen Wachstumsfaktoren der amerikanischen Volks- (Michael Glos [CDU/CSU]: Brüllen Sie doch wirtschaft. Das wollen wir nicht vergessen. nicht so herum!) Mit Ihrer im Grunde genommen reaktionären Position Insofern kann ich an diesem Punkt nur sagen: Der ent- meinen Sie gegenwärtig bei den Menschen in diesem scheidende strategische Ansatz ist, dass wir die Einstel- Land Stimmungen und Ängste mobilisieren und gegen lungsschwelle durch diese Reformen am Arbeitsmarkt das Zuwanderungsgesetz polemisieren zu können. Dazu nach unten senken. kann ich Ihnen nur sagen: Wenn das Ihre Position ist, dann (Albert Deß [CDU/CSU]: Ich glaube Ihnen, haben Sie mit Wachstum und Zukunftsfähigkeit in unse- dass Sie von Wirtschaftspolitik nichts verste- rem Land wirklich nicht viel zu tun; genau damit sind Sie hen!) gescheitert. Meines Erachtens hat das Hartz-Konzept hierzu drei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wesentliche Elemente. Uns würden die Argumente inte- und bei der SPD) ressieren, die Sie diesen entgegenzusetzen haben. Ein weiterer Punkt. Neben der strukturellen Erneue- Als Erstes schaffen wir mit der Umsetzung des Hartz- rung, neben der Konsolidierung, neben dem Kampf gegen Konzeptes sozusagen ein Arbeitslosengeld Teil 2. Damit die Arbeitslosigkeit ist die Frage der strategischen Zu- werden wir eine Entlastung des kommunalen Bereichs er- kunftsinvestitionen von entscheidender Bedeutung. Diese möglichen und somit die Investitionsmöglichkeiten ge- strategischen Zukunftsinvestitionen betreffen vor allen rade auf der kommunalen Ebene erhöhen. Dingen den ökologischen Bereich. Damit führen wir fort, was wir in den ersten vier Jahren angepackt haben. Mit der Möglichkeit, von der Arbeitslosigkeit leichter in die Selbstständigkeit zu kommen, bieten wir – zwei- Die ökologische Erneuerung ist wichtig, weil jetzt tens – gleichzeitig nicht nur Anreize zur Aufnahme von klar wird, dass wir es beim Klimaschutz nicht mit einem Arbeit, sondern wir schaffen vor allen Dingen ein Stück theoretischen Problem zu tun haben. Gleichzeitig müssen weit auch die Möglichkeit, legale Arbeit wieder aufzu- wir neue Beschäftigungsfelder erschließen. Das heißt, wir nehmen. Das ist in vielen Bereichen von entscheidender müssen Klimaschutz auch unter beschäftigungspoliti- (B) Bedeutung. schen und wettbewerblichen Gesichtspunkten für den (D) Standort Deutschland als unternehmerisches Problem an- Der dritte und wichtigste Punkt in diesem Zusammen- packen. Genau das tun wir mit der Umsetzung der Koali- hang wird das Förderprogramm in Verbindung mit der Re- tionsvereinbarung. form der Bundesanstalt für Arbeit sein. Wir müssen die Leiharbeit ausweiten. Damit schaffen wir die Möglichkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eines flexibleren Arbeitsmarktes, wodurch die Einstellungs- und bei der SPD) schwelle insgesamt nach unten gebracht werden kann. Die ökologische Erneuerung ist für uns im Verkehrsbe- Für uns ist das der erste und zentrale Schritt. Ich denke, reich und im Energiebereich von zentraler Bedeutung. das ist ein wichtiger Schritt, den Sie nicht kleinreden kön- Genau damit werden wir auch fortfahren. nen, und ein wichtiger und entscheidender Ansatz. Noch wichtiger ist angesichts der demographischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entwicklung, aber auch eines veränderten Rollenver- und bei der SPD) ständnisses gerade junger Frauen – dieses Thema ist Ih- nen im Wahlkampf um die Ohren geflogen, deswegen Ich habe es vorhin, bezogen auf die Gesundheitsre- führen Sie die Strategiedebatte vor allen Dingen an die- form, schon gesagt: Ich bin wirklich gespannt, wie Ihre sem Punkt –, dass die Vereinbarkeit von Kindern und Interessenvertretung im Parlament – wenn die Vorschläge Beruf in Deutschland nicht mehr allein bei den jungen im Zusammenhang mit dem Vorschaltgesetz auf dem Frauen abgeladen wird, wie es bis heute die Realität ist. Tisch liegen – zum Tragen kommt. Das haben wir klipp und klar gesagt. (Michael Glos [CDU/CSU]: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Herr Dr. h. c. Fischer!) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ich bin gespannt, ob Sie im Interesse des Allgemeinwohls Deswegen werden wir für Kinder von null bis drei Jah- handeln oder ob Sie gruppenspezifische Interessen ver- ren einen flächendeckenden Versorgungsgrad von 20 Pro- treten werden. zent in der Bundesrepublik Deutschland durchsetzen. Der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bund lässt sich hier in die Pflicht nehmen. Wir werden ei- und bei der SPD) nen solchen Versorgungsgrad gesetzlich festschreiben. Dieses Gesetz wird hier im Bundestag beschlossen wer- Dasselbe gilt für den Bürokratieabbau. den. Das ist der Einstieg in ein kinderfreundliches Ich würde gerne noch den Punkt Zuwanderung an- Deutschland, in dem es nicht mehr darum geht, diesen Be- sprechen. Amerika wird, bezogen auf die wirtschaftliche reich zu privatisieren und an einem antiquierten Rollen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 81

Bundesminister Joseph Fischer (A) verständnis von Frauen festzuhalten. Wir wollen vielmehr Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) Ja zu Kindern und gleichzeitig Ja zu Beruf und Karriere Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Friedrich vor allen Dingen für junge Frauen sagen, damit es für Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. diese in Zukunft einfacher wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Friedrich Merz (CDU/CSU): und bei der SPD) Herr Bundesaußenminister, ich habe mich die ganze Das ist nur einer der Punkte; denn es soll weitergehen. Zeit gefragt, warum eigentlich Sie in dieser Debatte zur Das Gesetz betreffend die Betreuung von Kindern zwi- Wirtschaftspolitik sprechen und kein einziger Vertreter schen drei und sechs Jahren existiert bereits. Wir wollen Ihrer Fraktion, der doppelten Doppelspitze der Grünen, aber auch den Bereich der Vorschule, das Heranführen an hier sprechen darf. die Schule angehen. Dabei ist die Frage, ob die notwendi- gen Deutschkenntnisse vorhanden sind, für die volle Par- (Zurufe von der CDU/CSU: Ja!) tizipation von entscheidender Bedeutung. Anschließend Aber das ist ein anderes Thema. wollen wir das Thema Ganztagsschule anpacken. All das halte ich für die entscheidende gesellschaftliche Reform. Ich möchte Ihnen, weil Sie morgen auf einer Aus- landsreise sein werden und weil ich dazu auch mehrere Zukunftsfähigkeit macht sich an der Frage eines kin- Zwischenrufe gemacht habe, auf einen Ihrer Punkte kurz derfreundlichen Deutschlands fest. Zusammen mit der erwidern und Ihnen zu dem, was Sie zum Thema Welt- strategischen Zukunftsinvestition, der ökologischen Er- wirtschaft behauptet haben, etwas sagen. Herr Fischer, Sie neuerung, den Strukturerneuerungen, die wir angegangen und die Regierung werden in diesen Wochen nicht mit den sind und noch angehen werden, der Reform im Bereich Problemen der Weltwirtschaft konfrontiert, sondern Sie des Arbeitsmarktes, der Rente und der Gesundheit sowie sind mit den Versäumnissen der rot-grünen Wirt- einer weiteren Konsolidierung ist dies das Programm, für schafts- und Finanzpolitik der letzten vier Jahre kon- das die Koalition konkret steht. Das meinen wir mit Er- frontiert. Das ist die Wahrheit. neuerung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Das ist die Politik, die wir für unser Land in den kommenden vier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jahren umsetzen wollen. Sie können sich nicht mehr mit allen möglichen Entwick- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lungen herausreden. und bei der SPD) Wir haben Ihnen vier Jahre lang in diesem Parlament Frau Merkel, Sie haben es uns heute – jenseits Ihrer vorausgesagt, dass Sie mit der Wirtschafts- und Finanz- Angriffe – bei den Alternativen einfach gemacht. politik dieser Bundesregierung das Schlusslicht in der Eu- (B) ropäischen Union werden und dass Sie das Wachstum in (D) (Jörg Tauss [SPD]: Das war enttäuschend!) diesem Lande zerstören. Wenn es eines Beweises bedurft In dem Streit zwischen Regierung und Opposition, sosehr hätte, dass das, was wir gesagt haben, richtig ist, dann ist ich ihn auch liebe und sosehr ich es auch liebe, zuzuspit- es das Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute in der zen – das gehört dazu –, muss eine Alternative aufgezeigt letzten Woche gewesen. Diese haben Ihnen gesagt, dass werden. Wenn die Grundanalyse richtig ist – von dem Be- allein die Politik der rot-grünen Bundesregierung uns im fund gehen auch Sie aus, Frau Merkel –, nächsten Jahr 0,5 Prozent Wachstum kosten wird. (Dr. [CDU/CSU]: Das Problem – ich wiederhole es – hat einen Namen. Seien Sie ein bisschen leiser!) Das Problem ist nicht die Weltwirtschaft, der Name des Problems ist Rot-Grün. Herr Fischer, dazu hätten Sie dass wir es in der Tat national wie international mit einer heute etwas sagen müssen, statt die Opposition und unsere sehr fordernden Situation zu tun haben, dann wird die de- Fraktionsvorsitzende in einer geradezu unflätigen Art und mokratische Auseinandersetzung vor allen Dingen um die Weise zu beschimpfen, wie Sie es getan haben. Alternativen stattfinden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Michael Glos [CDU/CSU]: Bei Ihnen durch Widerspruch bei der SPD) die Lautstärke! – Joachim Poß [SPD]: Nur kein Neid!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: – Herr Glos, dazu kann ich Ihnen nur sagen: An Alterna- tiven – insofern sind Sie über die Wahlnacht noch nicht Zur Erwiderung erhält der Kollege Fischer das Wort. hinausgekommen – haben Sie zum Programm der Koali- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Nehmen Sie tion bis heute nichts geboten. die Hand aus der Hosentasche!) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Programm ist eine anspruchsvolle Bezeichnung!) Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Ich sage: Unser Land ist dringend erneuerungsbedürf- Herr Merz, ich enthalte mich jetzt jeder Polemik, tig. Dafür haben wir den Auftrag. Sie haben den Auftrag, sich in der Opposition zu erneuern. Dafür müssen Sie aber (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja was noch kräftig zulegen, Frau Merkel. ganz Neues!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN warum Sie meinen, ich hätte die Opposition unflätig be- und bei der SPD) schimpft. Lassen wir das! 82 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundesminister Joseph Fischer (A) Für mich geht es um etwas anderes. Sie können doch Wir haben gerade gehört, wir könnten Schwierigkeiten (C) nicht alle strukturellen Verwerfungen in der Versiche- nicht bewältigen. Dann sollten diejenigen, die die Schwie- rungslandschaft – die gibt es nicht nur bei uns, sondern im rigkeiten verursacht haben und uns 1998 einen Scherben- gesamten EU-Raum – und im Banken- und Finanzsys- haufen hinterlassen haben, einmal gucken, was sie alles tem – ich könnte Ihnen da nicht nur Banken, die in rot- angerichtet haben. Sich heute hinzustellen und so zu tun, grün regierten Ländern zu Hause sind, nennen, sondern als hätten wir in vier Jahren das aufräumen können, was auch welche in tiefschwarz regierten Ländern –, wenn Sie in 16 Jahren kaputtgemacht wurde, das ist ein bisschen zu seriös bleiben wollen, Herr Merz, einfach. (Jörg Tauss [SPD]: Kann er nicht!) (Beifall bei der SPD – Lachen bei der bei der rot-grünen Bundesregierung abladen. CDU/CSU) (Zuruf des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]) Die rot-grüne Koalition wird ihre Arbeit in der 15. Wahlperiode fortsetzen. Dazu haben die Wählerinnen – Ich versuche jetzt, eine Antwort auf Herrn Merz und und Wähler in den neuen Bundesländern einen wichtigen nicht auf Herrn Glos zu geben. und wesentlichen Beitrag geleistet. Sicherlich haben viele Ich kann Ihnen nur sagen: Sie können doch den Zu- von diesen Wählerinnen und Wählern Herrn Stoiber als sammenbruch des Neuen Marktes nicht bei der Bundes- Bundeskanzler verhindern wollen, und zwar nicht weil er regierung oder bei der Bayerischen Staatsregierung abla- ein Bayer ist – Bayern sind schließlich sympathische den. All diese Dinge, über die ich spreche, hängen doch Menschen –, sondern weil er als Person und in der Sache zusammen, Herr Kollege Merz. Ich nehme an, das wür- nicht überzeugen konnte. Ich möchte erst gar nicht auf die den Sie, wenn wir in Ruhe und nicht polemisch darüber untauglichen Konzepte und das dazugehörige Kompe- diskutieren würden, jenseits der Fehler, die Sie uns vor- tenzteam eingehen. Nein, die Menschen in Ostdeutsch- werfen, sofort konzedieren. Sie können doch nicht ab- land haben nicht vergessen, wie sich Herr Stoiber in der streiten, dass das Platzen der Spekulationsblase in den Vergangenheit gegen eine Politik für Ostdeutschland ge- Vereinigten Staaten Konsequenzen hat zum Beispiel für stellt hat und wie er das noch heute tut; den Neuen Markt, für den ganzen Nemax-Bereich, der (Albert Deß [CDU/CSU]: Das waren bösartige heute faktisch nicht mehr existiert, und für die Bereiche, Unterstellungen, Herr Kollege!) in denen in diesem Zusammenhang Überkapazitäten auf- gebaut wurden, zum Beispiel im Medienbereich und im denn Herr Stoiber klagt bis heute gegen den Risikostruk- Banken- und Finanzsystem. Ich nenne jetzt nur einige turausgleich für die neuen Bundesländer. Ich denke, das Bereiche. Das können Sie, wenn Sie als Ökonom seriös ist deutlich genug wahrgenommen worden. (B) bleiben wollen, nicht allen Ernstes bei der Bundesregie- (Beifall bei der SPD) (D) rung abladen. Ich sehe unseren Wahlerfolg im Osten zu einem Das habe ich angesprochen. Wenn wir uns darauf ver- großen Teil mit dem Vertrauen begründet, das die Men- ständigen können, dann harre ich Ihrer alternativen Vor- schen von Rostock bis Suhl, von Magdeburg bis Frankfurt schläge. (Oder) in unsere Politik setzen. Das Vertrauen, das uns in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Bundestagswahl 1998 geschenkt worden ist, haben und bei der SPD) wir gerechtfertigt, und das trotz der schwierigen Bedin- gungen, unter denen wir damals unsere Regierungsarbeit aufnehmen mussten. Ich erinnere unter anderem an die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hohe Staatsverschuldung, die uns täglich so viele Zinsen Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle- kostet, wie manche Landkreise in Ostdeutschland in ei- gen Ernst Bahr für die SPD-Fraktion. nem ganzen Jahr nicht zur Verfügung haben. Ich erinnere an den Reformstau, den uns die Vorgängerregierung hin- (Zuruf von der CDU/CSU: Die Reihenfolge terlassen hat und den wir zu einem großen Teil erfolgreich der Redner ist bemerkenswert!) aufgelöst haben, und an die neuen Aufgaben mit interna- tionaler Verantwortung, denen wir uns stellen mussten. Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD): All dies sind Schwierigkeiten, die wir in der Regierungs- arbeit mit bewältigen mussten. Wenn uns also die Wähle- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- rinnen und Wähler in Ostdeutschland am 22. September ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich Herrn in so hohem Maße gewählt haben, dann deshalb, weil sie Westerwelle höre, dann muss ich mich nicht wundern, – zu Recht – erfahren haben, dass die jetzige Bundes- dass wir bei der Bundestagswahl so gut abgeschnitten ha- regierung mit großen Herausforderungen fertig wird. ben. Über manche Späße im Sommer konnte man ja viel- leicht noch schmunzeln, aber über die Art und Weise und (Albert Deß [CDU/CSU]: Ihre Regierung ist den Inhalt der heutigen Rede wird mancher Zuschauer am fix und fertig!) Fernsehschirm nur den Kopf geschüttelt haben. Das gilt insbesondere auch für den Aufbau Ost. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aufgrund der verfehlten Förderpolitik der alten Bun- Ich muss wirklich sagen: Wenn man so miteinander um- desregierung zu Beginn der 90er-Jahre entstand ein weit geht, dann muss man sich nicht wundern, wenn die Wähler überdimensionierter Bausektor, der die Wirtschaftsstruk- von der Wahl bestimmter Parteien Abstand nehmen. tur verzerrte und die Dynamik der wirtschaftlichen Ent- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 83

Ernst Bahr (Neuruppin) (A) wicklung in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre deutlich Regio“ und „Regionale Wachstumskerne“ werden fortge- (C) bremste. Dieses Problem wirkt noch heute nach. Wir ha- setzt. Der Aufbau wissenschaftlicher Kompetenzzentren ben mit der Regierungsübernahme 1998 gegengesteuert, und die finanzielle Förderung der Hochschulbibliotheken sind ebenso wichtige Maßnahmen für eine gute Wirt- (Albert Deß [CDU/CSU]: Die Arbeitslosigkeit schaftsentwicklung wie der Ausbildungsaustausch. Aus- ist gestiegen!) bildungsfähigkeit und Ausbildungsbereitschaft der klei- indem wir die Reformen in Ostdeutschland auf zwei we- neren und mittleren Unternehmen müssen erhalten und sentliche Handlungsfelder ausgerichtet haben: erstens die gefördert werden, um die jungen Menschen in eine be- Sicherung der finanziellen Grundlagen für den Aufbau triebliche Erstausbildung zu bringen. Ost und zweitens die Modernisierung der Förderinstru- Die Kommunen benötigen eine leistungsfähige Infra- mente. Durch unsere Konsolidierung des Bundeshaus- struktur. Ein gut ausgebautes Verkehrssystem ist eine halts haben wir die finanzpolitische Handlungsfähigkeit entscheidende Voraussetzung für die Wettbewerbsfähig- des Staates wiederhergestellt und gestärkt sowie die keit der Wirtschaft. Wir wollen, dass der neue Bundes- finanziellen Grundlagen für den Aufbau Ost geschaffen. verkehrswegeplan 2003 einen klaren Schwerpunkt Ost- Nur so konnten wir eine Anschlussregelung für den Soli- deutschland enthält. darpakt II ab 2004 durchsetzen und das Fördervolumen für den wirtschaftlichen Aufbau Ost verstärken. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der Stadtumbau Ost und die ungebundene Finanzzuwei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sung der Mittel aus dem Investitionsgesetz werden fortge- Diese Politik werden wir nun mit modifizierten Schwer- setzt. Eine tragfähige Altschuldenregelung ist für die Ent- punkten fortsetzen; denn wir haben dafür die Stimmen in wicklung der kommunalen Infrastruktur unverzichtbar. den neuen Bundesländern bekommen. Wir haben die Po- Wir schaffen Arbeit und neue Qualifikation. Damit litik für Ostdeutschland auf die Zukunft der Menschen in die Vorschläge der Hartz-Kommission auch in den neuen den neuen Bundesländern hin orientiert und mit dem So- Bundesländern ihre Wirkung voll entfalten können, sollen lidaritätspakt II auf solide Füße gestellt. die Personal-Service-Agenturen in Ostdeutschland be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schleunigt aufgebaut und das Programm „Kapital für Ar- beit“ auf die betrieblichen Verhältnisse in den neuen Län- Damit ist Planungssicherheit bis 2019 gegeben. dern ausgerichtet werden. Im Koalitionsvertrag werden die soliden Grundlinien Mit einem JUMP-plus-Programm soll den Jugendli- von 1998 fortgeschrieben. Auf dieser Basis gestalten wir chen nach der Erstausbildung eine Brücke in den Arbeits- weiter unsere Politik. Wer Politik für Ostdeutschland ge- markt gebaut werden. (B) stalten will – das haben wir frühzeitig erkannt –, muss (D) Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg, Sachsen, (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) Sachsen-Anhalt und Thüringen als integralen Bestandteil Die Bundesregierung beginnt im Jahr 2003 mit dem Wett- der Politik für Deutschland begreifen und gestalten. bewerb „Die Jugend bleibt“, mit dem innovative und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kreative Jugendprojekte sowie Beispiele für die Gestal- tung des Lebens- und Wohnumfeldes junger Menschen Die Aufgabe einer jeden Bundesregierung liegt darin, die ausgezeichnet werden. Entwicklung der neuen Bundesländer nicht als Selbst- Für die zweite besonders betroffene Gruppe, die älte- zweck, sondern als eine Aufgabe zu begreifen, Deutsch- ren Langzeitarbeitslosen, werden wir das Programm land als Ganzes zu einem starken und verlässlichen Part- „AQTIV plus“ starten. In den künftigen Tarifverhandlun- ner in der Welt zu entwickeln. Das tun wir mit unserer gen von Bund, Ländern und Gemeinden mit den Politik für Ostdeutschland. Gewerkschaften wollen wir eine differenzierte Stufenre- Uns Ostdeutschen geht es nicht um den Nachbau West, gelung zur Angleichung der Einkommen im öffentlichen sondern um eine Entwicklung von Wirtschaft und Gesell- Dienst in Ost und West bis 2007 umsetzen. schaft, mit der wir einen Beitrag für ein starkes, solidari- Landwirtschaft, Natur und Tourismus sind wichtige sches Deutschland leisten. Dafür haben wir in den vergan- Wirtschaftsbereiche in Ostdeutschland. Für die ost- genen vier Jahren Bedingungen geschaffen, die wir jetzt deutsche Landwirtschaft ist die Altschuldenfrage das verbessern und den neuen Verhältnissen anpassen wollen. letzte ungelöste Vereinigungsproblem. Wir werden ein Deshalb sieht der Koalitionsvertrag für den Aufbau Ost Gesetz zur abschließenden Lösung der Altschuldenrege- folgende Schwerpunkte vor: die Förderung von Inves- lung vorlegen, wobei die wirtschaftliche Situation der ein- titionen und Mittelstand. Der gewerbliche Mittelstand zelnen Unternehmen berücksichtigt wird. als Kernstück der ostdeutschen Wirtschaft wird weiterhin Die Gesundheitsversorgung ist ein wichtiger Beitrag unsere besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung er- für die Lebensqualität in den neuen Ländern. Wir setzen fahren. Die Fortsetzung der Investitionsförderung, die uns für den Erhalt des Risikostrukturausgleichs der ge- Existenzgründerinitiative, die Bestandspflege und die setzlichen Krankenkassen ein. Es müssen Anreize für Schaffung von Pilotregionen für integrierte Entwicklung Haus- und Fachärzte geschaffen werden, sich in unterver- in den Bereichen Innovation, Investition, Infrastruktur sorgten Regionen der neuen Länder niederzulassen. Da- und Ansiedlungsförderung sind Instrumente dafür. bei stehen die Kassenärztlichen Vereinigungen mit in der Verantwortung. Investitionen in Ausbildung und Forschung sind Zu- kunftsinvestitionen. Erfolgreiche Programme wie „Inno- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 84 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Ernst Bahr (Neuruppin) (A) Die EU-Osterweiterung bietet vielfältige Chancen für Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) Ostdeutschland, sich zu einer europäischen Verbindungs- Das Wort hat der Kollege Michael Glos, CDU/CSU- region zu entwickeln. Wir werden deshalb grenzüber- Fraktion. schreitende Kooperationen von Betrieben, Hochschulen, Vereinen und Kommunen mit Osteuropa besonders för- (Beifall bei der CDU/CSU) dern und in der Wissenschaftskomponente stärkere Ak- zente in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie in der Informatik setzen. Michael Glos (CDU/CSU): Die Opfer des SED-Regimes haben weiterhin unsere Herr Präsident, vielen Dank für die Gelegenheit, hier besondere Aufmerksamkeit. Die Bundesregierung hat in zu sprechen. der vergangenen Wahlperiode wichtige Initiativen ergrif- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU fen, um eine Besserstellung der SED-Opfer zu erreichen. und der FDP) Wir wollen dafür sorgen, dass Menschen, die für Demo- kratie gekämpft haben, nicht vergessen werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Dr. med. h. c. Fischer ist wohl nicht im Raum. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Doch, da hin- Sie sehen, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kol- ten ist er! Er steht an der Fahne!) legen, wir haben uns kritisch mit unserer Arbeit in den vergangenen vier Jahren auseinander gesetzt, die wirt- Herr Fischer, Sie haben es derzeit schwer. Sie sind gleich- schaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen in zeitig Fraktionsvorsitzender, Parteivorsitzender, Außen- Ostdeutschland genauestens analysiert und die Anregun- minister und offensichtlich auch noch Chefökonom. Ich gen aus der Bevölkerung aufgegriffen. Das, was wir bis- darf Ihnen und den Grünen ein paar ökonomische Rat- her erreicht haben, kann sich sehen lassen. Aber es sind schläge geben. Die Frau Höhn hat ja gesagt: Das Problem noch viele Aufgaben und Probleme in Ostdeutschland zu ist, dass bei den Grünen die Parteivorsitzenden zu schlecht lösen. Wir werden unsere Arbeit für eine gute Entwick- bezahlt werden; deswegen läuft das Ganze nicht. Bezah- lung in den neuen Ländern fortsetzen. len Sie Ihre Leute ordentlich, dann müssen Sie nicht alles selbst machen und dann sind Sie hier auch nicht so laut Wie gut wir in dieser Arbeit vorangekommen sind, und aufgeregt, wie Sie es gerade waren. zeigt sich auch in unserer Beteiligung als Ostdeutsche an der Verantwortung für ganz Deutschland, zum Beispiel (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) durch Kanzleramtsminister , dem ich an Das „Handelsblatt“ hat heute geschrieben: „Stim- dieser Stelle für seine erfolgreiche Arbeit und sein Enga- mungstief vor Schröders Rede.“ Was die allerdings mor- (B) gement für Ostdeutschland recht herzlich danken möchte, gen schreiben, Herr Bundeskanzler, weiß ich nicht. (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Starker Beifall bei den Re- Ich bin nicht sicher, dass die Stimmung bei uns im Land gierungsparteien!) und insbesondere in der Wirtschaft danach steigt. oder den neuen Bau- und Verkehrsminister Manfred Ihr Vorvorvorgänger wurde einmal Willy Stolpe, der mit seinen Erfahrungen aus seiner Arbeit in Wolke genannt, weil er sich immer so unbestimmt ausge- Brandenburg nun für ganz Deutschland arbeiten wird, oder drückt hat. Sie müssten Gerhard Nebel heißen, die Parlamentarischen Staatssekretärinnen und Staatsse- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – kretäre Gerald Thalheim, Ditmar Staffelt, Iris Gleicke, Heiterkeit bei der FDP) und Christel Riemann-Hanewinckel, die ebenfalls in gesamtdeutscher Verantwortung stehen. weil das, was in Ihrer Regierungserklärung steht, unge- heuer nebulös ist. Wir haben geglaubt, dass sich heute alle (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Widersprüche aus den Koalitionsvereinbarungen ein Stück Ihnen allen wünsche ich viel Glück und Erfolg für ihre auflösen, aber die Nebel sind geblieben. Arbeit. Die Neuauflage der rot-grünen Koalition verspricht Den Menschen in den alten Bundesländern sage ich an nichts Gutes für Deutschland. Ihr Programm ist mutlos. dieser Stelle ein recht herzliches Dankeschön für ihre So- Ihre Mannschaft ist – das erkennt man, wenn man da hi- lidarität und ihre Unterstützung für Ostdeutschland. nüberschaut – kraftlos. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Zurufe von der SPD: Oh!) Wir werden diese Hilfsbereitschaft noch eine Weile Die Zukunftsperspektiven für Deutschland sind dadurch benötigen, um zu einer sich selbst tragenden Entwicklung trostlos. in Ostdeutschland zu kommen. Dafür werden wir Ost- (Beifall bei der CDU/CSU) deutsche uns noch stärker als bisher engagieren und un- sere Arbeit intensiv fortsetzen. Sie treten mit dem Anspruch an, eine Koalition der Er- neuerung zu sein. In Wirklichkeit ist es eine Koalition des Herzlichen Dank. Weiterwurstelns. Sie setzen für die Zukunft weiter auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mangelverwaltung. Es ist Flickschusterei. Der Konkurs DIE GRÜNEN) wird verschoben, nicht verhindert. Vor allem spürt man Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 85

Michael Glos (A) das an den Reaktionen der Betroffenen. Die Konsumen- Was wir in den Sommermonaten erlebt haben, war der (C) ten und die Investoren sind verunsichert. Der Wirtschafts- größte Wählerbetrug in der Geschichte der Bundesrepu- standort Deutschland wird leider weiter beschädigt. Das blik Deutschland. Vertrauen in unsere wirtschaftliche Zukunft wird leider (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht geweckt. In der heutigen Zeit des Wandels – es ist Aufgabe einer Regierung, den Wandel zu gestalten – und Als ich das zum ersten Mal gesagt habe, hat mich die Talk- der Unsicherheit erwarten die Menschen Stabilität und masterin Sandra Maischberger – sie kann einen sehr ein- Sicherheit. Sie aber verbreiten – insbesondere dann, wenn dringlich anschauen; Sie kennen sie, Herr Bundeskanz- das ein Hü und Hott ist, wenn das eine Echternacher ler –, gefragt: Herr Glos, wollen Sie den Vorwurf des Be- Springprozession ist: zwei Schritte vor, ein Schritt zurück – truges nicht zurücknehmen? – Daraufhin habe ich einmal das Gefühl von Stillstand und Verunsicherung. nachsehen lassen, wie im Strafgesetzbuch der Tatbestand des Betrugs definiert wird. Herr Riester hat lange vor der Wahl von der größten Rentenreform in der deutschen Geschichte gesprochen. (Jörg Tauss [SPD]: Ja, 1990!) Zwei Jahre später ist alles Makulatur. Die Schwankungs- – Herr Tauss passen Sie auf: Erst muss man jemanden täu- reserve – das ist vorhin vom Kollegen Westerwelle noch schen. Dadurch muss sich der Getäuschte im Irrtum be- einmal richtig gesagt worden –, die eiserne Reserve, der finden und daraus muss Schaden entstehen. Wenn das ge- Notgroschen der Rentner wird angetastet und ausgegeben. schehen ist, dann ist der Tatbestand des Betruges erfüllt. Vor der Wahl ließ sich Herr Eichel als selbst ernannter Dies alles ist geschehen. Obersparminister der Nation feiern. Er hat sich als Autor (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und einer Jahrhundertsteuerreform bezeichnet. Heute meldet der FDP) er Rekorddefizite im öffentlichen Haushalt und in den So- zialversicherungssystemen. Die Menschen sind vor der Wahl über die wirkliche Lage getäuscht worden. Sie haben aus diesem Irrtum heraus Die konjunkturellen Aussichten, die Lage der Staatsfi- dieser Regierung noch einmal das Vertrauen geschenkt nanzen und die sozialen Sicherungssysteme waren vor der und ihr zu einer knappen Mehrheit verholfen. Jetzt ist Wahl im Lot und sind nach der Wahl im Eimer. Herr Eichel Deutschland geschädigt, und zwar nachdrücklich. ließ verlauten, zusätzliche Konsolidierungsmaßnahmen seien nicht notwendig, das finanziell Erforderliche sei in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Haushalts- und Finanzplanung längst enthalten. Sie, Herr Gabriel – er wurde heute schon einmal zitiert – hat Herr Bundeskanzler, haben gesagt: Keine höheren Steu- gesagt: „Die Wahrheit vor der Wahl, das hätten Sie wohl ern. Das war eines der bekannten schröderschen Macht- gerne gehabt.“ Er ist ein würdiger Nachfolger von Ihnen, (B) (D) worte, die eine sehr geringe Verfallszeit haben. Herr Bundeskanzler, und er war offensichtlich Ihr Lehr- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ling, als Sie in Niedersachsen regiert haben. Heute wissen wir, was dabei herauskommt, wenn Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) als SPD-Chef und Bundeskanzler die Wahrheit zur Chef- Er tritt in Ihre Fußstapfen, genauso wie Herr Müntefering sache machen. Die rot-grüne Koalition handelt nach der heute in die großen Fußstapfen von Herrn Stiegler getre- Devise: Was juckt mich mein Geschwätz von gestern? ten ist. Lügen haben bekanntlich kurze Beine. Es wird bald (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und heißen: Noch kürzer sind dem Schröder seine. der FDP) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Das war an Ihrer Rede zu merken, Herr Müntefering. Rot- CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt Grün bekennt sich zum Prinzip der Nachhaltigkeit. In den [Salzgitter] [SPD]: Außerordentlich geistreich!) Täuschungsmanövern sind Sie allerdings sehr nachhaltig Aber vergessen Sie nicht: Lügen haben kurze Beine und und das beschädigt die politische Kultur im Land. Wähler haben ein langes Gedächtnis. (Joachim Poß [SPD]: Glos ist der klassische Wir sind in der Tat in einer schwierigen ökonomischen Vertreter!) Situation. Die Bilanzfälschungen in der Wirtschaft – ich Es ist schlimm genug, dass die Kultur in unserem erinnere insbesondere an diejenigen in der US-Wirtschaft; Land, dem Land der Dichter und Denker, dem Land von ich bin aber nicht sicher, ob in Deutschland nicht zum Teil Goethe und Schiller, schon so beschädigt ist, dass das Gleiche passiert ist – haben die Aktienkurse in den Dieter Bohlen der Star der Buchmesse ist. Aber das be- Keller gedrückt. Man hat die Telekom angezeigt, um zu wegt sich auf einer Linie mit dem Verhalten der Deut- klären, ob die Bilanzen der Telekom richtig waren. Die schen bei der Kanzlerwahl. Es ist folgerichtig, dass aus Telekom ist ein gutes Beispiel dafür, wie man das Ver- dem einen das andere entsteht. Da lobe ich mir den ehe- trauen der Anleger nachdrücklich schädigen kann. Durch maligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der die De- ein solches Vorgehen wird vor allen Dingen immer wie- vise ausgegeben hat: Deutschland braucht Wahrheit und der das Vertrauen der Menschen in die in der Politik Han- Klarheit. Die Antwort von Rot-Grün war: Machterhalt delnden geschädigt. Das, was bei der Telekom geschehen um jeden Preis. Ich weiß nicht, ob er diesen Preis wirk- ist, geht auf Ihr Konto, Herr Bundeskanzler. lich wert war. (Jörg Tauss [SPD]: Na ja!) (Beifall bei der CDU/CSU) 86 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Michael Glos (A) Herr Eichel wird in das „Guinnessbuch der Rekorde“ scheinlich bereut – wenn es die Zeitung nicht bereuen (C) eingehen. Eine so gelungene Selbstdemontage als Fi- kann, weil sie ja nur ein Stück Papier ist, dann werden es nanzminister hat es noch nie gegeben. Das ist eine Bla- der Verlag, die Herausgeber, die Eigentümer bereuen; mage für unser Land. Wir müssten Deutschland eigentlich denn dort klopft jetzt Bodo Hombach an die Tür –, hat in Absurdistan umbenennen. Rot-Grün herbeigeschrieben und die ökonomischen Fol- gen müssen jetzt auch ein Stück getragen werden. Jeden- (Horst Kubatschka [SPD]: Wo leben Sie falls ist das, was im Wirtschaftsteil steht, oft richtig. Darin eigentlich?) stand unlängst: In der Weitsicht war Hans Guck-in-die-Luft dem Eichel weit überlegen. Offensichtlich ist allenthalben die große Verunsiche- rung und neuerdings der blanke Zorn über eine die (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Bedürfnisse der Unternehmen missachtende Berliner CDU/CSU) Wirtschaftspolitik. Dieser Zorn ist real und nicht Die Koalitionsvereinbarungen sind voller Wider- konstruiert, er ist keine Erfindung von Opposition sprüche. Dem deutschen Steuerbürger – also einer Person oder Wirtschaftsjournalisten, keine Kampagne. Die in diesem Land, die so dumm ist, überhaupt Steuern zu Wut der Wirtschaft signalisiert eine sinkende Loya- zahlen, da sie nicht alles schwarz macht – misstraut man lität. Die Folgen reichen weit: von der sinkenden Be- zutiefst. Man will das Bankgeheimnis aufheben, man will reitschaft auszubilden über ein nachlassendes ge- den gläsernen Steuerbürger. Von ihm wird man wahr- sellschaftliches Engagement bis hin zu wildester scheinlich die biometrischen Daten aufnehmen, die man Steuergestaltung und womöglich einem regelrechten bei potenziellen Terroristen nicht im Pass haben will. Investitionsstreik. (Beifall bei der CDU/CSU und Abgeordneten So weit Marc Beise in der „Süddeutschen Zeitung“. der FDP) Vorhin hat der Herr Minister des Äußersten gesagt Ich finde das schon eine ungeheure Widersprüchlichkeit, (Heiterkeit bei der CDU/CSU) meine sehr verehrten Damen und Herren. – Entschuldigung, Herr Minister –, die Finanzmärkte be- Für alle ökonomischen Fehlhandlungen zahlt die so ge- finden sich in einer Krise. Das ist richtig. Der Einzelhan- nannte Neue, aber auch die alte Mitte die Zeche, und zwar del bekommt die nachlassende Kaufkraft zu spüren und ganz brutal. Hans Eichel wurde nach kurzer Zeit vom ei- auch die Verunsicherung der Verbraucher. Das Handwerk sernen zum blanken Hans. Sein großspuriges Versprechen hat allein in den letzten drei Monaten über 300 000 Arbeits- eines ausgeglichenen Gesamthaushalts für 2006 war so plätze abbauen müssen. Und es fällt keinem Handwerker viel wert wie Ihr Versprechen heute, Herr Müntefering, (B) leicht, jemanden zu entlassen; ganz bestimmt nicht, da ist (D) für 2006. Der Herr Bundeskanzler hat es heute in seiner etwas Herzblut dabei. Die Talfahrt der Bauwirtschaft hält Regierungserklärung ebenfalls versprochen. an und wird sich durch das geplante Zusammenstreichen Was besonders schlimm ist: Die Defizitobergrenze der Eigenheimzulage noch beschleunigen. von Maastricht wurde verfehlt, unser Land ist zum Ge- spött in Europa geworden. Deutschland braucht inzwi- Herr Fischer, übrigens haben Sie in einer Diskussions- schen nicht nur einen blauen, sondern einen dunkelblauen runde vor der Wahl noch die Opposition bezichtigt, sie Brief. Der Stabilitätspakt ist geschaffen worden, weil man wolle die Eigenheimzulage streichen. den Südländern misstraute. Man meinte, die Italiener und (Zurufe von der CDU/CSU: Ja!) andere würden die Stabilitätskriterien nicht einhalten. In- zwischen sind die Deutschen diejenigen, die den blauen Das Gegenteil ist wahr. Brief in Empfang nehmen müssen. Ich finde es schlimm, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wenn die Regeln für die neue Währung, die man sich selbst gegeben hat, einfach niedergerissen werden. Die Diese Zulage wird von Ihnen jetzt kalt gestrichen, was Sie Menschen haben dem Euro vertraut, weil wir gesagt ha- vorher in Ihrer Art der Wählertäuschung und -verunsiche- ben, er wird so sicher und stabil wie die Mark werden. Ich rung uns unterstellt haben. kann Sie nur davor warnen, über diese Dinge einfach hin- In der gesamten verarbeitenden Industrie ist die Stim- wegzugehen. mung miserabel. Die Ampeln stehen auf Arbeitsplatzab- (Beifall bei der CDU/CSU) bau. Wer in dieser Situation auf massive Steuererhöhun- gen, steigende Sozialbeiträge und zusätzliche Schulden 3 Prozent bedeuten einen Spielraum von 60 Milliarden setzt, der verschärft die Krise. Das alles ist Gift für Kon- Euro, den man in den öffentlichen Gesamthaushalten hat. junktur und Wachstum. Das ist kein Pappenstiel, daraus lässt sich allerhand ma- chen. Einfach an die Obergrenze heranzugehen und sie zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) überschreiten halte ich für falsch. Bei aller Ungewissheit über Prognosen ist eines ge- (Joachim Poß [SPD]: Das haben Sie selbst wiss: Mit einer derart schwachen Wirtschaftsdynamik doch einmal vorgeschlagen!) kann keine grundlegende Wende auf dem Arbeitsmarkt erreicht werden, Hartz hin, Hartz her. Das wird sich als Wir befinden uns dadurch am Rande einer länger an- eine große Seifenblase erweisen. haltenden Rezession und das sollte Ihnen Sorgen machen. Die „Süddeutsche Zeitung“, die es inzwischen wahr- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 87

Michael Glos (A) Wenn Sie schon unserem wirtschaftlichen Sachver- Jetzt sage ich Ihnen etwas, was viel ernster ist: Man (C) stand nicht trauen, dann glauben Sie wenigstens den von kann Vertrauen ungeheuer schnell zerstören. Es ist aber Ihnen selbst berufenen Gutachtern aus den Wirtschafts- ungeheuer schwierig, Vertrauen wieder aufzubauen. Ein forschungsinstituten. Das sind inzwischen ja nicht mehr zerstörter Kölner Dom wäre leichter aufzubauen als zer- die, die während der Regierungszeit von Helmut Kohl be- störtes Vertrauen. Ihre Vorhaben, nämlich die Gewinne rufen worden sind. Die sagen in ihrem Herbstgutachten: aus der Veräußerung von Wertpapieren und Immobilien unbeschränkt zu versteuern, Alle Pläne der Wirtschaftspolitik in den kommenden Jahren müssen daran gemessen werden, ob sie dazu (Zuruf von der SPD: Kirch!) beitragen, die Probleme des geringen Wachstums der Lebensversicherung in die Kasse zu greifen, die ver- und der geringen Beschäftigungsdynamik zu lösen ... mögenswirksamen Leistungen in Aktien und Wertpapier- Die Koalitionsvereinbarungen zur Anhebung von fonds zu besteuern, all diese Steuerpläne schaffen kein Steuern und Sozialabgaben sind das Gegenteil des- Vertrauen in unseren Kapitalmarkt, sondern werden die sen, was wachstumspolitisch geboten ist. Krise leider noch verstärken. Man kann das Ganze auch volkstümlich ausdrücken – ich In Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, ge- denke dabei vor allen Dingen an die Leute draußen, die ben Sie auch auf andere Schicksalsfragen der Nation we- gerne den Ketchup-Song hören –, denn in der Gerd-Show nig Antworten. Die Unterfinanzierung der Bundeswehr heißt es dort: wird offensichtlich festgeschrieben. Was du heute kannst versprechen, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist der Bun- darfst du morgen wieder brechen. deskanzler?) Drum hol’ ich mir jetzt jeden einzelnen Geld- Bundesverteidigungsminister Struck hat den Fehler ge- schein, macht, dass er sich nicht vom ersten Tag an dagegen ge- euer Pulver, eure Kohle, euer Sparschwein. wehrt hat. Jetzt wird sein Etat weiter gekürzt. Das hat er So sieht es die Bevölkerung draußen. Deswegen wird die- nun davon. Die Bundeswehr ist unsere Armee. Wir sind ser Song ein großer Hit werden. stolz auf sie. Aber auch die Frage, wie es weitergehen soll, ob es eine Freiwilligenarmee wird oder ob die Wehrpflicht (Beifall bei der CDU/CSU) bleibt, ist noch nicht endgültig entschieden worden, son- Im Zeitalter der Globalisierung und der Konkurrenz dern diese Entscheidung wurde vertagt. Die NATO-Part- um Finanzströme ist es ganz besonders wichtig, unseren ner fragen sich, was eigentlich von uns zu halten ist, wenn Finanzmarkt in Ordnung zu halten. Nun hat sich Joseph überall so viel Beliebigkeit Platz greift. (B) Fischer, zurzeit, wie wir sehen, gleichzeitig Bundes- Über den Aufbau Ost haben wir vorhin eine mit- (D) außenminister, Fraktionsvorsitzender und amtierender reißende Rede gehört. Herr Präsident, Sie haben sie dan- Parteivorsitzender der Grünen, kenswerterweise vorher halten lassen. Ich freue mich da- ( [SPD]: Nur kein Neid!) rüber, denn so brauche ich nichts dazu zu sagen. Die frühere Chefsache ist also inzwischen zu einer Rolle vorhin auch ein wenig über die Aktienmärkte, auch den in rückwärts geworden. Bezüglich der inneren Sicherheit Amerika, verbreitet. Der Zusammenbruch geschah in ers- finden sich nur Leerformeln. Von dem, was wir wirklich ter Linie an der deutschen Börse. Der Dow-Jones-Index bräuchten, steht nichts in der Koalitionsvereinbarung, ist längst nicht so stark gesunken wie der DAX. Auch in auch nicht die von Bundeskanzler Schröder vollmundig Europa sind die Aktienkurse im Durchschnitt nicht so aufgestellte Forderung: Sexualstraftäter, also Kinder- stark wie in Deutschland gesunken. Das ist die Wahrheit. schänder, gehören weggesperrt, und zwar für immer. (Beifall bei der CDU/CSU – Joseph Fischer Dafür hat er sehr viel Beifall bekommen, aber er hat da- [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: von in der Koalitionsvereinbarung nichts durchgesetzt. Hoffentlich haben Sie nicht in Aktien inves- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tiert!) neten der FDP) – Selbstverständlich nicht. Ich bin dabei sehr gut gefah- Auch bei der Umweltpolitik herrscht Fehlanzeige. ren. Das bisschen, was ich hatte, habe ich blitzartig ver- Stattdessen wird Erdgas stärker besteuert. Die Bauern kauft, als Rot-Grün begonnen hat zu regieren. kommen nur noch als Kostenfaktor im Zusammenhang (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mit der EU vor. Es finden sich keine Worte über den länd- neten der FDP) lichen Raum und all das, was an der Landwirtschaft hängt. Die alten Lehren kenne ich noch. Ich habe auch noch In der Außenpolitik hat man aus dem Schüren von Kriegsangst kurzfristig Kapital zu schlagen versucht. Das die Bücher des alten Bankiers Fürstenberg gelesen, der ge- ist richtig. Jetzt folgt für den Herrn Bundeskanzler der sagt hat – die Geschehnisse unter Rot-Grün haben ihm Gang nach Canossa, wobei Canossa in diesem Fall ir- wieder einmal Recht gegeben –: Aktionäre sind dumm und gendwo bei Washington liegt. Morgen macht ja der Bun- frech – dumm, weil sie anderen Leuten ihr Geld geben, und desaußenminister bereits einen Probegang. frech, weil sie dafür auch noch Dividende wollen. (Zurufe von der SPD) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehr gut! Da beschimpfen Sie Ich kann Ihnen sagen: Heinrich IV. hat sich in Canossa jetzt Aktionäre!) wohler gefühlt, als Sie sich in den USA fühlen müssen. 88 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Michael Glos (A) Jetzt glauben Sie, Sie könnten die Vereinigten Staaten dieses Land werden wir auch aus der Opposition heraus (C) von Amerika damit beruhigen, dass Sie für eine möglichst arbeiten. schnelle Aufnahme der Türkei in die Europäische Union Herzlichen Dank. kämpfen. Ich halte von einer Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union nichts. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nicht, dass ich missverstanden werde: Selbstverständlich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wollen wir eine gute Partnerschaft mit der Türkei inner- halb der NATO; auch brauchen wir gute Handelsbezie- Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Sabine hungen mit der Türkei. Nur können wir ihre Vollmitglied- Bätzing von der SPD-Fraktion das Wort. schaft in der Europäischen Union nicht gebrauchen. Auch (Beifall bei der SPD) die damit verbundene Freizügigkeit von Anatolien nach Deutschland hin in beliebigem Maße können wir nicht ge- brauchen. Sabine Bätzing (SPD): (Zurufe von der SPD) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man heute die Redebeiträge der Opposi- Wir können auch kein Land als Vollmitglied in der Euro- tion hört, dann könnte man glauben, dass die Opposition päischen Union gebrauchen, dessen Wirtschaftsleistung noch mitten im Wahlkampf steht. Wie vor dem 22. Sep- nur ungefähr 20 Prozent des Durchschnitts der Wirt- tember sind die Vertreter der Opposition auch jetzt nur da- schaftsleistung der übrigen EU-Staaten beträgt und das bei, das Land zu zerreden, Innovationen zu behindern, eine Inflationsrate von 50 Prozent hat. Wenn man jetzt Stillstand zu produzieren und zu demotivieren. glaubt, dass man mit der Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union irgendjemandem einen Gefallen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tun kann – nicht einmal den Türken selbst könnte man da- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit einen Gefallen tun –, dann ist man schief gewickelt. Das alles sind Dinge, die wir nicht brauchen. Auch der zweite Anlauf von Rot-Grün erfolgt im Rück- (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) wärtsgang. Mit dem, was in den Koalitionsvereinbarun- gen steht und was wir heute hier gehört haben, lässt sich Ich möchte lieber noch einmal auf die Koalitionsver- die Zukunft nicht gewinnen. Abraham Lincoln hat gesagt, einbarungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge- man könne nicht die Schwachen stärken, indem man die hen, die eines ganz deutlich zeigen: Deutschland hat eine (B) Starken schwäche. Genau das ist aber Ihr Programm. starke Regierung, die den Mut und die Entschlossenheit (D) besitzt, die vor uns stehenden Herausforderungen anzu- (Widerspruch bei der SPD) gehen. Wir können dabei auf den beachtlichen Leistungen Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Ich weiß in der vorangegangenen Wahlperiode aufbauen. Der Still- nicht, ob der Herr Bundeskanzler noch hier im Plenarsaal stand, der unsere Republik viel zu lange gelähmt hat, ist ist. beendet. (Zuruf von der CDU/CSU: Nein!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn er nicht mehr hier ist, dann hat er aber genug Ket- tenhunde hier, um sein Wort zu gebrauchen, die ihm das, Gerade als Vertreterin der jungen Generation bin ich dafür was ich jetzt bemerken will, weitersagen können. Ich bin sehr dankbar. schon der Meinung und möchte ihm das gern ins Stamm- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) buch schreiben: „Hochmut kommt vor dem Fall.“ Rot-Grün hat mit der Erneuerung begonnen und wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf werden sie nun fortsetzen. Im Koalitionsvertrag steht klar von der SPD: Stoiber! – Weitere Zurufe von der und deutlich, was wir in dieser Legislaturperiode umset- SPD) zen wollen. Wir werden die notwendigen Reformen – ich Der Hochmut, mit dem Sie sich heute gegenüber der Op- meine Reformen im positiven Sinne – konsequent fortset- position verhalten, wird sich – da bin ich ganz sicher – zen. Da gibt es viel zu tun. Die Lasten, die damit notwen- rächen. Hören Sie damit auf, diejenigen, die Verantwor- digerweise verbunden sind, müssen wir heute tragen, tung tragen für Unternehmungen und damit für die damit unsere Kinder und Enkel in Zukunft Handlungs- Arbeitsplätze von Millionen von Menschen, als Ketten- spielräume und Perspektiven haben. hunde zu beschimpfen! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Zurufe von der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das sind nicht Kettenhunde der Opposition. Ich danke daher im Namen der jüngeren Generation Hans Eichel für sein finanzpolitisches Kurshalten auch in ge- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn das al- fährlichem Fahrwasser. les nur dieser Bundesregierung schadete, dann könnte es uns egal sein; dann könnten wir darüber sogar noch Scha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ denfreude empfinden. Aber es schadet unserem Land, der DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ Bundesrepublik Deutschland, in schwieriger Zeit. Für CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 89

Sabine Bätzing (A) – Es ist so. – Es ist uns klar, dass noch manche Klippe zu Standards im Bildungsbereich halte ich für den richtigen (C) umschiffen sein wird. Aber auch das werden wir schaffen. Weg. Mein Dank geht an ; denn sie hat sich in beispielhafter Weise um die Reform des Bildungs- Ich möchte nun einige Bereiche nennen, die wir weiter wesens verdient gemacht. voranbringen werden. (Beifall bei der SPD) Die Förderung von Familien mit Kindern muss aus- gebaut und auf noch solidere Grundlagen gestellt werden Ich sage: Der neue Wind in der Bildungspolitik kann uns als bisher. nur gut tun. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans-Peter Zusammenarbeit und Vertrauen zwischen den Genera- Repnik [CDU/CSU]: Eigenheimzulage!) tionen wollen wir auch in Zukunft fördern. Daher gilt für Kinder und Jugendliche, dass wir gemeinsam mit ihnen Wir wollen dafür kämpfen, dass Kinder kein Armutsrisiko die Zukunftschancen unserer Gesellschaft entwickeln sind. Fast 30 Prozent der Familien mit drei Kindern fallen wollen. Wir wollen, dass jeder Jugendliche, der will und leider heute noch unter die Armutsgrenze. Das sind kann, eine Ausbildung erhält. Die Sicherung des Ausbil- 30 Prozent zu viel. Denn wir alle wissen, dass Kinder aus dungsplatzangebots hat eindeutig Priorität. Dabei bauen besonders einkommensschwachen Familien einen schlech- wir allerdings auch auf die Zusammenarbeit mit der Wirt- teren Start ins Leben haben. Sie haben keine großen Chan- schaft. Denn Mitmachen ist Voraussetzung für einen Er- cen. Genau das wollen wir ändern. Als ehemalige Sach- folg in diesem Bereich. bearbeiterin im Sozialamt weiß ich, wovon ich rede. Ich weiß auch, wohin ein solcher Fehlstart im Leben führen An der Verbesserung der sozialen und beruflichen In- kann. tegration von jungen Menschen liegt uns viel. Wir müssen daher die jungen Menschen ernst nehmen und wir müssen (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Anna Lührmann ihnen vor allen Dingen zuhören. Wir wollen den Jugend- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) lichen eine Balance aus Schutz und Freiräumen bieten, die Der Koalitionsvertrag enthält darum konkrete Maßnah- sie zur persönlichen Entwicklung brauchen. Ich wünsche men, mit denen Familien mit Kindern und allein erzie- mir, dass wir, wenn wir dies beachten, wieder mehr junge hende Mütter und Väter weiter unterstützt werden sollen. Menschen für Politik interessieren. Ich nenne in diesem Zusammenhang die 10 000 zusätz- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lichen Ganztagsschulen sowie den Ausbau der Betreuung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von Kindern unter drei Jahren, bei der wir die Kommunen ab 2004 jährlich mit 1,5 Milliarden Euro unterstützen Meine Damen und Herren, die Akzeptanz unserer Po- werden. litik beruht auf einem einfachen Wort: Solidarität. Soli- (B) darität ist ein Grundwert, eine Richtschnur, an der wir uns (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten messen lassen wollen. Dass wir sie völlig zu Recht auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von denjenigen einfordern, die auf der Sonnenseite des Sie sehen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf Lebens stehen, ist doch wohl klar. Denn Solidarität be- wird zunehmend Realität. Wir setzen damit die erfolgrei- weist sich in schwierigen Zeiten. Sie ist keine Einbahn- che Politik aus der letzten Legislaturperiode fort. Fami- straße und schon gar keine Schönwetterallee. Die Ab- lien mit Kindern bekommen bereits heute jährlich insge- wanderung junger, gesunder und gut verdienender samt 13 Milliarden Euro mehr als vor vier Jahren. Beitragszahler in die private Krankenversicherung hat ein Ausmaß erreicht, das die Beitragsstabilität der gesetzli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des chen Krankenkassen ernsthaft bedroht. Wir aber wollen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm keine Zweiklassenmedizin, sondern eine klasse Medizin. Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört! – Zu- rufe von der CDU/CSU: Und wie viel Öko- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten steuer zahlen sie?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch durch die Flexibilisierung der Elternzeit und Zu der sollen alle unabhängig von ihrem Einkommen den durch den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit sind wir die- gleichen Zugang haben. sem Ziel ein Stück näher gekommen. Denn wir können es Deshalb sage ich: Aus der Solidarität sollte man sich uns nicht leisten – das wollen wir auch nicht –, auf her- nicht so leicht verabschieden können. Nur wenn alle Ge- vorragend ausgebildete Frauen, die sich an Universitäten, nerationen und alle Einkommensgruppen an einem Strang Fachhochschulen und Berufsschulen bewiesen haben, zu ziehen, können wir die vor uns liegenden Aufgaben auch verzichten. Es ist der richtige Weg, gerade die Kreativität bewältigen. der Frauen für unsere wirtschaftliche Entwicklung stärker zu nutzen. Dies hat schon sehr früh ein Mensch erkannt, der in meinem Wahlkreis Neuwied/Altenkirchen lebte – Sie alle (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kennen ihn sicherlich –: DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) (Zuruf des Abg. [Hamm] [CDU/CSU]) Aber unsere wichtigste Zukunftsressource ist die Bildung. Wir brauchen keine PISA-Studie, um klar zu er- – Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Herr Meyer. Von ihm kennen, dass wir in diesem Bereich noch besser werden stammt die Maxime: „Einer für alle, alle für einen.“ In un- müssen. Die laufende Diskussion um länderübergreifende serer Geschichte gibt es genug Erfahrungen, die beweisen: 90 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Sabine Bätzing (A) Solidarität ist nicht angestaubt. Solidarität ist Zukunfts- in der sie uns manches über längerfristige Linien gesagt (C) fähigkeit. hat. Sie hat festgestellt, es sei dringend erforderlich, dass man die langen Linien bzw. die Grundsätze der Politik er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kennen könne. Weil sie dann doch an einer Stelle konkret des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werden wollte, ist sie auf diese Grundsätze genauer ein- Noch ein Wort zur Hartz-Kommission. In den nächs- gegangen. Man brauche nämlich Beamte im Bundeskanz- ten Wochen und Monaten werden wir die größte Arbeits- leramt, die für Grundsätze zuständig seien. Das war ihr marktreform in der Geschichte dieses Landes umsetzen. Vorschlag für die zukünftige Grundsatzabteilung, die die Herr Glos, wir versprechen Ihnen: Sie wird keine Seifen- langen Linien angehen soll. blase sein, die irgendwann platzen wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Michael Glos [CDU/CSU]: Danke schön!) Meine Damen und Herren, es geht doch um etwas We- Denn wir können es nicht oft genug sagen: Das Konzept sentlicheres als diesen Hinweis. Dass dieser so einfach der Hartz-Kommission ist genau das, was unser Land jetzt möglich war, lag daran, dass es in der Tat in der Rede kei- braucht. Deshalb handeln wir. Wir werden dieses Konzept nen einzigen Vorschlag für die Regierung unseres Landes umsetzen. und dazu, wie es weitergehen soll, gegeben hat. Meine Damen und Herren, dies ist ein Appell an Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten alle: Lassen Sie uns in den kommenden Jahren keinen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wettstreit im Miesmachen und Nörgeln austragen! In den letzten Tagen geistert immer wieder ein Thema (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten durch die Medien, das auch hier gern zitiert wird und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) missverstanden werden kann: Es wird Mut zu einer lang- fristigen Strategie gefordert. Ich halte das für richtig. Wir Das Land hat dafür keine Zeit. Lassen Sie uns gemeinsam brauchen Mut, nur mit Mut haben wir eine Chance, unser die notwendigen Entscheidungen treffen, vor die wir ge- Land zu regieren. Wenn sonntags eine Rede über die rich- stellt sind – und dies mit Mut und Konsequenz! Lassen Sie tige Politik gehalten wird, wissen auch alle, was Mut ist. uns vor allem den Menschen beweisen, dass wir keine Lobbyrepublik sind, sondern uns den Aufgaben stellen, zu Man kann zum Beispiel sagen: Wir müssen dazu beitra- deren Bewältigung wir gewählt worden sind. gen, dass die Steuersätze in unserem Land sinken und dass Steuerschlupflöcher gestopft und Subventionen gestri- Unser Wählerauftrag ist klar: Die Menschen haben uns chen werden. Niemals mit irgendeiner Relevanz für die das Vertrauen ausgesprochen, weil wir das bessere Kon- CDU/CSU-Fraktion, aber doch immer wieder in Zeitungen (B) zept für die Zukunft unseres Landes haben. Die Wähle- veröffentlicht, hat zum Beispiel der Kollege Uldall, der (D) rinnen und Wähler können sich darauf verlassen: Wir jetzt in Hamburg Senator sein darf, Vorschläge zu gestaf- schaffen gemeinsam ein modernes Deutschland. felten Steuersätzen gemacht. Sämtliche Schlupflöcher und Herzlichen Dank. Subventionen, die wir jetzt streichen, waren dabei längst gestrichen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn aber der Mut konkret gefordert wird, dann ist al- les anders. Dann melden sich nämlich all diejenigen, die vorher Vorschläge gemacht haben, zu Wort und fordern: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Dieses Steuerschlupfloch, diese Subvention und diese Frau Kollegin Bätzing, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Einzelregelung sollen aufrecht erhalten bleiben. ersten Rede im Deutschen Bundestag, die Sie als neues Dass man sich dabei sehr lächerlich machen kann, hat Mitglied dieses Hauses zum denkbar frühesten Zeitpunkt uns Frau Merkel vorgemacht. Sie hat sich nämlich in der haben halten können. Geschichte der Bundesrepublik jetzt damit hervorgetan, (Beifall im ganzen Hause) dass sie den halben Mehrwertsteuersatz für Schnittblumen verteidigt hat. Ich glaube, solche Forderungen zeigen letzt- Ich bitte schon jetzt die zahlreichen weiteren neuen lich, wie die Subventionsbekämpfung bei Ihnen konkret Kolleginnen und Kollegen um Verständnis dafür, dass aussieht. vermutlich nicht alle in der 21-stündigen Aussprache zur Regierungserklärung zu Wort kommen können. ( [CDU/CSU]: Fragen Sie Ihre eigenen Leute!) Als Nächstes erteile ich dem Kollegen Scholz für die SPD-Fraktion das Wort. Ich glaube, es ist richtig, dass wir ein Konzept vorgelegt haben, in dem weitere Steuersenkungen enthalten sind. In den Jahren 2004 und 2005 werden 29 Milliarden Euro an Olaf Scholz (SPD): die Bürgerinnen und Bürger zurückgegeben. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Vorher haben eine interessante Rede von Frau Merkel gehört, sie 40 Milliarden mehr bezahlt!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Diese Einnahmen fehlen in den Kassen von Bund, Län- Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr gute dern und Gemeinden und deshalb ist es auch richtig, wei- Rede!) tere Schlupflöcher zu stopfen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 91

Olaf Scholz (A) Eines dieser Schlupflöcher hat bei Ihnen im Wahl- sie jetzt anstehen. Dies haben Sie aber nicht getan. Viel- (C) kampf eine große Rolle gespielt. Zum Beispiel hat Herr mehr bleiben Sie nach dem halben Satz stecken. Sie sind Merz gesagt, es kann nicht sein, dass die Kapitalgesell- mutlos, weil Sie keine Alternativen benennen. schaften in Deutschland im Saldo mehr Steuern erstattet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bekommen als sie zahlen. Von Herrn Stoiber ist im Wahl- DIE GRÜNEN) kampf, teilweise mit zitternder Stimme, immer wieder er- wähnt worden, dass es dringend notwendig sei, die Aus- Das Gleiche machen Sie bezüglich unseres Arbeits- fälle bei der Körperschaftsteuer zu bekämpfen. Dazu hat marktes. Dazu bringen Sie auch immer nur den Vor- er etwas Ähnliches wie Herr Merz gesagt. schlag, dass die Verkrustungen aufgebrochen werden sol- len. Interessant wäre es, von Ihnen einmal zu hören, was Nun gehen wir das an – das ist ein ganz wichtiger Teil dies denn ist, ob Sie etwa den seit Anfang der 50er-Jahre des Subventionsabbaus und des Stopfens von Steuer- in Deutschland bestehenden Kündigungsschutz abschaf- schlupflöchern –, indem wir sicherstellen, dass Unterneh- fen, halb abschaffen oder viertel abschaffen wollen. Viele men und Körperschaften, die Gewinne machen, auch Ihrer Freunde glauben, dass Sie genau dies wollen. Viele Steuern zahlen. Das ist gut so, dem sollten auch Sie zu- sollen es aber offenbar nicht hören und deshalb bleiben stimmen. Sie mutlos und sagen es nicht. Ihnen fehlt bei Ihrer Kritik (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ an der Regierungserklärung also wirklich der Mut. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Tatsächlich sind Sie in dieser Frage aber sehr leise ge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) worden. Sie kommen gar nicht mehr darauf zurück, son- Ich will Ihnen sagen, welches jetzt und in den nächsten dern erwähnen nur noch die Schnittblumen und den vier Jahren bei der Diskussion über die Regierungsarbeit Mehrwertsteuersatz, der für diese angehoben werden soll. Ihr großes Problem sein wird. Ihr Problem wird sein, dass (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wer redet Sie keine Alternativen benennen. Dies ist auch der Grund hier von Schnittblumen?) dafür, warum Sie die Wahl nicht gewonnen haben. Tatsächlich befinden wir uns in einer schwierigen wirt- Das ist gewissermaßen die Kontinuität Ihrer Gedanken schaftlichen Lage und es ist schwierig für eine Regierung, vor und nach der Wahl. Deshalb: Es gibt ganz andere, die wiedergewählt zu werden, wenn sich die Arbeitslosigkeit die Wähler getäuscht haben; denn wer die CDU gewählt so entwickelt, wie sie das in den letzten Jahren getan hat. hat, könnte gedacht haben, jetzt geht es den großen Kon- zernen endlich an den Kragen. Tatsächlich aber wollen Herr Stoiber hat immer wieder gesagt, das Arbeitslo- Sie das, was wir jetzt vorhaben, gar nicht unterstützen. sigkeitsproblem sei groß – was übrigens so ist –, er hat (B) aber immer wieder vergessen, irgendeinen Vorschlag zu (D) Meine Damen und Herren, es ist wichtig, sich darüber machen, von dem irgendjemand hätte annehmen können, zu unterhalten, dass es die mutlosen Mutigen gibt. Die er hätte eine Idee, wie dies geändert werden sollte. mutlosen Mutigen sind diejenigen, die immer sagen, was man eigentlich tun müsste, aber die Sätze nicht zu Ende (Jörg Tauss [SPD]: Noch nicht einmal in Bayern!) sprechen. Sätze, die nicht zu Ende gesprochen werden, sind beispielsweise: Man braucht auf dem Arbeitsmarkt Deshalb haben die Menschen gesagt: Der Stoiber kann endlich einen Aufbruch, der Verkrustungen beseitigt; wir es auf jeden Fall nicht besser. Den wählen wir nicht. müssen etwas bei der Rente tun, damit die Beiträge nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weiter steigen; auch bei der Gesundheitspolitik ist das er- DIE GRÜNEN) forderlich, hier muss etwas getan werden, damit wir mit dem Geld besser auskommen. Wenn Sie so weitermachen, wird man bei den Wahlen, die demnächst anstehen, und auch in vier Jahren sagen: Die Fragen aber, die weder Frau Merkel noch Herr Die CDU/CSU kann nur sagen, das ist aber schlimm, sie Glos, noch jemand anders beantwortet, lauten: Was soll kann aber nicht sagen, was man tun soll. Sie als Opposi- man tun? Hier setzen Sie ein bisschen darauf, dass Ihre ei- tion brauchen aber den Mut, sich zu konkreten Konzepten gentlichen Freunde wissen, was Sie tun wollen, und viele zu bekennen. Dazu fordere ich Sie auf. es nicht wissen und glauben, Sie machen etwas Vernünf- tiges. Denn tatsächlich haben Sie ganz konkrete Vorstel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lungen, die Sie auch nennen könnten, aber Sie nennen sie DIE GRÜNEN) nicht. Soll es so sein, dass wir bei medizinischen Leistun- Meine Damen und Herren, in der Familienpolitik ha- gen Kürzungen durchführen und sagen, diese gibt es nicht ben Sie ein ähnliches Problem. Was Sie dabei falsch ma- mehr? Ist das mutig? Ist das richtig? chen, grenzt schon ans Dramatische. Ich erinnere mich Wenn Sie das für richtig halten, müssen Sie auch den sehr genau daran, dass sich ein früherer Generalsekretär Mut haben, das zu sagen, statt Ihre Sätze unvollendet zu Ihrer Partei darum bemüht hat, aufzuzeigen, dass Sie bei lassen und dann, wenn Sie sich mit der Regierung und der Familienpolitik ein Defizit haben. Das war Ihr Herr dem Konzept des Koalitionsvertrags auseinander setzen, Geißler. Er ist daran gehindert worden. Dann haben Sie den Eindruck zu erwecken, als hätten Sie ein Konzept vor- 1998 die Wahl verloren. Ich erinnere mich noch ganz ge- zuschlagen. nau an alle Wahlanalysen, die Sie gemacht haben. Eigent- lich haben Sie gesagt: Hätten wir doch zehn Jahre früher Zur Rente könnten Sie sagen, Sie wollen erreichen, auf den Geißler gehört. Wir haben ein Defizit in der Fa- dass es nicht zu solchen Beitragssteigerungen kommt, wie milienpolitik. Niemand glaubt uns da mehr was. 92 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Olaf Scholz (A) Konsequenz gab es keine. Nun war die Bundestags- Volkes, sondern das muss der Außenminister heimlich in (C) wahl. Sie haben die Analysen der Meinungsforschungs- irgendwelchen Kabinetten beschließen. – institute gelesen. Darin stand schon wieder das Gleiche. Dann durfte sich Frau Reiche kurzfristig profilieren. Jetzt (Vorsitz: Vizepräsidentin Susanne Kastner) haben Sie die Wahl verloren und haben gemeinsam analy- Aber auch heute gingen eigentlich alle Vorwürfe, die siert: Wir haben die Wahl verloren, weil wir in der Famili- Sie der Bundesregierung und dem Bundeskanzler ge- enpolitik ein nicht mehr zeitgemäßes Profil haben. Und macht haben, in die Richtung, dass die Frage von Krieg was ist? – Frau Reiche ist abgemeldet und Sie kritisieren und Frieden nicht vom Volk entschieden oder vom Deut- die Politik der Bundesregierung aus dem gleichen Blick- schen Bundestag breit diskutiert werden könne; winkel wie seit 1950. Ich glaube, dies ist Ihr Problem. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sie muss nur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ehrlich beantwortet werden!) DIE GRÜNEN) sie gehöre in die Kabinette und geheimen diplomatischen Ich warne Sie auch: Retten Sie sich nicht mit den For- Zirkel. Das ist nicht richtig! meln, von denen Sie glauben, dass Sie damit von der ei- nen Tür zur nächsten kommen. Ihre Formel lautet immer, (Beifall bei der SPD) wir wollten den Menschen etwas vorschreiben, wir woll- Ich glaube, Sie müssen lernen, dass Deutschland über ten ihnen zum Beispiel vorschreiben, dass sie arbeiten müssen. Das ist eigentlich das Einzige, was Ihnen zur Fa- diese Frage diskutieren muss. Es gibt ein Vorbild, das milienpolitik einfällt. Dabei ist dies nicht das Problem un- ich Ihnen zur Nachahmung empfehle, nämlich die Verei- serer Gesellschaft. nigten Staaten von Amerika; Wir haben eine Gesellschaft, in der es für Familien, in de- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nen beide Partner berufstätig sein wollen, so schwierig ist denn in den Vereinigten Staaten von Amerika wird das, wie in kaum einem anderen Land in Europa, dies zu organi- was wir hier nicht bereden dürfen, allerorten öffentlich sieren, weil wir weniger Ganztagsbetreuungsplätze und we- diskutiert. niger Ganztagsschulen als zum Beispiel Frankreich haben. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das können (Ulrich Heinrich [FDP]: Das hättet ihr in den wir auch!) Ländern beispielsweise tun können! Aber das habt ihr nicht gemacht!) Wenn Sie einen Fernsehsender einschalten, können Sie all die Fragen, über die wir hier nicht diskutieren sollen, in Deshalb sage ich Ihnen: Sie haben ein großes Problem. Senats- und Kongressausschüssen breit diskutiert finden. Wenn Sie sich politisch nicht bewegen, werden Sie es (B) auch nicht lösen können. Sie haben die Lufthoheit über (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (D) den Kinderbetten verloren. Solange das der Fall ist, wer- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den Sie keine Wahl in Deutschland gewinnen können. So ist es richtig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ Der Unterschied zwischen den beiden Staaten ist: Die CSU]: Aber nur, wenn die Windeln nicht ge- Vereinigten Staaten von Amerika sind seit 200 Jahren eine wechselt sind!) Demokratie, wir haben erst seit 50 Jahren das Glück. Außerdem hat sich Deutschland 1999 im Kosovo das erste Ich will noch etwas zum Thema Irak sagen, das Sie an- Mal als ein demokratischer Staat an einem Krieg beteiligt. gesprochen haben, und zwar auch, weil Frau Merkel ge- Deshalb haben viele noch keine Argumentationsmuster sagt hat, wir würden jetzt etwas anderes sagen als vor der und nicht die Fähigkeit zur Diskussion über Richtig und Wahl. Falsch bei diesem Thema. Sie brauchen einen demokrati- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist so!) schen Impuls in der Debatte über Außenpolitik. Das würde Das hat eigentlich niemand verstanden, denn wir machen Ihnen nützen und die Sache glaubwürdiger machen. genau das, was wir vor der Wahl angekündigt haben. Die Schönen Dank. Bundesrepublik Deutschland bleibt bei ihrer Haltung, nämlich dass wir sagen: Es wird keine deutsche Beteili- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gung an einem Krieg im Irak geben. Dies ist unsere Aus- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sage und bei der bleibt es. (Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt Vizepräsidentin Susanne Kastner: [FDP]: Ich höre doch schon andere Stimmen bei Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, fraktions- Ihnen!) los. Es empfiehlt sich, dass Sie einen weiteren Punkt dis- kutieren, nämlich das Jahrhundert, in dem wir leben. Das Petra Pau (fraktionslos): Thema Außenpolitik hatte im 19. Jahrhundert sicherlich eine andere Bedeutung als in diesem. Sicherlich wäre es Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! im Jahre 1895 ein interessanter Beitrag gewesen, wenn je- Auf den Pressefassungen von Regierungserklärungen mand gesagt hätte: Es kann nicht sein, dass wir hier über heißt es stets: Es gilt das gesprochene Wort. Das ist im die Frage, was Deutschland tun soll, diskutieren; das heutigen Falle besonders angebracht; denn was vom ge- gehört nicht ins Parlament und ist auch keine Sache des schriebenen Wort – ich meine den Koalitionsvertrag – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 93

Petra Pau (A) demnächst wirklich noch gilt, das wissen wir nicht, leider Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zu den neuen (C) auch nicht nach der heutigen Rede des Bundeskanzlers. Bundesländern. Vor zwei Jahren hat der Bundestagspräsi- dent gemahnt, der Osten stehe auf der Kippe. Seither hat (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch sich nicht wirklich etwas zum Besseren gewendet. [fraktionslos]) (Peter Hintze [CDU/CSU]: Es ist Frau Merkel hat sich vorhin beschwert, sie fühle sich ge- oder enttäuscht. Dazu kann ich nur sagen, meine Da- runtergefallen!) men und Herren von der CDU/CSU, für so naiv hätte ich Wir wissen doch alle: Die Vorschläge der viel gepriese- sie nicht gehalten. nen Hartz-Kommission wären, wenn sie denn eins zu eins Wir, das heißt die „PDS im Bundestag“, legen zur umgesetzt würden, pures Gift für den Osten. Dies wären sie Bewertung ein übersichtliches Maß an. Unsere Fragen aber nicht nur für den Osten, sondern auch für struktur- lauten schlicht und nachvollziehbar: Zielt das durch SPD schwache Regionen im Westen, zum Beispiel Oberfranken. und Bündnis 90/Die Grünen Verabredete auf mehr soziale Ich vermute, dass Herr Minister Stolpe einen ganz Gerechtigkeit oder nicht? Zielt es auf eine militärfreie großen Erwartungsdruck im neuen Amt spüren wird. Bis- Außenpolitik oder nicht? Zielt es auf eine bürgerrechtli- lang habe ich von ihm aber nur eine einzige Botschaft che Innenpolitik oder nicht? Zielt es auf eine nachhaltige gehört und die hieß: Für den Aufbau Ost werden keine Umweltpolitik oder nicht? Zielt es auf eine wirksame Mittel gestrichen. Eine solche Aussage ist für einen be- Politik für die neuen Bundesländer oder nicht? Sollten stellten Hoffnungsträger arg wenig bis gar nichts. Sie in diese Richtungen agieren, dann können Sie mit un- serer Zustimmung rechnen. Wenn ich allerdings den (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Koalitionsvertrag und die heutige Regierungserklärung [fraktionslos]) wäge, dann stelle ich fest, dass Sie überwiegend mit un- Lassen Sie mich zum Schluss noch ein aktuelles Pro- serem Nein rechnen müssen. blem ansprechen, und zwar die Zusage des Kanzlers und In diesem Zusammenhang möchte ich auch etwas an- des Außenministers, die Bundesrepublik werde sich nicht deres klarstellen: Der Abstand der rot-grünen Politik zu an einem Irak-Krieg beteiligen. Wenn dieses Nein konse- dem, was die CDU/CSU will, ist viel geringer, als die quent sein soll, dann schließt das auch logistische Hilfen Lautstärke, mit der die Opposition zur Rechten heute Weh aus. Dann verbietet es sich, hoheitliche Rechte der Bun- und Ach geklagt hat, vermuten lässt. desrepublik an die USA abzutreten. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) los] sowie bei Abgeordneten der SPD) Dann erwarte ich eine klare Ansage, dass für Rot-Grün Am klarsten zeigt sich das wohl, wenn es um die das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mehr (B) Minimierung der Massenarbeitslosigkeit geht. Beide gilt als ein konstruierter NATO-Bündnisfall. (D) großen Blöcke des Bundestages verbreiten die Mär von Der Bundeskanzler ist in seiner Regierungserklärung den bösen Lohnnebenkosten, beide großen Blöcke des auch auf den EU-Konvent eingegangen. Die PDS begrüßt Bundestages beten den Götzen Wirtschaftswachstum an es, dass Europa hier aus seinem Schattendasein heraus- und beide großen Blöcke des Bundestages stellen letzt- kommt. Ich finde, es soll aber nicht nur, wie der Bundes- endlich Betroffene an den Pranger. Das ist nicht modern, kanzler heute gesagt hat, ein Europa der Bürger, sondern das ist unterwürfig. Das sind Ergebenheitsadressen ge- auch der Bürgerinnen werden. Dazu gehört auch, dass zur genüber globalen Interessen des großen Kapitals; es ist europäischen Verfassung 2004 eine Volksabstimmung also keine wirkliche Politik. stattfindet. Sie alle wissen, dass es nicht reicht, hier und da ein Danke schön. Steuerschlupfloch zu stopfen oder die eine oder andere Subvention infrage zu stellen. Das alles muss sein, reicht (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch aber nicht aus. Die PDS fordert grundsätzlich ein Um- [fraktionslos]) steuern, politisch und finanziell. Nun will ich hier nicht über die Tobinsteuer reden, son- Vizepräsidentin Susanne Kastner: dern nur über die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Den besten Beleg, wie es bei Rot-Grün zugeht, liefert ihr Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. neuer Superminister Clement. Als er noch Landesminister Wir kommen nun zu den Bereichen Europa, Außen- und war – das war noch vor wenigen Tagen –, sprach er sich Sicherheitspolitik, Entwicklungspolitik und Menschen- heftig für die Vermögensteuer aus. Nun ist Herr Clement rechte. die Bundes-Treppe hinaufgefallen und prompt spricht er dagegen. Die Nagelprobe wird es für Sie im Bundesrat ge- Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, ben: Rot-Rot in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern Joseph Fischer. wollen die Vermögensteuer. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: [fraktionslos]) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir Ich bin gespannt, wie sich die anderen Bundesländer ver- hier heute über die Zukunft der Außen- und Sicherheits- halten werden, und füge hinzu: Die Abstinenz der Bun- politik sprechen, dann handelt es sich, wie ich denke, um desregierung in dieser Frage ist nicht klug; sie ist einfach eine der ganz großen Herausforderungen, mit denen wir abwiegelnd und feige. in den kommenden vier Jahren konfrontiert werden. Wir 94 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundesminister Joseph Fischer (A) haben es dabei auf der Grundlage der Kontinuität deut- zwischen dem Atlantik und dem Pazifik, der arabisch- (C) scher Außen- und Sicherheitspolitik einerseits mit der islamischen Welt, begegnen können, sondern gleichzeitig Fortsetzung der großen Linien, auf denen die Außenpoli- auch zu einer Antwort. Diese Antwort muss aus drei Ele- tik unseres Landes basiert, zu tun; andererseits müssen menten bestehen: wir uns den neuen Herausforderungen, vor allen Dingen Erstens. Dem Terrorismus muss mit den notwendigen aber auch den neuen Bedrohungen stellen. Machtmitteln aktiv entgegengetreten werden. Diese Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede Folgendes un- Machtmittel sind aber in den wenigsten Fällen militäri- terstreichen: Für die deutsche Außen- und Sicherheits- scher Natur; sie sind im Wesentlichen polizeilicher und politik ist es konstitutiv, dass die großen Grundlinien fort- geheimdienstlicher Natur und gründen auf Ermitt- geführt werden. Das bedeutet die Einbindung unseres lungstätigkeiten, die gleichzeitig eine internationale Alli- Landes in den europäischen Integrationsprozess, der in anz notwendig machen. den vor uns liegenden zwei Jahren in der Tat vor großen Zweitens müssen Regionalkonflikte gelöst werden. Herausforderungen steht, die Einbindung in das Transat- lantische Bündnis sowie die Pflege des Verhältnisses Die Regionalkonflikte bergen in sich die große Gefahr, zu den Vereinigten Staaten von Amerika und unser auf dass sie eskalieren. Diese politische Lösung von Regio- der historisch-moralischen Verantwortung für unsere nalkonflikten ist die entscheidende Voraussetzung, um Geschichte gründendes Sonderverhältnis zu Israel. Das den Nährboden für Terrorismus trockenzulegen. sind die drei wesentlichen Grundlinien, die die deutsche Drittens. Im Wesentlichen sind es junge Gesellschaf- Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch unsere Interes- ten. Diesen müssen wir nicht nur in einem geistigen Dia- senlage bestimmen. log begegnen, sondern wir müssen ihnen auch eine kultu- Gleichzeitig haben wir es seit dem 11. September letz- relle und geistige Antwort sowie eine ökonomische und ten Jahres mit einer Situation zu tun, in der wir in der Tat politische Perspektive geben. Auf eine umfassende Si- vor einer neuen strategischen Bedrohung unserer Sicher- cherheitsbedrohung müssen wir mit einer umfassenden heit stehen, nämlich dem internationalen Terrorismus. Zu- Sicherheitsantwort reagieren. Dialog heißt für mich, dass erst und vor allen Dingen möchte ich Ihr Augenmerk da- wir nicht nur freundliche Dinge sagen, sondern dass wir rauf lenken, dass diese Bedrohung nicht von selbst wieder auf den Punkt kommen: Lässt sich etwa die Konvention verschwinden wird. Diese Bedrohung bedarf gewiss einer der Menschenrechte mit der Scharia vereinbaren? Diese festen und, wo es notwendig ist, auch militärischen, poli- Frage führt zum Kern des Problems. zeilichen und geheimdienstlichen Antwort; denn den Ter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rorismus wird man nicht durch Gespräche besiegen kön- und bei der SPD) nen. Das gilt vor allem für den neuen Totalitarismus, Wenn das alles richtig ist und wenn das die Gefahren (B) nämlich den islamistischen Terrorismus eines Osama (D) Bin Laden, der den Massenmord, den Tod zum Programm sind, wenn es also richtig ist, dass der Status quo am für sich erhoben hat. Diesen wird man niederkämpfen und 11. September so erschüttert wurde, dass wir nicht mehr besiegen müssen. mit ihm leben können, wenn es richtig ist, dass die Lösung von Regionalkonflikten dabei eine essenzielle Vorausset- Gleichzeitig können wir erkennen, dass bei dieser Ge- zung ist, und wenn es richtig ist, dass wir verhindern müs- fahr vier Elemente verknüpft werden. Wenn diese zusam- sen, dass Massenvernichtungsmittel in die Hände von mentreffen, bedeutet dies in der Tat eine strategische Be- Terroristen geraten, dann – darin liegt die Differenz zur drohung, die man nicht unterschätzen darf. Ich möchte Einschätzung in den USA – frage ich mich allerdings, um dies vor allen Dingen am pakistanisch-indischen Konflikt es ganz diplomatisch zu formulieren, ob die Prioritäten- festmachen, weil wir dort diese neue strategische Bedro- setzung bezüglich des Irak tatsächlich Sinn macht. Ich hung sehr klar erkennen können: komme nämlich zu völlig anderen Konsequenzen. Der Konflikt um Kaschmir ist exemplarisch für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zukünftige Sicherheitsbedrohung. Bei diesem finden wir und bei der SPD) das Element des religiösen Konfliktes; in der europä- ischen Geistesgeschichte und politischen Geschichte gab Das ist meine große Sorge, die ich der amerikanischen es dieses im 16. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Reli- Seite im Übrigen nicht erst während des Bundestagswahl- gionskriege. Wir finden das Element der nationalistischen kampfs, sondern bereits während meines ersten Besuchs Konfrontation zwischen Nachbarn, also ein Element aus nach dem 11. September, nämlich am 19. September, dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wir finden das Ele- mitgeteilt habe. Ich bin nicht der Meinung und glaube ment der Nuklearisierung, der Massenvernichtungsmittel, nicht daran – unter Partnern muss man das offen aus- also ein Element aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. sprechen –, dass diese Prioritätensetzung mit Blick auf Schließlich finden wir ein Element aus dem beginnenden das gemeinsam erkannte Bedrohungsszenario richtig ist. 21. Jahrhundert, nämlich den Terrorismus. Das ist der entscheidende Punkt. Das ist die neue Herausforderung, mit der wir es zu tun (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nein!) haben. Ich habe hier den indisch-pakistanischen Konflikt – Doch, das ist die Kernfrage. erwähnt. Die Spur führt direkt zu einem Regionalkonflikt, der seit der Gründung von Indien und Pakistan nicht (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Mit einem gelöst wurde, nämlich zu dem Konflikt um Kaschmir. UN-Mandat!) Damit komme ich nicht nur zur Frage, wie wir dieser – Reden Sie sich nicht mit den UN heraus, so wichtig das terroristischen Gefahr in unserer großen Nachbarregion auch ist. Aber wir müssen Acht geben, dass unsere gute Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 95

Bundesminister Joseph Fischer (A) Absicht am Ende keine falschen Konsequenzen nach sich ben? – Keiner von Ihnen. Das meine ich gar nicht partei- (C) zieht, die die Terrorismusgefahr vergrößern könnten. politisch, Frau Kollegin Merkel. Es wurde gefordert. Aber wir haben es gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Wir haben es mit einer gefährlichen Region zu tun, bei der ich mir, Herr Kollege Gerhardt, nicht sicher bin, ob die Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sie haben Mehrheit im amerikanischen Kongress und die Mehr- den Konvent doch gar nicht gewollt!) heit des amerikanischen Volkes wirklich bereit sind – die – Ich habe den Konvent nicht gewollt? USA haben die nötigen Mittel, dort einzugreifen –, dort über Jahre oder vielleicht sogar Jahrzehnte auszuharren, (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Nein, um nach einem Regimewechsel eine neue Nation aufzu- den Konvent hat Ihnen das Parlament abgerun- bauen. Die Konsequenzen, die in dieser Region eintreten gen!) würden, wenn die USA nicht dauerhaft vor Ort blieben, Sie meinen also, ich hätte den Konvent nicht gewollt. Ich möchte ich Ihnen nicht ausmalen. – Das sind unsere dachte, der Privatmann Fischer habe eine Rede an der Gründe. Darüber werden wir morgen zum wiederholten Humboldt-Universität gehalten, die zum Konvent geführt Male mit unseren amerikanischen Partnern sprechen. habe. Unser Verständnis von Partnerschaft ist, dass man (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Später ja!) dann, wenn es Differenzen gibt, diese unter frei gewähl- ten, demokratischen Regierungen offen anspricht. Das hat Diese Initiative haben wir als Bundesregierung gemacht. nichts mit einem Gang nach Canossa zu tun. Wir haben Ich streite mich gerne mit Ihnen, aber doch nicht über ein anderes Verständnis von Bündnis. Dinge, die selbstverständlich sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) Die zweite große Herausforderung, vor der wir stehen, Wir brauchen diese Neugründung Europas. Ich möchte ist Europa. Die Erweiterung wird konkret. Bei allem, was nicht in die Details gehen. Aber für uns – der Bundes- man am letzten Gipfel im Einzelnen kritisieren mag, kanzler hat das heute in seiner Rede gesagt – ist ganz ent- bleibt es doch eine Tatsache, dass die Tür definitiv geöff- scheidend: Im institutionellen Dreieck müssen Kommis- net wurde. Das heißt, wir werden in Kopenhagen darüber sion, Europäisches Parlament und Rat, wenn es zu entscheiden, zehn neue Mitglieder aufzunehmen. Das ist Fortentwicklungen kommt – und es muss zu Fortentwick- (B) ein historischer Schritt, an dem nicht nur diese Bundesre- lungen kommen –, gleichgewichtig sein. Was wir nicht (D) gierung, sondern gerade auch die Vorgängerregierung ge- wollen, ist ein Rückfall in die Intergouvernementalisie- arbeitet hat, insbesondere der heute dem Haus nicht mehr rung. Das heißt für uns ganz klar: Wir wollen eine Stär- angehörende damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, den kung der Kommission und eine Klärung der Verantwort- ich deshalb, weil er sich hierbei bleibende Verdienste er- lichkeiten zwischen nationaler und integrierter Ebene. worben hat, noch einmal erwähnen möchte. Wir vergeben Auch wollen wir in diesem Rahmen eine Stärkung des Eu- uns überhaupt nichts, wenn wir an diesen Kontinuitäten ropäischen Parlaments. Das ist für uns Grundlage unserer festhalten. Arbeit. Daran werden wir die anderen Vorschläge ent- Für mich aber ist entscheidend, dass damit ein histori- sprechend messen. scher Schritt zum Zusammenführen Europas stattfindet, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wie es ihn in der Neuzeit noch nicht gegeben hat. Wenn SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) der Gründungskonsens der war, ein Europa zu schaffen, in dem Nationalismus keine Chance mehr hat, dann ist Ganz entscheidend wird es aber darauf ankommen, dieser Schritt, der jetzt in Kopenhagen gemacht wird, ein dass wir in diesem Bereich einen deutsch-französischen konsequenter Schritt. Konsens erzielen. Wenn er erreicht wird – daran arbeiten wir; das hat das letzte Zusammentreffen des Europäischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rates gezeigt –, dann wird diese europäische Zukunft in und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angela der Tat gestaltet werden können, und zwar nicht unter Merkel [CDU/CSU]) Ausschluss, sondern unter Einbeziehung der anderen Mit- Dies aber macht notwendig, dass wir die EU der 25 und gliedstaaten. mehr neu gründen. Diese Neugründung findet im Verfas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sungskonvent statt. Dieser Verfassungskonvent geht auf und bei der SPD) eine Initiative dieser Bundesregierung zurück. Dazu kann ich nur sagen: Der Vorschlag, den gestern Giscard als Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aus aktuellem Rahmen gemacht hat, ist ein Vorschlag, der wirklich alle Anlass eine Frage kurz im Zusammenhang mit Russland Diskussionen und eine vorurteilsfreie Prüfung verdient. und Tschetschenien ansprechen. Jeder, der meint, er habe Seien wir doch ehrlich: Hätten wir vor zwei Jahren ge- dafür eine einfache Antwort, irrt. Ich kann nur davor war- dacht, dass wir heute in der Europäischen Union nicht nur nen, die territoriale Integrität der Russischen Föderation am Vorabend der Erweiterung um zehn neue Mitglied- infrage zu stellen. Ich meine zwar nicht, dass dies jemand staaten stehen, sondern gleichzeitig auch die erste Grob- tut; aber wir haben es schließlich mit einer separatisti- struktur einer europäischen Verfassung auf dem Tisch ha- schen Bewegung zu tun. 96 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundesminister Joseph Fischer (A) Was ein weiteres Aufbrechen der Russischen Födera- – Auf der einen Seite wird gesagt, der deutsch-französi- (C) tion hinsichtlich der Entstehung von Gewalt und Instabi- sche Motor solle laufen – ich frage Sie, was es zum Bei- lität hieße, muss ich nicht weiter ausführen. Umgekehrt spiel Helmut Kohl gekostet hat, diesen Motor immer am aber entwickelt sich Russland hin zur Demokratie. Die Laufen zu halten –, und auf der anderen Seite fragen Sie Menschen in Tschetschenien sind russische Bürgerinnen jetzt: „Haben Sie das auch schon gemerkt?“ – So ist das und Bürger und haben Menschenrechte. Diese Men- mit der Opposition. Sie müssen sich aber entscheiden. schenrechte müssen in einer Demokratie beachtet werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Das ist für mich der entscheidende Punkt. wie bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [CDU/CSU]: Hören Sie jetzt auf damit! Sie und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der führen sich auf da oben!) CDU/CSU und der FDP) Ich komme zu einem anderen Punkt. Hinsichtlich der Ich warne jedoch vor den tschetschenischen Terroristen Türkei haben wir möglicherweise eine Kontroverse, nicht – mir liegen entsprechende Informationen vor; ein Teil da- aber in der Frage, ob wir eine Gefälligkeitsentscheidung von ist auch dem einen oder anderen Kollegen bekannt –, zugunsten der USA treffen. Wir haben keine Gefälligkeit die ebenfalls grausamste Menschenrechtsverletzungen be- zu erbringen. Wir sind gute Partner in der Operation gehen. Wenn aber Russland ein demokratischer Rechtsstaat Enduring Freedom im Kampf gegen den Terror. Wir sind ist, dann muss er die Grundlagen demokratischer Rechts- uns einig in der Umsetzung der einschlägigen Resolutio- staatlichkeit auch und gerade gegenüber unbescholtenen nen des Sicherheitsrats im Zusammenhang mit dem Irak. Bürgerinnen und Bürgern, gegenüber den russischen Wir sind uns nicht einig in der Bewertung einer Militärak- Staatsbürgern der Russischen Föderation in Tschetschenien tion. In dieser Frage sind wir unterschiedlicher Meinung zum Tragen bringen. Deswegen befinden wir uns in der und wir werden uns an einer Militäraktion nicht beteiligen. schwierigen Situation, einerseits Russland als Partner zu Aber die EU-Mitgliedschaft der Türkei ist eine völlig haben und diese Partnerschaft fortzuentwickeln, anderer- andere Frage. Ich frage die Union umgekehrt: Sie wissen seits aber der russischen Seite zu vermitteln, dass Demo- so gut wie ich, Herr Schäuble, dass Sie, wenn Sie der Tür- kratien auch unter schwierigsten Bedingungen an die eige- kei die Tür zur Mitgliedschaft verschließen, damit für die nen Grundregeln und Rechtsstaatsprinzipien gebunden zivilen Kräfte in der Türkei und für die Modernisierer seit sind. Das macht unseren Umgang mit Tschetschenien bzw. Kemal Atatürk die Tür schließen; denn Modernisierung in mit der russischen Politik in Tschetschenien aus. der Türkei bedeutet Orientierung an Europa. Wir wissen, dass die Türkei ein schwieriger Partner ist und dass sie Ich kann von dieser Stelle aus nur nochmals an die Ver- heute die Kopenhagener Kriterien noch nicht erfüllt. Ich antwortlichen in Russland appellieren, endlich eine poli- bin mir auch nicht sicher, ob die Türkei dann, wenn sie ei- tische Lösung herbeizuführen. (B) nes Tages diese Kriterien erfüllt, bereit sein wird, den (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Souveränitätsverzicht zu leisten, den eine Vollmitglied- und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angela schaft in der Europäischen Union bedeutet und der not- Merkel [CDU/CSU]) wendig ist, um in der Europäischen Union voll integriert zu sein. Aber in einem bin ich mir sicher: Wenn wir das, Wer die Geschichte des Kaukasus und Tschetscheniens was Sie wollen, machen würden, dann würden sich die kennt, weiß, dass dort mit Gewalt letztendlich keine Lö- Nationalisten und die Islamisten in der Türkei die Hände sung herbeizuführen ist, sondern dass sie nur zu immer reiben. Das wäre das Ende der Modernisierung. Darin weiteren Blutbädern führen würde. Deswegen ist eine po- bin ich mir sicher. Das und nichts anderes macht unsere litische Lösung notwendig. Position und die des Bundeskanzlers aus. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eines (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ansprechen. Die Türkei ist direkter Nachbar dieser Krisen- und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: region. Sie ist auch direkter Nachbar der Region, über die Das ist nicht wahr!) ich vorhin gesprochen habe. Es ist abwegig zu meinen – wer unsere Position kennt, weiß, dass es abwegig ist –, wir Ich bestreite überhaupt nicht – niemand tut das –, dass würden als überzeugte Europäer aus Gefälligkeit – deswe- es sich bei der Türkei um einen schwierigen Partner han- gen spreche ich es an, Herr Kollege Schäuble; nehmen Sie delt. Aber die Schwierigkeiten mit der Türkei wird man jedes Wort so, wie es es sage – zum jetzigen Zeitpunkt die nicht durch Wegsehen oder durch einfache Antworten be- Tür öffnen. Wir haben die in Helsinki gefassten Beschlüsse seitigen können. Denn wenn meine Analyse der strategi- nicht aus Gefälligkeit gegenüber den USA gefasst. Wenn schen Bedrohung Europas und damit auch unseres Landes ich in den USA bin – ich würde mich freuen, wenn andere durch den islamistischen Terrorismus richtig ist, dann dies genauso tun würden –, führe ich das immer an, um es stellt sich die Frage: Gelingt eine laizistische, also weltli- den amerikanischen Gesprächspartnern zu verdeutlichen. che, Modernisierung der Türkei, eines der größten islami- schen Länder, auf demokratischer und rechtsstaatlicher Im Übrigen ist auch an die Kosten zu denken. Gerade Grundlage? Diese Frage ist wichtiger als viele Diskussio- der jüngst gefundene deutsch-französische Kompromiss nen, die wir gegenwärtig im Zusammenhang mit militäri- im Zusammenhang mit der Agrarpolitik zeigt, dass das al- schen Optionen bezüglich eines anderen Landes führen; les nicht kostenneutral zu bekommen ist. Das mache ich denn wenn es gelänge, die Türkei zu modernisieren, dann den amerikanischen Gesprächspartnern klar. Das ist sehr hieße das, eine Antwort auf die Frage nach der strategi- wichtig. schen Sicherheit der gesamten Region zu geben. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie das auch schon gemerkt?) und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 97

Bundesminister Joseph Fischer (A) Für diese Politik steht die jetzige Bundesregierung in der Kriegsführung ist angesichts der Tatsache, dass sich alles (C) Außen- und Sicherheitspolitik. miteinander vermischt, viel komplizierter geworden –, begegnen wollen, unsere Bemühungen um die interna- Ich kann Ihnen nur versichern: Gründend auf den Kon- tionale Solidarität, und zwar sowohl um die atlantische tinuitäten, die wir vorgefunden haben, werden wir uns den als auch um die europäische, verstärken müssen. Darauf neuen Herausforderungen stellen und dafür sorgen, dass sind wir auf Gedeih und Verderb angewiesen. Deswegen Deutschland seinen Beitrag in einem zusammenwachsen- geht es nicht um Meinungsfreiheit – die braucht man den Europa, aber auch in einem sich verändernden, ge- gegenüber den Amerikanern nicht zu verteidigen –, son- stärkten atlantischen Bündnis leisten wird. dern um europäische Geschlossenheit, atlantische Soli- Ich danke Ihnen. darität und die Handlungsfähigkeit der Vereinten Natio- nen. Diese haben Sie schwer geschädigt und das war der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fehler. und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Susanne Kastner: Daran können Sie nicht vorbeireden. Nächster Redner ist Dr. Wolfgang Schäuble, CDU/ In vielem sind wir ja gar nicht unterschiedlicher Mei- CSU-Fraktion. nung. Über die Einzelheiten wird man in den kommen- den Jahren weiter diskutieren. In den Diskussionen wird es darum gehen, wie wir ein großes und starkes, ein Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): handlungsfähiges, ein effizienteres Europa zustande Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! bringen, wie wir die Rolle Europas in globaler Verant- Herr Bundesaußenminister, Sie sind geübt, wenn es da- wortung, in atlantischer Partnerschaft stärken, sodass rum geht, von den eigentlichen Problemen abzulenken. europäisches Engagement keine Alternative zu atlanti- scher Solidarität ist, weil wir die atlantische Partner- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und schaft nur wirkungskräftig erhalten werden, wenn das sonst haben Sie keine Antwort?) Ungleichgewicht zwischen dem amerikanischen Teil – Darauf komme ich noch zu sprechen. Lassen Sie mich und dem europäischen Teil nicht immer größer wird, wenigstens zwei Sätze im Zusammenhang sagen, bevor wenn die Europäer einen stärkeren Beitrag leisten, mehr Sie dazwischenrufen. mit einer Stimme sprechen, mehr Fähigkeiten haben. Das alles ist richtig. Aber in den letzten Monaten haben Das eigentliche Problem ist doch nicht, dass man nicht Sie Europa in der entscheidenden Frage handlungsun- darüber reden kann, welches die angemessene Antwort fähig gemacht, indem Sie Europa durch Ihren Allein- (B) auf die terroristische Bedrohung ist, dass man mit den (D) gang blockiert haben. Vereinigten Staaten von Amerika nicht darüber reden kann, welches die richtige Politik ist, und dass es unter- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schiedliche Meinungen gibt. Sie entwerfen ja ein Zerrbild Es geht nicht um unterschiedliche Meinungen. Die Christ- von den Vereinigten Staaten von Amerika. Das eigentliche lich-Demokratische Union, CDU und CSU haben in die- Problem der letzten Monate ist doch vielmehr Folgendes sem Wahlkampf vom ersten Tag an gesagt: Wir treten gewesen – ich lese Ihnen einmal vor, was Kleine- dafür ein – das ist nicht die Position aller Amerikaner –, Brockhoff und Thumann in der Ausgabe der „Zeit“, die in dass wir nur auf der Grundlage von Beschlüssen der Ver- der Woche nach der Bundestagswahl erschienen ist, unter der Überschrift „Das Gift der Gerd-Show“ geschrieben ha- einten Nationen und nur im Rahmen von Beschlüssen der ben; die Autoren sind auch sicherlich keine Kettenhunde –: Vereinten Nationen handeln. Aber Sie haben gesagt: Was immer auch die Vereinten Nationen beschließen, wir je- Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepu- denfalls werden uns nicht beteiligen. blik hat eine große Volkspartei Wahlkampf mit ker- nig antiamerikanischen Parolen geführt. Zum ersten (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Da liegt der Mal seit 1945 hat ein Bundeskanzler amerikanische Kern!) Politiker angegriffen und dafür auf den Marktplätzen Das war der Alleingang, die Isolierung Deutschlands, und tosenden Beifall erhalten. Zum ersten Mal hat eine das war ein Fehler. deutsche Ministerin den amerikanischen Präsidenten – wie verklausuliert auch immer – mit Adolf Hitler (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verglichen. Dafür zahlen wir einen erheblichen Preis. Das ist das Problem gewesen. Zunächst einmal haben Sie im Wahlkampf natürlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihre eigenen Anhänger getäuscht. Wir werden das noch sehen, Fortsetzung folgt in diesem Theater. Das Mandat Es geht auch nicht um die Frage, ob der Irak die rich- Enduring Freedom wird zum 15. November verlängert tige Priorität ist. Darüber kann man diskutieren. Das Pro- werden müssen. Dann wird Ihr Verharmlosungsmanöver, blem ist vielmehr, dass wir, wenn wir den Gefahren des für das es sehr gute Gründe gibt, aber man muss es so nen- 21. Jahrhunderts, denen wir durch neue Formen der Be- nen, deutlich werden. Es täuscht die Menschen in unse- drohung ausgesetzt sind – asymmetrische Kriegs- rem Lande über den Ernst der Lage. Wenn Sie von Af- führung und Terrorismus klingen in meinen Ohren wie ghanistan reden, sprechen Sie immer nur von dem eine halbe Privatveranstaltung; die asymmetrische Beitrag, den die Bundeswehr aufgrund der Beschlüsse, 98 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Wolfgang Schäuble (A) die auf dem Petersberg gefasst wurden, leistet. Sie reden Da darf es keine Alleingänge geben; denn damit (C) überhaupt nicht über den Beitrag, den die Soldaten der schwächen wir die internationale Gemeinschaft, die Ge- Bundeswehr – KSK heißt die Einheit – im Rahmen des meinschaft der zivilisierten Welt. Da lag Ihr Fehler. Mandats von Enduring Freedom leisten. Sie tun so, als (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wo denn?) wären Sicherheitspolitik und Kampf gegen den Terroris- mus nur eine Art von Friedensarbeit und polizeilicher – Sie schwächen die Vereinten Nationen, wenn Sie sagen: Tätigkeit. Nein, es ist ein hochgefährlicher Beitrag, den Was immer auch der Sicherheitsrat der Vereinten Natio- die Soldaten der Bundeswehr leisten. nen beschließt – wir machen jedenfalls nicht mit. Der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deutsche Weg, von dem der Außenminister jetzt nach der Wahl sagt „Vergessen Sie es!“ – vor der Wahl hat der Bun- Das muss ausgesprochen werden, sonst wird der Dank un- deskanzler den deutschen Weg gepredigt –, ist nichts an- ehrlich. Wir unterstützen den Dank und haben großen deres als das Wiederaufleben des alten „Ohne mich“- Respekt, aber wir sind dagegen, die Bevölkerung über die Standpunkts aus der Frühzeit der Bundesrepublik wirkliche Bedrohung und die wirklichen Gefahren zu täu- Deutschland. schen. ( [SPD]: Wenn man das für falsch hält, ist (Joseph Fischer, Bundesminister: Wer macht es auch vernünftig, „ohne mich“ zu sagen!) denn das?) Sie haben gefährliche Ressentiments angesprochen, Herr Mit dem, was Sie zum Problem Tschetschenien gesagt Bundeskanzler. Sie werden dafür einen hohen Preis be- haben, stimmen wir weitgehend überein. Das ist ja über- zahlen. Die Geister, die man ruft, wird man oft nicht wie- haupt in vielem so, Herr Bundesaußenminister. Sie haben der los. Das ist nicht nur beim „Zauberlehrling“ so. die lange Linie der Kontinuität deutscher Außen- und Si- (Zuruf von der SPD) cherheitspolitik erwähnt, die von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl gut gewesen ist. Wir haben Sie in der ver- – Wir werden sehen. Der Herr stellvertretende Fraktions- gangenen Legislaturperiode in den Grundfragen von vorsitzende Ströbele hat in der vergangenen Woche schon Außen- und Sicherheitspolitik mehr unterstützt als die in einer bemerkenswerten Weise zwischen den einzelnen Regierungsparteien. Sie konnten sich auf die Opposition Bundeswehreinsätzen unterschieden. All das wird uns be- eher verlassen als auf Ihre eigenen Reihen. Das ist doch gleiten. die Wahrheit. Ich will Ihnen zu dem Thema Türkei Folgendes sagen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben schon den Verdacht, dass die Veränderung der Position, was die Mitgliedschaft der Türkei anbetrifft Aber Sie haben diese Gemeinsamkeit im Wahlkampf ein- – das klang in den Äußerungen des Bundeskanzlers vor (B) seitig verraten. Auch das ist die Wahrheit. Wenn Sie zu (D) der Wahl ganz anders als in der letzten Woche –, ein Teil dieser Gemeinsamkeit zurückkehren, werden wir unsere des Preises ist, den man bezahlen muss. Ich will Ihnen Verantwortung weiterhin wahrnehmen. Aber es bleibt da- deshalb sagen, was unsere Meinung in Sachen Türkei war bei, dass Sie aus reinen Wahlkampfinteressen die Grund- und noch immer ist. linien, die Verantwortung, die Kontinuität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Wahlkampf ver- Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Türkei raten haben. Dafür zahlen wir einen hohen Preis. untrennbarer Bestandteil des Westens bleibt. Zum Thema Tschetschenien gehört für mich schon, (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE dass man sagt: Es braucht politische Lösungen und Russ- GRÜNEN]: Das ist klar!) land muss auf dem Weg zum Westen und zur Demokratie – Natürlich, Frau Roth; da ist überhaupt kein Unterschied; diese Anforderungen für sich gelten lassen. Man muss ich stelle gerade unsere Position dar. Dass die Türkei in ei- übrigens hinzufügen: Solch schreckliche Erfahrungen wie ner möglichst engen Beziehung zu Europa bleiben soll, ist die der letzten Tage machen uns im Westen gelegentlich völlig unstreitig. ein bisschen weniger selbstsicher. Wir müssen vielleicht erkennen, dass wir Fragen, die wir bei Problemen an an- Unsere Vorstellung von dem, was die Europäische dere stellen, gelegentlich mit den Augen anderer sehen Union ist und noch werden soll, ist die einer handlungs- und auch für uns gelten lassen müssen. Wir brauchen also fähigen politischen Einheit auf der Grundlage gemeinsa- in jedem Fall politische Lösungen und repressive Maß- mer Identität; denn freiheitliche Organisation bekommt nahmen zugleich. man nicht ohne eine hinreichende Grundlage an Identität, Zusammengehörigkeit und gemeinsamen Werten. Unsere Das andere muss aber auch klar sein: Was immer die Vorstellung von der Europäischen Union – dazu gibt es politischen Konflikte auf dieser Welt sein mögen, es geht unterschiedliche Meinungen in Deutschland und auch un- nicht an, dass unschuldige unbeteiligte Menschen, ob im ter unseren Partnern in Europa – ist die einer politischen World Trade Center in New York oder im Theater in Mos- Identität der Europäischen Union. kau, von irgendwelchen Irregeleiteten getötet oder als Geiseln genommen werden. Die Welt muss zusammen- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE stehen, um so etwas zu unterbinden. GRÜNEN]: Meine auch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Das heißt dann aber auch, dass man genauer prüfen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- muss, ob diese Europäische Union nicht auch Grenzen SES 90/DIE GRÜNEN) braucht, ob man für solche Länder, die zum Teil zu Europa Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 99

Dr. Wolfgang Schäuble (A) gehören, zum Teil aber eben auch nicht – Russland ist ein verteidigen. Wir müssen aber mehr Besitzstände auf den (C) solches Land; Sie haben mich ausgelacht, als ich vor ein Prüfstand stellen. paar Jahren die Parallele gezogen habe; heute lacht nie- Ich hätte mir deshalb in Ihrer Regierungserklärung eine mand mehr –, in deren Interesse – auch die Türkei braucht realistische Bedrohungsanalyse gewünscht. Ich hätte mir ihre eigene Identität für ihre Stabilität und ihre Zukunfts- gewünscht, dass Sie darstellen, worin deutsche Interessen chancen – nicht besser eigene Formen der Zugehörigkeit und deutsche Verantwortung eigentlich bestehen und was zu Europa vereinbart. – Das ist unsere Position. Das ist im Zusammenwirken zwischen Außenpolitik, Entwick- nicht Türzuschlagen, sondern das ist der bessere Weg. lungspolitik und Sicherheitspolitik notwendig ist, damit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wir, unsere Kinder und unsere Enkel in sicherem Frieden neten der FDP) leben können. Der jetzige Friede ist nämlich bedroht; der Terrorismus bedroht auch uns. Wir leisten nicht nur Soli- Die Europäische Union und auch schon die Europä- darität mit den Amerikanern – darauf weisen Sie zur Be- ischen Gemeinschaften haben, wenn ich es richtig weiß, gründung von Enduring Freedom gelegentlich hin –, son- der Türkei seit 1964, also seit 38 Jahren – das waren nicht dern wir nehmen auch unsere eigenen Interessen, unsere immer Sie, Herr Bundeskanzler Schröder, und Ihre Re- eigene Verantwortung wahr. Das muss gesagt werden. gierung; es waren auch schon andere –, die Perspektive einer vollen Mitgliedschaft in der Europäischen Union (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- angeboten. neten der FDP) (Zuruf von der SPD: !) Sie werden ganz schnell erkennen, dass die Art, wie Sie mit der Bundeswehr umgehen, völlig unverantwortlich – Ja, 1964. So lang ist das her. – Deswegen sage ich: Die ist. Lösung, von der ich rede, können wir nicht der Türkei oktroyieren. Wir sollten offen und ehrlich und im Hin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) blick auf das gemeinsame Ziel mit der Türkei darüber Auch das will ich Ihnen schon an dieser Stelle sagen. Ver- sprechen, ob das nicht im gemeinsamen Interesse der bes- ehrter Herr Struck, als Sie Verteidigungsminister wurden, sere Weg ist. Das ist ehrlicher, als eine Debatte zu führen, haben Sie erst einmal nur Wahlkampf gemacht. Ihre Ver- bei der es im Grunde nur nach dem Motto geht: Jetzt ist antwortung als Verteidigungsminister haben Sie erst nach die Bundesregierung dafür – in der Hoffnung, dass in Ko- der Wahl entdeckt. Sie werden die Probleme der Bundes- penhagen genügend andere dagegen sein werden, damit wehr noch nicht einmal im Ansatz lösen können, wenn nichts vorankommt. Die Türkei hat doch längst begriffen, Sie den Weg fortsetzen, der Bundeswehr immer mehr dass ihr immer die Wurst hingehalten und dann wieder Aufgaben aufzubürden, auch wenn Sie mittlerweile den weggezogen wird. So darf man mit der Türkei nicht um- (B) Weizsäcker-Bericht, in dem von einer realistischen Be- (D) gehen. drohungsanalyse die Rede war, entdeckt haben, was Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zumindest verbal zum Ausdruck bringen. neten der FDP) Ein Preis, den wir für Ihre antiamerikanischen Entglei- Herr Bundeskanzler, ich glaube im Übrigen, dass über sungen zahlen müssen, ist, dass Sie das deutsche Engage- Ihre Regierungserklärung schon deswegen wenig zu sa- ment in der afghanischen Hauptstadt, in Kabul, durch gen ist, weil sie wenig enthalten hat. Ich habe mir immer Übernahme der Führung der internationalen Schutztruppe wieder die Frage gestellt: Was machen Sie aus diesem stärken wollen. Das würde uns noch teurer zu stehen kom- nichts sagenden Koalitionsvertrag in Ihrer heutigen men. Es stellt sich übrigens die Frage, worin, was die Si- Regierungserklärung? Sie sind mit Ihrer Regierungser- cherheit anbetrifft, die höchste Priorität besteht. klärung wirklich noch unter dem Niveau des Koalitions- Sie haben kein Wort zum NATO-Gipfel in Prag ge- vertrages geblieben. sagt. Was ist eigentlich mit dem amerikanischen Vor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schlag im Hinblick auf eine schnelle Eingreiftruppe? Wol- der FDP) len Sie Deutschland – Frau Merkel hat Sie das gefragt – auch auf dem NATO-Gipfel in die Isolierung führen? Was Es war wirklich nichtssagend. ist eigentlich mit der Umsetzung des richtigen Beschlus- Was überhaupt gefehlt hat – ich glaube, das wird wich- ses von Helsinki? Ich denke an die europäische Sicher- tiger werden –, war, den Menschen in unserem Lande zu heitskomponente und die 60 000 Mann. Für nichts ist die erklären, wie wichtig es ist, dass wir außenpolitische Ver- finanzielle Grundlage da. antwortung, außenpolitische Interessen, sicherheitspoliti- (Joseph Fischer, Bundesminister: Ist doch sche Interessen und Risiken ernst nehmen. Wenn wir den nicht wahr!) Menschen einreden: „Wir haben so viele Probleme, dass wir uns nicht auch noch um andere kümmern können; Jetzt wird der Bundeswehr die halbe Milliarde Euro schon wieder entzogen, die ihr aufgrund der Steuererhöhungen, denn wir haben mit uns selbst schon genug zu tun“, dann die Sie nach dem 11. September 2001 beschlossen haben, werden wir die Reformkräfte in unserer Gesellschaft nicht zukommen sollten. So wird die Bundeswehr ihre Aufga- stärken. Ein Volk, das zu Introvertiertheit neigt, weil es ben nicht erfüllen können. So werden wir unserer Verant- glaubt, es habe so viele eigene Sorgen, dass es sich nicht wortung gegenüber den Soldaten und gegenüber der Zu- auch noch um die der anderen kümmern könne, und weil kunft zu wenig gerecht. es glaubt, dass die Bedrohung nicht so groß werde, wenn es sich in der Nische verstecke, wird eher Besitzstände (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 100 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Sie haben von den Leitlinien der deutschen Außen- wichtige Lernprozesse gegeben. So wissen wir, dass Eu- (C) politik gesprochen. Wir haben diese Leitlinien in den Jah- ropa in der Praxis eine Gemeinsame Außen- und Sicher- ren, in denen wir in der Opposition waren, mitgetragen. heitspolitik braucht und auch Instrumente, sowohl zivile Wir werden das auch weiterhin tun. Diese Regierung hat als auch militärische, um diese Politik umzusetzen. im Zweifel ohne jede Verantwortung und gewissenlos die Mit Trauer und Zorn blicken wir darauf zurück, dass Interessen der Bundesrepublik Deutschland den Wahl- Europa nicht imstande war, in den der 90er-Jahren vier kampfgesichtspunkten untergeordnet. blutige Kriege auf europäischem Boden zu verhindern. (Zuruf von der SPD) Aber Europa hat die Kraft zu einer umfassenden Integra- tionsstrategie entwickelt: mit dem Instrument des Stabi- – So war der Wahlkampf. Ich könnte Ihnen stundenlang litätspakts für Südosteuropa und mit der Stabilisierungs- entsprechende Zitate vorlesen. und Assoziierungsstrategie gegenüber den Ländern, die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bisher nicht an dem europäischen Integrationsprozess teilgenommen haben. Im Fall Mazedoniens gelang Wir werden die Alternative zu einer solchen Regierung schließlich erstmals die Verhinderung einer weiteren blu- sein, eine Alternative der Verlässlichkeit und der Bere- tigen Katastrophe in unserer Nachbarschaft. Das war der chenbarkeit. Wir haben in der Endphase der Regierung Erfolg einer Präventionspolitik, die primär auf Diplo- Schmidt gegen die Linke atlantisches Engagement und matie, auf Verhandlungen, aber ohne Ausschluss einer Si- Solidarität vertreten. Die Menschen in unserem Lande cherheitskomponente, setzte. Wir haben in der letzten und unsere Partner in der Welt können sich darauf verlas- Woche darüber gesprochen. sen, dass die CDU auch in der Endphase der Regierung Schröder die Alternative bleiben wird, die für Verlässlich- Herr Kollege Schäuble, wenn ich Sie noch einmal an- keit und Berechenbarkeit steht. sprechen darf: Ich habe, ehrlich gesagt, nicht begriffen, warum letzte Woche vier Kollegen aus Ihren Reihen mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nein gestimmt und sich sechs der Stimme enthalten ha- neten der FDP) ben, als es darum ging, diese wichtige und erfolgreiche Mission fortzusetzen. Vizepräsidentin Susanne Kastner: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Wort hat der Kollege Gernot Erler, SPD-Fraktion. Mitten in den Erfolg einer regionalen Prävention, wie sie in Mazedonien stattgefunden hat, platzte dann der Gernot Erler (SPD): 11. September 2001. Dies war ein Schock nicht nur we- gen der Zahl der Opfer, sondern auch, weil die bisherigen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In- (B) Antworten für diese Herausforderung neuer Dimensionen (D) ternationale Politik ist nicht mehr etwas Fernes, von der offensichtlich ungeeignet waren. So waren die 13 Monate Innenpolitik Abgetrenntes. Internationale Politik hat Aus- nach dem 11. September ein neuer, schwieriger Lernpro- wirkungen auf unser Alltagsleben, sie dringt regelrecht in zess für uns alle. Ich behaupte, dass sich bei der Beant- unsere Lebenswelt ein. Das haben wir mehr als bisher wortung der Herausforderungen der Nach-September- nach dem 11. September, bei den Vorgängen auf Djerba, Welt allmählich so etwas wie ein europäisches Modell in Bali und jetzt bei der Tragödie in Moskau erfahren. für eine neue internationale Politik herausstellt, durch- Dies hat uns gelehrt: Globalisierung spielt sich nicht nur aus in Parallele zu jenem europäischen Gesellschaftsmo- auf den Finanzmärkten und in der Ökonomie ab; Globali- dell, von dem heute Vormittag der Bundeskanzler gespro- sierung heißt auch: Kein Konflikt auf dieser Welt ist mehr chen hat. so fern, dass er uns unberührt lässt. Jeder Konflikt kommt in irgendeiner Weise bei uns an, kann unsere Sicherheit Das Nachdenken über ein solches europäisches Modell beeinträchtigen, kann uns sogar zu einem anderen Leben ermöglicht uns auch eine bessere Einordnung bestimmter zwingen. Die Trennung von Innen- und Außenwelt wird aktueller Dissenspunkte in der internationalen Politik. Ich tendenziell gegenstandslos. Sie hebt sich von allein auf. bin sicher, hinter dem internationalen Ringen darüber, ob es richtig ist, jetzt mit militärischen Mitteln das Regime In den nächsten vier Jahren wird viel davon abhängen, Saddam Hussein zu beseitigen, steckt mehr als eine un- ob wir in unserem Denken und Handeln mit dieser Ent- terschiedliche Bewertung in einer Einzelfrage. Hier geht wicklung Schritt halten. Herr Kollege Schäuble, es tut mir es letztlich um die Grundausrichtung der internationalen Leid, dies sagen zu müssen: Mit dem Auskippen eines Politik in der Nach-September-Welt. Dabei gibt es viele Zettelkastens, in dem nur die Schablonen des Wahlkampfs transatlantische Gemeinsamkeiten – ich begrüße das –, enthalten sind, werden Sie diesem Anspruch von Politik aber eben auch einige besondere europäische Ansätze, für wirklich nicht gerecht. die wir werben und die es in unseren Augen wert sind, dis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kutiert zu werden. Ich sehe in diesem Zusammenhang DIE GRÜNEN) fünf wichtige Komponenten des europäischen Modells: Wir, die SPD-Bundestagsfraktion und die Koalition, Als Erstes ist die Notwendigkeit der weiteren unmittel- werden uns der Aufgabe stellen, die Innovationsforderung baren Verfolgung derMitglieder von Terrornetzwerken über die Gesellschaftspolitik hinaus auch für die interna- zu nennen. Es hat hier ja Erfolge gegeben, auch militäri- tionale Politik zu stellen, und zeigen, dass wir dieser He- sche. Wir müssen aber feststellen: Die Netzwerke sind im- rausforderung gerecht werden. Hier fangen wir nicht bei mer noch handlungsfähig. Wichtige Führer wie Bin Laden Null an. In den letzten Jahren hat es in Europa bereits und Mullah Omar sind immer noch nicht gefasst. Deswe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 101

Gernot Erler (A) gen haben im europäischen Modell die Aufrechterhaltung Die vierte Komponente des europäischen Modells (C) und Stärkung der großen politischen Koalition gegen den stellt die Einsicht dar, welche bedeutende Rolle der Terrorismus höchste Priorität. Diese ist, Herr Schäuble, regionalen Stabilität zukommt. In Amerika sind For- eben nicht nur eine transatlantische Veranstaltung, son- scher zu der Erkenntnis gekommen, dass „failing states“, dern bezieht ihre Wirksamkeit gerade daraus, dass die „failed states“ und No-go-Areas – das heißt, das Ver- große Mehrheit der arabischen und moslemisch geprägten schwinden von staatlicher Autorität auf großen Teilen un- Staaten daran teilnimmt. seres Globusses – die Privatisierung von Gewaltanwen- dung und Rechtlosigkeit zur Folge haben und im Grunde (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des genommen die Voraussetzung für die Entwicklung von BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Terrorismus darstellen. Deswegen ist ein solches Ver- Es ist notwendig, die Arbeitsfähigkeit dieser großen Koa- schwinden von staatlicher Kontrolle schon aus sicher- lition zu erhalten. Weiterhin brauchen wir die Zusam- heitspolitischen Gründen nicht hinnehmbar. Die Antwort menarbeit der Polizei und der Dienste und auch militäri- muss doch sein, dass wir uns mehr bei der Etablierung von sche Zusammenarbeit. Jede Gefährdung dieser Koalition, Stabilitätsregimen engagieren. Wir haben unsere Erfah- egal wodurch, gefährdet auch den Erfolg im Kampf gegen rungen damit auf dem Balkan gemacht; ich habe den Sta- den internationalen Terrorismus. bilitätspakt schon angesprochen. Das Gleiche ist notwen- Die zweite Komponente, die ich hier nennen möchte, dig in der Region Afghanistan, in der Region Kaukasus, kann man mit dem Stichwort „Testfall Afghanistan“ in Zentralasien und ganz besonders in Afrika. Wir haben beschreiben. Afghanistan ist ein exemplarischer Fall. doch nicht vergessen, was 1993 in Somalia passiert ist. Afghanistan entscheidet darüber, ob wir bei den Menschen „Restore Hope“ hieß die Mission dort. Dann, ganz plötz- Vertrauen gewinnen, die gegen Taliban und al-Qaida auf- lich, nach einigen Verlusten, zog sich nicht nur Amerika, gestanden sind. sondern die ganze westliche Welt zurück. Heute ist das genau eine solche Region eines „failing state“ und wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wissen ganz genau, dass dort die gefährlichsten Entwick- Das deutsche Engagement in Form von humanitärer lungen ablaufen. Deswegen wird ja auch darüber disku- Hilfe, beim Post-Taliban-Prozess in Form der Petersberg- tiert, dort militärisch zu intervenieren. Das zeigt, welche Konferenz und jetzt vor Ort beim Wiederaufbau, beim Bedeutung regionale Stabilitätsregime im Kampf gegen Bau von Schulen, bei der Schaffung von Voraussetzungen den Terrorismus haben. für Gleichberechtigung, beim Bau einer Polizeiakademie Schließlich die fünfte Komponente: Kampf um eine und bei der dort schon angelaufenen Ausbildung von Po- gerechtere Weltordnung. Dort wo die Verteilung von lizisten, das finanzielle und militärische Engagement bei Lebenschancen und materiellen Gütern zu Verbitterung, ISAF – all das machen wir nicht planlos, sondern dahin- (B) Demütigung und Marginalisierung führt, entstehen Bio- (D) ter steckt die Überzeugung, dass wir diesen Testfall ge- tope für Extremismus und Terrorismus. In der langen Li- winnen müssen. Dahinter steht die Einsicht, dass das rich- nie bekommen Entwicklungspolitik und Entwicklungszu- tig ist, was uns an dieser Stelle hier Kofi Annan, der sammenarbeit dadurch eine ganz andere Bedeutung. Sie Generalsekretär der Vereinten Nationen, über nachhaltige werden zu einem zentralen Instrument der internationalen Friedensstrategien, über „sustainable peace“, gesagt hat. Afghanistan ist der Testfall. Deswegen hat es aus unserer Sicherheitspolitik. Das ist die Bedeutung auch der Festle- Sicht oberste Priorität, diese Mission zum Erfolg zu gung in unserem Regierungsprogramm auf die Fortset- führen. zung der Antiarmutspolitik, der Entschuldungspolitik, der Politik gegen Seuchen, besonders der Ausbreitung von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aids in Afrika, und der Festlegung auf das Ziel von des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 0,33 Prozent bis zum Jahre 2006, die der Bundeskanzler Die dritte Komponente besteht in der neuen Einsicht, heute noch einmal bestätigt hat. Das wird die SPD-Bun- welche Bedeutung regionalen Konflikten zukommt. destagsfraktion wegen des genannten Zusammenhangs hat hier schon über den Nahen Osten ge- sehr aufmerksam und sehr engagiert begleiten. sprochen. Bin Laden hat sich ja immer auf die Demütigung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Palästinenser bezogen, wenn er irgendeine Legi- DIE GRÜNEN) timation für sein Handeln anführen wollte. Der Kaschmir- Konflikt ist erwähnt worden. Man könnte hinzufügen, dass Das ist übrigens auch immer mehr europäische Politik uns in den letzten Tagen noch einmal in Erinnerung ge- und ein wesentliches Element dieses europäischen Mo- bracht und deutlich gemacht worden ist, welche Gefahren dells. von dem ungelösten Tschetschenien-Konflikt ausgehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese fünf Kompo- Aber all diese Konflikte sind doch nicht nur auf terroristi- nenten weisen in der Tat einen Weg über vier Jahre hinaus, sche Gewalt zurückzuführen, sondern aus ihnen gehen einen Weg, der uns von der regionalen Prävention zu der auch zu allem bereite terroristische Potenziale hervor. Notwendigkeit des Aufbaus einer globalen, strukturellen Deshalb muss es oberste Priorität in der internationalen Prävention führen wird, und zwar im Sinne einer Ge- Politik sein, diese regionalen Konflikte zu analysieren und samtstrategie in der Nach-September-Welt. Das ist ein zu lösen. Es dürfen nicht neue Schauplätze eröffnet wer- großer Anspruch, ein großes Ziel. Man kann auch sagen: den, sondern dort muss mit dem Kampf gegen den Terro- Das ist eine Vision. Aber am Anfang eines neuen vier- rismus angefangen werden. jährigen Auftrags ist wohl auch die Gelegenheit, einmal (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten über so etwas zu reden. Wann denn eigentlich sonst? Über des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dieses Politikmodell, über diese Gesamtstrategie wollen 102 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Gernot Erler (A) wir auch mit denen reden, die andere Modelle, andere Vi- Herr Kollege Erler und Herr Außenminister Fischer, (C) sionen haben. wir wollen nicht um folgende Tatsache herumreden – wir werden uns in den entsprechenden parlamentarischen De- Transatlantische Partnerschaft kann nicht heißen, dass batten ja wiedersehen –: Sie haben bis heute die Irak- der Schwächere irgendwann doch dem Stärkeren nach- Frage nicht abschließend und klar beantwortet. gibt, ohne überzeugt zu sein. Transatlantische Partner- schaft kann nicht heißen, dass alle schon aufatmen, wenn (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: erwachsene Menschen mit anderen erwachsenen Men- Stimmt doch nicht!) schen erwachsen umgehen, indem sie sich, wenn sie sich Wenn Saddam Hussein am Ende Inspektoren nicht ins begegnen, wieder die Hand geben. Transatlantische Part- Land lässt, wenn Beweise vorgelegt werden, dass er Mas- nerschaft, wenn sie den Anspruch auf Verantwortungs- senvernichtungswaffen entwickelt, und wenn sich die partnerschaft überzeugend vorbringen will, heißt, dass Weltgemeinschaft mit Sicherheitsratsbeschluss, also mit wir über unterschiedliche Politikmodelle, unterschiedli- Zustimmung Frankreichs, Russlands, Chinas und anderer, che Vorstellungen von einer stabilen und Sicherheit pro- entschließt, dagegen vorzugehen und vorgehen zu müs- duzierenden Weltordnung ernsthaft diskutieren vor dem sen, um Menschen zu schützen, werden Sie eines Tages Hintergrund beiderseitig pluralistischer Gesellschaften gezwungen sein – das sage ich Ihnen voraus –, im deut- – das gilt zum Glück für Amerika wie auch für Europa –, schen Parlament vorzutragen, dass wir doch nicht umhin- und zwar mit dem Ziel, das, was Konsens ist, auszuwei- kommen – wenn wir schon nicht Soldaten entsenden –, ten und zur Grundlage gemeinsamen Handelns zu ma- Logistik und medizinische Hilfsmaßnahmen anzubieten. chen. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Das ist Ihr Wunschdenken!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Natürlich würden wir die Spürpanzer zum Schutz der ame- DIE GRÜNEN) rikanischen Soldaten in Kuwait belassen. Sie wissen das. Sie wissen auch – das wussten Sie schon vor der Wahl –, dass Sie eines Tages ein solches Eingeständnis mögli- Vizepräsidentin Susanne Kastner: cherweise würden machen müssen. Mit dem, was Sie ge- Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege tan haben, schädigen Sie die Glaubwürdigkeit der deut- Dr. Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion. schen Außenpolitik in einem unerträglich hohen Maß. Das muss einfach angesprochen werden. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Ein zweiter Sachverhalt. Herr Außenminister, natürlich (D) Fraktion und auch ich selbst diskutieren gerne über um- freuen wir uns alle, dass jetzt das Tor zu einem Akt der fassende Sicherheitsbegriffe und über die Traditionslinien Wiedervereinigung Europas aufgestoßen wird. Wir wis- deutscher Außenpolitik. Wir teilen auch die Auffassung in sen, dass das nicht kostenlos zu haben ist. Ich möchte ein Bezug auf die detaillierte Schilderung der Elemente des kleines Plädoyer für ein Mindestmaß an Handwerkszeug Kaschmir-Konflikts, die der Außenminister hier genannt in der Politik halten. Dass das deutsch-französische Ver- hat. Ich habe ferner Teilen der Rede des Kollegen Erler hältnis als europapolitischer Motor in den letzten Jahren mit Vergnügen zugehört. Allerdings frage ich mich, wieso geradezu ausgefallen war, konnten Sie vor niemandem bei dieser Einschätzung und angesichts der Kompliziert- verbergen. Unterlassen Sie es daher bitte, die Tatsache als heit der internationalen Lage sowie der Notwendigkeit, Großtat zu feiern, dass sich der Bundeskanzler bei dem Kompromiss zur Agrarpolitik mit dem französischen die Situation umfassend zu beurteilen, ausgerechnet der Präsidenten bei den realen Ausgaben und Obergrenzen in deutsche Bundeskanzler im Wahlkampf vom „deutschen einer Höhe von 6 Milliarden Euro – und das mit steigen- Weg“ gesprochen hat. Das ist unbegreiflich. der Tendenz – vertan hat. Da hilft auch der Hinweis auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den Dolmetscher nicht. Damit können Sie Ihre Koaliti- onsvereinbarung zur Agrarpolitik vergessen. Die Umstel- Das ist auch intellektuell unbegreiflich. Was ist der lung wird nicht gelingen, weil sie nicht finanzierbar sein „deutsche Weg“ angesichts der internationalen Zusam- wird. Diese Vorgänge lassen schlicht und einfach das not- menhänge, der Aufgaben der Nation-Bildung, der regio- wendige Handwerkszeug vermissen. Sie gehen in ein Ge- nalen Sicherheitsstrukturen, die wir herausbilden müssen, spräch und verwechseln eine Summe von 6 Milliar- sowie des Kommunikationsangebots, das die Europäische den Euro, eine Summe, die ab 2007 eine steigende Union anderen weltweit unterbreitet? Vom „deutschen Tendenz aufweisen wird. Weg“ zu reden ist absurd. Eine Opposition, die ernst ge- nommen werden will, muss darauf zurückkommen. Die (Joseph Fischer, Bundesminister: Quatsch!) Rede vom „deutschen Weg“, der vor der Wahl angeboten, Ich weise deshalb darauf hin, weil wir uns die Verbes- auf Marktplätzen allen verkauft und vom Außenminister serung des deutsch-französischen Verhältnisses so nicht fünf Minuten nach der Wahl mit dem Hinweis „Forget it“ vorgestellt haben. Das ist ein äußeres Zeichen eines inne- wieder eingesackt wurde, ist der größte außen- und ren Zustandes. Sie bereiten sich nicht mehr anständig auf sicherheitspolitische Wahlbetrug, den sich eine Bundesre- solche Gespräche vor. Sie nehmen sich zu wenig Zeit, mit gierung in der Geschichte des Landes je erlaubt hat. den französischen Nachbarn zu sprechen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 103

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) Wir haben das schon in der außenpolitischen Debatte vor weit größeren Aufgaben als in der Vergangenheit. Sie (C) erlebt, was den Irak betraf. Sie bereiten die Gipfel nicht geben keinen Hinweis auf einen deutschen Beitrag in Be- vernünftig vor. Das ist nicht der erste Vorgang dieser Art. zug auf die Finanzierung. Der Berliner Gipfel sollte sich mit Finanzierungsfragen Wissen Sie, was die deutsche Außenpolitik immer aus- und der Gipfel von Nizza mit Entscheidungsabläufen und gezeichnet und damit auch stabil und verlässlich gemacht Mehrheitsentscheidungen beschäftigen. Der Konvent hat? – Sie war glaubwürdig. Dies war sie zunächst bei muss nun die notwendigen Reparaturarbeiten überneh- Konrad Adenauer. Sie war in der großen Koalition unter men. Jetzt passiert es zum dritten Mal, dass europäische , der als Vorsitzender des Auswärti- Entscheidungen von Ihnen nicht in ausreichendem Maße gen Ausschusses über viele Jahre Erfahrungen gesammelt vorbereitet wurden. Uns reicht es nicht, dass Sie uns von hatte, glaubwürdig. Auch in unserer Koalition unter Willy weiten Reisen berichten, oder über internationale Zusam- Brandt war sie glaubwürdig. Sie hatte klare Ziele. Da gab menhänge der Außenpolitik informieren. Sie müssen das es auch Rückschläge; aber man wusste, worauf man hi- kleine Einmaleins auch umsetzen. In der Europapolitik nauswollte. Auch unter Helmut Kohl war sie glaubwür- verlangen wir dieses Mindestmaß. dig. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Beim jetzigen Bundeskanzler vermisse ich jedes der CDU/CSU) außenpolitisch klare Prinzip. Ein dritter Gesichtspunkt. Kollege Schäuble hat schon (Peter Hintze [CDU/CSU]: Jawohl!) danach gefragt, wie man den Aufbau einer eigenen euro- päischen sicherheits- und verteidigungspolitischen Kapa- Deshalb war die Regierungserklärung, wie sie war: Er ist zität klar finanziert. Ich sage dazu ganz einfach: Das Min- für alles gut, aber dann geradezu für nichts. Mir ist die Be- destmaß ist, dass man seine Hausaufgaben macht. Dazu liebigkeit der Außenpolitik in Deutschland ein Gräuel. möchte ich Ihnen Ihre Koalitionsvereinbarung zur Bun- Dagegen wehren wir uns. deswehr vorlesen: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Aufgaben, Struktur, Ausrüstung und Mittel der Bun- Herr Außenminister Fischer, es geht doch nicht um die deswehr werden wieder in ein ausgewogenes Ver- Frage, wie wir die Türkei bewerten. Auch wir wissen, hältnis gebracht. dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um Das Wort „wieder“ ist gut. dieses Land modernisierungsbereit zu halten, um alle eu- ropäischen Verbindungsstränge in die Türkei zu bewahren (Lachen des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] und um die türkische Gesellschaft schrittweise in die Mo- und des Abg. Bartholomäus Kalb [CDU/CSU] – derne zu führen – und dies nicht nur auf der Ebene der po- Rudolf Bindig [SPD]: Wie in den Jahren zu- litischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite. (B) vor!) (D) Alle Erfahrungen, die wir seit den 60er-Jahren Dann heißt es später – diesen Satz hätten Sie sich spa- ren können –: (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer war da eigentlich Außenminis- Die mittelfristige Finanzplanung bleibt die Grund- ter?) lage für die Planungen der Bundeswehr. mit der Türkei gemacht haben, beruhen auf falschen Ver- Das können Sie nicht miteinander in Einklang bringen. sprechungen, die in der Türkei immer wieder große Frus- Ein weiterer Satz: trationen ausgelöst haben. Deshalb täte jede deutsche Bundesregierung gut daran, nicht mit weiteren falschen Hierbei werden die Vorschläge ... der Weizsäcker- Versprechungen auf den EU-Gipfel nach Kopenhagen am Kommission die Richtschnur bilden. Ende dieses Jahres zu reisen. Die waren es schon bisher nicht; denn es wurde gar nicht (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE abgewartet, bis die Weizsäcker-Kommission einen Vor- GRÜNEN]: Das sind keine falschen Verspre- schlag gemacht hat. Der damalige Bundesverteidigungs- chen!) minister Scharping hat ja eigene Vorschläge gemacht. Die werden im Folgenden genannt. Sie schreiben: Die Wahrheit ist, dass es nicht reicht, wenn die Türkei eine neue Verfassung und neue Gesetze beschließt. Entschei- Nach der weitgehenden Umsetzung der im Jahr 2000 dend ist die Gesellschaft, die hinter den Gesetzen steht eingeleiteten Bundeswehrreform ... muss erneut und die Verfassung lebt. Die geschriebene Verfassung al- überprüft werden, ob weitere Strukturanpassungen lein reicht nicht aus. oder Änderungen bei der Wehrverfassung notwendig sind ... Es ist einfach wahr, dass die Türkei heute noch nicht für einen Beitrittsprozess reif ist bzw. dafür, zu Beitritts- Selten ist ein solches Durcheinander in wenigen Sätzen verhandlungen eingeladen zu werden. Wenn das so ist, hintereinander in eine Koalitionsvereinbarung geschrie- dann muss man das auch sagen. Wenn man anders ver- ben worden. fährt und meint, wir Deutsche seien aufgefordert, einen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten besonderen Beitrag zu leisten, um die strategischen Inte- der CDU/CSU) ressen unserer amerikanischen Verbündeten zu beachten, dann wird sich das für uns sehr nachteilig auswirken, weil Nichts von alldem gilt. Sie machen Ihre Hausaufgaben wir alle wissen, dass ein Beitritt der Türkei in den nächs- nicht. Sie finanzieren die Bundeswehr nicht, stehen aber ten Jahren nicht vollzogen werden kann. Die türkische 104 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) Gesellschaft wird, auch durch das Votum Deutschlands, lungsfähigkeit erhalten und erweitern und sie muss ein (C) ein weiteres Mal enttäuscht werden. Damit wird der Tür- Europa der Bürger werden. kei überhaupt nicht geholfen. Die Europäische Union ist ein einzigartiges Erfolgs- Deshalb kommen wir an folgenden Kernpunkten nicht modell der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hätten vorbei: Welche europäische Sicherheitspolitik machen unsere Großeltern und Eltern je davon zu träumen gewagt, wir wirklich? Wie finanzieren wir die Elemente der Ost- dass ein durch Hass, Krieg und Verbrechen gegen die erweiterung tatsächlich? Welche ehrliche Antwort geben Menschlichkeit zerrissener Kontinent ein Modell der Ver- wir der Türkei? Wie bringen wir das Verhältnis zwischen ständigung und Zusammenarbeit entwickeln kann, wie es Deutschland und Amerika wieder in Ordnung? Und zual- mit der EU und ihren Vorläuferorganisationen gelungen lerletzt: Was macht der Bundeskanzler, wenn am Ende ei- ist? Wir haben heute ein Modell der friedlichen und kon- nes Prozesses im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen struktiven Lösung von Interessenkonflikten, ein Modell, alle unsere Verbündeten, Großbritannien bzw. die übrige das zunächst den Gründungsmitgliedern und dann den im Europäische Union, nicht darum herumkommen, der Völ- Laufe der Jahre hinzugekommenen Ländern Wachstum, kergemeinschaft ein Vorgehen gegenüber Saddam Wohlstand und soziale Sicherheit beschert hat, ein Mo- Hussein, das auch Zwangsmittel einschließt, zu empfeh- dell, das keineswegs zu einer Nivellierung unserer Ge- len? Dann erneut zu sagen: „Daran nehmen wir nicht teil“ sellschaften geführt, sondern den Reichtum der Unter- schlägt allem ins Gesicht, was der Bundeskanzler selbst in schiedlichkeit bewahrt hat, insbesondere auch die der Regierungserklärung bezüglich unserer eigenen kulturelle Vielfalt. Sicherheit vorgetragen hat. Wir können nicht nur immer von anderen Sicherheit für uns erwarten, wir müssen Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist nun die manchmal auch unangenehme Konsequenzen ziehen, um Chance gegeben, Europas Wiedervereinigungsprozess Sicherheit für alle mit anzubieten. weiter voranzubringen. Der Gipfel in Kopenhagen wird die Entscheidung bringen, dass zehn Länder in die Euro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) päische Union aufgenommen werden. Weitere können in Wir werden uns in dieser Debatte wiedersehen; ich der Zukunft dazukommen. sage sie Ihnen fast schon voraus. Dann wird die deutsche Lassen Sie mich deshalb in diesem Zusammenhang auf Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, dass alles Schall und die Türkei zu sprechen kommen. Die in diesem Land an- Rauch war, was vom Bundeskanzler im Wahlkampf ge- gepackten Reformen, Herr Schäuble und Herr Gerhardt, sagt worden ist. Darauf muss hier hingewiesen werden. belegen, dass die Heranführungsstrategie der Union ihre Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Früchte trägt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried (B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D) Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Susanne Kastner: Deshalb macht es Sinn, dass der Türkei in Kopenhagen ein weiteres positives Signal gegeben wird, dergestalt, Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Angelica dass das Land bei Fortführung des Reformprozesses in Schwall-Düren, SPD-Fraktion. absehbarer Zeit damit rechnen kann, ein Datum für den Beginn von Verhandlungen genannt zu bekommen. Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Meine Damen und Herren, wir alle wissen: Die EU- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Osterweiterung stößt bei manchen Bürgerinnen und Bür- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute, zu Be- gern noch auf Vorbehalte. Was aber viel zu oft vergessen ginn der 15. Legislaturperiode, befindet sich die Europä- wird, sind die enormen Chancen, die mit der Erweiterung ische Union an einem entscheidenden Wendepunkt ihrer der Europäischen Union verbunden sind. Das ist einer- Geschichte. Die Einigung Europas und damit die endgül- seits die weitere Ausdehnung des Raums des Rechts, der tige Überwindung der künstlichen Teilung des Kontinents Sicherheit und der Freiheit in Europa und das ist anderer- als Folge des Zweiten Weltkrieges ist in greifbare Nähe seits der zu erwartende Wohlstandsmehrwert, bei dem wir gerückt. Gleichzeitig stellt die aktuelle internationale letztlich alle durch höhere Wachstumsraten und Einkom- Lage – dazu haben wir heute schon einiges gehört – die men profitieren. Deutschland profitiert übrigens ganz be- Europäische Union vor große neue Herausforderungen sonders von der EU-Erweiterung. Diesen Prozess zu un- nach innen und außen. terstützen ist die erklärte Absicht der SPD-Fraktion. Die EU ist heute der entscheidende Handlungsrahmen (Beifall bei der SPD) für eine aktive und an demokratischen Grundwerten Nicht erst die Aussicht, zehn weitere Länder in die orientierte Gestaltung der Globalisierung. Nur im EU- Europäische Union aufnehmen zu können, hat deutlich Kontext kann es gelingen, die Herausforderungen der gemacht, dass die Strukturen der EU optimiert werden Globalisierung für das europäische Gesellschafts- und müssen. Nur eine handlungsfähige Gemeinschaft wird in Sozialmodell erfolgreich zu meistern. der Lage sein, die großen wirtschaftlichen, politischen (Beifall bei der SPD) und gesellschaftlichen Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung zu meistern. Drei große Aufgaben hat die EU in den kommenden Jahren zu bewältigen: Sie muss auf dem Weg der europä- Ich nenne Ihnen nur die Stichworte Kosovo-Konflikt, ischen Einigung voranschreiten, sie muss ihre Hand- 11. September 2001, Hochwasserkatastrophe dieses Som- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 105

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) mers, hohe Arbeitslosigkeit in vielen europäischen Län- Durch die baldige Erweiterung der Europäischen (C) dern, Flüchtlingsproblematik und internationale Krimina- Union werden politische Stabilität und wirtschaftliches lität. Schon daran wird deutlich, dass wir eine gemein- Wachstum in weitere Länder Ost- und Mitteleuropas ex- schaftliche Politik in den Bereichen der Außen- und portiert. Das europäische Sozialmodell muss dabei erhal- Sicherheitspolitik, der Klimaschutzpolitik sowie der So- ten und ausgebaut werden. Die Europäische Union muss zial- und Rechtspolitik brauchen. weiter an den in Lissabon vereinbarten Zielen zur Er- höhung der Beschäftigungsquote bis hin zur Vollbeschäf- Diese Herausforderungen sind aber mit den herge- tigung festhalten und Europa zu einer der wachstums- brachten Gemeinschaftsmechanismen auf Dauer nicht zu stärksten Regionen der Welt machen. Zur Erreichung bewältigen. Deshalb haben die europäischen Staats- und dieses Zieles ist aber ein Gleichgewicht zwischen Wirt- Regierungschefs am 15. Dezember 2001 mit der Er- schafts- und Sozialpolitik erforderlich. klärung von Laeken – nicht zuletzt als Ergebnis der ent- schiedenen Initiative der Bundesregierung – den Grund- Günter Verheugen hat in Brüssel den Erweiterungspro- stein für den umfassendsten und ambitioniertesten zess vorangebracht, steht für die Fi- Reformprozess seit Gründung der Europäischen Gemein- nanzierbarkeit der europäischen Aufgaben. Denn eine so- schaften gelegt. lide Haushaltspolitik ist nicht nur im nationalen Rahmen nötig. Wenn man in Europa ein Gleichgewicht zwischen Für uns ist dabei besonders wichtig, dass erstmals in starker Wirtschafts- und Sozialpolitik erreichen will, be- der Geschichte der europäischen Integration Parlamenta- darf es einer soliden Finanzbasis. rier aus den nationalen Parlamenten und dem Europä- ischen Parlament im Konvent von Anfang an maßgeblich Mit großer Erleichterung ist deshalb in vielen Ländern an dem großen Reformprojekt einer europäischen Ver- die Nachricht aufgenommen worden, dass sich Bundes- fassung beteiligt sind. Wie ernst unser Bundeskanzler kanzler Gerhard Schröder und Staatspräsident Jacques diese Arbeit nimmt, ergibt sich schon allein aus der Ent- Chirac auf eine Grundlage für die Finanzierung der EU- sendung des Außenministers in den Konvent. Agrarpolitik über das Jahr 2006 hinaus geeinigt haben. Gestern nun hat der Präsident des europäischen Ver- Die Interessenlage konnte dabei nicht unterschiedli- fassungskonvents, Valéry Giscard d’Estaing, den ersten cher sein: Neumitglieder, zu denen das agrarpolitisch Verfassungsentwurf vorgelegt. Nun gilt es, mit diesem wichtige Land Polen gehört, möchten die gleichen Leis- Entwurf zu arbeiten. Mit der Bundesregierung will die tungen bekommen, wie sie die Altmitglieder der EU er- Fraktion darauf hinarbeiten, dass die Ausübung europä- halten. Länder wie Frankreich, die überdurchschnittlich ischer Macht demokratischer, transparenter und effizien- von den Direktzahlungen profitieren, möchten keine Re- ter wird. Dabei müssen das Prinzip der Gewaltenteilung duzierung der Leistungen hinnehmen. Nettozahler wie (B) besser durchgesetzt und die demokratische Verantwort- Deutschland wehren sich gegen eine Steigerung der Bei- (D) lichkeit auf europäischer Ebene erhöht werden. Dies tragslast. schließt die Bindung der EU-Organe an die Charta der Deshalb möchte ich Bundeskanzler Schröder aus- Grundrechte ein. Darüber gibt es inzwischen eine große drücklich dafür danken, dass er mit dem französischen europäische Einigkeit. Staatspräsidenten einen Kompromiss gefunden hat, der Die Reform der EU muss dazu beitragen, dass Europa das Beitrittsverfahren weiter voranbringt. eine Gemeinschaft der Bürger wird. Europa muss ein Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sicht bekommen. Europa muss mit Namen verbunden BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werden. Aber eine entsprechende Konstruktion wie zum Beispiel die Einsetzung eines EU-Präsidenten darf nicht Herr Gerhardt, jeder weiß, dass Kompromisse die zu einer Schwächung der EU-Kommission oder des Par- Eigenart haben, dass keine Seite ihre Position zu 100 Pro- laments führen. Vielmehr müssen die demokratische Le- zent durchsetzen kann. gitimation gestärkt und die Transparenz der Entscheidun- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Es war ja kein gen erhöht werden. Kompromiss! Er hat sich ja nur verhört!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deshalb möchte ich die polnische Zeitung „Gazeta Wy- DIE GRÜNEN) borcza“ zitieren, die das Ergebnis des Gipfeltreffens als Dazu ist eine Stärkung des EU-Parlaments unabdingbar. eine „Lektion des europäischen Realismus“ charakteri- Gerade weil wir eine stärkere Vergemeinschaftung wol- siert hat. len, muss das Europäische Parlament mehr Befugnisse Herr Gerhardt, deutsche und französische Politiker, der bekommen. französische Staatspräsident und der deutsche Bundes- Die Musik spielt mehr und mehr in Europa. Immer kanzler treffen sich so häufig wie nie in der Geschichte mehr Politikfelder werden auf der europäischen Ebene zuvor. vorgeprägt oder entschieden werden. Ich kann hier heute (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Gut nur wenige davon ansprechen. Ich will beispielhaft den vorbereitet!) Ansatz der EU-Kommission nennen, die zweite Säule der Agrarpolitik für Maßnahmen der ländlichen Entwicklung Deshalb können wir davon ausgehen, dass der deutsch- zu stärken und eine integrierte ländliche Entwicklung vo- französische Motor, wie in der Vergangenheit und wie es ranzubringen. Dies wird von uns ausdrücklich begrüßt in diesem Augenblick bewiesen worden ist, auch in Zu- und unterstützt. kunft gut funktionieren wird. In Kopenhagen kann jetzt 106 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) der nächste entscheidende Schritt für die Erweiterung der Der Außenminister hatte empört und nervös auf der Re- (C) EU vollzogen werden. Der Konvent wird bis Som- gierungsbank reagiert, als FDP-Fraktionsführer Gerhardt mer 2003 die entscheidende Vorarbeit für die Reform der darauf zu Recht hinwies. Es geht mir nicht nur um diese Institutionen leisten. 6 Milliarden Euro pro anno – das ergibt mit insgesamt über 40 Milliarden Euro eine riesige Summe zusätzlich Europa ist unsere Zukunft. Diese Zukunft ist gestaltbar. für die nächste Finanzierungsperiode –, kläglich ist doch Europa hat keine andere Zukunft als die des Dialogs und vielmehr, eine solche Verhandlungspanne auf die Dol- der Einbindung in die europäische Aufklärung. Alles an- metscher zu schieben. Das ist die dämlichste Ausrede, die dere führt zur Destabilisierung. Die rot-grüne Koalition ich je in der europäischen Politik gehört habe. packt die vor uns liegenden Aufgaben für ein friedliches, soziales und nachhaltiges Europa an. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Es wird auch Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. beim Irak-Konflikt noch eine geben! – Zuruf des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN]) – Jetzt bleiben Sie aber mal entspannt. Vizepräsidentin Susanne Kastner: (Ute Kumpf [SPD]: Kein Problem!) Das Wort hat der Kollege Peter Hintze, CDU/CSU- Das wäre aber noch hinnehmbar, wenn der von uns im Fraktion. Ergebnis begrüßte Gipfel nicht lediglich die Steine aus (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dem Weg geräumt hätte, die nicht zuletzt von deutschen Verhandlungsfehlern beim Berliner Gipfel 1999 herrühren. Das, was wir jetzt mühsam repariert haben, ist durch Ver- Peter Hintze (CDU/CSU): handlungsfehler entstanden, die sich diese Bundesregie- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und rung in der Vergangenheit geleistet hat. Herren! Wenn es eine Lehre aus der Geschichte des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – 20. Jahrhunderts gibt, dann ist es die, dass Deutschland Günter Gloser [SPD]: Das ist doch falsch!) jede Form eines deutschen Sonderweges schadet und dass es der europäische Weg ist, der unseren Interessen dient. Ich bin geneigt, Sie trotz guter Freundschaft zu ihm ge- genüber dem Kollegen Pflüger in einem kleinen Punkt et- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. was in Schutz zu nehmen. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]) (Günter Gloser [SPD]: Aber nur ein bisschen!) (B) Der Bundesaußenminister ist erfreulicherweise noch (D) unter uns. Wir haben heute auch eine neue Form des grü- Es ist richtig, dass Sie bei den Arbeiten zur Europäischen nen Sonderweges kennen gelernt. Das ganze Plenum war Verfassung zu denjenigen gehört haben, die unsere Ideen gespannt auf die zwei klugen Kolleginnen, die die Grünen aufgegriffen und gesagt haben, dass hier die nationalen zu Fraktionssprecherinnen gewählt haben; aber Herr Parlamentarier ranmüssten. Das haben wir im Europaaus- Fischer hat beschlossen, alle Debattenbeiträge selber zu schuss immer gefordert. Sie haben das irgendwann zu Ih- leisten. Ich hoffe im Interesse des Hauses, dass das in Zu- rer eigenen Sache gemacht. Aber warum ist es denn zu kunft nicht so weitergeht. diesem Konvent überhaupt gekommen? Doch deshalb, weil die Regierungen, auch diese Regierung, gescheitert (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sind und sich mit Nizza einen grandiosen Fehlschlag ge- der FDP) leistet haben. Für eine erfolgreiche Europapolitik gibt es zwei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Grundregeln. Europa kommt voran, wenn Deutschland neten der FDP) und Frankreich zusammenwirken. Ich finde es gut – das will ich in dieser Debatte zum Ausdruck bringen –, dass Man kann unter solcher Führung Europa nicht mehr den es gelungen ist, beim jüngsten Gipfel Deutschland und Regierungen überlassen. Das müssen – ich greife ein Wort Frankreich zusammenzuführen, dass 13 Staaten der Euro- von Gerd Müller auf – wir Parlamentarier mit in die Hand päischen Union diesem gemeinsamen Weg gefolgt sind nehmen, damit es gut wird. und damit den Weg zur Erweiterung frei gemacht haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben unser Versprechen gegenüber den jungen De- mokratien Mittel- und Osteuropas einlösen und damit den Die zweite Grundregel für ein Gelingen in Europa, ge- Raum wirtschaftlicher Prosperität und politischer Stabi- gen die Sie allerdings noch verstoßen, ist der faire Um- lität ausweiten können. Herr Außenminister, ich stehe gang mit den kleinen Mitgliedstaaten. Es war immer das nicht an zu sagen, dass es gelungen ist, ein Stück der po- deutsche Erfolgsrezept, dass die Europapolitik nicht von litischen Kontinuität zurückzugewinnen, die in den letz- den Großen monopolisiert wurde, sondern dass die ten Jahren verloren zu gehen drohte. Großen und die Kleinen im fairen Miteinander Dinge re- gelten. Hier hat sich die Regierung schwer versündigt. Der Bundeskanzler ließ sich allerdings für eine Verein- Wenn nun also der Stabilitätspakt unter maßgeblicher barung feiern, die es so gar nicht gibt. Beteiligung Deutschlands zur Auflösung freigegeben (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja! Das ist wird, dann ist das ein Affront nicht zuletzt gegen die klei- richtig!) nen Mitgliedstaaten, die unter großen Anstrengungen ihre Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 107

Peter Hintze (A) Aufgaben gemacht haben und die die Stabilitätskriterien, dass die entsprechenden Kriterien erfüllt waren, Schritte (C) die wir gefordert haben, eingehalten haben. Von diesen gegangen, die es gerade den europaorientierten Kräften in Stabilitätskriterien sagen wir nun, sie seien nicht mehr so der Türkei schwerer machen, die Dinge, die wir in Europa wichtig. Das ist ein Fehler dieser Bundesregierung, lieber brauchen, auch tatsächlich einzufordern. Herr Fischer. (Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: neten der FDP) Stimmt doch gar nicht! Die Kriterien sind doch Es ist wichtig, dass die Staaten, die neu hinzukommen ganz klar!) werden und mit denen wir unser Schicksal teilen wollen, Es ist ein schwerwiegender Fehler, wenn wir von den erkennen, dass hier Fairness herrscht. Da Sie etwas Menschenrechtskriterien und den politischen Kriterien lächeln – ich möchte das harte Wort „grinsen“ vermeiden –, absehen. Wir werden den islamischen Fundamentalismus möchte ich Folgendes sagen: Es ist auch ein persönlicher nicht dadurch eindämmen, dass wir die Kriterien herab- Fehler von Ihnen, Herr Fischer, dass Ungarn und Tsche- setzen. Liebe Freunde, meine Damen und Herren, nur ein chien im Vertrag von Nizza weniger Sitze im Europä- klares Festhalten an unserer Werteordnung kann uns ischen Parlament zugesprochen bekommen haben, als tatsächlich zum Erfolg führen. ihnen nach der Bevölkerungszahl zustehen. Wir von der Union erwarten, dass diese Ungerechtigkeit bei den Bei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – trittsverträgen korrigiert wird. Ungarn und Tschechien Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE müssen genauso fair behandelt werden wie Portugal, Bel- GRÜNEN]: Kein Mensch will die Kriterien gien und andere Staaten in Westeuropa. Wir werden un- nach unten verändern!) sere Zukunft nur dann gemeinsam bewältigen, wenn wir Frau Merkel hat es heute Morgen kurz angesprochen; fair miteinander starten. Sie haben mit Unverstand reagiert. Der Bundesaußenmi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nister weiß doch, dass der Oberstaatsanwalt in Ankara mit neten der FDP) dem Vorwurf der Spionage und einer Strafandrohung von Friedbert Pflüger wird gleich in seinem Beitrag das acht bis 15 Jahren gegen Vertreter politischer Stiftungen Thema des Terrorismus genauer beleuchten. Aus euro- ermittelt. Das muss hier doch einmal ausgesprochen wer- päischer Sicht will ich nur einen Punkt dazu sagen. Es ist den. Zu einem solchen Zeitpunkt, in dem die Erfüllung auffällig –, dies geht mir in der öffentlichen Kommentie- der klaren Kopenhagener Kriterien – übrigens nicht nur rung zu stark unter – dass die Terroristen gerade zu einem der politischen, sondern auch der wirtschaftlichen – in Zeitpunkt in Moskau zuschlugen, in dem sich die politi- weiter Ferne liegt, kann man doch keinen Termin verge- ben. Es ist gerade einmal eineinhalb Jahre her, dass die (B) sche Führung in Russland klar an die Seite Europas und (D) Amerikas stellte. Deswegen muss auch hier Klarheit herr- Türkei eine der größten Währungskrisen in der Ge- schen: Auf diesem Weg an der Seite Europas und Ameri- schichte Europas und Asiens hinter sich gebracht hat. kas braucht auch Russland unsere Solidarität. Auch auf diese Fragen müssen wir achten. Wolfgang Schäuble hat heute schon dazu gesprochen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich habe allerdings eine Theorie, die sich an die von Uns allen fiel ein Stein vom Herzen, als die Ergebnisse Wolfgang Schäuble anschließt: Es ist nicht allein der des zweiten irischen Referendums bekannt wurden. Ich Blick auf Amerika – es gibt außenpolitische Interessen; möchte uns alle aber dazu auffordern, diese Reaktion in das ist zu verstehen –, sondern es ist möglicherweise auch Irland ernst zu nehmen. Das Projekt Europa wird dann gut, wenn es uns gelingt, die Bevölkerungen mitzuneh- der Blick auf die eigene, sich erweiternde Wählerschaft, men. Es ist nicht nur ein Projekt der politischen Führun- die das europäische Interesse und die klaren Kriterien gen und der Regierungen und es ist auch nicht allein ein zurückstehen lassen. Projekt der Parlamente. Es ist ein Projekt der Bevölke- (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!) rungen in Europa; wir wollen sie mitnehmen. Es ist aus- gesprochen wichtig, dass wir mit der Art und Weise, wie Das halte ich für kein verantwortliches Handeln vonseiten wir debattieren und öffentlich dafür eintreten, dokumen- der Regierung. Sie haben das Interesse unseres Landes tieren, dass wir auch die Menschen in unseren Ländern und das der Europäischen Union wahrzunehmen. mitnehmen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) DIE GRÜNEN]: Möllemann!) Dazu, dass die Bevölkerung mitgenommen werden Dazu gehört die klare Einhaltung der Kriterien und der muss, gehören auch einige neuralgische Themen. Ich Verträge. komme hier noch einmal auf das Thema Türkei zu spre- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen. Nachdem die Regierung ihre Absicht erklärt hat, die neten der FDP) europafreundlichen Kräfte in der Türkei zu unterstützen, was ja akzeptabel ist Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf den Kon- vent und den Verfassungsvertrag kommen. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig und gut!) (Günter Gloser [SPD]: Laut ist die Rede ja!) – Frau Roth, ich möchte das entwickeln –, hat die Regie- Die Regierung hat das bisher ja recht lieblos behandelt. rung eine ganze Reihe von Fehlern gemacht. Sie ist, ohne , ein kluger Mann, war selbst erstaunt, dass er 108 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Peter Hintze (A) benannt wurde. Jetzt wurde er durch Herrn Fischer er- auch in der 15. Legislaturperiode politische Leitlinie der (C) setzt. Wir hoffen, dass in das, was die Regierung in diesen Koalition. Dies gilt nach innen und nach außen. Da großen und wichtigen Fragen will, jetzt etwas mehr Klar- Menschenrechtspolitik eine Querschnittsaufgabe ist, ist heit kommt. Der Kanzler ist nicht mehr da. Er hat aber von es nur konsequent, wenn Menschenrechte in der Koali- diesem Pult aus angekündigt, er werde die Europa- tionsvereinbarung in verschiedenen Politikfeldern ange- zuständigkeit ins Kanzleramt holen. Allerdings erschöpft sprochen werden: in der Sozialpolitik, der Frauenpolitik, sich die ganze Geschichte in der Ernennung eines Grup- der Rechts- und Innenpolitik sowie an zahlreichen Stellen penleiters zum Abteilungsleiter. Das ist ein kleiner Teil- im Bereich der Außenpolitik, vor allem unter dem Stich- erfolg des Herrn Bundesaußenministers, der damals in der wort gerechte Globalisierung. Debatte schon freundlich gelächelt hatte; der Kanzler hätte mal genauer hinschauen sollen. In der letzten Legislaturperiode wurde der Politikbe- reich Menschenrechte mit der Bildung eines eigenständi- Wichtiger ist jetzt aber, was in der Sache herauskommt. gen Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Ich will zwei Punkte nennen. Der Bundeskanzler hat jetzt Hilfe, der Schaffung der Stelle eines Menschenrechtsbe- sein großes Interesse – so hat es der Regierungssprecher auftragten im Auswärtigen Amt und der Einrichtung des verkündet – an einem Präsidenten des Europäischen Ra- Deutschen Instituts für Menschenrechte erheblich ge- tes, der für mehrere Jahre gewählt wird, entdeckt. Dazu stärkt. Die neuen Instrumente haben erfolgreich dazu können wir nur sagen: Damit käme es zu einem Gegen- beigetragen, dass menschenrechtliches Denken und Han- einander der Institutionen, was Europa bremsen und hem- deln in Politik und Gesellschaft gefördert wurden. men würde. Wir brauchen nicht mehr Institutionen. Wir brauchen eine klare Abgrenzung zwischen den Institutio- In dieser Legislaturperiode soll die Menschenrechts- nen. Das ist der erste Punkt. politik weiter gefestigt und größtmögliche Kohärenz zwi- schen den einzelnen Politikbereichen hergestellt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dies soll durch einen intensiven Austausch mit den im Der zweite Punkt. Im Himmel herrscht mehr Freude Forum Menschenrechte zusammengeschlossenen Nicht- über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte. Der regierungsorganisationen geschehen. Die weitere Ver- Bundesaußenminister hat gestern bei seinem Vortrag im rechtlichung der menschenrechtlichen Grundlagen der in- Konvent Ziele vertreten, die wir lange gefordert haben: ternationalen Beziehungen ist uns ein wichtiges Anliegen. klare Kompetenzabgrenzung, klare Gewaltenteilung. Deshalb wollen wir noch ausstehende Konventionen und Wenn Sie durch Ihre Arbeit und Ihr Tun beweisen, dass Zusatzprotokolle im Menschenrechtsbereich ratifizieren Sie zu den Grundlinien, die Sie am Anfang Ihrer Rede be- sowie bestehende Vorbehalte und Einschränkungen schworen haben, zurückkehren wollen, dann können wir zurücknehmen. das nur begrüßen. (B) Wir treten dafür ein, die Kontrollgremien der internatio- (D) nalen Pakte zu stärken, um die völkerrechtliche Vizepräsidentin Susanne Kastner: Verbindlichkeit und Wirksamkeit dieser Instrumente aus- zubauen. Wie schon in den letzten Jahren wollen wir Herr Kollege Hintze, Ihre Redezeit ist deutlich über- den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in schritten. Straßburg stärken. Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Kindern gehören leider immer noch zum weltweiten Peter Hintze (CDU/CSU): Alltag. Auf ihre Rechte wollen wir deshalb besonderes Au- Meine Redezeit ist zu Ende. Es gäbe noch viel zu sa- genmerk legen. Weitere Schwerpunktthemen der Men- gen, zum Beispiel zur europäischen Sicherheits- und Ver- schenrechtspolitik der 15. Legislaturperiode werden die teidigungspolitik. Kollege Schmidt und andere werden stärkere Beachtung wirtschaftlicher, sozialer und kulturel- das machen. Wir jedenfalls freuen uns auf spannende, kri- ler Menschenrechte im Rahmen der Globalisierung sein. tische und konstruktive Jahre. Dort, wo Sie gute Arbeit Die größte Herausforderung stellt sich für die Men- leisten, werden Sie unsere Unterstützung haben. Dort, wo schenrechtspolitik dort, wo in Krisen-, Konflikt- und Sie von dem abweichen, was Sie hier selbst proklamieren, Kriegssituationen die elementaren Menschenrechte ver- werden Sie uns kritisch erleben. letzt und missachtet werden. Im Rahmen des größeren Eu- Schönen Dank. ropas ist dies zurzeit der Tschetschenien-Konflikt. Der russisch-tschetschenische Konflikt war im Bewusstsein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Weltöffentlichkeit in letzter Zeit zurückgedrängt wor- der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜND- den. Durch die brutale Geiselnahme durch tschetscheni- NIS 90/DIE GRÜNEN]) sche Terroristen und den tragischen Ausgang der Beendi- gung der Geiselnahme mit weit über hundert Opfern Vizepräsidentin Susanne Kastner: haben sich die Tschetschenen gewissermaßen gewaltsam zurückgemeldet. Die Spirale der Gewalt im Tschetsche- Nächster Redner in der Debatte ist Rudolf Bindig, nien-Konflikt hat sich um eine schreckliche Windung SPD-Fraktion. weitergedreht. Zu den täglichen Opfern auf allen Seiten in Tschetschenien selbst kommen jetzt in Moskau die Opfer der Geiselnahme im Rahmen der Beendigung dieses Ter- Rudolf Bindig (SPD): roraktes hinzu. Wer politische Ansätze finden will, um Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Einfluss darauf zu nehmen, wie die Spirale der Gewalt in Der Schutz und die Förderung der Menschenrechte sind Tschetschenien durchbrochen werden kann, muss Be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 109

Rudolf Bindig (A) zugsfelder, Ursachen und Hintergründe des Konflikts Deshalb müssen neue Initiativen ergriffen werden, um die (C) sorgfältig analysieren. russische Regierung davon zu überzeugen, ohne Vorbe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dingungen Verhandlungen mit dem Ziel aufzunehmen, DIE GRÜNEN) die Gewalt zu beenden und eine politische Lösung her- beizuführen. Einfache Muster einer undifferenzierten Anschuldi- gung entsprechen nicht der Lage. Weder die offizielle rus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sische Sprachregelung, dass es sich beim Tschetschenien- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Konflikt allein um eine Ausprägung des internationalen Dabei müssen auf tschetschenischer Seite jene Perso- Terrorismus handelt, wie er sich in New York und Bali nen einbezogen werden, die von den Tschetschenen als le- ausgetobt hat, noch die Erklärung auf der anderen Seite, gitime Sachwalter ihrer Anliegen angesehen werden. Aus dass es sich hauptsächlich um den Freiheitskampf eines meiner Erfahrung im Rahmen des Europarates und aus unterdrückten Volkes handele, wird dem Problem auch vielen Gesprächen komme ich zu dem Schluss, dass der nur annähernd gerecht. Schon die Auflistung der Akteure auf tschetschenischer Seite belegt dies. Da gibt es die in gewählte Präsident Tschetscheniens, Aslan Maschadow, den Untergrund gedrängten Repräsentanten eines Iksche- eine so einflussreiche Person in der Region ist, dass es ria ebenso wie Clanführer als Kriegsherren, organisierte ohne Verhandlungen keine politische Lösung geben wird. Kriminelle und religiös motivierte Terroristen mit Verbin- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dungen zu weltweit operierenden Netzwerken. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wer alle diese Akteure pauschal als internationale Ter- Wenn es die Zielsetzung des Europarates ist, im roristen radikalislamistischer Prägung abstempelt, ver- großeuropäischen Rahmen ein Gebiet der Demokratie, baut sich politische Strategien zur Eindämmung und Lö- der Geltung des Rechts und der Menschenrechte zu schaf- sung dieses Konflikts. fen, so kann Europa nicht weiter akzeptieren, dass im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Tschetschenien-Konflikt täglich von allen Seiten die DIE GRÜNEN) Menschenrechte massiv verletzt werden. Nach dem Gei- Hierbei muss man genau sein. Man kann nicht zwi- seldrama scheint sich die russische Haltung sogar verhär- schen einem fürchterlichen Terrorismus, der völlig inak- tet zu haben. Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- zeptabel ist, und einem weniger fürchterlichen Terroris- und Sicherheitspolitik der EU, im Rahmen der OSZE mus, der vielleicht begründet sein kann, unterscheiden. und/oder im Rahmen des Europarates müssen die Regie- Terrorismus ist und bleibt Terrorismus. rungen – und zwar in der Tat die Regierungen und nicht nur die Parlamente dieser Institutionen – ihre Anstren- (Beifall bei der SPD) (B) gungen intensivieren, Russland davon zu überzeugen, (D) Wer ihn bekämpfen will, muss aber die verschiedenen dass dieser Konflikt einer politischen Lösung bedarf. Hintergründe und Nährböden kennen, um wirksam Auch Russland sollte aus seiner Interessenlage heraus agieren zu können. internationale Mitwirkung bzw. Bemühungen – wie soll Der Tschetschenien-Konflikt reicht in seinen Ursachen ich es nennen? – akzeptieren. Je mehr die russische Staats- Jahrhunderte zurück und ist nach dem Zerfall der Sowjet- führung darauf beharrt, dass sie hauptsächlich bzw. aus- union und dem Entstehen der Russischen Föderation schließlich mit einer Form des internationalen Terroris- durch das Streben der Tschechenen nach Unabhängigkeit mus konfrontiert ist, desto mehr müsste sie eigentlich in eine neue Dimension eingetreten. Es ist in erster Linie bereit sein, im Rahmen internationaler Zusammenarbeit ein lokaler bzw. regionaler Konflikt, den es schon lange dagegen vorzugehen. Umgekehrt gilt: Je mehr Russland vor dem Entstehen des internationalen Terrorismus isla- darauf besteht, dass es sich weitgehend um eine innere misch-fundamentalistischer Ausprägung gab. Wenn ei- Angelegenheit handelt, desto deutlicher bringt es damit nige tschetschenische Akteure auch Verbindungslinien zu zum Ausdruck, dass der Einfluss des internationalen Ter- international operierenden terroristischen Netzwerken ha- rorismus eben doch geringer ist als behauptet. Faktisch ben, so rechtfertigt dies nicht, den Tschetschenien-Kon- wird damit eingestanden, dass der Konflikt und das Ge- flikt nur unter diesem Aspekt zu sehen. schehen in Tschetschenien in erheblichem Umfang auch Radikaler islamischer Fanatismus ist nicht das allei- regionale, nationalistische und historische Ursachen hat. nige Motiv. Triebkraft vieler Tschetschenen, die nie streng gläubige Muslime waren und es auch heute nicht sind, ist Ein letzter Blick auf einen innenpolitischen Aspekt der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in ihrer dieses Problemkreises: Auch in Deutschland leben Tschet- eigenständigen Kultur und Tradition. schenen. Angesichts der Berichterstattung und der Ereig- nisse in der letzten Zeit ist die Gefahr groß, dass sie alle in Fakt in Tschetschenien ist – dies muss die internatio- die terroristische Ecke gestellt werden. Ich warne davor. nale Gemeinschaft auf den Plan rufen –, dass der Tschet- schenien-Konflikt in Kürze in seinen vierten Winter geht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des und weiterhin zahlreiche Opfer sowohl in der Zivilbevöl- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kerung als auch bei russischen Sicherheitskräften fordert. Viele von ihnen sind hier, weil sie vor den Übergriffen Die Ereignisse der letzten Monate haben gezeigt, dass russischer Sicherheitskräfte oder lokaler Banden geflüch- sich der Konflikt nicht mit Gewalt austreten lässt. tet sind oder weil sie in Filtrationslagern gefoltert worden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind. Andere haben sich der russischen Armee entzogen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) weil sie nicht auf die eigenen Leute schießen wollten. 110 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Rudolf Bindig (A) Diese Menschen sind Opfer und keine Täter. In dieser an- tes Staatskunst. Genau daran hat es in den letzten Jahren (C) gespannten Lage darf es keine ausländerrechtliche Rück- und vor allen Dingen in den letzten Monaten in dramati- führung von Tschetschenen nach Russland geben. Auch scher Weise gefehlt. eine inländische Fluchtalternative in Russland ist derzeit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht gegeben. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Sonst stünde nicht die Glaubwürdigkeit unseres BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) UN-Engagements in Zweifel. Sie steht aber in Zweifel, Wir müssen uns immer wieder aufs Neue daran erin- wenn der deutsche Bundeskanzler von vornherein mögli- nern, dass wir über dem Kampf gegen den Terrorismus che Sicherheitsratsresolutionen als für die deutschen Ent- nicht den Schutz der Menschenrechte sowie unsere huma- scheidungen auf nationaler Ebene irrelevant erklärt. Sonst nitären Aufgaben in Deutschland vergessen. würden unsere Partner nicht die Frage stellen, ob sich hin- ter dem Begriff des deutschen Weges nicht doch eine Re- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nationalisierung der deutschen Sicherheits- und Verteidi- DIE GRÜNEN) gungspolitik verbirgt. Sonst würden wir nicht mit Verblüffung und Empörung vor der Tatsache stehen, dass Vizepräsidentin Susanne Kastner: das deutsch-französische wie das deutsch-amerikani- sche Verhältnis gleichermaßen einen historischen Tief- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, punkt erleben. FDP-Fraktion. Meine Damen und Herren, es gehört zum Imperativ deutscher Außenpolitik, dass sich eine Bundesregierung Dr. Werner Hoyer (FDP): nie in eine Situation manövrieren darf, wo sie zwischen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa und den USA, zwischen transatlantischer Bin- Der Kollege Erler hat zu Beginn seiner Ausführungen ge- dung und europäischer Integration, zwischen Washington sagt, dass die internationale Politik nichts Fernes mehr und Paris wählen muss. Die Kollegen im britischen Un- sei, dass die klassische Trennung von Innen- und Außen- terhaus und in der französischen Nationalversammlung politik in unserem heutigen politischen Leben gar nicht werden in der Frage, ob ihnen die NATO oder die EU, ob mehr so aufrechtzuerhalten sei, wie es einmal gewesen die transatlantische Bindung oder europäische Integration sei. Wir haben allerdings bisher in diesem Hohen Hause wichtiger ist, zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, – das gilt für die gesamte Bundesrepublik Deutschland – aber sie werden klare Prioritäten ausdrücken. Wir Deut- eines vermieden, nämlich die internationale Politik, ins- schen dürfen es uns niemals leisten, uns überhaupt in eine (B) besondere die Außenpolitik, nur noch zum Markt der Situation zu bringen, diese Frage beantworten zu müssen. (D) Innenpolitik oder zur Funktionsgröße innenpolitischen Taktierens zu machen. Das hat sich durch die Bundes- Aber der Trick kann ja nicht darin bestehen bzw. das tagswahl 2002 geändert. Das bedauere ich sehr. Problem nicht dadurch als gelöst gelten, dass am Ende das Verhältnis mit beiden Partnern gleichermaßen schlecht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ist. Genau das haben wir hier aber festzustellen. Deswe- der CDU/CSU) gen ist der Befund der aktuellen Europa- und Außenpoli- Es gibt ein paar Konstanten deutscher Außenpolitik tik fatal: der letzten 50 Jahre, mit denen wir sehr gut gefahren sind (Beifall des Abg. [CDU/CSU]) und die bisher noch keine Bundesregierung infrage ge- stellt hatte, und zwar weder vorsätzlich noch fahrlässig. Die Verletzungen sind tief. Die Verletzungen, die insbe- Die jetzige Bundesregierung hat es getan. Sie hat Kern- sondere in den Vereinigten Staaten entstanden sind, nicht elemente des außenpolitischen Konsenses auf dem Wahl- nur bei der Regierung, sondern auch bei den Menschen, kampfaltar geopfert. Dazu gehört unter anderem ein star- werden in Deutschland nicht überschätzt, sondern noch kes Engagement für den Multilateralismus, und zwar gewaltig unterschätzt. Es wird unterschätzt, dass das sowohl im Hinblick auf Systeme kooperativer Sicherheit deutsch-amerikanische Verhältnis immer auch eine ganz wie die UNO und die OSZE als auch im Hinblick auf Sys- starke emotionale Komponente gehabt hat, und das hat teme kollektiver Verteidigung wie die NATO. Das gilt erst insbesondere etwas mit dieser Stadt, mit Berlin, zu tun. recht für die europäische Integration, die in den letzten Man macht einen Riesenfehler, wenn man das übersieht. Jahrzehnten eine so große Blüte erreicht hat. Am schlimmsten war wahrscheinlich bei all diesen Zu diesen Kernelementen gehören des Weiteren die verbalen Entgleisungen, dass man unsere amerikanischen konsequente Entnationalisierung der Sicherheits- und Partner in die Ecke von Abenteurern gerückt und diesen Verteidigungspolitik durch tiefe Integration, das beson- Begriff auch benutzt hat. Meine Damen und Herren, das dere Bemühen um das Vertrauen der kleineren Partner in übersieht die ausgesprochen ernste und kontroverse De- den Verbünden, ein enges und vertrauensvolles Verhältnis batte, die in den Vereinigten Staaten zum Beispiel zur zu Frankreich als notwendige Bedingung für jeglichen Irak-Frage geführt wird. Ich wünsche mir manchmal, Fortschritt in der Europäischen Union und – last, but not auch in der Medienwelt in Deutschland würden wir eine least – eine auf Vertrauen und gemeinsame Werte gegrün- solche kontroverse tief gehende Debatte führen, wie das dete Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Ame- in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Das hat tiefe Ver- rika. Manchmal sind diese Elemente gewiss nicht leicht wundung hinterlassen und das persönliche Verhältnis auszubalancieren. Das erfordert im besten Sinne des Wor- weitgehend zerstört. Ich fürchte, selbst wenn der Bundes- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 111

Dr. Werner Hoyer (A) kanzler jetzt auf die Idee käme, wieder einmal dort anzu- raketen in Europa und in Deutschland diskutiert haben. (C) rufen, er würde schon bei der Telefonzentrale scheitern. Bei allen, zum Teil riesigen Differenzen ist der Gesprächs- faden damals aber niemals abgerissen. Das wäre Hans- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Dietrich Genscher oder Helmut Kohl niemals passiert. Meine Damen und Herren, wir fangen an, Preise zu Heute ist das der Fall. Da nützt dann auch der Besuch des zahlen; das ist bereits gesagt worden. Selbst wenn es diese Außenministers nicht viel. Die Telefonleitung zwischen ominöse Liste im formalen Sinne nicht gibt, ist gleich- dem Kanzleramt und dem Weißen Haus muss wieder her- wohl klar: Die Bundesrepublik Deutschland wird auf an- gestellt werden. deren Gebieten als auf denen, die jetzt im Wahlkampf dis- Herzlichen Dank. kutiert worden sind, Preise zahlen müssen. Das beginnt mit der Irak-Frage – insbesondere in der Zeit nach einer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) möglichen Intervention –, setzt sich fort in der Frage der Lead-Funktion in Afghanistan, die uns dort sehr, sehr Vizepräsidentin Susanne Kastner: lange binden kann, und gilt auch für die Türkei-Frage, auf die verschiedene Kolleginnen und Kollegen hier einge- Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, gangen sind. Dr. Peter Struck. Meine Damen und Herren, in dieser Situation außenpo- litischer Irritationen schlimmster Art stehen wir vor dem Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: NATO-Gipfel in Prag. Dieser NATO-Gipfel in Prag ist eben keineswegs in allererster Linie ein Erweiterungsgip- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und fel – die Entscheidungen sind im Wesentlichen abgefrüh- Herren! Erlauben Sie, dass ich zunächst auf den Beitrag stückt –, sondern in Prag werden die Vereinigten Staaten des Kollegen Schäuble eingehe. Dieser Beitrag, Herr Kol- versuchen, ihre militärstrategischen Neuorientierungen ei- lege Schäuble, zeichnete sich durch eine Mischung von nes Präventivschlages Halbwahrheiten und Verdrehungen aus. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja!) (Peter Hintze [CDU/CSU]: Unverschämtheit!) und einer Abkehr vom unbedingten Gewaltmonopol der Das bin ich von Ihnen nicht anders gewohnt. Ich will das Vereinten Nationen auch in der NATO durchzusetzen. Die auch belegen. Amerikaner stellen in dem Zusammenhang manche wohl Herr Kollege Schäuble, wenn Sie behaupten, die Dis- berechtigte Frage, aber wir als Europäer und speziell als kussion über die Lead-Funktion bei ISAF, die wir begon- Deutsche müssen uns fragen, ob wir uns eigentlich schon nen haben – wir werden das Parlament darum bitten, dem (B) intellektuell in die Lage versetzt haben, auf diese Fragen Regierungsbeschluss zu folgen –, habe etwas mit dem (D) tatsächlich auch Antworten zu geben, und ob wir bereit Irak zu tun, dann sagen Sie bewusst die Unwahrheit. sind, mit den Amerikanern über gemeinsame Antworten zu debattieren. In Prag werden möglicherweise schon Ich bin im Juli in einer Sondersitzung des Deutschen recht weit gehende Festlegungen geschaffen. Die Bundes- Bundestages vereidigt worden. regierung hat noch nicht einmal angefangen, das über- (Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble haupt intern zu durchdenken, [CDU/CSU]) (Dr. Peter Struck, Bundesminister: Woher – Hören Sie doch einmal zu, Herr Schäuble! wissen Sie das?) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Was ist das für geschweige denn gemeinsam mit unseren Partnern in ein gereizter Ton?) Europa. Sie, Herr Kollege Struck, drohen die erforder- liche Strategiediskussion vollkommen zu verschlafen und Am nächsten Tag bin ich in Kabul gewesen und habe dort laufen Gefahr, unser Engagement mit KSK in Afghanistan mit den türkischen und den anderen Kollegen die Debatte vor unserer deutschen Bevölkerung verheimlichen zu darüber begonnen, wer denn wohl Nachfolgenation für wollen. die Türkei werden würde. Da war vom Irak überhaupt noch nicht die Rede. Es ist schon brutal, wie Sie hier ver- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Dr. Peter suchen, das in Zusammenhang mit einer militärischen In- Struck, Bundesminister: Auch Quatsch!) tervention im Irak zu setzen. Das ist aber typisch für Sie. Meine Damen und Herren, mir graut jedenfalls vor der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorstellung, dass wir Europäer und vor allem wir Deut- DIE GRÜNEN) schen in Prag den USA nur deshalb hinterherlaufen müs- sen, weil wir es uns nicht leisten können, unsere eigenen Sie behaupten auch, wir würden nicht über die Arbeit Vorstellungen gegenüber Washington vorzubringen. der Kommandospezialkräfte informieren. Fragen Sie doch bitte einmal Ihre Kollegen, die im Verteidigungs- Das Irritationspotenzial zwischen Europäern und Ame- ausschuss Verantwortung getragen haben! rikanern ist gewaltig. Das beginnt bei der Zukunft der WTO und anderen Handelsfragen und reicht über den In- (Widerspruch des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble ternationalen Strafgerichtshof und die Raketenabwehr bis [CDU/CSU]) zur Rolle der Vereinten Nationen. Vergleichbar schwierig – Schütteln Sie nicht den Kopf! war nach meiner Einschätzung nur die Situation Ende der 80er-Jahre, als wir über amerikanische Kurzstreckenatom- (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU) 112 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) – Ich ärgere mich darüber. Herr Schäuble sagt bewusst die und natürlich auch dem neuen Vorsitzen- (C) Unwahrheit oder er weiß nicht, wovon er redet. den des Verteidigungsausschusses, Reinhold Robbe. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Im Verteidigungsausschuss sitzen Kollegen, Herr Kol- Das bedeutet übrigens auch, dass ich nicht nur die Mit- lege Schäuble, denen ich genau berichtet habe, was die glieder des Verteidigungsausschusses, sondern sämtliche circa 100 Soldaten der Kommandospezialkräfte in Afgha- Abgeordneten des Parlaments, die daran interessiert sind, nistan, in Kabul tun. Ich habe die Sprecherinnen und Spre- zu erfahren, was unsere Soldatinnen und Soldaten bei cher der Fraktionen darüber informiert und ich werde das ihren schwierigen Auslandseinsätzen tun – über diese auch weiter tun. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, Einsätze werden wir neu entscheiden müssen; im Kabinett dass diese Soldaten eine höchst gefährliche Mission aus- wird in der nächsten Woche erneut über Enduring Free- üben. Aber ich stehe zu dieser Mission. Wir werden im dom entschieden; Mitte November wird im Parlament da- Zusammenhang mit der Entscheidung über die Operation rüber abgestimmt; danach müssen wir im Zusammenhang Enduring Freedom auch wieder über den Einsatz dieser mit Afghanistan über ISAF einen Beschluss fassen –, Soldaten zur Bekämpfung des internationalen Terroris- herzlich dazu einlade, sich mithilfe des Verteidigungsmi- mus beschließen. nisteriums, mithilfe der Parlamentarischen Staatssekre- Dann haben Sie gesagt, Herr Kollege Schäuble, ich täre und mit meiner Hilfe vor Ort ein Bild von deren Ar- müsse mir 500 Millionen wegnehmen lassen und solle Ih- beit zu machen. Wenn das geschähe, dann würde vieles nen einmal darlegen, wie ich die Verteidigungsausgaben von dem, was man nicht ganz genau weiß und was man bestreiten wolle. Diese Zahl von 500 Millionen, Herr mit bestimmten Verdächtigungen belegt, wirklich aus der Schäuble, ist falsch. Sie unterstellen einfach etwas und Welt sein und würde jeder anerkennen: Das, was die deut- erklären: Damit kommen Sie nicht zurecht. – Wir werden schen Soldaten dort tun, verdient höchsten Respekt und – das garantiere ich Ihnen – die Haushaltsprobleme lösen. höchste Anerkennung. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Herr Kollege Schäuble, ich werde dem Parlament im Zu- sammenhang mit dem Haushalt 2003 und der mittelfristi- Herr Kollege Schmidt, in der „Windsheimer Zeitung“ gen Finanzplanung genau das vorschlagen, was zur Um- vom 25. Oktober 2002 haben Sie erklärt, Sie wären jetzt setzung der Koalitionsvereinbarung notwendig ist, nämlich Schattenminister der Verteidigung, wenn es in Deutsch- eine solide mittelfristige Finanzplanung. Natürlich werde land so wie in England ein Schattenministerium gäbe. ich manche Großprojekte auf den Prüfstand stellen. Es ist Wollen wir einmal sehen, ob mehr „Schatten“ oder mehr „Minister“ herauskommt. Wie gesagt, versuchen wir ein- (B) überhaupt gar keine Frage, dass wir uns überlegen müssen, (D) ob die Situation, in der solche Großprojekte – zum Teil vor mal, gut zusammenzuarbeiten. Jahren, noch in der Verantwortung der Vorgängerregie- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) rung – beschlossen worden sind, heute noch so gegeben ist und ob wir bestimmte Waffensysteme in diesem Umfang Ich will angesichts der Kürze der Zeit, die für die heu- brauchen. Das ist eine höchst vernünftige Entscheidung. tige Diskussion über Verteidigung vereinbart worden ist, Wir müssen uns doch an den neuen Aufgaben der Bundes- nur noch einige Anmerkungen machen. Herr Kollege wehr und dürfen uns nicht an den Aufgaben der Bundes- Hoyer, Sie haben sich zu Prag geäußert. Ich möchte wis- wehr von vor zehn oder 20 Jahren ausrichten. sen, wie Sie dazu kommen, die Behauptung aufzustellen, die Bundesregierung bereite sich auf Prag nicht vor. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das frage ich mich auch!) Nun noch ein Wort zu Ihnen, Herr Schäuble, und dann soll es auch gut sein. Was Herr Stoiber im Wahlkampf Woher wissen Sie das eigentlich? Wir müssen unsere Vor- zum Thema Irak gesagt hat, ging weit über das hinaus, arbeiten zunächst einmal in der Regierung leisten. Herr was Sie uns gerade vorgeworfen haben. Kollege Hoyer, ich muss Sie nicht fragen, was ich da zur Erweiterung der NATO vorschlagen werde. Dass es in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Prag vor allen Dingen um die NATO-Erweiterung geht, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das wissen Sie. Dass wir diesbezüglich, bis auf zwei Län- Er hat über Überflugrechte und dergleichen geredet. Da- der, keine Probleme haben werden, das versteht sich von von wollen wir heute überhaupt nicht sprechen; sonst selbst. würde es ganz bitter für Sie. Aber wir reden auch über die neuen Initiativen des Nun zum Kollegen Schmidt. Ich gratuliere Ihnen, Herr NATO-Generalsekretärs und wir reden über eine Initia- Schmidt, herzlich zu Ihrer neuen Funktion, die Sie in Ih- tive meines Kollegen Rumsfeld, nämlich über die so ge- rer Arbeitsgruppe als Nachfolger von wahr- nannte NATO-Response-Force. Sie haben danach ge- nehmen, fragt und ich will Ihnen Ihre Frage beantworten. Die Initiative von Donald Rumsfeld, eingebracht auf einer (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer Verteidigungsministertagung in Warschau, an der, wie [CDU/CSU]) man allenthalben erfahren konnte, auch ich teilgenommen und wünsche mir eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen ge- habe, war überraschend. Donald Rumsfeld hat uns vorge- nauso wie mit dem Kollegen Nachtwei, dem Kollegen schlagen, eine NATO-Response-Force mit 21 000 Mann Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 113

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) und einer Bereitschaftszeit von sieben Tagen zu installie- Jahre 1992 stammen, vom Kollegen Rühe damals festge- (C) ren. Dieser Vorschlag von Rumsfeld ist aber noch nicht legt. Das ist jetzt zehn Jahre her und in diesen zehn Jah- konkretisiert worden. Die Konkretisierung erfolgt jetzt ren hat sich viel verändert. Wir haben fast 10 000 Solda- peu à peu. ten im Einsatz. Wir geben für den Auslandseinsatz der deutschen Soldaten 1,7 Milliarden Euro aus. Vor vier Jah- Herr Schäuble, darüber wird in Prag nicht entschieden ren waren es nur 170 Millionen. Natürlich gibt es auch werden. Das wäre auch nicht möglich, weil wir in der eu- eine andere Bedrohungsanalyse. Davon ist heute in dieser ropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Sie Debatte schon die Rede gewesen. Deshalb werde ich dem haben es selbst angesprochen – die so genannten Hel- Parlament gegebenenfalls im März oder April nach Ab- sinki-Headline-Goals beschlossen haben, das heißt – das schluss der Diskussion mit dem Generalinspekteur und wissen auch Sie –: Wir wollen eine eigene europäische den Inspekteuren der Teilstreitkräfte neue verteidigungs- Eingreiftruppe installieren. Deutschland soll sich an einer politische Richtlinien vorlegen, die ich für das Haus erar- solchen Truppe mit maximal 32 000 Soldaten beteiligen. beiten will, weil ich glaube, dass sich die Bundeswehr auf Ich will Ihnen dazu nur Folgendes sagen: Ich halte es für eine andere Situation einstellen muss, als wir sie noch vor sehr vernünftig, dass man, bevor man auf eine Initiative zehn Jahren hatten. der Amerikaner eingeht, zunächst einmal prüft, ob das, was wir in der europäischen Sicherheitspolitik verabredet Ich setze nicht nur auf eine freundliche Zusammenar- haben, kompatibel mit dem ist, was Donald Rumsfeld und beit mit meiner eigenen Fraktion – davon gehe ich aus; andere wollen. das ist eine Selbstverständlichkeit – oder dem grünen Partner, sondern auch auf eine konstruktive Zusammenar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des beit mit Ihnen von der CDU/CSU und der FDP. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Herr Schäuble, da wägen wir noch ab. Vielleicht kön- nen wir uns in einem Punkte treffen: Es macht keinen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sinn, zwei parallele Eingreiftruppen für nahezu den glei- DIE GRÜNEN) chen Zweck mit jeweils einem deutschen Kontingent zu installieren. Das ist nicht machbar. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich will noch etwas zu den internationalen Einsätzen, Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt. gerade zum ISAF-Mandat, dessen Verlängerung dem- nächst ansteht, sagen. Ich habe mich mit meinem nieder- ländischen Amtskollegen darauf geeinigt, dass wir die Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Lead-Funktion übernehmen. Ich will dem Parlament Fol- (B) Herr Verteidigungsminister, das Angebot der guten, der (D) gendes nicht vorenthalten: Das wird bedeuten, dass die fairen Zusammenarbeit wiederhole ich gerne auch von Anzahl der deutschen Soldaten, die jetzt für ISAF in Ka- unserer Seite. Wir alle wissen, dass die Bundeswehr ein bul tätig sind, erhöht werden muss. Das hängt insbeson- Organismus ist, der aus Menschen besteht, die zwar, wie dere damit zusammen, dass wir von der Türkei, der jetzi- man dem Löchel-Bericht und anderen Berichten entneh- gen Lead Nation, den Betrieb und die Bewachung des men kann, langsam, aber nachhaltig das Vertrauen in ihre Flughafens in Kabul übernehmen müssen, was höchst politische Führung verloren haben, dass sie aber unter der personalintensiv ist. Die Übernahme der Lead-Funktion Bereitschaft, ihr Leben einzusetzen, politische und mi- ist sehr vernünftig: Deutschland ist das Land, das, was litärische Aufträge für uns erfüllen, bei denen sie nicht den Auslandseinsätze angeht, nach den Amerikanern weltweit Eindruck haben sollten, hier werde über ihren Kopf hin- das größte Kontingent stellt. weg entschieden und eigentlich würden ihre Interessen Zum Thema Deutschland/Amerika will ich Ihnen überhaupt nicht berücksichtigt. noch Folgendes sagen: Natürlich gibt es auf der anderen Heute Vormittag war bereits die Rede davon, dass in der Seite Irritationen. Wir müssen uns nicht vorwerfen lassen, Regierungserklärung darüber überhaupt kein Wort verlo- im Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder ren worden ist. Das finde ich bedauerlich. Es reicht eben beim Aufbau Afghanistans nicht das Nötige getan zu ha- nicht – um einen kleinen Nachtrag zu machen, Herr ben – ganz im Gegenteil, meine Damen und Herren. Struck –, zu Bier und großer Party etwa 50 000 Soldaten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einzuladen und ihnen einen Dank abstatten zu wollen, der DIE GRÜNEN) eigentlich nur camoufliert, dass man mit ihnen Wahlkampf machen will. Die Soldaten haben nicht vergessen und wir Das wissen die Amerikaner auch. haben auch nicht vergessen, dass Sie versucht haben, die Es wird sich alles normalisieren, auch meine Begeg- Bundeswehr parteipolitisch zu instrumentalisieren. Das nungen mit meinem amerikanischen Amtskollegen. darf nicht durchgehen und darüber werden wir noch reden müssen. Halbwahrheiten und Verdrehungen, die Sie ge- (Zurufe von der FDP: Ihre Nichtbegeg- nannt haben, sind in keiner Weise geäußert worden. nungen!) Natürlich ist das Thema: Die Not ist groß; wie kommen Das alles wird so laufen, dass Sie nachher sagen: Na wun- wir um die notwendigen Canossa-Gänge herum? Herr derbar, die Verhältnisse haben sich entwickelt. Fischer ist jetzt gerade auf einem unterwegs. Wie kom- Ich möchte zum Schluss auf Folgendes hinweisen: Es men wir wieder ins Gespräch mit den Amerikanern, die gibt verteidigungspolitische Richtlinien, die aus dem wir im eigenen Interesse brauchen? Was können wir ihnen 114 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Christian Schmidt (Fürth) (A) anbieten, das so verpackt ist, dass die rot-grüne Koalition Es darf nicht dazu kommen – die Gefahr sehe ich –, (C) und die ihr anhängenden Bürgerinnen und Bürger gar dass die Sicherheitspolitik nachlässig auf der Basis eines nicht merken, dass wir etwas tun müssen, was wir eigent- Laisser-faire-Denkens behandelt wird. Aus diesem Desin- lich nach eigenem Reden nicht tun wollen? Das ist übri- teresse könnte die Gefahr entstehen, dass wir so alleine gens auch der Punkt, der heute früh angesprochen worden dastehen, dass der Begriff vom deutschen Weg, mit dem ist. Herr Schröder gezündelt hat, auf einmal zur Realität wird, weil keiner mehr da ist, der mit uns Bündnisse schließen Natürlich werden Sie zum Thema Irak mehr tun müs- will. Diese Frage steht auf der Tagesordnung, nichts an- sen und Sie wissen, dass Sie mehr tun müssen als das, was deres. während des Wahlkampfes auf den Plätzen vom Bundes- kanzler dargelegt und von vielen anderen nachgesprochen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- worden ist. Machen Sie sich keine Sorgen: Wir werden bei neten der FDP) der Frage der Stationierung, vom Kanzlerkandidaten an- Kommen wir noch einmal auf die Situation in Afgha- gefangen bis zu jedem einzelnen Mitglied der CDU/CSU- nistan zurück. Wir alle hier im Hause wissen – aber nicht Bundestagsfraktion, wenn es zur Entscheidung über die jeder draußen unterscheidet genau –, dass es zum einen Frage kommt, welche alliierten Streitkräfte unseren die Mission Enduring Freedom zur Terrorbekämpfung Grund und Boden benutzen dürfen, treu zum Bündnis ste- gibt, an der das KSK, das Kommando Spezialkräfte, mit hen und verlässlich sein, so wie dies immer gewesen ist. circa 100 Mann teilnimmt. Ich bedanke mich ausdrück- (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler lich auch im Namen des Kollegen Breuer, dass Sie hierzu [SPD]: Das hoffen wir auch!) Informationen gegeben haben. In diesem Punkt unter- scheiden Sie sich sehr lobenswert von Ihrem Vorgänger. Ob das bei Ihnen der Fall sein wird, das weiß ich nicht. Von dem hätten wir nämlich überhaupt nichts erfahren. In Irgendwie habe ich bei Ihrem Beitrag, Herr Struck, den der nächsten Zeit ist aber nicht nur eine offene Informati- Eindruck gewonnen – darüber müssen wir wohl in einer onspolitik über Enduring Freedom, sondern auch über die eigenen Debatte, die vor Prag stattfinden sollte, noch ein- Probleme, die sich bei der anderen Mission in Afghanis- mal reden –, dass Sie die Ernsthaftigkeit des Problems, tan, bei ISAF, deren Führung Sie der Bundeswehr anver- dass es nämlich um die Zukunft der NATO geht – das trauen wollen, ergeben, erforderlich. wird nicht nur in Washington so gesehen –, nicht spüren. Wenn man in solch eine Sache mit mehr Engagement Sie haben übrigens die DCI-Initiative von 1999 etwas mit hineingeht, muss man auch wissen, wie man wieder he- der nun von Rumsfeld vorgeschlagenen Response Force rauskommt. Bisher war das gerade einmal einigermaßen vermischt. Dabei handelt es sich um ganz verschiedene darzustellen. Wenn aber die Amerikaner ihr Engagement, Dinge. Sie können nicht die Headline Goals der ESVP in (B) dessen Schwerpunkt bei der Operation Enduring Freedom (D) Form von 60 000 Soldaten, die 2003 einsatzbereit sein liegt, in andere Wetterecken dieser Welt verlagern, dann sollen, aber faktisch nur auf dem Papier stehen – General darf es nicht dazu kommen – darüber müssen wir schon Schubert wartet noch immer auf die Einsatzbereitschaft sehr intensiv reden –, dass Soldaten der deutschen Bun- dieser Truppe –, realisieren und dann diese Einheiten den deswehr und von Alliierten, die in und um Kabul stehen, Amerikanern anbieten. Nein, Rumsfeld will doch die im Falle einer Zunahme der Spannungen auf sich alleine Probe aufs Exempel machen. gestellt sind. Hinter den 21 000 Soldaten, die Rumsfeld für die Res- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ponse Force will, steckt doch – das wissen Sie genauso neten der FDP) gut wie ich – im Kern die politische Frage, ob die NATO als Bündnis noch in der Lage ist, militärisch an vorderer Sie wissen sehr genau, warum ich das so sehr betone. Front im Antiterroreinsatz zu reagieren oder nicht. Wenn Der letzten schriftlichen Unterrichtung des Parlaments Sie darauf mit der Antwort reagieren: „Sehr geehrter Herr entnehme ich, dass es erst vor kurzem wieder eine ge- Rumsfeld, wir diskutieren gerade darüber, Herr Solana fährliche Situation gegeben hat, von der auch unsere Sol- bastelt mit den Türken und den Griechen am Zustande- daten hätten betroffen sein können. Gott sei Dank ist kommen einer europäischen Eingreiftruppe und schaut, nichts passiert und es wird sicherlich viel getan, um sol- ob das Berlin plus-Abkommen umgesetzt werden kann“, che Gefahren zu verhindern. Sie sind aber nicht auszu- dann wird uns die NATO mittelfristig um die Ohren flie- schließen und es ist zu befürchten, dass mit einer Expo- gen. nierung der Bundeswehr die Gefahren auch für sie (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist steigen. Das wird in Zusammenhang mit der Verlänge- es!) rung von Enduring Freedom und von ISAF zu behandeln sein. Sie wird kaputtgehen, und zwar entgegen unserem eige- nen Interesse. Die Axiome der Außen- und Sicherheitspo- Damit komme ich zu einem weiteren Punkt grundsätz- litik, dass das Bündnis des freien Westens ein Stabilitäts- licher Art, den wir heute schon ansprechen sollten. Der anker ist und jetzt auch Verpflichtungen über die früheren Kollege Schäuble hat das bereits dargelegt. In diesem Begrenzungen hinaus bestehen, gelten nämlich nach wie Punkt herrscht bei uns die tiefste Enttäuschung über Ihren vor. Das hat auch Senator Lugar 1993, wie ich glaube, bei Koalitionsvertrag. Über die vielen Prosateile des Koali- seiner Rede im Budapester Parlament gesagt: NATO will tionsvertrages kann man hinweglesen, aber wir stellen go out of area or out of business – die NATO muss sich auch fest, dass etwas nicht darin steht. Meiner Meinung engagieren oder sie wird aus dem Geschäft herausfallen. nach hätten wir bei diesem Punkt im Rahmen eines kon- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 115

Christian Schmidt (Fürth) (A) struktiven Dialogs feststellen können, was da getan wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) den muss. Bei dem Punkt handelt es sich um die innere und äußere Sicherheit als Ganzes. Ich habe noch in Er- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: innerung, wie Alterspräsident Schily zur Eröffnung der 15. Wahlperiode des Deutschen Bundestages auf die in- Für eine Kurzintervention erhält jetzt der Abgeordnete soweit bestehenden Gefährdungen hingewiesen hat, und Dr. Peter Struck das Wort. Herr Fischer hat gerade auch noch einmal Djerba und al- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Er hat eigentlich les andere heruntergebetet. Die Frage lautet, wie sich Ge- schon genug geredet!) fährdungen, die vermeintlich die innere Sicherheit betref- fen, aber faktisch Angriffe von außen sind – Stichwort: asymmetrische Konflikte –, in einer Strukturreform der Dr. Peter Struck (SPD): Bundeswehr niederschlagen können. Davon haben wir Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu dieser nichts gehört bzw. gelesen. Kurzintervention hat mich der Beitrag des Kollegen Wir sind gerne bereit, über diese Frage im Zusammen- Schmidt veranlasst. Herr Schäuble hat das auch schon an- hang mit den verteidigungspolitischen Leitlinien, die Sie gesprochen. Beide haben mir vorgeworfen, im Zusam- vorlegen wollen, zu sprechen, weil wir sie für sehr wich- menhang mit der Flutkatastrophe Wahlkampf gemacht tig halten. Wir wissen, dass hierbei viele Hindernisse zu zu haben. überwinden sind. Das geht bis hin zu der Frage, was an- Ich möchte darauf hinweisen – das müsste eigentlich gesichts der deutschen Tradition und der Geschichte der auch Ihnen bekannt sein –, dass dieser Einsatz bei der Bundesrepublik Deutschland an Fragezeichen dahinter Flutkatastrophe an der Elbe der größte war, den die Bun- steht. Jedenfalls bin ich fest davon überzeugt, dass eine deswehr je durchgeführt hat, und zwar höchst erfolgreich, Strukturreform, wenn Sie sie jetzt wieder ansetzen, weil meine Damen und Herren. Das weiß man ja wohl. die erste nicht finanziert war und weil auch die zweite drangegeben worden ist, nur eine Camouflage für nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vorhandenes Geld und für Kürzungen ist, wenn Sie solche DIE GRÜNEN) Fragen nicht anpacken. Ich sage hier ausdrücklich: Bei Dass in einer solchen Situation der zuständige Minis- diesen Fragen, bei denen Sie natürlich in ganz entschei- ter bei den Soldaten sein muss, gehört sich auch. dendem Maße auch die Länder brauchen, werden Sie auf eine kritische, konstruktive Arbeit und auf Initiativen von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) uns rechnen können. Herr Kollege, was hätten Sie wohl gesagt, wenn ich nicht dorthin gefahren wäre, sondern am Schreibtisch sitzen ge- (B) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir (D) werden Sie an dieser Aussage messen!) blieben wäre? Sie hätten gesagt, dass ich es noch nicht einmal für nötig halte, meine Soldaten zu besuchen. Wir werden Sie daran messen, wie Sie diese Initiativen dann auch finanziell umzusetzen in der Lage sind. Nehmen Sie endlich diesen Unsinn aus der Welt! In der Koalitionsvereinbarung haben Sie sehr intensiv (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch Herrn von Weizsäcker genannt. Mit Genehmigung DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] der Frau Präsidentin möchte ich aus der Koalitionsverein- [SPD]: Jetzt können Sie sich eigentlich nur barung kurz zitieren. noch entschuldigen, Herr Schmidt! So einfach kann die Welt sein!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Ich muss Sie auf die abgelaufene Redezeit hinweisen. Wenn es ein ganz kurzes Zitat ist, dann erlaube ich das. Herr Kollege und Namensvetter Schmidt, Sie haben mal wieder nicht Recht. Ich habe es nicht nur akzeptiert, sondern eindeutig bejaht, dass der Einsatz der Bundes- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): wehr bei dieser Flutkatastrophe – wie auch bei anderen Nur einen Satz aus der Nr. 256 – Ich zitiere –: Naturkatastrophen – eine äußerst wichtige, lobenswerte und erfolgreiche Aktion war. Das ist überhaupt keine Für den Übergang Frage. Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass der – der Reform, welcher Reform auch immer – Verteidigungsminister vor Ort sein muss. Aber diesen Punkt habe ich nicht gemeint. werden zusätzliche Mittel gebraucht (Anschubfinan- zierung). Nur so kann die Reform erfolgreich ange- (Zuruf des Abg. Dr. Peter Struck [SPD]) gangen werden. – Nein. Das wird das Dilemma Ihrer nächsten Jahre sein. Es stellt sich allerdings die Frage, was man aus dem Einsatz der Bundeswehr macht. Dabei geht es zum einen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warten um die Frage, wie die Feier für die Soldaten gestaltet wird Sie mal ab!) und wo sie stattfindet. Zum anderen geht es – da gibt es Ich hoffe, dass es nicht das Dilemma der Sicherheit einen mittelbaren Zusammenhang mit der Flutkatastro- Deutschlands wird. phe; diesen Punkt habe ich gemeint – um die Initiative 116 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Christian Schmidt (Fürth) (A) „Soldaten für Schröder“. Das war der eigentliche Sün- Sturz des irakischen Regimes ist die logische Konsequenz (C) denfall. aus dieser Grundhaltung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abgeordneten der FDP) sowie bei Abgeordneten der SPD) Es geht um die Frage, wie man vor einer Wahl mit der Die Bundeswehr soll wirksam und verantwortlich zur Bundeswehr umgeht. Sie haben kurz vor der Wahl den internationalen Sicherheit beitragen können. Dafür ist zu- Versuch der SPD zugelassen – Herr Müntefering hat Sie mindest Folgendes unabdingbar: Friedenseinsätze und darin unterstützt –, die Bundeswehrsoldaten vor den Kriegsverhütung brauchen einen ausgewogenen Mix an Wahlkampfkarren zu spannen. Das muss schärfstens kri- zivilen, polizeilichen, politischen und militärischen Fä- tisiert werden; das darf es nicht geben. In diesem Punkt higkeiten. Die rot-grüne Bundesregierung baut nun – so haben Sie die Fürsorgepflicht für Ihre Soldaten nicht rich- steht es im Koalitionsvertrag – das in diesem Jahr ge- tig wahrgenommen. Bei dieser Einschätzung bleibe ich. gründete Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zu einer vollwertigen Entsendeorganisation aus. Das neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] heißt, wir bemühen uns, die zivilen Säulen von Friedens- [SPD]: Wo ist denn die Antwort auf die Kurz- missionen der Vereinten Nationen, der OSZE usw. ent- intervention?) sprechend zu stärken. Wir haben uns zum anderen vorgenommen, einen res- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sortübergreifenden Aktionsplan im Hinblick auf Krisen- prävention auszuarbeiten, was bedeutet, dass wir die ver- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried schiedenen notwendigen Fähigkeiten in diesem Bereich Nachtwei. systematisch aufbauen und entwickeln wollen. Was hat das mit der Bundeswehr zu tun? Nur wenn wir Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): diese Fähigkeiten vernünftig entwickelt haben, kommen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wir aus Kriseneinsätzen wieder heraus. Das ist schlicht- Am Anfang dieser Legislaturperiode stehen wieder Ent- weg die Konsequenz. scheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr Die Bundeswehrreform, das heißt die Befähigung der an, genauso wie zu Beginn der vorherigen Legislaturperi- Bundeswehr zur Bewältigung neuer Aufgaben, ist nicht ode, als es nämlich um die Androhung von Luftangriffen nur fortzusetzen, sondern ausdrücklich auch weiterzuent- gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ging. Damals wickeln; so haben wir es in der Koalitionsvereinbarung (B) – das wissen wir alle – war diese Entscheidung in diesem formuliert. An die Lösung dieser Aufgaben geht Rot-Grün (D) Haus und in der Gesellschaft heiß umstritten. Damals war mit Klarheit über die Zielsetzung der Bundeswehrreform die Befürchtung verbreitet, dass damit ein Präzedenzfall und mit – so formuliere ich diplomatisch – gewachsenem im Hinblick auf das Verhältnis zu den Vereinten Nationen Realismus. Dabei sind für uns die Vorschläge der geschaffen werde. Weizsäcker-Kommission die Richtschnur. Eine notwen- Diese Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet. Wir ha- dige Modernisierung ist nur mit einer deutlichen Senkung ben uns bemüht, aus dem Kosovo-Konflikt und aus dem des Personalumfangs zu realisieren. Das ist die Kosovo-Krieg die angemessenen friedens- und sicher- offensichtliche Konsequenz. heitspolitischen Lehren zu ziehen. Dies zeigt sich deutlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu Beginn dieser Legislaturperiode. Die Verlängerung des sowie bei Abgeordneten der SPD) Mazedonien-Mandats in der vorigen Woche stand – da- rauf wurde ausdrücklich hingewiesen – im Kontext um- Sehr geehrter Herr Minister, lieber Kollege Struck, am fassender Politik einer wirksamen Krisenvorbeugung. 25. Juli dieses Jahres wurden Sie zum Minister vereidigt. Die bevorstehenden Entscheidungen zur weiteren Betei- Manche Gratulanten der Oppositionsfraktionen dachten ligung an Enduring Freedom und an der ISAF-Schutz- damals an eine Befristung Ihrer Amtszeit. Wir sind aus- truppe in Kabul sollen der Gewalteindämmung und Ge- drücklich froh, dass Sie Minister geblieben sind. Ich bin fahrenabwehr dienen. mir sicher, dass Sie Ihre Verantwortung mit sicherheits- politischer Klarheit und mit Realismus wahrnehmen. Da- In der Koalitionsvereinbarung stellen wir eindeutig bei wünschen wir Ihnen eine glückliche Hand und hoffen klar: Zweck von Kriseneinsätzen der Bundeswehr ist auf eine gute Zusammenarbeit. nicht eine militärische Konfliktlösung; denn das wäre il- lusionär. Ihr Zweck ist, zur Gewaltverhütung beizutragen Danke. und Stabilisierungs- und Friedensprozesse dort zu unter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stützen, wo zivile Beobachter und Vermittler, wo Poli- und bei der SPD) zisten nicht mehr ausreichen. Der Rahmen von Kri- seneinsätzen ist die Charta der Vereinten Nationen, ist das Völkerrecht und eine Politik gemeinsamer und koopera- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tiver Sicherheit. Diese Grundhaltung kontrastiert mit Be- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Friedbert strebungen, über eine „präventive Selbstverteidigung“ Pflüger. das allgemeine Gewaltverbot der UN-Charta zu unterlau- fen. Die Absage der Bundesregierung an einen Krieg zum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 117

(A) Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Das ist kein Angriff gegen Amerika, das ist ein Angriff (C) gegen uns alle, gegen unsere Form des Zusammenlebens, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und gegen unsere Kultur und gegen die Art von Demokratie, Herren! Herr Minister Struck, noch ein Wort zu Ihrer die wir seit einigen Jahrhunderten erleben. Das ist das Kurzintervention soeben. Wahlkampf haben Sie wirklich Problem, dem wir gegenüberstehen. Dazu hätten wir gern gemacht. heute etwas von Ihnen gehört. (Gernot Erler [SPD]: Ihr ja nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Soweit ich mich erinnern kann, hat es noch nie einen Ver- Niemand kann diesem Konflikt dadurch ausweichen, teidigungsminister gegeben, der selbst – und das in der dass man nicht darüber redet oder ihn verharmlost. Wir kurzen Zeit vor der Wahl, in der er das Amt innehatte – leben nicht auf einer Insel der Glückseligen. Hier in eine solche Initiative wie „Soldaten für die SPD“ vorge- Deutschland hat es bereits Tote gegeben. Ein 16-jähriger stellt hat. Es ist falsch, Parteipolitik in die Bundeswehr, zu Junge aus Lübeck ist mit seiner Familie nach Tunesien ge- unseren Soldaten zu tragen. Das haben wir kritisiert, Herr fahren. Als er nach Hause kam, waren sein Bruder, seine Bundesverteidigungsminister. Mutter und seine Großmutter tot. Er selbst lebt schwer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei verletzt weiter. Meine Damen und Herren, der Terroris- Abgeordneten der FDP) mus ist hier bei uns, er ist nicht etwas für ferne Länder. Wir Deutsche sind bereits betroffen und deswegen ist er Wir beschäftigen uns heute in der Tat nicht mehr mit eine fundamentale Herausforderung für uns alle. dem Wahlkampf, Das BKA, so berichtet der „Spiegel“ in seiner jetzigen (Gernot Erler [SPD]: Das wäre ja schön!) Ausgabe, hält Deutschland inzwischen annähernd für so sondern mit den großen Bedrohungen, denen wir gegen- gefährdet wie die USA. Unser Land, bisher nur Vorberei- überstehen. Eine Bedrohungsanalyse habe ich weder tungsraum für Terroranschläge, sei inzwischen auch ein vom Bundeskanzler heute Morgen in der Regierungs- mögliches Ziel von Anschlägen. Deutschland, so das erklärung vernommen noch in der Koalitionsvereinbarung BKA, werde direkt von al-Qaida bedroht. Wir hätten gern gefunden. Wenn man die Koalitionsvereinbarung liest, Auskunft von der Bundesregierung darüber, ob sie mit der dann stellt man fest, dass Sie fast so tun, als müsse man nur Einschätzung des BKA übereinstimmt, ob wir wirklich ein bisschen Konfliktprävention machen und Friedensmis- unmittelbar bedroht werden. Denn das ist eine völlig an- sionen unterstützen. Aber dass wir in einer sehr gefähr- dere Dimension als die, die uns in den schönfärberischen lichen Welt leben, nehmen Sie nicht zur Kenntnis. Berichten untergejubelt wird. Kofi Annan hat die Weltgemeinschaft zur Einheit im Geradezu apokalyptisch würde diese Gefahr des Terro- (B) Kampf gegen den internationalen Terrorismus aufgeru- rismus werden, wenn er in den Besitz von Massenver- (D) fen. Kofi Annan sagt: Alles, woran wir glauben, ist heute nichtungswaffen käme. Wer die barbarischen Terrorakte bedroht, Respekt vor menschlichem Leben, Gerechtig- vom 11. September zu verantworten hat, dem ist jedes keit, Toleranz, Pluralismus und Demokratie. Mittel recht, auch der Einsatz von Massenvernichtungs- waffen. Meine Damen und Herren, der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat mehr von den Bedrohungen ver- Schauen wir einmal nach Russland: In den vergange- standen, als es der Bundeskanzler heute bei sich hat er- nen zehn Jahren wurden in Russland nach offiziellen An- kennen lassen. Das ist ein großes Problem, vor dem wir gaben 29 Diebstähle von Kernmaterial aufgedeckt. Im stehen. Dezember 1995 verschwanden in Tscheljabinsk 18,5 Ki- logramm und im März 2001 in Krasnojarsk 3,6 Kilo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gramm hoch angereichertes Uran. Der russische Duma- New York und Washington am 11. September, Djerba, Abgeordnete Mitrochim erklärt dazu: Bali, Moskau, der Anschlag auf den französischen Tanker In Russland und in anderen GUS-Staaten gibt es ei- Limburg und viele Anschläge, die gerade noch verhindert nen schwarzen Markt, auf dem sie Kernsprengstoff werden konnten, sind eine weltweite Herausforderung. überall kaufen können. Auch die al-Qaida ist dazu in Die internationale Antiterrorallianz kämpft in Afghanis- der Lage, über gut bezahlte Agenten in russischen tan und am Horn von Afrika. Überall auf der Welt gibt es Atomanlagen an waffenfähiges Uran oder Plutonium diese neue Form der Bedrohung, ja man kann sagen, das zu kommen. Ganze ist eine neuartige Form von weltweitem Krieg, in dem wir uns befinden. Davon lesen wir bei Ihnen nichts. Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und nuklearem Know-how ist unsere Realität. Wir wis- Sicher, die Art der Anschläge weist natürlich Unter- sen, dass sich Saddam Hussein das zum Ziel erklärt hat. schiede auf. Es gibt regional völlig unterschiedliche Das ist keine Vermutung, nichts, was konservative Ket- Punkte, an denen islamistische Extremisten ansetzen. So tenhunde sagen. Es ist das Wissen unserer Dienste, dass er werden Lebensumstände wie Armut, Unterdrückung und A-, B- und C-Waffen haben will. Können wir aus- Unabhängigkeitsbestrebungen, beispielsweise in Tschet- schließen, dass er sie in Kürze hat und auch benutzt? schenien, ausgenutzt, ausgebeutet und aufgeblasen. Vor allem junge Menschen, die aufgrund der Globalisierung Vielleicht war es doch ein Fehler, dass der Herr Bun- nach Orientierung und Würde suchen, die in Not und desaußenminister vorhin gesagt hat: Na ja, ob Irak die Armut leben, werden aufgeheizt, missbraucht und zu richtige Priorität sei? Doch, meine Damen und Herren! Selbstmordattentätern ausgebildet. Das ist die Lage, die Hier sitzt ein Diktator, ein Tyrann, den Enzensberger be- wir zurzeit überall auf der Welt erleben. reits 1991 als den Nachfolger Hitlers bezeichnet hat, der 118 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Friedbert Pflüger (A) sich diese Waffen besorgt, der bereit ist, sie anzuwenden ken und abzukoppeln, sondern Teil der Weltgemeinschaft (C) und sie bereits gegen sein eigenes Volk angewendet hat. zu sein, ist die eine Säule unserer Sicherheitspolitik. Die Dann erklärt Herr Fischer, diesem Bereich müsse nicht andere Säule unserer Sicherheitspolitik, die aber nur eine die Priorität unserer Außenpolitik eingeräumt werden. von zwei Säulen ist, ist die Lösung von regionalen Kon- Welcher Bereich unserer Außenpolitik besitzt denn flikten. Dies beinhaltet den kulturellen Dialog mit den höhere Priorität, als diesen Wahnsinnigen bei dem Ver- Moslems überall auf der Welt, die durch ihre Weltreligion such zu stoppen, in den Besitz von Massenvernichtungs- natürlich große Leistungen für die Welt vollbracht haben, waffen zu kommen? die aber extremistische Ränder haben, die im Moment (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – stärker werden. Ich glaube aber zutiefst, dass die Religion Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als solche zum Dialog bereit ist. NEN]: Das war gekonnt verkürzt!) Wir müssen unsere Märkte öffnen. Wir müssen Ent- Alexander Kwasniewski, der polnische Präsident, hat wicklungsprojekte durchführen sowie die Demokratie – wie ich glaube – Recht, wenn er sagt: fördern. Auch eines ist wahr: Nicht jeder, der gegen Ter- rorismus ist, ist auch unser Freund. Es gibt Länder, die ge- Die Bedrohung durch Saddam Husseins Massenver- gen den Terrorismus sind, aber trotzdem wenig für die De- nichtungswaffen ist real. Wir wollen eine neue, mokratie in ihrem Land tun. Auch hier müssen wir zu scharfe UN-Resolution, die nicht nur Inspektionen, unseren Werten und Überzeugungen stehen. Beides ist sondern die Vernichtung dieser Waffen erzwingt und notwendig: Demokratieförderung und Kulturdialog zu- Militärschläge erlaubt, wenn Saddam trickst. sammen mit einer Öffnung der Märkte, mit Hilfe, um Ar- Dies ist die Meinung der Polen, der Franzosen und sogar mut und Würdelosigkeit zu überwinden. der Saudis. Sie alle sagen: Wenn es eine UN-Resolution Dies alles geht umso besser, je mehr wir bereit sind, zu- gibt, unterstützen wir die Amerikaner und die Weltge- sammen mit anderen – nie alleine – militärische, polizei- meinschaft bei dem Versuch, Saddam zu entwaffnen. Dies sagen selbst die Saudis, nur die deutsche Bundesregierung liche und geheimdienstliche Verantwortung zu tragen. nicht. Nur Rot-Grün sagt: Wir auf gar keinen Fall. (Gernot Erler [SPD]: Haben wir doch Die Amerikaner hat nicht verletzt – das habe ich in den gemacht!) Gesprächen immer wieder gemerkt, Herr Müntefering –, Mein letzter Gedanke: Jimmy Carter hat den Frie- dass wir eine andere Meinung haben. Der Kollege densnobelpreis bekommen. Ich glaube, in diesem Fall Schäuble hat darauf hingewiesen. Dies haben sie auch in kann ich für das ganze Haus sprechen und dem früheren ihrem eigenen Kongress erlebt, wo sie sehr ernsthaft ge- amerikanischen Präsidenten zu diesem Friedensnobel- stritten haben. Die Amerikaner hat nicht verletzt, dass wir preis herzlich gratulieren. (B) gesagt haben: Wir wollen keine Soldaten schicken. Sie ha- (D) ben uns auch gar nicht danach gefragt. Sie haben auch gar (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gert nicht nach Geld gefragt. Verletzt hat sie, dass wir ihnen Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Er ist gegen nicht einmal ein Minimum an politischer Solidarität und den Irak-Krieg!) moralischer Unterstützung geben. Dies ist und bleibt ein Jimmy Carter hat diesen Preis durch seinen lebenslan- Skandal. Sie werden es schwer haben, den dadurch ange- gen Einsatz für den Frieden wirklich verdient. richteten Schaden in den nächsten Wochen und Monaten zu reparieren. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber Jimmy Carter war nie jemand, der gesagt hat: Frie- Es bleibt die große Aufgabe der deutschen Politik, über den um jeden Preis. Für ihn bestand der Kern der Frie- die selbst gewählte Isolation, den Vertrauensverlust und den Gewichtsverlust hinwegzukommen. densbotschaft aus einem würdigen Leben und der Einhal- tung der Menschenrechte. Der Friede macht nur Sinn, (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wenn die Menschen auch Freiheit haben. Das sind doch Wahnvorstellungen!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was soll – Dies sind keine Wahnvorstellungen, Frau Sager. Reden das jetzt?) Sie doch einmal mit den Amerikanern. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: NEN]: Eben! Genau entgegengesetzt! Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind Herr Kollege Pflüger, jetzt haben Sie weit überzogen. viele erleichtert!) Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen. Die Nagelprobe dafür ist der nächste NATO-Gipfel. Wir werden sehen, wie sich die Bundesregierung dort ver- Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): hält. Neben der Erweiterung der NATO, die wir sehr be- Uns für die Freiheit und für den Frieden einzusetzen, grüßen, kommt es auf diesem NATO-Gipfel darauf an, darauf kommt es an. Dem fühlen wir uns als Union ver- dass wir zwei Dinge miteinander vereinbaren: Die Bereit- pflichtet. schaft, gegen die eben beschriebene terroristische Bedro- hung, gegen die Hersteller von Massenvernichtungswaffen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mit allen polizeilichen, geheimdienstlichen und militäri- neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] schen Mitteln vorzugehen und uns dabei nicht auszuklin- [SPD]: Vielen Dank für die Bestätigung!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 119

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ten unumstößlich fest: Wir sind ein verlässlicher und so- (C) lidarischer Partner in Europa und in der Welt. Unsere Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhold Robbe. Außen- und Sicherheitspolitik ist aktive Friedenspolitik. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Reinhold Robbe (SPD): BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nicht auf all die Stichworte Wir stehen zu unseren Bündnisverpflichtungen und im eingehen, die unmittelbar mit dem im Zusammenhang Zweifelsfalle immer auf der Seite derer, die von Vertrei- standen, was sich im Wahlkampf abgespielt hat. Aber eine bung, Verfolgung oder Schlimmerem bedroht werden. Bemerkung, sehr verehrter Herr Kollege Pflüger, sei mir Hierbei verkennen wir nicht die Grenzen unserer Mög- doch erlaubt. Ich glaube, bei all dem, was, auch hier in lichkeiten, die sich naturgemäß auch an unseren verfas- diesem Hohen Hause und in dieser Debatte, an Über- sungsrechtlichen Auflagen und an den militärischen treibungen hingenommen werden kann, darf eines nicht Fähigkeiten unserer Bundeswehr festmachen. Dazu hat hingenommen werden: dass – Sie haben das mehr oder sich der Verteidigungsminister heute und auch in der Ver- weniger direkt zum Ausdruck gebracht – diesem Verteidi- gangenheit umfassend geäußert, ein Verteidigungsminis- gungsminister und dieser Bundesregierung ein unsolida- ter im Übrigen – dieser Hinweis sei mir an dieser Stelle risches Verhalten gegenüber unserem wichtigsten Bünd- erlaubt –, der seinen Job ausgesprochen gut macht, kom- nispartner, den Vereinigten Staaten von Amerika, petent, führungsstark, umsichtig und sensibel. unterstellt wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Die konsequente Fortsetzung des eingeschlagenen Re- Deswegen erscheint es mir, bei allem Verständnis auch für formweges für die Bundeswehr ist Grundvoraussetzung Aufgeregtheiten, angemessen und erforderlich, das an für die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähig- dieser Stelle zurückzuweisen. keit Deutschlands. Die außerordentlich komplizierte und Erst vor wenigen Wochen konnten wir alle zusammen schwierige internationale Lage lässt auf absehbare Zeit hier in Berlin den zwölften Jahrestag der Wiedervereini- keine Entlastung für das deutsche Engagement und die gung feiern. Der 3. Oktober steht aber nicht nur als sym- Einsätze der Bundeswehr erwarten. Die Anforderungen bolisches Datum für den Fall der Mauer und für die fried- an Deutschland und seine Streitkräfte sind und bleiben liche Revolution in der damaligen DDR. Der 3. Oktober hoch. Wir haben eine Pflicht zur Solidarität, zur Wahr- steht auch für den Zusammenbruch des kommunistischen nehmung von Verantwortung und zur Unterstützung de- (B) Ostblocks und für eine vollkommen veränderte sicher- rer, die auf uns bauen. (D) heitspolitische Lage in der Welt. Vor zwölf Jahren hat niemand in diesem Hohen Hause und in unserem Land Mit jedem Fortschritt bei der Umsetzung der Reform auch nur andeutungsweise ahnen können, mit welchen der Bundeswehr werden wir besser in der Lage sein, das Krisenherden wir es heute zu tun haben. Weder die Bür- zu leisten, was von ihr in Deutschland, in der NATO, in gerkriege im ehemaligen Jugoslawien noch der schlimms- der Europäischen Union, in den Vereinten Nationen und te Terroranschlag in der Nachkriegsgeschichte am seitens unserer Partner und Freunde in aller Welt zu Recht 11. September vergangenen Jahres mit all den Folgen wa- erwartet wird, nämlich deutsche Politik für Frieden und ren vor zwölf Jahren absehbar. Wenn man sich einmal vor Sicherheit wirksam und mit allen zur Verfügung stehen- Augen führt, welche Konsequenzen in der Sicherheitspo- den Mitteln zu unterstützen. litik die Krisenherde bei uns und unseren Bündnispart- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nern hatten, stellt man fest, dass wir es heute nicht nur mit des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) ganz neuen politischen und militärischen Sichtweisen zu tun haben. Nein, ich wage zu behaupten, dass im öffentli- Die aktuelle sicherheitspolitische Agenda steht weiter- chen Bewusstsein noch gar nicht richtig realisiert wurde, hin stark im Zeichen des Kampfes gegen den internatio- dass wir in Deutschland aufgrund der neuen Verantwor- nalen Terrorismus; verschiedene Redner sind in dieser tung einen regelrechten Quantensprung in der Sicher- Debatte schon ausführlich darauf eingegangen. Der heitspolitik vollzogen haben. schreckliche Anschlag in Moskau hat uns dies erneut mehr als deutlich vor Augen geführt. Auch die Lage im (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Nahen Osten und in anderen Krisenherden dieser Welt ist BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) alles andere als hoffnungsvoll. Der Prozess der Anpas- Nichts ist mehr so, wie es war. Deutschland hat sich sung der Außen- und Sicherheitspolitik an diese neue Ge- von der reinen Landesverteidigung verabschiedet und fährdungslage ist noch lange nicht abgeschlossen. Für die internationale Verantwortung übernommen. Die Welt Bundeswehr bedeutet die vielfältige Beteiligung an En- ist enger zusammengewachsen. Die internationalen Er- during Freedom und ihre Schlüsselrolle bei dem ISAF- wartungshaltungen gegenüber Deutschland sind gewach- Auftrag – zusammen sind hier übrigens über 2 700 Sol- sen. Heute befinden wir uns auf einem Weg, von dem zur- daten im Einsatz – eine große Herausforderung und bringt zeit noch niemand genau weiß, wie er mittelfristig und ganz neue Belastungen mit sich. langfristig exakt verlaufen wird. Die Stabilisierung Südosteuropas bleibt ein Schwer- Aber eines steht trotz unvermeidlicher Differenzen im punkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Deshalb Detail und trotz gewisser tagespolitischer Aufgeregthei- ist die Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo 120 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Reinhold Robbe (A) und in Mazedonien auch weiterhin gefordert, und zwar und auch um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Bun- (C) wahrscheinlich noch über viele Jahre hinweg. Meine Da- deswehr nicht bange sein. men und Herren, hinzuweisen ist aber auch auf die Tatsa- In diesem Sinne bedanke ich mich. Ich freue mich auf che, dass die Bundeswehr bei ihren Einsätzen im Ausland meine neue Aufgabe als Vorsitzender des Fachausschusses. an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Belast- barkeit gestoßen ist. Deutschland stellt weltweit nach den Herzlichen Dank. USA das größte Truppenkontingent für internationale (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Einsätze, noch weit vor England und Frankreich. Der DIE GRÜNEN) Bundeskanzler hat heute Morgen übrigens sehr deutlich darauf hingewiesen. Noch 1998 haben wir 178 Millionen Euro hierfür aufgewendet, jetzt im Jahre 2002 sind es be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: reits mehr als 1,7 Milliarden Euro. All dies muss in der ak- tuellen innenpolitischen Diskussion und bei der Konsulta- Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. tion mit unseren Partnern eine Rolle spielen. Wenn die Beziehungen zwischen der NATO und der Europäischen Union auch institutionell endgültig ausgestaltet sind, wird Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für dies die europäische Handlungsfähigkeit erheblich stärken. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Auch bei uns in Deutschland hat der 11. September Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In 2001 die Anpassung unserer Sicherheits- und Friedenspo- dieser Legislaturperiode wollen wir die Entwicklungspo- litik an die veränderten Bedingungen beschleunigt. Als litik, wie wir dies in der letzten Legislaturperiode begon- diese Regierung im September 1998 Verantwortung über- nen haben, zu einem zentralen Baustein für globale Zu- nahm, war die Bundeswehr mit rund 2 800 Soldaten in kunfts- und Friedenssicherung weiterentwickeln. Bosnien und in Georgien engagiert, um den Frieden zu si- Wir stehen unter dem Leitbild der gerechten Globali- chern. Inzwischen sind es rund 10 000 Soldaten, die die sierung und wir steigern die Mittel für die Entwicklungs- Bundeswehr für multinationale Einsätze stellt. So sind finanzierung; das hat der Bundeskanzler in seiner Rede deutsche Soldaten als Teil von ISAF in Afghanistan und heute noch einmal deutlich gemacht. Als Zwischenziel darüber hinaus in vielfältiger Weise innerhalb und außer- zur Verwirklichung des 0,7-Prozent-Ziels wollen wir bis halb Europas militärisch im Kampf gegen den Terror en- zum Jahr 2006 die 0,33-Prozent-Quote für die Entwick- gagiert. Die Bundeswehr ist hierdurch mehr denn je zu ei- lungszusammenarbeit umsetzen und im Übrigen in den ner Armee im Einsatz geworden. Sie steht dabei im Dienst internationalen Finanzinstitutionen andere Finanzie- einer deutschen Politik für Frieden und Sicherheit, die rungsinstrumente, wie Nutzungsentgelte oder auch Devi- umfassend angelegt und konsequent auf Interessenaus- (B) sentransaktionssteuern, prüfen. (D) gleich und Zusammenarbeit im europäischen, transatlan- tischen und globalen Rahmen ausgerichtet ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen uns, wie dies Bundeskanzler Gerhard Schröder am Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schade, dass 11. Oktober vergangenen Jahres im Bundestag erklärt hat, sich manche der Debatte hier entziehen. in neuer Weise der internationalen Verantwortung stellen. Der deutsche Beitrag muss hierbei aber an unseren politi- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: schen und militärischen Möglichkeiten gemessen werden. Sagen Sie das Ihrer Fraktion!) Die Einsätze der Bundeswehr haben trotz der hohen Pro- In dieser Diskussion ist immer wieder deutlich geworden, fessionalität unserer Soldaten und Soldatinnen und trotz wie wichtig eine verantwortliche Regierungsführung der großen Anerkennung bestätigt: Die Bundeswehr ver- auch mit Blick auf die Länder der so genannten Dritten fügt noch nicht über alle erforderlichen und angemesse- Welt, also auf die Entwicklungsländer, ist. Wir verlangen nen Fähigkeiten für das gesamte neue Aufgabenspektrum. von ihnen eine Beteiligung der Bevölkerung an Entschei- Der Wandel zu einer Armee im Einsatz muss in den dungen und wir verlangen von ihnen Rechtsstaatlichkeit. nächsten vier Jahren weiter mit Nachdruck vorangetrie- Wir müssen aber auch dazu beitragen, dass die Kriterien, ben werden. Die laufende Reform ist der Schlüssel dazu. die an die Entwicklungsländer angelegt werden, auch an Die Reform ist deshalb auf gutem Wege, weil sich die die internationalen Entscheidungsmechanismen ange- Menschen in der Bundeswehr ihre Ziele und Inhalte zu Ei- legt werden. Hier gibt es noch viel zu tun. gen gemacht haben. Ich möchte Ihnen das sagen, was ich immer schon ge- Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, sagt habe: Der UN-Sicherheitsrat spiegelt keineswegs die es ist heute auch ein geeigneter Anlass, um gerade den Verhältnisse wider, wie sie sich Ende des letzten Jahrhun- Soldatinnen und Soldaten ganz herzlich zu danken. derts und auch jetzt in der Welt entwickelt haben. Es gibt noch viel zu reformieren und viele Notwendigkeiten für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine bessere Repräsentanz. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vor diesem Hintergrund – ich komme sofort zum Schluss, Frau Präsidentin – muss uns, wie ich glaube, um die Si- In der heutigen Diskussion – das möchte ich an dieser cherheit unserer Grenzen, um die internationalen Ver- Stelle auch ansprechen – ist viel von Amerika die Rede pflichtungen Deutschlands gegenüber unseren Partnern gewesen. Ich möchte aber daran erinnern, dass Amerika Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 121

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) nicht nur aus dem Norden, sondern auch aus dem Süden Ich habe während des Bundestagswahlkampfes viele (C) besteht. In den letzten Tagen gab es eine wichtige Ent- Diskussionen zur Irak-Frage geführt. Erstens. Ich ver- scheidung. In Brasilien, dem zentralen Land in Latein- bitte mir die Unterstellung, dabei sei Antiamerikanismus amerika, ist ein neuer Präsident, Luiz Inácio da Silva, ge- praktiziert worden. wählt worden. An dieser Stelle möchte ich ihm zu seiner Wahl gratulieren (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zweitens. Die Leute, die da auf den Plätzen standen, hatten keine antiamerikanischen Ressentiments, sondern und ihm zusagen, dass wir die wirtschaftliche Zusam- sie wollten dort stehen und sich engagieren, weil sie ein menarbeit und die Unterstützung seiner Politik fortsetzen Signal für Frieden und Prävention und gegen Krieg setzen werden, so wie wir das gegenüber Brasilien bisher auch wollten. Das ist doch eine wunderbare Motivation, aus der getan haben. heraus sich Menschen engagieren. Das sollte hier nicht Er hat besonders darauf hingewiesen, dass er die Ar- diffamiert werden. mutsbekämpfung im eigenen Land in den Mittelpunkt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellen wird. Der Erfolg des neuen brasilianischen Präsi- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine denten kann von zentraler Bedeutung für ganz Latein- Lötzsch [fraktionslos]) amerika sein; denn in fast allen Ländern Lateinamerikas gab es immer die Hoffnung und Erwartung, dass die Ver- Wir brauchen Investition in Prävention, nicht in ankerung der Demokratie mit deutlichen wirtschaftlichen Krieg. Und ich habe die ganze Debatte über zugehört. Ich und sozialen Fortschritten für die breite Masse der Bevöl- bin doch erstaunt: Es wird wirklich mit doppelter Elle ge- kerung einhergehen werde. Gerade das ist für die Stabili- messen. Nordkorea hat eingestanden, Massenvernich- sierung von Demokratie und auch für die Situation der tungswaffen entwickelt zu haben. Dieses schlimme, wi- Armen wichtig. Deshalb ist es eine sehr wichtige Ent- derwärtige Regime aus Altstalinisten hat mehrfach gegen wicklung, die wir entsprechend fördern wollen. internationale Verträge und Verpflichtungen verstoßen. Aber die USA wie auch die internationale Gemeinschaft Es ist schade, dass ich den Kollegen Pflüger jetzt nicht sind insgesamt der Auffassung, dass massiver politischer entdecken kann. Er hat ja über die Frage gesprochen, wo und wirtschaftlicher Druck gegenüber Nordkorea not- Ursachen für Terrorismus zu finden sind. An dieser wendig ist, und engagieren sich für politische Lösungen. Stelle will ich sagen: Kofi Annan hat betont, wie wichtig es ist – wir betonen es ebenfalls; es ist ein Schwerpunkt –, Warum soll das mit Blick auf den Nahen Osten und den dazu beizutragen, dass die Ziele der internationalen Ge- Irak nicht möglich sein, um zu erreichen, dass die Waffen- (B) meinschaft, die weltweite Armut bis zum Jahr 2015 dras- inspekteure ins Land gelassen werden und damit ein (D) tisch zu reduzieren und dafür zu sorgen, dass alle Kinder Krieg verhindert werden kann? Diese Frage stellt sich die Chance haben, bis zum 14. Lebensjahr in die Schule doch jeder. Wir müssen uns dafür engagieren, dass ein zu gehen, erreicht werden. Krieg verhindert wird. Hier wird immer nach Visionen ge- fragt. Statt hoch gefährlicher Konzeptionen von „preem- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tive strike“,wie sie die US-Regierung ersinnt, sollte end- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der lich die atomare Abrüstung auch von den Ländern FDP) begonnen werden, die selber über Atomwaffen verfügen. Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, den Das ist die richtige Konsequenz und Schlussfolgerung. Koran-Schulen entgegenzuwirken und dazu beizutragen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass die Mädchen eine Chance haben. Dafür investieren des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir Finanzmittel. Ein besonderer Schwerpunkt wird daher die Eröffnung des Zugangs von Kindern zu Bildung und Entwicklungszusammenarbeit in ihren vielen Berei- Ausbildung sein. chen ist eben Friedenspolitik. Sie legt eine erweiterte Si- Ich möchte an dieser Stelle den Punkt aufgreifen, der cherheitspolitik zugrunde. Ich nenne nur stichwortartig eine große Rolle gespielt hat. Es gibt weiterhin gewalt- den Versuch, den Transfer von Kleinwaffen zu verhin- tätige Gruppierungen und terroristische Banden, die ab- dern, die Reform der Sicherheitssektoren von Entwick- scheuliche Verbrechen verüben. Ich zitiere aber den ame- lungsländern, den Aufbau des Zivilen Friedensdienstes, rikanischen Politikwissenschaftler Benjamin Barber, der den wir deutlich aufstocken und ausweiten wollen. Das in der sicherlich nicht des Linksradikalismus zu bezichti- macht deutlich, mit welcher Perspektive wir Entwick- genden Zeitung „Welt am Sonntag“ kürzlich erklärt hat: lungszusammenarbeit praktizieren. „Armut und Hoffnungslosigkeit schaffen eine Umgebung Lassen Sie mich zum Schluss zwei Schritte in Richtung für Terror.“ Seine Folgerung lautet:„Wir müssen die Welt auf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und für eine ge- verändern und verbessern.“ rechte Globalisierung nennen. Der eine Schritt ist die Diese Aufgabe dürfen wir in der Diskussion über die Fortsetzung der Entschuldung. Mittlerweile gibt es im Frage, wo und wann Militär eingesetzt werden soll, nicht Rahmen der Entschuldung der ärmsten Entwicklungslän- vergessen. Ich bin erstaunt, dass diese Perspektive, über die der 26 Entwicklungsländer, die ihre Entscheidungen zur wir uns doch immer einig waren, in dieser Debatte fehlt. Entschuldung erhalten und Entschuldungsentlastung er- fahren haben. Aber von den Betroffenen haben bisher (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ganze sechs Entwicklungsländer ihren endgültigen DIE GRÜNEN) Schlusspunkt zur vollen Entschuldung erhalten. Der Grund 122 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) liegt darin, dass sie durch die weltwirtschaftliche Ent- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) wicklung doppelt bestraft werden: zum einen deshalb, weil sie schon jetzt unter der weltwirtschaftlichen Ent- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ruck. wicklung leiden, und zum anderen, weil sie nicht im- (Zuruf von der CDU/CSU: Ein Ruck geht stande sind, den Programmen und Forderungen des IWF durch Deutschland!) zur Erreichung der makroökonomischen Stabilität nach- zukommen. Damit diese Entwicklungsländer den Com- pletion Point, den Schlusspunkt der Entschuldung wirk- Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): lich erreichen, treten wir dafür ein – das ist die Position Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich der Bundesregierung –, dass diesen Ländern gegenüber möchte mit dem beginnen, mit dem die Ministerin aufge- flexibel reagiert wird und dass notfalls auch weitere fi- hört hat, nämlich damit, worin wir uns einig sind. Auch nanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit die für die Union ist die Entwicklungspolitik ein zentrales volle Entschuldung dieser Länder beschlossen und er- Element zur Bewältigung weltweiter Zukunftsaufgaben. reicht werden kann. Sie ist ein entscheidendes Medium, um eine internationale (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ordnungspolitik, die wirklich nachhaltig und zukunfts- DIE GRÜNEN) fähig ist, und weltweit menschenwürdige Lebensbedin- gungen durchzusetzen und um den weltweiten Schutz Zweitens. Das konkrete Ziel, das wir mit anderen Part- nern in dieser Legislaturperiode erreichen wollen, ist das und die Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zu Insolvenzverfahren für hoch verschuldete Staaten, zu- sichern. mal Entwicklungsländer. Das ist ein Vorschlag, der von Es trifft in der Tat zu, dass die Globalisierung auch für Anne Krueger vom Internationalen Währungsfonds und die Entwicklungsländer sowohl Chancen als auch Risiken übrigens auch von vielen Nichtregierungsorganisationen mit sich bringt. Es ist nicht zu übersehen, dass viele Län- stammt. der in diesem Zusammenhang große Schwierigkeiten ha- Ich möchte an dieser Stelle begründen, warum es sich da- ben, ihre wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen bei um eine wichtige Entscheidung im Interesse der Ent- Herausforderungen adäquat anzunehmen. wicklungsländer handelt. Zum einen kann durch die diszi- Wir müssen auch erkennen, dass diese Probleme in plinierende Wirkung eines solchen Insolvenzverfahrens der Tat auf uns durchschlagen. Spätestens die Terroran- dazu beigetragen werden, dass kein Schuldenüberhang ent- schläge vom 11. September und die anschließende Aus- steht. Zum anderen würde die Mehrheitsentscheidung der einandersetzung mit dem internationalen Terrorismus ha- Gläubiger im Rahmen eines Insolvenzverfahrens verhin- ben gezeigt, dass Sicherheit, Wachstum und Wohlstand dern, dass einzelne Gläubiger ein Umschuldungsverfahren auch bei uns letztlich davon abhängen, welche Perspek- (B) blockieren können. Das klingt zwar einfach, aber das Sich- (D) Hinziehen von Umschuldungsverhandlungen mit Ent- tiven die Menschen in ärmeren Ländern des Ostens und wicklungsländern bedeutet in vielen Fällen die Agonie der des Südens für sich und ihre Zukunft sehen. wirtschaftlichen Entwicklung zulasten der armen Bevölke- Deshalb wird das, was wir vor Jahrzehnten in Deutsch- rungsschichten. Deshalb ist ein Insolvenzverfahren auch ein land als Entwicklungshilfe karitativ und bescheiden be- Schritt, um zu verhindern, dass sich die enormen sozialen gonnen haben, zu einer immer wichtiger werdenden Zu- Kosten von Finanzkrisen in den Entwicklungsländern auf kunftsaufgabe für unser eigenes Land sowie für unsere diese Art und Weise auswirken. Es ist ein Schritt zur Ver- Kinder und Enkel: eine Politik der wirtschaftlichen Zu- besserung der Situation der betreffenden Länder. sammenarbeit und Entwicklung zur Abwehr von Gefah- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren, zur Eindämmung sozialer Zeitbomben und zur welt- DIE GRÜNEN) weiten Gestaltung von Strukturen, die Stabilität, Frieden und Prosperität weltweit sichern können. Wir brauchen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum deshalb auf nationaler wie auf internationaler Ebene – ich Schluss. Der Bundeskanzler hat es heute Morgen bereits möchte jetzt gar nicht so sehr von der Rolle sprechen, die angesprochen: Angesichts all der Aufgaben sind wir, jen- die Vereinigten Staaten hier und da spielen, sondern von seits von einzelnen Problemen und einzelnen unter- schiedlichen Auffassungen, sicherlich einer Meinung, den Hausaufgaben, die Sie hätten machen müssen – eine dass ein Engagement in diese Richtung notwendig ist, koordinierte, effiziente und kohärente Entwicklungspoli- wenn wir in Zukunft eine gerechte und friedliche Welt tik. Davon sind wir leider nach vier Jahren Rot-Grün wei- verwirklichen wollen. Ich bitte alle um Zusammenarbeit ter denn je entfernt. und biete ausdrücklich – wie wir es schon immer getan ha- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian ben – die weitere Zusammenarbeit im Rahmen der Ent- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft an. Derzeit Stimmt doch gar nicht!) gibt es bereits 800 solcher Initiativen; diese Zahl wollen wir noch erhöhen. Ich biete aber auch die Zusammenar- Frau Ministerin, Ihr Optimismus in allen Ehren, aber in beit mit den Kirchen, den Nichtregierungsorganisationen, Wahrheit ist aus dem Aufwärtstrend zum Beispiel im den Gewerkschaften und selbstverständlich mit allen Haushalt des BMZ nichts geworden. Im Gegenteil: Im Fraktionen dieses Hohen Hauses an. Jahr 2002 steht Ihr Haushalt wesentlich ärmer da als 1998. Daran wird sich auch im nächsten Jahr nichts ändern; Ich danke Ihnen. denn im Vergleich zu 2002 wurde Ihr Haushalt für 2003 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ erneut um 51 Millionen Euro abgespeckt. Die Durch- DIE GRÜNEN) führungsorganisationen der Entwicklungspolitik bekla- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 123

Dr. Christian Ruck (A) gen ja inzwischen ganz unverhohlen, dass ihnen die Das gilt für den Bereich der Gefahrenabwehr genauso (C) Handlungsunfähigkeit drohe. Die finanzielle Misere wird wie für die zentrale Aufgabe einer langfristig angelegten noch durch den von Ihnen verschuldeten Trend verschärft, weltweiten Politik der Zukunftssicherung. Das heißt vor mehr Geld aus dem nationalen in den internationalen Ver- allem, die Globalisierung in vernünftige Bahnen zu len- fügungsbereich und hin zu den multilateralen Entwick- ken, sodass sie auch zum Positiven für Entwicklungs- und lungsorganisationen zu verlagern. Das sind oft Institutio- Schwellenländer ausfällt. Es bedeutet für uns gerade auch nen, die nicht gerade durch Koordinationsbereitschaft und den Einsatz für die internationale soziale Marktwirt- Effizienz glänzen. Um es auf den Punkt zu bringen: schaft. Dieses Eintreten muss man wirklich mit Leben er- Deutschland ist zwar finanziell nach wie vor ein Riese, füllen, zum Beispiel mit sozialen und ökologischen Min- wird aber im Einflussbereich immer mehr zu einem deststandards in den WTO-Runden, durch die Stärkung Zwerg. Das ist leider auch für die EU und die Weltbank von Bildung und Ausbildung und durch das Eintreten und eine traurige Entwicklung. die Unterstützung beim Aufbau handlungsfähiger staat- licher Strukturen, aber auch – das wirkt beim wirklichen (Beifall bei der CDU/CSU) Angehen von tief greifenden Reformen – in der interna- Wir kritisieren auch, dass Sie trotz zurückgehender tionalen Szene. Haushaltsmittel praktisch auf jede neue Initiative auf- springen und jeden neuen Sondertopf im internationalen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bereich unterstützen. Wir kritisieren dabei nicht, dass Sie dafür sorgen, dass sich Deutschland an Programmen zur Herr Kollege Ruck, achten Sie bitte auf die Zeit. Bekämpfung der Armut, an Kaukasus- und Afrika-Initia- tiven oder an Programmen zur Bekämpfung von Aids be- Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): teiligt. Wir kritisieren vielmehr, dass Sie zur Verzettelung der deutschen Entwicklungspolitik beitragen, dass Jawohl. Es bedeutet außerdem eine wesentlich stärkere Sie ihr damit die Schlagkraft nehmen, dass Sie dem eige- Unterstützung der Entwicklungspolitik durch die Außen- nen Ministerium die Koordinations- und Führungsrolle politik und den Bundeskanzler. immer schwerer machen und dass Sie Etikettenschwindel Wir werden die Grundzüge unserer Politik für wirt- betreiben; denn alle groß angekündigten Aktionen sind schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in den entweder wie die Schuldeninitiative in Wirklichkeit Debatten des Hauses einbringen und dabei auch die bis- stecken geblieben oder wie die Kaukasus-Initiative völlig herigen Positionen rot-grüner Politik auf den Prüfstand unterfinanziert, oder stehen nur auf dem Papier. stellen, – Vor eineinhalb Jahren haben Sie zum Beispiel einen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Plan zur Umsetzung des Armutsbekämpfungsprogramms (D) angekündigt. Auf den warten wir bis heute. Die negative Folge ist, dass Sie für die Entwicklungspolitik unerfüll- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: bare Erwartungen wecken, dass Sie Enttäuschungen pro- Herr Kollege Ruck, Sie sind jetzt zwei Minuten über vozieren und dass Sie die tatsächlich möglichen Erfolge die Zeit. Jetzt können Sie nicht mehr allzu viel sagen. im Sand verlaufen lassen. Es wundert daher niemanden, dass die jüngste Überprüfung der deutschen Entwick- lungspolitik durch die OECD zu einem ernüchternden Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Ergebnis kommt: verkrustet, veraltet und unflexibel. – aber nicht nur wohlfeile Erklärungen im Koalitions- Erfolge in der Entwicklungspolitik erreicht man eben papier, sondern das, was Sie wirklich umsetzen. nicht nur durch Show und Medienwirksamkeit, sondern vor allem durch eine klare und langfristig angelegte Linie, (Beifall bei der CDU/CSU) eine klare Kompetenzverteilung und eine konsequente Arbeit inklusive der Bündelung der Kräfte. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Einer der größten Schwachpunkte der Entwicklungs- Das Wort hat jetzt die Frau Staatssekretärin Uschi Eid. politik der rot-grünen Bundesregierung war das Desinte- resse des deutschen Außenministers an entwicklungspoli- tischen Fragen wie auch an denen der internationalen Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- Umweltpolitik. Wenn die Entwicklungspolitik nicht die ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Rückendeckung der Außenpolitik hat, dann ist sie zum wicklung: Scheitern verurteilt, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU) Der Koalitionsvertrag schreibt das, was wir vor vier Jah- ren in der Entwicklungspolitik begonnen haben, konse- wenn man zum Beispiel nur an die Forderung des ganzen quent fort. Wir machen im Zeitalter der Globalisierung Hauses denkt, die Verantwortung der Entwicklungsländer Politik auf gleicher Augenhöhe mit den Entwicklungs- für ihre eigene Entwicklung einzufordern. Die Union bie- ländern für mehr Gerechtigkeit in der Welt. Wir machen tet der Regierungskoalition auch auf diesem Gebiet eine eine Politik, die die Chancen zur Teilhabe am wirtschaft- kritische, aber konstruktive Begleitung an, vor allem lichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen wenn es darum geht, die Effizienz zu steigern und erfolg- Fortschritt für alle Staaten verwirklichen will. Wenn ich reich Schwerpunkte zu setzen. von Fortschritt spreche, meine ich immer auch den Fort- 124 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid (A) schritt der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; denn De- diese strukturellen Ungleichheiten abzubauen. Deshalb (C) mokratie erst garantiert die Teilhabe der Menschen und werden wir Doha zu einer Entwicklungsrunde machen. Rechtsstaatlichkeit erst fördert den Schutz der Menschen- Den Marktzugang werden wir erleichtern. Wir werden die rechte. Entschuldungspolitik vorantreiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben diese Politik auf den großen internationalen Ich sehe drei zentrale politische Herausforderungen für Konferenzen der vergangenen Jahre erfolgreich vertreten. die Zukunft. Wir werden diese zusammen mit den Ent- Die Ziele Bekämpfung der Armut, gerechte Verteilung der wicklungsländern lösen, und zwar partnerschaftlich und Süßwasserreserven, nachhaltige Entwicklung und Schutz in vollem Respekt füreinander, um zu verhindern, dass es der Umwelt, gemeinschaftliche Finanzierung der großen in der Globalisierung zu einer gefährlichen Spaltung zwi- Entwicklungsaufgaben und gerechte Gestaltung des Welt- schen Nord und Süd kommt. Ich kann diese Herausforde- handels sind gemeinsam mit den Entwicklungsländern er- rungen aus Zeitgründen jetzt nur benennen – ich hätte sie arbeitet und verhandelt worden. Sie wurden nicht erkauft gern etwas ausgeführt und hätte auch gern dargelegt, was und nicht aufgezwungen. Deshalb sind sie so bedeutsam. wir zu tun gedenken –: erstens der fortschreitende Funda- Sie spiegeln den Kompromiss unserer unterschiedlichen, mentalismus, zweitens die Frage der Ressourcengerech- häufig sehr gegensätzlichen Interessen wider und sind tigkeit, also die Frage der gleichberechtigten Nutzung von deshalb für alle Seiten bindend. Ressourcen, und drittens die fortschreitende Umweltzer- störung. Um diese Aufgaben in Angriff zu nehmen, ist Ich muss in aller Klarheit auch sagen: Unsere Interes- diese rot-grüne Regierung bestens gerüstet. Herr Ruck, sen sind nicht immer identisch mit den Interessen der das wurde uns durch das DAC, den Entwicklungsaus- Entwicklungsländer. Ich möchte hier nur an die Weige- schuss der OECD, auch international bescheinigt. rung vieler Entwicklungsländer in Johannesburg erinnern, eine Energiewende mit dem Ziel der Ausweitung erneu- Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns aber erbarer Energien global einzuläuten. Auch die Interessen keine Illusionen. Viele Entwicklungsländer haben andere der Entwicklungsländer untereinander sind nicht immer Prioritäten. Wir werden viel Überzeugungsarbeit leisten gleich und deswegen liegt es in der Natur der Sache, dass und auch Nachteilsausgleiche schaffen müssen, um die wir nicht grundsätzlich die Interessenvertreter der Ent- gerade skizzierten Ziele zu erreichen. Gelingen wird uns wicklungsländer sind. das aber, wie ich bereits gesagt habe, nur mit einer Politik auf gleicher Augenhöhe, also in echter Partnerschaft. Da- Das heißt aber: Wir wollen sie in die Lage versetzen, bei haben wir uns in den vergangenen vier Jahren viel Ver- ihre Interessen selbst formulieren und auch umsetzen zu (B) trauen bei den Entwicklungspartnern erworben. Das ist (D) können. Denn nur wenn diese Staaten selbst Verantwor- unser Kapital für die kommenden vier Jahre und dieses tung übernehmen, werden wir gemeinsame, nachhaltig Kapital werden wir nutzen, damit mehr Menschen in den wirksame Entwicklungsziele auch erreichen. Deshalb in- Entwicklungsländern in Afrika, Asien und Lateinamerika vestieren wir in der Entwicklungskooperation in ihre bessere Chancen bekommen und in Würde leben können. Fähigkeiten, bei internationalen Verhandlungen ihre wichtige Rolle zu spielen. Deshalb investieren wir in ihre Ich danke Ihnen. Fähigkeiten, ihre inneren wie zwischenstaatlichen oder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN regionalen Konflikte mit friedlichen Mitteln beizulegen. und bei der SPD) Deshalb unterstützen wir ihre Bestrebungen zur regiona- len Integration und deshalb fördern wir ihre Potenziale zur Integration in den Weltmarkt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch. sowie bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsame Ziele Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): haben und Politik auf gleicher Augenhöhe machen, das Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen heißt auch, anzuerkennen, dass unsere Beziehungen bis- Sie sich vor, das Dubrowka-Theater stünde nicht in lang nicht auf Chancengleichheit beruhen, dass Ent- Moskau, sondern in Bagdad. Stellen Sie sich vor, Kurden wicklungsländer auf der einen Seite große nationale Pro- hätten 700 Geiseln genommen und mit dem Tod der Gei- bleme mit schwachen Institutionen, geringem Vertrauen seln gedroht, wenn nicht endlich die Verfolgung von Kur- in die eigene Wirtschaft, fehlender Rechtsstaatlichkeit, den beendet werden würde. Stellen Sie sich vor, Saddam Klientelismus und Korruption haben, andererseits aber Hussein hätte Nervengas in das Theater geleitet, um die strukturell in den internationalen Beziehungen benachtei- Geiselnehmer unschädlich zu machen. Wie lange hätte es ligt sind und dass ihre Bestrebungen, Fortschritte zu er- Ihrer Meinung nach gedauert, bis der amerikanische Prä- zielen, häufig durch Entscheidungen bei uns konterkariert sident seinen Krieg begonnen hätte? Tage? Stunden? werden. Stichworte dazu sind zum Beispiel Agrarsubven- Warum dürfen bestimmte Staaten Nervengas produzie- tionen und Markthindernisse. ren und andere nicht? Die Antwort ist einfach. Man ist der Unsere bisherige Regierungsarbeit und der neue Koali- Meinung, dass in den so genannten zivilisierten Staaten tionsvertrag beweisen: Wir sind uns dieser Ungleichheit der Einsatz von Massenvernichtungswaffen faktisch bewusst und wir werden weiter daran arbeiten, gerade nicht möglich ist – einmal weil die demokratischen Gre- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 125

Dr. Gesine Lötzsch (A) mien eine solche Entscheidung nicht mittragen würden Einige Instrumente – das ist von meiner Kollegin Petra Pau (C) und zum anderen weil die Hemmschwelle in den so ge- heute schon angesprochen worden – hat die Bundes- nannten zivilisierten Staaten für einen Einsatz von Gas regierung in der Hand. Offensichtlich wird das deutsche viel zu hoch wäre. Den Einsatz von Nervengas traut man Hoheitsgebiet von US-Streitkräften als Militärbasis ge- nur unberechenbaren Diktatoren wie Saddam Hussein zu, nutzt, um die logistischen Vorbereitungen für einen Irak- der ja bekanntlich mit Gas unschuldige Kinder und Krieg zu treffen. Doch dafür gibt es keine Rechtsgrundlage. Frauen getötet hat. Ich bin der Auffassung, dass die Bundesregierung von Doch nun haben wir eine neue Situation. Es gibt Men- der US-Regierung Auskunft über ihre Aktivitäten vom schen, die nur noch Terroristen genannt werden. Sie leben deutschen Territorium aus verlangen muss. auf der ganzen Welt und haben angeblich ein gigantisches (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Netzwerk gebildet. Doch die Tschetschenen brauchen kein internationales Netzwerk, um zu sehen, dass ihr Land Wenn sich herausstellen sollte, dass Deutschland als in Trümmer gelegt wird, und die Palästinenser brauchen Rollfeld für den Irak-Krieg dienen soll, dann muss die kein internationales Netzwerk, um zu sehen, dass ihr Bundesregierung der US-Regierung die Nutzung dieser Recht auf einen eigenen Staat mit Füßen getreten wird. Basen sowie die Überflugrechte verweigern, so wie es übrigens der damalige Kanzlerkandidat Stoiber an einem Offensichtlich hat die Allmacht einiger weniger Staa- Tag im Wahlkampf gefordert hat, um es am nächsten Tag ten zur Ohnmacht bei vielen Menschen in der ganzen Welt sofort zu dementieren. Es ist notwendig, dass diese geführt. Die Zahl derjenigen, die sich gegen die Allmacht Regierung beweist, dass deutsche Außenpolitik Friedens- gewaltsam zur Wehr setzen, nimmt zu und das ist eine politik ist und dass sie alle Mittel dafür einsetzt, diesen reale Gefahr für uns alle. Die betroffenen Staaten reagie- Beweis anzutreten. ren mit Stärke und jeder Staat hat jetzt offensichtlich das Recht, Menschen zu Terroristen zu erklären und damit Herzlichen Dank. Völkerrecht sowie nationales Recht außer Kraft zu setzen. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] Aber offensichtlich haben auch einige wenige Staaten das sowie des Abg. [SPD]) Recht, andere Staaten als terroristisch zu bezeichnen und damit einen Krieg zu rechtfertigen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der Bundeskanzler hat vor der Wahl versprochen, dass Deutschland an einem Krieg gegen den Irak nicht teil- Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Themen- nehmen wird. Er hat es heute in der Regierungserklärung bereich nicht vor. bekräftigt. Das wurde von vielen Menschen als mutig und Wir kommen jetzt zu den Bereichen Innen, Recht und (B) aufrichtig empfunden und dafür wurde der Bundeskanz- Kultur. Das Wort zur Eröffnung der Debatte hat die Frau (D) ler auch im Osten gewählt. Aus dem Wahlversprechen ist Bundesministerin Zypries. ein Wählerauftrag geworden.

Letzten Sonnabend demonstrierten viele Menschen auf Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: der ganzen Welt gegen einen drohenden Irak-Krieg. Al- lein in Washington waren es 200 000 Menschen. Auch in Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her- Berlin wurde demonstriert; allerdings waren es hier be- ren! In diesen Tagen jährt sich zum 40. Mal eine der großen deutend weniger Menschen. Die „Frankfurter Rund- Bewährungsproben unserer Demokratie, die „Spiegel“- schau“ kommentierte das begrenzte Engagement in Ber- Affäre. Es war, wie wir wissen, eine bestandene Probe, die lin mit dem Gefühl vieler Menschen, dass sie mit der zu unserem demokratischen Selbstverständnis viel beige- Friedensforderung bei der Bundesregierung offene Türen tragen hat. Damals, 1962, konnte ein Bundesminister einrennten. noch beschönigend sagen, die Verhaftung des „Spiegel“- Redakteurs Conrad Ahlers sei halt „etwas außerhalb der Doch ist das wirklich so? Tut diese Bundesregierung Legalität“ erfolgt. Heute nehmen wir – und gerade auch alles, um einen Krieg gegen den Irak zu verhindern? diese Regierungskoalition – die Bindung der vollziehen- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ den Gewalt an Gesetz und Recht und die Bindung der Ge- DIE GRÜNEN]: Ja!) setzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung sehr ernst. Denn das Grundgesetz ist eine gute Verfassung, die sich Vor der Wahl, am 29. August, erklärte Verteidigungsminis- bewährt hat. ter Struck noch, dass er die Spürpanzer der Bundeswehr aus Kuwait abziehen wolle. Letzte Woche war zu hören, Zu den maßgeblichen Prinzipien dieser Verfassung dass die deutschen Spürpanzer in Kuwait bleiben sollen. und zu den Fundamenten der lebendigen Demokratie Fängt die Bundesregierung etwa an, in dieser Frage zu zählen die in der Menschenwürde wurzelnde Gleichheit wackeln? aller, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Meinung und der Kunst, die Freiheit, sich zu versam- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ meln und Vereinigungen zu bilden. Das Grundgesetz ist DIE GRÜNEN]: Nein!) dabei nicht wertneutral. Es ist auf den Wert der Men- Die Bundesregierung soll aus der Sicht der PDS nicht schenwürde und die daraus folgenden Grundsätze indivi- dueller Selbstbestimmung und gleicher Freiheit gegrün- nur nicht am Irak-Krieg teilnehmen, sondern sie soll auch det. Vermittelt dadurch schützt es auch die Autonomie der dazu beitragen, dass dieser Krieg erst gar nicht stattfindet. verschiedenen Teile unserer Gesellschaft wie der Politik, (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kunst. 126 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Hier geht es nicht nur um den rein technischen Bauplan Meine Damen und Herren, wir müssen konstatieren, (C) einer komplexen Gesellschaft, sondern vielmehr um ein dass auch in unserer Gesellschaft die Gewaltbereitschaft zukunftsfähiges Erfogsrezept: Durch diese Strukturen wächst. Das ist eine große Bedrohung des von der Verfas- insbesondere ermöglicht die Verfassung ein friedliches sung angestrebten friedlichen Zusammenlebens. Dieser Zusammenleben in Deutschland. Mir ist dieser Gedanke Bedrohung müssen wir uns entschlossen stellen, und zwar ganz besonders wichtig, denn in Zukunft werden wir im- nicht erst, wenn der Gewaltausbruch bereits passiert ist, mer mehr und immer verschiedenere Lebensstile, Über- sondern bereits deutlich vorher. zeugungen, Religionen und Traditionen auf deutschem Boden haben, die miteinander leben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dass dies friedlich geschieht, setzt eines voraus: die Bereitschaft, andere so leben zu lassen, wie sie es für rich- Dies allerdings kann der Staat allein nicht leisten. Wir tig halten oder gewohnt sind, soweit sie dabei im Rahmen brauchen im Elternhaus, in der Schule, in Vereinen und Ver- der gesetzlichen Grenzen bleiben, versteht sich. Diese Be- bänden eine Erziehung zur Toleranz. Junge Leute müssen reitschaft muss allerdings nicht nur da sein, wenn einem lernen, die Meinung anderer zu respektieren und sich im der Lebensstil des anderen egal ist; das ist keine Leistung. Rahmen der demokratisch vorgesehenen Spielregeln mitei- Eine Leistung ist es erst dann, wenn einem die Verschie- nander auseinander zu setzen. Sie müssen lernen, tolerant denheit nicht egal ist, wenn wir also Toleranz üben und zu sein und die Verschiedenheit zu akzeptieren. die Unterschiedlichkeit quasi ertragen müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der DIE GRÜNEN) FDP) Toleranz ist eine Frage der inneren Einstellung. Die Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesregierung das Bünd- Rechtsordnung kann niemanden zur Toleranz zwingen, nis für Demokratie und Toleranz ins Leben gerufen und sie kann aber den Boden dafür bereiten. Ein Beispiel: Das deshalb werden wir das Deutsche Forum für Kriminal- vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform prävention noch stärker in seiner Arbeit unterstützen. bestätigte Gesetz über die Einführung der eingetragenen Was wir damit erreichen wollen, darf aber auch nicht Lebenspartnerschaften ermöglicht den Partnern, rechts- an anderer Stelle konterkariert werden. Deshalb wird die verbindlich füreinander einzustehen. Gleichzeitig stärkt Bundesregierung hart gegen Gewaltverherrlichungen, ge- es aber auch die Toleranz in unserer Gesellschaft gegen- gen die Propagierung von Gewalt oder die Anleitung zu über anderen Lebensformen. Gewaltanwendungen vorgehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des DIE GRÜNEN) (B) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) Diese Politik steht in der Tradition unseres Grundge- Das schließt Initiativen zur Änderung des Strafrechts ein. setzes; denn das lässt die Gegensätze und die Vielfalt zu Denn das Strafrecht als klares Zeichen für die Grenzen der und schützt sie grundrechtlich. Wer von Mehrheitsauffas- sungen abweicht, muss keine Unterdrückung befürchten. Gewalt ist auch und gerade dort wichtig, wo in der Ge- Es ist also auch nicht nötig, Gewalt zu ergreifen, um sei- sellschaft elementare Wertebindungen ihre Bindungskraft nen Vorstellungen entsprechend leben zu können. Das verlieren. Wir müssen insbesondere auch die Strafvor- Grundgesetz lehnt Gewalt deshalb ab. Unsere Verfassung schriften gegen sexuellen Missbrauch von Kindern, Ju- ist – in der Sprache unserer Zeit – ein echtes Antigewalt- gendlichen und widerstandsunfähigen Personen fortent- projekt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten wickeln. Auch durch die Strafandrohung in diesen Fällen nach den bitteren Erfahrungen mit der Gewaltherrschaft muss deutlich werden, dass solche Taten an den Men- des Dritten Reiches: Freiheit im Leben miteinander ist die schen, die sich am wenigsten wehren können, zu den ab- beste Gewaltvorbeugung. Eine unserer wesentlichen Auf- scheulichsten Verbrechen überhaupt gehören. gaben wird es deshalb auch künftig sein, die Grundrechte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten so wenig wie möglich zu beschneiden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ FDP) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Wir werden deshalb unter anderem schon den Straf- FDP) rahmen für die Grundtatbestände des sexuellen Miss- Freilich: Es kann sich nicht auf seine Freiheit berufen, brauchs von Kindern von Vergehen zu Verbrechen her- wer anderen nicht ihre Freiheit gönnt. Gewaltanwendung aufstufen. Auch die psychische sexuelle Gewalt wird zur Durchsetzung der eigenen Vorstellungen oder Über- nicht länger straflos bleiben. In Zukunft macht sich auch zeugungen ist unter keinen Umständen rechtfertigungs- derjenige in einem früheren Stadium als bisher strafbar, fähig. Gewalt muss vom Staat – notfalls mit all seinen der auf Kinder einwirkt, damit ein Kind sexuelle Hand- Machtmitteln – unterbunden werden, zum Beispiel mit lungen vornimmt. Auch die Wegseher und die Profiteure der Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes. Dieses Gesetz sollen künftig nicht mehr ungeschoren davonkommen. stärkt die Rechte und die Stellung Schwächerer und ihren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schutz vor Gewalt im familiären Nahbereich. Und es des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der wirkt: In Nordrhein-Westfalen hat die Polizei in knapp FDP) fünf Monaten in mehr als 1 000 Fällen prügelnde Ehe- männer der Wohnung verwiesen und ihnen die Rückkehr Wer diese Taten nicht anzeigt, wer sie belohnt oder billigt, verboten. wird sich in Zukunft vor dem Strafrichter wiederfinden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 127

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Wir werden auch gegen jede Form der Verbreitung von der Lebensversicherung und um Altersrückstellungen in (C) Kinderpornographie mit dem gesamten Arsenal der straf- der privaten Krankenversicherung. prozessualen Möglichkeiten vorgehen. Wir werden das Urheberrecht in der Informationsge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sellschaft anpassen. Dabei muss die Vielfalt unserer Kul- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der tur und der faire Umgang zwischen Urhebern und Ver- FDP) wertern gewährleistet bleiben bzw. werden. Ich meine, auch im Reich des Internet dürfen Autoren und andere Insoweit steht auch der Katalog des § 100 a StPO auf dem Künstler nicht dem Raubrittertum ausgeliefert werden. Prüfstand. Natürlich werden wir die Reform des Gesetzes gegen Gleich der erste Untertitel der Koalitionsvereinbarung den unlauteren Wettbewerb anfassen. Auch hier drängt lautet nicht von ungefähr: Für ein wirtschaftlich starkes, die Zeit. Wir wollen ein vollständig neues, schlankes und soziales und ökologisches Deutschland. Die Wirtschaft ist faires Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vorlegen, im Justizministerium insoweit betroffen, als die dringend das den redlichen Wettbewerber genauso schützt wie den gebotene Reform des Aktienrechtes dort angesiedelt ist. Verbraucher. Dabei geht es nicht etwa um technische Details, für die sich dann nur die Buchprüfer begeistern können. Die Ver- Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dass hinderung von falschen Bilanzen und der Anlegerschutz wir uns über die skizzierten allgemeinen Grundlagen re- lativ schnell werden verständigen können. Über die kon- allgemein bewahrt viele tausend Menschen vor dem Ver- kreten Konsequenzen, die sich in den nächsten vier Jah- lust ihrer Ersparnisse und erhält Arbeitsplätze. ren daraus ergeben, werden wir sicherlich nicht immer (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einer Meinung sein. Insoweit freue ich mich auf eine sach- liche und konstruktive Diskussion. Deshalb liegt dieses Problem gerade uns Sozialdemokra- ten besonders am Herzen. (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der Ganz klar gesagt: Bei allen Fragen, wie etwa der per- FDP) sönlichen Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten, geht es darum, den guten Ruf der unzähligen redlichen Akteure unserer Wirtschaft vor den schwarzen Schafen zu schützen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert DIE GRÜNEN) Röttgen. Gerade die spektakulären Bilanzskandale auf dem US- (B) (D) amerikanischen Markt haben es uns drastisch vor Augen Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): geführt: Bereits einer oder wenige Chefmanager mit kri- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und mineller Energie können das Vertrauen ganzer Märkte Herren! Sehr geehrte Frau Zypries, als rechtspolitischer zerstören. Sprecher der CDU/CSU-Fraktion möchte ich Ihnen Meine Vorgängerin im Amt, Frau Professor Dr. Herta zunächst zu Ihrem neuen Amt gratulieren. Wir wünschen Däubler-Gmelin, hat die Lösung der Probleme auf der Ihnen persönlich Glück in und Freude an diesem Amt. Grundlage der Arbeiten einer hochkarätig besetzten Das möchte ich auch übertragen auf unseren Kollegen mit dem neuen Amt, Herrn Alfred Hartenbach. Wir haben Kommission in Angriff genommen. Nicht nur bei diesem – das muss ich gleich einschränkend hinzufügen – nicht Thema hat sie Zeichen gesetzt und wichtige rechtspoliti- die Absicht, diese Freude wirklich aktiv zu fördern, sche Vorhaben vorangebracht. Dafür möchte ich mich auch an dieser Stelle bedanken. (Heiterkeit – Zuruf von der SPD: Das hätte uns auch gewundert!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) aber persönlich wollen wir Ihnen das gern gönnen. Ich werde den Anlegerschutz weiter forcieren. Unser Wir bieten Ihnen statt Freude eine faire Auseinander- Motto dabei wird sein: so schnell wie möglich, aber auch setzung an. Wir sind bereit zur Zusammenarbeit, zur Ge- so solide wie nötig. Viele wichtige Diskussionen werden meinsamkeit dort, wo wir der Auffassung sind, dass die wir dabei zu berücksichtigen haben. Unter anderem hat Lösung von Problemen, die wir gemeinsam erkennen, der sich der Deutsche Juristentag im September in Berlin mit Gemeinsamkeit bedarf. diesen Fragen auseinander gesetzt und dazu einen um- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE fangreichen Bericht veröffentlicht. GRÜNEN]: Zum Beispiel beim Volksent- Wir werden in dieser Legislaturperiode auch das Zehn- scheid!) punkteprogramm zur Stärkung der Unternehmensinte- Auch das möchte ich gleich zu Beginn hier betonen. grität und des Anlegerschutzes, das die letzte Bundesre- gierung bereits beschlossen hat, umsetzen. Wir appellieren gleichzeitig an Sie – anderenfalls würde eine schlechte Tradition der letzten vier Jahre fort- Ganz wichtig ist des Weiteren die Reform des Ver- gesetzt –, in der Rechtspolitik nicht nur Ihre Mehrheit zu sicherungsvertragsgesetzes, das inzwischen bereits exekutieren, auf Mehrheit zu setzen, sondern gerade 130 Jahre alt ist. Dabei geht es unter anderem um die Be- auf dem Gebiet der Rechtspolitik der Auseinandersetzung handlung von Gentests, um Überschussbeteiligungen in um das bessere Argument auch dann, wenn es von der 128 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Norbert Röttgen (A) Minderheit im Parlament kommt, nicht auszuweichen, Liegen geblieben ist die Biopatent-Richtlinie. Die Um- (C) sich dieser Auseinandersetzung zu stellen. setzungsfrist ist abgelaufen. Die Bundesrepublik Deutsch- land kommt der Pflicht, gesetzgeberisch tätig zu werden, Die rot-grüne Rechtspolitik der vergangenen Legisla- in einem wichtigen Bereich nicht nach, nämlich im Be- turperiode hat mit der Proklamierung großer Projekte be- reich des Schutzes biotechnologischer Erfindungen, also gonnen und in Kraftlosigkeit geendet, der Patentierbarkeit menschlicher Gene und menschlicher (Unruhe bei der SPD) Gensequenzen. Das ist eine Grundsatzfrage, weil es da- gemessen an Ihren eigenen Maßstäben, weil Sie Ihre ei- rum geht, die ethischen Grenzen von freier Forschungs- genen Projekte nicht realisiert haben. tätigkeit rechtlich festzulegen. Sie haben dieses Thema nicht einmal erwähnt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Unglaublich!) Sie haben auch nicht den Reparaturbedarf Ihrer eige- nen Politik erwähnt. Wie ist denn die Wirkung der Zivil- – Ich komme gleich noch darauf. – Diese Kraftlosigkeit prozessreform, bei der wir das Schlimmste haben verhin- hat sich in dem Koalitionsvertrag fortgesetzt. Auch in Ih- dern können? Es gibt Überlastung und mehr rer heutigen Antrittsrede habe ich keine Idee von Rechts- Bürokratisierung. Im Bereich des Schuldrechts gibt es al- politik gehört. lemal Reparaturbedarf rot-grüner Rechtspolitik. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Zuruf von der SPD: Wo denn da?) GRÜNEN]: Was? Sie haben am Anfang nicht zugehört!) Wir möchten diese Debatte nutzen – damit komme ich zum entscheidenden Punkt –, um unsere Leitlinien von Es war eine Aufzählung einzelner Baustellen und die Rechtspolitik darzustellen. Rechtspolitik darf sich nicht Rede war in ihrer Allgemeinheit für mich enttäuschend. verstehen als das Schräubchendrehen an irgendwelchen Aber das Entscheidende ist, dass kein roter Faden, kein Stellen. Sie muss vielmehr aus einem Guss sein. rot-grüner Faden, keine Idee, keine Konzeption da war. Wir haben im Wesentlichen zwei Leitlinien, an denen (Unruhe bei der SPD) wir die Rechtspolitik messen, eine für den Bereich der Ge- Jetzt sind Sie an der Macht, haben die Posten und ich frage sellschaft und eine für den Bereich des Staates. In dem Be- Sie, wozu Sie sie gebrauchen wollen, meine Damen und reich der Gesellschaft drückt sich unsere Leitlinie in der Herren. Auffassung aus, dass das Recht Freiheit sichern soll. Das ist die Aufgabe des Rechts in der Gesellschaft. Ich werde (Beifall bei der CDU/CSU) gleich etwas dazu sagen, wie es um diesen Maßstab be- Wir hätten erwartet, dass eine neue Ministerin mit einer stellt ist. (B) (D) Eröffnungsbilanz startet. Das wäre auch Ihre Chance ge- Im staatlichen Bereich geht es nach unserer Auffassung wesen, dass Sie all die Projekte, die liegen geblieben sind, um die Wiederherstellung staatlicher Entscheidungs- Ihre eigenen Projekte, bilanzieren. fähigkeit, die die einzelnen Ebenen von der Gemeinde bis (Zurufe von der SPD) zur Europäischen Union in unterschiedlicher Weise ver- loren haben. In der letzten Sitzungswoche der vergangenen Legislatur- periode ist die Beratung des Rechtsanwaltsvergütungsge- Was ist damit gemeint, dass das Recht die Freiheit si- setzes vertagt worden. Die 120 000 Anwälte in diesem chern soll? Nach unserer Auffassung liegt das Problem Lande warten seit acht Jahren darauf. darin, dass der Anspruch des Rechts, Freiheit zu sichern, unter einer doppelten Störung leidet. Einerseits haben wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in vielen Lebensbereichen eine freiheitsbeschränkende Auch im Koalitionsvertrag jetzt findet sich dazu keine Überregulierung. Der Staat tut zu viel; er beschränkt die Aussage. Es ist liegen geblieben, und auch jetzt hören wir Eigeninitiative und den Gemeinsinn der Bürger. Er er- von Ihnen dazu keine Aussage. drosselt sozusagen die Freiheit. Andererseits gibt es eine Inaktivität des Staates gerade in den Bereichen, wo die (Zuruf von der SPD: Wer hat das denn behin- Bürger überfordert sind und wo sie des staatlichen dert? – Hans Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ Schutzes bedürfen. Dort handelt der Staat nicht. DIE GRÜNEN]: Das sagt der Rechtsanwalt!) ( [SPD]: Nennen Sie doch – Lassen Sie mich bitte ausreden. Es gehört zur Diskus- einmal Beispiele!) sion, dass man auch zuhört. – Ich komme dieser Aufforderung, Beispiele zu nennen, Sie hätten heute die Chance gehabt, die Diskussion in sehr gerne nach. Ihrem Arbeitskreis „Kommunalfinanzen“ über den Vor- schlag, alle Freiberufler – damit auch die selbstständigen Ich will zunächst ein Beispiel für die Überregulierung Anwälte – der Gewerbesteuer zu unterziehen, zu beenden. nennen. Natürlich ist die Therapie Deregulierung. Das ist Ich fordere Sie auf, klarzustellen, dass die rot-grüne Ko- nicht sehr originell, sondern die mangelhafte Deregulie- alition das nicht will. Wir lehnen die konkreten Vor- rung ist die Beschreibung des Problems. Wir haben er- schläge, die Freiberufler unter die Gewerbesteuer fallen wartet, dass Sie Vorschläge liefern. Wie wollen Sie des zu lassen, ab. permanenten und unbegrenzten Wachstums staatlicher Regulierung Herr werden? (Joachim Stünker [SPD]: Was wollen Sie denn?) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Beispiele!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 129

Dr. Norbert Röttgen (A) Wir schlagen vor – ich will dazu sagen, dass wir es nur und beispielsweise die Jugendkriminalität. Über 30 Pro- (C) gemeinsam schaffen können –, dass es eine institutiona- zent der Tatverdächtigen sind unter 21 Jahre alt. lisierte Gesetzesfolgenabschätzung im Gesetzgebungs- (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Waren Sie in verfahren gibt. Die Rubrik „Folgekosten“, unter der meist den letzten vier Jahren auf Dienstreise, Herr „keine“ steht, reicht nicht aus. Wir plädieren ferner für Röttgen?) eine Befristung von Gesetzen. Warum soll ein Gesetz immer für alle Ewigkeit wirksam sein? Gleichzeitig haben wir ein mangelhaftes Jugendstraf- recht, von dem einige Experten sagen, es sei verfas- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sungswidrig, wie wenig gemacht worden sei. Wir müssen neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den Jugendlichen klar machen: Es gibt eine Grenze, wenn Warum soll man nicht nach beispielsweise drei Jahren ein sie kriminell werden. Darum halten wir es für falsch, in Gesetz unter dem Gesichtspunkt bewerten, ob es sich be- der Praxis auf junge Erwachsene, auf 18- bis 21-Jährige, währt hat? regelmäßig das Jugendstrafrecht anzuwenden und nicht das Erwachsenenstrafrecht. (Zuruf von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der – Hören Sie einfach zu! Sie können nachher Ihre Vor- SPD: Immer die alten Kamellen!) schläge machen. Das ist doch viel sinnvoller. Wir müssen die jungen Erwachsenen, auch wenn sie kri- Wir brauchen weiterhin eine Veränderung im Selbst- minell werden, ernst nehmen und ihnen sagen, wo die verständnis des Bundesjustizministeriums und der Bun- Grenzen sind. Dies muss deutlich werden. desjustizministerin. Wenn Sie sich als eine Justizministe- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE rin verstehen sollten, die nur für die Justizpolitik im GRÜNEN]: Das hat etwas mit Reife zu tun, engeren Sinne zuständig ist, dann werden wir dieses Pro- Herr Röttgen!) blem der mangelhaften Deregulierung nicht in den Begriff bekommen. Wenn Sie der Auffassung sind, dass Sie allein Wir brauchen eine Umkehrung dieses Verhältnisses. für die Justizpolitik zuständig sind und dass Arbeitsrecht Aber dann müssen wir uns um die Jugendlichen auch im Arbeitsministerium, Familienrecht im Familienminis- kümmern. Therapieangebote werden benötigt. Es ist Auf- terium und Umweltrecht im Umweltministerium gemacht gabe des Staates, sich darum zu kümmern. Auch dort wird, wenn Sie nicht verstehen, dass es die Aufgabe der kommen Sie Ihrer Aufgabe nicht nach. Es reicht nicht, all- gemein zu reden. Hier ist konkrete Arbeit zu tun. Rechtspolitik ist, sich um die Rechtsordnung als Ganzes, um die Konsistenz der Regelungen und um die Ich komme zu den Bereichen Kronzeugenregelung und Beschränkung der Rechtsmasse zu sorgen, dann werden nachträgliche Sicherungsverwahrung. Hier ist ein ekla- (B) Sie an Ihrer Aufgabe scheitern. tantes Versagen, eine Inaktivität der rot-grünen Bundesre- (D) gierung zu verzeichnen. (Zuruf von der SPD: Lassen Sie sie doch erst mal machen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir fordern Sie daher auf, Ihr Amt als eine Koordinie- Diese beiden Bereiche sind keine, von denen man sagen rungsstelle für die Gesetzgebung in den Ministerien und kann, dass sie toll sind. Es sind keine Hurra-Themen, son- nicht als eine periphere Tätigkeit zu verstehen. Diese dern Kompromissthemen. Rolle muss es geben! Kronzeugenregelung heißt: Der individuelle Täter er- Wenn Sie nach vier Jahren nicht nur auf die neuen Ge- hält nicht die volle Strafe, die ihm für sein Verbrechen ei- setze, die durch Rot-Grün verabschiedet worden sind, gentlich gebührt. Es ist ein rechtsstaatlicher Kompromiss, stolz sind, sondern auch bilanzierend auflisten, welche dass er ohne Strafe oder mit Strafmilderung ausgeht, weil er Gesetze Sie verhindert haben, dann werden Sie wahr- andere Verbrechen verhindert oder zur Aufklärung anderer Taten beiträgt. Auch Sie von der SPD wollen dies. Sie sind scheinlich mit unserem Beifall rechnen können. Wir ha- aber eine politische Geisel Ihres grünen Koalitionspartners. ben keinen Mangel an Gesetzen, sondern brauchen die Beschränkung der gesetzgeberischen Tätigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Emanzipieren Sie sich! Machen Sie von der großen Mehr- In anderen Bereichen haben wir das glatte Gegenteil: heit in diesem Haus Gebrauch! Wir bzw. 90 Prozent des gesetzgeberische Inaktivität. Es hat im Bundesjustizminis- Hauses wollen die Kronzeugenregelung. Wegen Ihres terium in den letzten vier Jahren einen Ausnahmebereich Partners kommt es nicht dazu. im Hinblick auf gesetzgeberische Tätigkeit gegeben: Das war die innere Sicherheit. Auch die von Ihnen benannten Experten im Rechtsaus- schuss haben ausgeführt, dass wir die Kronzeugenregelung ( [Recklinghausen] brauchen, um in die Strukturen der organisierten Krimi- [CDU/CSU]: Sehr wahr!) nalität eindringen zu können. Reden Sie nicht nur allge- Dort ist kategorisch nichts passiert. Dies betrifft die Mas- mein von der Bekämpfung der organisierten Kriminalität! Handeln Sie! Sie haben es vier Jahre lang nicht getan. senalltagskriminalität, etwa Graffiti – Eigentumsverlet- zungen, (Beifall bei der CDU/CSU) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Die gleiche Situation besteht beim Thema nachträg- GRÜNEN]: Wo waren Sie denn?) liche Sicherungsverwahrung. Ich sage es ganz ruhig, 130 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Norbert Röttgen (A) obwohl hier meiner Meinung nach eine unerträgliche Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): (C) Lücke im Schutzsystem des Staates besteht. Sehr gern. (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Dann rücken Sie mal heraus!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir reden über den Fall, dass ein Sexualstraftäter zwar we- Herr Wiefelspütz, Ihnen gratulieren wir auf diesem gen eines Verbrechens verurteilt worden ist, bei der Verur- Wege herzlich. teilung aber nicht erkannt wurde, dass dieser Straftäter krank ist, und sich die krankhafte Veranlagung dieses Tä- ters erst während der Haft herausstellt. Während der Haft Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): sagen die Therapeuten also: Der Täter ist krank und auf- grund seiner Krankheit gefährlich. – In diesem Fall besteht Herr Kollege, Sie sprachen gerade von Stimmungsma- bis auf den heutigen Tag keine strafrechtliche Möglichkeit, che, was ich bemerkenswert finde. Haben Sie eigentlich zur Kenntnis genommen, dass Sie für Ihre Position hier (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE im Parlament nicht einmal ansatzweise in die Nähe einer GRÜNEN]: Das ist aber kein Fall der Siche- Mehrheit gekommen sind, dass Sie eine Minderheitsposi- rungsverwahrung! Das hat nichts mit Siche- tion vertreten, und zwar nicht nur hier im Parlament, son- rungsverwahrung zu tun! Maßregelvollzug!) dern auch im rechtswissenschaftlichen Bereich? Nehmen diesen Verbrecher in eine psychiatrische Klinik einzuwei- Sie zur Kenntnis, dass die Kernthese vieler, die darüber sen. Die brutale Wahrheit in unserem Land ist, dass dieser debattieren – die Literatur ist voll davon –, lautet: Die Täter erst noch einmal ein Verbrechen begehen muss, be- äußerste Grenze dessen, was wir rechtsstaatlich machen vor es nach jetzigem Recht die Möglichkeit gibt, ihn ab- dürfen – darüber ist auch im Parlament sehr intensiv dis- zuurteilen und einzuweisen. kutiert worden –, ist die vorbehaltene Sicherungsver- wahrung, die wir, Rot-Grün, am Ende der letzten Wahl- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE periode auf Initiative des Bundeskanzlers, der uns, wenn GRÜNEN]: Quatsch! – Zuruf von der SPD: Un- Sie so wollen, einen Arbeitsauftrag erteilt hat, durchge- sinn!) setzt haben. Sie leisten sich in diesem Bereich eine unerträgliche Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in der Lücke. Sie muss geschlossen werden. Tat nicht um Stimmungsmache, sondern um eine sorgfäl- tige Abwägung der widerstreitenden Interessen – und das (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie einmal die Herren von immer im Rahmen strikter Rechtsstaatlichkeit – geht? der FDP! Es ist Quatsch, was Sie erzählen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans- (B) (D) Es ist unverantwortlich, dies nicht zu tun. Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Herr Röttgen, waren Sie bei der An- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian hörung anwesend?) Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lie- ber Kollege, Sie haben im Studium nicht aufge- passt!) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Am unverantwortlichsten ist der Bundeskanzler. Jedes Ich bin bereit, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Mal, wenn ein schlimmes Verbrechen geschieht, kommen Tatsache ist, dass wir für unsere Position in diesem Hause markige, martialische Worte: Wegschließen, und zwar für keine Mehrheit haben. Das wird uns aber nicht davon ab- immer! – Das ist die Terminologie Ihres Bundeskanzlers. bringen, dafür zu streiten und uns dafür einzusetzen, dass Das ist aus drei Gründen unverantwortlich: Erstens täuscht diese Lücke zum Schutz von Kindern und Frauen ge- er die Bevölkerung, indem er so tut, als ob der Staat etwas schlossen wird. unternimmt. In Wahrheit tut der Staat nichts. Zweitens ist (Beifall bei der CDU/CSU) dies Stimmungsmache und kein rationales Verhalten. Drit- tens gibt es auch eine Verantwortung gegenüber den Tätern. Wir streiten für unsere Position in der Erwartung, eine Mehrheit zu bekommen. (Zurufe von der SPD: Oh! – Hört! Hört!) Ich nehme zur Kenntnis, dass diese Frage rechtswis- Auch Täter sind Menschen. Auch bei Tätern kann man senschaftlich – wie im Grunde fast alle Fragen – eine um- nicht von Wegschließen sprechen und ihnen keine Le- strittene Frage ist. Hier gibt es keine Mehr- oder Minder- bensperspektive geben. Wer Stimmung macht und gleich- heit. – Herr Kollege Wiefelspütz, ich beantworte noch zeitig nichts tut, handelt unverantwortlich. An dieser Ihre Frage; bitte bleiben Sie stehen. Die betroffenen Stelle müssen Sie handeln! Richter – reden Sie einmal mit dem Richterbund – befür- (Beifall bei der CDU/CSU) worten diese Maßnahme aus der tagtäglichen Erfahrung in ganz großer Mehrheit.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren in der Anhörung nicht Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des da! – Joachim Stünker [SPD]: Das ist doch gar Abgeordneten Dr. Wiefelspütz? nicht wahr!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Praktiker befürworten sie in großer Mehrheit; viel- DIE GRÜNEN) leicht nehmen Sie sie nicht zur Kenntnis. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 131

Dr. Norbert Röttgen (A) Nun eine letzte Bemerkung zu Ihrer Vorbehaltslösung. Wir setzen uns für eine Reform des Föderalismus ein, (C) Die Vorbehaltslösung, zu der Sie sich in letzter Sekunde also der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Län- in der letzten Legislaturperiode bereit erklärt haben, dern, die wir brauchen. Unser Föderalismus ist in schlechter Verfassung. Nach unseren Vorstellungen sollen die Bundes- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE länder Gestaltungsmacht zurückerhalten und Blockade- GRÜNEN]: Letzte Sekunde stimmt nicht!) macht abgeben. Wir brauchen neue Zuständigkeiten. ist Ausdruck dafür, dass Sie es nicht mehr durchgehalten (Zurufe von der SPD: Stoiber!) haben, gar nichts zu tun und jede Aktivität zu verweigern. Deshalb sind wir ganz guter Dinge, dass wir noch zu ei- Die Erfahrungen mit dem Blockadeexzess, den Sie nach ner Lösung kommen werden. Die Vorbehaltslösung ist die dem Motto „zuerst das Parteiwohl, dann die Staatsräson“ schlechteste Lösung von allen. betrieben haben, (Beifall bei der CDU/CSU) (Widerspruch bei der SPD) Sie bietet erstens natürlich nicht die Möglichkeit der sprechen sicherlich auch für diese Reform. Rückwirkung. Für Täter, die bereits einsitzen, wirkt diese Lösung nicht. Hier gilt weiterhin das Gefährdungspoten- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der zial, das Sie bestätigt haben, indem Sie etwas getan haben. SPD: Stichwort Zuwanderung!) Sie sagen doch: Es muss diese Möglichkeit geben. Mit Ih- Auf Ihrer Seite hat es bewiesenermaßen die Bereitschaft rer Lösung schließen Sie diejenigen aus, die bereits ver- gegeben, den Föderalismus zu parteipolitischen Zwecken urteilt worden sind. Dieses Risiko gehen Sie ganz offen- zu missbrauchen. sichtlich ein. Weil mir die Zeit wegläuft, komme ich zu einem letz- Ich halte es zweitens rechtsstaatlich – ich habe schon ten Thema, der Europapolitik. die Grundrechte von Tätern angesprochen – und verfas- sungsrechtlich für hoch problematisch, wenn der Staat ei- nem Bürger sagt, du bist vielleicht krank, du bist vielleicht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gefährlich, du wirst vielleicht in eine psychiatrische Ein- Aber nur eine letzte Bemerkung! richtung eingewiesen, aber wir wissen es noch nicht. Re- den Sie einmal mit den Praktikern in den Gerichten. Wie soll der Richter den Vorbehalt handhaben? Er sagt, ich Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): habe keine Gewissheit darüber, dass er gefährlich ist, wie Letzte Bemerkung: Die europäische Dimension des soll ich denn eine Prognose machen? Das führt dann viel- Rechts ist in Ihrer Rede auch nicht vorgekommen. Des- leicht zur Zurückhaltung und es kommt nicht zum Vorbe- halb muss ich leider zu der Schlussfolgerung kommen, (B) halt. Damit ist auch die Möglichkeit ausgeschlossen, die dass diese Antrittsrede in ihrer Allgemeinheit enttäu- (D) Sicherungsverwahrung anzuordnen. schend war und die konkreten Probleme nicht angespro- chen hat. Gott sei Dank gibt es aber eine christdemokrati- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sche und christsoziale Alternative. Die werden wir Ihnen immer wieder vorhalten. Ich glaube, die Frage ist jetzt ausreichend beantwortet. Herr Wiefelspütz, Sie können sich gern setzen. (Zuruf von der SPD: Die wird auch lange die Alternative bleiben!) Herr Röttgen, Sie haben mit der Beantwortung Ihre Re- dezeit reichlich strecken können. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): neten der FDP) Nein, es gibt nur ein Instrument: Geben Sie Ihren poli- tischen, auch koalitionspolitisch bedingten und dort zum Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Teil ideologischen Widerstand auf! Tun Sie etwas für den Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen, krankhaften Hacker. Sexualstraftätern!

(Beifall bei der CDU/CSU) Hans-Joachim Hacker (SPD): Ich komme zu einer weiteren Leitlinie: die Wieder- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und herstellung staatlicher Entscheidungsfähigkeit in un- Herren! Herr Röttgen, Sie haben Ihre Rede mit schönen serem Land. Wir haben sie weitgehend eingebüßt. Ich Freundlichkeiten begonnen. Dies hat jedoch nicht lange fange bei den Gemeinden an, die – egal ob rot, rot-grün- angehalten, sondern Sie glitten ab in eine platte Agitation. oder CDU-geführt – finanziell ausgezehrt sind. Die Ge- Ich finde, das lässt für die nächsten vier Jahre, die vor uns meinden in Deutschland haben nicht mehr die finanzielle liegen, nichts Gutes ahnen. Ich hätte schon gedacht, dass Basis, um ihre Aufgaben der gemeindlichen Selbstver- wir – auch im Rechtsausschuss – jetzt einen neuen Start waltung ausüben zu können. Darum brauchen wir eine suchen, um dort in einer konstruktiven Art und Weise an Gemeindefinanzreform, die aber nicht darin bestehen den Problemen zu arbeiten, die vor uns liegen, kann, dass wir die Steuerlast erhöhen. Vielmehr müssen wir über eine andere Verteilung des Rechts, Steuern zu er- (Zuruf von der SPD: Herr Röttgen ist das heben, reden. Dafür setzen wir uns ein. Problem!) 132 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Hans-Joachim Hacker (A) statt in dieser populistischen Art und Weise miteinander Politik. Wir handeln danach. Wir gestalten Einwande- (C) zu streiten. rung, schützen Flüchtlinge und fördern Integration. Wir werden das Zuwanderungsgesetz im Sinne seiner Ziel- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Warten Sie stellung zügig umsetzen. einmal, bis ich gesprochen habe!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- Ich glaube, Herr Röttgen, Sie haben den 22. September Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- noch nicht richtig verarbeitet. Daran können Sie noch ein NEN]) wenig arbeiten. Dabei sind wir uns der breiten Zustimmung und Unter- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) stützung aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Berei- Dann können wir vielleicht auch hier im Plenum und im chen wie den Gewerkschaften, den Arbeitgeberverbänden Rechtsausschuss auf einer anderen Ebene arbeiten, sodass und den Kirchen sicher. am Ende auch etwas herauskommt. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Legen Sie Solms) los!) Sie, meine Damen und Herren von der Union, sollten end- Ich lade Sie dazu ein, Herr Röttgen. lich – das sage ich hier mit Nachdruck – Ihre Blockade- haltung gegenüber einer modernen Zuwanderungspolitik Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinter uns aufgeben. liegt eine Legislaturperiode, für die Rot-Grün eine erfolg- reiche Reformpolitik im Bereich der Innen- und Rechts- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ politik vorweisen kann. Die SPD-Bundestagsfraktion will DIE GRÜNEN) diesen Weg gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen wei- Was haben wir mit dem Zuwanderungsgesetz beab- tergehen und das werden wir auch tun. sichtigt und verwirklicht? Entscheidende Elemente sind Schreckliche Ereignisse und die Ausbreitung des in- einerseits die Steuerung und Begrenzung der Zuwande- ternationalen Terrorismus, für den die Anschläge des rung, andererseits der humanitäre Schutz, die Integration, 11. September 2001 stehen, haben auch auf die deutsche die Beschleunigung von Asylverfahren und – auch das Politik Auswirkungen gehabt. Die Bundesregierung und gehört dazu – die verbesserte Durchsetzung von Ausrei- die Koalitionsfraktionen haben gehandelt. Wir haben uns sepflichten. den Herausforderungen gestellt und wir haben überlegt Darüber hinaus ist für uns die nachholende Integra- gehandelt. Wir haben den Gruppierungen, von denen tion von in Deutschland lebenden Migrantinnen und Mi- Terror und Gewalt ausgehen, den Kampf angesagt und (B) granten eine wichtige Frage. Unsere Integrationspolitik (D) gleichzeitig erklärt, dass – soweit es geht – die politi- ist Querschnittspolitik. Dazu gehört auch ein modernes schen und ökonomischen Wurzeln, aus denen sich Staatsangehörigkeitsrecht. Wir werden die Anstrengun- Gewalt, Hass und Terror in diese Welt ergießen, beseitigt gen fortsetzen, mit einer umfassenden Integrationspolitik werden müssen. Hierfür und für den Wiederaufbau ehe- die Fehler und Versäumnisse der so genannten Gastarbei- maliger Krisengebiete wendet die Bundesrepublik terära zu korrigieren. Die Instrumentalisierung des The- Deutschland enorme finanzielle und materielle Mittel mas durch die CDU im hessischen Wahlkampf war auf. Die Koalition wird ihre erfolgreiche Politik zur beispiellos und unerträglich. Sie haben mit dumpfen Ge- Wahrung der inneren Sicherheit fortsetzen. Dies gilt fühlen gespielt und bewusst Unwahrheiten verbreitet. Das für die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter darf sich nicht wiederholen. Kriminalität ebenso wie für die Bekämpfung der Alltags- kriminalität. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wider- Der europäische Raum der Sicherheit, der Freiheit spruch bei der CDU/CSU) und des Rechts muss entsprechend den Beschlüssen von Tampere ausgebaut werden. Das umfasst auch die weitere Ich fordere die Opposition an dieser Stelle auf: Unterstüt- Harmonisierung der europäischen Flüchtlings- und Ein- zen Sie unsere Politik, eine Politik des inneren Friedens in wanderungspolitik. Die Zuwanderung in die Europäische Deutschland. Union muss sinnvoll gesteuert werden und die europä- Zur Abwehr von Rechtsextremismus, Ausländerfeind- ische Polizeibehörde Europol soll zu einer mit Ermitt- lichkeit und Antisemitismus werden wir Handlungs- und lungsbefugnissen ausgestatteten Gemeinschaftseinrich- Vorbeugungsstrategien für Toleranz und gegen Gewalt tung ausgebaut werden. Die bilaterale und multilaterale weiter ausbauen. Wir werden die Korruption verstärkt Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Terrorismus bekämpfen. Die Zielsetzung, die wir mit der Gesetzes- und organisierter Kriminalität wird verstärkt werden. initiative zur Einrichtung eines Korruptionsregisters ver- Wir meinen, dass Sicherheit und der Schutz vor Über- binden, verfolgen wir weiter und prüfen im Übrigen griffen, vor Verbrechen und Terror, ein Grundrecht für weitere konkrete Maßnahmen, die sich aus der Korrup- alle Bürgerinnen und Bürger ist. Dafür, dies zu garantie- tionsrichtlinie der Bundesregierung ergeben. ren, ist die Politik verantwortlich. Wir wollen auch die demokratische Teilhabe der Be- Die Förderung von Toleranz, die Achtung von Minder- völkerung an unserem demokratischen Gemeinwesen för- heiten und ihrer Rechte sowie die Ermöglichung von dern. Wir werden unser Ziel weiterverfolgen, Volksinitia- Selbstbestimmung der Menschen sind Leitziele unserer tive, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 133

Hans-Joachim Hacker (A) auf der Basis des Gesetzentwurfes aus der 14. Legislatur- Wir können Reformergebnisse vorweisen, die sich wirk- (C) periode einzuführen. lich sehen lassen können. Diese will ich, Herr Röttgen, meine Damen und Herren von der Union, mit Blick auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Uhr ganz kurz zusammenfassen: Wir haben die Hilfe des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) für Schwächere in der Gesellschaft, insbesondere für Op- Wir werden prüfen, wie der gesetzliche Rahmen für fer von Gewalt, Kriminalität und Rechtsextremismus die Freiwilligenarbeit weiterentwickelt und verbessert durch das Gewaltschutzgesetz verstärkt. werden kann und wie Initiativen zur Verbesserung des Wir haben die Toleranz gegenüber anderen Lebensfor- freiwilligen Engagements in der Gesellschaft auf eine men gestärkt und Diskriminierungen abgebaut. Ich ver- breitere Grundlage gestellt werden können. Bürger- weise insbesondere auf die Einführung der eingetragenen schaftliches Engagement ist für den Zusammenhalt in Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Partner. unserer Gesellschaft unverzichtbar. Wir wollen deshalb Das war eine wichtige Gesetzgebung. Ich bitte Sie, auf auch in Zukunft die Vielfalt dieses Engagements unter- diesem Weg mitzugehen. stützen. Dazu wollen wir die Ergebnisse aus der Arbeit der Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“ Wir haben die Modernisierung von zentralen Rechts- aufgreifen und damit die Erwartung der Bürgerinnen und gebieten, wie des Zivilprozesses, des Schuld- und des Ak- Bürger in Deutschland sowie der Verbände und Vereine tienrechts, im Auge gehabt. Durch die Modernisierungen, erfüllen, dass der Analyse konkrete Taten folgen. Das soll die wir vorgenommen haben, haben wir erreicht, dass die in den nächsten vier Jahren geschehen. Regelungen transparenter und für die Beteiligten ver- ständlicher gestaltet wurden. Wir haben die europäische (Beifall bei der SPD) Zusammenarbeit im Rechtsbereich weiterentwickelt, eine Ich spreche hier ein weiteres Thema an, das nicht nur wichtige Aufgabe, die in Zukunft an Bedeutung gewinnen uns, sondern auch die breite Bevölkerung interessiert, wird. nämlich den Sport. Dieses Thema spielt nicht nur am Wo- Herr Röttgen, Sie haben Recht. chenende eine Rolle. Wir können hier im Hohen Haus dazu einiges vorweisen. Wir wollen in diesem Bereich (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja, das ist ganz konkrete Punkte nennen, an deren Umsetzung wir richtig!) nach vier Jahren gemessen werden können. – Was Recht ist, muss Recht bleiben. – In der letzten Le- Die Regierungskoalition wird den Leistungssport wei- gislaturperiode ist es nicht gelungen, die BRAGO zu no- terhin auf hohem Niveau fördern. Das schließt die Förde- vellieren. rung des Spitzensports durch die Bundeswehr und den (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (B) Bundesgrenzschutz – oder wie immer der Bundesgrenz- GRÜNEN]: Das machen wir jetzt!) (D) schutz später einmal benannt werden wird, Herr Minis- ter – ein. Ebenso stärken wir den Behindertensport. Für Das besondere Problem der unterschiedlichen Gebüh- mich ist auch wichtig, dass der Goldene Plan Ost verlän- rensätze ist uns allen bekannt. Ich spreche hier insbeson- gert wird. Damit wird sich die Sportstättensituation für dere für die Kollegen im Rechtsbereich. Wir alle wissen den Breitensport in den neuen Ländern weiter verbessern. aber auch – das haben Sie an dieser Stelle allerdings nicht angesprochen –, dass da ein inhaltlicher Zusammenhang Darüber hinaus sind natürlich auch die neuen Länder zum Justizkostengesetz besteht. aufgefordert, mit Finanzmitteln des Solidarpaktes II ver- stärkt Sportstätten zu modernisieren. Ich spreche das hier Ich will, ohne das Ganze auszuweiten, zwei Punkte an- auch mit Blick auf die Länderbank ganz bewusst an; denn sprechen, die aus meiner Sicht sehr wichtig sind und ge- so können wir auch in diesem Bereich, der für uns eben- klärt werden müssen, wenn wir zu einer Novellierung falls wichtig ist, einen aktiven Beitrag zur Angleichung kommen wollen. Herr Funke, ich schaue dabei auch in der Lebensverhältnisse in Deutschland leisten. Ihre Richtung. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr Zum einen müssen wir zu einem Konsens mit den Län- gut!) dern kommen. Wir alle wissen, dass dieses Gesetz durch den Bundesrat muss. Wenn wir eine Regelung vorlegen, Die Dopingbekämpfung werden wir auf hohem Ni- die im Bundesrat nicht die Chance auf Annahme hat veau fortführen. Die Zahl der Dopingkontrollen soll er- – Herr Funke, ich schaue noch einmal in Ihre Richtung –, höht werden. Die Nationale Doping-Agentur wird ihre dann ist unsere Mühe umsonst. Die Länder müssen also in Arbeit in Kürze aufnehmen. die Konsensfindung eingebunden werden. Wir müssen Meine Damen und Herren, ich spreche nun zu einem eine Regelung vorlegen, die die Chance hat, im Bundes- Themenbereich, den Herr Röttgen hier sehr kritisch be- rat akzeptiert zu werden. leuchtet hat. Ich komme – das wird Sie nicht wundern – Zum anderen müssen die Vorschläge solide sein und zu einem ganz anderen Ergebnis. Die Bundesregierung dürfen nicht von vornherein darauf angelegt sein, dass sie und die beiden Fraktionen können im Bereich der Rechts- ins Leere laufen. Mein Vorwurf geht in die Richtung der politik für die 14. Legislaturperiode nämlich eine gute Bi- FDP, Herr Funke. Sie hatten Vorschläge unterbreitet, die lanz vorlegen. im Bundesrat keine Chance gehabt hätten. Wir wären mit dieser Initiative gescheitert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ (Rainer Funke [FDP]: Das müssen wir erst CSU]: Nein! Das glaube ich nicht!) einmal sehen!) 134 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Hans-Joachim Hacker (A) Ziehen wir aber nun einen Strich darunter, die 14. Le- Sie wissen genau, dass die Systematik der Entschädi- (C) gislaturperiode ist schließlich zu Ende; wird sind jetzt in gung der Opfer von staatlicher Gewalt und auch der Ent- der 15. schädigung der Opfer des Dritten Reiches in eine schwere Schieflage gekommen wäre, wenn wir Ihre Vorschläge (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt machen Sie aufgegriffen hätten. Allein deswegen konnten wir sie wieder vier Jahre nichts!) nicht aufgreifen. Ich bitte Sie: Kommen Sie von dem Po- – Wir haben einen Teil der Gebührenangleichung schon pulismus ab, den Betroffenen wenige Wochen vor der durchgeführt. Das scheinen Sie nicht zu wissen. – Ich Bundestagswahl Vorschläge zu unterbreiten, die Sie jah- halte fest: Die Gebührenangleichung in der BRAGO spe- relang – fast ein Jahrzehnt lang – nicht verfolgt haben. ziell für die neuen Länder bleibt ein zu lösendes Problem. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die SPD-Bundestagsfraktion signalisiert Gesprächs- und Lösungsbereitschaft. Dazu werden wir stehen. Wir bitten Dieses Problem stellt sich in umgedrehter Weise aller- aber, fundierte Gespräche zu führen und Vorschläge zu dings auch bei der Novellierung des Stasi-Unterlagen- unterbreiten, die am Ende die Chance haben, im Gesetz- Gesetzes. Ich muss an dieser Stelle noch einmal daran blatt abgedruckt zu werden. erinnern, dass es eine Koalition der Vernunft und Verant- wortung gab. Herr Büttner, diese haben Sie aufgegeben. Für den Bereich der Justizpolitik gilt: Rot-Grün bleibt dem Ziel treu, Deutschland weiter zu modernisieren und (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: fit für den internationalen Wettbewerb zu machen. Der Das ist ja wohl das Letzte! Wer hat sie denn Schutz der Bürgerrechte ist und bleibt zentrales Thema aufgegeben? – Erwin Marschewski [Reckling- unserer Justizpolitik. hausen] [CDU/CSU]: Er hat keine Ahnung da- von!) (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Dr. : Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme am Ende meiner Rede auf zwei Punkte zu sprechen, die Herr Kollege Hacker, ich bitte Sie, zum Schluss zu insbesondere aus der Sicht der neuen Länder eine Rolle kommen. spielen, die uns im Rechtsausschuss schon seit vielen Jahren beschäftigen und die hier aus historischer Verant- Hans-Joachim Hacker (SPD): wortung heraus noch einmal angesprochen werden soll- ten. Ich komme zum Schluss, Herr Vorsitzender. – Sie ha- ben einen Eiertanz vollführt. Ich bin froh, dass wir am (B) Der eine Punkt betrifft die Frage, wie wir mit den Op- Ende – auch unter Mitwirkung der FDP – noch eine No- (D) fern der SED-Diktatur umgehen. Wir haben festgestellt, vellierung erreicht haben. An die Adresse der Union sage dass das, was die damalige Regierung vorgelegt hatte, ich: So kann es nicht weitergehen. fehlerhafte Gesetze zur Beseitigung von SED-Unrecht Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit der deut- und zur Rehabilitierung waren. In der letzten Legislatur- schen Einheit haben wir viel erreicht. Der Wähler hat Rot- periode haben wir die Zusagen eingelöst, die wir den Grün erneut die Mehrheit im Deutschen Bundestag ver- Opferverbänden gegeben haben. Wir haben eine Novel- schafft. Wir stellen uns dieser Verantwortung. Ich lade lierung in Kraft gesetzt, durch die die Opfer des SED- insbesondere Sie von der Union, aber auch Sie von der Regimes deutlich besser gestellt worden sind. Dafür haben FDP ein, im Rechts- und im Innenausschuss in dem Sinne, wir einen Betrag von mehreren Millionen zur Verfügung wie es die Bundesministerin angeboten hat, Lösungen gestellt. Das betrifft sowohl die Opfer des SED-Regimes sachgerecht und problemorientiert zu diskutieren. Schla- als auch die Lösung von offenen Problemen auf dem Ge- gen Sie die ausgestreckte Hand bitte nicht aus. biet des Kriegsfolgenrechts. Vielen Dank. (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Was ist denn mit der Opferrente? Warum habt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ihr die denn abgelehnt?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Herr Büttner, zu Ihnen sage ich: Die Vorschläge, die Sie jetzt, zwölf Jahre nach der deutschen Einheit, bringen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hätten Sie zwei Jahre nach der deutschen Einheit bringen Das Wort hat der Kollege Rainer Funke von der FDP- können. Fraktion. (Beifall bei der SPD) Ich frage Sie: Warum haben Sie die 1994 nicht gebracht? Rainer Funke (FDP): Warum haben Sie die auch 1996 nicht gebracht? Sie brin- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mi- gen hier wieder – das ist eine unerträgliche Kombination – nisterin, als rechtspolitischer Sprecher der FDP beglück- das AAÜG-Problem mit den Entschädigungsleistungen wünsche ich Sie zunächst herzlich. Dieser Glückwunsch für die SED-Opfer in Verbindung. Das ist rechtsstaatlich geht natürlich auch an die Adresse des Kollegen Alfred nicht haltbar. Lassen Sie es; das gehört nicht zusammen. Hartenbach. Wir freuen uns, mit Ihnen gemeinsam an der Sie hätten das längst – 1994 oder auch 1996 – regeln kön- deutschen Rechtsordnung arbeiten zu können. Ich sichere nen. Ihnen zu, dass wir gemeinsam versuchen werden, die vor Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 135

Rainer Funke (A) uns liegenden Probleme im rechtspolitischen Bereich fessor Niederleithinger gearbeitet. Ich glaube, dass davon (C) konstruktiv zu lösen. vieles übernommen werden kann. Gleiches lässt sich über die Kommissionsarbeit zum Corporate Governance, also (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zur Novellierung des Aktienrechtes, sagen, die weit ge- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- diehen ist. Dies sollten wir genauso wie die Vorschläge NEN – Jörg Tauss [SPD]: Ja, konstruktiv!) zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb und zum Wenn man die Koalitionsvereinbarung liest oder heute Markenrecht alsbald umsetzen. All das ist bislang im Ko- die Regierungserklärung gehört hat, könnte man zunächst alitionsabkommen nicht enthalten und kam in der Regie- glauben, dass nach Auffassung der Koalitionsfraktionen rungserklärung nicht vor. Da muss kräftig nachgebessert Rechtspolitik in dieser Legislaturperiode gar nicht statt- werden. zufinden braucht. Sie, Frau Ministerin, haben das eben et- was dezidierter ausgeführt. Allerdings haben auch Sie Im Übrigen ist weiterhin das Thema der Anwalts- sich sehr im Allgemeinen gehalten. Das war auch gut so; gebühren aktuell. Wir können den Anwälten nach acht denn man kann heute nicht alle Probleme lösen. Es war Jahren Stillstand, also keinerlei Gebührenerhöhung, nicht auch angenehm, dass die Debatte nicht in einem verlet- immer versprechen, etwas zu machen, wie es die voran- zenden, wie es sonst üblich war, sondern in einem ange- gegangene Ministerin getan hat, und sie dann auflaufen messenen Ton geführt wurde. lassen. (Beifall bei der FDP – Joachim Stünker [SPD]: (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Das muss doch nicht sein! – Weiterer Zuruf von GRÜNEN]: Wir haben doch ein Gesetz! Wir der SPD: Na, na, Herr Funke, mehr Diplomatie!) waren doch fleißig! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Es gibt einen Vorschlag, Herr Funke!) Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich eine ganze Reihe von Gesetzesinitiativen aufgreifen, die zum Die Anwälte fühlen sich im wahrsten Sinne verraten und Teil – zum Beispiel von Ihrer Kollegin Frau von Renesse – verkauft. Das darf man nicht machen. in einem interfraktionellen Arbeitskreis aufgenommen (Beifall bei der FDP – Hans-Christian Ströbele worden sind. Ich spreche jetzt vom Betreuungsrecht. Ich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt doch meine, wir sind es der Kollegin von Renesse schuldig, ein Gesetz!) dass wir an diesem Betreuungsrecht weiter arbeiten. Wir benötigen nämlich auch im Interesse der Länder ein prak- – Ich kenne das Gesetz. Danach rechne ich genau wie Sie, tikables Betreuungsrecht. Kollege Ströbele, ab. Aber dass es nicht ausreichend ist, das wissen Sie ganz genau. Es müssen strukturelle und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch lineare Verbesserungen vorgenommen werden. (B) Das ist eine Sache, die bislang noch nicht erwähnt worden (Beifall bei der FDP) (D) ist. Deswegen versuche ich, es in die Debatte einzuführen. Dasselbe gilt im Übrigen natürlich auch für das Dasselbe gilt für die Neuordnung des Strafsanktio- Rechtsberatungsgesetz. Wir können das Rechtsbera- nensystems. Sie wissen, dass auch diese Frage liegen ge- tungsgesetz, das ja ein Verbraucherschutzgesetz ist – es ist blieben ist. Wir hatten schon in der 13. Legislaturperiode kein Schutzgesetz für die Rechtsanwälte –, nicht so ohne eine Kommission eingesetzt, die in der letzten Legislatur- weiteres verändern, wie Sie sich das offensichtlich in Ih- periode gearbeitet hat. Die Beschlüsse dieser Kommis- rer Koalitionsvereinbarung vorgestellt haben. Das ist sion müssen wir jetzt umsetzen. wohl auf Wunsch der Grünen aufgenommen worden. Dies (Joachim Stünker [SPD]: Nicht alle!) halte ich für falsch. Wir müssen an die Verbraucher den- ken. Die Verbraucher dürfen nicht von Leuten rechtlich – Sicherlich nicht alle. Aber wir müssen sie miteinander beraten werden, die davon nichts verstehen. diskutieren. Dasselbe gilt für viele Fragen des Jugend- (Beifall bei der FDP) strafrechts. In der Rechtspolitik haben wir also reichlich zu tun. Auch Fragen des Wirtschafts- und Zivilrechts werden Die Regierung sollte bald erkennen lassen, in welche im Koalitionsabkommen überhaupt nicht behandelt, ob- Richtung sie denkt und was konkret geschehen soll. Wir wohl sie aufgrund europäischer Vorgaben und auslaufen- sind bereit, konstruktiv mitzuarbeiten und den Dialog zu der Gesetze – ich erinnere zum Beispiel an das Bilanz- suchen. Wir hoffen sehr, dass in die Rechtspolitik und in recht des HGB – unbedingt angegangen werden müssen. den Rechtsausschuss im Interesse unserer Rechtsord- Dazu zählt im Übrigen auch das Urheberrecht. Dazu gibt nung, die insgesamt wirklich verteidigungswert ist, wie- es eine Reihe von europäischen Richtlinien, die unter an- der Kollegialität, Herr Kollege Hartenbach, und Sach- derem wegen der Digitalisierung umgesetzt werden müs- lichkeit zurückkehren. sen. Ich habe das Bilanzrecht erwähnt, das nicht nur, wie Sie es ausgedrückt haben, die Bilanzbuchhalter erfreuen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. soll, sondern das Fragen der internationalen Wettbewerbs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ordnung enthält. Diese Fragen müssen wir aufnehmen, der CDU/CSU) weil die entsprechenden Gesetze am 31. Dezember 2004 auslaufen. Wir brauchen eine gewisse Vorlaufzeit. Des- wegen eilt es etwas. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dasselbe gilt für die Novellierung des Versicherungs- Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag vom vertragsgesetzes. Daran hat eine Kommission unter Pro- Bündnis 90/Die Grünen. 136 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

(A) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gedanke, der aber der CDU/CSU bzw. der Opposition in (C) vielen Jahrzehnten der Gesetzgebung nie eingefallen ist. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wir werden zu Beginn kurz einige persönliche Worte. Dies ist meine immer klüger! – Erwin Marschewski [Reck- erste Rede im Deutschen Bundestag und ich verhehle linghausen] [CDU/CSU]: Die Kronzeugen- nicht, dass mich dieser für mich einmalige und erstmalige regelung!) Vorgang tief berührt. Sie haben es sich von uns abgeschaut. Es ist auch ein gutes Es war mir wahrlich nicht in die Wiege gelegt worden, Vorhaben. Wir werden in Zukunft noch über die Befris- einmal als frei gewählter Abgeordneter für ein demokra- tung von Gesetzen und die Gesetzesfolgenabschätzung tisches Deutschland zu stehen. Meine Eltern und nur we- diskutieren können. nige meiner Familie haben durch Zufall und Glück das schlimmste Unrechtsregime, das je von Deutschland aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- gegangen ist, überlebt. Deshalb gilt in diesem Moment wie bei Abgeordneten der SPD – Joachim mein erster Gedanke ihnen. Stünker [SPD]: Das haben wir schon gemacht!) Für mich und sicherlich für uns alle gilt es, die besten Meine Damen und Herren, das Gesetz über die Ein- Lehren, die Deutschland aus seiner dunklen Vergangen- getragene Lebenspartnerschaft für homosexuelle Paare heit ziehen konnte, nämlich die unbedingte Achtung der stellt die konkrete Bekämpfung von Diskriminierung dar. Menschenrechte und die Errichtung eines Rechtsstaats, zu Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit seiner Ent- verteidigen, zu festigen und auszubauen. scheidung in dieser Richtung in vollem Umfang Recht ge- geben. Jetzt wollen wir dieses Gesetz weiterentwickeln (Beifall im ganzen Hause) und auch den Schutz von Menschen in nicht ehelichen Le- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren nach bensgemeinschaften verbessern; der Regierungserklärung des Bundeskanzlers jetzt die In- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen-, Rechts- und Kulturpolitik. Ich halte es für richtig, sowie bei Abgeordneten der SPD) auch von der Kultur des Rechts zu sprechen. In einem Rechtsstaat hat niemand das Recht, sich über das Recht zu denn wir Grünen wollen die Menschen schützen und stär- stellen. Das gilt auch für Prominente, welcher Sparte auch ken, immer, und auch für die so genannten besser Betuchten. (Jörg Tauss [SPD]: Wir auch!) Weder Ruhm noch Geld entbinden von der Bindung an das Recht. Dies gilt aber auch und, wie ich meine, vor al- die Verantwortung füreinander und für Kinder überneh- lem für uns, die Politikerinnen und Politiker auf allen men. Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, wie (B) Ebenen der Politik. Es gilt selbstverständlich für gemeine sie dies zu machen haben. Aber wir wollen sie fördern, (D) Rechtsbrecher und auch für selbst ernannte Erlöser und wenn sie es machen. Befreier. Es gilt aber auch für die Staatsdiener in den Be- Wir wollen außerdem ein Gentestgesetz schaffen, das reichen der Exekutive, die das Recht zu schützen haben. die Autonomie der Menschen über ihre Gendaten, die ein Vor Recht und Gesetz müssen alle gleich sein. integraler Bestandteil ihrer Persönlichkeit sind, wahrt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diskriminierungen aufgrund genetischer Dispositionen und bei der SPD) unterbindet, ein Recht auf Nichtwissen anerkennt und Zu- griffe von Dritten auf Gendaten ausschließt. Aber auch die Gesetzgebung selbst – und damit wir, die sie gestalten – darf sich nicht über das Recht stellen. Die Wir werden des Weiteren den gesetzlichen Schutz vor Grundrechte und die Menschenrechte bestimmen, welche Diskriminierungen im Alltag weiter ausbauen; denn nie- Gesetze und Verordnungen in diesem guten Sinne Recht mand soll wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft, sei- oder eben Unrecht sind. ner Religion und Weltanschauung im öffentlichen Raum benachteiligt werden. Wir Grüne wollen in der 15. Legislaturperiode des Bundestags einer solchen Kultur des Rechts Gestalt und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kraft geben. War die Rechtspolitik in den vergangenen sowie bei Abgeordneten der SPD) vier Jahren noch da und dort von der Abwehr von Be- Die Korruption – Herr Kollege Hacker hat dies schon schädigungen einer solchen Kultur des Rechts bestimmt, angesprochen – wollen wir verstärkt bekämpfen. Union so wollen wir Grüne in den nächsten vier Jahren die und FDP haben in der letzten Wahlperiode im Bundesrat Rechte der Bürgerinnen und Bürger und die Menschen- die Schaffung eines Korruptionsregisters blockiert. Wir rechte aller in Deutschland lebenden Menschen festigen wollen es in einem zweiten Anlauf einbringen. und ausbauen. (Zuruf von der FDP: Aber diesmal besser!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Unternehmen, die wegen Korruption von der Vergabe öf- fentlicher Aufträge ausgeschlossen werden, dürfen zu- Wir werden damit einen Beitrag zu einer Kultur des mindest auf längere Zeit keine zweite Chance erhalten; Rechts in Deutschland leisten. denn auch Korruption, Bestechung und Untreue sind keine Kavaliersdelikte. Herr Röttgen, Sie haben in Ihrem Beitrag ausgeführt, dass Sie in Zukunft zum Beispiel gern die Gesetzesfolgen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abschätzung und auch die Befristung von Gesetzen dis- und bei der SPD – Dr. Max Stadler [FDP]: Sie kutieren würden. Ich persönlich meine dazu, das ist ein guter müssen nachgewiesen sein!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 137

Jerzy Montag (A) – Aber, Herr Kollege, sie müssen nachgewiesen sein. Von – Das ist heutige Praxis. Sie haben völlig Recht. Des- (C) einem Verdacht habe ich nicht gesprochen. Ich hoffe, dass wegen haben wir festgelegt, dass wir die Möglichkeiten Sie das so gehört haben. der Strafminderung erweitern wollen. (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das ist der Dies ist für uns keine Kronzeugenregelung. Punkt, um den gestritten wird!) (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Für uns Herr Kollege Röttgen hat in seiner Rede beklagt, dass das auch nicht!) Schuldrecht und die Reform der Zivilprozessordnung schon wieder nachzubessern seien. Ich erkenne durchaus an, dass Das, was wir von Rot-Grün gemeinsam festgelegt haben, es sinnvoll ist, eine Überprüfung nach einiger Zeit vorzu- können wir ja alle gemeinsam angehen. nehmen. Ich schlage aber vor, dass auch Sie von der Oppo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sition dem großen Reformwerk des Schuldrechts und der sowie bei Abgeordneten der SPD) Zivilprozessordnung eine Zeit der Bewährung einräumen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gen, die Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Bündnis 90/Die Grünen ermöglicht eine moderne, den Wir können nach vier oder acht Jahren immer noch Grundrechten verpflichtete Rechtspolitik. Wir Grünen darüber diskutieren, ob das eine oder andere nicht noch werden die darin liegenden Chancen nutzen. Durch uns einmal verbessert werden kann. und unsere Politik ist die Gesellschaft offener und tole- Wir wollen nach dem Zivilverfahren auch den Straf- ranter geworden. Rechtsstaatlichkeit und Selbstbestim- prozess modernisieren. Er soll bürgernäher, schneller und mung in Verantwortung – dies ist unser Weg und diesen effektiver werden. Aber wir werden dabei die verfas- Weg werden wir fortsetzen. sungsmäßigen Rechte der Beschuldigten, Ich danke Ihnen. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Täter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN freundlich!) und bei der SPD) ihrer Verteidiger sowie auch die der Nebenkläger, der Op- fer und ihrer Vertreter nicht zur Disposition stellen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kollege Montag, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers- sowie bei Abgeordneten der SPD) ten Rede in diesem Hause. Bereits in der letzten Legislaturperiode wurden in der Ko- (B) alition Eckpunkte einer Reform der Strafprozessord- (Beifall) (D) nung verabredet. Ich finde, diese stellen eine gute Grund- Das Wort hat jetzt Bundesminister Otto Schily für die lage dar. Wir Grünen werden weitergehende Vorschläge in Bundesregierung. die Diskussion über die Reform der Strafprozessordnung einbringen. Otto Schily, Bundesminister des Innern: Ich wollte eigentlich zur Kronzeugenregelung nichts sagen; denn sie ist nicht verabredet. Aber nachdem schon Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! In Vorredner darauf eingegangen sind, will ich es doch tun. einer solchen Debatte steht uns allen nur eine begrenzte Wenn hinter dem Rücken des Gerichts für bestimmte Aus- Redezeit zur Verfügung. Deshalb ist es nicht möglich, hier sagen, die nicht überprüft sind und die manchmal nicht alle Aspekte der Innenpolitik zu beleuchten und alle Auf- überprüft werden können, Zusagen auf Straferlass ge- gabenbereiche zu erörtern. Ich werde mich daher auf ei- macht werden, dann ist dies ein schlechter Deal und hat in nige wenige wesentliche Elemente beschränken müssen. einem rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu suchen. Innenpolitik als Bestandteil der allgemeinen Sicher- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wer schlägt heitspolitik muss sich – das muss man mit Sorge und mit das vor?) großem Ernst sagen – auf sehr schwierige und gefahrvolle Wenn dies unter Kronzeugenregelung verstanden wird, Jahre einstellen. Die Bedrohung durch den internatio- nalen islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus (Erwin Marschewski [Recklinghausen] – das ist eine realistische Einschätzung – hat zugenom- [CDU/CSU]: Moment!) men. Das entspricht der Lagebeurteilung unserer Sicher- dann können wir uns sicherlich darauf einigen, dass wir heitsinstitutionen ebenso wie der unserer engsten Verbün- das nicht wollen. deten. Wir sehen die breite Blutspur des Terrors, dem zahllose Menschen, darunter viele Kinder und Jugendli- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das hat zwar che, zum Opfer gefallen sind, und wir müssen leider vo- keiner vorgeschlagen, aber in Ordnung!) raussehen, dass sich der Terror fortsetzen wird. Was wir wollen, steht in der Koalitionsvereinbarung. Wir Wir sind mit einem weltweiten Terrorismus konfron- wollen die Strafmilderungsgründe in § 46 StGB in denje- tiert, dessen Todesbesessenheit, dessen Menschenverach- nigen Fällen erweitern, in denen Täter für das Gericht tung und dessen Brutalität uns mit Entsetzen und mit Ab- nachweisbar zur Aufklärung beigetragen haben. scheu erfüllen. Dieser Terrorismus verkörpert die zum (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist Äußersten getriebene Menschenfeindschaft und Lebens- doch schon heute Praxis!) verachtung, die Verachtung fremden und des eigenen 138 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundesminister Otto Schily (A) Lebens. Dieser Terrorismus entspringt einem in gottesläs- einem engen Zusammenhang mit den erweiterten Befug- (C) terlichen Wahnsinn abgeirrten Weltbild. Dieser Terroris- nissen, die wir den Sicherheitsbehörden in der vergange- mus ist der Feind aller menschlichen Grundwerte. nen Legislaturperiode verschafft haben. Wir werden im (Beifall im ganzen Hause) Laufe dieser Legislaturperiode aber unvoreingenommen zu prüfen haben, ob es an der einen oder anderen Stelle Das entbindet uns sicherlich nicht von der Verpflich- Korrektur- und Justierungsbedarf gibt. Übrigens, Herr tung, uns auch mit der Frage auseinander zu setzen, wie Kollege Röttgen: Wir haben einige Gesetze schon als be- Menschen in den Sog von Hass und Menschenverachtung fristet geltende Gesetze ausgestaltet. Der Ratschlag geraten sind. Präventive Politik muss immer auch darauf kommt also ein bisschen zu spät. gerichtet sein, Menschen gegen Anwandlungen von Hass und Extremismus, der schlimmstenfalls in Terrorismus (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ umschlägt, zu immunisieren. DIE GRÜNEN – Joachim Stünker [SPD]: Das musste mal gesagt werden!) Meine Damen und Herren, New York, Daressalam, Bali, Djerba und Moskau – es waren stets so genannte Darüber wird hier im Parlament ebenso wie im Kreis weiche Ziele, die sich die Terroristen für ihre Mordtaten der Länderinnen- und -justizminister zu reden sein. Wer ausgesucht haben. Das Ausmaß der Bedrohung hat damit immer konstruktive Vorschläge entwickelt, wird uns will- eine Größenordnung angenommen, die uns vor bisher nie kommen sein. Wir werden sie vorurteilsfrei prüfen. Ich gekannte Probleme stellt. Das Ausmaß der Bedrohung be- bitte Sie, die Diskussion so zu führen, dass wir den Streit schreibt aber zugleich die Größenordnung unserer ge- nicht um des Streites willen inszenieren. Gerade in den meinsamen Verantwortung. Wir müssen auf der einen Fragen der inneren Sicherheit gibt es eine gemeinsame Seite alles Menschenmögliche tun, um uns gegen eine sol- Verantwortung. Das war in der Vergangenheit so und das che Bedrohung zu schützen, dürfen uns aber auf der an- sollte auch in der Zukunft so sein. Dass wir in der Innen- deren Seite nicht in Panik treiben lassen und erst recht nie- ministerkonferenz nur im Konsens entscheiden, ist Aus- manden in Panik treiben. druck einer solchen vernünftigen Politik. Wenn Sie, Herr (Beifall bei der SPD) Kollege Röttgen, für sich in Anspruch nehmen, das bes- sere Argument zu haben, sollten wir es vorurteilsfrei prü- Unbestreitbar haben wir durchaus Erfolge in der fen, wenn Sie es denn haben, aber Sie sollten genauso auf Bekämpfung des internationalen Terrorismus erzielt. Der das Argument auf der Seite der Regierungskoalition Polizei in Bund und Ländern, den Anklagebehörden, den hören, wenn das das bessere ist. Verfassungsschutzämtern in Bund und Ländern und dem Auslandsnachrichtendienst verdanken wir beachtliche (Beifall bei der SPD) Fortschritte bei der Ermittlung und Ahndung terroristi- Wenn wir in dieser Weise miteinander umgehen, dann (B) scher Straftaten ebenso wie die Aufdeckung terroristischer wäre es zum Besten unseres Volkes. (D) Strukturen. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der genannten Sicherheitsinstitutionen spreche ich dafür mei- Ungeachtet der Erfolge der Sicherheitsinstitutionen ist nen herzlichen Dank und meine Anerkennung aus. es ferner geboten, deren Strukturen und Arbeitszusam- menhänge darauf zu überprüfen, ob und auf welche Weise (Beifall im ganzen Hause) Effizienzsteigerungen möglich sind. Das gilt insbeson- Wir wissen, dass die Bekämpfung des internationalen dere für die Voraufklärung in manchen Bereichen, in de- Terrorismus nicht im nationalen Rahmen, sondern nur in nen wir aufgrund bestimmter Schwierigkeiten, die den enger und vertrauensvoller internationaler Zusammenar- Experten durchaus geläufig sind, noch nicht das haben zu- beit erfolgreich sein kann. Deshalb hat die Bundesregie- stande bringen können, was wir erreichen wollten. rung in den zurückliegenden Jahren stets auf die interna- Damit eine solche Arbeit erfolgreich sein kann, werde tionale Zusammenarbeit, insbesondere mit den engsten ich auch in Zukunft strikt darauf achten, dass unsere Si- Verbündeten, mit den Vereinigten Staaten von Amerika und mit den EU-Mitgliedstaaten, besonderen Wert gelegt. cherheitsinstitutionen mit angemessenen finanziellen Besonders bewährt hat sich die freundschaftliche und ver- Ressourcen ausgestattet sind und dass bestimmte Anpas- trauensvolle Zusammenarbeit mit den Sicherheitsinstitu- sungen, beispielsweise die Stellenstruktur im Bundes- tionen der USA, sowohl bei den Ermittlungsaufgaben als grenzschutz und hoffentlich in der künftigen Bundespoli- auch in der Abstimmung und Kooperation bei umfassen- zei, vorgenommen werden, damit sie ihren Aufgaben den präventiven Maßnahmen. gerecht werden können. Diese Zusammenarbeit wird von beiden Seiten über- Effizienzsteigerungen gilt es auch im Allgemeinen zu einstimmend als ausgezeichnet bewertet. Meine Ge- erreichen. Wir haben in der vergangenen Legislaturperi- spräche, die ich vor wenigen Tagen in Washington und zu- ode mit der Modernisierung der Verwaltung begonnen. vor in Kopenhagen mit dem Attorney General, meinem Auf diesem Gebiet haben wir durchaus Erfolge erzielt; Freund John Ashcroft, geführt habe, haben dies noch ein- aber wir sind sicherlich noch nicht am Ende angelangt. mal bestätigt. Wir werden diese Zusammenarbeit weiter Das gilt sowohl für das Projekt „Bund-Online 2005“ und intensivieren. Aus diesem Grunde werde ich in Kürze für den Bürokratieabbau. Die eingeleitete Politik muss noch einmal nach Washington reisen, um mich zusammen entschlossen fortgesetzt werden. Auch dazu sage ich Ih- mit meiner Kollegin Zypries um die Lösung bestimmter nen: Wenn Sie, die Abgeordneten der Oppositionsfraktio- Detailprobleme zu kümmern. nen, vernünftige Vorschläge haben, dann werden wir sie gerne zur Kenntnis nehmen und prüfen. Die Erfolge, die wir bei der Aufklärung und im Rah- men von Ermittlungen erzielt haben, stehen im Übrigen in (Jörg Tauss [SPD]: „Wenn“!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 139

Bundesminister Otto Schily (A) Aber wenn – „wenn“ muss betont werden – der Vor- wir zurückgedrängt auf der Grundlage einer Kultur des (C) schlag nur darin besteht, wieder eine große Kommission Rechtes. Auch wir werden den Kampf gegen die organi- ins Leben zu rufen, wie wir es schon in früheren Jahren er- sierte Kriminalität, gegen den Terrorismus auf der Basis lebt haben – ich habe den Vorschlag von Herrn Minister- der Kultur des Rechts gewinnen. Deshalb müssen wir präsident Stoiber gelesen –, dann wird sich das Vorhaben auch daran arbeiten, dass sich diese Kultur des Rechts, des Bürokratieabbaus wieder in einer Kommission verir- aber auch die allgemeine Wertegemeinschaft so darstellt, ren und der Bürokratieabbau wird nicht vorankommen. dass sie eine wehrhafte Wertegesellschaft gegenüber den Anfechtungen des internationalen Terrorismus ist. Ob das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wirklich von Erfolg gekrönt ist, hängt auch davon ab, wie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir uns zueinander verhalten: ob dies einmündet in eine Es kann an dieser Stelle mit einer Kommission also nicht Kultur des Respekts, der Achtung vor unseren Institutio- sein Bewenden haben. Gegen Kommissionen ist im Prin- nen, vor unseren Werten und vor dem jeweils anderen, zip nichts einzuwenden. dem man gegenübersteht. (Lachen bei der CDU/CSU) Frau Kollegin Merkel, verstehen Sie es als eine Bitte des Kirchenministers: Ich glaube, die Achtung vor dem – Natürlich nicht. Sie können die Einrichtung einer Kom- Evangelium sollte so weit gehen, dass wir das Johannes- mission doch nicht immer dann für richtig halten, wenn Evangelium nicht für parteipolitische Polemik miss- Sie es vorschlagen, während Sie deren Einrichtung für brauchen. falsch halten, wenn wir es wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wider- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) spruch bei der CDU/CSU) In dieser Weise kann man mit diesen Fragen nicht umge- – Entschuldigen Sie, dass ich das sage. Ich habe es ganz hen. freundlich als eine Bitte formuliert. Überlegen Sie sich Wir werden – auch das hat übrigens einen Bezug zur Si- einen Moment lang, ob das ein guter Einstieg in Ihre cherheitspolitik – unsere Integrationspolitik entschlossen heutige Rede war, Frau Merkel! voranbringen. Wir haben mit dem Zuwanderungsgesetz (Zurufe von der CDU/CSU) dafür eine gute Grundlage geschaffen. Ich bin nicht dagegen, dass Polemik stattfindet. Ich selber (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kann, wie Sie wissen, auch damit umgehen, wenn es Not Ich bin dafür dankbar, dass sich mittlerweile, seitdem der tut. Ich glaube allerdings, dass wir gut daran tun, sowohl (B) Wahltag vorüber ist, auch die Länder an den Maßnah- was die religiösen Überzeugungen als auch was die (D) men, die zur Anwendung dieses Gesetzes erforderlich staatlichen und die gesellschaftlichen Institutionen sind – Rechtsverordnungen, Durchführungsverordnun- angeht, damit so umzugehen, dass sie keinen Schaden gen –, konstruktiv beteiligen. Ich hoffe, dass auch die Op- nehmen. Wenn uns das nicht gelingt – das alles mögen Sie position im Deutschen Bundestag die gleiche konstruk- ja lächerlich finden –, wird dort eine Einbruchstelle für fa- tive Haltung einnehmen wird. natische Extremisten und Terroristen entstehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ DIE GRÜNEN) CSU]: Jetzt überziehen Sie aber!) Innen- und Sicherheitspolitik sind heute insbesondere Ich sagen Ihnen das in allem Ernst. Das ist auch eine Frage in die europäischen Zusammenhänge eingebettet. Ich bin des Umgangs im Parlament. Niemals, meine Damen und darüber froh, dass die Bundesregierung immer an der Herren, darf die politische Gegnerschaft in Feindseligkeit Spitze der europäischen Entwicklung mitarbeitet. Das gilt umschlagen. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Ich sowohl für die Konferenz der Innen- und Justizminister hoffe, dass wir uns auf dieser Basis auseinander setzen der Europäischen Union wie auch für die Arbeit an der können. europäischen Verfassung. Gerade wir, die beiden Verfas- Vielen Dank. sungsminister, Frau Kollegin Zypries und ich, werden uns in die Arbeit des EU-Konvents sehr aktiv einbringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Von Europa als einem Raum der Freiheit und des Rechts war heute schon die Rede; davon sollte man auch Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach für weiterhin sprechen. Europa ist eine Wertegemeinschaft, die CDU/CSU-Fraktion. die auch den Begriff, den der Kollege Montag eben ange- (Beifall bei der CDU/CSU) sprochen hat, umfasst. Ich bin ihm sehr dankbar dafür, dass er diesen Begriff verwendet hat. Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Mein Freund Leoluca Orlando, der frühere Bürger- meister von Palermo, der Erfahrungen mit der Bekämp- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Mi- fung der Mafia gemacht hat, hat gesagt: Die Mafia haben nister Schily, weite Teile Ihrer Rede waren gut, und Sie 140 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Wolfgang Bosbach (A) haben auch Applaus von unserer Fraktion bekommen. ist, was Sie machen, was Sie politisch durchsetzen und (C) Aber die letzten zwei Minuten waren in jeder Form in- nicht durchsetzen in Ihrer Koalition. akzeptabel. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Unübersehbar ist, dass sich Rot-Grün in vielen Punk- CDU/CSU: Unerträglich!) ten nicht hat einigen können. Nach den Erfahrungen der Ihre Kritik an unserer Fraktionsvorsitzenden ist völlig letzten Jahre ist davon auszugehen, dass sich das in dieser neben der Sache, und wer im Glashaus sitzt, der sollte Wahlperiode nicht ändern wird. Die Politik der ruhigen nicht mit Steinen werfen. Es gibt nämlich auch das Gebot: Hand war in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik un- Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Näch- verantwortlich. Beim Thema der inneren Sicherheit ist sie sten. Wenn Sie noch einmal ein Flugblatt zum Thema es nicht minder. „Zuwanderung“ herausbringen, sollten Sie sich wenigs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tens in der Nähe der Wahrheit befinden und nicht Volksverdummung betreiben, dazu noch auf Kosten des Nicht nur, dass die Koalition nicht das tut, was drin- Steuerzahlers. gend getan werden müsste; zumindest in einigen Berei- chen geschieht genau das Gegenteil dessen, was notwen- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss dig ist. Beispiel Bürokratieabbau: Wir haben in [SPD]: Wahrheit tut immer weh!) Deutschland eine Regelungsdichte, die weltweit einzigar- tig ist, etwa im Steuerrecht. 70 Prozent der steuerrechtli- Vermutlich hat es in der Geschichte der Bundesrepublik chen Literatur, die in der Welt erscheint, ist in deutscher noch keine einzige Koalitionsvereinbarung gegeben, die Sprache. Die zehn Gebote bestehen aus 283 Wörtern. so massiv kritisiert worden ist wie die rot-grüne Koali- tionsvereinbarung in dieser Wahlperiode. Die öffentliche (Jörg Tauss [SPD]: Die habt ihr nicht Kritik hat sich im Wesentlichen auf Wirtschafts-, Finanz- gemacht!) und Arbeitsmarktpolitik konzentriert, aber der Bereich In- § 19 a des Einkommensteuergesetzes besteht aus 437 Wör- nen- und Rechtspolitik ist genauso enttäuschend, ja de- tern und gewährt einen Steuervorteil pro Jahr von maxi- primierend wie der Rest der Koalitionsvereinbarung. mal 80 Euro. (Beifall bei der CDU/CSU) Blicken wir zurück auf die rot-grüne Koalitionsverein- Frau Zypris, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Berufung zur barung des Jahres 1998. Ich zitiere wörtlich: Bundesministerin der Justiz. Wir wollen einen effizienten und bürgerfreundlichen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Staat. Deswegen werden wir die Bürokratie abbauen ... (B) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] und des (D) Wir alle hoffen, dass Sie stets kluge, vernünftige und Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE richtige Entscheidungen treffen. Im Klartext: Wir alle GRÜNEN]) hoffen, dass Sie die Politik Ihrer Vorgängerin nicht fort- setzen. Wenn das so ist, haben Sie unsere Unterstützung. – Wir kommen gleich zur Praxis, Herr Tauss. Dann wer- Dann bieten wir Ihnen eine faire Zusammenarbeit an. den Sie viel leiser sein, als Sie sonst hier immer dröhnend in Liegestuhlhaltung das Parlament bereichern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weiter heißt es: Herr Kollege Schily, bei Ihnen fällt mir das schon ein bisschen schwerer; das werden Sie sicherlich verstehen. Die neue Bundesregierung wird die Bundesverwal- tung modernisieren; dazu wird eine besondere Stabs- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) stelle unter Leitung des BMI eingerichtet, die die Aber ich gratuliere Ihnen ebenso zu Ihrer Wiederernen- dafür geltenden Verfahrensabläufe und Rechtsvor- nung zum Bundesminister des Innern. Sie wissen aus der schriften überprüfen und vereinfachen sowie die Re- gelungsdichte verringern soll. vergangenen Legislaturperiode, dass wir Sie immer dann unterstützen, wenn Sie Entscheidungen treffen, die den Das waren die Verheißungen des Jahres 1998. Jetzt Interessen des Landes wirklich dienen. Aber wir haben kommen wir zur Praxis. Ergebnis nach vierjährigem rot- aus der Erfahrung begründete Zweifel daran, dass Sie den grünen „Bürokratieabbau“: Im Jahr 2002 haben wir 391 Willen und die Kraft haben, in der Koalition diejenigen Gesetze und sage und schreibe 973 Rechtsverordnungen Entscheidungen durchzusetzen, die notwendig sind, mehr als vor vier Jahren. beispielsweise wenn es darum geht, die Bevölkerung (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE wirksamer vor Kriminalität und Terrorismus zu schützen. GRÜNEN]: So fleißig waren wir!) (Jörg Tauss [SPD]: Ach du lieber Gott!) Das dürfte der weltweit einzigartige Versuch sein, durch Vieles von dem, was Sie nach dem 11. September 2001 1 364 neue Gesetze eine Verringerung der Regelungs- gesagt haben, und auch vieles von dem, was Sie gerade dichte herbeizuführen. von dieser Stelle aus gesagt haben, haben wir schon im- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mer für richtig gehalten und sind dafür heftigst kritisiert neten der FDP – Hans-Christian Ströbele worden, nicht nur, aber auch von Ihren sozialdemokrati- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, wir schen Kolleginnen und Kollegen. Entscheidend ist aber haben nichts gemacht, hat der Herr Röttgen be- nicht, Herr Schily, was Sie sagen, sondern entscheidend hauptet!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 141

Wolfgang Bosbach (A) Herr Schily, jetzt versprechen Sie schon wieder einen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) Abbau von Bürokratie. Das können wir vor dem Hinter- Herr Kollege Bosbach, das Wort zu einer Zwi- grund der Erfahrungen in den letzten vier gemeinsamen schenfrage erteilt aber immer noch der amtierende Präsi- Jahren mit allen Bürgern in diesem Lande nur als Dro- dent. hung verstehen. Vieles in der rot-grünen Koalitionsver- einbarung ist ja auch nebulös und völlig inhaltsleer. Da (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bei aller heißt es unter anderem: Die Alltagskriminalität werden Reformfähigkeit!) wir konsequent bekämpfen. – Das ist prima. Wir wollen Herr Kollege Schily, bitte schön. aber gern wissen, wie. (Zuruf von der SPD: Dann machen wir ein Otto Schily (SPD): Gesetz!) Herr Kollege Bosbach, Sie sprechen die Fälschungssi- Wenn Sie den Worten Taten folgen lassen, dann haben Sie cherheit an. Ich glaube, Sie machen einen Fehler, indem uns an Ihrer Seite. Sie zwei Dinge vermischen. Identifizierung und Fäl- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ha- schungssicherheit sind zwei Paar Schuhe. ben Sie vier Jahre lang vergeblich versucht!) (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Frage!) Wir wollen aber wissen, wie die Bekämpfung ganz kon- Ist Ihnen bekannt, dass heutzutage in Deutschland Pässe kret aussieht. Sind Sie dafür, dass wir die Graffiti-Schmie- hergestellt werden, die praktisch fälschungssicher sind? rereien, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- GRÜNEN]: Genau! Das ist es!) neten der FDP) eine Landplage zwischen Flensburg und Mittenwald mit Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): vielen 100 Millionen Euro Schaden jedes Jahr an Gebäu- den und öffentlichen Verkehrsmitteln, endlich konsequent Ist das die Frage? als Sachbeschädigung strafrechtlich ahnden oder wollen (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Sie das nicht? (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Otto Schily (SPD): GRÜNEN]: Das ist doch falsch! Das steht im Gesetz: § 303 StGB!) Ja, ich frage, ob Ihnen das bekannt ist. (B) Sie haben in der vergangenen Wahlperiode alle entspre- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir ha- (D) chenden Initiativen der Union abgelehnt. Sie haben die ben ja immer Zweifel, Herr Bosbach, ob Sie Alltagskriminalität nicht konsequent bekämpft, sondern auch einfache Fragen verstehen! – Weitere Zu- Sie haben sie konsequent bagatellisiert. Dabei werden wir rufe von der SPD) nicht mitmachen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): An anderer Stelle gibt uns die Koalition echte Rätsel Herr Kollege Schily, ist Ihnen bekannt, dass Sie sich auf. Beispiel: Einführung biometrischer Daten in Aus- vor wenigen Monaten mit Ihrem eigenen Personalausweis weisen. In der Vereinbarung sprechen Sie von einer Wei- und Ihrem eigenen Fingerabdruck darin in der Öffentlich- terentwicklung moderner Methoden der Biometrie zur keit so lange haben fotografieren lassen, bis die Bevölke- Identitätssicherung, ohne dass dem gesamten Text auch rung geglaubt hat, das habe der Bundestag wirklich be- nur andeutungsweise zu entnehmen ist, was das heißen schlossen? soll. Werden jetzt fälschungssichere Pässe mit biometri- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) schen Daten eingeführt, ja oder nein? Wird es fälschungs- sichere Personalausweise mit biometrischen Daten geben, Sie sind in allen deutschen Medien mit zwei Bildern prä- ja oder nein? sent, nämlich mit dem Bild von Ihrem eigenen Personal- ausweis mit falschem Geburtsdatum Ist irgendjemand hier der Auffassung, dass durch die Einführung biometrischer Daten in Ausweispapieren ir- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) gendein Bürgerrecht tangiert wird? Ist jemand ernsthaft und mit dem Bild, für das Sie sich einen riesigen Helm der Auffassung, dass es ein Bürgerrecht auf leicht fälsch- aufgesetzt und einen Schlagstock in die Hand genommen bare Ausweispapiere gibt? Das kann doch niemand ernst- haben, um damit zu demonstrieren, dass das Ihr Beitrag haft meinen. zu mehr innerer Sicherheit in Deutschland sei. (Zurufe von der SPD) Ihnen, Herr Schily, nehme ich es sogar ab, dass Sie der Tatsache ist: Sie nehmen dieses Thema auf, weil der In- Auffassung sind, was ja auch richtig ist, dass die Aus- nenminister zutreffenderweise der Auffassung ist, dass weispapiere so fälschungssicher wie möglich gemacht die Fälschungssicherheit erhöht werden müsste. Tatsache werden sollten. Welches biometrische Merkmal in die ist aber auch, dass sich die Koalition darauf nicht einigen Ausweispapiere aufgenommen wird, ist dann eine zweite kann. – Herr Kollege Schily, Sie können gerne eine Zwi- Frage. Wir wissen aber auch, dass Sie weder den Willen schenfrage stellen. noch die Kraft haben, das, was notwendig ist, mit dieser 142 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Wolfgang Bosbach (A) Truppe hier im Deutschen Bundestag durchzusetzen. Das Sie haben hier zwar gesetzliche Änderungen beschlossen. (C) ist die Wahrheit. Diese haben aber nichts anderes zum Inhalt als die Aus- sage, dass es demnächst durch ein neues Gesetz einge- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) führt werden könnte, weil Sie sich auf die Einführung sel- ber in der Koalition nicht haben einigen können. – Ende Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Durchsage zu diesem Thema. Herr Kollege Bosbach, erlauben Sie eine Zwischen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- frage des Kollegen Tauss? neten der FDP) Es gibt eine weitere Kuriosität, über die ebenfalls ge- Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): rade gesprochen worden ist: die Kronzeugenregelung. Ja. Am gleichen Tag, als Sie, Herr Schily, der staunenden Öf- fentlichkeit erklärt haben, dass Sie in der Koalition eine Kronzeugenregelung beschlossen haben, hat der Außen- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: minister Fischer für die Grünen gesagt, dass Sie keine Bitte schön, Herr Tauss. Kronzeugenregelung beschlossen haben. Es gibt folgende Möglichkeiten: Schily hat Recht; dann kann Fischer nicht Recht haben. Oder Fischer hat Recht; dann kann Schily Jörg Tauss (SPD): nicht Recht haben. Ausgeschlossen ist, dass beide gleich- Herr Kollege Bosbach, ist Ihnen bekannt, dass der zeitig Recht haben. Wir haben keine Kronzeugenrege- Deutsche Bundestag über sein Büro für Technikfolgen- lung, sondern bestenfalls die Wiederholung einer Selbst- abschätzung ein Gutachten zum Thema Biometrie in Auf- verständlichkeit in Bezug auf die Strafzumessung, Herr trag gegeben hat, das zum Inhalt hat, dass es zu bio- Kollege Montag, nämlich dass das Verhalten des Täters metrischen Systemen noch erhebliche technische nach der Tat bei der Strafzumessung zu berücksichtigen Fragestellungen gibt, dass es noch kein biometrisches ist. System gibt, das, zumindest über viele Jahre hinweg, be- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE reits als sicher angesehen werden kann? Halten nicht auch GRÜNEN]: Richtig!) Sie es für sinnvoll, dass man vor der Realisierung Ihrer Forderungen zumindest über die technischen Grundlagen Wir sind leider – das ist ein ernstes Thema – insbeson- nachdenken sollte, über die man reden will? Ich meine, dere bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität das sollte man auch von jemandem verlangen, der nicht und des internationalen Terrorismus auch auf Aussagen Forschungspolitiker ist. – Stimmen Sie mir darin zu? von Täterzeugen angewiesen. (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, und?) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Wenn wir es mit ethnisch geschlossenen Tätergruppen zu Herr Kollege Tauss, ich betrachte Ihre Fragestellung tun haben, dann können wir dort nicht mit verdeckten Er- als heftige Kritik an dem Innenminister, mittlern operieren. (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat mit dem anderen nichts zu der sich Ihrer Meinung nach – – tun! Das ist Unsinn!) (Jörg Tauss [SPD]: Nein, den schätze ich In diesem Fall gibt es leider Verbrechen, die wir nicht auf- sehr!) klären und bei denen wir die Täter nicht überführen kön- – Entschuldigung, Herr Kollege Tauss. Sie fragen, ich ant- nen, wenn wir nicht Angaben von Täterzeugen haben, worte und jetzt müssen Sie die Antwort tapfer hinnehmen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Jörg Tauss [SPD]: Ja, jetzt antworten Sie ein- GRÜNEN]: Was hat das mit dem Kronzeugen mal!) zu tun?) Ich entnehme Ihrer Fragestellung, dass sich der Bun- die zum Teil ihr Leben riskieren, wenn sie aus der Szene desinnenminister nach Ihrer Auffassung voreilig mit sei- aussteigen und gegen ihre ehemaligen Mittäter aussagen. nen biometrischen Daten Wenn sich jemand beim Bundeskriminalamt, beim Ver- fassungsschutz oder wo auch immer meldet, um unter Le- (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) bensgefahr auszupacken, dann braucht er eine neue Iden- in seinem eigenen Personalausweis hat fotografieren lassen. tität. Außerdem fragt er sich, was er davon hat. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss (Es erfolgt eine Lautsprecherdurchsage – Hei- [SPD]: Nein, der denkt nach!) terkeit – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist der Kronzeuge!) Herr Tauss, ich will es ganz kurz machen. Sie haben nach dem 11. September gesagt: Das werden wir einführen. – Jetzt fehlt nur noch die Aussage „Don’t leave your baggage unattended!“. (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Sehr wahr!) (Heiterkeit) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 143

Wolfgang Bosbach (A) Dann sagen Sie zu diesem Täterzeugen, Herr Montag: beitslosen Vorrang haben vor einer weiteren Zuwande- (C) Wenn Sie gegen Ihre ehemaligen Mittäter aussagen, dann rung auf den deutschen Arbeitsmarkt. kann es sein, dass die Strafzumessung möglicherweise (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE milder ausfällt. – Glauben Sie ernsthaft, dass bei dieser GRÜNEN]: Das ist böse Propaganda!) Regelung ein Schwerverbrecher aussteigt? Das hat mit Ausländerfeindlichkeit überhaupt nichts zu (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tun. NEN]: Was sagen Sie denn zu dem?) (Beifall bei der CDU/CSU) – Ich sage zu ihm das, was wir in der Vergangenheit schon oftmals gesagt haben. Wenn er auspackt und wenn seine Zu meinem letzten Punkt, der für uns im Moment an- Aussage dazu beiträgt, Verbrechen aufzuklären, Verbre- gesichts der fürchterlichen Verbrechen in den letzten Mo- cher zu überführen und vor allen Dingen neue schwere naten ein ganz wichtiger, entscheidender Punkt ist: dem und schwerste Straftaten zu verhindern, dann muss er wis- zum besseren Schutz der Bevölkerung, insbesondere un- sen, dass ihm keine langjährige Haftstrafe droht und dass serer Kinder, vor Sexualstraftaten und Sexualstraftätern. wir ihn schützen. ( [SPD]: Das hat (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE abgenommen!) GRÜNEN]: Das ist geltendes Recht!) – Dies genügt nicht. Jeder einzelne Fall, Frau Griefahn, ist Ich sagen Ihnen, auch wenn Sie es nicht verstehen: Das ist ein Fall zu viel. Wenn Sie hier angesichts der polizeilichen kein schmutziger Deal mit Mördern, sondern dieses Vor- Kriminalstatistik in Deutschland, in der von 14 000 bis gehen hilft, Menschenleben zu retten. 15 000 sexuell missbrauchten Kindern ausgegangen wird, sagen, diese Zahl habe abgenommen, so ist Ihre Feststel- (Beifall bei der CDU/CSU) lung eine glatte Unverschämtheit für alle Opfer. Immerhin gibt es in der Koalitionsvereinbarung eine (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Kehrtwende zu etwas mehr Ehrlichkeit. Über dem Gesetz [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch alles Demago- zur Zuwanderung steht „Steuerung und Begrenzung“. gie bei diesem Thema!) Dieses Begriffspaar haben Sie aufgegeben. In der Koali- tionsvereinbarung heißt es jetzt „Gestaltung der Einwan- – Nein, nein. derung“. Das ist offensichtlich etwas anderes. Gemeint ist Wir wollen, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern die Ausweitung der ohnehin schon großen Zuwanderung strafrechtlich endlich als das behandelt und bezeichnet nach Deutschland. wird, was er ist: als ein Verbrechen und nicht nur als ein Vergehen. (B) (Zurufe von der SPD: Oh!) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Am 1. Januar wird vorbehaltlich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe das neue Zu- Wir wollen die DNA-Analyse konsequent anwenden, wanderungsgesetz in Kraft treten, soweit es nicht schon in (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE einigen Teilen in Kraft getreten ist. Am 1. Januar wird der GRÜNEN]: Sie haben vorhin bei der Ministerin Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer aus nicht zugehört!) Nicht-EU-Staaten aufgehoben, und zwar generell und nicht nur für hoch qualifizierte Arbeitnehmer. und zwar bei jedem Delikt mit sexuellem Bezug, weil wir den Tätern sagen wollen: Wenn ihr noch einmal eine Eingeführt wurde der Anwerbestopp von Willy Brandt Straftat begeht, dann bekommen wir euch. – Denn die Ge- bei einer Arbeitslosenquote von 1,2 Prozent und bei einer fahr, dass der Täter entdeckt und überführt wird, ist das, Ausländerarbeitslosenquote von 0,8 Prozent. Sie heben was den Täter abschreckt – und nicht die abstrakte Straf- heute bei einer Arbeitslosenquote von knapp 10 Prozent androhung. und einer Ausländerarbeitslosenquote von knapp 20 Pro- zent diesen Anwerbestopp auf. Wir haben eine dramati- (Beifall bei der CDU/CSU) sche Situation auf dem Arbeitsmarkt: Es gibt 4 Millionen Herr Präsident, ich komme gleich zum Schluss. – Ob- Arbeitslose und 1,5 Millionen in der stillen Reserve wohl Sie hier die vorbehaltene Sicherungsverwahrung, – Tendenz steigend –, nicht nur aus saisonalen Gründen, die Sie in der letzten Wahlperiode fünf vor zwölf einge- sondern auch wegen der völlig verfehlten Wirtschaftspo- führt haben, preisen, wissen Sie genau: Kein einziger litik. Lieber Herr Minister Schily, wir begehen mit der Straftäter, der jetzt in Haft sitzt, wird von dieser Regelung generellen Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Ar- tangiert. Diese Regelung gilt nur für die Zukunft. Obwohl beitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Nicht-EU-Staa- Sie das wissen, täuschen Sie in der Bevölkerung vor, das ten einen kapitalen Fehler. getan zu haben, was in Deutschland zum besseren Schutz (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das gibt insbesondere von Kindern getan werden müsste. es doch überhaupt nicht! Das sind doch Paro- Diese Koalition hat nicht die Kraft, die Bevölkerung len! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ wirksamer vor Kriminalität zu schützen. DIE GRÜNEN]: Unsinn!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- Solange wir eine derart dramatische Situation auf dem fall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] deutschen Arbeitsmarkt haben, muss die Weiterqualifizie- [SPD]: Das war eine unglaubliche Rede! Un- rung, Umschulung und Vermittlung von inländischen Ar- fassbar! Üble Demagogie!) 144 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Grüne genauso ernst nehmen wie jede andere demokrati- (C) sche Partei hier im Raum, und den Aspekt der Bürger- Als nächste Rednerin hat die Kollegin Silke Stokar von rechte, der immer ein Minderheitenaspekt ist, zu einer ge- Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. meinsamen Politik zusammenzufassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE sowie bei Abgeordneten der SPD) GRÜNEN): Das ist der Erfolg der rot-grünen Bundesregierung und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich wir sind fest entschlossen, diese Politik, die keinen Ge- halte heute als neue Abgeordnete meine erste Rede im gensatz mehr zwischen Sicherheit und Bürgerrechten Bundestag. sieht, in den nächsten vier Jahren fortzusetzen. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Das große Projekt dieser Legislaturperiode – das Ich muss feststellen: Ich bedauere es, dass ich nur eine wurde bereits angesprochen – ist die Umsetzung des Redezeit von zehn Minuten habe. Es ist mir gar nicht Zuwanderungsgesetzes. Ich hege die große Hoffnung, möglich, die vielen Verdrehungen und Verfälschungen, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entschei- die in den Reden aus den Reihen der CDU/CSU, vor al- dung berücksichtigt, welch wichtiges gesellschaftspoliti- lem im letzten Redebeitrag, vorkamen, richtig zu stellen. sches Vorhaben das ist. Dafür braucht man nicht zehn Minuten, sondern zehn Wir verhandeln im Moment über die Verordnung zum Stunden. Zuwanderungsgesetz. Wir als Grüne legen auf zwei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Punkte einen besonderen Wert. Zum einen wollen wir sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von – ich denke, das ist vernünftig – angesichts der ange- der CDU/CSU und der FDP: Oh!) spannten finanziellen Situation nicht nur des Bundes, son- dern auch der Länder und Kommunen vernünftige Rege- Lassen Sie mich zu Beginn auf zwei Dinge eingehen, lungen in der Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt. die wiederholt in sehr unterschiedlichen Nuancen ange- sprochen worden sind. Beide Dinge halte ich persönlich In diesem Punkt verstehe ich Ihre Argumentation über- für nicht akzeptabel. Sie haben den Grünen in der Ausei- haupt nicht. Gehen Sie doch zu Herrn Koch nach Hessen nandersetzung um die Rechtspolitik vorgeworfen – das und fragen Sie ihn, warum gerade er – er war nicht der Erste, sage ich vor dem Hintergrund des Geiseldramas in Mos- er war nach seinem Kollegen aus Bayern der Zweite – beim kau, das mich sehr betroffen gemacht hat; ich denke, Sie Bundesinnenminister beantragt hat, in bestimmten Fällen genauso –, wir hätten die SPD bei der Innen- und Rechts- Ausnahmeregelungen vom Anwerbestopp zu veranlas- (B) politik als Geisel genommen. Ich halte es für einen sen. Das gehört zur Ehrlichkeit in dieser Debatte dazu. (D) falschen Sprachgebrauch bzw. für eine politische Entglei- Der Anwerbestopp existiert seit vielen Jahren nicht sung, so zu argumentieren. mehr. Wir haben mittlerweile mehr Ausnahmen vom An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werbestopp, als Rot-Grün an Zugängen zum Arbeitsmarkt sowie bei Abgeordneten der SPD) im Zuwanderungsgesetz zulassen will. Ich möchte noch eines klarstellen: Ich halte es nicht für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angemessen, hier die zweite, die kleinere Regierungspar- sowie bei Abgeordneten der SPD) tei als Truppe zu bezeichnen. Angesprochen wurde auch die Auseinandersetzung mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem internationalen Terrorismus. Auch in dieser Frage sowie bei Abgeordneten der SPD) wird es Ihnen einfach nicht gelingen, eine Trennung zwi- schen Rot-Grün herbeizureden. Ich denke, dass alle Frak- Meine Damen und Herren, wenn Sie diesen Stil ein- tionen hier in diesem Hause die Sicherheit der Bevölke- führen wollen, werden wir darauf antworten, denn auch rung vor terroristischen Angriffen sehr ernst nehmen. wir beherrschen dieses Spiel. Ich möchte heute zu Beginn der Auseinandersetzung den Appell an Sie richten: Lassen Ich habe mir Ihr 100-Tage-Programm sehr genau an- Sie uns doch die Auseinandersetzung über fachliche Kon- gesehen. Ich glaube nicht, dass es ein Beitrag zu mehr Si- zepte suchen und lassen Sie uns in fachlicher und sachli- cherheit ist, wenn Sie nach wie vor den Vorschlag ma- cher Art argumentieren. chen, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Ich habe den Eindruck, dass unsere Polizei und unsere Sicherheits- Ich will überhaupt nicht verhehlen – Sie haben Unter- behörden sehr wohl in der Lage sind, eine gute Arbeit zu schiede zwischen SPD und Grünen angesprochen –, dass leisten, und im internationalen Vergleich gut dastehen. es nicht immer leicht ist, in Koalitionsvereinbarungen zu Ergebnissen zu kommen. Ich denke, den kritischen Beo- Wir brauchen im Innern die Bundeswehr nicht. Diese bachtern ist nicht verborgen geblieben, dass es diese Un- Auseinandersetzung – ich erinnere mich noch daran, ich terschiede auch zwischen SPD und Grünen gibt. Natürlich war damals noch sehr jung – haben wir bereits bei den Notstandsgesetzen geführt. Zum Glück hat die 68er-Be- werden in den Auseinandersetzungen manchmal kultu- wegung schon damals gewonnen. Ich denke, dass wir hier relle Werte unterschiedlich gewichtet. Es ist aber gerade keine Neuauflage dieser Debatte brauchen. der Erfolg dieser rot-grünen Bundesregierung, dass es uns in der vergangenen Legislaturperiode und jetzt zum zwei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten Mal gelungen ist, den Sicherheitsaspekt, den wir als sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 145

Silke Stokar von Neuforn (A) Die Trennung von Polizei und Armee ist im Grundgesetz Meine Damen und Herren, ich sehe jetzt: Hier leuchtet (C) verankert. Dies soll auch in Zukunft so bleiben. Ich denke, der Präsident. dies ist gut so. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der dass wir die Sicherheitsgesetze evaluieren wollen. Eva- SPD) luieren heißt für uns nicht, den Wettlauf fortzuführen, der Ich muss meine Rede beenden. darin besteht: Die CDU fordert mehr Befugnisse für die Polizei; der Innenminister fühlt sich unter Druck gesetzt, Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue vielleicht vom Kanzler, vielleicht von wahltaktischen Fra- mich auf einen konstruktiven Streit im Innenausschuss gen in der Innenpolitik, und will keine Flanke eröffnen. und hier im Hause. (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Danke schön. Ich möchte bei der Evaluierung der Sicherheitsgesetze, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass wir den Bürgerinnen und Bürgern zwei Fragen öf- sowie bei Abgeordneten der SPD) fentlich beantworten. Wir treffen hier die Entscheidung, dass wir in individuelle Freiheitsrechte eingreifen, weil Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wir der Auffassung sind, dass dies erforderlich ist, um die Sicherheit in unserem Land zu gewährleisten. Ich möchte Frau Kollegin Stokar von Neuforn, ich gratuliere Ihnen in jedem einzelnen Punkt, und zwar in einer fachlichen zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hause. Debatte, nicht in einer polemischen Debatte, wie sie hier (Beifall) geführt worden ist, nachgewiesen bekommen, Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Max Stadler (Manfred Grund [CDU/CSU]: Der Genosse von der FDP-Fraktion das Wort. Schily lächelt sehr finster!)

ob diese Eingriffe tatsächlich zum Ziel führen, ob sie er- Dr. Max Stadler (FDP): forderlich, geeignet und verhältnismäßig sind. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!) ren! Ich möchte in der Debatte kurz auf den Beitrag des Dies werden die Prüfkriterien sein. Kollegen Hacker von der SPD zurückblenden. Ich will nicht Wortklauberei betreiben; aber Herrn Hacker ist eine Darüber hinaus werden wir Ansätze einbringen – wir Formulierung unterlaufen, bei der ich hellhörig geworden haben dies in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt –, (B) bin, weil sie in ähnlicher Weise immer wieder gebraucht (D) um in dieser Auseinandersetzung nicht nur die Polizei, wird. Er hat, wenn ich es richtig mitbekommen habe, da- sondern auch die Demokratie zu stärken. Wir setzen eben von gesprochen, dass das Sicherheitsgefühl der Bürgerin- nicht nur wie Sie von der Opposition auf einen starken nen und Bürger ein Grundrecht sei. Das heißt, das Grund- Staat. Wir setzen auf eine starke Zivilgesellschaft. Des- recht auf Sicherheit, von dem Minister Schily so oft wegen haben wir ein Informationsfreiheitsgesetz, mehr spricht, ist hier noch ausgedehnt worden auf ein Grund- Transparenz in der Gesellschaft, mehr Zugang für die recht auf Sicherheitsgefühl. Bürgerinnen und Bürger zu Informationen vereinbart, da- mit sie als selbstbewusste und eigenständige Bürgerinnen Ich greife das aus einem Grund auf: um deutlich zu ma- und Bürger ihren Beitrag zu mehr Sicherheit und Demo- chen, dass wir als Liberale hier einen ganz konservativen kratie leisten. Ansatz haben. Es gibt kein Grundrecht auf Sicherheit, aber es gibt die Pflicht des Staates, die innere Sicherheit Ich sehe an der Uhr, dass meine Zeit so gut wie abge- zu gewährleisten. Dazu brauchen seine Institutionen, laufen ist. dazu brauchen Polizei, Justiz und auch die Geheimdiens- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – te Eingriffsbefugnisse. Bei diesen Eingriffen sind sie aber Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aber nur an die Grundrechte gebunden und stoßen an die durch die hier!) Grundrechte gezogenen Grenzen. Da, wo die Grundrechte ausnahmsweise eine Einschränkung erfahren müssen, gilt Lassen Sie mich noch ganz kurz einen Punkt, der mir aber immer noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. ebenso wichtig ist, ansprechen: Wir übernehmen auch Das ist unser Grundprinzip, mit dem wir die Politik von Verantwortung für die Vergangenheit. Es ist uns ein Innenminister Schily in den vergangenen vier Jahren kri- großes Anliegen, die Arbeit der Birthler-Behörde fortzu- tisch und konstruktiv begleitet haben. setzen. Ich möchte Sie hier bitten – wie dies zuvor schon jemand von der SPD gemacht hat –: Lassen Sie uns hier (Beifall bei der FDP) zu einem parteiübergreifenden Konsens zurückkommen. Das hat dazu geführt, dass wir, auch wegen des für das Lassen Sie uns eine große Koalition aus allen Fraktionen Parlament unwürdigen Verfahrens, zum Beispiel das so bilden, damit die Aufarbeitung der Stasivergangenheit genannte Sicherheitspaket Schily II abgelehnt haben, weil wieder aufleben kann wir uns bei den dafür notwendigen Abwägungen hier im Hause oft sehr alleine gelassen fühlten. Ich nenne nur ein (Manfred Grund [CDU/CSU]: Bravo!) Beispiel, das jetzt in Hamburg wieder aktuell geworden und damit dieses Gerede über den Schlussstrich beendet ist. Wenn es darum geht, in die Berufsgeheimnisse von werden kann. Rechtsanwälten, Steuerberatern, Geistlichen oder auch 146 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Max Stadler (A) Journalisten einzugreifen, dann sind diese Abwägungen hebung des Anwerbestopps für ausländische Arbeitneh- (C) sehr sorgsam vorzunehmen. Da haben wir oft weder, wie mer aus Nicht-EU-Staaten generell öffnen sollten, und man es bei unserem konservativen Ansatz erwarten dass die Weiterqualifizierung und Umschulung Vorrang würde, von der Union noch von den Grünen oder der SPD haben sollen? hinreichend Unterstützung erhalten. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Deswegen sage ich, Herr Minister Schily: Wir haben stimmt doch schon mal nicht!) Sie kritisch, aber auch konstruktiv begleitet. Es gab Zweitens. Bist du mit mir der Auffassung, dass fol- äußerst wichtige Gesetzesvorhaben in der letzten Legisla- gende Rechnung nicht aufgehen kann: „Mehr Zuwande- turperiode. Ich nenne noch einmal die Zwangsarbei- rung auf den deutschen Arbeitsmarkt beim weltweiten terentschädigung, bei der wir sehr wohl unseren Anteil an Wettbewerb um die klügsten Köpfe und zusätzliche Maß- der Gesetzgebung hatten, sowie das Staatsangehörigkeits- nahmen aus humanitären Gründen haben im Ergebnis recht und das Zuwanderungsgesetz, zu deren Umsetzung eine Reduzierung der Zuwanderung nach Deutschland zur wir über Rheinland-Pfalz unseren Beitrag geleistet haben. Folge“? (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erkennen wir auch an!) Dr. Max Stadler (FDP): Ich sage es bewusst, Herr Kollege Bosbach, weil Sie Lieber Wolfgang Bosbach, in der öffentlichen Diskus- der deutschen Öffentlichkeit in Ihrer ansonsten brillant sion geht es doch um folgende entscheidende Frage: Ist es formulierten Rede hier leider eines verschwiegen haben: bei einem angespannten Arbeitsmarkt mit 4 Millionen Ar- Das Zuwanderungsgesetz sieht nach wie vor den Vorrang beitslosen überhaupt noch sinnvoll, über Zuwanderung der inländischen Arbeitnehmer vor. nach Deutschland zu reden? Wir wissen ganz genau, dass (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE dies zwar auf den ersten Blick perplex erscheint, dass aber GRÜNEN]: So ist es!) der Arbeitsmarkt in Deutschland gespalten ist, dass es ge- rade dem Mittelstand trotz aller Bemühungen nicht gelingt, Das bedeutet, es wird niemand von seinem Arbeitsplatz Facharbeiterstellen zu besetzen. verdrängt. Die FDP hätte über Rheinland-Pfalz doch nicht einem Gesetz zugestimmt, das in unvernünftiger Weise Wir alle sind uns darüber einig, dass die Qualifizierung zusätzliche Zuwanderung zugelassen hätte, die der deut- der eigenen Arbeitskräfte, eine Bildungspolitik für die ei- sche Arbeitsmarkt nicht vertragen würde. Hier gibt es die gene Jugend und die bessere Vereinbarkeit von Familie und Arbeitsleben Vorrang haben müssen. Das steht außer Vorrangprüfung als entscheidendes Instrumentarium. Streit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- der SPD) NEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das entspricht natürlich nicht Herrn Bosbachs Der Streit geht doch nur darum, ob es nicht ein Instru- demagogischem Ansatz!) mentarium geben muss, damit das, was sowieso prakti- ziert wird, wie zum Beispiel auch von unionsregierten Ländern wie etwa Bayern, nun gesetzlich geregelt wird. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es bestehen nämlich schon jetzt Ausnahmeverordnun- Herr Kollege Stadler, erlauben Sie eine Zwischenfrage gen für bestimmte berufliche Bereiche und für bestimmte des Kollegen Bosbach? Regionen, in denen nachgewiesenermaßen Bedarf be- steht, der nicht befriedigt werden kann – nur darum geht es –, in denen Wachstumschancen für die deutsche Wirt- Dr. Max Stadler (FDP): schaft verloren gehen und in denen wir dadurch, dass wir Ja, obwohl ich in der Erwartung derselben schon jetzt nicht tätig werden, Arbeitsplätze vernichten. 20 Sekunden wertvoller Redezeit verloren habe. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, ob wir in die- Die werden Ihnen aber nicht abgezogen. sen Segmenten weiterhin mit Ausnahmeverordnungen ar- beiten wollen, so wie das Bayern mit der Anwerbung von Bitte schön, Herr Bosbach. Krankenschwestern aus Kroatien und Pflegekräften aus der Slowakei macht, oder ob wir endlich zu einem ganz- Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): heitlichen System mit einer gesetzlichen Regelung kom- men wollen, die das Problem insgesamt angeht. Deswe- Lieber Max, bist du bereit, zur Kenntnis zu nehmen, gen hat die FDP über Rheinland-Pfalz dieser gesetzlichen dass ich erstens nicht gesagt habe, dass mit dem Gesetz Steuerungsmöglichkeit zugestimmt. beabsichtigt sei bzw. dass das Gesetz die unbeabsichtigte Nebenfolge habe, Arbeitsplatzbesitzer von ihrem Arbeits- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- platz zu verdrängen, sondern dass ich gesagt habe, dass NEN) ich angesichts der dramatischen Situation auf dem Ar- beitsmarkt keinerlei Begründung dafür kenne, warum wir Ich darf nun an die sehr bemerkenswerten Ausführun- den deutschen Arbeitsmarkt ab dem 1. Januar unter Auf- gen des Kollegen Montag in seiner ersten Rede anknüp- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 147

Dr. Max Stadler (A) fen und möchte ohne Besserwisserei einen Punkt ergän- Die Grünen kommen auf ihre Kosten, indem in der In- (C) zen. Gesetzesfolgenabschätzung und Befristung von nenpolitik die gesellschaftspolitischen Themen nach Gesetzen sind nicht so neu, wie man das nach Ihrem Bei- vorne geschoben werden. Ich nenne nur Ausgestaltung trag denken möchte. Sie werden damit vielleicht noch der Zuwanderung, Drogenpolitik, Antidiskriminierungs- Verdruss haben; denn die alte Koalition von CDU/CSU gesetz und und FDP hat 1998 zum Beispiel die umstrittene Regelung (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE über verdachtsunabhängige Kontrollen eingeführt. Diese GRÜNEN]: Sehr gut!) war aber befristet. Es wird jetzt Ihre Aufgabe sein, sich da- rüber zu einigen, ob diese Regelung weiterhin so bestehen Informationsfreiheitsgesetz. bleiben soll oder ob Sie sie auslaufen lassen wollen. Da (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE bin ich neugierig. GRÜNEN]: Noch besser!) Aus der Koalitionsvereinbarung kann man leider nicht – Herr Ströbele ruft schon „Gut so!“. erkennen, ob wir in der gewohnten Weise kritisch, aber konstruktiv mit Ihnen zusammenarbeiten können, Herr Von all diesen Dingen hat man in der Rede des Bun- Minister Schily, oder ob der kritische Faktor überwiegen desinnenministers aber nichts gehört. muss. Denn die Koalitionsvereinbarung enthält so viele (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Unverbindlichkeiten und Prüfaufträge, so genannte Eva- GRÜNEN]: Datenschutz auch noch!) luationen, dass man heute überhaupt noch nicht sagen kann, was Sie wirklich in der Innenpolitik machen wer- Er hat zu Recht davon gesprochen, dass wir uns in der den. Deswegen muss ich diesen Vorbehalt formulieren. Innenpolitik als Bestandteil der allgemeinen Sicher- heitspolitik auf schwere Jahre einstellen müssen. Herr Am Ende, Herr Minister Schily, gestatten Sie mir eine Bundesinnenminister, da bei den Grünen Zuwanderungs- kleine Bezugnahme auf die jüngste Zeit, obwohl die The- begrenzung, Terrorismusbekämpfung und innere Si- men ansonsten äußerst ernst sind. Für mich gab es zwei cherheit allenfalls Fußnoten der Innenpolitik sind, muss große Überraschungen. Die erste Überraschung war der man sich fragen, ob Sie für all das, was Sie mit großem Wahlsieg von Rot-Grün, nicht wegen Ihrer Politik, Herr Ernst zur Terrorismusbekämpfung und zur Verstärkung Minister, sondern vor allem wegen der Finanz- und Ar- der Anstrengungen für die innere Sicherheit hier gesagt beitsmarktpolitik. Zum Zweiten habe ich mich gefragt haben, wirklich die Unterstützung Ihres grünen Koali- – bitte verzeihen Sie mir diese kleine Abschweifung vom tionspartners haben. eigentlichen Thema –, wie Sie es geschafft haben, Herr Minister Schily, dass Gianna Nannini Sie als Schlagzeu- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lassen ger in einer Rockband verpflichten will. Wenn wir dies Sie das mal unsere Sorge sein! – Hans-Christian (B) auch noch erfahren, dann könnte es sein, dass die weitere Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich (D) Zusammenarbeit doch wieder konstruktiv wird und nicht denke, Sie wollen mit den Grünen koalieren!) so kritisch, wie es nach der Koalitionsvereinbarung jetzt Nach Ihrer Rede und nach der Rede von Frau Stokar den Anschein hat. von Neuforn, auf die ich im Einzelnen noch zurückkom- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten men will, müssen wir uns schon fragen, wer die Musik in der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- der Innenpolitik in Deutschland macht: NEN) (Rüdiger Veit [SPD]: Das haben Sie doch eben gehört! Herr Schily ist der Schlagzeuger!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie, Herr Minister, oder Herr Ströbele und seine neue Kol- Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Koschyk von legin, die beim Thema Evaluierung der Terrorismus- der CDU/CSU-Fraktion. gesetze schon angedeutet hat, dass sie hier scheinbar ganz anderer Auffassung ist als Sie.

Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Herr Minister, wir sehen sehr wohl einen Widerspruch. Es ist zwar richtig, dass Sie am 15. Oktober auf der Herr Stadler, wir sind darüber nicht so gut informiert EU-Innenministerkonferenz gefordert haben, dass das wie Sie, aber vielleicht kann uns bei einer der ersten Sit- Thema Terrorismusbekämpfung auf die Tagesordnung zungen im Innenausschuss der Minister Antwort darauf der EU kommt. Es ist aber doch unverkennbar, dass Sie in geben, wie es sich mit dieser möglichen neuen Berufskar- Ihren Ausführungen von der EU Dinge gefordert haben, riere als Schlagzeuger verhält. die Sie in den beiden Antiterrorgesetzen in Deutschland Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Kon- – also innerstaatlich – nicht verwirklicht haben. Wir glau- trastreicher hätte der Zwiespalt in der Innenpolitik zwi- ben, dass die Koalitionsvereinbarung vor allem im Bereich der elementaren Themen der Innenpolitik – Zuwande- schen Rot und Grün heute nicht ausfallen können: Wir ha- rungsbegrenzung, Zuwanderungssteuerung, Terrorismus- ben uns zuerst die in weiten Teilen von großem Ernst bekämpfung und mehr innere Sicherheit – nicht die richti- getragene und aus unserer Sicht zustimmungsfähige Rede gen Antworten auf die wirklichen Herausforderungen gibt. des Innenministers angehört und sind dann sehr aufmerk- sam der ersten Rede der Frau Kollegin Stokar von (Jörg Tauss [SPD]: Glauben heißt nicht Neuforn gefolgt. wissen!) Auch der Blick in die Koalitionsvereinbarung macht Herr Minister Schily, Sie haben die Gefahr, die vom diese Ambivalenz deutlich. Da ist für jeden etwas dabei. Terrorismus auch für die Bürgerinnen und Bürger in 148 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Hartmut Koschyk (A) unserem Land ausgeht, sehr drastisch beschrieben. Der Herr Minister, Sie haben vorhin zu Recht gesagt, dass (C) Terrorismus ist grausame Realität unseres Lebens gewor- das Ausmaß der Größenordnung der terroristischen Ge- den. Er hat weltweite Ziele und trifft, wie Djerba, Mos- fahr in Deutschland das Maß unserer gemeinsamen Ver- kau, Bali und auch der 11. September gezeigt haben, auch antwortung beschreibt. Deshalb bieten wir Ihnen an und deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger. wir appellieren an Sie: Lassen Sie uns noch einmal da- rüber sprechen, ob nicht die aus unserer Sicht bestehen- Der stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher den Sicherheitslücken in den beiden Antiterrorpaketen Kriminalbeamter Klaus Jansen, ein Experte aus dem Bun- durch die Vorschläge, die die Union unterbreitet hat, ge- deskriminalamt, hat zur Bedrohungslage in Deutschland schlossen werden können. vor kurzem in der „FAZ“ gesagt, dass es in Deutschland nicht nur eine abstrakte Gefahr von Terroranschlägen Es gibt durchaus einen Unterschied zwischen dem, was gebe. Jansen sagte in der „FAZ“ wörtlich: Sie zu der Evaluierung des Antiterrorpakets II meinen und was die Kollegin von den Grünen dazu gesagt hat. Sie ha- Ich glaube nicht, dass die deutsche Öffentlichkeit ben von Korrektur- und Justierungsbedarf im Sinne von derzeit vollständig von der politischen Führung über möglichen Verbesserungen gesprochen, während die Kol- die bevorstehenden Gefahren unterrichtet wird. legin von den Grünen gesagt hat: Wir wollen nicht länger, Solche in der Öffentlichkeit von sicherheitspolitischen dass der Innenminister den Wettlauf gegen die Opposition Praktikern gemachten Aussagen müssen uns doch zu den- gewinnen muss, die ihn in dieser Frage unter Druck setzt. ken geben. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Welche Brisanz die Bekämpfung des internationalen GRÜNEN]: Stimmt überhaupt nicht! – Claudia Terrorismus vor allem auch in Deutschland besitzt, haben Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vor kurzem die Verhaftungen des Marokkaners Mzoudi, NEN]: Wenn Sie zitieren, dann zitieren Sie der zu der Hamburger Zelle um Mohammed Atta enge richtig!) Beziehungen unterhalten und sie logistisch unterstützt Herr Minister, warten Sie mit dieser Evaluierung nicht haben soll, und des Jemeniten Ramzi Binalshibh gezeigt. zwei Jahre! Überlegen Sie jetzt, was getan werden muss! Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass gerade Setzen Sie sich mit unseren Vorschlägen konstruktiv aus- Deutschland im Zentrum der Ermittlungen im Zuge der einander! Die Politik, die die Kollegin von den Grünen Anschläge des 11. September steht. Drei der vier in den angedeutet hat und die klar erkennen lässt, dass es eher USA entführten Flugzeuge wurden von Selbstmordpilo- um Aufweichung und die Wiederabschaffung einiger die- ten gesteuert, die lange Zeit in Deutschland gelebt haben. ser Teile des aus unserer Sicht unzureichenden Antiterror- Samuel Huntington hat erst vor kurzem in der „Zeit“ paketes II geht, wird auf unseren entschiedenen Wider- (B) festgestellt: stand stoßen. (D) Im 21. Jahrhundert hat die Ära der muslimischen Für uns ist ein zentraler Punkt der Verbesserung, dass die Kriege begonnen. Einreise gewaltbereiter Extremisten nach Deutschland verhindert wird bzw., sofern sie bereits in unserem Land Mancher mag das für überzogen halten. Sicherlich gibt es sind, die Voraussetzungen geschaffen werden, um diese verschiedene Ursachen für die Gefahr, die auch unserem Personen leichter auszuweisen und abzuschieben. Land und der internationalen Gemeinschaft durch den is- lamischen Fundamentalismus droht. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch wenn wir immer wieder die Notwendigkeit ei- Ich kann weitere Punkte nennen. Wenn der Innenaus- nes Dialogs mit dem Islam beschwören und wir diese schuss seine Arbeit wieder aufgenommen hat, können wir Aufgabe auch leisten müssen, so müssen wir doch zur unsere Vorschläge Punkt für Punkt diskutieren. Dabei Kenntnis nehmen, dass es auch im islamischen Funda- können Sie, Herr Minister, deutlich machen, wo Sie un- mentalismus ausgesprochene Feindseligkeit gegenüber sere Vorschläge für nicht praktikabel halten. Aber dass spezifisch westlichen Ideen gibt – wie Individualismus, seinerzeit viele unserer Vorschläge bei der Behandlung im Liberalismus, Konstitutionalismus, Demokratie, Men- Bundestagsinnenausschuss einfach abgelehnt worden schenrechten sowie Gleichheit von Gruppen und Ge- sind, schlechtern. Feindseligkeit gibt es auch – das haben mich (Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!) viele, mich bestürzende Aussagen gelehrt – gegenüber dem christlich-jüdischen Wertekanon. Wir müssen zur können wir bis heute nicht verstehen. Kenntnis nehmen, dass aus dieser Aggression der Nähr- Wir meinen, wir brauchen eine Erweiterung der Ver- boden für Gewalt und Terror entsteht. botsmöglichkeiten für islamistisch-extremistische Ver- Die Praxis in den letzten Monaten hat deutlich ge- eine. Wir brauchen die Strafbarkeit der Unterstützung sol- macht, dass Ihre Antiterrorpakete I und II gravierende cher Vereine. Sicherheitslücken haben. Ihre Antiterrorpakete sind mehr (Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD]) von der Hoffnung geprägt, die latente Gefahr möge nie- mals Wirklichkeit werden. Sie verkennt, dass Deutschland – Herr Tauss, darüber lacht man nicht. nicht nur Ruheraum, sondern Operationsraum ist und im (Jörg Tauss [SPD]: Wir haben doch gerade da- Visier des internationalen Terrorismus steht. mit angefangen! Das haben Sie nie geschafft! (Rüdiger Veit [SPD]: Das verkennt kein Was war denn mit dem Kalifatsstaat? Wo leben Mensch!) Sie denn?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 149

Hartmut Koschyk (A) – Ich komme gleich auf das Thema Verbotsverfahren, hen ist, dass fast die Hälfte der neu eingebürgerten Auslän- (C) al-Aksa und Kalifatsstaat. Aber wenn wir über solch der noch ihren alten Pass besitzt und somit entgegen der of- ernste Themen reden, sollten Sie dies nicht lächerlich fiziellen Darstellung der Bundesregierung quasi eine dop- machen, Herr Tauss. pelte Staatsangehörigkeit hat. Ich will auch nicht darüber sprechen, dass man manchmal vermuten könnte, dass Sie (Jörg Tauss [SPD]: Sie sollten seriös bleiben! sich durch weitere Erleichterungen im Staatsangehörig- Das ist Ihr Problem!) keitsrecht neue Wählerschichten erschließen möchten. Ich darf weitere Punkte nennen. Wir brauchen – ich (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist doch ab- sage es noch einmal – die Strafbarkeit der Unterstützung surd! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: und der Werbung für ausländische terroristische Vereini- Das hätten Sie wirklich sein lassen sollen! Das gungen. Über das Thema biometrische Daten hat der Kol- ist Unsinn! – Jörg Tauss [SPD]: Und was ist mit lege Bosbach bereits gesprochen. Wir brauchen auch Ver- den Aussiedlern?) sagungsgründe für Visa und Aufenthaltsgenehmigungen bei Terrorismus- und Extremismusverdacht. Wir brau- Ich meine aber, Herr Minister, dass Ihnen das, was ich ge- chen die Erfassung und Speicherung der Daten hin- rade ausgeführt habe, sicherlich bei den verschiedenen sichtlich ethnischer und religiöser Zugehörigkeit auch im Verfahren zu denken gegeben hat, wenn Sie ehrlich sind. Ausländerzentralregister. Wir brauchen im Einbürgerungs- Denn Sie haben schon bei den Verbotsverfahren die Fol- verfahren und bei der Erteilung von Aufenthaltsrechten gen der Reformen im Staatsangehörigkeitsrecht zu spüren eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz. bekommen. Sowohl der Kollege Röttgen als auch der Kollege Im Zusammenhang mit dem Verbot des Spendensam- Bosbach haben schon über eine sinnvolle Ausgestaltung melvereins al-Aksa hat die „taz“ Anfang Oktober berich- der Kronzeugenregelung gesprochen. Wir sehen sehr tet, dass dieser Verein für sich nicht mehr gelten lassen wohl – auch durchaus selbstkritisch –, an welchen Stellen wollte, dass er in Deutschland ein von Ausländern getra- die seinerzeit von uns eingeführte Kronzeugenregelung gener Verein ist, weil viele der Aktionisten inzwischen nicht dem entsprach, was aus rechtsstaatlichen Gründen eingebürgert sind. wünschenswert gewesen wäre. Ich meine aber, dass man (Otto Schily, Bundesminister: Nach Ihrem alten auch und gerade unter der terroristischen Bedrohung über Recht! Deshalb haben wir es verschärft! – eine vernünftig auszugestaltende Kronzeugenregelung re- Hans-Joachim Hacker [SPD]: Herr Koschyk, den müsste. das war ein Eigentor!) Wir meinen, dass es auch im operativen Bereich not- – Deshalb lassen Sie uns doch gemeinsam darüber nach- wendig ist, die Maßnahmen von Polizei und Verfas- denken, Herr Minister, dass es nicht das richtige Signal (B) (D) sungsschutz zu verbessern. In diesem Zusammenhang ist, über weitere Erleichterungen bei der Einbürgerung sind Rasterfahndungen und Beobachtungen islamisti- ohne Regelanfrage nachzudenken. Schließlich mussten scher Bestrebungen durch den Verfassungsschutz des Sie sowohl beim al-Aksa-Verfahren als auch beim Ver- Bundes und der Länder zu nennen. botsverfahren im Zusammenhang mit dem Kalifatsstaat zur Kenntnis nehmen, dass eine Reihe der Aktivisten eben Herr Minister, Sie haben im Zusammenhang mit den keine Ausländer, sondern eingebürgert sind. Sicherheitsbehörden unseres Landes den Diensten ge- dankt. Auch darin stimmen wir Ihnen zu. Aber uns ist Ich meine, wir müssen auch eine Diskussion über die doch die grundsätzliche Skepsis und Ablehnung Ihres gesellschaftspolitische Dimension des Terrorismus füh- grünen Koalitionspartners gegenüber den Geheimdiens- ren. Wir müssen uns schon fragen, wie viel Unterschied- ten bekannt. Angesichts dessen, was Herr Ströbele immer lichkeit ein Land verträgt, wie viel Gemeinsamkeit ein wieder lauthals zu diesem Thema von sich gegeben hat, Land braucht, um seine innere Bindungskraft und seine befürchten wir, dass bei der im Koalitionsvertrag an- Widerstandsfähigkeit gegenüber extremistischen Strö- gekündigten Überprüfung von Aufgaben, Struktur, Effek- mungen nicht zu verlieren, und ob wir nicht von Neuem tivität, Befugnissen und Kontrolle der Geheimdienste damit beginnen könnten, ohne ideologische Verbrämung eine Schwächung der Dienste erfolgt. Das hielten wir für (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: unverantwortlich und das würde auf unseren entschiede- Ausgerechnet Sie, Herr Koschyk!) nen Widerstand stoßen. die Gefährdungen für die innere Sicherheit unseres Lan- (Beifall bei der CDU/CSU) des auch im Zusammenhang mit einer ungesteuerten Zu- Jetzt komme ich dazu, was Sie in der Koalitionsverein- wanderung zu sehen. barung zu dem Thema „Weitere Erleichterungen im Staats- (Jörg Tauss [SPD]: Haben Sie Stadler nicht angehörigkeitsrecht“ angekündigt haben, Herr Minister. zugehört?) (Jörg Tauss [SPD]: Haben Sie noch Redezeit?) – Ich sage das so deutlich: auch nach den bisherigen Er- fahrungen einer ungesteuerten Zuwanderung. Wir meinen, dass aufgrund der bisherigen Erkenntnisse bei der Terrorismusbekämpfung über weitere Erleichterun- Herr Minister, Ihnen ist doch sicherlich auch die Ent- gen im Staatsangehörigkeitsrecht noch einmal nachge- scheidung des Vorsitzenden des zuständigen Gerichts dacht werden müsste. Ich will an dieser Stelle nicht darüber bekannt, der den Kalifen von Köln verurteilt hat. Der sprechen, dass hinsichtlich des Anstiegs der Zahl der Ein- Richter hat sich in der Urteilsbegründung zutiefst er- bürgerungen im Jahr 1999 um 30 Prozent davon auszuge- schüttert gezeigt über das Ausmaß der in Deutschland 150 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Hartmut Koschyk (A) entstandenen, gegen unsere Verfassung, gegen die Demo- Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort die Frau (C) kratie und gegen unseren Wertekanon gerichtete Parallel- Staatsministerin Dr. Christina Weiss. gesellschaft, die sich hinter dem Kalifen von Köln und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem Kalifatsstaat verborgen hat. DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: Da habt ihr nichts gemacht!) Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- Darum, dass wir, wenn wir solche Gefahren erkennen, kanzler: entschiedener handeln, dass noch einmal über eine Nach- besserung der Antiterrorpakete nachgedacht wird und Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- dass mit der Evaluierung nicht zwei Jahre gewartet wird, ren! Ich begreife Kultur als ein Regelwerk des Füreinan- möchte ich Sie, Herr Minister, namens meiner Fraktion im ders und des Miteinanders. Sie umgrenzt das Feld der Sinne einer konstruktiven Zusammenarbeit, wie Sie sie Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit ihren Tradi- angeboten haben, bitten. tionen und Wurzeln, ihren Werten, ihren Zielen, ihren Konflikten und natürlich ihren Visionen, den zukünftigen Herr Minister, das Thema ist zwar zu ernst. Dennoch Pfaden der Entwicklung. Kultur prägt die Lebensent- möchte ich wie der Kollege Stadler mit einer etwas würfe der Individuen und bildet zugleich den Nährboden scherzhaft gemeinten Bemerkung enden. ihrer Realisierung. Sie umfasst außerdem das Selbstbe- wusstsein einer Gesellschaft und eines Staates. Sie defi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: niert die Verhältnisse des Umgangs miteinander sowie die von Gerechtigkeit und Verantwortung. Nein, Herr Kollege Koschyk, Sie haben Ihre Redezeit bereits überschritten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Wenn der Staat die Kultur vernachlässigt, dann vergeht er sich an seiner eigenen Zukunft; denn er nimmt sich die Wir helfen Ihnen gegenüber allen Größeren. kreative Kraft der Visionen, der Utopien. Ich zögere nicht, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- diese großen Begriffe hier einzuführen. Verstehen Sie neten der FDP) mich bitte nicht falsch: Es geht mir nicht primär – jeden- falls nicht heute – um die Frage des Geldbetrages, den die öffentliche Hand für die Kultur aufbringt, auch wenn ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gleich zu Beginn meiner Amtszeit durchaus mit fiskali- (B) Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kol- schen Dingen konfrontiert war. Es geht mir heute viel- (D) legin Silke Stokar von Neuforn. mehr um die Haltung gegenüber den Künsten, um die Wertschätzung dessen, was Künstlerinnen und Künstler zum Gemeinwohl beitragen. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der SPD) Herr Kollege Koschyk, im Zusammenhang mit der Die Künste sind ein Spezialfall der Kultur, das Kraft- Evaluierung der Sicherheitsgesetze haben Sie mich unter feld der Kreativität in einer Kultur. In der Begegnung mit Nennung meines Namens – ich vermute: bewusst – falsch den Künsten lernen wir, unsere Subjektivität, das heißt zitiert und wiedergegeben. Ich möchte das richtig stellen. unsere innere Vielfalt, unsere geistige Unabhängigkeit auf der Basis der Gewissheit kultureller Identität, auszuprä- Ich habe vorhin deutlich gesagt, welches Ziel wir mit gen. Die Künste erschließen Grundlegendes, aber nicht der Evaluierung verfolgen: Wir werden untersuchen, ob Selbstverständliches. Sie trainieren die Wahrnehmungs- die verabschiedeten Gesetze und die damit verbundenen fähigkeit, sie schulen die emotionale Intelligenz ebenso Befugnisse in jedem Einzelfall geeignet sind, das Ziel der wie das Vermögen, über plurale Weltsichten nachzuden- Terrorismusbekämpfung – auch dieses habe ich vorhin ken. Künstler erkunden Grenzbereiche, sie zeigen Gren- genannt; das ist ein gemeinsames Ziel von Rot-Grün; ich zen auf und überschreiten sie zugleich. Die Ergebnisse sage das, damit hier keine Unklarheiten entstehen – zu er- dieser Grundlagenforschung präsentieren sie als ein An- reichen. Wir werden uns das von den Diensten und vom gebot an die Sinne, ein Angebot, das im Übrigen bei je- Bundesinnenministerium an der Praxis erläutern lassen. dem Wahrnehmungsakt neu und anders ergriffen werden Selbstverständlich werden wir auch klären, ob die Ge- kann. setze verhältnismäßig sind. Dies ist ein ganz normaler Vorgang. Ihre Darstellung dessen, was ich gesagt haben Kunst stellt immer wieder neue Beziehungen her zwi- soll, weicht weit von dem ab, was ich in meiner ersten schen Optionen der Wahrnehmung und Formen der Reak- Rede in diesem Hohen Hause tatsächlich gesagt habe. tion. Die Künste ermöglichen und erfordern auf diese Weise eine Art von Kommunikation, wie sie für unsere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gesellschaft einmalig ist. Diese Art von Kommunikation eröffnet uns neue Denkräume, neue Erfahrungsmöglich- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: keiten. Kunst ist das Labor für die Energien der Fantasie, des freien, sich selbst reflektierenden Denkens. Das Re- Herr Kollege Koschyk, wollen Sie erwidern? gelwerk des Miteinanders, meine Damen und Herren, (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Nein!) gründet sich nicht zuletzt auf dieses Denken. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 151

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) Nun bin ich nicht nur die Beauftragte der Bundesre- besonders auffällige, aber keine besonders starke Seite (C) gierung für Kultur, sondern auch für Medien. Hier soll dieser Bundesregierung. eine Anmerkung genügen: Die Medien nehmen innerhalb (Widerspruch bei der SPD) des eben skizzierten Kontextes eine Doppelstellung ein. Sie sind einerseits Teil der Kultur, auch in dem Sinne, dass Dem ersten Beauftragten der Bundesregierung war das sie wesentlich zur Ausbildung von Subjektivität beitra- Amt nicht wichtig genug, um der Versuchung zu wider- gen, andererseits vermitteln sie Ausprägungen von Kul- stehen, bei der erstbesten Gelegenheit in einen scheinbar tur. Damit ist eines der Spannungsfelder benannt, inner- noch interessanteren Spitzenjob in der Medienwirtschaft halb dessen wir uns mit den Medien und damit natürlich zu wechseln. mit uns selbst auseinander setzen müssen. (Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto Was folgt aus diesen Überlegungen für mein Amtsver- [Frankfurt] [FDP]) ständnis? Ich möchte es so beschreiben: Regelwerke, Sein Nachfolger war dem Bundeskanzler nicht wichtig nicht nur juristische, sind auf Anwältinnen und Anwälte genug, um in dem Bundesland, aus dem er selbst kommt, angewiesen, damit sie ausgelegt werden und in Kraft blei- in Niedersachsen, eine Regelung mit der staatlichen ben können. In diesem Sinne sehe ich mich als Anwältin Hochschule, von der jener beurlaubt war, zur Sicherung für die Kultur. Zum Spektrum meiner „Anwaltspraxis“ einer späteren Laufbahn als Hochschullehrer sicherzu- gehört in erster Linie dreierlei: das Moderieren, das Reprä- stellen. sentieren – auch verstanden als Vertretung von Interessen – und ebenso „Missionieren“, das heißt das Werben, ver- Nun Christina Weiss. Ich begrüße Sie herzlich, Frau standen als Vermitteln von Kunst und Kultur und dem, Weiss. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand, insbe- was sie uns als Möglichkeitssinn eröffnen. Dass mich bei sondere aber die Hartnäckigkeit und das Durchsetzungs- der Verfolgung dieser Mission der Wirklichkeitssinn nicht vermögen, die Sie in einer Koalition brauchen werden, die verlässt und verlassen wird, dessen bin ich mir sicher, sich seit Jahren mit Ankündigungen sehr viel leichter tut auch dank der Bindung meines Amtes an dieses Haus. als mit der tatsächlichen Stärkung des Stellenwerts von Kunst und Kultur. Ich sprach von einem Regelwerk des Miteinanders. Beziehen möchte ich diese Leitideen auch ganz praktisch (Monika Griefahn [SPD]: Wir haben alles ab- auf die Kooperation mit anderen Ressorts. Kulturpoli- gearbeitet! – Jörg Tauss [SPD]: Sie waren vier tik muss ressortübergreifend gedacht werden – ich könnte Jahre abwesend, Herr Kollege!) auch sagen: grenzübergreifend. Bei der sprichwörtlichen kulturpolitischen Feinfühligkeit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Bundesfinanzministers werden Sie genug Schwierig- (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der keiten haben, den höchst bescheidenen Anteil Ihres (D) FDP) Teilressorts am Bundeshaushalt aufrechtzuerhalten, der in der Zeit Ihrer Amtsvorgänger übrigens von überschau- Beziehen möchte ich die genannten Ideen vor allem auch baren 0,4 Prozent auf ganze 0,3 Prozent des Bundeshaus- auf die Arbeit mit Ihnen hier im Parlament, im Ausschuss halts gesunken ist – bei gleichzeitiger Ankündigung eines für Kultur und Medien und in den anderen Ausschüssen dramatischen Anstiegs des Stellenwerts von Kunst und des Deutschen Bundestages. Es geht mir um eine Kultur Kultur. des miteinander Debattierens, aber auch des miteinander Entwickelns. Der Blick in die Koalitionsvereinbarung ist ebenso ernüchternd wie die heutige Regierungserklärung. Das Ich bin gespannt darauf, mich mit Ihnen auseinander zu gilt sowohl mit Blick auf die nationale Kulturpolitik als setzen und – davon gehe ich einfach aus – zu verstän- auch – vielleicht in noch stärkerem Maß – mit Blick auf digen. Verständigung suchen wir über Grundsätzliches, die auswärtige Kulturpolitik. Heute Morgen haben wir aber auch über sehr konkrete kultur- und medienpolitische dazu zwei, vielleicht drei Sätze gehört – einer so belang- Fragen. Lassen Sie uns aber in jedem Fall gemeinsam der los wie der andere. Gerhard Schröder hat hier heute Mor- Kultur, der geistigen Orientierung unserer Gesellschaft, gen vorgetragen, die Kulturpolitik sei für diese Bundesre- etwas mehr Gewicht verleihen! gierung nicht einfach eine angenehme Nebensache. Vielen Dank. (Zuruf von der SPD: So ist das!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nach dem, was er nicht vorgetragen hat, und nach dem, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der was auch in der Koalitionsvereinbarung dazu nicht zu fin- CDU/CSU und der FDP) den ist, muss man befürchten: nicht einmal das. Wer in der Koalitionsvereinbarung unter dem Stich- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wort „Kunst und Kultur“ nachschaut, findet eine An- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Lammert sammlung von deprimierend einfallslosen und lustlosen von der CDU/CSU-Fraktion. Formulierungen zu diesem Gegenstand. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Was in dieser Koalitionsvereinbarung neu ist, ist nicht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit richtig, und was richtig ist, ist nicht neu. Leider, Frau Beginn des rot-grünen Projekts ist die Kulturpolitik eine Weiss, haben wir auch von Ihnen außer einigen völlig 152 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. 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Dr. Norbert Lammert (A) unstreitigen Allgemeinplätzen über den Stellenwert von Sponsorentätigkeiten steuerlich berücksichtigt werden (C) Kunst und Kultur heute nichts dazu gehört, was Sie denn können, gemeinnützige Aktivitäten dagegen nicht, das an konkreten Vorhaben für diese Legislaturperiode in Ihr bliebe das große Geheimnis einer rot-grünen Koalition. Amt übernehmen wollen. (Jörg Tauss [SPD]: Die ganze Rede über das, (Zuruf von der SPD: Warten Sie doch mal ab!) was nicht ist!) Nun gibt es eine auf den ersten Blick aufregende, je- – Verehrter Herr Kollege Tauss, es würde uns etwas feh- denfalls elektrisierende Vokabel, die man in den wenigen len, wenn nicht auch diese Rede hauptsächlich durch Ihre Sätzen zur Kunst- und Kulturförderung in der Koalitions- Zwischenrufe bei gelegentlichen Interventionen des ge- vereinbarung nur schwerlich übersehen kann, und das ist meldeten Redners gekennzeichnet würde. die Prüfung auf die künftige Kulturverträglichkeit der (Jörg Tauss [SPD]: Ich danke Ihnen!) eigenen Politik, die Klausel zur Kulturverträglichkeit, mit deren Überwachung offenkundig die Beauftragte der Aber ich will mindestens zu Ihrer vorübergehenden Bundesregierung ausdrücklich ausgestattet werden soll. Beruhigung gerne Folgendes einräumen: Ich gehe aus- drücklich davon aus, dass kein Kulturpolitiker sowohl der (Günter Nooke [CDU/CSU]: Planfeststel- roten wie der grünen Fraktion an den Formulierungen der lungsverfahren!) Koalitionsvereinbarung und schon gar nicht an den Ab- Was von dieser Kulturverträglichkeitsklausel zu halten sichten des Finanzministers beteiligt war. Das strahlende ist, haben wir mit einer nun wirklich erstaunlichen Ge- Lächeln des Kollegen Barthel bestätigt diese freundliche schwindigkeit in den wenigen Tagen zwischen dem Ab- Vermutung. Dies entlastet in der Tat die Kulturpolitiker; schluss der Koalitionsvereinbarung und den ersten An- aber es zeigt den tatsächlichen Stellenwert von Kultur kündigungen des Bundesfinanzministers erlebt. Während und Medien in dieser rot-grünen Koalition. es in der Vereinbarung der Koalition noch lautet – ich zi- (Jörg Tauss [SPD]: Es zeigt unseren Einfluss!) tiere – „Wir werden auch in Zukunft die Vielfalt des En- gagements von Bürgerinnen und Bürgern in Vereinen ... Verehrte Frau Weiss, Sie treten ein Amt an, das mitt- nach Kräften unterstützen“, hat der Finanzminister einen lerweile, nach anfänglichem Streit, insbesondere zwi- Tag nach dem Abschluss dieser Koalitionsvereinbarung schen Bund und Ländern, mehr als zwischen den Parteien, erklärt, als Ausdruck der Verantwortung des Bundes für die För- derung von Kunst und Kultur – neben der Verantwortung (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: der Länder und Kommunen – als allgemein anerkannt gel- Geringe Halbwertzeit!) ten kann. was er sich unter einer tatkräftigen Unterstützung des En- (Jörg Tauss [SPD]: Prima!) (B) gagements von Bürgerinnen und Bürgern in Vereinen vor- (D) stellt: Er beabsichtigt die Streichung der Abzugsfähigkeit Sie werden im Deutschen Bundestag auf einen Ausschuss von Spenden von Unternehmen für gemeinnützige Orga- für Kultur und Medien treffen, in dem das gemeinsame nisationen und Verbände. Dies war ein Anschlag auf das Bemühen um die Förderung von Kunst und Kultur noch bürgerschaftliche Engagement in unserem Land. ausgeprägter als die Wahrnehmung der jeweiligen Rolle von Regierung und Opposition ist. Das soll, soweit es an (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) uns liegt, so bleiben. Die Umsetzung Ihres Vorhabens wäre die mutwillige Zer- Sie werden eine breite Unterstützung im Übrigen drin- störung der finanziellen Grundlagen ehrenamtlichen En- gend brauchen. Ich sage Ihnen heute für die CDU/ gagements in Hunderttausenden von gemeinnützigen Ver- CSU-Fraktion gerne zu: Sie werden sie auch bekommen, einen, Verbänden und Organisationen gewesen. Ihr Plan jedenfalls dann – allerdings auch nur dann –, wenn es war ein ganz unglaublicher steuerrechtlicher Salto mor- nicht nur um Allgemeinplätze, sondern auch um konkrete tale nach unserer gemeinsamen Kraftanstrengung zur No- Maßnahmen, um die Förderung von Kunst und nicht um vellierung des Stiftungsrechts und nach der Ermutigung die Selbstinszenierung von Politik geht. Es muss sich al- ehrenamtlichen Engagements durch eine famose, gran- lerdings vieles ändern, damit manches besser werden diose Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, kann. die mindestens in dieser Zielsetzung völlig einig war. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg (Vorsitz: Präsident Wolfgang Thierse) Tauss [SPD]: Jetzt loben Sie uns mal!) Im Übrigen war es auch eine schwer verständliche haushaltspolitische Dummheit; denn die auf diesem Wege Präsident Wolfgang Thierse: bestenfalls zu erreichenden zusätzlichen Steuereinnah- Ich erteile das Wort der Kollegin Monika Griefahn, men stehen in überhaupt keinem Verhältnis zu den sicher SPD-Fraktion. entgangenen Einnahmen der Vereine und Verbände, die diese Mittel dringend benötigen. Monika Griefahn (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Was ist jetzt Ihr Problem, Herr Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Staatsministerin, Kollege?) herzlich willkommen! Was es im Übrigen mit der Ermutigung bürgerschaft- Lieber Herr Lammert, Sie haben die Kulturverträg- lichen Engagements zu tun haben soll, dass eigennützige lichkeitsprüfung besonders erwähnt. Ich kann nur sagen: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 153

Monika Griefahn (A) An diesem Begriff und an der Tatsache, dass Sie die onsvertrag steht, „Voraussetzung einer offenen, gerechten (C) Hälfte Ihrer Redezeit dazu benutzt haben, darzustellen, und zukunftsfähigen Gesellschaft“. was hätte sein können, zeigt sich, dass unsere Kulturver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten träglichkeitsprüfung funktioniert. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kulturpolitik ist damit auch Gesellschaftspolitik par ex- DIE GRÜNEN) cellence, und Kulturpolitik hat damit viel größere und tie- Denn wir haben Einspruch erhoben. Ich kenne die gute fere Wirkungen, als ordnungspolitische Initiativen allein Praxis der Umweltverträglichkeitsprüfung: Wenn die sie erzielen könnten. Deshalb ist Kulturpolitik untrennbar Umweltpolitiker gesagt haben: „So geht das aber nicht; mit gesellschaftlichem, mit zivilem Engagement verbun- das ist nicht verträglich“, und gegen eine Sache angegan- den und ohne sie überhaupt nicht denkbar. Deshalb wol- gen sind, um sie zu korrigieren, dann war das ein gutes len wir sie weiter fördern. Deshalb ist die Steuerabzugs- Zeichen, dann war das Ausdruck der Bewältigung einer fähigkeit von Spenden ein wichtiger, zentraler Punkt Querschnittsaufgabe, wie sie nun auch die Ministerin und genauso wie das Stiftungsrecht, zu dessen Zustandekom- wir, die Ausschussmitglieder, zu erfüllen haben. men wir gemeinsam beigetragen haben. (Beifall bei der SPD – Dr. Norbert Lammert Dialogfähigkeit der Kulturen nach innen und außen ist [CDU/CSU]: Dürfen wir künftig regelmäßig auch Grundlage von Demokratie. Dabei helfen gerade mit weiteren Kamikazeaktionen rechnen, die Künste: Musik, Literatur, Theater, Film und zunehmend dann rechtzeitig dementiert werden?) neue Medien und die Vermengung der verschiedenen Ebenen in neuen Medien. – Wir können das Problem gemeinsam in bewährter Ma- nier lösen. (Beifall bei der SPD) Die letzten vier Jahre haben gezeigt, Herr Dr. Lammert, Deswegen werden wir besonders alle diese Verschrän- wie erfolgreich Kulturpolitik des Bundes sein kann. Die kungen unterstützen und darauf schauen, dass das in der Regierungskoalition hat 1998 einen mutigen und innova- Welt präsent ist. tiven Schritt getan, indem sie das Amt des Staatsminis- Wenn wir diese offene und gerechte Gesellschaft haben ters für Kultur und Medien eingerichtet hat. Die ersten wollen, sind unsere internationalen Kulturbeziehungen beiden Amtsinhaber – Michael Naumann und Julian und die auswärtige Kulturpolitik ein zentraler Bestand- Nida-Rümelin – haben, jeder auf seine Art, gemeinsam teil davon. Deshalb ist der viel zitierte Dialog der Kultu- mit uns, dem Parlament, in vier Jahren sehr viel geschafft ren ein Teil von Krisenprävention und wird immer wich- und angestoßen. Wir haben nämlich fast die gesamte Ko- tiger in den internationalen Beziehungen, auch in der (B) alitionsvereinbarung vom letzten Mal abgearbeitet – das (D) Außen- und Sicherheitspolitik. Das sehen wir immer wie- wissen Sie auch –: das Stiftungsrecht, ein neues Gedenk- der; wir müssen auch immer wieder dafür kämpfen. So er- stättenkonzept, viele Dinge wie zum Beispiel der Haupt- leben wir es gerade in Afghanistan, wo unsere aktiven stadtkulturvertrag, die Förderung der Buchpreisbindung Bemühungen, zum Beispiel Mädchenschulen einzurich- usw. Ich meine, wir brauchen uns nicht sagen zu lassen, ten oder Goethe-Institute wieder einzurichten, von vie- dass wir nichts gemacht hätten. len Seiten stark torpediert werden; denn dort gibt es (Beifall bei der SPD) Kräfte, die Mädchenschulen wieder schließen wollen. Es ist ein ganz wichtiger Punkt unserer Außen-, Bildungs- Die Kulturpolitik des Bundes hat Impulse gegeben und Kulturpolitik, dies voranzutreiben und damit auch und auch Debatten auf Länderebene und kommunaler Menschenrechte und die Fähigkeit, gleichberechtigt mit- Ebene belebt. Das ist ein wichtiger Punkt; denn dort war einander zu leben, zu vermitteln. die Kultur sozusagen noch mehr weggebrochen. Sie hat ferner die Stärke Deutschlands sichtbar gemacht: kultu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten relle Vielfalt in vielen Orten, von der Oper bis zur Sozio- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kultur, von München über die Lüneburger Heide bis nach Aber es gibt nicht nur die Goethe-Institute und die Berlin. Um diese Vielfalt und diese vielen Orte beneiden deutschen Schulen, auf die ich noch komme, sondern uns andere Länder sehr. Deutschland ist noch immer – bei auch die Deutsche Welle, die einen wichtigen Beitrag zur allen Sparmaßnahmen – eines der in diesem Bereich best- Demokratisierung, zum zivilgesellschaftlichen Wieder- ausgestatteten Länder. Dafür werden wir weiter und, wie aufbau in Afghanistan leistet. Das betrifft zum Beispiel ich meine, auch gemeinsam kämpfen. Das heißt, dass wir die Unterstützung beim Aufbau des Fernsehens mit Pro- die Prozesse in den Kommunen besonders begleiten wer- grammen in Dari und Paschtu. Auch das sind ganz prak- den, natürlich auch in Berlin. Das wird eine unserer Auf- tische Möglichkeiten, den Dialog der Kulturen zu fördern, gaben jetzt im Ausschuss sein. Demokratisierung und Menschenrechte voranzubringen. (Beifall bei der SPD) Auch das wird eine wichtige Aufgabe sein, für die wir uns aktiv einsetzen müssen, für die wir immer wieder werben Unser Ziel am Anfang dieser neuen Legislaturperi- müssen. Denn das sind die Dinge, die tatsächlich nach- ode ist es, die erfolgreiche Politik für Künstler und Kunst haltig da wirken, wo wir als Deutsche vor Ort vertreten fortzusetzen sowie den Dialog der Kulturen nach innen sind und Beziehungen zu den Menschen in anderen Län- und außen weiterzuführen. Kultur ist essenzieller Aus- dern knüpfen. druck der Gesellschaft, in der sie entsteht, in der sie wirkt und sich weiterentwickelt. Kultur ist, wie es im Koaliti- (Beifall bei der SPD) 154 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Monika Griefahn (A) Deshalb ist die Neuformulierung des Deutsche-Welle-Ge- Ich wünsche mir, dass Sie auch weiterhin im Ausschuss (C) setzes ein wichtiger Punkt in dieser Legislaturperiode, um so aktiv und kooperativ mit uns zusammenarbeiten und den Programmauftrag neu zu formulieren. mit der Ministerin all diese Dinge auf den Weg bringen. Ich wünsche uns eine wirklich konstruktive Zeit. Neben der Präsentation von Deutschland im Ausland stellen sich auch die Fragen des Kriseninterventions- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ radius, aber eben auch der Dialogstruktur, die ganz wich- DIE GRÜNEN) tig ist. Ganz nebenbei, Herr Koschyk hat sich immer sehr für die deutsche Sprache eingesetzt. Auch das ist ein wich- tiger Punkt, der dabei mitvermittelt wird. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wichtig sind auch die deutschen Auslandsschulen. Der Herr Kollege Otto ist schon da und hat das Wort. Sie sind Orte, an denen der Bezug zu Deutschland und sei- ner Kultur früh hergestellt wird. Hier entsteht Bindung an Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): unser Land und die Schüler und Schülerinnen in den deut- schen Schulen – ob sie nun aus Deutschland kommen oder Vielen Dank, Herr Präsident. Liebe Frau Weiss, auch aus dem jeweiligen Gastland – sind Botschafter für die Liberalen gratulieren Ihnen herzlich zur Übernahme Deutschland. Sie sind Botschafter für die Werte und für des Amtes und bieten Ihnen unsere konstruktive Zusam- die Normen, über die wir gerade hinsichtlich der Innen- menarbeit an. Der Kollege Funke aus Hamburg hat uns politik diskutiert haben: Menschenrechte, Demokratisie- von Ihrem segensreichen Wirken in Hamburg erzählt. Wir rung und Gleichberechtigung. Dies alles sind Ziele, die hoffen, dass es Ihnen hier in Berlin genauso gelingen wird. wir versuchen zu erreichen. Offen gesagt haben wir das Gefühl, dass Sie den Rück- Dafür haben wir in diesem und im nächsten Jahr zu- halt und die Unterstützung des Parlaments als Parteilose, sätzliche Gelder vorgesehen, die wir einsetzen wollen. die über kein Parlamentsmandat verfügt, brauchen. Je- Wir müssen mit den Ländern – auch dabei ist wieder die denfalls fällt es auf, dass von Ihren Wünschen, die Sie in Kooperation der Länder notwendig – darüber diskutieren, Ihren Berufungsverhandlungen mit dem Bundeskanzler wie wir vor Ort die Standards organisieren. Das ist natür- geäußert haben, kein einziger erfüllt worden ist. Insbe- lich ein wichtiger Punkt, damit nicht auf einmal die Län- sondere haben Sie keine Zuständigkeit für die Goethe- der die Anerkennung von Abschlüssen infrage stellen, Institute und die auswärtige Kulturpolitik erhalten. Sie ha- ben nicht die Zuständigkeit für den Denkmalschutz (Beifall bei Abgeordneten der SPD) erhalten und zu meinem großen Bedauern auch keine ein- sondern damit wir weiterhin die Möglichkeit haben, auch heitliche Zuständigkeit für die Medienpolitik bekommen. bei größerem Anteil von örtlichen Schülern und orts- (B) ansässigen Kräften, die Abschlüsse zu gewährleisten. Viel schlimmer noch, die aktuellen Koalitionsbe- (D) schlüsse im Koalitionsvertrag fördern nicht die Kultur, son- Die Wahrnehmung Deutschlands als Kultur- und Wirt- dern sie schwächen sie. Da gab es den, wie Sie, Frau Weiss, schaftsnation – ganz klar beides – ist das Entscheidende sagten, unglücklichen Plan, die Spendenabzugsmöglich- und der Punkt, von dem aus wir agieren müssen. Dazu keiten nach § 9 Körperschaftsteuergesetz zu streichen. gehört zum Beispiel – auch das werden wir in dieser Le- gislaturperiode vorlegen – ein novelliertes Filmförde- ( [FDP]: Unerhört!) rungsgesetz. Hier geht es darum, den europäischen Film Der Plan ist jetzt erst einmal zurückgestellt. Warten wir und damit auch den deutschen Film als Kulturgut zu be- den 2. Februar 2003 ab. Aber ich frage mich: Welcher wahren, ihn zu exportieren und als Teil von Europa zu prä- Geist steckt hinter einer solchen Überlegung? Es ist je- sentieren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir auch denfalls kein Beitrag zu einer Zivilgesellschaft, wenn mit der Buchpreisbindung deutlich gemacht haben. Lite- Spenden an gemeinnützige Organisationen bestraft wer- ratur, Bücher und eben auch Filme sind nicht nur Wirt- den, während – Kollege Lammert hat schon darauf hinge- schafts-, sondern auch Kulturgüter. Das ist ein Punkt, den wiesen – die eigennützigen Sponsoringbeiträge weiterhin wir deutlich machen müssen. steuerlich abgesetzt werden können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Glaubt denn irgendjemand, dass man Spender und Mä- Kollegin Griefahn, Sie haben Ihre Redezeit überzogen. zene mit solch abenteuerlichen Plänen motivieren kann, Kommen Sie bitte zum Ende. mehr als bisher für Kunst und Kultur zu leisten? Was wir brauchen, sind bessere steuerliche Rahmenbedingungen, nicht schlechtere und schon gar keine Verunsicherung der Monika Griefahn (SPD): potenziellen Spender. Ja gut, ich komme zum Schluss. – Das heißt, wir haben Ich möchte mich aber hauptsächlich einem anderen eine Menge zu tun. Thema zuwenden. Ich empfinde es geradezu als Kata- (Zurufe von der CDU/CSU: Ja!) strophe für Kunst und Kultur, insbesondere für den Kunst- handel, dass es einen weiteren Plan unseres Pinocchio Wir haben schon viel gemacht. Aber wir existieren erst Eichel gibt, der nicht zurückgezogen, sondern beschlos- seit vier Jahren, Sie haben das vorher nicht gemacht. sen worden ist. Auf Seite 71 des Koalitionsvertrages (Beifall bei Abgeordneten der SPD) findet sich folgender salbungsvolle Satz: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 155

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Der Mehrwertsteuersatz im Kulturbereich muss erhal- Präsident Wolfgang Thierse: (C) ten bleiben. Ich erteile dem Kollegen Günter Nooke von der CDU/ Die linke Hand, die Kulturhand, weiß offensichtlich nicht, CSU-Fraktion das Wort. was die rechte Hand, die Steuerhand, tut; denn auf Seite 19 desselben Papiers steht scheinheilig Folgendes: Jörg Tauss [SPD]: Das ist der neue Kulturmi- nister!) Wir werden den Abbau ungerechtfertigter ... Steuer- vergünstigungen konsequent fortführen. Günter Nooke (CDU/CSU): Was bedeutet das, meine Damen und Herren? Inzwi- schen wissen wir es. Der ermäßigte Umsatzsteuersatz für Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Kunst- und Sammlungsgegenstände soll von bisher 7 Pro- ren! Zunächst, Frau Staatsministerin, auch von mir als zent auf 16 Prozent angehoben werden. Sprecher für Kultur und Medien herzlichen Glückwunsch zum Amtsantritt. Sie treten ein Amt an, das mit einer (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Vorbehalt- großen Hypothek belastet ist. Die Erwartungen der ein- lich der Kulturverträglichkeit!) schlägigen Szene sind umso größer. – Ja, vorbehaltlich der Kulturverträglichkeit. – Meine Da- Leider wurde das Amt von den bisherigen Inhabern ein men und Herren, das ist die Logik des Koalitionsvertra- bisschen als Durchlauferhitzer verstanden oder – besser ges. Ich möchte einmal sehen, was dabei herauskommt. gesagt – missverstanden. Das hat dem Amt nicht gutgetan. Das eine, Frau Kollegin Griefahn, konnten Sie heraus- Ich kann nur hoffen, dass Sie das besser machen und die schießen, das andere offensichtlich noch nicht. Dem Kultur im Rahmen Ihrer Amtsausführung mit größerer Kunsthandel wird an der einen Stelle versprochen, dass Verlässlichkeit fördern. der ermäßigte Steuersatz erhalten bleibt – daraufhin sind die meisten der Händler beruhigt –, und einige Seiten vor- Das Wichtigste ist doch, dass wir hier für dieses Land her wird in demselben Papier das Gegenteil festgelegt. arbeiten und dass das, im Gegensatz zu Ihren Vorgängern, (Ernst Burgbacher [FDP]: Unerhört!) als ehrenvolle Aufgabe angesehen wird. Bei Herrn Naumann und Herrn Nida-Rümelin kritisiere ich nicht Das Finanzministerium, unser Freund Eichel, beziffert den Mangel an Engagement, aber was Ihren Vorgängern die Steuermehreinnahmen aus der genannten Mehrwert- doch nachgesagt werden muss, ist etwas, was auch mit steuererhöhung bis zum Jahre 2006 locker auf 200 Milli- Kultur zu tun hat, nämlich ein Mangel an Patriotismus, onen Euro. Mehr, meine Damen und Herren, können Sie dem Kunsthandel und den Künstlern in Deutschland (Lachen bei der SPD) wirklich nicht schaden. für den man sich gerade als für Kultur Verantwortlicher in (B) (D) Frau Weiss, Sie sagten, entscheidend sei die Haltung Deutschland wohl nicht schämen sollte. und Wertschätzung gegenüber Künstlern. Ich frage mich Das Angebot der konstruktiven Mitarbeit vonseiten in der Tat, welche Haltung und Wertschätzung gegenüber der Opposition will auch ich Ihnen hier machen. Ich tue Künstlern dadurch zum Ausdruck kommt. das umso lieber, wenn Sie sich die Anträge und Vor- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schläge der Union zu Eigen machen, in denen wir uns bemühen werden, die überzeugenderen Lösungen anzu- Frau Weiss, die liberale Opposition möchte Sie gern un- bieten, wie wir das schon in den vergangenen vier Jahren terstützen. Wenn Sie gegen diese kultur- und kunstfeind- gemacht haben. lichen Pläne vorgehen, dann werden Sie uns an Ihrer Seite finden. Unter den vielen nicht ganz zu Ende gedachten, wenig überzeugenden und von vornherein korrekturbedürftigen Gestatten Sie mir abschließend noch eine kurze Anre- gung. Frau Weiss, Sie tragen den Titel einer Staatsminis- Papieren zur Kulturpolitik der Koalitionsfraktionen, mit terin für Kultur und Medien. Ihr Hauptinteresse liegt an- denen Sie sich in den vergangenen Jahren auch im Aus- gesichts Ihrer bisherigen Tätigkeit sicherlich im Bereich schuss für Kultur und Medien beschäftigten, gehört der der Kultur. Bedenken Sie aber bitte, dass der weit größere Koalitionsvertrag nun wirklich zu den schwächsten Tex- Reformbedarf in der Medienpolitik liegt. Wir brauchen ten. dringend eine umfassende Reform der Medien- und Kom- Mein Eindruck, dass diese Worte zur Kultur eine munikationsordnung. Das bisherige Regelungs- und Zu- Sammlung von Selbstverständlichkeiten, Wünschen und ständigkeitsdickicht ist antiquiert und muss geliftet wer- kostenlosen Versprechungen an die Klientel sind, wurde den. durch das, was Sie hier gesagt haben und was der Bun- (Jörg Tauss [SPD]: Unserem Antrag haben Sie deskanzler heute Vormittag gesagt hat, leider bestätigt. nicht zugestimmt!) Das wäre nach den vielen Enttäuschungen dieser Art mit einem eben noch vertretbaren Maß an Gleichmut hin- Nehmen Sie sich auch dieses überfälligen Reformprojekts nehmbar. Wenn sich aber schon knapp 24 Stunden nach an. der Unterzeichnung herausstellt, dass Ihre Ministerkolle- Auf eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen! Wir freuen gen – vor allem der Finanzminister – den Text ohnehin nur uns darauf. als unverbindliche Empfehlung ansehen und sich ihn eben nicht zu Eigen machen, dann muss schon die Ernsthaftig- Danke schön. keit der Aussagen, die Sie hier treffen und die Sie zu Pa- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) pier gebracht haben, infrage gestellt werden. 156 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Günter Nooke (A) Ich will einmal eine Aussage, die den Mehrwertsteu- len Filmförderung verabschieden will, indem er die (C) ersatz im Kulturbereich betrifft, zitieren: Kompetenzen an die Filmförderungsanstalt abgibt. Das ist eine Idee, wie sie unnötiger und unsinniger kaum sein Der Mehrwertsteuersatz ... muss erhalten bleiben. könnte. Sie gehört in die Kategorie „Probleme, die die Was heißt denn das? An wen richtet sich eigentlich das Welt nicht braucht“, könnte man sagen. Besonders bizarr Wort „muss“? Diese Forderung klingt wie eine Selbstver- wirkt es, dass die bedachte Filmförderungsanstalt das Ge- pflichtung. Dass sie aber wie ein frommer Wunsch be- schenk überhaupt nicht haben will. handelt wird, dürften die Kulturpolitiker leidvoll bemerkt All die anderen Dinge will ich gar nicht aufzählen. Der haben, und zwar schneller, als sie es selbst wahrhaben schwache Punkt dieser Koalitionsvereinbarung – das will wollten. ich hier nur noch einmal zusammenfassend sagen – ist: Es Über die Spendenabzugsfähigkeit haben wir gerade fehlt an belastbaren, konkreten Aussagen zur Kulturför- gesprochen. derung für die nächsten Jahre. Die Erfindung der Kulturverträglichkeitsklausel ist Einen anderen Punkt möchte ich auch noch anspre- übrigens auch nur solch ein kostenloses Versprechen, und chen. Sie haben hier fernab der Wirklichkeit auch philo- dazu noch eines, das die Kulturszene selber einlösen sophische Dinge besprochen und uns gebeten, die Anbin- muss. Nicht einmal die Prüfung wird bezahlt; Sie lassen dung an die Realität zu organisieren. Doch Kultur – da sie durch den Protest der Öffentlichkeit auch noch die Öf- sind wir uns einig – hat nicht nur mit Geld zu tun. Inso- fentlichkeit und die Klientel selber machen. fern will ich diesen Faden gerne aufnehmen. Es ist näm- lich auch über eine Aufgabe zu reden, die im Koalitions- (Beifall bei der CDU/CSU) vertrag nicht erwähnt wird, die aber uns als Kultur- und Schöner hätte der operative Nutzen dieser Klausel kaum Medienpolitiker beschäftigen muss und künftig auch stär- demonstriert werden können. ker beschäftigen wird. Die Medien – die alten wie die neuen – sind nicht nur ein wachsender Wirtschaftsfaktor. Weder das Papier noch der bisherige Umgang der Ko- Vielmehr haben sie auch einen großen Anteil an der kul- alitionäre damit geben ein Zeichen an die Kultur, das sie turellen Entwicklung und an der gesellschaftlichen und vielleicht am nötigsten braucht, nämlich ein Zeichen der auch nationalen Identität. Ob bewusst oder unbewusst, Verlässlichkeit. Wenn es der Politik schon nicht möglich beabsichtigt oder unbeabsichtigt tragen sie dazu bei, das ist, „Probleme mit Geld zuzukleistern“, wie Sie gesagt zu erzeugen, was jeder Einzelne als sein Bild von der Welt haben, dann sollten Sie vor allem eines vermeiden, näm- bezeichnet. Presse und elektronische Medien vermitteln lich neue Probleme durch Unzuverlässigkeit zu verursa- das, was die Gesellschaft als Realität annimmt. chen. Kultur braucht vor allem Verlässlichkeit. (B) Mit diesem Phänomen haben wir uns viel stärker als (D) Im Koalitionsvertrag wird festgestellt, dass Kultur im- bisher auseinander zu setzen. Denn die Wirklichkeit wird mer wichtiger werde. Das ist schön gesagt und leicht ge- über Medien wahrgenommen, ohne dass diese uns Instru- schrieben, und man hat den Eindruck, dass hinter der For- mente überlassen, mit denen ein Wahrheitsgehalt festge- mulierung der naive Glaube steckt, dass sich bei so großer stellt werden könnte. Wir können also nur annehmen, dass Wichtigkeit bei allen die Einsicht einstellt, an der finan- das, was uns vermittelt wird, die Realität ist. Sicherer kön- ziellen Ausstattung nicht mehr weiter zu kürzen. Aber nen wir nur werden, wenn wir Kompetenz haben, wenn auch dazu gibt es kein Wort von Ihnen. Sie haben nicht wir gelernt haben, mit Fiktion und Realität gleichermaßen einmal die Themen aufgezählt – Frau Griefahn hat das im- kritisch umzugehen. merhin getan –, geschweige denn gesagt, wie viel Sie wo tun wollen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen aber wei- Mir geht es in diesem Zusammenhang deshalb um ter und in wachsendem Maße auseinander; denn es stehen zweierlei: auch im Haushalt 2003 weniger Mittel für Kultur zur Ver- Erstens muss auch die Kultur- und Medienpolitik deut- fügung, und das bei nun angekündigtem größeren En- licher als bisher die Bedeutung der Medienkompetenz in gagement, zum Beispiel bei den Stätten des Weltkulturer- den Vordergrund stellen und zum selbstverständlichen bes und in Berlin. Bestandteil der kulturellen Bildung machen. Über das Engagement des Bundes in der Hauptstadt Zweitens müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, heißt es, es werde erhalten und ausgebaut. So mutig das was es für unser Bewusstsein bedeutet, dass Fiktion zur Reden vom Ausbau auch erscheinen mag: Wir hätten es Realität wird, wie zum Beispiel beim Terroranschlag auf – das ist hier schon mehrfach gesagt worden – gern etwas das World Trade Center geschehen, das als Science-Fic- genauer gewusst. Zum anderen übersieht die Formulie- tion vorformuliert existierte. rung, dass es in erster Linie an der Gestaltung des Ver- hältnisses zwischen Bund und Land mangelt; denn der Dabei geht es nicht nur um das Bewusstsein des Einzel- Hauptstadtkulturvertrag genügt aus einer ganzen Reihe nen, sondern auch darum, das Bewusstsein einer Nation zu von Gründen nicht den Ansprüchen, die Berlin – als Bun- bilden, wie der Film „Baader“ von Christopher Roth im deshauptstadt wie als Land – und der Bund zu Recht stel- Sommer dieses Jahres exemplarisch gezeigt hat. Fiktion len. Wir werden im kommenden Jahr über die Neufassung und Wirklichkeit, Imitation und Tatsachen werden hier in dieses Hauptstadtkulturvertrages reden müssen. einer unschlüssigen Halbdistanz ununterscheidbar. Je bes- ser die Erfindungen in das linke Klischee passen, desto Weitere Beunruhigung entsteht auch, wenn der Koali- leichter ist Glaubwürdigkeit herzustellen. Das Tragen eines tionsvertrag vorsieht, dass sich der Bund aus der kulturel- T-Shirts mit RAF-Symbolen ist nicht länger politisch, Herr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 157

Günter Nooke (A) Umweltminister. Es ist nur noch in oder out. Politik wird Selbstverständlich wollen wir den Weg, den wir beispiels- (C) zum Zitat, Klassenkampf zum Kult: „Prada Meinhof“. Ich weise mit dem Ausstieg aus der Atomenergie glaube, auch darüber lohnt es sich zu sprechen. eingeschlagen haben, fortsetzen. Die RAF war davon überzeugt, Geschichte machen zu (Beifall des Abg. Dr. Ernst Ulrich von können, ein Geschäft, das die Medien mittlerweile sou- Weizsäcker [SPD]) verän und gut beherrschen. Wir werden in diesen vier Jahren das Ende der Transporte in die Wiederaufarbeitung organisieren. Die Kraftwerke Präsident Wolfgang Thierse: in Stade und Obrigheim werden vom Netz gehen. Dies Herr Kollege Nooke, Sie müssen bitte zum Ende kom- alles dürfte uns weiter in unseren Debatten begleiten. men. Wenn Sie den Koalitionsvertrag und das dort festge- legte Programm anschauen, dann werden Sie etwas Neues Günter Nooke (CDU/CSU): finden. In Kap. V der Koalitionsvereinbarung finden Sie im Hinblick auf die Umwelt-, Verkehrs- und Energiepoli- Ja. – Der Weg von den wirklichen Ereignissen zur his- tik erstmalig im Kern zusammengefasst, was wir unter ei- torischen Kolportage ist kürzer geworden. Bei der Kol- ner nachhaltigen Politik verstehen: Wir wollen Umwelt- portage geht es nicht mehr um historisch-kritische Refle- politik nicht auf technischen Umweltschutz beschränken, xion oder gar um die politische Wahrheit. Die jüngste sondern ganz bewusst auch die Aspekte der Verkehrs- Zeitgeschichte wird aus dem historischen Kontext gelöst. und Energiepolitik einordnen. In diesem Zusammenhang wird es besonders wichtig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sein, darüber zu diskutieren, wie wir im Rahmen der Er- und bei der SPD – Abg. Hubert Ulrich [BÜND- innerungs- und Gedenkstättenkultur mit der Interpre- NIS 90/DIE GRÜNEN] stößt gegen die Ver- tation der NS- und der SED-Diktatur umgehen. Ich würde blendung seines Sitzplatzes, die daraufhin zu mir wünschen, dass sich der Bund engagiert, wenn es zum Boden fällt) Beispiel am 9. November darum geht, hier in Berlin den Weg zu einer Mauergedenkstätte einzuschlagen und die- – Ja, es ist die Agrarpolitik. Nein, Entschuldigung, Uli, ich sen Tag als einen zu entdecken, der nicht nur das Land nehme es zurück. Berlin, sondern auch uns auf Bundesebene betrifft. Präsident Wolfgang Thierse: Präsident Wolfgang Thierse: Der junge Kollege ist noch etwas heftig. (B) Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen. (D) Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- Günter Nooke (CDU/CSU): schutz und Reaktorsicherheit: Jawohl, Herr Präsident, ich komme zum Schluss und Er ist aber nicht der Erste, dem das passiert ist. sage: Es wäre gut, wenn wir uns gemeinsam darüber ver- ständigten, dass es in der Kulturpolitik richtig ist zu sagen Meine Damen und Herren, ich möchte zu drei Dingen – dieser Satz hat ja im Vorfeld dieser Debatte eine gewisse etwas sagen. Erstmalig sind wir im Bereich der ökologi- Rolle gespielt –: Es ist Zeit für Taten und nicht nur für schen Finanzreform nicht nur darangegangen, stärker schöne Worte. für Gerechtigkeit beim Abbau von Subventionen zu sor- gen, sondern wir haben darüber hinaus auch ökologische Danke schön. Signale gesetzt. (Beifall bei der CDU/CSU) Ist es wirklich sinnvoll, dass beispielsweise bei der Be- steuerung mit Umsatzsteuer das Fliegen besser gestellt Präsident Wolfgang Thierse: wird als der Erwerb von Nahrungsmitteln? Während für den Erwerb von Nahrungsmitteln nur der halbe Mehr- Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen wertsteuersatz galt, musste beim Fliegen bisher gar keine liegen nicht vor. Mehrwertsteuer gezahlt werden. Dies war insbesondere Wir kommen damit zum Themenbereich Umwelt. im Vergleich zu einem anderen Verkehrsträger, nämlich der Bahn, unvernünftig, weil das ökologisch vorteilhafte Das Wort hat Bundesminister Jürgen Trittin. Verkehrsmittel höher besteuert wurde als das ökologisch unzweifelhaft nachteiligere. Das korrigieren wir mit un- Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- serem Ansatz. schutz und Reaktorsicherheit: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir und bei der SPD) zum Auftakt der 15. Wahlperiode über die Umweltpolitik Ich frage die Kommunalpolitiker, ob es in Zeiten knap- in den nächsten vier Jahren sprechen, dann wird Ihnen ei- per Kassen wirklich sinnvoll gewesen ist, diejenigen, die niges bekannt vorkommen. Wohneigentum aus dem Bestand erworben haben – das (Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] ist verkehrs-, kommunal- und auch steuerpolitisch ver- [CDU/CSU]: Das stimmt!) nünftig gewesen –, für dieses vernünftige Verhalten zu 158 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Bundesminister Jürgen Trittin (A) bestrafen, indem sie nur die halbe Eigenheimzulage erhiel- Präsident Wolfgang Thierse: (C) ten, während diejenigen, die auf der grünen Wiese neu ge- Ich erteile dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU- baut haben, die volle Eigenheimzulage bekamen. Auch hier haben wir in der Koalitionsvereinbarung gezeigt, wie man Fraktion, das Wort. auch in der Steuerpolitik umweltpolitisch umsteuern kann. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN]: Der Lippold ist wieder im und bei der SPD) Amt! Das ist toll!) Ich will ein drittes Beispiel nennen. Wir wollen das fortsetzen, was wir mit dem Erneuerbare-Energien- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Gesetz auf den Weg gebracht haben. Wir wollen für die Es hätte euch etwas gefehlt, oder? Offshore-Windanlagen in den nächsten Jahren ein gro- ßes Ausbauprogramm auflegen und den Weg zur ökologi- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- schen Modernisierung der Energiepolitik fortsetzen. ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesmi- nister, Sie haben Kioto zu Recht angesprochen. Ich Wir wollen das aber nicht nur in Deutschland machen komme gleich im Detail darauf zu sprechen, aber einlei- – deswegen haben wir das Marktanreizprogramm für tend muss etwas gesagt werden: Ich kann Ihnen nicht an- die erneuerbaren Energien vor die Klammern gezogen –, kreiden, dass Sie hier wenig gesagt haben, weil Ihre Re- sondern wir wollen das auch international unterstützen. dezeit hier offensichtlich begrenzt war. Es wäre unfair, Das ist der Grund, warum wir uns dazu verpflichtet haben, dies zu tun. nicht nur eine große Konferenz zu erneuerbaren Energien in den nächsten Jahren durchzuführen, sondern auch eine (Horst Kubatschka [SPD]: Die ist immer be- halbe Milliarde Euro allein dafür in die Hand zu nehmen, grenzt! Auch Ihre Redezeit ist begrenzt!) dass erneuerbare Energien in den Entwicklungsländern Wir werden eine Reihe von anderen Positionen später eine Zukunftschance erhalten. So packen wir drei Dinge miteinander ausmachen müssen. zusammen: Armutsbekämpfung, Klimaschutz und ein Stück Standortpolitik für eine wachsende Branche in Ihr Bundeskanzler hatte heute eigentlich hinreichend Deutschland. Zeit, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Hat er die und bei der SPD) genutzt?) Eine letzte Bemerkung: Ich wünsche mir für die etwas zur Umwelt zu sagen. Aber außer einer beiläufigen nächste Klimakonferenz vom gesamten Haus die Unter- – ich würde fast sagen: abfälligen – Bemerkung zum (B) stützung, die wir beim Kioto-Protokoll erfahren haben. Umweltschutz hat er überhaupt nichts dazu gesagt. (D) Wir stehen am Vorabend der Konferenz in Neu-Delhi vor der Situation, dass wir darüber neu verhandeln müssen, (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das war eine wie es weitergehen wird, wenn die erste Verpflichtungs- Null-Nummer!) periode 2012 endet. Schon jetzt beginnen die Ansagen für Diese Thema ist von ihm systematisch nicht beachtet die Zeit danach. worden, was dafür spricht, Herr Bundesminister, dass Sie Wir haben mit der Koalitionsvereinbarung ein interna- bei diesem Bundeskanzler nicht die Unterstützung haben, tional klares Signal gesetzt: Deutschland will weiter sei- die Sie brauchen, um international wirklich durchstoßen ner Rolle als Vorreiter beim Klimaschutz gerecht wer- zu können. Darauf kommt es aber letztendlich an. den. Wir sind bereit, wenn andere diesen Weg mitgehen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Vorreiter heißt nämlich nicht Stellvertreter –, bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Das heißt, wir Sie können sicher sein, Herr Minister, dass wir Ihnen werden das, was wir bisher erbracht haben, faktisch noch für das, was auf der Konferenz in Delhi anzustreben ist, einmal verdoppeln. genauso Rückendeckung zusagen, wie wir dies seinerzeit für Kioto gemacht haben, weil wir konstruktive Kritik und Unser Angebot zur Klimaschutzpolitik ist: Wir wollen keine negative Kritik üben. international gemeinsam mit den Europäern, mit den In- dustrieländern und – ich füge hinzu – auch mit bestimm- Der Sachverhalt ist aber der, dass man sich hier mit der ten Schwellenländern ein entsprechendes Signal setzen. Klimaschutzpolitik der Bundesregierung auseinanderset- zen muss. Wie sieht diese aus? Sachverhalt ist doch – ich Ich würde mich freuen, wenn wir dieses Haus jenseits al- komme auf Versäumnisse in Ihrer Koalitionsvereinbarung len Streites, den wir immer wieder in dieser Frage haben später noch detailliert zu sprechen –, dass Sie bei den ver- werden, lieber Kollege Lippold, auf dem Weg des Klima- gangenen Konferenzen immer mit dem Minderungsziel schutzes und der gemeinsamen Zielsetzung für die Bundes- von minus 25 Prozent bis 2005 durch die Gegend gezogen republik Deutschland auch weiterhin so gemeinsam vertre- sind, welches wir aufgestellt haben, dass Sie gleichzeitig ten können, wie wir das zum Beispiel beim Kioto-Protokoll mit der Minderungsrate, die wir bei Kohlendioxidemis- gemacht haben. Ich glaube, an dieser Stelle können wir auf sionen für Sie erreicht hatten, überall Eindruck geschun- das, was wir gemeinsam erreicht haben, stolz sein. den haben und jetzt unter Ihrer Regentschaft, wo Ihre Po- Vielen Dank. litik zu wirken anfängt, die Kohlendioxidemissionen steigen, Herr Minister. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 159

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) Dies müsste Sie eigentlich nachdenklich machen, aber sen den Entwicklungsländern einen Zuwachs an Ener- (C) nicht nur nachdenklich, sondern dies müsste Sie auch gieverbrauch gönnen; ich glaube, das ist unstrittig. Bei wesentlich selbstkritischer machen. Wenn Ihre Politik dem Verbrauch, den wir haben, können wir andere nicht wirklich so erfolgreich wäre, wie Sie tun und Sie dies in von der Verbesserung ihres Lebensstandards abhalten. Nebensätzen immer wieder sagen, würden die Kohlen- Auf der anderen Seite ist unbestreitbar notwendig – ich dioxidemissionen doch nicht wieder steigen. Ich könnte bitte Sie, sich dafür einzusetzen –, dass wir die Schwel- dies ja noch verstehen, wenn wir eine boomende Wirt- lenländer in Delhi mit ins Boot bekommen; denn ohne die schaft hätten, die aus allen Nähten kracht, weil die Pro- Schwellenländer werden wir das Klimaproblem, das ich duktion läuft, die Leute sich des Lebens freuen, das Leben für das gravierendste Umweltproblem überhaupt halte, genießen und dabei die Emissionen steigen. nicht lösen können. Da ist jetzt Ihr Geschick gefragt. Ich Sie aber sind doch gar nicht in der Lage, die Wirtschaft habe manchmal das Gefühl, dass Sie jenseits der Kern- boomen zu lassen. Die katastrophale Lage der Wirtschaft energiediskussion zu Hause nicht den nötigen Nachdruck und am Arbeitsmarkt, die Abnahme von Beschäftigung und auf internationale Verhandlungen legen und dieses Thema die Zunahme von Arbeitslosigkeit sind doch alles Faktoren, nicht entsprechend vertreten. Deshalb appelliere ich an die eigentlich dazu beitragen, dass die Emissionen sinken Sie, Ihre Strategie und Ihre Vorgehensweise zu ändern. und nicht steigen. Trotz dieses Trends schaffen Sie es nicht, Genauso erwarte ich von Ihnen, dass Sie in Zukunft im die Emissionen weiter sinken zu lassen, das, was wir auf den europäischen Umweltschutz mehr Engagement zeigen, Weg gebracht haben, deutlich weiter nach vorn zu schieben. statt bei den gelegentlichen Umweltschutzvorstößen aus Europa bundesrepublikanisch noch draufzulegen und un- Deshalb verstehe ich auch, Herr Trittin, dass sich eine sere Wettbewerbsfähigkeit zu verschlechtern. explizite Formulierung des 25-Prozent-Ziels, das Sie bis zum Jahre 2005 erreichen wollen, nicht in Ihrer Koaliti- (Beifall des Abg. Dr. Peter Paziorek onsvereinbarung findet. Dies haben Sie ganz schamhaft [CDU/CSU]) unter den Tisch fallen lassen. Eine der Grundlinien, die wir vertreten, ist, den Um- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – weltschutz mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitik Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wie vieles an- und einer Politik, die arbeitsmarkt- und arbeitsplatzorien- dere!) tiert ist, zu verbinden. Da hilft auch nicht das Ablenkungsmanöver, dass Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in fernen 20 Jahren um 40 Prozent reduziert haben wol- neten der FDP) len. In 20 Jahren, Herr Minister, sind die Dinge alle ge- Herr Trittin, was Sie gerade in Sachen Eigenheimzulage gessen. (B) gesagt haben, ist in dieser Frage völlig kontraproduktiv. (D) (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich sage es einmal so: Auch Ihre Baupolitiker schwelgen NEN]: Schön wäre es!) ja immer in der Vorstellung, dass man jungen Familien mehr Wohnraum zu vernünftigen Preisen usw. anbieten Den vernünftigen Einstieg brauchen wir jetzt. muss. Aber jetzt an der Eigenheimzulage so herumzu- Mit Blick auf Delhi muss man aber sagen, dass das, basteln, wie Sie es tun, ist falsch, vor allem wegen der ne- was wir bis zum Jahre 2005 erreichen wollen, die Basis gativen Folgen. ist. Wenn ich den ersten Teil des Gebäudes nicht ordent- Unsere Vorstellungen im Klimaschutzbereich waren lich baue, brauche ich mir über die erste Etage keine Ge- ganz klar. Ich bedaure, dass wir sie jetzt nicht umsetzen danken mehr zu machen. Das Fundament und das Erdge- können. Der Punkt ist, dass im Altbaubestand, wo in Be- schoss müssen richtig gebaut sein. Dies verpassen Sie im zug auf die Klimapolitik das erheblichste Potenzial für die Moment aber. Sie schlampen in der Grundfrage der Re- Reduktion von Kohlendioxidemissionen liegt, mit steu- duktion der Kohlendioxidemissionen. Auch bei den ande- erlichen Anreizen gearbeitet werden muss. Wir haben da ren Klimagasen haben Sie nicht zugelegt. Dies heißt also: ganz klare Vorstellungen entwickelt. Fehlanzeige auf der ganzen Linie. Ich habe diese Passage mit den steuerlichen Zuschüs- Dies finde ich bedauerlich, denn wer draußen wirken sen oder steuerlichen Anreizen jetzt bei Ihnen wiederent- will – und das wollen Sie in Delhi –, der muss zu Hause deckt, Herr Trittin. Ich sage Ihnen zu: Wenn Sie zu dem Erfolge vorzeigen, wie Sie früher immer richtig gesagt ha- Thema steuerliche Anreize dynamisch etwas wirklich ben. Dies können Sie aber vor dem Hintergrund, wie ich Profundes mit entsprechender Stoßkraft vorlegen, werden ihn gerade skizziert habe, nicht. wir Sie unterstützen. Das ist gar keine Frage; denn das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wäre produktiv in dem Sinne, dass mit einer Maßnahme sowohl Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden Ich sage ganz offen, Herr Minister, dass es vor diesem könnten und gleichzeitig etwas für den Umweltschutz ge- Hintergrund schwer ist, andere zu überzeugen. Es ist not- tan würde. Das ist eine Politik, wie ich sie mir vorstelle. wendig, dass in Delhi jetzt weitere möglichst konkrete Vorentscheidungen fallen, wie es über das Jahr 2012 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hinaus weitergehen soll. Es wäre ausgesprochen wichtig, neten der FDP) dass wir in dieser Richtung jetzt klar von Ihnen hören, wo Aber das haben Sie nur schwach angedeutet. in Zukunft die Minderung liegen soll, wie Sie sich insbe- sondere die Zusammenarbeit mit den Entwicklungs- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Er hat ja ländern und den Schwellenländern vorstellen. Wir müs- auch kein Geld dafür!) 160 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) Diese Positionen müssten bei Ihnen besser dargestellt sein, Die Nachlässigkeit, mit der Sie diese Dinge gestrickt ha- (C) sonst ergeht es Ihnen in dieser Frage so wie bei den natio- ben, werden Sie noch aufzuarbeiten haben. Andere Länder nalen Nachhaltigkeitsstrategien. Die entsprechenden Ziel- wie die Niederlande oder England haben hier ganz anders setzungen haben Sie schon in die letzte Koalitionsverein- vorgebaut, als Sie das getan haben. Ich meine, das muss barung hineingeschrieben, aber nichts ist passiert. Sie deutlich angesprochen werden. Das geht nicht anders. Hier wollten – auch das steht in der Koalitionsvereinbarung von gibt es noch Punkte, über die diskutiert werden muss. 1998 – ein Umweltgesetzbuch, aber nichts ist passiert. Sie haben über die Energiewende gesprochen. Ich sage (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dazu nur so viel, da Kollege Paziorek noch näher auf die NEN]: Das ist im Bundesrat an Ihnen geschei- Frage der regenerativen Energien eingehen wird: Wir tert! – Horst Kubatschka [SPD]: Da habt ihr brauchen regenerative Energien. Sie unterstellen uns im- nicht mitgespielt! Da brauchen wir doch den mer zu Unrecht, dass wir diese nicht wollten. Wir brau- Bundesrat!) chen aber wettbewerbsfähige regenerative Energien und Sie wollten die Novelle der Sommersmogverordnung, nicht regenerative Energien um jeden Preis. Wir brauchen Sie wollten die Novelle der Verpackungsverordnung, angepasste regenerative Energien und nicht Windkraft- aber nichts ist passiert. Alles steht de facto wieder in der werke an Standorten, an denen die Windgeschwindigkeit Vereinbarung; manches haben Sie zwischenzeitlich auch 0,1 Meter pro Sekunde beträgt und dadurch die Subventi- wieder vergessen. onsdauer verlängert wird. Das kann es doch wohl nicht sein. In dieser Frage werden wir uns auseinander setzen (Horst Kubatschka [SPD]: Sie aber auch!) müssen. Das ist ein Punkt, den wir Ihnen nicht durchgehen las- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen: dass Sie von Mal zu Mal die gleichen Positionen brin- gen, die Sie schon in grauer Vorzeit realisieren wollten, Wenn Sie das Ganze so angehen wollen, dann zitiere und die Eiszeittiger, die Sie ausgraben, als völlig neue, le- ich Altminister Müller, den ehemaligen Wirtschaftsminis- bende Objekte verkaufen wollen. So geht das nicht. Da ter, den schon jetzt keiner mehr kennt. Ich habe ihm da- muss wirklich etwas Neues kommen. mals gesagt, Schröder würde ihn nicht wieder berufen. Das ist auch so gekommen und ich verstehe auch, warum. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Aber ob derjenige, der neu gekommen ist, besser ist, da- DIE GRÜNEN]: Säbelzahntiger, nicht Eiszeit- rüber werden wir noch nachdenken müssen. Er ist näm- tiger!) lich aus Nordrhein-Westfalen weggegangen, bevor man Wir werden uns, Herr Trittin, wie ich das sehe, in Zu- erkennen konnte, was er dort alles nicht geleistet hat. Der kunft auch kritisch über die Instrumente auseinander set- Bundeskanzler ist aus Niedersachsen weggegangen, be- (B) zen. Wir meinen, dass wir marktwirtschaftliche Power vor ihn das Übel, das er dort angerichtet hat, eingeholt hat. (D) nutzen müssen, um den Umweltschutz voranzubringen, Zurück zur Thematik. In diesem Punkt werden wir, national wie international. Die Selbstverpflichtung, die wenn Sie das so angehen, das gewünschte Ziel nicht er- Sie langsam anfingen mitzutragen, findet sich in der reichen. Eine Energieversorgung ohne Kernenergie nur neuen Koalitionsvereinbarung jetzt nur noch sehr ober- mit regenerativen Energien schafft Zusatzkosten in der flächlich. Sie haben die Verhandlungen in Brüssel über Größenordnung von 250 Milliarden Euro für die nächsten die handelbaren CO2-Emissionen mit solcher Nachläs- Jahre. Angesichts des Etats, den Ihr Finanzminister hier sigkeit geführt, dass das Instrument der Selbstverpflich- vorlegt und angesichts der Perspektiven, die er hier ent- tung gefährdet ist. Das ist falsch, Herr Minister, so kön- wickelt hat, können wir das vergessen. Ich sage ganz deut- nen wir das nicht angehen. lich: So wird das nicht funktionieren, wenn wir eine ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nünftige Finanzpolitik auf der einen Seite und eine neten der FDP) vernünftige Klimaschutzpolitik auf der anderen Seite ma- chen wollen. Also: Der Ausstieg aus der Kernenergie wird So können wir nichts umsetzen. Dann haben Sie die salva- – das können Sie nicht ändern – teuer im Klimaschutz be- torische Klausel aufgenommen, dass die EU das Ganze so zahlt werden. abschließen soll, dass Selbstverpflichtung möglich blei- ben könnte – Konjunktiv! –, nicht möglich bleiben muss. Dabei wird natürlich auch deutlich, dass Ihr Instrument der Ökosteuer schlussendlich über die ganzen Jahre hin- Diese Positionen lassen wir Ihnen so nicht durchgehen, weg nichts bewirkt hat. Herr Minister, denn sie sind in Brüssel nicht mit dem Nachdruck verhandelt worden, wie sie hätten verhandelt (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden müssen. NEN]: Ihre Redezeit ist abgelaufen!) Hier komme ich wieder auf die Querbeziehung zurück. Sie haben abkassiert, aber sie selbst hat kein ökologisches Wenn ein Emissions Trading eingeführt wird, das die Ziel erreicht und hat zum Erreichen eines ökologischen Arbeitsplätze in großen Teilen der Chemie und anderer In- Zieles nichts beigetragen. dustrie nachhaltig gefährdet, dann werden wir Ihnen die (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Verantwortung dafür nicht abnehmen, sondern ganz klar DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil ist richtig! – sagen: Die Arbeitsplatzvernichter sitzen auf der Regie- Horst Kubatschka [SPD]: Sie kennen wohl die rungsbank und auf der linken Seite des Parlaments. Zahlen nicht! – Albert Schmidt [Hitzhofen] (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie die neten der FDP) Zahlen vom Mineralölwirtschaftsverband!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 161

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) – Darüber könnten wir gerne im Detail diskutieren. nächsten Jahren umsetzen werden. Sie enthält sehr viele (C) einzelne Punkte, an denen Sie sich gerne noch aufreiben Horst Kubatschka [SPD]: Da gehen Sie ganz können. schön ein!) Natürlich bleiben wichtige Fragen offen. Sie selber ha- Ich sage Ihnen aber, dass wir – unterfüttert bis hin zum ben es ja 16 Jahre nicht geschafft, wichtige Probleme zu Sachverständigenrat – deutlich machen können, dass dies lösen. Dann können Sie nicht erwarten, dass wir diese so nicht läuft. Probleme in vier Jahren lösen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es werden noch viele Fragen zu beantworten sein, um neten der FDP) eine dauerhafte Generationengerechtigkeit und die Erhal- Unsere Strategie wird eine andere sein. Wir setzen auf tung von Lebensqualität zu erreichen. marktwirtschaftliche Instrumente. Ich will fünf Punkte nennen – es wären viel mehr zu (Horst Kubatschka [SPD]: Das ist doch nennen, aber Sie können das im Koalitionsvertrag ja auch Ökosteuer!) selbst nachlesen –: Wir setzen auf Selbstverpflichtungen. Wir setzen auf Erstens. In Johannesburg ist wieder deutlich geworden, steuerliche Anreize, nicht auf ein Abkassieren durch die dass eine nachhaltige Entwicklung überhaupt kein Selbst- Ökosteuer. Wir wollen sicherstellen, dass europäisch im läufer ist. Wir müssen vielmehr alle Vertragsstaaten und Gleichklang marschiert wird, dass wir nicht alles alleine letztendlich auch die Entwicklungsländer dazu bringen, tragen, sondern dass die anderen die ökologische Verant- dass sie die selbst eingegangenen Verpflichtungen auch wortung wesentlich stärker mit tragen. Das Gleiche wol- tatsächlich erfüllen. Es besteht Einigkeit darüber, dass len wir auch auf internationaler Ebene. Auch in dieser diese Verpflichtungen notwendig sind. Allerdings werden Frage sind wir wesentlich flexibler. Hier gibt es noch In- diese eben nur bruchstückhaft umgesetzt. Dies ist in dem strumente, die wir gemeinschaftlich diskutieren müssen. Aktionsplan von Johannesburg – darin geht es um den Zu- gang zu Wasser, um eine angemessene Abwasserentsor- Ihnen, Herr Minister, wünsche ich trotzdem guten Er- gung, um eine weltweite Energiewende usw. – klar gesagt folg in Delhi. Wir werden kritisch betrachten, was Sie dort worden. erreicht haben. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug. Die Bundesregierung hat sehr schnell gehandelt und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bereits entsprechende Mittel, die in den nächsten fünf Jah- ren für diese Themenbereiche zur Verfügung gestellt wer- Präsident Wolfgang Thierse: den sollen, zugesagt. Wir werden die uns angehenden Punkte in der nationalen Umweltpolitik natürlich eben- (B) (D) Ich erteile das Wort der Kollegin Ulrike Mehl, SPD- falls schnellstmöglich umsetzen. Wir haben eine Vorrei- Fraktion. terrolle im Klimaschutz und werden selbstverständlich mit Druck daran arbeiten, dass das auch zukünftig so Ulrike Mehl (SPD): bleibt. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die aktuelle Situation fordert zum Handeln. Das heißt, Wenn ich Sie, Herr Lippold, hier höre, kriege ich gleich dass das Kioto-Protokoll endlich in Kraft gesetzt werden Heimatgefühle. Wir sind wieder mittendrin, Ihre Rede muss. Wir haben das Unsere dazu beigetragen. Das heißt war wie immer laut, dafür aber weitgehend substanzlos. aber, dass auch auf internationaler Ebene weiterhin eine kräftige Überzeugungsarbeit geleistet werden muss; denn (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nein, nein, letztendlich kann man mittel- und langfristig nicht darauf nein! So ruhig war der noch nie!) verzichten, dass die USA und auch Australien, Länder, die Sie haben hier lange geredet und haben uns erzählt, was sehr zögerlich mit dem Thema umgehen, mit ins Boot Sie alles zu kritisieren haben. Aber Aussagen darüber, was kommen. So ärgerlich es ist, wie die amerikanische Re- Ihre Ziele sind und wie Sie die erreichen wollen, fehlten. gierung bisher mit dem Thema umgegangen ist: Man Aber Sie haben ja noch vier Jahre Zeit. kann es nichts links liegen lassen, sondern es muss Über- zeugungsarbeit geleistet werden. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Länger!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In dieser Zeit können Sie noch viele Reden halten. Ich DIE GRÜNEN) kann es in einem Satz zusammenfassen: Die rot-grüne Koalition hat in den letzten vier Jahren eine erfolgreiche Bei genauerem Hinsehen stellen sich auch in Europa Umweltpolitik gemacht. Genau das werden wir fortset- die erreichten Fortschritte als sehr unterschiedlich dar. zen. Das können Sie sich gerne ansehen. Das Wissen darum, dass ein Klimawandel eingesetzt hat, ist vorhanden. In den letzten Tagen konnten wir in den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zeitungen wieder lesen, was die letzten Stürme – so wie DIE GRÜNEN) andere vorhergehende auch – alleine die Allianz-Versi- cherung gekostet haben, nämlich 18 Millionen Euro. Wir haben in unserer Politik die Menschen und die Umwelt in das Zentrum der Arbeit gestellt. Deswegen Dass also auch ökonomische Folgen daraus entstehen, freue ich mich sehr, dass ein wichtiger Grundstein gelegt ist jedem klar; es ist augenscheinlich geworden. Deswe- worden ist. Durch die Politik der Bundesregierung haben gen muss bei uns im Lande das Ziel lauten, das Begon- wir nämlich eine Nachhaltigkeitsstrategie, die wir in den nene ohne Abstriche weiterzuführen und die europäischen 162 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Ulrike Mehl (A) Partnerländer aufzufordern, ihre Beiträge dazu zu leisten. wertung. Das heißt unter anderem, dass Brennstoffe aus (C) Wir sind nicht der Stellvertreter für andere europäische Müll dringend standardisiert werden müssen. Länder. Alle müssen ihre Verpflichtungen erfüllen. Es ist Über all dem steht natürlich die Abfallvermeidung an sicherlich richtig, dies auch von unserer Seite aus anzu- vorderster Stelle. Nicht zu vergessen: Das ist der erste mahnen. Schritt der Abfalldiskussion. Das werden wir fortsetzen. Zweitens. In der Energiepolitik – diese wurde eben Das Thema Dosenpfand bzw. das Einwegver- schon mehrfach angesprochen – bleibt der Ausbau der packungspfand bei Getränkeverpackungen haben wir erneuerbaren Energien natürlich unser zentrales politi- hinreichend diskutiert. Ich glaube nicht, dass wir darüber sches Vorhaben; denn langfristig ist nur eine Energiever- weiter diskutieren müssen. Am 1. Januar 2003 tritt diese sorgung auf der Grundlage erneuerbarer Energien auch Verordnung in Kraft. zukunftsfähig. Die Produktverantwortung ist für die Abfallpolitik Leit- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten motiv. Das gilt unter anderem für das Thema Klär- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schlamm in der Landwirtschaft, das wir in Kürze angehen werden. Dazu gibt es sicherlich einiges zu diskutieren. Ich Deswegen werden wir die Politik der letzten vier Jahre finde, dass der Sachverständigenrat für Umweltfragen fortsetzen. Sie können natürlich viel darüber reden, dass dazu bemerkenswerte Vorschläge gemacht hat, Vor- dieses oder jenes nicht funktioniert hat. Eines ist aber klar: schläge, wie die Umwelt geschont und die Klärschlamm- Wir haben erreicht, dass der Anteil der erneuerbaren problematik einer Lösung zugeführt werden kann. Energien an unserer Stromversorgung bereits über 50 Pro- zent zugenommen hat. Allein die Windkraft hat sich ver- Viertens. In diesem Sommer gab es – das ist schon viel dreifacht; die Photovoltaik boomt. Es sind Zigtausende erwähnt worden – die so genannte Jahrhundertflut, wobei von Arbeitsplätzen entstanden. Sie können noch so viel ich meine Probleme mit dem Begriff Jahrhundertflut drumherumreden: In diesem Zukunftsbereich werden habe. Ich glaube, dass die Flut in diesem Jahrhundert nicht die letzte gewesen sein wird. Damit ist aber wohl jedem Arbeitsplätze geschaffen und Innovationen in den neuen vor Augen geführt worden, dass in der Flusspolitik ins- Technologien gefördert. Durch ihn verschaffen wir uns gesamt dringend neue Konzepte angepackt werden müs- eine Vorreiterstellung in dieser Technologie. Darüber hi- sen. Damit haben wir bereits begonnen. Im Koalitions- naus wird in diesem Bereich der Umwelt- und Klima- vertrag ist deutlich festgehalten worden, dass sich die schutz gefördert. Deswegen werden wir an diesem Thema Technik den Flüssen anzupassen hat und nicht umgekehrt. mit Macht weiterarbeiten. Ich glaube, das ist der richtige Weg. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) (D) Ich komme zu den Subventionen. Herr Lippold, Sie Im Übrigen hat auch die Wasserrahmenrichtlinie mit haben eben angedeutet, dass das alles zu teuer sei. Dazu ihren Ansätzen, die wir bereits umgesetzt haben, gezeigt, will ich nur einen kleinen Zahlenvergleich bringen: Durch dass Flüsse als Gesamtsystem betrachtet werden müssen das Erneuerbare-Energien-Gesetz wurden letztes Jahr und nicht nur partiell darüber nachgedacht werden darf, Zahlungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro fällig. Das was wo ausgebaut werden kann. Wir haben aufgrund der bedeutete eine monatliche Belastung pro Haushalt von Hochwasserkatastrophe, aber auch im Sinne des Natur- 3,25 Euro und entsprach etwa den Kosten eines Weizen- schutzes ganz klar gesagt, dass zum Beispiel ein Ausbau bieres oder eines vergleichbaren Getränks. Bei aller Lust der Elbe und der Donau nicht infrage kommt. Dazu würde ich gerne einmal Ihre Konzepte sehen; denn Sie haben am Streit denke ich, dass uns der Aufbau einer nachhalti- insbesondere bei der Donau, als wir den Antrag in der gen Energieversorgung diesen Betrag wert sein sollte. letzten Legislaturperiode durchgesetzt haben, aus allen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Rohren mächtig dagegen geschossen. Deswegen ist Ihre DIE GRÜNEN) Glaubwürdigkeit auf diesem Gebiet mit einem dicken Fragezeichen zu versehen. Drittens. Wir werden uns in dieser Legislaturperiode natürlich auch mit der Kehrseite unserer Produkte befas- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sen müssen, nämlich mit dem gesamten Komplex Abfall- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wirtschaft. Dabei ist es wichtig, dass in einer modernen Zum Thema Naturschutz – fünftens – kann ich noch Abfallwirtschaft nicht nur Feuer gespeist werden, sondern anfügen, dass dazu in der letzten Legislaturperiode von dass ganz am Anfang der Diskussion die Produktverant- uns sehr viel umgesetzt worden ist. Damit ist aber noch wortung steht. nicht alles erledigt. Wir werden den Naturschutz weiter stärken. Wir werden dafür sorgen, dass die Umsetzung der Vor uns liegt unter anderem die Umsetzung der euro- Übertragung der 100 000 Hektar ökologisch wertvoller päischen Elektronikschrottverordnung, für die wir eine Flächen in den neuen Bundesländern zügig vorankommt. ökologisch und ökonomisch tragfähige Umsetzung brau- Wir werden dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die chen, die sowohl für die private als auch die öffentlich- Sicherung des so genannten grünen Bandes legen. rechtliche Entsorgungswirtschaft akzeptabel ist. Daneben gibt es als wesentlichen Punkt das Setzen von Standards, Präsident Wolfgang Thierse: die für alle vergleichbar sind, für die Verbrennung von Abfällen, egal wo sie verbrannt werden, und für die Ver- Kollegin Mehl, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 163

(A) Ulrike Mehl (SPD): Zum Erneuerbare-Energien-Gesetz hat der Kollege (C) Lippold von der CDU/CSU schon einiges gesagt. Ich Ich bin bereits am Ende angekommen. möchte an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass wir vonseiten der FDP-Fraktion ein eigenes Fördermodell Präsident Wolfgang Thierse: vorgelegt haben. Wir sind gerne bereit, in diese Ausei- nandersetzung einzusteigen. Wir wollen die Förderung re- Wie schön. generativer Energien, aber wir wollen, dass sie auf eine wirtschaftlich sinnvolle Weise organisiert wird. Und da- Ulrike Mehl (SPD): bei gibt es Spielraum. Wir haben uns in dieser Legislaturperiode durchaus (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nicht weniger vorgenommen als in der letzten. Ich glaube, Es ist schon bezeichnend, dass der Bundeskanzler in dass Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen in der seiner einstündigen Regierungserklärung heute Vormittag Opposition, sehr viel mit uns zu tun haben werden. Wir kein Wort über die Umweltpolitik verloren hat. Damit hat werden in vier Jahren ein weiteres positives Ergebnis der Herr Schröder programmatisch das bestätigt, was wir Umweltpolitik verkünden und abschließen können. schon die ganze Zeit vermutet haben: Rot-Grün hat die Schönen Dank. Umweltpolitik abgeschrieben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Bankrotterklärung Ihrer Regierung in der Umwelt- DIE GRÜNEN) politik ist symptomatisch in der Klimapolitik zu sehen. In diesem Bereich ist fraktionsübergreifend ein Ziel be- schlossen worden, für das wir uns immer eingesetzt ha-

Präsident Wolfgang Thierse: ben, nämlich die CO2-Emissionen bis 2005 um 25 Pro- zent zu verringern. Im Wahlkampf haben Sie plötzlich nur Ich erteile Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion, noch vom europäischen Ziel geredet. Inzwischen reden das Wort. Sie von keinem der beiden Ziele mehr. Sie reden weder vom nationalen noch vom europäischen Ziel. Jetzt reden Birgit Homburger (FDP): Sie blumig darüber, dass Sie bis 2020 eine Verringerung um 40 Prozent erreichen wollen, und knüpfen das an völ- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir lig utopische Bedingungen, die andere nicht erfüllen wer- diskutieren heute über die Vereinbarungen im Koalitions- den. Sie sind völlig unglaubwürdig, weil Sie sich von dem vertrag zur Umweltpolitik. Herr Minister Trittin, der Klimaschutzziel, das wir alle gemeinsam mit getragen ha- Sachverständigenrat hat Ihnen nach der letzten Legisla- ben, verabschiedet haben. (B) turperiode ins Stammbuch geschrieben, dass er über die (D) Umweltpolitik enttäuscht ist, weil es eine einseitige Kon- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – zentration auf Themen gab. Er hat Ihnen eine inhaltliche Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aus Dürftigkeit bescheinigt. Die erste Reaktion der Umwelt- Ihrem Mund klingt das richtig wie ein Lob!) verbände auf diese Vereinbarung zeigt die gleiche Enttäu- Die EU wird in den nächsten Wochen den Emissions- schung. handel beschließen. In diesem Zusammenhang muss man Ich habe mit Spannung erwartet, ob Ihre Ausführungen sich auch fragen, was Sie eigentlich getan haben, um heute über das hinausgehen würden, was in blumigen For- Deutschland darauf vorzubereiten. – Sie haben nichts ge- mulierungen im Koalitionsvertrag steht. Ich meine, dass tan. Herr Schröder meint, wir brauchten das nicht. Ihr früherer Wirtschaftsminister meint auch, wir brauchten sie keine Perspektive und kein Konzept enthalten. Des- das nicht. Und Ihr neuer Superminister Clement hat aus- wegen wird das Gewurstel in diesem Bereich sicherlich in geführt, es sei wichtig, dass die Wirtschaftlichkeit der hei- den nächsten vier Jahren so weitergehen. mischen Stromerzeugung nicht durch unkalkulierbare Be- (Ernst Burgbacher [FDP]: Leider!) lastungen aus dem Emissionshandel gefährdet werde. Sie haben die Konferenz zu den regenerativen Ener- Insofern muss ich Ihnen entgegenhalten: Warum haben gien sehr stark herausgestellt, Herr Minister. Wir können Sie sich eigentlich nicht um die europäische Vereinbarung Ihnen versichern, dass wir das Vorhaben sehr unterstützen gekümmert? Nachdem inzwischen in Europa sozusagen und dass wir ebenfalls erkennen, welche Möglichkeiten der Käse gegessen ist, schreiben Sie in Ihre Koalitions- gerade auch auf internationaler Ebene in der Förderung vereinbarung, welche Bedingungen notwendig sind, um von regenerativen Energien liegen. Ich möchte aber gerne den Emissionshandel in einer vernünftigen Weise in von Ihnen die Frage beantwortet bekommen, warum Sie Deutschland einzuführen. Das zeigt einmal mehr, dass im die Chancen, die das Kioto-Protokoll mit den so genann- Vergleich mit dieser Bundesregierung die Schnecke ein ten Clean Development Mechanism in diesem Bereich Torpedo ist, Herr Minister. längst bietet, für Deutschland bisher nicht genutzt haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir haben das mehrfach gefordert. Warum haben Sie das verhindert? Sie haben alle unsere Anträge abgelehnt. Sie Wenn ich Ihnen zugute halte, dass Sie den Emissions- bekommen zwar unsere Unterstützung, aber wir erwarten handel nie wollten, dann lassen Sie uns einen Blick auf von Ihnen, dass Sie endlich auch über das, was Sie schrift- den Atomausstieg werfen, den Sie schließlich immer zum Ziel hatten. Was steht dazu in Ihrer glorreichen Ver- lich formuliert haben, hinausgehen. einbarung? – Nichts anderes als das, was ohnehin bereits (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gesetzlich geregelt ist. Hinzu kommt, dass Sie in einer 164 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Birgit Homburger (A) Situation, in der es zum ersten Mal darauf ankommt, Ihr Ich möchte nur noch Folgendes sagen: Die Branche er- (C) grünes Prestigeprojekt durchzuziehen, umfallen. Ich wartet diese Novelle. Tatsächlich wird diese Novelle noch nenne nur das Stichwort zwei Jahre Laufzeitverlängerung nicht einmal mehr angesprochen. Sie wollen das bisherige für das Kernkraftwerk Obrigheim, Herr Minister. Das ist Chaos über den Verordnungsweg fortsetzen. Ihre Art von Glaubwürdigkeit in der Umweltpolitik. (Rudolf Bindig [SPD]: Jawohl, wir wollen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) unsere Politik fortsetzen!) Es wird systematisch abkassiert. Dabei bleibt es auch Das ist der deutschen Umweltpolitik nicht angemessen. in dieser Legislaturperiode. Entgegen allen Beteuerungen Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. steigt die Ökosteuer zum 1. Januar. Hinzu kommt, dass Ihr (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Versprechen, dass mit der Ökosteuer eine Stabilisierung oder sogar die Senkung der Rentenbeiträge verbunden sei, nicht stimmt. Auch das mussten Sie zwischenzeitlich zu- Präsident Wolfgang Thierse: geben. Nun kommen Sie aber zum Schluss. Sie liegen in allen Punkten völlig daneben. Das setzen Sie in dieser Legislaturperiode genauso fort. Sie haben aus der letzten Legislaturperiode nichts gelernt. Birgit Homburger (FDP): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jetzt kommt mein letzter Satz, Herr Präsident. Zum Hochwasserschutz: Es gab in der Wahlkampfzeit (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zwei – die Kollegin Mehl hat das bereits angesprochen – eine letzte Sätze gibt es nicht!) Flusskonferenz, die ich mit großem Interesse verfolgt habe. Wir haben in der letzten Legislaturperiode feststellen Das Bundesverkehrsministerium sagt, dass diese Konfe- müssen – wie es auch der Sachverständigenrat getan hat –, renz nicht ordentlich vorbereitet gewesen sei. Was muss ich dass auf dem Papier mehr steht, als tatsächlich geschehen feststellen? Genau auf diese Konferenz wird in der Koaliti- ist. Sie haben daraus Konsequenzen gezogen. Ich stelle onsvereinbarung Bezug genommen. Wir brauchen im fest, dass die jetzige Koalitionsvereinbarung dazu nichts Hochwasserbereich eine internationale Zusammenarbeit. mehr enthält. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) steht doch drin!) Die Anrainerstaaten müssen aufgerufen werden, sich an Präsident Wolfgang Thierse: einen Tisch zu setzen. Nur so können wir gemeinsame (B) Konzepte über die großen Flussläufe hinaus entwerfen. Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller, (D) Das ist das, was wir von Ihnen erwarten, Herr Minister SPD-Fraktion. Trittin. (Beifall bei der FDP – Michaele Hustedt Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Meine Damen und Herren! Die Hochwasserkatastro- wir!) phe vor einiger Zeit hat schlagartig deutlich gemacht, wie Ich möchte eine letzte Bemerkung zur Abfallpolitik wichtig die ökologische Modernisierung ist. Interessan- machen. Es kann ja wohl nicht wahr sein, was ich dazu in terweise hat die Öffentlichkeit so reagiert, wie sie reagie- der Koalitionsvereinbarung gelesen habe. Dort wird das ren musste. Sie standen auf einmal als eine Partei ohne Zwangspfand ausdrücklich bekräftigt, während die viel Kompetenzen in den Umweltfragen da. Sie haben auf wichtigere und eigentlich unumgängliche Novelle zur einmal ein schwarzes Loch gehabt. Das war die Wirklich- Verpackungsverordnung erst gar nicht erwähnt wird. keit. Jetzt tun Sie so, als ob Sie Vorreiter der Umweltpoli- tik wären. Das glaubt Ihnen niemand, und zwar vor allen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dingen deshalb, weil Sie – um ein Beispiel zu nennen – bei den 18 klimaschutzrelevanten Maßnahmen der letzten In der letzten Legislaturperiode haben Sie wenigstens noch Legislaturperiode nicht einmal Ja gesagt haben. in Ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben, dass Sie das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz novellieren wollen. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Zweimal!) Auf eine solche Novelle wartet die Wirtschaft in diesem Bereich dringend, weil sie weiß, dass sie notwendig ist. – Sie haben im Bundestag nicht einmal Ja gesagt. Die Union hat zwar im Bundesrat zweimal zugestimmt. Aber hier haben Sie 18-mal Nein gesagt. Das ist die Wirklich- Präsident Wolfgang Thierse: keit. Kollegin Homburger, Sie müssen bitte zum Ende kom- Im Übrigen muss ich Ihnen, Frau Homburger, sagen, men. Erwägen Sie das zumindest. dass das, was Sie gesagt haben, überhaupt nicht zusam- menpasst. Sie haben gesagt, dass alles, was Herr Trittin in der Atompolitik mache – diese Politik betreibt nicht Herr Birgit Homburger (FDP): Trittin allein, sondern die Koalition –, völlig unproblema- Herr Präsident, ich erwäge das zu Ihren Gunsten. tisch sei. Warum haben Sie dann diese Politik bekämpft? (Heiterkeit im ganzen Hause – Wilhelm Schmidt (Birgit Homburger [FDP]: Was heißt „unpro- [Salzgitter] [SPD]: Nein, zu unseren!) blematisch“?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 165

Michael Müller (Düsseldorf) (A) – Sie haben doch vorhin behauptet, dass es sich bei dem fall genauso wie zu anderen Punkten andere Schlussfol- (C) Ganzen nur um ein Auslaufen handle. Demnach sei das al- gerungen ziehen müssen. les nicht problematisch. Meine Damen und Herren, ich glaube, der eigentliche (Birgit Homburger [FDP]: Das habe ich über- Punkt ist: Wir müssen die ökologische Modernisierung haupt nicht gesagt!) konzeptionell erweitern. Ich will hier einen zentralen Punkt herausstellen, der für uns ganz wichtig sein wird, Warum haben Sie dann aber unsere Atompolitik be- nämlich die Frage der Verbindung von Arbeit und Um- kämpft? Ich sage Ihnen, warum Sie sie bekämpft haben: welt. Wenn es so ist, dass sich die Bundesrepublik als Ex- Sie haben in der Umweltpolitik und insbesondere bei der portland vor allem durch eine ungeheuer hohe Arbeits- ökologischen Modernisierung nichts zu bieten, weil Sie produktivität auszeichnet, dann kommen wir an der immer dann, wenn es darauf ankommt, umfallen und weil Tatsache nicht vorbei, dass Arbeit immer häufiger durch Sie zusammen mit den anderen Umweltpolitikern in Ihrer Technik ersetzt wird und es deshalb immer schwieriger Fraktion in Wahrheit isoliert sind. Das ist die Wirklichkeit. wird, das Beschäftigungsproblem auf diesem Weg zu lö- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen. Wir kommen aus dieser Produktivitätsfalle nur heraus, DIE GRÜNEN – Birgit Homburger [FDP]: Das wenn wir die Produktivität sehr viel stärker auf den ebenso ist eine Fehleinschätzung!) wichtigen – kostenmäßig sogar sehr viel größeren – Fak- tor der Energie- und Ressourcenproduktivität lenken. Es – Das ist keine Fehleinschätzung, sondern leider die Wirk- wird dazu keine Alternative geben. lichkeit. Interessanterweise hat das Ergebnis der Bundes- tagswahl gezeigt – das war einer der wesentlichen Punkte –, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dass die Bevölkerung genau das begriffen hat. Ich würde das in einem historischen Bild so sehen: Das Wir müssen trotzdem über das, was im Sommer ge- 19. Jahrhundert war vor allem das Jahrhundert der Aus- schehen ist, weiter diskutieren; denn die letzte Flutkata- beutung des Faktors Arbeit. Im 20. Jahrhundert haben wir strophe hat wie kaum ein anderes Ereignis gezeigt, dass das Beschäftigungsproblem zum Teil durch die Ausbeu- Umweltpolitik kein Schönwetterereignis sein darf. Wir tung der Natur entschärft. Im 21. Jahrhundert erleben wir, wissen, dass sich der Energiehaushalt in den letzten Jah- dass sowohl die Umweltzerstörung fortgesetzt als auch ren weiter dramatisch verschlechtert hat. Wir wissen der Faktor Arbeit durch die technologische Entwicklung auch, dass im Wasserkreislauf dramatische Verschiebun- verdrängt wird. gen stattfinden. Deshalb können wir bei dem Hochwasser Wir kommen nicht daran vorbei, die Energie- und Res- nicht von einem singulären Ereignis ausgehen. Im Ge- sourcenproduktivität als die Strategie zur Verbindung von genteil, alle zentralen Faktoren im Wasserkreislauf – sei Arbeit und Umwelt im 21. Jahrhundert zu begreifen. Das (B) es die Gletscherbildung, sei es die Verdunstung, seien es (D) ist das Markenzeichen, das wir wollen. Es ist auch eine die Veränderung der ozeanischen Prozesse und auch das Vision, um beispielsweise durch hohe Energie- und Res- Abflussregime von Flüssen – verändern sich in einer sourcenproduktivität dazu beizutragen, dass die Ressour- Weise, die es erforderlich macht, dass wir noch sehr viel cen der Erde nicht mehr so ausgeplündert werden, dass die mehr handeln müssen, als wir das bisher schon tun. Wir Kosten für die Umweltbelastungen geringer werden, dass kommen an diesem Punkt nicht vorbei und deshalb muss wir die natürlichen Lebensgrundlagen schonen und dass und wird die ökologische Modernisierung Markenzeichen wir vor allem mehr Arbeitsintensität schaffen; denn öko- dieser Regierung bleiben. logische Lösungen sind in der Regel arbeitsintensive Lö- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sungen. Sie verlangen nämlich sehr viel mehr mensch- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) liche Kreativität und Dienstleistung. Und das ist der richtige Ansatz. Aber ich will hinzufügen: Wir werden die ökologische Modernisierung erweitern. Im Kern – auch da besteht ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unterschied zur Opposition – geht es für mich nicht mehr DIE GRÜNEN) um traditionelle Umweltpolitik im klassischen Sinne. Wir wollen ein Zukunftsmodell entwickeln. Es geht da- Vielmehr ist das, was wir machen müssen, Mitweltpolitik. bei nicht mehr nur um einen verengten Umweltschutzan- Wenn ich den Bundeskanzler richtig verstanden habe, vor satz. Der neue Ansatz ist aus meiner Sicht ganz wichtig für allem in seinen Ausführungen zur Zivilisierung der Welt- die von mir angesprochene Zivilisierung der Weltgesell- gesellschaft, war das für mich im klassischen Sinne Mit- schaft. Wie Sie wissen, hat Francis Fukuyama, der Wis- weltpolitik. senschaftsjournalist und Professor der John-Hopkins-Uni- (Birgit Homburger [FDP]: Das war aber nicht versität, mit seiner These vom Ende der Geschichte einen heute Morgen!) Streit ausgelöst. Seine zentrale These ist, dass die Mensch- heit nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt sozu- – Doch, das hat er heute gesagt. Ich habe eben übrigens sagen in der Mischung aus liberaler Gesellschaft und libe- sowieso den Eindruck gehabt, dass die PISA-Schwäche ralem Kapitalismus das Ende der Geschichte gefunden hat. bei Ihnen ziemlich durchschlägt; Meines Erachtens hat er in einer völligen Fehlinterpreta- (Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] tion von Hegel die Alternativlosigkeit mit der Konflikt- [SPD]) losigkeit verwechselt und liegt deshalb schief. denn die Koalitionsvereinbarung haben Sie nicht richtig Aber bei allem, was wir im letzten Jahr erlebt haben, gelesen. Sonst hätten Sie beispielsweise zum Thema Ab- beispielsweise mit der Entfaltung neuer Gewalt am 166 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Michael Müller (Düsseldorf) (A) 11. September, beispielsweise mit den wachsenden Protes- Deshalb, meine Damen und Herren: Wir wollen eine (C) ten gegen die Form der Globalisierung, beispielsweise mit Politik der Nachhaltigkeit betreiben. Wir können über ein- dem völlig unzureichenden Vorankommen einer globalen zelne Instrumente streiten, Sie können uns auch kritisie- Umweltpolitik – was leider ja auch in Johannesburg deut- ren, wenn wir in der einen oder anderen Frage vielleicht lich wurde –, kann man nicht von der Alternativlosigkeit einmal falsch liegen, aber an dieser Grundlinie lassen wir einer unilateralen ökonomischen Welt reden. Das wäre so- nicht rütteln. Ich bin sicher: Wir werden diese Aufgabe zusagen die Selbstaufgabe der Politik. besser erfüllen, als Sie das je können. Der ökologische Ansatz ist unter dem Gesichtspunkt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Nachhaltigkeit gerade deshalb so interessant, weil er DIE GRÜNEN) im Kern auf eine Welt der Vielfalt und der Demokratien hinausläuft. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der SPD) Ich erteile dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSU- Nachhaltigkeit – das ist der interessante Punkt – funktio- Fraktion, das Wort. niert nur mit mehr Demokratie und Vielfalt. Nachhaltig- keit schafft einen Ansatz, um sehr viel stärker wieder Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): spezifische Lösungen, die kulturellen Potenziale einer Gesellschaft und die technologischen Fähigkeiten für un- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr terschiedliche Lösungen zu entfalten. Nachhaltigkeit ist Müller, es war sehr interessant, was Sie zum Schluss an- die richtige Antwort auf die Herausforderungen der Glo- gesprochen haben. balisierung. Die Alternative, eine globale Weltregierung, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Richtig will ich nicht. Aus meiner Sicht ist sie bürgerfern, tech- vor allem!) nokratisch und letztlich nicht in der Lage, die Fähigkeiten, die wir vor allem für dezentrale Lösungen, also für sehr Aber ich hatte auch den Eindruck, dass Sie den untaugli- effiziente Lösungen vor Ort, brauchen, zu entfalten. Es chen Versuch unternommen haben, von all den Schwä- gibt, glaube ich, eine Riesenchance für das europäische chen in Ihrer Umweltpolitik in den letzten vier Jahren ab- Modell, wenn Nachhaltigkeit zum Maßstab unserer Re- zulenken und vor allem von einer konkreten Diskussion formpolitik wird. Das ist eine Vision, die wir übrigens darüber, was Sie in der Koalitionsvereinbarung nebulös auch in unsere Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben und oberflächlich formuliert haben. haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ich will das wie folgt zusammenfassen: Aus meiner Birgit Homburger [FDP] – Michael Müller (B) (D) Sicht geht es heute eben nicht um ein paar Detailkorrek- [Düsseldorf] [SPD]: Jetzt fängt er schon wieder turen. Wir sind am Beginn eines ganz neuen, sehr schwie- an!) rigen und auch sehr unsicheren Weges. Deshalb plädiere – Herr Müller, zunächst zur Klimaschutzpolitik. Da ha- ich sehr dafür – ich sage das in alle Richtungen –, damit ben Sie in den letzten vier Jahren aufzuhören, über die Herausforderungen zum Teil so kleinkariert zu reden, wie wir das oft tun. Die Herausfor- (Rudolf Bindig [SPD]: Wieder rückwärts derungen, vor denen wir stehen, sind so gewaltig, dass wir gewandt!) aus meiner Sicht eine offene, kreative und vor allem auch – zu dem Vorwärtsgewandten komme ich noch – einen intellektuell redliche Auseinandersetzung über Lösungs- Abbau um zusätzlich 3 Prozent gegenüber 15 Prozent aus strategien brauchen. der Zeit der CDU/CSU-FDP-Regierung erreicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In der letzten Koalitionsvereinbarung haben Sie fest- DIE GRÜNEN) gelegt, dass Sie ein neues Gesetz zur Kreislaufwirtschaft Wir diskutieren hier zum Teil nur rückwärts gewandt und zur Abfallwirtschaft in Deutschland vorlegen wollen. und rechthaberisch. Das darf man bei diesen Themen (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Machen nicht. Ich glaube, dass die Nachhaltigkeit im Kern der wir auch! – Gegenruf der Abg. Birgit Homburger Versuch war – angestoßen insbesondere durch die Ar- [FDP]: Wo denn?) beiten von Olof Palme, von Willy Brandt und von Gro Harlem Brundtland –, auf der einen Seite die eigenstän- Das Gesetz haben Sie in der letzten Legislaturperiode digen Kulturen, die eigenständigen Inhalte von Gesell- nicht vorgelegt. Sie haben gekniffen, obwohl Sie das ver- schaftsmodellen zu bewahren, sie aber auf der anderen einbart hatten. Seite gleichzeitig mit dem zu verbinden, was heute not- Sie haben in der Koalitionsvereinbarung vor vier Jahren wendig ist, nämlich dem Berücksichtigen globaler Anfor- festgelegt, ein Fluglärmschutzgesetz vorzulegen. Dies- derungen. bezüglich hat sich Herr Trittin mit Herrn Bodewig gestrit- Ich sage Ihnen: Diese Chance ist eine große Chance für ten. Herr Trittin hat sich nicht durchgesetzt. Das Fluglärm- schutzgesetz ist in der Versenkung verschwunden. unser Land. Wir werden die großen Herausforderungen nur bewältigen, wenn wir eine Vision haben, wenn wir Sie haben in der letzten Koalitionsvereinbarung fest- eine große Idee davon haben, wo es hingeht, damit die gelegt, ein Konzept zur so genannten Entsiegelung des Menschen wissen: Es ist das bessere, das gute Leben im Bodens vorzulegen. Wir warten bis heute auf dieses Kon- Sinne von Adorno, das wir anstreben. zept. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 167

Dr. Peter Paziorek (A) Herr Müller, ich wollte all das gar nicht schildern. Ich der Minister –, in der Koalitionsvereinbarung sei das Ziel (C) hatte es schon gestrichen. der Energieeinsparung festgelegt. In der Koalitionsver- einbarung steht: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hätten Sie es mal so gelassen!) Zur Fortentwicklung der Energieeinsparung im Ge- bäudebereich werden ein Förderprogramm zur Er- Nur, als Sie gerade anfingen, großartig zu philosophieren richtung von Passivhäusern mit – ich bin gern bereit, mit Ihnen bei Stiftungen über diese Themen zu diskutieren –, habe ich das wieder hervorge- – jetzt kommt eine sensationelle Zahl – kramt. Philosophisch hört sich das alles großartig an, in 30 000 Wohneinheiten der konkreten Formulierung der Aufgaben in der Um- weltpolitik aber haben Sie in den letzten vier Jahren ver- (Beifall der Abg. Michaele Hustedt [BÜND- sagt. NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und ein Anschlussprogramm zur energetischen Mo- dernisierung des Gebäudebestandes aufgelegt, das Sie werden auch bei der Umsetzung der neuen Koali- anstelle von zinsvergünstigten Krediten Zuschüsse tionsvereinbarung versagen. Sie hatten zum Beispiel an- oder Sonderabschreibungen beinhaltet. gekündigt, ein Umweltgesetzbuch vorzulegen. Sie sind gescheitert, Das hatten wir doch schon einmal. Das ist beim letzten Mal doch schon einmal gescheitert. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: An Bayern und Baden-Württemberg!) (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen!) weil Sie angeblich die wasserrechtlichen Kompetenzen nicht haben. Sie haben das Vorhaben jetzt wieder einge- Dieses Programm ist doch gar nicht erfolgreich gewesen. baut. Ich will nur sagen: groß angekündigt, nichts erreicht. Es war verdammt kompliziert. Ich kann durchaus verstehen, dass die „Berliner Zei- Mittlerweile haben Sie daraus natürlich gelernt und tung“ heute getitelt hat: „Koalition sucht klaren Kurs“. wollen es verbessern. Warum haben Sie denn nicht in die Das bezog sich auf die Wirtschafts- und auf die Sozialpo- Koalitionsvereinbarung geschrieben, wie Sie das machen litik. Nach der Koalitionsvereinbarung und nach dem, wollen? Ich kann Ihnen sagen: Ihnen ist dazu bis heute was Sie, Herr Müller, gerade gesagt haben, kann ich nur Abend nichts Neues eingefallen. Sie argumentieren ne- feststellen: Es ist klar, dass das nicht nur für die Wirt- bulös, nur um von den tatsächlich vorhandenen schwarzen schafts- und für die Sozialpolitik gilt, sondern leider auch Löchern Ihrer Umweltpolitik abzulenken. (B) für die Umweltpolitik in Deutschland. Das liegt an der (D) Aus diesem Grunde wird es natürlich notwendig sein, schlechten Koalitionsvereinbarung, die Sie getroffen ha- in den nächsten vier Jahren ganz konkrete Fragen zu stel- ben. len, zum Beispiel: Wie soll es in der Klimaschutz- und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Energiepolitik weitergehen? Wie sehen Ihre Konzepte für eine nachhaltige Energiepolitik wirklich aus? Es ist offenkundig: Nachdem aus Ihrer Sicht das große Thema Atomausstieg – eigentlich ist es kein Atomaus- Sie sprechen die erneuerbaren Energien an. Ich sage stieg; aber ich übernehme einmal Ihr Vokabular – erledigt noch einmal ganz deutlich – ich will das fortsetzen, was ist, kommt nun die große umweltpolitische Leere; deshalb der Kollege Lippold hier angesprochen hat –: Sie werden werden Sie nebulös. die Union immer an Ihrer Seite finden, wenn es darum geht, die erneuerbaren Energien sinnvoll zu fördern. Bei Sie sprechen in der Koalitionsvereinbarung davon, all den Problemen, die wir in der Klimaschutzpolitik ha- dass die Ökoeffizienz die Jobmaschine von morgen ist. ben, sind auch wir der Ansicht, dass es darauf ankommen (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sehr wird, die erneuerbaren Energien als eine wesentliche richtig!) Säule unserer Energie- und Klimaschutzpolitik auszu- bauen. Deshalb sind auch wir dafür, darüber nachzuden- Ich habe mir gedacht: Großartig! Jetzt bin ich einmal ge- ken, im Rahmen des EEG die Offshoreförderung zeitlich spannt, wie ihr für Ökoeffizienz sorgen wollt. In einem zu verlängern. Darüber werden wir uns höchstwahr- zentralen Satz der Koalitionsvereinbarung steht, dass Sie scheinlich einigen. Netzwerke fördern wollen, um Ihr Ziel zu erreichen. Ist das denn alles, was Ihnen zu diesem Thema einfällt? Wir sind nicht prinzipiell gegen die Anwendung der Windkraft; allerdings fragen wir uns, ob es richtig war (Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP]) – Sie haben das in den letzten vier Jahren gemacht –, mit Was dort steht, ist doch nur Romanformuliererei. Ihre – aus unserer Sicht – überzogenen Fördersätzen zu versu- ganze Umweltpolitik enthält nichts Konkretes. chen, an ungeeigneten Standorten im Binnenland Wind- kraftanlagen anzusiedeln. Sie haben dabei die Proteste der Des Weiteren sprechen Sie – das haben Sie, Herr Bevölkerung ignoriert. Am schlimmsten war, dass Sie Müller, und auch Minister Trittin heute Abend getan – von überhaupt keine Rücksicht darauf genommen haben, dass der ökologischen Modernisierung. Wer einmal konkret es an vielen Stellen zu großen Konflikten mit dem Natur- überprüft, was Sie darunter verstehen, der wundert sich, schutz und dem Landschaftsschutz gekommen ist. wie wenig konkret Ihre Politik ist. Es ist auch darauf hin- gewiesen worden – ich glaube, es waren Frau Mehl und (Beifall bei der CDU/CSU) 168 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Dr. Peter Paziorek (A) Sie als Umweltpolitiker haben diese Sichtweise einfach wir uns gar nicht so uneins. Aber eines ist doch klar: Sie (C) vernachlässigt. Das ist keine gute und sinnvolle Art und meinen, Naturschutzpolitik könne im heutigen Zeitalter Weise, die Nutzung erneuerbarer Energien zu fördern. nur hoheitlich, von oben gemacht werden. Sie meinen, Naturschutzpolitik solle nicht mehr auf Instrumente Es gibt im Rahmen erneuerbarer Energien Alternati- zurückgreifen, die sich in vielen Regionen unseres Lan- ven: Biomasse und Biogas. Man kann Biomasse- und des bewährt haben, etwa das Kooperationsprinzip: mit Biogasanlagen landschaftsgerecht bauen. Man kann da- den Nutzern tatsächlich reden, freiwillige Vereinbarungen durch der Landwirtschaft helfen, wie Sie es im Zuge der schließen. Förderung der Nutzung der Windkraft wollten. Man muss feststellen, dass Sie die Anreizförderung im letzten Jahr In den letzten Tagen sind Pressemeldungen von meh- gestrichen haben. Seitdem Sie diese Streichung im letzten reren interessierten Verbänden erschienen – nicht aus der Jahr durchgeführt haben, ist das Wirtschaften mit Bio- Landwirtschaft, sondern zum Beispiel von der Wasser- masse- und Biogasanlagen nicht mehr rentabel. Jetzt lie- wirtschaft. Es wird dafür geworben, eine Allianz zwi- gen Förderanträge und Baugenehmigungsanträge auf schen Wasserwirtschaft, Umweltschutz und Landwirt- Halde, weil die Antragsteller sagen: Wir können das, was schaft zustande zu bringen. Wenn ich sehe, wie es bei wir vorhatten, nur deswegen nicht mehr realisieren, weil Ihnen, Herr Göppel, in Bayern läuft und wie es bei mir in Rot-Grün die Förderung gestrichen hat. Westfalen läuft, dass wir vor Ort diese Allianzen haben, frage ich mich: Wo ist denn dieser wesentliche Grundsatz Vor diesem Hintergrund müssen Sie doch unsere Skep- bei Ihnen in der Koalitionsvereinbarung? Warum sagen sis verstehen, die sich darin ausdrückt, dass wir sagen: Sie Sie nicht, wir wollen das Kooperationsprinzip im Natur- formulieren immer alles nebulös; aber wenn es darum schutzbereich stärken, wir wollen die Allianzen stärken, geht, Biomasse- und Biogasanlagen ganz konkret zu för- wir wollen die Menschen mitnehmen? Nein, Ihre Koali- dern, dann tauchen Sie ab. Ihre Politik war sogar gegen tionsvereinbarung ist immer noch geprägt von einem ho- diese Anlagen gerichtet. Das war unverantwortlich, weil heitlichen, obrigkeitsstaatlichen Ansatz. Und dann wun- Sie damit nicht dafür gesorgt haben, dass zum Beispiel dern Sie sich, wenn die Leute vor Ort sagen, wir fühlen auch in interessanten Naturräumen erneuerbare Energien uns überfahren. Sie schaden den Prinzipien, und deshalb gefördert werden. Sie waren bei der Förderung erneuer- sage ich: Schon vom Ansatz her ist Ihre Koalitionsverein- barer Energien ideologisch einseitig ausgerichtet. Eine barung falsch, meine Damen und Herren. solche Haltung lehnen wir ab. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Widerspruch bei der SPD) Sie reden immer so groß von Nachhaltigkeit. Herr Zur Frage der verantwortungsbewussten Politik: Es ist (B) Müller, Ihre Rede enthielt einen interessanten Ansatz. Sie sehr schade, dass Sie wieder nicht den Mut hatten, zum (D) wissen, dass ich mit Ihnen über prinzipielle Fragen der Bereich Endlager und Entsorgung eine klare Aussage Nachhaltigkeit immer sehr gerne diskutiere. Jetzt tun Sie zu treffen, unabhängig davon, wer nun die friedliche Nut- so, als ob wir im Bundestag wirklich darüber diskutieren zung der Kernenergie in Deutschland eingeführt hat, ob es müssen. Schauen Sie sich doch einmal den Gang der Be- Sozialdemokraten oder Christdemokraten waren. Wir alle ratung des Berichts des Rats für Nachhaltigkeitsfragen in waren in den 60er-Jahren begeistert davon. Wir haben der letzten Legislaturperiode an. Die Beratung ist doch eine gemeinsame Verantwortung. vollständig am Parlament und an seinem Umwelt- ausschuss vorbeigegangen. Uns wurde vom zuständigen (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE Staatsminister gesagt, es müsse erst einmal auf der Staats- GRÜNEN]: Nicht alle, wir nicht!) sekretärebene ein Papier zusammengebastelt werden, – Die Grünen gab es damals als politische Kraft noch dann könne man darüber diskutieren. nicht, Frau Hustedt. – Wir müssen uns jetzt darum küm- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: So ist mern, wohin mit dem so genannten Atommüll. das!) (Ulrike Mehl [SPD]: Tun wir ja!) Wo war denn Ihr Versuch, Nachhaltigkeit ins Plenum Wenn ich mir vor Augen führe, wie Sie sich in den letzten zu bringen und die große öffentliche Diskussion zu die- vier Jahren um eine klare Standortaussage gedrückt haben sem Thema zu führen? Sie sind dieser Diskussion ausge- und jetzt wieder nebulös formulieren, kann ich nur sagen: wichen und wundern sich danach, dass Ihre Politik nicht Bei Ihnen scheint wiederum die Verantwortungslosigkeit dazu geführt hat, dass der Begriff der Nachhaltigkeit ein um sich zu greifen. Auch das werden wir Ihnen nicht wesentlicher Begriff auch unserer Umwelt- und Sozialpo- durchgehen lassen. litik geworden ist. Sie haben in dieser Frage versagt und wir können nur sagen: Man sollte nicht die großen Reden (Beifall bei der CDU/CSU) schwingen, sondern dafür sorgen, dass wir hier im Ple- Deshalb zum Schluss: Meine Damen und Herren, Sie num über diese wesentlichen Fragen diskutieren. Das haben in den letzten Jahren Ihre Koalitionsvereinbarung wäre ein wichtiger Ansatz zur Nachhaltigkeit. nicht sauber abgearbeitet. Warum sollen wir davon aus- gehen, dass Sie es jetzt besser machen? Es spricht, da Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) jetzt wieder vieles nebulös formuliert haben, alles dafür, Wenn Sie davon sprechen, dass wir im Naturschutz dass Sie wieder wegtauchen werden. Die Bundesregie- weitermachen müssen, stimmen wir zu. Nur sage ich wie rung hat mit der Koalitionsvereinbarung der sie tragenden bei der Nachhaltigkeit: Über die Zielvorstellungen sind Parteien zur Umweltpolitik die Chance vertan, die Wei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 169

Dr. Peter Paziorek (A) chen für eine wirklich nachhaltige Umweltpolitik in trag konkret. Aber in manchen Punkten ist er sehr konkret: (C) Deutschland zu stellen. Das, was Sie sich in der Koali- Im Hinblick auf Energiepolitik und Klimaschutz haben tionsvereinbarung umweltpolitisch vorgenommen haben, wir klare Ziele und Vorschläge. Das ist weit konkreter als lässt leider keine klare Handschrift erkennen, hat leider das, was Sie von der Opposition in den letzten vier Jahren große Textlücken und wird den Umweltschutz in produziert haben. Deutschland leider nicht voranbringen. (Birgit Homburger [FDP]: Das stimmt aber Vielen Dank. nicht, Herr Hermann!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen – auch die große Volkspartei FDP muss dies tun –: Sie sind immer sehr großzügig mit Kritik. Aber wenn man Sie nach Ihren kon- Präsident Wolfgang Thierse: kreten Plänen und Gegenkonzepten fragt, dann werden Ich erteile dem Kollegen Winfried Hermann, Bünd- Sie sehr allgemein. nis 90/Die Grünen, das Wort. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das kommt ja noch! Heute ist Regierungserklärung!) Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie jammern zum Beispiel, indem Sie sagen, wir würden

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir jetzt von dem CO2-Minderungsziel von minus 25 Prozent leider nicht vergönnt, all das abzuräumen, was uns in lan- Abstriche machen. Aber bitte schön, wo sind denn Ihre gen Redezeiten aufgetischt wurde, vor allem das, was Sie, Vorschläge? Warum sagen Sie nicht, dass Sie ein konkre- Herr Paziorek, gesagt haben. Ich kann also nur das eine tes Konzept haben? Fehlanzeige! Wo sind Ihre langfristi- oder andere aufgreifen. gen Orientierungen? Wir haben uns zu dem ambitionier- ten Ziel von minus 40 Prozent und auf EU-Niveau von (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Im Aus- minus 30 Prozent durchgerungen. Das ist ein wirklich am- schuss diskutieren wir weiter darüber!) bitioniertes Ziel angesichts der EU-Erweiterung. Ich hatte mir für heute vorgenommen, zu Beginn einer (Birgit Homburger [FDP]: Und wie kriegen neuen Legislaturperiode mir selber, der Regierung, den Sie die EU dazu?) Koalitionsfraktionen, aber auch der Opposition einige grundsätzliche und auch kritische Fragen zur Orientie- Sie sind jetzt aufgefordert, einmal zu sagen, wie man da- rung in der Politik zu stellen. Für mich stellen sich fol- hinkommt. gende Fragen: Erstens. Haben wir auf die wirklich großen (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ihr seid an Herausforderungen, auf die globalen Herausforderungen der Regierung! Ihr müsst das vorlegen!) (B) mit unseren Politikansätzen die richtige Antwort? (D) Sie dürfen nicht nur jammern, wir hätten keine präzisen Zweitens. Wie schaffen wir es, das allgemeine Konzept Ziele. Sie selber haben nämlich keine. der Nachhaltigkeit und des integrierten ökologischen An- satzes konkret zu machen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drittens. Schaffen wir es, eine mehr bürgerfreundliche Im Übrigen haben Sie den Vertrag nicht genau gelesen. Es und bürgerbeteiligungsorientierte Umweltpolitik zu ma- wird ausdrücklich das Klimaschutzprogramm aus dem chen? Jahre 2000 betont, in dem das 25-Prozent-Ziel steht. Viertens. Ist unser Ansatz strategisch geradlinig oder Frau Homburger und Herr Lippold haben davon ge- widersprüchlich? sprochen, der Kanzler habe nicht viel zur Ökologie und zur Nachhaltigkeit gesagt. Ich sage dies bewusst nicht nur als Herausforderung an die Regierung, sondern diese Fragen muss sich auch die (Birgit Homburger [FDP]: Nichts!) Opposition stellen. Man kann hier nicht nur von der Re- Das stimmt übrigens nicht. Haben Sie einmal registriert, gierung einen klaren Kurs fordern. Man muss diese Maß- wie viel Frau Merkel zu dem Thema gesagt hat? Einen stäbe dann auch bei sich selber anlegen und seinen Stand- Satz. Da würde ich an Ihrer Stelle den Mund nicht so voll punkt einhalten. Einerseits wirft man uns vor, wir wären nehmen. nicht radikal genug, und andererseits sagt man zu unseren

Vorschlägen zur Reduktion des CO2-Verbrauchs, sie seien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) viel zu radikal und würden die Wirtschaft und bestimmte Kommen wir zum Thema Hochwasser. Sie haben es Gruppen schädigen Diese Widersprüchlichkeit halten auch angesprochen. Wir setzen dieses Regierungspro- Sie konsequent durch. Ich finde, diese paradoxe Logik ist gramm mit den Ländern und mit den Kommunen um. Das nur schwer erträglich. wird uns viel Arbeit kosten. Dazu müssen wir harte Ziele (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN formulieren und schwierige Wege gehen, etwa wenn man sowie bei Abgeordneten der SPD) Gewerbegebiete in Talauen nicht mehr realisieren möchte. Da werden wir auf allen Ebenen gemeinsam kämpfen Sie haben – jetzt werde ich konkret – die große He- müssen. Das ist ein Feld, auf dem wir uns klar zu einem rausforderung Klimaschutz genannt. Das haben Sie zu konkreten Konzept bekannt haben und nicht nur allge- Recht als wichtiges Thema angesprochen. Wir haben es mein herumschwadroniert haben. im Koalitionsvertrag ganz vornean gestellt. In diesem Be- reich haben wir sehr konkrete Vorschläge gemacht. Sie Sie haben zu Recht den Bodenschutz angesprochen. haben Recht, nicht in allen Punkten ist der Koalitionsver- Die Senkung des Boden- und Flächenverbrauchs ist ein 170 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002

Winfried Hermann (A) wichtiges Ziel. Das stand schon im letzten Koalitionsver- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) trag. Das ist übrigens ein schwieriges Ziel. Wer ist der Ich überblättere daher viele Seiten und fasse zusam- Erste, der sagt, es gehe nicht? Stichwort Eigenheimzu- men. Man kann von einem Koalitionsvertrag nicht erwar- lage. Das waren Sie! Unser Vorschlag ist ökologisch be- ten, dass er ganz detailliert alles abarbeitet. Er kann nur ei- gründet, weil es nicht klug ist, dass man Eigenheime auf nen Rahmen abstecken. Das leistet er. Das Ziel ist der grünen Wiese mehr fördert als die Sanierung von Ei- nachhaltige Entwicklung und Gerechtigkeit. Ökologische genheimen in der Stadt. Wir setzen das gleich. Schon Prinzipien haben sich im ganzen Koalitionsvertrag durch- kommt wieder das Argument: Aber das schadet dem gesetzt. Der Koalitionsvertrag enthält ein Leitbild für die Häuslebau. Wenn man ökologisch argumentiert und wenn Umweltpolitik und für die Politik insgesamt. Insofern man in diesem Bereich wirklich etwas erreichen möchte, könnte man auch sagen: Das Konzept ist zukunftsorien- dann muss man diesen Weg auch beschreiten. tiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn Sie, Herr Präsident, gestatten, zum Schluss noch sowie bei Abgeordneten der SPD) ein nettes Zitat aus der hohen Literatur, nämlich von Victor Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten im Bereich Hugo: Lärmschutz nichts getan. Sie haben Recht, wir sind mit Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist diesem Versuch gescheitert. Wir haben dieses Thema aber sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Aber seien Sie ein- das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance. mal ehrlich: Das Fluglärmgesetz wird alle Länder betref- fen. Da wird man nur erfolgreich sein, wenn auch Sie und Lassen Sie uns die Chance nutzen! Ihre Länderregierungen mitmachen. Da können Sie nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einfach sagen: Nichts erreicht. Da muss man Sie schon und bei der SPD) fragen: Was haben Sie unternommen und was werden Sie unternehmen, um ein Fluglärmgesetz hinzubekommen? Auch das ist eine große Herausforderung, der wir uns stel- Präsident Wolfgang Thierse: len. Das war doch ein schönes Wort zur Nacht. Der Präsident zeigt mir an, dass ich zum Schluss kom- Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind da- men muss. Ich kann leider viele Punkte nicht mehr abar- mit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. beiten. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- tags auf morgen, Mittwoch, den 30. Oktober, 9 Uhr, ein. Präsident Wolfgang Thierse: Die Sitzung ist geschlossen. (B) Sie sind der letzte Redner und Sie haben noch so viele (D) Zettel. (Schluss: 21.36 Uhr) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 171

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 29.10.2002 Marieluise DIE GRÜNEN van Essen, Jörg FDP 29.10.2002 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 29.10.2002 Meyer (Tapfheim), CDU/CSU 29.10.2002 Doris Möllemann, Jürgen W. FDP 29.10.2002 Niebel, Dirk FDP 29.10.2002 Nolting, Günther FDP 29.10.2002 Friedrich Pieper, Cornelia FDP 29.10.2002 Thiele, Carl-Ludwig FDP 29.10.2002 Violka, Simone SPD 29.10.2002

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