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Fußball-WM „ICH WILL VORNE STEHEN“ SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann über den umstrittenen Fußballprofi

ei flüchtiger Betrachtung mag es steht? Herausfordernd brennen seine Dreck“ spielen, wie er behauptet. Es scheinen, als werde der Mann all- Blicke. Einen Fußballverrückten nennt reicht schon, besser, schneller und vor Bmählich in die Ecke gedrückt. er sich, „brutal ehrgeizig“. Spielen will allem beliebter zu sein, als es – in den Schritt für Schritt hat er sich zurückge- er, spielen und gewinnen. „Und am Ende Augen von WM-Veteranen wie Andre- zogen, gestikulierend rücken ihm zwei will ich ganz vorne stehen.“ as Brehme und Lothar Matthäus – ei- andere auf den Leib. Nur ist das vor dem dritten Vorrun- nem Ossi zusteht. Braucht Matthias Sammer Hilfe? denspiel der Deutschen – an diesem Matthias Sammer weigert sich, das an Als wäre der nicht schon mit ganz an- Montag in gegen Südkorea – nicht die Presse getragene Gegrummel über deren Drucksituationen fertig gewor- mehr ganz so sicher wie nach dem Eröff- seine taktische Unzuverlässigkeit so zu den. Die beiden Journalisten, die ihn zu nungsspiel gegen Bolivien. Da hatte Ber- deuten. Ist es denn nicht egal, woher er bedrängen scheinen, stehen in Wahrheit ti Vogts den Dauerrenner aus kommt? Was hat seine Ossi-Vergangen- längst in seinem Bann. Weit fährt der gerade deshalb gelobt, weil er „taktisch heit mit seiner Leistung zu tun? „So ist hagere Athlet seine Arme aus, wild unheimlich gut war“. Und er hatte hinzu- eben Fußball“, winkt er ab, „das ist fuchtelt er mit den Händen. Sein roter gefügt: „Der wird noch stärker.“ doch ganz normal.“ Schopf ruckt temperamentvoll, während Den Medienrummel, der daraufhin Ob es aber wirklich nur am Fußball er Erklärungen ausstößt, als könne er so Sammer umkreischte, schmeichelte dem liegt, daß auf der rasanten Erfolgslauf- das Tempo nachholen, das seinem letz- Sachsen kaum. Er fand ihn „übertrie- bahn des Matthias Sammer jedem ten Spiel gefehlt hat. ben“. Durchbruch prompt ein Einbruch zu fol- Nein, in der Defensive ist der einzige Schließlich weiß er genau, wie schnell gen pflegt? Ostdeutsche in der Elf der Bundesrepu- einer weg sein kann vom Fenster. Da ist „Meine Rolle war immer von Mißver- blik bei der Fußball-WM gewiß nicht, er Realist. Dazu muß er nicht mal „einen ständnissen geprägt“, hat er über sein obgleich er Fehler oh- ne Beschönigung ein- räumt. Mit einer Of- fenheit, die er – erleb- Putsch te er sie bei anderen – wohl anerkennend „brutal“ nennen wür- abgewehrt de, bekennt er sich Als nach dem ner- schuldig, beim dürfti- venden 1:1 der Deutschen im zweiten gen 1:1 gegen Spanien Vorrundenspiel gegen Spanien Trai- taktische Anweisun- ner und Mitspieler öffentlich des Di- gen des Trainers nicht lettantismus zieh, sah sich DFB-Chef befolgt zu haben. Egidius Braun unbeirrt seinem Glau- Anfangs hat er sei- ben ans Gute verpflichtet: Immerhin nen Hintermann An- habe der Stuttgarter Abwehrrecke dreas Brehme gele- keinen beleidigt. Er hätte ja auch, so gentlich im Stich gelas- Braun, behaupten können, Berti sen, um in der Mitte Vogts habe „keinen blassen Schim- Löcher zu stopfen, die mer“ oder sei gar „eine Pfeife“. ihm noch bedrohlicher erschienen. So fiel das Daß jener Teil der Jungmillionäre, Führungstor der Spa- den Berthold selbst „die Mafia“ nier. nennt, versucht hatte, den Bundestrai- Als einen Weltun- ner zu ihrem Befehlsempfänger zu de- tergang kann Matthias gradieren, hatte Braun nicht mitge- Sammer das freilich kriegt. nicht sehen. Soll er Auch Vogts selbst wollte nur „eine deshalb so tun, als hal- positive Unruhe“ erkannt haben, sei- te er sich nicht für ei- ne Profis seien „Gott sei Dank mit ih- nen guten Fußballspie- rer eigenen Leistung unzufrieden“ ge- ler, der zu Recht in der wesen. Als er ihnen alle taktischen Elf des Champions Fehler beim temperamentlosen Fuß- ball gegen die Spanier vorgeführt ha- * Im WM-Eröffnungsspiel Nationalspieler Sammer* be, hätten sie selbst Unzulänglichkei- gegen Bolivien am 17. Juni. „Persönlichen Glanz zurückstellen“

190 DER SPIEGEL 26/1994 enttäuschendes Gastspiel bei Inter Mai- land gesagt, das nur sechs Monate dauer- te. In der deutschen Fußball-National- mannschaft, beim VfB und auch bei , dem Ver- ein, der ihn im Januar 1993 für 8,5 Millio- nen Mark aus Italien ins Ruhrgebiet hol- te, war und istes nicht anders. Auch wenn er selbst das nur ungern zur Kenntnis nimmt. Nun gut, es seihalt, sagt Matthias Sam- mer, „ein Riesenschritt“ gewesen in den Westen, fast eine Überforderung für ei- nen 22jährigen, der nicht „Mäh“ und nicht „Muh“ zu sagen ermutigt wurde – und dem, vom fünften Lebensjahr an bis zum voraussichtlichen Tode, der Verein, die Partei oder der Staat jedes Wort und jeden Schritt vorgeschrieben hätten. Er hat es dennoch in nur vier Jahren zum Millionär gebracht. Für den Kölner Express ist Sammer „der Aufsteiger schlechthin“. Dieter Hoeneß vom VfB Stuttgart, sein erster West-Manager, er- kennt in ihm sogleich „das Zeug zum Bundestrainer Vogts, Kritiker Berthold: „Positive Unruhe“ Führungsspieler“. So sieht Sammer das auch, da macht er ist er 26 Jahre alt und auf dem Weg zum es, aber es fasziniert ihn auch. Von Kind sich nicht klein. Warum auch? Vize-Eu- Star. auf erzogen im Geiste der Einordnung ropameister ist er. Gegen Spanien hat er „Star?“ Also, da muß man natürlich ins Kollektiv und in Abscheu gegen sein 49. Länderspiel bestritten, 23 davon erst mal definieren, was man darunter egoistische „Selbstdarstellungen“, wehrt für die DDR. Dreimal ist er Landesmei- versteht. Matthias Sammer schrickt er sich gegen den „Star“-Begriff: „Da ster gewesen, zweimal mit Dynamo Dres- sichtlich zusammen, als ihn das Wort würde ich von mir weggehen.“ den im östlichen, einmal mit dem VfB trifft, Inbegriff westlicher Dekadenz Auf einmal ist er sehr wachsam. Kei- Stuttgart im vereinten Deutschland. Nun und geheimer östlicher Träume. Er haßt nen Blick mehr hat er für die geschnie- ten eingeräumt, und auf einmal sei Brehme dagegen ist alles recht, was sei- und wohl der talentierte- „eine ganz nette Unterhaltung rausge- ne natürliche Langsamkeit kaschieren ste Fußballer im deutschen Team. kommen“. hilft. Auf jede nur denkbare Weise hat- Die offizielle Version klang arg harm- Für Völler geht es darum, zum Kar- ten sie versucht, dem milchgesichtigen los und realitätsfern. Doch intern hatte riereende hin nicht plötzlich vom Publi- Möller ein stärkeres Rückgrat einzu- Vogts mit einem Machtwort („Ich bin kumsliebling direkt in die Zweitklassig- ziehen. Vogts probierte es immer wie- richtig laut geworden“) die aufmüpfi- keit abzustürzen. Und Berthold fühlte der mit Einzelgesprächen; die „Mafia“ gen Profis zur Räson gebracht; kleinlaut sich schon immer einem Elitekodex lud den Neu-Dortmunder im Bus als widerriefen sie ihre Kritik. Berthold: mehr verpflichtet als der Mannschaft. Gasthörer auf die letzte Bank, wo sich „Das war nicht so gemeint.“ Auf der anderen Seite stehen Jürgen seit Volksschultagen bei Klassenfahr- Putschversuch abgewehrt. Vogts hat- Klinsmann, Effenberg und Sammer. ten stets die Meinungsführer versam- te die Gefahr der Allianz seiner Vetera- Mittelstürmer Klinsmann fürchtet, daß meln; und als Matthäus laut über ei- nen – neben Berthold droschen auch ihm auf dem Weg zum Publikumslieb- nen möglichen Abschied aus der Na- Lothar Matthäus, und ling dieser Titelkämpfe ob der vielen tionalelf nach der WM nachdachte, Rudi Völler mehr oder weniger unver- Rennerei buchstäblich die Luft aus- brachte er gar Möller als seinen Nach- hohlen auf den Rest ein –zeitig erkannt. geht; Effenberg glaubt spätestens seit folger für das Kapitänsamt ins Ge- Die Polarisierung zwischen Alt und WM-Beginn, daß Anerkennung und spräch. Jung hatte das Team zu lähmen begon- Werbemillionen, die Matthäus zufal- Was als psychologische Krücke ge- nen, als deutlich geworden war, daß in len, eigentlich ihm gebühren; Sammer dacht war, nahm nur einer wirklich der brütenden Hitze Chicagos Erfah- sind intrigante Tricks so zuwider, daß er ernst – Möller selbst. Lauthals ver- rung nicht alles ist. Zu ungeniert wollten sie nicht einmal wahrnimmt. kündete er, für „größere Aufgaben“ die alten Herren Jüngere für sich und ih- Daß die Attacken der Altvorderen bereit zu sein, kam in der Praxis aber re Interessen laufen lassen. gerade auf Sammer zielten, wurde der nie über die Rolle des Chefchens hin- Matthäus betrachtet die WM in den Revolte zum Verhängnis. Denn keiner aus, das ängstlich Zweikämpfe meidet USA als letzten Schritt zu einem auf al- verkörpert inzwischen stärker die und nur aus sicherer Deckung schießt. len Werbemärkten anerkannten Welt- Vogtsschen Mannschaftsideale als der So kann „Turbo-Andy“, wie er sich star – da registrierte der Kapitän mit ehemalige Dresdner. gern nennen läßt, selbst der Häme versteinerter Miene, daß in den beiden Weil aber auch eine gescheiterte Re- kaum noch entkommen. Für einen ersten Spielen mit Matthias Sammer volution zuweilen eines ihrer Kinder wie Möller, lästert Vogts, habe er und zwei Dauerläufer frißt, hat es nun wohl Andreas Möller stets „ein Stück Papier mit“, um die von Vogts als beste Spieler herausge- erwischt, zugleich Hofnarr der Mann- Taktik, die der Möchtegern-Käptn so stellt wurden. Dem bauernschlauen schaftssenioren, Lieblingsschüler von schwer begreift, aufzumalen.

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kung erreiche, daß es beim Training mit fünf Prozent mehr Aggressivität zur Sache geht – dann ist das doch in Ordnung, oder?“ Da meldet sich der künftige Trainer an. Oder erst einmal der neue Mannschafts- kapitän? So darf freilich nur reden, Sammer weiß es, wer Leistung bringt. Nichts ist ihm daher wichtiger als körperliche Fit- neß. Der Rest kommt von selbst, glaubt er. Wer aber Anerkennung durch Leistung gewonnen hat und so redet wie Sammer, der ist im westlichen Profiverständ- nis mindestens „eine Führungs- persönlichkeit“, wenn nicht gar ein Star. Und der hat sich auch so zu verhalten – ein bißchen schrill, fordernd, egomanisch, wie Lothar Matthäus eben. Warum nicht wie ? Arbeitet der denn nicht auch so mannschaftsdien- Dresdner Fußballprofi Sammer*: „Sei ein harter Hund“ lich wie er und ist doch ein Wessi? Sammer fragt das halb- gelte Golf-Landschaft vor dem Mann- derei legitimieren die Privilegien des ge- herzig. Er kennt ja die Antwort: Nie hat schaftshotel. Er führt das Wort wie auf hobenen Lebens. Er braucht das auch der „brave Guido“ so forsch versucht, dem Fußballplatz den Ball: schnell und zur Selbstrechtfertigung: „Würde ich die Richtung im Team anzugeben – wie gut abgedeckt. Wenig Chancen für geg- weniger verdienen, ginge es noch lange es Sammer tut in Stuttgart erst, dann in nerische Fragesteller dazwischenzufah- nicht dem Fan oder dem Arbeitslosen Dortmund und nun auch in Amerika? ren. hier besser.“ Von Starallüren keine Als Einzelgänger sieht sich Sammer Doch drehen sich seine Sätze ein we- Spur. ohnehin. Das war er schon im Osten, nig hektisch im Kreise, so, als wüßte er Und doch ist es gerade diese demon- ein unbequemer zudem, trotz SED-Par- nicht mehr genau, wo die Linie verläuft, strative Bescheidenheit, die den Kern teibuch. Im Westen drängt ihn seine der er gern treu bleiben möchte. Weiß der Mißverständnisse und Verunsiche- scheinbare Widersprüchlichkeit noch er denn, wie er in vier Jahren denkt? So rungen ausmacht, die seinen geradlini- mehr in die Isolation, anfangs wenig- intensiv beginnt Sammer plötzlich von gen Erfolgskurs immer wieder verwak- stens, wenn er sich noch nicht durch Bescheidenheit, Menschlichkeit und kelt. Denn wenig will dazu passen, wie konstante Leistungen und persönliche Gerechtigkeit zu reden, daß Zweifel herausfordernd der Dresdner oft verbal Verläßlichkeit ausgewiesen hat. „Man nicht ausbleiben können, ob er sich auftrumpft. muß sich alles im Leben erarbeiten“, nicht schon heute auf dem Weg sieht zu Ob gegenüber Trainern, Schiedsrich- sagt er, „durch Leistung und Auftre- tern, Vereinsbossen, Mitspielern oder ten.“ Journalisten – Matthias Sammer eckt Dazu braucht er Zeit. Denn das Pro- „Ohne die an. Merkt er denn nicht, daß er immer blem, das Sammers Schwierigkeiten Mannschaft bin ich wieder mit Höchsttempo gegen die produziert, ist in erster Linie eines der Wand fährt? „Solange ich jedesmal le- Kommunikation. Seine Sprache, seine doch nichts“ bend rauskomme, ist es gut“, grinst er. Haltung, sein Selbstverständnis wurzeln Dem Bundestrainer verklickert er in einem anderen Lebenskontext als einem neuen Sammer, halb gegen sei- ziemlich drastisch, für wie borniert er dem, in dem seine Mitspieler und Ge- nen Willen. dessen Einschätzung früherer DDR- sprächspartner denken und verstehen. „Für mich ist es ganz wichtig bei die- Spieler halte, sich selbst eingeschlossen. Was er als Hilfe meint, empfinden ser Weltmeisterschaft, persönlichen Ihm schwelle der Hals, läßt er nach dem Wessis leicht als Kritik. Seine Offenheit Glanz zurückzustellen“, versichert er Bolivien-Spiel wissen, wenn er sehe, wie suggeriert ihnen einen frechen Indivi- wieder und wieder. So hat er auch schon sich „einige Mitspieler an die Zwei- dualismus, zu dem Sammer gar nicht fä- im Februar 1993 bei seinem Einstand in kämpfe heranschleichen“. Pampig fährt hig und willens ist. Er wiederum erkennt Dortmund geredet. Erst kommt die Ar- er klugscheißerischen Journalisten über selten als unerwachsene Hilflosigkeit, beit für die Mannschaft, dann der Hak- den Mund, oft ungeduldig, manchmal was sich bei westlichen „Stars“ als Arro- kentrick fürs Fernsehen. „Denn ohne witzig und selbstironisch: „Meine zwei- ganz tarnt. Die kulturelle Kluft, die die Mannschaft bin ich doch nichts.“ einhalbjährige Tochter hat mich wieder Deutschland spaltet, läßt sich in der Deutliche Worte, kein falscher Zun- überragend gesehen gegen Spanien, nur Fußball-Nationalmannschaft spielend genschlag. Schweiß und Leistung be- ihr natürlich nicht.“ überwinden, redend nicht. glaubigen seine Arbeit auf dem Platz. Immer will Sammer, wenn er sich an- Tatsächlich lebt Matthias Sammer die Verzicht und viel protestantische Schin- legt, „was bewirken, Emotionen wek- Synthese zwischen seinem Ost-Erbe und ken, in den Köpfen was anstoßen“. seiner West-Erfahrung überzeugender, * Nach dem Gewinn der Meisterschaft mit Dyna- Vor allem in der Mannschaft. „Wenn als er sie sprachlich bewältigt. Wo er im mo Dresden am 26. Mai 1990. ich mit einer provozierenden Bemer- Denken und Reden noch beim Entwe-

192 DER SPIEGEL 26/1994 der-Oder verharrt, balanciert er im All- fer Kolumbiens stoppte, sagt der irani- tag die Gegensätze nebeneinander aus. Vermarktung sche Einwanderer Peiman Havivian, Sammer riskiert und bleibt auf dem „treten unsere Verteidiger um sich“. Boden. Er gibt Familie und Verläßlich- Die Vereinigten Staaten haben die keit im Osten auf, schafft sich aber so- Weltmeisterschaft adoptiert. Nachdem fort eine familiäre Anbindung im We- Fete des sich die US-Mannschaft als eines der er- sten: Ruhe im Reihenhaus, Wäsche ge- sten Teams für das Achtelfinale qualifi- waschen, Frühstück auf dem Tisch. zierte, scheint mit jedem Spiel die Be- Seine schwäbische Frau Karin, sein Fortschritts geisterung für Profifußball fester veran- aus dem sächsischen Bischofswerda kert zu werden: Die Stadien sind voll, stammender Schwiegervater und dessen Ein Sieg des Marketings: Amerika und die Einschaltquoten steigen. Bruder, der Jugendtrainer war beim hat die Weltmeisterschaft Der Fußball-Weltverband Fifa meldet VfB Stuttgart, bilden für den ausgewan- mit dem gleichen Enthusiasmus Besu- derten Sachsen eine westliche Gegensta- adoptiert. Doch was wird aus cher- und Umsatzrekorde wie die Apo- tion zu Dresden. Soccer nach dem Finale? theke auf der Chicagoer Michigan Ave- Doch sein Vater, , Ex- nue „den besten Donnerstag in der Fir- Nationalspieler der DDR wie er selbst, mengeschichte“, weil fußkranke deut- bleibt für ihn auch im Profiland eine nne Woodwarth dichtet, als ziehe sche Fußballfans unter anderem die fachliche und menschliche Autorität. ihr Sohn in den Krieg. „Das Feld, Pflastervorräte aufkauften. „Sei ein harter Hund“, hatte er dem Awo auch immer es sei“, schreibt die Solche Geschäftsdaten sind es, die das Sohn eingebimst. Jetzt ist er es, aber rüstige Dame aus , „erwartet Musterland des Kapitalismus zu einer nicht nur. dich, den Kämpfer, unseren Sohn.“ flüchtigen Bekanntschaft mit Soccer er- Biographie und Talent, das explosive Mama, sagt Alexi Lalas, 24, Verteidi- mutigen. Profifußball gilt in modern Temperament der Rothaarigen und die ger der amerikanischen Nationalmann- America als letzter Schrei, weil er Geld mörderische Trainingsschule des Staats- schaft, „ist verrückt geworden“. Aber bringt. Ob Fußball jemals zu einem Be- sozialismus beginnen sich vielverspre- sei dies nicht ganz Amerika passiert? standteil der amerikanischen Kultur Im Lincoln-Tunnel, der Manhattan wird, ist dennoch zweifelhaft. Noch exi- mit New Jersey verbindet, hupen New stiert jener Unterschied zwischen dem Schon im Osten war Yorker Taxifahrer im Takt, als irische wahren Leid, das etwa südamerikani- Sammer ein Fußballfans aus Begeisterung den Ver- sche Anhänger durch den Fußball erle- kehr lahmlegen. ben, und der puren Lust der Amerika- unbequemer Einzelgänger In Orlando im Bundesstaat Florida ner auf Unterhaltung, die der Schrift- drucken Zeitungen Kochrezepte aus steller Jochen Schimmang beklagt: Die chend zu verbinden mit westlichen Pro- Marokko, und sie testen belgische Bie- Welt wolle Opern und keine Seifen- fierfahrungen. Bereits jetzt ist Sammer re, um die singenden Fremden verste- opern, in Amerika erlebe sie Jubel und eine Spielerpersönlichkeit, an der ge- hen zu helfen. Trauer „im religiösen Exil“. messen Kinderstars wie Andreas Möller Im kalifornischen Mission Viejo, wo Den Trend zum Soccer bestimmen und Thomas Häßler geradezu niedlich Inter Niguel und Persepolis das Spitzen- vor allem die Werbestrategen. So wie in wirken. spiel der regionalen Saddleback Valley Deutschland Sportartikelhersteller den Schon zieht den League austragen, winden sich die Stür- US-Basketball zum Sport der neunziger Matthias, den er für einen „Riesenfuß- mer vor Schmerzen am Boden. Seit sie Jahre erklärten, rufen nun Amerikaner baller“ hält, auf einer Party beiseite. Alexi Lalas zusahen, wie er die Angrei- die ureuropäische Disziplin zum Kult Schon legt der vertrau- lich den Arm um die Schulter Uwe Seelers. Kapitän Matthäus ist gewarnt. Er weiß wohl, daß da einer aus den eigenen Reihen nachwächst, der ihm fußballerisch ähnelt und jene Zukunft ver- körpert, die für ihn selbst mit dieser WM zu Ende geht. Dennoch redet er – nach einigen Tagen stimmungsmachenden Schweigens – inzwi- schen wieder huldvoll mit seinem Konkur- renten. Zwar nicht beim Essen oder auf dem Trainingsplatz von Mensch zu Mensch, sondern am Telefon, von Zimmer zu Zimmer. Ein Welt- star wie Lothar muß auf Abstand achten. Y US-Profis Lalas, Meola: Persönlichkeit beim Friseur besorgt

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