Plenarprotokoll 15/172

Deutscher

Stenografischer Bericht

172. Sitzung

Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Inhalt:

Glückwünsche an Papst Benedikt XVI. zu in Verbindung mit seiner Wahl ...... 16045 A Begrüßung der Präsidentin des griechischen Parlaments, Frau Professor Anna Benaki . . . 16045 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeordne- Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Ham- ten Erika Simm und Ekin Deligöz . . .1604 . . . .5 . B,. 16116 D burg), , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Wahl der Abgeordneten Horst Schmidbauer CDU/CSU: Notwendige Investitionen in die (Nürnberg) und Dorothee Mantel in den Stif- deutsche Verkehrsinfrastruktur bereitstel- tungsrat der Stiftung „Humanitäre Hilfe für len durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen“ 16045 C (Drucksache 15/5325) ...... 16047 C Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 16045 C in Verbindung mit Absetzung des Tagesordnungspunktes 21 . . . 16046 D Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 16046 D Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 3: (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Dr. Antrag der Abgeordneten , , weiterer Abgeordneter und der Klaus Brandner, Dr. Michael Bürsch, weiterer Fraktion der FDP: Infrastrukturinvestitio- Abgeordneter und der Fraktion der SPD so- nen erhöhen – Neue Wege bei Finanzierung wie der Abgeordneten Albert Schmidt (Ingol- und Betrieb der Bundesfernstraßen stadt), , (Köln), wei- (Drucksache 15/5338) ...... 16047 C terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Investi- in Verbindung mit tionskräfte stärken – Neue Impulse für Wachstum und Beschäftigung (Drucksache 15/5340) ...... 16047 B Zusatztagesordnungspunkt 5: in Verbindung mit Antrag der Abgeordneten Jürgen Koppelin, Rainer Brüderle, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Vor- Zusatztagesordnungspunkt 2: fahrt für Arbeit – Der Weg nach vorne für Deutschland und Europa Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Für eine (Drucksache 15/5339)...... 16047 D nationale Kraftanstrengung – Pakt für Deutschland umsetzen Dr. h. c. , Bundesminister (Drucksache 15/5322) ...... 16047 C BMVBW ...... 16048 A II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. , Donnerstag den 21. April 2005

Volker Kauder (CDU/CSU) ...... 16049 D Tagesordnungspunkt 24: Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ a) Erste Beratung des von den Fraktionen der DIE GRÜNEN) ...... 16052 A SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Vier- Dr. (FDP) ...... 16054 A zehnten Gesetzes zur Änderung des Klaus Brandner (SPD) ...... 16055 D Arzneimittelgesetzes (Drucksache 15/5316) ...... 16089 C Dietrich Austermann (CDU/CSU) ...... 16057 C b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- DIE GRÜNEN) ...... 16059 C zes zur Kontrolle hochradioaktiver Strahlenquellen Eduard Oswald (CDU/CSU) ...... 16061 A (Drucksache 15/5284) ...... 16089 C Wolfgang Spanier (SPD) ...... 16062 C c) Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Eberhard Otto (Godern), Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 16063 B Joachim Günther (Plauen), weiterer Abge- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 16064 D ordneter und der Fraktion der FDP: Wei- tere Monopolisierung im Schienengü- Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 16065 C terverkehr stoppen (Drucksache 15/4947) ...... 16089 C Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU) ...... 16067 A d) Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Birgit Homburger, Dr. Karl Uwe Beckmeyer (SPD) ...... 16069 A Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ausbau der Schienen- magistrale Paris–Karlsruhe–Stuttgart– Tagesordnungspunkt 22: München–Budapest (Drucksache 15/5041) ...... 16089 D a) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag e) Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, (Bayreuth), Eberhard Otto (Godern), Dr. Wolfgang Schäuble, Christian Schmidt Joachim Günther (Plauen), weiterer Abge- (Fürth), weiterer Abgeordneter und der ordneter und der Fraktion der FDP: Logis- Fraktion der CDU/CSU: Die NATO auf tikstandort Deutschland stärken die neuen Gefahren ausrichten (Drucksache 15/5044) ...... 16089 D (Drucksachen 15/44, 15/324) ...... 16070 D f) Antrag der Bundesregierung: Einwilligung b) Antrag der Abgeordneten Dr. Friedbert gemäß § 12 Abs. 3 des Hochschulbauför- Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble, Christian derungsgesetzes in die Verwendung von Schmidt (Fürth), weiterer Abgeordneter Bundesmitteln für die Gemeinschafts- und der Fraktion der CDU/CSU: 50 Jahre aufgabe Hochschulbau für die gemein- deutsche NATO-Mitgliedschaft würdi- same Forschungsförderung nach Art. 91 b gen, sich zur NATO bekennen und sie des Grundgesetzes stärken (Drucksache 15/5170) ...... 16089 D (Drucksache 15/5323) ...... 16071 A g) Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU) ...... 16071 A CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN und der FDP: Kapitalprivatisie- (SPD) ...... 16074 A rung der Deutschen Flugsicherung abschließen Dr. (FDP) ...... 16076 C (Drucksache 15/5342) ...... 16090 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16078 C Zusatztagesordnungspunkt 6: Günther Friedrich Nolting (FDP) ...... 16080 D a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN) ...... 16081 A NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenver- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) . . . . . 16081 C kehrsgesetzes und anderer straßenver- Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa 16083 D kehrsrechtlicher Vorschriften (Drucksache 15/5315) ...... 16090 A (CDU/CSU) ...... 16085 D b) Erste Beratung des von den Fraktionen der (SPD) ...... 16087 B SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 III

NEN eingebrachten Entwurfs eines Ers- destages – hier: § 96 a (Verfahren nach ten Gesetzes zur Änderung des dem Parlamentsbeteiligungsgesetz) Anspruchs- und Anwartschaftsüber- (Drucksache 15/5245) ...... 16091 C führungsgesetzes g) – j) (Drucksache 15/5314) ...... 16090 A Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- c) Erste Beratung des von den Abgeordneten schusses: Sammelübersichten 197, 198, , , Günter 199 und 200 zu Petitionen Baumann, weiteren Abgeordneten und der (Drucksachen 15/5260, 15/5261, 15/5262, Fraktion der CDU/CSU eingebrachten 15/5263) ...... 16091 D Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungs- gesetzes Zusatztagesordnungspunkt 13: (Drucksache 15/5319) ...... 16090 B a) Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermitt- lungsausschuss) zu dem Zweiten Gesetz Tagesordnungspunkt 25: zur Änderung des Seemannsgesetzes und anderer Gesetze a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung (Drucksachen 15/4638, 15/4744, 15/4923, des von der Bundesregierung eingebrach- 15/5344) ...... 16092 A ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem OCCAR-Geheimschutzübereinkommen b) Beschlussempfehlung des Ausschusses vom 24. September 2004 nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermitt- (Drucksachen 15/4979, 15/5311) ...... 16090 C lungsausschuss) zu dem Gesetz zur Än- derung des Apothekengesetzes b) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksachen 15/4293, 15/4643, 15/4749, Bundesregierung eingebrachten Entwurfs 15/4916, 15/4920, 15/5345) ...... 16092 B eines Gesetzes zur Umbenennung des Bundesgrenzschutzes in Bundespolizei c) Beschlussempfehlung des Ausschusses (Drucksachen 15/5217, 15/5365) ...... 16090 C nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermitt- lungsausschuss) zu dem Gesetz zur Rege- c) Zweite und dritte Beratung des von der lung bestimmter Altforderungen (Alt- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs forderungsregelungsgesetz – AFRG) eines Gesetzes zur Änderung des (Drucksachen 15/4640, 15/4963, 15/5177, Finanz- und Personalstatistikgesetzes 15/5346) ...... 16092 C sowie des Hochschulstatistikgesetzes (Drucksachen 15/5215, 15/5366) ...... 16090 D Zusatztagesordnungspunkt 7: d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion menarbeit und Entwicklung zu dem Ent- der FDP: Haltung der Bundesregierung zu schließungsantrag der Abgeordneten Dr. aktuellen Äußerungen der SPD-Fraktions- Christian Ruck, , Dr. Ralf und -Parteispitze zu Wirtschaftsinvestitio- Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und nen in Deutschland der Fraktion der CDU/CSU) zu der Ab- Dr. (FDP) ...... 16092 D gabe einer Erklärung der Bundesregie- rung: Zukunft sichern – Globale Armut Franz Müntefering (SPD) ...... 16094 A bekämpfen Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) ...... 16095 C (Drucksachen 15/923, 15/1190) ...... 16091 A (Berlin) (BÜNDNIS 90/ e) Beschlussempfehlung und Bericht des DIE GRÜNEN) ...... 16096 D Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 16098 B trag der Abgeordneten Peter Weiß (Em- , Parl. Staatssekretär BMWA . . . 16099 C mendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. , weiterer Abgeordneter und Dr. Andreas Pinkwart (FDP) ...... 16101 C der Fraktion der CDU/CSU: Menschen Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ mit Behinderung in Entwicklungszu- DIE GRÜNEN) ...... 16102 D sammenarbeit einbeziehen (Drucksachen 15/2968, 15/4994) ...... 16091 B Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 16104 A f) Beschlussempfehlung und Bericht des Michael Müller (Düsseldorf) (SPD) ...... 16105 A Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) . . . . 16106 D und Geschäftsordnung: Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bun- Nina Hauer (SPD) ...... 16107 D IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Hermann Kues (CDU/CSU) ...... 16109 A Tagesordnungspunkt 6: Dr. (SPD) ...... 16110 B Antrag der Abgeordneten Dr. , Dr. Friedbert Pflüger, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Frak- Tagesordnungspunkt 5: tion der CDU/CSU: Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages des Auftakts zu Vertrei- a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: bungen und Massakern an den Armeniern Nationaler Aktionsplan für ein kinder- am 24. April 1915 – Deutschland muss zur gerechtes Deutschland 2005 bis 2010 Versöhnung zwischen Türken und Armeni- (Drucksache 15/4970) ...... 16111 C ern beitragen b) Antrag der Abgeordneten Marlene (Drucksache 15/4933) ...... 16127 B Rupprecht (Tuchenbach), , Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) ...... 16127 C Rita Streb-Hesse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- Markus Meckel (SPD) ...... 16128 D ordneten Ekin Deligöz, Jutta Dümpe- Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 16130 C Krüger, Irmingard Schewe-Gerigk, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion des (BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die DIE GRÜNEN) ...... 16131 B Zukunft unseres Landes sichern – Ein kindergerechtes Deutschland schaffen Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU) ...... 16132 D (Drucksache 15/5341) ...... 16111 B (SPD) ...... 16134 B c) Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Angelika Graf (Rosenheim), Kerstin Griese, weiterer Ab- Tagesordnungspunkt 7: geordneter und der Fraktion der SPD so- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wie der Abgeordneten Ekin Deligöz, Jutta wärtigen Ausschusses zu der Unterrichtung Dümpe-Krüger, Volker Beck (Köln), wei- durch die Bundesregierung: Bericht der Bun- terer Abgeordneter und der Fraktion des desregierung zur Zusammenarbeit zwi- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Kin- schen der Bundesrepublik Deutschland und derrechte in Deutschland stärken – Er- den Vereinten Nationen in den Jahren 2002 klärung zur UN-Kinderrechtskonven- und 2003 tion zurücknehmen (Drucksachen 15/4481, 15/4903 Nr. 1, (Drucksache 15/4724) ...... 16111 D 15/5144) ...... 16136 A d) Antrag der Abgeordneten , Dr. Christoph Zöpel (SPD) ...... 16136 B Klaus Haupt, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Dr. Klaus Rose (CDU/CSU) ...... 16138 A Rücknahme der Vorbehaltserklärung Kerstin Müller, Staatsministerin AA ...... 16139 C Deutschlands zur Kinderrechtskonven- tion der Vereinten Nationen Harald Leibrecht (FDP) ...... 16141 B (Drucksache 15/2419) ...... 16112 A Detlef Dzembritzki (SPD) ...... 16142 A , Bundesministerin (CDU/CSU) ...... 16143 B BMFSFJ ...... 16112 B Dr. Conny Mayer (Freiburg) (CDU/CSU) . . . 16144 C Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 16114 B Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 16116 D Tagesordnungspunkt 15: Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 16117 B Antrag der Abgeordneten Gerald Weiß Klaus Haupt (FDP) ...... 16119 A (Groß-Gerau), , Dr. Michael Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . 16120 B Meister, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Mehr Gerechtigkeit Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 16120 D durch soziale Kapitalpartnerschaft – Rah- Dorothee Mantel (CDU/CSU) ...... 16122 A menbedingungen für Vermögensbildung, Investivlöhne und Mitarbeiterbeteiligung (fraktionslos) ...... 16123 A verbessern (Drucksache 15/5104) ...... 16145 C Kerstin Griese (SPD) ...... 16123 D Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) . . . . 16145 D Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16124 A Horst Schild (SPD) ...... 16146 C Angela Schmid (CDU/CSU) ...... 16125 C (FDP) ...... 16148 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 V

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 11: DIE GRÜNEN) ...... 16149 C Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) ...... 16150 D desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments Tagesordnungspunkt 9: und des Rates vom 4. November 2003 be- treffend den Prospekt, der beim öffent- a) Antrag der Abgeordneten Johannes Pflug, lichen Angebot von Wertpapieren oder bei Detlef Dzembritzki, Monika Heubaum, deren Zulassung zum Handel zu veröffent- weiterer Abgeordneter und der Fraktion lichen ist, und zur Änderung der Richtlinie der SPD sowie der Abgeordneten Fritz 2001/34/EG (Prospektrichtlinie-Umset- Kuhn, Marianne Tritz, Volker Beck (Köln), zungsgesetz) weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksachen 15/4999, 15/5219, 15/5373) . . 16167 A des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Kambodscha Tagesordnungspunkt 12: (Drucksache 15/5256) ...... 16152 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- b) Antrag der Abgeordneten Markus Löning, schusses für Gesundheit und Soziale Siche- Dr. Werner Hoyer, Dr. Karl Addicks, wei- rung zu dem Antrag der Abgeordneten Horst terer Abgeordneter und der Fraktion der Seehofer, Andreas Storm, Annette Widmann- FDP: Die Demokratie in Kambodscha Mauz, weiterer Abgeordneter und der Frak- wiederherstellen tion der CDU/CSU: Wirkungen und Neben- (Drucksache 15/5071) ...... 16152 B wirkungen des GKV-Modernisierungsge- setzes – Kritische Bestandsaufnahme Johannes Pflug (SPD) ...... 16152 B (Drucksachen 15/4135, 15/5364) ...... 16167 B Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU) ...... 16153 C in Verbindung mit Jürgen Koppelin (FDP) ...... 16154 C Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16155 A Zusatztagesordnungspunkt 8: Markus Löning (FDP) ...... 16156 A Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge- (CDU/CSU) ...... 16156 C setzes zur Sicherung der Arzneimittelver- sorgung bei Kindern und Jugendlichen (Drucksache 15/5318) ...... 16167 C Tagesordnungspunkt 10: Wolfgang Zöller (CDU/CSU) ...... 16167 C Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Gudrun Schaich-Walch (SPD) ...... 16169 B ordneten , Rainer Brüderle, , weiteren Abgeordneten Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . 16170 B und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- Dr. Dieter Thomae (FDP) ...... 16171 B wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23) zur Einführung ei- Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . 16171 A nes Volksentscheids über eine europäische Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . 16171 D Verfassung (Drucksachen 15/2998, 15/4796) ...... 16157 D Dr. Erika Ober (SPD) ...... 16173 C Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 16158 A Markus Löning (FDP) ...... 16158 C Tagesordnungspunkt 13: Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) . . . 16160 C Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Neunten Gesetzes zur Änderung des DIE GRÜNEN) ...... 16162 A Wohngeldgesetzes (Drucksachen 15/4977, 15/5309, 15/5310) . . 16174 D Dr. (CDU/CSU) ...... 16163 B Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16163 D Tagesordnungspunkt 14: Ernst Burgbacher (FDP) ...... 16164 B a) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der (CDU/CSU) ...... 16165 C Abgeordneten Dietrich Austermann, VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Steffen Kampeter, , weiterer Tagesordnungspunkt 16: Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Konversionsregionen stärken – Beschlussempfehlung und Bericht des Sport- Verbilligte Abgabe von zu Verteidi- ausschusses gungszwecken nicht mehr benötigten – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans Liegenschaften ermöglichen Büttner (Ingolstadt), Reinhold Hemker, (Drucksachen 15/4531, 15/4767) ...... 16175 A (Heidelberg), weiterer Ab- b) Beschlussempfehlung und Bericht des geordneter und der Fraktion der SPD so- Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu wie der Abgeordneten , dem Antrag der Abgeordneten Dagmar Volker Beck (Köln), Michaele Hustedt, Wöhrl, Anita Schäfer (Saalstadt), Karl- weiterer Abgeordneter und der Fraktion Josef Laumann, weiterer Abgeordneter des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: und der Fraktion der CDU/CSU: Konver- Sportförderung in den auswärtigen sionsregionen stärken – Sechs-Punkte- Kulturbeziehungen ausbauen Plan zur Strukturpolitik – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus (Drucksachen 15/4029, 15/4789) ...... 16175 B Riegert, Peter Letzgus, Günter Nooke, c) Beschlussempfehlung und Bericht des weiterer Abgeordneter und der Fraktion Haushaltsausschusses zu dem Antrag der der CDU/CSU: Sportförderung des Bun- Abgeordneten (Hil- des im Ausland stärken und als Teil der desheim), (Neuruppin), Lothar auswärtigen Kulturpolitik begreifen Binding (Heidelberg), weiterer Abgeord- (Drucksachen 15/1879, 15/2575, 15/4691) . . 16184 A neter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Anja Hajduk, Volker Beck Reinhold Hemker (SPD) ...... 16184 B (Köln), , weiterer Abge- Gerlinde Kaupa (CDU/CSU) ...... 16186 A ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: Bewältigung der Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ Konversionslasten durch gemeinsame DIE GRÜNEN) ...... 16187 B Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen Detlef Parr (FDP) ...... 16188 B (Drucksachen 15/4520, 15/4766) ...... 16175 C (CDU/CSU) ...... 16189 A d) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Helga Daub, Angelika Brunkhorst, Günther Friedrich Nolting, Zusatztagesordnungspunkt 9: weiterer Abgeordneter und der Fraktion Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- der FDP: Hilfe durch den Bund für die schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit von Reduzierung und Schließung be- und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- troffenen Bundeswehrstandorte ist un- ordneten (Meschede), Karin verzichtbar Kortmann, Detlef Dzembritzki, weiterer Ab- (Drucksachen 15/1022, 15/4768) ...... 16175 C geordneter und der Fraktion der SPD, der Ab- geordneten Christa Reichard (Dresden), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Tagesordnungspunkt 8: Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Undine Kurth Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (Quedlinburg), Thilo Hoppe, Volker Beck schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: ten Dr. , Kurt-Dieter Grill, Dr. Biologische Vielfalt schützen und zur Ar- Peter Paziorek, weiterer Abgeordneter und mutsbekämpfung und nachhaltigen Ent- der Fraktion der CDU/CSU: Keine weitere wicklung nutzen Verzögerung in der Frage der Entsorgung (Drucksachen 15/4661, 15/5337) ...... 16190 C nuklearer Abfälle (Drucksachen 15/3492, 15/4889) ...... 16176 A Martina Eickhoff (SPD) ...... 16176 B Zusatztagesordnungspunkt 10: Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU) ...... 16177 D Antrag der Abgeordneten Dr. Conny Mayer Horst Kubatschka (SPD) ...... 16179 D (Freiburg), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Birgit Homburger (FDP) ...... 16181 A Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Togos Weg in die Demo- Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU) ...... 16182 B kratie unterstützen – Afrikanische Union Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 VII

(AU) und ECOWAS beim Engagement für Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 16197 C Demokratie, Menschenrechte und Rechts- staatlichkeit unterstützen Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF ...... (Drucksache 15/5324) ...... 16191 A 16198 A

Nächste Sitzung ...... 16191 C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Berichtigung ...... 16191 C des Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Än- derung des Wohngeldgesetzes (Tagesord- nungspunkt 13) Anlage 1 Wolfgang Spanier (SPD) ...... 16198 D Liste der entschuldigten Abgeordneten...... 16193 A (CDU/CSU) ...... 16199 C (CDU/CSU) ...... 16200 B Anlage 2 Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 16201 B Petra Pau und Dr. Gesine Lötzsch (beide frak- Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 16201 D tionslos) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Umbenennung des Bun- Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin desgrenzschutzes in Bundespolizei (Tagesord- BMVBW ...... 16202 C nungspunkt 25 b) ...... 16193 B

Anlage 7 Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Erklärung des Abgeordneten der Anträge: (SPD) zur Abstimmung über die Beschluss- – Konversionsregionen stärken – Verbil- empfehlung des Vermittlungsausschusses zu ligte Abgabe von zu Verteidigungszwe- dem Zweiten Gesetz zur Änderung des See- cken nicht mehr benötigten Liegenschaf- mannsgesetzes und anderer Gesetze (Zusatz- ten ermöglichen tagesordnungspunkt 13 a) ...... 16194 A – Konversionsregionen stärken – Sechs- Punkte-Plan zur Strukturpolitik Anlage 4 (Tagesordnungspunkt 14 a und b) Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD) . . . 16203 C Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23) zur Einführung eines Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . 16205 B Volksentscheids über eine europäische Verfas- sung (Tagesordnungspunkt 10) (CDU/CSU) ...... 16206 B Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ Petra Pau (fraktionslos) ...... 16194 A DIE GRÜNEN) ...... 16207 B Gudrun Kopp (FDP) ...... 16208 A Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Anlage 8 des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Parlaments und des Rates vom 4. November des Antrags: Keine weitere Verzögerung in 2003 betreffend den Prospekt, der beim öf- der Frage der Entsorgung nuklearer Abfälle fentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei (Tagesordnungspunkt 8) deren Zulassung zum Handel zu veröffent- lichen ist, und zur Änderung der Richtlinie Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD) ...... 16208 C 2001/34/EG (Prospektrichtlinie-Umsetzungs- Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/ gesetz) (Tagesordnungspunkt 11) DIE GRÜNEN) ...... 16209 B Nina Hauer (SPD) ...... 16194 C (CDU/CSU) ...... 16195 A Anlage 9 Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN) ...... 16196 D des Antrags: Biologische Vielfalt schützen VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 und zur Armutsbekämpfung und nachhaltigen unterstützen – Afrikanische Union (AU) und Entwicklung nutzen (Tagesordnungspunkt 9) ECOWAS beim Engagement für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit un- Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD) ...... 16210 B terstützen (Tagesordnungspunkt 10) Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU) . . . . 16212 A Gabriele Groneberg (SPD) ...... 16215 A Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 16213 D Dr. Conny Mayer (Freiburg) (CDU/CSU) . . . 16216 A Ulrich Heinrich (FDP) ...... 16214 C (Lübeck) (CDU/CSU) ...... 16216 D

Anlage 10 Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 16217 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Togos Weg in die Demokratie Ulrich Heinrich (FDP) ...... 16218 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16045

(A) (C) Redetext

172. Sitzung

Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Fraktion der SPD schlägt den Kollegen Horst Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Schmidbauer (Nürnberg) und die Fraktion der CDU/ Sitzung ist eröffnet. CSU die Kollegin Dorothee Mantel vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann Vorgestern, am 19. April 2005, hat das Kardinalskol- sind die Kollegin und der Kollege als Mitglieder für den legium mit Joseph Kardinal Ratzinger zum ersten Mal Stiftungsrat „Humanitäre Hilfe“ benannt. seit fast 482 Jahren einen Deutschen zum Papst gewählt. Ich habe Papst Benedikt XIV. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih- (Zurufe) nen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: – Entschuldigung, dem XVI. – im Namen des Deutschen ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Bundestages bereits schriftlich die herzlichen Glück- gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO BT zu den Antwor- wünsche zu seiner Wahl zum Oberhaupt der katholi- ten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen auf Drucksache 15/5312 (B) schen Kirche übermittelt. (D) (siehe 171. Sitzung) (Beifall) ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Für eine nationale Kraftanstrengung – Pakt für Deutschland um- Für seine große Aufgabe dürfen wir unserem Lands- setzen mann Benedikt XVI. von dieser Stelle aus alles, alles Gute wünschen. – Drucksache 15/5322 – Überweisungsvorschlag: Bevor wir zur Tagesordnung übergehen möchte ich Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) auf der Tribüne die Präsidentin des griechischen Parla- Finanzausschuss ments, Frau Professor Anna Benaki, herzlich begrüßen. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Beifall) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wir hoffen, dass Sie einen aufschlussreichen – wenn Haushaltsausschuss auch kurzen – Eindruck unserer parlamentarischen Ar- ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer (Ham- beit gewinnen können. Für Ihren Aufenthalt in unserem burg), Dietrich Austermann, Eduard Oswald, weiterer Abge- Haus und in Deutschland und für Ihr weiteres parlamen- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Notwendige Inves- titionen in die deutsche Verkehrsinfrastruktur tarisches Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche. bereitstellen (Beifall) – Drucksache 15/5325 – Überweisungsvorschlag: Die Kollegin Erika Simm feierte am 16. April ihren Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) 65. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich ihr Haushaltsausschuss sehr herzlich und verbinde mit den besten Wünschen ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich auch unseren Dank für ihre Arbeit als Vorsitzende des (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Dr. Karl Addicks, Geschäftsordnungsausschusses. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Infrastruk- turinvestitionen erhöhen – Neue Wege bei Finanzierung (Beifall) und Betrieb der Bundesfernstraßen Sodann müssen die Mitglieder im Stiftungsrat der – Drucksache 15/5338 – Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV- Überweisungsvorschlag: infizierte Personen“ neu gewählt werden, da ihre Amts- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Finanzausschuss zeit am 30. Juli dieses Jahres endet. Gemäß § 8 Abs. 1 Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit des HIV-Hilfegesetzes werden zwei Mitglieder für den Ausschuss für Tourismus Stiftungsrat vom Deutschen Bundestag benannt. Die Haushaltsausschuss 16046 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Präsident Wolfgang Thierse (A) ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Koppelin, und zur Armutsbekämpfung und nachhaltigen Entwick- (C) Rainer Brüderle, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter lung nutzen und der Fraktion der FDP: Vorfahrt für Arbeit – Der Weg – Drucksachen 15/4661, 15/5337 – nach vorne für Deutschland und Europa Berichterstattung: – Drucksache 15/5339 – Abgeordnete Dagmar Schmidt (Meschede) Überweisungsvorschlag: Christa Reichard (Dresden) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Thilo Hoppe Innenausschuss Ulrich Heinrich Rechtsausschuss ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Conny Mayer Finanzausschuss (Freiburg), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Togos Weg in Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung die Demokratie unterstützen – Afrikanische Union (AU) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und ECOWAS beim Engagement für Demokratie, Men- Haushaltsausschuss schenrechte und Rechtsstaatlichkeit unterstützen ZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren – Drucksache 15/5324 – (Ergänzung zu TOP 24) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Entwicklung (f) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Auswärtiger Ausschuss wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenver- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe kehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtli- ZP 11 Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang cher Vorschriften Bosbach, Dr. Jürgen Gehb, Daniela Raab, weiteren Abgeord- – Drucksache 15/5315 – neten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs Überweisungsvorschlag: eines … Strafrechtsänderungsgesetzes – Graffiti-Bekämp- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) fungsgesetz – (… StrÄndG) Rechtsausschuss – Drucksache 15/5317 – b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Überweisungsvorschlag: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Rechtsausschuss (f) wurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des An- Innenausschuss spruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 15/5314 – Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Überweisungsvorschlag: ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Dr. Karl Addicks, Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: EU-Nitrat- Haushaltsausschuss richtlinie in nationales Recht umsetzen – Wettbewerbs- (B) c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, nachteile für heimische Landwirte durch Düngeverord- (D) Ulrich Adam, Günter Baumann, weiteren Abgeordneten nung verhindern und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs – Drucksache 15/4432 – eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Überweisungsvorschlag: Rehabilitierungsgesetzes Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und – Drucksache 15/5319 – Landwirtschaft (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- Innenausschuss weit erforderlich – abgewichen werden. Finanzausschuss Haushaltsausschuss Ferner sollen die Vorlagen unter Punkt 22 – NATO- ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Hal- Mitgliedschaft – bereits heute als zweites Kernzeitthema tung der Bundesregierung zu aktuellen Äußerungen der behandelt und somit die Punkte 4 a bis 4 f abgesetzt wer- SPD-Fraktions- und Parteispitze zu Wirtschaftsinvesti- den. Die Punkte 8 und 15 werden getauscht. Außerdem tionen in Deutschland soll der Punkt 21 – Akustische Wohnraumüberwachung – ZP 8 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU einge- abgesetzt werden. brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Arz- neimittelversorgung bei Kindern und Jugendlichen Schließlich mache ich noch auf nachträgliche Über- – Drucksache 15/5318 – weisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk- Überweisungsvorschlag: sam: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Der in der 169. Sitzung des Deutschen Bundestages Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- dem Haushaltsausschuss zur Mitberatung überwiesen schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- werden. lung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Dagmar Schmidt (Meschede), Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Ände- SPD, der Abgeordneten Christa Reichard (Dresden), rung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsge- Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordne- setzes ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Thilo Hoppe, Volker Beck – Drucksache 15/5244 – (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Überweisungsvorschlag: NISSES 90/DIE GRÜNEN: Biologische Vielfalt schützen Rechtsausschuss (f) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16047

Präsident Wolfgang Thierse (A) Innenausschuss ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU (C) Finanzausschuss Haushaltsausschuss Für eine nationale Kraftanstrengung – Pakt für Deutschland umsetzen Der in der 157. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem – Drucksache 15/5322 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und dem Verteidi- gungsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Finanzausschuss Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich (Bay- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung reuth), Birgit Homburger, Hans-Michael Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Goldmann weiterer Abgeordneter und der Frak- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit tion der FDP: Leitlinien für die Privatisierung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss der Deutschen Flugsicherung – Gesamtkon- zept zur Neuordnung der Flugsicherung ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Dietrich Austermann, Eduard – Drucksache 15/4670 – Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Überweisungsvorschlag: der CDU/CSU Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Notwendige Investitionen in die deutsche Ver- Verteidigungsausschuss kehrsinfrastruktur bereitstellen Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss – Drucksache 15/5325 – Der in der 157. Sitzung des Deutschen Bundestages Überweisungsvorschlag: überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Verteidigungsausschuss und dem Haushaltsausschuss Haushaltsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Antrag der Abgeordneten Norbert Königshofen, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weite- Fraktion der FDP rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Maßnahmen zur Kapitalprivatisierung Infrastrukturinvestitionen erhöhen – Neue (B) der Deutschen Flugsicherung GmbH Wege bei Finanzierung und Betrieb der Bun- (D) desfernstraßen – Drucksache 15/4829 – Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/5338 – Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Verteidigungsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Koppelin, Rainer Brüderle, Dr. Karl Addicks, wei- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie die Zusatz- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP punkte 2 bis 5 auf: Vorfahrt für Arbeit – Der Weg nach vorne für 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Deutschland und Europa Beckmeyer, Klaus Brandner, Dr. Michael Bürsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD – Drucksache 15/5339 – sowie der Abgeordneten Albert Schmidt (Ingol- Überweisungsvorschlag: stadt), Anja Hajduk, Volker Beck (Köln), weite- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Innenausschuss Rechtsausschuss NISSES 90/DIE GRÜNEN Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Investitionskräfte stärken – Neue Impulse für Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wachstum und Beschäftigung Haushaltsausschuss – Drucksache 15/5340 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes- Haushaltsausschuss minister Manfred Stolpe das Wort. 16048 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- mit Schwerpunkt gerade in der mittelständischen Wirt- (C) kehr, Bau- und Wohnungswesen: schaft. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herren! Deutschland braucht Investitionen, eine schon des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) oft geäußerte Binsenweisheit. Das Entscheidende ist: Dieses Programm wird jetzt (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Warum macht ohne Zeitverzug seine Wirkung entfalten können. Wir ihr es dann nicht?) können handeln. Wir können dafür sorgen, dass Aufträge Jetzt kommt es darauf an, dass etwas getan wird. an die Bauwirtschaft ausgelöst werden. Die wartet schon darauf. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die wartet DIE GRÜNEN – Lachen und Beifall bei der schon sehr lange darauf!) CDU/CSU und der FDP – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja, eben! – Dr. Andreas Pinkwart Glückwunschschreiben habe ich schon bekommen. Ich [FDP]: Bravo!) hoffe, auch bei Ihnen wird das angekommen sein. Wir werden zunächst im Jahr 2005, um schnell handeln zu – Wenn Sie ein bisschen zuhören würden, dann hätten können, eine Reihe von Einzelmaßnahmen starten, so- Sie vermutlich – wenn Sie ehrlich sind – Freude daran, dass ohne Verzug gearbeitet werden kann. zu erfahren, dass wir etwas bewegen können. Wir haben Handlungsbedarf in drei Bereichen: in den In diesem Land stecken nämlich doch beachtliche Bereichen der Schiene, der Wasserstraße und der Straße. Potenziale. Mehr Investitionen, mehr Wachstum und Für die Schiene und die Wasserstraße soll mehr als die mehr Beschäftigung sind möglich. Die Bundesregierung Hälfte der Mittel eingesetzt werden. Wir brauchen diese ist entschlossen, die Kräfte, die in Deutschland da sind, umweltfreundlichen Verkehrsträger als starke Wettbe- in Bewegung zu setzen. Am 17. März dieses Jahres hat werber, um das Verkehrswachstum – es ist unaufhaltsam der Bundeskanzler vor diesem Hause eine wichtige Re- und für die Mobilität in der Wirtschaft unverzichtbar – gierungserklärung abgegeben. In dieser Regierungser- vor allem in den Bereichen des Güterverkehrs bewälti- klärung gab es ein paar zentrale Punkte, die ich heute an- gen zu können. Die Straße ist und bleibt ein Hauptleis- sprechen möchte. tungsträger. Deshalb werden wir etwa 900 Millionen Euro zusätzlich für das Bundesfernstraßennetz einset- Ich möchte erstens darüber informieren, dass wir in zen. der nächsten Woche im Bundeskabinett ein wichtiges In- vestitionsthema angehen wollen: die Weiterführung des Mit dem 2-Milliarden-Programm im Ganzen wird der (B) Gebäudesanierungsprogramms der KfW-Förderbank. Verkehrsstandort Deutschland gesichert und verbessert. (D) 2006 und 2007 werden für die Fortführung dieses Pro- Unsere Stärken im Wachstumsfeld Mobilität und Logis- gramms 720 Millionen Euro zur Zinsverbilligung und tik bauen wir aus. Das wird Innovationen ermöglichen. auch für Teilschuldenerlasse zur Verfügung stehen. Das Wir verbessern unsere Vernetzung in Europa. Damit be- heißt im Klartext, man wird damit Darlehen in der Grö- schleunigen wir auch den Aufbau Ost. ßenordnung von 3 Milliarden Euro auslösen und Bau- Wichtig sind dabei Erhaltungsinvestitionen für leistungen in der Größenordnung von 5 Milliarden Euro Straße und Binnenwasserstraße. Dazu gehören die Sa- bewegen können. Das ist schon allerhand. nierung von Brücken und Schleusen und die Nachrüs- tung von Tunnels. Über die Erhaltungsmaßnahmen hi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten naus können wir schon dieses Jahr bei den des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bundesfernstraßen neue Maßnahmen des vordringlichen In enger Abstimmung mit der KfW-Förderbank soll Bedarfs beginnen und begonnene spürbar beschleuni- diese Förderung dann in Zukunft auf solche Maßnahmen gen. konzentriert werden, die einen hohen Energie- und CO2- Wir sichern die Leistungskraft des Wirtschaftsstand- Einspareffekt haben werden. Jede in diesen Bereich in- ortes Deutschland und wir sichern dabei ganz besonders vestierte Milliarde schafft 25 000 Arbeitsplätze. Das die Leistungskraft der starken Potenziale, in denen sich macht in den Jahren 2006 und 2007 rund gegenwärtig die Hauptentwicklung unseres Landes be- 125 000 Arbeitsplätze aus, die gesichert oder neu ge- wegt. Das heißt, die Wachstumskräfte, die in Baden- schaffen werden können. Das ist Tatsache; das ist keine Württemberg, in Nordrhein-Westfalen und in Bayern Ankündigung. Das geht sofort in Gang. vorhanden sind, werden durch diese Maßnahmen unter- stützt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sichere und neue Erwerbschancen erreichen wir auch mit dem zweiten Investitionsprogramm. Gestern haben Die maritimen Standorte an Nord- und Ostsee werden wir im Kabinett Verkehrsinvestitionen in Höhe von durch bessere Anbindungen auf das künftige Verkehrs- 2 Milliarden Euro vorgesehen; ich habe hier im Hause wachstum vorbereitet. schon kurz darüber berichten können. Das heißt im Ein- Wir schaffen auch Voraussetzungen für Wachstum zelnen: Von 2005 bis 2008 mobilisieren wir jährlich eine und Arbeit im Osten Deutschlands. halbe Milliarde zusätzlich für Investitionen in den Ver- kehr. Das schafft ganz direkt bis zu 60 000 Arbeitsplätze (Beifall des Abg. Siegfried Scheffler [SPD]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16049

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) Von unseren sofortigen Investitionsmaßnahmen bei der Solche Lösungen brauchen wir, damit am 1. Januar 2006 (C) Straße profitieren zum Beispiel Mecklenburg-Vorpom- diese rechtliche Regelung in Kraft treten kann. mern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine Damen und Herren, für die Zukunft der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schiene verstärken wir unsere wichtigen, herausragen- Meine Damen und Herren, wir wollen aber auch zu- den Projekte mit zusätzlichen Investitionsmitteln und sätzliche private Investitionen für die Verkehrswege werden im Jahr 2005 – als eine Ausnahmeregelung von mobilisieren. Die A-Modelle – wir haben häufig darüber der bisherigen Praxis – ein Bahnhofssanierungspro- gesprochen; wir haben die ersten Pilotprojekte in Gang gramm in enger Abstimmung mit der Bahn auf den Weg gesetzt – sind dazu ein Weg. Wir brauchen aber weitere bringen. Auch das ist eine Maßnahme, die wichtig ist für Unterstützung und Flankierung. Wir brauchen die An- Aufträge, wichtig ist für Arbeit und die darüber hinaus werbung zusätzlicher Investitionsmittel. die Attraktivität des Schienenverkehrs erheblich erhöhen wird. Deshalb möchte ich hier einen vierten Punkt nennen: die Überlegung, ein ÖPP-Beschleunigungsgesetz zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ starten. Die internationalen Erfahrungen zeigen, dass öf- DIE GRÜNEN) fentlich-private Partnerschaften ein wichtiges Instrument Wir werden dann für den weiteren Fortgang des Vor- sein können. Dabei kommt es darauf an, das Know-how habens, also für die Jahre 2006 und folgende, in den al- von beiden Seiten – von den privaten, aber auch von den lernächsten Wochen ein Maßnahmenpaket erarbeiten, öffentlichen Händen – zu verbinden und damit die Leis- um die nötigen Prioritäten zu entscheiden. Wir werden tungsfähigkeit zu potenzieren. Wir sind dabei in den das in Abstimmung mit den Verkehrspolitikern dieses letzten Monaten bereits intensiv unterwegs. Es hat gute Hauses, aber auch mit den Ländern vornehmen. Dabei Absprachen gegeben, auch mit anderen Ministerien, zum wollen wir von einem modernisierten Planungsrecht Beispiel mit dem Finanzministerium. Ich gehe davon profitieren. Das wird eine Beschleunigung von Baumaß- aus, dass das ganze Haus dieses Projekt unterstützen nahmen bringen. wird. Ziel ist es, bis zur Sommerpause den Entwurf eines Damit komme ich zu meinem dritten Punkt: Be- entsprechenden Gesetzes zu erarbeiten, um die rechtli- schlossene Infrastrukturprojekte müssen zügiger reali- chen Rahmenbedingungen von öffentlich-privater Part- siert werden können. Daher werden wir noch vor der nerschaft in Deutschland zu verbessern und noch beste- Sommerpause den Entwurf eines Infrastruktur- und Pla- hende Benachteiligungen gegenüber anderen Formen nungsbeschleunigungsgesetzes vorlegen. Es wird eine der Beschaffung abzubauen. Die laufenden Arbeiten be- (B) deutliche Beschleunigung für ganz Deutschland bringen (D) ziehen sich auf Regelungen im Vergaberecht, im Haus- und wird die guten Erfahrungen, die wir mit dem halts- und Förderrecht, im Steuerrecht, im Gebühren- Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz im Osten recht sowie auf Fragen im Bereich der Finanzierung. gemacht haben, für ganz Deutschland umsetzen. Meine Damen und Herren, die Maßstäbe unserer Re- (Beifall bei der SPD) form- und Investitionspolitik sind eindeutig. Wir wollen Wir gehen davon aus, dass wir mit einem solchen Gesetz und wir müssen alle miteinander Deutschland nach die Planungsphase für wichtige Infrastrukturvorhaben vorne bringen. Ich bitte um Ihre Unterstützung. Wir han- um mindestens 30 Prozent verkürzen können. deln jetzt. In der Ressortabstimmung müssen wir noch einige (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Fragen klären, so zum Beispiel die Zahl der Klageinstan- DIE GRÜNEN) zen. In der Anhörung habe ich jetzt meinen Entwurf vor- gestellt und dabei auch auf die Erfahrungen des Ostens Präsident Wolfgang Thierse: zurückgegriffen; das heißt: eine Klageinstanz. Ich erteile das Wort Kollegen , CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das wird von allen Bundesländern unterstützt. Darüber Volker Kauder (CDU/CSU): wird es aber sicherlich noch Diskussionen geben. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Wir haben ein Ziel bei dem Ganzen: Es muss schnell Herren! Herr Minister Stolpe, die Dynamik Ihres Vor- gehen, es muss effektiv durchgeführt werden. Wir müs- trags hat eindrucksvoll die Dynamik dieser Bundesregie- sen dann zuverlässige Bedingungen für Investitionen in rung dargestellt. Deutschland haben. Dann kann besser kalkuliert werden, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Rainer wann wichtige Verkehrswege, wann städtische Bauvor- Fornahl [SPD]: Das ist doch peinlich!) haben und Versorgungsleitungen fertig sein werden. Die Attraktivität Deutschlands als Investitionsstandort kann Ich habe den Eindruck, dass wir nicht nur ein Beschleu- damit noch deutlich erhöht werden. Ich appelliere an das nigungsgesetz zur Umsetzung der Aufgaben brauchen, ganze Haus, dass wir diese Dinge ernsthaft und sachlich sondern vor allem auch ein Regierungsbeschleunigungs- angehen und dann auch zügig zu Lösungen kommen. gesetz. Das wäre zwingend notwendig. 16050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Volker Kauder (A) Sie haben so schön formuliert: Wir sind auf dem Wir dürfen heute nicht aufessen, wovon unsere Kin- (C) Weg. – Ja, diese Regierung ist ständig auf dem Weg. der und Kindeskinder morgen und übermorgen auch Aber sie kommt nie an. Das ist das Problem in unserem noch leben wollen. – Das ist ein Originalzitat von Bun- Land. deskanzler Schröder vom Mai 2003. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ute Kumpf [SPD]: Baden-Württemberg ist auch schon an der Spitze!) Als ich den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion gele- sen habe, hatte ich zunächst die Hoffnung, Sie würden Es wäre schön, wenn Sie sich auch daran halten würden, darin auch erklären, wie es mit der Umsetzung dessen nicht das aufzuessen, wovon die Kinder in Zukunft leben vorangeht, was der Bundeskanzler in seiner Regierungs- wollen. erklärung zur Fortführung der Agenda 2010 angekün- (Beifall bei der CDU/CSU) digt hat. Aus dem Antrag geht aber dazu nichts konkret hervor. Die Menschen in unserem Land sehen die rot-grüne Erfolglosigkeit und reagieren darauf. Bei den Landtags- Einen bemerkenswerten Satz habe ich in Ihrem An- wahlen, in den Meinungsumfragen und auch in Nord- trag allerdings gefunden: „Die Erfolgsgeschichte der rhein-Westfalen sieht es für die SPD nicht sehr gut aus. Agenda 2010 wird fortgesetzt.“ Deswegen wird der SPD-Vorsitzende auf einmal er- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert staunlich nervös und greift in die Mottenkiste des Klas- Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE senkampfes. Dass das reines Wahlkampfmanöver ist, GRÜNEN]) meinen auch die Journalisten, die Ihnen gar nicht so fern stehen. Lassen Sie uns gemeinsam einen kurzen Blick auf diese Erfolgsgeschichte werfen: 5,2 Millionen Arbeitslose in Wie schlimm muss es um die SPD stehen, wenn ein Deutschland. Auch ohne die erwerbsfähigen Empfänger Vorsitzender ideologische Seelenmassage betreiben des Arbeitslosengeldes II bedeutet das die höchste muss. Arbeitslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik (Zuruf von der SPD: Unsinn! – Albert Schmidt Deutschland. [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Franz Müntefering [SPD]: Das stimmt doch Sie reden überhaupt nicht zur Sache! Eine gar nicht! Sie erzählen hier wieder Geschich- Wald-und-Wiesen-Rede!) ten! Das ist doch Kauderwelsch!) Mit dem Verständnis ist aber dann Schluss, wenn die Staatssekretärin die Bevölkerung aufruft, die Auch saisonbereinigt stieg die Arbeitslosigkeit im März (B) deutsche Wirtschaft zu boykottieren. (D) weiter an, und zwar um weitere 92 000 Arbeitslose. Eine schöne Erfolgsgeschichte, die Sie uns präsentieren! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäf- Dass die Bundesregierung – vertreten durch eine Staats- tigten ging um 156 000 zurück. Tag für Tag gehen rund sekretärin – dazu auffordert, die deutsche Wirtschaft zu 1 000 Arbeitsplätze verloren. Eine bemerkenswerte Er- boykottieren, hat es in den letzten Jahren nicht gegeben. folgsbilanz, die Sie vorzuweisen haben! So werden Arbeitsplätze vernichtet und die Menschen in diesem Land müssen darunter leiden. Das gilt für dieje- Es bleibt dabei, Herr Müntefering – auch wenn Sie nigen, die noch Arbeit haben, aber vor allen Dingen für noch so viel reden –: Rot-Grün ist die Koalition der die Arbeitslosen. Das ist eine miserable Politik. Massenarbeitslosigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Siegfried Scheffler [SPD]: Fragen Sie doch Leider ist dies das Ergebnis Ihrer Politik. mal Herrn Blüm danach!) Rot-Grün ist aber auch die Schlusslichtkoalition: Auch Betriebe, die der SPD gehören, haben Arbeits- Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum, bei der Ent- plätze abgebaut, Herr Müntefering. Zum Beispiel die wicklung unseres Wohlstandes und in allen anderen we- „Frankfurter Rundschau“ wird die Arbeitsplätze um ein sentlichen Punkten. Rot-Grün macht ärmer. Arbeitneh- Drittel reduzieren. mer in Deutschland haben 2005 im Schnitt fast 1 Prozent (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ weniger in der Tasche als 2004. Eine tolle Erfolgsbilanz, DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch mal zur Sa- die Sie hier vorlegen! Es ist Zynismus gegenüber den che! – Uwe Beckmeyer [SPD]: Sagen Sie et- Menschen, wenn Sie Ihre Politik und deren Auswirkun- was zur Verkehrspolitik!) gen als Erfolgsbilanz bezeichnen. Bestellen Sie nun das Abo Ihrer Lieblingszeitung ab? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Befolgen Sie also den Auftrag von Frau Vogt oder nicht? neten der FDP) Die absurde Forderung von Frau Vogt zeigt, dass Sie die Geister, die Sie gerufen haben, nicht mehr in den Griff Rot-Grün ist aber auch die Koalition der Zukunftskil- bekommen. ler. Das vierte Mal in Folge wird Deutschland in diesem Jahr den Stabilitätspakt der Europäischen Union verlet- Es drängt sich ohnehin der Verdacht auf, dass man es zen und mehr Schulden aufnehmen als erlaubt. in der SPD von Anfang an mit den Menschen nicht ernst Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16051

Volker Kauder (A) gemeint hat. Noch zum Jahreswechsel 2002/03 sagte haben – das sehen wir auch bei der Umsetzung von (C) Franz Müntefering: Hartz IV – ein Arbeitsplatzproblem in Deutschland, Herr Müntefering. Für die Lösung dieses Problems muss eine Dennoch, was wir machen, ist richtig: weniger für richtige Politik gemacht werden. Wir brauchen wieder den privaten Konsum und dem Staat mehr Geld ge- mehr Arbeitsplätze in unserem Land. Mit Ihrer Politik ben … Beton ist ein moderner Baustoff, mit dem und Ihren Methoden wird dies aber nicht gelingen. man viel Schönes machen kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dann kam die Agendarede von Schröder und neten der FDP) Müntefering sagte: Schauen wir uns einmal ganz konkret an, was auf dem Ich bekenne mich dazu, dass wir nach der Bundes- so genannten Jobgipfel vereinbart worden ist! Viele tagswahl noch manches anders gesehen haben als Punkte, die wirklich wichtig sind und die heute. und Edmund Stoiber vorgetragen haben, sind von Ihnen Daraufhin stellte ein großes Magazin die Frage: bisher noch gar nicht akzeptiert worden. Aber selbst das, was Sie nach eigenem Bekunden machen wollen, wozu Herr Müntefering, wann dämmerte Ihnen, dass es Sie bereit sind, haben Sie bis zum heutigen Tage noch so nicht weitergeht? nicht umgesetzt. 35 Tage sind seit dem Jobgipfel vergan- Herr Müntefering antwortete: gen und Sie haben noch nichts Konkretes auf den Tisch des Hauses gelegt. Mein Damaskus ereignete sich im letzten Quartal 2002. Da wurde mir klar: Das haut alles überhaupt (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das machen wir nicht hin. doch, Herr Kauder! Haben Sie unseren Antrag nicht gelesen?) Heute, zwei Jahre später, werden wieder genau die gleichen alten Klassenkampfparolen hervorgeholt. Ich – Wenn Sie den von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sage Ihnen, Herr Müntefering: Es gibt Leute, die auf vorgelegten Antrag als etwas Konkretes bezeichnen, dem Weg nach Damaskus vom Saulus zum Paulus ge- dann ist das eine jämmerliche Aussage; denn er ist über- worden sind. Es gibt auch Leute, die auf dem Weg von haupt nichts Konkretes. Wenn das, was Herr Minister Damaskus vom Paulus zum Saulus geworden sind. Aber Stolpe vorgetragen hat, ein Zukunftsprogramm sein soll, dass jemand beim Hin- und Rückweg an der gleichen dann kann ich nur sagen: Sie haben wirklich allen Stelle Grund, darüber nachzudenken, ob Sie noch auf der Höhe der Probleme sind. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Aber niemand ist (B) zum Kauder geworden!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) neten der FDP – Uwe Beckmeyer [SPD]: Das zweimal Erweckungserlebnisse hat, ist ausgesprochen ist ein 2-Milliarden-Verkehrsprogramm, Herr selten. Kauder! Lesen Sie das durch, dann können Sie (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und nur noch zustimmen! CDU-Gerede!) der FDP) – Meistens ist es so, dass diejenigen, die wirklich nichts Das nährt doch den Verdacht, Herr Müntefering, dass je- zu bieten haben, am lautesten schreien. Das trifft auch mand in Wirklichkeit gar nicht in Damaskus gewesen ist auf Sie zu. und den Menschen von Anfang an nur Geschichten er- (Lachen bei der SPD) zählt hat. Wir haben jedenfalls ganz konkrete Vorschläge ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- macht. Der Bundeskanzler hat von diesem Rednerpult neten der FDP) aus gesagt: Eine Senkung der Unternehmensteuern So ruiniert man auch den Rest an Vertrauen und Glaub- wäre und ist ein richtiges Signal. Aber das muss seriös würdigkeit in der Politik. Das zeigt wieder einmal, dass finanziert werden. Der Bundeskanzler hat von „einkom- das, was man über Ihre Politik sagt, richtig ist: verspro- mensneutraler Finanzierung“ gesprochen. chen und gebrochen. Das ist leider das Motto, nach dem Steuersenkungen auf der Basis von Neuverschul- Sie arbeiten. dung ist das Unsolideste, was es je gegeben hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Müntefering, damit haben Sie einmal einen richti- neten der FDP) gen Satz gesagt. Da es unsolide ist, Steuersenkungen Wir von der Union meinen allerdings, dass die Men- durch mehr Schulden zu finanzieren, können wir das, schen ein Recht auf ernsthafte Vorschläge haben. Wir was Herr Eichel zur Finanzierung einer Steuersenkung haben mit dem Pakt für Deutschland einen ernsthaften bisher vorgelegt hat, nicht akzeptieren. Sämtliche Vorschlag gemacht. Was Rot-Grün bisher vorgelegt hat, Finanzminister sind der Meinung: Da muss nachgelegt ist aber mehr als unzureichend. Strukturreformen betref- werden, weil das sonst nicht funktionieren kann. Sie fend den Arbeitsmarkt, das Steuersystem und die Sozial- können mit unserer sofortigen Zustimmung rechnen versicherungen fehlen. Der rot-grüne Vorschlag, Pro- – das kann alles in wenigen Tagen über die Bühne ge- gramme der Bundesagentur für Arbeit auszuweiten, geht hen; Ihre ständigen Aufforderungen in der Öffentlichkeit eigentlich am Kern der Schwierigkeiten vorbei; denn wir sind deswegen völlig unangebracht –, wenn der von 16052 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Volker Kauder (A) Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf eine solide Finanzie- (Zuruf von der CDU/CSU: Machen Sie es (C) rung der Steuersenkung enthält. Sie müssen aber zu- mal!) nächst einmal Ihre Hausaufgaben machen und nicht ständig andere ermahnen. Ich könnte zum Beispiel sagen: Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich. Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- will mir das ersparen. Ich will nur sagen: Sie haben mit neten der FDP) dem Thema der heutigen Debatte offenbar überhaupt nichts anfangen können. Ich verstehe das auch. Denn Wir von der Christlich Demokratischen Union und das, was wir Ihnen heute vorstellen, sind konkrete von der CSU sind bereit, den Weg zu gehen, der es er- Schritte möglicht, dass wir mehr Arbeit in diesem Land bekom- men. Unsere Vorschläge liegen im Pakt für Deutschland (Lachen des Abg. Dr. Norbert Röttgen [CDU/ auf dem Tisch. Sie haben 35 Tage verstreichen lassen, CSU]) ohne dass konkret etwas passiert ist. Das, was Sie in Ih- rem Antrag heute vorlegen, führt nicht einmal in die auf dem Weg zu mehr Beschäftigung; das sind konkrete richtige Richtung; vielmehr zeigt es: Sie haben kein Schritte auf dem Weg in die Zukunft. Es geht um mehr Konzept. Also: Haben Sie einmal Mut und legen Sie ein- Investitionen in die Infrastruktur, um Verwaltungsver- mal etwas vor! Das, was Herr Stolpe heute vorgetragen einfachungen und um neue Partnerschaften zwischen öf- hat, ist zu wenig. Von Herrn Eichel haben wir noch kei- fentlicher und privater Hand, um das Land nach vorne zu nen einzigen Vorschlag gehört, der es möglich macht, bringen. Dazu haben Sie keine einzige Silbe gesagt. Das die Agenda 2010 fortzusetzen. zeigt, dass Sie damit nichts anfangen können. Sie kön- nen nur polemisieren und Sie können sich überhaupt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht auf die Sache beziehen. neten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Albert Schmidt, Frak- Herr Kauder, ich will gar nicht mit Kritik in eine an- tion Bündnis 90/Die Grünen. dere Richtung sparen. Ich habe auch nichts gegen Selbst- kritik. Ich will hier sogar deutlich sagen: Nach unserer Auffassung war es von Anfang an grundfalsch, sich zum Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE Beispiel an den Investitionen in Verkehrswege zu ver- GRÜNEN): greifen. Die Etikettierung, das seien Subventionen, war Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) irreführend. Das haben nicht wir erfunden. (D) Herr Kauder, was Sie hier abgeliefert haben, ist der Nie- dergang nicht nur des sozialen Gewissens, sondern auch Ich hätte übrigens nie gedacht, dass ich als Grüner des christlichen Gewissens in der Union. Wenn es noch einmal in die Lage komme, die Investitionen in Schiene eines Beweises dieser Entwicklung bedurft hätte, und Straßennetz gegen leibhaftige Ministerpräsidenten der SPD und der CDU verteidigen zu müssen. Ich habe (Zurufe von der SPD: Hat es nicht!) von diesem Pult aus immer wieder eindringlich davor dann haben Sie ihn heute erbracht. gewarnt, die Kürzungsvorschläge der Ministerpräsiden- ten Koch und Steinbrück umzusetzen. Diese Kürzungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorschläge hatten die Überschrift: Subventionsabbau mit sowie bei Abgeordneten der SPD – Wider- dem Rasenmäher. In Wahrheit ist die Umsetzung dieser spruch bei der CDU/CSU) Vorschläge in Bezug auf Verkehrsinvestitionen wie die Axt im Walde. Dieses Vorgehen war falsch. Seit dem Abschied von Norbert Blüm, seit der Kalt- stellung von haben das Soziale und das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Christliche in dieser Fraktion offenbar keinen Platz sowie bei Abgeordneten der SPD) mehr. Wenn Sie meinen, die Kapitalismuskritik hier schelten zu müssen, dann kann ich Ihnen, wenn Sie Am 15. Dezember 2003 wurde dieser Kardinalfehler schon nicht auf uns oder auf den Fraktionsvorsitzenden der deutschen Verkehrspolitik dank der Bundesrats- der SPD hören wollen, nur empfehlen: Schauen Sie sich mehrheit gegen jeden Sachverstand, gegen unseren Wil- wenigstens die Umfragen an! len im Vermittlungsverfahren durchgesetzt. Das war ein schwarzer Tag. Wir haben den Koch/Steinbrück-Be- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) schluss Lesen Sie nach: Einer Blitzumfrage zufolge halten (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Steinbrück, 75 Prozent der Anhänger der CDU und der CSU die hier ja!) geäußerte Kapitalismuskritik ausdrücklich für richtig. Das gilt sogar für eine Mehrheit der FDP-Anhänger. Sie und die Folgen in zwei Haushaltsjahren zähneknirschend wissen überhaupt nicht, wovon Sie reden. vollzogen. Wir haben dabei zugesehen, wie das Rekord- niveau an Verkehrsinvestitionen, das wir seit der Regie- Herr Kollege Kauder, dass Sie die Bibel zitiert haben, rungsübernahme im Jahr 1998 aufgebaut haben, Schritt macht die Sache nicht besser. Auch ich könnte jetzt aus für Schritt, von Jahr zu Jahr dahinschmolz wie Schnee in der Bibel zitieren. der Sonne. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16053

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) Gerade deshalb ist es gut, heute sagen zu können: Seit Darüber hinaus werden einige ausgewählte Neu- (C) der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom und Ausbauprojekte auf der Schiene wie auf der Straße 17. März dieses Jahres verstärkt, neu anfinanziert und damit in der Realisierung beschleunigt. Aus grüner Sicht ist hier von ganz beson- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ist alles an- derer Bedeutung die Beschleunigung im Bau der vier- ders geworden!) gleisigen Rheintalschiene als Zulauf auf die neuen Al- ist klar: Dieser Irrweg wird nicht länger beschritten; pentunnel Gotthard und Lötschberg in der Schweiz, die beide bis 2015 fertig werden und für den alpenquerenden (Lachen bei der CDU/CSU) Verkehr ein neues Zeitalter eröffnen werden. Das ist un- sere Pflicht entsprechend dem Staatsvertrag mit der im Gegenteil: Die Fehler aus dem unsäglichen Koch/ Schweiz. Das ist ein Zukunftsprojekt für ganz Europa. Steinbrück-Papier werden korrigiert, die Verkehrsinves- titionen werden wieder annähernd auf das Rekordniveau Der viergleisige Ausbau auf der Strecke Nürn- der Jahre 2002 und 2003 aufgestockt. Und das ist gut so. berg–Fürth im Rahmen des VDE 8 für einen zukunftsfä- higen S-Bahn-Verkehr im Großraum Nürnberg ist ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weiteres Projekt, das damit angeschoben werden kann. und bei der SPD – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ Ich nenne die längst überfällige Elektrifizierung der CSU]: Steinbrück muss weg!) Strecke Hamburg–Lübeck. Der Start der ersten Maßnah- Mit den zusätzlichen 2 Milliarden Euro, die die Bun- men für einen modernen, hochleistungsfähigen und desregierung über vier Jahre verteilt für die Verstärkung schnellen Nahverkehr im größten Ballungsraum der Re- der Verkehrsinvestitionen zur Verfügung stellt, werden publik, nämlich im Rhein-Ruhr-Gebiet, unter der Über- nicht nur die Kürzungen nach dem Koch/Steinbrück-Pa- schrift „Rhein-Ruhr-Express“ ist ein weiteres Projekt, pier und den Folgebeschlüssen des Vermittlungsaus- das wir damit beschleunigt auf den Weg bringen. schusses faktisch korrigiert und rückgängig gemacht. Dies alles sind richtige Akzente und notwendige Pro- Mittelfristig werden darüber hinaus berechenbare und jekte. Wir sind stolz darauf, dass wir Ihnen heute sagen solide Grundlagen für die weitere Modernisierung un- können: Wir haben auch das zusätzliche Geld dafür be- seres Verkehrswegenetzes geschaffen. Das ist wichtig, schafft. nicht nur für ein integriertes Verkehrssystem, sondern auch für die Bau- und Verkehrswirtschaft, die sich auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine mittelfristig bessere Investitionslinie einstellen und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann kann. [FDP]: Woher? – Zurufe von der CDU/CSU: (B) Dies wird nicht nur 60 000 Arbeitsplätze in der Bau- Woher?) (D) wirtschaft bringen; in der gesamten Verkehrswirtschaft, Lassen Sie mich allerdings auch ein kritisches Wort ob im Fahrzeugbau für die Schiene oder im Fahrzeugbau zum Mittelabfluss bei der Deutschen Bahn AG sagen, für die Straße, wird es einen Push geben. Wenn Sie auf- vielleicht deutlicher, als manch anderer das sagen kann. merksam verfolgt hätten, was die Industrie gestern dazu Dass im ersten Jahr, in dem diese Zusatzmittel zur Verfü- gesagt hat, dann hätten Sie heute diese Rede gar nicht gung stehen, der Löwenanteil in Straßenmaßnahmen halten können, Herr Kauder. Dann hätten Sie mit Res- geht, ist nicht politischer Willkür geschuldet und auch pekt sagen müssen: Jawohl, das ist der Schritt, auf den keine Strafaktion gegen die Schiene oder dergleichen, wir alle gewartet haben. sondern hängt mit der momentanen Investitionsunfähig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keit oder -unwilligkeit des DB-Vorstandes zusammen. und bei der SPD) Es ist der Wunsch der DB, den Hauptanteil der zusätzli- chen Schienenbaumittel nicht jetzt, sondern erst in den Dass wir dabei nicht einseitig und einäugig vorgehen, Jahren 2006 und folgende zu bekommen. Das wird mit zeigt übrigens die Verteilung der Zusatzmittel, wie sie weiterem Planungsvorlauf begründet. Dabei ist längst von Bundesminister Manfred Stolpe vorgestellt wurde: klar, dass es zusätzliches Geld für die Schiene geben Der größere Teil geht in die umweltfreundlichen Sys- wird: 1 Milliarde Euro zusätzlich aus dem Kabinettsbe- teme Schiene und Wasserwege – plus 750 Millionen schluss vom Juli letzten Jahres, 266 Millionen Euro zu- Euro für die Schiene und plus 350 Millionen Euro für sätzlich erneut aus den Mitteln, die von der DB im letz- die Wasserwege – und der kleinere Teil – plus 900 Mil- ten Jahr nicht abgerufen wurden, 750 Millionen Euro aus lionen Euro – geht in den Bereich Straße. dem Programm, das wir heute vorstellen. Dies alles kommt nicht überraschend. Von daher verstehe ich nicht, Dabei werden die richtigen Schwerpunkte gesetzt. weshalb die DB sagt, sie sei planerisch darauf nicht vor- Natürlich werden vorrangig Ersatzinvestitionen zur Er- bereitet. neuerung bestehender Verkehrswege, also im Bestands- netz, finanziert. Das ist deshalb notwendig, weil dort Es gibt eine Reihe anderer Projekte, die längst laufen, – das ist klar – die kürzesten Planungsvorläufe sind, weil die man finanziell verstärken könnte. man dort das zusätzliche Geld sehr schnell arbeitsplatz- wirksam umsetzen kann und weil dort auch dringender Handlungsbedarf besteht. Ich nenne nur die Erneuerung Präsident Wolfgang Thierse: von Fahrbahndecken und entsprechende Erneuerungen Kollege Schmidt, Sie müssen bitte zum Ende kom- in den Bereichen Wasserstraße und Schiene. men. 16054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) GRÜNEN): der CDU/CSU) Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. Das ist genau das Gegenteil dessen, was Sie im so ge- Damit drängt sich uns der Eindruck auf, dass für die nannten Schröder/Blair-Papier formuliert haben. Investitionszurückhaltung ad hoc ein ganz anderes Mo- (Franz Müntefering [SPD]: Das nützt Ihnen alles tiv ausschlaggebend sein könnte, nämlich der Wunsch nichts, Herr Pinkwart! Das gewinne ich!) der DB, die Kofinanzierungsmittel aus der Unterneh- menskasse einzusparen, um die Bilanz möglichst rasch Ich zitiere, was in dem Papier steht, Herr börsenfähig zu trimmen. Wenn dies das Ergebnis der Müntefering: Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG sein sollte, (Franz Müntefering [SPD]: Machen Sie ruhig! wäre das pervers. Dann käme nämlich am Ende nicht Das gehört mit dazu!) mehr, sondern weniger Geld ins Schienennetz. Modernisierung der Politik bedeutet nicht, auf Mei- Von daher kann ich nur sagen: Jetzt ist das Geld da, nungsumfragen zu reagieren, sondern es bedeutet, jetzt muss gebaut werden. Das gilt für alle, auch für die sich an objektiv veränderte Bedingungen anzupas- Deutsche Bahn AG. sen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihre Politik hat sich in den letzten Jahren aber immer an und bei der SPD – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ kurzfristigen Elementen, an Meinungsumfragen orien- CSU]: Woher kommt das Geld? Wo ist die tiert. Ihre Politik „Einen Schritt vor und einen Schritt zu- Goldgrube? – Weitere Zurufe von der CDU/ rück“ und das Land waren immer in Bewegung, haben CSU) sich aber nicht von der Stelle bewegt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Präsident Wolfgang Thierse: der CDU/CSU) Ich erteile das Wort dem Kollegen Andreas Pinkwart, FDP-Fraktion. Das ist das Problem, das wir hier vorfinden. Hinsichtlich der Standortfaktoren sind die Probleme Dr. Andreas Pinkwart (FDP): ganz klar, auch die Stellhebel sind hinlänglich bekannt. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Sie liegen bei den Lohnnebenkosten, bei den Bürokratie- Herren! Wenn Herr Schmidt hier von Sozialpolitik lasten, bei den Steuern und bei der Verbesserung der öf- spricht und dies in Deutschland anmahnt, fentlichen Infrastruktur. Das Steuer können Sie nur (B) herumreißen, wenn Sie sich an zwei ganz klaren Grund- (D) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ regeln orientieren. Die erste Grundregel muss lauten: DIE GRÜNEN]: Sie wissen doch gar nicht, Vorfahrt für Arbeit. was das ist!) (Beifall bei der FDP) muss ich ihm deutlich machen: 5,2 Millionen Arbeits- Das heißt, Sie müssen in dieser Situation alles tun, was lose ist das Unsozialste, was es in diesem Land gibt. Da- Arbeit schafft, für sind Sie verantwortlich. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Auch in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bremen!) Sozial ist – im Gegensatz zu Ihrer Politik –, was Ar- und Sie müssen endlich alles unterlassen, was Arbeit in beit schafft. Was aber schafft Arbeit? Arbeit schafft das, diesem Land vernichtet. Das ist die entscheidende Regel, was für ein günstiges Investitionsklima und für günstige die jetzt gelten müsste. Standortfaktoren sorgt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU) DIE GRÜNEN]: Sie haben keine Ahnung, was Sozialpolitik überhaupt ist!) Was aber tun Sie? (Zuruf von der SPD: Keine Landes- Beim Investitionsklima geht es darum, das Vertrauen der parteitagsrede!) Menschen in einen klaren Kurs einer modernen Wirt- schaftspolitik zu gewinnen. Sie verabschieden ein Gesetz zur Grünen Gentechnik, das vom Betriebsratsvorsitzenden der Bayer AG in Was haben Sie gemacht? Sie sind mit Lafontaine ge- Nordrhein-Westfalen, der von Ihrer Partei gestellt wird, startet und haben dann das Schröder/Blair-Papier vor- wie folgt bewertet wird: gelegt. Statt dieses Konzept wie Herr Blair umzusetzen, haben Sie sich für die ruhige Hand entschieden. Als das Was Verbraucherministerin Renate Künast mit der Kind längst in den Brunnen gefallen war, kamen Sie mit Gentechnik macht …, ist der Agenda 2010. Sie reichte nicht. Jetzt sind Sie mit – mit Verlaub, Herr Präsident, ich zitiere nur – dem Notfallkoffer unterwegs. Um davon abzulenken, kommt Herr Müntefering nun mit seiner Kapitalismus- eine Sauerei … Alte Arbeitsplätze werden vernich- kampagne und läuft erneut Lafontaine hinterher. tet und neue andernorts geschaffen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16055

Dr. Andreas Pinkwart (A) Das sagt Ihr Betriebsratsvorsitzender zu Ihrer Politik, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) meine Damen und Herren. der CDU/CSU – Zurufe von der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir von der FDP-Fraktion haben deshalb das der CDU/CSU – Hans-Michael Goldmann Schröder/Blair-Papier heute als Antrag erneut in den [FDP]: Und Recht hat er, hundertprozentig Bundestag eingebracht, nicht, weil wir mit jeder Formu- Recht!) lierung einverstanden sind, Ein zweites Beispiel, das zeigt, dass Sie gegen die (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Regel „Vorfahrt für Arbeit“ verstoßen, ist das Anti- DIE GRÜNEN]: Weil Ihnen selber nichts ein- diskriminierungsgesetz. Sie wissen ganz genau, dass fällt!) die Umsetzung Ihres Gesetzentwurfes mehr Bürokratie aber weil wir glauben, dass dies der richtige Kompass bringt und unserem Investitionsstandort schadet. Statt für Deutschland ist. Sie haben hier Gelegenheit, Farbe zu ihn zurückzuziehen und ihn auf dem Niveau, das die EU bekennen: vorgibt, wieder vorzulegen, verweisen sie ihn in die Ausschüsse. Sie wollen Ihren Entwurf über die Wahl ret- (Franz Müntefering [SPD]: Ihr macht alles, ten, um dann wieder draufzusatteln. Das ist in Wahrheit wie wir uns das vorgestellt haben! – Ihre Politik. Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ihr könnt auch noch das Lambsdorff-Papier von 1982 vorle- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen!) der CDU/CSU) Durchsetzung des Prinzips „Vorfahrt für Arbeit“, Herr Die zweite Grundregel, um das Steuer herumreißen Müntefering, so wie es dieses Schröder/Blair-Papier sei- zu können, lautet, dass kein zentrales Reformfeld aus nerzeit vorgegeben hat, wie es durch unzählige Antrags- ideologischen Gründen von der Modernisierung ausge- initiativen der FDP-Fraktion Ihnen in den letzten Jahren nommen werden darf. Auch hier heißt es im Schröder/ zur Abstimmung vorgelegt worden ist Blair-Papier sehr treffend: (Beifall bei der FDP) Die Produkt-, Kapital- und Arbeitsmärkte müssen allesamt flexibel sein: Wir dürfen nicht Rigidität in und wie es auch vom Bundespräsidenten in seiner gro- einem Teil des Wirtschaftssystems mit Offenheit ßen Rede erneut angemahnt worden ist, oder Fortsetzung und Dynamik in einem anderen verbinden. des Schlingerkurses, wie Sie ihn seit Jahren fahren. Oder müssen wir uns nach den Verlautbarungen von Ihnen, Genau hieran scheitert Ihre Politik. Sowohl bei der (B) Herr Müntefering, noch auf ganz andere Initiativen ein- (D) Agenda 2010 als auch bei dem so genannten Jobgipfel stellen? Wollen Sie etwa Hartz IV zurückziehen, wie es haben Sie die zentralen Stellhebel zur Verbesserung un- Lafontaine will? Wollen Sie, wie Regierungsmitglieder serer Wirtschaftspolitik in den Bereichen Arbeitsmarkt- vorschlagen, die Bürger dazu aufrufen, gewisse Unter- und Tarifpolitik, Kündigungsschutzregelungen und Mit- nehmen in Deutschland zu boykottieren? bestimmung mit der Begründung ausgeblendet, das sei sozialdemokratisches Inventar. Indem Sie aber hier die Sorgen Sie endlich für Klarheit in diesem Land, um Stellhebel nicht richtig bedienen, kommt der Auf- nicht noch mehr Investoren abzuschrecken und um nicht schwung in diesem Land insgesamt nicht zustande. noch mehr Arbeitsplätze zu vernichten! Sie betreiben eine unsoziale Politik. Kehren Sie endlich im Interesse (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Menschen in unserem Land um! der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie verletzen die Grundregeln für eine erfolgreiche Erneuerung des Landes. Auch deshalb sind Sie für das Scheitern Ihrer Reformen verantwortlich. Diese Verant- Präsident Wolfgang Thierse: wortung können Sie nicht auf andere abschieben, auch Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Brandner, SPD- nicht mit noch so abwegigen Verschwörungstheorien, Fraktion. wie sie jetzt von Ihnen propagiert werden. Dies zeigt ein ganz einfacher Vergleich: Tony Blair hat die Punkte des Klaus Brandner (SPD): Schröder/Blair-Papiers von 1999 Schritt für Schritt um- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- gesetzt. Sie haben sich vom Schröder/Blair-Papier seit nen und Kollegen! Um es ganz deutlich und klar zu sa- 1999 Schritt für Schritt abgesetzt. gen: Wir, die Sozialdemokraten in diesem Lande, setzen (Beifall bei der FDP) den Reformprozess konsequent fort. Der Kanzler hat am 17. März die Richtung mit einem 20-Punkte-Programm Konsequenz dieser Politik ist: In Großbritannien ist die vorgegeben: Aufbruch und Perspektive insbesondere für Arbeitslosigkeit deutlich gesunken, bei uns ist die Ar- die Jugend war der Debattenschwerpunkt der letzten beitslosigkeit deutlich angestiegen. Fazit nach sechs Jah- Woche; wir wollen der Jugend eine Chance geben. Heute ren verfehlter Politik: Bei uns liegt die Arbeitslosigkeit reden wir über Wachstums-, Innovations- und Investi- mittlerweile doppelt so hoch wie in Großbritannien. Das tionsimpulse insbesondere im Bereich der öffentlichen zeigt, wie sich Ihre verfehlte Politik auf die Menschen Hände. In der nächsten Sitzungswoche werden wir die auswirkt. Steuerdebatte führen. 16056 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Klaus Brandner (A) Klar ist, dass wir diesen Reformkurs konsequent fort- CDU/CSU: Es sind Milliarden! Aber diesen (C) setzen werden, weil er zu Wachstum und Beschäftigung Unterschied habt ihr noch nie kapiert!) in diesem Lande führt. Dazu gibt es keine Alternative. – Ja, Milliarden. – Zugleich sagen Sie, dass dadurch (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista 150 000 neue Beschäftigungsverhältnisse geschaffen Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) würden. Sie wissen doch, dass unser Land insbesondere unter der hohen Jugendarbeitslosigkeit leidet. Was macht die CDU/CSU? Sie beklagt, dass die SPD 70 Prozent der langzeitarbeitslosen Jugendlichen unter auf die Verantwortung der Unternehmen hinweist. Für 25 Jahren besitzen keinen Berufsabschluss; ein Drittel die CDU/CSU scheint die Frage nach der gesellschaftli- von ihnen hat keinen Schulabschluss. In die Förderung chen Verantwortung von Unternehmern und Managern dieser Jugendlichen zu investieren, um einen Prozess zu noch nicht einmal eine Frage zu sein. organisieren, der dazu beiträgt, dass sie überhaupt eine (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE Chance haben, genau das wollen Sie nicht. Man muss es GRÜNEN]: Ja! Unsere Berufschristen!) Ihnen ganz klar vorwerfen: Sie nehmen ihnen ihre Chan- cen und wollen sie im Dunkeln lassen; das zeigt sich an Der SPD jedenfalls erscheint ein verantwortliches Mit- Ihrem Auftreten. einander aller Beteiligten notwendig (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja, DIE GRÜNEN) allerdings!) Die SPD will den Erhalt der Arbeitnehmerrechte und und nicht nur der ständige Ruf nach Kostensenkungen der Mitbestimmung. Dies gehört nach unserer Überzeu- durch den Abbau sozialer Rechte und Sicherungen; denn gung zu den unverzichtbaren Bausteinen der sozialen wer nur abbaut, kann nichts aufbauen. Marktwirtschaft und der Beteiligung der Arbeitnehmer. Darauf wollen Sie völlig verzichten. Sie wollen zum (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Beispiel den Kündigungsschutz abbauen. Ihren Vor- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schlägen zufolge sollen 90 Prozent der in Betrieben be- Es ist bereits zu Recht darauf hingewiesen worden, schäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom dass die CDU/CSU früher zumindest einen Norbert Kündigungsschutz überhaupt nicht mehr profitieren kön- Blüm hatte, der gelegentlich auf die ethische Verantwor- nen. Dadurch schaffen Sie Verunsicherung. Die Men- tung der Unternehmen hingewiesen hat. schen in diesem Land müssen allerdings wissen: Dieser Forderung werden wir nicht das Wort reden. (Zuruf von der SPD: Wo ist eigentlich Zum Thema Weiterbildungschancen will ich Ihnen (B) Seehofer?) (D) sagen: Ich finde es heuchlerisch, dass Sie, wenn Sie die Seine Position scheint in Ihrer Fraktion aber schon seit Kolping-Bildungswerke und die Bildungswerke des längerem vakant zu sein. Handwerks – insbesondere in NRW – besuchen, dort sa- gen, welch tolle Arbeit sie leisten, ihnen aber die Finan- Nun zu Ihrem Antrag. Was bringt er eigentlich zierungsgrundlage entziehen wollen, indem Sie hier im Neues? Er beinhaltet viele Forderungen, über die wir Bundestag sagen, diese Mittel seien überflüssig. Das ist hier schon mehrfach diskutiert haben. Ihnen ging es scheinheilig. Das muss Ihnen so deutlich vorgeworfen dabei immer nur um den Abbau von Arbeitnehmer- werden. rechten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Nein! Es des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geht um Arbeit!) Die Menschen in diesem Land wollen – das ist meine Sie wollen die Schwächung der Tarifautonomie und der tiefe Überzeugung – keinen Kapitalismus pur mit zwei- Arbeitnehmermitbestimmung sowie den Abbau des stelligen Profitraten. Sie wollen Teilhabe; denn sie sind Kündigungsschutzes – die gleiche Leier tagein, tagaus. mehr als nur ein Kostenfaktor. Wir werden auch hier Aber Ihre Vorschläge, die Herr Kauder heute wiederholt weiterhin die Weichen in diesem Land in die richtige hat, werden auch durch Wiederholung nicht richtiger Richtung stellen. und nicht besser. Im Kern bin ich Ihnen allerdings dafür dankbar, dass Sie die Unterschiede zwischen Ihnen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des uns vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen noch einmal BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – deutlich gemacht haben. Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Aber Sie bewegen gar nichts!) (Franz Müntefering [SPD]: Das war sehr nütz- lich!) Die Menschen wollen aber auch Sicherheit und Motiva- tion. Kluge Unternehmer, die gemeinsam mit den Sie fordern zum Beispiel eine Senkung des Beitrags- Arbeitnehmern für die Zukunft ihres Unternehmens ein- satzes zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozent. Das treten und sie gemeinsam gestalten wollen, begrüßen da- würde zu Einnahmeausfällen in Höhe von 11 Millionen her ausdrücklich die Mitbestimmungsrechte in Deutsch- Euro führen. land. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ In Ihrem Antrag haben Sie Ihre altbekannten Forde- DIE GRÜNEN]: Milliarden! – Zuruf von der rungen noch einmal verdeutlicht. Ich habe nur auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16057

Klaus Brandner (A) wenige Aspekte hingewiesen, könnte aber einen langen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Vortrag darüber halten, was Sie und was wir wollen, um DIE GRÜNEN) deutlich zu machen, wohin die Reise in diesem Land ginge, wenn Sie die Mehrheit stellen würden, zu der Sie Präsident Wolfgang Thierse: allerdings Gott sei Dank nicht so schnell kommen wer- Ich erteile das Wort Kollegen Dietrich Austermann, den. CDU/CSU-Fraktion. (Zuruf von der CDU/CSU: Warte es einmal (Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: ab!) Und tschüss, Herr Austermann!) Meine Damen und Herren, ich würde mich freuen, wenn Sie das 20-Punkte-Programm, das der Bundes- Dietrich Austermann (CDU/CSU): kanzler vorgeschlagen hat und dessen Inhalt Sie inzwi- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die schen in wesentlichen Teilen als Ihre Forderungen dar- Debatte der letzten Minuten verfolgt hat, wird erinnert stellen, nicht wie Erstklässler abschreiben und sagen an das, was Jahr für Jahr von den gleichen Rednern an- würden, Ihre Forderungen seien besser, sondern wenn gekündigt, aber nicht vollzogen worden ist. Sie in diesen Prozess offensiv einstiegen. Dabei denke ich an das GmbH-Gesetz, die Absenkung des Mindest- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ja, von Ihnen!) stammkapitals für GmbHs, die Einführung eines elektro- Herr Kollege Brandner, Sie haben von sozialer Ge- nischen Handelsregisters, die Beschränkung des Vorbe- schäftigungsverbots bei befristeten Arbeitsverhältnissen rechtigkeit geredet. Ich war in letzter Zeit gezwungen, und insbesondere daran, wie die Investitionskraft in un- 700 Stunden lang über eine Koalitionsvereinbarung zu serem Land durch öffentlich-private Partnerschaften ge- verhandeln, um möglichst viel von dem herauszuwerfen, stärkt werden kann. was die Grünen an Schaden anzurichten versucht haben. Wir sind angetreten, insbesondere die Investitions- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ kraft der öffentlichen Hände zu stärken; das Thema DIE GRÜNEN]: Dafür haben Sie 700 Stunden greifen wir seit Jahren auf. Wir haben von dieser Stelle gebraucht?) sehr häufig deutlich gemacht, welche Bedeutung die öf- Ich habe mir dabei einmal die Überschrift der Koali- fentlichen Investitionen für die Beschäftigung in diesem tionsvereinbarung dieser Bundesregierung angeschaut. Land haben. Bei den Gewerbesteuereinnahmen haben Sie lautete: „Erneuerung, Gerechtigkeit, Nachhaltig- wir in den vergangenen Jahren eine deutliche Verbesse- keit“. Schauen wir uns die Situation im Land an: Was rung erfahren: Gegenüber den Rekordjahren 1999/2000 wurde so erneuert, dass wir es als Fortschritt betrachten haben wir jetzt bei der Gewerbesteuer eine Größenord- (B) können? Wo ist die soziale Gerechtigkeit geblieben und (D) nung von über 20 Milliarden Euro erzielt; das sind wo ist die Nachhaltigkeit? 4 Milliarden Euro mehr als im letzten Jahr. Das ist der erste Punkt, der deutlich macht, wohin die Reise gehen Herr Brandner, Sie haben das Thema Jugend ange- muss. Mit den Arbeitsmarktgesetzen haben wir eine Ent- sprochen. Wir erinnern uns, dass mit großem Pomp ein lastung von 2,5 Milliarden Euro für die Kommunen er- Programm zur Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit reicht und mit dem Ganztagsschulprogramm sind vom angekündigt wurde: das JUMP-Programm; es gab immer Bund weitere 4 Milliarden Euro für Investitionen zur wieder unterschiedliche Vokabeln für das gleiche Verfügung gestellt worden. Thema. Inzwischen ist dieses Programm zum Spartopf Jetzt geht es darum, deutlich zu machen, dass mit öf- der Bundesagentur für Arbeit geworden; man hat es fentlich-privaten Partnerschaften, auf die mein Kollege sang- und klanglos eingestellt. Es gab andere Pro- Bürsch noch näher eingehen wird, eine gute Möglichkeit gramme, mit denen man angekündigt hat, jetzt gehe es besteht, die Stärkung der öffentlichen Investitionstätig- aber los: Das Programm „Kapital für Arbeit“ ist eben- keit zu forcieren. falls sang- und klanglos eingestellt worden. Sie sind gut im Setzen von Überschriften, aber Sie sind nicht gut in Sie selbst schreiben in Ihrem Antrag, von Public der Realität; denn das, was Sie als Überschrift ansetzen, Private Partnership dürfe nicht länger nur geredet wer- ist meistens untauglich, eine vernünftige Entwicklung in den, sondern es müssten konkrete Lösungen für die be- Gang zu bringen. Das ist aber der entscheidende Punkt stehenden Hemmnisse gefunden und umgesetzt werden. für unser Land. (Zuruf von der CDU/CSU: Na also! Tun Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) es!) Gewissermaßen symbolisch für die Situation in unse- Minister Stolpe hat schon deutlich gemacht, dass wir ein rem Land ist, was der Bundesverkehrsminister sagt. Er ÖPP-Beschleunigungsgesetz erarbeiten. Sie sind herz- ist der vierte Minister seit 1998, der für Verkehr und In- lich eingeladen, diesen Prozess aktiv zu unterstützen und novation zuständig ist. Das heißt, im Schnitt war jeder nicht, wie bisher, solche Prozesse im Bundesrat zu blo- anderthalb Jahre an der Regierung – einer war übrigens ckieren. Sie sind eingeladen, die Länder aufzurufen, mit- auch Herr Müntefering; die anderen Namen haben wir zuhelfen, die Stärkung der öffentlichen Investitionskraft inzwischen vergessen –, anderthalb Jahre für langfris- noch schneller, als das bisher möglich ist, Wirklichkeit tige, zukunftsweisende Projekte in Deutschland. Herr werden zu lassen. Dann haben Sie viel und Gutes für un- Stolpe sagt: Jetzt können wir endlich Brücken sanieren. ser Land getan. Was passiert denn, wenn wir es nicht tun? Fallen sie uns Herzlichen Dank. dann auf den Kopf? Ist es ein Fortschritt, dass wir das, 16058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dietrich Austermann (A) was wir haben, die Substanz, erhalten können? Oder Das ist Unsinn! Das glauben Sie doch selbst (C) liegt der Fortschritt nicht eher darin, eine Entwicklung nicht!) zu betreiben, um Deutschland mit Innovationen voran- – Doch, genau so ist das. zubringen? Seit 1988 heißt es ständig, mit Otto Reutter gespro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chen: Jetzt fangen wir gleich an. – Man hat aber festge- Schauen wir uns einmal die finanzielle Situation stellt, dass es eigentlich immer weiter zurückging. Die Deutschlands an. Nehmen Sie die Ausgaben für Investi- entscheidenden Reformen wurden nicht umgesetzt. tionen im Bundeshaushalt: Im letzten Jahr haben wir die (Uwe Beckmeyer [SPD]: Was wird denn da niedrigsten Volumina gehabt. Beim Verkehrsetat das draußen gebaut, Herr Austermann?) Gleiche: Es war einmal angekündigt, durch die Maut 3 Milliarden Euro für das Anti-Stau-Programm und für – Natürlich wird in Deutschland gebaut. Natürlich wer- Verkehrsinvestitionen zusätzlich zur Verfügung zu ha- den 8 Milliarden Euro umgesetzt. Aber im letzten Jahr ben. Aber auch mit den 500 Millionen Euro, die jetzt wurden 9 Milliarden Euro umgesetzt. Sehen Sie sich hinzukommen sollen – und die bisher nicht finanziert doch die Summen an! sind –, werden wir in diesem Jahr weniger Mittel für die (Uwe Beckmeyer [SPD]: Und dann kamen Verkehrsinfrastruktur haben als im letzten Jahr. Herr Koch und Herr Steinbrück!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Als wir noch an der Regierung waren, wurden [CDU/CSU]: Das ist die 12 Milliarden für Verkehrsinvestitionen umgesetzt. Das Wahrheit!) ist der entscheidende Unterschied. – Das ist die Wahrheit; genau das ist die Situation. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Das, was die Bahn bekommt, reicht dafür aus, die DIE GRÜNEN]: Das stimmt ja überhaupt Substanz zu erhalten. Es reicht aber nicht dafür, zusätzli- nicht!) che Projekte durchzuführen, auch wenn Sie heute das eine oder andere Projekt, das seit langer, langer Zeit auf Sie hingegen erzählen den Menschen, es gebe einen ge- dem Programm steht, als neu verkaufen. waltigen Aufschwung und eine gewaltige Bewegung Ich bin gestern mit einem Taxi gefahren, dessen Fah- nach vorne. rer nicht so aussah, als ob er die Union wählen würde. Das ist aber der entscheidende Punkt. Die Menschen Als ich ihm gesagt habe, wohin ich wollte, sagte er nur (B) merken, dass sie von Ihnen immer wieder hinter die ganz kurz: Beim Dicken ging es uns besser als beim (D) Fichte geführt und mit schönen Vokabeln, die sich in der Kleinen. Realität nachher als ein Irrweg entpuppen, irritiert wer- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- den. wie bei Abgeordneten der FDP) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie führen doch Ich glaube, jeder kann sich vorstellen, was damit ge- hinter die Fichte!) meint war. Sie werden das nicht glauben. Deswegen werden sie Wenn Sie sich die Situation anschauen, dann erken- nicht investieren und nicht konsumieren. Die eigentliche nen Sie, dass es in Deutschland bis 1998 besser lief. Ursache für den Vertrauensverlust gegenüber der der- Schauen Sie sich nur das wirtschaftliche Wachstum an! zeitigen Regierung ist, dass sie zwar Programme verkün- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Schulden verdrei- det, auch teilweise richtige Programme, sie aber nicht facht!) umsetzt, sondern immer wieder nur neue Vokabeln bringt. Sie haben doch den Fehler gemacht, die Reformen und all das, was Mitte der 90er-Jahre auf den Weg gebracht Herr Schmidt, Sie haben eine Mehdorn-Phobie und wurde, zum 1. Januar 1999 mit einem Federstrich auszu- glauben, Sie müssten den Bundesbahnvorstand in jeder radieren. Debatte anmachen. Ich frage mich, warum der Bundes- kanzler dann den Vertrag von Herrn Mehdorn vorzeitig (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) verlängert hat. Das war mindestens ein Jahr, bevor die Sie haben dann eine Steuerreform gemacht, die dazu Entscheidung anstand. Ich frage mich auch, was Sie ei- geführt hat, dass in den letzten Jahren 60 Milliarden gentlich dafür tun, dass die Bahn die Mittel für ihre Euro weniger an Körperschaftsteuer in die öffentlichen Investitionen rechzeitig zur Verfügung hat. Verkehrsver- Haushalte geflossen sind. Durch Ihre Steuerreform einbarungen werden durch den Finanzminister verzö- wurde den Menschen das, was ihnen dadurch in die eine gert; so wurde im Dezember die Vereinbarung für die In- Tasche getröpfelt wurde, auf der anderen Seite mit gro- vestitionen des abgelaufenen Jahres unterschrieben. ßen Griffen, mit einem richtigen sozialistischen Zugriff, Dann wundert man sich noch, dass es zu keiner Versteti- wieder aus der Tasche gezogen. Das bedeutet doch, dass gung der Mittel kommt und dass das Geld nicht rechtzei- unter dem Strich nicht mehr Geld da war. tig ausgegeben wird! Als wir 1982 eine vergleichbare Situation hatten, (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Was?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16059

Dietrich Austermann (A) haben wir mit einer angebotsorientierten Wirtschafts-, habe ich Anlass, für erlebte Kollegialität und gute Ent- (C) Wachstums- und Steuerpolitik die richtigen Entschei- scheidungen für unser Land insbesondere beim Thema dungen getroffen. Das Ergebnis war, dass die Beiträge Wiedervereinigung zu danken, an denen ich mitwirken gesunken sind, dass die Steuereinnahmen gesprudelt ha- durfte. Ich hoffe, dass die Verletzungen, die ich dem ei- ben und dass wir auch bei der Beschäftigung einen deut- nen oder anderen zugefügt habe, nicht größer waren als lichen Zuwachs hatten. Wir müssen zurück zu einer an- die, die mir zuvor zugefügt wurden. gebotsorientierten Wirtschafts- und Wachstumspolitik. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich wünsche dem 15. Bundestag die Kraft – wir kön- Jetzt sage ich Ihnen etwas zur Schelte der Unterneh- nen nicht bis zur nächsten Bundestagswahl warten – um- men. Man muss sich schon einigermaßen wundern: Ihre zusteuern. Unser Land und unsere Bürger haben es nicht Regierung ist seit sechseinhalb Jahren dran. Der Kanzler verdient, dass wir Schlusslicht in Europa sind. Unser umgibt sich gerne mit den Leuten, die heute in den Vor- Pakt für Deutschland zeigt, dass man mehr tun kann. Es ständen an der Stelle sitzen, die er kritisiert. ist richtig, dass wir alle miteinander – jeder an seinem Platz, ich demnächst an einem anderen – unsere ganze (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Genosse Kraft dafür aufwenden, besser zu werden. Unser Land der Bosse!) hat es verdient. Die Rogowskis – und wie sie sonst alle heißen – waren Herzlichen Dank. immer gern gesehene Gesprächspartner, Schrempp war natürlich ganz besonders gern gesehen. Sie alle werden (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und heute kritisiert. Hat man nicht jahrelang eine Politik ge- der FDP) rade zugunsten bestimmter Unternehmen gemacht? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Austermann, ich wünsche Ihnen für Ihre Jetzt wird geschimpft, es werden Schützengräben ausge- neue Aufgabe alles Gute. hoben und ein kalter Krieg bricht aus, und das nur, um für die Wahl in Nordrhein-Westfalen ein paar Leute hin- Nun erteile ich das Wort Kollegen Reinhard Loske, ter den roten und grünen Fahnen zu versammeln. Das ist Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. nicht in Ordnung. Sie werfen damit praktisch der gesam- ten Wirtschaft – 80 Prozent davon sind Mittelständler – Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein unsoziales Verhalten vor. Das haben die vielen Mil- NEN): (B) lionen Mittelständler und auch die Arbeitnehmer nicht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) verdient. Lieber Kollege Austermann, viel Spaß in Kiel und schöne Grüße an . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Bevor ich zu meinem eigenen Vortrag komme, möchte ich im Zusammenhang mit der Kapitalismuskri- Bei manch einem muss man sich fragen: Wie sieht tik auf zwei Vorredner eingehen, zunächst auf Herrn das denn mit dem Recht auf Mitbestimmung aus, das Kauder, von dem ich nicht weiß, ob er noch anwesend Sie in den großen Unternehmen ausgeweitet haben? Ha- ist. Ich glaube, Sie sollten wirklich nicht unterschätzen, ben die Arbeitnehmer, die an den Entscheidungen in den wie weit das Gefühl in den Mittelstand hineinreicht, dass Unternehmen, die Sie jetzt so massiv kritisieren, betei- im Grunde genommen die soziale Verantwortung und ligt waren immer alle geschlafen? Sie sollten sich wirk- die Verantwortung für die Unternehmen sehr stark ver- lich überlegen, an welcher Stelle Sie Ihre Kritik anset- nachlässigt wird. zen. Es geht hier nicht darum, Überschriften zu setzen. Es geht darum, dass wir eine wirklich wirtschafts- und An Ihre eigene Adresse möchte ich sagen: Das Kon- wachstumsfreundliche Politik brauchen, wie wir das ab zept der sozialen Marktwirtschaft von Eucken, Röpke 1982 gemacht haben. Erfolgsrezepte sollte man wieder- und Müller-Armack, den Vätern dieser Idee, auf der spä- holen. ter Ludwig Erhard sein Konzept der sozialen Marktwirt- schaft aufgebaut hat, war doch auch einmal Ihr Konzept. Die Bundesbank hat Ihnen das ins Stammbuch ge- Wenn Sie heute von „neuer sozialer Marktwirtschaft“ re- schrieben. Die Sachkapitalbildung hierzulande hat im den, dann hat man immer das Gefühl, Sie wollten einen Vergleich zu Auslandsinvestitionen offensichtlich erheb- Nachtwächterstaat ohne jede Einflussmöglichkeit schaf- lich an Attraktivität verloren. In den letzten Jahren ist es fen. Damit ist nicht die ursprüngliche soziale Marktwirt- in Deutschland zu einem Einbruch der Investitionstätig- schaft gemeint. Daran sollte man Sie einmal erinnern. keit auf breiter Front gekommen. Das, was Sie in Ihrem Programm ankündigen, ist ungeeignet, weil es wieder (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- den gesamten Bereich von Arbeitsmarkt und Sozialsys- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) temen ausblendet. Rot-Grün fehlt offensichtlich ein ord- nungspolitisch sauberes Konzept. Man sollte Sie vielleicht auch daran erinnern, dass es einmal Zeiten gab, in denen beispielsweise Klaus Liebe Kollegen, nach 23 Jahren im Bundestag und der Töpfer, Herr Schäuble, der leider nicht mehr anwesend Erfahrung mit fünf von mir geschätzten Fraktionsvorsit- ist, oder auch der Kollege Repnik über die sozial- zenden – Kohl, Dregger, Schäuble, Merz und Merkel – ökologische Marktwirtschaft geredet haben. Diese 16060 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Reinhard Loske (A) konstitutionellen Ansätze sind bei Ihnen völlig unterge- Zukunft werden wir dann gut bestehen können. Das wol- (C) gangen. Sie propagieren den schwachen Staat, der sich len wir. Deswegen müssen wir hier zeigen, dass sich aus der Verantwortung zurückziehen soll. Aber das geht Nachhaltigkeit und Infrastrukturentwicklung sehr gut nicht und das wollen wir auch nicht. Das ist der große miteinander vertragen. Unterschied zwischen uns. Das wird auch im Wahl- kampf klar werden. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Uwe Zum Kollegen Pinkwart möchte ich Folgendes sagen: Beckmeyer [SPD]) Ich finde es schon bemerkenswert, dass Sie ein Papier aus dem letzten Jahrhundert zur Abstimmung stellen. Wir haben im Energiebereich durch das Erneuer- bare-Energien-Gesetz, durch den Emissionshandel und (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- durch das Energiewirtschaftsgesetz, das demnächst in SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Kraft treten wird, die Rahmenbedingungen gesetzt. Da- Besser wäre es, Sie machten sich ein paar eigene Gedan- mit werden riesige Investitionen ausgelöst, vor allem ken, zu denen wir uns dann äußern könnten. Ich muss sa- weil wir sicherstellen, dass Wettbewerbsfairness gilt. gen: Hier sehe ich bei Ihnen gewisse konzeptionelle De- Im Verkehrsbereich haben wir in den letzten Jahren fizite. sehr wichtige Akzente gesetzt. Wir haben die Gleichbe- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- handlung von Straße und Schiene erreicht, wir haben die SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Konzentration auf das Bestandsnetz hinbekommen und wir haben vor allen Dingen für mehr Kostenwahrheit im Jetzt zum Thema. Wir debattieren heute über das Verkehr gesorgt – Stichwort: Maut. Wir wollen jetzt Thema öffentliche und private Investitionen. In unseren auch prüfen, welche Möglichkeiten der Public Private Infrastrukturen besteht in der Tat ein enormer Investi- Partnership es gibt. Da gibt es Möglichkeiten, die wir ge- tionsbedarf: wissenhaft prüfen sollten. Wir sind aber gegen einen (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: So hoch wie Einstieg in die generelle Privatisierung der öffentlichen noch nie!) Infrastruktur. Auch das muss vollkommen klar sein. im Bereich der Energie, vor allem bei der Elektrizitäts- Abschließend zum Thema Bürgerbeteiligung: Es wirtschaft; im Bereich der Wasserwirtschaft, wo vor al- klingt immer wieder durch, als ob die Verfahren in len Dingen die Renovierung der Netze und die Siche- Deutschland viel zu lange dauern würden rung der Qualität im Vordergrund stehen; im Bereich der (Jörg van Essen [FDP]: Ist doch so!) Verkehrsinfrastrukturen, wo es vor allem um die Be- (B) standserhaltung und die Qualitätssicherung und nicht so und als ob der Bürger mit seinen Anliegen und Bedürf- (D) sehr um Neubau geht; im Bereich der Abfallwirtschaft, nissen nur ein Hemmnis wäre. Wir sind ganz klar der wo wir vor großen Umbrüchen stehen, weil sich dieser Meinung: Bürgerbeteiligung und die Wahrung hoher Bereich weg von der reinen Entsorgungswirtschaft hin Umweltstandards vertragen sich sehr gut mit zügigen zu einer Kreislaufwirtschaft entwickeln muss. Planungsverfahren. Wir stehen bei diesen großen öffentlichen Aufgaben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – der Daseinsvorsorge vor Umbrüchen. Das Fenster der Jörg van Essen [FDP]: Das haben wir bei der Möglichkeiten ist in den nächsten zehn bis 15 Jahren Bahn gesehen!) sehr weit geöffnet, weil die alten Infrastrukturen in den Das können wir sehr gut belegen. Das Gegenteil von Bereichen Energie, Wasser und Abfall an ihr Nutzungs- Bürgerbeteiligung ist nämlich falsch. Wer glaubt, man ende kommen. Im Verkehr sieht es etwas anders aus. müsste Bürgerrechte ausschalten, wie das bei Ihnen of- Hier geht es vor allem um Qualitätssicherung des vor- fenkundig anklingt, irrt; denn das wird im Ergebnis zu handenen Netzes. Aber auch hier bieten sich unheimlich nichts anderem führen als zu verlängerten Planungsver- große Potenziale für Systeminnovationen. Wir sollten fahren, zu geringerer Akzeptanz und zu geringerer In- uns bei den Infrastrukturinnovationen, vor denen wir ste- vestitionssicherheit. Das sollten wir gemeinsam nicht hen, vom Gedanken der Nachhaltigkeit leiten lassen. wollen. Wir müssen wissen, dass die Kapitalbindungszeiten in diesem Bereich enorm lang sind. Sie betragen 30 Jahre, (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie haben doch 50 Jahre und teilweise noch mehr. Das heißt also, wir bisher Bürokratie vorgeschoben, weil Sie Pro- schreiben Strukturen für eine sehr lange Zeit fest. Wir jekte nicht wollten!) müssen dieses Fenster der Möglichkeiten nutzen und uns Mein letzter Punkt betrifft die Altbausanierung. Das an bestimmten Prinzipien orientieren, ob das nun Dezen- ist ein riesiges Feld. Wir können beim Gebäudebestand tralität ist, intelligente Vernetzung, Ressourcenschonung enorme Mengen an Energie einsparen und den Ausstoß oder auch Kosteneffektivität. an Kohlendioxid verringern. Das Altbausanierungspro- Es sollte auch der Hinweis erlaubt sein, dass viele gramm gibt es jetzt seit einigen Jahren. Jedes Jahr wer- Entwicklungsländer gerade erst am Anfang der Ent- den 360 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, wovon wicklung ihrer Infrastrukturen stehen. Wenn wir in unse- ungefähr die Hälfte aus der Ökosteuer stammt. Das rem Land und in Europa Konzepte entwickeln, die ver- Geld, das dort hineinfließt, ist gut angelegtes Geld. Denn allgemeinerungsfähig sind, dann erwachsen uns daraus jeder Euro, den der Staat ausgibt, löst Investitionen der riesige Exportmöglichkeiten. Auf den Weltmärkten der Bürger in Höhe von fünf bis sechs Euro aus. Dieses Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16061

Dr. Reinhard Loske (A) Programm wollen wir fortführen und ausbauen, weil – Wenn Sie es selber noch nicht gemerkt haben, dann (C) man daran sehr gut zeigen kann, dass sich Klimaschutz, schauen Sie sich das einmal an: Mit der Aufteilung der Energieeinsparung und die Schaffung von Arbeitsplät- 2 Milliarden Euro auf vier Jahre entsprechen die jährli- zen sehr gut vereinbaren lassen. Das ist ein zukunftswei- chen 500 Millionen Euro noch nicht einmal dem Betrag, sendes Konzept. um den die Verkehrsinvestitionen in diesem Jahr gegen- über dem Vorjahr gekürzt worden sind. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch überhaupt und bei der SPD) nicht!)

Präsident Wolfgang Thierse: Wir brauchen eine Infrastruktur, die auch der zu erwar- Ich erteile das Wort Kollegen Eduard Oswald, CDU/ tenden Verkehrsentwicklung gerecht wird. Wir haben in CSU-Fraktion. Deutschland gegenwärtig für rund 4 Milliarden Euro baureife Projekte bei Autobahnen und Bundes- straßen, ohne dass die notwendigen Finanzmittel Eduard Oswald (CDU/CSU): vorhanden wären. Jederzeit könnte nach einer Aus- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schreibung der Bagger, der Schieber anfahren und ent- Herr Loske, Sie haben hier versucht, ein eigenes grünes sprechend arbeiten. Da würden Arbeitsplätze geschaf- Profil, eine eigene Position darzulegen. Ich sage Ihnen: fen, nicht durch Ihre Ankündigungen auf dem Papier! Das wird wie bei allen Punkten sein. Sie machen überall mit. Früher haben Sie die Kröten gesammelt und heute (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schlucken Sie alle, Hauptsache, Sie sind immer mit an der Regierung. Deutschlands größter Automobilverband hat errech- net, dass jährlich rund 7 Milliarden Euro benötigt wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den, um einen bedarfsgerechten Ausbau und Erhalt der Bundesfernstraßen zu gewährleisten. Die Realität kann Haben Sie von der Koalition denn geglaubt, dass wir der Autofahrer täglich beobachten. – Wenn Sie auf der in Jubelschreie ausbrechen, wenn Sie endlich bei den Regierungsbank bei diesem Thema lachen, dann wissen Verkehrsinvestitionen nachbessern? Das, was Sie hier wir Bescheid. machen, ist doch alles nur geschehen, weil wir perma- nent Druck auf Sie ausgeübt haben, (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da lacht doch überhaupt kei- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) ner! Es gibt überhaupt nichts zu lachen, wenn (D) NEN) Sie reden! Das ist ja das Tragische!) weil Ihre Wahlkämpfer draußen unentwegt gesagt haben, – Wenn Ihnen das Lachen vergangen ist, ist es auch es müsse etwas passieren, und weil die Wirtschaft gesagt recht. hat: Ihr seid völlig rückschrittlich. – Wenn wir nicht kurz vor den Wahlen wären, würden Sie immer noch nicht Staus sind auf der Tagesordnung. Auf über handeln. 2 100 Kilometern des Bundesfernstraßennetzes gibt es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) inzwischen täglich Engpässe. Die Staus kosten Zeit und Kraft, vergeuden Ressourcen und treiben den Kraftstoff- Ihre Sonntagsreden sind bekannt. „Alles klar, verbrauch in die Höhe. Was im Stau auf Deutschlands Deutschland braucht Mobilität“, das sagen Sie bei jeder Straßen heute ungenutzt in die Luft geblasen wird, ent- Gelegenheit. spricht rund 18 Prozent des Gesamtverbrauchs an Kraft- stoff. Warum regt sich hier eigentlich niemand mehr auf? Sie sagen: „Die Infrastruktur ist das Rückgrat der Mobi- lität.“ Alles richtig. Aber Sie haben doch bisher mit Ih- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ren Parolen wie „Bildung statt Beton“ Stimmung gegen [Zingst] [CDU/CSU]: Sie regen die Bau- und die Investitionspolitik gemacht! sich doch auf! – Gegenruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Einer für alle!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Außer meiner Fraktion und der FDP natürlich. – Den So geht es doch nicht. Sie mussten sich sagen lassen, durch Stau entstehenden volkswirtschaftlichen Schaden dass Deutschland inzwischen die zweitniedrigste Inves- kann man mit rund 100 Milliarden Euro beziffern. Auch titionsquote der OECD-Länder hat. Das ist doch die die Sicherheit leidet unter dem Mangel an Instand- Realität. Der Herr Bundesminister Stolpe kann sich in haltungsmaßnahmen. 23 Prozent der Autobahnen und diesem Kabinett nicht durchsetzen. Er sagt vieles Not- 30 Prozent der Bundesstraßen sind nicht mehr voll ge- wendige, aber entscheidend ist, was hinten rauskommt. brauchsfähig. Bei Brücken und Tunneln steigt die Sanie- Was jetzt auf den ersten Blick als gewaltige Finanz- rungsbedürftigkeit. Es gibt Arbeit über Arbeit in spritze erscheint, entlarvt sich bei genauerem Hinsehen Deutschland für die ganze Baubranche. als eine Mogelpackung. Züge fahren unpünktlich, denn Langsamfahrstellen (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- behindern den Verkehrsfluss und mindern die Leistungs- NIS 90/DIE GRÜNEN) fähigkeit der Bahn im Bereich des Personen- und 16062 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Eduard Oswald (A) Güterverkehrs. Große Teile des Schienennetzes sind sa- den Euro. Wenn Sie sich einmal das anschauen, was die (C) nierungsbedürftig. Regierungskommission unter Ihrem Mitglied, Herrn Pällmann, gesagt hat, dann erkennen Sie, dass Sie bei all Das, was Sie heute mit Ihrem Antrag hier vorlegen, dem, was Sie tun, viel zu kurz springen. Auch Ihre Län- ist viel zu wenig. Das ist eine Beruhigungspille, von der derverkehrsminister haben Ihnen einen viel größeren Sie glauben, sie wirkt. Aber sie wirkt nicht. Der Bürger Mittelbedarf ins Stammbuch geschrieben. durchschaut dieses Spiel. Sie müssen Ihre Politik wieder von Ihren Fachabteilungen machen lassen und nicht von Sie springen zu kurz und handeln nur, weil der Druck Ihren Pressestellen und von den für Öffentlichkeitsarbeit Ihrer Wahlkämpfer immer stärker wird. Hätten Sie die zuständigen Mitarbeitern. Mauteinnahmen zusätzlich in die Verkehrsinfrastruktur investiert, wie es Ihnen das Autobahnmautgesetz vorge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schrieben hat und was für uns Voraussetzung dafür war, Drei Punkte: dass wir Ihnen in der Partnerschaft für dieses Mautgesetz die Hand gereicht haben, dann hätten Sie viele Probleme Erstens. Der Staat muss seiner Verantwortung für die nicht. Infrastruktur durch eine auf hohem Niveau bestätigte Finanzierung nachkommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Zweitens. Wenn die Haushaltsmittel nicht ausreichen, müssen verstärkt private Partner eingebunden werden. Verstärken Sie die Investitionen in die Verkehrsinfra- Hier haben Sie den Weg richtig begonnen, sind aber bis- struktur! Ihr heutiger Plan – verteilt auf vier Jahre, nur her viel zu kurz gesprungen und alles geht viel zu lang- Absichtserklärungen, nichts machen zu müssen, nur den sam. Wahltermin im Auge – reicht nicht, um in Deutschland solide Investitionspolitik und Politik insgesamt zu ma- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chen. Drittens. Wir müssen die innerdeutsche Entwicklung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit der europäischen so verzahnen, dass die Verkehre in Deutschland als Transitland Nummer eins in Europa Präsident Wolfgang Thierse: besser bewältigt werden können. Nach 100 Tagen Maut Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Spanier, haben Sie Erfolgslieder gesungen. Die Medien haben es SPD-Fraktion. Ihnen abgenommen. Sie haben aber vergessen, auf welch dramatische Weise sich die Verkehre in vielen Re- gionen von der Autobahn auf die nachgelagerten Straßen Wolfgang Spanier (SPD): (B) verlagert haben. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die (D) bisherigen Reden der Opposition zeichnen sich erstens (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ durch eine beträchtliche, durch eine anerkennenswerte DIE GRÜNEN]: Das haben wir überhaupt Lautstärke nicht vergessen! Das ist eine infame Unterstel- lung!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Richtig! Wir wissen nie, wann das Mikrofon wieder mal Dieses Problem gilt es zu lösen. Wir können nicht zulas- versagt!) sen, dass die Mautpreller in Deutschland nicht erwischt werden. Der Ehrliche darf in Deutschland nicht der und zweitens dadurch aus, dass – mit der Ausnahme von Dumme sein. Herrn Oswald – zu dem Thema, um das es heute geht, fast nichts gesagt wurde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – [CDU/CSU]: Sehr richtig! Aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des länder dürfen nicht ungeschoren davonkom- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – men!) Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ist doch Ihr An- trag!) Unser politisches Ziel muss es sein, die LKW-Verkehre Es geht um einen wichtigen Teil des 20-Punkte-Pro- auf der Autobahn zu halten, denn dieses sind die sichers- gramms, das der Bundeskanzler vor knapp fünf Wochen ten Verkehrswege. in diesem Hause vorgestellt hat. Es ist gut, dass wir heute über Mobilität reden. Fast je- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie haben das der sechste Arbeitsplatz in Deutschland hängt von der ganze Programm als Antrag vorgelegt! Alle Verkehrswirtschaft und der Fahrzeugindustrie ab. Bürger Punkte! Sie müssen Ihren Antrag mal lesen!) wie Wirtschaft, die für die Nutzung des Verkehrssystems viel Geld zahlen, wollen eine leistungsfähige Infrastruk- Es geht um eine Verstärkung von Investitionen, um kurz- tur. Nehmen Sie von der Regierungskoalition sich doch fristig zusätzliche Wachstumsimpulse zu geben und um selbst ernst! Schauen Sie sich an, was Sie im Bundesver- Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen. Es geht kehrswegeplan 2003 selbst festgeschrieben haben! Dort um 2 Milliarden Euro zusätzlich für die Verkehrsinfra- haben Sie nämlich ein jährliches Investitionsvolumen struktur. Es geht um 27 Millionen Euro zur Fortsetzung von 10 Milliarden Euro für erforderlich gehalten. Bei Ih- des Gebäudesanierungsprogramms. Es geht um die Mo- rer jährlichen Finanzplanung kommen Sie jedoch nur zu bilisierung von privatem Kapital; Stichwort ÖPP. Und es einem durchschnittlichen Mittelansatz von 7,7 Milliar- geht um die Beschleunigung von Planungsverfahren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16063

Wolfgang Spanier (A) Das ist, Herr Kauder, ein ganz konkretes Maßnahmenpa- Erstens. Die Investitionshöhe im Bundeshaushalt (C) ket, das jetzt und sofort umgesetzt wird. ist, was den Verkehrsbereich betrifft, auf einem hohen Niveau verstetigt worden und liegt deutlich über dem, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker was die damalige Bundesregierung unter Kohl zuwege Kauder [CDU/CSU]: Traumtänzer!) gebracht hat. Es sind die richtigen Instrumente. Sie müssten nur le- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen, was die Industriegewerkschaft BAU, was die Bau- DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: wirtschaft, was die Wohnungswirtschaft zu diesem Maß- Die Investitionsquote war noch nie so nied- nahmenpaket veröffentlicht haben: volle Zustimmung. rig!) (Michael Glos [CDU/CSU]: Die sind ja mitt- Zweitens. Ich bin Ihnen als Nordrhein-Westfale sehr lerweile für alles dankbar, was Sie tun! Die dankbar, dass Sie auf die öffentlich-private Partner- sind ja froh, dass überhaupt etwas passiert!) schaft eingehen. Die Bauwirtschaft bestätigt uns, dass der Durchbruch im Bereich des öffentlichen Hochbaus Dass mehr Geld gefordert wird, ist, denke ich, üblich. gelungen ist. Ich kann Ihnen sagen: Gerade unser Land Herr Oswald, meine Damen und Herren von der Opposi- Nordrhein-Westfalen hat hier eine Vorbildfunktion. tion, Sie müssen sich eines einmal überlegen: Heute werden zusätzliche Milliarden gefordert, und morgen (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die schlech- werden, was den Maastricht-Pakt und die 3-Prozent- teste Quote!) Grenze betrifft, die Brandreden gehalten. Sie müssen Dies ist ebenfalls in allen Verlautbarungen der Bauwirt- sich langsam einmal überlegen, was Sie wollen. Immer schaft zu lesen. wenn es Ihnen passt, fordern Sie hier im Hause und in den Fachbereichen mehr Milliarden ein, werfen uns am Ich will Ihnen einmal die Zahlen nennen, die in die- nächsten Tag aber vor, dass wir die Maastricht-Kriterien sem Zusammenhang von der deutschen Bauindustrie veröffentlicht worden sind: Im Jahre 2003 betrug das nicht einhalten. Gesamtvolumen immerhin 1,3 Milliarden Euro. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sehr we- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nig! – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie haben doch den Investitionshaushalt permanent zu- Präsident Wolfgang Thierse: rückgefahren!) Kollege Spanier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Da geht es um den Bau von Turnhallen und Schulen. Das Kollegen Schauerte? sind wichtige Maßnahmen im Bereich der öffentlichen (B) Infrastruktur. (D) Wolfgang Spanier (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weil Sie aus Nordrhein-Westfalen sind, besonders DIE GRÜNEN) gern. Es befinden sich zudem Maßnahmen in Vorbereitung, die ein Volumen von 1,5 und 2 Milliarden Euro haben. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Ich kann an Sie nur appellieren, dass Sie mithelfen, dafür Herr Kollege Spanier, dass wir dringend weitere um- zu sorgen, dass auch in den unionsgeführten Ländern fangreiche Investitionsmittel für unsere Infrastruktur dieser Weg endlich verstärkt beschritten und beschleu- brauchen, steht ja völlig außer Frage. Meine Frage ist: nigt wird. Wie, glauben Sie, ist es um Ihre Glaubwürdigkeit be- stellt, wenn wir feststellen müssen, dass der Investitions- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haushalt im Bund – prozentual gesehen – so niedrig wie DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/ noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist, CSU]: Wir sind doch schon lange da!) Das wäre wichtig. Es reicht nicht aus, die Maßnahmen (Widerspruch und Unruhe bei der SPD und nur zu begrüßen. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Rede von Frau Merkel am 17. März hier im Deut- NEN]: Stimmt doch gar nicht! So ein schen Bundestag hat Ihre Haltung zu dieser Frage deut- Quatsch!) lich gemacht. Was hat sie denn zu Wachstumsimpulsen und zur Infrastruktur gesagt? Man konnte nur ein paar wenn wir feststellen müssen, dass überall dort, wo die magere Sätze von ihr dazu hören. Sie hat das Gebäude- SPD und die Grünen regieren, die Investitionsquoten in sanierungsprogramm, die Verbesserung der Verkehrs- den Ländern am schlechtesten sind, und wenn wir fest- infrastruktur und auch die Beschleunigung von Pla- stellen müssen, dass in den Ländern, in denen Public Pri- nungsverfahren nur nebenbei erwähnt. Sinngemäß hat vate Partnership schon geübt wird, die Quote dort, wo sie gesagt, sie habe irgendwo gehört, dass wir jetzt Büro- Ihre Freunde die Verantwortung tragen, deutlich kratie abbauen und die Planungsverfahren beschleunigen schlechter ist als dort, wo CDU und FDP regieren? wollen. Das ist ja interessant, dass sie das irgendwo ge- hört hat. Dann hat sie uns aufgefordert: Machen Sie sich Wolfgang Spanier (SPD): an die Arbeit! Lieber Herr Schauerte, ich möchte Ihnen Folgendes (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – antworten: Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja, genau!) 16064 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Wolfgang Spanier (A) Ich gebe diese Aufforderung gerne an Sie zurück: Ma- wirkung kommen, damit wir das auf einen vernünftigen (C) chen Sie sich an die Arbeit! Weg bringen. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf die beiden Be- Das Gebäudesanierungsprogramm als wichtiger standteile unseres Pakets eingehen, die für mich als Bau- Bestandteil dieser Gesamtstrategie hat Bedeutung, weil und Wohnungspolitiker natürlich besonders interessant wir hiermit mehrere Ziele – Herr Loske hat es vorhin an- sind. gedeutet – gleichzeitig erreichen. Wir tun etwas für den Klimaschutz; unser Land hat sich im Allokationsplan Zum Gebäudesanierungsprogramm. Von 2001 bis dazu verpflichtet. Wir tun etwas für mehr Energieeffi- 2004 sind 167 000 Wohnungen energetisch saniert wor- zienz. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, um ein den. Dazu kamen 2 727 Energiesparhäuser. Das Pro- Stück weit weg vom Öl zu kommen. Wir tun etwas, um gramm läuft Ende 2005 aus. Der Erfolg für den Klima- die Energiekosten zu senken bzw. die Erhöhung der schutz ist, dass 1,3 Millionen Tonnen CO vermieden 2 Energiekosten zu vermeiden. wurden. Ich denke, das ist ein ganz entscheidender Schritt. Das ist eine Erfolgsgeschichte. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist doch ein Witz! Die Energiekosten sind doch von Ihnen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dramatisch erhöht worden! Als würden Sie, DIE GRÜNEN) mit Verlaub, die Energiekosten senken!) Deswegen ist die Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte – Herr Pinkwart, auch Sie wissen, dass das von ande- so wichtig. Sie sagen zwar ebenfalls Ja. Aber mehr als ren Faktoren abhängt. Bleiben Sie vorsichtig mit dem dieses dürftige Ja war von Frau Merkel nicht zu hören. Vorwurf „Witz“! Wir sollten alles tun, um mit Energie- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Diese Erfolgs- sparmaßnahmen und Energieeffizienzmaßnahmen die geschichte hat zur höchsten Arbeitslosigkeit Energiekosten im Rahmen zu halten. Das ist im Gebäu- geführt!) debereich von entscheidender Bedeutung. Wie sehr Ih- nen die Mieterinnen und Mieter am Herzen liegen, wis- Dass diese 27 Millionen Euro Investitionen in Höhe von sen wir von den Diskussionen über das Mietrecht. 5 Milliarden Euro auslösen und dass die Arbeitsplätze in kleinen und mittleren Betrieben des Bauhandwerks, um (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die es auch Ihnen geht, gesichert werden, ist sehr wich- Das Gebäudesanierungsprogramm ist für Wohnungs- tig. eigentümer bzw. für die Wohnungswirtschaft wichtig, Ich möchte noch auf die drei neuen Förderpro- weil es um die Substanzerhaltung bestehender Ge- gramme der KfW ab 1. Januar 2005 hinweisen: „Woh- bäude geht. Nicht zuletzt nehmen wir hier besonders (B) nungen Modernisieren“, „Solarstrom Erzeugen“ und arbeitsplatzintensive Investitionen vor. Das, denke (D) „Ökologisch Bauen“. Diese Programme laufen ebenfalls ich, ist von ganz entscheidender Bedeutung. erfolgreich. Wir wissen, dass sich die Bauwirtschaft seit 1995 in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einer Talfahrt befindet. DIE GRÜNEN) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Und Sie wollen Das Gebäudesanierungsprogramm ist Teil einer Ge- die Eigenheimzulage abschaffen!) samtstrategie, die für uns Sozialdemokraten wichtig ist. Sie war einmal die Konjunkturlokomotive. Heute geht es Dazu gehören die Förderung der energetischen Moderni- teilweise in die entgegengesetzte Richtung. Wir haben sierung insgesamt, der Einsatz erneuerbarer Energien hier wichtige Aufgaben und wir tun mit unserem Maß- und die Energieeinsparverordnung; denn auf die Wärme- nahmenpaket, über das wir heute diskutieren, eine ganze dämmung im Gebäudebereich müssen wir sicherlich ein Menge, um voranzukommen. Diesen Weg werden wir besonderes Augenmerk richten. Wir sind also mit die- Sozialdemokraten konsequent weitergehen. sem Bündel von Maßnahmen auf dem richtigen Weg. Herzlichen Dank. Dazu gehört auch unsere Initiative: kostengünstig, qualitätsbewusst bauen. Dies ist ebenfalls ein wichtiger (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Baustein in der Gesamtstrategie. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch. In der Beratung befinden sich das Energieeinsparungs- gesetz und die Verordnung zum Energieausweis. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Ich habe die Reden von Ihrer Seite hier im Bundestag Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- verfolgt. Ich sehe, dass wir in der Zielsetzung überein- ren! Ich bin Abgeordnete der PDS. Dass die SPD und die stimmen. Ich hoffe, dass Sie wirklich mit uns zusammen Grünen heute über Investitionen reden wollen, finde ich diese Gesetze entwickeln und es nicht wie bei Frau gut. Allerdings möchte ich nicht mit Ihnen gemeinsam Merkel bei einem schlichten, einfachen Ja bleibt. Es ist über die fehlende Investitionsbereitschaft deutscher ja nett, dass sie die Vorschläge des Bundeskanzlers ak- Unternehmen jammern; denn diese Suppe haben Sie zeptiert. Aber da muss in den kommenden Wochen von sich von Rot-Grün selbst eingebrockt. Die Bundesregie- Ihnen schon ein bisschen mehr aktive Mitarbeit und Mit- rung ist mit Steuersenkungen für die Unternehmen in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16065

Dr. Gesine Lötzsch (A) Vorleistung gegangen und hofft nun auf eine Gegenleis- – An der Stelle! (C) tung durch die Unternehmen. Doch da haben Sie die (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das werden wir Rechnung ohne den Wirt gemacht. Viele Manager haben uns merken!) die Steuersenkungen als Geschenk und nicht als Ver- pflichtung zur Schaffung von Arbeitsplätzen betrachtet. Es ist auch belegt, dass diese öffentlichen Investitio- nen in die Rüstung keinen Beitrag zur Entwicklung von Lassen Sie uns über öffentliche Investitionen reden. Spitzentechnologien leisten werden. Bekanntlich wollen Die öffentliche Hand ist immer noch der größte Investor sich die amerikanischen Partner nicht in die technologi- in unserem Land, auch wenn die öffentlichen Investitio- schen Karten schauen lassen; der Vertrag wird nach ame- nen von Jahr zu Jahr sinken. In der Europäischen Union rikanischem Recht abgeschlossen. Trotzdem wird die ist die Bundesrepublik Deutschland das Schlusslicht, Bundesregierung viel Geld in ein unsinniges Rüstungs- wenn es um öffentliche Investitionen geht. Die öffent- projekt stecken, weil sie sich vom EADS-Konzern hat liche Investitionsquote beträgt im Durchschnitt der Eu- unter Druck setzen lassen. ropäischen Union 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduk- tes. In Deutschland liegt sie nur bei 1,4 Prozent. Das ist Wir als PDS sind dafür, dass der Anteil der öffent- deutlich zu niedrig. lichen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt steigt, und zwar erstens zur Schaffung von Arbeitsplätzen, insbe- Wer sich in der Politik, insbesondere in Krisenzeiten, sondere in strukturschwachen Regionen, und zweitens nur auf private Investitionen verlässt, ist verlassen. Die zur Entwicklung moderner ziviler Technologien. geringen öffentlichen Investitionen sind ein Grund für die hohe Arbeitslosigkeit in unserem Land. Bundes- Das Beispiel des Luftabwehrsystems MEADS macht minister Stolpe hat gestern erklärt und heute wiederholt, deutlich, dass SPD und Grüne nicht die Kraft aufbrin- dass er bis zum Jahre 2008 2 Milliarden Euro in den gen, sich unsinnigen Projekten zu widersetzen. Sie be- Ausbau der Schienenwege, Fernstraßen und Wasserwege klagen lieber mit lauten Worten die Macht des Kapitals. investieren und damit 60 000 Arbeitsplätze sichern will. Das ist aber zu wenig. Sie können etwas dagegen tun – Sie sollten es auch! (Siegfried Scheffler [SPD]: Zusätzlich!) – Ja, zusätzlich. Wunderbar, ich lobe ihn doch gerade. Präsident Wolfgang Thierse: Das haben Sie noch gar nicht bemerkt. Das kann ich Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Bürsch, gerne noch einmal unterstreichen. – Mit Investitionen SPD-Fraktion. von rund 33 000 Euro sichern Sie einen Arbeitsplatz. Das ist ein sehr gutes Verhältnis, Herr Stolpe, auf das ich Dr. Michael Bürsch (SPD): gleich zurückkommen werde. (B) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (D) Der Genosse Müntefering schimpfte in den letzten Unser Thema heute ist, neue Impulse für Wachstum und Tagen viel über skrupellose Manager, die den Staat und Beschäftigung zu finden. Offenkundig kann man die De- die Demokratie gefährden. Den Worten könnte man batte auf zweierlei Weise führen, entweder mit Schlag- zwar zustimmen; doch wenn ich mir die konkrete Politik worten oder mit sachlicher Information. Als Norddeut- nur in dieser Woche anschaue, kommen Zweifel an der scher neige ich zu der zweiten Methode. Ich möchte die Redlichkeit dieser Worte auf. Gestern hat zum Beispiel Gelegenheit nutzen, über einen Baustein aus dem Ge- der Haushaltsausschuss mit der Mehrheit von SPD und samtpaket, der heute schon mehrfach angesprochen wor- Grünen sowie mit tätiger Unterstützung der CDU/CSU den ist, etwas genauer zu informieren, nämlich über die ein neues Luftabwehrsystem für die Bundeswehr be- öffentlich-privaten Partnerschaften. schlossen, Kostenpunkt circa 2,85 Milliarden Euro. Der Ich sage an dieser Stelle schon einmal ganz deutlich: Rechnungshof geht davon aus, dass die Kosten auf mehr Ich werbe sehr für den deutschen Begriff und nicht für als 6 Milliarden Euro steigen werden. Noch schlimmer den englischen/amerikanischen Begriff PPP; ist, dass dieses Luftabwehrsystem völlig überflüssig ist. Die Bundeswehr hat den Fall der Mauer offenbar noch (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Dafür bekom- nicht verinnerlicht. Die Generäle wollen in ein System men Sie ausdrücklich meinen Beifall! Ich investieren, das nach dem Zusammenbruch des War- hoffe, Sie setzen sich durch!) schauer Paktes nicht mehr gebraucht wird. denn dieser ist für viele Bürgermeister, Mandatsträger Es ist auch klar, dass diese beachtlichen öffentlichen und andere, die mit diesem Verfahren adressiert werden, Investitionen kaum Arbeitsplätze schaffen werden. Mit eher abschreckend; manche halten das für Beraterge- diesem Luftabwehrsystem sollen 450 Arbeitsplätze gesi- klüngel. Es ist aber ein sehr konkretes und Erfolg ver- chert werden. Die Bundesregierung ist also bereit, knapp sprechendes Verfahren. Deshalb können Sie vielleicht 3 Milliarden Euro in ein zweifelhaftes militärisches Pro- dazu beitragen, dass wir das „öffentlich-private Partner- jekt zu stecken, um 450 Arbeitsplätze zu sichern. Das schaften“ nennen. heißt, Sie geben pro gesicherten Arbeitsplatz rund Ich möchte dreierlei vermitteln: erstens die Ausgangs- 7 Millionen Euro aus. Das ist absurd, wenn man die nur lage insbesondere bei den kommunalen Investitionen, 33 000 Euro sieht, die benötigt werden, um einen Ar- zweitens, welche Potenziale in diesen öffentlich-privaten beitsplatz in der Verkehrsinfrastruktur zu sichern. An der Partnerschaften stecken, und drittens – vor allem dies Stelle kann ich nur sagen: mehr Stolpe, weniger Struck! muss einmal deutlich gemacht werden –, was zu diesem (Heiterkeit) Thema bereits im letzten halben Jahr geschehen ist. Das 16066 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Michael Bürsch (A) ist auch die Antwort an Herrn Kauder. Die Wahrheit ist sen, sondern auch, es privat zu betreiben. In Deutschland (C) konkret, Herr Kauder: Wir haben ein halbes Jahr lang gibt es bereits zwei erste Beispiele, die in diese Richtung verdammt hart gearbeitet, und zwar nach dem Grundsatz weisen. Es bleibt zu hoffen, dass weitere folgen. Wir „Gründlichkeit plus Schnelligkeit“. Das ist durchaus vor- können dafür die vorhandenen Möglichkeiten nutzen. zeigenswert. Was haben wir in der SPD-Fraktion gemacht, um die- Die Ausgangslage bei den kommunalen Investitionen ses Thema voranzubringen? sieht folgendermaßen aus: Allein der kommunale In- (Zuruf von der CDU/CSU: Wenig!) vestitionsbedarf – wohlgemerkt, das betrifft nicht den Bundeshaushalt – wird für dieses Jahrzehnt von Exper- Das Verfahren ist sicherlich eindrucksvoll. Viele werden ten wie dem deutschen Institut für Urbanistik auf rund noch nichts davon gehört haben. Wir haben seit einem 700 Milliarden Euro geschätzt. Allein im Schulbaube- halben Jahr über 60 Berater an unserer Seite, die sich reich sprechen wir von rund 70 Milliarden Euro. Trotz freiwillig und unentgeltlich einbringen. Ich behaupte, dieses Befundes sind die kommunalen Investitionen im das ist der geballte Sachverstand, den es in Deutschland letzten Jahrzehnt von Jahr zu Jahr zurückgegangen. Die und darüber hinaus zu diesem Thema gibt. Das bringt so genannte Sachinvestitionsquote sank von rund viel mehr, als eine Anhörung leisten kann. Die Berater 18 Prozent bzw. 29 Milliarden Euro im Jahr 1995 auf – aus der Bauindustrie bis zum Juristen – sitzen jede rund 14 Prozent bzw. 21 Milliarden Euro im Jahr 2004. Woche bei uns und bringen ihren Sachverstand ein. Auf Die Folge dieser Entwicklung: Sanierungsbedarf und In- der anderen Seite sitzen die Vertreter der Ministerien. frastrukturlücke sind in dieser Zeit immer größer gewor- Wir diskutieren das Thema in einer Ausführlichkeit und den, und zwar zum Nachteil von Wirtschaft und Gesell- Gründlichkeit, die in dem üblichen Gesetzgebungsver- schaft. fahren sicherlich nicht möglich sind, und kommen dann zu konkreten Ergebnissen. Andere Länder haben daraus schon Konsequenzen gezogen, unter anderem England: Als Folge der falschen Ich will nur einige der 30 Ergebnisse – 30 konkrete Thatcher-Politik, alles zu privatisieren, haben Wirtschaft gesetzliche Verbesserungsvorschläge! – nennen, die wir und Politik dort gemeinsam einen Weg gefunden, indem im Mai vorlegen können, um zu zeigen, welche Rich- sie die Bedeutung von öffentlich-privaten Partnerschaf- tung wir verfolgen. ten für die öffentliche Investitionstätigkeit und Konjunk- Zum Gebührenrecht: Bisher gibt es, wenn zum Bei- turpolitik entdeckt haben. spiel ein Tunnel mit privatem Kapital gebaut wird, nur Während in Deutschland, wie bereits dargestellt, die die Möglichkeit, dass sich der private Betreiber die Nut- Sachinvestitionen enorm zurückgingen, nahmen sie in zung mit einer öffentlichen Gebühr, einer Maut, vergü- (B) Großbritannien im selben Zeitraum um 36 Prozent zu. ten lässt. Wir öffnen den Weg dafür, dass er auch ein pri- (D) Erfahrungen aus anderen EU-Ländern, die auch den Weg vates Entgelt erheben kann, öffentlich-privater Partnerschaften eingeschlagen ha- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist schön! ben, sind ähnlich eindrucksvoll. In Spanien war ein An- Gut! Wir hoffen nur, dass Herr Müntefering stieg der Sachinvestitionen um 35 Prozent zu verzeich- das begrüßt!) nen, in den Niederlanden um 30 Prozent, in Irland um 41 Prozent, in Italien um 24 Prozent und in Griechen- mit der damit einhergehenden Flexibilität. Diese Öff- land um 19 Prozent. nung wird von der FDP und der CDU/CSU begrüßt. Ich schließe mich dem an, was Herr Brandner bereits getan Auch in Deutschland wurde in Bezug auf öffentlich- hat: Ich lade Sie herzlich ein, in unser Boot zu kommen. private Partnerschaften im vergangenen Jahr ein erster Auch für Sie ist da noch Platz. Wir können das gerne zu- Durchbruch erzielt. Projekte mit einem Bauvolumen in sammen machen. einer Größenordnung von 0,5 Milliarden Euro und ei- nem Projektvolumen von insgesamt 1,5 Milliarden Euro (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Eduard wurden schon vertraglich vereinbart. Oswald [CDU/CSU]: Wir wollen nur bald Er- gebnisse sehen!) Worin liegen die Chancen für öffentlich-private Part- nerschaften? Ich appelliere dringend an Sie, nicht nur an – Sie können die Ergebnisse bei uns abrufen. Ich nenne den Hoch- und Tiefbau, nicht nur an Beton zu denken. Ihnen nur wenige Beispiele, um die Richtung zu zeigen. Es ist ein weites Feld: Sanierung von Schulen und Uni- Zum Vergaberecht: Wir werden das Verhandlungs- versitäten, Justizvollzugsanstalten, Krankenhäusern und verfahren ausgestalten und den so genannten wettbe- Pflegeeinrichtungen, Ausbau von Telekommunikation, werblichen Dialog, den uns die EU angedient hat, in Energie- und Wasserversorgung, Abwasseraufberei- deutscher Weise umsetzen. tung – es gibt viele Möglichkeiten! Wir werden im Haushaltsrecht dafür werben, dass es Insbesondere in Deutschland ist es notwendig, den in der Bundeshaushaltsordnung zu einer Änderung des Lebenszyklus-Gedanken zu entdecken: Zurzeit denken Veräußerungsverbots kommt. In der Bundeshaushalts- wir in diesem Zusammenhang fast ausschließlich daran, ordnung herrscht immer noch der Gedanke vor, dass der eine Investition mit privatem Kapital zu ermöglichen. Staat Infrastruktureinrichtungen dann am wirtschaft- Wie die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, geht lichsten nutzt, wenn er selbst Eigentümer ist. Wir halten es aber um viel mehr, nämlich darum, zum Beispiel ein das aber nicht mehr für zeitgemäß und wollen es ändern. Gefängnis nicht nur mit privatem Kapital bauen zu las- Öffentlich-private Partnerschaften stellen nämlich einen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16067

Dr. Michael Bürsch (A) Weg dar, um zum Beispiel eine Liegenschaft oder Infra- üblich ein Wischiwaschi herauskommen, das uns in kei- (C) strukturmaßnahme für den gesamten Lebenszyklus in ner Weise weiterhilft. Es wird nicht Stolpe und auch private Hand zu geben. nicht Loske sein. Es wird auch der Wirtschaft nicht hel- fen; das ist das Entscheidende. Ob es Herrn Stolpe oder (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Wir freuen uns Herrn Loske hilft, ist mir völlig egal. Aber der Wirt- schon auf die Vorschläge!) schaft sollte es helfen. Das tut es im Endeffekt nicht. Ich könnte noch viele weitere Beispiele anführen. Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lade Sie ein, diese bei mir abzurufen. neten der FDP) Abschließend stelle ich mit Konfuzius fest: Es ist bes- Herr Minister, ich will das mit den Worten Ihres ehema- ser, hier und da ein Licht anzuzünden, als auf die Dun- ligen Staatssekretärs Hilsberg skizzieren: kelheit zu schimpfen. Der Vorteil aus dem ostdeutschen Recht für die Re- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie haben doch alisierung von Straßenbauvorhaben geht zu großen bisher zu viele Lichter ausgepustet!) Teilen verloren. Ich lade Sie ein: Zünden Sie die Lichter mit an! Das heißt also, schon Ihre Umsetzung ist nicht optimal. (Beifall bei der SPD) Das, was ich gerade gesagt habe, setzt noch einen drauf. Die Situation ist also miserabel. Präsident Wolfgang Thierse: Vor diesem Hintergrund ist der Antrag von SPD und Ich erteile das Wort Kollegen Dr. Klaus Lippold, Bündnis 90/Die Grünen „Investitionskräfte stärken – CDU/CSU-Fraktion. Neue Impulse für Wachstum und Beschäftigung“ zu be- werten. Wie sehen die Impulse für Wachstum und Be- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): schäftigung aus? Man muss es noch einmal sehr deutlich sagen: Sie haben das Investitionsniveau drastisch ge- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- senkt. Wenn Sie hinterher wieder etwas draufsatteln, er- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welches ist der reichen Sie noch nicht einmal das vorherige Investitions- Ausgangspunkt unserer heutigen Debatte? Was muss niveau. Welche Impulse sollen davon ausgehen, Herr man berücksichtigen? Kernpunkt ist, dass wir eine ekla- Minister Stolpe? tant schlechte wirtschaftliche Situation haben. Aus- gangspunkt ist, dass wir selten eine so schlechte Arbeits- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Aber feiern marktsituation hatten, um nicht zu sagen: So miserabel lässt er sich!) war es noch nie. Wir werden an diesen Punkten prüfen, (B) (D) ob das vorgelegte Progrämmchen den Ansprüchen, die Sie haben sich von Herrn Eichel ohne erkennbaren Wi- wir an einen wirklichen Impuls für mehr Wachstum und derstand rasieren lassen. Die deutsche Infrastruktur muss Beschäftigung stellen müssen, auch nur annähernd ge- dafür büßen; denn zurzeit haben wir noch nicht einmal recht wird. Bestandserhaltung. Von Aus- und Neubau wollen wir gar nicht reden. Vor dem Hintergrund der EU-Osterwei- Der Sachverhalt ist – das gehört zur Analyse –: Wir terung kann man nur sagen: Das ist ein glattes Versagen haben im Moment ein ausgesprochen negatives Investi- der Bundesregierung. Das kann man nicht anders bewer- tionsklima. Auch das Ausland investiert bei uns deut- ten. lich weniger, als das noch im vergangenen Jahr der Fall (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- war. Alleine die Investitionen aus den USA sind in ei- neten der FDP) nem Jahr um 4 Milliarden Euro gesunken. Die Konsum- bereitschaft ist völlig am Boden. Was das Schlimmste Sie verfahren nun nach bewährter Manier und legen ist: Sie tun eigentlich alles, um die Position, die erforder- ein 2-Milliarden-Euro-Programm für Verkehrsinvesti- lich wäre, noch zu verschlechtern. Die ausländische tionen auf. Das klingt nach Schröder und das ist auch Wirtschaft achtet auf Flexibilität. Aber Sie antworten mit Schröder; denn tatsächlich werden nur 500 Millionen einem Antidiskriminierungsgesetz. Was das für die Un- Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt. Die Bundesdeut- ternehmen bedeutet, überschaut heute noch niemand. Es schen sind aber der Meinung – ich habe etliche gefragt; trägt auf jeden Fall nicht dazu bei, die Investitionsbereit- einige kannten den Namen des Programms bereits –, schaft zu heben. Nehmen Sie Abstand von solchen un- dass nun 2 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung ge- möglichen Positionen! stellt werden. Das ist der entscheidende Punkt: Zuerst senken Sie ab und dann heben Sie an. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Oberflächlich- Nachdem Sie noch kürzlich, am 14. April dieses Jah- keit!) res, im Ausschuss unsere Vorschläge zur Beschleuni- gung des Planungsrechts abgelehnt haben, habe ich nun Außerdem haben Sie das bislang noch nicht einmal im mit großer Freude vernommen, dass Sie sich nun doch Haushalt verankert, Herr Stolpe. Ich garantiere Ihnen: auf den Weg begeben wollen. Aber ich muss angesichts Herr Eichel wird, wenn die geringen Steuereinnahmen der heutigen Diskussion feststellen: Der Wein, den Herr kommen, die wegen des total in den Keller gefahrenen Stolpe hinhält, wird von Herrn Loske gleich kräftig mit Wachstums zu erwarten sind, dafür sorgen, dass noch Wasser verdünnt. Denn Herr Loske sagt: So wie Herr einmal zulasten Ihres Haushalts saniert wird. Also: run- Stolpe das will, geht es nicht. Das heißt, hier wird wie ter, hoch, runter! 16068 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) Vor diesem Hintergrund wird sich natürlich keine In- Wir müssen das vorurteilsfrei sehen. Wir müssen die (C) vestitionssicherheit in der Bundesrepublik Deutschland Vor- und die Nachteile gegeneinander abwägen. Aber im einstellen. Herr Schmidt, hier muss man ausnahmsweise Vorhinein den Teufel an die Wand zu malen ist an und sogar einmal Herrn Mehdorn Recht geben; denn ange- für sich kein gutes Signal. sichts der Tatsache, dass hier laufend andere Zahlen ge- nannt werden, kann es keinen Planungshorizont geben. Lassen Sie mich noch eines freimütig hinzufügen. Über alle anderen Positionen können wir ruhig streiten. Wenn ich die Maut und den Transrapid als erste Bei- Aber in diesem Fall ist das sicherlich so. spiele für Projekte öffentlich-privater Partnerschaft nehme, Wir haben also eine Situation, in der Investitionen nicht die geringsten Impulse für zusätzliches Wachstum (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das sind keine öf- und zusätzliche Beschäftigung geben. Vor dem Hinter- fentlich-privaten Partnerschaften, das sind grund dessen, was sich in der Bauindustrie abspielt, ist Aufträge gewesen, Herr Kollege!) das ein enormes Manko. dann muss man sagen: Sie haben das in einer Art und Nebenbei bemerkt, Herr Stolpe: Sie behaupten, Weise in den Keller gefahren, wie es schlimmer gar nicht 500 Millionen Euro sicherten 60 000 Arbeitsplätze. Das geht. ist überzogen. Experten sagen, 500 Millionen Euro si- cherten maximal 10 000 Arbeitsplätze. Das heißt, auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hier rechnen Sie schön. Angesichts dessen, dass Sie alles beschönigen und den Ernst der Situation nicht begreifen, Das Schlimmste ist, dass Sie den Leuten vorgegaukelt muss das Ganze negativ bewertet werden. Auf diese Art haben, Sie investierten die Mehreinnahmen aus der Maut und Weise kommen wir nicht nach vorne. Das wird nicht nutzerorientiert, also in Straße und Schiene. Sie haben dem gerecht, was wir brauchen. sich nicht vor einem Gesetzesbruch gescheut und Sie ha- ben sich nicht gescheut, die Bund/Länder-Vereinbarung Was die Gebäudesanierung angeht, werden wir prü- zu brechen. Die Mauteinnahmen sind im eichelschen fen müssen, ob wir über den KfW-Weg hinaus weitere Haushaltsloch verschwunden. Förderwege beschreiten müssen. Meine Fraktion berät darüber gerade abschließend. Ich bin der Meinung, dass Beim Nachdenken über Nutzerfinanzierung werden wir weitere Förderwege brauchen, weil die KfW-Finan- die Leute sehr wohl fragen, Herr Minister: Wohin ver- zierung nicht ausreicht, um hier die nötigen Impulse zu schwinden diese Gelder diesmal? Das heißt, Sie haben setzen. Wir werden das Nötige auf den Weg bringen. Wir Glaubwürdigkeit verspielt. Das ist in dieser Frage viel fordern die Grünen auf, uns dabei zu begleiten. Das Pro- entscheidender als manches andere. Die Leute werden (B) gramm der Grünen enthält nämlich die entsprechenden Ihnen nicht mehr glauben, wenn Sie ihnen Ihre neuen (D) Punkte; in der Regierungsarbeit haben sie sie aber noch Vorstellungen präsentieren. An diesem Punkt sollten Sie nicht umgesetzt. Auch hier gibt es bislang keine Schub- jetzt wirklich einmal etwas tun, um Glaubwürdigkeit zu- kraft. rückzugewinnen; sonst kommen wir nicht weiter. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ Im Übrigen gebe ich meinem Vorredner Recht: Wir CSU]) können das eine oder andere auch auf der kommunalen Ebene bewegen. Ich sage das, weil Sie wie wir kommu- In Bezug auf die öffentlich-private Partnerschaft nal engagiert sind. Ich glaube nicht, dass es einen Land- werden wir Sie daran messen, ob Ihre dann vorgelegten kreis gibt, in dem im Rahmen von öffentlich-privater Entwürfe unseren dann vorgelegten Papieren, die wir als Partnerschaft mehr als im Landkreis Offenbach mit dem Messlatte nehmen, entsprechen. Ich sichere Ihnen dabei Landrat Walter gemacht wird. eine konstruktive Zusammenarbeit zu, und zwar ganz einfach deswegen, weil wir nicht alles, was von Ihrer (Karsten Schönfeld [SPD]: Haben Sie oben Seite kommt, blindlings ablehnen. Ich wiederhole, was eine Besuchergruppe sitzen?) meine Parteichefin gesagt hat: Wir sind zu konstruktiver Mitarbeit jederzeit gern bereit; Ich lade Sie dorthin gern ein. Sie können sich vor Ort die Praxis anschauen. Außerdem können Sie sich beim (Karsten Schönfeld [SPD]: Nur Lippenbe- Kompetenzzentrum Hessen gern Ratschläge holen, was kenntnisse!) öffentlich-private Partnerschaft angeht. Ich bin zu kon- aber es muss dann auch in eine wirklich konstruktive Ar- struktiver Arbeit jederzeit bereit. beit einmünden. Herzlichen Dank. Deshalb frage ich mich, ob die Bedenken von Herrn Loske, das dürfe aber nicht in eine völlige Privatisierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – entarten – sie werden schon jetzt ganz leicht thematisiert –, Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir machen jetzt ein schlechtes Omen für die Arbeit sind, an die wir he- in Partnerschaft!) rangehen wollen. (Jörg van Essen [FDP]: Natürlich ist es das! – Präsident Wolfgang Thierse: Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Die Fortsetzung Ich erteile das Wort Kollegen Uwe Beckmeyer, SPD- der bisherigen Verhinderungspolitik!) Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16069

(A) Uwe Beckmeyer (SPD): Hier passiert etwas. Aktuell werden Projekte mit einem (C) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Volumen von 2 Milliarden Euro angeschoben. ren! Wir haben mittlerweile viele Reden der Opposition (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Tun Sie doch gehört. Man fragt sich: Was ist das für eine Opposi- nicht! Sagen Sie doch mal die Wahrheit! Ver- tion? – Sie ist rückwärts gewandt, krämerisch und sie ar- teilt auf vier Jahre ist das! Das ist ein Tropfen beitet mit Methoden, die in ihrer Plumpheit eigentlich auf den heißen Stein!) kaum noch zu überbieten sind. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir Der Kollege Schmidt hat an diesem Pult vorhin deut- haben wenigstens eine Methode!) lich gemacht – ich tue das für die Sozialdemokraten –: Wir haben mit Koch/Steinbrück einen Weg beschritten, – Wie ich schon sagte, sind diese Methoden in ihrer der für die Verkehrspolitik nicht gut war. Wir korrigieren Plumpheit eigentlich kaum noch zu überbieten. diesen Weg; Sie nicht. Frau Merkel und ihre Gefolgsleute gehen stets nach (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des folgenden Regeln vor: Erste Regel: Es ist immer zu we- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nig. Zweite Regel: Es geht nicht weit genug. Sie bleiben da sitzen und sagen einfach: Es war so und (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das stimmt es geht so weiter. Sie beklagen, dass für die Verkehrspo- doch!) litik zu wenig ausgegeben wird. Gehen Sie doch mit uns Dritte Regel: Es geht nicht schnell genug. Vierte Regel: diesen Weg! Unterstützen Sie uns dabei, wenn wir in den Es ist zu kurz gesprungen. vor uns liegenden Jahren in Deutschland 2 Milliarden Euro zusätzlich ausgeben! (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Richtig!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fünfte Regel: Es wird zu wenig Geld ausgegeben – oder des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – zu viel; je nachdem, wer gerade spricht. Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist doch auf (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Alles richtig!) vier Jahre verteilt, Herr Kollege!) Sechste Regel: Es ist die falsche Richtung; denn es ist Wie sieht es draußen aus? Die Bauindustrie sagt: Das grundsätzlich falsch, was von Rot-Grün kommt. ist das Richtige. Was sagen Sie? – Die Systemindustrie, Bereich Schiene, sagt: Das ist der richtige Weg. Was sa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen Sie? – Die Länder und Gemeinden sagen: Jawohl, DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/CSU]: das ist die richtige Richtung. Was kommt von Ihnen? Sie haben schon eingeübt, wie Sie als Opposi- (B) (D) tion arbeiten!) (Zuruf von der SPD: Nichts! – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist doch blanker Populis- Wer nach dieser Methode Regierungshandeln kritisieren mus, was Sie hier betreiben!) will, der taugt für das Regieren überhaupt nicht. Gar nichts. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Was die Verkehrspolitik der Christlich Demokrati- Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Wenn man so re- schen Union angeht – von der FDP, die Programme aus gieren will wie Sie, nicht; das stimmt!) dem letzten Jahrhundert abschreibt, will ich gar nicht re- den –, Wir haben ein Programm aufgestellt, das mit über 2 Milliarden Euro nur für die Verkehrsinfrastruktur in (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist Ihr Bun- Deutschland bewusst gegensteuert, aktuell gegensteuert. deskanzler! Ist Ihr Bundeskanzler aus dem vergangenen Jahrhundert? Offensichtlich ha- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: 2 Milliarden auf ben Sie sich von Schröder schon verabschie- vier Jahre!) det! Das mag sein!) Ein Programmteil ist das CO2-Gebäudesanierungspro- bin ich wirklich der Überzeugung: Sie sind nicht in der gramm, das Wolfgang Spanier hier sehr klar erklärt hat. Lage, hier etwas Ordentliches zu artikulieren. Sie agie- Das ist als zweiter wichtiger Punkt heute auf der Tages- ren taktisch und sind im Grunde nicht in der Lage, ordnung. Wir arbeiten die 20 Vorschläge der Regierung Deutschland positiv zu orientieren in der Frage, was wir Punkt für Punkt ab. Und was kommt von Ihnen? Mäke- für Wachstum und Beschäftigung tatsächlich brauchen. lei. Es heißt: Wir machen nicht mit. Das ist uns – wie ge- sagt – zu wenig. – Das kann doch eigentlich nicht Ihre Wir können Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik am Antwort sein. Das kann uns in Deutschland nicht voran- effektivsten betreiben, indem wir jetzt wirklich etwas für bringen. unsere Verkehrsinfrastruktur tun. Wir sind, glaube ich, auf dem richtigen Weg. Die Bevölkerung draußen schaut sehr genau hin. (Lachen des Abg. Dr. Andreas Pinkwart (FDP) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist auch gut so!) Weshalb sind wir auf dem richtigen Weg? Weil wir im Herzen Europas, in einem der größten und wichtigsten Sie schaut, was da tatsächlich passiert. Staaten dieses Kontinents, für die Verkehrsinfrastruktur (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Gott sei Dank!) jetzt Impulse geben müssen. Das tun wir. Mobilität ist 16070 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Uwe Beckmeyer (A) wichtig, nicht nur für die Wirtschaft. Sie ist wichtig für (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (C) die Menschen. Sie ist wichtig für die Ökonomie. Sie ist DIE GRÜNEN]: Er ist beleidigt, weil er den wichtig für den Export. Sie ist wichtig für unser Land. Kauder reden lassen musste!) Deshalb muss man jetzt konkret deutlich machen, wo – Was wir von Herrn Kauder gehört haben, war ja auch überall etwas passiert. nicht gerade das Allerbeste. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Noch ist gar (Karsten Schönfeld [SPD]: Das war Kauder- nichts passiert!) welsch!) Ich konnte mir eigentlich nicht vorstellen, dass Sie in Ih- Es wird immer gesagt, die Investitionen hätten ren Reden in der heutigen Auseinandersetzung nicht ein- zwangsläufig zurückgehen müssen, weil Koch/ mal sagen würden: Jawohl, Minister Stolpe, was Sie vor- Steinbrück uns einiges genommen hat. Ich glaube, die schlagen, ist vernünftig. – Kein einziges Wort von Ihnen Zahlen während Ihrer Regierungszeit haben Sie aber dazu! Zu keinem der Projekte, weder zum CO2-Gebäu- völlig ausgeblendet. desanierungsprogramm noch zu den anderen vorgeschla- genen Maßnahmen, ein positives Wort! Sie sitzen dort (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben die Fest- und sagen: zu wenig, zu viel; hin und her. Es ist reine platte gelöscht!) Mäkelei. Daran erkennt man im Grunde auch Ihre gene- Wenn man sich diese noch einmal angeschaut hätte, relle Taktik. Sie haben gar kein Interesse daran, dass es würde man es gar nicht wagen, solche Reden zu halten; mit Deutschland vorangeht. denn was damals nicht passiert ist, haben wir in der ers- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten Legislaturperiode von Rot-Grün erst einmal nachho- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – len müssen, um Deutschland überhaupt in die Lage zu Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist Unsinn! versetzen, ausreichend Mobilität zur Verfügung zu stel- Sie sind nicht bereit, das zu tun, was notwen- len. dig wäre! Das ist das Problem!) (Beifall bei der SPD – Eduard Oswald [CDU/ Sie möchten Deutschland eigentlich da lassen, wo es ist. CSU]: Jetzt werden Sie gleich noch Zahlen aus Die Leute draußen sagen Ihnen ins Gesicht: Ihr von der den 50er-Jahren aus der Adenauer-Zeit brin- CDU/CSU macht eine falsche Politik. gen! Regieren Sie! Handeln Sie!) Ich schaue mir das in der Region an. Nachdem ich Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will zum gestern bei mir zu Hause gesagt habe: „Liebe Freunde, Schluss kommen. Wenn gestern in der Zeitung stand: „Wir sind Papst“, müsste morgen zumindest in der (B) der Stolpe macht das Projekt B 74 jetzt mit“, (D) Zeitung stehen: „Stolpe schafft Arbeit“, nämlich (Eduard Oswald [CDU/CSU]: „Herr Stolpe“! 120 000 Arbeitsplätze. So viel Zeit muss sein!) Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. sagt die CDU vor Ort: Das haben wir schon immer ge- wollt. – Richtig. Was passiert im Bundestag? Kein einzi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ges Wort dazu! Sie sagen einfach: zu wenig. DIE GRÜNEN)

Warum ist das eigentlich so? Gibt es bei Ihnen gar Präsident Wolfgang Thierse: keinen Menschen mehr, der in der Verkehrspolitik ein- Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die mal konstruktiv mitwirkt, Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/5340, (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt gehen Sie 15/5322, 15/5325, 15/5338 und 15/5339 an die in der Ta- aber zu weit, Kollege Beckmeyer!) gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann der sich einbringt, der sich in dieser Frage an unsere sind die Überweisungen so beschlossen. Seite stellt und sagt: „Jawohl, wir sind bereit, in der Ver- antwortung für dieses Land mit den Sozialdemokraten Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b ein solches Infrastrukturprojekt mitzumachen“? Warum auf: machen Sie das nicht? a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Steigern Sie richts des Auswärtigen Ausschusses sich nicht so hinein!) (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble, Ich habe von Ihnen heute kein Wort hierzu gehört. Christian Schmidt (Fürth), weiterer Abgeordneter (Ludwig Stiegler [SPD]: So ist es, Edi!) und der Fraktion der CDU/CSU Nun habe ich allerdings festgestellt: Herr Kollege Die NATO auf die neuen Gefahren ausrichten Fischer, Ihr verkehrspolitischer Sprecher, ist gar nicht – Drucksachen 15/44, 15/324 – hier. Woran liegt das eigentlich? Haben Sie ihn heute zu Hause gelassen oder durfte er nicht sprechen? Das ist ei- Berichterstattung: gentlich schade; ich hätte von ihm gern etwas zu diesem Abgeordnete Markus Meckel Thema gehört. Dr. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16071

Präsident Wolfgang Thierse (A) Dr. Ludger Volmer Sie halten im Auswärtigen Amt Veranstaltungen ab (C) Dr. Werner Hoyer anlässlich des 100. Jahrestages der diplomatischen Be- ziehungen zwischen Deutschland und Äthiopien. Sie fei- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten ern im Auswärtigen Amt alle möglichen Anlässe, die Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble, meisten auch völlig zu Recht. Sie führen Podiumsdis- Christian Schmidt (Fürth), weiterer Abgeordneter kussionen durch, zum Beispiel vor kurzem zum Thema und der Fraktion der CDU/CSU „Frauen und Gesundheit im heutigen Jordanien“. Aber 50 Jahre deutsche NATO-Mitgliedschaft wür- zum Thema „50 Jahre deutsche NATO-Mitgliedschaft“ digen, sich zur NATO bekennen und sie stär- gibt es nicht einmal eine Ausstellung im Auswärtigen ken Amt. Das zeigt, wie Sie die Bedeutung des atlantischen Bündnisses für die Bundesrepublik Deutschland ein- – Drucksache 15/5323 – schätzen. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Am 3. Juli dieses Jahres wird im Lichthof des Auswärti- gen Amtes eine Ausstellung „50 Jahre Übereinkommen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für zur Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten“ die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich durchgeführt. Das ist Ihnen eine öffentlichkeitswirksame höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Aktion wert, 50 Jahre NATO nicht. Das, meine Damen und Herren, ist ein Skandal. Das lassen wir Ihnen nicht Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem durchgehen. Deshalb haben wir heute diesen Antrag ge- Kollegen Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion. stellt, um wenigstens im Deutschen Bundestag die NATO zu würdigen. Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Her- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ren! Europa verdankt der NATO sehr viel. Aber niemand Vielleicht liegt ja diese Missachtung des historischen verdankt der NATO mehr als wir Deutschen. Mit dem Datums daran, dass Sie oder jedenfalls ein großer Teil NATO-Beitritt am 6. Mai 1955 erhielt die Bundesrepu- von Ihnen trotz aller anders lautenden Bekenntnisse mit blik Deutschland zugleich ihre Freiheit und ihre Souve- der NATO doch nicht ganz warm geworden sind. ränität zurück. Nach Weltkrieg und Holocaust waren wir wieder ein geachtetes Mitglied der Völkerfamilie. (Rainer Arnold [SPD]: Wie Sie gerade reden, ist aber auch nicht gerade feierlich!) (B) Bündnissolidarität, militärische Abschreckung und (D) der amerikanische Nuklearschirm, das alles bewahrte Westbindung und Wiederbewaffnung hat Konrad Deutschland und das freie Berlin über Jahrzehnte vor der Adenauer gegen die Sozialdemokraten durchgesetzt. Expansion des sowjetischen Kommunismus. Die NATO Herr Adenauer ist dafür von der SPD als Kanzler der verband militärische Stärke mit Dialogbereitschaft und Alliierten beschimpft worden. Wir müssen festhalten, Entspannungspolitik. Diese politisch-militärische Dop- dass die NATO in der Tat gegen große Widerstände pelstrategie trug wesentlich dazu bei, die Teilung durchgesetzt werden musste. Es hat bis 1960 gedauert, und Deutschlands zu überwinden. bis hier im Deutschen Bundestag ein Bekenntnis zur Wiederbewaffnung und zur NATO abge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie legt hat. des Abg. Markus Meckel [SPD]) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Und schließlich: Sechs Jahrzehnte haben wir Deutschen Solms) jetzt Frieden mit unseren Nachbarn – für viele selbstver- ständlich, aber doch einmalig in der deutschen Ge- Der NATO-Doppelbeschluss war neben der Ostpoli- schichte. Wir verdanken den Frieden über 60 Jahre in tik von ganz entscheidend dafür, die Tei- Europa zu einem großen Teil der atlantischen Allianz. lung Europas und Deutschlands zu überwinden. Der NATO-Doppelbeschluss ist ebenfalls gegen den Wider- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stand aus den Reihen von SPD und Grünen sowie großer Teile der Bevölkerung durchgesetzt worden. Ich bin froh Eigentlich wäre die 50-jährige Mitgliedschaft ein und dankbar, dass das damals mit der Anlass zur Feier und zur Würdigung. Stattdessen gibt es CDU/CSU gemacht hat, denn dieser Doppelbeschluss ist weder im Auswärtigen Amt noch im Kanzleramt noch in in der Tat das Signal dafür gewesen, dass der War- der Brüsseler NATO-Vertretung irgendeine Art von Ver- schauer Pakt und der Sowjetkommunismus keine anstaltung, die dieses wichtige Ereignis in unserer Ge- Chance mehr hatten, im Kalten Krieg ihre Positionen schichte würdigt. Ich muss sagen, das ist wirklich ver- durchzusetzen. wunderlich. Es ist auch verwunderlich, Herr Bundesminister, dass es niemand aus der Reihe der Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) desminister für nötig hält, in dieser Debatte, die CDU und CSU beantragt und durchgesetzt haben, das Wort zu Auch die Öffnung des Bündnisses – das ist heute fast ergreifen. vergessen – nach Osten ist auf erheblichen Widerstand gestoßen. Ich habe vor dieser Debatte eine Bundestags- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) debatte aus dem Februar 1998 nachgelesen, wo der 16072 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Friedbert Pflüger (A) Kollege Ludger Volmer, der in diesen Stunden heute an Herr Schäuble in seinem Gespräch mit dem amerikani- (C) anderer Stelle tätig ist, schen Vizepräsidenten und wir alle im Rahmen unserer Kontakte mit der amerikanischen Seite immer wieder ( [Wiesloch] [SPD]: Ganz festgestellt haben, dass es jedenfalls die Amerikaner mit erfolgreich! Sehr erfolgreich! Passen Sie mal einem Neubeginn unserer Beziehungen ernst meinen auf! Gucken Sie mal zu! Aber Sie wollen ja und das atlantische Verhältnis auf eine neue Stufe stellen nicht hören!) wollen. gesagt hat, die NATO-Osterweiterung sei die Ostver- schiebung der Militärmaschinerie der NATO und stelle In den Gesprächen, die ich geführt habe – dem Kolle- eine antirussische Allianz dar. Meine Damen und Her- gen Christian Schmidt ist es vor zwei Wochen in Was- ren, auch die Osterweiterung, die Öffnung für die Länder hington genauso ergangen –, habe ich den Ausdruck Mittel- und Osteuropas, ist gegen Ihren Widerstand „Koalition der Willigen“ nicht mehr gehört. Die Art und durchgesetzt worden. Auch das gehört zur historischen Weise, wie die Amerikaner in den ersten Jahren der Wahrheit dazu. Bush-Regierung vorgegangen sind – sich wie aus einem Werkzeugkasten die jeweils geeigneten Bündnispartner (Beifall bei der CDU/CSU – Markus Meckel innerhalb der EU herauszupicken –, das alles gehört in [SPD]: Das ist doch wirklich großer Quatsch, Washington, jedenfalls im Moment, der Vergangenheit was Sie da erzählen! – Gegenruf des Abg. Gert an. Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das weiß er doch!) Im Gegenteil: Der amerikanische Präsident besucht sogar demonstrativ die EU. Amerika will die alte, tradi- – Es ist in der Tat unrichtig, was Sie angeht, Herr Kol- tionelle Beziehung zu EU und NATO wieder beleben. lege Meckel. Das ist richtig. Sie waren immer dafür. Ich glaube, wir tun sehr gut daran, darauf zu reagieren Aber Sie wissen auch, was viele Kollegen aus Ihrer und endgültig mit den Versuchen, gemeinsam mit Frank- Fraktion und vor allen Dingen große Teile der Grünen reich und Russland irgendwelche Achsen gegen die gesagt haben. Deshalb ist mein Vorwurf insgesamt kein USA zu bilden und Europa als Gegengewicht zu den Quatsch, sondern die Wahrheit. USA zu profilieren, Schluss zu machen. Wir wollen Meine Damen und Herren, vielleicht ist es auch kein selbstbewusste Partner sein. Wir wollen, wie immer, in- Zufall, dass die Rede des Bundeskanzlers auf der nerhalb des Bündnisses unsere Meinung sagen. Wenn es Münchner Sicherheitskonferenz, die Herr Struck vorle- notwendig ist, werden wir den Amerikanern selbstver- sen musste, weil der Bundeskanzler erkrankt war, ei- ständlich auch widersprechen; gentlich überall im Ausland den Eindruck vermittelt hat, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie (B) die Deutschen nehmen es mit der NATO nicht mehr ganz doch nicht!) (D) so ernst. Die zentrale Bedeutung der Allianz ist jeden- falls in den letzten Jahren nicht gepflegt worden. Wir ha- denn die NATO ist ein Bündnis freier Partner. Wenn es ben erlebt, dass anlässlich des Außenministertreffens in notwendig ist zu widersprechen, dann wird es, wie es Vilnius, das derzeit stattfindet, der Generalsekretär der auch in der Vergangenheit der Fall war, getan. NATO – ich kann mich an einen vergleichbaren Vorfall nicht erinnern – in Zeitungsinterviews rundweg erklärt, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lächer- die Vorschläge des Bundeskanzlers und des Bundesau- lich!) ßenministers spielten für ihn keine Rolle mehr. Widerspruch wurde bisher allerdings immer in einem (Michael Glos [CDU/CSU]: So weit habt ihr Klima der Solidarität und der Freundschaft innerhalb des es gebracht!) Bündnisses geäußert. Wir wollen dafür sorgen, dass das so bleibt. Die „FAZ“ schreibt heute, die Vorschläge des Kanzlers vom Februar sind fast vergessen. Es ist einfach so, dass (Beifall bei der CDU/CSU) sich die Bundesrepublik Deutschland unter dieser Bun- Genau deswegen passt es nicht in die Landschaft, desregierung mit der atlantischen Allianz schwer tut. Ich dass sich am 18. März dieses Jahres erneut Putin, glaube, wenn sie jetzt immer wieder erzählt, wir müssten Schröder und Chirac, diesmal zusammen mit Zapatero, die Krise überwinden, dann gehört zu dieser Wahrheit in Paris getroffen haben. Wenn Sie sich anschauen, wie auch, dass sie selbst zu dieser Krise ganz wesentlich bei- dieses Treffen kommentiert worden ist, stellen Sie fest, getragen hat, in die das atlantische Bündnis in den letz- dass es zum Beispiel in der „Frankfurter Allgemeinen ten Jahren gekommen ist. Zeitung“ hieß: Mit dem Treffen dieser Vier hat zumin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dest der französische Gastgeber eine europäische Ach- neten der FDP) senpolitik auszubauen versucht, mit der er einen Macht- pol schaffen will gegen die Vereinigten Staaten von Jetzt brauchen wir keine Selbstfindungsgruppen. Amerika. Vielmehr muss eine ganz konkrete weltpolitische Agenda abgearbeitet werden. Unsere Aufgabe ist, nach Vielleicht haben Sie auch vernommen, wie die Reak- vorne zu schauen und uns mit der Frage zu beschäftigen: tionen in Polen ausgefallen sind. Herr Rokita, der große Was wird aus diesem Bündnis? Immerhin gibt es hoff- Chancen hat, demnächst Ministerpräsident zu werden, nungsvolle Ansätze. Ich glaube, dass Frau Merkel in ih- sagt dazu: Es genügt, sich die Europakarte anzusehen, ren Gesprächen mit dem amerikanischen Präsidenten, um zu merken, dass zumindest ein Land am Tisch fehlt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16073

Dr. Friedbert Pflüger (A) Das Problem eines solchen Gipfels sei nicht, wer einge- bargos ohne Abstimmung in den Gremien der NATO, (C) laden wird, sondern, ob derartige Treffen durch einen ohne Abstimmung mit unseren amerikanischen Bündnis- europäischen Konsens gedeckt würden. partnern, obwohl die mit ihrer Pazifikflotte dort sind und viel direkter als wir betroffen sind, ist ein großer Fehler. Es ist unklug, überhaupt eine solche Achse zu bilden Wenn wir das nicht lassen, dann bestehen wir den ersten und obendrein dabei zum Beispiel Polen außen vor zu Testfall dieser neuen Zusammenarbeit nicht. lassen, weil dadurch in Mittel- und Osteuropa immer wieder die Angst geschürt wird, Deutschland würde, wie Deswegen werden wir nach der Debatte, die wir in so oft in der Geschichte, gemeinsam mit Russland eine der letzten Woche geführt haben, sehr genau beobachten, Politik über die Köpfe der Mittel- und Osteuropäer hin- wohin sich die Koalitionspolitik entwickelt. Sie haben weg und auf ihre Kosten betreiben. gestern im Auswärtigen Ausschuss unseren Antrag zur Fortführung des Waffenembargos abgelehnt. Sie haben (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt für die nächsten Wochen eigene Anträge angekündigt. [Salzgitter] [SPD]: Sie leben wirklich noch im Wir werden genau beobachten, wer sich durchsetzt: der vorigen Jahrhundert!) Kanzler mit seiner Position „Aufhebung des Embargos“ – Herr Kollege Schmidt, es geht doch besser. Im Falle oder die Grünen, die klar sagen, sie lehnen die Aufhe- der Ukraine zum Beispiel hat es relativ gut funktioniert. bung des Embargos ab, oder Außenminister Fischer mit Die Ukraine, Polen und Deutschland haben, gemeinsam seiner Politik des Irgendwo-so-in-der-Mitte-Herum- mit Herrn Solana und den Amerikanern, an einem Strang gezogen. Auch auf dem Balkan klappt die Zusammen- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Eierns!) arbeit zwischen Europäern und Amerikanern relativ gut. redens. Darüber hinaus haben wir uns auf eine Roadmap für den Nahen Osten geeinigt. Nun besteht erstmals seit langem Diese Doppelstrategie – dass der Kanzler die kon- eine kleine Chance, den Friedensprozess voranzubrin- krete Politik macht, die Geschäftsinteressen voranbringt, gen. und die Grünen dann vor Wahlen eine Beruhigungspille an ihre eigene Klientel geben – werden wir Ihnen nicht (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer ist durchgehen lassen. denn „wir“? Sie doch nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Wir alle im Westen, zusammen mit Russland und den neten der FDP) Vereinten Nationen. Die NATO bleibt auch deshalb von zentraler Bedeu- Dass das möglich ist, zeigt das Beispiel Iran. Wenn tung, weil wir eine zentrale neue Herausforderung auf sich die Europäer einig sind und gemeinsam auftreten (D) (B) der Welt haben, nämlich die des global agierenden – nicht nur Deutsche und Franzosen, sondern vielmehr islamistischen Terrorismus. Ich glaube, dass viele der Deutsche, Franzosen, Briten und Herr Solana, der Hohe Friktionen zwischen Amerika und Europa damit zu tun Repräsentant der Europäischen Union –, dann haben sie haben, dass es völlig unterschiedliche Analysen der Be- die Chance, europäische Politik auch in Washington drohungen gibt. Bei uns werden Warnungen wie die, die durchzusetzen. Die Amerikaner haben in den letzten Kofi Annan vor kurzem ausgesprochen hat, nicht ernst zwei Monaten eingelenkt, weil wir alle in Europa sie ge- genommen. Kofi Annan sprach in einem Beitrag im Ber- drängt haben, dem Iran nicht nur zu drohen, sondern liner „Tagesspiegel“ davon, dass der Atomterrorismus auch diplomatische und politische Anreize auf den Tisch keine Science-Fiction mehr sei, und er warnte vor biolo- zu legen und sich an diesem Verhandlungsprozess kon- gischem Terrorismus und seinen schrecklichen Folgen. struktiv zu beteiligen. Das ist das beste Beispiel dafür, Al-Baradei, der Generaldirektor der Internationalen dass wir Europa bzw. Teile Europas nicht gegen Ame- Atomenergiebehörde, hat im Januar gesagt, die Gefahr rika in Stellung bringen sollten, sondern dass wir den des nuklearen Terrorismus sei real und gegenwärtig; es Versuch unternehmen müssen, das gesamte Gewicht sei eine aktuelle Gefahr, dass al-Qaida eine schmutzige Europas in Washington in die Waagschale zu werfen, um Atomwaffe einsetze. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass eine bessere Politik und eine konstruktivere Zusammen- wir diese enorme Herausforderung aus der Verbindung arbeit zu erreichen. von Terrorismus und Massenvernichtungswaffen zum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kern unserer sicherheitspolitischen Überlegungen ma- chen – auf beiden Seiten des Atlantiks. Dabei kann Meine Damen und Herren, die Frage ist, wie es jetzt Russland ein wichtiger Partner sein – und muss es sein –, mit China weitergeht. Denn China war bei allem, was aber die europäische Einigung und die Freundschaft mit wir in den letzten Wochen erlebt haben, gegenüber unse- Amerika sind für unsere Sicherheit langfristig wichtiger ren Bündnispartnern und auch gegenüber den Ländern und zentraler; sie können jedenfalls durch ein Bündnis im Fernen Osten das große Problem. Die Aufhebung des mit Russland nicht ersetzt werden. Waffenembargos, die der Bundeskanzler angesprochen hat, droht diesen neuen Konsens, dieses zarte Pflänzchen In diesem Sinne hoffen wir, dass angesichts der enor- neuer Zusammenarbeit zu zerstören. Deswegen ist es men neuen Herausforderungen für die Stabilität und die ganz wichtig, dass die Europäische Union sagt: Ja, wir Sicherheit unserer Bürger dieses entscheidende Gut wollen gute Beziehungen zu China – natürlich, wer nicht aus der Hand gegeben wird. Wir sollten uns an das wollte das nicht: Wir brauchen China als Partner in der erinnern, was Willy Brandt an der Harvard-Universität Weltgemeinschaft –, aber die Aufhebung des Waffenem- im Juli 1972 gesagt hat. Willy Brandt sagte wörtlich: 16074 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Friedbert Pflüger (A) Sie, die Jüngeren, dürfen nicht vergessen, dass die Friedbert Pflüger hat deutlich gemacht: Die NATO (C) Interdependenz, die John F. Kennedy für die Staa- war ein zentraler Schutzschild der alten Bundesrepublik ten diesseits und jenseits des Atlantiks proklamiert in den Zeiten des Kalten Krieges. Als jemand, der im hat, eine moralische, eine kulturelle, eine wirt- Osten Deutschlands aufgewachsen ist, gestehe ich, dass schaftliche und politische Realität bleiben muss. dieses Bild bei uns nicht ganz so positiv war; denn wir waren uns immer sehr wohl bewusst, dass, wenn es zu In den letzten Jahren haben wir erlebt, dass sich das einer militärischen Konfrontation zwischen den beiden Koordinatensystem unserer Außenpolitik etwas verscho- Blöcken gekommen wäre, diese sich konkret auf deut- ben hat: etwas zu viel Russland und zu wenig Amerika. schem Boden abgespielt hätte. Wir waren uns dieser un- Das muss korrigiert werden und dafür ist diese Debatte mittelbaren Bedrohung bewusst. Der Teil der deutschen hoffentlich ein guter Anfang. Bevölkerung in der DDR, dem ich angehörte, liebte die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sowjetunion nicht, aber wir waren durchaus auch sehr neten der FDP – [SPD]: Das ist skeptisch gegenüber der NATO-Politik, weil wir wuss- sehr schlicht, was Sie da sagen!) ten, dass das bei uns ausgetragen würde und dass von uns, egal wie es ausgeht, nichts übrig bleiben würde. Das war damals unsere Wahrnehmung. Vizepräsident Dr. : Das Wort hat der Kollege Markus Meckel von der Es hat jetzt aber keinen Sinn, über die Historie zu re- SPD-Fraktion. den. Klar ist – ich denke, das ist eine ganz zentrale Di- mension –, dass die NATO nach dem Ende des Kalten Markus Meckel (SPD): Krieges eine ganz zentrale Rolle dafür spielte, dass Si- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und cherheit eben nicht nur national, sondern durch Integra- Kollegen! Es ist gut, dass wir diese Debatte zum tion organisiert wird. Ich glaube, dass dies die wichtigere 50. Jahrestag der deutschen Mitgliedschaft in der NATO Dimension der NATO in ihrer Geschichte geworden ist. führen, weil – das ist ganz klar – die NATO ein zentraler Dadurch bin ich zu einem wirklich überzeugten Atlanti- Eckpfeiler deutscher Außenpolitik in diesen 50 Jahren ker geworden. war. Das galt damals und das gilt auch heute. Nach 1990 ging es um Integration und Koopera- Genauso richtig ist – ich glaube, das ist unbestreit- tion. Übrigens ging die NATO hier sehr viel schleppen- bar –: Damals ist die NATO-Mitgliedschaft gegen die der vor und war langsamer bei der Umsetzung des Kon- SPD und gegen große Teile der deutschen Gesellschaft zepts, als es etwa die Europäische Union war, die sehr von Bundeskanzler Adenauer durchgesetzt worden. Es früh begriffen hatte, dass es um eine Erweiterung ging. (B) war damals ein schwerer Kampf, eine schwere Aus- Die Partnerschaft für den Frieden von 1993 wurde ja an- (D) einandersetzung. Der Grund dafür ist hier aber nicht ge- fangs als eine Alternative zur Erweiterung konzipiert. nannt worden. Das war nämlich die Sorge in der deut- Erst nach und nach hat man begriffen, dass es der erste schen Gesellschaft und bei der Sozialdemokratie, dass Schritt zu einer größeren Allianz sein könnte. Insofern diese militärische Dimension der Westbindung die deut- blicken wir hier auf eine schwierige Diskussion und auf- sche Einheit verhindern würde bzw. dass man dadurch grund der Erweiterungs- und Partnerschaftspolitik in den diese Perspektive verlieren würde. letzten 15 Jahren auch auf eine ganz zentrale Sicher- heitspolitik zurück, die uns alle in Europa gerade auch (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Eine krasse angesichts der neuen Bedrohungen sicherer gemacht hat. Fehleinschätzung!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Aber genau das war damals die große Sorge sehr vieler Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deutscher. Das war der Hintergrund. Wie sich zeigte, war das eine Fehleinschätzung. Das weiß man aber oft Heute ist die NATO weithin anerkannt und nicht um- erst im Nachhinein. stritten. Gleichzeitig muss man aber klar sagen, dass die Frage nach ihrer Bedeutung durchaus umstritten ist. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Meistens ha- Auch innerhalb der NATO wird ihre Zukunft durchaus ben Sie falsch gelegen! Jetzt wieder!) offen diskutiert. Ich glaube, wir sollten das Gespräch Daneben gab es eine andere zentrale Entscheidung über die neuen Herausforderungen für diese Institution, der deutschen Außenpolitik, nämlich die Willy Brandts darüber, wofür wir sie brauchen, stärker als bisher mit- – und damit sind wir bei Ihrer zentralen Fehlentschei- einander führen. Ich bin der festen Überzeugung, dass dung –: Als es um die Ostpolitik ging, dem anderen we- wir die NATO als Instrument weiter brauchen: zum ei- sentlichen Pfeiler der deutschen Politik, gab es genauso nen als eine zentrale Dimension, als Konsultationsgre- scharfe und kämpferische Auseinandersetzungen. Dort mium und als politisches Forum im transatlantischen lagen Sie total falsch, wie man heute weiß und wie es Verhältnis und zum anderen natürlich als eine wirklich große Teile Ihrer Partei heute auch akzeptieren. Klar ist: handlungsfähige militärische Organisation. Beides waren strittige Entscheidungen und beides waren und sind zentrale Grundlagen der deutschen Politik. Dies Man muss auch sagen: Neben den USA als Nationalstaat sollten wir nicht vergessen. ist die NATO die einzige Institution dieser Welt, die auch militärisch global agieren kann. Wir alle wissen, dass es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ohne sie nicht geht, dass wir diese Dimension der Au- DIE GRÜNEN) ßenpolitik brauchen, wie gerade der Kampf gegen den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16075

Markus Meckel (A) internationalen Terrorismus und Bemühungen der Frie- NATO. Wir sollten alles dafür tun, damit wir miteinan- (C) densmissionen und Konfliktbeilegung zeigen. der diese Verbindlichkeit erreichen. Wir stehen in der NATO vor vielen offenen Fragen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich begrüße sehr die Initiative des Kanzlers. Lieber Kol- DIE GRÜNEN) lege Pflüger, ich muss Ihnen deutlich widersprechen. Klar ist, dass die NATO für uns Europäer eine ganz Das, was heute in Vilnius passiert, ist die Folge dessen, besondere Herausforderung darstellt. Dies ist nicht nur was der Kanzler ausgesprochen hat und was im NATO- eine Frage der Kapazitäten; es geht weit darüber hinaus. Rat deutlich begrüßt worden ist. Ich finde es völlig ver- Es ist auch eine Frage der Fähigkeit, gemeinsam poli- ständlich, dass der Generalsekretär sagt: Wir wollen in tisch zu handeln, das heißt mit einer Stimme zu spre- dieser Frage keine Expertengruppe bilden, sondern wir chen. Hier bin ich bei einem Problem, von dem ich wollen das erst einmal selbst in die Hand nehmen. – Wir glaube, dass es für die Zukunft der NATO von zentraler werden sehen, was dabei herauskommt und ob es aus- Bedeutung ist. Ich meine die Gespaltenheit, die die Eu- reicht! Wenn es ausreicht, dann werden wir alle froh da- ropäer in gewisser Weise zeigen, wenn es um die NATO rüber sein, dass wir kein anderes Gremium brauchen. Es und die Europäische Union geht. Manche hohe Reprä- geht hier nicht um Gremien, sondern um klare Ergeb- sentanten unserer Länder in Brüssel berichten immer nisse und eine handlungsfähige NATO. Das ist unser wieder von der schwierigen Erfahrung, dass auf der Ziel! Ebene der Europäischen Union in den letzten fünf Jahren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine ganze Menge getan wurde, um eine gemeinsame si- DIE GRÜNEN) cherheitspolitische Identität zu entwickeln. Sobald man aber die Pforte zur NATO betritt, spielt das bzw. darf das Ich glaube aber, dass wir uns mit unseren Polemiken keine Rolle mehr spielen. Es wird so getan, als hätte man nur an der Oberfläche befinden. Letztlich stehen wir in vorher über diese Fragen nie miteinander geredet. der NATO vor einer sehr grundlegenden Entscheidung für die Zukunft. Ich bin der festen Überzeugung, dass Diese Bewusstseinsspaltung stellt zuallererst für uns wir uns als Europäer Sicherheit ohne die USA nicht vor- selbst ein großes Problem dar. Wir müssen lernen, nicht stellen sollten und auch nicht können, weil unsere Kapa- nur außerhalb der NATO mit einer Stimme zu sprechen, zitäten nicht ausreichen. Von daher ist es ganz zentral, zu sondern wir müssen in der Lage sein, auch im NATO- sagen: Wir wollen die NATO als eine verbindliche Orga- Rat unsere gemeinsame Position, soweit vorhanden, zur nisation, in der wir gemeinsam die Situation analysieren, Sprache zu bringen. Es ist manchmal schon so, dass die in der wir in einem offenen Diskurs versuchen wollen, Weisungen aus demselben Ministerium kommen und in uns über unsere Handlungsperspektiven klar zu werden, der jeweiligen Organisation nicht unbedingt in jeder (B) und in der wir gemeinsam handeln. Diese drei Punkte Frage miteinander kompatibel sind. Das gilt für ver- (D) beschreiben die NATO, die wir wollen. Wir versuchen, schiedene Länder. Das ist immer wieder eine Erfahrung die NATO so zu verändern, damit sie wieder so wird. der Akteure vor Ort. (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das Ich glaube, dass das auch eine Erfahrung der Parla- stimmt, aber leider macht das der Kanzler mente ist. Ich habe hier in diesem Raum vor vier Jahren nicht so!) eine Debatte in der Parlamentarischen Versammlung der NATO erlebt. Damals wurde eine Resolution verabschie- Ich bin leider nicht sicher, dass alle NATO-Mitglieder det, in der wir als Parlamentarische Versammlung der – ich nenne hier auch ganz konkret die USA – ein NATO die EU kritisiert haben. Ich habe heftig gegen ebenso starkes Interesse an einer solchen NATO, wie ich diese Resolution gekämpft. Sie kam mit den Stimmen sie eben beschrieben habe, haben. Das ist kein Vorwurf; vieler europäischer Parlamentarier zustande – wie vielmehr ist die globale Situation so. Die Weltmacht könnte es anders sein; ohne Europa kommt keine Reso- USA hat nach dem Kalten Krieg global ganz andere lution zustande –, die sich selbst kritisiert haben, und das Schwerpunkte gesetzt, bei denen der euro-atlantische noch in einem Punkt, der falsch war. Das heißt, wir ha- Raum und die NATO nur eine Teildimension darstellen. ben diese Bewusstseinsspaltung tief in uns. Wir müssen Die USA sagen – das wird manchmal offen ausgespro- an dieser Stelle gerade als Europäer stärker miteinander chen –: Für unser globales Handeln suchen wir Verbün- unseren Standpunkt bestimmen. dete, ohne uns in einen Prozess der Entscheidungsfin- dung und in gemeinsames Handeln einbinden zu lassen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wobei eine gemeinsame Analyse und Diskussion viel- DIE GRÜNEN) leicht noch denkbar wären. Man nennt das den europäischen „caucus“ in der NATO – ein Schreckgespenst, insbesondere für die Diese Frage ist für die Zukunft der NATO zentral. Amerikaner. Zuallererst ist das eine europäische Heraus- Hier sollten wir sehr deutlich machen: Wir wollen eine forderung. Erst dann ist es eine Herausforderung für die NATO mit Verbindlichkeiten auf allen drei Ebenen. Wir Amerikaner, zu akzeptieren, dass die Europäer mit ge- sehen die NATO nicht als einen Werkzeugkasten, aus meinsamer Stimme sprechen. Ich bin sicher, wenn wir dem man bestimmte Elemente herausnimmt, wenn man fähig dazu sind, dann werden sie es auch akzeptieren; für einen Einsatz eine „coalition of the willing“, einen wenn wir es nur theoretisch behaupten, dann wohl nicht. Pool von Partnern, sucht, die man sich, entsprechend dem jeweiligen Bedarf, zusammenstellt. Diese NATO Ich komme zur Frage der Erweiterung. Die große Er- wäre eine in unserem europäischen Sinne schlechte weiterung haben wir geschafft. Es sind jetzt zehn neue 16076 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Markus Meckel (A) Staaten Mitglied. Ich sagte schon, dass das ein Riesener- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) folg für Europa ist. Es gibt eine Reihe anderer Staaten, Das Wort hat der Kollege Dr. Werner Hoyer von der die hinein wollen. Ich glaube, dass wir sehr genau über- FDP-Fraktion. legen sollten, wie wir damit umgehen. Man muss – inso- fern habe ich selbst ein gespaltenes Herz in meiner Brust – klar sagen: Je verbindlicher die NATO in Bezug Dr. Werner Hoyer (FDP): auf unser europäisches Interesse ist, das ich eben be- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schrieben habe, umso schwerer ist es, neue Mitglieder halte es für angemessen, dass wir uns heute hier mit dem aufzunehmen, die noch nicht so weit sind, weil die Krite- Gedenktag anlässlich der 50-jährigen deutschen Mit- rien dann schärfer sein müssen. Wenn aber die NATO gliedschaft in der NATO befassen. Ich finde es schon be- – ich befürchte, dass der Trend dahin geht; deshalb ist fremdlich, dass die Bundesregierung diesen Jahrestag das eine so große Sorge – nur noch zu einem lockeren offensichtlich ignoriert. Forum und im Endeffekt zu einem Werkzeugkasten für (Gernot Erler [SPD]: Was? – Günther Friedrich militärische Instrumente und Partner wird, dann besteht Nolting [FDP]: Unerhört!) die Gefahr, dass sich das Interesse bestimmter Kräfte in den USA durchsetzt, die sagen, es müssten möglichst Wir Deutschen verdanken dem nordatlantischen viele in die NATO. Das hat übrigens den guten Neben- Bündnis die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes effekt, dass sich das positiv auf die Demokratisierung während des Kalten Krieges, aber auch das Ende des und Stabilisierung der betreffenden Länder auswirkt. Kalten Krieges und die Wiedervereinigung unseres Va- Aber wir sollten uns über den Zusammenhang zwischen terlandes. Die NATO ist und bleibt für uns aber auch der Verbindlichkeit der NATO und neuen Erweiterungen heute, anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Gedanken machen und versuchen, abzuwägen, welche Krieges, der wichtigste sicherheitspolitische Hand- Schritte wir gehen sollten. Auf jeden Fall brauchen wir lungs- und Identifikationsrahmen. klare und starke Partnerschaftsbeziehungen und einen Ausbau dieser Partnerschaften. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich komme zu zwei Punkten, die ich am Schluss noch ansprechen möchte. Das eine ist der, dass die Zusam- Mehr als das: Die NATO ist und bleibt eine Werte- menarbeit zwischen EU und NATO essenziell ist. Die gemeinschaft, die die Staaten Nordamerikas und Euro- ist inzwischen nach manchen Anfangsschwierigkeiten pas verbindet und der immer mehr Staaten Ost- und Süd- osteuropas beitreten wollen. Wir sollten uns da nicht von allen anerkannt, aber die Praxis – ich sage es ganz irritieren lassen durch Verwerfungen, die es natürlich offen – ist eine Katastrophe, weil wir im Augenblick (B) gibt, durch Missverständnisse und Fehlentwicklungen, (D) nicht fähig sind, alles das, was wir uns in beiden Institu- die der eine oder andere hier oder da sehen mag. Wenn tionen vorgenommen haben, wirklich umzusetzen. Sie das so ist, müssen wir innerhalb dieser Wertegemein- haben – ich fand das gut – in Ihrem Antrag ausgespro- schaft darüber diskutieren; aber wir dürfen sie selber chen, dass im Augenblick das wichtigste Hindernis dafür nicht aufs Spiel setzen. die Blockade der Türken ist, die nicht bereit sind, zu ak- zeptieren, dass alle EU-Mitgliedsländer am Tisch sitzen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sollten. Dieses Hindernis muss weg. Dies sollten alle der CDU/CSU) Partner in deutlichen Gesprächen mit der Türkei auf al- len Ebenen klarstellen. Anders kommen wir nicht weiter. Die Anziehungskraft dieser nordatlantischen Allianz Wir dürfen uns nicht blockieren lassen. ist ungebrochen. Der Freiheitswille der Menschen in Osteuropa, der sich zunächst in den ehemaligen War- Der zweite zentrale Punkt ist, dass wir deutlich ma- schauer-Pakt-Staaten vor 15 Jahren und jetzt erneut in chen müssen, dass die europäische Integration und die den Revolutionen in Georgien und in der Ukraine mani- Entwicklung der ESVP nicht gegen die NATO gerichtet festiert hat, geht doch mit der Sehnsucht der Menschen sind, wenn man offen sagt, dass das transatlantische Ver- dieser Länder einher, zum westlichen Bündnis dazuzu- hältnis breiter und vielfältiger als das ist, was nur die gehören. Das erklärt sich natürlich aus ganz deutlich er- NATO abdecken kann. Es gibt die Handelsbeziehungen, kennbaren Sicherheitsüberlegungen dieser Länder; es die Finanzströme und eine gemeinsame politische Rolle erklärt sich aber eben auch aus dem Wunsch, der westli- in dieser Welt. Deshalb bin ich fest davon überzeugt, chen Wertegemeinschaft anzugehören. Beides ist ein dass wir unabhängig davon, dass wir die NATO als si- Vertrauensbeweis in Bezug auf die NATO, dem diese cherheitspolitisches Forum und als militärische Organi- wiederum gerecht werden muss. sation stärken müssen, neben der NATO den Ausbau der transatlantischen Beziehungen zwischen der EU und den Beides ist aber auch eine Chance. Die Aufgaben der USA brauchen. Wir sollten gemeinsam dafür arbeiten. NATO sind nicht erledigt. Sie haben sich verändert. Die Dies ist kein Widerspruch, sondern das ist komplementär NATO hat eine zentral wichtige Stabilisierungsfunk- und in unser aller Interesse. tion auf dem europäischen Kontinent. Sie kann und muss die ehemaligen Gegner nicht mehr eindämmen Ich danke Ihnen. oder abschrecken, sondern sie ein- oder zumindest mög- lichst eng anbinden, um so Stabilität und Sicherheit in (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Europa zu gewährleisten. Der NATO-Russland-Rat war Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ein ganz wichtiges Beispiel dafür, wie aus Gegnern über Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16077

Dr. Werner Hoyer (A) eine immer enger werdende Kooperation und Verknüp- haupte nicht, dass das jemand tut; aber ich mahne das (C) fung Partner werden können. immer wieder an. Die NATO hat auch längst ihren eurozentrischen Cha- Wir müssen, nachdem wir inzwischen – das hätte man rakter verloren. So wie die Bedrohungen für unsere Si- sich vor 15 Jahren nicht vorstellen können – erstaunlich cherheit out of area gegangen sind, so ist auch die viele Erfahrungen mit Einsätzen unserer Bundeswehr NATO schon seit langem out of area zu einem wichtigen außerhalb des Bündnisgebietes gemacht haben, auch die und vor allem erfolgreichen sicherheitspolitischen In- Frage stellen: Wann ist was erfolgreich zu Ende gebracht strument geworden. Die ISAF in Afghanistan ist ein worden? Wir müssen auch darauf drängen, einmal den wichtiges Beispiel dafür. Aber der internationale Terro- Erfolg einer Mission erkennen und sie beenden zu kön- rismus, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen nen, anstatt ewig im Schwebezustand zu bleiben und im- oder die destabilisierenden Wirkungen von Failing States mer neue Aufgaben draufzupacken. lassen sich eben nicht im Vertragsgebiet bekämpfen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die NATO hat gezeigt, dass sie sich diesen Heraus- der CDU/CSU) forderungen schnell und wirkungsvoll anpassen kann; das ist gesagt worden. Sie ist auch mehr und mehr in der Das muss angefordert werden können. Das ist kein Defä- Lage, mit anderen internationalen Organisationen zu- tismus, sondern eine konsequente Anwendung der Ideen sammenzuwirken. Als ich 1995 oder 1996 bei einem in- von von Clausewitz. Es ist doch die Frage zu stellen: Wo formellen Treffen des Allgemeinen Rates der Europäi- ist das politische Ziel, das wir mit einer Mission errei- schen Union erstmals die Anregung gegeben habe, ob chen wollen? Welches militärische Ziel müssen wir er- der damals gerade zur NATO gewechselte frühere Rats- reichen, um dem politischen Ziel näher zu kommen? präsident der Europäischen Union, Javier Solana, uns im Wann holen wir unsere Leute wieder heraus? Allgemeinen Rat der Europäischen Union nicht einmal (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten über seine neuen Erfahrungen bei der NATO berichten der CDU/CSU) könne, da war das ein absoluter Skandal; sowohl in Paris als auch in Washington haben die Alarmglocken gebim- Ich denke, das wird bisweilen übersehen. melt, weil man sich überhaupt nicht vorstellen konnte, Meine Damen und Herren, man sollte nichts schönre- dass man diese beiden Organisationen und ihre wichtigs- den. Wir haben große Probleme. Das haben wir in den ten Gremien einmal zusammenführen könnte. Heute ist letzten Wochen und Monaten gemerkt. Bei dem Sicher- das selbstverständlich geworden. Das zeigt, welchen heitstreffen in München wurde das ganz evident. Wir großen Fortschritt wir auf beiden Seiten gemacht haben. müssen wieder von der Fehlentwicklung wegkommen, (B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die dazu führte, dass wir in Konzepten von Gegenge- (D) wichten zwischen EU und NATO, also zwischen den Klar ist auch, dass die Anforderungen an die NATO in beiden Seiten des Atlantiks, gedacht haben. Das ist eine den nächsten Jahren nicht geringer werden. Da werden Fehlentwicklung gewesen. Europa fehlt es nicht an Ge- wir sicherlich auch noch in Konflikte geraten. Markus gengewicht zu den USA. Europa fehlt es an Gewicht. Meckel hat es eben deutlich gemacht: Die Verbindlich- keit ist ganz wichtig. Auf der anderen Seite müssen wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten natürlich gerade angesichts der Debatten, die wir führen, der CDU/CSU) wie morgen die Debatte über den Einsatz im Sudan, Daran müssen wir arbeiten, konzeptionell, aber dann deutlich machen, dass wir unseren Parlamentsvor- auch materiell. Deswegen ist die Frage der materiellen behalt ernst nehmen. Ausstattung unserer Bundeswehr nicht ausdiskutiert. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Wir werden nicht darum herumkommen nachzulegen. Da ist natürlich ein Konflikt vorprogrammiert; das muss Wir müssen nicht alles können, was die Amerikaner man sehen. können, aber wir müssen mit ihnen kooperieren können und wir müssen fähig sein, mit ihnen in einer Verteidi- Wir dürfen nicht in die Situation geraten – ich sage gungsinstitution zusammenzuwirken, die tiefer integriert das einmal ganz persönlich, weil ich persönlich da Sor- ist, als das vorher in irgendeiner Organisation der Fall gen habe –, dass Bundeswehreinsätze durch unsere Be- war. Neben der politischen Bedeutung der NATO ist das handlung dieses Themas zunehmend zur Routine wer- ja der große Vorzug: Es gab auf der Welt noch nie ein den. Das darf es nicht geben. Militärbündnis, das militärisch so tief integriert ist wie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- die nordatlantische Allianz. Markus Meckel, die Kolle- stimmung bei Abgeordneten der SPD) ginnen und Kollegen aus der früheren DDR konnten sich Anfang der 90er-Jahre ja gar nicht vorstellen, welche Jeder einzelne Einsatz bedarf einer ganz präzisen Durch- Form, welchen Charakter die Zusammenarbeit innerhalb leuchtung. Ein humanitäres Argument mag noch so stark der NATO angenommen hatte. Das hat es im Warschauer sein, wir haben trotzdem eine ganz genaue Abwägung Pakt nicht einmal im Ansatz gegeben. Das gilt es zu be- hier vorzunehmen. Dann ist es auch legitim, zu fragen, wahren. welche Interessen wir in einer konkreten Situation ha- ben, wie die Interessen der anderen aussehen und wie Es ist natürlich richtig, dass die Bundesregierung, man diese Interessen zusammenführen kann. Wir dürfen dass Deutschland Wert drauf legt, dass die NATO politi- uns hier nicht auf eine schiefe Ebene begeben. Ich be- scher wird. Es gab neulich – einige Kollegen waren 16078 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Werner Hoyer (A) dabei – eine bedenkliche Zusammenkunft in Brüssel. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) Eine Gruppe von Kollegen aus dem Bundestag und ame- Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei rikanische Kollegen haben NATO-Gespräche geführt. von Bündnis 90/Die Grünen. Ich habe mir erlaubt, die Frage zu stellen, in welcher Weise man sich im NATO-Rat mit der Frage des Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Waffenembargos gegen China befasst hat. Da wurde Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In man direkt ganz nervös und sagte: Gar nicht. Das sei ers- diesen Tagen werden viele Erinnerungen an die Zeit vor tens sehr politisch, und zweitens mache das die Europäi- genau 60 Jahren immer wacher: an das Gemetzel der sche Union im Rat; man mache keine Doppelarbeit. letzten Kriegswochen auf den Seelower Höhen und im Aber, meine Damen und Herren, das sind doch entschei- Ruhrkessel. Vor fast genau 60 Jahren verbluteten und dende Fragen der Zusammenarbeit im Bündnis, bei de- verreckten in den Straßen um den Reichstag und auch in nen die Wertegemeinschaft, in der diese sicherheitspoli- diesem Gebäude selbst sehr viele junge Soldaten aus der tischen Interessen zusammenfließen, politischer werden Ukraine, aus Russland, Weißrussland und aus Deutsch- muss. land. Niemand hätte damals zu hoffen gewagt, dass schon zehn Jahre später, am 6. Mai 1955, das westliche (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Deutschland der NATO beitreten würde. der CDU/CSU und der SPD und des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Damals gab es vor dem Hintergrund dieser fürchterli- NEN]) chen Kriegserfahrungen legitime Einwände gegen den Beitritt; denn er war mit der Wiederbewaffnung und ei- Ich habe mir allerdings dann noch die Frage gestellt, ner Verfestigung der deutschen Spaltung verbunden. welche Weisung denn die Bundesregierung dem NATO- Rückblickend gesehen war diese Entscheidung zum Botschafter in der Frage des Waffenembargos gegeben NATO-Beitritt und damit zur Westintegration aber eine hätte. Ich frage mich – nachdem der Bundesaußenminis- weitsichtige und weise Entscheidung. ter gesagt hat, das werde auf die lange Bank geschoben und das werde sich schon im Rahmen der Europäischen Wir können feststellen: Ganz im Unterschied zu Union im Rat regeln – übrigens noch immer: Welche 1918, als der Versailler Vertrag geschlossen wurde, setz- Weisung hat eigentlich der deutsche Botschafter bei der ten nach dem Zweiten Weltkrieg die Siegermächte ge- Europäischen Union, wie er sich in der Frage verhält? genüber einem ganz anderen Verlierer auf eine ganz an- Soll er nun dafür sorgen, dass das in absehbarer Zeit dere Politik, nämlich auf die Politik der Integration, der vom Tisch kommt? Oder hat er die Weisung, den Willen Unterstützung und auch der konstruktiven Einbindung. des Bundeskanzlers durchzusetzen, möglichst bald zu ei- Das werden wir nie vergessen. Dafür gibt es keinen (B) (D) nem Ergebnis zu kommen? Was ist denn die Position der Schlussstrich. Bundesregierung, die sie den dort für uns verantwortlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Handelnden, nämlich in erster Linie dem Botschafter, und bei der SPD) mit auf den Weg gibt? Es entstand ein historisch neuartiges Militärbündnis. Wir werden die NATO auch in Zukunft dringend Basierend auf gemeinsamen Interessen, aber auch auf brauchen. Sie muss politischer werden. Es ist in Mün- gemeinsamen demokratischen Werten war der Auftrag chen einiges falsch kommuniziert worden. Aber die an die Armeen tatsächlich neu: Kämpfen können, um Grundfrage ist schon richtig: Ist die NATO noch der zen- nicht kämpfen zu müssen. Diese Art der Kriegsverhü- trale Ort der sicherheitspolitischen Debatte? Wenn man tung war bis dahin im militärischen Bereich kaum be- diese Frage aufwirft und vorab schon durch Zeitungen kannt. kommuniziert, darf man aber nicht die Unsicherheit be- Diese insgesamt positive Entwicklung ist aber kein züglich der eigenen Position, ob man denn selber will, Grund, die alte NATO rundum heilig zu sprechen. Sie dass sie der zentrale Ort der sicherheitspolitischen De- war trotz alledem über die Jahrzehnte ein aktiver Teil ei- batte ist, aufkommen lassen. Ich bin der Meinung, die nes gigantischen Wettrüstens. Die Nuklearstrategie NATO sollte stärker dieser Ort der strategischen Debatte folgte der Logik, dass gegebenenfalls das vernichtet werden. worden wäre – vor allem mit taktischen Atomwaffen –, was verteidigt, also doch eigentlich erhalten werden Wir brauchen die NATO auch in den nächsten Jahren. sollte. Dagegen richtete sich der völlig legitime und wei- Wir sollten sie nicht kaputtmachen und nicht kaputtre- terhin richtige Protest des blockunabhängigen Teils der den, sondern weiter gestalten und an die neuen Heraus- Friedensbewegung in den 80er-Jahren, dem sich die forderungen anpassen. Wir brauchen die Fähigkeit Grünen verpflichtet fühlten und zu dem gerade auch die Deutschlands, in dieser einzigartig tief integrierten Orga- Friedensbewegung der DDR unter der Losung „Schwer- nisation mitzuwirken. Das ist einer der wesentlichen Im- ter zu Pflugscharen“ gehörte. perative deutscher Außenpolitik nach 1945. Bündnisfä- higkeit ist und bleibt für Deutschland Staatsraison. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herzlichen Dank. Wenn im Unionsantrag behauptet wird, der NATO- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Doppelbeschluss habe das Ende des Warschauer Paktes des Abg. Markus Meckel [SPD]) und der Sowjetunion eingeleitet, dann muss ich sagen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16079

Winfried Nachtwei (A) dass das typisch Siegergeschichte ist. Diese Haltung (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – (C) ignoriert die historischen Verdienste gerade der Frie- Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist ja der Gipfel dens- und der Bürgerbewegung in der DDR. der Souveränität heute!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie von der Union wissen selbst, dass der Irakkrieg und bei der SPD – Günther Friedrich Nolting das Musterbeispiel eines illegitimen Krieges war. Da Sie [FDP]: Da eiert wieder einer rum!) dies wissen, sollten Sie dies auch einmal sagen, damit man dann in der Tat zu den jetzigen und künftigen He- Mit Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer rausforderungen übergehen kann. Paktes verlor die NATO ihren Gegner und damit ihren großen Auftrag und ihre Klammer. In der Umbruch- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- phase war sie angesichts der damals auftretenden zentri- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) fugalen Kräfte aber keineswegs sinnlos. Im Kernbereich Die tatsächlichen Gründe der NATO-Krise liegen tie- der Nationalstaaten, der militärischen Sicherheitspolitik fer. Ein erster Grund: Die NATO ist seit Jahren zugleich wirkte sie tatsächlich enorm integrierend und stabilisie- unter- und überfordert. Sie ist unterfordert, weil es jetzt rend. Sie wirkte faktisch einer drohenden Renationalisie- nicht mehr die große existenzielle und sichtbare Bedro- rung der Sicherheitspolitik entgegen. Dialog und Koope- hung gibt. Sie ist zugleich überfordert, weil der Großteil rationsprozesse ab 1994, Programme wie Partnership for der Risiken und Bedrohungen aus dem nichtmilitäri- Peace, Öffnung und Erweiterung waren nach meiner schen Bereich kommt. Meinung die stille Hauptleistung der NATO. Ein zweiter Grund: Seit dem Kosovokrieg stand im Inzwischen bewährte sich die NATO bei Krisen- und Vordergrund der NATO-Diskussionen und -Überlegun- Stabilisierungseinsätzen auf dem Balkan und in Afgha- gen die Diskussion über Fähigkeiten. Deutlich vernach- nistan. Zusammengefasst bin ich tatsächlich froh, dass lässigt wurde der strategische Dialog, die strategische sich viele unserer Warnungen nicht erfüllt haben. Aller- Klärung – und das besonders auffällig nach dem 11. Sep- dings besteht auch hier kein Grund zur Selbstzufrieden- tember, als zwar der Bündnisfall ausgerufen wurde, aber heit. Noch im März letzten Jahres zeigte sich im Kosovo, die NATO bei der Umsetzung von ISAF dann de facto dass auch die starke NATO-KFOR größte Mühen hatte, ausgesperrt war, obwohl sie dazu sicherlich besonders ihren Auftrag zu erfüllen, und dass ihr viel zu lange ko- geeignet gewesen wäre. sovo-albanische Gewalttäter auf der Nase herumtanzten. Die gute Leistung der NATO im Rahmen von ISAF in Ein dritter Aspekt: Der amerikanische Verteidigungs- Afghanistan wird von der mangelhaften Bereitschaft vie- minister vertrat ganz deutlich und knallhart die Devise: ler Mitgliedstaaten überschattet, ihren großen Worten Die Mission bestimmt die Koalition. Beim Irakkrieg (B) zur PRT-Ausweitung entsprechende Taten folgen zu las- kam es schließlich – man muss dies so nüchtern sagen – (D) sen. – So weit dieser Rückblick. zu einem Bruch der transatlantischen Wertegemein- schaft, nämlich zu einem Bruch im Hinblick auf die Nun zur NATO-Krise. Während und nach dem Irak- schriftlich niedergelegte Achtung vor der UN-Charta. Es krieg wurde offenkundig: Die Mitgliedstaaten der NATO kam gerade bei der Bekämpfung des internationalen Ter- waren in der Kernfrage von Krieg und Frieden tief ge- rorismus zu einem Bruch der Interessengemeinschaft spalten und die NATO war damit tatsächlich in einer und der Partnerschaft, weil in diesem Zusammenhang massiven Krise. Im Unionsantrag vom April dieses Jah- schlichtweg mit Lüge und unerträglichem Druck gear- res wird dafür maßgeblich die Bundesregierung verant- beitet wurde. wortlich gemacht. Wie absurd dieser Vorwurf ist, zeigt der Blick in den Unionsantrag vom 12. November 2002, Was sind die Perspektiven für die NATO in der der im Vorfeld des Irakkrieges an die Bundesregierung Krise? Im Mittelpunkt der Diskussion der letzten Jahre adressiert wurde und der heute auch abschließend zur stand immer wieder der Aufbau der NATO-Response- Abstimmung steht. Dort steht nämlich: Force. Diese neue Fähigkeit ist unzweifelhaft wichtig. Aber Vorsicht vor einer Überbewertung! Denn eine Der Vorwurf einer kriegerischen Abenteuerpolitik NATO-Response-Force kann einerseits schlichtes Pla- … entbehrt … jeder Grundlage. cebo sein, indem dadurch die Illusion von eigener Kraft Aha, kann ich dazu nur sagen. und Stärke gefördert wird. Andererseits aber könnten konkrete Einsätze der NATO-Response-Force Knack- (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Aha!) punkt einer nächsten NATO-Krise werden. Deshalb sind – hier schließe ich an das an, was die meisten Vorredner War der Irakkrieg etwa – so muss ich daraus schließen – schon sagten; man kann es nicht deutlich genug beto- ein Musterbeispiel für Friedenspolitik und Abrüstungs- nen – der strategische Dialog und die strategische Ver- politik? ständigung im Bündnis wie auch transatlantisch drin- gend geboten und vordringlich. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wenn der NATO-Generalsekretär in diesen Tagen Herr Kollege Nachtwei, erlauben Sie eine Zwischen- feststellt: „Wir müssen einfach anfangen, miteinander zu frage des Kollegen Nolting? reden“, dann ist das ein kollektives Armutszeugnis, dann ist das zu wenig. Im Hinblick auf die Normen des Bünd- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nisses müssen Dialog und neuer Konsens notwendiger- Nein, vom Kollegen Nolting nicht. weise hergestellt werden. Unzweifelhaft muss sein, dass 16080 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Winfried Nachtwei (A) das Bündnis nur im Rahmen des Völkerrechts, der UN- Zum Schluss noch ein anderer Aspekt, und zwar die (C) Charta, agiert. Die hochrangige Gruppe zur UN-Reform Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen. Hier be- hat in ihrem Bericht sehr gute Präzisierungsvorschläge steht ein ganz besonderer Bedarf und hier bestehen be- gemacht, die zum Verständnis der UN-Charta beitragen sondere Möglichkeiten für die NATO. Zurzeit führen die sollen. Sie hat auch Vorschläge zu Kriterien für den Ein- Vereinten Nationen weltweit 18 Missionen mit über satz militärischer Gewalt gemacht. 60 000 Soldaten durch. Diese Missionen sind aber aus- nehmend schwach. Zu dieser Schwäche trägt auch bei, Dieser Bericht ist auch auf einer zweiten Ebene sehr dass die reicheren Industrienationen mit ihren viel effek- hilfreich, nämlich auf der Ebene – sie wurde auch immer tiveren Militärs unterproportional und sogar abnehmend wieder angesprochen – einer deutlichen, klaren Bedro- daran beteiligt sind. Im Jahre 1997 wurden noch 58 Pro- hungsanalyse. Diese Bedrohungsanalyse des Bündnisses zent der UN-geführten Missionen von NATO-Mitglie- darf nicht bei den Bedrohungen für die reichen Länder dern gestellt, im letzten Jahr nur noch 12 Prozent. des Nordens stehen bleiben; vielmehr muss sie die Be- drohungen für internationale Sicherheit und Weltfrieden Ein gutes Zeichen ist, dass in Kürze der NATO-Gene- insgesamt in den Blick nehmen. ralsekretär zum ersten Mal vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen auftritt. In diesem Zusammen- Eine weitere Ebene sind der Auftrag und die Aufga- hang wäre zu überlegen, ob nicht vonseiten der NATO in ben der NATO. Es ist unverkennbar, dass der NATO- Richtung Vereinte Nationen eine Regelung im Sinne von Zuständigkeitsbereich inzwischen weit über den euro- „Berlin Plus“ anzustreben ist, mit der die Unterstützung atlantischen Raum hinausreicht. Kann das jetzt im Um- der NATO für die Vereinten Nationen gefestigt werden kehrschluss heißen: Wenn die NATO über diesen Raum kann. hinaus zuständig ist, dann ist sie auch weltweit zustän- Der von uns allen geforderte strategische Dialog ist dig? Ich glaube, da ist Vorsicht geboten; denn eine – dabei dürfen wir uns nichts vormachen – äußerst schlichtweg weltweite Rollenzuschreibung würde mei- schwierig, weil die verschiedenen Mitgliedstaaten völlig ner Meinung nach sehr schnell zu Überforderungen, zu unterschiedliche historische Erfahrungen und Vorstel- Überdehnungen führen. lungen von Militär und den Vereinten Nationen und auch Zu den Fähigkeiten der NATO. Die NATO- ein unterschiedliches Verhältnis zum Völkerrecht haben. Response-Force ist schon angesprochen worden. Es Damit der strategische Dialog Erfolg haben kann, ist es reicht nicht, nur ihre Fähigkeiten und ihre Aufgaben zu erstens von entscheidender Bedeutung, dass die Bindung beschreiben. Hier ist vielmehr etwas notwendig, was im an das Völkerrecht bzw. an die UN-Charta zweifelsfrei Unionsantrag richtigerweise benannt ist, nämlich die ge- ist, und zweitens, dass eine Orientierung vor allem an den konkreten Erfahrungen der Friedenssicherung und (B) nauere Beschreibung von Einsatzszenarien. Klar sein (D) muss aber auch: Die Masse der künftigen NATO-Ein- Friedensunterstützung erfolgt. Ich habe als grüner Politi- sätze wird höchstwahrscheinlich im Bereich der Stabili- ker und Abgeordneter in dieser Hinsicht selber sehr gute sierung und Friedensunterstützung stattfinden. Hier Erfahrungen mit amerikanischen Politikern und Offizie- müssen wir feststellen, dass die Vorstellungen und die ren in Sachen Afghanistan gemacht. Einsatzkonzepte vieler Mitgliedstaaten zurzeit noch sehr Ich meine, dies alles bedeutet eine enorme Herausfor- weit auseinander gehen. Ich nenne als Beispiel die Pro- derung für die internationale Sicherheit und den Welt- vincial Reconstruction Teams in Afghanistan. Hier ist frieden, die nur gemeinsam zu bewältigen ist oder gar angesichts der Hauptaufgabe der Stabilisierung zweierlei nicht. notwendig: erstens die Förderung der inneren Kohärenz in der NATO bei diesen Aufgaben und zweitens die zu- Danke schön. nehmende Öffnung und das Einüben des Zusammenwir- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kens mit politischen, polizeilichen und wirtschaftlichen und bei der SPD) Instrumenten von staatlichen und nichtstaatlichen Ak- teuren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Schließlich nenne ich noch die Ebene des Zusam- Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen menwirkens der NATO mit anderen internationalen Nolting das Wort. Zusammenschlüssen. Im Zusammenwirken mit der Europäischen Union ist der Weg insgesamt richtig. Er Günther Friedrich Nolting (FDP): bewährt sich unter anderem schon in Bosnien-Herzego- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- wina. Sie werden aber verstehen, dass ich hier nicht dem lege Nachtwei, ich habe den Zuruf gemacht: Wo ist der Außenminister vorgreifen kann, der dazu gestern Abend Außenminister? Er ist in Berlin und hat angeblich in- an anderer Stelle gesprochen hat. terne Termine, welche auch immer. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wo ist der (Zuruf von der CDU/CSU: Er muss Akten eigentlich?) lesen!) – Er ist in Vilnius. Wir sprechen heute aber über 50 Jahre deutscher NATO- Mitgliedschaft. Ich denke, dass dieses Thema auch dem (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Nein, ist er Herrn Außenminister wichtig sein sollte. Denn die eben nicht!) NATO hat immerhin dazu beigetragen, dass wir 50 Jahre Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16081

Günther Friedrich Nolting (A) des Friedens und – westlich der Elbe – auch der Freiheit Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): (C) erleben durften. Ich denke, das ist Anlass genug, dass Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- der Außenminister an dieser Debatte teilnimmt. ren! Wenn der Tower von Vilnius meldet, „Fischer ist abgehoben“, dann wäre es ganz gut, wenn er sich nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vor den Fernsehschirm setzte, um seinen früheren Die NATO hat ehemalige Staaten des Warschauer Staatsminister, Herrn Volmer, bei dessen Verrenkungen Paktes und der Sowjetunion aufgenommen. Es ist eine vor dem Untersuchungsausschuss zu sehen. Vielmehr Friedensregion der Zukunft entstanden, wie wir sie sollte er hier seiner Pflicht als deutscher Außenminister ebenfalls noch nie erlebt haben. Ich denke, auch das ist nachkommen und anlässlich der heutigen Debatte über Anlass genug für die Anwesenheit des Außenministers. 50 Jahre deutsche NATO-Mitgliedschaft die Position der Bundesregierung darlegen. Herr Kollege Nachtwei, Sie haben lang und breit vor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- getragen, neten der FDP) (Dr. Werner Hoyer [FDP]: 16,5 Minuten!) Was die Rede des Kollegen Nachtwei, die, wie ich an den Gesichtern der Abgeordneten der Koalition gesehen wie Sie sich einige Punkte, auch die Zukunft betreffend, habe, bestenfalls für eine neue Nachdenklichkeit – hof- vorstellen. Ich würde mir wünschen, dass Sie dies auch fentlich für keine neue Schläfrigkeit – gesorgt hat, be- auf einem grünen Parteitag vortragen, damit Ihre Partei trifft, muss ich sagen: In der Tat kann man mit Winfried auch in diesen Fragen zu einer Änderung ihrer Position Nachtwei über manches trefflich streiten. Seine Rede kommt. (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das war eine gute (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Rede!) der CDU/CSU) enthielt manche Punkte, über die man diskutieren kann. Aber sie entsprach nicht dem, was grüne Politik aus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: macht. Zur Erwiderung Kollege Nachtwei. Wer macht denn eigentlich Außenpolitik bei den Grü- nen in Abwesenheit von Joschka? Das scheint die nord- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn über- Kollege Nolting, erstens bin ich, wie Sie wissen, kein nommen zu haben. Sprecher der Regierung. Ich bin ein loyales Mitglied der (Dr. Uwe Küster [SPD]: So weit unter Form!) (B) Koalition. Da ich kein Regierungssprecher bin, kann ich (D) auch nicht zur derzeitigen Abwesenheit des Ministers Denn sie äußert sich nun – das ist überliefert – zu Rüs- Stellung nehmen. tungsfragen und zu der Notwendigkeit der Entwicklung des Luftabwehrsystems MEADS. Sie versucht, die Ent- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sie haben vorhin wicklung dieses Systems zu verhindern, obwohl nach- aber gesagt, er sei in Vilnius! Schön, wenn er weislich keine Feldhamster davon betroffen sind. Dieses da wäre! Dann müssten wir das akzeptieren! Engagement soll wohl die Niederlage der Grünen vertu- Aber wenn er nicht in Vilnius ist?) schen, die sie bei dem Versuch erlitten haben, mit der Zweitens. Was Ihre Unterstellung angeht, ich würde Verhinderung eines notwendigen militärischen Systems hier – in diesem offensichtlich sehr privaten Raum – eine Niederlage bei der kommenden Landtagswahl in positiv über NATO-Leistungen reden, aber im Zusam- Nordrhein-Westfalen zu verhindern. menhang mit den Grünen nicht, täuschen Sie sich. Ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nau das, was ich hier ausführe, stelle ich selbstverständ- neten der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie lich auch gegenüber den Grünen fest. Ich glaube, es sind ein geistiger Tiefflieger!) macht unsere Stärke aus, dass wir auch mit unserer eige- nen Geschichte so umgehen, dass wir sie nicht um- Wenn der von Frau Höhn ausgehende geistige Tiefflug schminken, dass wir zu dem, was wir für richtig halten, weitergeht, dann werden wir nie zu einer Debatte mit auch weiterhin stehen und dass wir auch das benennen, den verantwortlichen Persönlichkeiten der Bundesregie- mit dem wir – ich habe das selbst gesagt – glücklicher- rung über die Außen- und Sicherheitspolitik sowie weise mit unseren Warnungen nicht Recht behalten ha- 50 Jahre deutsche NATO-Mitgliedschaft kommen. ben. Gibt es etwas Besseres? Schwerer als die Feldhamsterei von Frau Höhn wiegt allerdings die lange Liste sicherheitspolitischer Ver- Danke schön. säumnisse. Eine Linie der Verständnislosigkeit für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NATO und die Bundeswehr zieht sich von der SPD der und bei der SPD) 50er-Jahre über die NATO-Austrittsfantasien eines bis hin zu den „Seitensprüngen und Hasardeurspielen“ der Bundesregierung Gerhard Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Schröder – wie am vergangenen Samstag die „Neue Zür- Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Schmidt von cher Zeitung“ dessen Außen- und Sicherheitspolitik be- der CDU/CSU-Fraktion. schrieben hat –, die sie gleichwohl vor dem Hintergrund 16082 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Christian Schmidt (Fürth) (A) innen- und wirtschaftspolitischen Versagens – so die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C) „Neue Zürcher Zeitung“ – als „strategische Neuausrüs- tung“ und „deutschen Weg“ zu vermarkten versucht. Es bestehen natürlich Zweifel, ob er selbst zu einer sol- chen Expertenkommission dazugehören könnte. Tatsächlich hat die Bundesregierung bis heute die NATO in keinen politischen Bezugsrahmen gestellt. Es Die militärische Struktur der NATO der Zukunft bleibt im Dunkeln, welche Rolle Gerhard Schröder und muss und wird anders aussehen als die von 1990. Selbst- der NATO als politisches und militäri- verständlich folgt die Struktur dem Auftrag, der aber ei- sches Bündnis in der Wahrnehmung der Interessen der ner politischen Präzision bedarf. Was ist dieser Auftrag? Sicherheit unseres Landes eigentlich geben wollen. Seit Auftrag kann man nicht durch Transformation ersetzen. dem furiosen Einstieg des frühen Fischer 1998, als er zur Transformation ist der Weg, aber nicht das Ziel. Ich be- Verblüffung seiner damaligen Kollegen im NATO-Rat fürchte, dass das Wort Transformation unterschiedlich gegen die Doktrin der flexiblen Antwort im Bedrohungs- buchstabiert wird und dass zu wenig politische Führung falle kämpfte und in einer Zweitauflage des Nachrüs- geleistet wird. Die NATO muss sich nämlich gleichzeitig tungsstreits der 80er-Jahre die Nuklearoption, die zu die- militärisch auf die neuen Bedrohungslagen einstellen sem Zeitpunkt schon deutlich an Bedeutung verloren und – erfreulicherweise – eine große Zahl neuer Mitglie- hatte, angriff, ist das Interesse an der NATO abhanden der integrieren. Das heißt auch, dass man sich über die gekommen. grundsätzlichen Aufgaben im Klaren sein muss. (Gernot Erler [SPD]: Bei uns nicht!) Auf dem Gebiet der Afrikapolitik erleben wir gegen- wärtig – ich teile die Befürchtung des Kollegen Hoyer –, Irgendwie hat man den Eindruck, dass im politischen dass schleichend ein bestimmter Weg beschritten wird: Kanon der Bundesregierung die NATO noch heute als Man diskutiert nie wirklich über das, was unsere Interes- ideologische Kopfgeburt des Kalten Krieges angesehen sen und Ziele auch auf europäischer und auf wird und dass die Chancen, die dieses Bündnis auch und NATO-Ebene sein könnten und sein sollten. Es kann gerade unter den veränderten Bedingungen der Welt nicht richtig sein, dass wir uns hier und da in Afrika en- nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes bietet, völlig gagieren, ohne vorher eigentlich so recht zu wissen, wo- ignoriert werden. hin es gehen soll. Deswegen muss mit dem Bekenntnis zur grundsätzlichen Bereitschaft, sich zu engagieren, Hinzu kommen müsste die Erkenntnis, dass Verläss- eine klare Trennung zwischen dem, was gegenwärtig lichkeit nicht Untertanentum bedeutet, sondern das Ge- möglich und machbar ist, und dem, was gegenwärtig genteil von Sprunghaftigkeit ist. nicht möglich und machbar ist, einhergehen. (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch die NATO verlangt nach Investitionen. Das (D) verträgt sich nicht mit der Herabstufung der Sicherheits- Deswegen kann man nicht so einfach nebenbei ein eige- politik im Haushalt der Bundesrepublik Deutschland. Im nes europäisches militärisches Hauptquartier von vier internationalen Vergleich ist diese Herabstufung beson- besonders befreundeten Ländern planen, wie dies ders drastisch. Neue Ausrüstungen für neue Einsatzfor- Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg vor men gibt es nicht zum Nulltarif. Die Rüstungsplanung in zwei Jahren auf dem zu trauriger Berühmtheit gelangten unserem Land, aber auch anderswo leidet darunter, dass „Pralinengipfel“ von Tervuren taten. Dieser Gipfel ist in- das Zusammenspiel zwischen NATO und Europäischer zwischen in das Lehrbuch der Fehlschläge deutscher Di- Sicherheits- und Verteidigungspolitik politisch nicht ge- plomatie aufgenommen worden. Dieses Buch muss stän- klärt ist. Man kann den Amerikanern nicht vorhalten, sie dig fortgeschrieben und neu aufgelegt werden, weil es missbrauchten die NATO nur noch als Werkzeugkasten dauernd neue Kapitel gibt. und nähmen sich denjenigen Schraubenschlüssel in Form einer militärischen Spezialfähigkeit eines Mit- Bestehende europäische Strukturen wie das Eurokorps gliedstaates heraus, den sie gerade für ihre Zwecke spielten übrigens in der damaligen Diskussion überhaupt brauchten, aber in der Konstruktionsabteilung des Be- keine Rolle. Man kann auch nicht im gleichen Jahr die so triebs nicht mitarbeiten. genannten Berlin-Plus-Vereinbarungen, die das Zusam- menspiel von NATO und EU im militärischen Bereich Wir müssen einerseits die in den so genannten Prager gut regeln, aus europäischer Abgrenzungssucht faktisch Fähigkeitszusagen enthaltenen Verpflichtungen erfüllen aushebeln wollen. Man kann nicht der NATO auf der Si- und andererseits unsere Vorstellungen von der Rolle der cherheitskonferenz in München vorwerfen, sie sei nicht NATO als erstem Podium zur Abstimmung und Durch- mehr das primäre Feld politischer Entscheidungsfin- setzung unserer deutschen und europäischen Interessen dung, es aber gleichzeitig den Militärs überlassen, in ih- darlegen. Dazu bedarf es der verlässlichen Zusage aller rer Verantwortung eine letztendlich gemeinsame NATO-Staaten, die Schnelle Eingreiftruppe, NRF, ein- NATO-Strategie für die Zeit nach dem 11. Septem- satzfähig zu machen, europäische Projekte wie das so ber 2001 zu suchen. Sie haben politisch nichts dazu bei- genannte Battle-Group-Konzept und Helsinki-Verpflich- getragen, diese beiden Strategien, also die der USA und tungen – EU-Militärstab; 60 000 EU-Kräfte schnell ver- die der Europäer – Stichwort Solana-Papier –, zu ver- fügbar – so zu realisieren, dass sie eine Ergänzung und knüpfen. Diese Verknüpfung ist die Arbeit, die geleistet keine Schwächung der NATO-Fähigkeiten sind, und den werden muss. Herr Schröder kann sie an keine Experten- politischen Prozess der Abstimmung in der NATO früh kommission delegieren. zu suchen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16083

Christian Schmidt (Fürth) (A) Die außen- und sicherheitspolitischen Bemühungen immer größer werdende Technologielücke zu den USA (C) Europas müssen auf ein ergänzendes Vorgehen von zu verkleinern. Insofern will ich auch ausdrücklich ein NATO und EU ausgerichtet werden. Bekenntnis zum MEADS-Projekt abgeben. Für das Pro- jekt haben wir gestern im Haushaltsausschuss mit großer (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Mehrheit und im Verteidigungsausschuss ebenfalls grü- Der wachsenden Bedeutung globaler Risiken, die den nes Licht gegeben. Frieden der Völkergemeinschaft gefährden, muss die EU Das Pentagon gibt für Forschung und Entwicklung zusammen mit der NATO mit der gemeinsam konzipier- rund viermal so viel Geld aus wie alle europäischen ten Fähigkeit begegnen, Krisen zu entschärfen, Kon- Staaten zusammen. flikte zu verhindern oder zu ihrer Beilegung beizutragen. (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Ist das Ihr Ziel?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Das ist ein Problem. Wen das nicht interessiert, der hat nicht erkannt, dass uns dies angesichts der technologi- Das bekommt man nicht allein an Verhandlungstischen; schen Fortschritte und der Technologiesprünge im glo- das muss auch durch militärische Fähigkeiten umgesetzt balen Wettbewerb belasten wird. Deswegen müssen wir werden können. auch daran arbeiten. Das ist nicht einfach. Das ist teuer. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Allerdings! – Aber es sind Investitionen in die Zukunft. Ich hoffe, dass Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ist es!) der Bundeskanzler, wenn er die zweite Auflage seines Investitionsgipfels macht, auch einmal an diese Frage Wir wollen dazu keine europäische Gegenmacht, son- denkt und sie mit Herrn Chirac und den anderen Europä- dern eine gemeinsame strategische Ausrichtung Europas ern bespricht. und Amerikas im Rahmen der NATO. Nur dann kann man ohne Schaden für das Bündnis für die eigenen Inte- (Beifall bei der CDU/CSU) ressen politischen Spielraum gewinnen und dort, wo sich Für uns gehört auch die Zusage dazu, strategische amerikanische und europäische Interessen nicht treffen, Lufttransportmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, Entscheidungsfreiheit behalten. den permanenten Mangel an Hubschraubern, vor allem Bei dieser Gelegenheit ein Wort zu den US-Truppen für Transportaufgaben, abzustellen und die Ausbildung in Europa. Ich bedauere, dass die Amerikaner zwei Di- der Soldaten auf neue Aufgaben auszurichten. visionen aus Deutschland abziehen. US-Senator Lugar hat 1993 in seiner berühmten Bu- (Michael Glos [CDU/CSU]: Ja!) dapester Rede gesagt: „NATO will go out of area or go out of business.“ Die NATO muss sich also um ihrer po- (B) Ich kann nachvollziehen, dass die Kollegen im amerika- (D) litischen Bedeutung willen als Ordnungs- und Stabili- nischen Kongress um den Erhalt ihrer Armeestandorte in tätsbündnis jenseits der Grenzlinien des Kalten Krieges den USA kämpfen – das tun wir entsprechend bei uns –, verstehen. Heute müssen wir begreifen, dass Europa mit aber wir müssen schon eines sagen: NATO heißt, US- der NATO ein zukunftsfähiges Bündnis in Händen hält, Streitkräfte auch in Europa zu wollen und ihre Präsenz das daran zerbrechen kann, dass insbesondere Deutsch- für politisch und strategisch richtig zu halten. land aus Langeweile oder wegen politischer Nabelschau (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- politisch nicht mehr investiert. Dass da investiert wird, neten der FDP) wäre aber für das Ziel unseres Landes, in Sicherheit zu leben, wichtiger als manche der eigenartigen Verrenkun- Ein notwendiges Element gemeinsamer Verteidigungs- gen, die der Vorturner Schröder gegenwärtig vollführt, und Aktionsfähigkeit ist gerade die Präsenz amerikani- um den begehrten Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten scher Kräfte in Europa. Deswegen appellieren wir an die Nationen zu bekommen. amerikanischen Entscheidungsträger, auch dies zu be- rücksichtigen. Die Bundesregierung ist in der Pflicht, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diese Position nachhaltig darzustellen. (Michael Glos [CDU/CSU]: Immer wieder die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Haltung Bayerns zu den US-Streitkräften!) Das Wort hat der Staatsminister Hans Martin Bury. Wie viele Telefonverbindungen da zur Verfügung ste- Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa: hen, weiß ich nicht. Angeblich hat der Bundeskanzler Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am nun wieder Kontakt mit Washington. Er sollte ihn nut- 8. Mai dieses Jahres feiern wir den 60. Jahrestag der Be- zen. freiung Deutschlands, den 60. Jahrestag des Zusammen- (Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU] bruchs der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. sowie des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ Zwei Tage zuvor, am 6. Mai 2005, begehen wir den CSU] – Michael Glos [CDU/CSU]: Der Au- 50. Jahrestag des Beitritts der Bundesrepublik Deutsch- ßenminister ist nur noch mit dem Untersu- land zur NATO. chungsausschuss beschäftigt!) Was in den 50er-Jahren politisch noch heftig um- Europa muss erhebliche Anstrengungen unterneh- kämpft war – Wiederbewaffnung und Westbindung –, er- men, um seine militärischen Fähigkeiten, von denen ich wies sich als außen- und sicherheitspolitische Basis für geredet habe, signifikant zu steigern und vor allem die eine beispiellose Entwicklung. 16084 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Staatsminister Hans Martin Bury (A) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo ist denn Doch machen wir uns nichts vor: Erst in Verbindung (C) der Außenminister?) mit der NATO entstand die magnetische Anziehungs- kraft für die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pak- Den Bundesregierungen von Konrad Adenauer bis tes und frühere Teile der Sowjetunion. gebührt in der Tat Dank und Anerken- nung für strategische Weitsicht. Gestern haben die NATO-Außenminister in Wilna über die Weiterentwicklung des Bündnisses beraten. Dass 1989 die Mauer fiel, war auch ein Verdienst der Bundeskanzler Gerhard Schröder hat diese notwendige transatlantischen Partnerschaft, aber zugleich der Tatsa- Debatte über die strategische Ausrichtung des Bündnis- che geschuldet, dass mutige Politik die Spielräume zu ses und seine Funktionsfähigkeit entscheidend angesto- nutzen wagte, die dank militärischer Sicherheit durch die ßen. Entgegen einigen aufgeregten Reaktionen gespiel- NATO außenpolitisch erwuchsen. Die Ostpolitik Willy ter Empörung ist schnell deutlich geworden: Nur wer Brandts hat zur Annäherung der gegnerischen Blöcke bereit ist, die NATO weiterzuentwickeln, wird ihre zen- und der beiden deutschen Staaten entscheidend beigetra- trale Rolle für den Frieden in der Welt und den transat- gen und damit das Fundament für die spätere Wiederver- lantischen Dialog bewahren, meine Damen und Herren. einigung gelegt, die wir den Menschen in Polen, Ungarn und Tschechien und vor allem in der damaligen DDR (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des verdanken. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ So bedrohlich die Blockkonfrontation des Kalten DIE GRÜNEN) Krieges war, das „Gleichgewicht des Schreckens“ war in gewissem Maße berechenbar. Heute sind wir mit ganz Die Rolle der NATO hat sich mit dem Ende des Ost- neuen, oft asymmetrischen Bedrohungen konfrontiert. West-Konfliktes fundamental gewandelt. Ihre Bedeu- An der Peripherie Europas und in weiter entfernten Re- tung ist jedoch nicht geringer geworden. Denn die gionen führen der zunehmende Verfall von staatlichen NATO ist mehr als ein Militärbündnis und mehr als eine Strukturen, Bürgerkriege und das Auseinanderbrechen Verteidigungsallianz. Sie ist eine Gemeinschaft, die für von Staaten dazu, dass bewaffnete Gruppen und nicht- Freiheit und Demokratie einsteht, getragen von gemein- staatliche Akteure immer weiter an Einfluss gewinnen. samen Werten und weitgehend übereinstimmenden Inte- Die Folgen sind Terrorismus, organisierte Kriminalität, ressen. Korruption sowie Menschen- und Drogenhandel. Deutschland und Europa haben von der nordatlanti- In unserer globalisierten Welt sind dies nicht mehr re- schen Partnerschaft in besonderer Weise profitiert und gional begrenzte Phänomene; sie gefährden in vielfälti- wir engagieren uns in besonderem Maße für die und in ger Weise auch die Sicherheit der internationalen Ge- (B) der NATO und der Europäischen Union. (D) meinschaft. Die Antwort darauf kann wie in Afghanistan Die Entscheidung im Herbst 1998 war eine Zäsur in zum Teil in militärischen Mitteln bestehen. Sie kann sich der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zum jedoch darauf in keinem Fall beschränken und sie muss ersten Mal zogen wir aus unserer leidvollen Geschichte nicht nur weit umfassender, sondern auch viel früher an- nicht die Konsequenz besonderer militärischer Zurück- setzen. Wir haben eine moralische Verpflichtung, Men- haltung, sondern die Konsequenz besonderer Verantwor- schen in Not zu helfen. Gleichzeitig tragen wir damit zur tung für die Sicherung von Menschen- und Minderhei- Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger bei. tenrechten auch mit militärischen Mitteln, wo andere (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mittel nicht ausreichen oder nicht zur Verfügung stehen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was Europa nicht schaffte, gelang mithilfe der Sicherheitspolitik muss nachhaltig sein und sie muss NATO: das Morden auf dem Balkan zu stoppen und die umfassend sein. Nur so können wir gewaltsame Kon- Bedingungen für die Entwicklung von Freiheit und De- flikte verhindern oder eindämmen und gesellschaftliche mokratie zu schaffen. Strukturen nach einer Krise nachhaltig stabilisieren. Heute ist es die Annäherung an NATO und EU, die Deutschland engagiert sich in diesem Sinne in vielfälti- der Entwicklung der Länder des westlichen Balkans Ziel ger Weise und weit über das Bündnisgebiet hinaus. Wir und Perspektive und damit den Menschen Hoffnung unterstützen weltweit Demokratie und Rechtsstaatlich- gibt. In den mittel- und osteuropäischen Staaten war keit, die Achtung von Menschenrechten, sozialen Aus- die Kombination aus der Softpower der Europäischen gleich und den Schutz der natürlichen Lebensgrundla- Union und dem Schutzversprechen der NATO so stark gen. und so attraktiv, dass sich Zivilgesellschaften und Staa- Eine Energiepolitik, die erneuerbare Energien fördert ten auf den Weg der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Energieeffizienz steigert und damit die Abhän- begeben haben. Das Maß an Vertrauen und der Grad der gigkeit von Öl und Kernbrennstoffen verringert, ist zu- Zusammenarbeit, die heute zwischen Staaten erreicht gleich ein Beitrag zum Frieden in der Welt. Der Kampf wurden, die sich noch vor wenigen Jahren bis an die gegen Hunger und Armut, gegen Rechtlosigkeit und Zähne bewaffnet feindlich und ängstlich gegenüberstan- Ausgrenzung ist auch ein Beitrag, der Entstehung von den, ist unglaublich. Die Europäische Union ist das Hass und Gewalt den Boden zu entziehen. Ich möchte in größte und erfolgreichste Friedensprojekt aller Zeiten. diesem Zusammenhang ausdrücklich die große Anteil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nahme und Solidarität der Menschen in Deutschland her- DIE GRÜNEN) vorheben. Sie haben etwa der verheerenden Flutkatastro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16085

Staatsminister Hans Martin Bury (A) phe eine Woge der Solidarität entgegengesetzt. Wir Die strategische Partnerschaft mit Russland, unser (C) können stolz sein auf eine Gesellschaft, die in vielfälti- Bemühen um eine Einbindung Chinas oder das Wahr- gen Beiträgen, Projekten und Aktionen Tag für Tag be- nehmen europäischer Verantwortung in Afrika und im weist, dass Verantwortung keine nationalen Grenzen Nahen Osten sind wichtige Beiträge zu einer Weltinnen- kennt. politik. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich begrüße, dass der amerikanische Präsident nach DIE GRÜNEN) seiner Wiederwahl EU und NATO in Brüssel besucht und sein Interesse und seine Bereitschaft zur Intensivie- Deutsche Soldaten leisten auf dem Balkan oder in Af- rung der Zusammenarbeit unterstrichen hat. Unser Zu- ghanistan in vorbildlicher Weise ihren Beitrag zum Auf- sammenwirken etwa bei den Bemühungen, iranische bau und zur Entstehung aktiver Zivilgesellschaften. Kein Nuklearkapazitäten zu verhindern, belegt, dass unter- Land ist bei NATO-, aber auch bei EU-Operationen in schiedliche Ansätze, wenn sie einander ergänzen, durch- diesem Maße international mit Truppen präsent wie aus geeignet sind, ein gemeinsames Ziel zu befördern. Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mancher Beitrag in All diese Facetten, die heute Bestandteil einer sicher- der heutigen Debatte schien mir ein wenig geprägt von heitspolitischen Debatte sind und sein müssen, unter- der neokonservativen Vorstellung, die Amerikaner leb- streichen die Notwendigkeit einer Intensivierung und ten auf dem Mars und die Europäer auf der Venus. Fast Verbreiterung des transatlantischen Dialogs. Es ist ist man geneigt, zu ergänzen: und die Union hinter dem bedauerlich, aber wahr, dass die NATO heute nicht im- Mond. mer in ausreichendem Maße der Ort für die notwendigen politischen Verständigungen ist. Es ist erfreulich, aber (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) nicht ohne Konsequenz, dass die EU ihrerseits den Weg Denn der Antrag der CDU/CSU beschränkt sich im all- der Zusammenarbeit auch und gerade im Bereich der gemeinen Teil auf Pathos und Polemik und im Detail Außen- und Sicherheitspolitik nach den Schwierigkeiten weitgehend auf Maßnahmen, die unter maßgeblicher der vergangenen Jahre mit umso größerer Entschlossen- Mitwirkung der Bundesregierung bereits beschlossen heit begeht. wurden oder umgesetzt werden. Ich muss auch sagen, Die gleichen Kritiker, die eine Debatte über eine Re- Herr Kollege Pflüger: Ihr Einstieg in diese Debatte war form der NATO für falsch oder gar gefährlich hielten, keine Festrede zum 50. Jahrestag des NATO-Beitritts, spotteten 2003 über die von Frankreich, Belgien, Lu- (Zuruf von der SPD: Müde!) xemburg und Deutschland entwickelte Idee einer ver- (B) stärkten Zusammenarbeit in der Europäischen Sicher- sondern hat eher verraten, dass Sie und die Union noch (D) heits- und Verteidigungspolitik. Der Kollege Schmidt im Weltbild der 50er-Jahre gefangen sind. hat wieder das Wort vom „Pralinengipfel“ gebraucht. Ausgerechnet diejenigen, die sonst stets eine Abstim- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mung mit großen und kleineren Partnern in der EU for- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dern, machen diese nun zum Ansatzpunkt für billige Kri- Liebe Kolleginnen und Kollegen, 50 Jahre NATO tik – eine Kritik allerdings, um die es insgesamt recht sind für uns Anlass zu Dankbarkeit und Selbstbewusst- still geworden ist, denn die EU hat unsere Idee aufge- sein und Auftrag, die Zukunft in einer handlungsfähigen griffen Europäischen Union und einer vertrauensvollen transat- lantischen Partnerschaft aktiv zu gestalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch über- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haupt nicht!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und die Grundlagen für eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschaffen, die es uns ermögli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chen soll, auch selbstständig militärische Verantwortung Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz von der wahrzunehmen, wenn andere Partner sich nicht beteili- CDU/CSU-Fraktion. gen wollen oder können. Diese Option ist auch und ge- rade dann von Bedeutung, wenn man bereit und in der Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Lage ist, eine Beteiligung abzulehnen, weil man im Ein- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach die- zelfall von der Richtigkeit militärischen Vorgehens nicht ser engagierten Festrede vonseiten der Bundesregierung, überzeugt ist. Herr Staatsminister, Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspoli- (Gernot Erler [SPD]: Ja, jetzt leg mal nach!) tik ist jedoch keine Alternative zur NATO, erst recht kein Ersatz. Wir stärken damit den europäischen Pfeiler möchte ich an einen Ausspruch erinnern, der nach dem der Brücke über den Atlantik, militärisch und politisch. Ende des Kalten Krieges oft zu hören war: Wir seien jetzt nur noch von Freunden umzingelt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das kommt CDU/CSU) aber von Ihnen!) 16086 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Ruprecht Polenz (A) wozu dann noch die NATO? Diese Kurzschlussformel senvernichtungswaffen haben ihren Ursprung in dieser (C) war nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Zone der Instabilität. Deshalb ist die NATO in Afghanis- Mittel- und Osteuropa und dem Ende des Kalten Krieges tan und im Irak engagiert. Deshalb dehnt sie ihre Präsenz oft zu hören. über ihre traditionellen Einsatzgebiete aus. Und deshalb brauchen wir dringend eine aktivere Politik der NATO in (Gernot Erler [SPD]: Was machen wir mit der der Golfregion. Lassen Sie mich gleich an dieser Stelle Umzingelung?) sagen: Es geht vor allem um eine aktive politische Rolle Als damals der Warschauer Pakt aufgelöst wurde, der NATO, nicht so sehr um ein zusätzliches militäri- wurde auch von Ihrer Seite die Frage gestellt, warum sches Engagement. man nicht auch die NATO auflöst. Auf dem Gipfel in Istanbul hat die NATO im (Gernot Erler [SPD]: Darüber haben Sie doch Jahr 2004 die so genannte Istanbul Cooperation Initia- selbst diskutiert!) tive beschlossen. Das vorrangige Ziel dieser Initiative ist es, interessierten Staaten der Region in Sicherheitsfragen Das hat zu Beginn der 90er-Jahre nicht nur die PDS ge- die Zusammenarbeit mit der NATO anzubieten, um auf fordert, sondern auch mancher aus den Reihen von SPD diese Weise Sicherheit und regionale Stabilität zu stär- und Bündnis 90/Die Grünen. ken. Voraussetzung dafür ist selbstverständlich, dass die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ Aktivitäten der NATO von den Staaten der Region ge- DIE GRÜNEN]: So ist es!) wünscht und akzeptiert werden. Bisher beteiligen sich Kuwait, Bahrain und Quatar an dieser Initiative. Die – So ist es; Herr Ströbele erinnert sich. – Aber die Polen, NATO sollte in dem Bemühen, auch die anderen Staaten Ungarn, Tschechen und Slowaken wollten partout Mit- der Golfregion einzubeziehen, nicht nachlassen. glied in dem von vielen von Ihnen für überflüssig gehal- tenen Verteidigungsbündnis werden. Damit hatten Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nicht gerechnet. Markus Meckel [SPD]) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Angstgesteuert!) Die Istanbuler Kooperationsinitiative bietet ein breit gefächertes Instrumentarium an, um interessierten Län- Im Grunde hat Sie erst der dringende Wunsch der Po- dern dabei zu helfen, ihren Sicherheitsbedürfnissen auf len, Ungarn, Tschechen und Slowaken nach einer Mit- eine Weise zu entsprechen, die weiteres Wettrüsten in gliedschaft in der NATO dazu gebracht, deutsche und der Region verhindert. Deshalb ist zu überlegen, die europäische Sicherheit künftig nicht, wie Sie es zunächst Istanbuler Initiative durch eine Klausel ähnlich der in vorhatten, der OSZE zu überantworten. Heute wissen dem Programm „Partnerschaft für den Frieden“ zu er- (B) auch Sie, wie gut es ist, dass wir die NATO haben und gänzen, nach der Konsultationen mit der NATO für den (D) dass wir sie auch im 21. Jahrhundert als Garanten unse- Fall vorgesehen werden, dass sich ein ICI-Partner in sei- rer äußeren Sicherheit brauchen. ner Sicherheit bedroht fühlt. Das würde zusätzliche Si- Wenn man von den Verrenkungen, die Winfried cherheit gewährleisten. Nachtwei im Hinblick auf die Zeit der Demonstrationen (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ein sehr gegen den NATO-Doppelbeschluss pflichtgemäß ma- guter Vorschlag!) chen musste Mittel- und längerfristig sollte die NATO den Staaten (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Golfregion dabei helfen, neue Mechanismen kollek- NEN]: Nein, Herr Kollege! Erstens freiwillig tiver Sicherheit zu etablieren. Solche vertrauensbilden- und zweitens aus Überzeugung! – Gernot Erler den Maßnahmen können zu neuen Sicherheitsstrukturen [SPD]: Besser beweglich als bewegungsunfä- in der Region des Persischen Golfs führen, in die dann hig!) auch andere Staaten der Region einbezogen werden – denn er möchte sich auf dem nächsten Parteitag von könnten. Diese politischen Anstrengungen der NATO Bündnis 90/Die Grünen Gehör verschaffen –, absieht, sollten eine Politik der EU flankieren, mit der wir innere hat seine Rede gezeigt: Im Grunde weiß heute jeder in Reformprozesse und wirtschaftlichen und demokrati- diesem Hause, dass wir die NATO als Garanten unserer schen Wandel in den Ländern der Region behutsam und äußeren Sicherheit brauchen. beharrlich unterstützen. Auch wenn Übereinkommen kollektiver Sicherheit nur schrittweise und nur über ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nen längeren Zeitraum hin erreicht werden können, ist es Günther Friedrich Nolting [FDP] – Gert trotzdem notwendig, alles daranzusetzen, in dieser span- Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wo ist da die nungsgeladenen Region, die für Europa, für die USA Euphorie?) und für die ganze Welt so wichtig ist, dorthin zu kom- men. Übrigens haben Staaten der Region auch umge- Deshalb muss sich die NATO den neuen Bedrohungen kehrt bereits zur euroatlantischen Sicherheit beigetragen, unserer Sicherheit und den sich daraus ergebenden Her- etwa im gemeinsamen Kampf gegen den internationalen ausforderungen stellen. Terrorismus. Die Region des Persischen Golfs, Herr Kollege (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) Weisskirchen, wird für die euroatlantische Sicherheit im- mer wichtiger. Die wahrscheinlichsten Bedrohungen Meine Damen und Herren, es muss die NATO auch durch Terrorismus und die Weiterverbreitung von Mas- kümmern, was im Iran geschieht; ich kann dieser Fest- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16087

Ruprecht Polenz (A) stellung des NATO-Generalsekretärs, zu lesen in einem rischen Strukturen der NATO. Sie wurde nach dem Bei- (C) Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“, nur zustim- tritt Deutschlands zur NATO fest in ein Bündnis demo- men. kratischer Staaten eingebettet. Diese feste Einbettung ist auch ein Teil unserer geschichtlichen Erfahrungen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Konsequenzen. der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Der NATO-Rat sollte Iran auf seine Tagesordnung set- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zen. Die NATO könnte die Plattform abgeben, auf der eine in erster Linie diplomatische Strategie abgestimmt 50 Jahre NATO-Mitgliedschaft haben die deutsche Au- wird: Erstens. Wie kann man Iran überzeugen, Kern- ßen- und Sicherheitspolitik geprägt, ebenso das innere energie nur zu friedlichen Zwecken zu nutzen? Wie kann Gefüge der Bundeswehr: Sie war und ist von vornherein dies objektiv, dauerhaft und kontrolliert garantiert wer- nur darauf ausgerichtet, zusammen mit anderen Bünd- den? Zweitens. Wie kann man die politische Isolation nispartnern – und nicht alleine – die äußere Sicherheit Irans beenden? Drittens. Wie kann man das Land in ei- unseres Landes zu wahren. Natürlich sind die 50 Jahre nen regionalen Sicherheitsdialog einbeziehen? Diese auch Anlass zum Feiern. Punkte gehören auf die Tagesordnung des NATO-Rates. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Der Antrag der Union ist eine Gelegenheit zur De- der SPD) batte. Wenn Sie dann allerdings statt Festreden Reden Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass es gelingen halten, die eher rückwärts gerichtet sind, wird, Iran dauerhaft zur Befolgung der Verpflichtungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) aus dem Atomwaffensperrvertrag anzuhalten, wenn die Europäer und die USA dieses Ziel im Rahmen einer ge- habe ich meine Bedenken. Das Zweite – die Kollegen des meinsamen Strategie verfolgen. Und wo sollten Euro- Verteidigungsausschusses wissen das –: Es wird auch ei- päer und Amerikaner über solche für unsere transatlanti- nen offiziellen Anlass zum Feiern geben: Das 50-jährige sche Sicherheit so entscheidenden Fragen sprechen, Jubiläum der Bundeswehr wird im Herbst mit vielen wenn nicht in der NATO? Veranstaltungen – unter anderem einer großen hier – be- Die NATO ist und bleibt das Verteidigungsbündnis, gangen. Auch durch die Personen, die dort auftreten, wird sehr deutlich sichtbar werden, dass das Jubiläum dem wir aus guten Gründen auch im 21. Jahrhundert un- der Bundeswehr und das Jubiläum der NATO nicht ge- sere Sicherheit, den Frieden und die Freiheit anvertrauen können. Weil die NATO ein Bündnis auf Gegenseitigkeit trennt voneinander gefeiert werden, sondern unmittelbar miteinander verknüpft sind. Hier besteht also kein An- (B) ist, muss Deutschland auch zum Bündnis beitragen – (D) lass zu Kritik. nach seiner Größe und Leistungsfähigkeit und nach der Bedeutung, die wir wahrnehmen wollen. Dafür braucht (Beifall bei der SPD) die Politik nicht zuletzt angesichts knapper Kassen auch die Unterstützung der Öffentlichkeit. Dafür arbeitet, mit In all diesen 50 Jahren hat sich die NATO als fähig er- tatkräftiger Unterstützung aus allen Fraktionen sowie der wiesen, den sicherheitspolitischen Herausforderungen Bundesregierung, auch die Deutsche Atlantische während des Kalten Krieges wirkungsvoll zu begegnen. Gesellschaft. Ich möchte diese Debatte zu 50 Jahren Sie hat sich nach 1989 dieser veränderten Welt ange- deutscher NATO-Mitgliedschaft deshalb auch zum An- passt. Die NATO befindet sich mitten in ihrer eigenen lass nehmen, mich dafür bei der Bundesregierung, bei Transformation. Sie ist dabei, sich auch politisch neu meinen Kolleginnen und Kollegen und vor allem bei den zu justieren. Das zeigt, dass sich manche, die Zweifel über 3500 Mitgliedern der Deutschen Atlantischen Ge- daran hatten, dass die NATO diesen Wandel schafft, ir- sellschaft zu bedanken, die in 29 Arbeitskreisen überall ren. Die NATO bleibt ein sehr lebendiges Bündnis. Eines in Deutschland vertreten sind, die sich beständig und im- fand ich immer ganz spannend: Bei allem Dissens mit mer wieder an der sicherheitspolitischen Debatte in den Vereinigten Staaten in der Frage des Irakkrieges Deutschland beteiligen und für die Aufgaben und Ziele – Sie haben das heute wieder angesprochen; es war nicht der NATO im 21. Jahrhundert einsetzen. anders zu erwarten – hatte der politische Streit nie Aus- wirkungen auf das innere, funktionale Gefüge der Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. NATO. Operativ hat alles nach wie vor ohne Probleme (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der sehr gut zusammengearbeitet und gepasst. SPD und der FDP) Wer sich Ihren Antrag anschaut, dem wird sehr schnell klar, dass es Ihnen letztlich nicht um die Würdi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gung der NATO, sondern sicherlich ein Stück weit vor- Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold von der dergründig darum geht, mit dem Finger auf diese Koali- SPD-Fraktion. tion zu zeigen. Ihre Argumente sind allerdings sehr dünn. (Zuruf von der SPD: Guter Mann!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gernot Erler [SPD]: Leider!) Rainer Arnold (SPD): Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Lassen Sie mich das deshalb noch einmal in Erinnerung Die Bundeswehr war und ist fest integriert in die militä- rufen. 16088 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Rainer Arnold (A) Deutschland gehört bei NATO-Missionen zu den allerdings auch lernen, dass mit der Erfüllung dieser (C) größten Truppenstellern innerhalb des Bündnisses. Das Pflichten durch Deutschland natürlich auch das Einfor- betrifft den Balkan, Afghanistan und auch manche an- dern der selbstverständlich partnerschaftlichen Rechte dere kleine Aufgaben, die die NATO in ihrer Geschichte auf Augenhöhe verbunden ist. Dies hat die Bundesregie- erfüllt hat. Sie vergessen dabei auch: Der Wandel der rung in den letzten Jahren notwendigerweise sichtbar ge- NATO, den wir mit der Bundeswehr in einem parallelen macht. Prozess mitmachen, wird von einem sozialdemokrati- schen Minister mitgestaltet. Dieser Wandel bedeutet (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gleichzeitig ein Stück weit die Auflösung eines Re- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) formstaus, den wir 1998 vorgefunden haben. Wir haben In Ihrem Antrag gehen Sie in einem anderen Zusam- damit begonnen, die Bundeswehr diesen neuen Aufga- menhang auf die Rede des Bundeskanzlers in Mün- ben anzupassen. Wann werden Sie endlich verstehen, chen ein. Es ist interessant, sich das genauer anzusehen. dass sich die Bundeswehr und die Bundesregierung bei An der einen Stelle heißt es, dass man sich mit dem Be- ihren NATO-Engagements nicht verstecken müssen? richt des Rates Hoher Experten zur Reform der Verein- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried ten Nationen vom Dezember 2004 eingehend auseinan- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) der setzen sollte und daraus Konsequenzen für das Handeln der NATO gezogen werden sollten. Gleichzei- Gestern war eine ganze Reihe Kolleginnen und Kolle- tig kritisieren Sie den Bundeskanzler, der genau das tut, gen Verteidigungspolitiker bei den großen Manövern, was Sie in Ihrem Antrag formulieren. Ich denke, er hat die an verschiedenen Stellen in Deutschland stattgefun- mit seiner Rede in München, in der er ausführte, dass den haben. 25 Partner waren daran beteiligt. Jeder dieser politische Prozess und dieser Diskurs in der konnte dort sehen, dass die Bundeswehr von der Ausbil- NATO geführt werden muss und dass es hier Defizite dung der Soldaten über die Motivation der Soldaten bis gibt, ins Schwarze getroffen. hin zum Gerät, das dort in aller Breite vorgeführt wurde, hervorragend auf diese zukünftigen Aufgaben vorberei- Wir sollten selbstkritisch sagen: Wenn in der NATO tet ist. Jeder von Ihnen, der in den Einsatzgebieten mit nur über Fähigkeiten, Fähigkeiten und noch einmal Fä- Soldaten und Politikern der NATO-Partner redet, merkt higkeiten – wie der alte Sekretär sagte – geredet wird, doch auch, dass die deutschen Soldaten dort einen außer- nicht aber die politischen Veränderungen und die Neu- ordentlich großen Respekt für ihren Einsatz erhalten. Ich justierung der NATO berücksichtigt werden, und wenn sage ausdrücklich: Unsere ganze Gesellschaft und auch wir Europäer nicht in der Lage sind, dieses inhaltliche wir Parlamentarier können stolz auf die Arbeit der deut- Defizit mit einer gemeinsamen europäischen Position schen Soldaten in den Einsatzgebieten sein. (B) ausreichend zu füllen, dann gehöre ich nicht zu denen, (D) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried die sich darüber beklagen, dass die Vereinigten Staaten Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dieses Defizit ausfüllen. Deshalb hatte der Bundeskanz- ler in vielerlei Hinsicht Recht: Wir müssen diese politi- Nein, in Ihrem Antrag fehlt wirklich eine kontinuierli- sche, inhaltliche und strukturelle Debatte über die Zu- che, konsistente Linie. Sie schreiben zum Beispiel: kunft, die Aufgaben und Fähigkeiten der NATO Die Mitgliedschaft beruht auf der Freiwilligkeit und miteinander führen. der Unabhängigkeit ihrer Mitglieder. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ein paar Zeilen später, wo Sie über den Irakkrieg reden, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hört sich das bei Ihnen bereits ganz anders an. Mit Ihrer Lassen Sie mich noch etwas zu den von Herrn Eingangsformulierung haben Sie aber in der Tat Recht. Schmidt angesprochenen Fähigkeiten sagen. Herr Vielleicht haben Ihre Arbeitsgruppen, die den Antrag Schmidt, alle europäischen Partner in der NATO haben formuliert haben, nicht ausreichend kooperiert. Diesen erkannt – es gibt dazu auch eine Reihe von Beschlüs- Eindruck gewinnt man an verschiedenen Stellen in Ih- sen –, dass wir mehr tun müssen, um unsere Lücken auf- rem Papier. zufüllen. Aber alle Staaten leiden unter knappen Haus- Es ist in der Tat so: In der NATO herrschen nicht Be- halten. Deshalb kann es nur eine Antwort geben – eine fehl und Gehorsam. Gerade als politisches Bündnis hat Erhöhung der Etats ist nicht realistisch –: Den Europäern die NATO ihre Entscheidungen im Konsens zu treffen. muss es gelingen, die knappen Mittel einfach besser zu Die Mitgliedstaaten bringen ihre Interessen und ihre Po- bündeln. Das knappe Geld muss intelligenter ausgege- sitionen selbstständig ein. Vielleicht musste der eine ben werden. Es darf nicht sein, dass jedes Land selbst oder andere NATO-Partner hier auch ein wenig dazuler- Entwicklungsarbeit leistet, obwohl es nicht ausreichend nen, dass Deutschland, das in vielen Jahren NATO-Part- Forschungsgelder bereitstellen kann, und später nur nerschaft aufgrund seiner besonderen historischen Ver- kleine Stückzahlen beschafft. Auch hier ist der Transfor- antwortung und seiner Position als Nahtstelle während mationsprozess der NATO und, daraus resultierend, der des Kalten Krieges – die Grenze ging quer durch Europäischen Union mit der Einrichtung der Agentur Deutschland – eine ein Stück weit besondere Rolle hatte, für Fähigkeiten – die Deutschen waren an der Aus- jetzt plötzlich begonnen hat, seine Pflichten in der arbeitung dieser Idee maßgeblich beteiligt – auf einem NATO wie alle anderen NATO-Partner auch entspre- richtigen Weg. Das ist notwendig; denn es wird die ein- chend seinem ökonomischen Gewicht und seiner Größe zige Chance sein, technologisch so zu arbeiten, dass die zu erfüllen. Der eine oder andere NATO-Partner musste Europäer den Beitrag, den sie leisten wollen und müs- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16089

Rainer Arnold (A) sen, auch tatsächlich leisten. Das wird nur gemeinsam 24 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD (C) gehen. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zur Änderung des Arzneimittelgesetzes des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Drucksache 15/5316 – Ich möchte am Schluss noch einen Gedanken von Überweisungsvorschlag: Herrn Polenz aufnehmen, weil ich finde, dass er im Ge- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) gensatz zu den Vorrednern aus der Union ein Stück weit Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit nach vorne gedacht hat. Die Überlegung, welche Verant- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und wortung die NATO am Golf, also im Nahen und Mittle- Landwirtschaft ren Osten, hat, ist sehr spannend. Eines müssen wir aber b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ehrlicherweise hinzufügen: Die NATO kann hier nur gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Kon- wirksam werden, wenn sie gegenüber neuen Partnern of- trolle hochradioaktiver Strahlenquellen fen ist. Letztlich wird ihr Erfolg davon abhängen, ob sie in dieser Region bei den schwierigen Konflikten als fai- – Drucksache 15/5284 – rer Mittler wahrgenommen wird. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Dieser faire Mittler zu sein wird möglicherweise durch Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung die Position des NATO-Partners Vereinigte Staaten nicht unbedingt ganz einfach sein. Diesen Konflikt müssen c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst wir miteinander auflösen und diesen Diskurs mit den Friedrich (Bayreuth), Eberhard Otto (Godern), Vereinigten Staaten führen. Nur dann wird dies ein er- Joachim Günther (Plauen), weiterer Abgeordne- folgreiches Projekt werden können. ter und der Fraktion der FDP Alles in allem war die NATO für unsere Gesellschaft Weitere Monopolisierung im Schienengüter- und unser Land wirklich der Garant dafür, dass meine verkehr stoppen Generation – das war für meinen Vater und meinen – Drucksache 15/4947 – Großvater eben nicht selbstverständlich – in Frieden auf- Überweisungsvorschlag: wachsen konnte. Deutschland wird auch in Zukunft mit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) der gewachsenen Verantwortung seinen Beitrag für Si- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (B) cherheit, Stabilität und Frieden in vielen Teilen der Welt, (D) in denen Menschen nicht das Glück haben, so groß zu d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst werden, wie dies heute hier möglich ist, leisten. Friedrich (Bayreuth), Birgit Homburger, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Herzlichen Dank. der FDP (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ausbau der Schienenmagistrale Paris–Karls- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ruhe–Stuttgart–München–Budapest – Drucksache 15/5041 – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Überweisungsvorschlag: Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck- Haushaltsausschuss sache 15/324 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Die NATO auf die neuen Gefahren aus- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst richten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Friedrich (Bayreuth), Eberhard Otto (Godern), Drucksache 15/44 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Joachim Günther (Plauen), weiterer Abgeordne- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- ter und der Fraktion der FDP hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Logistikstandort Deutschland stärken men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Stimmenthaltung der FDP-Frak- – Drucksache 15/5044 – tion angenommen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Drucksache 15/5323 an die in der Tagesordnung aufge- Haushaltsausschuss führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- f) Beratung des Antrags der Bundesregierung verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Einwilligung gemäß § 12 Abs. 3 des Hochschul- bauförderungsgesetzes in die Verwendung von Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 g sowie Bundesmitteln für die Gemeinschaftsaufgabe die Zusatzpunkte 6 a bis 6 c auf: Hochschulbau für die gemeinsame 16090 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Forschungsförderung nach Art. 91 b des Tagesordnungspunkt 25 a: (C) Grundgesetzes Zweite Beratung und Schlussabstimmung des – Drucksache 15/5170 – von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Überweisungsvorschlag: eines Gesetzes zu dem OCCAR-Geheimschutz- Haushaltsausschuss (f) übereinkommen vom 24. September 2004 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Drucksache 15/4979 – g) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, (Erste Beratung 166. Sitzung) der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- GRÜNEN und der FDP ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsi- – Drucksache 15/5311 – cherung abschließen Berichterstattung: – Drucksache 15/5342 – Abgeordneter Erich G. Fritz Überweisungsvorschlag: Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5311, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Ausschuss für Tourismus dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Haushaltsausschuss – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. ZP 6 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Tagesordnungspunkt 25 b: brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- des Straßenverkehrsgesetzes und anderer stra- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes ßenverkehrsrechtlicher Vorschriften zur Umbenennung des Bundesgrenzschutzes – Drucksache 15/5315 – in Bundespolizei Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/5217 – Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Rechtsausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- schusses (4. Ausschuss) b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD (B) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- – Drucksache 15/5365 – (D) brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Berichterstattung: Änderung des Anspruchs- und Anwartschafts- Abgeordnete Frank Hofmann (Volkach) überführungsgesetzes Ralf Göbel – Drucksache 15/5314 – Dr. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Hierzu liegt eine gemeinsame Erklärung der beiden Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Abgeordneten Pau und Dr. Lötzsch vor, die wir zu Proto- Haushaltsausschuss koll nehmen.1) c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Vaatz, Ulrich Adam, Günter Baumann, weiteren empfehlung auf Drucksache 15/5365, den Gesetzent- Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, derung des Strafrechtlichen Rehabilitierungs- um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- gesetzes gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit – Drucksache 15/5319 – den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/ CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) der Kollegin Pau angenommen. Innenausschuss Dritte Beratung Finanzausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ten Verfahren ohne Debatte. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Tagesordnungspunkt 25 c: überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 j auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. 1) Anlage 2 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16091

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) zur Änderung des Finanz- und Personalstatis- Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Frak- (C) tikgesetzes sowie des Hochschulstatistikgeset- tion der CDU/CSU zes Menschen mit Behinderung in Entwicklungs- – Drucksache 15/5215 – zusammenarbeit einbeziehen Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- – Drucksachen 15/2968, 15/4994 – schusses (7. Ausschuss) Berichterstattung: – Drucksache 15/5366 – Abgeordnete Karin Kortmann Peter Weiß (Emmendingen) Berichterstattung: Thilo Hoppe Abgeordnete Jörg-Otto Spiller Markus Löning Elke Wülfing Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa- Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- che 15/2968 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- empfehlung auf Drucksache 15/5366, den Gesetzent- schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/ sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- CSU und FDP bei Enthaltung der Kollegin Pau ange- stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da- nommen. mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der CDU/CSU, der Tagesordnungspunkt 25 f: FDP und der Kollegin Pau angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Dritte Beratung richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu- nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Änderung der Geschäftsordnung des Deut- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf schen Bundestages ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. hier: § 96 a (Verfahren nach dem Parlaments- beteiligungsgesetz) Tagesordnungspunkt 25 d: – Drucksache 15/5245 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Berichterstattung: (B) sammenarbeit und Entwicklung (18. Ausschuss) Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz (D) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Peter Altmaier Dr. Christian Ruck, Jochen Borchert, Dr. Ralf Volker Beck (Köln) Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Frak- Jörg van Essen tion der CDU/CSU Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- zu der Abgabe einer Erklärung der Bundesre- genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- gierung lung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegen- stimme der Kollegin Pau angenommen. Zukunft sichern – Globale Armut bekämpfen Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- – Drucksachen 15/923, 15/1190 – titionsausschusses. Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 25 g: Abgeordnete Karin Kortmann Dr. Christian Ruck Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Thilo Hoppe ausschusses (2. Ausschuss) Markus Löning Sammelübersicht 197 zu Petitionen Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag – Drucksache 15/5260 – auf Drucksache 15/923 abzulehnen. Wer stimmt für Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – hält sich? – Sammelübersicht 197 ist einstimmig ange- Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den nommen. Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion und Enthaltung der FDP-Frak- Tagesordnungspunkt 25 h: tion angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 25 e: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Sammelübersicht 198 zu Petitionen richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- – Drucksache 15/5261 – sammenarbeit und Entwicklung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf Sammelübersicht 198 ist einstimmig angenommen. 16092 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Tagesordnungspunkt 25 i: mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Ände- (C) rung des Apothekengesetzes Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksachen 15/4293, 15/4643, 15/4749, Sammelübersicht 199 zu Petitionen 15/4916, 15/4920, 15/5345 – – Drucksache 15/5262 – Berichterstatter im Bundestag: Abgeordneter Wolfgang Meckelburg Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Sammelübersicht 199 ist einstimmig ange- Berichterstatter im Bundesrat: nommen. Minister Rudolf Köberle Tagesordnungspunkt 25 j: Wir kommen gleich zur Abstimmung. Wer stimmt für Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses ausschusses (2. Ausschuss) auf Drucksache 15/5345? – Gegenstimmen? – Enthal- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an- Sammelübersicht 200 zu Petitionen genommen. – Drucksache 15/5263 – Zusatzpunkt 13 c: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 200 ist mit den Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus- der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/ ses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermitt- CSU- und FDP-Fraktion angenommen. lungsausschuss) zu dem Gesetz zur Regelung bestimmter Altforderungen (Altforderungsre- Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Ver- gelungsgesetz – AFRG) mittlungsausschusses. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Be- – Drucksachen 15/4640, 15/4963, 15/5177, ratung von drei Beschlussempfehlungen des Vermitt- 15/5346 – lungsausschusses erweitert werden. Diese Punkte sollen jetzt gleich als Zusatzpunkte 13 a bis 13 c aufgerufen Berichterstatter im Bundestag: werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Abgeordneter Werner Kuhn (Zingst) Dann ist so beschlossen. Berichterstatter im Bundesrat: Zusatzpunkt 13 a: Staatsminister Geert Mackenroth (B) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Wir kommen wiederum gleich zur Abstimmung. Wer (D) schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungs- mittlungsausschuss) zu dem Zweiten Gesetz zur ausschusses auf Drucksache 15/5346? – Wer stimmt da- Änderung des Seemannsgesetzes und anderer gegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung Gesetze ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der – Drucksachen 15/4638, 15/4744, 15/4923, 15/5344 – CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Berichterstatter im Bundestag: Abgeordneter Ludwig Stiegler Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 7auf: Berichterstatter im Bundesrat: Aktuelle Stunde Minister Jochen Dieckmann auf Verlangen der Fraktion der FDP Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Bericht- erstattung und zur Erklärung nicht gewünscht wird. Der Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Herr Kollege Stiegler hat allerdings eine Erklärung zu Äußerungen der SPD-Fraktions- und -Partei- Protokoll gegeben.1) spitze zu Wirtschaftsinvestitionen in Deutsch- land Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus- schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäfts- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem ordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag Redner für die antragstellende Fraktion dem Kollegen über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies Dr. Guido Westerwelle von der FDP-Fraktion das Wort. gilt auch für die nachfolgende Beschlussempfehlung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermitt- (Beifall bei der FDP) lungsausschusses auf Drucksache 15/5344? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- Dr. Guido Westerwelle (FDP): empfehlung ist einstimmig angenommen. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Zusatzpunkt 13 b: ren! Diese Aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag ist Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- (Jörg Tauss [SPD]: Zeitverschwendung!) schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- notwendig, damit von uns, vom Deutschen Bundestag, das Signal an die Investoren im In- und Ausland ausgeht: 1) Anlage 3 Der Deutsche Bundestag begrüßt Investitionen in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16093

Dr. Guido Westerwelle (A) Deutschland, er will Investoren in Deutschland und er glaubt, man müsse die Furcht vor der freien Marktwirt- (C) beschimpft sie nicht so, wie Sie, Herr Kollege schaft säen, dann ist man nicht von dieser Welt. Müntefering, das getan haben. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jeder zweite Euro, der in Deutschland ausgegeben wird, Die Freien Demokraten haben diese Aktuelle Stunde geht durch die Hände des Staates. Es droht nicht die freie beantragt, weil sie aus unserer Sicht vor allen Dingen Marktwirtschaft, es droht die bürokratische Staatswirt- auch einen Strategiewechsel in der Politik – nicht nur der schaft. Nicht die Marktwirtschaft kostet in Deutschland Sozialdemokraten, sondern auch der Bundesregierung – Arbeitsplätze, die bürokratische Staatswirtschaft kostet betrifft. Das Bemerkenswerte ist, dass Ihr Heuschre- Arbeitsplätze in Deutschland. Deswegen ist es ein Feh- ckenvergleich, Herr Müntefering, mittlerweile auch den ler, zurück in diese Klassenkampfparolen zu gehen, Herr Beifall des Bundeskanzlers und des nordrhein-westfäli- Kollege Müntefering. schen Ministerpräsidenten gefunden hat. Auch der Wirt- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schaftsminister stößt inzwischen in das gleiche Horn. der CDU/CSU) Ein Wirtschaftsminister, der Investoren vor einer solchen pauschalen Kritik nicht in Schutz nimmt, sondern zu- Wir haben 5,2 Millionen Arbeitslose. Das ist das Ergeb- lässt, dass sie beschimpft werden, und sie dadurch ab- nis Ihrer Politik. Das ist das Ergebnis von schlechten schreckt, erfüllt nicht sein Amt. Rahmenbedingungen für Investoren und Investitionen in diesem Land. Deutschland hat nur dann eine Chance, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wenn wir dafür sorgen, dass in Deutschland investiert der CDU/CSU) wird. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Wir Das reiht sich in eine Serie ein: Sie sagen, die Investo- wollen Arbeitsplätze schaffen. Wer Arbeitsplätze schaf- ren seien eine Art Heuschreckenplage. Es ist übrigens fen will, weiß, dass das nur über Investitionen geht. In- interessant, dass der Bundeskanzler bei jeder Auslands- vestitionen werden aber nicht in Deutschland getätigt, reise gar nicht genug von diesen Heuschrecken in der wenn man die Investoren mit Heuschreckenvergleichen Regierungsmaschine mitnehmen kann. überzieht und sie als biblische Plage bezeichnet. Investo- ren kommen nur nach Deutschland, wenn es ein ver- (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/ nünftiges, wirtschaftsfreundliches Klima gibt. DIE GRÜNEN]: Warum fliegen die denn nicht selbst?) (Beifall bei der FDP) Aber Frau Kollegin Vogt setzt noch eins drauf: Sie ruft (B) Unsere Politik schafft Arbeitsplätze, Ihre Politik soll als Mitglied der Bundesregierung und stellvertretende (D) Stimmungen schaffen, und zwar auf Kosten von Arbeits- Chefin der SPD zu einem Boykott gegen entsprechende plätzen. Das ist der feine Unterschied. Unternehmen auf. In einer Zeit, in der wir ohnehin einen großen Nachfragestau haben und in der wir ohnehin zu (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der wenig Konsum in Deutschland haben, zu einem Boykott SPD) von Unternehmen aufzurufen vergrößert die Arbeitslo- Herr Müntefering, der Vergleich mit den Heuschre- sigkeit. cken ist übrigens bemerkenswert. Zunächst einmal: Heu- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne schrecken sind grün, Herr Müntefering. Kastner) (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU – Keiner Ihrer Sätze schafft auch nur einen Arbeits- Dr. Uwe Küster [SPD]: Es gibt auch gelbe!) platz. Arbeitsplätze werden nicht von Ihnen geschaffen, sondern von Investoren und Menschen, die bereit sind, Das wollen wir einmal festhalten; das ist eine wichtige ein persönliches Risiko zu übernehmen. Diese Risikobe- Erkenntnis. Auch ideologisch passt ja Ihr Bild überhaupt reitschaft gehört in Deutschland belohnt und nicht be- nicht. schimpft. (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt der ernste Teil der CDU/CSU) der Rede!) Sie sind der Überzeugung, Sie hätten alles getan. Sie Die einzige Heuschreckenplage, die über Deutschland sind der Meinung, jetzt sei es Aufgabe der Wirtschaft, zu herzieht, sind die Grünen, die mit ihrer investitionsfeind- handeln, weil Sie Ihre Hausaufgaben gemacht hätten. lichen Politik Arbeitsplätze vernichten. (Zuruf von der SPD: Richtig!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und Tatsache ist aber, dass Sie Ihre Hausaufgaben nicht ge- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) macht haben. Die Steuern sind eben nicht gesenkt, (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben im letzten Jahr 40 000 Insolvenzen erlebt; DIE GRÜNEN) wir haben eine Staatsquote von rund 50 Prozent. Das ist die Lage in Deutschland. Wenn man in einem Land, das sondern durch die Einführung der Ökosteuer noch erhöht eine Staatsquote von 50 Prozent hat, allen Ernstes worden. Die Steuer- und Abgabenlast ist in diesem 16094 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Guido Westerwelle (A) Lande gestiegen. Die Staatsquote bekommen Sie nicht in sozialer Marktwirtschaft und Unternehmensethik nichts (C) den Griff und die Bürokratie wird weiter ausgebaut. zu tun. Wenn Sie weiterhin so schlechte Rahmenbedingun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen für Investitionen in Deutschland schaffen und zulas- DIE GRÜNEN) sen, dann tragen Sie die Verantwortung dafür, dass in Deutschland die Arbeitslosigkeit nicht richtig bekämpft Da geht es um den Vorteil weniger und um Lasten für werden kann. Herr Müntefering, Sie mögen mit dieser viele. Das ist marktradikal und asozial. Rede Stimmungen schaffen wollen; Sie mögen mit die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ser Rede den Arbeitsplatz von Herrn Steinbrück retten DIE GRÜNEN) wollen. Das lässt uns Sozialdemokraten nicht kalt. Darüber (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das ist aber habe ich gesprochen und festgestellt: Die meisten Unter- nach hinten losgegangen!) nehmen in Deutschland wissen, sie sind ihrem Unterneh- Aber Sie riskieren mit einer solchen Geisteshaltung den men, ihren Arbeitnehmern und dem Standort verpflich- Arbeitsplatz von vielen Tausend Menschen. tet. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Sie haben unsere Unterstützung. Kein Unternehmer, der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: so denkt und handelt, stößt mit seinen Sorgen bei uns auf Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende der SPD, taube Ohren. Franz Müntefering. Aber die oben beschriebenen Wahrheiten gibt es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch. Diese Missstände nehmen zu, bei uns und interna- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tional. Das darf man nicht verschweigen und das darf man nicht billigend in Kauf nehmen – im Interesse der Franz Müntefering (SPD): Arbeitnehmer, des sozialen Friedens und der Demokra- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tie. Wir wollen soziale Marktwirtschaft in Deutschland. Ich lasse alle absichtlichen Missverständnisse und klein- karierten Unterstellungen beiseite und spreche zur Sa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ che. DIE GRÜNEN) Kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland ha- Soziale Marktwirtschaft – das ist wichtig – ist voll (B) ben erhebliche Probleme, von ihren Banken und Spar- wettbewerbsfähig in der Konkurrenz zum Marktradika- (D) kassen Kredite für ihre Investitionen zu bekommen. lismus. Der Wohlstand in Deutschland in den vergange- Deshalb expandieren sie nicht, deshalb schrumpfen sie. nen Jahrzehnten hat sich auf der Grundlage von sozialer Arbeitnehmer werden entlassen und durch ausländische Marktwirtschaft entwickelt und nicht durch Marktradi- Scheinselbstständige ersetzt, die für den halben Lohn ar- kalismus und nicht durch Kapitalismus pur. beiten müssen. Unternehmen siedeln wegen weniger (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Prozente mehr Gewinn ins Ausland um und lassen ihre des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Arbeitnehmer mit ihren Familien im Stich. Rund 15 Pro- zent unseres Bruttoinlandsprodukts werden illegal und in Im Gegenteil: Wo totale Ökonomisierung das Handeln Schwarzarbeit erwirtschaftet. Das sind 250 bis 350 Mil- bestimmt, hat der soziale Auftrag der Politik keine liarden Euro pro Jahr. Chancen mehr. Wirtschaft ist aber für die Menschen da und nicht umgekehrt. ( [CDU/CSU]: Sie sind doch verantwortlich!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die ehrlichen Unternehmen sind die Dummen. (Zuruf von der CDU/CSU: Wer regiert denn?) Das leitet sich im Übrigen nicht nur aus unserem Pro- gramm, sondern auch aus unserem Grundgesetz ab. Kleinen Unternehmen werden ihre Innovationen abge- Art. 20, ein Artikel, der nicht – auch nicht mit Zweidrit- rungen und zur Produktion ins Ausland verkauft. telmehrheit – verändert werden kann, lautet: (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Durch Ihre Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokrati- Politik!) scher und sozialer Bundesstaat. Eine große deutsche Bank hat eine Eigenkapitalren- Art. 14 bestimmt: dite von 16,7 Prozent vor Steuern. Sie verkündet exorbi- tante Gewinne, fordert 25 Prozent Kapitalrendite und Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich kündigt an, dass 6 000 Menschen entlassen werden. Ma- dem Wohle der Allgemeinheit dienen. nagergehälter steigen ins Unermessliche und werden ge- So wie Deutschland wollen wir auch Europa: demokra- heim gehalten. Großes Geld mit kurzfristigem Profitinte- tisch und sozial. resse kauft sich hier ein und beutet Unternehmen in knappen Zyklen aus. Siemens-Nixdorf, Klöckner und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Duales System darf man wohl nennen. Das alles hat mit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16095

Franz Müntefering (A) Wenn die Menschen das Vertrauen in die Politik, in den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Staat und darin verlieren, dass diese Maximen des Das Wort hat die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/ Grundgesetzes Messlatte für das Handeln bleiben, sieht CSU-Fraktion. es für die Reputation der Demokratie schlecht aus. Die Staatsquote ist auf 47,5 Prozent gesunken. – Sie Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): sollten sich das noch einmal ansehen; denn so gehen Sie Liebe Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und mit Zahlen um –: Nicht 50 Prozent, sondern 47,5 Pro- Herren! Lieber Herr Müntefering, wenn man Sie so re- zent ist richtig. Das ist ein kleiner, aber feiner Unter- den hört, hat man fast das Gefühl, dass wir regieren und schied. – Wir haben die Körperschaftsteuer von 40 auf Sie in der Opposition sind. 25 Prozent gesenkt. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Darauf be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten reit er sich vor! Genauso ist es!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sie sind doch für die Politik in diesem Land verantwort- Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Jetzt wol- lich. Sie haben doch alle Möglichkeiten, die soziale len Sie auf Pump weiter senken!) Marktwirtschaft so zu gestalten, wie Sie sie hier vorge- stellt haben. Anstelle dessen bringen Sie Jahrhunderte Wir senken diesen Satz weiter auf 19 Prozent. Wir haben nach Marx die Einkommensteuer in der Spitze von 53 auf 42 Pro- zent gesenkt. (Jörg Tauss [SPD]: Jahrhunderte? Gnädige Frau, in welchem Alter sind Sie?) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Und die Arbeitslosigkeit erhöht!) Klassenkampfparolen. Das ist ein plumpes, durchschau- bares Wahlkampfmanöver, um in Nordrhein-Westfalen Wir haben die Dynamik der Lohnnebenkosten gebrochen wieder an die Regierung zu kommen. und die Lohnnebenkosten leicht gesenkt. Sie versuchen, mit pauschalen, ideologischen An- Das alles war richtig. Dazu stehen wir; denn wir wol- schlägen auf die Wirtschaft von der Realität in diesem len, dass deutsche Unternehmen wettbewerbsfähig sind. Land abzulenken. Aber es muss nun auch gut sein mit dem Lamento be- stimmter Wirtschaftsfunktionäre, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben in diesem Land über 5 Millionen Menschen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) ohne Arbeit, davon mehr als 1 Million allein in Nord- (D) die die Politik für alles verantwortlich machen und selbst rhein-Westfalen. mit der Macht des Geldes winken, wenn sie die Qualität (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist das des Wirtschaftsstandortes herunterreden. Es reicht. Ergebnis sozialdemokratischer Politik!) Ich sage den anständigen Unternehmen in Deutsch- Ich glaube, diese Realität spricht für sich und zeigt ganz land – das sind die meisten –: Wir sind unverändert zu genau, auf welcher Seite in diesem Hause das Versagen zielführender Zusammenarbeit liegt. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Was ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- denn Ihre Politik?) neten der FDP) zum Nutzen der Unternehmen und zum Nutzen der Men- Die Menschen haben Sorgen. Die Menschen haben schen in unserem Land bereit. Den anderen sage ich: Wir Angst um ihren Arbeitsplatz. Die Menschen haben lassen den Sozialstaat nicht schleifen und die soziale Angst, keinen Arbeitsplatz mehr zu bekommen. Sie er- Marktwirtschaft nicht amputieren. Wir lassen das Ver- warten zu Recht unseren Beistand und nicht irgendeine trauen in die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie Illusion oder Propaganda, hinter der außer leeren Wort- nicht ramponieren. hülsen nichts steckt, hinter der keine politische Alterna- tive steht, die aufzeigt, wie ihnen geholfen werden soll. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: Dann mal konkret!) Diese Debatte ist fällig. Bei dieser Debatte darf es Wir alle wissen: Deutschland ist nun einmal Teil eines nicht bleiben. Wer dieses Land erneuern und zusammen- größer gewordenen Wirtschaftsraums geworden. Wir halten will, wer Wohlstand und soziale Gerechtigkeit wissen: Der Wettbewerb ist stärker geworden. Wir wis- dauerhaft will – wir wollen das –, wird diese Baustelle sen aber auch, dass Deutschland beim Wachstum unter nicht liegen lassen dürfen. den 25 Mitgliedstaaten der EU an 25. Stelle steht, dass wir Letzter sind. Die Ursache dafür ist nicht irgendein Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Marktversagen, wie Sie es den Menschen glauben ma- chen wollen. Die Ursache ist ein Staatsversagen. Wer re- (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall giert denn in diesem Land? Das sind Rot und Grün und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht wir von der Union. 16096 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dagmar Wöhrl (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lässt sich der Kanzler, wie in Davos, vom internationalen (C) neten der FDP – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ Kapital ganz groß als der große Reformer feiern, als Ge- CSU]: Das ist das Problem!) nosse der Bosse. Ich wundere mich schon, warum andere Staaten, die un- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Waffen- sere Mitbewerber sind, im internationalen Vergleich vor embargo!) uns sind, obwohl sie die gleichen weltwirtschaftlichen Sie, lieber Herr Müntefering, haben den anderen Part der Rahmenbedingungen haben wie wir. Das ist doch keine Arbeitsteilung. Sie sind der Genosse der Genossen, Sie Laune des Schicksals. Das ist doch reine hausgemachte beschimpfen auf der anderen Seite das internationale Politik, die Sie in diesem Hause vertreten und praktizie- Kapital, das den Kanzler wiederum lobt. ren. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kapital ist GRÜNEN]: Zu Recht!) mobiler geworden, das wissen wir. Mit solchen Propa- gandaallüren, wie Sie sie hier anbringen, wird das Kapi- Da frage ich mich schon, was sich Ihre Kollegin Ute tal Deutschland meiden. Es werden keine Investitionen Vogt dabei gedacht hat, hier zum Boykott aufzurufen. hier getätigt werden. Vertrauen ist ein ganz, ganz wichti- Das könnte für viele kleine Betriebe, die wirklich ums ger Wachstumsfaktor. Das heißt, wenn die Menschen nackte Überleben kämpfen, in der Zukunft den Todes- kein Vertrauen mehr haben, werden sie nicht mehr kon- stoß bedeuten, sodass sie dann in Insolvenz gehen und sumieren. Wenn die Unternehmer kein Vertrauen mehr auch die letzten Arbeitsplätze hier vernichtet werden. haben, werden sie nicht mehr investieren. Bei 5 Millio- Ich wundere mich auch, wie Sie mit der „Frankfurter nen Menschen ohne Arbeit brauchen wir drei Dinge: ers- Rundschau“, an der Sie beteiligt sind, hier umgehen. tens Jobs, zweitens Jobs und drittens Jobs. Wir brauchen Hunderte von Arbeitsplätzen sollen bei dieser Zeitung nicht irgendwelche Klassenkampfparolen, die ökonomi- abgebaut werden. Sie machen momentan einen Aufruf scher Unfug hoch drei sind. an Ihre Mitglieder, die „Frankfurter Rundschau“ zu abo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nieren. Da frage ich mich schon: Abonieren oder boy- kottieren? Sie müssen sich in Zukunft schon entschei- Wir brauchen Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen. den, was Sie wollen. Es sind immer noch die Unternehmer, die hier die Ar- beitsplätze schaffen. Sie wissen ganz genau, dass nur rentable Unternehmen, die Gewinn oder eine Hoffnung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: auf Gewinn haben, Arbeitsplätze schaffen. Deswegen ist Frau Kollegin, in der Aktuellen Stunde haben Sie fünf Minuten Redezeit; diese haben Sie überschritten. (B) eine pauschale Gewinnverteufelung der vollkommen fal- (D) sche Weg. Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): (Joachim Poß [SPD]: Das haben wir nicht ge- Wenn der Minister sagt, man dürfe die Welt nicht dem macht! Sie können ja nicht mal zuhören!) Geld überlassen, dann, glaube ich, kann man nur eines Ich gebe ja zu, es darf auch bei Unternehmern keine sagen: Man darf Nordrhein-Westfalen nicht der SPD Immunität gegen Kritik geben. Ich gebe auch zu, dass überlassen. Das wäre wirklich der Königsweg in das ver- nicht alle Unternehmensentscheidungen richtig sind. gangene Jahrhundert. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank. NEN]: Das ist der Punkt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich gebe auch zu, dass viele Managerentscheidungen, gerade in der letzten Zeit, auch Arbeitsplätze gekostet Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: haben. Das Wort hat der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/ Die Grünen. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das muss man nicht sagen, oder wie? Darf man das sagen?) Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Man muss aber auch ganz ehrlich sagen, dass viele Tau- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau sende kleine und mittlere Betriebe eine ganz große so- Wöhrl, Herr Westerwelle, Sie machen es sich zu leicht, ziale Verantwortung ihren Mitarbeitern gegenüber ha- wenn Sie die Kapitalismuskritik von Franz Müntefering ben. Gott sei Dank wissen das deren Mitarbeiter auch hier als Propaganda, als Wahlkampf, als Klassenkampf und lassen sich nicht von solchen Parolen, wie Sie sie abtun. Ich finde, diese Kritik ist berechtigt und sie ist hier von sich geben, ins Bockshorn jagen. überfällig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sie zeigen hier eine unwahrscheinliche Orientie- rungslosigkeit, Sie zeigen hier eine unwahrscheinliche Möglicherweise – das sieht man daran – bedarf es herz- Unglaubwürdigkeit. Man weiß überhaupt nicht mehr, wo hafter und drastischer Worte, um einen nötigen Diskurs Ihre Wirtschaftspolitik überhaupt hingeht. Welchen Weg vom Zaum zu brechen. Übrigens ist Franz Müntefering haben Sie überhaupt eingeschlagen? Auf der einen Seite nicht gerade der erste und einzige Kapitalismuskritiker Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16097

Werner Schulz (Berlin) (A) im 21. Jahrhundert. Ich erinnere Sie nur an Ihre Lobprei- weil die Subventionen ausgelaufen sind oder auslaufen (C) sungen für den verstorbenen, hoch verehrten Papst werden. Johannes Paul II. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind aber zwei und bei der SPD – Zuruf des Abg. Welten, der Kapitalismus und der Papst!) Dr. [FDP]) Er hat sich sehr wohl für den Ordnungsrahmen der Frei- – Das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts mehr zu heit eingesetzt. Er hat, wie wir wissen, auch einiges da- tun, Herr Gerhardt. Ich weiß, dass Ihr Neoliberalismus für getan. Er hat die Chancen der Globalisierung ge- ohnehin nur darauf hinausläuft, sich von der Sozialbin- schätzt, er hat die freie Marktwirtschaft und den freien dung zu lösen, die die soziale Marktwirtschaft eigentlich Welthandel geschätzt, aber er hat in seiner Enzyklika hat. Centesimus Annus beispielsweise auch darauf verwie- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Da gab es vor- sen, dass der Profit nicht das einzige Kriterium für den her einen Staat, der sie ruiniert hat!) wirtschaftlichen Erfolg sein kann, sondern dass es im- merhin um die Menschen in den Unternehmen geht, Das ist der Neoliberalismus, den Sie predigen. ohne die nichts läuft. Die großartigen Debattenredner zum Thema Patriotis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mus hätten in den 90er-Jahren die Chance gehabt, ihren und bei der SPD) Patriotismus zu beweisen. Was aber haben Sie gemacht? Sie haben die deutsche Einheit über Schulden und Lohn- Wenn man die nicht anständig behandelt, dann werden nebenkosten finanziert. die Leistungsfähigkeit und der wirtschaftliche Erfolg in- frage gestellt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Oder lesen Sie die Philippika von Heiner Geisler im November vergangenen Jahres in der „Zeit“, Auch das sind doch belastende Faktoren, wegen denen wir nicht weiterkommen. (Jörg Tauss [SPD]: Sozialismus!) Damals hätten Sie dem nationalen Kapital an den pa- in der er sich darüber beklagt, dass die Globalisierung triotischen Kragen gehen können. Der Erfinder der so- nicht human gestaltet wird, zialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhardt, hat das mit ei- (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das geht nun wirk- ner Investitionsanleihe gemacht. Das ist insofern nichts lich zu weit!) Neues. Sie aber haben das versäumt. Sie haben uns (B) Schulden und unendliche Lohnnebenkosten hinterlassen. (D) und darauf hinweist, dass anonyme Finanzmärkte in ih- In diesem Zusammenhang sind einige Fragen erlaubt. rer endlosen Gier nach Geld ihre eigenen Hirne zerfres- Was ist das für eine Wirtschaft, die schon seit Jahren sen. nicht in der Lage ist, genügend Ausbildungsplätze für ih- (Jörg Tauss [SPD]: Er wird ausgeschlossen!) ren eigenen Nachwuchs zur Verfügung zu stellen? Sinngemäß hat er geschrieben, dass nur Dummköpfe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Besserwisser den Leuten einreden könnten, dass und bei der SPD) man Solidarität und Partnerschaft aufgeben könne, ohne Was ist das für eine Wirtschaft, die uns seit Jahren Mil- dafür in der Demokratie einen politischen Preis zahlen lionen Arbeitslose überlässt und die Kosten auf die Ge- zu müssen. Nichts anderes hat Franz Müntefering ge- sellschaft abwälzt? sagt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Was ist das für eine Wirtschaft, die sich gegen Mindest- Daniela Dahn zum Beispiel – Mitbegründerin des De- löhne sträubt, aber grenzenlose Einkommen im Manage- mokratischen Aufbruchs, dem auch Frau Merkel ent- ment zulässt? stammt und in dem sie ihre ersten politischen Schritte gemacht hat – schreibt, sie wollte immer in der Demo- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kratie leben, aber nie im Kapitalismus. Es ist doch inte- Was ist das für eine Wirtschaft, die sämtliche Insolven- ressant, dass viele in Ostdeutschland den Begriff Man- zen, Schwächen, Fehler und selbst das schwache Wachs- chester-Kapitalismus aus den verstaubten Annalen eines tum der Politik anlastet, ohne die Fehler auch bei sich Trierer Bürgersohns erst in den 90er-Jahren wiederent- selbst zu suchen? deckt haben. Bis dahin haben sie diesen Lektionen in Marxismus gar nicht geglaubt. Sie haben erst in den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 90er-Jahren wieder Akzeptanz gefunden. und bei der SPD – Dagmar Wöhrl [CDU/ CSU]: Der Wahlkampf lässt grüßen!) Wenn Sie schon danach fragen: Es ist vielleicht nicht mit biblischen Landplagen zu vergleichen, aber Sie fin- Ich will es mir aber nicht zu einfach machen. Denn den im Osten ganze Landstriche, die deindustrialisiert Ihre Kritik, Kollege Müntefering, richtet auch einige worden sind, und Sie können dort erleben, wie die Kara- Fragen an uns, die wir in der Regierungsverantwortung wane der Schnäppchenjäger jetzt gen Osten weiterzieht, und – wie ich hoffe – auch an der Macht sind. 16098 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Werner Schulz (Berlin) (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – In dieser Situation fällt Ihnen nichts anderes als Vehi- (C) Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Jetzt hat er kel ein, als noch kurz vor bzw. nach zwölf mit einfachen den Faden gefunden!) Antworten eine Stimmungswende in Nordrhein-Westfa- len herbeizuführen. Das macht Ihren ganzen Ansatz sehr – Sie sehen, dass meine Rede sehr ausgewogen ist; das unglaubwürdig. sollte Sie freuen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Er hat zwar einen Kern, über den man reden kann. Aber Ich meine, wir müssen die Frage stellen, warum wir in diesen Zusammenhang gestellt, ist er nichts anderes das Prinzip „Fördern und Fordern“ bisher nur auf die Ar- als Wahlkampfgetöse. Sie versprechen den Leuten kurz beitnehmerseite bezogen haben, statt auch die Arbeitge- vor der Wahl eine einfache Lösung, obwohl Sie keine berseite mit einzubeziehen. Zeit mehr haben, Ihren Ansatz anzuwenden. Sie werden (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ihn auch nachher nicht mehr aufgreifen; denn Sie haben wie bisher keine wirksamen Lösungsansätze für das, was Wir müssen auch fragen, warum die Arbeitgeber nicht Sie kritisieren, aufgezeigt. am Jobgipfel beteiligt waren, obwohl sie eigentlich die wichtigsten Partner sind, die das erreichen könnten, was (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) notwendig ist. Bisher war es das Privileg von NPD und PDS, in Wir müssen des Weiteren fragen, ob die Senkung der schwierigen Verhältnissen die Leute mit einfachen Ant- Unternehmensteuer wirklich etwas bringt, wenn die bis- worten in die Irre zu führen. herigen Steuersenkungen nichts gebracht haben – (Widerspruch bei der SPD) (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele In Ihrer Not machen Sie nun etwas Ähnliches, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Uwe Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Küster [SPD]: Das ist schauerlich!) Herr Kollege, auch Sie muss ich mahnen, zum Ende und das zu einem Zeitpunkt, zu dem sich der Bundes- zu kommen. kanzler noch immer als Genosse der Bosse feiern lässt. Das ist Ihre Zweipoligkeit: Müntefering für das sozialis- Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tische Herz und das Träumen, Gerhard Schröder für die NEN): großen Unternehmen in diesem Land. Entschuldigung, (B) – und viele die doppelte Buchführung beherrschen, aber war die Telekom unter Herrn Sommer elegant ge- (D) indem sie die Gewinne gegenüber den Aktionären und führt? Damals hatte der Staat allen Einfluss. War Herr die Verluste gegenüber dem Finanzamt und damit dem Eichel der Heuschreckenvertreter oder wer sonst ist für Staat ausweisen. Auch diese Fragen müssen wir klären. die dortige Fehlentwicklung verantwortlich? Wer hat 30 000 Leute in die Arbeitslosigkeit geschickt: eine Ich halte insofern die Diskussion für überfällig. Wir Heuschrecke oder der Finanzminister dieses Landes? Sie sollten es uns nicht so leicht machen, wie Sie das Thema sollten sich einmal vergewissern, was Sie selber ange- abtun. richtet haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und bei der SPD) Herr Kollege Müntefering, der Bund selber entlässt jedes Jahr – wir halten das für richtig – 4 500 Bediens- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tete in die Arbeitslosigkeit oder baut sie ab. Ist dafür eine Das Wort hat der Kollege Hartmut Schauerte, CDU/ Heuschrecke verantwortlich oder ist das notwendig? CSU-Fraktion. (Zuruf von der SPD: Schwachsinn!) Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Mit Ihren einfachen Thesen können Sie die Menschen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und zwar zunächst verwirren und einen Vorteil daraus zie- Herren! Bei jeder Fragestellung ist wichtig, zu berück- hen. sichtigen, zu welchem Zeitpunkt oder aufgrund welcher Motivation sie ins Licht gerückt wird. (Franz Müntefering [SPD]: Sie kann man nicht mehr verwirren!) (Jörg Tauss [SPD]: Gut beobachtet!) Aber Sie verschärfen damit das Problem. Die Antwort Das ist hier der entscheidende Punkt. Wir haben seit auf die Fragen, die Sie stellen, ist eine Modernisierung, sechseinhalb Jahren eine rot-grüne Regierung. Es gibt eine Reform unserer sozialen Marktwirtschaft. Es gibt 5,2 Millionen Arbeitslose und 40 000 Pleiten. Ihr Politik- keinen anderen intelligenten Weg. Aber Sie erwecken ansatz greift offenkundig nicht, wenn es um neue Per- den Eindruck, dass es eine Alternative gibt. Natürlich spektiven, mehr Wachstum und die Befriedung unserer greifen wir – zumindest genauso ernsthaft wie Sie – an, Verhältnisse geht. Außerdem gibt es bald Wahlen in Ih- wenn Unternehmer verantwortungslos handeln. Hier las- rer Hochburg, Herr Müntefering, besser: in Ihrer gewe- sen wir uns von Ihnen schon lange nicht mehr überbie- senen Hochburg. ten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16099

Hartmut Schauerte (A) (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) NEN – Werner Schulz [Berlin] [BÜND- Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kom- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur zu! Dieser Teil men. fehlt noch!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Er ist doch fertig! Aber wir müssen schauen, was wir in der Politik tun Schauerte hat fertig!) können, welches unsere Aufgabe ist. Da Sie Ihren eigenen Politikladen nicht in Ordnung Hartmut Schauerte (CDU/CSU): bringen können, lenken Sie nun die Scheinwerfer auf – sehr provinziell verhalten. Ich hätte das nicht für Felder, auf denen einiges verändert und kritisiert werden möglich gehalten. kann und muss, was sich nicht gehört. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Peter Dreßen [SPD]: Zum Beispiel? Was denn?) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aber hier sind Sie genauso dabei wie der Rest der Repu- Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär blik. Sie haben es bisher zugelassen. Mit wem verreist Gerd Andres. der Bundeskanzler eigentlich permanent nach Indien, China und Abu Dhabi? Sie haben einen ersten Ballon Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- steigen lassen, als Sie von „vaterlandslosen Gesellen“ minister für Wirtschaft und Arbeit: sprachen. Das hat nun eine zweite Stufe erfahren. Sind Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und das eigentlich Reisegruppen von vaterlandslosen Gesel- Herren! len, an deren Spitze der Bundeskanzler als Reiseleiter steht? Nein, es ist komplizierter. Man muss schon genau Deutschland braucht Wachstum. Das ist der erste hinschauen. Leitsatz, wenn wir über Wohlstand für alle sprechen wollen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Man muss das eine tun und darf das andere nicht las- Deutschlands muss erstklassig sein, im Lande sen. Man muss die Wirtschaft und die Globalisierung selbst und im internationalen Vergleich. Das erfor- fördern sowie die daraus resultierenden Chancen nutzen dert Wettbewerbsfähigkeit, hohe Produkt- und und die Risiken minimieren. Das ist aber mit Ihren plat- Dienstleistungsqualität, exzellentes Wissen zu kon- ten Antworten, die Sie in der Hoffnung geben, dass sie kurrenzfähigen Kosten. Wir stehen dabei in einem im Wahlkampf wirken, nicht möglich. Sie richten Scha- harten und mit der Globalisierung weltweiten Wett- den am Standort Deutschland an, indem Sie erstens die bewerb, das gilt für die innerbetrieblichen und für (B) Reformprozesse in der sozialen Marktwirtschaft nicht die gesellschaftlichen und staatlichen Rahmenbe- (D) erfolgreich auf den Punkt bringen und zweitens solche dingungen der Unternehmen. Die Bedingungen von Nebenkriegsschauplätze wie die geschilderten aufma- Wirtschaftspolitik haben sich seit der deutschen chen und damit einige Gutwillige zusätzlich verunsi- Einheit radikal verändert. Der globale Druck hat chern, die bisher ihre Pflichten am Standort Deutschland zugenommen. Gleichzeitig haben sich weitere Fak- getan haben. Das gilt insbesondere für den Mittelstand, toren wie die demographische Entwicklung unserer für den ich hier politisch einstehe. Den Mittelstand ha- Gesellschaft verändert. ben Sie doch im Prinzip allein gelassen. Ich nehme an, das alles sind Sätze, die Sie unter- (Jörg-Otto Spiller [SPD]: Was?) schreiben können und die Sie für richtig halten. Das sind Die Großen sind doch deutlich mehr als die Kleinen ent- Sätze von Franz Müntefering aus einer Grundsatzrede lastet worden. Das eigentliche Herz der Wirtschaft in vom 21. Februar dieses Jahres in der Programmdebatte. Deutschland, den Mittelstand, lassen Sie allein. Jetzt hel- (Beifall des Abg. [SPD]) fen Sie dieser Abteilung unserer Volkswirtschaft wieder nicht, sondern beschimpfen sie. Das ist keine Zielfüh- In der gleichen Rede kommt folgende Formulierung rung, sondern die panische Reaktion einer großen Partei, vor: die dabei ist, ihre letzte Bastion zu verlieren. Die SPD will, dass Unternehmen erfolgreich sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Gewinne machen, denn das ist die Vorausset- zung für Arbeit und Wohlstand. Und dass sie wach- Das ist eine Notmaßnahme. Diese Maßnahme schafft sen. Deutschland braucht Wachstum, wenn Wohl- aber kein Vertrauen in die Zukunft. Es ist schade, dass stand bleiben soll. Wachstumsskeptizismus ist sich die große SPD zu diesen einfachen Antworten hin- schädlich, Wachstumsgestaltung ist möglich und reißen lässt. sinnvoll.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Gilt das Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. noch? – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Was gilt hier eigentlich?) Hartmut Schauerte (CDU/CSU): In seiner Rede in der vergangenen Woche sagte er: Dieser Weg wird wohl in die Irre führen. Wir wollen soziale Marktwirtschaft und nicht Herr Müntefering, Sie haben sich heute – Marktwirtschaft pur. 16100 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gehen, weil man nicht das notwendige qualifizierte Per- (C) DIE GRÜNEN) sonal findet. Worüber reden wir hier eigentlich? Worüber regen Sie Solche Tatbestände müssen öffentlich diskutiert wer- sich so auf? Franz Müntefering hat einen wichtigen An- den. stoß gegeben, um sich mit grundlegenden Fragestellun- gen, die das Zusammenspiel von Staat und Markt sowie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von Demokratie und Wettbewerb betreffen, auseinander DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/ zu setzen. CSU]: Ja, klar!) (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Andres Da hilft nicht das, was Sie erzählen. Wir müssen darüber liest Müntefering!) reden, welche ethische Verantwortung es eigentlich für Dieser Anstoß ist wichtig, um unsere Aufmerksamkeit unternehmerisches Handeln und für Wirtschaften insge- auf mögliche Fehlentwicklungen, auf Ansätze zu not- samt gibt. Herr Westerwelle, es tut mir sehr Leid, sagen wendigem politischem Handeln zu richten. zu müssen: Sie haben Ihre ethische Verantwortung für das Wirtschaften seit den Zeiten von Karl-Hermann Um die Dinge auf den Punkt zu bringen – damit sie Flach abgegeben. jeder versteht –: In einer Demokratie ist es wichtig, auf Gefahren und Probleme für unser Miteinander deutlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und nachhaltig hinzuweisen, damit darüber diskutiert DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: werden kann. Damit klar ist, worüber wir reden, sage ich Das ist ein unglaublicher Vorwurf!) Ihnen, auch im Namen der Bundesregierung, ganz deut- lich: Alle von Franz Müntefering aufgezählten Punkte Sie treten für einen nackten Kapitalismus, für einen Ka- kann ich nur unterstützen. pitalismus pur und nichts anderes ein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Heute Morgen ist hier über die Koalitionsvereinba- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hartmut rung diskutiert worden. Ein großes Problem ist Nachhal- Schauerte [CDU/CSU]: Das wundert mich tigkeit. Wir sind damit konfrontiert, dass der Return on nicht! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie Investment in immer schnelleren Zyklen mit immer hö- sind an der Regierung! Sie müssen Lösungen heren Margen bedingungslos durchgesetzt wird, dass bringen!) Nachhaltigkeit überhaupt keine Rolle mehr spielt und dass auch soziales Handeln gegenüber den Menschen Sie können das doch wahrscheinlich auch tun. keine Rolle mehr spielt. Solche Tatbestände müssen an- (B) (D) Ich weiß nicht, ob Sie Folgendes verstehen können geprangert werden. Verantwortliches politisches Han- – ich verstehe es nicht und viele Menschen in der Bevöl- deln muss dafür sorgen, dass denen, die so agieren, das kerung verstehen es auch nicht –: Manche Unternehmen Handwerk gelegt wird. und manche Banken – ich weise ausdrücklich darauf hin, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass Franz Müntefering von „manchen“ gesprochen hat – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) machen hohe Gewinne. Arbeitnehmer dieser Unterneh- men machen auf breiter Front Lohnzugeständnisse. Es ist die Auffassung der Bundesregierung – das ist Gleichzeitig werden Arbeitsplätze dort abgebaut. Trotz- schon gesagt worden –, dass Franz Müntefering eine dem verlagern diese Unternehmen ihren Sitz ins Ausland wichtige Diskussion angestoßen hat. Es lohnt sich sehr, und die Standorte werden platt gemacht. Es wäre interes- diese Diskussion weiterzuführen. Ich stimme ihm in Fol- sant, wenn Herr Westerwelle dazu etwas sagte. gendem zu: Wir brauchen Arbeitsplätze, die auch unter Ich nenne als Beispiel die Firma Otis in Stadthagen in Wettbewerbsbedingungen bestehen können. Niedersachsen. (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Das hat aber (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lange gedauert, bis die Erkenntnis bei Ihnen gewachsen ist!) Otis ist ein Fahrstuhlproduzent, ein hochmodernes und wettbewerbsfähiges Unternehmen, das Gewinne erzielt. Wer würde das leugnen? Das leugnet auch er nicht; er ist Die Firma wurde von einem amerikanischen Konzern sehr dafür. Die Frage ist aber – dazu würde ich gern et- übernommen, der gesagt hat: Die Gewinnmarge reicht was von Ihnen hören, insbesondere von Herrn uns nicht. Wir machen zu. Westerwelle –: Wo ist da eigentlich die Grenze? Wohin Dann passierte Folgendes: Der niedersächsische Mi- müssen wir? Müssen wir hin zu Löhnen, die bei 1, 2, nisterpräsident pilgerte dahin und redete mit denen. Der 2,5 oder 3 Euro liegen? Was sind die Bedingungen, die konnte so viel reden, wie er wollte; das hat die gar nicht für ethische Verantwortung beim Wirtschaften gesetzt beeindruckt. Der Oppositionsführer ist dahin gefahren. werden? Auch das hat die überhaupt nicht beeindruckt. Die haben Völlig klar ist: Unternehmen müssen Gewinne ma- den Standort zugemacht. 360 Arbeitsplätze wurden ver- chen. nichtet. Man hat den Standort in Tschechien errichtet. In der Zwischenzeit hört man aus dem Unternehmen, dass (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch es offensichtlich eine Fehlentscheidung war, dahin zu bei Ihnen schon bedenklich!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16101

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Das bestreitet niemand; das ist auch Position der Bun- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) desregierung. Aber wo sind die Grenzen? Womit hat Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas man sich gesellschaftlich auseinander zu setzen? Pinkwart, FDP-Fraktion. (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Machen Sie mal einen Vorschlag!) Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Ich bin in dem Zusammenhang inhaltlich sehr bei Herren! Deutschland ist in der längsten Stagnations- Franz Müntefering phase seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Staatsinterven- hat die höchste Staatsverschuldung und die höchste Ar- tionismus pur!) beitslosigkeit. Deutschland ist Schlusslicht in Europa. Da treten Sie, Herr Müntefering, auf den Plan und ma- und dem Diskussionsanstoß, den er geliefert hat. Ich will chen anonyme Mächte in der Wirtschaft für diese tiefe auf Folgendes hinweisen: In internationalen Zusammen- Krise verantwortlich. hängen – ich nenne einmal die ILO – gibt es längst eine Diskussion darüber, ob man Decent Work durchsetzen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Name und muss. Es geht darum, dass es für Arbeit auch einen men- Hausnummer!) schenwürdigen Lohn geben muss. Ich kenne einige, auch Wer ist denn eigentlich gemeint? in Ihren Reihen, die für eine solche Position stehen. Alle diese Fragen sind in einem solchen Zusammenhang zu Der Bundeskanzler hat erst vor wenigen Tagen einen thematisieren. Man muss von einer anständigen Arbeit Innovationsgipfel veranstaltet. Daran haben die größten auch anständig leben können. deutschen Unternehmen teilgenommen: IBM, Thyssen, Bertelsmann und Lufthansa, auch ein Unternehmen, das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie eben genannt haben, Herr Müntefering, nämlich die DIE GRÜNEN) Firma Siemens. Auf Nachfragen von Journalisten, ob Es muss eine gesellschaftliche Verantwortung geben. diese Firmen von Herrn Müntefering gemeint sein könn- Die Politik der hemmungslosen Individualisierung und ten, hat der Bundeskanzler geantwortet, diese seien auf des Marktradikalismus keinen Fall gemeint. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber wer (Hubertus Heil [SPD]: So hat er das sicher macht das denn?) nicht gesagt!) führt dazu – das noch an Herrn Westerwelle –, dass der Dennoch legte Herr Steinbrück gestern nach und sagte, Angriffspunkt sozusagen der Staat insgesamt ist. in der Wirtschaft gebe es viele, die kurzfristig handelten (B) und mit Patriotismus nichts am Hut hätten. Ich frage Sie: (D) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Über wel- Sind etwa die Mittelständler in Deutschland die, die Sie ches Land reden Sie?) meinen, die diese Mächte entfalten? Da diskutiert man letztlich über die Beseitigung des (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Staates. Da geht es um eine grenzenlose Entstaatlichung. NEN]: Quatsch! – Peter Dreßen [SPD]: Blei- Das werden wir nicht mitmachen. ben Sie bei der Wahrheit! – Weiterer Zuruf von (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartmut der SPD: Sie haben gar nichts verstanden!) Schauerte [CDU/CSU]: Über welches Land Denn sie waren zum Innovationsgipfel des Bundeskanz- reden Sie?) lers erst gar nicht eingeladen worden, obwohl sie die Eine Diskussion über all das ist in diesem Land längst meisten Arbeits- und Ausbildungsplätze in diesem Land überfällig. Wir fürchten sie nicht. stellen. (Lachen des Abg. Dr. Andreas Pinkwart (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten [FDP]) der CDU/CSU) Wir fürchten auch nicht manch dumme Schlagzeile und Wenn es die Mächte gäbe, gegen die sich eine funk- manch dumme Position, die da vertreten wird. Wir ver- tionierende soziale Marktwirtschaft nicht wehren kann, suchen, diesen Staat, diese Gesellschaft mit der wie Herr Müntefering es vorgibt, müssten auch in den Agenda 2010, mit dem 20-Punkte-Programm zu moder- anderen europäischen Ländern wirtschaftlicher Nieder- nisieren. Sie können tatkräftig mithelfen. Geben Sie Ihre gang und Massenarbeitslosigkeit vorherrschen. Das Ge- Verweigerungsposition und -politik auf! Helfen Sie mit, genteil ist der Fall: Die Weltwirtschaft – das weiß auch dieses Land zu modernisieren! Helfen Sie mit, hier Ar- Staatssekretär Andres – ist im vergangenen Jahr so stark beitsplätze zu schaffen! gewachsen wie seit 30 Jahren nicht mehr. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Seit wann ha- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: ben Sie Arbeitsplätze geschaffen?) Weiß er das?) Das ist vernünftiger, als eine solche Scheindebatte zu Deutschland aber ist bei Wachstum und Beschäftigung führen, wie sie von der FDP beantragt wurde. das Schlusslicht in Europa. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wie sieht es nun innerhalb Deutschlands aus? Wie DIE GRÜNEN) sieht es mit der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland 16102 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Andreas Pinkwart (A) aus? Schauen Sie sich einmal die Bundesländer an! Da land in der Bundesrepublik Deutschland, in dem der Zu- (C) haben wir auf der einen Seite das seit Jahren von der sammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungs- FDP gemeinsam mit der CDU regierte Baden-Württem- abschluss so stark ist wie in Nordrhein-Westfalen. berg (Zurufe von der SPD: Bayern!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: – Es war Ihre Landesregierung, die diese Antwort gege- Döring! Döring!) ben hat. und auf der anderen Seite das seit 39 Jahren von der SPD (Zuruf von der SPD: Das ist eine Lüge! Lä- – zehn Jahre davon gemeinsam mit den Grünen – re- cherlich! – Peter Dreßen [SPD]: Sie sagen be- gierte Nordrhein-Westfalen. Wenn wir einmal diese bei- wusst die Unwahrheit!) den Bundesländer, Deswegen sagen wir ganz klar: Dort, wo Sie Verantwor- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Döring!) tung hatten, hätten Sie durch eine bessere Bildungspoli- die die gleichen bundes- und europapolitischen Rahmen- tik die Voraussetzung dafür schaffen können, dass die bedingungen haben und die es mit ähnlichen Unterneh- Menschen nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen wer- men zu tun haben, gegenüberstellen, stellen wir fest: In den, sondern auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen be- Nordrhein-Westfalen ist die Arbeitslosigkeit um kommen. Diese Verantwortung haben Sie nicht wahrge- 70 Prozent höher als in Baden-Württemberg und die In- nommen. solvenzquote ist in Nordrhein-Westfalen doppelt so (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hoch. Deswegen sagen wir den Menschen im Lande: Wir brau- (Dr. Rainer Wend [SPD]: Nicht weinen!) chen eine bessere Bildungspolitik, Damit wird deutlich: Die für die Krise in unserem Land ( [SPD]: Sie brauchen eine Verantwortlichen bleiben nicht anonym. bessere!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Jawohl, wir brauchen eine bessere Wirtschaftspolitik. Denn nur Herr Döring!) eine gute Wirtschaftspolitik und eine gute Bildungspoli- Sie haben ein Gesicht. Sie haben auch eine Farbe: Die tik bilden die Grundlage für eine Sozialpolitik, die den für die Krise und für die Arbeitslosigkeit Verantwortli- Menschen in unserem Land eine Perspektive bietet. Das chen haben sowohl im Bund wie auch in Nordrhein- ist unsere Alternative zu Ihrer Krisenpolitik. Westfalen die Farbe Rot-Grün. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: (D) Möllemann!) Bei Ihrer Kapitalismuskampagne geht es um nichts weiter Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Florian Pronold [SPD]: Wir machen keine Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel, Kampagne!) Bündnis 90/Die Grünen. als um eine Verschwörungstheorie, die den einzigen Zweck hat, über die wahre Verantwortung, die bei Ihnen Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): liegt, hinwegzutäuschen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon eigenartig: Da wirft die FDP Herrn (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!) Müntefering vor, Wahlkampfrhetorik zu betreiben, Sie Das ist zynisch, das ist populistisch und das ist verant- aber, Herr Pinkwart – bei Herrn Westerwelle war es ge- wortungslos. nauso –, stellen sich hin (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Und benenne die Fakten!) Statt den Menschen durch eine moderne Wirtschafts- politik, durch beste Bildung und Innovation den Rücken und machen nichts anderes, als NRW-Wahlkampfreden zu stärken, ihnen Mut zu machen und ihre Chancen auf zu halten. den globalisierten Märkten zu erhöhen, fördern Sie mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihrer Kampagne Ängste, die erst durch Ihre verfehlte Po- sowie bei Abgeordneten der SPD – litik ausgelöst worden sind. Das ist die Wahrheit über Ihr Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Dass Ihnen die Vorgehen. Fakten nicht gefallen, kann ich verstehen! Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hätten ja eine bessere Politik machen können!) der CDU/CSU) Es ist richtig: Franz Müntefering hat mit seiner Wort- Da der Herr Staatssekretär eben über niedrig bezahlte wahl sicherlich provoziert. Aber die Debatte ist wichtig Berufe gesprochen hat, möchte ich auf einen bemerkens- und auch richtig. Äußerungen, die heute vonseiten der werten Zusammenhang hinweisen. Auf entsprechende CDU/CSU gemacht worden sind, haben ja gezeigt, dass Nachfrage der FDP-Landtagsfraktion in Düsseldorf gab es viele Schwierigkeiten gibt, über die wir miteinander die Landesregierung zur Antwort: Es gibt kein Bundes- reden müssen. Es muss deutlich werden, welche Verant- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16103

Christine Scheel (A) wortlichkeiten es aufseiten der Wirtschaft und welche der Eindruck, den viele Menschen haben, dass manche (C) aufseiten der Bürger und Bürgerinnen in einer komple- Unternehmen und auch manche Wirtschaftsverbände in xen Welt gibt. Natürlich sollen Unternehmer und Unter- unserer Republik die derzeit äußerst schwierige wirt- nehmerinnen Geld verdienen. Natürlich dient das den schaftliche Situation weit über das rationale Maß hinaus Arbeitsplätzen. Es ist doch klar, dass wir uns freuen, ausnutzen, ist richtig. wenn ausländische Investoren ihr Geld nach Deutsch- land bringen. Selbstverständlich brauchen wir in einer Insbesondere die Union, aber auch die FDP tun sich global ausgerichteten Wirtschaft auch vernünftige Rah- immer wieder hervor, indem sie unser Land schlechter menbedingungen, die sowohl für kleine und mittlere Un- reden, als es ist. ternehmen als auch für große Konzerne gelten, damit (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist doch un- Arbeitsplätze erhalten und auch geschaffen werden kön- glaublich! Ich habe eben Baden-Württemberg nen. Man muss ganz klar sagen, dass die allermeisten gelobt! Tolles Bundesland!) Betriebe, die wir in Deutschland haben, ihrer Verantwor- tung gerecht werden. Sie können ruhig Gewinnabsichten Es gibt unbestritten Schwierigkeiten; das haben wir hier haben und gute Renditen erzielen. Wenn sie aber Ge- schon oft gesagt und darauf haben wir immer wieder winne erzielen, müssen sie auch ihrer sozialen Verant- hingewiesen. Aber dieses permanente Schlechtreden, wortung gerecht werden. Die allermeisten tun das; darü- das übertriebene Schüren von Krisenstimmungen – das ber sind wir sehr froh. haben Sie heute wieder getan – ist unverantwortlich und schadet unserem Standort, der Wirtschaft und auch den Es ist auch richtig, dass wir ein wirtschaftsfreundli- Menschen. ches Klima brauchen, aber es muss erlaubt sein, auf Missstände und auf Fehlentwicklungen hinzuweisen; das (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie müssen sich ist ja der Punkt, über den wir reden. mit den Fakten auseinander setzen, Frau Scheel! Sie kennen sie doch!) (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das ist gar nicht das Thema! – Hartmut Schauerte [CDU/ Deswegen kann ich von dieser Stelle nur an Sie appellie- CSU]: Nennen Sie einen, der anderer Ansicht ren: Hören Sie endlich mit der übertriebenen Schlechtre- ist!) derei des Standortes Deutschland auf! Wir alle wissen, Herr Schauerte, dass falsche Manage- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das müssen Sie mententscheidungen in der Vergangenheit zu Entlassun- an Herrn Müntefering adressieren!) gen geführt haben. Auch das ist leider Realität in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben wirtschaftliche Schwierigkeiten, aber wir sind (B) insgesamt gut aufgestellt. Es gibt viel zu tun; das wissen (D) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ wir. DIE GRÜNEN und der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das beklagen wir!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Forderung, dass die Wirtschaft im Dienste des Men- Aber hören Sie auf, Deutschland aus rein parteitakti- schen zu stehen hat, stammt nicht von Franz schem Kalkül klein zu machen! Müntefering, sondern – ich bemühe ihn leider auch ein- Für uns Grüne möchte ich sagen: Wir halten die De- mal an dieser Stelle – batte über Wirtschaftsethik und Verantwortung für die (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wieso Menschen für enorm wichtig; denn insbesondere in Zei- „leider“?) ten eines Paradigmenwechsels kann man den Menschen nicht nur etwas abverlangen. Es müssen auch Anforde- von Papst Johannes Paul II. Er hat immer vor der Vergöt- rungen an die Global Player gestellt werden. In einer zi- zung des Marktes gewarnt. Auch Sie haben diese Äuße- vilisierten, demokratischen Gesellschaft kann es nicht rungen mit Beifall aufgenommen. Es ist richtig, dass nur um Aktienkurse und Rendite gehen. Der Mensch man Warnungen ausstößt, wenn es manchen Menschen muss im Mittelpunkt stehen. Das sollten wir immer wie- nur um Gewinnmaximierung geht, ohne an die Mitmen- der sagen. schen zu denken. Darüber muss man sprechen; das muss man auch anprangern können. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es gibt in Deutschland viele Menschen, die Angst ha- Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. ben bzw. befürchten, dass die soziale Marktwirtschaft zerstört wird. Diese Sorgen werden noch verstärkt, wenn Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Manager, wie geschehen, die Profitmaximierung mit noch höheren Renditeansprüchen in den Vordergrund Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Pures Verlangen stellen und gleichzeitig Massenentlassungen verkünden; nach schnellem Geld hat nichts mit ökonomischer Ver- Herr Müntefering hat darauf hingewiesen. Es muss mög- nunft zu tun. lich sein, berechtigte Kritik am reinen Shareholder- Danke schön. Value-Prinzip zu üben. Diese Kritik wird übrigens von vielen Mittelständlern und Mittelständlerinnen geteilt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN insbesondere von vielen Familienunternehmen. Auch und bei der SPD) 16104 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie verfahren wie folgt: Am einen Tag lesen Sie den (C) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Fuchs, Industrielobbyisten fast jeden Wunsch von ihren Lippen CDU/CSU-Fraktion. ab – wir haben bereits vom Reiseleiter Schröder gehört, der mit Unternehmern ins Ausland fliegt, damit sie dort Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): investieren –, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Hubertus Heil [SPD]: Aufträge abholen!) Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Müntefering hat es völlig richtig gemacht, als er seine am anderen Tag motzen Sie gegen die Macht des Kapi- Rede mit der Nennung von Fakten begonnen hat. Das tals und spielen den sozialistischen Seelentröster. Herr möchte ich ebenfalls tun. Clement würde, wenn er dürfte, gerne anders handeln. Der Kanzler will mit bester kapitalistischer Begründung Die Fakten Ihrer Politik, Herr Müntefering, sind Waffen nach China liefern. An diese Debatte, die wir in 5,2 Millionen Arbeitslose. In Ihrem Kernland sind der letzten Woche geführt haben, kann ich mich noch 1 Million Menschen arbeitslos. All das hat es noch nie sehr gut erinnern. Es war Ihr Bundeskanzler, der vor uns gegeben. Wir haben die höchste Pleitewelle zu verzeich- gestanden und begründet hat, warum Waffen nach China nen, die es in Deutschland jemals gegeben hat. geliefert werden sollten. (Peter Dreßen [SPD]: Das ist nicht wahr!) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das war ganz bemerkenswert!) Pro Jahr gehen 40 000 Unternehmen kaputt. Wir haben den niedrigsten Stand sozialversicherungspflichtiger Das in der gegenwärtigen Phase zu tun, ist Kapitalismus Beschäftigungsverhältnisse zu verzeichnen, den es in pur. Erklären Sie mir bitte, wie das mit Ihren Worten zu Deutschland jemals gegeben hat; vereinbaren ist! Ihr Verhalten ist überaus widersprüch- lich. (Peter Dreßen [SPD]: Auch das ist nicht wahr!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) es gibt nur noch 26,3 Millionen sozialversicherungs- Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang pflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Wir haben, wie das Sündenregister der SPD. Herr Müntefering, Ende uns gerade bestätigt wurde, das niedrigste Wachstum al- des Jahres 2002 haben Sie gefordert, weniger Geld für ler Länder in Europa. Wir sind also das Schlusslicht. Da- den privaten Konsum auszugeben und mehr Geld für den für tragen Sie die Verantwortung. Niemand anderes als Staat bereitzustellen, damit Bund, Länder und Gemein- Sie hat das zu verantworten. Darüber sollten wir uns im den ihre Aufgaben erfüllen können. Klaren sein. (B) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist (D) (Beifall bei der CDU/CSU) doch auch richtig!) Jetzt glauben Sie, auch das letzte noch vorhandene Das ist Ihre Einstellung. Frau Vogt, die junge Dame aus Kapital aus Deutschland vertreiben zu müssen. Baden-Württemberg, wurde von ihrem Kollegen Rezzo Schlauch heute als „Standortrisiko“ bezeichnet; (Zuruf von der SPD: Ach Gott!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Mit Ihrem Gesetz zur Steueramnestie haben Sie nichts und der FDP) erreicht: Von den geplanten 5 Milliarden Euro an zusätz- lichen Steuereinnahmen haben Sie gerade einmal denn dieses „Standortrisiko“ Ute Vogt – das können Sie 1,4 Milliarden Euro erzielt. Ihre gesamte Haushaltspla- in der „Stuttgarter Zeitung“ nachlesen – hat gesagt: nung ist ein einziges Chaos. Ein schlanker Staat, der dünn ist und keine Kraft (Dr. Uwe Küster [SPD]: Jetzt lassen Sie mal hat, ist nicht das, was wir uns wünschen. die Gans im Stall!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Da hat Im „Handelsblatt“ kann man heute folgende Über- sie Recht!) schrift lesen: „US-Volkswirte schütteln Kopf über SPD“. Frau Vogt ist ja noch nie so wirklich durch größere Amerikanische Experten befürchten negative Folgen für Kenntnis von Ökonomie aufgefallen. Aber gestern hat den Standort Deutschland. Meine Damen und Herren, sie dann den allergrößten Klops gebracht, indem sie zum was macht denn das Kapital aus Übersee? Während die Boykott deutscher Unternehmen aufgerufen hat. Das Investitionen in Deutschland im Jahr 2003 noch 4,8 Mil- muss man sich vorstellen: Ein Mitglied der Bundesregie- liarden Euro betrugen, erreichten sie im Jahre 2004 – hö- rung ruft zum Boykott deutscher Unternehmen auf ren Sie genau zu, Herr Müntefering – einen Stand von 0,3 Milliarden Euro. Das sind die Folgen Ihrer Politik. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: 5,2 Millionen Arbeitslose! Unglaublich!) (Dr. Rainer Wend [SPD]: War das vor oder nach Ihrer Rede?) und will damit Arbeitsplätze in Deutschland vernichten. Wahrscheinlich sollen dann Produkte von ausländischen Wenn kein Kapital nach Deutschland fließt, gibt es keine Unternehmen gekauft werden, damit in Deutschland Investitionen. Das Kapital hat die Wahl. Es sucht sich keine Arbeitsplätze entstehen. den Standort aus, an dem Investitionen am günstigsten sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16105

Dr. Michael Fuchs (A) Herr Westerwelle hat völlig Recht: Die Staatsquote den Rand gedrängt hat. Es passt einfach nicht zusam- (C) liegt in der Nähe von 50 Prozent. Herr Müntefering, das men, immer von der sozialen Marktwirtschaft zu reden, können Sie nicht wegdiskutieren. wir aber tatsächlich immer weniger erleben, dass es überhaupt eine soziale Marktwirtschaft gibt. Darüber (Peter Dreßen [SPD]: Bei Ihnen hatten wir muss man reden. über 50 Prozent!) (Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Wir haben immer noch 42 Prozent Lohnzusatzkosten; Dr. Andreas Pinkwart [FDP]) auch die können Sie nicht wegdiskutieren. Das sind die Gründe, weswegen bei uns keine neuen Arbeitsplätze – Nein, nein. Seien Sie doch nicht immer so platt, wenn entstehen. Sie haben nicht den Mut, dies den Markt ma- es um ein wichtiges Thema geht! chen zu lassen. Zweitens. Die Entwicklung der Weltwirtschaft, die (Peter Dreßen [SPD]: Wer hat sie denn auf Globalisierung muss im Wesentlichen gleichgesetzt wer- über 50 Prozent getrieben? Das waren doch den mit der Durchsetzung des amerikanischen Wirt- Sie!) schaftsmodells. Wenn Sie so weitermachen, wenn Sie sich nicht endlich (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Schauen Sie auf diesem Sektor bewegen, werden in Deutschland einmal nach Österreich, nach Dänemark und keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Dafür tragen Sie al- nach Schweden!) leine die Verantwortung, Herr Müntefering, Sie allen voran! Das hat viel mit der Entwicklung der Weltwirtschaft zu tun. Da muss man sich die Frage stellen, ob unter diesen Vielen Dank. Bedingungen sozialökologische Politik überhaupt mög- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich ist oder nicht. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ihre Politik Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: funktioniert jedenfalls nicht!) Nächster Redner ist der Kollege Michael Müller, Sie meinen, die Politik muss sich anpassen. SPD-Fraktion. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Richtig!) Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Wir sagen dagegen: Die Politik ist zur Gestaltung gefor- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die dert. Wir reden darüber, was „Gestaltung“ unter diesen Zwischenrufe von Herrn Gerhardt belegen in aller Deut- Bedingungen heißt. Das ist ein zentraler Unterschied. (B) lichkeit, dass Sie nicht in der Lage sind, in einer wirklich (D) schwierigen, komplexen Frage eine rationale Diskussion (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu führen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie können noch (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – viel lernen!) Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist schon ein starkes Stück!) Im Gegensatz zu der liberalistischen Wirtschaftsord- nung muss die soziale Marktwirtschaft immer die breite Wir haben es hier nämlich mit einer Herausforderung zu Verteilung des Gewinns und des Fortschritts in der Ge- tun, die in fast allen Ländern sehr viel differenzierter dis- sellschaft bewirken; das ist der entscheidende Punkt. Die kutiert wird als von Ihnen. Im Gegenteil, Ihre Art der Verwirklichung von Verteilungsgerechtigkeit ist die Vo- Reaktion auf die Diskussion zeigt, dass Sie eigentlich raussetzung für eine soziale und demokratische Ord- gar nicht wissen, wie Sie mit einer notwendigen Kapita- nung. Das ist nicht von mir, sondern von Ludwig Erhard; lismuskritik umgehen sollen. den sollten Sie wieder einmal lesen. Im Kern ist es genau (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des das, was Franz Müntefering gesagt hat: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Deswegen haben Sie wissen nicht, wie Sie mit einem Sachthema umgehen wir auch das Schröder/Blair-Papier!) sollen. Sie reagieren darauf taktisch und machtpolitisch, Es geht um die Verantwortung der Politik für die Gestal- aber nicht inhaltlich. Das ist das Fazit der bisherigen tung einer wirtschaftlichen Ordnung. Diskussion. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Und Sie reden (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Als wenn Herr von Verteilungsgerechtigkeit!) Müntefering vom Inhalt her argumentiert hätte!) Das ist die Erfahrung der letzten 50 Jahre, übrigens eine Ordnung, die wirtschaftlich viel produktiver war als das, Lassen Sie uns deshalb sagen, worum es uns geht. Es was wir in den letzten Jahren in Europa erlebt haben. Die geht uns um einen sehr wichtigen Klärungsprozess auf soziale Marktwirtschaft war gerade auch wegen ihrer der Basis von zwei wesentlichen Erkenntnissen: Erstens. Gestaltung viel besser für Beschäftigung, für Vertei- In den letzten 30 Jahren, also seit dem Zusammenbruch lungspolitik, für soziale Gerechtigkeit. des Weltwährungssystems, seit den Beschlüssen von Rambouillet, hat sich weltwirtschaftlich eine Struktur er- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Warum haben geben, die die soziale Marktwirtschaft immer mehr an wir dann doppelt so viele Arbeitslose wie 16106 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Michael Müller (Düsseldorf) (A) Österreich, Großbritannien, Dänemark und an- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist völlig (C) dere Länder? Erklären Sie das doch einmal!) richtig!) Deshalb wollen wir an diesen Gedanken anknüpfen. Das sagt Dahrendorf. Sie wollen die Regelung nicht, wir wollen die Regelung. Hier ist der entscheidende Unter- Sie müssen sich auch einmal die Frage stellen, dass schied. unsere Produktivitätsentwicklung mit der technologisch bedingten Arbeitslosigkeit zu tun hat, gerade als Export- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ land. DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie lösen die Probleme doch nicht, Sie be- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Nicht zu fassen! schreiben sie nur!) Das ist eine theoretische Debatte, die Sie hier führen!) Wir bleiben dabei: Erstens. Uns geht es bei der De- batte nicht um eine plumpe Beschimpfung der Unterneh- Haben Sie sich eine solche Frage überhaupt einmal ge- men. Ganz im Gegenteil: Wir fordern jeden Unterneh- stellt? mer, der ein Interesse an Innovationen, Investitionen und (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ja, natürlich! Produktivität hat, auf, diese Debatte mit uns zu führen. Wir haben sogar Antworten!) Wir brauchen sie; denn wir wollen ja gerade eine pro- duktive und keine spekulative Wirtschaft. Nein, Sie stellen sich solche inhaltlichen Fragen gar nicht, weil es Ihnen nur um Polemik und Machtausei- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich möchte Sie nandersetzung geht, aber nicht um die Klärung inhalt- gern an den Erkenntnissen Ihrer Politik mes- licher Fragen. Das ist der Kern der ganzen Debatte. sen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zweitens. Wir führen keine „Debatte nach hinten“. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ganz im Gegenteil: Die Klärung der ordnungsrechtli- Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das Schröder/ chen Fragen ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, Blair-Papier! Das ist die Antwort auf Ihre Fra- die auf uns zukommenden Probleme – Stichwörter: Wis- gen!) sensgesellschaft und Rohstoffknappheit – zu lösen, Die Sozialenzyklika der katholischen Kirche ist hier (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Die Probleme schon mehrfach zitiert worden. Wir können übrigens haben wir schon viel länger! Sie haben nur die auch einen anderen Punkt gegen Ihre liberalistische falschen Antworten gegeben!) Position nennen. Herr Ratzinger hat sehr klar gesagt, was ohne einen handlungs- und gestaltungsfähigen Staat dass diesem liberalistischen Modell ein heilsames Ge- (B) nicht möglich ist. Auch das ist eine Wahrheit, die wir aus (D) gengewicht fehlt. der Geschichte kennen. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Lassen Sie doch den Papst da raus!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie haben kein Gegengewicht. Sie kennen nur die An- Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. passung und laufen dem liberalistischen Modell nach. Wir wollen ein Gegengewicht herstellen, weil das Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Gleichgewicht der Kern jeder guten Ökonomie ist. Ich schließe ab. – Lassen Sie mich einen dritten Punkt nennen. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Dem Papst dürfen Sie nicht widersprechen!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das muss man gerade Herrn Westerwelle sagen, weil er Nein, Sie können keinen dritten Punkt mehr nennen. kein Ökonom ist. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Aber Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): evangelisch!) Es geht uns nicht um die Abkehr von der Agenda 2010, sondern um ihre Weiterentwicklung. Er sollte aber wenigstens einmal mehr lesen; das bildet. Vielen Dank. Meine Damen und Herren, ich kann für die FDP auch einmal Herrn Dahrendorf zitieren, immerhin ein langjäh- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ riges FDP-Mitglied. DIE GRÜNEN) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Er hat geschrie- ben, dass das sozialdemokratische Jahrhundert Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vorbei ist!) Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSU- Fraktion. – Das hat er übrigens korrigiert, was Sie aber wieder nicht zur Kenntnis genommen haben. – Im Gegensatz zu (Beifall bei der CDU/CSU) Ihnen hat er gesagt: Wenn es der Politik nicht gelingt, die Prozesse, die mit der Globalisierung verbunden sind, Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): im weitesten Sinne politisch und sozial zu regeln, droht Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ein Jahrhundert der Gewalt. Herren! Der Kollege von der SPD, Müller, hat eben ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16107

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (A) sagt: Die Politik ist zur Gestaltung gefordert. Wie wahr! Andere Länder – vom Ideal der sozialen Marktwirt- (C) Die soziale Markwirtschaft ist an den Rand gedrängt. schaft weiter entfernt als wir, beispielsweise die USA – Das stellt er im siebten Jahr Schröder und seiner rot-grü- haben bessere Beschäftigungsergebnisse. Die Arbeitslo- nen Regierung fest. An den Ergebnissen dieser Regie- senquote ist geradezu ein Ausweis für das Wohl einer rungsarbeit müssen Sie gemessen werden. Volkswirtschaft. Die Politik kann Rahmenbedingungen, im positiven Sinne für Beschäftigung und im negativen (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: So ist es!) Sinne für Arbeitslosigkeit, sehr wohl beeinflussen. Dass nur die Hälfte unserer volkswirtschaftlichen Ersparnisse Sie können die sozialökonomische Wirklichkeit, für die investiert wird, was in diesem Land zu einer elend nied- Sie verantwortlich sind, doch nicht anprangern. rigen Investitionsquote führt, sodass Unternehmer dieses (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sehr richtig!) Land verlassen und woanders Arbeitsplatz schaffend in- vestieren, hängt mit den von Ihnen zu verantwortenden Sie müssen in diesem Haus dafür einstehen und können miserablen Arbeitsbedingungen zusammen. sich nicht in verbalistischer Kritik üben. Herr Müntefering, Sie dürfen nicht nur Fragen stellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Als Noch-Regierungspartei müssen Sie auch Antworten Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ablenkungs- geben. Mehr noch: Als Regierung müssen Sie auf die manöver!) Probleme und die Missstände, die es in unserem Lande gibt, mit Taten antworten. Alles andere – das ist schon Im Jahr sieben Schröder haben die Menschen Sorgen gesagt worden – ist extrem unglaubwürdig. und Ängste wie nie zuvor. Sie sind verunsichert wie nie zuvor. Angesichts einer anhaltend hohen Arbeitslosig- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keit, die unter Ihrer Regierung ungebremst gestiegen ist, neten der FDP) und ständig neuer Massenentlassungen bei gleichzeiti- Wenn Sie den Primat der Ökonomie beklagen, Herr gen Meldungen über teilweise hohe Gewinne und noch Müntefering, dann muss ich Sie allerdings fragen: Wie höhere Renditeziele sind sie berechtigterweise wütend steht es beispielsweise um die Chinapolitik des Bundes- und verbittert. Wir führen die ewige Diskussion mit Ih- kanzlers? nen gern. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Der Waf- Wo Gier grenzenlos und die kurzfristige Rendite zum fenlieferant!) goldenen Kalb wird, muss dies angeprangert werden; Die Menschenrechtssituation ist kein bisschen besser ge- das ist doch selbstverständlich. Diese Auswüchse – von worden. Um der ökonomischen Vorteile willen setzt sich uns wie von Ihnen beklagt – sind aber doch tatsächlich der Bundeskanzler dennoch darüber hinweg. (B) unrühmliche Ausnahmen. Die 40 000 Selbstständigen, (D) die im vorletzten Jahr, die 40 000 Firmeninhaber, die im (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Purer vergangenen Jahr, und die 10 000 Selbstständigen, die Kapitalismus!) bereits in den ersten vier Monaten dieses Jahres Insol- Die schrödersche Chinapolitik kann nachgerade nur aus venz anmelden mussten, sind doch nicht durch Gewinn- dem Primat des Ökonomischen erklärt werden. Was Sie sucht in diese Bredouille geraten, sondern durch Ge- und der Bundeskanzler uns vorführen, ist doch organi- winnschwund und anhaltend hohe Verluste, weil die sierte Zwiespältigkeit und Doppelzüngigkeit. Das lehnen Rahmenbedingungen in Deutschland miserabel sind. wir ab. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Der Chef der Arbeitnehmergruppe der Union sagt: Man sollte mittelständische Eigentümerunternehmer Geben Sie konkrete Antworten. Übrigens will es der nicht mit irgendwelchen kalten Ellenbogenmanagern in Zufall, dass Sie heute dazu die Chance haben. Nachher diesem Land gleichsetzen. steht der Antrag zur sozialen Kapitalpartnerschaft auf der Tagesordnung. Wenn Sie bei der Realisierung dieses (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vorhabens mitmachen, können wir viel zur Bekämpfung der FDP) der Probleme, die Sie und wir beklagen, tun. Sie sollten keine einfachen Lösungen vorgaukeln. Herzlichen Dank. Herr Müntefering, Sie sollten die teilweise durchaus be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Andreas rechtigte Kritik an den Vorgängen in der Wirtschaft nicht Pinkwart [FDP]: Gute Rede!) instrumentalisieren, um vom eigenen Versagen abzulen- ken. 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland, 1 Million Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Arbeitslose in Nordrhein-Westfalen sind nicht das Er- Das Wort hat die Kollegin Nina Hauer, SPD-Fraktion. gebnis der Profitgier von Kapitalisten und auch nicht das Ergebnis mangelnden guten Willens von Arbeitgebern, Menschen einzustellen. Sie sind das Ergebnis einer fal- Nina Hauer (SPD): schen Politik. Das klagen wir anlässlich dieser Debatte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Sie ein. wollen keine kritischen Anmerkungen zu unserem Wirtschaftssystem. Sie wollen auch keine kritischen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Anmerkungen zu dem, was in unserem Land eigentlich neten der FDP) los ist. 16108 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Nina Hauer (A) (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sind Sie diese Gesellschaft ticken soll. Das ist der Grund, warum (C) gerade erst gekommen?) Sie sich darüber so aufregen. Sie haben Angst davor, Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Mich wundert, dass es in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Parteien von Angela Merkel und Guido Westerwelle des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) keinen mehr gibt, der ein Gespür dafür hat, was in die- dass eine große Volkspartei mit ihrem Vorsitzenden an sem Land jeden Tag passiert. der Spitze eine Debatte über ihr Grundsatzprogramm (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten führt, dass die Menschen aufhorchen und sagen: Die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wissen noch, wohin sie wollen, Mit Hedgefonds wird versucht, die Kontrolle über die (Widerspruch bei der CDU/CSU) Deutsche Börse zu übernehmen, übrigens ein erfolgrei- die stellen Fragen und haben auch Antworten. Die wis- ches Unternehmen nicht nur mit vielen Arbeitsplätzen, sen noch, dass wir auch noch da sind, jenseits aller Öko- sondern auch mit einem öffentlichen Auftrag. Die Unter- nomie. – Davor haben Sie Angst. Denn dann stehen Sie nehmen scheuen sich nicht davor, öffentlich zuzugeben, blank da. Sie haben keine Ideen. dass sie das angesparte Geld der Deutschen Börse im Blick haben, um damit in London zu investieren. Vertre- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten werden diese Unternehmen übrigens von Ihrem Das hört man an den Reden, die Sie heute hier gehalten CDU-Kollegen, dem Anwalt . haben. Das sieht man an den Beschlüssen, die Sie fassen, (Hubertus Heil [SPD]: Hört! Hört!) und das sieht man auch an der realen Politik, die Sie ma- chen. In unserer Programmdebatte geht es darum. Sie Herr Westerwelle, welches Tier fällt Ihnen ein, wenn Sie fühlen sich dabei ertappt. Sie können sich nicht vorstel- von einem solchen Wirtschaftsgebaren hören? len, dass es in Deutschland auch noch darauf ankommt, zu fragen, welche Rolle die Menschen in unserem sozia- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Bei Menschen len System haben und was eigentlich passiert, wenn man fallen mir gar keine Tiere ein!) in schwierige Situationen gerät. Das können Sie sich Das hat nichts mehr damit zu tun, dass man investie- nicht vorstellen. ren will, um so zu Wachstum und Beschäftigung beizu- Vorhin hat einer gesagt, wir müssten uns mehr um die tragen. Hier herrscht nur das Interesse vor, ein Unterneh- Bildung kümmern. Wer hat denn das Konzept für bes- men auszubluten und ins Leere laufen zu lassen, um das sere Spitzenforschung an den Universitäten kaputtge- Geld woanders zu investieren. Als Folge haben wir dann macht, wenn nicht die Union? wieder eines der größten Unternehmen in unserem Land (B) verloren. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christine (D) Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie blockieren doch überall da, wo es um diese Themen geht. Sie werden von Ihren Freunden, den Funktionären Natürlich wissen wir, dass ein bestimmtes Maß an der Wirtschaft, unterstützt. Es waren doch nicht die Un- wirtschaftlicher Freiheit Voraussetzung für Wohlstand ternehmer, die sich in den letzten Tagen zu Wort gemel- ist; das brauchen Sie uns Sozialdemokraten nicht extra det haben. Das waren Funktionäre, die ihre Textbau- zu sagen. Aber in dieser Debatte geht es doch nicht nur steine zusammengestellt und von einer Gefährdung darum, wie Wohlstand entsteht und wie viel Freiheit die durch eine ideologische Debatte gesprochen haben. Sie Wirtschaft benötigt. beteiligen sich daran, weil Sie in Deutschland nicht mehr über Werte reden wollen. In dieser Debatte geht es auch darum, wie frei eigent- lich der Mensch sein darf und wo die Grenze dessen ist, Ich möchte gerne zum Schluss, wenn Sie, Frau Präsi- was die Ökonomie darf und was sie nicht darf. Ihr Ge- dentin, erlauben, ein Zitat vorlesen, das gut in diese De- sellschaftsbild ist von der Ökonomisierung aller Lebens- batte passt: bereiche geprägt. Es gibt keine Grenze mehr, an der Sie Eine rein wirtschaftliche Entwicklung vermag den sich schützend vor die Menschen stellen. Das sieht man Menschen nicht zu befreien; im Gegenteil, sie ver- an allem, was Sie beschlossen haben, ob das Beschlüsse sklavt ihn schließlich nur noch mehr. zum Kündigungsschutz sind, Ihre alberne „Bierdeckel- steuerreform“ oder die Kopfpauschale. Bei Letzterer ist Das stammt nicht von Franz Müntefering, sondern von allein schon der Begriff interessant. Das ist die Politik, einem anderen prominenten Katholiken, von Papst die Sie vertreten. Da gibt es keine Barriere mehr. Es gibt Johannes Paul II. keinen Schutz mehr. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Der ist ( [Hamm] [CDU/CSU]: Sie heilig im Gegensatz zu Ihnen! Sie sind schein- wissen nicht, wovon Sie reden! Das ist das heilig!) Problem!) Ich habe dem in dieser Debatte nichts hinzuzufügen. Das ist der Kern der Debatte. Es geht nicht um die Vielen Dank. Wirtschaftsfreiheit in Deutschland, sondern es geht im Kern um die eigentliche Bedeutung des Menschen in un- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ serer Gesellschaft und darum, nach welcher Melodie DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16109

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Hubertus Heil [SPD]: Das macht ja keiner!) (C) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Kues, Das wissen im Übrigen Müntefering und Schröder CDU/CSU-Fraktion. sehr genau. Sie wollen in Wahrheit ja auch keine Enteig- nung. Das ist völlig klar; da stimme ich ausdrücklich zu. Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Ebenso wollen sie in Wahrheit keinen realen Klassen- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kampf. Das Einzige, was sie wollen, ist ein rhetorischer werde ausnahmsweise nichts zum Papst sagen. Ich habe Klassenkampf; sie wollen Stimmung machen die Debatte heute Morgen sehr aufmerksam verfolgt. Vieles von dem, was hier von Herrn Müntefering, aber (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Richtig!) auch von anderen Kollegen der SPD gesagt worden ist, und deswegen machen sie Symbolpolitik. Denn eines unterstütze ich ausdrücklich. können Sie nicht leugnen: Für die Probleme und die Missstände, die wir haben, sind die verantwortlich, die (Beifall des Abg. Hubertus Heil [SPD]) regieren, und Sie regieren seit knapp sieben Jahren. Ich unterstütze ausdrücklich die Aussage, dass es auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – eine ethische Verantwortung der Unternehmen gibt, ich Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die sieben unterstütze ausdrücklich die Aussage, dass wir keine schlechten Jahre!) freie, sondern eine soziale Marktwirtschaft haben, und ich unterstütze ausdrücklich die Aussage, dass die Wirt- Viele haben darüber spekuliert, welche Strategie da- schaft den Menschen zu dienen hat. Das oberste Ziel ist hintersteckt. Es wird darüber spekuliert, ob sie erfolg- letztlich der Mensch und die Wirtschaft ist Mittel zum reich sei oder nicht. Wenn ich das richtig gelesen habe Zweck. und richtig einschätze, wird sie nicht erfolgreich sein; denn Sie widersprechen sich im Grunde genommen. Im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Prinzip brauchen Sie einen Sündenbock SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das kann (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: So ist es!) man unterschreiben!) für Ihr Versagen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ich sage ausdrücklich, dass wir allen Grund haben, Das ist der Kern des Ganzen. Ich nenne ausdrücklich uns damit zu beschäftigen. Denn ich erlebe auch in mei- auch die Sozialpolitik; denn Sie haben es nicht geschafft, ner eigenen Region, dass viele Menschen nicht mehr unsere sozialen Sicherungssysteme auch nur einen Milli- verstehen, was in der Wirtschaft abgeht. Sie haben Angst meter weit von den Arbeitskosten abzurücken. Dabei um ihren Arbeitsplatz und sie sind misstrauisch. Sie hö- wissen wir ganz genau: Das ist der Dreh- und Angel- (B) ren von steigenden Gewinnen, von höheren Renditezie- punkt, wenn wir es schaffen wollen, hier in Deutschland (D) len und zugleich von Massenentlassungen. Ich denke an dafür zu sorgen, dass die Unternehmen mit ihren Ar- den Schlachter, der 20 oder 30 Jahre in seinem Betrieb beitsplätzen hier bleiben und nicht abwandern, sodass tätig war, die Menschen im Lande Beschäftigungsmöglichkeiten haben. (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) Ich erinnere an die Gesundheitsreform. Was kommt der durch seine Tätigkeit Tag für Tag, Woche für Woche für die Menschen dabei heraus? Sie müssen kräftig zu- und Monat für Monat seine Familie ernährt hat und jetzt zahlen, die Beiträge sind aber nicht verringert worden. feststellt, dass sein Arbeitsplatz weg ist und ein anderer Ich erinnere an die Arbeitsmarktreform. Der Herr Staats- diesen zu Bedingungen übernommen hat, unter denen er sekretär hat etwas dazu gesagt. Die Arbeitslosenzahl ist hier überhaupt nicht leben kann. nicht vermindert worden, die Zahl der sozialversiche- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rungspflichtig Beschäftigten hat sich reduziert. Das, was der SPD) sich dort abspielt, hat die gleiche Funktion wie ein Laza- rettwagen. In Wirklichkeit müssen die Strukturen verän- Deswegen ist es auch ausdrücklich richtig, in dieser Si- dert werden, damit Menschen in die normalen Wirt- tuation an die Wirtschaft zu appellieren, ihre soziale Ver- schafts- und Arbeitsabläufe hineinkommen und dort den antwortung wahrzunehmen. Lebensunterhalt für sich und ihre Familien verdienen Aber ich sage auch ganz deutlich: Man muss die Kir- können. che im Dorf lassen und man muss redlich und fair sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn die Politik den Eindruck erweckt, die Schaffung von Arbeitsplätzen in Unternehmen sei lediglich eine Ich kann auch an die Rentenreform erinnern. Das Ni- Frage des guten Willens der Unternehmer und nicht auch veau der Renten wird abgesenkt; die Renten werden eine Frage der Rahmenbedingungen, dann handelt sie nicht mehr erhöht, die Beiträge aber werden nicht ver- unverantwortlich gegenüber Arbeitslosen und Arbeit- mindert. Milliardensummen aus allgemeinen Steuermit- nehmern. teln fließen in den Rententopf. Ich zitiere aus „sueddeutsche.de“ vom 18. April. Dort (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) steht: Wer einen solchen Eindruck erweckt, der gaukelt den So kritikwürdig … Menschen etwas vor, denn dafür fehlt jede reale Grund- lage. – hier werden einige Punkte aufgelistet – 16110 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Hermann Kues (A) auch sind – die Hauptursache der deutschen Wirt- Und ein drittes Ziel: Vor allem die Mittelständler füh- (C) schaftskrise stellen diese Vorgänge nicht dar. len sich für die Region, in der sie produzieren, verant- wortlich. Die großen Unternehmen fühlen sich für den Ich zitiere weiter: Standort Deutschland, in dem sie produzieren, verant- Ein viel gravierenderes Problem manifestiert sich wortlich. hingegen in der übergroßen Belastung des Faktors (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Arbeit, dem in Deutschland so gut wie alle Kosten Abg. Dr. Andreas Pinkwart [FDP]) des Sozialstaates aufgebürdet werden. Unternehmen in diesem Sinne sind die Unternehmen, (Zuruf des Abg. Hubertus Heil [SPD]) die Art. 14 des Grundgesetzes ernst nehmen: Eigentum – Jetzt geht es weiter; hören Sie doch einmal zu! verpflichtet. Statt hilflos über unwesentliche Probleme zu (Beifall bei der SPD – Dr. Andreas Pinkwart schwadronieren, [FDP]: Plakatieren Sie das doch einmal!) – so „sueddeutsche.de“ – Diesen Unternehmen gegenüber sind wir verantwortlich dafür, dass sich die Standortbedingungen im globalen täte der SPD-Chef gut daran, wirklich etwas für Wettbewerb verbessern. Das ist das, was sich hinter der seine Zielgruppe der Arbeitnehmer zu tun. Agenda 2010 verbirgt. Dem ist nichts hinzuzufügen. Frau Wöhrl, Sie werfen uns Staatsversagen vor. Da (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – muss ich Ihnen doch einfach einmal vorhalten: Wir ha- Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Hervorragender ben das Land mit einem Spitzensteuersatz von Kommentar!) 53 Prozent übernommen und diesen auf 42 Prozent ge- senkt. Wir haben auch in dem Antrag, den wir heute Morgen hier diskutiert haben, gesagt, wo es nach unserer Auffas- (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Sie haben doch sung hingehen soll, wobei ich ausdrücklich feststelle: In vorher verhindert, dass er auf 35 Prozent ge- erster Linie ist die Regierung gefordert. Sie haben dafür senkt wurde! Wer hat denn blockiert wie nur den Apparat, Sie können beobachten, was sich auf euro- was?) päischer Ebene tut. Wir haben Hinweise gegeben, wie Wir haben das Land mit einem Körperschaftsteuersatz man die Rahmenbedingungen für Arbeit verbessern von 45 Prozent übernommen und diesen auf 25 Prozent kann. Sie sollten zumindest das eine oder andere umset- gesenkt. Wir haben das Land mit einer Gewerbesteuer (B) zen, damit wir in Deutschland vorankommen; denn wir übernommen und haben diese für die Personengesell- (D) können es uns nicht leisten, dass weiter Stillstand schaften faktisch abgeschafft. herrscht. Deshalb bitten wir Sie, etwas für Deutschland zu tun. (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Alle Senkungen haben Sie vorher verhindert!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben das Land von Ihnen mit einem verkrusteten Arbeitsmarkt übernommen und uns unter großen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Schmerzen mit den Hartz-Reformen auf einen anderen Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Wend, SPD- Weg gemacht. Dass da gerade Sie von Staatsversagen Fraktion. sprechen, Frau Wöhrl, ist geradezu absurd. Das können wir überhaupt nicht akzeptieren. Dr. Rainer Wend (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herren! Deutschland kann stolz sein auf seine Arbeit- DIE GRÜNEN – Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: nehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch auf die aller- Bleiben Sie bei der Wahrheit!) meisten Unternehmen und Unternehmer, auf den Mittel- Es gibt in unserem Land aber auch andere Unterneh- stand, erst recht da, wo er eigentümergeführt ist, sowie men. Das muss man genauso deutlich machen. Die wer- auf viele große Unternehmen. den inzwischen im Wesentlichen von Fondsgesellschaf- Diese Unternehmen verbindet, dass sie alle mindes- ten als anonymen Eigentümern beherrscht. Bei denen tens drei Ziele haben. gibt es eben nicht mehr die drei Ziele, von denen ich ge- sprochen habe. Ziel Nummer eins ist, Gewinne zu machen. Das muss so sein. Jede Gesellschaft, die etwas anderes meinte, ist (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Herr Wend, gescheitert. das habe ich Ihnen nicht zugetraut!) Die haben ein einziges Ziel: kurzfristig bis zur nächsten Ein zweites Ziel haben sie: Sie kümmern sich um und Aktionärsversammlung den maximalen Profit herauszu- fühlen sich verantwortlich für ihre Beschäftigten und de- holen. Das tun sie, indem sie erstens die Personalkosten ren Familien und überlegen es sich zehnmal, bevor sie durch Entlassungen reduzieren und indem sie zweitens eine Kündigung aussprechen. – was fast noch schlimmer ist – auf Investitionen ver- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sehr guter zichten, die sich nicht schon innerhalb weniger Monate, Hinweis!) sondern vielleicht erst in einigen Jahren rechnen. Das ist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16111

Dr. Rainer Wend (A) schädlich für den Standort Deutschland und das muss Westerwelle vertreten. Die CDU muss sich überlegen, (C) genauso deutlich benannt werden. ob sie auf Dauer den westerwellschen Kurs fahren will oder ob sie noch eine soziale Verantwortung für unser (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Land hat. Deswegen sage ich Ihnen: Eine Wertediskus- DIE GRÜNEN) sion hat begonnen. Sie wird noch Monate, vielleicht Das Problem, vor dem wir stehen – das ist doch et- Jahre andauern und hoffentlich zu einem guten Ende was, das auch Sie, mindestens die Union, beschäftigen kommen. muss –, ist, zu erkennen, wie eine demokratische Gesell- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaft in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch DIE GRÜNEN) handlungsfähig ist.

(Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Aber andere Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Länder sind es doch!) Die Aktuelle Stunde ist beendet. Uns allen muss doch klar sein, dass die Ökonomie von erheblicher Bedeutung ist, dass aber für die Werte in ei- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d auf: ner Gesellschaft jenseits der Fragen der Ökonomie auch a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- soziale, kulturelle und Umweltbelange eine entschei- gierung dende Rolle spielen, die wir in politische Entscheidun- gen einbeziehen müssen. Nationaler Aktionsplan für ein kindergerech- tes Deutschland 2005 bis 2010 (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Findet in Baden- Württemberg alles statt! In Bayern auch!) – Drucksache 15/4970 – Wenn wir uns diese Frage stellen, kommen wir nicht Überweisungsvorschlag: darum herum zu sagen, dass sich die Welt seit Karl Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Schiller und Strauß erheblich verändert hat. Als die in Innenausschuss Sportausschuss den 60er-Jahren Minister waren, hatten sie die Chance, Finanzausschuss eine nationalstaatliche Wirtschaftspolitik zu gestalten. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Die Spielräume dafür sind inzwischen mehr als eng. Wir Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung müssen uns eingestehen: Wenn wir in unseren Gesell- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe schaften demokratisch steuern wollen, müssen wir über Ausschuss für Bildung, Forschung und den Nationalstaat hinaus europäisch denken. Die euro- Technikfolgenabschätzung (B) päische Dimension ist wichtig, wenn wir uns vorneh- Ausschuss für Tourismus (D) men, unsere Gesellschaft steuern zu wollen. Ausschuss für Kultur und Medien (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie können b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene auch national eine Menge erreichen! Wie in Rupprecht (Tuchenbach), Kerstin Griese, Rita England!) Streb-Hesse, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD sowie der Abgeordneten Ekin Glauben Sie mir eines: Wenn wir es in den nächsten Deligöz, Jutta Dümpe-Krüger, Irmingard Schewe- Monaten und Jahren nicht schaffen, den Menschen in Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion unserer Gesellschaft deutlich zu machen, dass es nicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN nur das Diktat der Ökonomie gibt, sondern dass die Ge- sellschaft zusammenstehen muss, dass einer für den an- Die Zukunft unseres Landes sichern – Ein kin- deren einstehen muss und dass niemand ausgegrenzt dergerechtes Deutschland schaffen werden darf, dann werden wir den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft, auf den wir angewiesen sind, – Drucksache 15/5341 – meine Damen und Herren, nicht erhalten. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Innenausschuss DIE GRÜNEN) Sportausschuss Finanzausschuss Zum Abschluss. Ich danke der FDP ausdrücklich für Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit diese Aktuelle Stunde. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Dr. Guido Westerwelle [FDP] zur SPD ge- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und wandt: Und ihr meckert!) Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Sie war gut, weil sie Gelegenheit gegeben hat, diese Po- Ausschuss für Kultur und Medien sitionen auszutauschen. Die FDP hat sich entschieden. Die Sozialdemokratie ist am Anfang eines schwierigen c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene Weges, hat aber einiges bewältigt. Die Union – das ha- Rupprecht (Tuchenbach), Angelika Graf (Rosen- ben die Reden deutlich gemacht – weiß nicht, wohin sie heim), Kerstin Griese, weiterer Abgeordneter und will. Herr Kues hat mit vielem, was er gesagt hat, Recht der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten gehabt. Frau Wöhrl hat die Position von Herrn Ekin Deligöz, Jutta Dümpe-Krüger, Volker Beck 16112 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion den bestmöglichen Bedingungen aufwachsen können. (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Eltern brauchen eine gute Betreuungsinfrastruktur und familienfreundliche Arbeitsbedingungen. Denn Kinderrechte in Deutschland stärken – Erklä- Kinder brauchen Zeit mit ihren Eltern und Eltern wollen rung zur UN-Kinderrechtskonvention zurück- Zeit für ihre Kinder haben. Dieses Sich-Zeit-Nehmen nehmen darf keinen Verzicht auf jedweden beruflichen Erfolg be- – Drucksache 15/4724 – deuten. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss DIE GRÜNEN) Rechtsausschuss Mit dem nationalen Aktionsplan „Für ein kinderge- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und rechtes Deutschland“ haben wir die Ampeln für Kinder Technikfolgenabschätzung nachhaltig auf Grün gestellt. Mit dem Tagesbetreuungs- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ausbaugesetz haben wir die rechtliche und finanzielle Entwicklung Grundlage für den Ausbau der öffentlichen Tagesbetreu- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer ung und Tagespflege insbesondere für Kinder unter drei Funke, Klaus Haupt, Dr. Werner Hoyer, weiterer Jahren geschaffen. Bis 2010 werden mit Unterstützung Abgeordneter und der Fraktion der FDP des Bundes 230 000 zusätzliche Betreuungsplätze ent- stehen. Daneben engagiert sich der Bund auch für bes- Rücknahme der Vorbehaltserklärung sere Bildung und Betreuung der Schulkinder. Insgesamt Deutschlands zur Kinderrechtskonvention der bis zu 7 Milliarden Euro stehen in dieser Legislatur für Vereinten Nationen beide Projekte zur Verfügung. – Drucksache 15/2419 – (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Auf Bundesebene werden wir außerdem mit der von mir Innenausschuss ins Leben gerufenen „Allianz für die Familie“ konkrete Auswärtiger Ausschuss Vorschläge für eine familienfreundliche Unternehmens- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kultur und Personalpolitik entwickeln. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Hier, meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen Entwicklung von der Union, nur eine kurze Anmerkung, weil dies Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt heute wohl nicht das Thema sein kann, zur Kritik im (B) ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU Unionsantrag an meiner Idee eines Elterngeldes. Ich (D) vor. freue mich ausdrücklich über die jüngste mehrmalige Unterstützung der bayerischen Sozialministerin Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Stewens. Es ist im Übrigen ein Konzept für die nächste Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Legislatur, wenn der Ausbau der Betreuung vorange- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. kommen sein wird. Wir werden noch ausreichend Zeit Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der haben, gemeinsam darüber zu diskutieren. Bundesministerin Renate Schmidt. Auch meine Initiative „Lokale Bündnisse für Familie“ wird weiter ausgebaut. In ihr haben sich Kommunen, Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se- Wirtschaft und Gewerkschaften, freie Träger, Verbände, nioren, Frauen und Jugend: Kirchen und Initiativen für mehr Familienfreundlichkeit Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeord- in unserem Land zusammengeschlossen. Bisher gibt es nete! Unser aller Ziel muss es sein, Deutschland fami- 138 solcher Bündnisse in Kommunen, in denen rund lien- und kinderfreundlicher zu machen. Wir wollen, 19 Millionen Menschen leben. Weitere 140 Bündnisse dass Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts eines der sind in Planung. kinderfreundlichsten Länder Europas wird. Denn Kinder – das wissen wir alle – sind nicht nur eine Quelle priva- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten Lebensglücks, sondern sie sichern auch unseren ge- DIE GRÜNEN) sellschaftlichen Wohlstand. Zukunft, das bedeutet nicht Sobald sich solche interessierten Gruppen in Kommu- an erster Stelle neue Technologien, sondern Menschen, nen gemeinsam für Kinder engagieren, erhalten der Aus- die Erfindungen machen können. Das sind unsere Kin- bau der Kinderbetreuung und die pädagogische Qualität der und Enkelkinder. in den Einrichtungen einen Schub. Diese guten Beispiele gilt es nunmehr flächendeckend zu verbreiten. Auch dies (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden wir mit unserer Kampagne zum Ausbau der DIE GRÜNEN) Tagesbetreuung unterstützen. Darüber hinaus werden Wir brauchen eine starke, eine talentierte und gut ausge- Familienzentren und Häuser des Kindes als niedrig- bildete junge Generation. Das bedeutet: Kinder müssen schwellige Anbieter sozialer und familiennaher Dienste wieder Vorrang in unserem Land haben. fortentwickelt und weiter gefördert. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft Ich verstehe alle diese Bemühungen als Beiträge zur müssen dafür sorgen, dass Mädchen und Jungen unter Chancengerechtigkeit für Kinder. Denn die größte Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16113

Bundesministerin Renate Schmidt (A) Ungerechtigkeit ist die Tatsache, dass nirgendwo so sehr Chance auf eine erfolgreiche Bildungslaufbahn zu ge- (C) wie bei uns die Herkunft eines Kindes über seine Bil- ben. dungschancen entscheidet. Zum Zweiten wird deutlich gemacht, wie wir unsere (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kinder noch konsequenter vor personaler und medialer DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Haupt Gewalt schützen können. [FDP]) Zum Dritten wollen wir uns darum kümmern, dass Hier müssen wir an erster Stelle ansetzen, wenn wir Kinder und Jugendliche gesund aufwachsen können. Kinder- und Familienarmut wirksam bekämpfen wol- Zum Vierten werden Maßnahmen vorgeschlagen, die len. Denn die Hauptursache von Armut ist der Mangel dazu dienen, junge Menschen stärker in all diesen Ange- an Bildung. legenheiten mit entscheiden zu lassen, die sie selbst be- treffen. Sie, meine Herren und Damen von der Union, bekla- gen in Ihrem Antrag zu Recht die viel zu hohe Zahl der Zum Fünften werden Maßnahmen aufgezeigt, wie Jugendlichen ohne Schulabschluss. Verantwortlich hier- Kinderarmut bekämpft und ein angemessener Lebens- für sind ausschließlich die Länder. Dazu ein paar wenige standard für alle Kinder erreicht werden kann. Zahlen: Nach den Aussagen des Statistischen Bundes- Zum Sechsten werden die Maßnahmen genannt, die amtes waren im Jahr 2003 6,8 Prozent der Schüler und ergriffen werden müssen, um auch international die Ar- Schülerinnen in Nordrhein-Westfalen ohne Schulab- mut von Kindern zu reduzieren und Kinderrechten welt- schluss, in Bayern 8,7 Prozent und in Hessen 9,2 Pro- weit Geltung zu verschaffen. zent. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Ute Kumpf [SPD]: Aha!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Natürlich muss uns Kinder- und Familienarmut alar- Bundeskanzler Gerhard Schröder hat Mittwoch letz- mieren. Sie hat ihre Hauptursache in der hohen Arbeits- ter Woche in einer Grundsatzrede zur Familienpolitik losigkeit – das wissen wir –, aber natürlich nicht nur. Sie auf die ökonomische Notwendigkeit kinder- und fami- hat ihre Ursache auch in mangelnder Unterstützung der lienfreundlicher Rahmenbedingungen hingewiesen. Eine Familien. Auch hier sind die Länder besonders gefor- kinderfreundliche Politik ist ein wesentlicher Standort- dert. vorteil im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb. Ich bin zuversichtlich, dass diese Botschaft angekommen ist und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten deshalb der Prozess der Umsetzung des Nationalen Ak- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tionsplans genauso produktiv verlaufen wird wie seine (B) (D) Erstellung. Dass die Schuldnerberatung eingestellt, die Familien- und Erziehungsberatung reduziert und die Kinderbetreu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ung eine teure Mangelware wird, trägt alles zur Verfesti- Zu diesem Zweck werden wir ein Monitoringverfah- gung von Kinder- und Familienarmut bei. ren installieren, das alle politischen und gesellschaftli- Chancengerechtigkeit bedeutet daher vor allem mehr chen Partner einbezieht. Eine kinderfreundliche Gesell- Qualität in der öffentlichen Kindertagesbetreuung. schaft kann Wirklichkeit werden, wenn die Länder, Um die Qualität der Einrichtungen allgemein zu verbes- Kommunen, Verbände, die Wirtschaft und die jungen sern, setzen wir mit einer Reihe von Initiativen wichtige Menschen selbst zusammen mit dem Bund den Nationa- Zeichen, wie zum Beispiel mit der nationalen Qualitäts- len Aktionsplan als gemeinsame Leitlinie begreifen und umsetzen. initiative, mit dem Modellprojekt „Bildungs- und Lern- geschichten“ und dem Zwölften Kinder- und Jugendbe- Gleiches gilt im Übrigen für die Rücknahme des Vor- richt mit dem Thema „Bildung und Erziehung außerhalb behalts der UN-Kinderrechtskonvention. Auch hier der Schule“. müssen alle Akteure zusammenwirken; ansonsten kann dies nicht gelingen. Der Nationale Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005 bis 2010 schreibt die erfolgreiche Po- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten litik für Kinder und Familien fort. Um Deutschland kin- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des derfreundlicher zu machen, bedarf es jedoch der An- Abg. Klaus Haupt [FDP]) strengung aller gesellschaftlichen Akteure. Daher war es Es hat sich gezeigt, dass es aus heutiger Sicht nicht not- uns schon bei der Entwicklung des Aktionsplans wich- wendig gewesen wäre, dazu überhaupt eine Erklärung tig, alle Beteiligten, einschließlich der Kinderkommis- abzugeben. Unsere gemeinsame Auslegung der Kinder- sion des Deutschen Bundestages, und natürlich vor allen rechtskonvention würde auch ohne diese Erklärung in Dingen die Kinder selbst mit einzubeziehen. Der Plan gleichem Maße gelten. Dies spricht aus der Sicht der trägt die Handschrift dieser produktiven Zusammenar- Bundesregierung, die sich seit Jahren dafür einsetzt und beit und zeigt sechs Handlungsfelder auf: in ihrer Haltung durch den Ausschuss der Vereinten Na- tionen für die Rechte des Kindes bestärkt wird, für eine Zum Ersten werden im Bereich der frühen Förderung vollständige, ersatzlose Rücknahme dieser Erklärung. und Bildung unter anderem Maßnahmen angekündigt, die darauf zielen, jedem jungen Menschen unabhängig (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des von seiner sozialen oder ethnischen Herkunft eine faire BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 16114 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Bundesministerin Renate Schmidt (A) Dies bedarf jedoch der Zustimmung der Länder. Sie ist (Kerstin Griese [SPD]: Sie tut auch was!) (C) bisher an dem Standpunkt der unionsregierten Länder gescheitert. Nur, Sie müssen damit rechnen, dass die Opposition auch nachfragt und nachhört: Was wird eigentlich alles „Der Schutz von Kindern geht uns alle etwas an“, verkündet und was passiert? sagte Ihre Partei- und Fraktionsvorsitzende, meine sehr geehrten Herren und Damen von der Union, auf einem Wofür steht nun dieser Nationale Aktionsplan, kurz UNICEF-Kongress im Januar dieses Jahres. Da ging es NAP genannt? Sie sagen, der Nationale Aktionsplan für ausdrücklich auch um diese Frage. Diesem Satz können ein kindergerechtes Deutschland solle „für die Bundes- wir alle zustimmen. Ich möchte ihn ergänzen: Der regierung ein Fahrplan für eine kinderfreundliche Politik Schutz von Kindern nimmt uns alle gleichermaßen in die in Deutschland sein, ein Fahrplan für einen Weg, auf Pflicht. dem viele Etappen schon erfolgreich zurückgelegt sind“. Ich sage heute: NAP, Frau Ministerin, steht für „Neuer Deshalb appelliere ich an Sie: Setzen Sie sich bei den Ankündigungsplan“; unionsregierten Ländern für eine Rücknahme dieser Er- klärung ein und helfen Sie mit, diesem international un- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei erträglichen Zustand nach Jahren der Diskussion endlich der SPD) ein Ende zu bereiten! denn – jetzt müssen wir ehrlich sein – welche Etappen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben Sie denn erfolgreich zurückgelegt? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bleiben wir einmal bei dem wichtigsten Themenbe- reich des Plans, der eigentlich alle anderen unterordnet: Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Da- Das ist die Entwicklung eines angemessenen Lebens- men, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, zum Schluss standards für alle Kinder. Sie sagen: „Die materiellen möchte ich dafür werben, dass wir, wenn es um Kinder Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, haben geht, auch unsere Sprache und damit schrittweise auch Einfluss auf deren weitere Lebenswege. Sie entscheiden die Mentalität in unserem Land ändern. Natürlich sind auch über die Chancen auf ein gutes Leben und die ge- Kinder manchmal Last, natürlich sind sie manchmal sellschaftliche Integration als Erwachsene.“ Und was tun mühsam, natürlich sind sie manchmal Plage und natür- Sie, Frau Ministerin? Sie loben Ihre Arbeit und stellen lich können sie die materielle Leistungsfähigkeit ihrer fest – jetzt zitiere ich –: Eltern überfordern und auch zum Armutsrisiko werden. Das alles weiß ich. Ich möchte um Himmels willen Trotz der schwierigen haushaltspolitischen … Si- (B) nichts beschönigen oder verharmlosen. Aber an erster tuation hat die Bundesregierung in der vergangenen (D) Stelle – darüber sollten vor allen Dingen wir, die wir und laufenden Legislaturperiode durch steuer- und Kinder haben, reden – stehen Kinderglück, Freude, Le- familienpolitische Maßnahmen die Einkommens- benserfüllung und die Zukunftshoffnung, dass von uns situation von Familien insgesamt verbessert und fi- etwas bleibt. Meine Bitte ist deshalb: Reden wir über nanzielle Leistungen … ausgebaut … Kinder als das, was sie sind! Meine zweite Bitte ist: Ma- chen Sie mit beim Nationalen Aktionsplan und helfen (Ute Kumpf [SPD]: Das stimmt auch, Frau Sie mit bei der Erreichung unseres Ziels, Deutschland zu Fischbach!) einem der kinderfreundlichsten Länder Europas zu ma- Dann frage ich mich: Warum jubeln die Familien in die- chen! sem Land eigentlich gar nicht? Sie müssten doch zufrie- Herzlichen Dank. den sein! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die aktuellen Zahlen des 2. Armuts- und Reichtums- DIE GRÜNEN) bericht, Frau Ministerin, der erst vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde, belegen aber sehr deutlich, dass die Situation keineswegs besser, sondern sehr viel schlechter Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: geworden ist. Verschließen Sie doch nicht die Augen vor Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/ der Realität, sondern schauen Sie hin! In über sechs Jah- CSU-Fraktion. ren Ihrer Amtszeit ist keine Trendwende eingetreten. Sie haben es nicht geschafft, die Entwicklung zu bremsen (Beifall bei der CDU/CSU) und in eine andere Richtung zu führen. Sie wollten – mit diesem Anspruch sind Sie angetreten – durch eine Ingrid Fischbach (CDU/CSU): grundlegend andere Sozial-, Wirtschafts- und Bildungs- politik in Deutschland für mehr Beschäftigung, weniger Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine sehr geehr- soziale Ausgrenzung und weniger Armut sorgen. Und ten Kolleginnen und Kollegen! Das war, wie schon so was ist geschehen? Nichts. Viele Versprechungen, fal- oft in letzter Zeit, Frau Ministerin, eine wortgewaltige sche politische Entscheidungen – Sie haben den Teufels- Rede. Sie haben viele Dinge, die Sie zu tun gedenken, kreis nicht durchbrochen. angekündigt und zu Papier gebracht. Ich muss Ihnen ein Kompliment machen: In dieser Rubrik sind Sie kaum zu (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Leider schlagen, das machen Sie sehr gut. wahr!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16115

Ingrid Fischbach (A) Im Nationalen Aktionsplan ist zu lesen: (Nicolette Kressl [SPD]: Aber für wie viele? (C) Für viel weniger!) Als wichtigste internationale Verpflichtung betrach- tet die Bundesregierung die signifikante Reduzie- Deshalb sollten Sie sich die Zahl noch einmal zu Gemüte rung von Armut. führen: In Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der arbeits- losen Jugendlichen um 29,8 Prozent gestiegen. Diese Sie haben sie gesteigert. Quote müssen Sie erst einmal reduzieren; dann können (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir weiter diskutieren. Ihr Handeln orientiert sie ganz wesentlich an der (Beifall bei der CDU/CSU) Millenniumserklärung, die … im September 2000 Frau Ministerin, Sie haben im Zusammenhang mit beschlossen wurde. dem NAP das Elterngeld und den Kinderzuschlag ange- Ihre bisherige Bilanz, Frau Ministerin, ist erschreckend. sprochen. Dazu möchte ich einige Anmerkungen ma- Kinder und Jugendliche haben das höchste Armuts- chen. risiko. Das von Ihnen angekündigte Elterngeld – auch hier- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bei handelt es sich wieder um eine Ankündigung; Kon- kretes findet sich dazu nicht – widerspricht unserem Deshalb sage ich auch an dieser Stelle wieder: NAP Prinzip einer bedarfsgerechten Förderung und verletzt heißt hier „Nichts außer Perspektivlosigkeit“. unserer Meinung nach auch den Grundsatz der Wahlfrei- Arbeitslosigkeit ist die Hauptursache von Armut und heit. sozialer Ausgrenzung. Sie betrachten zwar die Arbeits- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vermittlung als besten Weg, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen – darin stimmen wir Ihnen zu; das gilt beson- Sie wollen die Zahlung von Elterngeld an die Verpflich- ders für Alleinerziehende –, aber Sie haben trotzdem die tung beider Elternteile knüpfen, zumindest teilweise El- Arbeitslosigkeit nicht reduzieren können. Die Zahl der ternzeit in Anspruch zu nehmen. Dies greift eindeutig in Arbeitslosen ist mit 5,2 Millionen dramatisch hoch. die Entscheidungsfreiheit der Eltern ein und das wollen wir nicht. Besonders besorgniserregend ist die Situation junger Leute. Die Zahl der Jugendlichen ohne Arbeit liegt zur- (Beifall bei der CDU/CSU) zeit bei 665 000. Das entspricht einer Steigerung um Das bisherige Erziehungsgeld ist eine Anerkennung der 200 000 junge Menschen. Erziehungsleistung der Eltern. Als solche wird es allen (Nicolette Kressl [SPD]: Frau Fischbach, wo Eltern in gleicher Höhe gewährt, sofern sie die gesetz- (B) (D) waren sie vorher? Sie waren vorher in der So- lich festgelegten Einkommensgrenzen nicht überschrei- zialhilfe! Das ist abstrus!) ten. Das Elterngeld hingegen begünstigt Eltern mit höhe- ren Einkommen. Wenn man Statistiken heranzieht, Frau Ministerin, dann muss man alle berücksichtigen. Sie haben ausge- Was Sie nun vorhaben, ist wieder einmal typisch: Sie führt – darin sind wir einer Meinung –, dass auch die wollen ein Elterngeld für die Besserverdienenden ein- Bildung etwas damit zu tun hat, ob man arbeitslos wird. führen; aber damit diejenigen, die weniger haben, nicht Sie haben in diesem Zusammenhang zwei Vergleichs- gleich laut protestieren, kündigen Sie den Kinder- zahlen aus Bayern und Nordrhein-Westfalen genannt. zuschlag an. Nun könnten wir meinen – der Begriff Sie haben festgestellt, dass der Bildungsstand in Bayern „Kinderzuschlag“ hört sich zunächst positiv an –, dass niedriger ist als in Nordrhein-Westfalen. damit die Familien gefördert werden sollen, die gerin- gere Einkünfte haben. Ich denke, dass Sie das mit dem (Renate Schmidt, Bundesministerin für Fami- Kinderzuschlag tatsächlich erreichen wollten. Im Natio- lie, Senioren, Frauen und Jugend: Es gibt mehr nalen Aktionsplan schreiben Sie, die Politik ziele Schulabbrecher!) … darauf ab, die finanzielle Förderung für Familien – Ja, es gibt mehr Schulabbrecher als in Nordrhein-West- zielgerichteter zu gestalten. Ein Beispiel dafür ist falen. Aber nichtsdestotrotz sind in Bayern weniger die Einführung eines einkommensabhängigen Kin- Jugendliche arbeitslos als in Nordrhein-Westfalen. In derzuschlags … Der Kinderzuschlag richtet sich an Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der arbeitslosen Ju- gering verdienende Eltern … Mit dem Kinderzu- gendlichen um fast 30 Prozent gestiegen. Diese Zahl schlag wird Kinderarmut konkret verringert. sollte man sich zu Gemüte führen, wenn man die Bun- desländer miteinander vergleicht. Das hört sich zwar gut an, aber wir glauben es nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Nicolette Kressl [SPD]: Sie müssen es auch Klaus Haupt [FDP]) nicht glauben! Sie müssen es nachlesen!) Wir meinen, dass es nicht nur darum geht, Kinder frü- – Hören Sie zu, dann bekommen Sie die Belege! Ich her und besser zu fördern; vielmehr spielen auch die gebe sie Ihnen gleich schriftlich, Frau Kressl. Dann kön- Schulsysteme eine große Rolle. Gerade in den von der nen Sie das zu Hause nachlesen. CDU oder der CSU regierten Ländern werden bedeutend (Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD]) bessere Ergebnisse erzielt als in den von Ihnen regierten Ländern. – Ich würde nicht darüber lachen, Frau Kressl! 16116 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Ingrid Fischbach (A) Denn wie sieht die Realität aus, Frau Ministerin? Sie machen, ist also kontraproduktiv. Sie nehmen gar nicht (C) haben wieder einmal große Ankündigungen in große die Wirklichkeit wahr. Worte gefasst, aber nicht erwähnt – das aber ist für die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Menschen wichtig, vor allem für Alleinerziehende –, neten der FDP) dass die Auszahlung des Kinderzuschlags an vielfältige Kriterien gebunden ist. In Nordrhein-Westfalen zum Sie können hier doch nicht Dinge verkünden und so tun, Beispiel – hierbei beziehe ich mich auf eine Sendung des als ob Sie für Verbesserungen für Familien sorgten, und WDR vom 24. März – werden 90 Prozent der Anträge in Wirklichkeit nichts tun. Ich bitte Sie, hierüber noch auf Gewährung eines Kinderzuschlages abgelehnt. Man einmal nachzudenken und etwas zu verändern. könnte vielleicht denken, dass die Antragsteller in Nord- Ich könnte noch fortfahren und auf die Beteiligung rhein-Westfalen zu viel verdienen. Aber das ist nicht der von Kindern und Jugendlichen zu sprechen kommen. Fall. Aufgrund der Einführung der Mindesteinkommens- grenzen werden viele Anträge deshalb abgelehnt, weil die Eltern zu wenig verdienen. Vizepräsident Dr. : Das können Sie leider nicht, weil die Zeit das nicht (Zuruf von der SPD: Das ist doch Quatsch!) zulässt. Das muss man sich einmal vorstellen: Sie wollen zwar mit dem Kinderzuschlag den einkommensschwachen Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Familien helfen, wenn aber die Eltern zu wenig verdie- Herr Präsident, ich habe gesehen, dass die Uhr tickt. nen, dann erhalten die Familien den Zuschlag nicht! Deswegen komme ich nun zum Schluss. Ich will ein Beispiel nennen. Eine allein erziehende Frau Ministerin, ich bitte Sie um Folgendes: Unsere Mutter, die zwei Kinder zu versorgen hat und halbtags Jugend ist unsere Zukunft. Deshalb ist es notwendig und arbeiten geht, verdient 113 Euro zu wenig – ich bitte Sie, wichtig, ihr Zukunftsperspektiven aufzuzeigen, Perspek- jetzt zuzuhören, Frau Kressl, weil Sie an dieser Stelle et- tiven, die ihr Mut machen, die sie motivieren. Keine was ändern können – und erhält deshalb keinen Kinder- neuen Ankündigungspläne mehr! Es reicht. Hören Sie zuschlag. Sie müsste nun ihre Arbeit aufgeben. Dann auf, anzukündigen! Handeln Sie! Dann haben Sie uns an hätte sie die Möglichkeit, andere Hilfen und das Ihrer Seite. Arbeitslosengeld II in Anspruch zu nehmen. Sie stünde (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sich also besser, wenn sie nicht arbeiten ginge. Wo bleibt neten der FDP) denn hier das Prinzip der Stärkung der Eigenverantwor- tung? Frau Ministerin, das geht doch an den Menschen (B) absolut vorbei. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (D) Das Wort erhält nun die Kollegin Ekin Deligöz. Be- (Beifall bei der CDU/CSU) vor Sie das Wort erhalten, möchte ich Ihnen zu Ihrem Die Dinge, die Sie ansprechen, klingen zwar gut. heutigen Geburtstag gratulieren, Aber sie greifen in der Realität leider gar nicht. Das (Beifall) zeichnet leider alles aus, was Sie als erfolgreichen Weg beschrieben haben, Frau Ministerin. Dabei sind viele verbunden mit allen guten Wünschen nicht nur für diese Ideen gar nicht schlecht, zum Beispiel das Tagesbetreu- Debatte, sondern auch für das kommende Jahr. ungsausbaugesetz, die Stärkung der privaten Tages- Bitte schön. pflege. Das ist richtig und wichtig. Aber dann müsste zum Beispiel der Schritt kommen, die Betreuungskosten, also die Kosten, die Eltern entstehen, steuerlich absetz- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bar zu machen. Das haben wir vorgeschlagen. Das hätten Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen Sie doch machen können. Aber das haben Sie noch nicht und Kollegen! Der Nationale Aktionsplan, den wir heute einmal aufgenommen. behandeln, enthält zweierlei: Einerseits ist er für uns die Bestätigung unserer Politik. Andererseits ist er eine He- (Kerstin Griese [SPD]: Das haben wir doch rausforderung für die Zukunft. In dem Nationalen Ak- erst eingeführt!) tionsplan wird bestätigt, dass das, was wir bisher gemacht haben, um dieses Land kinder- und familienfreundlicher – Frau Griese, wenn Sie einen entsprechenden Antrag zu machen, der richtige Weg ist. vorlegen, dann haben Sie uns sofort auf Ihrer Seite. Das haben Sie aber nicht getan. Wir haben eine ganze Menge in Sachen Kinderrechte, Familienförderung und Zusammenleben von Alt und (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) Jung in diesem Land erreicht. Es ist wichtig gewesen, Ich habe im KICK gelesen – das hat mich wieder dass wir die Weichen in diesem Land neu gestellt haben. erstaunt –, da Sie die Förderung und Unterstützung pri- Wenn ich über Weichenstellungen rede, dann rede ich vater Tagespflege, das heißt privater Tagesmütterver- auch über Kinderrechte, darüber, dass es in diesem Land bände propagieren, dass alle privaten Betreuungsverhält- ein Recht auf gewaltfreie Erziehung gibt – Kinder sind nisse der Genehmigung des Jugendamtes bedürfen. Sie nicht mehr Rechtsobjekte, sondern Rechtssubjekte mit bauen schon wieder ein Bürokratiemonstrum auf. So eigenständigen Ansprüchen –, über Ganztagsschulpro- werden die betroffenen Frauen ihre Entscheidung für gramme, die dem Ausbau von Bildung dienen, und über eine Tagespflege wieder zurücknehmen. Das, was Sie das Tagesbetreuungsausbaugesetz, das den Ausbau von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16117

Ekin Deligöz (A) Betreuung bezweckt. Damit haben wir mehr getan, als es Ist Ihnen die Situation vor Ort bekannt? Ist Ihnen be- (C) eigentlich unsere Aufgabe auf Bundesebene ist. Wir sind kannt, dass Jugendämter die Tagespflege im Sinne von darüber hinausgegangen. Wir haben gesagt: Wir nehmen Subsidiarität bewusst an private Träger übergeben und unsere Verantwortung ernst und tun alles, was wir tun dass bis zu fünf Kinder – je nach Bundesland bis zu drei können, um auch in diesem Bereich voranzukommen. Kinder – ohne Jugendamtsgenehmigung betreut werden dürfen, weil private Träger die Aufgabe des Jugendam- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tes im Sinne von Subsidiarität übernommen haben? In und bei der SPD) welchem Verhältnis steht das zu der in § 44 KICK vor- Mit dem, was wir gemacht haben, haben wir die gesehenen Änderung? Signale in der Gesellschaft gesetzt. Wenn wir heute über die Qualität von Einrichtungen reden, wenn die Bundes- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): länder über eine Neuqualifizierung von Mitarbeiterinnen Frau Kollegin Fischbach, mir ist das bekannt. Ich in Kindergärten und Kitas reden, um die Betreuung zu weiß, wie das läuft. Ich weiß aber auch, dass das, worauf verbessern, wenn wir über Erziehungs- und Bildungs- Sie hinweisen, für lediglich 30 Prozent der Tagesmütter pläne sowie über mehr Qualität bei den Tagesmüttern re- gilt, und kann Ihnen sagen, wie die anderen zu einer Ta- den, dann darf man nicht vergessen, dass das unsere De- gesmutter kommen: Man fragt eine Nachbarin, eine batte ist. Wir haben diese Debatte gestartet, wir haben Freundin, findet jemanden über die örtliche Presse oder sie geführt und gewonnen. Nun reden wir darüber. Das sonst wie. Dieser Bereich ist eine Grauzone. Viele Ta- ist viel mehr als das, was wir in diesem Land übernom- gesmütter arbeiten in Verhältnissen, die in keiner Weise men haben, als wir als Regierung angetreten sind. gesichert sind, ohne Sozialversicherung und zudem un- terbezahlt. Wenn Sie nun kritisieren, dass wir zwar einerseits mehr wollen, dass wir andererseits für mehr Bürokratie (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sie wollen sorgen, dann frage ich Sie – hier sind ja viele Mütter das also gar nicht!) anwesend –: Wer haftet denn, wenn einem Kind in der Diese Arbeit wird bisher von vielen Menschen ohne eine Obhut einer Tagesmutter etwas zustößt? Wer muss die entsprechende Qualifikation geleistet. Verantwortung übernehmen? Wer qualifiziert die Tages- mütter? Natürlich müssen wir diese Verantwortung über- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das ist doch nehmen. Natürlich müssen wir die Ängste und Sorgen gar nicht zutreffend!) der Eltern ernst nehmen und die richtigen Antworten fin- den. – Hören Sie mir doch einfach einmal zu, Herr Rossmanith! – Ich weiß, dass so der typische Tagesmut- (B) Sie signalisieren die Sorge, das sei zu bürokratisch. terarbeitsplatz in diesem Land aussieht. Gerade deshalb (D) müssen wir etwas tun: weil es nicht mehr reicht, dass die (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: In höchstem Kinder in der frühesten Kindheit satt, sauber und aufge- Maße!) hoben sind. Wir sagen: Es geht darum, die Kinder so Meine Botschaft lautet: Es geht um die Kinder; es geht früh wie möglich zu fördern. Das, was bei den Kindern um die Rechte der Kinder; es geht darum, den Kindern falsch gemacht wird, kann im Erwachsenenalter nicht das Beste zu geben. mehr rückgängig gemacht werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit Bildung und Erziehung muss in der frühesten und bei der SPD) Kindheit und nicht erst in der Schulzeit angefangen wer- den. Unser Ziel ist, die Qualität der frühkindlichen Er- ziehung zu steigern. Wir wollen für unsere Kinder den Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: besten Rahmen organisieren. – Das ist unsere Antwort Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin auf die Frage, warum das so wichtig ist, und der Grund Fischbach? dafür, dass wir das alles machen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Ingrid Ja. Fischbach [CDU/CSU]: Darf ich eine Zusatz- frage stellen?) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nein. Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Frau Kollegin Deligöz, ich glaube, Sie haben mir Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht richtig zugehört. Ich habe nicht gesagt, durch die Nein? – Na gut. Ich hätte sie zugelassen. Tagespflege werde ein bürokratisches Monster geschaf- fen; es ging mir lediglich um die neue Regelung im Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: KICK, nach der jedes private Betreuungsverhältnis vom Das glaube ich sofort. Die Fantasie zur Erweiterung Jugendamt genehmigt und überprüft werden muss. Dies der zugemessenen Redezeit ist in diesem Haus uner- schafft neue Bürokratie. schöpflich. Aber wenn wir in der Nähe der vereinbarten 16118 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Gesamtdebattenstruktur bleiben wollen, dann muss es chen; denn das ist unsere gemeinsame gesellschaftliche (C) möglich sein, zu unterbinden, dass sich Redner durch die Aufgabe. Beantwortung mehrerer Zwischenfragen zusätzliche Re- dezeit ergaunern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): An diesem Nationalen Aktionsplan waren Kinder und Aber das ziehen Sie jetzt von meiner Redezeit ab. Jugendliche beteiligt. Bei dieser Regierungsvorlage, die wir hier gemeinsam diskutieren, ist es uns zum ersten Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Mal gelungen, Kinder und Jugendliche tatsächlich zu be- Das ziehe ich sofort ab, Frau Kollegin. Sie haben we- teiligen. Sie ernst zu nehmen und partizipieren zu lassen, gen Ihres Geburtstags heute ohnehin einen Zuschlag. ist gelebte Demokratie. Bitte schön. Da auch die Kinderkommission daran mitgearbeitet hat und ich als Vorsitzende der Kinderkommission daran (Heiterkeit) beteiligt war, möchte ich mich ausdrücklich bedanken und auch die Bereitschaft dazu erklären, bei den Aufga- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben, die Kinder und Jugendliche an uns herangetragen Den Begriff „Zuschlag“ greife ich gerne auf: Das Ziel haben, weiterhin konstruktiv mitzuarbeiten. des vorhin in der Debatte erwähnten Kinderzuschlags ist es, Menschen, die zwar arbeiten und ein Erwerbsein- In der Unterrichtung sind auch die Herausforderun- kommen haben, damit aber nicht den Unterhalt ihrer gen für die kommenden Jahre beschrieben. Diese He- Kinder finanzieren können, dazu zu verhelfen, aus der rausforderungen werden mit den folgenden Begriffen Armutsfalle herauszukommen. Durch diesen Zuschlag deutlich gemacht: Chancengerechtigkeit, Bildung, Ge- brauchen sie nicht zum Sozialamt oder zum Jobcenter zu sundheit und Ernährung, soziale Sicherung, Lebensstan- gehen und Bittsteller zu werden. Dafür wollen wir sor- dards – für alle gleichwertig in diesem Land –, aber auch gen. Rechte von Kindern. Das heißt für uns Politikerinnen und Politiker: Ärmel hochkrempeln und gute Arbeit tat- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Aber wenn kräftig fortsetzen. sie weniger kriegen, kriegen sie nichts!) Natürlich muss dieser Zuschlag begrenzt sein. Wir Wenn ich schon von Signalwirkung spreche, dann ge- kennen in unserem Sozialsystem das Günstigkeitsprin- hört natürlich dazu, die Rücknahme der Vorbehalte ge- zip: Jeder hat einen Anspruch auf die für ihn beste Leis- gen die UN-Kinderrechtskonvention zu erwähnen. Da- (B) (D) tung. Mit anderen Worten: Das Sozialrecht sieht solche bei geht es um Signale, die wir in diesem Land nach Grenzen vor. außen senden müssen, die wir im Sinne der Kinderrechte aber auch in dieses Land hinein senden müssen. Dafür Ich gebe zu: Ich sähe es gern, wenn viel mehr Kinder müssen wir uns gemeinsam einsetzen. Für uns sind alle und viel mehr Familien leistungsberechtigt wären. Wir Kinder gleich, egal woher sie kommen, egal warum sie Grünen haben dazu Vorschläge gemacht, wie man das herkamen. Sie sind minderjährig. Ganze weiterentwickelt kann. Wir arbeiten darauf hin, diese Vorschläge umzusetzen. Falsch ist aber, das ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN samte Instrument zu verurteilen, wie Sie es tun. Der An- und bei der SPD – Angela Schmid [CDU/ satz, Menschen im Hinblick auf den Arbeitsmarkt zu ak- CSU]: Und deswegen das Elterngeld?) tivieren, Armut ernst zu nehmen und auf die damit verbundenen Fragen Antworten zu geben, ist richtig. Da reicht es nicht, dass sich Bund und Länder gegen- Das ist das richtige Instrument. An diesem Instrument seitig Bälle zuwerfen. Es ist an der Zeit, finde ich, dass arbeiten wir. Insofern setzen wir auch die richtigen Si- man sich endlich einmal gemeinsam hinsetzt, über diese gnale. Ebenen hinweg, und sagt: Wir tun etwas für unsere Kin- der und nehmen die Vorbehalte zurück. Den Vorwurf, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- mit der Rücknahme der Vorbehalte würde sich auslän- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Angela derrechtlich etwas ändern, teile ich übrigens nicht. Ganz Schmid [CDU/CSU]: Dann ist es besser, sie im Gegenteil glaube ich, dass das ein wichtiger Schritt nimmt Sozialhilfe!) im Sinn einer kinderfreundlichen Gesellschaft sein wird. An diesem Punkt werden wir auch vom Ausland beo- Wir setzen ein weiteres Signal: Politik, Gesetzgeber, bachtet. Deshalb sind wir geradezu gezwungen, diesen wir im Parlament, Regierung und auch die verschiede- Schritt zu gehen. Ich fordere Sie von der CDU/CSU auf, nen staatlichen Ebenen sind für Familienpolitik verant- das zu unterstützen, damit uns gemeinsam eine kinder- wortlich, aber nicht allein. Wir brauchen Bündnispartner, freundliche Welt, ein kinderfreundliches Land gelingt. um kinder- und familienfreundliche Verhältnisse zu Das ist unser Ziel. Das ist unsere Verantwortung. Lassen schaffen. Wir brauchen verschiedene Akteure als Bünd- Sie uns diese Verantwortung gemeinsam übernehmen! nispartner: Arbeitgeber, Gewerkschaften, Kirchen, Ver- bände, Organisationen, Verwaltungen. Genau das ist die Danke schön. Grundlage einer familienfreundlichen Politik. Ich kann nur jeden und jede dazu aufrufen, seinen bzw. ihren Teil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dazu beizutragen, dieses Land kinderfreundlicher zu ma- und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16119

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: FDP ganz klar – wir haben auch einen Antrag einge- (C) Das Wort hat nun der Kollege Klaus Haupt für die bracht –: Die deutsche Vorbehaltserklärung gegen die FDP-Fraktion. Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ist sach- lich obsolet und muss endlich aufgehoben werden. Klaus Haupt (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Frau Ministerin! Meine sehr verehr- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der ten Kolleginnen und Kollegen! Mit der Vorlage des Na- SPD) tionalen Aktionsplans für ein kindergerechtes Deutsch- Sie wirkt wie ein Vorbehalt gegen Fortschritte in der land kommt die Bundesregierung einer Verpflichtung Kinderrechtsdiskussion. Das belastet den Dialog mit den aus den Vereinbarungen des Weltkindergipfels von 2002 Kinderrechtsorganisationen erheblich. Eine Rücknahme in New York nach. der Vorbehalte ist sachlich möglich und politisch gebo- Wir sind uns alle einig, über Parteigrenzen hinweg, ten. Der Vorbehalt schadet dem deutschen Ansehen im glaube ich, dass ein kindergerechtes Deutschland ein Ausland. Deutschland darf anderen Staaten keinen Vor- Ziel ist, für das man sich gemeinsam einsetzen sollte. wand liefern, selbst Vorbehalte gegen Kinderrechte auf- zubauen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Frau Ministerin, die Rücksichtnahme auf die Bundes- NISSES 90/DIE GRÜNEN) länder darf nicht zu einer weiteren Verschleppung der Entscheidung führen. Die Aufhebung der Vorbehaltser- Wir sollten der Kinder- und Jugendpolitik in unserer Ar- klärung ist ein dringend notwendiges und längst überfäl- beit einen noch viel höheren Stellenwert geben; denn liges Signal für ein kinderfreundliches Deutschland. dieses Politikfeld nimmt die größte gesellschaftliche He- rausforderung für unser Land ins Visier: die Fehlwahr- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nehmung von Kindern als Last, als Mühsal, als Stolper- der SPD) stein bei der Karriere, als Kostentreiber. Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts des Ich freue mich ganz besonders darüber, dass der NAP NAP, dem die FDP grundsätzlich positiv gegenübersteht, auch unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen muss ich aber auch deutlich erhebliche Probleme anspre- erarbeitet wurde; meine Vorrednerin hat schon darauf chen. Es ist, Frau Ministerin, Augenwischerei, wenn Sie aufmerksam gemacht. Junge Menschen wollen Verant- behaupten, Sie hätten den Ausbau der Betreuungsange- wortung tragen und ihre Welt mitgestalten. Sie erheben bote für Kleinkinder sichergestellt. Sie wissen, dass die zu Recht Anspruch auf Beteiligung. Finanzierung für die Maßnahmen des TAG auf töner- (B) nen Füßen steht. Städte und Gemeinden bezweifeln (D) Ich freue mich darüber, dass das „Projekt P“ auf die mehr denn je, dass ihnen 1,5 Milliarden Euro jährlich für Gestaltung durch Kinder und Jugendliche selbst setzt. den Ausbau der Betreuungsangebote zur Verfügung ste- Deshalb, Frau Ministerin, hat die FDP erst letzte Woche hen. So sehr sich die FDP diesen Ausbau auch wünscht, ihre Unterstützung für die geplanten Aktionen, zum Bei- so ungewiss ist er derzeit leider. spiel das Festival Berlin 2005 im Sommer, betont. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Eine aktive Beteiligung von Kindern und Jugendli- der CDU/CSU) chen darf sich aber nicht in einzelnen Aktionen erschöp- fen. Sie muss kontinuierlich erfolgen und ernsthafte Ge- Wenn sich die Bundesregierung einen angemessenen staltungs- und Mitentscheidungschancen für die jungen Lebensstandard der Kinder zum Ziel setzt, sollte sie Generationen bieten. Wenn wir Beteiligung ernst neh- auch zugeben, wie weit wir davon entfernt sind – Frau men, müssen wir die Rechte von Kindern und Jugendli- Kollegin Fischbach hat darauf verwiesen –, nicht zuletzt chen stärken. Ich begrüße es, meine seit Jahren wieder- weil die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik von Rot- holte Forderung im NAP wiederzufinden: Wir müssen Grün versagt hat. Dies ist ja zuletzt durch den Armutsbe- Kinder und Jugendliche besser über ihre Rechte infor- richt dokumentiert worden. mieren und Kinderrechte auch im Bewusstsein der Er- Kinder leiden erheblich unter der Arbeits- und Per- wachsenenbevölkerung verankern. spektivlosigkeit ihrer Eltern. Für Jugendliche sind Aus- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bildung und Arbeit mehr als nur die Grundlage für ein der SPD) wirtschaftlich unabhängiges Leben. Sie haben auch zen- trale Bedeutung für die Identitätsfindung, die Selbstver- Es ist noch viel zu tun, damit in Kindergärten, Schu- wirklichung und die Selbstbestimmung. Armutsbekämp- len, Freizeiteinrichtungen, in der Jugendhilfe, in der Jus- fung darf aus unserer Sicht nicht mehr allein über tiz und in den Familien, nicht zuletzt aber auch bei den Einkommenstransfers und Umverteilung angestrebt wer- Politikern klar ist, welche Rechte Kindern beispiels- den. Vielmehr ist die Wiederherstellung von wirtschaftli- weise nach der UN-Kinderrechtskonvention zustehen. cher und sozialer Handlungsfähigkeit der Betroffenen nötig. Diese Sichtweise rückt die Hilfe zur Selbsthilfe in Liebe Kolleginnen und Kollegen, als leider schier un- den Mittelpunkt. endliche Geschichte zieht sich die Debatte über die Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinder- Die Kindertagesbetreuung ist dabei ein wichtiges rechtskonvention durch die letzten Jahre; Frau Bundes- Instrument zur besseren Vereinbarkeit von Kindern und ministerin, Sie haben darauf verwiesen. Dazu sagt die Beruf. Die Verklärung der Kindertagesbetreuung zum 16120 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Klaus Haupt (A) Allheilmittel unserer kinderarmen Gesellschaft ist je- Was soll der Nationale Aktionsplan? Ziel ist es, dass (C) doch schlicht lebensfremd. alle gesellschaftlichen Kräfte querbeet gemeinsam daran bauen, dass unser Land kindgerechter wird. Kindgerech- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ter heißt: Hinschauen, was Kinder brauchen und wollen, der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Das und sie ernst nehmen. Sie werden in jeder Rede von mir macht auch niemand!) die Aufforderung hören: Nehmt Kinder ernst! Begebt Der Kampf gegen Kinderlosigkeit erfordert vor allem euch auf Augenhöhe, damit ihr feststellt, was ein Kind ein gesellschaftliches Umdenken. Kinderfreundlichkeit will! Mit diesem Paradigmenwechsel haben wir bereits beginnt in den Köpfen und beginnt im Alltag. Mit Geld in der Kinderpolitik begonnen und wir wollen ihn fort- allein lässt sich das nicht regeln. Kinderfreundlichkeit ist setzen. Der Nationale Aktionsplan ist dabei ein wichti- auch nicht von Staats wegen zu verordnen. Entscheidend ger Bestandteil. Wir wollen seine Inhalte in alle Ebenen sind die individuellen Einstellungen der Menschen: der der Gesellschaft hinaustragen, in die Zivilgesellschaft Arbeitgeber und der Personalchefs, die Schwangerschaf- und in die Arbeitswelt und ihn dort verankern. ten und Elternzeiten als etwas Selbstverständliches be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten greifen; der Nachbarn, die sich bei Kinderlärm nicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nach Friedhofsruhe sehnen; Wir sehen nämlich Kinder als eigenständige Persön- (Ute Kumpf [SPD]: Das sind meistens die lichkeiten, als Subjekte, und nicht, wie in Ihrem Antrag Männer!) zu lesen ist, nur als „Objekte von“. Ich kann mich noch der Eltern, die die Erfahrung machen, dass Kindererzie- an die Debatte in der letzten Wahlperiode erinnern, wo hung die anspruchsvollste, aber auch spannendste He- es hauptsächlich um folgenden Satz ging, der ins BGB rausforderung darstellt, die das menschliche Leben zu eingefügt werden sollte: Kinder haben ein Recht auf ge- bieten hat. waltfreie Erziehung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner) Als es darum ging, ist hier fast das Schwert gezogen worden. Sie wollten, dass es heißt: Kinder sind gewalt- Einen gesellschaftlichen Wandel zu solchen Einstel- frei zu erziehen. Damit wären sie zum Objekt von Erzie- lungen herbeizuführen ist eine schwierige Aufgabe, die hung geworden. Wir haben gesagt, Kinder haben ein die Politik wirklich nicht allein leisten kann, an der sie Recht, das ihnen zu Eigen ist und das ihnen kein Mensch aber mitwirken muss. Denn schon Martin Luther stellte nehmen kann. Diesen Paradigmenwechsel im Denken fest: Bei den Kindern muss angefangen werden, wenn es wollen wir hinaustragen und verankern. (B) im Staate besser werden soll. (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Danke. Dazu müssen wir erkennen, dass Kinder eigene Rechte (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben, egal woher sie kommen. der CDU/CSU) Deshalb richte ich auch einen Appell an alle unionsre- gierten Länder, dass sie ihren Widerstand gegenüber der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: UN-Kinderrechtskonvention aufgeben; denn sie sind Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht, es, die dafür verantwortlich sind, dass wir die Konven- SPD-Fraktion. tion nur mit Vorbehalten anerkennen. Damit würden wir vermeiden, das Ansehen der Bundesrepublik in der Welt Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): zu beschädigen, und kämen endlich dazu, dass Kinder Frau Präsidentin! Kolleginnen! Kollegen! Ich gehörte ernst genommen werden und ihnen kein Schaden zuge- dem Kreis an, der diesen Nationalen Aktionsplan erar- fügt werden darf. beitet hat. Es war eine Gruppe von Menschen aus Minis- terien und Regierungsorganisationen, aber vor allem aus Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nichtregierungsorganisationen und von Kindern. Was Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Sie im Nationalen Aktionsplan finden, sind also Vor- Kollegin Fischbach? schläge und Feststellungen genau dieser Menschen. So sollte man ihn auch lesen. Das Schöne daran ist, dass Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Vorschläge gemacht wurden, ohne dass dabei darauf ge- Aber gerne, Frau Fischbach. Da wir zusammen in der achtet wurde, ob der Bund, die Gemeinden, die Länder Kinderkommission sitzen, denke ich, ist das mehr als oder eine andere Institution zuständig sind. Vielmehr ha- recht und billig. Bitte schön. ben die Kinder Vorschläge gemacht, wie sie sich das Land vorstellen und was sie am liebsten hätten. Dabei war es ihnen ziemlich egal, ob Schulpolitik in der Hand Ingrid Fischbach (CDU/CSU): des Bundes oder der Länder liegt. Die Schulpolitik näm- Das hält mich jetzt trotzdem nicht von meiner Frage lich, die sie brauchen, ist eine kindgerechte. So viel ab. – Ich kann mich sehr gut an die Diskussion in der dazu, wie der Nationale Aktionsplan entstanden ist. letzten Legislaturperiode über das Recht auf gewalt- freie Erziehung erinnern. Ich hatte in diesem Zusam- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) menhang insbesondere den von Ihnen genannten Punkt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16121

Ingrid Fischbach (A) kritisiert, aber vielleicht haben Sie da ja neuere Erfah- Das kann so nicht funktionieren. Es ist nicht die Absicht (C) rungen. Sie haben gerade gesagt, Kinder hätten ein des Bundes, dazu beizutragen, dass sich die Länder auf Recht auf gewaltfreie Erziehung. Ich möchte Sie nun Kosten der Eltern entschulden. Wir haben etwas unter- fragen: Welche Möglichkeiten hat das Kind, dieses nommen und die Länder um 20 Milliarden Euro entlas- Recht auf gewaltfreie Erziehung einzufordern bzw. ein- tet. Auch das muss man sehen. zuklagen? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Haupt [FDP]: Das war jetzt aber sehr präzise! Frau Fischbach, Sie wissen, dass bei der Diskussion Toll!) darüber damals schon ganz deutlich wurde, dass dieser Satz ähnlich wie in Schweden einen Appell an die Ge- – Herr Haupt, Sie haben schon geredet. sellschaft darstellen soll. Denn Gewalt in der Erziehung steht jetzt schon unter Strafe. Diese muss man nicht (Klaus Haupt [FDP]: Eine Milchmädchenrech- strafbewehren. Etwas anderes ist es – das fällt nicht un- nung ist das!) ter die Bestimmungen des Strafgesetzbuches –, wenn In dieser Beziehung gibt es in den Ländern noch sehr wir sagen: Wir bieten euch Hilfe an. Deshalb haben wir viel Nachholbedarf. Die Idee, dass Kinder keine Objekte im Kinder- und Jugendhilfegesetz die Beratung ausge- sind, die man verschiebt, verschachert oder irgendwo ab- baut. Nur dann macht das Sinn. Deshalb war es sehr stellt, sondern dass sie Rechte haben, muss man in den wichtig, diesen Satz zu ergänzen. Ländern noch vernünftig implementieren. Ich darf nur (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des an das bayerische Tagesbetreuungsausbaugesetz erin- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nern. Derselbe Geldbetrag, der vorher für die Kinder von drei bis sechs Jahren vorgesehen war, steht jetzt für Kin- Wir werden das Anliegen, die Kinderrechte im der von null bis 14 Jahren zur Verfügung. Mich würde Grundgesetz zu verankern, sehr ernsthaft überprüfen. wirklich interessieren, welch eine Mathematik dahinter Als Kinderbeauftragte hoffe ich, dass dem auch alle üb- steckt, dass auf einmal das Geld für alle Kinder reichen rigen Kinderbeauftragten, die in der Kinderkommission soll, ohne dass der Gesamtbetrag einfach nur gestreckt vertreten sind, zustimmen werden; denn für uns gilt das wurde. Einstimmigkeitsprinzip. Wenn es nach mir geht, dann werden wir die Kinderrechte im Grundgesetz verankern, Die Anzahl der heilpädagogischen Tagesstätten für damit dieser Bereich mit den Familienrechten gleichran- behinderte Kinder wurde reduziert. Dadurch spart man gig ist. Es wäre wunderschön, wenn wir dieses Signal Mittel für die Betreuung und außerdem Fahrtkosten ein. (B) nach außen geben könnten. Daran kann man ermessen, welche Art von Kinder- (D) freundlichkeit Sie propagieren. Ihrem kommunalen Ent- Ausdruck des Paradigmenwechsels ist auch, dass wir lastungsgesetz zufolge erfolgen Leistungen nur noch die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kin- dann, wenn die Finanzlage es erlaubt. Ansonsten wird dern verändert haben, nicht nur, was die Gewaltfreiheit nichts für die Kinder getan. betrifft, sondern auch, was die gesundheitlichen Bedin- gungen angeht. Wir haben verschiedene Kampagnen ge- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist ein Ge- startet – zum Beispiel zur Förderung von Bewegung und setz des Bundesrates! Es ist nicht von uns!) gesunder Ernährung sowie zur Schaffung einer freundli- Deshalb brauchen wir in Deutschland ein Zusammen- chen Umwelt –, um zur Gesundheit der Kinder beizutra- spiel aller Kräfte, von Bund, Ländern, Gemeinden und gen. der Zivilgesellschaft. Bei der Umsetzung dieses nationa- Auch im Bereich behinderter Kinder haben wir Ver- len Aktionsplans müssen wir die Kinder auf Augenhöhe änderungen durchgeführt. Als Beispiel nenne ich die beteiligen, damit das zutrifft, was sie in New York gefor- Verankerung des Rechts auf die Komplexleistung „Früh- dert haben: Nicht die Zukunft sind wir, sondern die Ge- förderung“ im Sozialgesetzbuch IX. Dass seine Umset- genwart. Wir wollen für die Gegenwart arbeiten. Deshalb zung vor Ort nicht funktioniert, liegt nicht am Bundesge- haben wir diesen Nationalen Aktionsplan vorgestellt. setzgeber, sondern daran, dass die Verantwortlichen in den Gemeinden, Krankenkassen und Ländern sagen: Wir Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht. Meiner Ansicht nach müssen wir hier dringend Frau Kollegin. Druck machen und mehr als bisher an die Öffentlichkeit bringen, wie wichtig es ist, dass, wenn es um Kinder geht, behinderte Kinder, deren Eltern dringend Unter- Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): stützung brauchen, eingeschlossen sind. Damit er nicht ins Leere läuft, haben wir ein Monito- Wir haben die finanziellen Rahmenbedingungen für ring-Verfahren, also eine Überwachung, eingebaut. Das Familien verbessert. Es ist natürlich kontraproduktiv, ist richtige Politik und das sind nicht nur, wie es bei Ih- wenn wir zwar auf der einen Seite Geld zur Verfügung nen der Fall ist, Ankündigungen. stellen, die Länder aber auf der anderen Seite ihre Betei- Danke. ligung an der Tagesbetreuung von Kindern bzw. ihre Zu- schüsse zu den Kindergartenbeiträgen fast auf null sen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ken und damit Geld aus der Tasche der Eltern ziehen. DIE GRÜNEN) 16122 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Umsetzung kam es dann aber trotz nachweislicher Gele- (C) Das Wort hat die Kollegin Dorothee Mantel, CDU/ genheit nicht. Anstatt dies aber zuzugeben, wird in einer CSU-Fraktion. inszenierten Debatte die Opposition dafür verantwortlich gemacht. Dorothee Mantel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der hat ein sehr ausdifferenziertes Familienrecht. Das Wohl Kollegin Deligöz? des Kindes steht dabei im Vordergrund; ich glaube, das ist unstrittig. Aber zunächst möchte ich auf die UN-Kin- derrechtskonvention eingehen, da Sie, Frau Ministerin, Dorothee Mantel (CDU/CSU): und auch der Kollege Haupt von der FDP sowie die Kol- Ich gratuliere der Kollegin zu Ihrem Geburtstag, aber legin Rupprecht die Problematik falsch dargestellt ha- es ist besser, wenn sie mich ausreden lässt. ben. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Lachen bei der Aus guten Gründen und nach heftigen Debatten ha- SPD) ben das Familienrecht und das Ausländerrecht in Zum Zweiten – und da wird es erst richtig interes- Deutschland die differenzierte Ausgestaltung, die sie sant – ist die Bundesregierung angeblich der Auffas- heute haben. Vielfach wird jedoch die falsche Auffas- sung, dass sich durch eine Rücknahme gar nichts an der sung vertreten, dass ausländische Kinder unabhängig Rechtslage ändern würde. Der Unterschied wäre freilich von allen rechtlichen Voraussetzungen Anspruch auf eine größere Rechtsunsicherheit – aber die hält mit die- Einreise und Aufenthalt haben. Die Vorbehaltserklärung ser Bundesregierung ja sowieso in allen Bereichen Ein- – man sollte besser sagen: die Interpretationserklärung – zug. Die Bundesregierung sagt, dass man bei einer Aus- stellt klar: Nichts in der Konvention kann so ausgelegt legung der Konvention sowieso zur jetzt bestehenden werden, dass die widerrechtliche Einreise nach Deutsch- Rechtslage kommt; das ist ihre Begründung für die land erlaubt würde. Nichts in der Konvention kann so Rücknahme der Vorbehaltserklärung. Man könnte also ausgelegt werden, dass bestehendes Recht der Bundesre- sagen, die Bundesregierung will die Rücknahme nur, publik beschränkt würde. Und nichts kann so ausgelegt weil sich – wie sie behauptet – daraus überhaupt keine werden, dass Unterschiede zwischen Inländern und Aus- Wirkungen ergeben. Sie wissen aber ganz genau, dass ländern gemacht würden. Dieser Auffassung ist auch die dies nicht stimmt und nur eine Beruhigungspille sein Bundesregierung. soll, meine Damen und Herren von der Regierungskoali- (B) Die heutige Debatte hat mit dem Familienrecht oder tion. Denn natürlich würde es nach einer Rücknahme (D) mit dem Schutz von Kindern nichts zu tun. Im Kern geht Druck zu Änderungen des Aufenthaltsrechts geben. Sie es heute um etwas ganz anderes als die Kinderrechtskon- wissen doch selbst, dass es die Kernforderung ist, aus- vention: Es geht für die Bundesregierung leider wieder ländische Kinder unter 18 Jahren von den ausländer- einmal darum, eine Scheindebatte zu entfachen, um sich rechtlichen Vorschriften der Einreise und des Aufent- selbst als handelnd und die CDU/CSU als blockierend halts auszunehmen. Also darf man nicht ernsthaft darzustellen. glauben, dass sich durch eine Rücknahme der Vorbe- haltserklärung nichts ändern würde. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sind es ja leider!) Wenn die Bundesregierung wirklich der Meinung wäre, dass man sich um die Kinder kümmern müsse, Leider muss das Thema Kinderrechte hierfür herhalten. dann sollte sie damit anfangen. Eine Debatte über die Liebe Kollegen, ich werde das gerne darlegen, und Kinderrechtskonvention reicht hier nicht aus. Sie haben zwar so, dass es auch für die verständlich ist, die hier lie- in der gesamten Regierungszeit der Familienpolitik nicht ber herumschreien als aufpassen. Festzuhalten ist zum den Stellenwert eingeräumt, den sie bis 1998 unter unse- einen, dass die Bundesregierung früher wohl noch eine rer Regierung hatte. andere Sicht der Dinge hatte: 1998 wurde die Position der Regierung Kohl nahtlos übernommen. Auch bei spä- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – teren Gesetzgebungsvorhaben war nicht zu erkennen, Lachen der Abg. [Bremen] dass die Bundesregierung angebliche Schutzdefizite be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) seitigen wollte. Es hat bei Rot-Grün also keinen wirkli- Punktuelle und auf Öffentlichkeitswirkung ausgerichtete chen Willen zur Änderung der Rechtslage gegeben, ge- Maßnahmen waren Ihnen wichtiger als die umfassende rade und vor allem nicht bei den Verhandlungen über das Verbesserung der Situation der Familien und der Kinder. Zuwanderungsgesetz, bei denen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, jederzeit die Gelegenheit dazu (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Den gehabt hätten. Armutsbericht haben Sie zurückgehalten!) Hier drängt sich doch ziemlich klar der Eindruck auf: Das größte Armutsrisiko für Familien in Deutschland Für eine Scheindebatte ist das Thema offensichtlich alle- ist nach wie vor die Arbeitslosigkeit. An der Lösung die- mal gut. Denn tatsächlich ist der Fall doch so gelagert: ses Problems wollten Sie sich messen lassen. Heute wol- Rot-Grün hatte die Rücknahme der Vorbehalte in die ei- len Sie nichts mehr davon wissen. Es hat schon den Cha- gene Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Zu einer rakter eines Rituals, dass Sie Monat für Monat eine Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16123

Dorothee Mantel (A) Trendwende voraussagen, die freilich nicht kommen UNICEF hat belegt, dass die Kinderarmut in Deutsch- (C) wird, solange diese Bundesregierung im Amt ist. land seit 1990 stärker gestiegen ist als in allen vergleich- baren Industrieländern. Ich finde, das ist ein erschre- (Beifall bei der CDU/CSU) ckender Befund über deutsche Verhältnisse. Das ist ein Ich würde mich freuen, wenn auch Sie die Familien- wachsendes Übel für die von Armut Betroffenen, zumal politik in Deutschland als ganzheitliche Aufgabe mit Be- im selben Zeitraum der Reichtum im Lande unanständig teiligung aller Ressorts – eben auch des Innenressorts – zugenommen hat. Diese negative Entwicklung wird sehen würden und wenn dieses wichtige Thema nicht durch aktuelle Gesetze der rot-grünen Bundesregierung nur in Scheindiskussionen behandelt werden würde. Das – assistiert von der konservativen Opposition – sogar hilft den Kindern, die unsere Hilfe am dringendsten noch befördert. Ich erinnere nur an die so genannte Ge- brauchen, nämlich nicht. sundheitsreform und an die Hartz-Pakete. Deshalb schlage ich für die PDS drei Sofortmaßnahmen vor: Vielen Dank. Erstens. Bei allen Bezieherinnen bzw. Beziehern von (Beifall bei der CDU/CSU – Marlene Arbeitslosengeld II darf das Kindergeld nicht gegenge- Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ein eigenarti- rechnet werden. Kindergeld muss alle Kinder erreichen. ges Kinderbild!) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: [fraktionslos]) Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. Zweitens. Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II sind von Kita-Gebühren zu befreien. Petra Pau (fraktionslos): Auch das wäre sozial, gerecht und klug im Sinne der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinder. In mehreren Anträgen geht es heute um die Rechte von (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Kindern. Diese sollen verbessert werden. Dafür ist die tionslos] – Marieluise Beck [Bremen] PDS seit langem – im Bundestag wie auch im Bundesrat. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Sie in Berlin doch gerne machen!) [fraktionslos]) Drittens. Empfänger von Arbeitslosengeld II sind von Deshalb unterstützen wir auch die heute vorgeschlage- Zuzahlungen für Medikamente zu befreien, die ihre 13- bis nen Maßnahmen. Der Vorbehalt der Bundesrepublik zur 17-jährigen Kinder brauchen. UNO-Kinderrechtskonvention soll aufgehoben, ein Na- Alle drei Vorschläge lösen das komplexe Problem der (B) (D) tionaler Aktionsplan soll angenommen und die Rechte Kinderarmut nicht, aber sie sind hilfreich und wichtig. von Kindern in Deutschland sollen gestärkt werden. Außerdem könnte die SPD mit ihrer Zustimmung zei- Dem stimmt die PDS im Bundestag zu. gen, wie ernst ihre aktuelle Kapitalismuskritik ist. 1992 hatte die Kohl-Regierung die UN-Kinder- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch rechtskonvention nur unter Vorbehalt ratifiziert. Die da- [fraktionslos]) mals beabsichtigte Folge war: Kindern von nichtdeut- schen Eltern, vor allem Flüchtlingskindern, wurden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wesentliche Rechte, die ihnen eigentlich zustehen, vor- Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese, enthalten. – Frau Kollegin Mantel hat eben in bemer- SPD-Fraktion. kenswerter Deutlichkeit ausgeführt, dass die Union wei- ter will, dass diesen Kindern, die eigentlich einen besonderen Schutz benötigen, diese Rechte immer noch Kerstin Griese (SPD): vorenthalten werden sollen. Die PDS hat das immer ab- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gelehnt und deshalb schon seit langem gefordert, diesen Wir begrüßen den „Nationalen Aktionsplan für ein kin- ungerechten Vorbehalt endlich zu tilgen. dergerechtes Deutschland 2005 – 2010“ ganz deutlich; denn er zeigt, dass wir die Verantwortung für die nach- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch folgende Generation übernehmen. Gleichzeitig machen [fraktionslos]) wir klar: Kinder brauchen für ihr Aufwachsen die best- Es sei daran erinnert: Rot-Grün hat das seit 1998 ver- möglichen Bedingungen. sprochen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir erwarten allerdings, dass auch alle einschlägigen Gesetze geändert werden, sodass dann allen Kindern tat- Wir begrüßen auch die Erklärung der Bundesregie- sächlich dieselben Rechte zustehen und – mehr noch – rung, dass sie ihre Anstrengungen zur Erreichung dieses Flüchtlingskinder einen besonderen Schutz genießen. Ziels in den nächsten Jahren verstärken wird. Sie, Frau Ministerin, haben das hehre Ziel ausgegeben, dass Nun zum Aktionsplan: Die PDS wird ihm zustimmen. Deutschland eines der kinderfreundlichsten Länder Eu- Er reicht uns aber nicht – schon gar nicht angesichts ak- ropas werden soll. Wir als SPD-Fraktion teilen dieses tueller Entwicklungen. Verschiedene Studien belegen Ziel und werden aktiv daran mitarbeiten. – das ist im Alltag erlebbar –: Die Kinderarmut in Deutschland ist hoch und sie nimmt immer noch zu. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 16124 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Haupt Kollegin Deligöz? [FDP]) Im Zusammenhang mit dem Nationalen Aktionsplan Kerstin Griese (SPD): möchte ich mich auch bei den Nichtregierungsorganisa- Ja, besonders weil sie heute Geburtstag hat. tionen sehr herzlich bedanken, besonders bei der Natio- (Klaus Haupt [FDP]: Wie meinen Sie das mit nal Coalition, bei den Kindern und Jugendlichen, die dem Glückwunsch? – Heiterkeit) mitgearbeitet haben, und auch bei der Kinderkommis- sion des Deutschen Bundestages. Ich bedanke mich auch – Das meine ich persönlich. beim Deutschen Bundesjugendring, der heute diesen Na- tionalen Aktionsplan ausdrücklich begrüßt hat und wei- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ter intensiv an der Umsetzung mitarbeiten will. Liebe Frau Kollegin, nachdem ich während der Rede (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Kollegin Mantel keine Frage stellen durfte, möchte des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ich jetzt gerne die Gelegenheit dazu ergreifen. Frau Mantel hat in ihrer Rede behauptet, die Bundesregierung Unser gemeinsames Ziel ist es, dass Deutschland kin- habe die Position der Regierung Kohl aus dem Jahre derfreundlicher wird. Wir haben eine neue Qualität der 1998 übernommen und nichts in Bezug auf die Vorbe- Debatte: Immer mehr Kommunen, Wirtschaftsunterneh- halte geändert. Wie ist Ihre Position dazu? men und auch die Kirchen lassen sich in die Verantwor- tung nehmen. Ich will ein positives Beispiel aus dem Stimmen Sie mir zu, dass der Bund nach dem so ge- schönen Bundesland Nordrhein-Westfalen, aus dem ich nannten Lindauer Abkommen zwischen dem Bund und komme, anführen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Ländern die Vorbehaltserklärung – es ist eine Vorbe- unter dem Motto „Kinder fördern – Zukunft sichern“ haltserklärung und keine Interpretation – nicht im Al- sehr viel getan, um die Zukunftschancen für Kinder und leingang zurücknehmen kann und dass dieses Verfahren Jugendliche zu verbessern. in dieser Form noch nicht stattgefunden hat? Unser Wunsch und Wille ist – darauf werden wir auch im Sinne (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des der weiteren Kooperation beharren –, dass die Länder BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hier mit uns an einem Strang ziehen. 99,6 Prozent der Kinder haben einen Kindergarten- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: platz. 100 000 Kinder mit Migrationshintergrund besu- Sehr gut!) chen derzeit einen Kindergarten. Das sind doppelt so (B) viele wie noch vor zehn Jahren. Laufende Sprachförder- (D) maßnahmen setzen schon vor der Einschulung ein, um Kerstin Griese (SPD): Kinder mit sprachlichen Defiziten zu fördern. Es geht Vielen Dank. – Wir haben in den letzten Jahren im darum, Chancengerechtigkeit zu verwirklichen. Dieser Deutschen Bundestag drei- oder viermal gemeinsam be- Nationale Aktionsplan zielt darauf ab, dass Länder und schlossen, dass wir die Vorbehalte gegen die UN-Kin- Kommunen mitarbeiten. NRW hat bereits eine Bildungs- derrechtskonvention zurücknehmen wollen. Das ist vereinbarung abgeschlossen, in der die wichtigsten Bil- also der Wille des Parlaments. Ich bin Bundesministerin dungsziele für die Kindertageseinrichtungen beschrieben Renate Schmidt sehr dankbar, dass sie noch einmal die sind. Initiative ergriffen und alle Bundesländer angeschrieben hat, weil in dem Lindauer Abkommen, das Sie schon er- NRW geht auch mit einem anderen Beispiel positiv wähnt haben, festgelegt ist, dass für solche Entscheidun- voran, nämlich bei den Ganztagsgrundschulen. 785 of- gen die Zustimmung der Länder nötig ist. fene Ganztagsgrundschulen gibt es bereits in NRW, 600 neue sind für 2005 und 2006 geplant. Damit liegt NRW Interessant waren die Reaktionen auf dieses Schrei- an der Spitze. Der internationale Vergleich zeigt uns, ben. Beispielsweise haben sich die Länder Berlin, Nord- dass Kinder, die ganztags miteinander lernen und geför- rhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern und Schles- dert werden, ganz vorne mit dabei sind. wig-Holstein sehr positiv dahin gehend geäußert, die Vorbehalte zurückzunehmen, die unionsregierten Länder Interessant ist, wie dieses Programm entstanden ist. In aber nicht. Es geht hier um fünf Punkte. Vier von diesen NRW hat sich die CDU geradezu fanatisch gegen das fünf Punkten haben wir durch bundesgesetzliche Rege- Ganztagsschulprogramm gestellt, bis sie von ihren eige- lungen bereits zurückgenommen – diejenigen, die sich nen kommunalen Vertreterinnen und Vertretern, Bürger- damit beschäftigen, werden das wissen –: Das bezieht meistern und Stadträten überholt wurde, die wie auch die sich auf Änderungen im Kindschaftsrecht, eine kinder- Bürgerinnen und Bürger diese offenen Ganztagsgrund- und jugendgerechte Auslegung des Jugendstrafrechts, schulen natürlich wollen. Sie sind die zeitgemäße Ant- das Fakultativprotokoll, in dem es um die Beteiligung wort auf die Frage, was wir tun können, um Kindern von Kindern an bewaffneten Konflikten geht. Sie sehen, mehr Chancen zu bieten. das, was wir von Bundesseite aus tun können, haben wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten getan, um diese Vorbehalte zurückzunehmen. Meine des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aufforderung richtet sich an die Länder, unserem Vor- schlag zuzustimmen, diese Vorbehalte insgesamt zurück- Auch im Bereich der Betreuung der unter Dreijähri- zunehmen. Das wäre auch kinderfreundlich. gen geht Nordrhein-Westfalen voran. Bis zum Jahr 2010 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16125

Kerstin Griese (A) sollen mindestens 90 000 Plätze für unter Dreijährige geschlossen wird, dass wir den Nationalen Aktionsplan, (C) geschaffen werden. Schon in diesem Jahr beteiligt sich den wir auf Bundesebene haben, in den Bundesländern das Land an der Finanzierung von 12 000 Plätzen. und den Kommunen umsetzen und dass wir alle daran mitarbeiten, dass Deutschland eines der kinderfreund- (Klaus Haupt [FDP]: Was gibt es noch Neues lichsten Länder Europas wird. Zu dieser Mitarbeit rufe in Nordrhein-Westfalen?) ich Sie alle auf. Mit dem Programm „Zweijährige in den Kindergarten“ Vielen Dank. werden die jetzt frei werdenden Plätze umgewandelt, da- mit auch Kinder unter drei Jahren in Kindergärten kom- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men können. DIE GRÜNEN) Nordrhein-Westfalen hat ein sehr interessantes Pro- gramm gestartet, das wir uns anschauen sollten. Es wird Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ja manchmal vergessen, dass wir Hartz IV gemeinsam Das Wort hat die Kollegin Angela Schmid, CDU/ beschlossen haben. Im Rahmen der Umsetzung von CSU-Fraktion. Hartz IV und im Sinne einer kinderfreundlichen Politik (Beifall bei der CDU/CSU) hat Nordrhein-Westfalen beschlossen, erstmals aus Mit- teln der Arbeitsmarktpolitik Betreuungsplätze für die Angela Schmid (CDU/CSU): Kinder von Langzeitarbeitslosen zu fördern. Das trifft genau das, was Sie, liebe Frau Kollegin Fischbach, ange- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- sprochen haben, nämlich dass wir alle gemeinsam etwas legen! Der Nationale Aktionsplan „Für ein kinderge- dafür tun müssen, um Kinderarmut zu bekämpfen und rechtes Deutschland“ soll ein Fahrplan für eine kinder- Kindern mehr Chancen zu geben. Das können wir nur, freundliche Politik in Deutschland sein, ein Fahrplan für wenn die Eltern – häufig sind es auch Alleinerziehende – einen Weg, auf dem – Zitat – „viele Etappen schon er- aus der Arbeitslosigkeit und der Armut herausgebracht folgreich zurückgelegt wurden“. werden. Deshalb halte ich das, was Nordrhein-Westfalen Doch fast zeitgleich belegen die aktuellen Zahlen des vorgeschlagen hat, für so wichtig. zweiten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesre- gierung sehr deutlich, dass die Bundesregierung von der Es geht – das zeigt auch der Armuts- und Reichtums- Erfüllung dieser Verpflichtung noch sehr weit entfernt bericht – bei Armut nicht nur um materielle Not, sondern ist. In fast sieben Jahren Regierungszeit ist es nicht ge- besonders um Bildung, Chancen und Infrastruktur. Da- lungen, zu verhindern, dass die Schere zwischen Arm ran fehlt es gerade für die Kleinsten in unserer Gesell- und Reich immer weiter aufgeht. (B) schaft. (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: In Nordrhein- Klaus Haupt [FDP]) Westfalen!) Jedes achte Kind lebt heute von der Sozialhilfe. Viele Da wollen wir ansetzen, um das Armutsrisiko von Fami- von ihnen leben bei Alleinerziehenden. Seit dem Regie- lien zu senken. Das tun wir mit vielen Transferleistun- rungsantritt von Rot-Grün liegt die Armutsquote bei Al- gen, die diese Bundesregierung verbessert hat; wir tun es leinerziehenden unverändert hoch bei 35 Prozent. Statt aber auch mit Maßnahmen für Alleinerziehende sowie die Eltern finanziell zu unterstützen, hat Rot-Grün den für Eltern, damit diese endlich wieder in Arbeit kom- von der Union eingeführten Haushaltsfreibetrag abge- men; denn das ist die beste Armutsprävention. schafft. Auch der Kinderzuschlag ist eine familienpoliti- Ich will noch auf das wichtige Themenfeld der Betei- sche Seifenblase. Dazu möchte ich den DGB zitieren: ligung von Kindern und Jugendlichen eingehen. Kin- Insgesamt ist festzustellen, dass eine Sozialleistung, der haben Rechte. Diese Rechte zu stärken und Kinder die – so die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregie- und Jugendliche stärker an politischen und gesellschaft- rung – die Situation von Familien mit niedrigem lichen Prozessen zu beteiligen ist unser Ziel. Das hat der Einkommen verbessern soll, de facto in vielen Fäl- NAP, der Nationale Aktionsplan, schon in der Phase sei- len das Gegenteil bewirkt. ner Erarbeitung gezeigt. Das wird jetzt auch das Monito- ring über die Umsetzung zeigen. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Im Rahmen der Initiative „Projekt P – misch dich ein“ Der Kinderzuschlag ist bürokratisch …, seine Ef- hat die Bundesebene zusammen mit dem Deutschen fekte … sind nicht zielgerichtet und verwirrend. Es Bundesjugendring viele Projekte gestartet. Dazu gibt es ist kaum nachzuvollziehen, wie eine derart schlam- ein gutes Beispiel aus Nordrhein-Westfalen. Dort wurde pig konstruierte Sozialleistung zum Gesetz werden schon im letzten Jahr der Pakt für Kinder geschlossen, konnte. ein Pakt, der die Rechte der Kinder und Jugendlichen (Beifall bei der CDU/CSU – Ingrid Fischbach stärkt und ihre Beteiligung unterstützt. Er ist gemeinsam [CDU/CSU] [zur SPD gewandt]: Und das vom mit Kirchen, den kommunalen Spitzenverbänden, dem DGB! Nicht von der CDU! Das müssen Sie Landesjugendring, dem Deutschen Kinderschutzbund sich doch einmal durchlesen!) und vielen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe ge- schlossen worden. Ich wünsche mir von vielen Bundes- Gerade für die Personengruppe der Alleinerziehenden ländern, dass dort ebenfalls ein solcher Pakt für Kinder ist die verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik der 16126 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Angela Schmid (A) Bundesregierung mit immer weniger Arbeitsplätzen be- die Lebensgestaltung und Erziehung ihrer Kinder ent- (C) sonders belastend. Wir alle wissen, dass Arbeitslosigkeit sprechend zu beeinflussen. die Hauptursache von Armut und sozialer Ausgrenzung ist. Rot-Grün wollte mit einer grundlegend anderen So- (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: zial-, Wirtschafts- und Bildungspolitik vieles verändern. Ganz genau! Die müssen sie aber auch krie- Hier hat die Bundesregierung versagt. Die Zahl der gen!) Arbeitslosen hat sich dramatisch erhöht. Allein bei den Die soziale Herkunft darf nicht über die Lebens- und unter 25-Jährigen sind jetzt 200 000 junge Menschen Entwicklungschancen der Jugendlichen entscheiden. mehr arbeitslos. Ihr eigener Sozialexperte, Rürup, sagte vor zwei Ta- (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: gen in einem Interview, dass die Arbeitslosigkeit bei Schauen Sie sich die weiterführenden Schulen Jugendlichen weiter dramatisch steigen werde, und in Bayern an!) zwar nicht, Frau Rupprecht, wegen der Jugendlichen, die – Schauen Sie sich die PISA-Studie an; da wird deutlich, durch Hartz IV statt Sozialhilfe nun Arbeitslosengeld II dass die Lebenschancen für die sozial Benachteiligten in bekommen, sondern andere, die noch von keinem Sys- NRW die schlechtesten in der ganzen Bundesrepublik tem erfasst sind, werden von Arbeitslosigkeit betroffen sind. sein. Das ist meiner Meinung nach ein Riesenproblem, dem sich alle stellen müssen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Das denke ich auch!) Die Migrantenkinder zum Beispiel in Baden-Württem- berg und Bayern haben wesentlich bessere Chancen. Sie in ganz besonderer Weise. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Vor (Beifall bei der CDU/CSU – Marlene allem die Wirtschaft, wenn sie qualifizierte Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Schauen Sie Arbeitskräfte will!) sich die Quote an den weiterführenden Schu- len an!) – Ich sage Ihnen gleich etwas dazu. Lesen Sie das in der PISA-Studie nach! Wir brauchen Die Bundesagentur für Arbeit gibt pro Jahr uns über das, was schwarz auf weiß geschrieben steht, 1 Milliarde Euro aus, um diese Jugendlichen zu qualifi- doch nicht zu streiten. zieren. Gerade deswegen besteht die Notwendigkeit (B) einer umfassenden Reform im deutschen Bildungs- Dies gilt nicht nur im Bereich der Bildung, sondern (D) system. Auch die zahlreichen Vergleichsuntersuchungen auch im Bereich der Gesundheitspolitik. Wir wissen, haben gezeigt, dass unsere Schülerinnen und Schüler be- dass immer mehr Kinder chronische, psychosomatische züglich der Leistung hinterherhinken. Unsere Kinder und umweltbedingte Krankheiten haben. Hinzu kommen müssen deshalb früher und intensiver gefördert und ge- in zunehmendem Maße Sprach- und Verhaltensstörun- fordert werden. gen. Auch krankhaftes Essverhalten, welches zu Überge- wicht, aber auch zu Untergewicht führen kann, findet (Beifall bei der CDU/CSU) seine Ursache in vielen Faktoren. Bei Kindern und Ju- Das gilt sowohl für die Erziehung und Bildung vor dem gendlichen spielt auch das Verhalten der Eltern eine Eintritt in die Schule als auch für die Schulzeit selbst. wichtige Rolle. Allerdings sollte ergänzende Ernäh- Entsprechende Vorschläge hierfür haben wir bereits mit rungserziehung bereits im Kindergarten beginnen und unserem Antrag „Elternhaus, Bildung und Betreuung sich in der Schule fortsetzen. verzahnen“ eingebracht. Es gilt, im gegliederten Schul- system zu fördern und zu fordern. Die Einheitsschule, Kinder- und Jugendärzte haben in einer öffentlichen wie von Rot-Grün vorgeschlagen, ist für uns keine Lö- Anhörung zum GKV-Modernisierungsgesetz im März sung. dargelegt, dass bei Allergien und Neurodermitis die Be- handlung mit nicht verschreibungspflichtigen Arznei- (Beifall bei der CDU/CSU) mitteln Standard ist. Da diese Arzneimittel bei Jugendli- chen ab dem 12. Lebensjahr nicht mehr von der Dies belegt auch die neueste Untersuchung der gesetzlichen Krankenkasse gezahlt werden, sehen aber 9. Klasse verschiedener Schularten in NRW, Frau viele Eltern von einer Behandlung ihrer Kinder ab. Ins- Griese. Danach hat die Gesamtschule nur äußerst schwa- besondere bei Jugendlichen aus einkommensschwachen che Ergebnisse erreicht. Bei der Lernerhebung lagen die Familien, die ohnehin zu einer erhöhten Gefährdung nei- Gesamtschüler deutlich unter dem Durchschnitt. Der gen, werden diese zu hohen Kosten oftmals nicht Landeselternrat spricht hier von „Großversuchen mit gezahlt. Wir haben im Bundestag einen Antrag zur He- Schutzbefohlenen“. CDU und CSU werden diesen Irr- raufsetzung der Altersgrenze von 12 auf 18 Jahre einge- weg keinesfalls mitgehen. bracht. Sie sollten sich dem anschließen. (Beifall bei der CDU/CSU) Kernpunkt unserer Familienpolitik ist die Wahl- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: freiheit für Eltern. Aufgabe des Staates ist es, den El- Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende Ihrer Rede kom- tern möglichst viele Handlungsoptionen zu geben, um men. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16127

(A) Angela Schmid (CDU/CSU): Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): (C) Ja. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ergebnis nach fast sieben Jahren rot-grüner Poli- Meine Damen und Herren! Wir gedenken in diesen Ta- tik ist erschreckend. Damit junge Menschen wieder Ver- gen in besonderer Weise der Hunderttausenden Arme- trauen in die Zukunft haben, brauchen wir eine andere nier, eingeschlossen zahlreiche aramäische und chaldäi- Politik. Soll die Umsetzung des nationalen Aktionsplans sche Christen, die vor 90 Jahren im Osmanischen Reich erfolgreich sein, beginnen wir es gemeinsam! Aber Sie, brutal vertrieben, vielfach furchtbar misshandelt und mit meine Damen und Herren der Opposition, tragen dabei planvoller Konsequenz und oft zügelloser Grausamkeit eine ganz besondere Verantwortung. getötet wurden. Wir gedenken der weitgehenden Ver- nichtung einer jahrhundertealten Kultur auf dem Boden (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Anatoliens, die dort lange Zeit in Gemeinschaft mit an- „Opposition“? Da war der Wunsch Vater der deren Kulturen bestehen konnte. Rede!) Danke. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Seit dem ökumenischen Gottesdienst in der nahen Hedwigs-Kathedrale am 24. April 1919 haben Kirchen, Literatur und Wissenschaft in Deutschland dieser Tragö- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Aufmerksamkeit Ich schließe die Aussprache. gewidmet. Nicht so die Politik! Der Antrag, den wir Ih- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen nen heute vorlegen, ist somit der erste Versuch deutscher auf den Drucksachen 15/4970, 15/5341, 15/4724 und Politik, aus eigenem Antrieb zum Schicksal des armeni- 15/2419 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schen Volkes Stellung zu nehmen. Keine deutsche Re- schüsse vorgeschlagen. Bei der Vorlage auf Druck- gierung, kein deutsches Parlament hat dies während der sache 15/4724 zu Tagesordnungspunkt 5 c soll die zurückliegenden 90 Jahre getan. Andererseits ist der Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, 90. Jahrestag, der Anlass für unseren Antrag war, ver- Frauen und Jugend und bei der Vorlage auf Druck- mutlich der letzte runde Gedenktag, an dem noch sache 15/2419 zu Tagesordnungspunkt 5 d beim Rechts- Augenzeugen leben. ausschuss liegen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5348 soll an dieselben Wenn wir uns als Deutscher Bundestag jetzt diesem Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 15/4970, auf politischer Bühne lange verdrängten Thema stellen, (B) hiervon abweichend jedoch nicht an den Innenaus- so sollten wir es mit möglichst großer Einmütigkeit tun. (D) schuss, überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan- Deshalb werden wir um Überweisung des Antrags in die den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- Ausschüsse bitten und auf eine fraktionsübergreifende schlossen. Beschlussfassung hoffen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätte die Beratung des Antrags der Abgeordneten Debatte um das Schicksal der osmanischen Armenier be- Dr. Christoph Bergner, Dr. Friedbert Pflüger, reits 1916 hier im Reichstag stattfinden können. Unweit Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der von hier informierte Johannes Lepsius am 7. Oktober Fraktion der CDU/CSU 1915 die Presse. Die deutsche Militärzensur verhinderte jedoch die Verbreitung seiner Berichte zur Lage des ar- Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages des menischen Volkes in der Türkei. Die Zensur unterband Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an auch die Information der Reichstagsabgeordneten. So den Armeniern am 24. April 1915 – Deutsch- fand die Debatte nicht statt. Jetzt, 90 Jahre später, ist sie land muss zur Versöhnung zwischen Türken in den Reichstag zurückgekehrt. und Armeniern beitragen – Drucksache 15/4933 – Das Dilemma und die Motive der deutschen Reichs- regierung damals verdeutlicht schlaglichtartig eine Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Notiz des Reichskanzlers Bethmann Hollweg. Er re- Innenausschuss agierte auf die dringende Forderung des deutschen Bot- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe schafters Wolff-Metternich, der türkischen Regierung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und wegen der Armenierverfolgung in den Arm zu fallen. Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich zitiere zunächst aus der Depesche von Wolff- Metternich: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine dreiviertel Stunde vorgesehen. – Ich Um in der Armenierfrage Erfolg zu haben, müssen höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. wir der türkischen Regierung Furcht vor den Folgen einflößen. Wagen wir aus militärischen Gründen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege kein festeres Auftreten, so bleibt nichts übrig, als Dr. Christoph Bergner, CDU/CSU-Fraktion. zuzusehen, wie unser Bundesgenosse weiter massa- (Beifall bei der CDU/CSU) kriert. 16128 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Christoph Bergner (A) Der Reichskanzler Bethmann Hollweg dazu: Wir haben bei der Formulierung unseres Antrages auf (C) die juristische Kategorisierung durch die Begriffe „Völ- Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines kermord“ bzw. „Genozid“ bewusst verzichtet. Dieser Bundesgenossen während eines laufenden Krieges Verzicht geschah nicht, weil wir die Ereignisse, deren wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch wir gedenken, verharmlosen oder beschönigen wollten; nie dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Tür- dafür besteht kein Anlass. kei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde Wir möchten etwas anderes verdeutlichen. Es geht gehen oder nicht. uns ausdrücklich nicht darum, die türkische Republik oder gar ihre Bevölkerung auf die Anklagebank zu set- Das war die Haltung des Deutschen Reiches 1915/16. zen. Unser Antrag ist vielmehr der Versuch, die Rechts- Beherrscht von der Logik eines die europäischen Völ- nachfolger des Osmanischen Reiches in das einzubezie- ker zermalmenden Krieges machte sich Deutschland ei- hen, was man mit Blick auf die Konflikte, Verwüstungen ner Haltung schuldig, die wohl als unterlassene Hilfe- und Verbrechen des 20. Jahrhunderts in Europa „euro- leistung gegenüber dem von Vernichtung bedrohten päische Erinnerungskultur“ nennen könnte, eine Erin- armenischen Volk bezeichnet werden muss. nerungskultur, die wir in diesen Wochen um den 60. Jahrestag des Ende^s des Zweiten Weltkriegs in be- (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- sonderer Weise erleben. Diese Erinnerungskultur wurde NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Grundlage einer Aussöhnung, die die Gemeinschaft eu- ten der SPD und der FDP) ropäischer Staaten erst möglich gemacht hat. Mit dem Eingeständnis dieser unserer Schuld wird (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem auch unsere heutige Verantwortung deutlich. Wir Deut- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sche stehen in einer besonderen Zeugenschaft für die Vorgänge der Jahre 1915/16. Die Dokumente im politi- Nur so konnten frühere Kriegsgegner, ja Erbfeinde in der schen Archiv des Auswärtigen Amts über die Ereig- EU vereint werden. Auf dieser Grundlage konnten Staa- nisse im Osmanischen Reich können von niemandem ten zusammengeführt werden, die sich in den Zeiten des – auch nicht von der türkischen Regierung – in Zweifel Kalten Krieges und der Blockkonfrontation jahrzehnte- gezogen werden. Als Zeugen und ehemalige Kriegsver- lang angriffsbereit gegenüberstanden. So ist die Europäi- bündete des Osmanischen Reiches haben wir Deutsche sche Union in ihrem Kern ein Aussöhnungsprojekt, das eine besondere Verantwortung, auf der Basis der histori- auf gemeinsamer Geschichtsbewältigung beruht. schen Wahrheit zur Verständigung und Versöhnung zwi- Unser Antrag soll eine Einladung an unsere türki- schen Türken und Armeniern beizutragen. schen Partner und Freunde sein, sich diesem Prozess zu (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- stellen. Dies ist im Interesse der Türkei selber. Wir NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- möchten herzlich dazu einladen. ten der SPD und der FDP) Vielen Dank. Dieser Zeugenpflicht dürfen wir uns nicht entziehen, (Beifall im ganzen Hause) wenn wir uns nicht erneut schuldig machen wollen. Ich verweise auf einen intensiven Briefwechsel und Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: viele Diskussionen mit türkischen Freunden und Part- Nächster Redner ist der Kollege Markus Meckel, nern, die nach Vorlage unseres Antrages stattgefunden SPD-Fraktion. haben. Die Stellungnahmen offizieller türkischer Vertre- ter und nicht zuletzt die Erklärung der Großen National- Markus Meckel (SPD): versammlung vom 13. April dieses Jahres haben ver- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und deutlicht, wie schwierig es ist, den Inhalt unseres Kollegen! Wir erinnern und gedenken heute der Opfer Antrages und die Redlichkeit unseres Anliegens der tür- des Völkermords an den Armeniern vor 90 Jahren. Wir kischen Seite zu vermitteln. Auch heute habe ich einen wollen das allzu lange Schweigen, von dem eben schon Brief vom Verband Türkischer Unternehmer und Indus- die Rede war, brechen und einen Beitrag dazu leisten, trieller in Europa bekommen, in dem uns vorgeworfen den Toten ihre Ehre und ihre Würde wiederzugeben. wird, hinter unserem Antrag stehe eine gezielte Diskri- Gleichzeitig denken wir aber an alle Opfer dieser Jahre: minierungskampagne gegen die Türkei. Er sei ein klarer an die Christen der verschiedenen ethnischen Gruppen Beweis unserer türkeifeindlichen Grundhaltung und eine im Osmanischen Reich, an Tataren, Türken und Kurden, vorsätzliche Diskriminierung der Türkei und der Türken. die ebenfalls zu Hunderttausenden umgekommen sind. Dies ist falsch. Das Gegenteil ist vielmehr richtig. Es kann und es darf kein Aufrechnen der verschiedenen Opfer geben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und der FDP) (Beifall im ganzen Hause) Wir wollen diese Diskussion fortsetzen, weil wir glau- Ich bin dem Kollegen Bergner für seine Initiative zu ben, dass eine Öffnung des türkischen Staates im Hin- der heutigen wichtigen Debatte dankbar. Meine Fraktion blick auf den Umgang mit der türkisch-armenischen Ver- ist überzeugt, dass wir in den Gesprächen und Beratun- gangenheit im wohlverstandenen Interesse der Türkei gen, die wir im Ausschuss miteinander führen werden, selbst sein kann. zu einem gemeinsamen Antrag kommen werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16129

Markus Meckel (A) Wir alle wissen: In der Türkei sind die damaligen Er- Es wäre gut, wenn sich auch die Türkei der Erkennt- (C) eignisse noch heute heftig umstritten. Offiziell und mit nis öffnen würde, dass das Sichstellen der eigenen Ge- Leidenschaft wird geleugnet, dass es sich bei den Depor- schichte, auch der eigenen historischen Verantwortung tationen und Massakern um eine gezielte staatliche Poli- und Schuld, keinen Verzicht auf Patriotismus und natio- tik zur Vernichtung der armenischen Bevölkerung han- nalen Stolz bedeutet. Wir als Deutsche haben diese Er- delte. Wir halten es als deutsche Parlamentarier für fahrung gemacht, uns einer wahrhaftig noch furchtbare- wichtig, uns mit dieser Frage auseinander zu setzen, ren Geschichte und Schuld zu stellen. Wir haben dabei nicht zuletzt deshalb, weil sie Teil unserer eigenen Ge- die Erfahrung gemacht, dass gerade daraus internatio- schichte ist. Deutsche Regierungen haben nach dem Ers- nale Anerkennung gewachsen ist, ohne die übrigens ten Weltkrieg nie – das wurde schon angesprochen – aus auch die deutsche Wiedervereinigung nicht möglich ge- eigenem Antrieb der armenischen Opfer gedacht und wesen wäre. sich zu ihrer Mitverantwortung bekannt. (Beifall im ganzen Hause) Dieses Schweigen in Deutschland und international Versöhnung setzt Offenheit voraus. Offenheit heißt, in vielen Bereichen hat ein Mann wie Adolf Hitler genau das ganze Bild der historischen Fakten offen zu legen. beobachtet. Am 22. August 1939, wenige Tage vor dem Gerade daraus kann Versöhnung und neu gewonnene Fä- Kriegsbeginn, hat er auf dem Obersalzberg der deut- higkeit zu guter Nachbarschaft wachsen. In dieser Hin- schen Militärführung die gnadenlose Vernichtung der sicht ist es etwa wichtig, dass die türkisch-armenische polnischen Bevölkerung angekündigt und aufgetragen. Grenze geöffnet wird, was sowohl für den Osten der Die noch vorhandenen Skrupel der Militärs versuchte er Türkei wesentlich ist als auch für das isolierte Armenien, mit dem Satz zu beseitigen: „Wer redet heute noch von das aus seiner Ecke herauskommen muss, in der es in der Vernichtung der Armenier?“ vielen Bereichen steckt. Glücklicherweise gab es auch andere Stimmen in Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist wichtig, Deutschland, die sich ehrlich und intensiv bemühten. dass wir diesen Teil der Geschichte bei uns und an- Der evangelische Theologe Johannes Lepsius wurde derswo in Europa, aber eben auch in der Türkei und in schon erwähnt mit seinen vielfältigen Bemühungen und Armenien, verarbeiten, damit Geschichte endlich ruhen seiner Rede im Presseklub, aber eben auch mit seiner kann und unsere Zukunft nicht mehr belastet. Dies ist Dokumentation nach den furchtbaren Ereignissen. Es das Ziel der Beschäftigung mit der Geschichte, an der wurde schon berichtet von der Zensur der öffentlichen wir alle – das gilt auch für die Türkei – nicht vorbeikom- Stellen damals – die deutschen Reichstagsabgeordneten men. Der 90. Jahrestag wäre meines Erachtens ein guter bekamen seine Dokumentation erst Jahre später zuge- Anlass, dies zu tun. (B) (D) stellt – und auch von der Aussage des Reichskanzlers, Der Blick auf die heutige Türkei zeigt jedoch leider die auch ich in meinem Manuskript stehen habe, weil es ein gespaltenes Bild. Es gibt durchaus hoffnungsvolle so eklatant ist, dass wir, dass die kaiserliche deutsche Anzeichen. Es gibt viele in der Gesellschaft, die das Politik im Ersten Weltkrieg dies einfach hingenommen Thema aufgreifen. Ministerpräsident Erdogan selber hat hat. Darauf beruht auch unsere besondere deutsche Ver- im vergangenen Dezember das erste Museum über arme- antwortung, uns dieser Geschichte zu stellen. nisches Leben in Istanbul eröffnet. Das ist ein wichtiger Schritt. Die Archive des Auswärtigen Amts sind seit langem offen, auch für die internationale Forschung, die die Er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eignisse anhand der Akten bereits deutlich rekonstruiert DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der hat. Kopien sämtlicher relevanter Akten des Auswärti- CDU/CSU und der FDP) gen Amts wurden der Türkei und Armenien vor einigen Aus der Zivilgesellschaft heraus gab es übrigens deut- Jahren übergeben. Es wäre gut, wenn sie auch in der lichen Widerstand gegenüber einem in meinen Augen Türkei für alle öffentlich zugänglich wären, vielleicht in relativ absurden Aufsatzwettbewerb, der sich vom wichtigen Teilen übersetzt. Thema her gezielt gegen den Vorwurf des Genozids rich- (Beifall im ganzen Hause) tete. Viele haben es abgelehnt, sich daran zu beteiligen. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen. Allein aus den deutschen Akten geht klar hervor, dass Ich halte es auch für gut, dass sich das türkische Par- das damals die Macht habende Komitee für Einheit und lament in der vergangenen Woche erstmals in einer Fortschritt die Vernichtung der Armenier systematisch Plenardebatte mit diesem Thema befasst hat. Betrachtet betrieb, mithilfe staatlicher Behörden und paramilitäri- man allerdings den Verlauf dieser Debatte, so stimmt ei- scher Organisationen. Dass dies eine gezielte Politik nen dies eher betrübt, war, gehört zur Definition des Begriffs „Völkermord“, wie sie später in der UN-Konvention von 1948 verankert (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ja, sie war wurde. Dabei ist bemerkenswert, dass Raphael Lemkin, leider nicht sehr ermutigend!) der diesen Begriff neu schuf und wesentlich zur Durch- weil darin alte Geschichtsbilder zementiert und erneut setzung dieses neuartigen völkerrechtlichen Instruments propagiert wurden. beigetragen hat, von sich bekannte, dass er dabei sowohl das Schicksal der Armenier als auch das der europäi- Wenn einerseits die Ansicht vertreten wird, dass Ge- schen Juden im Blick hatte. schichte nicht Thema der Politik sein darf, sondern den 16130 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Markus Meckel (A) Historikern überlassen werden sollte, und andererseits Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) beschlossen wird, das britische Parlament aufzufordern, Ich erteile dem Kollegen Dr. Rainer Stinner für die das „Blaue Buch“, eine Dokumentensammlung, zu Pro- FDP-Fraktion das Wort. paganda zu erklären, dann ist das ein Widerspruch und entspricht in keiner Weise dem, was heute notwendig ist. Dr. Rainer Stinner (FDP): (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! GRÜNEN und der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Warum be- schäftigen wir uns im Deutschen Bundestag 90 Jahre Problematisch sind die diplomatischen Bemühungen nach den hier zur Diskussion stehenden dramatischen auf europäischer, aber auch auf internationaler Ebene, Ereignissen mit Mord und Vertreibung mit diesem Phä- die Behandlung mit dem Thema beiseite zu drängen oder nomen? Es mag viele Gründe geben. Für mich ist der al- mithilfe konkreter Kontakte zu verhindern. Dies wird lerwichtigste Grund, dass wir als Deutsche und Europäer dem Ansehen der Türkei nicht gerecht. ein ganz vitales Eigeninteresse an einer friedlichen Ent- wicklung in dieser Nachbarschaftsregion haben. Das ist Für konstruktiv halte ich dagegen die bereits ange- unser Interesse im Jahre 2005. Deshalb müssen wir uns sprochene Historikerkommission. Meiner Ansicht nach auch mit der Geschichte beschäftigen. sollte sie aber nicht bilateral, sondern international zu- sammengesetzt sein. Dabei muss klar sein, dass Ge- Wir können und wollen aber keine Historikerkommis- schichte nicht verhandelbar ist. Es geht vielmehr darum, sion sein. Das ist nicht unsere Aufgabe. Es geht auch Geschichte öffentlich zu machen und einen öffentlichen nicht – darin sind wir uns alle sicherlich einig – um Diskurs über die verschiedenen Akten und Perspektiven Schuldzuweisungen an die heute lebenden Türken. Es zu eröffnen, der für die Gesellschaften aller Länder not- geht vielmehr um einen Prozess der systematischen Auf- wendig ist. Es wäre sicherlich gut, wenn Armenien be- arbeitung der eigenen Geschichte. Damit haben wir reit wäre, sich an einem solchen Diskurs und einer sol- selber jahrzehntelange, schmerzhafte Erfahrungen. Wir chen Kommission zu beteiligen. haben daraus zwei Lehren gezogen. Erstens. In einem solchen Prozess darf es immer nur darum gehen, das ei- Schlimm ist – damit möchte ich schließen –, dass in gene Tun kritisch zu hinterfragen. Ganz schlimm ist, der Türkei die Behandlung dieses Themas leider bis wenn man bei dem kritischen Hinterfragen versucht, ei- heute unter Strafandrohung steht. Ich denke, dass das in gene gegen fremde Tote aufzurechnen. Das ist falsch. keiner Weise akzeptabel ist, und das müssen wir sehr Das haben wir gelernt. Wir rufen daher unseren Nach- deutlich machen. Dass der türkische Schriftsteller Orhan barn zu: Liebe türkische Freunde, das ist nicht die rich- Pamuk unter Strafandrohung steht, weil er dieses Thema tige Art, mit der eigenen Geschichte umzugehen. (B) aufgeworfen hat, und zurzeit aus Angst vor Todesdro- (D) hungen im Untergrund lebt, ist ein Skandal für die Tür- (Beifall im ganzen Hause) kei. Ich denke, wir müssen die Türkei bzw. die türkische Zweitens. Wir haben gelernt, dass bei einem solchen Regierung aufrufen, sich vor ihn zu stellen und deutlich Prozess externer Druck durchaus hilfreich ist. Deshalb zu machen: Wir wollen ihn schützen; wir wollen diesen rufen wir den Türken und den Armeniern zu: Jawohl, Diskurs. wir als Deutsche und Europäer schauen auf euch und be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des obachten, wie ihr den Prozess, für den ihr verantwortlich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der seid, bewältigt! Wir tun das, weil wir euch ermutigen CDU/CSU) wollen, diesen Prozess in aller Offenheit zu gestalten. Gerade angesichts der Vorgänge in meinem Heimat- Die historischen Fakten können und wollen wir in land Brandenburg vor einigen Wochen muss ich geste- diesem Hause nicht im Detail analysieren. Dazu sind an- hen, dass das ein Problem war. Man hat aber übersehen, dere berufen. Es hat ja die Turkish Armenian Reconcilia- dass das Problem nicht nur Brandenburg betrifft. Es war tion Commission gegeben, die einen sehr ausführlichen das erste Bundesland, in dem diese Themen im Unter- und detaillierten Report verfasst hat. Dort kommt man richt behandelt wurden. Wir sollten uns insofern in allen letztendlich zu dem Schluss, dass es sich um einen Bundesländern dafür einsetzen, dass das Thema Be- Genozid handelt. Ich möchte das hier im Einzelnen standteil des öffentlichen Diskurses in Deutschland wird nicht bewerten. Interessant ist aber, dass sowohl die Tür- und dass in allen Schulen und Schulklassen offen mit kei als auch Armenien die Veröffentlichung dieses dieser Geschichte umgegangen wird. Reports abgelehnt haben. In der Türkei haben bis zum heutigen Tage – das wis- Ich hoffe, dass uns dies gelingt und dass wir gemein- sen wir alle; die Kollegen haben bereits darauf hingewie- sam dafür eintreten, uns zunächst einmal mit unserer ei- sen – eine Auseinandersetzung und eine systematische genen Geschichte, zu der auch die türkische Geschichte Aufarbeitung leider nicht stattgefunden. Wir glauben gehört – denn wir alle leben in Europa und haben eine aber, dass es wichtig ist, das zu tun. Wir rufen den Tür- gemeinsame Geschichte –, so zu befassen, dass daraus ken zu: Jawohl, wir alle wissen, dass das ein schmerz- eine gute gemeinsame Zukunft erwächst. hafter Prozess ist! Auch für uns war das über Jahrzehnte Ich danke Ihnen. hinweg ein sehr schmerzhafter Prozess. Es gibt erste er- mutigende Zeichen, wie zum Beispiel Erdogans Ankün- (Beifall im ganzen Hause) digung, eine Historikerkommission einzusetzen. Auch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16131

Dr. Rainer Stinner (A) hier hat Druck von außen geholfen, Bewegung in die Sa- Für uns ist diese Debatte europäisch und auch (C) che zu bringen. Deshalb müssen wir daran weiter mit- deutsch; deswegen müssen und können wir sie im Deut- wirken. schen Bundestag führen. Beginnen wir also bei uns selbst. In verschiedenen Beiträgen ist schon deutlich ge- Der Antrag der Union ist eine Grundlage für die wei- macht worden, dass es eine in Kauf genommene Billi- tere Behandlung in den Ausschüssen. Wir sind dazu gung der Vertreibung und der Vernichtung von Teilen gerne bereit. Herr Bergner, für meinen persönlichen Ge- des armenischen Volkes durch Deutschland gegeben hat; schmack ist der historische Teil des Antrags Ihrer Frak- es gab eine spezifisch deutsche Verstrickung. Die tion allerdings noch zu groß und der politische zu klein. Zitate von Bethmann Hollweg will ich nicht wiederho- Wir werden daran sicherlich gemeinsam arbeiten. len. Konsuln in der anatolischen Provinz haben in vielen Wie eingangs gesagt, beschäftigen wir uns damit aus Drahtberichten an die Botschaft in Konstantinopel, aber deutschem und europäischem Interesse. Wir haben Inte- auch nach Berlin nicht nur die Ereignisse, sondern auch resse an einer friedlichen Zusammenarbeit mit der Re- das Planvolle der Ereignisse immer wieder im Detail gion und daran, dass unsere Nachbarschaftspolitik, die vermittelt. Deswegen wusste man in Deutschland ein- unser Geld, unsere Energie und unser Brain kostet, in deutig Bescheid. Aber man hat sich darum – das drückt dieser Region erfolgreich ist. Die Öffnung der Grenzen auch das vorher wiedergegebene Zitat aus – aufgrund ir- zwischen Armenien und der Türkei wäre sicherlich ein gendwelcher Interessen nicht kümmern wollen. Man hat erster wichtiger Schritt. geschwiegen. In diese Stoßrichtung muss unsere Arbeit in den Wir haben deswegen nicht nur ein Mitwissen, son- nächsten Wochen und Monaten gehen. Auf dieser Basis dern auch eine Mitschuld. Ich möchte mich für meine können wir gerne einen gemeinsamen Antrag erarbeiten. Fraktion und, ich glaube, für alle in diesem Haus heute, Wir werden dazu unseren Beitrag leisten. 90 Jahre nach diesen schrecklichen Ereignissen, beim ar- menischen Volk für diese Mitschuld entschuldigen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall im ganzen Hause) sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wenn man sich die Debatte in den letzten Wochen in Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Deutschland, natürlich auch in der Türkei und in Arme- Grünen. nien genau anschaut, dann hat man das Gefühl: Letzt- endlich scheint es nur noch um die Frage zu gehen, ob (B) man von Völkermord spricht oder nicht. Ich halte diese (D) Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zuspitzung für falsch und unklug. Ich will diese Gele- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! genheit gern nutzen, um zu erklären, warum. Wenn ich Meine Fraktion begrüßt die Debatte, die heute im Bun- mir die Berichte etwa der deutschen Konsuln und Bot- destag über die Vertreibung und weitgehende Vernich- schafter nach Berlin anschaue, wenn ich mir auch die tung des armenischen Volkes im Jahre 1915 stattfindet. Berichte über die Sonderkriegsgerichte ab 1919 – es Wir führen diese Debatte, weil wir es für entscheidend wurden von türkischen Richtern Urteile gesprochen – halten, dass das Gedenken an die Opfer bewahrt und er- anschaue, dann komme ich persönlich zu der Auffas- neuert wird, und weil wir die Türkei eines Tages in der sung, dass es keine irgendwie unglückliche Vertreibung Europäischen Union haben wollen. Wir führen sie nicht, gab, die zu negativen Ereignissen geführt hat, sondern weil wir zeigen wollen, dass ein Beitritt der Türkei zur eine kalkulierte Vertreibung mit dem Ziel, das armeni- EU nicht möglich wäre. sche Volk zu vernichten. Deswegen erkläre ich für mich – viele Kollegen in meiner Fraktion stimmen dem zu –: Ich will in Bezug auf die schrillen Töne, die wir, alle Es handelte sich um einen Genozid, also um Völker- Fraktionen, in den letzten Wochen gehört haben, sagen: mord. Diese Debatte ist keine Einmischung in eine innertürki- sche Angelegenheit. Der Deutsche Bundestag entschei- (Beifall des Abg. Günter Nooke [CDU/CSU]) det allein – nur er entscheidet –, worüber er diskutiert und womit er sich befasst. Das ist die eine Seite. Wir müssen aber auch eine andere Seite berücksichti- (Beifall im ganzen Hause) gen. Dabei geht es um die Frage: Welche Diskussion lö- Was in unseren Schulbüchern steht, wird in der Bundes- sen wir mit Beschlüssen des Bundestages in der Türkei republik Deutschland in den Bundesländern entschieden. aus? Wenn wir hier einen Antrag verabschiedeten, in dem steht, der Deutsche Bundestag stellt fest: es war Jetzt kommt ein wichtiger Punkt: Wenn bei uns je- Völkermord; wir fordern die Türken auf, dies endlich mand der Überzeugung ist, dass in einem Schulbuch et- zuzugeben – ich finde es richtig, dass die Union den Be- was Falsches steht, dann kann er das frei und öffentlich griff Völkermord nicht verwendet hat –, dann würden sagen und dann findet unter Umständen eine gesell- wir nach meiner festen Überzeugung das Gegenteil von schaftliche und politische Debatte darüber statt, ob er dem erreichen, was wir tatsächlich wollen. Recht hat oder nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bei der SPD und der FDP) 16132 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Fritz Kuhn (A) Bei unserer Verantwortung für die Opfer geht es nicht dem es heißt, gehe du den ersten Schritt, sondern das (C) nur um das Gedenken – darum geht es auch –, sondern muss zusammen gemacht werden. Ich bin der Überzeu- auch darum, dass wir – unabhängig davon, dass wir im gung, dass manche Diskussion in der Türkei einfacher Sinne historischer Wahrheit Recht haben – Recht be- wäre, wenn es heute zu mehr Austausch und zu mehr kommen in Bezug auf das, was in der Türkei und in Ar- Kontakt zwischen Bürgern und Bürgerinnen aus Arme- menien und zwischen diesen beiden Ländern heute tat- nien und der Türkei kommen könnte. sächlich stattfinden kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) Ich möchte zum Schluss kommen und der CDU/CSU Wir sollten deswegen nicht mit der Geste von Rich- dafür danken, dass sie den Antrag eingebracht hat. Der tern auftreten; vielmehr sollten wir uns subjektiv um Er- Antrag hat eine rege Diskussion ausgelöst, auch wenn kenntnisse und um die historische Wahrheit bemühen. wir im Einzelnen noch Veränderungen erreichen wollen. Aber wir sollten den Diskussionsprozess in der Türkei Wir werden im Ausschuss und in Vorgesprächen zwi- – er hat positiv begonnen; ich verweise auf die zarten schen allen Fraktionen diskutieren. Die Diskussion ist, Pflanzen einer Erinnerungskultur – wirklich aktiv und glaube ich, durch die öffentliche Berichterstattung in den offensiv unterstützen. letzten Wochen und Monaten sensibler geworden. Wir wollen auch einen offenen Diskurs mit den Abgeordne- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten und mit der Bevölkerung in der Türkei. Wenn dies sowie bei Abgeordneten der SPD und der mit der Debatte heute angestoßen wird, dann haben wir CDU/CSU) ein gutes Stück Arbeit geleistet für eine positive europäi- Deshalb gilt an diesem Tag unser Respekt denen, die sche Erinnerungskultur, die keine Opfer tabuisieren in der Türkei jetzt darüber offen diskutieren, Menschen, kann. die mit einer offenen Diskussion viel riskieren, aber Vielen Dank. auch denen, die in der türkischen Regierung und im tür- kischen Parlament erkennen, dass man sich in diesem (Beifall im ganzen Hause) Land der historischen Verantwortung annähern muss, wenn auch nur schrittweise. Wir haben also nicht auf die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Türkei zu zeigen mit der Absicht, irgendjemanden zu Das Wort hat nun der Kollege Friedbert Pflüger, entlarven oder vorzuführen, sondern wir haben eine Dis- CDU/CSU-Fraktion. kussion zu führen, in der wir den europäischen Standard (B) vertreten, dass man nämlich in Europa reflexiv über die Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): (D) eigene Geschichte, auch über die Schattenseiten der ei- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und genen Geschichte, diskutiert. Wir müssen alle in der Herren! Ich möchte mich bei Ihnen, Kollege Kuhn, und Türkei einladen, diese auch schmerzhafte Diskussion eu- auch bei allen anderen Kollegen, die geredet haben, be- ropäisch miteinander zu führen. danken, und zwar für die große Übereinstimmung, für Ein Kernelement der europäischen Wertekultur ist, die große Sachlichkeit und Ernsthaftigkeit, die in einem dass es freie Diskussionen über strittige Fragen geben großen Gegensatz zu den aufgeregten und diffamieren- kann. Zur Aufklärung gehört, nicht immer nur die Ver- den Anklagen mancher in der Türkei in diesen Tagen nunft zu betonen, sondern auch die Schattenseiten und steht. ihren Missbrauch zu sehen. Ich möchte der Debatte einige Anmerkungen hinzufü- Ich will für meine Fraktion noch einmal Folgendes gen: sagen: Wir hoffen und wünschen, dass der Weg des tür- Erstens. Wir als Deutsche haben keinen Grund, auf kischen Volkes und der Türkei zur europäischen Werte- andere herabzublicken; niemand hat das hier im Parla- gemeinschaft und zur Europäischen Union eines Tages ment getan. Wir sind uns unserer deutschen Verantwor- erfolgreich abgeschlossen werden kann. tung für den einzigartigen industriellen Massenmord in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unserer Geschichte, den Holocaust, und auch der Mitver- und bei der SPD) antwortung des Deutschen Reiches für die Massaker an den Armeniern bewusst. Dass die Diskussion zwischen den Türken und den Zweitens. Viele bei uns sagen, dass wir Deutsche uns Armeniern schmerzhaft und schwierig ist, ist angesichts unserer Vergangenheit gestellt hätten und der Vergan- dieser Geschichte klar. Es ist schwer, historische Tabus genheit ins Auge schauen würden, während die Türken aufzubrechen. Das ist mit Schmerzen verbunden. Ich bin verdrängen und beschönigen würden. Das ist wohl wahr. der Überzeugung, dass man die Bewältigung geschicht- Aber das liegt nicht daran, dass wir Deutschen bessere licher Probleme manchmal erleichtern kann, indem man Menschen als die Türken sind. in der Gegenwart anfängt. Deswegen möchte ich beto- nen, dass es der Versöhnung zwischen dem armenischen Es ist nämlich, wenn man nach dem Grund spürt, für Volk und der Türkei sehr viel helfen würde, wenn jetzt die Türken auch schwerer, sich ihrer Vergangenheit zu endlich die Grenzen geöffnet und normale diplomatische stellen. Denn Deutschland hatte mit dem 8. Mai die to- Beziehungen aufgenommen würden, und zwar jeweils tale Niederlage und Kapitulation, den totalen Zusam- ohne Vorbedingungen. Dies kann kein Prozess sein, in menbruch, und die Bundesrepublik Deutschland wurde Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16133

Dr. Friedbert Pflüger (A) in Diskontinuität, ja als Gegenbild zum nationalsozialis- Sechstens. Trotzdem sagen wir: Die Türkei sollte sich (C) tischen Deutschland gegründet. Es war von Anfang an der Wahrheit öffnen. Es macht – Herr Kollege Meckel Teil dieses Gegenbildes, sich mit Auschwitz offen aus- hat das sehr schön gesagt – eine Nation nicht größer, einander zu setzen, so schwer die Einsicht in die Wahr- wenn sie die Augen vor den dunklen Zeiten ihrer Ge- heit uns Deutschen auch gefallen ist und vielen bis heute schichte verschließt. Ich glaube in der Tat, dass das Ge- fällt. genteil der Fall ist. Wenn man im persönlichen Leben, aber auch sonst die Kraft hat, sich der eigenen Fehler, Anders in der Türkei. Ein Schuldbekenntnis greift in Irrtümer und Irrwege zu stellen, wird man hinterher eher den Augen der meisten Türken auch die moderne Türkei stärker und nicht schwächer. Das Geheimnis der Erlö- an, zumindest den Gründungsmythos der Türkei. Denn sung ist Erinnerung, sagte Richard von Weizsäcker in dieser Gründungsmythos porträtiert diese Phase der tür- seiner Rede am 8. Mai 1985. kischen Geschichte als den nationalen Kampf gegen den europäischen Imperialismus. Die Zwangsdeportationen (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Eine der Armenier erscheinen seit den Jungtürken in der Tür- jüdische Weisheit!) kei als Verteidigungsmaßnahme zur Rettung des Vater- Siebtens. Wer redet heute noch von der Vernichtung landes gegen den inneren armenischen Feind. der Armenier? Kollege Meckel hat diesen Satz von So haben es Generationen von Türken in der Schule Adolf Hitler, der in den Akten des Auswärtigen Amtes gelernt. Sie haben ebenso gelernt, dass die erdrückende dokumentiert ist, zitiert. Wenn wir uns nicht erinnern, Dokumentenlage in europäischen und amerikanischen dann wird die Gefahr der Wiederholung größer. Wenn Archiven nichts ist als Kriegspropaganda mit dem Ziel, wir uns nicht erinnern, wenn sich die Türken nicht erin- die Türkei klein zu halten. nern, wenn es möglich ist, solches Grauen in Europa und den angrenzenden Gebieten zu begehen, ohne dass daran Drittens. Es führt deshalb nicht weiter, mit Druck auf heute erinnert wird, dann besteht die Gefahr von Nach- die Türkei endlich die Anerkennung des Völkermordbe- folgeaktionen. griffes durchzusetzen. Es wird die Türken wenig beein- drucken, wenn wir hier, wie das andere Parlamente getan Achtens. Mit der Debatte zu unserem Antrag wollen haben, die Entscheidung treffen, dass auch wir der Mei- wir die Annäherung der Türkei an Europa – das be- nung sind: Das ist Völkermord. tone ich ausdrücklich – nicht mit einem neuen Hindernis belegen. Wir wollen eben nicht anklagen. Wir wollen nicht be- (Beifall im ganzen Hause) schönigen, aber wir wollen die Türkei auch nicht in die Ecke stellen. Wir wollen nicht mit dem Knüppel kom- Wir haben unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie (B) men. Es geht uns um Klärung und nicht um Angriff. Es dieser Annäherungsprozess vollzogen werden sollte; (D) geht uns um Warnung und nicht um Bloßstellen. Wir aber wir alle haben das Interesse, mit der Türkei enger wollen diejenigen in der Türkei ermutigen, die sich den und freundschaftlich zusammenzuarbeiten. Es ist eher Schrecken von 1915 und 1916 stellen. umgekehrt: Wir wollen die Annäherung der Türkei an Europa durch eine gemeinsame Erinnerungskultur ver- (Beifall im ganzen Hause) stärken. Viertens. Es ist mir wichtig festzustellen, dass keiner (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei uns Gebietsansprüche der Armenier an die Türkei der SPD) unterstützt, allerdings auch nicht die Grenzblockade und Isolierung Armeniens. Jorge Semprún hat in Weimar am 10. April eine große Rede gehalten. Mit Blick auf die Länder Mittel- und Ost- (Beifall im ganzen Hause) europas sagte er: Fünftens. Es geht auch nicht um eine Kollektiv- Eine der wirksamsten Möglichkeiten, die Zukunft schuld der Türken. Schuld ist wie Unschuld immer eines vereinten Europas … zu bahnen, besteht da- persönlich und nie kollektiv. Heutige Generationen sind rin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, un- sowieso nicht schuldig. Aber auch die damaligen Türken ser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinne- waren keinesfalls alle der Meinung, dass das, was dort rungen zu einen. Der kürzlich erfolgte Beitritt von geschah, richtig und menschlich ist. zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa … kann kulturell und existenziell erst dann wirksam Übrigens beschreibt das Franz Werfel in seinem wun- erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinan- derbaren Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ sehr der geteilt und vereinigt haben werden. eindrucksvoll. Er beschreibt nämlich Situationen, wo Türken und Armenier zusammen weinten, als armeni- Das gilt auch – in einem anderen Zusammenhang – für sche Familien aufgefordert wurden, auf die Todesmär- die Türkei. sche zu gehen, und wie sie vor dem Mudir auf die Knie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gingen und flehten: „Lasst sie bei uns! Sie haben nicht neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE den richtigen Glauben, aber sie sind gut. Sie sind unsere GRÜNEN) Brüder. Lasst sie hier bei uns!“ Es geht also nicht um die Verdammung der Türken oder der Türkei, genauso we- Neuntens. Die bisherigen offiziellen Reaktionen sei- nig wie es richtig wäre, alle Deutschen für die Untaten tens der Türkei, vom Botschafter und vom Parlament, der Hitler-Zeit in die Schuld zu nehmen. auf unsere Debattenbeiträge sind nicht ermutigend. Man 16134 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Friedbert Pflüger (A) hat die Bemühungen um Differenzierung in der Türkei (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des (C) bisher nicht gewürdigt. Das ist bedauerlich. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Zehntens und letztens. Es gibt aber auch großartige, ermutigende Signale aus der Türkei. Orhan Pamuk ist zi- „Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Op- tiert worden. Er hat ganz offen den Mut gehabt, von Ge- fer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.“ Diese nozid zu sprechen. Professor Berktay spricht von „ethni- eindringliche Mahnung richtete Elie Wiesel am schen Säuberungen“ und von 1 Million Toten und 27. Januar des Jahres 2000 von diesem Rednerpult aus fordert, dass man darum trauern muss. In der Tageszei- an alle Menschen. Das ist eine Mahnung, die auch für tung „Radikal“ schreibt Ismet Berkan: uns Abgeordnete des Deutschen Bundestages wichtig ist und die uns daran erinnern sollte, unseren Beitrag zur Jedoch wissen wir alle, dass in jenen Jahren Dinge Versöhnung zu leisten, indem wir dem Vergessen das Er- geschehen sind, und selbst nach 90 Jahren seit die- innern als Grundlage von Versöhnung und verantwortli- sen Vorkommnissen können wir heute noch immer chem Handeln entgegenhalten. nicht offen darüber reden, was damals genau ge- schah. Ich finde, dass es für uns – auch für mich als Vertreter der jungen Generation – eine große Verpflichtung ist, Es gibt inzwischen in der Türkei eine Initiative „Ge- dort, wo es möglich und sinnvoll ist, zur Versöhnung schichte für Frieden“: Juristen, Historiker, Pädagogen beizutragen. Dies resultiert aus der Verantwortung, die und Elternvereinigungen verwahren sich gegen die ge- wir alle für die unvorstellbaren, präzedenzlosen Verbre- zielte Geschichtsverfälschung in Schulbüchern und wol- chen haben, die in deutschem Namen gegen die Mensch- len ihre Kinder zu Achtung und Toleranz erziehen. lichkeit begangen wurden. Vorgestern habe ich einen Brief von dem „Menschen- In diesem Sinne gibt es gute Gründe für den vorlie- rechtsverein Türkei – Deutschland“ erhalten. In diesem genden Antrag der Kolleginnen und Kollegen der CDU/ Brief heißt es: CSU-Fraktion. Aber ich sage auch: Das gilt ausdrücklich nur dann, wenn die Verstärkung der deutschen Bemü- Es muss deutlich gemacht werden, dass der türki- hungen für eine Versöhnung zwischen Türken und Ar- sche Staat als Nachfolger des Osmanischen Reiches meniern bei der weiteren Beratung dieses Antrags wirk- sich der historischen und moralischen Verantwor- lich unser Hauptanliegen ist. tung zu stellen hat. Wir tragen dafür die Verantwor- tung. Wir Türken verneigen uns voller Achtung und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Trauer vor den Opfern des Völkermordes an den Armeniern. Deshalb sollten wir auf der Grundlage des vorliegenden (B) Antrags mit der notwendigen Geradlinigkeit und mit (D) Ich glaube, dass das ein eindrucksvolles Dokument ist. dem Mut zur Ehrlichkeit einen gemeinsamen Antrag al- ler Fraktionen dieses Hauses erarbeiten. Ich will noch Vielleicht gelingt es uns mit den differenzierten Tö- einmal unterstreichen, was bereits manche Kolleginnen nen, die wir im Rahmen unserer heutigen Debatte aus al- und Kollegen gesagt haben: Uns allen wird es dabei um len Parteien gehört haben, ja doch, dazu beizutragen, Versöhnung, nicht um Anklage gehen. dass man sich in der Türkei diesen Fragen etwas mehr öffnet. Dann kämen wir gemeinsam, auch auf dem Weg (Beifall im ganzen Hause) zum vereinten Europa, ein Stückchen voran. Die Gründung der Europäischen Union und der Er- (Beifall im ganzen Hause) folg der großartigen Idee der Europäischen Union beru- hen auf dem Willen zur Versöhnung. Wer könnte das besser behaupten als wir Deutsche? Denn unsere Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schnelle Wiederaufnahme in die europäische Gemein- Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan, SPD-Frak- schaft demokratischer Staaten ist für uns wegweisend. tion. Sie zeigte den Mut unserer Nachbarstaaten, uns zu ver- geben, obwohl wir ihnen großes Leid angetan hatten. Dietmar Nietan (SPD): Gerade deshalb muss es für uns alle ein entscheidender Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Punkt, eigentlich der Ausgangspunkt all unserer Bemü- Lassen Sie mich zu Beginn sagen, dass nur diejenigen, hungen sein, dass das Gedenken an das Schicksal von die nicht am Dialog interessiert sind, und nur diejenigen, mehr als 1 Million Armeniern, die Opfer von staatlicher die etwas zu vertuschen haben, die heutige Debatte als Vertreibung und Vernichtung wurden, immer im Vorder- Hetze gegen oder Beleidigung der Türkei bezeichnen grund unserer Beratungen steht. können. Wir können die Opfer zwar nicht mehr lebendig ma- chen, aber wir sollten immer wieder und unverzagt dafür (Beifall im ganzen Hause) Sorge tragen, dass sie niemals, wirklich niemals verges- Dafür, dass alle Kolleginnen und Kollegen, die vor sen werden. mir gesprochen haben, dazu beigetragen haben, dass wir (Beifall im ganzen Hause) in dieser verantwortungsvollen Weise mit diesem sehr schwierigen Thema umgehen, möchte ich mich ganz Das Buch über die europäische Geschichte wäre nicht herzlich bei Ihnen allen bedanken. komplett, wenn es darin nicht auch Seiten gäbe, auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16135

Dietmar Nietan (A) denen diesen Opfern, den Armeniern, ein ehrendes Ge- wir aus falsch verstandener Freundschaft die Kultur des (C) denken bereitgestellt würde. Schweigens mitgetragen hätten, nur weil wir meinten, damit den einen oder anderen türkischen Freund schonen Ich will noch einmal unterstützen, was manche Kol- zu können. Das ist keine wirkliche Freundschaft. Wirkli- leginnen und Kollegen bereits gesagt haben: Der Bun- che Freundschaft ist, dass man um Ideen ringt, dass man destag ist nicht der Ort, an dem historische Urteile ge- sich die Wahrheit sagt. Wolfgang Thierse hat es so be- fällt werden sollten. Das hat bereits die überwiegende schrieben: Wenn wir gemeinsam an der europäischen Zahl seriöser Historiker getan, die die Verbrechen an den Erinnerung arbeiten, bedeutet das, dass die nationalen Armeniern eindeutig als Völkermord bezeichnet haben. kollektiven Erinnerungen Schritt für Schritt von einer Unsere Aufgabe ist in der Tat, einen Beitrag zu einem europäischen kollektiven Erinnerung abgelöst werden aufrichtigen Umgang mit unserer europäischen Ge- müssen. Das wird für alle ein schmerzhafter Prozess sein schichte zu leisten. Deshalb sollten bei der weiteren Ar- und dieser Prozess wird auch Zumutungen beinhalten. beit an diesem Antrag aus Sicht der SPD-Bundestags- Aber ich sehe zu diesem Prozess, wenn wir dauerhaft ein fraktion drei Punkte im Vordergrund stehen. Erstens. Der wirklich vereintes Europa mit der Türkei werden wollen, Deutsche Bundestag erkennt an, dass es im Ersten Welt- keine Alternative. Ich hoffe, dass dadurch auch deutlich krieg – teilweise durch Vertuschung, teilweise durch wird, dass es hier darum geht, den Weg nach Europa ge- Verwicklung, klammheimliche Billigung und Unterlas- meinsam mit der Türkei zu gehen und nicht gegen sie. sung von wirksamen Gegenmaßnahmen – eine deutsche (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Mitverantwortung für den Völkermord an den Ar- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) meniern gab. Wenn Sie mir das noch erlauben, will ich hier einen (Beifall der Abg. [] letzten Punkt anfügen: Unser langjähriger, ehemaliger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Kollege Dietrich Sperling hat sich, wie viele von Ihnen Deshalb will ich unterstreichen, was der Kollege Kuhn vielleicht noch wissen, immer für die Versöhnung im gesagt hat. Ich finde, in den überarbeiteten Antrag gehört Kaukasus eingesetzt. Es gibt ein Schreiben von ihm, aus auch eine Entschuldigung beim armenischen Volk. dem ich zitieren will: Er schlägt vor, darüber nachzuden- ken, was wir als Deutsche tun können, um die Konflikte Zweitens. Wir sollten alles tun, damit deutlich wird, dort zu mindern und zur Versöhnung beizutragen. Er dass wir nicht anklagen wollen, sondern dass wir mithel- sagt, wir sollten um eine unverfälschte Darstellung des fen wollen, dass unsere Freunde in der Türkei, die das damaligen Geschehens und der Motivierung seiner Ak- Ganze bisher überwiegend noch verdrängen, diese Ver- teure bemüht sein. Das würde eine internationale Zu- drängung beenden, sich der historischen Verantwortung sammenarbeit, nicht ein Gegeneinander erfordern. Zu (B) (D) für das, was das jungtürkische Regime getan hat, stellen der sollten wir als Deutsche einladen und uns daran be- und die Nachkommen der Opfer um Vergebung bitten. teiligen, und zwar nicht unter dem Aspekt der Anklage Drittens – auch das ist hier schon gesagt worden –: anderer, sondern um uns mit unserem Anteil am damali- Wir sollten alles dafür tun, dass die Zusammenarbeit und gen Geschehen vertrauter zu machen. Wir sollten uns die die Freundschaft zwischen Armenien und der Türkei Gewissheit verschaffen, dass wir uns über uns selbst weiter gefördert werden, dass die Beziehungen normali- nicht mehr belügen sollten. – Ich glaube, Dietrich siert werden. Denn die Isolierung, die von Armenien be- Sperling hat Recht und seine abschließende Forderung, trieben wird, ist eine gefährliche, die nicht im europäi- dass wir als Bundestag bzw. als Bundesregierung uns da- schen Sinne sein kann und die nicht dem europäischen für einsetzen sollten, ein Forschungsvorhaben zu starten, Gedanken entspricht. das Deutschlands Rolle in der armenischen Frage klärt, ist wegweisend und unterstreicht noch einmal: Hier geht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des es auch um uns selbst und nicht um den Fingerzeig auf BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) andere. Ich will abschließend noch einmal unterstreichen Vielen Dank. – und ich glaube, das hat die heutige Debatte gezeigt –: Es geht nicht darum, der Türkei auf dem Weg in ein ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des einigtes Europa Stolpersteine in den Weg zu legen. Ich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ gehöre zu denjenigen, die immer mit Überzeugung dafür CSU und der FDP) eingetreten sind und das auch heute tun, Beitrittsver- handlungen mit der Türkei aufzunehmen. Ich habe Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: große Hochachtung vor den Leistungen des türkischen Ich schließe die Aussprache. Volkes, vor den Menschen in der Türkei, aber auch den türkischstämmigen Menschen, die hier leben. Wir sind damit am Ende einer Debatte, bei der schon die Tonlage aller Beiträge deutlich gemacht hat, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des dies für dieses Haus nicht einer von vielen Dutzend Ta- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ gesordnungspunkten gewesen ist, mit denen wir uns in CSU und der FDP) jeder Sitzungswoche auseinander zu setzen haben. Aber diese Hochachtung und Freundschaft gebietet es, Angesichts manch verständlicher Besorgnisse, aber ehrlich miteinander umzugehen. Ich glaube, dass es am auch manch unverständlicher Verdächtigungen, denen Ende für keine Seite länger tragbar gewesen wäre, wenn dieser Antrag und diese Beratungen im Deutschen 16136 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Bundestag in den letzten Wochen ausgesetzt gewesen liarden Dollar für Rüstungsausgaben macht trotzdem (C) sind, verdient es sicher festgehalten zu werden, dass der nachdenklich und relativiert auch diese Kritik. Deutsche Bundestag mit dieser Debatte und den sich an- schließenden weiteren Beratungen in den zuständigen (Beifall bei der SPD) Ausschüssen seiner Aufgabe als Vertretung des deut- Nun die Erfolge: Es ist unstreitig, dass der ewige Frie- schen Volkes und als politisches Forum der Nation in be- den auf dieser Welt trotz der UNO nicht eingekehrt ist. sonderer Weise gerecht geworden ist. Stellen wir aber auch hier wieder die Maßstabsfrage. Wer über die UNO und ihre Aufgaben sowie über eine (Beifall im ganzen Hause) globale Ordnung mit integrierten Regeln spricht, der Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf wird sich mit dem Gegenmodell, nämlich dem Chaos der Drucksache 15/4933 an die in der Tagesordnung aufge- Mächte, weiter auseinander setzen müssen, das auch führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- nach Auffassung intelligenter und durchaus friedfertig verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. orientierter Beschreiber dieser Welt weiter Gültigkeit ha- ben soll. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Wenn wir die Frage stellen, ob das Chaos der Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Mächte die Welt friedlich gemacht hat, dann müssen wir richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- noch eindeutiger Nein sagen. So meine ich: Es macht ge- schuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesre- rade aus deutscher Sicht sehr viel Sinn, daran festzuhal- gierung ten, dass die ideale Vorstellung von einer integrierten Weltordnung besser ist als der Traum vom Frieden durch Bericht der Bundesregierung zur Zusammen- das Chaos der Mächte. arbeit zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und den Vereinten Nationen in den Jah- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Fritz ren 2002 und 2003 Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Drucksachen 15/4481, 15/4903 Nr. 1, 15/5144 – Dass all diese Gedanken mit deutscher und internatio- naler Theorie sowie mit Ereignissen in Deutschland ver- Berichterstattung: bunden sind, könnte eine Verpflichtung sein. Ich finde es Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch) immer schön, wenn man durch Gutes verpflichtet ist. Dr. Klaus Rose Die Westfälische Ordnung heißt schon so. Westfalen ist Fritz Kuhn als ein dröge geltender Teil deutscher Lande bekannt, Harald Leibrecht (B) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) (D) Nach der Vereinbarung unter den Fraktionen soll die Aussprache 45 Minuten dauern. – Dazu höre ich keinen trotzdem ist es in die Weltgeschichte eingegangen. Die Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Westfälische Ordnung sollte den Krieg domestizieren. Heute müssen wir feststellen: In Ruanda ist sie nicht Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Wirklichkeit geworden. Das Urteil ist aber sehr überheb- Kollegen Dr. Christoph Zöpel für die SPD-Fraktion das lich, wenn man die Entzivilisierung des Krieges vergisst. Wort. Wann immer mag sie begonnen haben? Hat sie mit Na- poleons Wüten in Spanien, mit den Kolonialkriegen, an Dr. Christoph Zöpel (SPD): denen viele, auch Deutsche, beteiligt waren, mit der Ver- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen nichtung von Armeniern, mit den Gräueltaten des Zwei- und Kollegen! Der Bundestag befasst sich heute mit dem ten Weltkrieges oder mit dem Flächenbombardements zweiten Bericht der Bundesregierung über das Verhältnis von Coventry bis Dresden begonnen? All das war vor Deutschlands zu den Vereinten Nationen. Diese Berichte Ruanda. Deshalb sollten wir in unserem Urteil über das gehen auf einen Beschluss des Bundestages aus der letz- Scheitern maßvoll sein. Ich glaube, es ist ganz unstreitig, ten Legislaturperiode zurück. Sie sind ein wesentlicher dass dadurch, dass wir nicht nur sehr große Mächte, son- Beitrag zur Beteiligung des Parlaments an der UNO-Po- dern auch die UNO haben, mancher Krieg vermieden litik auf unserer staatlichen Ebene. und mancher eher beendet wird als ohne die UNO. Das ist sehr viel. Jede Debatte ist kritisch. Auch über die UNO, wie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sollte es anders sein, wird kritisch und mit dem Blick auf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der eine Krise diskutiert. Manches ist sehr banal, weshalb CDU/CSU und der FDP) man es klarstellen sollte. Es wird über die Effizienz der UNO diskutiert. Dass in dieser internationalen Institu- Peacekeeping- und Peaceenforcing-Operationen gibt tion Civil Servants aus über 190 Ländern arbeiten, die es viel mehr, als wir in Deutschland wahrhaben wollen. nicht alle in der Verwaltungstradition des Freiherrn vom Lassen Sie mich ein bisschen im Vorgriff auf unsere Stein oder des Grafen Montgelas ausgebildet wurden, ist morgige Entscheidung zum Sudan eine Bemerkung ma- fast selbstredend und sollte nachgesehen werden. chen. Wer nicht informiert ist, dem sei es verziehen, aber die Frage „Was sollen deutsche Soldaten in Afrika?“ ist Es ist unstreitig: Die Vereinten Nationen kosten Geld. schon ziemlich provinziell-unanständig, Der ordentliche Haushalt beträgt 1,5 Milliarden Dollar. Jeder Vergleich hinkt. Der Vergleich mit den 800 Mil- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16137

Dr. Christoph Zöpel (A) wenn man weiß, dass der Frieden in Afrika derzeit von mokratisch, aber wir werden es nicht ausschließen kön- (C) Bangladeschern, Pakistanern, Indern und vielen Afrika- nen –, die Europäische Union und dann die Vereinigen nern selbst herbeigeführt werden soll. Was sollen Bang- Staaten von Amerika – Kanada und Mexiko schließen ladescher in Afrika? Es ist also einiges an Aufklärung sich vorher freiwillig an – angehören. Genau dafür bin angesagt. ich. Unstreitig ist: Die Vereinten Nationen sind aufgrund (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) ihrer Charta weiterhin zu sehr auf die traditionellen und, wie manche sagen, harten Sicherheitsaufgaben konzen- Solange das nicht für realistisch gehalten wird, macht triert. Das Befassen mit den Entwicklungsfragen in all es Sinn, nach den 15 Staaten zu suchen, die in einem ihren Dimensionen erledigen zum Teil Nebenorganisa- Mix aus den Indikatoren Bevölkerung, Beteiligung an tionen und manchmal von ihr formal unabhängige Orga- der Finanzierung und Ähnlichem im Sicherheitsrat ver- nisationen, in denen die Dominanz der Reichen viel- treten sein können. Hierin hat in bescheidenem Selbstbe- leicht zu groß ist, weil auch die Reichen in dieser Welt wusstsein die Aufnahme des drittgrößten Beitragszahlers zu dominant sind. In dieser Diskussion haben es auch einen Sinn. Daher ist es richtig, dass für den Sitz schon die Bundesregierung und der UNO-Generalsekre- Deutschlands im Sicherheitsrat vielleicht als Vorstufe tär angesprochen: Hin und wieder können wir kleine dieser idealen Welt staatlich integrierter Weltregionen Beiträge leisten. So freue ich mich, dass wir in dieser gestritten wird. Legislaturperiode beschlossen haben, dass wir nicht nur (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried über die harten Aufgaben der UNO in einem Bericht in- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) formiert werden, sondern bald auch über alle anderen in- ternationalen Institutionen, in denen die Bundesregie- Damit komme ich zu dem letzen Punkt. Wenn nicht rung mitwirkt. Wir warten darauf, das noch in dieser nur einzelne Staaten, sondern auch die Welt demokra- Legislaturperiode erfüllt zu sehen. tisch sein soll, dann müssen wir weiter danach streben, eine demokratische globale Ordnung zu erreichen. Nun Ganz unstreitig ist: Die Machtstrukturen innerhalb weiß ich, dass die Konzeption eines Weltparlaments der Vereinten Nationen entsprechen nicht der Wirk- schon allein wegen der Frage, ob China als nicht demo- lichkeit. Sie sind 1945 gesetzt worden. Fangen wir mit kratischer Staat in einem demokratischen Weltparlament den eklatantesten Dingen an. Wenn wir sie nicht richtig vertreten sein darf, völlig irreal ist. Trotzdem kann man sehen, wird es wieder als ein Zeichen provinzieller euro- sich der Sache nähern. Die Gewaltenteilung auf Welt- päischer Überheblichkeit gesehen, mit ihnen falsch um- ebene ist ausgeprägter, als man glaubt. Das Ausmaß der zugehen. Die Vereinten Nationen ohne Indien im Sicher- Rechtsetzung ist erheblich. Das Binnensystem völker- heitsrat sind nun wirklich eine Groteske. (B) rechtlicher Verträge ist ebenfalls erheblich. Wieso soll- (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten diese Verträge nicht auch von Delegierten aus Parla- menten mitberaten werden? Das kann nicht schaden und Indien mit 1 Milliarde Menschen ist – auch das soll- das ist praktisch. ten Europäer einsehen – in seiner Leistung, ein integrati- ves, föderatives Staatswesen zu schaffen, der Europäi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schen Union um Lichtjahre voraus. CDU/CSU sowie des Abg. Harald Leibrecht [FDP]) (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das ist wohl wahr!) Dass der Sicherheitsrat derzeit im Bereich der Terror- bekämpfung mit bindender Gewalt gültiges Völkerrecht Man kann also von Indien lernen. Eine Demokratie ist es setzen kann, ist gut. Würde es schaden, wenn er das hin auch. Wenn die eine Richtung zu sehr dominiert, verliert und wieder mit Vertretern von Parlamenten beraten sie überraschend. Das erlebte die indische Demokratie würde? Ich glaube, der Punkt ist erreicht, an dem es Sinn neulich. Darüber brauchen wir nicht lange zu sprechen. macht, in realistischer Einschätzung der Realität des Dass Lateinamerika und Afrika im Sicherheitsrat nicht Völkerrechts danach zu fragen, ob das Prinzip der Ge- vertreten sind, ist ähnlich fragwürdig. Deshalb gibt es waltenteilung nicht auch auf dieser Ebene, nämlich der jetzt diese Diskussion über die Erweiterung des Sicher- globalen, abgebildet werden kann. Der Deutsche Bun- heitsrates. destag befasst sich damit. Wir werden es demnächst dis- Verständlich und sicherlich auch gar nicht zu verurtei- kutieren können. Vielleicht können wir dann feststellen, len ist die Konzentration auf die Frage: Soll nun dass zwei Ideen, an denen Europäer hängen, der Welt Deutschland im Sicherheitsrat vertreten sein? Ich male Gutes geben. Ich meine die Idee Kants, dass eine Föde- einmal folgendes Bild. Wenn das bei der Beurteilung im ration von Republiken das Chaos der Mächte überwin- Vordergrund stehen würde, würden alle sagen: Mein den könnte. Deshalb bin ich aus außenpolitischen Grün- Gott, was ist das für ein Idealismus! Jawohl, ich bin der den dafür, in Deutschland mit dem Föderalismus Auffassung, der Sicherheitsrat sollte nur noch durch die pfleglich umzugehen und ihn nicht taktisch zu gebrau- staatlich integrierten Weltregionen repräsentiert werden. chen. (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Ja!) (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- loch] [SPD]) Dem Sicherheitsrat sollten die Afrikanische Union, die Lateinamerikanische Union, die Indische Union – sie ist Die zweite Idee ist die Idee der Franzosen, die Gewal- schon vertreten –, China – es ist zwar nicht so ganz de- tenteilung einzuführen. Wenn es auf Weltebene gelänge, 16138 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Christoph Zöpel (A) die Föderation der Republiken in Verbindung mit dem die andere die entwicklungspolitische Zusammenarbeit (C) Gewaltenteilungsprinzip von Montesquieu zu organisie- behandeln wird. ren, dann könnten wir Europäer stolz sein. Ich möchte deshalb einige andere Bereiche mit be- Herzlichen Dank. leuchten und komme in diesem Zusammenhang zu den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Friedensmissionen der Vereinten Nationen, um festzu- DIE GRÜNEN) stellen: Das kann selbstverständlich nur Aufgabe der Vereinten Nationen sein. Da sollte es keinen Dissens ge- ben. Auch wenn wir die eine oder andere Mission kri- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: tisch sehen, zum Beispiel den Bundeswehreinsatz im Su- Das Wort hat nun der Kollege Dr. Klaus Rose, CDU/ dan, der morgen auf der Tagesordnung steht, haben aber CSU-Fraktion. doch die Vereinten Nationen das Gewaltmonopol und sind für die Einsätze zuständig. Da sollten wir uns ge- Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): meinsam anschließen. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Aber beim Thema der Friedensmissionen kommt bei gen! Ich möchte zuerst auf das eingehen, was der Kol- mir der erfahrene Haushälter durch. Man kommt nicht lege Zöpel geäußert hat, und feststellen, dass wir doch wirklich weiter, wenn man immer neue Missionen be- eine sehr große Gemeinsamkeit in all diesen Fragen ha- gründet. Dabei spreche ich nicht nur von der Belastung ben. Ich bin vor allem deshalb dankbar, weil das Parla- der Bundeswehr, sondern es geht im Zusammenhang mit ment einen kleinen Sieg errungen hat, weil es diese Be- den Vereinten Nationen ja auch um das Anstreben der richte gibt, weil wir uns intensiv um die Politik der 0,7-Prozent-Grenze. Ich glaube, keiner von uns ist als Vereinten Nationen kümmern und wir die zunehmende anständiger Parlamentarier dagegen, dass man anstrebt, Bedeutung der Vereinten Nationen für die gesamte Welt, das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen. Aber wir müssen auch aber auch für uns Deutsche diskutieren. Damit kommen über die Zahlen reden. Wenn man sich die Zins- und wir einen großen Schritt nach vorne. Wir werden in die- Zinseszinsrechnung bis zum Jahr 2014 anschaut – der ser Angelegenheit von der Bundesregierung verhältnis- Bundesaußenminister hat diesen Zeitpunkt ins Gespräch mäßig gut unterstützt. gebracht, der Bundesfinanzminister nicht; er ist da ande- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – rer Meinung, weil auch er rechnen muss –, zeigt sich, Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das ist dass eine Zusatzausgabe im Haushalt von zwischen ein Lob!) 40 und 50 Milliarden Euro auf uns zukommen wird. Ex- perten meiner Fraktion haben das nachgerechnet; die Wir haben – auch das freut mich – einen eigenen Un- (B) Ausgabe steigt ja jedes Jahr. Jetzt liegen wir bei (D) terausschuss, dessen Vorsitzender der Kollege Dr. Zöpel 0,28 Prozent; das ist bekanntermaßen weniger als früher. ist. Der Unterausschuss Vereinte Nationen kümmert 0,7 Prozent würden mehr als eine Verdoppelung bedeu- sich intensiv um diese Angelegenheiten und kann durch ten. Durch den Zinseszinseffekt kommt man zu den ge- Hearings und andere Veranstaltungen sehr viel bewegen, nannten Größenordnungen. um in diesen Fragen voranzukommen. Ich stehe auch nicht an, der Bundesregierung ein kleines Kompliment Deshalb erwarte ich, dass wir von der Bundesregie- dafür zu machen, rung rechtzeitig genauere Zahlen bekommen, dass seriöse Berechnungen vorgelegt werden, dass man, wenn man (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Zu viel!) das nicht aus der Portokasse bezahlen kann – und das dass sie die Zeit, über die der Bericht geht, nämlich von wird man nicht können, weil die politische und die wirt- 2002 bis 2003, genutzt hat und versucht hat, sich interna- schaftliche Entwicklung dieses Landes in absehbarer tional einzubringen. Sie hat in diesen schwierigen Jahren Zeit nicht unbedingt besser wird –, rechtzeitig erklärt, 2002 und 2003 – das war die Zeit nach dem wo die Prioritäten gesetzt werden sollen, das heißt, wie 11. September und die Zeit des Irakkriegs – die Politik gegenfinanziert werden soll. Ich lege schon Wert darauf, mit beeinflusst und im Hinblick auf die Reform der Ver- dass wir im Unterausschuss – ganz wertneutral, um auf einten Nationen einen Schritt nach vorne gemacht. Wir dem Laufenden zu sein – Informationen über solche haben – mit „wir“ meine ich Deutschland; ich erinnere in Dinge bekommen und darüber diskutieren. diesem Zusammenhang an die Schlagzeile der „Bild“- Zeitung anlässlich der Papstwahl – den Anspruch auf ei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, als kleinen Schwer- nen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat angemeldet. punkt wollte ich noch das Thema der Reform der Ver- Aus dieser Sicht kann ich nur sagen: Das war passabel einten Nationen ansprechen, wobei es mir widerstrebt, gemacht. Aber es gibt noch viel mehr zu tun. Wir konn- dass wir immer nur über den Sicherheitsrat reden. In ten bei der Abstimmung über den Bericht unsere Zustim- dem vorgelegten Papier mit etwa 100 Seiten von Kofi mung nicht geben, weil wir in Nuancen eine andere Annan sind sehr viele wichtige Punkte enthalten und bei Sicht haben. jedem einzelnen würde es sich lohnen, lange darüber zu debattieren, um weitere Erfolge zu erzielen. Aber natür- Ich selber möchte mich jetzt auf einige besondere lich steht der Sicherheitsrat im Mittelpunkt. Vielleicht Aussagen konzentrieren. Ich weiß, dass meine beiden muss ich das wiederholen, was schon andere erwähnt ha- Kolleginnen, Frau Nolte und Conny Mayer, Schwer- ben. Der Herr Kollege Zöpel hat es vorhin gut ausge- punkte setzen werden, wobei die eine unter anderem das drückt. Eigentlich müssten die großen Weltregionen Mit- Thema des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen und glieder des Sicherheitsrates werden, statt dass – fast Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16139

Dr. Klaus Rose (A) hätte ich gesagt: krampfhaft – ein deutscher Sitz ange- (Beifall des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ (C) strebt wird. Auch die Reise des Bundeskanzlers zuerst DIE GRÜNEN]) nach Peking und dann nach Tokio, als er zum Schluss auch noch das Vetorecht gefordert hat, war nicht beson- Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen ders gut. Eigentlich müsste das Vetorecht abgeschafft Amt: werden. Stattdessen müsste die Situation herbeigeführt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! werden, dass in der UNO keine Blockierer sind. Aller- Sehr geehrter Herr Rose, auch ich bedanke mich erst ein- dings wird das Vetorecht von den meisten sowieso nicht mal für die Blumen. mehr in Anspruch genommen. Aber das Streben nach ei- nem ständigen Sitz im Sicherheitsrat wird für uns – so ist (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Das war schon meine Einschätzung, die durch verschiedene Gespräche eine Rose! – Detlef Dzembritzki [SPD]: Blüm- in New York durchaus untermauert worden ist – am chen!) Schluss keinen Erfolg bringen. – Blümchen waren es aber immerhin. – Ich möchte mich Man könnte jetzt im Einzelnen erläutern, was man für die Bundesregierung zunächst bei den Abgeordneten sich überhaupt vorstellt, ob man eine totale Präsenz mit aller Fraktionen für die wirklich gute Zusammenarbeit Vetorecht erreichen will oder ob man eines der und für die guten Diskussionen zum Thema Vereinte Na- 24 Mitglieder des erweiterten Sicherheitsrats bleibt. tionen bedanken. Aber auf jeden Fall wird das nicht zum großen Erfolg Sie haben es angesprochen: Die Vereinten Nationen führen. stehen – darauf hat Kofi Annan in seiner wirklich rich- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tungsweisenden Rede zu Beginn der vorigen General- Heißt das, dass Sie dagegen sind, oder ist das versammlung der Vereinten Nationen eindringlich hin- nur eine Prognose?) gewiesen – an einem Scheideweg. Sie stehen es gerade in diesem Jahr; denn die neuen Herausforderungen, mit – In diesem Zusammenhang bemühe ich noch einmal denen wir international konfrontiert sind, die Folgen des den Satz: „Wir sind Papst!“ Keiner ist dagegen, wenn 11. Septembers, der internationale Terrorismus, die Be- man ihn haben könnte. Aber ihn so krampfhaft anzustre- drohung durch Massenvernichtungswaffen und die Ge- ben und am Schluss eine Bauchlandung zu machen, wo- fahren, die von zerfallenden Staaten ausgehen –, haben für aber viele Vorleistungen erbracht werden müssten, uns, glaube ich, vor Augen geführt: Die Vereinten Natio- und möglicherweise – deshalb habe ich die Reise von nen müssen sich auf diese veränderte Situation einstel- Schröder erwähnt – das Verhältnis zu den USA zu zer- len, um weiter handlungsfähig zu bleiben. stören, weil man in Peking um Zustimmung wirbt, das (B) halte ich für falsch. Dazu gehört nicht nur eine institutionelle Reform (D) der Vereinten Nationen, also eine Reform des Sicher- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) heitsrates, des ECOSOC, der Menschenrechtskommis- sion und anderer Institutionen. Diese Reformen sind Wegen der parlamentarischen Zusammenhänge noch kein Selbstzweck, sondern dienen dazu, die Vereinten ein Letztes. Nationen in die Lage zu versetzen, effektiv auf die neuen Wir haben in den Hearings auch die Parlamentari- Herausforderungen und Gefahren zu antworten. Das sierung der Vereinten Nationen stark beraten. Wir wer- heißt, wir brauchen Vereinte Nationen im Sinne eines ef- den morgen zu einem Vorschlag kommen. Wir sollten in fektiven Multilateralismus und wir brauchen Vereinte diesem Feld all unsere Kräfte aufbieten, um möglichst Nationen, die die notwendige Legitimität für internatio- viele Parlamentsberatungen zu erreichen. Wir in nales Handeln vermitteln. Das war die Lehre, die wir aus Deutschland sind ja schon einen Schritt weiter, weil wir den Diskussionen während der Irakkrise gezogen haben. den Unterausschuss haben. Viele Länder der Welt haben Damit wir in Zukunft Krisen wie zum Beispiel in Afgha- das aber nicht. Ob wir unser Ziel mit der IPU erreichen nistan und Afrika besser handhaben können, brauchen oder ob wir sogar den sehr visionären Schritt eines Welt- wir – ich greife wieder auf Kofi Annan auf der Sicher- parlaments – wir haben ja einmal etwas von heitskonferenz im Februar dieses Jahres zurück – ein in- 600 Mitgliedern gehört – gehen, ist eine zweite Frage. tegriertes Konzept für Krisenmanagement und lang- Ich selbst bin in diesem Punkt mehr Realist. Aber ich fristige Friedenskonsolidierung. Wenn wir die dazu möchte gewisse Dinge anstreben, und dazu gehört die notwendigen Reformen nicht durchsetzen können, dann starke parlamentarische Begleitung all dieser UNO-Fra- wird – ich möchte noch einmal Kofi Annan zitieren – gen. Wenn wir das gemeinsam anstreben und zu einem das Ausmaß unserer derzeitigen kollektiven Handlungs- guten Ziel kommen, haben wir viel Gutes für Deutsch- schwäche in Menschenleben gemessen werden. Ich kann land und natürlich auch für den Parlamentarismus getan. Kofi Annan in diesem Punkt nur voll unterstützen. Das macht noch einmal deutlich, vor welchen wichtigen Ent- Danke. scheidungen wir in diesem Jahr stehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: CDU/CSU) Für die Bundesregierung erhält nun die Staatsministe- Deutschland ist schon heute eine der Hauptstützen der rin Kerstin Müller das Wort. Vereinten Nationen. Dies wurde zum Beispiel während 16140 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Staatsministerin Kerstin Müller (A) unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat 2003/2004 Ich nenne als Beispiel den Bereich Terrorismusbe- (C) deutlich. Unsere konstruktive Mitarbeit hat uns internati- kämpfung. Die wichtigste bislang unerledigte Aufgabe onal Ansehen eingetragen. Zum Beispiel haben wir den ist hierbei die Verabschiedung einer umfassenden Anti- nicht ständigen Mitgliedern stärker als bisher Gehör ver- terrorismuskonvention. In diesem Zusammenhang schafft. Wir haben während unserer Mitgliedschaft eine müssen auch die Forderungen nach einer Reform der der schwersten humanitären Krisen und Menschen- Menschenrechtskommission genannt werden. Diese rechtskatastrophen weltweit – ich spreche von Darfur – wird nicht einfach werden. Darüber wird im Menschen- erst auf die Tagesordnung des Sicherheitsrates gebracht. rechtsausschuss schon diskutiert. Diesen Ansatz des Ge- Das Thema Darfur ist heute dort fest verankert; das zei- neralsekretärs der Vereinten Nationen begrüßen wir gen gerade die letzten Resolutionen. Ich glaube, es hat ebenso nachdrücklich wie eine weitere Stärkung der sich gelohnt, in dieser Frage eine der treibenden Kräfte Hochkommissarin der VN für Menschenrechte. auf internationaler Ebene zu sein und nicht nachzulas- sen, in den Vereinten Nationen, im Sicherheitsrat auf Schließlich zur Reform des Sicherheitsrates. Herr klare Beschlüsse hinzuarbeiten. Rose, ich möchte ganz bewusst erst jetzt eine Bemer- kung zum Sicherheitsrat machen. Sie haben Recht: Es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geht nicht nur um eine Reform des Sicherheitsrates, son- und bei der SPD) dern es geht auch um viele andere Reformen der Institu- tionen der Vereinten Nationen. Es kommt darauf an, wie Wir haben ganz konkret gezeigt, dass wir bereit sind, wir insgesamt auf die neuen Herausforderungen, vor de- unsere Verantwortung wahrzunehmen, zum Beispiel nen wir stehen, reagieren. durch Teilnahme an internationalen Friedensmissionen. An diesen Missionen beteiligen wir uns nicht nur mit Das Thema Reform des Sicherheitsrates kann man Soldaten der Bundeswehr, sondern auch mit Zivilpolizis- nicht aussparen. Im Gegenteil: Kofi Annan hat wieder- ten und zivilem Personal. Wenn der Bundestag morgen holt darauf hingewiesen, dass jede Reform der Vereinten einer deutschen Beteiligung an der neuen Friedensmis- Nationen unvollständig wäre, die nicht auch den Sicher- sion UNMIS im Südsudan zustimmt – wie es ausschaut, heitsrat einbeziehen würde. Nach 12 Jahren der Debatte wird das der Fall sein –, dann wird dies die ist diese Reform entscheidungsreif. Der Sicherheitsrat 17. Friedensmission der Vereinten Nationen sein, an der wird die in der Zukunft nötige Legitimität nur dann ha- wir teilnehmen. ben, wenn er repräsentativer wird – Afrika zum Beispiel ist bis jetzt nicht durch einen ständigen Sitz vertreten; (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) Herr Zöpel, Sie haben andere genannt – und wenn er die Verantwortungsgewichte, wie sie in der Welt heute (B) Ein wesentliches Element ist auch unser Einsatz für wahrgenommen werden, zumindest besser abbildet. Wir (D) rechtstaatliche Strukturen und Menschenrechte weltweit. sind daher dankbar für die Unterstützung, die die Re- In jüngster Zeit wurde dies durch unsere Beiträge zur Er- form von einer ganz großen Mehrheit der Mitgliedstaa- richtung und Finanzierung des Internationalen Strafge- ten erfährt. richtshofs in Den Haag deutlich. Oder denken Sie an un- ser Engagement für eine wirksame Zusammenarbeit der Dieses Jahr geht es aber nicht nur um die Reformen Europäischen Union in den Vereinten Nationen. Wir ha- der VN. Im September dieses Jahres steht noch ein wei- ben entscheidend dazu beigetragen, dass die EU heute in teres Ereignis von großer Bedeutung bevor: die Sonder- den Vereinten Nationen weitestgehend einheitlich auf- generalversammlung zur Erreichung der Millen- tritt und auf dieser Grundlage einer der wichtigsten niums-Entwicklungsziele. Das darf mit Blick auf die Akteure im Rahmen der Vereinten Nationen geworden Reformen des Sicherheitsrates und anderer Institutionen ist. nicht untergehen. Zu diesen Zielen haben sich die Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 verbindlich ver- (Beifall des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ pflichtet. Im September wird Bilanz gezogen. Was haben DIE GRÜNEN] und des Abg. Gert wir erreicht? Wo stehen wir? Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) Bei der Umsetzung dieser Ziele haben wir viel geleis- Dieses erfolgreiche Engagement war innerhalb des tet. Als einer der ersten hat die Bundesregierung bereits bestehenden Systems der VN möglich. Aber wir müssen im Frühjahr 2001 eine Strategie zur Unterstützung der in diesem Jahr wichtige Schritte weitergehen. Deshalb Millenniumsziele beschlossen. Dieses „Aktionspro- ist es gut, dass die Reformdebatte allein im letzten Jahr gramm 2015“ ist ein ressortübergreifendes, entwick- durch einige zentrale Dokumente neue Impulse erhalten lungspolitisches Rahmenprogramm zur Armutsbekämp- hat. Nach Lage der Dinge werden wir es entweder in die- fung. Ich sage aber auch: Wir müssen hier noch sem Jahr schaffen, uns auf substanzielle Reformen zu nachlegen. verständigen, oder wir werden erst einmal für viele Jahre zurückgeworfen werden. Ich sage deshalb sehr deutlich: Ich denke an die entsprechenden Berichte wie den Wir unterstützen den größten Teil der Vorschläge in dem Sachs-Bericht, der im Januar erschienen ist. In diesem Bericht, den Kofi Annan vorgelegt hat. Bericht wird ausgeführt, dass die Millenniumsziele nur dann erreicht werden können, wenn die Geberländer ihre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anstrengungen entscheidend verstärken. Es hat zwar und bei der SPD sowie des Abg. Harald Verbesserungen gegeben – in China und in Indien etwa Leibrecht [FDP]) ist die Zahl der Armen zurückgegangen –, aber in vielen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16141

Staatsministerin Kerstin Müller (A) Teilen der Welt sieht es nicht gut aus, zum Beispiel in immer wieder nur auf die Frage eines deutschen Sitzes (C) Afrika südlich der Sahara. im Weltsicherheitsrat reduziert. Ich sage hier sehr deutlich: Deutschland steht zu dem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ziel der Vereinten Nationen, bis 2015 den Anteil der der CDU/CSU) Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt auf 0,7 Pro- zent zu steigern. Zwar unterstützen auch wir diese Forderung; doch wir sind der Meinung, ein europäischer Sitz sei die bessere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lösung. Die EU ist heute aber leider noch nicht in der sowie bei Abgeordneten der SPD) Lage, einen solchen Sitz einzunehmen. Deshalb sollte Deutschland, falls wir einen solchen Sitz bekommen, Dies hat der Bundeskanzler Anfang dieses Jahres auf diesen in einer Art Treuhänderschaft europäisch wahr- dem Weltwirtschaftsforum in Davos noch einmal bekräf- nehmen. tigt, indem er versicherte, dass dieses Ziel in einem Stu- fenplan erreicht werden müsse. Dabei werden sicher (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auch innovative Finanzierungsinstrumente eine Rolle der CDU/CSU) spielen. Wichtig bleibt jedoch, dass die Bundesregierung die UN-Reformen unterstützt, und zwar nicht nur unter der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bedingung, einen Sitz im Sicherheitsrat zu bekommen. Denken Sie bitte an die Zeit! Dieses Gieren nach solch einem ständigen Sitz treibt im- mer seltsamere Blüten und ist in der Tat kontraproduktiv. Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen Ich denke hierbei zum Beispiel an die – wie man fast sa- Amt: gen könnte – Komplizenschaft mit Brasilien und Indien. Zunächst wird es jedenfalls gelingen, die in Barcelona Das muss doch andere konkurrierende Länder gegen uns vereinbarten 0,33 Prozent bis 2006 zu erreichen. Das ist aufbringen. Ich denke auch an die unsägliche Forderung ein erster wichtiger Schritt. des Bundeskanzlers, das EU-Waffenembargo gegenüber China aufzuheben. Auch die unabgestimmte Zusage des Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Alle Mit- deutschen UN-Botschafters, die ODA-Quote unbedingt glieder der Vereinten Nationen stehen in diesem Jahr vor erfüllen zu wollen, ist ziemlich durchsichtig. Man zentralen Entscheidungen. Es geht um die Zukunft der könnte fast schon meinen, Deutschland möchte sich den Vereinten Nationen. Ich kann Ihnen versichern: Die Sitz im Sicherheitsrat erkaufen. Bundesregierung wird alles tun, dass dieses Jahr ein Er- folgsjahr für die Vereinten Nationen wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (B) Dr. Werner Hoyer [FDP]: Peinlich!) (D) Vielen Dank. Die Bundesregierung misst ihren Erfolg bzw. Miss- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erfolg am deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Wir und bei der SPD) Liberale tun das nicht.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir meinen, Generalsekretär Annan braucht unsere Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Harald Leibrecht. Unterstützung dabei, die Menschenrechtskommission in einen ständigen, verkleinerten und damit auch effektive- ren, dem Sicherheitsrat gleichberechtigten Menschen- Harald Leibrecht (FDP): rechtsrat umzuwandeln. Wir begrüßen diese Umwand- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- lung; denn Menschenrechte sind nun einmal die Basis gen! Die Vereinten Nationen stehen vor großen Verände- für Frieden und Freiheit. rungen. Im Herbst soll eines der wichtigsten Reformpa- kete in der Geschichte der UNO beschlossen und auf den (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Weg gebracht werden. Anderthalb Jahrzehnte nach dem der CDU/CSU und des Abg. Gert Ende des Kalten Krieges muss die UNO auch angesichts Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) neuer Herausforderungen in die Lage versetzt werden, Wir unterstützen Kofi Annan auch darin, den ECOSOC ihre Kernaufgaben, also die Förderung von Entwicklung, aufzuwerten und wieder zu einem handlungsfähigen In- den Schutz der Menschenrechte und die Sicherung des strument in der Entwicklungspolitik zu machen. Ein Weltfriedens, zu erfüllen. Darum muss die UNO hand- stärkeres Engagement der reichen Staaten bei der Ent- lungsfähiger werden. Kofi Annan hat mit seinem von wicklung der ärmeren Länder ist ein Muss. Kofi Annan ihm vorgeschlagenen Reformpaket einen wichtigen hat ein mutiges und wichtiges Reformpaket angestoßen. Schritt in die richtige Richtung getan. Er braucht und verdient dabei unsere Unterstützung, und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zwar für das gesamte Paket und nicht nur für Teile. der CDU/CSU) Der UN-Generalsekretär ist ja leider – wir haben das Deutschland ist einer der großen Verfechter der Ver- vorhin schon gehört – ausgerechnet jetzt, in dieser wich- einten Nationen. Die UNO braucht auch die deutsche tigen Reformphase, mit schwerwiegenden Vorwürfen Unterstützung – und dies nicht nur deswegen, weil wir konfrontiert. Das wird von seinen Kritikern leider als ein wichtiges Geberland sind. Ich finde es allerdings be- willkommener Anlass gesehen, ihn zu schwächen und zu dauerlich, dass sich die Diskussion über die UN-Reform beschädigen. Natürlich stehen diese Vorwürfe des 16142 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Harald Leibrecht (A) Missmanagements innerhalb der UNO im Raum und Leistung, bei dem Engagement, bei der Verantwortung, (C) müssen lückenlos aufgeklärt werden. die vonseiten der Bundesrepublik wahrgenommen wird und auch weiterhin wahrgenommen werden wird, ist es Jetzt ist es umso wichtiger, dass gerade auch die star- ein vernünftiger Ansatz, eine Mitarbeit im Sicherheitsrat ken UN-Mitgliedstaaten diese Reformen unterstützen anzubieten. und so die UNO voranbringen. Es geht in den kommen- den Monaten um die Zukunft der Vereinten Nationen, Ich denke, lieber Herr Kollege Leibrecht, dass Sie um Entwicklung, Frieden und Menschenrechte auf der noch einmal überlegen sollten, ob ein solcher Vorhalt ganzen Welt, und eben nicht nur um Sicherheitsratsam- wie Komplizenschaft mit Brasilien oder Indien richtig bitionen dieser Bundesregierung. ist. Seien wir doch zufrieden, dass es zunehmend ge- lingt, eine gleiche Augenhöhe herzustellen. Es ist doch Ich danke Ihnen. ein vernünftiger Vorgang, wenn dabei die Partnerschaft (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mit Ländern wie zum Beispiel Brasilien und Indien ge- sucht wird. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dzembritzki. Ich würde das nicht nur auf die Frage des Sicherheitsra- tes beschränken, sondern grundsätzlich so sehen. Es ist Detlef Dzembritzki (SPD): ja – ich sage das einmal so salopp – das große Pfund der Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Vereinten Nationen, dass sie eine Institution sind, in der und Kollegen! Es ist ein wohltuender Nachmittag, wenn Industrieländer und Entwicklungsländer, in der Nord man ihn einmal unter dem Gesichtspunkt „wenig Kon- und Süd auf gleicher Augenhöhe sprechen können flikte und viel Harmonie“ betrachtet. Ich denke, dass – wenn es denn alle wollen – und in der die Wertschät- auch die kritischsten Beiträge der Opposition letztend- zung aller miteinander in einer Gleichberechtigung statt- lich den breiten Konsens erkennen lassen. Damit wird findet. Wir wollen doch auf jeden Fall, dass dies mit der unterstrichen, dass wir alle, die wir hier im Parlament Reform der UN noch einmal unterstrichen wird. Deswe- zusammensitzen, in den Vereinten Nationen doch den gen finde ich solche Vorhalte nicht hilfreich. Garanten sehen, der für die Zusammenarbeit weltweit der wichtigste Partner, die wichtigste Institution ist. Die Staatsministerin hat es bereits angesprochen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir haben uns der ver- (Beifall bei der SPD) änderten Situation nach dem 11. September zu stellen. Dabei drängt sich uns, wenn wir die Intensität der zuneh- (B) Deswegen ist es auch selbstverständlich, dass wir ein (D) großes Interesse daran haben, dass der Reformbericht menden Brutalität zur Kenntnis nehmen, die entschei- und die Reformideen von Kofi Annan eingebracht und dende Frage auf, wer unter welchen Bedingungen die nach Möglichkeit auch umgesetzt werden. Legitimation hat, von außen in die inneren Belange eines Staates einzugreifen. Kann die Souveränität eines Staa- Man muss dabei allerdings auch immer Realist blei- tes heute immer noch höher bewertet werden als massive ben. Wir haben 191 Partner, die letztendlich diesen Menschenrechtsverletzungen? Darüber haben wir be- Reformprozess in der Generalversammlung mit uns zu reits diskutiert. Solche Fragen erfordern neue Normen, bestreiten haben. Wir müssen auch erkennen, dass zwar die Orientierung bieten und zur internationalen Sicher- mit dem Einbringen ein Hauptteil der Arbeit gemacht ist, heit beitragen, um in Situationen, in denen ein Eingrei- wir aber dennoch mehr am Anfang als am Ende des Pro- fen im Sinne der Menschenrechte dringend notwendig zesses stehen. Ich stimme den Kollegen Dr. Rose und ist, willkürliches Handeln zu verhindern. Leibrecht zu, dass es dabei nicht nur um den Sicherheits- rat gehen kann. Ich denke – wir haben das ja auch im (Beifall bei der SPD) Unterausschuss behandelt –, dass Fragen, die zur Wirt- Ich glaube, dass nur die Vereinten Nationen hierfür einen schaftspolitik anstehen – Stichwort ECOSOC –, Fragen, Maßstab, ein Gerüst und Orientierung bieten können. die im Arbeitsbereich anstehen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betreffen, sowie Fragen, die mit der Sie haben die Friedensmissionen angesprochen. Ich Vielfalt der Kulturen weltweit zusammenhängen, denke, wir werden es uns immer wieder schwer machen Schwerpunktaufgaben sind, die mit zur UN gehören. müssen, über Friedensmissionen zu entscheiden. Der Wenn wir die Globalisierung ein Stückchen humaner ge- Kollege Zöpel hat bereits deutlich gemacht, wer sich stalten wollen, dann setzen wir auch dabei die Hoffnun- zurzeit um Friedensmissionen kümmert. Die Ansprüche gen auf die Vereinten Nationen. und Verpflichtungen sind hoch. Wenn Sie, lieber Kollege Dr. Rose, die Beteiligung an Friedensmissionen mit dem (Beifall bei der SPD) Ziel in Zusammenhang bringen, 0,7 Prozent des Brutto- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es dabei inlandsprodukts gemäß der ODA-Quote aufzuwenden, nicht hilfreich und im Grunde auch nicht fair – aber es dann kann ich das nicht nachvollziehen. Denn der mate- gehört vielleicht zur Debatte, dass sie dann doch nicht so rielle Anteil, der von der Bundesrepublik zu leisten ist, ganz harmonisch ist –, wenn etwa unterstellt wird, die kann nicht unmittelbar mit den moralischen Verpflich- Bundesrepublik würde sich krampfhaft um einen Sitz im tungen korrespondieren, die wir zu erfüllen haben. Bei Sicherheitsrat bewerben. Ich denke – das ist hier in der aller Notwendigkeit, uns um die Steigerung unseres An- Diskussion auch schon deutlich geworden –, bei der teils an Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit zu Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16143

Detlef Dzembritzki (A) bemühen, warne ich immer wieder davor, die materielle So hat sich die Beteiligung deutscher Mitarbeiter im (C) Ausstattung zum alleinigen Grundsatz der Entwick- Mittelbau der UN deutlich verbessert und auch die Be- lungszusammenarbeit zu machen. mühungen zur Unterstützung der Bewerbungen Deut- scher bei Gremien der VN haben deutliche Wirkung ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zeigt. Das ist zu begrüßen; wir haben dies schließlich Ich denke besonders an das Beispiel der Friedensmissio- immer wieder eingefordert. Bei den Spitzenpositionen nen. Wenn es einmal gelänge, durch Friedensmissionen stellt sich die Situation allerdings nicht ganz so gut dar. und internationale Zusammenarbeit zum Beispiel im Ich denke, in dem Bericht wird auch sehr deutlich, Kongo eine Befriedung herbeizuführen, dann würden wie stark sich Deutschland in den verschiedenen Gre- wir es schaffen, dass eines der – an seinen Bodenschät- mien der VN einbringt. Sie gestatten sicherlich, dass ich zen und verfügbaren natürlichen Ressourcen gemessen – hinzufüge, dass das, was wir dort leisten, auch ein Aus- reichsten Länder der Welt zur Prosperität des afrikani- druck der langjährigen außenpolitischen Kontinuität al- schen Kontinents beitragen könnte. Das wäre ein Traum, ler Bundesregierungen und der sie tragenden Fraktionen den Sie auch auf Angola und viele andere Staaten über- im Deutschen Bundestag ist. tragen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Insofern kommt mir der Bericht von Jeffrey Sachs in der Regel ein bisschen zu kurz, liebe Frau Staatsmi- Der Bericht hat aber eine Schwäche: Er ist zu wenig nisterin. In dem Bericht werden zu Recht erweiterte An- politisch unterlegt. Wir dagegen machen hier genau das, strengungen der Industrienationen gefordert. Er greift was eigentlich gefordert wäre, nämlich eine politische aber zu kurz, wenn es darum geht, die Länder des Sü- Debatte zu führen. Schon im letzten Jahr wurde deutlich, dens daran zu erinnern, dass auch sie Verpflichtungen dass die VN unter dem Eindruck der Reformdebatte haben und dass die nationalen Ressourcen nicht bei so stehen. Daher haben wir eigentlich erwartet, dass in ei- genannten politischen Eliten landen dürfen, sondern der nem solchen Bericht irgendwo deutlich wird, wo die Bevölkerung zur Verfügung stehen müssen. Bundesregierung Schwerpunkte setzt und wie ihre Re- formvorstellungen aussehen. Das vermissen wir leider. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Dzembritzki, das, was Sie hierzu gesagt haben, un- terstütze ich voll. Es ist wichtig, solche politischen Klar- Je mehr wir erreichen, dass diese Ressourcen dem Wohl- stellungen vorzunehmen. stand der Menschen zugute kommen, desto weniger Be- deutung wird eines Tages die Frage haben, wie hoch der In dem gesamten umfangreichen Bericht lässt sich jeweilige Anteil an Mitteln für die Entwicklungszusam- nur eine politische Erklärung finden, und zwar in Form menarbeit sein muss. eines Zitates des Bundeskanzlers. Es ist ziemlich leicht (B) (D) zu erraten, zu welchem Punkt. Ich möchte nur einen Satz Ich denke, dass beide gefordert sind: der Süden wie daraus zitieren: der Norden. Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, über eine reformierte UN noch stärker dazu beizutragen, als es bis- Deutschland ist bereit, als ständiges Mitglied des her möglich war. Sicherheitsrates Verantwortung zu übernehmen. Vielen Dank. Das ist das Credo. Aber das ist, auch wenn von der Re- gierungskoalition etwas anderes bekundet wird, so ziem- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich das Einzige, was man in den letzten Jahren zur Re- DIE GRÜNEN) formdebatte vernommen hat. Das ist zu wenig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat die Abgeordnete Claudia Nolte das Wort. Herr Zöpel, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie deutlich ge- macht haben, dass auf der Koalitionsseite der Idealismus (Beifall bei der CDU/CSU) nicht ganz ausgestorben ist. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass derzeit ein Claudia Nolte (CDU/CSU): europäischer Sitz im VN-Sicherheitsrat nicht machbar Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und ist. Sicherlich wird ein deutscher Sitz im VN-Sicher- Kollegen! Erlauben Sie mir, noch einmal kurz auf den heitsrat nicht an uns scheitern. Aber auch hier noch ein- Beratungsgegenstand, nämlich den Bericht der Bundes- mal: Die Art und Weise, wie die Bundesregierung ver- regierung zur Zusammenarbeit zwischen der Bundesre- sucht, dies durchzusetzen, ist eigentlich abträglich. Es ist publik Deutschland und den Vereinten Nationen in den eine Art Kampagne geführt worden, die uns nicht gerade Jahren 2002 und 2003, einzugehen. Ich meine nämlich, Unterstützer und Freunde gebracht hat. dass auch der Bericht selber einer Würdigung bedarf. Er ist eine ausgesprochene Fleißarbeit, für die den zuständi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen Mitarbeitern Dank gebührt. Man muss erst recht Zweifel anmelden, wenn man be- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD denkt, wie wenig der Bundeskanzler in die transatlanti- und der FDP) schen Beziehungen investiert. Man hat manchmal fast den Eindruck, dass er glaubt, ein Sitz im VN-Sicher- Der Bericht bietet sehr viele Informationen und macht heitsrat sei leichter gegen die Amerikaner als mit ihnen einige erfreuliche Entwicklungen deutlich. zu erreichen. Wir brauchen doch nur die aktuelle Debatte 16144 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Claudia Nolte (A) über die Aufhebung des Waffenembargos gegenüber Ich teile die Auffassung meiner Kollegen über die (C) China als Beispiel zu nehmen. Ohne Abstimmung mit parlamentarische Begleitung der Arbeit der VN. Ich den Amerikanern wieder einen neuen Konflikt vom freue mich daher sehr auf die weitere Zusammenarbeit in Zaun zu brechen ist geradezu kontraproduktiv. Unabhän- unserem Unterausschuss. gig von der Frage eines deutschen Sitzes im VN-Sicher- heitsrat ist diese Politik schädlich für Deutschland. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Ich finde, die Fülle des vorliegenden Berichts macht NISSES 90/DIE GRÜNEN) zum einen deutlich, wie stark die Sichtweise der Bun- desregierung auf die Frage eines Sitzes im VN-Sicher- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: heitsrat verengt ist, und zum anderen, wie notwendig Re- formen sind. Der Bericht, den der Generalsekretär der Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Conny Mayer. Vereinten Nationen, Kofi Annan, vorgelegt hat, ist sehr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bemerkenswert und zielführend; denn der Generalsekre- tär belegt seine Reformüberlegungen anhand der Ergeb- nisse der vorhergehenden großen Weltkonferenzen und Dr. Conny Mayer (Freiburg) (CDU/CSU): macht den Handlungsbedarf und die Notwendigkeit von Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Reformen deutlich. Seine Vorschläge für den ECOSOC gen! Wir haben in der bisherigen Debatte viel von den und für die Menschenrechtskommission sind sehr kon- momentanen Herausforderungen für die Vereinten Na- kret. Ich sage für meine Fraktion, dass wir den Vor- tionen gehört. Wer jetzt glaubt, es sei alles gesagt und schlag, einen Menschenrechtsrat einzurichten, aus- wir könnten nach Hause gehen, drücklich begrüßen und unterstützen. (Detlef Dzembritzki [SPD]: Wir hören Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) noch zu!) Der Generalsekretär hält sich mit Vorschlägen zur den bitte ich trotzdem, mir zuzuhören. Ich möchte näm- Reform der VN-Generalversammlung auffallend zu- lich noch ein wichtiges Thema ansprechen, das bisher rück und weist zu Recht darauf hin, dass es in erster nur angerissen wurde. So hat es Herr Dzembritzki leider Linie die Verantwortung der Mitgliedstaaten ist, hierzu nur zum Schluss seiner Rede behandelt, ebenso Frau Vorschläge zu machen und sich ein Stück weit zu diszi- Staatsministerin Müller. plinieren. Er macht klugerweise auch keinen Vorschlag (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (B) zur Reform des VN-Sicherheitsrates und verweist le- Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Wir hören gerne (D) diglich auf das Ergebnis des hochrangigen Panels. zu!) Ich möchte zum Schluss noch einen Gedanken her- Unsere zentrale Herausforderung im Rahmen der Ar- vorheben, dem sich Kofi Annan in seinem Bericht aus- mutsbekämpfung ist es, die Millenium Development führlich widmet. Das ist die Frage der Anwendung von Goals, die MDGs, bis zum Jahre 2015 noch zu errei- Gewalt im Lichte des Völkerrechts. Natürlich legt er ein chen. Ich warne vor der verkürzten Sicht, nur das UNDP klares Bekenntnis zum Multilateralismus ab. Ich finde es und nicht auch andere Bereiche der VN seien zuständig. trotzdem bemerkenswert, dass er anhand der Frage, an Es gibt im großen System der VN nämlich eine ganze welchen Kriterien Gewaltanwendung geprüft werden Reihe von Sonderorganisationen, Fonds und Program- soll, deutlich macht, dass die Mitgliedstaaten sowohl in men, durch die dieses Ziel erreicht werden soll. der VN-Generalversammlung als auch im VN-Sicher- heitsrat eine große Verantwortung für die Sache haben Für uns und die Bundesregierung muss es in dieser und nicht aus nationalem Interesse eigene Überlegungen Debatte um die zentrale Frage gehen: Wie kann es gelin- in Entscheidungsprozesse einführen dürfen. Es geht ihm gen, die Entwicklungszusammenarbeit der VN als vielmehr darum, deutlich zu machen: Wenn Länder ihrer System leistungsfähiger zu machen? Bisher können wir Pflicht, ihre eigene Bevölkerung zu schützen, nicht nicht – Frau Staatsministerin Müller, Sie haben darauf nachkommen – ich denke an Länder, in denen die Men- hingewiesen – optimistisch sein. Der Anteil der Men- schenrechte mit Füßen getreten werden, in denen Geno- schen, die in extremer Armut leben, ist nicht zurückge- zide stattfinden –, dann darf die Weltgemeinschaft die gangen. In manchen Teilen der Erde nimmt der Anteil Augen davor nicht verschließen, sondern dann muss die dieser Menschen sogar zu. Wir sind von dem Ziel, die Schutzpflicht auf sie übergehen. Wir sind also gefor- Krankheit Aids weltweit wirklich in den Griff zu bekom- dert, gegen solche Unrechtsregime vorzugehen. Ich men, noch weit entfernt. glaube, der Grund für den großen Verlust an Vertrauen in die Vereinten Nationen in den letzten Jahren ist, dass die Wenn sich unsere Entwicklungsarbeit und die Ent- Völkergemeinschaft über diesen Punkt keine Einigung wicklungsarbeit der VN nicht ändern, dann hungern erzielt hat. Deswegen finde ich es wichtig, dass wir uns auch 2015, also in zehn Jahren, viele Millionen, ja Mil- mit dieser Frage hier auseinander setzen. liarden Menschen auf der Erde. Wenn sich nichts ändert, dann wird der Anteil derer, die sich täglich mit HIV infi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie zieren, nicht geringer werden. Wenn sich nichts ändert, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE dann werden wir es nicht schaffen, die MDGs zu errei- GRÜNEN) chen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16145

Dr. Conny Mayer (Freiburg) (A) Liebe Frau Müller, Sie haben zu diesem Thema vor- auch künftig bilateral ausgeben, inwieweit wir die Gel- (C) hin gesagt: Da müssen wir noch nachlegen. Ich habe das der bilateral ausgeben, und wie viele Gelder wir an hö- so verstanden, als wollten Sie sehr selbstkritisch sagen: here Ebenen, an die EU, aber natürlich auch an die Ver- Da muss auch die Bundesregierung noch nachlegen. einten Nationen, abgeben. Für die CDU/CSU-Fraktion Dazu kann ich nur sagen: Recht haben Sie; beim Thema werbe ich in diesem Hohen Hause dafür, nicht zu glau- Entwicklungszusammenarbeit kann und muss die Bun- ben, es könne die Lösung sein, alle Gelder an die VN- desregierung noch nachlegen. Organisationen zu geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Trotz aller Schwierigkeiten leisten die VN einen ganz Ich werbe dafür, auch künftig eine bilaterale Entwick- wichtigen Beitrag zur Entwicklungszusammenarbeit, zur lungsarbeit zu betreiben. Erreichung der MDGs. Kofi Annan hat in den vergange- Ich danke Ihnen. nen Jahren eine Reihe von wichtigen Reformen angesto- ßen. Ich möchte noch ein paar Reformen im Rahmen der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Entwicklungszusammenarbeit ansprechen, die noch neten der SPD) nicht abgeschlossen sind: Die Koordinationsfunktion des UNDP ist noch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nicht optimal. Wir brauchen klarere Profile und Be- Danke schön. – Damit schließe ich die Aussprache. schreibungen der einzelnen Aufgaben. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen Ausschusses auf Drucksache 15/5144 zu dem Be- richt der Bundesregierung zur Zusammenarbeit zwi- Die Koordination in den Partnerländern, in den Ländern schen der Bundesrepublik Deutschland und den des Südens, muss deutlich besser werden. Vereinten Nationen in den Jahren 2002 und 2003. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung auf (Beifall der Abg. Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]) Drucksache 15/4481 eine Entschließung anzunehmen. Auch die Koordination der Arbeit der einzelnen Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- VN-Töchter, also der Unterorganisationen, Fonds und stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Programme, und die Koordination mit den anderen Ge- ist damit einstimmig angenommen worden. berländern müssen besser werden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerald (B) Das Gleiche gilt für die Qualität der Arbeit und die Weiß (Groß-Gerau), Uwe Schummer, (D) Kontrolle. Auch hier gibt es Verbesserungspotenzial. Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Deshalb ist es schade, dass in dem Bericht der Bun- desregierung – hier will ich Claudia Nolte unterstützen – Mehr Gerechtigkeit durch soziale Kapital- die MDGs so gut wie gar nicht besprochen werden. Das partnerschaft – Rahmenbedingungen für Ver- ist nur eine reine Aufzählung dessen, was es an Unteror- mögensbildung, Investivlöhne und Mitarbei- ganisationen im Bereich der Entwicklungszusammenar- terbeteiligung verbessern beit gibt. – Drucksache 15/5104 – Ich will einen weiteren Punkt ergänzen. Wir müssen Überweisungsvorschlag: uns darüber im Klaren sein, dass die VN immer nur so Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss gut arbeiten, wie die Mitgliedstaaten dies zulassen. Das Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gilt natürlich auch in der Frage der Erreichung der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und MDGs. Wenn wir alle miteinander der Meinung sind, Landwirtschaft dass die Vereinten Nationen effizienter werden sollten, Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen dann sollten wir hier alles tun, um unseren deutschen Haushaltsausschuss Beitrag dazu gemeinsam zu leisten. Die CDU/CSU- Fraktion jedenfalls ist der Meinung, dass es bei der ent- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die wicklungspolitischen Arbeit der Vereinten Nationen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider- noch Verbesserungspotenzial gibt. Wir haben uns auch spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. mit einer Großen Anfrage an die Bundesregierung ge- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst wandt, um zu erfahren, was die Bundesregierung tut, um der Abgeordnete Gerald Weiß. Einfluss darauf auszuüben, dass die Entwicklungszu- sammenarbeit der Vereinten Nationen besser wird. Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Ich will einen allerletzten Punkt ansprechen. Wir kön- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nen nicht davon ausgehen, dass die Vereinten Nationen Herren! Es zahlt sich aus, wenn aus Mitarbeitern Mitun- alle Entwicklungsprobleme weltweit lösen können. Es ternehmer werden. Das Institut für Arbeitsmarkt- und wird immer eine zentrale Frage sein, eine entwicklungs- Berufsforschung in Nürnberg hat uns die Zahlen gelie- politische, aber ein Stück weit natürlich auch eine au- fert: Betriebe mit Mitarbeiterbeteiligung sind produkti- ßenpolitische, wie viel unserer Entwicklungsgelder wir ver als Betriebe ohne Mitarbeiterbeteiligung. 16146 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (A) Neben ihren unbestrittenen wirtschaftlichen Vorteilen uns um eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Erfolg, (C) hat die Mitarbeiterbeteiligung aber auch noch eine ge- am Kapital und an den Kapitaleinkommen bemühen – sellschaftspolitische, ja eine sozialethische Dimension. jedenfalls mehr als bisher. Der Berliner Moraltheologe Professor Andreas Lob- (Beifall bei der CDU/CSU) Hüdepohl hat bei einem Gespräch mit der Arbeitnehmer- gruppe unserer Fraktion kürzlich gesagt, was aus seiner Das ist auch beschäftigungspolitisch geboten; denn Sicht die entscheidenden Ressourcen sind, die die Frei- wir gewinnen ja Räume für mehr Flexibilität. So können heit und die Autonomie des Einzelnen sichern wir die Chance eröffnen, die Arbeitskosten zu be- grenzen, und gleichzeitig eine faire Teilhabe der Arbeit- (Dirk Niebel [FDP]: Das ist unser Begriff! Von nehmer am wirtschaftlichen Erfolg sichern. der Freiheit lassen wir uns nichts wegneh- men!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wie der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk – ein bisschen müssen Sie den mit uns teilen –: Familie, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Erwerbsarbeit und Eigentum. Für diese Politik gibt es prominente Fürsprecher. Bei- Der vor einigen Wochen vorgelegte 2. Armuts- und spielsweise hat Professor Sinn vor kurzem gesagt: Die Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt, dass Sie, Arbeitnehmer brauchen ein zweites Standbein; zu dem meine verehrten Damen und Herren der Koalition, auf Lohneinkommen muss ein Kapitaleinkommen als Ein- diesen drei zentralen Feldern – Familie, Arbeit, Eigen- kommensquelle hinzutreten. Dies spricht für eine Politik tum – versagt haben: Kinder sind ein Armutsrisiko. Die der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand und für Armutsquote bei Familien ist zwischen 1998 und 2003 eine Mitbeteiligung an den Unternehmen; dafür ist es von 12,6 auf 13,9 Prozent gestiegen. Die Arbeitslosig- noch nicht zu spät. Das macht Sinn, und weil es Sinn keit ist auf Rekordniveau; sie liegt bei über 5 Millionen. macht, bitten wir Sie mitzutun. Arbeitslosigkeit ist ein Armutsrisiko. Die Verteilung der Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Vermögen ist nicht gleichmäßiger, sondern ungleichmä- ßiger geworden. 10 Prozent der Haushalte verfügten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 2003 über 47 Prozent des Vermögens; fünf Jahre zuvor waren es 45 Prozent. Es fällt nicht schwer, daraus einen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Schluss zu ziehen: Rot-Grün hat vermögenspolitisch und Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Schild. eigentumspolitisch völlig versagt. Das ist das Resümee. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Horst Schild (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen (B) Anstatt klassenkämpferische Sprechblasen abzuson- und Kollegen! Der Antrag, den die CDU/CSU-Fraktion (D) dern, um von Ihrem Versagen abzulenken, sollten Sie vorgelegt hat, den vorliegenden Antrag der Union unterstützen. Er hat den Vorzug, auf einem entscheidenden Feld ganz kon- (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Ist gut!) kret zu sein. Aber wir sind skeptisch, ob Sie sich an steht unter dem Motto „Persönliche Freiheit wird durch Maßnahmen der Eigentumsförderung beteiligen, ob Sie Eigentum erst schön“. Nun haben wir nichts gegen Ei- mitmachen, wenn es darum geht, Arbeitnehmerinnen gentum. Ich darf Sie in diesem Zusammenhang aber an und Arbeitnehmer stärker am Produktivkapital zu betei- die Debatte, die wir heute Morgen geführt haben, erin- ligen. Denn wir wissen ja, dass Sie die Eigenheimzu- nern: Zu dem persönlichen Eigentum gehört auch die so- lage, die ja auch ein Eigentumsförderungsinstrument ist ziale Verpflichtung. – dies vor allem, kein Wohnbauprogramm –, abschaffen wollen. (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Genau! Das ist richtig!) Wenn wir dafür eintreten, breiteren Schichten die Bil- dung von Eigentum zu ermöglichen, sind das keine Um- Zweitens. Herr Kollege Weiß, Sie und Ihre Fraktion haben vor fast vier Jahren den Antrag „Kapitalteilhabe verteilungsträume, sondern es geht um die Förderung ei- stärken – Vermögensbildungsförderung altersvorsorge- genverantwortlicher Eigentumsbildung. gerecht ausbauen“ vorgelegt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das ist die Be- Auch wenn der Begriff „Vermögensbildung in Arbeit- steuerung der Renten! Das meinen Sie!) nehmerhand“ mittlerweile etwas angestaubt klingen In dem heute vorgelegten Antrag sagen Sie, es sei nichts mag, ist die Idee, die dahinter steckt, hochaktuell. Sie ist passiert. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen – eini- allemal aktuell vor dem Hintergrund der Globalisierung. gen in Ihrer Fraktion mag es möglicherweise entgangen Wir erleben, dass das Kapital mobil ist, die Arbeitneh- sein –: Mit dem Altersvermögensgesetz, das wir 2001 im mer im Wesentlichen aber auf ihren Standort angewiesen Deutschen Bundestag verabschiedet haben, und dem Al- sind. Wir erleben einen steigenden Kostendruck und terseinkünftegesetz, das wir vor einem Jahr beschlossen zum Teil einen ganz dramatischen Druck auf die Löhne, haben, haben Bundesregierung und Koalitionsfraktionen eine Dumpinglohn-Problematik. Zugleich erleben wir eine umfassende Förderung der Vermögensbildung für aber auch bei einigen Unternehmen – beileibe nicht bei Arbeitnehmer auf den Weg gebracht. allen – steigende Gewinne. Wir erleben ein Sinken der Lohnquote und steigende Kapitaleinkommen. Darauf (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das gibt es eine einzige folgerichtige Antwort: Wir müssen macht nur niemand!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16147

Horst Schild (A) – Das macht niemand? Dazu werde ich noch etwas sa- lich Betroffenen finanziell unterstützt. Das ist in Ord- (C) gen, Kollege Müller. nung. Eine Förderung mit der Gießkanne – das haben Sie bei irgendeiner Gelegenheit gesagt – entmündigt die Diese Förderung ist konsequent mit der Altersvor- Bürger und ist nicht finanzierbar. Richtig so. Warum sorge verbunden. Das Fördervolumen wächst in den aber beachten Sie diesen Grundsatz in Ihrem Antrag nächsten Jahren auf zweistellige Milliardenbeträge. Die- nicht? Warum wollen Sie mit einer Anhebung der Ein- ses Vermögensbildungsprogramm greift. Wir haben ei- kommensgrenzen im Vermögensbildungsgesetz errei- nen nie da gewesenen Zuwachs im Bereich der kapital- chen, dass 90 Prozent aller Arbeitnehmer gefördert wer- gedeckten betrieblichen und privaten Altersvorsorge. den? Bedürfen 90 Prozent aller Arbeitnehmer einer Das ist Vermögensbildung. Arbeitnehmersparzulage, und das vor dem Hintergrund Kollege Müller, Sie sagten gerade, das greife nicht. der Situation der öffentlichen Haushalte? Das können Alle Mitglieder des Finanzausschusses des Deutschen Sie nicht ernsthaft wollen. Ich vermute, dass der Antrag Bundestages haben vor wenigen Tagen ein Schreiben eher ein Erinnerungsposten ist: Die Opposition muss und eine Broschüre des Gesamtverbands der Deutschen sich, da sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen Versicherungswirtschaft erhalten. Darin können Sie, so- kann, wenigstens einmal im Laufe einer Wahlperiode zur weit Sie es noch nicht getan haben, nachlesen, dass in Frage der Vermögensbildung äußern. Bei jeder Gelegen- den letzten drei Jahren insgesamt über 15 Millionen heit fordern Sie eine radikale Vereinfachung des Ein- Altersvorsorgeverträge abgeschlossen wurden. Diese kommensteuerrechts. Ist die Ausdehnung der Förderung Gesetze haben – meine Kolleginnen und Kollegen von nach § 19 a Einkommensteuergesetz, eine der kompli- der CDU/CSU-Fraktion, Sie wissen, dass Sie beiden Ge- ziertesten Regelungen des Einkommensteuerrechts, da- setzen nicht zugestimmt haben – Wirkung entfaltet. Das mit vereinbar? Wie verträgt sich Ihr Antrag mit dem, sollten Sie wenigstens zur Kenntnis nehmen. was Sie in der Vergangenheit gefordert haben? Wo bleibt die Kontinuität? Nun möchten Sie auch einmal wieder etwas für die Vermögensbildung tun. Viel fällt Ihnen dazu nicht ein. Ich kann mich an die Zeit erinnern, als Herr Uldall Der vorgelegte Antrag ist sozusagen ein zweiter Aufguss noch Mitglied des Deutschen Bundestages war. dessen, was Sie 2001, in der letzten Wahlperiode, vorge- (Dirk Niebel [FDP]: Ein guter Mann! Die fal- legt haben. sche Partei, aber ein guter Mann!) (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Wir stehen für – Ja, das ist unbestritten. Aber hier geht es um die Konti- Kontinuität!) nuität der Vorschläge der Union. – Herr Uldall hat da- Bereits im Jahre 2001 wollten Sie den Freibetrag nach mals gesagt: Wir wollen durch die Streichung der Ver- (B) § 19 a des Einkommensteuergesetzes und die Einkom- mögensbeteiligung erreichen, dass wir 2 Milliarden DM (D) mensgrenzen nach dem Fünften Vermögensbildungsge- mehr für die Finanzierung der Steuervereinfachung zur setz erhöhen. Wir haben das einmal durchgerechnet: Verfügung stellen können. In Ihren Petersberger Be- Würde man diesen Vorschlag folgen, kostete das alleine schlüssen war vorgesehen, § 19 a Einkommensteuerge- 600 Millionen Euro. Hinsichtlich der Frage, wie Sie das setz zu streichen. finanzieren wollen, bleibt Ihr Antrag völlig im Nebulö- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Niedrigere Steu- sen. Ich darf daran erinnern, dass gegenwärtig allein ersätze, Herr Kollege Schild! – Stefan Müller mindestens vier der unionsgeführten Länder keinen ver- [Erlangen] [CDU/CSU]: Das ist doch von ges- fassungsgemäßen Haushalt vorlegen. Im Zusammen- tern!) hang mit der Absenkung der Körperschaftsteuer fordern Sie eine hundertprozentige Refinanzierung. In diesem Wollen Sie diese Regelung nun ausweiten, um sie bei Zusammenhang sehe ich keine Deckungsvorschläge. Sie nächster Gelegenheit wieder streichen zu können? Ich sind wieder sehr spendabel. Vielleicht hören wir im sehe in der Politik der Union zur Vermögensbildung der Laufe des weiteren Beratungsverfahrens etwas darüber, Arbeitnehmer keine Kontinuität. wie Sie sich die Gegenfinanzierung vorstellen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Neu ist in Ihrem Antrag, dass Sie – ich zitiere – „die Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zum Thema Rahmenbedingungen für Betriebsübernahmen durch Altersvorsorge sagen – auch hier haben Sie nichts dazu- Belegschaften“ verbessern wollen. Es bleibt im Dun- gelernt –: keln, wie das geschehen soll, wahrscheinlich nicht durch feindliche Übernahme. Vielleicht können Sie im weite- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Sie wollen es ren Verfahren auch dazu etwas sagen. Das wäre revoluti- nicht sehen!) onär, Herr Kollege. Leider bleibt völlig offen, wer das In Ihrem Antrag fordern Sie, Mitarbeiterbeteiligung und machen soll. Sollen das die Tarifparteien vereinbaren, Altersvorsorge gleichzusetzen und beides in gleichem deren Gestaltungsfreiheit Sie bei jeder sich bietenden Umfang zu fördern. Das ist unverantwortbar. Schauen Gelegenheit stärker einschränken wollen? Soll es der Sie sich einmal an, was Wissenschaftler dazu sagen und Gesetzgeber tun? was selbst der Bundesverband der Arbeitgeberverbände Ich kann Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von dazu sagt. Sie weisen immer wieder darauf hin, dass die der CDU/CSU, nicht ersparen, auf viele Widersprüch- direkte Beteiligung an einem Unternehmen nicht zum lichkeiten Ihres Antrages zu verweisen. Sie fordern, dass Zwecke der Altersvorsorge geeignet ist. Wenn es um der Staat in einer sozialen Marktwirtschaft nur die wirk- Altersvorsorge geht, braucht man Risikostreuung. 16148 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Horst Schild (A) Andernfalls – das haben wir aufgrund diverser Beispiele Familien, Arbeitnehmer und die mittelständische (C) aus dem angelsächsischen Raum zur Kenntnis nehmen Wirtschaft sind die Hauptgewinner unserer Steuerre- müssen – kann es dazu kommen, dass Pensionäre, wenn form; das ist unstrittig. das Unternehmen, in dem sie gearbeitet haben, Pleite ge- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wis- gangen ist, keinerlei Ansprüche mehr haben. sen sie das auch?) Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu unserem – Ja, das wissen sie auch. – Dadurch, dass allein die Ar- Altersvermögensgesetz machen; denn es ist erneut be- beitnehmer in einer Größenordnung von 47 Milliarden stritten worden, dass es greift. Ich sage Ihnen voraus: Euro entlastet werden, ergeben sich für sie größere Die so genannte Riester-Rente wird ein Erfolg werden. Spielräume zur Vermögensbildung. Das ist unser Beitrag (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wann zur Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. denn? – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Darauf (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Werden Sie doch warten wir schon ewig, Herr Kollege!) endlich einmal konstruktiv!) – Sie können sich gerne zu Wort melden, Kollege Nach unserer Einschätzung geht Ihr Antrag weitgehend Seiffert. – Lassen Sie mich aus der „Süddeutschen Zei- an der Realität vorbei. tung“ vom 15. April dieses Jahres zitieren: Ich danke Ihnen. Die lange Zeit geschmähte Riester-Rente entwi- ckelt sich allmählich zu einem Erfolgsprodukt. (Beifall bei der SPD)

(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Na, na! Das ist Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: aber sehr wohlwollend betrachtet!) Das Wort hat jetzt der Kollege Dirk Niebel. Der Frankfurter Finanzvertrieb Deutsche Vermö- gensberatung ... hat allein im ersten Quartal dieses Dirk Niebel (FDP): Jahres fast drei Mal so viele Riester-Policen ... ver- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und mittelt wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Herren! Die Ausführungen des Kollegen Schild zeigen, dass die Federführung bei diesem Antrag eigentlich ( [CDU/CSU]: Sagen Sie mal falsch gewählt ist; herausgekommen ist eine technokrati- die Basis! – Weitere Zurufe von der CDU/ sche Beurteilung von echten Chancen. Eigentlich müsste CSU) die Federführung hierfür beim Wirtschaftsausschuss lie- – Also, bitte. Ich lese nur vor, was uns der Gesamtver- gen; denn Investivlöhne – die Möglichkeit von Mitarbei- (B) (D) band der Versicherungswirtschaft mitgeteilt hat. terbeteiligungen, die Möglichkeit von Vermögensbil- dung im eigenen Betrieb – sind durchaus auch (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Dann kostet das wirtschaftspolitisch zu betrachten. Dies hat nicht nur ja richtig Geld!) eine kleinkrämerisch-finanzpolitische Dimension. – Das sind abgeschlossene Verträge, nicht irgendwelche (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Optionen. der CDU/CSU) Lassen Sie mich nun zu Ende ausführen: Herr Pohl Ich glaube sogar, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund, hat gesagt, er gehe davon aus, dass das Jahr 2005 ein der einen massiven Mitgliederschwund zu beklagen hat, Riester-Jahr wird. wenn er die Möglichkeiten erkennen würde, die sich in dieser Diskussion zeigen, die wir heute führen, eventuell In Ihrem Antrag fordern Sie die steuerliche Entlas- noch Zukunftschancen in Deutschland hätte. tung von Arbeitnehmern. Meine sehr verehrten Kolle- ginnen und Kollegen, ist Ihnen völlig entgangen, dass Ich glaube, dass wir, wenn wir die Menschen in den wir mit unserer Steuerreform 2005 in fünf Stufen den Betrieben mit Investivlöhnen ausstatten, mehrere posi- Eingangssteuersatz auf 15 Prozent und den Höchststeu- tive Effekte bewirken können. Zum Ersten gibt es die ersatz auf 42 Prozent gesenkt haben und dass wir durch Möglichkeit, Gehaltsgewinne für die Arbeitnehmerinnen unsere Steuersenkungen insbesondere Arbeitnehmerin- und Arbeitnehmer zu realisieren, nicht als Barzahlung nen und Arbeitnehmer sowie ihre Familien, aber auch auf das Gehaltskonto, sondern als Beteiligung am eige- mittelständische Unternehmen entlasten? Alle Steuer- nen Unternehmen. zahler werden durch die seit dem Regierungswechsel in (Horst Schild [SPD]: Das haben wir doch!) Kraft gesetzten steuerlichen Maßnahmen bis zum Jahr 2009 jährlich in einem Volumen von über 59 Milliarden Zum Zweiten wird dadurch den Betrieben die Chance Euro entlastet. Wollen Sie noch mehr? Dann müssen Sie eröffnet, gerade in schwierigen Situationen – 40 000 In- aber auch erklären, wie Sie das finanzieren wollen. Sie solvenzen im letzten Jahr – sagen zwar immer, die Steuersätze müssten noch weiter (Horst Schild [SPD]: Dann ist die Mitarbeiter- gesenkt werden, aber dann, wenn ein konkreter Vor- beteiligung auch futsch!) schlag gemacht wird, haben Sie nichts in der Hand, ge- ben nur fromme Sprüche von sich und fordern, dass die Liquidität des Betriebes zu erhalten und damit die Steuersenkungen 100-prozentig kompensiert werden Wahrscheinlichkeit, weiter am Markt existieren zu kön- müssen. nen, zu erhöhen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16149

Dirk Niebel (A) Zum Dritten wird eine weit größere Identifikation der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit dem Betrieb Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel. ermöglicht; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr denn wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Weiß, es freut mich schon, zu lesen, dass die Union die Miteigentümer des Unternehmens, in dem sie arbeiten, neue, geförderte private Altersvorsorge, die Rot-Grün sind, werden sie die wirtschaftlichen Rahmenbedingun- gegen Ihre Stimmen eingeführt hat, offenbar doch für gen – die Notwendigkeiten ihres Unternehmens, wirt- schaftlich zu handeln – ganz anders bewerten, richtig hält. (Claudia Nolte [CDU/CSU]: So ist es!) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Halten Sie die Rede von heute Morgen noch einmal?) als wenn sie „schlichte Gehaltsempfänger“ bleiben. Denn Sie fordern in Ihrem Antrag nun selbst die Integra- (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das ist ganz rich- tion von Mitarbeiterbeteiligungen. tig! Aber dann sind sie nicht mehr gewerk- schaftsfähig!) Ich halte grundsätzlich eine weitere Öffnung der pri- vaten, geförderten Altersvorsorge für neue Anlagefor- Es geht darum, ein Volk von Eigentümern zu entwi- men für richtig. ckeln – nicht Volkseigentum im Sinne der ehemaligen DDR; ich bitte, mich bloß nicht misszuverstehen –, mit (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Na also! Dann möglichst viel Eigentum an Produktivität, an Produk- stimmt unserem Antrag zu!) tionsstätten, an Betrieben, an Dienstleistungsunterneh- Der Bürger und die Bürgerin sollen möglichst große men, ein Volk von Eigentümern, deren ureigenes Inte- Wahlfreiheit haben, mit welchen Produkten sie vorsor- resse es ist, erfolgreich zu sein, weil der eigene gen. Es ist kein Geheimnis, dass wir Grünen mit durch- Arbeitsplatz daran hängt. Hier wäre es möglich, ein bes- gesetzt haben, dass mit den geförderten Altersvorsorge- seres Verständnis zwischen Betriebsleitung und Unter- nehmen, zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- produkten auch der Bau eines Eigenheims mern und Betriebsrat auf der einen Seite und zwischenfinanziert werden kann. Eigentümern – meinetwegen auch Managern – auf der (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Warum haben anderen Seite zu erreichen. Ich glaube, dass manch eine Sie das dann im Alterseinkünftegesetz so be- Diskussion, die in Deutschland durchaus nicht zu Un- engt, Frau Scheel?) recht geführt wird – über prosperierende Unternehmen (B) und die Art und Weise, wie das Erwirtschaftete verant- In Deutschland ist die betriebliche Mitarbeiterbe- (D) wortungsvoll eingesetzt wird –, anders verliefe, wenn teiligung nicht weit verbreitet; das ist richtig wir diese Chancen nutzen würden. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Darum geht es (Claudia Nolte [CDU/CSU]: So ist es!) ja!) Geben Sie sich deswegen einen Ruck und schaffen Sie und das wird auch vom Institut für Arbeitsmarkt- und die Rahmenbedingungen dafür. Die Ausgestaltung Berufsforschung so gesehen. Es schreibt: Von den rund sollte den Tarifvertragsparteien vorbehalten bleiben. 2 Millionen Firmen beteiligen nur 8,7 Prozent ihre Mit- Aber Rot und Grün müssen endlich die Rahmenbedin- arbeiter am Gewinn und nur 2,5 Prozent am Kapital. gungen dafür gewährleisten, Mehr Mitarbeiterbeteiligung bedeutet für die Arbeitneh- mer und Arbeitnehmerinnen letztendlich mehr Mitbe- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Haben wir doch! Sind doch da!) stimmung und mehr Teilhabe. Herr Niebel, Sie haben Recht: Auch für die Unternehmen bedeutet das neue Ei- dass es sich lohnt, Investivlöhne zu zahlen und Mitarbei- genkapitalquellen. terbeteiligung zu erleichtern. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Na (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: also!) Es gibt doch Mitarbeiterbeteiligungen!) Es hat selbstverständlich auch eine wirtschaftspolitische Ich sage Ihnen: Die hier vorgeschlagene Form ist die Dimension. Gerade vor dem Hintergrund von Basel II zukunftsfähige Form von Mitbestimmung; denn so kön- wissen wir, dass die Eigenkapitalausstattung stark an Be- nen Miteigentümer in ihren Betrieben mitbestimmen und deutung gewinnt und dass Mitarbeiterbeteiligungen auch sind nicht auf Gewerkschaftsvertreter angewiesen. die Bonität der Unternehmen verbessern können. Vielen Dank. (Dirk Niebel [FDP]: Sie machen mir aber (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Angst! Bei so viel Lob muss ich was falsch ge- der CDU/CSU – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: macht haben!) So ist es! – Claudia Nolte [CDU/CSU]: Aber Das alles ist richtig. die sind dann nicht mehr gewerkschaftsfä- hig! – Gegenruf des Abg. Heinz Seiffert (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber? – Heinz [CDU/CSU]: Und deswegen sind Sie dage- Seiffert [CDU/CSU]: Der Antrag kommt von gen!) uns, deshalb muss er abgelehnt werden!) 16150 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Christine Scheel (A) Das sind positive Überlegungen. Aus diesem Grund Wenn Sie ein solches Modell wollen, dann müssen Sie (C) werden wir sehr ernsthaft weiter mit Ihnen über diesen auch dafür sorgen, dass die fiskalischen Gründe, die da- Vorschlag diskutieren. mals ebenfalls eine Rolle gespielt haben, ausgeräumt werden. Es ist wie immer: Die Union stellt Anträge, in (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sehr denen kein Wort darüber verloren wird, in welcher Grö- gut!) ßenordnung fiskalische Auswirkungen zu erwarten Es gibt aber auch sehr viele offene Fragen, die noch be- sind und wie wir die damit verbundenen Probleme lösen antwortet werden müssen. können. Wichtig ist, dass Mitarbeiterbeteiligungen eine not- (Beifall des Abg. Horst Schild [SPD] – Heinz wendige Sicherheit bieten, die für eine Altersvorsorge Seiffert [CDU/CSU]: Ihr macht es bei der Kör- angemessen ist. Sie müssen außerdem so flexibel und perschaftsteuer doch genauso!) transparent sein, wie es der Verbraucherschutz für einen Ich vermisse auch Vorschläge, wie eine bessere steu- 20 bis 30 Jahre laufenden Vertrag erfordert. erliche Förderung finanziert werden kann. Auf der einen Im Rahmen der Debatte über die Riester-Rente haben Seite stellen Sie immer wieder Forderungen auf und wir uns schon des Öfteren über die Frage der Mitarbei- bringen Anträge ein, die Geld kosten, ohne zu sagen, wie terbeteiligung unterhalten. wir das gegenfinanzieren können, auf der anderen Seite werfen Sie Rot-Grün vor, wir bekämen den Haushalt (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es kann doch nicht in den Griff. nicht heißen: Gut, dass wir darüber gesprochen haben!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Leo Wir haben das damals nicht in die Riester-Förderung Dautzenberg [CDU/CSU]: Ihr macht es bei der aufgenommen, weil uns das aufgrund der fehlenden Ri- Körperschaftsteuer doch genauso!) sikostreuung und des fehlenden Verbraucherschutzes zum damaligen Zeitpunkt als nicht sehr geeignet für die In der Sache können wir miteinander diskutieren; wir Altersvorsorge erschien. sind hier sehr aufgeschlossen. Ich bitte Sie aber, die Haushaltslage von Bund und Ländern zu berücksichti- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Gut, dass wir gen. Ich erwarte daher von der Union ernsthafte Vor- darüber gesprochen haben!) schläge dafür, wie wir das finanzieren können. Wir wollten nicht, dass der Arbeitsplatz und die Alters- Danke schön. vorsorge der Arbeitnehmer vom Erfolg nur eines Unter- nehmens abhängen. Das war der ursächliche Grund, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) (D) weshalb wir diese Überlegung damals nicht integriert und bei der SPD) haben. (Beifall des Abg. Horst Schild [SPD] – Leo Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dautzenberg [CDU/CSU]: Das klang damals Jetzt hat der Abgeordnete Stefan Müller das Wort. aber anders!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) In der heutigen Situation wird mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt gefordert. Die Mitnahme der priva- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): ten Altersvorsorge muss dabei natürlich gewährleistet Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen! sein. Ich glaube, es ist unbestritten, dass wir uns darin ei- Frau Scheel, ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre kon- nig sind. Deswegen müssen wir an diesem Punkt genau struktive Rede. Das Problem ist nur: Sie reden hier im- überlegen, ob das Problem der Mitnahme durch eine ver- mer anders, als Sie dann tatsächlich abstimmen. nünftige Gesetzgebung überhaupt gelöst werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU – Heinz Seiffert (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie können [CDU/CSU]: Das hat sogar schon der junge unserem Antrag ja zustimmen!) Kollege erkannt!) Sie machen es sich relativ leicht; denn Sie sagen: Na ja, Deswegen sind wir sehr gespannt, wie konstruktiv die macht doch die Rahmenbedingungen, die Tarifparteien Ausschussberatungen, die wir noch durchführen werden, werden das dann irgendwie lösen. tatsächlich sein werden. (Dirk Niebel [FDP]: Ihr regiert doch! Wir wür- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den es ja machen, aber dazu müssten wir regie- NEN]: Ich kann nur für Dinge stimmen, bei ren!) denen ich mit gutem Gewissen sagen kann: Man kann sie bezahlen!) Wenn es Probleme gibt – wir kennen diese Probleme; denn wir haben uns schon sehr intensiv damit auseinan- – Gut, wir werden sehen, wie Sie sich verhalten werden. der gesetzt –, dann müssen wir gemeinsam dafür sorgen, Um etwas Konstruktives zu sagen: Die Förderung der Sie haben den Antrag ja eingebracht, dass es Antworten Vermögensbildung – so habe ich auch den Kollegen darauf gibt. Schild verstanden – liegt im Interesse aller politisch Ver- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Stimmen Sie antwortlichen. Das gilt nicht erst seit dieser Legislatur- dem Antrag zu!) periode, sondern schon sehr viel länger. Ich glaube, es Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16151

Stefan Müller (Erlangen) (A) herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass dies auch Wir jedenfalls sind der Auffassung, dass alle bisheri- (C) zukünftig das Anliegen aller Fraktionen sein wird. gen Instrumente nicht ausreichen werden, um diesen He- rausforderungen entsprechend begegnen zu können. Ge- In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich eine nau deswegen haben wir diesen Antrag eingebracht. Ich Reihe von Wegen und Möglichkeiten entwickelt, wie denke, es liegt in unser aller Interesse, dass die Bildung Arbeitnehmer Vermögen bilden können und wie wie- von Vermögen von Arbeitnehmern auch in Zukunft in derum der Staat diese Vermögensbildung unterstützen ausreichendem Maße gefördert werden kann. kann. Ich nenne das Vermögensbildungsgesetz, mit dem vermögenswirksame Leistungen durch die Arbeitneh- (Horst Schild [SPD]: Sagen Sie mal, wie Sie mersparzulage gefördert werden, das Wohnungsbau-Prä- das finanzieren wollen!) miengesetz – Sie wollten es zwar zwischenzeitlich ab- Wir müssen eben ein bisschen mehr machen als das, was schaffen, gleichwohl existiert es noch und dient wir in der Vergangenheit gemacht haben. Genau darum natürlich auch ein Stück weit der Vermögensbildung –, geht es uns. die Riester-Rente und auch die so genannte Rürup- Rente. Ein gutes und wirkungsvolles Instrument kann in die- sem Zusammenhang die Mitarbeiterbeteiligung sein. Herr Schild, ich möchte doch etwas zur Riester- Herr Schild, zu diesem Thema haben Sie gar nichts ge- Rente sagen. Ich weiß nicht, wie Sie auf die Zahl von sagt. Dieser Punkt ist auch insofern von Interesse, als 15 Millionen kommen. Ich habe große Zweifel, dass es sich Arbeitgeber, Gewerkschaften und auch die Politik sich um 15 Millionen Verträge zur Riester-Rente han- – Frau Scheel, auch Sie haben es gerade angesprochen – delt. in der Vergangenheit immer wieder für eine stärkere Be- (Horst Schild [SPD]: Das habe ich teiligung der Beschäftigten am Unternehmenserfolg nicht behauptet!) stark gemacht haben. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass diese Mitarbeiterbeteiligung noch immer Ich glaube vielmehr, dass es sich dabei um Kapitalle- ein Stiefkind ist, weil sie zu wenig in Anspruch genom- bensversicherungen handelt, die in diesem Zusammen- men wird. Wir müssen uns überlegen, wie wir da zu an- hang abgeschlossen worden sind. Aber ich will diese deren Ländern aufschließen können. In Frankreich ist Zahl nicht infrage stellen. Im Übrigen will ich auch nicht das Instrument der Mitarbeiterbeteiligung sehr viel stär- infrage stellen, dass die Grundidee der Riester-Rente ker ausgeprägt. richtig ist. Ganz im Gegenteil: Ich sage ganz klar, dass die Riester-Rente ein vernünftiges Instrument ist, um die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – private Altersvorsorge zu fördern; das ist keine Frage. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist eine andere Tradition!) (B) Was wir auch im Zusammenhang mit dem Altersein- (D) künftegesetz kritisiert haben, war, dass die Riester-Rente – Gut, das ist eine andere Tradition. Aber das hindert uns nach wie vor – daran ist auch durch das Alterseinkünfte- nicht daran, darüber nachzudenken, was wir in unserem gesetz nicht sehr viel geändert worden – in ihrer Durch- Land für die Mitarbeiterbeteiligung tun können. führung viel zu bürokratisch ist. Ich stelle fest, dass wir bei der Mitarbeiterbeteiligung (Beifall bei der CDU/CSU) noch sehr viel Nachholbedarf haben und dass sie in Genau das ist der Grund, warum die Riester-Rente nicht Deutschland ein wenig genutzter Weg ist. Sie ist es auch wirklich in Anspruch genommen wird und nicht die Zahl deswegen, Frau Scheel, weil die Durchführungswege, von Verträgen abgeschlossen worden sind, die seinerzeit die heute schon existieren, einfach zu bürokratisch sind. angekündigt worden sind. Auch darüber können und müssen wir sicherlich reden. Es ist sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitge- Es geht vielmehr um die Frage, inwieweit alle bisheri- ber durchaus von großem Interesse, eine innovative gen Anstrengungen ausreichen, um den Veränderungen Einkommenspolitik zu machen. Für den Arbeitgeber in der Wirtschafts- und Arbeitswelt auch in Zukunft zu besteht der Vorteil darin, dass er seine Eigenkapitalbasis genügen. Diese Frage müssen wir uns stellen, wenn wir verbessern kann, dass er qualifizierte Mitarbeiter gewin- ein Konzept für die Zukunft erarbeiten wollen. Wir müs- nen und die Mitarbeiter an seinen Betrieb binden kann. sen doch einfach zur Kenntnis nehmen, dass wir in den Es gibt Studien, die belegen, dass die Produktivität in nächsten Jahren sowohl in der Wirtschaft als auch im den Unternehmen größer ist, in denen es Mitarbeiterbe- Arbeitsleben vor drei wesentlichen Herausforderungen teiligungsprogramme gibt. Das wird niemand bestreiten stehen werden: erstens dem wachsenden globalen Wett- wollen. bewerb mit all seinen Chancen und Risiken – wir können das kritisieren, aber wir werden das nicht ändern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – können –, zweitens dem Wandel zur wissensbasierten Horst Schild [SPD]: Da müsst ihr Ursache und Gesellschaft und drittens dem demographischen Wandel Wirkung auseinander halten!) in der Gesellschaft mit all seinen Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme. Der letzte Punkt scheint Die Vorteile für die Arbeitnehmer liegen gleicherma- mir wirklich entscheidend zu sein, weil die Notwendig- ßen auf der Hand: die Erschließung von zusätzlichen keit, private Vorsorge zu treffen, eher zu- als abnehmen Einkommensquellen, die Erhöhung der Arbeitszufrie- wird. denheit, der Arbeitsplatzsicherheit und nicht zuletzt – das ist für mich das Entscheidende – bessere Chancen (Beifall bei der CDU/CSU) für den Aufbau der privaten Altersvorsorge. 16152 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Stefan Müller (Erlangen) (A) Deshalb müssen wir darüber diskutieren, wie wir die sche Parlament, die Immunität der Abgeordneten Sam (C) Mitarbeiterbeteiligung stärker in die Altersvorsorge inte- Rainsy, Cheam Channy und Chea Poch unter Ausschluss grieren können. Dass das nicht einfach ist, wissen wir, der Öffentlichkeit sowie unter Ausschluss diplomati- aber das hindert uns nicht daran, darüber noch einmal zu scher Beobachter durch einfache Akklamation hinter diskutieren. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir verschlossenen Türen auf. Die drei Abgeordneten gehö- alle bestehenden Förderungsinstrumente sinnvoll mitei- ren der einzigen parlamentarischen Oppositionspartei nander verzahnen können, also wie wir die Förderung an, der nach ihrem Vorsitzenden benannten Sam-Rainsy- der Vermögensbildung noch mehr in die private Alters- Partei. Sie werden sowohl krimineller Verbrechen als vorsorge integrieren können. auch des Versuchs der Bildung einer illegalen Rebellen- armee bezichtigt. Diese Immunitätsaufhebung lässt Wir freuen uns auf einen konstruktiven Dialog zu die- sich als Nacht- und Nebelaktion bezeichnen und die Be- sem bedeutsamen Thema. Es bleibt festzustellen, dass schuldigungen sind recht fragwürdig. Darüber hinaus die Beteiligung von möglichst vielen Menschen an Ei- stellt die Menschenrechtsorganisation Human Rights gentum mehr Verantwortung und mehr Erfolg bringt und Watch fest, dass die Inhaftierung des Abgeordneten letztendlich eines der besten Mittel ist, die Vorteile unse- Cheam Channy im Militärgefängnis von Phnom Penh rer Gesellschaftsordnung auch in Zukunft noch zu erhal- und die Anklage gegen ihn durch das Militärgericht ge- ten. gen kambodschanisches Recht verstoßen. Sam Rainsy (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. ist ins Ausland geflüchtet und Chea Poch hält sich ver- Dirk Niebel [FDP]) steckt. Nun könnte man wie normalerweise nach entspre- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: chenden Protesten von deutscher, europäischer, amerika- Ich schließe damit die Aussprache. nischer und sonstiger Seite zur Tagesordnung übergehen, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf weil Menschenrechtsverletzungen in vielen asiatischen Drucksache 15/5104 an die in der Tagesordnung aufge- und afrikanischen Staaten die Regel sind. Doch es gibt führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan- aus meiner Sicht einige Besonderheiten, die unser ver- den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- stärktes Augenmerk auf Kambodscha lenken sollten: schlossen. Erstens jährte sich in dieser Woche, genauer gesagt Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: am 17. April, zum 30. Mal der Jahrestag, an dem die Roten Khmer unter Bruder Nummer eins Pol Pot in a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Phnom Penh einmarschierten und damit die Macht in Johannes Pflug, Detlef Dzembritzki, Monika (B) Kambodscha übernahmen. Die Folge war die Einfüh- (D) Heubaum, weiterer Abgeordneter und der Frak- rung eines Steinzeitkommunismus, der über die Ermor- tion der SPD sowie der Abgeordneten Fritz dung von mindestens 1,7 Millionen Kambodschanern, Kuhn, Marianne Tritz, Volker Beck (Köln), wei- vorwiegend Intellektuellen, einen neuen Menschen terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- schaffen sollte. NISSES 90/DIE GRÜNEN Zweitens steht das rigorose, gegen bestehendes Recht Für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in verstoßende und demokratische Regeln missachtende Kambodscha Vorgehen der kambodschanischen Behörden gegen die – Drucksache 15/5256 – drei von mir genannten Abgeordneten in krassem Wider- spruch zu der Nachsicht, die mit Verbrechen des ehema- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus ligen Pol-Pot-Regimes und zahlreichen anderen von Löning, Dr. Werner Hoyer, Dr. Karl Addicks, höchsten Stellen gedeckten Kriminellen geübt wird. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP (Beifall bei der SPD) Die Demokratie in Kambodscha wiederher- stellen Drittens. Es stellt sich die Frage, ob die circa 50 bis 55 Millionen US-Dollar für das Khmer-Rouge-Tribu- – Drucksache 15/5071 – nal, dessen Einsetzung gerade im Oktober 2004 in ei- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die nem Abkommen zwischen Kambodscha und den Verein- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die ten Nationen beschlossen wurde, gerechtfertigt sind, FDP fünf Minuten erhalten soll. – Widerspruch gibt es wenn nämlich dieses Tribunal drei Jahre tagt und außer nicht. Dann ist so beschlossen. Ieng Sary, dem Schwager und Außenminister Pol Pots, dem so genannten Bruder Nummer zwei, und Nuon Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Chea, der einstigen Nummer drei im Pol-Pot-Regime der Abgeordnete Johannes Pflug. – auch Bruder Nummer drei genannt – und zugleich Prä- (Beifall bei der SPD) sident des damaligen Zentralkomitees, der die Hinrich- tungsbefehle gab, vielleicht noch gerade fünf bis zehn weitere Verbrecher anklagen wird. Johannes Pflug (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Von Prinz Sirivudh, dem kambodschanischen Vize- Herren! Am 3. Februar dieses Jahres hob die National- premierminister, wurde mir gegenüber anlässlich seines versammlung Kambodschas, also das kambodschani- Berlin-Besuches in der vergangenen Woche, am Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16153

Johannes Pflug (A) 14. April, der Wunsch auf deutsche Rechtsbeteiligung mus hat in gut funktionierenden Demokratien manchmal (C) am Tribunal geäußert. Wir sollten uns diesem Wunsch offensichtlich ganz andere Probleme als in Staaten, die grundsätzlich nicht verschließen. solche Probleme gerne hätten. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Ja!) Jürgen Hedrich [CDU/CSU]) Auch wenn wir unterschiedlich abstimmen werden, Jedoch muss vorher klar sein, wie dieses Tribunal be- weiß ich doch, dass wir inhaltlich einer Meinung sind. setzt wird, Das ist gut für künftige Diskussionen über Kambodscha. (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Schönen Dank. So ist es!) (Beifall im ganzen Hause) welche Kompetenzen es hat, welche Qualifikation die Richter haben, dass sie weisungsunabhängig sind und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: welche Konsequenzen ihre Urteile haben werden. Prinz Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Jürgen Sirivudh hat mir gegenüber in diesem Gespräch eben- Hedrich. falls zu erkennen gegeben, dass er sich auch für die Frei- lassung Cheam Channys einsetzen wolle, ähnlich wie Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): dies bereits Exkönig Sihanouk getan habe. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Viertens. Es ist zu beachten, dass Deutschland seit und Kollegen! Johannes Pflug, vielleicht darf ich den 1992 mit der erstmaligen Auslandsbeteiligung von deut- letzten Punkt direkt aufgreifen: Ich glaube, die Anträge schen Soldaten an einem UNO-Peacekeeping-Einsatz – sowohl der von der FDP als auch der von der Koalition – und der Bestimmung Kambodschas zum Schwerpunkt- sind so gestrickt, dass eigentlich das ganze Haus in der land für die Entwicklungshilfe dort natürlich in beson- Lage sein müsste, beiden Anträgen zuzustimmen. derem Maße engagiert ist. (Beifall bei der FDP) Fünftens darf man nicht übersehen, dass trotz wirt- Das wäre mein Rat. schaftlicher Erfolge Kambodschas seit 1997 und ver- stärkt seit der Regierungsneubildung im Juli letzten Jah- (Johannes Pflug [SPD]: Das sollten wir ma- res im Rahmen einer Koalition der CPP, des chen!) Ministerpräsidenten Hun Sen und der dem Königshaus – Prima, die SPD signalisiert Zustimmung, die Grünen nahe stehenden FUNCINPEC die Regierung Hun Sen sowieso. Also sind wir uns insofern schon einig. zunehmend autoritärer und undemokratischer agiert und (B) (D) versucht, die Opposition zu behindern und teilweise Die Anträge beschreiben den Tatbestand sehr sachge- mundtot zu machen. recht. Der Antrag der Koalition greift das Problem des Tribunals zur Aufarbeitung der Pol-Pot-Verbrechen noch Sechstens bleibt festzustellen, dass Indochina eine einmal auf; auch das halte ich für in Ordnung. Dass wir wichtige, stabilisierende Rolle in Südostasien spielt und als Union hier heute keinen eigenen Antrag eingebracht spielen muss, insbesondere vor dem Hintergrund gefähr- haben, liegt schlicht und ergreifend daran, dass wir ge- licher Entwicklungen in Nepal, Bangladesch und Burma. genwärtig einen Menschenrechtsantrag für den gesamten In den beiden letzten Jahren gibt es auch in Thailand zu- ASEAN-Raum vorbereiten, den wir voraussichtlich im nehmend autoritäre Formen. Aus Bangladesch gibt es Mai im Plenum einbringen wollen. mehr und mehr Berichte, dass dort terroristische Grup- pen um al-Qaida tätig sind, und Kambodscha wird zu- Ich glaube, man sollte zuerst noch einmal feststellen nehmend als Rückzugsraum solcher Gruppierungen ge- – vielleicht sind wir sogar in der Lage, liebe Kolleginnen nannt. Gerade das Klima der Rechtsfreiheit bis und Kollegen, das durch einen besonderen Beschluss Rechtlosigkeit und die extreme Korruption in Kambod- zum Ausdruck zu bringen –, dass es für ein frei gewähl- scha begünstigen solche terroristischen Gruppen und tes, demokratisches Parlament wie den Bundestag völlig die immer stärkere Bandenkriminalität insbesondere im unakzeptabel ist, wenn in anderen Ländern Parlamenta- Bereich des Menschenhandels und der Sexsklaverei. rier wider Gesetz und Recht inhaftiert und verfolgt wer- den. Am 17. April gedachten buddhistische Mönche und Mitglieder der Sam-Rainsy-Party der ermordeten Opfer (Beifall im ganzen Hause) auf den Killing Fields. Auch wenn man weiß, dass die Wahlen, die in Kambod- Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und scha stattgefunden haben, nicht den höchsten Maßstäben Herren, dies alles sollte uns genügend Anlass sein, uns einer freien und demokratischen Wahl entsprochen ha- über diese Plenardebatte hinaus mit Kambodscha und ben, so verdienen die Parlamentarier – wenn es sie denn Südostasien zu beschäftigen. Die Tatsache, dass wir schon gibt und wenn es denn schon Regierung und Op- heute im Deutschen Bundestag um 18 Uhr über dieses position gibt – unsere Sympathie und unsere Unterstüt- Thema debattieren und nicht um 23 Uhr, ist vielleicht zung. ein positives Signal an die Fachpolitiker. Die Tatsache, (Beifall im ganzen Hause) dass zwei gleich lautende Anträge vorliegen, wirft natür- lich die Frage auf, wo eigentlich die essenziellen Unter- Es wurde schon zu Recht darauf hingewiesen, dass schiede liegen. Ich sehe diese nicht. Aber Parlamentaris- der Vizepremierminister von Kambodscha letzte Woche 16154 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Klaus-Jürgen Hedrich (A) in Berlin war. Die ASEAN-Parlamentariergruppe, der Auch das ist heute mehrmals gesagt worden. Morgen (C) vorzustehen ich das Vergnügen habe, hat sich mit ihm früh wird es in diesem Haus eine Debatte und eine Ab- unterhalten. In diesem Zusammenhang hat übrigens ge- stimmung über einen Bundeswehreinsatz im Sudan ge- rade die Aufarbeitung der Pol-Pot-Problematik eine ben. Man kann sich heute durchaus fragen, ob die inter- Rolle gespielt. Wenn wir uns jetzt die Debatte, die vor nationale Gemeinschaft dort nicht schon viel früher hätte zwei Stunden gelaufen ist, nämlich die zum Genozid ge- intervenieren müssen. gen die Armenier, ins Gedächtnis rufen, so werden wir erkennen, dass auch dies mit Sicherheit eine Frage ist, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem bei der wir den Kambodschanern keine großen Lehren BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erteilen, ihnen aber sagen wollen: Liebe Freunde in die- Ich möchte mich sowohl bei den Kolleginnen und sem südostasiatischen Land, ihr werdet nicht zur Ruhe Kollegen der FDP wie auch bei den Kolleginnen und kommen, wenn ihr euch nicht der eigenen Vergangenheit Kollegen der Koalition für die beiden Anträge bedanken. stellt, insbesondere dann nicht, wenn ihr nicht bereit Damit wird deutlich, dass sich das deutsche Parlament seid, diejenigen, die hauptverantwortlich an dem Geno- nicht einfach zurücklehnt, wenn irgendwo in der Ferne zid an der eigenen Bevölkerung beteiligt waren, heute die Völker aufeinander einschlagen. Wir wissen durch- aber zum Teil noch frei im Lande herumlaufen, zur Re- aus, dass wahrscheinlich – ich werde jetzt einmal pathe- chenschaft zu ziehen. tisch – für die Menschheit die Zeiten, in denen man sich (Beifall im ganzen Hause) gelassen zurücklehnen konnte, wenn Verbrechen began- gen wurden, ein für allemal vorbei sind. Wir haben, glaube ich, auch deshalb eine besondere Verantwortung, weil die internationale Gemeinschaft Herzlichen Dank. von Anfang an den Befriedungsprozess in Kambodscha (Beifall im ganzen Hause) mit verfolgt hat. Übrigens sei an dieser Stelle – auch das ist ja in den Anträgen aufgeführt – daran erinnert, dass der erste größere internationale Friedenseinsatz der Bun- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: deswehr in Kambodscha stattgefunden hat. Auch das Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege macht unsere besondere Verantwortung, aber auch un- Koppelin das Wort. sere besondere Neigung zu diesem Land und zu seinen Menschen erkennbar. Jürgen Koppelin (FDP): Im Rückblick sollten wir uns aber noch einmal ins Frau Präsidentin! Ich möchte nach diesem Redebei- Gedächtnis rufen, dass wir in unserer Politik – auch in trag sagen, dass ich die große Übereinstimmung in die- (B) Bezug auf Kambodscha – nicht immer konsistent und ser Frage, die zwischen allen Fraktionen besteht, be- (D) nicht immer glaubwürdig waren. Das gilt übrigens für grüße. Ich selber bin seit längerer Zeit in Kambodscha mehrere Bundesregierungen unterschiedlicher parteipo- sehr engagiert. litischer Führung. Wir haben nämlich jahrelang das Pol- Was mir bei beiden Anträgen zu kurz kommt – das Pot-Regime in der Vertretung Kambodschas bei den Ver- sage ich ganz offen, auch wenn ich beiden Anträgen zu- einten Nationen anerkannt, obwohl es bereits im Busch stimmen werde –, ist, dass wir die Notwendigkeit, un- saß und obwohl wir wussten, dass dieses Regime für den sere politischen Stiftungen, die in Kambodscha arbei- Genozid verantwortlich war. Ich habe aus meiner Auf- ten, mehr zu unterstützen, nicht deutlich machen. Sie fassung nie einen Hehl gemacht und will sie auch an die- haben einfach zu wenig Geld, um dort die Demokratie- ser Stelle wiederholen: Natürlich kann man sich – ich bewegung zu unterstützen. will keine anderen Diskussionen aufwerfen – immer da- rüber unterhalten, dass die Invasion der Vietnamesen (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das ist überall im Jahre 1978, die den Terror und den unmittelbaren ein Problem!) Völkermord in Kambodscha beendet hat, nicht unbe- dingt durch internationale Beschlüsse der Vereinten Na- Mein Wunsch an alle Fraktionen ist es, dass wir uns da- tionen gedeckt war. Aber ich mache keinen Hehl aus rum bemühen. meiner Meinung, dass dieser Einsatz der Vietnamesen (Beifall im ganzen Hause) wahrscheinlich Millionen, zumindest aber Hunderttau- senden von Menschen das Leben gerettet hat. Ein anderer Punkt ist – diesen haben wir schon im Haushaltsausschuss angesprochen; ich will dies aber mit (Beifall im ganzen Hause) Blick auf die Rede des Kollegen Hedrich, von dem ich Das sollte man an dieser Stelle erwähnen, auch wenn weiß, dass er mich darin unterstützen wird, noch einmal man keine Sympathien für das kommunistische Regime sagen –, dass die Asiatische Entwicklungsbank Geld in in Hanoi hegt. Zur historischen Wahrheit gehört auch, erheblichem Umfang aus Deutschland bekommt. 50 Pro- dass 1978 der Vietnamkrieg erst drei Jahre beendet war zent des Etats von Kambodscha stammen von der Asiati- und es deshalb schwer ist, diesen Vorgang im Jahre 2005 schen Entwicklungsbank. Deshalb sollten wir uns als korrekt zu bewerten. Deutsche viel stärker darum bemühen, dass, wenn dieses Land schon von uns Geld bekommt, die Demokratie dort Wir sollten diesen Vorgang aber zum Anlass nehmen, eine stärkere Stellung hat. Es kann nicht sein, dass die in Zukunft bei anderen sich abzeichnenden oder schon einzige Oppositionspartei, die Sam-Rainsy-Partei, so stattfindenden Verbrechen rechtzeitig zu intervenieren. stark unterdrückt wird, wie es zurzeit der Fall ist. Das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16155

Jürgen Koppelin (A) sage ich auch mit Blick auf Sam Rainsy, mit dem ich seit Die intellektuelle Schicht fehlt auf jedem Gebiet. (C) zwölf Jahren eng befreundet bin. Dem einst so reichen Land fehlt die Grundlage für den Aufbau einer Zivilgesellschaft. Es ist ein Land, in dem (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem es einen großen Bedarf an Informationen, Bildung und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- politischer Aufklärung gibt. Es gibt in der Bevölkerung geordneten der SPD) einen großen Bedarf an Informationen zu Fragen der Menschenrechte und der demokratischen und rechts- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: staatlichen Prinzipien. Von daher kann ich das Ansinnen Vielen Dank. Diese Kurzintervention erfordert keine der Kollegen der FDP durchaus unterstützen. unmittelbare Antwort, weil sie sich auf die Debatte ins- Die internationale Staatengemeinschaft darf nicht gesamt bezieht. wegschauen, wenn es auch nur den Schatten eines Ver- dachtes gibt, dass die Demokratie, die Menschenrechte Dann hat jetzt die Abgeordnete Marianne Tritz das und die Rechtsstaatlichkeit in Kambodscha wieder ge- Wort. fährdet sein könnten. (Beifall im ganzen Hause) Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlass unserer Diskussion heute ist, dass der Premier- Starke Reden und große Übereinstimmung: Das ist sehr minister höchstselbst die Opposition im kambodscha- zu begrüßen und macht uns sehr froh. Ich möchte in An- nischen Parlament unter anderem durch Verhaftung betracht der Armeniendebatte, die wir vor einigen Stun- einfach ausgeschaltet hat. Eine Demokratie funktioniert den geführt haben, kurz erläutern, was damals in Kam- aber nur mit einer arbeitsfähigen parlamentarischen Op- bodscha passiert ist. Ich sehe viele junge Menschen auf position. Sie funktioniert nur, wenn die Rechtsstaatlich- der Zuschauertribüne, die diesen Konflikt, den man im- keit gesichert ist, wenn Menschenrechte, Meinungs-, mer in Erinnerung haben muss, wahrscheinlich nicht Presse- und Versammlungsfreiheit gewährleistet sind. kennen. Der Premierminister hat dem demokratischen Prozess in Kambodscha einen sehr schweren Schaden zugefügt, Als Pol Pots Steinzeitkommunisten vor circa 30 Jah- ren die Macht in Kambodscha übernahmen, errichteten (Beifall im ganzen Hause) sie eine Schreckensherrschaft. In knapp vier Jahren vie- und das in einer Zeit, in der die berechtigte Hoffnung be- len ihnen circa 2 Millionen Menschen zum Opfer. Das stand, dass sich Kambodscha der Vergangenheit stellt entspricht jedem vierten Bürger. und die schweren Verbrechen der Roten Khmer aufklä- (B) (D) Noch am Tag der Machtübernahme hatten die Roten ren und bestrafen will. Khmer mit der Umsetzung ihrer menschenverachtenden Im Juni 2003 – das ist bereits mehrmals erwähnt wor- Ideologie begonnen. Die Menschen der Hauptstadt den – hat sich die kambodschanische Regierung nach Phnom Penh wurden vertrieben. Die gesamte Stadtbe- langjährigen Verhandlungen mit den Vereinten Nationen völkerung wurde zur Landarbeit gezwungen. Die Men- auf die Einsetzung eines Sonderstrafgerichtshofes ge- schen wurden ermordet, gefoltert, arbeiteten sich zu einigt. Erst im Oktober 2004 wurde diese Vereinbarung Tode oder verhungerten auf den Killing Fields. Ärzte vom kambodschanischen Parlament ratifiziert. Es wird und Krankenhäuser zur Behandlung von Kranken gab es ein gemischtes Tribunal. Das heißt, zwei von fünf Rich- nicht mehr. Die Schulen wurden geschlossen, Bücher tern werden aus dem Ausland kommen. Dadurch sollen verbrannt, Geld und Handel abgeschafft, die Religions- ein faires öffentliches Verfahren nach internationalem ausübung verboten. Wer schreiben konnte oder nur eine Standard und eine große nationale Beteiligung garantiert Brille trug, wurde hingerichtet. werden. Der Albtraum fand erst sein Ende, als die kommunis- Jetzt gibt es – auch vonseiten des Premierministers – tischen Vietnamesen in Kambodscha einmarschierten massive Störmanöver gegen das Tribunal. Das kann und das Regime der Roten Khmer beendeten. Aber der und darf nicht sein. Bürgerkrieg der unterschiedlichen Parteien wie der Roten Khmer, der Royalisten und der bürgerlichen (Beifall im ganzen Hause) Gruppen gegen die vietnamesischen Besatzer dauerte Einflussreiche Politiker verhindern die für das Tribunal noch lange an. Erst in den späten 90er-Jahren und mit- dringend erforderlichen Schulungen von Juristen. Die hilfe der internationalen Gemeinschaft – der deutsche oberste Justizverwaltung schlägt als Kandidaten für die Beitrag wurde erwähnt – kam Kambodscha langsam zur zweite Kammer des Tribunals quasi sich selbst vor. Der Ruhe. oberste Richter hat Ende der 70er-Jahre Pol Pot im Pro- zess als Verteidiger vertreten. Es gibt kaum Bericht- Kambodscha ist ein Land, in dem die Geschichte der erstattungen durch die Presse zum bevorstehenden Ge- Roten Khmer zu den traurigsten Kapiteln des 20. Jahr- richtsverfahren. hunderts gehört. Phnom Penh ist eine Stadt mit ausra- diertem Gedächtnis. Kambodscha fehlt ein großer Teil In Anlehnung an Armenien: Die Zukunft kann nur ge- seiner Geschichte. Dieser Teil der Geschichte, der bis in staltet werden, wenn die Vergangenheit bewältigt wurde. die heutige Gegenwart hineinreicht, hat noch immer Darum kann man in Fragen der Demokratie und Rechts- Auswirkungen auf die politische Entwicklung im Land. staatlichkeit keinerlei Zugeständnisse machen. Kambodscha 16156 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Marianne Tritz (A) steht noch vor großen Herausforderungen. Wir sind be- setzen. In den technischen Diskussionen, die wir führen, (C) reit, das Land dabei zu unterstützen, erwarten aber des- kommt auch oft die Frage zu kurz: Wie baue ich ein halb – und gerade deshalb – die volle Herstellung der Land auf? Wir müssen darauf bestehen: Es kann den ver- Rechtsstaatlichkeit. Ich bin froh, dass es hier im Parla- nünftigen Aufbau eines Landes nicht geben ohne Demo- ment eine übereinstimmende Meinung dazu gibt und un- kratie, ohne Rechtsstaatlichkeit und auch ohne Immuni- ser Anliegen nicht in einem Parteienhickhack untergeht. tät von Abgeordneten. Danke. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall im ganzen Hause) Darum, meine Damen und Herren, geht es hier heute. Deswegen diskutieren wir. Ich finde es richtig, hier das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Signal auszusenden, dass wir an unsere Kollegen in Kambodscha denken, dass wir sie nicht vergessen wer- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Löning. den und dass wir uns hier für sie einsetzen.

Markus Löning (FDP): Vielen Dank. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei hier schon von allen der lange Leidensweg Kambod- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schas geschildert worden, den wir in den letzten GRÜNEN) 50 Jahren erleben mussten und den das Land in den letz- ten 50 Jahren erleiden musste. Deswegen will ich das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: hier nicht wiederholen. Das, was in Kambodscha pas- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer siert ist – und aktuell passiert –, bildet aber natürlich den Eppelmann. Hintergrund für unsere Betroffenheit. Ich will an dem Punkt einsetzen, an dem sich Kam- Rainer Eppelmann (CDU/CSU): bodscha auf den Weg in die Demokratie gemacht hat; Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das war vor ungefähr 15 Jahren. Wir als Deutsche haben Trotz der kritischen Töne des letzten Redners, die ich Kambodscha auf diesem Weg immer unterstützt. Ich verstehen kann, habe ich den Eindruck, dass die Debatte, finde, es ist wichtig, dass wir mit der heutigen Debatte in der ich als Letzter rede, inhaltlich – zumindest auf deutlich machen, dass wir den Weg Kambodschas in die Kambodscha bezogen – nicht von Differenzen geprägt Demokratie weiterhin unterstützen. Es ist ein sehr steini- gewesen ist. Darum – da reizt es mich, an das anzu- ger Weg. schließen, was Sie gesagt haben – würde ich gerne ein (B) (Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ bisschen mehr über uns reden. (D) CSU) Auch ich stelle wie alle anderen fest, dass die beiden Lieber Kollege Hedrich, ich kann mir leider an dieser Anträge, die wir heute beraten, große Ähnlichkeiten auf- Stelle die Bemerkung nicht verkneifen, dass es zwar sehr weisen. Lassen Sie mich darum kurz ausführen, wie es schön ist, wenn die CDU/CSU nun beiden Anträgen zu- aus meiner Kenntnis zu diesen fast gleich lautenden An- stimmt, ich es aber noch viel schöner gefunden hätte, trägen gekommen ist. wenn sich die CDU/CSU der überfraktionellen Initiative Ursprünglich wurde im Auswärtigen Ausschuss auf angeschlossen hätte und wir jetzt einen gemeinsamen Vorschlag der FDP ein gemeinsamer Antrag aller Frak- Antrag zu dem Thema auf den Weg bringen könnten. tionen vorgesehen und beraten. Den Außenpolitikern Ich glaube, das hätte noch etwas mehr Eindruck ge- meiner Fraktion war die Thematik des Antrages aber macht. Ich sage das gerade vor dem Hintergrund der Ar- letztlich zu speziell, sodass mit unserer weiteren Unter- meniendebatte. Wir haben hier viele Redner mit einer stützung nicht mehr zu rechnen war. Die SPD und Bünd- Menge Pathos gehört, gerade auch den außenpolitischen nis 90/Die Grünen zogen es daraufhin vor, einen eigenen Sprecher der Unionsfraktion; da ging es in bewegenden Antrag einzubringen, der allerdings, wie wir feststellen Worten um Wichtiges. Ich frage mich: Warum sind wir können, zum Teil wortwörtlich den FDP-Antrag über- dann nicht in der Lage, in solch einer vergleichsweise nimmt. einfachen Frage, in der wir uns wirklich einig sind, einen gemeinsamen Antrag auf den Weg zu bringen, sondern Inhaltlich kann und werde ich – wie offensichtlich er- verfallen in parteipolitischen Hickhack? Das finde ich freulicherweise alle anderen auch – beiden Anträgen zu- schade und enttäuschend. stimmen. Eben tauchte hier noch die Frage auf, ob das Premiere ist. Das müsste man vielleicht einmal feststel- (Beifall bei der FDP) len; aber auch wenn es denn so wäre, wäre es gut. Da- rum bin ich gespannt, ob wir alle diesen beiden Anträgen Ich freue mich, dass die Unionsfraktion den Anträgen folgen werden. zustimmt. Ich hätte mir aber gewünscht, dass es eine ge- meinsame Initiative gibt; denn es ist wichtig, dass wir In beiden Anträgen vermisse ich aber drei wichtige uns für unsere Kollegen, die Parlamentarier, einsetzen. Aspekte, die meines Erachtens unbedingt hineingehören. Wir reden viel über Entwicklungszusammenarbeit und Erstens wird die kambodschanische Regierung nicht auf- über Außenpolitik. Es kommt aber oft zu kurz, dass wir gefordert, gegen die allgegenwärtige Korruption im uns für Kollegen einsetzen, dass wir uns für die Durch- Lande – speziell in der Justiz – vorzugehen und schlüs- setzung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit ein- sige Konzepte zu ihrer Bekämpfung vorzulegen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16157

Rainer Eppelmann (A) Zweitens findet der problematische Umgang der kam- Ebenso wenig überzeugend ist die Weigerung ande- (C) bodschanischen Regierung mit Flüchtlingen keine ange- rer, dem Antrag der jeweils anderen Fraktion nicht zuzu- messene Berücksichtigung. Menschen vietnamesischer stimmen. Das ist aber erfreulicherweise nicht mehr der Abstammung sind in Kambodscha weiterhin gefährdet Fall; insofern kann ich in dieser Debatte einen positiven und vietnamesische Flüchtlinge sind von Verhaftung und Lernprozess bei uns allen beobachten, was mich richtig Abschiebung bedroht. Kambodschaner, die ihnen helfen froh stimmt. wollen, werden ebenfalls bedroht. Kambodscha hat zwar (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Siehst die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ratifiziert, du, Rainer! Wir sind lernfähig!) verstößt aber seit Jahren gegen die daraus hervorgehen- den Verpflichtungen. – Das ist doch schön. Drittens vermisse ich die Erwähnung der sich aus Müssen wir uns nicht fragen, ob dieses Verhalten des Art. 1 des Kooperationsabkommens der EU mit Kam- Parlaments eines Landes, das Ambitionen auf einen bodscha ergebenden Verpflichtungen für die kambod- ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat, angemessen schanische Regierung. Darin verpflichtet sich diese zur ist? Zu einem allgemeinen schlüssigen deutschen Kon- Wahrung der Grundsätze der Demokratie und zur Ach- zept, sich für Demokratie und Menschenrechte aus- tung der Menschenrechte. Man muss die kambodschani- nahmslos in der ganzen Welt stark zu machen, fehlt uns sche Regierung häufiger, intensiver und deutlicher auf- noch einiges an Glaubwürdigkeit und kraftvollem Han- fordern, ihren Verpflichtungen aus diesem Abkommen deln. Vielleicht bringen uns aber die heutige Debatte und nachzukommen, auch was die Rechte der Parlamentarier die Zustimmung zu zwei von unterschiedlichen Parteien – besonders der Opposition – im eigenen Land angeht. formulierten Anträgen einen guten Schritt voran. Ich bin froh, dass wir in unserem Bemühen an dieser Herzlichen Dank. Stelle versucht haben, auch im Hinblick auf Kambod- scha ein Zeichen dafür zu setzen, dass sich Parlamenta- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie rier der Bundesrepublik Deutschland für Parlamentarier bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- in anderen Ländern einsetzen, die – auch wegen ihres NISSES 90/DIE GRÜNEN) Engagements – in ihren Menschenrechten beeinträchtigt oder verfolgt werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich schließe damit die Aussprache. neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag GRÜNEN und der FDP) der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- (B) nen auf Drucksache 15/5256 mit dem Titel „Für Demo- (D) Ich habe durch die Art und Weise, wie die beiden An- kratie und Rechtsstaatlichkeit in Kambodscha“. Wer träge entstanden sind und inhaltlich ausgestattet wurden, stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthal- den Eindruck gewonnen, dass die Achtung der Men- tungen? – Der Antrag ist damit einstimmig angenommen schenrechte in Kambodscha nicht zu den Themen ge- worden. hört, die von uns als besonders dringend betrachtet wer- den. Ich habe die Vermutung, dass wir zum Jahrestag des Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP Einmarschs der Roten Khmer in Phnom Penh, der sich auf Drucksache 15/5071 mit dem Titel „Die Demokratie am 17. April zum 30. Mal jährte, das Gefühl hatten, et- in Kambodscha wieder herstellen“. Wer stimmt für die- was tun zu müssen. Das Ergebnis dieser Überlegungen sen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch – zwei unvollständige Anträge statt eines vollständigen dieser Antrag ist einstimmig angenommen worden. Antrags – stellt meines Erachtens keine besondere Leis- (Beifall im ganzen Hause) tung des Deutschen Bundestages im Allgemeinen und der deutschen Menschenrechtspolitik im Besonderen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: dar. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Wir alle müssen uns fragen, ob es nicht besser wäre, neten Ernst Burgbacher, Rainer Brüderle, uns in Zukunft noch ernsthafter darum zu bemühen, zu- Angelika Brunkhorst, weiteren Abgeordneten mindest in Menschenrechtsfragen mit einer Stimme und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- zu sprechen. Es ist nicht überzeugend, sich aus den ge- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grund- meinsamen Beratungen mit dem Argument zurückzuzie- gesetzes (Art. 23) zur Einführung eines Volks- hen, die Einbringung eines Antrags zu einem einzigen entscheids über eine europäische Verfassung Land sei zu speziell. – Drucksache 15/2998 – (Markus Löning [FDP]: Das geht ja wohl an (Erste Beratung 108. Sitzung) Ihre eigene Fraktion!) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- – Ja, warum nicht? – Meine Hoffnung ist, dass es uns schusses (4. Ausschuss) von der Union rasch gelingt, den von Klaus-Jürgen – Drucksache 15/4796 – Hedrich bereits angedeuteten gemeinsamen Antrag für den ganzen ASEAN-Raum gut und deutlich zu formulie- Berichterstattung: ren. Abgeordnete Rüdiger Veit 16158 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Kristina Köhler (Wiesbaden) Ich kann nur feststellen: Die FDP ist zu dem Thema (C) Josef Philip Winkler „direkte Demokratie“ – genauso wie damals Willy Ernst Burgbacher Brandt – mit einem deutlich Sowohl-als-auch aufge- stellt. Das zeigt, welche Meinung Sie, meine Damen und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Herren von der FDP, tatsächlich haben. Ich kann jeden- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre falls nicht erkennen, dass die FDP eine direkte Demo- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. kratie unterstützen will. Die Kollegin Petra Pau bittet, ihre Rede zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Fall. Dann verfahren wir so.1) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Löning? Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Abgeordneten Dr. Michael Bürsch das Wort. Dr. Michael Bürsch (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das gestatte ich natürlich gerne.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dr. Michael Bürsch (SPD): Bitte sehr, Herr Löning. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Manchmal fragt man sich, warum die FDP be- Markus Löning (FDP): stimmte Anträge stellt und welche Ziele sie damit ver- Herr Kollege, gestehen Sie mir zu, dass es einen Un- folgt. Wenn man sich mit dem vorliegenden FDP-Antrag terschied macht, ob es ein Plebiszit über eine Verfassung auf Einführung eines Volksentscheides über eine gibt, also über das grundlegende Gesetz, das letztlich europäische Verfassung beschäftigt, dann hat man den auch uns Parlamentarier legitimiert, oder ob man eine Verdacht, dass das etwas mit dem Kalender zu tun hat. Volksabstimmung über alle möglichen anderen Fragen Als der Deutsche Bundestag den vorliegenden Antrag durchführt, also sozusagen ersatzweise für das Parla- der FDP-Fraktion das erste Mal beraten hat, standen wir ment? kurz vor der Europawahl. Der Verdacht lag nahe – das gilt nicht nur für meine Fraktion –, dass die FDP ein Re- ferendum über die europäische Verfassung nur fordert, Dr. Michael Bürsch (SPD): um bei der Europawahl Punkte zu machen, und dass sie Ich stimme Ihnen gerne zu, dass es einen Unterschied insofern kein wirkliches Interesse an mehr direkter De- gibt. Aber ich habe meine ganze Rede darauf angelegt, (B) mokratie hat. deutlich zu machen, dass man es, wenn man die Mei- (D) nung des Volkes ernst nimmt und die Ansicht vertritt, (Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist doch dass die Bürgerinnen und Bürger mündig sind, dem Volk lächerlich!) überlassen sollte, über was und wie entschieden wird. Mit meinem Verständnis von direkter Demokratie ist Nun lag es nahe, den Lackmustest zu machen und zu nicht vereinbar, wenn man eine Frage auswählt und dann schauen, wie sich die FDP bei dem eigentlichen Thema sagt: Bitte schön, das geben wir euch vor; darüber sollt – mehr direkte Demokratie, Einführung von plebiszitä- ihr entscheiden. Das ist mit meinem Verständnis von ren Elementen wie Volksinitiative, Volksbegehren und ernst gemeinter direkter Demokratie nicht vereinbar. Ich Volksentscheid – im Deutschen Bundestag verhalten hat. komme darauf in meiner Rede zurück. Ihre Frage habe Dabei ist ein interessantes Ergebnis herausgekommen, ich damit aber schon einmal beantwortet. das vielleicht ein bisschen erhellen kann, wie die Ge- müts- und Verfassungslage der FDP aussieht. Am 7. Juni Mit Ihrem Antrag ist ein großes Problem verbunden. 2002 ist die entsprechende Entscheidung gefallen. Es Warum dies so ist, kann die FDP weder dem Parlament gab 348 Jastimmen. Mit Nein haben 199 gestimmt. Da- noch der Öffentlichkeit erklären. Auch Freunde der libe- mals hat es zu einer Zweidrittelmehrheit nicht ganz ge- ralen Partei haben sich gefragt, warum Sie einerseits als reicht. Partei und Fraktion so uneinig sind, (Ernst Burgbacher [FDP]: Sind wir gar nicht!) Ein Blick auf das Abstimmungsverhalten einzelner Abgeordneter ist noch erhellender. 14 Abgeordnete der wie Sie es bei der Abstimmung am 7. Juni 2002 waren, FDP-Fraktion haben mit Ja gestimmt, darunter führende und warum Sie andererseits in großer Einigkeit diesen FDP-Vertreter wie Ulrike Flach, Dr. Wolfgang Gerhardt, Gesetzentwurf einbringen, mit dem Sie erreichen wol- Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Sabine Leutheusser- len, dass ein einzelnes, wenn auch herausgehobenes Schnarrenberger, Dr. , Dr. Hermann Thema dem Volk zur Zustimmung vorgelegt wird. Otto Solms und Dr. Guido Westerwelle. Schauen wir Mein Kollege Rüdiger Veit und ich sind der Meinung, einmal auf die Neinstimmen! Oha! Es kommen 18 Nein- dass es verfehlt ist, eine Volksabstimmung über einen stimmen zusammen. Mit Nein haben zum Beispiel Herr einzelnen, wenn auch sicherlich bedeutsamen Punkt der Ernst Burgbacher, Dirk Niebel und Hans-Joachim Otto europäischen Politik durchzuführen. Es gab und gibt an- gestimmt. Diese Liste könnte ich fortsetzen. dere wirklich bedeutsame Punkte der europäischen Poli- tik: die Römischen Verträge, die Einführung des Euro 1) Anlage 4 oder die Osterweiterung. All das war von gewaltiger Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16159

Dr. Michael Bürsch (A) Bedeutung. Warum soll aus dem ganzen Spektrum euro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) päischer Fragen nun die europäische Verfassung heraus- DIE GRÜNEN) gegriffen werden? Warum sollen nicht auch andere be- deutsame Fragen zur Abstimmung gestellt werden? – Ich werte diese Aufmerksamkeit als Ermunterung fort- zufahren. Es gab also genügend andere Schritte zur europäi- Wir müssen diesen Antrag noch aus einem anderen schen Einigung, die von ähnlicher politischer Bedeutung Grund ablehnen. wie die europäische Verfassung waren. Das können wir heutzutage beim Euro spüren, zum Beispiel wenn es um (Ernst Burgbacher [FDP]: Weil Fischer das so die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank speziell in will, das ist der Grund!) Bezug auf Deutschland geht. Das merken wir bei allen Fragen, die mit der Osterweiterung zusammenhängen. Herr Burgbacher, es gibt auch eine Verantwortung für Das merken wir auch, wenn es zum Beispiel um den hei- Deutschland und für diesen europäischen Prozess. Die- mischen Arbeitsmarkt oder um die europäische Dienst- sen Prozess und diese Verantwortung nehmen wir ernst. leistungsrichtlinie geht. Wenn die FDP an der EU-Politik (Markus Löning [FDP]: Vorhin haben Sie so interessiert ist, dann wäre es konsequent, dafür einzu- doch argumentiert, man müsse das Volk fra- treten, dass auch andere Fragen aus dem ganzen Spek- gen, und jetzt argumentieren Sie genau anders- trum wichtiger europapolitischer Fragen zur Abstim- herum! Das ist doch philisterhaft, was Sie hier mung gestellt werden. machen!) Ein Wort noch zum Referendum: Anders als Volks- Es ist nämlich auch ein Zeitplan vereinbart. Dieser Zeit- entscheide führen Referenden, bei denen die Politik sel- plan sieht vor, dass darüber jetzt entschieden wird. Des- ber das Thema vorgibt und das Volk nur mit Ja oder Nein halb halte ich es für richtig, dass wir im Mai bei der abstimmen kann, immer wieder zu unerwünschten Ent- nächsten Sitzung über die europäische Verfassung ent- wicklungen. Ich habe vor zwei Tagen eine sehr interes- scheiden. sante Diskussion mit dem früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker miterlebt. Er hat auf die derzei- Wenn der FDP-Entwurf Gesetz werden sollte, wäre tige Entwicklung in Frankreich hingewiesen: In Frank- nicht abzusehen, wann ein solches Referendum über- reich obliegt es nach Art. 11 der französischen Verfas- haupt durchgeführt werden könnte. sung dem Präsidenten, ein Referendum über eine von (Markus Löning [FDP]: Die Chance, dem zu- der Regierung bestimmte Frage anzusetzen. Nach der zustimmen, haben Sie oft genug gehabt!) Beschreibung von Richard von Weizsäcker hat das in Das können wir anderen Mitgliedstaaten nicht zumuten. (B) Frankreich offensichtlich entscheidend zur Entstehung (D) eines innenpolitischen Konflikts beigetragen, weswegen Selbst wenn wir es ihnen zumuten sollten: Wir wollen die Franzosen in breiter Aufstellung über alles andere als doch in dem Punkt das Ansehen Deutschlands sicherlich über Europa und über europapolitische Fragen diskutie- nicht gefährden. Deswegen finde ich es gut, dass sich ren. Bundestag und Bundesrat im Mai mit der europäischen Verfassung abschließend beschäftigen werden. Auch so etwas kann die Konsequenz aus der Forde- rung nach einem Referendum sein, dessen Gegenstand Ich weise noch auf etwas hin, was der FDP peinlich der Präsident oder das Parlament bestimmen. Dieser sein müsste, wenn es um Verfassungsänderungen geht. schwierige Aspekt ist mit der Forderung nach einem Re- (Markus Löning [FDP]: Was peinlich ist, ist ferendum verbunden. Wenn eine politische Partei meint, Ihre Rede!) es sei an der Zeit, ein Referendum durchzuführen, dann glaubt oft eine andere politische Partei, dies für sich aus- Dieser Entwurf, werte Kolleginnen und Kollegen von nutzen zu können. der FDP, hat deutliche handwerkliche Fehler. Satz 1 der von Ihnen vorgeschlagenen Fassung des neuen Abs. 1 a Meine feste Überzeugung ist, was das Thema „Refe- des Art. 23 Grundgesetz lautet: rendum/direkte Demokratie“ angeht: Kommt die Initia- tive, über bestimmte politische Fragen abzustimmen, Die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland hingegen aus dem Volk selbst für das Volk, dann wird es zu einem Vertrag, mit dem eine europäische Verfas- sich keine Partei erlauben können, in einem solchen sung eingeführt wird, bedarf der Zustimmung durch Volksentscheidsverfahren ein ganz anderes Thema auf einen Volksentscheid. die Agenda zu setzen oder aus einem außen-, beispiels- weise europapolitischen Thema plötzlich ein innenpoliti- Bedeutet das verfassungsrechtlich, dass die Politik das sches zu machen. Anders gesagt: Nach meinem Ver- Volk so lange abstimmen lassen darf, bis die notwendige ständnis wird die Mündigkeit der Bürgerinnen und Mehrheit steht? Was passiert, wenn Bundestag und Bun- Bürger erst dann in angemessener Weise ernst genom- desrat zustimmen, aber das Volk nicht? Wo sind die ver- men, wenn sie selbst darüber entscheiden können, worü- fassungsrechtlichen Bestimmungen, die eine solche Kol- ber abgestimmt wird und wie die Fragestellung lautet. lision regeln? (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler Auf ein weiteres juristisches Eigentor hat der Kollege [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Röttgen schon in der ersten Lesung hingewiesen: Das gemeinschaftliche Primärrecht stellt bereits die Ver- – Herzlichen Dank, Herr Kollege. fassung Europas dar. Die europäischen Verträge besitzen 16160 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Michael Bürsch (A) Verfassungsqualität. Wenn Sie also in Ihrem Änderungs- (Markus Löning [FDP]: Fischer hat kein (C) vorschlag von „einem Vertrag, mit dem eine europäische Visum hier!) Verfassung eingeführt wird“, sprechen, dann frage ich Wenn der Pulverrauch verdampft ist und wir über diesen mich, welchen Vertrag oder welche Verfassung Sie ei- Entwurf heute entschieden haben, werden Sie die gentlich meinen. nächste Initiative von uns sehr schnell auf dem Tisch ha- Die Verfassung ändert man jedenfalls nicht im ben. Ich bin darauf gespannt, ob die Abstimmung wieder Schnellverfahren. Die Verfassung ändert man nicht ein- dieses wunderbare Bild von Kraut und Rüben ergeben fach so, vielleicht weil Europawahlen anstehen und Um- wird, wenn wir unsere Initiative erneuern. 14 dafür und frageergebnisse, die nicht ganz so gut sind, verbessert 18 dagegen, das ist kein Abstimmungsbild, mit dem man werden sollen. klar machen kann, dass man wirklich eine direkte Demo- kratie will. (Markus Löning [FDP]: Was Sie hier verbrei- ten, ist unter Ihrem Niveau!) Danke schön. Erst recht reicht man einen solchen Entwurf nicht ein, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wenn man nicht bis ins letzte Komma geprüft hat, ob al- DIE GRÜNEN) les das, was man hingeschrieben hat, auch verfassungs- mäßig ist. Also: handwerklich fehlerhaft. Einen solchen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Entwurf vorzulegen entspricht wirklich nicht dem Ernst, Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kristina Köhler. mit dem man an eine Verfassungsänderung herangehen sollte. Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NEN]: Wer ist der Justitiar in der FDP?) Das Grundargument der FDP, über das wir heute disku- Ich sage noch ein paar Worte zu einem Thema, das tieren, ist an sich bestechend. Ganz im Geist John uns als Sozialdemokraten besonders bewegt, nämlich die Lockes will die FDP, dass der Souverän, das Volk, seine allgemeine Einführung von mehr direkter Demokratie Macht in einem ersten Akt an ein Institutionengefüge ab- und entsprechende Änderung des Grundgesetzes, Mitbe- gibt. stimmung von Bürgerinnen und Bürgern in wichtigen (Markus Löning [FDP]: Sie haben es wenigs- politischen Fragen, in denen sie dies wünschen. Wir tens verstanden – im Gegensatz zum Kollegen meinen, dass die Bürgerinnen und Bürger in der Tat in der SPD!) mündig sind. Nach 50 Jahren Republik können wir es (B) uns erlauben, – Danke schön für das Kompliment. Das Gefühl hatte (D) ich auch. – Die FDP möchte also, dass bei einer Verfas- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Dann macht doch sung eine Primärdelegation der Macht durch das Volk mit! Folgt uns doch!) stattfindet. Allein: Dieses Argument trägt im konkreten solche für uns manchmal vielleicht auch unbequemen Fall leider nicht. Denn worüber reden wir heute? Wir re- Änderungen vorzunehmen. Wir fordern Sie auf – den den über ein Regelwerk, das vor allem die Existenz und Ball spiele ich gern an die FDP zurück – mitzumachen. den Aufgabenbereich einzelner EU-Organe festlegt. Die- Lassen Sie uns eine neue Initiative starten ses Regelwerk nennen wir Verfassung – aus gutem Grund; damit tragen wir seiner Bedeutung Rechnung. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir haben doch Aber handelt es sich hier wirklich um eine Verfassung mit Müntefering gesprochen!) im Rechtssinne? Ich zitiere: mit dem Ziel, Möglichkeiten dafür zu eröffnen, dass die In einer Verfassung verständigen sich die Bürger Menschen in der Bundesrepublik selbst entscheiden dür- über Inhalt, Grenzen, Organisation, Ausgestaltung fen, was zu einer solchen Abstimmung gestellt wird! und Verteilung politischer Macht. (Markus Löning [FDP]: Sie reden mit gespal- Das stellt die FDP in ihrem Gesetzentwurf richtig tener Zunge! Das ist eine Ausrede, die Sie ver- fest. Aber wird all dies wirklich erst in dem Verfassungs- suchen, weil Sie die Leute nicht über die Ver- vertrag, über den wir heute abstimmen sollen, geregelt? fassung abstimmen lassen wollen! – Gegenruf Nein. des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Vorgespielte Aufregung ist (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE das, Kollege Löning!) GRÜNEN]: Darüber stimmen wir heute nicht ab!) Wir werden unsere Initiative, Volksinitiative, Volks- begehren und Volksentscheid in die Verfassung einzu- Diese Inhalte sind doch längst in den einzelnen Verträ- führen, wieder aufnehmen, weil das für uns weiterhin ein gen der Europäischen Union geregelt. Die Macht ist Herzensanliegen ist. doch längst delegiert, und zwar in einem Prozess, der seit der Gründung der Montanunion über den EWG-Ver- (Ernst Burgbacher [FDP]: Wann eigentlich? – trag schließlich in der EU geendet hat. Selbst der Euro- Markus Löning [FDP]: Sie trauen sich nicht! päische Gerichtshof und das Verfassungsgericht sagen, Schröder traut sich nicht!) dass der EWG-Vertrag die Verfassung der EU ist, wenn – Warten Sie auf unsere Initiative! man denn einen solchen Terminus gebrauchen möchte. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16161

Kristina Köhler (Wiesbaden) (A) Die Europäische Union ist doch schon längst bei den Wir sind nämlich nicht der Auffassung, dass wahre (C) Bürgern zu Hause angekommen. Unzählige Gesetze wie Legitimation immer nur direkte Legitimation durch das das Haustürwiderrufsgesetz oder das Verbraucherkredit- Volk ist, so wie es im Antrag der FDP durchschimmert. gesetz sind doch alle schon Ausfluss europäischen Rechts. Europäisches Recht wirkt schon längst. Die (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Das ist schon Macht ist schon delegiert. Deswegen handelt es sich bei eine sehr verblüffende Demokratieeinschät- diesem Regelwerk nicht um eine Verfassung im Rechts- zung!) sinne. Deswegen sollten wir dem Bürger auch nicht vor- Denn dann kann man schon die Frage stellen, ob denn gaukeln, er könne hier über eine Verfassung abstimmen. Rechtsakte ohne direkte Legitimation durch das Volk (Beifall bei der CDU/CSU) weniger legitimiert sind. Ich weiß nicht, ob Sie dieser Auffassung sind. Darunter fallen immerhin solche Klei- Wir haben heute in diesem Hause eine wirklich inte- nigkeiten wie das Grundgesetz, die deutsche Einheit ressante Konstellation. Da ist die FDP. Die FDP ist gene- oder die europäischen Verträge, Frau Kollegin. Ich rell gegen Volksabstimmungen, glaube daher nicht, dass es ernsthaft in Ihrem Sinne ist, diese Rechtsinstitute oder diese konstituierenden Akte (Ernst Burgbacher [FDP]: Stimmt doch gar infrage zu stellen. nicht!) Und: Wenn Sie meinen, das Volk solle über die Ver- in diesem Fall aber dafür. Dann haben wir Rot-Grün. fassung abstimmen, warum denn dann nicht auch zum Rot-Grün ist generell für Volksabstimmungen, in diesem Beispiel über die Mitgliedschaft weiterer Länder in der Fall aber dagegen. EU? Bei dieser Gelegenheit, Herr Kollege Bürsch: Sie ha- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Richtig!) ben eben mit so freundlichen Worten angekündigt, dass man ja eine neue Initiative zum Thema Volksabstim- Warum wollen Sie denn über ein wichtiges Regelwerk mung starten wolle. abstimmen lassen, aber zum Beispiel nicht über den Tür- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Im Mai!) keibeitritt? Bereits 2002, in seiner Regierungserklärung zum An- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ja, lassen Sie uns fang der Legislaturperiode, hat der Bundeskanzler dies abstimmen!) weihevoll angekündigt. Die Koalition gibt sich ja gern Denn schließlich würde die EU-Verfassung doch am tat- plebiszitär. Allein: Sie haben in dieser Wahlperiode noch (B) sächlichen Charakter der Europäischen Union wesent- (D) keinen einzigen dementsprechenden Antrag eingebracht. lich weniger ändern als ein Beitritt der Türkei, der den (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie sind doch Charakter der EU entscheidend prägen würde. nicht bereit, das mitzutragen! Sie blockieren Deswegen hielten wir es für konsequent, dann auch doch! Frau Merkel blockiert doch!) hier einen Volksentscheid zuzulassen. Aber das ist der Ich habe noch kein einziges Wort von Ihnen hier in die- Punkt: Bei eher formellen Fragen wollen Sie das Volk sem Plenum dazu hören können und das finde ich nicht abstimmen lassen, bei folgenreichen, die EU verändern- ganz konsequent. den Fragen aber nicht. Auch das erscheint uns nicht ganz konsequent. (Beifall bei der CDU/CSU – Gudrun Schaich- Walch [SPD]: Warum sollen wir den schrei- (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Über alles!) ben? Damit Sie den ablehnen können?) Damit komme ich zum Schluss, zum vielleicht sogar Die einzig konsequente Fraktion in diesem Hause ist wichtigsten Punkt, und zwar zur Frage der Verantwort- die Union. lichkeit. In einer repräsentativen Demokratie sind Parla- ment und Regierung verantwortlich vor den Bürgern. Sie (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Fragen Sie ein- müssen für Entscheidungen geradestehen. Wenn sie aus mal Herrn Gauweiler! – Dr. Michael Bürsch Sicht des Volkes Fehler gemacht haben, können sie auch [SPD]: Manchmal gibt es Sachverstand in der abgewählt werden. eigenen Fraktion! – Zuruf von der FDP: Es gibt viele Leute, die würden gern mit uns stim- Wer wäre denn bei einer Volksabstimmung verant- men, aber dürfen nicht!) wortlich? Wer würde da zur Rechenschaft gezogen wer- den? Soll sich das Volk selbst zur Rechenschaft ziehen? – Wollen Sie meinen Argumenten nicht einmal zuhören? – Denn die CDU/CSU ist der Auffassung, dass es von den (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie haben ein Vätern des Grundgesetzes klug war, Deutschland als re- eigenartiges Demokratieverständnis!) präsentative Demokratie auszugestalten. Daher ist es un- klug, ständig nach Punkten zu suchen, bei denen man – Sie sagen Ja und ich hätte ein eigenartiges Demokratie- von dieser grundlegenden Weichenstellung unseres verständnis. Sie finden vermutlich, dass das total basis- Grundgesetzes abweicht. demokratisch klingt. Sagen Sie mir aber einmal, was das konkret heißt. Wer handelt? Wer steht für die Folgen ge- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Hört! Hört!) rade? 16162 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Kristina Köhler (Wiesbaden) (A) (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Das Volk steht in dieser Sache geschrieben haben. Frau Dr. Merkel und (C) immer für die Folgen gerade, auch Ihrer Poli- Herr Stoiber, der als Parteivorsitzender angeschrieben tik!) wurde, haben es deutlich abgelehnt, über direktdemokra- tische Elemente ins Gespräch einzutreten. Insofern ha- Wer nimmt denn dann eine eventuelle Rücknahme der ben wir uns gesagt: Warum sollen wir noch vor den Entscheidungen vor? Europawahlen einen Schauantrag ins Parlament einbrin- Ich glaube, dass diese Punkte zeigen, dass die Idee ei- gen? – Das machen wir nicht. ner einmaligen Volksabstimmung unausgereift ist, weil (Markus Löning [FDP]: Aber die Grünen können sie unserer repräsentativen Demokratie wesensfremd ist. diesem Antrag doch einfach zustimmen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wir überlegen. Zusammen mit der FDP werden wir Ernst Burgbacher [FDP]: Das sehen viele in gerne den Druck auf die Union vergrößern. Diese Ver- Ihrer Fraktion anders!) pflichtung, die dem Deutschen Bundestag aufgegeben ist, werden wir umsetzen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Josef Winkler. (Markus Löning [FDP]: Der macht ganz den Fischer! Lange reden, nichts sagen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Herr Löning, warum regen Sie sich eigentlich so auf? Haben Sie schlecht geschlafen? Die ganze Zeit plustern Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie sich schon auf. Ich kann ja verstehen, dass sich die NEN): FDP ein bisschen aufregt; denn die Beschlussfassung zur Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und direkten Demokratie ist wirklich etwas verwirrend. Herren! Zunächst eine kurze Richtigstellung: Frau Kol- legin Köhler, Sie haben die Väter des Grundgesetzes zi- (Ernst Burgbacher [FDP]: Das müssen Sie ge- tiert. Es gab auch drei Mütter. Sie haben sinngemäß ge- rade sagen!) sagt, die Beschlussfassung im Parlamentarischen Rat Das wird der Kollege Burgbacher sicherlich gleich auf- habe dazu geführt, dass direkt demokratische Elemente klären. ausgeschlossen wären. Das solle man befolgen. Ich will aus Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes zitieren: (Markus Löning [FDP]: Am meisten verwirrt mich, warum die Grünen unserem Antrag (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nicht zustimmen!) GRÜNEN]: Ein Blick ins Grundgesetz!) Kommen wir zu dem, was sich in der Union abspielt. (B) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird (D) Einer Ihrer Kollegen, der Kollege Kolbe, der heute durch vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und Abwesenheit glänzt, hat jetzt, obwohl wir zwei Jahre durch besondere Organe der Gesetzgebung, der über nichts anderes reden als darüber, wie wir mit dem vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung aus- europäischen Verfassungsgebungsprozess umgehen, ge- geübt. sagt, ein Volksentscheid müsse her. Das ist genauso billi- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ger Populismus wie der Antrag der FDP. Er ist noch GRÜNEN]: Ein Blick ins Grundgesetz ist im- nicht einmal anwesend. mer gut!) (Markus Löning [FDP]: Das ist Beschlusslage Also: Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmun- der grünen Bundespartei! Das ist doch kein gen ausgeübt. Populismus! Das können Sie nicht sagen!) Wenn Sie das, was die Väter und Mütter damals be- Das kennen wir seit Jahren. Wir sagen seit Jahren, dass schlossen haben, durchlesen, wir das Volk zu jedem denkbaren Thema entscheiden lassen wollen. Wir wollen keine Rosinenpickerei betrei- (Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/CSU]: ben. Das ist eine klare Ansage. Das, was Sie machen, ist Des Parlamentarischen Rates?) Wischiwaschi. Das machen wir nicht mit. dann können Sie nachvollziehen, dass es bei der Debatte (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- damals sehr hoch herging. Am Ende hat man sich darauf SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) geeinigt, in das Grundgesetz hineinzuschreiben, dass in Zukunft auch Abstimmungen zu den Rechten des Volkes Im Übrigen sind mir standhafte Kollegen wie der gehören. Man konnte sich aber nicht auf ein Verfahren Kollege Dr. Gauweiler lieber, die kontinuierlich, über einigen. Das ist eine noch immer nicht eingelöste Ver- viele Jahre hinweg, in aller Deutlichkeit sagen, was sie pflichtung des Deutschen Bundestages. Dieser müssen davon halten, nämlich dass sie für Volksentscheide sind. wir noch nachkommen. Das werden wir, wie der Kollege (Markus Löning [FDP]: Und die Grünen wa- Bürsch richtig ausgeführt hat, so schnell wir es ermögli- ren schon immer gegen Volksentscheide!) chen können, tun. Mit einer etwas irrigen Rechtsauffassung hat er heute da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für gesorgt, dass sich die Tickermeldungen überschlagen Richtig ist natürlich auch, dass wir im letzten Herbst haben. Ich finde es natürlich auch nicht korrekt, wenn an die Fraktionsvorsitzenden der Oppositionsfraktionen der Kollege Gauweiler sagt, das Verfassungsgericht solle Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16163

Josef Philip Winkler (A) dem Bundestag vorschreiben, womit er sich zu befassen rendum und durch ein Referendum, wie sie im Antrag (C) habe. Mich würde wirklich interessieren, ob Sie das gut der FDP vorgesehen ist. durchdacht haben. Ich halte das nämlich für etwas abwe- ( [FDP]: Sehr gut!) gig. Warum? Das ist aus zwei Gründen so. (Markus Löning [FDP]: Ich finde es sehr er- staunlich, wie geradlinig die Grünen ihre Par- Erstens. Im europäischen Verfassungsvertrag wird ein teitagsbeschlüsse umsetzen!) absoluter Vorrang der europäischen Verfassung vor dem nationalen Recht, also auch vor dem nationalen Verfas- – Herr Kollege Löning, ich kann Sie nur sehr schlecht sungsrecht, also auch vor den Grundrechten des Grund- verstehen. Wollen Sie eine Zwischenfrage stellen oder gesetzes, statuiert. mich in Ruhe reden lassen? Für eines müssen Sie sich entscheiden. Zweitens. In Art. I Ziff. 6 des europäischen Verfas- sungsvertrags wird erstmalig zum Ausdruck gebracht, (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des dass dieser Vorrang nicht nur für die Verfassung, son- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der dern auch für das von den Organen der Europäischen SPD) Union gesetzte Recht gilt. Das Grundgesetz auf diese Weise durch ein anderes Systemkonzept zu ersetzen, wo- Deshalb ist es aus meiner Sicht nicht nur sinnvoll, rüber man in einem freiheitlichen Gemeinwesen zwar sondern auch erforderlich, die Mitspracherechte der na- immer reden können muss, steht dem Deutschen Bun- tionalen Parlamente auszubauen – darüber wurde in den destag – das sage ich mit allem Respekt vor diesem Ho- letzten Tagen diskutiert –, und zwar nicht nur, was die hen Hause – auch nicht mit der Mehrheit von zwei Drit- Mitwirkung bei der Gesetzgebung auf europäischer teln seiner Mitglieder zu. Ebene angeht, sondern auch, wenn es um die UNO geht. Warum nicht? In Art. 146 des Grundgesetzes, der im Der Unterausschuss Vereinte Nationen des Auswärti- Zusammenhang mit der deutschen Einheit in aller gen Ausschusses hat sich damit in letzter Zeit im Rah- Munde war, aber entgegen mancher Meinung nicht ab- men verschiedener Anhörungen befasst. Sowohl die eu- geschafft ist, heißt es ganz klar, dass das Grundgesetz ropäische als auch die parlamentarische Dimension der seine Gültigkeit erst dann verliert darf, wenn eine neue Vereinten Nationen spielen hier eine Rolle. Meiner Mei- Verfassung in Kraft tritt, die sich das deutsche Volk in nung nach sind nationale Volksentscheide nur ein erster freier Entscheidung gegeben hat. Also kann es für dieje- Schritt auf dem Weg zu europaweiten Volksentscheiden. nigen, die dem europäischen Verfassungsvertrag und da- Das wäre eine klare Ansage. Ich sage Ihnen: Wir müssen mit der Ersetzung des Grundgesetzes durch ein anderes die Chance nutzen, die europäische Verfassung so (B) System zustimmen wollen, nur den Weg über ein Refe- (D) schnell wie möglich zu ratifizieren. Jede Verzögerung rendum geben. Alle anderen Wege würden gegen unsere wäre sträflich. Verfassung verstoßen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jawohl! Das muss bestraft wer- GRÜNEN]: Das ist nicht richtig, Herr Kol- den!) lege! Das Grundgesetz bleibt in Kraft! – Ge- genruf des Abg. Dr. Peter Gauweiler [CDU/ Wir werden Ihren Antrag ablehnen und die europäische CSU]: Ja, aber nur formal! – Gegenruf des Verfassung hoffentlich am 12. Mai dieses Jahres ratifi- Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ zieren. DIE GRÜNEN]: Nein, auch inhaltlich! Gerade inhaltlich!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Ströbele, Sie dürfen leider nicht antwor- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ten, aber Ihr Kollege Winkler darf das tun. – Bitte. Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Peter Gauweiler das Wort. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Jetzt klären Sie NEN): uns mal auf, Herr Gauweiler!) Das Wort „leider“ nehme ich zur Kenntnis. (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): SES 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege Winkler, es geht mir nicht darum, dass das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag Vor- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schriften macht, sondern darum, dass mithilfe des Bun- Das war nur ein geschäftsleitendes „leider“. desverfassungsgerichts die Wiederholung einer Situation vermieden wird, wie wir sie im Zusammenhang mit dem Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Europäischen Haftbefehl gerade erleben durften. Um NEN): den europäischen Verfassungsvertrag überhaupt zustim- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege mungsfähig zu machen, gibt es aus meiner Sicht in der Gauweiler, ich sehe mich nicht in der Lage, Ihren juristi- Tat nur die Möglichkeit der Zustimmung zu einem Refe- schen Sachverstand in irgendeiner Weise ausreichend 16164 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Josef Philip Winkler (A) konterkarieren zu können. Trotzdem halte ich Ihre Auf- macht habe, unter anderem mit der unsäglichen (C) fassung für falsch. Föderalismuskommission. Zum Ersten. Der Deutsche Bundestag ist sehr wohl (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) berechtigt, die Verfassung zu ändern. Ich gehe fest davon aus, dass jeder Bürger, wenn er bei einer Bundestags- Was da in diesem Land passiert ist, hat dazu geführt, wahl – in Unkenntnis des Art. 146 des Grundgesetzes – dass ich sage: Ohne das Volk geht es gar nicht mehr. seine Entscheidung trifft, davon ausgeht, dass der Bun- Deshalb bin ich da inzwischen dezidiert anderer Mei- destag diese Rechte hat und dass er in seine Wahlüberle- nung. gung einbezieht, dass wir auch über Fragen wie die Rati- (Beifall bei der FDP – Dr. Michael Bürsch fizierung der europäischen Verfassung abstimmen [SPD]: Willkommen im Klub!) können. Herr Gauweiler, was Sie getan haben, kann ich in ei- Was mich mehr interessiert, ist, wieso Sie für diese nem Punkt vielleicht noch mittragen, aber ich muss Ih- Auffassung eigentlich nicht in Ihrer eigenen Fraktion ge- nen eines sagen: Das heute zu bringen, halte ich für worben haben; das ist ja ein Misstrauensvotum gegen- schieren Populismus. über dem Kollegen Altmaier, der gleich noch sprechen wird, und auch gegenüber dem Vertreter des Bundesrats, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE der auch Ihrer Parteienfamilie entstammt, dem ehemali- GRÜNEN]: Das sagt ausgerechnet die FDP!) gen Ministerpräsidenten Teufel. Ich finde es freundlich, Sie haben über ein Jahr Zeit gehabt, in Ihrer Fraktion um dass Sie mit Ihrer Pressemitteilung immerhin gewartet Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf zu werben; hät- haben, bis er gestern seinen Rücktritt erklärt hat. Nichts- ten Sie das getan, dann hätten wir heute vielleicht eine destotrotz finde ich, Sie hätten genügend Gelegenheit andere Situation. gehabt, diese Dinge in Ihrer Fraktion zu thematisieren. Dass Sie das jetzt wenige Wochen vor der Ratifizierung (Beifall bei der FDP) der EU-Verfassung in dieser etwas populistischen Weise machen, halte ich für falsch; ich rechne auch nicht damit, Meine Damen und Herren, worum geht es? Wir woll- dass sich das Bundesverfassungsgericht in irgendeiner ten mit unserem Gesetzentwurf einen Volksentscheid Weise dem anschließt, was Sie da vorgetragen haben. über die europäische Verfassung ermöglichen. Es war uns klar, dass es nicht möglich sein wird, in dieser kur- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ zen Zeit ein umfassendes Konzept für mehr direkte De- DIE GRÜNEN und der SPD) mokratie zu verabschieden. Deshalb haben wir den Ge- setzentwurf über einen Volksentscheid über die (B) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: europäische Verfassung eingebracht. Viele von Ihnen (D) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher. hatten das eigentlich unterstützt; es steht in Ihrer Koali- tionsvereinbarung. Wir wissen, dass auch viele von der (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Endlich! – Union durchaus große Sympathien dafür haben. Aber Dr. Michael Bürsch [SPD]: Der mit Nein ge- was sich heute abspielt, halte ich wirklich für ein Trauer- stimmt hat!) spiel: Viele, die dafür sind, lehnen es deshalb ab, weil es von der FDP kommt – Ernst Burgbacher (FDP): (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist doch Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gar nicht der Grund!) Lieber Herr Bürsch, lieber Herr Winkler, wenn man selbst eiert, fängt man an, auf andere zu schießen. Mit so kann Demokratie in unserem Land doch wirklich dieser Munition werden Sie allerdings nichts gewinnen. nicht funktionieren. Es war ja teilweise geradezu lächerlich, was da von Ih- nen kam. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Um es klar zu sagen: Die FDP will ein Ja zur Verfas- der CDU/CSU) sung und wir hätten uns darüber gefreut, wenn ein Volksentscheid eine breite Kampagne in unserem Land Herr Bürsch, Sie haben den 7. Juni 2002 noch einmal an- ausgelöst hätte. gesprochen. Es ist richtig: Damals haben viele von uns dagegen gestimmt, manche dafür. Sie wissen aber genau, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE was der tiefere Grund dafür war: Wir wollten die Situa- GRÜNEN]: Das stimmt!) tion retten und haben einen eigenen Gesetzentwurf zur Wir hätten uns darüber gefreut, wenn wir das Volk infor- Volksinitiative eingebracht, weil wir dachten, damit ist miert hätten, wenn wir alle auf der Straße mit den Leuten eine Zweidrittelmehrheit zu erreichen. diskutiert (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Demokratie light“ nennt man GRÜNEN]: Das haben wir doch trotzdem!) das!) und die Bevölkerung auf dem Weg nach Europa endlich Das ist damals gescheitert. Ich sage Ihnen ganz persön- mitgenommen hätten. lich, Herr Bürsch: Ich habe meine Meinung in der Zwi- schenzeit auch geändert, weil ich einige Erfahrungen ge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16165

Ernst Burgbacher (A) Ihr Nein hat das verhindert; das müssen Sie auf Ihre Fah- Ernst Burgbacher (FDP): (C) nen schreiben. Wir haben eine Chance verpasst, für mehr Bürgernähe und mehr Transparenz zu sorgen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist doch völliger Unsinn!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Achten Sie auch einmal auf die Sie breiten hier Scheinargumente aus. Lieber Herr Präsidentin?) Winkler, ich lese Ihnen einmal vor, was ich vor drei Mo- naten auf der Homepage der Grünen gefunden habe; ich Wenn wir in der nächsten Sitzungswoche wahrscheinlich dachte, es wäre inzwischen geändert, aber es steht dort über 90 Prozent – – immer noch. Da heißt es wörtlich: (Die Präsidentin stellt das Rednermikrofon Um auch einen Volksentscheid über die EU-Verfas- aus – Dr. Uwe Küster [SPD]: Ohne Strom geht sung zu ermöglichen, hat sich die Koalition darauf nichts! – Beifall bei der FDP) verständigt, dass auch der Bundestag in bestimmten Fällen Volksentscheide initiieren kann. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Altmaier. GRÜNEN]: Stimmt ja!) (Markus Löning [FDP]: Wenn er von den Grü- Sie sagen nach außen, Sie sind für den Volksentscheid – nen gewesen wäre, hätten Sie nicht unterbro- hier stimmen Sie dagegen. Nach außen sagen Sie, Sie chen!) sind gegen MEADS, morgen stimmen Sie dafür. – Herr Kollege, Sie wissen, dass die Sitzungsleitung (Harald Leibrecht [FDP]: Das ist grüne Konse- während der Sitzung nicht von Ihnen kritisiert werden quenz!) kann. Ich rufe Sie zur Ordnung. – Bitte. Das ist doch das Spiel der Grünen: Sie lügen die Leute Peter Altmaier (CDU/CSU): an. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ver- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE fassung, die wir am 12. Mai 2005 verabschieden wer- GRÜNEN]: Das ist aber starker Tobak! – den, ist zweifellos ein großer Fortschritt. Sie bringt viele Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist unparlamenta- Veränderungen mit sich; sie hat auch manche Defizite risch!) und Probleme. Sie behaupten draußen Dinge und im Parlament machen Sehr geehrter Herr Gauweiler, Sie wissen, dass ich (B) Sie genau das Gegenteil. Wir haben genug von diesem Ihre Argumentationen durchaus schätze und genieße. In (D) Spiel. einem irren Sie allerdings profund: Durch diese Verfas- sung wird das deutsche Grundgesetz weder ausgehöhlt (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE noch außer Kraft gesetzt. GRÜNEN]: Zügeln Sie sich! Sie ereifern sich!) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Richtig!) Die Europäische Union ist kein Staat und sie wird durch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: diese Verfassung auch nicht zu einem Staat. Im Gegen- Herr Kollege, achten Sie bitte trotz Ihrer großen Laut- teil: Wir haben im Verfassungsvertrag eine Reihe von stärke darauf, dass Ihre Redezeit vorbei ist. Vorkehrungen getroffen, durch die die Eigenstaatlich- keit der Mitgliedstaaten gestärkt und ausgebaut wird: Ernst Burgbacher (FDP): Wir haben die Rolle der Mitgliedstaaten als Herren Es ist schwierig, in drei Minuten die einzige Gegen- der Verträge erstmals ausdrücklich in der Verfassung er- position zu begründen. wähnt. Wir haben das Prinzip der begrenzten Einzeler- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE mächtigung erstmals erwähnt und durch unsere Klarstel- GRÜNEN]: Dann muss man mehr Prozent ha- lung gestärkt, dass allgemeine Zielbestimmungen keine ben!) Kompetenznormen für die Gemeinschaft begründen. Wir haben in dieser Verfassung zum ersten Mal ein Sys- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tem der Kompetenzabgrenzung verankert, so unvoll- Aber das sind nun einmal die Regeln hier. kommen es auch sein mag. Wir haben das Austrittsrecht der Mitgliedstaaten normiert. Auch das gab es bisher nicht. Wir haben in Art. I-5 festgelegt, dass diese Verfas- Ernst Burgbacher (FDP): sung die nationale Identität der Mitgliedstaaten, in denen Sie treiben hier ein doppelbödiges Spiel. Das muss auch die politische und verfassungsrechtliche Struktur ich wirklich noch einmal an die Adresse der Grünen sa- zum Ausdruck kommt – das war ein ausdrückliches gen. Zitat –, zu achten hat. Zum ersten Mal sind die grundle- Lassen Sie mich zum Schluss sagen: genden politischen und verfassungsrechtlichen Struktu- ren der Staaten ausdrücklich geschützt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das alles zeigt: Es gab noch kein Dokument auf euro- Nein, Herr Kollege. päischer Ebene, das die Eigenständigkeiten der 16166 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Peter Altmaier (A) Mitgliedstaaten für die Zukunft so positiv und auch deut- nicht das Geringste zu tun haben. Im Übrigen ist es so (C) lich unterstreicht. – der Kollege Burgbacher wird es aus eigener Anschau- ung und Erfahrung wissen; Sie sind genau wie ich oft Sehr verehrter Herr Kollege Gauweiler, Sie sagen, der vor Ort –, dass in Frankreich die Unzufriedenheit mit der Umstand, dass wir das Prinzip des Vorrangs des Ge- wirtschaftlichen Situation mit ein Auslöser dafür sein meinschaftsrechts in der Verfassung ausdrücklich er- wird, dass diejenigen, die diese Unzufriedenheit zum wähnt haben, sei eine neue Qualität. Auch in dieser Hin- Ausdruck bringen wollen, gegen die Verfassung stim- sicht irren Sie. Dieses Prinzip hat der Europäische men werden, um damit ihrer politischen Führung die Gerichtshof vor über 40 Jahren in seiner Rechtsprechung rote Karte zu zeigen. entwickelt. Wir haben es seit vielen Jahrzehnten ge- wusst. Wir hätten auf Regierungskonferenzen – Vertrag Angesichts der wirtschaftlichen Lage in Deutschland von Maastricht, Vertrag von Amsterdam, Vertrag von mit 5 Millionen Arbeitslosen und dem Verlust von täg- Nizza – die Möglichkeit gehabt, dieses Prinzip zu korri- lich Tausend Arbeitsplätzen, einer wirtschaftlichen Si- gieren. Wir haben es nicht getan. Jetzt haben wir es so- tuation, die nicht besser, sondern schlechter wird, meine gar ausdrücklich in die Verfassung hineingeschrieben ich: Wir sollten die europäische Verfassung davor be- und wir haben in einer Erklärung der Regierungskonfe- wahren, zum Sündenbock für eine schlechte und unfä- renz darauf hingewiesen, dass wir uns damit auf die hige Regierung zu werden, Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes bezie- hen – nicht mehr und nicht weniger. Es gibt in diesem (Widerspruch bei der SPD) Bereich keine Veränderung. die nicht imstande ist, die Probleme dieses Landes zu lö- Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag sen. wird dem Verfassungsvertrag mit großer Mehrheit zu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stimmen. Auch die Kolleginnen und Kollegen von der FDP werden diesem Verfassungsvertrag mit großer Wir haben in den letzten Wochen und Monaten in die- Mehrheit zustimmen. Weil das so ist und weil wir die sem Hohen Haus oft über die europäische Verfassung Ausarbeitung der Verfassung von Anfang an mit einem diskutiert. Es fanden Anhörungen sowie Hunderte und Höchstmaß an Transparenz und Bürgerbeteiligung aus- Tausende Veranstaltungen mit vielen Bürgerinnen und gestattet haben – das wird die Kollegin Leutheusser- Bürgern vor Ort statt. Wenn wir es schaffen, bei der Rati- Schnarrenberger aus dem Europaausschuss bestätigen fizierung dieses Verfassungsvertrages am 12. Mai über können –, ist für die Ratifizierung dieses Vertrages eine die Parteigrenzen hinweg ein deutliches Signal unseres Volksabstimmung, ein Referendum, weder erforderlich Bekenntnisses zur europäischen Integration und zur eu- noch sinnvoll. ropäischen Einigung zu geben, wenn wir bereit sind, im (B) Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger die neuen (D) Wir haben in den letzten 50 Jahren gute Erfahrungen Möglichkeiten der Subsidiaritätskontrolle und der Klage mit unserem System der repräsentativen Demokratie ge- vor dem Europäischen Gerichtshof, die diese Verfassung macht. Ich will die direkte Demokratie gar nicht grund- den nationalen Parlamenten einräumt, offensiv zu nut- legend ablehnen, aber wir haben auf Bundesebene eben zen, dann werden wir auch die Kluft, die manchmal zwi- keine Erfahrungen mit Referenden und Volksabstim- schen Europa und den Bürgern besteht, ein gutes Stück mungen. verringern können. Dieses Ziel ist aller Mühe wert. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der FDP, GRÜNEN]: Dann wird es aber Zeit, dass wir wir haben in Deutschland so viel wichtigere Themen. diese Erfahrungen sammeln!) Davon sollten wir nicht mit einer Diskussion über ein Ich bin strikt dagegen, sehr geehrter Herr Kollege Referendum ablenken, nachdem wir klar und deutlich Ströbele, dass wir ausgerechnet die europäische Verfas- über alle Parteigrenzen hinweg gezeigt haben, das wir sung, die für die Zukunft unserer Bürger ein wichtiger diese Verfassung für notwendig und richtig halten. Fortschritt und ein wichtiges Dokument ist, zum Ver- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian suchskaninchen für ein Verfahren machen, Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE haben kein Vertrauen in die Bevölkerung!) GRÜNEN]: Kein Vertrauen in die Bevölke- rung!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Danke schön. – Ich schließe damit die Aussprache. das wir bislang in keinem anderen Bereich der bundes- deutschen Gesetzgebung erprobt haben. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf der Fraktion der FDP zur Änderung des Art. 23 (Beifall der Abg. Kristina Köhler [Wiesbaden] des Grundgesetzes zur Einführung eines Volksent- [CDU/CSU]) scheids über eine europäische Verfassung auf Druck- Schauen wir einen Augenblick nach Frankreich. sache 15/2998. Der Innenausschuss empfiehlt auf Dort wird es ein Referendum über die Verfassung geben. Drucksache 15/4796, den Gesetzentwurf abzulehnen. Aber die Debatte in Frankreich vermengt die Frage der Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Verfassung mit der Frage des Beitritts der Türkei, der wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Dienstleistungsrichtlinie, der Osterweiterung und vielen Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter anderen Fragen, die mit diesem Verfassungsdokument Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16167

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Grünen, der CDU/CSU – bis auf zwei Stimmen – gegen der Abgeordneten Horst Seehofer, Andreas (C) die Stimmen der FDP und der Abgeordneten Gauweiler Storm, Annette Widmann-Mauz, weiterer Abge- und Girisch abgelehnt worden. Enthaltungen gab es ordneter und der Fraktion der CDU/CSU keine. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die Wirkungen und Nebenwirkungen des GKV- weitere Beratung. Modernisierungsgesetzes – Kritische Be- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: standsaufnahme Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksachen 15/4135, 15/5364 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Berichterstattung: zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EG des Abgeordneter Dr. Hans Georg Faust Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 betreffend den Prospekt, ZP 8 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/ der beim öffentlichen Angebot von Wertpapie- CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur ren oder bei deren Zulassung zum Handel zu Sicherung der Arzneimittelversorgung bei veröffentlichen ist, und zur Änderung der Kindern und Jugendlichen Richtlinie 2001/34/EG (Prospektrichtlinie- Umsetzungsgesetz) – Drucksache 15/5318 – Überweisungsvorschlag: – Drucksachen 15/4999, 15/5219 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) (Erste Beratung 163. Sitzung) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- schusses (7. Ausschuss) Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch – Drucksache 15/5373. – gibt es keinen. Dann ist so beschlossen. Berichterstattung: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Abgeordnete Nina Hauer der Abgeordnete Wolfgang Zöller. Patricia Lips Jutta Krüger-Jacob Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Dr. Volker Wissing Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für Kollegen! Bei den gemeinsamen Verhandlungen zum die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Nun ha- GKV-Modernisierungsgesetz hatten wir mit der Bundes- (B) ben aber die Abgeordneten Lips, Krüger-Jacob, Wissing, regierung und den Koalitionsfraktionen abgesprochen, (D) Hauer und die Parlamentarische Staatssekretärin dass wir nach dem ersten Jahr über die Folgewirkung des Hendricks gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu Gesetzes Bilanz ziehen wollen. Wir haben in unserem können. Sind Sie damit einverstanden? – Dann verfahren Antrag eine Reihe von Punkten benannt, bei denen wir wir so.1) Diskussionsbedarf sehen und die einer vertieften Prü- fung bedürfen. Die Anhörung vor wenigen Wochen hat Damit kommen wir zur Abstimmung über den von gezeigt, dass unsere Auffassung bestätigt worden ist. der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf, den Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie die An- ich eben genannt habe. Der Finanzausschuss empfiehlt hörung sorgfältig auswertet und dem Deutschen Bundes- in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5373, tag noch vor der Sommerpause eine entsprechende Stel- den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- lungnahme zukommen lässt. men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Besonders ärgerlich bleibt nach wie vor die Tatsache, chen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der dass die Bundesregierung bei den Verhandlungen zu Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig dem Gesetz von falschen Zahlen zur Verschuldung der angenommen worden. Krankenkassen ausgegangen ist. Hätten wir nämlich im Sommer 2003 nicht über 4 Milliarden Euro, sondern Dritte Beratung über die tatsächlichen 8 Milliarden Euro gesprochen, und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, (Peter Dreßen [SPD]: Wir haben die Zahlen wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – der Krankenkassen verwendet!) Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung einstim- dann hätte es realistischere Prognosen zur Beitragsent- mig angenommen worden. wicklung gegeben. Dass wir nun eine andere Situation haben und die Beiträge nicht wie erwartet sinken, hat das Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zu- Gesetz bei den Menschen viel Akzeptanz gekostet. Es satzpunkt 8 auf: scheint im Übrigen ein Grundproblem dieser Bundesre- 12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gierung zu sein, ständig falsche und viel zu optimistische richts des Ausschusses für Gesundheit und So- Prognosen über die finanzielle Lage der Sozialversiche- ziale Sicherung (13. Ausschuss) zu dem Antrag rungen abzugeben. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das! – Peter 1) Anlage 5 Dreßen [SPD]: Nur nicht übertreiben!) 16168 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Wolfgang Zöller (A) Das verunsichert die Menschen und beschädigt auch das deren medizinischen Bedürfnisse des jugendlichen Or- (C) Vertrauen in die Solidität der Regierung. Das schadet ganismus berücksichtigt werden. Die Verbände der aber auch der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Lan- Kinder- und Jugendärzte sowie Hautärzte haben in meh- des, weil verlässliche Perspektiven ein wichtiges Ele- reren Stellungnahmen deutlich gemacht, dass insbeson- ment der Standortentscheidung von Unternehmen sind. dere Jugendliche mit Hautkrankheiten und Allergien wie zum Beispiel Heuschnupfen und Asthma auf die Be- (Beifall bei der CDU/CSU) handlung mit nicht verschreibungspflichtigen Arznei- Unter den vielen Punkten, die im Rahmen der Anhö- mitteln angewiesen sind. Ein Ausweichen auf wirkungs- rung angesprochen wurden, gibt es einen, bei dem wir stärkere Arzneimittel, die verschreibungspflichtig sind, dringenden Handlungsbedarf sehen. Deshalb haben wir ist wegen der stärkeren Nebenwirkungen für den jugend- einen Gesetzentwurf eingebracht. Es geht um die Arz- lichen Organismus in vielen Fällen medizinisch nicht neimittelversorgung von Kindern und Jugendlichen. vertretbar. Im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes haben Leider hat der Bundesausschuss diese Argumente un- wir gemeinsam beschlossen, dass Kinder und Jugendli- ter Hinweis auf den Gesetzestext nicht berücksichtigt. che von allen Zuzahlungen in der Arztpraxis und bei Die Folge ist, dass, insbesondere bei Jugendlichen aus Medikamenten befreit bleiben. Dies ist eine wichtige einkommensschwachen Haushalten, die notwendige Be- und richtige Entscheidung zugunsten von Familien. handlung eingeschränkt wird oder unterbleibt. Damit be- Familien sind ohnehin finanziell mehr belastet als steht die Gefahr, dass die Krankheiten chronisch werden kinderlose Paare und wir sollten alle zusätzlichen Belas- und ein Dauerschaden entsteht. Dies ist nicht nur ein me- tungen vermeiden, die die wirtschaftliche Situation der dizinisches Problem für die Betroffenen, sondern es Familien mit Kindern verschlechtern. führt auch zu erheblichen Kostensteigerungen für die Versichertengemeinschaft. Angesichts dieser Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU) lung ist die Heraufsetzung der Altersgrenze für die Er- Wir wollen eine kinderfreundliche Gesellschaft, in der stattungsfähigkeit von nicht verschreibungspflichtigen die Tatsache, Kinder zu haben, nicht zu Benachteiligun- Arzneimitteln vom zwölften auf das 18. Lebensjahr ge- gen führt. Dies ist eine grundsätzliche Werteentschei- boten, damit in diesem Bereich endlich wieder Rechtssi- dung, an der wir uns bei all unserem politischen Handeln cherheit geschaffen wird. orientieren müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir als Union haben uns deshalb sehr schwer getan, Es ist auch nicht so, dass dadurch erhebliche Mehr- bei den Konsensverhandlungen auf die Forderungen der kosten entstehen würden. In dem Gesetzentwurf gingen (B) Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen einzuge- wir nämlich von einem Einsparvolumen von rund (D) hen, Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr grundsätzlich 1 Milliarde Euro aus, aber tatsächlich wurden in diesem aus der Erstattungsfähigkeit für nicht verschreibungs- Bereich 1,4 Milliarden Euro eingespart. Das heißt, hier pflichtige Arzneimittel herauszunehmen. Wir haben könnte ohne weiteres eine Kompensation stattfinden. auch damals davor gewarnt, konnten uns aber, wie es bei Außerdem würden nach Ansicht der ärztlichen Berufs- Konsensen üblich ist, in diesem Punkt nicht durchsetzen. verbände durch diese Maßnahme erhebliche Folgekosten (Dr. Erika Ober [SPD] und Peter Dreßen [SPD]: eingespart, die aus einer Fehl- und Unterbehandlung re- Das habe ich anders in Erinnerung!) sultieren würden. – Wenn Sie sagen, dass Sie das anders in Erinnerung ha- Liebe Kolleginnen und Kollegen, unabhängig von ben, muss ich feststellen, dass Sie bei diesen Verhand- dieser Problematik gibt es, wie schon kurz erwähnt, auch lungen überhaupt nicht dabei waren. noch andere Entscheidungen des Bundesausschusses, die zu Kritik Anlass geben. Dies gilt insbesondere für Um größere Versorgungsprobleme zu vermeiden, hat den neuerlichen und mittlerweile dritten Entwurf einer der Gesetzgeber der Selbstverwaltung von Ärzten und Richtlinie zur Erstattung künstlicher Nahrung. Die Krankenkassen die Aufgabe übertragen, für schwerwie- Verbände der betroffenen Patienten haben bereits darauf gende Erkrankungen eine Ausnahmeliste für solche hingewiesen, dass sie diese Richtlinie als eine Entschei- Arzneimittel zu erstellen, die weiterhin von der gesetzli- dung gegen die Interessen chronisch Kranker und Behin- chen Krankenversicherung erstattet werden sollen. Der derter sehen. Einige Sachverständige haben kritisiert, die Gemeinsame Bundesausschuss hat damit eine Verant- Richtlinie enthalte gravierende ernährungsmedizinische wortung übernommen, der er meines Erachtens nicht in Fehler. So werde die Bedeutung der Sondennahrung für dem von uns erwarteten Maße gerecht geworden ist. Krebskranke verkannt. Völlig unakzeptabel sei nach An- Dies trifft im Übrigen auch auf andere Fragen wie zum sicht der Sachverständigen, dass Kinder mit schweren Beispiel die Richtlinie zur Verordnung künstlicher Er- Entwicklungsstörungen keine Behandlung mehr mit nährung oder die Positronen-Emissions-Tomographie Supplementen und bilanzierter Trinknahrung erhalten zu. Man hat den Eindruck, dass bei einigen Entscheidun- können. gen des Gemeinsamen Bundesausschusses ökonomische Argumente zulasten von medizinischen Aspekten im Ich schließe mich in ein paar Punkten der berechtig- Vordergrund stehen. ten Kritik der betroffenen Patienten und deren Ärzten an und fordere vom Bundesgesundheitsministerium, dass Ich hätte mir bei der Zusammenstellung der Ausnah- die Richtlinie gestoppt wird. Nachdem der Bundesaus- meliste vom Bundesausschuss erwartet, dass die beson- schuss nun schon mit seinem dritten Anlauf, eine Richt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16169

Wolfgang Zöller (A) linie für künstliche Ernährung zu schaffen, sehr wahr- Das hat alles nicht funktioniert und jetzt beklagen Sie (C) scheinlich ebenfalls wieder scheitern wird, sollte das das. Ministerium klare Vorgaben machen, wie diese Richtli- nie zu gestalten ist. Es muss Schluss sein in diesem Be- Sie weisen zu Recht darauf hin – da stimme ich Ihnen reich mit der Verunsicherung schwer kranker Menschen. zu –: Wir haben in der Umsetzung, besonders bei den Deshalb sollte die Bundesregierung in ihrer Stellung- Arzneimitteln, die verschreibungsfrei sind und nicht nahme zu unserem Antrag auch auf die Rolle und Funk- mehr von den Kassen erstattet werden, in Bezug auf drei tion des Gemeinsamen Bundesausschusses und die Auf- Erkrankungsgruppen ein Problem. In allen anderen Be- sicht durch das Gesundheitsministerium eingehen. Wir reichen sind die Probleme gelöst. Auch das, was Sie vom können nicht zulassen, dass ständig Entscheidungen des Ministerium in der Frage der Ernährung eingefordert ha- Bundesausschusses in der Öffentlichkeit zu Kontrover- ben, ist erfolgt. Aber ich muss Sie einmal darauf auf- sen führen und das Ministerium wiederholt eingreifen merksam machen, dass es sich um eine Rechtsaufsicht muss. Bessere Kommunikation und frühzeitige Abstim- und nicht um eine Fachaufsicht handelt. mung würde den von der Entscheidung Betroffenen viel Zeit und Aufwand ersparen und zur Rechtssicherheit (Zuruf von der SPD: So ist es!) beitragen. Mit einer Fachaufsicht wären wir auch alle überfordert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erwarten Lö- Ich kann doch nicht nachprüfen, was wo hinein muss. sungen, die sicherstellen, dass den Menschen in Ich denke, wir müssen auf unserem Weg bleiben. Deutschland hochwertige und innovative medizinische Leistungen zur Verfügung gestellt werden, dass die Ich komme zu einer anderen Forderung als Sie. Für Ärzte und andere Leistungserbringer nicht durch büro- unsere Fraktion komme ich zu der Forderung: Das, was kratische Regelungen stranguliert werden und dass bei medizinisch notwendig ist, muss es für alle geben und den Entscheidungen ein Gleichgewicht zwischen wirt- nicht nur bis zum Alter von 18 Jahren. schaftlichen Gesichtspunkten und medizinischen Erfor- dernissen hergestellt wird. Wir müssen darauf achten, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass die Patienten bekommen, was medizinisch notwen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – dig ist. Dabei dürfen ökonomische Gesichtspunkte nicht Dr. Dieter Thomae [FDP]: So ist es!) die erste Rolle spielen. Man muss den medizinischen Bedürfnissen der Menschen Rechnung tragen. Das ist aber letztlich das, was Ihr Gesetzentwurf fordert. Recht herzlichen Dank. Sie haben es gut beschrieben: Wir haben gemeinsam gesagt, dass wir in dieses Gesundheitssystem mehr Qua- (Beifall bei der CDU/CSU) (B) lität, mehr Effizienz und damit am Ende auch mehr Wirt- (D) schaftlichkeit bringen wollen. Nun sind wir an einem Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Punkt, an dem es zugegebenermaßen schwierig wird: Es Das Wort hat die Kollegin Gudrun Schaich-Walch, ist den Menschen oftmals sehr schwer zu erklären, dass SPD-Fraktion. es auch ein Mehr an Qualität sein kann, wenn es das eine oder andere nicht mehr gibt. Wir haben uns auf diesen Weg gemacht und haben den Auftrag dem Gemeinsa- Gudrun Schaich-Walch (SPD): men Bundesausschuss gegeben. Ich finde, er hat bis Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr jetzt besser als in den vorherigen Jahren, als er noch an- Zöller, das waren jetzt wahrhaftig Krokodilstränen. Wer dere Strukturen hatte, gearbeitet. jagt denn diese Regierung mit der Forderung, dass die Beiträge runter müssen? Wer hat denn diese Forderung (Beifall bei der SPD) von morgens bis abends erhoben? Wer hat denn die For- derung erhoben, dass alle Sozialhilfeempfängerinnen Wir haben deutlich angemahnt – das ist unsere Ver- und -empfänger und alle Bezieher von Arbeitslosenhilfe pflichtung –, dass wir in diesen drei Bereichen von ihm – dazu gehören auch Familien – voll und genau wie alle Lösungen erwarten. anderen Versicherten in die Zuzahlung einbezogen wer- (Zuruf von der CDU/CSU: Geht doch gar den? nicht!) Wer aber war es, der für chronisch Kranke eine Son- derregelung erstritten hat? Das waren nicht Sie; das wa- Ich sage Ihnen ganz klar: Wir sind sehr zuversichtlich. ren wir. Ich bin sicher, wir werden diese Lösungen bekommen. Dann werden wir bei den Hauterkrankungen und bei den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Allergien das haben, was uns jetzt fehlt. Es wird die In- DIE GRÜNEN) dikation geben. Außerdem werden die Kosten auch für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel erstattet Jetzt stellen Sie sich hin, erklären, Sie müssten die Welt werden, wenn sie zur Indikation gehören und notwendig retten, und machen der Bundesregierung Vorwürfe dafür, dass die Krankenkassen sie belogen haben. Auch Ihre sind. Landesaufsicht bei der AOK in Bayern hat ja vermutlich (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Generell!) versagt und erlaubt, dass über Jahre Schulden aufgebaut wurden, die hervorragend vertuscht werden konnten. – Generell. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Rolle rückwärts!) 16170 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Gudrun Schaich-Walch (A) Ich nehme das Beispiel eines an Neurodermitis Er- gende Erkrankung ist. Der Gemeinsame Bundesaus- (C) krankten. Weil seine Erkrankung als chronisch anerkannt schuss hat auch darüber diskutiert, ob bestimmte Haut- ist, bekommt er nach Ihren Vorstellungen die Behand- erkrankungen schwerwiegende Erkrankungen sind, lung nicht mehr bis zu einem Alter von Zwölf Jahren, vergleichbar beispielsweise mit Diabetes. Sie müssen sondern bis zu einem Alter von 18 Jahren bezahlt. Wie die Fachkompetenz, die Sie dem Gemeinsamen Bundes- aber erklärt man diesem jungen Menschen, der vielleicht ausschuss vorhin mit sehr salbungsvollen Worten im noch zur Schule geht oder sich in der Ausbildung befin- Hinblick auf die medizinische Ausgestaltung zugestan- det, dass dies an seinem 19. Geburtstag aufhört, obwohl den haben, auch in diesem Punkt gelten lassen. Wenn es seine Krankheit fortbesteht? Die Konsequenz kann doch sich also nicht um eine schwerwiegende Erkrankung nur sein, zu der Auffassung zu gelangen, dass die Be- handelt, dann kann der Gemeinsame Bundesausschuss handlung einer schwerwiegenden Erkrankung sowohl diese Regelung nicht für unter 18-Jährige treffen, weil mit 19 als auch mit 90 Jahren notwendig ist. die entsprechenden Präparate von der Versorgung ausge- schlossen sind. (Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin, nur eine Zwischenfrage und eine Zwi- Kollegin Widmann-Mauz? schenbemerkung sind erlaubt, aber keine Kurzinterven- tion. Gudrun Schaich-Walch (SPD): Ich möchte erst einmal zu Ende ausführen. Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Ich frage Sie: Stimmen Sie mir zu, dass es nur die (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Also Möglichkeit einer klaren gesetzlichen Regelung gibt, so gestatten Sie keine Frage?) wie wir sie vorschlagen? – Doch, aber ich möchte diese Ausführungen zunächst beenden. Gudrun Schaich-Walch (SPD): Wir haben uns gemeinsam auf diesen Weg begeben. Frau Widmann-Mauz, ich muss Ihnen nicht zustim- Aber Sie wollen jetzt einfach eine qualitätsorientierte men, aber ich gebe Ihnen sehr gern eine Antwort. Wir Politik durch eine sozialorientierte Politik ablösen. Wenn werden hier nicht zu befinden haben, wann ein Heu- es in diesem Land so ist, wie Sie sagen, nämlich dass die schnupfen eine schwerwiegende Erkrankung ist. Familien Probleme haben, dann bin ich der Meinung, (Birgit Homburger [FDP]: Gott sei Dank!) (B) dass wir diese Probleme familienpolitisch lösen müssen. (D) Wir können sie aber nicht gesundheitspolitisch lösen, in- Der Gemeinsame Bundesausschuss wird sich dieser dem die Menschen abhängig vom Alter eine medizinisch Frage – das ist besprochen – erneut widmen. Es gibt notwendige Versorgung bekommen. Dieser Lösungsweg Menschen, die ein oder zwei Wochen unter einem Heu- ist mit uns schlicht und einfach nicht zu beschreiten. schnupfen leiden, und es gibt Menschen, die vom Pol- lenverlauf nahezu das gesamte Jahr betroffen sind. Da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) runter sind Menschen, die unter Asthma leiden.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Zuruf von der CDU/CSU) Frau Kollegin, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage – Nein, das wird der Arzt für den Einzelnen abklären der Kollegin Widmann-Mauz? und nicht der Gemeinsame Bundesausschuss. In dem Gesetz ist keine Regelung enthalten, dass einzelne Pa- Gudrun Schaich-Walch (SPD): tienten ihr Anliegen dem Gemeinsamen Bundesaus- Ja. schuss vortragen können. Das wollen wir auch in Zu- kunft nicht. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD) Bitte schön. Wenn ein Patient unter Heuschnupfen und Asthma leidet, dann wird diese Erkrankung behandelt. Ich kann Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Ihnen versichern: Unter Heuschnupfen und Asthma zu Frau Kollegin Schaich-Walch, können Sie mir sagen, leiden ob Heuschnupfen eine schwerwiegende Erkrankung ist? Wenn Heuschnupfen, wie der Gemeinsame Bundes- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: ausschuss festgelegt hat, keine schwerwiegende Erkran- „Und“!) kung ist, dann gilt diese Entscheidung für über 18-Jäh- ist eine schwerwiegende Beeinträchtigung, egal ob der rige wie auch für unter 18-Jährige. Bis jetzt konnten die Patient 16 oder 17 Jahre bzw. 75 oder 80 Jahre alt ist. Kinder nicht mit entsprechenden Medikamenten ver- Deshalb ist der Weg, den Sie gehen wollen, indem Sie sorgt werden. Damit bestand die Gefahr einer chroni- glauben, ein gesundheitliches Problem dadurch lösen zu schen Asthmaerkrankung. können, dass Sie die Altersgrenzen verschieben, ein Sie werden schlechterdings nicht sagen können, dass Trugschluss. Der Gemeinsame Bundesausschuss muss bei einem Erwachsenen Heuschnupfen eine schwerwie- sich noch einmal mit diesen Problemen, zum Beispiel Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16171

Gudrun Schaich-Walch (A) mit dem Problem der Sondennahrung, beschäftigen. gen Arzneimittel aus der Erstattung herausnimmt. Auch (C) Wenn gesagt wird: „Wir haben den Eindruck, das eine dazu gibt es und gab es eine Menge Gutachten. In jedem oder andere, was im Verfahren hätte berücksichtigt wer- Gutachten wurde gesagt: Wenn diese Arzneimittel he- den müssen, ist nicht berücksichtigt worden“, dann muss rausgenommen werden, verlagern sich die Belastungen er sich damit beschäftigen und eine Lösung dafür finden. in einen anderen Bereich. Es entstehen Kosten und even- tuell auch Nebenwirkungen, die nicht sinnvoll sind. (Abg. Klaus Kirschner [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Von daher halten wir es für den falschen Weg, einen Ich bin zum Beispiel der festen Überzeugung, dass Gesetzentwurf einzubringen, in dem hinsichtlich der man die Psoriasis in dem Bereich der chronischen Er- Verschreibungen Altersbegrenzungen vorgesehen sind. krankungen, so wie sie heute definiert werden, ansiedeln Nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel sollen die kann. Es muss möglich sein, dass eine solche Erkran- gleiche Chance haben wie die anderen Arzneimittel. kung auf die eine oder andere Weise behandelt werden Denn es geht hier um die Therapiefreiheit, um die Ent- kann. Mit Ihrer Öffnungslösung sehen Sie nur vor, dass scheidung zwischen Patient und Arzt, welche Therapie die Altersgrenze von zwölf auf 18 Jahre verschoben angewandt wird. Ich als Gesetzgeber möchte den Bür- wird. Auf diese Weise bezahlen die Krankenkassen allen gern nicht vorgeben, wie sie therapiert werden. Das ist möglichen Schrott, wobei wir immer wollten, dass sie keine Aufgabe des Gesetzgebers, sondern Sache zwi- dies nicht tun. Sie wollen für diese Gruppe, die nun hin- schen Patient und Arzt. zukommen und plötzlich wieder jedes Medikament be- (Erika Lotz [SPD]: Die Solidargemeinschaft kommen soll, eine halbe Milliarde Euro ausgeben. Diese muss doch nicht alles bezahlen!) halbe Milliarde kann man zielgerichtet zur Qualitätssi- cherung in der Versorgung einsetzen. Das werden wir Sie haben der jetzigen Konstruktion des Bundesaus- auch tun. schusses zugestimmt. Wer sich damit beschäftigt hat, wusste, dass die Politik im Grunde genommen einen (Beifall bei der SPD) großen Teil der Verantwortung auf den Bundesausschuss verlagert, weil Sie nicht bereit sind, die Entscheidungen, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die dort getroffen werden sollen, selber zu tragen. Herr Kollege Kirschner, ich konnte Ihre Zwischen- frage nicht mehr zulassen, weil die Redezeit bereits (Beifall bei der FDP – Peter Dreßen [SPD]: überschritten war. Wir sind doch keine Ärzte!) Das Wort hat der Kollege Dieter Thomae, FDP-Frak- Das muss man eindeutig sehen. Jeder, der einer solchen (B) tion. Konstruktion des Bundesausschusses zugestimmt hat (D) – Sie alle wollten eine solche Konstruktion –, Dr. Dieter Thomae (FDP): (Peter Dreßen [SPD]: Wir sind doch keine Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Ärzte oder Pharmakologen!) Herren! Ich stelle fest: Der Konsens zwischen SPD und CDU/CSU scheint zu Ende zu sein. wusste, dass dabei Konflikte entstehen. Jetzt permanent auf den Bundesausschuss zu schimpfen halte ich für kei- (Beifall bei der FDP) nen sinnvollen Weg. Es muss eine vernünftige Auseinan- Denn es wurden in dem vorliegenden Antrag Fragen ge- dersetzung stattfinden, damit eine vernünftige Entschei- stellt, die mich schon erstaunen. Wer sich mit der The- dung getroffen wird, – matik intensiv beschäftigt hat, wusste, dass die Verschul- dung der gesetzlichen Krankenkassen erheblich höher Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: war als 4 Milliarden Euro. Das war eindeutig feststell- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des bar. Man wusste auch, dass Krankenversicherungsbei- Kollegen Kirschner? träge auf Betriebsrenten nur bei gleichzeitiger Einfüh- rung von Übergangsfristen und nicht spontan von heute auf morgen erhoben werden können, weil das meiner Dr. Dieter Thomae (FDP): Ansicht nach verfassungsrechtlich größte Bedenken her- – um die Problematik der künstlichen Ernährung zu vorruft. Für Versicherte, die eine Betriebsrente erhalten, lösen. Aber man sollte nicht so vorgehen, wie Sie es ma- ist es ein inhumaner Akt, diese von heute auf morgen zu chen: Sie hauen nur drauf und sagen: Die sind alle kappen. schuld. Mit diesem Verhalten werden Sie nicht weiter- kommen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Über die Thematik „Beitragsrückgewähr und Selbst- behalt“ ist in den letzten Jahren so intensiv diskutiert Bitte schön. worden und so viele Gutachten sind dazu erstellt wor- den, dass man wusste, wie man sich hier zu entscheiden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hat. Nein, Herr Kollege, jetzt kann ich das leider nicht Wir wussten auch, zu welchen Konsequenzen es füh- mehr zulassen, weil Ihre Redezeit deutlich überschritten ren würde, wenn man die nicht verschreibungspflichti- ist. 16172 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) (Heiterkeit bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: chen Krankenversicherung. Ich kann ein Informations- (C) Eben war die Rede auch zu Ende! Sie haben defizit überhaupt nicht entdecken. das eben zugelassen!) Des Weiteren richtet Ihr Antrag auch noch unkorrekte Vorwürfe an die Ministerin und beinhaltet Widersprüch- Dr. Dieter Thomae (FDP): lichkeiten. Es tut mir leid. (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Na, na!) Herzlichen Dank. So behauptet die Union, dass der Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen wegen fehlender Ein- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nahmen aus der Tabaksteuer von uns infrage gestellt Das Wort hat die Kollegin Petra Selg, Bündnis 90/Die werde. Dazu muss ich als stellvertretendes Mitglied im Grünen. Haushaltsausschuss sagen: Das ist schlichtweg falsch. Die Tabaksteuer hat überhaupt nichts mit dem festge- schriebenen Bundeszuschuss zu tun. Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- (Erika Lotz [SPD]: So ist es!) ginnen und Kollegen! Wir haben hier einen Antrag und Ich möchte Ihnen auch noch sagen: Ihre eigenen Frak- einen Gesetzentwurf der Union vor uns liegen. Mit dem tionskollegen beantragen im Haushaltsauschuss, die Er- Antrag „Wirkungen und Nebenwirkungen des GKV-Mo- höhung des Bundeszuschusses um 2,5 Milliarden Euro dernisierungsgesetzes“ soll die Bundesregierung dazu zu sperren. aufgefordert werden, eine Einjahresbilanz zu den finan- ziellen und strukturellen Wirkungen unseres gemeinsam ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beschlossenen Gesetzes vorzulegen und zu prüfen, ob NEN]: Hört! Hört!) bei bestimmten Details im Versorgungsgeschehen ge- Noch etwas zur Entwicklung der Beitragssätze. Na- setzliche Änderungen vonnöten sind, und für Vergü- türlich ist es richtig, wenn Sie sagen, wir hätten die Bei- tungsfragen in der integrierten Versorgung Sorge zu tra- tragssätze nicht richtig gesenkt, weil die Kassen ver- gen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der schuldet sind. Ich möchte Ihnen aber auch sagen: Ihr CDU/CSU, grundsätzlich halte ich einen solchen An- Vorwurf an uns ist falsch. Erst im Juli 2004 haben auch trag, sofern er von den richtigen Annahmen ausgeht, wir die korrekten Zahlen erhalten und waren somit auf durchaus für legitim; denn für so unfehlbar sollte sich dem gleichen Informationsstand wie Sie. kein Gesetzgeber halten, dass er die Implementierung ei- (B) nes Gesetzes nicht im Auge behält, schon gar nicht bei (D) einer Reform wie dieser. Aber bei dem Begriff „Gesetz- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: geber“ schließe ich Sie bei der Gesundheitsreform ein- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihrer fach mit ein. Im Übrigen, Herr Zöller, ist es auch voll- Kollegin Widmann-Mauz? kommen richtig: Wir hatten in den Konsensgesprächen vereinbart, eine Bilanzierung vorzunehmen. Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. Nicht legitim allerdings wäre es, wenn die Antragstel- ler einen solchen Antrag stellen, um sich im Nachhinein (Zurufe von der SPD: Nicht schon wieder! – aus der Verantwortung für einen gefundenen Kompro- Erika Lotz [SPD]: Sie haben doch erst gestern miss herauszustehlen. Dieser Kompromiss wurde stark im Ausschuss miteinander diskutiert!) von Ihnen geprägt. Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frau Kollegin Selg, Sie haben gerade das Thema Ta- DIE GRÜNEN – Annette Widmann-Mauz baksteuer angesprochen und waren der Meinung, dass [CDU/CSU]: Wie war das beim Zahnersatz?) niemand die dritte Stufe der Steuerreform infrage stellen Aber derlei Fluchtversuche möchte ich der Opposition würde. Ist Ihnen ein Schreiben der Parlamentarischen überhaupt nicht unterstellen. Ich gehe davon aus, dass Staatssekretärin Caspers-Merk bekannt, das sie an Kolle- auch Sie natürlich die Interessen der Patienten, der Ver- ginnen und Kollegen der SPD-Fraktion gerichtet hat, in sicherten, der Leistungserbringer und der Krankenkas- dem sie noch einmal nachdrücklich die Wirkungsweise sen im Auge haben. Ich möchte Ihnen aber trotzdem sa- der Stufen darstellt, um insbesondere auf die Mitglieder gen, warum ich Bauchschmerzen habe. des Haushaltsausschusses einzuwirken und sie von der Notwendigkeit der Stufen zu überzeugen? Zum Aspekt der Berichtspflicht. Zum einen halte ich sie hinsichtlich der integrierten Versorgung für gar nicht Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): aussagekräftig. So etwas braucht Zeit. Tun Sie bitte nicht Das ist mir durchaus bekannt, Frau Widmann-Mauz. so, als würden Sie seit der Verabschiedung des Gesetzes Dennoch haben die Einnahmen aus der Tabaksteuer ständig im Dunkeln tappen. Das stimmt schon deshalb nichts damit zu tun, ob die versicherungsfremden Leis- nicht, weil Sie im Gesundheitsausschuss ständig Anträge tungen finanziert werden können oder nicht. stellen. Dort beraten wir im Übrigen regelmäßig und dort informiert das BMGS regelmäßig über Kosten-, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Einnahmen- und Ausgabenentwicklung in der gesetzli- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16173

Petra Selg (A) Ich möchte aber nicht die Redezeit überschreiten und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) komme deshalb bezüglich der nicht verschreibungs- Das Wort hat die Kollegin Dr. Erika Ober, SPD-Frak- pflichtigen Medikamente für Kinder und Jugendliche tion. wieder auf Ihren Gesetzentwurf zurück. Sie wollen die Altersgrenze von zwölf auf 18 Jahre anheben. Es ist si- Dr. Erika Ober (SPD): cherlich vor allem in Bezug auf Allergien und Neuroder- mitis ein gemeinsames Ziel, Kinder und Familien vor Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und hohen Belastungen zu schützen. Es soll auch vermieden Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben werden, dass chronische Gesundheitsschäden entstehen. – mit Ausnahme der FDP – gemeinsam ein Gesundheits- modernisierungsgesetz verabschiedet, das seit 15 Mona- Wir sind durchaus gesprächsbereit. Aber sollten wir ten in Kraft ist. Heute legen Sie uns mit Ihrer Bestands- nicht erst einmal prüfen, ob nicht auch die derzeitige ge- aufnahme einen Rundumschlag vor, der sich gegen setzliche Regelung die angestrebten Ausnahmen bei Al- große Teile unseres gemeinsamen Konsenses richtet. Ich lergien und Neurodermitis ermöglicht? finde das absurd. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vielleicht ist diese Diskussion auch den anstehenden Wahlen in NRW geschuldet. Aber so einfach entlassen Wie Sie wissen, werden hierzu bereits intensive Gesprä- wir Sie nicht aus der Verantwortung, die Sie durch den che mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss geführt. Konsens mit uns mitzutragen haben, Herr Zöller. Eines muss klar sein: Ich erwarte von Ihnen, dass Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gegenüber der Öffentlichkeit mit diesem Thema ehrlich DIE GRÜNEN) umgehen. Es kann nicht angehen, dass Sie sich als so- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, un- ziale Wohltäter und als familienfreundlich präsentieren sere Einschätzung der Wirkungen des Gesundheitsmo- und so tun, als hätten Sie die jetzige Regelung schon im- dernisierungsgesetzes unterscheidet sich von Ihrer. Wir mer für Unfug gehalten. bewerten die Wirkungen der Gesundheitsreform ins- (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Unfug!) gesamt als positiv. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir auch!) Über diese Regelung bestand in den GMG-Beratungen Konsens. Es mag sein, dass sie von Ihnen nicht vollstän- Ich nenne Ihnen einige Punkte, die wir positiv bewer- dig mitgetragen wurde. Wir müssen aber bei allen Ände- ten: Die von Ihnen angesprochenen Schulden der Kran- rungen auch die finanziellen Auswirkungen im Blick be- kenkassen sind deutlich gesunken. Die Krankenkassen (B) (D) halten. Im Übrigen hätten auch wir von der Koalition hatten 2004 ausgezeichnete Einnahmen zu verzeichnen viele Wünsche, die wir gerne mit einbringen würden. und die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung wurden gesenkt. Das ist zwar nicht in dem von uns ge- Ich möchte Sie aber auch daran erinnern, dass es die wünschten Maße geschehen – das gestehen wir zu –, Union war, die auf der Schaffung der OTC-Regelung be- aber wir sollten uns auch klar machen, dass die Beiträge standen hat. Wenn Sie, wie wir es wollten, einer Positiv- ohne das Gesundheitsmodernisierungsgesetz heute bei liste zugestimmt hätten, dann müssten wir die von Ihnen über 15 Prozent liegen würden. losgetretene Diskussion um Altersgrenzen nicht führen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/ DIE GRÜNEN) CSU]: Deshalb haben wir ja mitgemacht!) Kurzum: Wir können gerne über Ihren Vorschlag re- Die Praxisgebühr hat ihre steuernde Wirkung entfaltet. den. Aber neben der fachlichen Klarheit vermisse ich da- Daneben wurden strukturelle Änderungen im Gesund- bei gegenwärtig noch Klarheit darüber, was wirklich heitssystem wie Hausarztmodelle, Disease-Manage- hinter Ihrem Antrag steckt. Korrigieren Sie gerade Ihre ment-Programme oder die integrierte Versorgung eta- Gesundheitspolitik oder wollen Sie lediglich ein paar bliert. Diese Systeme finden zunehmend Anwendung. billige Punkte ergattern? In dieser Phase der beginnenden Strukturänderung (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Gesundheit der wollen Sie das Gesundheitsmodernisierungsgesetz wie- Jugendlichen ist kein billiger Punkt!) der öffnen. Sie berühren in Ihrem Antrag nahezu jeden Punkt dieses Gesetzes, dem Sie noch vor kurzem zuge- Wir sind gerne zu Gesprächen bereit, um zu einer Lö- stimmt haben. sung im Sinne der Betroffenen zu kommen. Aber wir sollten gerade in so sensiblen Bereichen wie der künstli- Sie haben uns heute darüber hinaus einen Gesetzent- chen Ernährung keine Debatten im „Bild“-Zeitungsstil wurf zur Erhöhung der Altersgrenze für die Erstattung führen. von Arzneimitteln vorgelegt, von dem schon mehrfach die Rede war. Meine Kollegin Frau Schaich-Walch Vielen Dank. – auch Frau Selg hat es angesprochen – hat betont, dass in Ihrem Gesetzentwurf die Anhebung der Altersgrenze (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von zwölf auf 18 Jahre als Lösung innerhalb dieses Sys- DIE GRÜNEN) tems angesehen wird. 16174 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Erika Ober (A) Wir sollten aber den Blick auch darauf richten, was Das Gesetz zur Modernisierung des Gesundheitssys- (C) nach Ihrem Vorschlag von der Versichertengemeinschaft tems ist insgesamt auf mehrere Jahre angelegt. Struktu- bezahlt werden soll. Hierzu beziehe ich mich auf eine relle Veränderungen sind auf den Weg gebracht und wer- Liste der meistverordneten Medikamente des Jahres den ihre Wirkung sukzessive entfalten. Gerade aus 2003. Damals waren Arzneimittel gegen Erkältungs- diesem Grunde eignet sich ein Bericht, wie Sie ihn ein- krankheiten und andere geringfügige Gesundheitsstörun- fordern, nicht, um die Wirkungen des GMG ad hoc zu gen aus dem Leistungskatalog ausgeschlossen; davon analysieren. Ich betone: Die Bundesregierung unterrich- ausgenommen waren Versicherte unter 18 Jahren. tet schon seit 15 Monaten kontinuierlich über den Um- setzungsstand der Gesundheitsreform, und zwar sowohl Wenn ich mir diese Liste anschaue, dann finde ich un- im Ausschuss als auch öffentlich. ter den 40 am häufigsten verordneten Medikamenten Unser Ansatz bleibt, Qualität und Evidenz im gesam- zehn Arzneimittel gegen geringfügige Gesundheitsstö- ten Gesundheitssystem zu sichern und zu verbessern. rungen, zum Beispiel Nasentropfen bzw. Nasenspray bei Wir brauchen keine gesetzliche Änderung des GMG, Erkältungskrankheiten, hustendämpfende und -lösende sondern indikationsbezogene Lösungen. Das schließt Mittel sowie Abführmittel. Unter den meistverordneten auch die Anpassung bei schweren chronischen Erkran- Medikamenten des Jahres 2003 findet man – bis zu kungen ein; denn diese machen vor Altersgrenzen be- Platz 80 – kein Mittel, das der Behandlung schwerwie- kanntlich nicht Halt. gender chronischer Erkrankungen dient. Die Verschrei- bungspraxis vor der Gesundheitsreform zeigt ein großes Vielen Dank. Potenzial an Mitnahmeeffekten. So viel Nasenspray, wie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hier verordnet wurde, verträgt keine Kindernase. Auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Wirkung von Schleimlösern entspricht nicht zwin- gend den Maßgaben evidenzbasierter Medizin. Das Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: heißt, viele dieser auf Kosten der Solidargemeinschaft Ich schließe die Aussprache. verordneten Bagatellarzneimittel haben wenig bis gar keinen Nutzen. Das hat meine Kollegin schon betont. Tagesordnungspunkt 12: Wir kommen zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für Gesundheit und Soziale Sicherung auf Drucksache des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 15/5364 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Wirkungen und Nebenwirkungen des GKV- Wir setzen uns für eine qualitätsgesicherte Versor- Modernisierungsgesetzes – Kritische Bestandsauf- gung ein, die selbstverständlich von der Solidargemein- nahme“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf (B) schaft getragen werden muss, und das unabhängig von Drucksache 15/4135 abzulehnen. Wer stimmt für diese (D) einer bestimmten Altersgrenze. Aber wir wollen keine Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- Öffnung der getroffenen OTC-Regelung. Was würde die gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Umsetzung Ihres Vorschlags kosten, nicht verschrei- der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Ent- bungspflichtige Arzneimittel bis zum 18. Lebensjahr auf haltung der FDP angenommen. Kosten der Kassen zu verordnen? Herr Zöller, Sie erwe- Zusatzpunkt 8: Interfraktionell wird Überweisung des cken den Eindruck, dass man die Erfüllung Ihrer gefor- Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/5318 an die in der derten Änderungswünsche im OTC-Bereich bezahlen Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. könnte, weil wir Einsparungen in Höhe von Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht 1,4 Milliarden Euro erreicht hätten. Das ist aber falsch; der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. denn die Zahl 1,4 Milliarden Euro bezieht sich auf den Rückgang des OTC-Umsatzes zu Apothekenverkaufs- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: preisen. Das effektive Einsparpotenzial liegt aber nicht Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- bei 1,4 Milliarden Euro, weil man noch die Zuzahlungen gierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten abziehen muss. Wenn man das tut, kommt man auf Gesetzes zur Änderung des Wohngeldgesetzes 1 Milliarde Euro. Das ist genau das Einsparziel, das wir – Drucksache 15/4977 – errechnet haben. (Erste Beratung 163. Sitzung) Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu Ihren Aussa- gen über die enterale Ernährung sagen. Sie haben vor- a)Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- geschlagen, dass wir das beurteilen sollten. Das finde ich schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- sehr schwierig; denn es gibt bereits einen Gemeinsamen sen (14. Ausschuss) Bundesausschuss, der diese Aufgabe zu erfüllen hat. – Drucksache 15/5309 – Dieser Ausschuss ist besser ausgestattet als jemals zu- Berichterstattung: vor. Ihm steht ein Institut für Qualitätssicherung zur Abgeordneter Gero Storjohann Seite, das zuarbeitet. Ich denke, das Bundesministerium hat zwar die Rechtsaufsicht, kann aber keine Fachauf- b)Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- sicht über den Gemeinsamen Bundesausschuss haben. schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Das möchte ich noch einmal herausstellen. – Drucksache 15/5310 – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Berichterstattung: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Abgeordnete Norbert Barthle Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16175

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Uwe Göllner c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (C) Franziska Eichstädt-Bohlig richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Dr. Andreas Pinkwart zu dem Antrag der Abgeordneten Bernhard Brinkmann (Hildesheim), Ernst Bahr (Neurup- Die Redner Wolfgang Spanier, Gero Storjohann, pin), Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Ab- Renate Blank, Franziska Eichstädt-Bohlig, Joachim geordneter und der Fraktion der SPD sowie der Günther (Plauen) und die Parlamentarische Staatssekre- Abgeordneten Anja Hajduk, Volker Beck (Köln), tärin Iris Gleicke haben ihre Reden zu Protokoll gege- ben.1) Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Bewältigung der Konversionslasten durch ge- rung des Wohngeldgesetzes, Drucksache 15/4977. Der meinsame Anstrengungen von Bund, Ländern Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen emp- und Kommunen fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- – Drucksachen 15/4520, 15/4766 – sache 15/5309, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Berichterstattung: len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent- Abgeordnete Dietrich Austermann haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- Jürgen Koppelin ratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/ Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der CDU/CSU Anja Hajduk angenommen. d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Dritte Beratung richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Helga Daub, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Angelika Brunkhorst, Günther Friedrich Nolting, Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist damit mit demselben Abstimmungsergebnis wie Hilfe durch den Bund für die von Reduzierung in der zweiten Beratung angenommen. und Schließung betroffenen Bundeswehr- standorte ist unverzichtbar Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a bis 14 d auf: – Drucksachen 15/1022, 15/4768 – a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (B) richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Berichterstattung: (D) zu dem Antrag der Abgeordneten Dietrich Abgeordnete Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Austermann, Steffen Kampeter, Ilse Aigner, wei- Dietrich Austermann terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Anja Hajduk CSU Jürgen Koppelin Konversionsregionen stärken – Verbilligte Ab- Die Redner Bernhard Brinkmann (Hildesheim), Anita gabe von zu Verteidigungszwecken nicht mehr Schäfer (Saalstadt), Alexander Dobrindt, Winfried benötigten Liegenschaften ermöglichen Nachtwei und Gudrun Kopp haben ihre Reden zu Proto- 2) – Drucksachen 15/4531, 15/4767 – koll gegeben. Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 14 a: Beschlussempfehlung des Abgeordnete Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Haushaltsausschusses auf Drucksache 15/4767 zu dem Anja Hajduk Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Kon- Jürgen Koppelin versionsregionen stärken – Verbilligte Abgabe von zu Dietrich Austermann Verteidigungszwecken nicht mehr benötigten Liegen- schaften ermöglichen“. Der Ausschuss empfiehlt, den b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Antrag auf Drucksache 15/4531 abzulehnen. Wer stimmt richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent- (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Dagmar Wöhrl, Anita Schäfer (Saalstadt), Karl- men der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der und der FDP angenommen. Fraktion der CDU/CSU Tagesordnungspunkt 14 b: Beschlussempfehlung des Konversionsregionen stärken – Sechs-Punkte- Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Plan zur Strukturpolitik Drucksache 15/4789 zu dem Antrag der Fraktion der – Drucksachen 15/4029, 15/4789 – CDU/CSU mit dem Titel „Konversionsregionen stär- ken – Sechs-Punkte-Plan zur Strukturpolitik“. Der Aus- Berichterstattung: schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4029 Abgeordneter Dr. Michael Fuchs abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –

1) Anlage 6 2) Anlage 7 16176 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- nutzung völlig außer Acht gelassen wurde. Aus meiner (C) lung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstim- Sicht ist gerade die Endlagerung hochradioaktiver Ab- men der CDU/CSU und Enthaltung der FDP angenom- fälle ein sehr entscheidendes Argument gegen die Nut- men. zung von Atomkraft. Tagesordnungspunkt 14 c: Beschlussempfehlung des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Haushaltsausschusses auf Drucksache 15/4766 zu dem DIE GRÜNEN – Kurt-Dieter Grill [CDU/ Antrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/ CSU]: Ach du liebe Zeit! Und das sagt eine Die Grünen mit dem Titel „Bewältigung der Konver- Sozialdemokratin! Sie kennen Ihre eigene Ver- sionslasten durch gemeinsame Anstrengungen von gangenheit nicht!) Bund, Ländern und Kommunen“. Der Ausschuss emp- Sie werfen der Bundesregierung in Ihrem Antrag vor, fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4520 anzunehmen. die Verantwortung in dieser Frage auf kommende Gene- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- rationen zu verschieben. probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der (Birgit Homburger [FDP]: So ist es!) CDU/CSU und der FDP angenommen. Das ist, wie Sie sehr wohl wissen, nicht der Fall. Tagesordnungspunkt 14 d: Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 15/4768 zu dem (Birgit Homburger [FDP]: Doch!) Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Hilfe durch Ein gutes Beispiel für das Verantwortungsbewusst- den Bund für die von Reduzierung und Schließung betrof- sein dieser Regierungskoalition ist meiner Meinung fenen Bundeswehrstandorte ist unverzichtbar“. Der Aus- nach der eingeleitete Ausstieg aus der Atomenergienut- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1022 zung. abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss- (Beifall bei der SPD – Angelika Brunkhorst empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegen- [FDP]: Das muss man doch getrennt voneinan- stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. der sehen!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Ich möchte zum Thema Verantwortungsbewusstsein aus der Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000 richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz zitieren. In Anlage 4 heißt es: und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu dem Gemäß § 9 a Abs. 3 des Atomgesetzes hat der Bund (B) Antrag der Abgeordneten Dr. Rolf Bietmann, (D) Kurt-Dieter Grill, Dr. Peter Paziorek, weiterer die gesetzliche Aufgabe, Anlagen zur Endlagerung Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU radioaktiver Stoffe einzurichten. Die Bundesregie- rung bekennt sich zu dieser Aufgabe und erklärt, Keine weitere Verzögerung in der Frage der dass sie die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um Entsorgung nuklearer Abfälle unbeschadet des Ausstiegs aus der Kernenergie die benötigten Endlagerkapazitäten für radioaktive Ab- – Drucksachen 15/3492, 15/4889 – fälle rechtzeitig zur Verfügung zu stellen. Berichterstattung: Bei dieser Erklärung handelt es sich nicht um ein bloßes Abgeordnete Horst Kubatschka Lippenbekenntnis. Dr. Rolf Bietmann Michaele Hustedt Der durch die Bundesregierung initiierte „Arbeits- Birgit Homburger kreis Auswahlverfahren Endlagerung“ ist ein weiterer Beweis für die engagierte Arbeit der Bundesregierung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gerade in der Endlagerungsfrage, Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Birgit Homburger [FDP]: Verzögerungstak- tik, sonst gar nichts! – Kurt-Dieter Grill [CDU/ Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- CSU]: Dafür, dass Sie jetzt erst in den Bundes- gin Martina Eickhoff, SPD-Fraktion. tag gekommen sind, halten Sie – das muss ich schon sagen – eine mutige Rede!) Martina Eickhoff (SPD): und das unter dem für die heutige Generation wichtigen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Aspekt der Sicherheit. Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum wiederholten Mal über die Entsorgung bzw. Endlage- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung nuklearer Abfälle. Sie werden mir zustimmen DIE GRÜNEN) – oder auch nicht –, dass wir hier ein schweres Erbe der früheren Regierungskoalition zu tragen haben, Dass die Einsetzung und die Arbeit des so genannten Ak End als Verzögerungsstrategie bezeichnet wird, kann ich (Beifall bei der SPD) nicht nachvollziehen. vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass die Frage Gern weise ich daraufhin, dass für uns als SPD-Frak- der Entsorgung während der Anfänge der Kernenergie- tion grundsätzlich das Verursacherprinzip an vorderster Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16177

Martina Eickhoff (A) Stelle steht. Wir haben die unausweichliche Pflicht, die Weiter heißt es: (C) national verursachten Nuklearabfälle in Deutschland und nirgendwo sonst zu entsorgen. Das ist unser erklärtes Auch wenn der Planfeststellungsbeschluss vollzieh- Ziel. Wir können und wollen diese Verantwortung nicht bar wäre, wäre Konrad nicht sofort nutzbar. Die an Dritte abgeben. Dafür müssen wir gemeinsam auf Wiederherstellung der Umrüstbereitschaft und die eine sicherheitspolitisch sinnvolle und wissenschaftlich Umrüstung der Schachtanlage zum Endlager wür- fundierte Lösung der Endlagerung hinarbeiten. Schnell- den voraussichtlich bis zu sechs Jahre in Anspruch schüsse helfen uns in Anbetracht der bisher nicht ausge- nehmen. räumten Zweifel bezüglich der Endlagerung nuklearer Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU- Abfälle nicht weiter. Fraktion, abschließend möchte ich auf Punkt 6 Ihrer For- derung eingehen. In einem Halbsatz heißt es dort, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesregierung solle das Erkundungsbergwerk Gor- DIE GRÜNEN) leben unter anderem für die interessierte Öffentlichkeit Insofern ist die Eile, die in Ihrem Antragstitel vorge- öffnen, um hierdurch Transparenz und Vertrauen zu täuscht wird, nicht nachzuvollziehen. Die Realisierung schaffen. Um ehrlich zu sein: Beim Lesen dieser Forde- eines Endlagers muss auf der Basis aller zur Verfügung rung konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. stehenden Erkenntnisse der Wissenschaft bis zum Jahr Die Besichtigung eines Endlagers für radioaktive Ab- 2030 erfolgen. Ein dringendes, weil Mensch und Um- fälle ist nicht die Art von Sonntagsausflug, wie ich ihn welt betreffendes Problem liegt – darüber sind wir uns mir für eine Familie vorstelle. sicherlich einig – in jedem Fall vor. (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Wer spricht von Sonntag?) Meine Damen und Herren der CDU/CSU-Fraktion, Sie schreiben im Feststellungsteil Ihres Antrags: Oder welche Öffentlichkeit sprechen Sie in diesem Fall an? Die dezentralen Zwischenlager … drohen infolge der Politik der Bundesregierung zu „Quasi-Endla- Grundsätzliche Erfahrungen zeigen doch, dass die gern“ zu werden. Menschen die Nähe zu Atomkraftwerken eher meiden, getreu dem Prinzip: Aber nicht in meiner Nachbarschaft! Diese Behauptung ist nicht haltbar. Sie entspricht nicht Das trifft in erhöhtem Maße für Endlager zu. Ich meine dem politisch vereinbarten Kurs der Regierungskoali- auch, dass die wiederkehrenden Demonstrationen gegen tion. Atommülltransporte zeigen, was die Menschen in Deutschland über Atomenergie und ihre Folgen denken. (B) (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Der Realität Sie halten sie für äußerst gefährlich und lehnen sie des- (D) entspricht das!) halb ab. Ich zitiere aus der Koalitionsvereinbarung vom (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 20. Oktober 1998: DIE GRÜNEN) Die Zwischenlager werden nicht zum Zweck der Genauso lehnen wir Ihren Antrag ab. Endlagerung genutzt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. An diesem Grundsatz halten wir fest. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wie Sie wissen ist die Genehmigung von Zwischenla- Frau Kollegin Eickhoff, Sie sind in den Deutschen gern befristet. Weiter sieht der Zeitplan vor, dass bis zum Bundestag nachgerückt und hielten heute Ihre erste Jahr 2030 ein Endlager für nukleare Abfälle bereitge- Rede. Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hohen Hauses stellt wird. recht herzlich und wünsche Ihnen persönlich alles Gute. Ich möchte jetzt noch auf einzelne Antragspunkte ein- (Beifall) gehen. Eine Forderung des zu beratenden Antrags lautet, Schacht Konrad ohne weitere Verzögerung auszubauen Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Rolf und „schnellstmöglich“ in Betrieb zu nehmen. Der Be- Bietmann, CDU/CSU-Fraktion. griff schnellstmöglich ist meiner Meinung nach eher re- lativ. Hierzu heißt es in der Antwort der Bundesregie- Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): rung vom 26. Januar 2005 auf die Kleine Anfrage der Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Fraktion der FDP mit dem Titel „Vorstellungen der Bun- Frau Eickhoff, Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede. Ich desregierung zur Suche nach einem Endlager für radio- habe sie mit Interesse gehört, aber ich muss Ihnen aktive Abfälle“ – das ist die Drucksache 15/4729 –: gleichwohl direkt am Anfang widersprechen. Eine Inbetriebnahme von Schacht Konrad als End- (Horst Kubatschka [SPD]: Jetzt sind Sie aber lager ist kurzfristig nicht möglich. Derzeit ist der kein Kavalier, Herr Bietmann! Das hätten wir Planfeststellungsbeschluss nicht vollziehbar. zumindest erwartet!) 16178 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Dr. Rolf Bietmann (A) Dass Sie beklagen, dass die Frage der Entsorgung ver- Aufwand in Milliardenhöhe Untersuchungen der Eig- (C) schleppt worden ist, ist geradezu ein Witz. Denn in der nung des Salzstockes Gorleben als Endlager für hochra- Tat: Seit es die rot-grüne Bundesregierung gibt, also mit- dioaktive Abfälle statt. Die rot-grüne Bundesregierung hin seit 1998, tut sich in der Frage der Entsorgung des hat 1998 das bis dahin im Konsens vorangetriebene End- atomaren Mülls in Deutschland überhaupt nichts mehr. lagerkonzept einseitig verlassen und die Endlagerfrage seitdem nicht einen einzigen Schritt vorangebracht. Im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Horst Gegenteil: Der Bundesumweltminister unternimmt in Kubatschka [SPD]: Und bei Ihnen?) Sachen Endlagerung alles, um eine möglichst schnelle, Dass Sie das dann noch beklagen, ist schon recht interes- sachgerechte Lösung zu hintertreiben. sant. Aber sei es drum. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wohl wahr!) Jedenfalls ist die Diskussion um die weitere friedli- Dies beginnt mit dem plötzlichen Ausrufen der neuen che Nutzung der Kernenergie in Deutschland unverän- Ein-Endlager-Strategie. Minister Trittin ist es dabei dert bedeutsam. Dabei geht es immer auch um die Frage, gleichgültig, dass sich Deutschland mit dieser Strategie wie atomarer Müll in Verantwortung für zukünftige Ge- international isoliert und ein seit mehr als 20 Jahren ver- nerationen sinnvoll entsorgt werden kann. Dieses Thema folgtes Konzept, welches mit Aufwand in Milliarden- stellt sich unabhängig davon, ob man nun für eine wei- höhe entwickelt worden ist, über den Haufen geworfen tere Nutzung der Kernenergie eintritt oder nicht. Das wird. Thema eignet sich von daher nicht für ideologisch moti- vierte Auseinandersetzungen. Es geht vielmehr um die Durch das seit fünf Jahren anhaltende Gorleben- Frage, wie wir die Entsorgung gegenüber heutigen und Moratorium sind darüber hinaus ganz bewusst Jahre künftigen Generationen lösen können. zur Entwicklung eines Endlagerstandortes verschenkt worden. Dabei können wir nicht übersehen, dass sich in den Landessammelstellen, in den zentralen und in den de- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zentralen Zwischenlagern heute oberirdisch große Men- In einem Zeitraum von knapp fünf Jahren sind allein gen nuklearen Abfalls sammeln. Allein in Karlsruhe durch das Offenhalten ohne Aktivität Kosten in Höhe lagern etwa 60 Prozent der anfallenden leicht- und mit- von rund 125 Milliarden Euro entstanden. Zu einer Wei- telradioaktiven Stoffe oberirdisch. Die baden-württem- tererkundung ist es aber nicht gekommen. Fachkräfte bergische Landesregierung hat wiederholt darauf hinge- mit international anerkanntem Renommee und hoher wiesen, dass eine Regelung der Entsorgung unabdingbar Kompetenz im Endlagerbereich wandern zwischenzeit- notwendig ist, da die dort vorhandenen atomaren Abfälle lich ab, verlassen den Standort, da sie in Deutschland (B) aufgrund ihrer Verpackung lediglich bis etwa 2010 im keine fach- und sachgerechte Endlagerpolitik feststellen (D) derzeitigen Zustand belassen werden können. können. Es handelt sich hierbei um nukleare Abfälle, die im Bewusst wird die Frage der Endlagerung atomaren Wesentlichen nicht aus Kernkraftwerken stammen. Es Mülls offen gelassen, obwohl weder die Bundesregie- geht vielmehr um Abfälle aus Forschung und Wissen- rung noch Minister Trittin noch Wissenschaftler die Eig- schaft und insbesondere aus der Medizin. nung des Salzstockes Gorleben und des Schachtes (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Konrad für die Unterbringung mittel- und leichtradioak- tiver Stoffe ausschließen können. Darum ist es höchste Niemand wird bestreiten wollen, dass die Nutzung von Zeit, das Moratorium für Gorleben zu beenden und die Kernenergie im Bereich der wissenschaftlichen For- Weitererkundung voranzutreiben. schung für den Fortschritt der medizinischen Versorgung für uns alle von allerhöchster Bedeutung ist. Wir alle ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben heute den Nutzen vom Einsatz radioaktiver Stoffe. Das sind wir unserer Generation und den nach uns kom- Darum sind wir alle selbstredend verpflichtet, die Ent- menden Generationen schuldig. sorgung der Abfälle sicherzustellen. Frau Eickhoff, auch die Einsetzung des AK End (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diente letztlich nur zur Verzögerung. Der Abschlussbe- richt ist im Dezember 2002 vorgelegt worden. Bis heute Darum brauchen wir dringend ein stimmiges Konzept hat das Bundesumweltministerium keine abschließende zur Lösung der Entsorgung. Ein solches Konzept gibt es. Konsequenz aus dem AK-End-Bericht gezogen. Ganz Jedenfalls ist es bis 1998 konsequent verfolgt worden. im Gegenteil: Die Endlagerfrage ist dort faktisch ad acta Getragen von einem breiten politischen Konsens, über gelegt worden. Parteigrenzen hinweg, wurde seit den 70er-Jahren an der Lösung dieses Themas gearbeitet. Der von Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bis dahin beschrittene Weg galt international als vorbild- Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Unverant- lich. Ergebnis dieser Planungen war das so genannte wortlich!) Zwei-Endlager-Konzept. Jetzt komme ich zu dem eigentlich politischen Punkt. Für den Schacht Konrad wurde ein Planfeststellungs- Gleichzeitig versucht man, die Bürger mit der Behaup- verfahren als Endlager für schwach- und mittelradioak- tung zu verunsichern, die Endlagerung atomarer Stoffe tive Abfälle auf den Weg gebracht. Dieses ist seit 2002 sei nicht lösbar. So haben auch Sie es formuliert, Frau abgeschlossen. In Gorleben fanden mit finanziellem Kollegin. Damit rechtfertige sich der Atomausstieg. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16179

Dr. Rolf Bietmann (A) Hier wird zielgerichtet an einem Argument für den bestehen bleiben. Die Erkundungsarbeiten müssen wei- (C) Atomausstieg festgehalten, obwohl man dieses Argu- tergeführt werden. Obwohl hier viele Milliarden Euro ment durch eine konsequente Fortsetzung der bislang be- investiert worden sind, sagen Sie nun, dass Sie nicht schlossenen Endlagerpolitik selbst entkräften könnte. weiter erkunden, sondern einen Stopp durchführen wol- Genau das will man aber nicht. Es passt nicht in das rot- len. Hätten wir die fünf Jahre genutzt, wüssten wir heute grüne Weltbild vom Ausstieg aus der Nutzung der Kern- endlich, ob Gorleben geeignet ist oder nicht. energie. Ein solches, rein politisch-ideologisch gefärbtes (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau das ist Verhalten ist mit Blick auf die Interessen der Bürgerin- der Punkt!) nen und Bürger unverantwortbar. Dann könnten wir dieser Generation und den folgenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Generationen ein schlüssiges Konzept anbieten. Wenn selbst der BUND in der „Süddeutschen Zei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tung“ vom 15. April 2005 rügt, dass die Bundesregie- rung die dringend erforderliche Endlagersuche ver- Meine Damen und Herren, wir können es uns wahr- schleppe, dann spricht dies für sich. Die These, man haft nicht länger erlauben, die Endlagerfrage aus poli- werde bis 2030 ein Endlager haben, wird durch noch so tisch-ideologischen Gründen auszublenden. Die Bundes- häufiges Wiederholen nicht richtiger. Wissenschaftlich regierung und die sie tragenden Parteien müssen ihrer ist längst nachgewiesen, dass unter Berücksichtigung der Verantwortung gerecht werden. Eine Verzögerungspoli- Auswahlkriterien ein Endlager frühestens um 2050 zur tik verlagert die bestehenden Probleme in die Zukunft Verfügung stehen könnte. und schafft zusätzlich beträchtliche Gefährdungspoten- ziale, gegen die sich die Menschen mit Recht zur Wehr (Widerspruch des Abg. Horst Kubatschka setzen. [SPD]) Die Bundesregierung bzw. Minister Trittin ist aufge- Die Endlagerpolitik dieser Bundesregierung führt in fordert zu handeln. Wenn er dieser Verantwortung nicht eine gefährliche Sackgasse. Steht nämlich kein Endlager gerecht wird, werden wir ihn im Deutschen Bundestag zur Verfügung, müssen die Abfälle zwangsläufig, wei- und gegenüber der deutschen Öffentlichkeit fortlaufend terhin in oberirdischen Zwischenlagern verteilt, im Bun- stellen. So entlassen wir ihn nicht aus seiner Verantwor- desgebiet bleiben. Die daraus entstehenden Sicherheits- tung. Er kann nicht auf der einen Seite mit dem Argu- risiken potenzieren sich zum Nachteil der Bürgerinnen ment, wir könnten die Endlagerfrage nicht lösen, für den und Bürger. Ausstieg aus der Kernenergie eintreten, auf der anderen (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wohl wahr!) Seite aber alle Anstrengungen, die unternommen werden (B) könnten, verhindern, um die Endlagerfrage zu lösen. Das (D) Die Bundesregierung schafft damit sehenden Auges ein ist eine Politik, die in sich widersprüchlich ist. Das wer- Gefahrenpotenzial für diese und künftige Generationen, den wir für die Bürgerinnen und Bürger fortlaufend do- nur weil ihr an der Lösung der Endlagerfrage nicht gele- kumentieren. gen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) CDU und CSU stehen zu ihrer Verantwortung. Das wird Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: durch unsere Initiative dokumentiert. Nächster Redner ist der Kollege Horst Kubatschka, SPD-Fraktion. Unsere wichtigsten Forderungen an die Bundesre- gierung lauten: Erstens. Kehren Sie zur erprobten Zwei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Endlager-Strategie zurück, die international anerkannt ist und akzeptiert wird! Horst Kubatschka (SPD): Zweitens. Nehmen Sie den Schacht Konrad in Be- Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! trieb! Das ist unabdingbar notwendig, um die oberir- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bietmann, Sie disch lagernden mittel- und leichtradioaktiven Abfälle haben gerade so getan, als könnte Gorleben sofort in sicher verschließen zu können. Wer zulässt, dass diese Betrieb genommen werden. Abfälle weiterhin oberirdisch gelagert und nach dem (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das hat er Jahr 2010 nochmals verpackt werden, der potenziert die nicht gesagt!) möglichen Gefahren, nur weil er aus politisch-ideologi- schen Erwägungen nicht bereit ist, endlich die notwendi- Sie haben gesagt: „Nehmen Sie … in Betrieb.“ Auch Sie gen Entscheidungen zu treffen. Das werden sich die Bür- wissen, dass wir noch Hunderte von Millionen Euro in- ger merken. vestieren müssen, um dieses Vorhaben zu beenden. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Was wollt ihr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – denn jetzt?) Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Bald ist ja der 22. Mai!) Das dauert noch Jahre. Aus einer sofortigen Inbetrieb- nahme wird also nichts. Drittens. Heben Sie das Gorleben-Moratorium auf. Das seit fünf Jahren ohne sachlichen Grund bestehende (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Es wurde nie Moratorium für den Salzstock Gorleben kann so nicht das gefordert, was Sie gerade gesagt haben!) 16180 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Horst Kubatschka (A) Was ist mit Gorleben, Herr Kollege? – vielleicht sogar schon Ende April – abgeschaltet wird; (C) wiederum eine schöne Nachricht. (Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Was wollen Sie über- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haupt?) DIE GRÜNEN) Falls Gorleben nicht geeignet ist, dann sind wir auf dem Obrigheim ist derzeit das älteste von insgesamt 18 noch gleichen Stand wie jetzt. betriebenen Kernkraftwerken; es ging 1968 in Betrieb. Nach dem Kernkraftwerk Stade, das im November letz- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Aber dann ten Jahres vom Netz ging, ist es das zweite Kernkraft- wissen wir es wenigstens!) werk, das im Rahmen des vereinbarten Atomausstieges – Ja, natürlich. – vom Netz gehen wird. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist viel- Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, leicht eine Logik, Herr Kubatschka! Sie wol- wollen eine Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke. len wohl weiter dumm bleiben!) Sie wollen damit das Problem des hochradioaktiven Mülls noch weiter vergrößern. In Ihrem Antrag schrei- In diesem Fall hätten wir Millionen Euro in den Sand ben Sie: bzw. in Salz gesetzt, also sinnlos Geld aus dem Fenster geworfen. Auch wissen Sie, dass darüber nachgedacht Die dezentralen Zwischenlager … drohen … zu wird, ob außer Salz noch andere Würzgesteine infrage „Quasi-Endlagern“ zu werden. kommen. Darüber wird von internationalen Wissen- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja!) schaftlern nach wie vor diskutiert. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Das ist Panikmache. Deswegen können wir Ihrem An- trag nicht zustimmen. Die Nutzungsdauer der Zwischen- (Zuruf von der CDU/CSU: Alles geprüft!) lager an den Kernkraftwerksstandorten wurde zeitlich Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, auf maximal 40 Jahre begrenzt. Sie werden sicherlich nicht darüber erstaunt sein, dass (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Und dann?) wir Ihren Antrag ablehnen; mit diesem Antrag wollen Sie ja auch keine andere Mehrheit erreichen. Damit wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass aus den Zwischenlagern keine faktischen Endlager wer- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Doch!) den. Schon der Inhalt Ihrer ersten Forderung, die Bundesre- (Dr. [CDU/CSU]: Und (B) gierung solle sich endlich ihrer Verantwortung für die dann?) (D) Endlagerung nuklearer Abfälle stellen und diese nicht auf kommende Generationen verschieben, ist falsch. In Und Sie wissen ganz genau: Mit den Zwischenlagern den 16 Jahren Ihrer Regierungsverantwortung ist auf entfallen die umstrittenen und auch gefährlichen inner- diesem Gebiet nichts Entscheidendes geschehen. deutschen Castortransporte nach Gorleben und nach Århus. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Århus ist in Dänemark! Sie meinen Ahaus!) Jahrzehntelang wurden die Probleme der Endlagerung auf die zukünftigen Generationen geschoben. Für diese Mit unserem Ausstiegsgesetz wurde auch die Entsor- Probleme gibt es nicht nur in Deutschland, sondern welt- gung radioaktiver Abfälle ab 1. Juli dieses Jahres auf die weit keine Lösung. Dies war einer der Gründe, warum direkte Endlagerung beschränkt. Transporte zur Wieder- die rot-grüne Koalition die Nutzung der Atomkraft nicht aufbereitung nach La Hague in Frankreich und nach mehr für verantwortbar hielt und den Atomausstieg ein- Sellafield in Großbritannien sind also nur noch bis zum geleitet hat. 30. Juni zulässig; wiederum eine schöne Meldung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN – Werner Kuhn [Zingst] Die Opposition will allerdings weiterhin allen Ernstes [CDU/CSU]: Sehr überzeugt sind Sie von Ih- den strahlenden Müll durch Deutschland fahren und ihn, rer eigenen Rede ja nicht gerade, Herr Kol- wie es früher üblich war, im Ausland zwischenlagern. lege!) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: „Strahlender Vor knapp zwei Wochen veröffentlichte das Bundes- Müll“ – was ist das denn für eine Panik- amt für Strahlenschutz die Daten über die im Jahre 2004 mache!) in deutschen Kernkraftwerken erzeugte Strommenge und stellte fest, dass bereits fast ein Drittel des Atomaus- Meine Damen und Herren von der Opposition, erzählen stiegs geschafft ist. Vom 1. Januar 2000 bis zum Sie uns nichts von Verantwortung gegenüber den kom- 31. Dezember 2004 sind knapp 31 Prozent der im Atom- menden Generationen! konsens festgelegten Gesamtstrommenge produziert Ich danke Ihnen fürs Zuhören. worden; wahrlich eine schöne Nachricht. Weiter meldet das Bundesamt für Strahlenschutz, dass das Kernkraft- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werk Obrigheim vermutlich im Mai dieses Jahres DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16181

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: weil Sie sich dann nämlich auch vor Ort mit denjenigen (C) Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger, auseinander setzen müssten, denen Sie vorgaukeln, dass FDP-Fraktion. Sie ein Endlager verhindern wollen. Das ist Fakt, Herr Kubatschka. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es wurde hier davon geredet, dass die Zwischenlager Birgit Homburger (FDP): Zwischenlager seien, deren Nutzungsdauer begrenzt sei. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Horst Kubatschka [SPD]: Jawohl!) Meine Damen und Herren! Wir reden hier zum wieder- holten Male über die Endlagerung radioaktiver Abfälle. Entschuldigung, wenn wir bei der Suche nach einem Endlager nicht weiterkommen und es de facto kein End- (Horst Kubatschka [SPD]: Da stimme ich lager gibt, dann wird man irgendwann entweder die Nut- Ihnen zu!) zung der Zwischenlager verlängern oder eine andere Lö- sung finden müssen. Diese Antwort geben Sie uns nicht. – Herr Kubatschka, dass wir hier immer noch darüber re- den müssen – Jahre nachdem Sie den Ausstieg aus der Es ist auch keine Antwort, wenn Sie hier erklären, Sie Atomenergie vereinbart haben –, ist ein Armutszeugnis hätten die Verantwortung für die künftigen Genera- für die Bundesregierung; sie hätte längst einen Gesetz- tionen dadurch wahrgenommen, dass Sie den Atomaus- entwurf vorlegen müssen, um ein Endlager festzulegen. stieg beschlossen haben. – Damit haben Sie Ihre Verant- wortung überhaupt nicht wahrgenommen, weil Sie auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – der einen Seite nicht sagen, wie Sie die Klimaschutz- Detlef Parr [FDP]: Heiße Luft!) ziele, die Sie sich gesetzt haben, bei einer gleichzeitigen Energieversorgungssicherheit für Deutschland erreichen Bezüglich der Frage, ob wir ein oder zwei Endlager wollen, und weil Sie auf der anderen Seite die Antwort brauchen, sagen Sie immer, man müsste sich darüber auf die Frage nach einem Endlager nach wie vor schul- einmal unterhalten. Dabei haben Sie dem AK End – aus dig bleiben. Wir müssen hier einfach feststellen, dass es ideologischen Gründen – klar ein Ein-Endlager-Kon- auch im Sinne zukünftiger Generationen dringend not- zept vorgegeben. Bis 1998 haben wir in Deutschland da- wendig ist, dass diese Fragen beantwortet werden. Dazu gegen ein Zwei-Endlager-Konzept verfolgt: zum einen werden Sie durch den Antrag aufgefordert. Deswegen für hochradioaktive Abfälle – damals mit Blickrichtung unterstützt die FDP-Bundestagsfraktion den Antrag der Gorleben –, zum anderen für schwach- und mittelradio- CDU/CSU-Fraktion. (B) aktive Abfälle – mit dem Schacht Konrad. Es gibt keinen (D) anderen Staat, der nur ein Endlager vorsieht. Alle Exper- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten sagen uns eindeutig, dass wir die beiden Abfallarten Es ist bemerkenswert, dass der Bundesumweltminis- unterschiedlich behandeln müssen und die hochradioak- ter zum wiederholten Mal in einer Debatte zu diesem tiven von den schwach- und mittelradioaktiven trennen Thema nicht spricht. Das gilt auch für die Staatssekretä- müssen. Genau daran wollen wir anknüpfen und genau rinnen. Das hat ja auch einen Grund: Sie haben natürlich hier fordern wir die Bundesregierung auf, das, was schon keine Lust, sich vor die Öffentlichkeit zu stellen und zu an Erkundung vorgenommen wurde, fortzusetzen, um sagen, dass Sie in dieser Frage nichts, aber auch gar endlich zu einem Endlager, um endlich zu einer Lösung nichts gemacht haben. Was sollen Sie hier denn auch sa- zu kommen. gen? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Seit dem Koalitionsvertrag aus dem Jahre 1998 hat Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Da schicken sich im Prinzip sieben Jahre lang nichts getan. Damals sie den Kubatschka nach vorne! – Weiterer Zu- haben Sie apodiktisch erklärt, dass ein einziges Endlager ruf von der CDU/CSU: Die verdrängen das!) ausreicht und dass das bis etwa 2030 einsatzbereit sein Es ist ganz klar und eindeutig: Sie spielen auf Zeit soll. Der vom Umweltminister eingesetzte AK End hat und verschieben das Problem der Endlager auf zukünf- selbst gesagt, dass allerspätestens im letzten Jahr ein Ge- tige Generationen. Ich sage Ihnen klar und eindeutig: setzentwurf im Deutschen Bundestag hätte verabschie- Das, was Sie hier tun, ist verantwortungslos, liebe Kolle- det werden müssen, wenn man diesen Zeitplan auch nur ginnen und Kollegen von Rot-Grün. annähernd hätte erreichen wollen. Sie haben hier im Deutschen Bundestag nichts vorgelegt. Sie haben das Wir haben natürlich nicht nur die Frage nach der La- nicht deshalb versäumt, weil Sie es nicht hinbekommen gerung der hochradioaktiven Abfälle, sondern auch die haben, sondern weil Sie es bewusst verzögern und ver- der schwach- oder mittelradioaktiven Abfälle zu beant- schleppen. Sie müssen sich gefallen lassen, dass wir Ih- worten. Hier ist die Situation so: Zwei Drittel dieser Ab- nen das vorhalten. Es ist Tatsache, dass Sie keinerlei In- fälle – das betrifft jetzt den Schacht Konrad – kommen teresse daran haben, in Deutschland wirklich ein aus dem Verantwortungsbereich des Bundes, sprich: aus Endlager zu errichten, Forschungseinrichtungen des Bundes. Nicht umsonst hat Ihre Bundesbildungs- und -forschungsministerin, Frau (Horst Kubatschka [SPD]: Das hat der Bun- Bulmahn, klar und eindeutig darauf hingewiesen, welche destag beschlossen!) Gefahren dadurch drohen, dass dieses Lager, der 16182 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Birgit Homburger (A) Schacht Konrad, nicht zur Verfügung steht und dass zwi- Es geht hier um simple Informations- und Öffent- (C) schengelagert und umkonditioniert werden muss, wo- lichkeitsarbeit. Sie verhindern, dass sich Bürgerinnen durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer zusätz- und Bürger über die Realität im Salzstock Gorleben ein lichen Strahlenbelastung ausgesetzt werden. Auf der Bild machen können. Es geht nicht um Tourismus, son- einen Seite werden Sie dadurch Ihrer Verantwortung ge- dern um Information und Transparenz. Genau diese ver- genüber diesen Mitarbeitern nicht gerecht und auf der hindern Sie. anderen Seite produzieren Sie hohe Kosten. Das hat Ih- nen der Bundesrechnungshof nicht ohne Grund gesagt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Ihnen als junger Kolle- Frau Kollegin. gin, die sich mit der Geschichte nicht beschäftigt hat, sehe ich es nach, dass sie hier eine solche Rede halten. Birgit Homburger (FDP): (Ulrike Mehl [SPD]: Woher wissen Sie das Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Die denn?) Endlagerpolitik unter Federführung von Bundesumwelt- – Ich habe das an ihrer Rede gemerkt, Frau Mehl. Wer minister Jürgen Trittin ist nicht zielgerichtet. Sie ist in- der Union die Formulierung „schnellstmöglich in Be- transparent und mit erheblichen Kostenrisiken behaftet. trieb zu nehmen“ zum Schacht Konrad vorwirft, weiß Mit anderen Worten: Sie ist eine glatte Katastrophe und nicht, dass im Jahre 1990 auf Wunsch des ehemaligen geht zulasten zukünftiger Generationen. Wir wollen das nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Rau mit ändern. Deswegen werden wir dem Antrag der CDU/ Zustimmung des jetzigen Bundeskanzlers und damali- CSU-Bundestagsfraktion zustimmen. gen Ministerpräsidenten in Niedersachsen ein Beschluss Vielen Dank. zustande gekommen ist, in dem steht: Der Bund wird aufgefordert, für nichtwärmeentwickelnde Abfälle (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – schnellstmöglich ein Endlager, Konrad, zur Verfügung Ulrike Mehl [SPD]: Da sind wir jetzt über- zu stellen. – Diese Formulierung hat im Oktober 1990 rascht! – Horst Kubatschka [SPD]: Das war Herr Rau zusammen mit Herrn Clement eines Abends jetzt neu!) am Kamin zur schriftlichen Abstimmung vorab gewählt, damit keiner mehr diskutieren muss. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie haben von der Geschichte der SPD in Sachen Die Kollegin Marianne Tritz, Bündnis 90/Die Kernenergienutzung in Deutschland und der Frage der Grünen, und der Kollege Wilhelm Schmidt, SPD-Frak- (B) Entsorgung auch nicht den Hauch einer Ahnung. Die Si- (D) tion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Deswe- tuation im Zwischenlager Gorleben, im Schacht Konrad gen rufe ich als letzten Redner in dieser Debatte den und im Zwischenlager Ahaus ist die Folge der Politik ei- Kollegen Kurt-Dieter Grill, CDU/CSU-Fraktion, auf. ner SPD-geführten Bundesregierung vom Ende der 60er- (Beifall bei der CDU/CSU – Peter Hettlich Jahre bis zum Ende der 70er-Jahre. Nichts anderes ist die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hätte sie Wahrheit. doch auch zu Protokoll geben können!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Ulrike Mehl [SPD]: Reden Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Sie doch einmal über Ihre Regierung!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der – Ja, auch darüber reden wir, Frau Mehl. Der Punkt ist, Rede der Kollegin Homburger sind mir ein paar Stich- dass wir 1979, 1981 und 1990 im Konsens mit den Mi- punkte durch den Kopf gegangen: Die Politik der Bun- nisterpräsidenten von SPD, CDU und CSU genau diese desregierung in Sachen Entsorgung ist teuer, sinnlos, Politik, die sich an diesen Standorten manifestiert, ein- falsch und verlagert die Verantwortung auf kommende stimmig beschlossen haben. Wir haben diese Beschlüsse Generationen. umgesetzt. Es ist doch nicht so, dass wir uns dieser Ver- antwortung nicht gestellt haben. Das wissen Sie doch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ganz genau. Genauso müssen Sie wissen, dass die Mär, neten der FDP) dass am Anfang der Kernenergienutzung niemand über Entsorgung nachgedacht hat, schlicht und einfach falsch Verehrte Kollegin Eickhoff, ich lade Sie als Bergbau- ist. ingenieurin herzlich ein, mit mir in den Salzstock einzu- fahren, und zwar nicht an einem Sonntag – darüber ha- In den 60er-Jahren sind in Deutschland 225 Standorte ben wir nie geredet –, sondern – die nächsten Termine, wissenschaftlich miteinander verglichen worden. Das die Herr König genannt hat, sind der 22./23. Juni dieses Ergebnis waren die fünf Salzstöcke in Gorleben. Ich Jahres – an einem Wochentag. wollte es heute eigentlich nicht sagen, aber ich will es nun doch aussprechen: Nach dem Regierungswechsel in (Georg Girisch [CDU/CSU]: Schalten Sie aber Niedersachsen sind Ihre Bundesminister im November das Licht ein!) 1976 bei Ernst Albrecht von der Minderheitsregierung gewesen und haben erklärt: Wir wollen in 14 Tagen die 1) Anlage 8 Einlösung der Zusage von Herrn Kubel, SPD, für den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16183

Kurt-Dieter Grill (A) Standort für ein nukleares Entsorgungszentrum. – Das Die Konstruktion der dezentralen Zwischenlager (C) bezog sich nicht nur auf ein Endlager, sondern auf war, was die zeitliche Dimension betrifft, so nie vorgese- 1 400 Tonnen Nuklearabfall für die Wiederaufarbeitung hen. Das ist die Realität. und 55 000 Megawatt geplante Kernenergie der Regie- (Horst Kubatschka [SPD]: Weil die Wieder- rung Schmidt in Deutschland. Das ist Ihre und nicht un- aufbereitung vorgesehen war!) sere Politik gewesen. – Ach was, das hat doch mit der Wiederaufbereitung (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Mehl nichts zu tun. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich als je- [SPD]: Wir sind aber jetzt im Jahr 2005! – mand, der davon betroffen ist, bin durchaus froh, dass es Weitere Zurufe von der SPD) dezentrale Zwischenlager gibt. Das sage ich auch zum – Entschuldigung, Sie reden doch dauernd darüber – die- Ärger mancher Freunde. Die dezentralen Zwischenlager ses Spiel haben Sie auch heute Abend gespielt –, hier sei sind ein gesellschaftspolitischer Beitrag zur Entkramp- etwas verschleppt worden. Nein, wir haben Ihre Politik fung der Transportsituation. mitgetragen. Dessen schämen wir uns auch nicht. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Die Sicher- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) heitsfrage! – Birgit Homburger [FDP]: Das stimmt!) Sie haben das, was in der Republik Konsens war, 1998 Aber die Sicherheitsfrage hat sich damit überhaupt nicht aufgekündigt, ohne eine Alternative zur Verfügung zu verändert. stellen. Das ist der entscheidende Punkt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Birgit Homburger [FDP]: So ist es!) Was Sie mit Ihrer Vergangenheit machen, mag mir Sie müssen mir die Antwort auf die Frage geben, warum egal sein. Aber Sie haben uns in Lüchow-Dannenberg unter Ihrer Regierung ein Endlager frühestens 2050 zur eine Verantwortung aufgebürdet, über die der Kanzler Verfügung steht. Schmidt gesagt hat: Die knorrigen Eichen aus dem Wendland tragen die Last der Entsorgung in Deutsch- (Horst Kubatschka [SPD]: Wir sagen 2030!) land. – Das war das Lob der SPD für die Kommunalpoli- – Sie schaffen es nicht. Herr Kubatschka, der Kollegin tiker in Lüchow-Dannenberg. Eickhoff sehe ich manches nach, weil ihr die Historie Ihre Bilanz nach sieben Jahren ist – nicht bekannt ist. (Horst Kubatschka [SPD]: Herr Grill, das wer- (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) (B) den wir im Altersheim diskutieren!) (D) – Herr Tauss ist da! Sie als jemand, der lange genug in der sozialdemokrati- (Heiterkeit bei der SPD) schen Partei Verantwortung trägt, wissen ganz genau, dass das, was Sie hier im Deutschen Bundestag vortra- Ich hatte irgendetwas vermisst, gen, nicht der Wahrheit entspricht. (Jörg Tauss [SPD]: Ich danke Ihnen!) Glauben Sie eigentlich, dass Ihre sozialdemokrati- schen Freunde im Samtgemeinderat in Gorleben alle wahrscheinlich Zwischenrufe. Ich habe aber nichts über Spinner sind, leichtsinnige Menschen? die Qualität der Zwischenrufe gesagt. (Horst Kubatschka [SPD]: Das unterstelle ich Vergegenwärtigen wir uns doch einmal, was vor dem auch den CDU-Leuten nicht!) Regierungswechsel und auch noch kurz danach gesagt worden ist: kriminelle Abfallschieberei – Originalton Sie haben zusammen mit meinen christdemokratischen von Trittin im Bundestag. Sie machen es. Früher waren Freunden in Gartow die Forderung gestellt, den Salz- es Merkels Transporte. Heute sind Sie so klein mit Hut stock so schnell wie möglich zu untersuchen, damit die vor Ort. Heute sprechen Sie nicht mehr von Trittin- Menschen in Lüchow-Dannenberg wissen, woran sie Transporten, aber es sind Trittin-Transporte. Sie nutzen sind. Zu Ihrer Regierung kann ich nur sagen: Sie haben die Entsorgungsstruktur, die in 30 Jahren aufgebaut wor- elf Zweifel aufgeschrieben. Nach sieben Jahren Regie- den ist und die Sie kritisiert haben, ohne jede Scham rung haben Sie nicht einen wissenschaftlichen Beleg für weiter. Wenn die Regierung rot und grün ist, dann ist al- die Nichteignung von Gorleben vorgelegt. les sicher, wenn die Regierung aber schwarz ist, dann ist (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Dann ha- das gleiche Bauwerk eine unsichere Angelegenheit. So ben sie 13 Zweifel!) verlogen ist Ihre Argumentation. Das ist der Kern Ihrer Politik. Sie jagen den Leuten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Angst ein, haben aber keine Lösung; Sie machen sich Horst Kubatschka [SPD]: Aber am 30. Juni ist vom Acker und nehmen Ihre Verantwortung für die Ent- das zu Ende!) sorgung der nuklearen Abfälle, die Sie selber mitverur- sacht haben, nicht wahr. Das ist der Vorwurf, den wir Ih- – Sie, Herr Kubatschka, bauen ein anderes Problem auf. nen machen. Das haben Ihnen Frau Homburger und der Kollege Bietmann nachgewiesen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 16184 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: anderthalb Jahren formuliert haben und das unsere (C) Ich schließe die Aussprache. christdemokratischen Sportkolleginnen und -kollegen et- was später in einem Antrag formuliert haben, die Unter- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- stützung von solchen gewichtigen Leuten gehabt hätten schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und wenn zu der Kampagne, die wir damals eigentlich auf Drucksache 15/4889 zu dem Antrag der Fraktion der initiieren wollten, Franz Beckenbauer oder der Präsident CDU/CSU mit dem Titel „Keine weitere Verzögerung in des Weltverbandes Fußball oder vielleicht sogar Jürgen der Frage der Entsorgung nuklearer Abfälle“. Der Aus- Klinsmann oder andere aufgerufen hätten, in vergleich- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3492 barer Art und Weise erfolgreich gewesen wären wie jetzt abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- diejenigen, die die Streetfootballworld-Kampagne unter- lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss- stützen. Ebenso habe ich überlegt, wie die Beteiligung empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge- gleich mehrerer Ministerien erreicht werden kann. genstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Ich meine, es lohnt sich darüber nachzudenken. Denn Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: der Ansatz, der in beiden Anträgen, sowohl in dem An- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- trag von der Union als auch in dem Koalitionsantrag, richts des Sportausschusses (5. Ausschuss) enthalten ist, verfolgt das Ziel, eine breitere Plattform zu schaffen für die Integration des Themas Sport und da- – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans Büttner mit der Gesundheitsprävention und vieler anderer The- (Ingolstadt), Reinhold Hemker, Lothar Binding men für die Ärmsten der Armen dieser Welt, und das zu- (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der gleich eingebunden in ein Konzept der Kulturarbeit in Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Entwicklungs- und Schwellenländern, wie wir uns das Winfried Hermann, Volker Beck (Köln), eigentlich nur erträumen können. Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Deswegen träume ich jetzt seit Dienstag wieder ein NEN bisschen, nachdem ich die wunderbaren Prospekte gese- hen habe, die von Organisationen mit herausgegeben Sportförderung in den auswärtigen Kultur- werden, die sich offiziell dem Sport in der Entwick- beziehungen ausbauen lungszusammenarbeit verschrieben haben. Ich denke – die Älteren von uns werden das noch wissen – an die – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Zeit vor über 30 Jahren zurück, als unter Minister Erhard Riegert, Peter Letzgus, Günter Nooke, weiterer Eppler Sport immer mehr zum Bestandteil der Entwick- Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU lungszusammenarbeit wurde und damit indirekt auch (B) Sportförderung des Bundes im Ausland Bestandteil der internationalen Kulturarbeit mit den (D) stärken und als Teil der auswärtigen Kultur- Schwerpunkten – ich sage das jetzt einmal für Afrika – politik begreifen Leichtathletik und Laufen, natürlich überall in der Welt Fußball und andere populäre Sportarten. Das muss man – Drucksachen 15/1879, 15/2575, 15/4691 – sich klar machen. Berichterstattung: Man muss sich einmal die Größenordnungen in der Abgeordnete Werbung für die Fußballweltmeisterschaft in Klaus Riegert Deutschland vorstellen. Ich denke, all diejenigen, die im Winfried Hermann Sport engagiert sind, sind dafür, dass wir die Fußball- Detlef Parr weltmeisterschaft hier austragen. Ich füge hinzu: Wir Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die alle – insbesondere diejenigen, die international enga- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre giert sind – freuen uns darüber, dass vier Jahre später keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. zum ersten Mal eine Fußballweltmeisterschaft in Afrika stattfinden wird, nämlich in Südafrika. Aber angesichts Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege der Größenordnungen, über die wir reden, ist es über- Reinhold Hemker, SPD-Fraktion. haupt nicht verständlich, dass sich der Etatansatz beim Auswärtigen Amt – es wird ja auch im Antrag der CDU/ Reinhold Hemker (SPD): CSU kritisiert, dass der Etatansatz so niedrig ist, nach- dem er vorübergehend ein bisschen höher war; das ha- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- ben wir ja noch vor einem Jahr diskutiert, mittlerweile gen! Ich habe mir seit Dienstag, seit der Veranstaltung sieht die Welt bzw. der Etat des Außenministers ein biss- im Auswärtigen Amt „Global Players – Fußball, Globa- chen anders aus –, wenn ich es richtig im Kopf habe, auf lisierung und Außenpolitik“, Motto des 11. Forums Glo- 2,7 Millionen Euro beläuft. Die Beträge für das ganze bale Fragen, wo ich Reiner Calmund, den früheren Ma- Drumherum und die Werbung für die Fußballweltmeis- nager von Leverkusen getroffen habe terschaft in Deutschland hingegen gehen in die zig Mil- (Detlef Parr [FDP]: Heute Fortuna Düssel- lionen. Es ist ja immer schwierig, auszurechnen, wer dorf!) jetzt gerade an welchem Standort noch Sponsoren ange- worben hat, die richtig Geld ausgeben. – ja, und einiges mehr, wie du weißt, lieber Detlef –, überlegt, dass wir, wenn wir zur Umsetzung unseres An- (Detlef Parr [FDP]: Die Werbung ist aber nicht liegens, das wir als SPD-Fraktion mit den Grünen vor nur in Deutschland!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16185

Reinhold Hemker (A) – Das ist mir klar. Deshalb sage ich auch, lieber Detlef früher die Fachverbände, das NOK, die Deutsche Sport- (C) Parr: Wenn wir dafür werben, dann können wir auch jugend oder die Landessportbünde gemacht haben. Von weltweit und verstärkt im Rahmen der Kulturarbeit da- der Resolution 55/8 der UNO aus dem Jahr 2003 wird es für werben – ich stehe ja auch dafür, dass wir das neu in dann nicht heißen: Wir haben Signale gesetzt und diese die Entwicklungszusammenarbeit einbringen – und vor Signale haben dazu geführt, dass diese Themen auch in allen Dingen auch definieren, dass der Sport nicht nur et- der politischen Arbeit verankert worden sind. Das ist was mit Sportveranstaltungen zu tun hat, sondern einen meine heutige Befürchtung, die ich auch so ausspreche. Beitrag zur Volksgesundheit in Deutschland leistet, aber Deswegen appelliere ich an die Abgeordneten aller Frak- vor allen Dingen in den Ländern der Dritten Welt Krimi- tionen, in absehbarer Zeit – wenn die ersten positiven nalitätsprävention, Aidsprävention und vieles mehr be- Ergebnisse vorliegen – vor dem Hintergrund der Zielset- deutet. zungen, die wir in den Anträgen finden, darüber zu re- den, wie es weitergehen kann. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall des Abg. Winfried Hermann [BÜND- Nicht von ungefähr heißt ja eine Werbekampagne: NIS 90/DIE GRÜNEN]) „Kick Aids“. Darunter steht: Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Das ist die Ausführungsor- – Danke, lieber Winfried, nicht nur im Kuratorium Natur ganisation für die Maßnahmen und Projekte der Ent- und Sport, sondern auch in dieser Frage sind wir uns ja wicklungszusammenarbeit Deutschlands. Da geht das meistens einig. Ich bedanke mich für diesen Einzelbei- plötzlich, weil hier eine Verbindung zum deutschen Inte- fall, der, wie ich gesehen habe, aus seinem Herzen kam. resse hergestellt wird: Werbung mit Fußball, Werbung (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des mit Weltmeisterschaft. Ich bin einmal gespannt, wie sich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das in den Jahren danach in vernünftigen Projekten nie- derschlägt, die von Sportlern geleitet werden und die Ich hoffe, dass diese fantasievollen Ansätze in einem dann auch Kinder, gerade jüngere Kinder, Mädchen und breiten, partei- und fraktionsübergreifenden Bündnis in Jungen, aus Ländern der so genannten Dritten Welt ein- die Politik eingebracht werden. Vor einiger Zeit habe ich bezieht. Ich denke, dass es für uns wichtig ist, das im der Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Kontext beider Anträge – das sage ich ganz bewusst – zu Entwicklung und auch der zuständigen Staatssekretärin sehen. Es ist ganz klar: Wenn zwei solche Anträge vor- einmal deutlich gemacht, an welchen Stellen heute liegen und in dem einen, lieber Klaus Riegert, lieber schon Methoden aus dem Bereich des Sportes einen her- Eberhard Gienger und lieber Detlef Parr, die Bundesre- vorragenden Beitrag bei der Grundbildung und bei der gierung meiner Meinung nach unberechtigterweise kriti- Erziehung von Kindern auch und gerade in der Armuts- siert wird, dann können wir, die Fraktionen von Grün situation leisten. In Südafrika gibt es Programme wie (B) (D) und Rot, diesem Antrag nicht zustimmen, sondern wer- „Sport Against Crime“, die überall kommuniziert wer- den mit unserem deutlich machen, dass wir Kontinuität den. Das zum Beispiel ist Kriminalitätsprävention; es in diesem Denk- und damit letztlich Handlungsansatz gibt aber auch – ich sehe meine liebe Kollegin Gabi ge- wollen. Wir wollen dieses Thema wieder in den Gesamt- rade lächeln – Programme zur Gesundheitsprävention. kontext von Außen- und Entwicklungspolitik einbrin- Das gibt es also nicht nur bei uns, die wir uns jetzt auf gen. den Weg machen, Gesundheitsprävention wieder weiter nach vorn zu bringen und mit Maßnahmen zu unterstüt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zen, sondern gerade auch in der Projektarbeit der Ent- DIE GRÜNEN) wicklungsländer. Im Übrigen sage ich an dieser Stelle, dass wir gerade Die Experten der Gesellschaft für Technische Zusam- jetzt nach den positiven Erfahrungen der ersten Monate menarbeit, unsere Entwicklungshelfer, die über den des UNO-Jahres für „Sport and Physical Education“, Deutschen Entwicklungsdienst ins Ausland gehen, und also des UNO-Jahres für Sport und – jetzt wird es wieder all diejenigen, die in den Entwicklungsprozessen in den schwierig, weil wir leider noch nicht das richtige deut- Ländern mithelfen und die aus dem Bereich der Kirchen sche Wort dafür gefunden haben – Körperertüchtigung, oder aus Nichtregierungsorganisationen kommen, sagen: Leibeserziehung oder wie auch immer, und nach den Weist bitte die körperliche Ertüchtigung, die Körperer- vielen guten Projektvorschlägen von Landessportbün- ziehung und damit die Gesundheitserziehung wieder den, von Fachorganisationen, von entwicklungspoliti- mehr als elementaren Bestandteil nicht nur der Kulturar- schen Aktionsgruppen heute schon absehen können, beit, sondern auch der Entwicklungszusammenarbeit dass wir am Ende des Jahres wahrscheinlich sagen kön- aus. nen, dass Deutschland, ausgehend von den Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen unter Einbeziehung (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des des Sports, einen guten Beitrag leisten wird. Dann sind BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die 700 000 Euro aus dem Etat des Innenministers gut Wir haben das in den Diskussionen im Fachausschuss ausgegeben worden. immer wieder gesagt. Wenn es in Deutschland zu he- Vor dem Hintergrund unserer beiden vorliegenden rausragenden Veranstaltungen kommt, dann wird aber Anträge sage ich aber auch, dass ich befürchte, dass es immer auf die einzelnen Maßnahmen gezeigt: „Kick dann dabei bleibt. Das war dann eine einmalige Aktion, Aids“, fair gehandelte Fußbälle, Streetfootball und was eine Beteiligung an diesem UNO-Jahr. Danach erfolgt da noch an schönen Bildern gekommen ist. Ich erinnere dann nichts Weiteres; man zieht sich auf das zurück, was an das schöne Bild von Bundestrainer Jürgen Klinsmann, 16186 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Reinhold Hemker (A) der einem jungen Burschen die Schuhe schnürt. Das sind Jahr des Regierungsantritts, aufgewandt. Auf diese Leis- (C) dann jedoch nur Werbemaßnahmen für dieses Jahr; aber tung brauchen Sie wirklich nicht stolz zu sein. Sie erwei- es gibt noch keine Nachhaltigkeit. sen dem deutschen Sport und damit unserer auswärtigen Kulturvertretung einen Bärendienst. Wenn Sie von Ein letzter Punkt. Mein Wunsch ist, dass ich mich im 700 000 Euro sprechen, die im Europäischen Jahr der nächsten Jahr an einem Fußballprojekt in dem afrika- Erziehung für Sport ausgegeben werden, frage ich mich, nischen Land Sambia beteiligen kann, das von einem für was dieses Geld ausgegeben wird. Die größten Sum- jungen Burschen mit Vornamen Clement initiiert wird, men werden für Schauveranstaltungen und die gerings- den ich auf der großen internationalen Konferenz in Bad ten Summen für Projekte ausgegeben. Boll kennen gelernt habe. Er verteilt überall da, wohin er eingeladen wird, einen kleinen Ball, ein zusammenge- (Dagmar Freitag [SPD]: Das ist doch völliger schnürtes Plastikbündel, schwarz mit weißen Fäden. Unsinn, Frau Kaupa!) Darauf steht „Football – a work for peace“. Er lädt ein, Wir von der Union bitten Sie inständig: Lassen Sie im nächsten Jahr in Sambia – nicht in Deutschland – Ba- die Sportförderung nicht in der Versenkung verschwin- sisfußballtuniere zu organisieren und diese Turniere den! Das wollen Sie, liebe Sportkolleginnen und -kolle- gleichzeitig mit Programmen gegen den Hunger zu ver- gen von Rot-Grün, doch auch nicht. Aber da Ihr Außen- binden. Wenn das funktioniert und davon sogar noch ein minister schon genug Schlamassel am Hut hat, Signal für unsere weitere Arbeit ausgeht, dann hat es sich gelohnt, dass wir die vorliegenden Anträge einge- (Dagmar Freitag [SPD]: Es wäre schön, wenn bracht haben. Dann wird es sich auch lohnen, daran noch Sie kommunikativ wären und nicht pole- ein bisschen weiter zu arbeiten. misch!) Herzlichen Dank. brauchen Sie ihm mit der auswärtigen Sportförderung nicht auch noch zu kommen und Forderungen zu stellen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Zwar müssen Sie nun schon bei Ihrem Minister bleiben, GRÜNEN und der CDU/CSU) aber mal sehen, wie lange noch. Dann reden wir noch einmal darüber. Vielleicht stimmen Sie dann einer Mit- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: telaufstockung zu. Nächste Rednerin ist die Kollegin Gerlinde Kaupa, CDU/CSU-Fraktion. Lassen Sie mich kurz aus eigener Erfahrung sprechen. Über Ostern war ich in Südafrika und habe mit Leuten gesprochen, die an Projekten im Sportbereich mitwirken. Gerlinde Kaupa (CDU/CSU): Die Bundesländer bieten dort Projekte an – das gilt we- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen (B) niger für den Bund –, bei denen die Menschen angeleitet (D) und Kollegen! Eigentlich könnte man das, worüber wir werden, wie man beispielsweise Sportplätze baut. Das heute Abend diskutieren, auf einen Nenner bringen: ist eine nachhaltige Sportpolitik, die wir unbedingt Sportpolitik ist auswärtige Kulturpolitik und damit inte- nachmachen müssen. graler Bestandteil deutscher Außenpolitik – wenn da nicht die Finanzen wären. Zur gleichen Zeit war eine Jugendgruppe aus meinen Sportkreis dort. Ich muss sagen, dass ich mehr Dialog Integraler Bestandteil Ihrer auswärtigen Kulturpolitik und mehr Verständnis füreinander vorher noch nicht er- sind nicht kontinuierliche und in jedem Haushalt wieder- lebt habe. Die Sportjugend war von der Gastfreundschaft kehrende Fördermittel, sondern ein Zusammenstreichen und der Herzlichkeit der Südafrikaner so angetan, dass der sowieso schon knapp bemessenen finanziellen Mit- der Abschied so manchem sehr schwer fiel. Bereits im tel. So kann man unsere Kultur und – damit verbunden – letzten Jahr waren die Südafrikaner bei uns in Nieder- unsere Wirtschaftskraft nicht ins Ausland tragen. Sport- bayern zu Gast. Das Wiedersehen nach einem Jahr war ler sind positive Multiplikatoren, die auch Ihre Anerken- bombastisch. nung brauchen. Von diesen Erlebnissen und Erfahrungen werden die Meine Damen und Herren von der Regierung – es ist jungen Sportler mit Sicherheit ein Leben lang erzählen. leider niemand von der Regierung anwesend; die sind Das Fazit der Reise für alle Jugendlichen war: Es fand wohl alle zu Hause oder im Untersuchungsausschuss –, das statt, was viele Politiker oft vergeblich versuchen, ich will Ihnen sagen: Von nichts kommt nichts. Auch nämlich die Verständigung zwischen den Kulturen Ihre Träume, Herr Kollege, die Sie in Bezug auf Sport und Rassen. haben, müssen finanziert werden. Die deutsche Sportför- derung ist das beste Beispiel dafür, dass mit geringem Bei uns daheim findet dieser Austausch bei allen An- Finanzaufwand stets eine große Wirkung erzielt wer- klang und positive Unterstützung. Familien, Kommunen den kann. Nehmen Sie unseren Rat an und schöpfen Sie und Sponsoren unterstützen diesen Austausch. Warum? endlich wieder das Potenzial des Sports aus! Haben Sie Sie haben den Wert, die Werbung, die Wichtigkeit und endlich wieder Vertrauen in die deutsche Sportförderung den Stellenwert des Sports erkannt. In Südafrika wird im Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik und nehmen uns gesagt, dass die deutsche Sportförderung viele posi- Sie Abstand von den permanenten Finanzstreichungen! tive Aspekte mit sich brachte und die Kinder und Ju- Es reicht! gendlichen sehr dankbar für dieses deutsche Engage- ment sind. 2,7 Millionen Euro weniger haben Sie von 1998 bis zum vergangenen Jahr, ausgehend von der Summe im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16187

Gerlinde Kaupa (A) Denn die internationale deutsche Sportförderung holt die Politik dies zur Kenntnis nimmt und daraus Konse- (C) die Kinder von der Straße. Die Kinder blühen auf, wenn quenzen zieht. sie in ihrem sportlichen Eifer gefördert werden und ihnen eine Zukunftsperspektive gegeben wird. Sie profitieren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von dem geregelten Leben und verbessern ihre Lebenssi- und bei der SPD) tuation. Das gilt übrigens auch für die Familienangehöri- Denn Sport kann ganz offensichtlich Brücken schlagen. gen. Der sportliche Jugendaustausch trägt goldene Durch Sport kann dazu beigetragen werden, dass Kon- Früchte. Es gibt keine friedvollere Völkerverständigung takte geknüpft werden, wie dies in anderen Kulturfor- als den Jugendaustausch besonders im sportlichen Be- men so nicht möglich ist, weil vielfach die Menschen reich. Die Sprache des Sports verstehen alle. nicht erreicht werden. Sport erschließt einfach ganz an- Doch das alles hilft nichts, wenn es keine langfristi- dere Gruppen von Menschen, vor allem junge Men- gen Perspektiven ohne Unterbrechung gibt. Nur nach- schen. Das ist auch gut so; das ist eine Chance. Sport ist haltige Projekte zeigen wirklich in die Zukunft und hel- übrigens längst international eine Kulturform, ohne fen. Kurzfristige Geldgaben bringen gar nichts. Für die dass dies die Politik wahrnimmt und nutzt. Der Sport ist betroffenen Entwicklungsländer ist die Verlässlichkeit wahrscheinlich eines der ganz frühen globalen kulturel- und die Nachhaltigkeit der Sportförderung eine Ga- len Phänomene. Insofern tut die Politik gut daran, dies rantie für den Auf- und Ausbau ihrer sportlichen Infra- endlich in Konzepte umzusetzen. Dazu später mehr. struktur und für die Aus- und Weiterbildung ihrer Sport- Welche Chancen sehen wir, wenn wir sagen, wir wol- ler. Andauernde Garantie bedeutet für die dortigen len Sport in die auswärtige Kultur- und Entwicklungspo- Kinder und Jugendlichen, nach vorne blicken zu können und einem Idol aus ihrem Land nachzueifern. Wichtig ist litik einbauen? hierbei auch die Sportförderung der Mädchen. Wenn wir Sport bietet zuallererst eine Chance, einen Beitrag zur natürlich in erster Linie Fußball und Boxen anbieten, zivilgesellschaftlichen Struktur zu leisten bzw. eine können wir nicht damit rechnen, bei den Mädchen einen Zivilgesellschaft überhaupt erst aufzubauen. Denn Sport großen Zulauf zu finden. ist Selbstorganisation, das machen Menschen zusam- (Dagmar Freitag [SPD]: Haben Sie schon ein- men; dazu brauchen sie keinen Staat, da handeln sie ein- mal gehört, dass auch Mädchen Fußball spie- fach gemeinsam. len?) Sport ist – Kollege Hemker hat das schon ausge- – Ich weiß, dass auch Mädchen Fußball spielen. Aber führt – natürlich auch weltlich bildend, nicht nur charak- schauen Sie sich einmal die Zahlen an! Der Deutsche terlich, sondern auch körperlich, geistig und intellektuell (B) Turner-Bund hat viel eher Angebote für Mädchen. Wenn und ist eigentlich im besten Sinne ein Kernelement ei- (D) man verschiedene Zielgruppen ansprechen will, muss nes modernen Bildungssystems. Insofern meine ich, man auch verschiedenste Angebote machen. dass Breitensport, Gesundheitssport und Schulsport ein wichtiges Element auswärtiger Kulturpolitik sein müs- Zum Schluss möchte ich an Sie appellieren: Hören sen. Sie endlich auf mit der planlosen Zusammenstreichung des Etats und damit, so zu tun, als würden wir nicht be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN merken, wie wenig wichtig Ihnen die Kultur und der und bei der SPD sowie des Abg. Eberhard Sport sind! Wir bemerken es doch und klopfen Ihnen im- Gienger [CDU/CSU]) mer wieder auf die Finger. Sport ist in jedem Fall soziales Lernen bezüglich He- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rausbildung von Teamgeist und bezüglich Zusammen- wirken, Streiten und Kämpfen unter geregelten Bedin- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gungen. Sport als Beitrag zum Erlernen von sozialen Regeln bietet insofern eine hervorragende Inkultura- Das Wort hat der Kollege Winfried Hermann, tionsmöglichkeit von Regelwerken und Gesetzen. Sport Bündnis 90/Die Grünen. ist damit eigentlich ein Beitrag zum Erlernen von Demo- kratie. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe (Detlef Parr [FDP]: Das hätten wir in Deutsch- Sportsfreunde! Lange ist der Sport verkannt worden. land am besten auch in die Erziehung einbauen Man hat übersehen, dass der Sport auch eine Dimension sollen!) auswärtiger Kulturpolitik darstellt. Vielleicht gab es zu Sport fördert natürlich auch die Fähigkeit, Konflikte viele, die auf die traditionelle deutsche Kultur gesetzt friedlich und sportlich auszutragen und dabei Fairness haben, als man auswärtige Kulturpolitik betrieben hat. zu entwickeln. Es hat lange gedauert, bis man gemerkt hat, dass viele Fußballer aus Deutschland im Ausland weit berühmter Das sind nur vier Elemente, von denen ich glaube: sind als große Poeten, Lyriker oder auch Musiker. Das ist sinnvoll, da müssen wir mehr machen – etwa durch die Gestaltung vieler Projekte. Heute sehen wir, dass der Sport und die Sportler in er- heblichem Maße das Bild Deutschlands und der Deut- Frau Kollegin Kaupa, Sie haben, wie ich finde, zu schen im Ausland prägen. Ich glaube, es ist klug, wenn Unrecht das internationale Jahr und die Projekte be- 16188 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Winfried Hermann (A) schimpft; denn dadurch werden zahlreiche kleine und in- Kernvoraussetzungen für die Bewilligung der Projekte (C) teressante Projekte gefördert. seitens des BMI im Rahmen dieses Jahres sind Integra- tion, Internationalität und Toleranz. Gerade in dieser (Gerlinde Kaupa [CDU/CSU]: Aber man hätte Hinsicht ist es wichtig, den Sport so weit wie möglich viel mehr daraus machen können!) als Brücke für internationale Integration zu nutzen, zum Es ist richtig: Würden wir dabei stehen bleiben, dann Beispiel innerhalb der auswärtigen Kulturbeziehungen. wäre das zu wenig. Diese Kritik teilen wir; das war auch Für viele Menschen, gerade in den ärmeren Ländern der Grund für unsere parlamentarische Initiative. Wir sa- der Welt, ist die durch uns erbrachte Unterstützung le- gen: Wir brauchen mehr, wir brauchen nicht nur Einzel- bensnotwendig. Wir müssen den Bedürfnissen dieser projekte, sondern wir brauchen ein umfassendes Länder entgegenkommen und damit auch weltweite An- Gesamtkonzept, das den Sport in Entwicklungszusam- erkennung für unsere Programme gewinnen und gegen- menarbeit und in auswärtige Kulturpolitik integriert. Wir seitiges Vertrauen aufbauen. brauchen eine systematische Entwicklung von Projekten und – da gebe ich Ihnen Recht – wir brauchen ein lang- In den nächsten Monaten ist eine Reihe von Maßnah- fristig angelegtes Konzept und eine langfristige Finan- men geplant, um uns international zu positionieren. Die zierungsperspektive. Denn eines ist klar: Im Bereich der meisten Maßnahmen werden im Rahmen der Fußball- Entwicklungszusammenarbeit ist mit einem Jahr nichts WM 2006 durchgeführt. Das Motto „Die Welt zu Gast getan, da geht es um zehn, 20 oder 30 Jahre. bei Freunden“ muss mit Leben erfüllt werden. Werbung dafür findet nicht zuletzt jenseits unserer nationalen (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Wer regiert Grenzen statt. eigentlich?) (Beifall bei der FDP) Ich plädiere sehr dafür, dass wir die Sportförderung in die Finanzierung einbauen, die wir für Entwicklungszu- Dabei ist die Nachhaltigkeit der aufgeführten Maßnah- sammenarbeit gewähren. Wenn wir die Mittel im Be- men eine wichtige Messlatte. Es bleibt zu hoffen, dass reich der Entwicklungszusammenarbeit in den kommen- alle genannten Projekte und Vorhaben diesen Anspruch den Jahren systematisch erhöhen wollen, dann muss erfüllen. daran auch der Sport partizipieren. Die heutigen Erfolge vieler Entwicklungsländer bei Nun fragen Sie zu Recht dazwischen: Wer regiert ei- unterschiedlichen Sportveranstaltungen zeigen, dass die gentlich? In der Tat, das ist auch unsere Kritik. Der Be- Entwicklungszusammenarbeit nachhaltig und effektiv reich der sportlichen Entwicklungszusammenarbeit ist in gewesen ist. Das ist sicherlich richtig, Herr Herrmann, den letzten Jahren – sowohl unter Rot-Grün, aber auch in auch wenn sie noch nicht ausreichend ist, wie Sie zu (B) den 14 bis 16 Jahren zuvor unter der vorherigen Bundes- Recht angemerkt haben. (D) regierung – systematisch heruntergefahren worden. Darüber hinaus werden in Zukunft manche dieser Heute sind wir im Bereich der Entwicklungszusammen- Länder Austragungsorte für Großveranstaltungen sein. arbeit auf diesem Gebiet leider bei null angelangt. Wir Kollege Hemker hat auf die übernächste Fußball-WM haben das teilkompensiert durch eine Stabilisierung im hingewiesen, die – sicherlich auch als eine Anerkennung Bereich der auswärtigen Kulturarbeit. Dort haben wir für die sportlichen Erfolge des gesamten afrikanischen die Mittel zum Teil erhöht. Wir haben die Finanzierung Kontinents – in Südafrika stattfindet. von Trainerlehrgängen dauerhaft sichergestellt und zum Teil auch erhöht. Das ist aus unserer Einsicht heraus ins- (Beifall des Abg. Reinhold Hemker [SPD]) gesamt aber zu wenig. Wir wollen mehr. Unter diesen geänderten Rahmenbedingungen ist es Wir wollen mit dem vorliegenden Antrag einen An- wichtiger denn je, dass die Bundesrepublik international stoß dazu geben, dass in den kommenden Jahren ein Ge- im Sport präsent ist. Das gilt für die politische Ebene, samtkonzept für die sportpolitische Entwicklungszusam- aber auch für die Ebene der internationalen Fachver- menarbeit gemeinsam mit dem Sport erarbeitet wird. Ich bände, auf der Deutschland stärker vertreten sein könnte. wünsche mir sehr, dass wir, die Opposition wie auch die Regierungsfraktionen, gemeinsam für mehr Mittel und Die vorliegenden Anträge weisen viele Gemeinsam- für eine langfristige Orientierung kämpfen. keiten auf. Sie erkennen die Wichtigkeit des Sports als ein Mittel an, um wichtige Werte zu vermitteln. Der An- Danke schön. trag der CDU/CSU-Fraktion geht über diese Lyrik hi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ naus auf die Finanzierungsproblematik der Vorhaben DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ein. Der Antrag der Regierungskoalition dagegen ver- CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: Vertauschte schweigt leider, dass für die Sportförderung im Rahmen Rollen!) der auswärtigen Kulturpolitik nicht in dem Maße Zu- wendungen erfolgen, wie wir alle uns dies wünschen. Auch aus diesem Grund können wir nur dem Antrag der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: CDU/CSU zustimmen, da der darin postulierte Ansatz Das Wort hat der Kollege Detlef Parr, FDP-Fraktion. unseren Vorstellungen entspricht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Detlef Parr (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2005 SPD und Grüne sprechen leider nur von der Bereit- befinden wir uns gerade im UNO-Jahr des Sports. Die stellung angemessener Mittel und lassen offen, ob sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16189

Detlef Parr (A) darunter die internationale Sportförderung auf dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) Niveau von 1998 oder auf dem gekürzten Niveau von Sie haben also die Mittel für die Sportförderung im 2003 meinen. Das findet nicht unsere Zustimmung. Rahmen der ausländischen Kultur- und Entwicklungs- Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung zu der Rede politik um mehr als 2 Millionen Euro gekürzt. Diese von Reinhold Hemker. Lieber Reinhold, du hast zu Entscheidung der Bundesregierung hat zur Folge, dass Recht das Motto „Football – a work for peace“ ange- das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen- sprochen. Die FDP-Fraktion hat im Rahmen des UN- arbeit und Entwicklung die Unterstützung nationaler Jahres des Sports ein Projekt angemeldet, mit dem Nord- Sportmannschaften im Ausland durch deutsche Traine- korea, Südkorea und Deutschland zusammengeführt rinnen und Trainer ganz einstellen will. Ich frage Sie, werden sollen und über den Sport eine Brücke zur ge- mit welcher Begründung. Das trägt sicherlich nicht zum genseitigen Verständigung geschaffen werden soll. Ich Ansehen der Bundesrepublik Deutschland als Sportna- würde mir wünschen, dass wir über die bereits beschlos- tion bei und zeigt, dass die Regierung im Rahmen der senen UN-Projekte hinaus ein solches international be- auswärtigen Kulturpolitik und der Entwicklungszusam- deutendes Projekt auf die Beine stellen könnten, und menarbeit die internationale Sportförderung nur halbher- würde mich über die Unterstützung der Kolleginnen und zig betreibt. Kollegen sehr freuen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herzlichen Dank. neten der FDP) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Ich frage Sie: Warum soll eine seit Jahrzehnten eta- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE blierte Sportförderung im Ausland gerade in den Ent- GRÜNEN) wicklungs- und Schwellenländern sowie nicht zuletzt in Krisengebieten durch eine Schmälerung der Etats der da- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: für zuständigen Ministerien gefährdet werden? Das ist, Das Wort hat der Kollege Eberhard Gienger, CDU/ wie ich finde, unverantwortlich; denn dem Sport und sei- CSU-Fraktion. nen Organisationen kommt eine herausragende Bedeu- tung zu. Sie sind nicht nur Mittler und Botschafter, die der Sympathiewerbung für die Bundesrepublik Eberhard Gienger (CDU/CSU): Deutschland dienen, sondern sie haben auch die Mög- Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen lichkeit, auf die internationalen Verbände Einfluss zu und Kollegen! Nicht nur im Ausland stellt der Sport ein nehmen. friedenspolitisches Instrument dar, sondern auch im Ich habe ebenfalls an der von Reinhold Hemker ange- (B) Parlament des Deutschen Bundestages eint das Thema (D) Sport die etablierten Parteien. Wir verfolgen das gemein- sprochenen Veranstaltung am vergangenen Montag teil- same Ziel, Sport auch als Mittel der Konfliktprävention genommen und habe dabei den ehemaligen Fernsehjour- und der Konfliktbewältigung im Ausland einzusetzen. nalisten Holger Obermann getroffen, der mittlerweile Wie schon öfter angeklungen, stellt die Finanzierung den anerkannter Sportentwicklungshelfer und Fußballlehrer einzigen Streitpunkt dar. in Entwicklungsländern ist. Ich habe ihn gefragt, wel- ches das Ergebnis seines Tuns in den Entwicklungslän- Deutschland zählt zu den weltweit führenden Sport- dern ist. Er hat gesagt: Das ist die beste Werbung für nationen und bringt auch in sportpolitischer Hinsicht Deutschland seine Erfahrungen immer wieder ein. Damit leistet Deutschland einen wichtigen Beitrag für die Entwick- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lung des Sports innerhalb und außerhalb Europas. und setzt obendrein enorme soziale Kräfte frei. Deswe- Um der Verantwortung Deutschlands als Sportnation gen finde ich, dass die angemessene Bereitstellung von gerecht zu werden, fordern wir die Bundesregierung auf, finanziellen Mitteln zur Förderung des Sports in der die dafür erforderlichen Mittel in den Etats des Auswär- dritten Welt ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung tigen Amtes und des Bundesministeriums für wirtschaft- sportlicher Strukturen und Organisationen sowie zur liche Zusammenarbeit und Entwicklung zu erhöhen. Entwicklung von Trainingsmethoden und praktischer Sportausübung im Ausland ist. In diesem Bereich ist die Mit der Regierungsübernahme von Rot-Grün wurden Sportförderung mit dem Einsatz öffentlicher Mittel ein die Mittel für die internationale Sportförderung konti- Beispiel für Subsidiarität, da sie in Hilfe zur Selbsthilfe nuierlich zurückgefahren. Der Etat des Auswärtigen mündet. Amtes zur Sportförderung betrug 1998 und 1999 noch jeweils 3,2 Millionen Euro. 2000 begann der Rückgang Von herausragender Bedeutung ist, abgesehen von der auf 2,75 Millionen Euro, der sich bis 2005 fortgesetzt gesundheitlichen Perspektive und der Stärkung der Bil- hat. Lediglich 2004 wurde noch einmal das Niveau von dung, dass Sport auf internationaler Ebene Menschen 1998 erreicht. Noch schlimmer sieht es im Bundesminis- zusammenführt und einen friedlichen Dialog zwischen terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- ethnischen Gruppen bewirkt. Als Beispiel sei hier ein wicklung aus: 1999 wurden für die Sportförderung rund Fußballspiel genannt, das vor einem Jahr zwischen 225 000 Euro eingesetzt. Im Jahr 2005 war die Förde- Israeliten und Palästinensern durchgeführt wurde. Die rung plötzlich bei Null angelangt. – Das ist die Bilanz Jugendlichen, die dieses Spiel bestritten haben, haben der vergangenen sechs Jahre. Große Sprüche ersetzen nachher, als sie interviewt wurden, gesagt, sie seien stolz dabei keine finanziellen Mittel. darauf, zum Aufbau des Friedens beitragen zu dürfen. 16190 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

Eberhard Gienger (A) Daran lässt sich doch deutlich erkennen, dass der Sport Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus- (C) hilft, Brücken zu bauen bzw. zu schlagen, zur Erziehung schusses auf Drucksache 15/4691. Der Ausschuss emp- beiträgt und die Hoffnung auf einen friedvollen Umgang fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die An- miteinander nährt. nahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/1879 mit Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wie dem Titel „Sportförderung in den auswärtigen Kulturbe- wollen Sie die Sportförderung im Ausland als Teil der ziehungen ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschluss- auswärtigen Kulturpolitik stärken, was ja unser gemein- empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- sames Ziel ist, bzw. sogar, wie es in Ihrem Antrag steht, schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition ausbauen, wenn Sie gleichzeitig die Mittel dafür redu- bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP ange- zieren bzw. die Förderung ganz einstellen? Das ist, wie nommen. ich finde, nicht glaubwürdig. Trotz der schwierigen Haushaltssituation müssen wir die Sportförderung im Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Ausland auf angemessenem Niveau weiterführen. Die der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Argumente dafür habe ich Ihnen bereits genannt. Unse- der CDU/CSU auf Drucksache 15/2575 mit dem Titel ren Antrag aber hat die rot-grüne Koalition im Aus- „Sportförderung des Bundes im Ausland stärken und als schuss mit der Begründung abgelehnt, dass er keine Vor- Teil der auswärtigen Kulturpolitik begreifen“. Wer schläge zur weiteren Vorgehensweise enthalte. Diese stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenpro- Aussage erscheint mir fadenscheinig. Sie machen es sich be! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist wie- hier etwas zu leicht; denn erstens stehen Sie als Regie- derum mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstim- rung in der Verantwortung und zweitens gibt es keine men der CDU/CSU und der FDP angenommen. gute Regierungsarbeit, wenn Sie die Mittel einfach redu- Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: zieren, anstatt eine attraktive Finanzierungsmöglichkeit zu bieten. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Auch in der Entwicklungspolitik sprechen Sie mit ge- sammenarbeit und Entwicklung (18. Ausschuss) spaltener Zunge. Zwar haben erst vor kurzem Außen- zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar minister Fischer und der UN-Botschafter Pleuger gegen- Schmidt (Meschede), Karin Kortmann, Detlef über der UN eine Erhöhung des deutschen Anteils an der Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Entwicklungshilfe von 0,3 auf 0,7 Prozent des Brutto- Fraktion der SPD, der Abgeordneten Christa sozialproduktes bis 2014 zugesagt, aber Minister Eichel Reichard (Dresden), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf hat sie wieder zurückgepfiffen. Ich kann Ihnen versi- Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Frak- (B) chern, dass sich die Sportförderung im Ausland refinan- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten (D) ziert; denn dank des Einflusses von Vertretern des Undine Kurth (Quedlinburg), Thilo Hoppe, deutschen Sports im Ausland können wir Sportgroßver- Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und anstaltungen nach Deutschland holen, was zu positiven der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ökonomischen Ergebnissen führen wird. NEN Biologische Vielfalt schützen und zur Armuts- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bekämpfung und nachhaltigen Entwicklung Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern? nutzen – Drucksachen 15/4661, 15/5337 – Eberhard Gienger (CDU/CSU): Berichterstattung: Ich komme zum Schluss, verehrte Frau Präsidentin. Abgeordnete Dagmar Schmidt (Meschede) (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Aber einen Christa Reichard (Dresden) ordentlichen Abgang!) Thilo Hoppe Ulrich Heinrich – Der Abgang folgt auf dem Fuße. Die Rednerinnen und Redner Dagmar Schmidt (Me- Ich möchte der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass es schede), Christa Reichard (Dresden), Thilo Hoppe und beim nächsten Mal gelingen wird, einen gemeinsamen Ulrich Heinrich haben ihre Reden zu Protokoll gege- Antrag zu formulieren. Diesem Wunsch, den Winfried ben.1) Hermann ausgesprochen hat, möchte ich beipflichten. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Ich hoffe, dass es uns in der kommenden Legislaturperi- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- ode gelingt, einen solchen Antrag zu formulieren – zum wicklung auf Drucksache 15/5337 zu dem Antrag der Wohle des Sports! Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des Schönen Dank. Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Biologische Vielfalt schützen und zur Armutsbekämpfung und nach- (Beifall im ganzen Hause) haltigen Entwicklung nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/4661 in der Ausschuss- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache. 1) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16191

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) fassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss- Ströbele und Ulrich Heinrich haben ihre Reden zu Proto- (C) empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- koll gegeben.1) schlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Hauses angenommen. Drucksache 15/5324 an die in der Tagesordnung aufge- Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Beratung des Antrags der Abgeordneten so beschlossen. Dr. Conny Mayer (Freiburg), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Abgeordneter und Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- der Fraktion der CDU/CSU ordnung. Togos Weg in die Demokratie unterstützen – Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Afrikanische Union (AU) und ECOWAS beim destages auf morgen, Freitag, den 22. April 2005, 9 Uhr, Engagement für Demokratie, Menschenrechte ein. und Rechtsstaatlichkeit unterstützen Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen – Drucksache 15/5324 – Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch den Besu- cherinnen und Besuchern auf der Tribüne einen schönen Überweisungsvorschlag: Abend. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Die Sitzung ist geschlossen. Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (Schluss: 21.28 Uhr) Die Rednerinnen und Redner Gabriele Groneberg, Anke Eymer (Lübeck), Dr. Conny Mayer, Christian 1) Anlage 10

Berichtigung

(B) 171. Sitzung, Seiten IV, V und 16037, Anlagen 2 bis 4: (D) „Staatsminister für Europa Hans Martin Bury“ ist durch „Staatssekretär Dr. Klaus Scharioth“ zu ersetzen.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16193

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 schrieben: „Der Bundesgrenzschutz ist eine Polizei des Bundes, deren Aufgaben sich längst nicht mehr auf den Liste der entschuldigten Abgeordneten klassischen Schutz der Grenzen beschränkt. Die beste- hende Bezeichnung Bundesgrenzschutz wird der tat- sächlichen Aufgabenvielfalt nicht mehr gerecht.“ Das entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Zitat belegt: Es geht nicht nur um einen neuen Namen, sondern vor allem darum, den Umbau des Bundesgrenz- schutzes zu legitimieren. Das lehnen wir ab. Dominke, Vera CDU/CSU 21.04.2005 Die Forderung nach einer einheitlichen Bundespolizei Griefahn, Monika SPD 21.04.2005 wird seit den 70er-Jahren immer wieder erhoben. Sie wurde ebenso oft abgelehnt, nicht zuletzt mit Verweis Heller, Uda Carmen CDU/CSU 21.04.2005 auf das Grundgesetz und die darin beschriebene Aufga- Freia benteilung. Das Grundgesetz ist für Bundesinnenminis- ter Schily aber offenbar irrelevant. In einem „Stern“-In- Letzgus, Peter CDU/CSU 21.04.2005* terview meinte er 2004: „Die Verfassungsväter konnten sich eine Bedrohung wie die durch den islamistischen Marschewski CDU/CSU 21.04.2005 Terrorismus nicht vorstellen. Damit muss ich mich be- (Recklinghausen), fassen, nicht mit der Situation vor 50 Jahren.“ Erwin Wir stellen fest: Das Grundgesetz gilt. Wer es ändern Pieper, Cornelia FDP 21.04.2005 will, soll das offen fordern, begründen und um entspre- chende Mehrheiten werben. Das aber tut der für den Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 21.04.2005 Verfassungsschutz zuständige Bundesminister nicht. Er ignoriert das Grundgesetz und versucht, es zu unterlau- Dr. Ruck, Christian CDU/CSU 21.04.2005 fen. Dagegen ist die PDS im Bundestag. Mit unserem Nein zum aktuellen Antrag schützen wir das Grundge- Scharping, Rudolf SPD 21.04.2005 setz erneut. (B) (D) Teuchner, Jella SPD 21.04.2005 Wir lehnen den Umbau des Bundesgrenzschutzes grundsätzlich ab und wir verweisen zugleich auf die weit Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 21.04.2005 reichenden Folgen, die damit verbunden sind: DIE GRÜNEN Mit der neuen Regelung werden auch verschiedene Vogel, Volkmar Uwe CDU/CSU 21.04.2005 Küstenstädte reguläres Einsatzgebiet der neuen „Polizei des Bundes“. Sky Marshals werden an Bord deutscher Flugzeuge im internationalen Einsatz sein. Kurzum: Die Wicklein, Andrea SPD 21.04.2005 im Grundgesetz aus guten Gründen nicht vorgesehene Bundespolizei erhält nach innen Befugnisse, die den * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Ländern vorbehalten sind, und sie darf nach außen welt- weit agieren. Außerdem verfügt die neue Bundespolizei über enthemmte Vollmachten. Sie darf „verdachtsunab- hängig“ agieren und eingreifen. Das widerspricht dem Anlage 2 Rechtsstaatsgebot. Auch deshalb lehnen wir das Gesetz ab. Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Petra Pau und Dr. Gesine Schließlich: Die föderalen Strukturen der Bundes- Lötzsch (beide fraktionslos) zur Abstimmung republik Deutschland, das Trennungsgebot, das Verbot über den Entwurf eines Gesetzes zur Umbenen- einer Bundespolizei und andere libertäre Grundsätze ka- nung des Bundesgrenzschutzes in Bundespolizei men als Lehre aus der NS-Zeit ins Grundgesetz. Ausge- (Tagesordnungspunkt 25 b) rechnet zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschis- mus müssen wir festhalten: Demokratischen Strukturen, Wir stimmen gegen das Gesetz zur Umbenennung des die nach 1945 eingeführt und gefördert wurden, werden BGS in Bundespolizei. Die Wandlung des BGS zur immer mehr „präventiv“ geopfert. Bürgerrechte, ein ver- „Polizei des Bundes“, die hier ohne Aussprache vollzo- brieftes und zugleich gern hofiertes Markenzeichen der gen wird, ist keine schlichte Namensänderung. Sie ist Bundesrepublik Deutschland, verwaisen. aus unserer Sicht der Vollzug eines schleichenden, aber planmäßigen Verfassungsbruchs. Insofern wurde in der Dagegen ist die PDS. Dagegen ist die PDS im Bun- Vorlage, die zur Abstimmung steht, durchaus ehrlich be- destag. Deshalb werden wir mit Nein stimmen. 16194 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Anlage 3 bei deren Zulassung zum Handel zu veröffent- (C) lichen ist, und zur Änderung der Richt- Erklärung linie 2001/34/EG (Prospektrichtlinie-Umset- des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) zur zungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 11) Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Zweiten Nina Hauer (SPD): Das Prospektrichtlinie-Umset- Gesetz zur Änderung des Seemannsgesetzes zungsgesetz wird oft als Meilenstein auf dem Weg zur und anderer Gesetze (Zusatztagesordnungs- Vollendung des europäischen Binnenmarktes im Wert- punkt 13 a) papierbereich bezeichnet. Ich meine: zu Recht. Ludwig Stiegler (SPD): In den abschließenden Ver- Was sind die Gründe hierfür? Erstens. Wir werden handlungen des Vermittlungsausschusses am 21. April erstmalig in Europa einen echten Pass für Wertpapiere 2005 ist eine Protokollerklärung der Bundesregierung haben. Der von der Bundesanstalt für Finanzdienstleis- vereinbart worden. Diese Protokollerklärung gebe ich tungsaufsicht, der BaFin, gebilligte Prospekt wird EU- nachfolgend zur Kenntnis: weit gelten. Deutsche Emittenten werden nicht nur in Deutschland, sondern auch in allen anderen 24 Mitglied- „Die Bundesregierung erklärt sich bereit, die Ausbil- staaten der Europäischen Union sowie in Island, Nor- dungszeit bei Weiterbildungsmaßnahmen in der Alten- wegen und Liechtenstein ihre Wertpapiere anbieten kön- pflege mit dem Ziel einer Verkürzung auf zwei Jahre nen. ernsthaft zu überprüfen.“ Zweitens. Die Emittenten in Deutschland genießen den Vorteil, dass sie nicht mehr verschiedene Stellen für die Prüfung eines Prospekts anlaufen müssen. Mit der Anlage 4 bisherigen Zersplitterung der Zuständigkeiten für die Prüfung von Prospekten – BaFin einerseits für öffent- Zu Protokoll gegebene Rede liche Angebote, die sieben Börsenzulassungsstellen für zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Börsenprospekte – wird Schluss gemacht. Die Kleinstaa- Änderung des Grundgesetzes (Art. 23) zur Ein- terei ist vorbei! Die BaFin wird zentrale Prüfungsstelle führung eines Volksentscheids über eine euro- für sämtliche Prospekte. päische Verfassung (Tagesordnungspunkt 10) Drittens. Bei der Sprache, in der die Prospekte abge- fasst werden, haben wir im Finanzausschuss eine ent- (B) Petra Pau (fraktionslos): Wir beraten heute zum wie- scheidende Verbesserung vorgeschlagen. Mit einer (D) derholten Male über das Thema Volksabstimmung und einvernehmlich beschlossenen Änderung wird sicherge- die Änderung des Grundgesetzes. Konkret geht es da- stellt, dass deutsche Emittenten den Prospekt nach ihrer rum, den Weg für eine Abstimmung über den Vertrag zur Wahl in Deutsch oder Englisch abfassen können: Die Europäischen Verfassung frei zu machen BaFin muss einen englischsprachigen Prospekt ebenso prüfen wie einen deutschsprachigen Prospekt. FDP und PDS wollen eine Volksabstimmung. SPD, die Grünen sowie die CDU/CSU sind dagegen. Dabei Aus Gründen des Anlegerschutzes haben wir jedoch hätte alles so schön sein können; denn SPD und Bünd- vorgesehen, dass im Falle eines englischsprachigen nis 90/Die Grünen haben zu Protokoll gegeben, man Prospekts immer eine Zusammenfassung in deutscher „habe große Sympathien für das Anliegen“, Aber leider Sprache vorliegen muss. Der Ausgleich zwischen den habe die CDU/CSU kein Angebot unterbreitet, das Ple- Interessen der Emittenten einerseits und der Anleger an- biszite grundsätzlich ermöglicht. Die CDU/CSU gab zu dererseits ist gelungen. Protokoll, man hege große „Sympathie für die Idee eines Viertens. Im Finanzausschuss haben wir uns zudem Volksentscheides über die EU-Verfassung“. Aber das dafür eingesetzt, dass das Bookbuilding-Verfahren wei- europapolitische Gewicht Deutschlands erfordere Bere- terhin möglich bleibt. Auch damit wird ein Gleichge- chenbarkeit und klare Verantwortlichkeit. wicht zwischen Anlegerschutz und dem Interesse des Ergo: Unbändige Sympathie für mehr Demokratie, deutschen Finanzmarktes gewahrt. Beide Seiten wollen aber von Zuneigung keine Spur. SPD und Grüne haben an der Beibehaltung eines international üblichen und als damit ein weiteres Wahlversprechen beerdigt. sinnvoll anerkannten Verfahrens zur Preisermittlung bei Neuemissionen festhalten. Fünftens. Schließlich haben wir Änderungen beim Anlage 5 Widerrufsrecht vorgenommen. Natürlich ist das Wider- rufsrecht ein Schutz für den Anleger. Das Widerrufsrecht Zu Protokoll gegebene Reden soll aber ausdrücklich nicht auf bereits erfüllte Rechts- geschäfte anwendbar sein. Das gibt nicht nur den Emit- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur tenten Rechtssicherheit, sondern verhindert auch die Be- Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EG des Euro- nachteiligung von Derivaten. päischen Parlaments und des Rates vom 4. No- vember 2003 betreffend den Prospekt, der beim Im Finanzausschuss haben wir über die Fraktions- öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder grenzen hinweg den Gesetzentwurf konstruktiv und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16195

(A) sachlich beraten und beschlossen. Dafür bedanke ich Bei der Bedeutung und dem Namen, den Deutschland (C) mich herzlich bei meinen Kollegen und Kolleginnen. an dieser Stelle genießt, und in einer Zeit, wo wir an an- derer Stelle sehr stark an Wirtschaftskraft und Prestige Wenn wir heute den Gesetzentwurf der Bundesregie- einbüßen, sollten unser Selbstbewusstsein und unsere rung gemeinsam verabschieden, setzen wir auch ein Stärken in das Gesetz einfließen können und auch bishe- Stück Tradition in der Geschichte der einvernehmlichen rige Regelungen, sofern sie Vorgänge erschwerten, zu- Kapitalmarktpolitik fort. Dies ist aus meiner Sicht be- mindest einer Prüfung auf die Zukunft unterzogen wer- sonders wichtig: Wir stehen mit anderen europäischen den können. Finanzplätzen im Wettbewerb. Und lassen Sie mich anmerken: Nicht nur der Stärke Die Richtlinie muss bis zum 1. Juli 2005 in nationales des Finanzplatzes, auch dem Anlegerschutz in Deutsch- Recht umgesetzt sein. Wir wollen zu den ersten zählen, land ist nicht gedient, wenn künftig auf Basis der für alle die diese Umsetzung vollendet haben. Deutsche Emit- gültigen Richtlinie Prospekte unter bestimmten Bedin- tenten und alle ausländischen Emittenten, die Deutsch- gungen im Ausland genehmigt werden können, da es land als Aufnahmestaat wählen wollen, sollen frühzeitig dort durch die nationale Umsetzung im Detail für den Rechtssicherheit haben. Deshalb haben wir den Gesetz- Emittenten unkomplizierter vonstatten geht, und diese entwurf auch zügig beraten. dann auf diesem Wege auf den deutschen Markt quasi Mehr Zeit wünschen wir uns alle. Ich bin jedoch der zurückkommen. festen Auffassung, dass wir den Gesetzentwurf zwar zü- Trotz dieser genannten Selbstverständlichkeiten ha- gig, aber gründlich in den Ausschüssen und zwischen ben wir sehr viel Zeit darauf verwendet, den ursprüngli- den Berichterstattern diskutiert haben. Im Interesse des chen Gesetzentwurf der Deutschen Bundesregierung von Finanzplatzes Deutschland bitte ich Sie daher um eine zusätzlichen Beschwernissen zu befreien, bisher gute breite Zustimmung zu diesem wichtigen Gesetzentwurf. Regeln wieder reinzuschreiben und in Teilen auf Richt- linien-Niveau zurückzuführen. Patricia Lips (CDU/CSU): Mit der Prospektricht- Staatssekretärin Hendricks hat am gestrigen Tag im linie sollen EU-weit gleich mehrere Ziele erreicht wer- Finanzausschuss ihre Freude über das Ergebnis der Ver- den: eine einheitliche Regelung der Zulassungsprospekte handlungen mit den Worten zum Ausdruck gebracht: für Wertpapiere bzw. der Emissionsprospekte, eine ein- „Das Gesetz (des Bundesministeriums der Finanzen) heitliche Prüfung – in Deutschland durch die BaFin –, wurde deutlich verbessert.“ Wenn man dies im Um- eine Rechtsvereinfachung durch diese Harmonisierung, kehrschluss versteht, dann bedeutet dies nichts anderes, aber auch ein EU-weit gültiger Pass für einmal geneh- als dass die Bundesregierung sich nicht in der Lage sah, (B) migte Prospekte. Vor allem der zuletzt genannte Punkt einen Gesetzentwurf in die parlamentarische Debatte (D) stellt uns vor die Herausforderung, die Richtlinie bei der einzubringen, von dem sie selbst überzeugt war, dass er Umsetzung im nationalen Gesetzgebungsverfahren nicht schon von vornherein gut ist und es eigentlich nichts zu zusätzlich – wo unnötig – zu überfrachten und an den verbessern gibt. Es bedeutet darüber hinaus, dass es Stellen – wo es im Interesse unseres Finanzstandortes ist durchaus von Vorteil ist, zusätzlich zu den Sachverstän- und im Einklang mit der Richtlinie steht – Spielräume zu digen der Branche auch noch einen Bundesrat und eine eröffnen. Das ist der Spannungsbogen, in welchem wir Opposition im Deutschen Bundestag zu haben, die letzt- uns befinden. endlich zu diesen „Verbesserungen“ beigetragen haben Die Richtlinie wird grundsätzlich von allen Marktteil- müssen – folgt man den Worten der Staatssekretärin. nehmern begrüßt und auch wir schließen uns dem Ruf Ein ganzer Katalog von Einzelpunkten konnte im Ge- nach Harmonisierung und einer Stärkung des Finanz- setzentwurf geändert werden: inhaltlich oder redaktio- platzes Deutschland an. Insofern ist es erfreulich, dass es nell. Sehr viele dienten der Rechtssicherheit der Markt- uns gelungen ist, im Sinne des Marktes und unseres Lan- teilnehmer, wohlgemerkt: für Emittenten wie auch für des den Gesetzentwurf an den entsprechenden Stellen Anleger. Diese Änderungen wurden von der gesamten ändern zu können. Lassen Sie mich dennoch einige An- Branche in großer Geschlossenheit – zuletzt im Rahmen merkungen machen: einer öffentlichen Anhörung vergangene Woche – vorge- bracht. Im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen ha- In den vergangenen Tagen und Wochen waren wir in ben dabei vor allem zwei Punkte die Öffentlichkeit in zahllosen Gesprächen immer wieder mit Feststellungen Aufregung versetzt: die geplante Aufhebung des bisher konfrontiert: „Das haben wir schon immer so gemacht“, gültigen Book-Building-Verfahrens und die Sprachrege- oder: „Das ist eine Übernahme bereits gültiger Grundla- lung, beides Punkte, die am Ende sehr schnell korrigiert gen aus anderen Gesetzen und Verordnungen.“ Wenn werden konnten oder bei welchen beschwichtigt wurde. diese Regeln gut waren und dem Finanzstandort dienten, Aber: Die Diskussion auch bei den anderen Themen ist dem auch nichts entgegenzusetzen. Wo uns aber wurde dadurch nicht einfacher. durch eine aktuelle Diskussion, durch ein neues Gesetz, Spielräume eröffnet werden, die uns zusätzliche Chan- Die Tatsache, dass am Beispiel Book-Building offen- cen geben, dann sollten wir diese nutzen. Wir müssen sichtlich noch nicht einmal im vollen Bewusstsein davon ausgehen, dass in einem Markt, der im Bereich – dann wäre es politisch noch verständlich –, sondern der Finanzdienstleistung schon lange nicht mehr an viel eher redaktionell eine unüberlegte Formulierung in Grenzen Halt macht, andere Länder diese Chancen nut- den Gesetzentwurf kam, führte dazu, dass in Folge nun zen werden. jedes Wort tatsächlich auf den Prüfstand kam. Bei der 16196 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Sprachregelung schloss man sich dem Formulierungs- und die Rechtsfolgen aus einem „Haustürgeschäft“ sind (C) vorschlag des Bundesrates an, die Bestätigung in Wort nun einmal nicht miteinander vergleichbar. und Schrift erhielten wir jedoch erst Ende vergangener Woche. Einige hätten sich eine noch weiter gehende Fle- Die Richtlinie, die eine Maximalharmonisierung bei xibilisierung zur Sprache gewünscht. Aber einem Kom- allen Ländern anstrebt, nimmt wenig Rücksicht auf be- promiss – und am Ende ist es dies immer – kann diese sondere, individuelle Marktbesonderheiten der Mitglied- Formulierung gerecht werden. staaten. Kann sie auch nicht. Dennoch wären deutlichere Verweise darauf, dass die im nationalen Gesetz letztend- An dieser Stelle möchte ich, wie schon im Ausschuss, lich verankerten Regelungen für alle Wertpapiere und darauf hinweisen, dass der Druck, inhaltlich wie zeitlich, damit ausdrücklich auch für den eher nur für uns typi- auch uns als Parlamentarier in den Beratungen beträcht- schen Derivatemarkt Gültigkeit haben, erstrebenswert. lich beschwerte. Ein schmaler Beratungskorridor ließ Dies würde zu einer größeren Rechtssicherheit für dieses Zeit für die wesentlichen Punkte, obgleich im Detail Marktsegment führen, welches eine unbestreitbar wach- vielleicht weiteres wünschenswert gewesen wäre. Inso- sende Bedeutung hat. fern werden wir die anschließenden Beratungen im Bun- Wir beschließen heute vor dem Hintergrund von desrat wohlwollend begleiten. Einen Gesetzentwurf in mündlichen Beteuerungen und Hinweisen in Gesetzes- dieser Tragweite nur gut zwei Monate vor In-Kraft-Tre- begründungen. Deshalb sage ich auch heute noch ten derart durch die Gremien zu schleusen, obgleich die einmal, dass wir die Entwicklung in diesem Bereich allermeisten Punkte bereits seit Wochen und Monaten im beobachten werden und uns bei Bedarf eine Nachbe- Ministerium bekannt waren, trägt nicht unbedingt zu trachtung vorbehalten. Es darf am Ende zu keiner Unter- größtmöglicher Sorgfalt bei. scheidung kommen, was den organisierten Handel im Es war am Ende der Abwägungsprozess zwischen ne- Verhältnis zum Freiverkehr angeht. gativen Signalen an den Markt durch eine unerwartete Es bleibt für die betroffenen Kolleginnen und Kolle- Verzögerung und der Tatsache, dass wesentliche Punkte gen anzumerken, dass die Gespräche nicht von Konfron- dann doch abgehandelt werden konnten, die uns dazu tation begleitet waren und am Ende in vielerlei Hinsicht bewogen haben, dem Gesetzentwurf mit den Änderun- an einem Strang gezogen wurde. Es musste für uns alle gen zuzustimmen. Nach Rücksprache mit den Marktteil- von elementarem Interesse sein, handwerkliche Fehler nehmern ist für die allermeisten nun auch ein Umgang durch Zeitdruck zu vermeiden wie auch ein Gesetz zu mit dem Gesetz möglich. Ich komme jedoch noch ein- verabschieden, dass den Finanzstandort mit einem Si- mal an einer Stelle darauf zu sprechen. gnal auch über die eigenen Grenzen hinaus unterstützt. In einer Pressemitteilung im Januar dieses Jahres ließ (D) (B) Jochen Sanio für die Bafin verkünden: Die Prospekt- Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): richtlinie sei der härteste europäische Regulierungsham- Das Gesetz zur Umsetzung der europäischen Prospekt- mer, der in diesem Jahr auf seine Behörde niedersausen richtlinie, welches wir heute debattieren, räumt aus mei- werde. Die Wortwahl allein lässt natürlich aufmerken. ner Sicht mit einigen Vorurteilen auf. So zum einen mit Deutschland hatte aufgrund seiner bisherigen Genehmi- der Annahme, dass unter den Bundestagsfraktionen eine gungsstruktur und der doch sehr großen Änderung eine konstruktive Zusammenarbeit unmöglich ist und schon Ausnahmeregelung erhalten, die einen Übergangszeit- deshalb keine vernünftigen Gesetze mehr verabschiedet raum zuließ. Auch hier ist die Zeit und sind die Vorberei- werden. Die einheitliche Beschlussempfehlung beweist tungen auf den l. Juli hin zu weit fortgeschritten, als dass hingegen, dass man bei gemeinsamen Anstrengungen eine Inanspruchnahme nochmals thematisiert worden durchaus zu vernünftigen Ergebnissen kommen kann. wäre, unabhängig von den Forderungen der Bund/Län- An dieser Stelle möchte ich mich deshalb bei allen Be- der-Arbeitsgruppe. Dennoch war es uns wichtig, dass teiligten für die konstruktive und zielorientierte Zusam- seitens des Finanzministeriums in der Ausschusssitzung menarbeit bedanken. die Bestätigung eines reibungslosen Überganges an die BaFin nochmals protokolliert werden konnte. Es darf am Das vorliegende Gesetz bestätigt vor allem, dass die Ende an dieser Stelle nicht zu unerwarteten Schwierig- Schaffung eines wettbewerbsfähigen gesetzlichen Rah- keiten kommen. mens für den Finanzstandort Deutschland auch bei Berücksichtigung der Interessen des Anlegerschutzes Ich möchte nicht jeden einzelnen Punkt nochmals im möglich ist, sich die beiden Aspekte keineswegs aus- Detail erläutern. Neben Book-Building und Sprachenre- schließen. gelung konnten Änderungen im Zusammenhang mit Diese Feststellung ist für uns Grüne besonders wich- Doppelprüfungen, Handelsregistereintragungen, Rah- tig und motiviert uns, im Bereich der Finanzpolitik auch menzulassungen, darüber hinaus bei der Klarstellung künftig auf die Durchsetzung des Verbraucherschutzes von öffentlichen Angeboten, der Nachtragspflicht und in zu drängen. Folge des Widerrufsrechtes erreicht werden. Wenigstens an einer Stelle konnte beim zuletzt genannten Punkt da- Durch das neue Gesetz wird unter anderem geregelt, mit sichergestellt werden, dass abgeschlossene Vorgänge dass Wertpapierprospekte eine Zusammenfassung und wie bereits in der Vergangenheit nicht rück-abgewickelt zudem in deutscher Sprache enthalten müssen. Damit werden können. Dies ist in bestimmten Bereichen wie können sich in Zukunft alle Anleger, also auch solche, dem Derivateverkehr schon allein technisch ein fast un- die nicht so sehr mit dem Jargon der Finanzwelt vertraut überwindliches Problem. Der Handel mit Wertpapieren sind, in kurzer, allgemein verständlicher Form über die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16197

(A) Chancen und Risiken eines Wertpapiers informieren. dazu beitragen wird, Arbeitsplätze und Wertschöpfung (C) Von wesentlicher Bedeutung ist auch, dass falsche, irre- in Deutschland zu sichern. führende oder widersprüchliche Informationen, die in der Zusammenfassung veröffentlicht werden, zu einer Dr. Volker Wissing (FDP): Manchmal ist es bei Haftung führen. Somit wird gewährleistet, dass sich der komplexen Sachverhalten einfacher eine Entscheidung Kleinanleger auch ohne Berater die wesentlichen Infor- herbeizuführen als bei einfachen. Das Prospektrichtlinie- mationen über eine Anlagemöglichkeit beschaffen und Umsetzungsgesetz ist ein Beispiel dafür. Allein schon darauf vertrauen kann. Dadurch wird die derzeitige Si- der Begriff ist ein Aufmerksamkeitskiller – und damit tuation entscheidend verbessert, denn heute muss die Garant für eine sachliche Auseinandersetzung. überwiegende Anzahl der Bürger den Angaben Dritter vertrauen, ohne eine reelle Chance zu haben, diese An- Wir haben zusammen beraten, zusammen beschlossen gaben verifizieren zu können. und zusammen abgestimmt. Ich möchte mich deshalb an dieser Stelle ausdrücklich bei den Kolleginnen und Kol- Wesentliche Grundlage für die Vereinbarkeit von effi- legen der anderen Fraktionen sowie dem Bundesministe- zienten gesetzlichen Rahmenbedingungen und Anleger- rium der Finanzen für die sachliche und konstruktive Zu- schutz ist die hiesige Finanzdienstleistungsaufsicht. Mit sammenarbeit bedanken. Es kommt nicht oft vor, dass dem Prospektrichtlinien-Umsetzungsgesetz wird die al- man dazu Gelegenheit hat. leinige Kompetenz der Prospektprüfung auf die BaFin Gemeinsam haben wir versucht, den Anliegen aller übertragen. Dies ist eine deutliche Verbesserung, denn von dem Gesetzentwurf Betroffenen gerecht zu werden. bislang existiert noch die Differenzierung der Prospekte Der Finanzstandort Deutschland sollte gestärkt, der danach, ob ein öffentliches Angebot oder eine Börsenzu- Schutz der Anleger gewährleistet und die Arbeitsplätze lassung der Wertpapiere erfolgen soll. Davon ist dann im Bankengewerbe sollten gesichert werden. Der vorlie- die Zuständigkeit der BaFin bzw. der Zulassungsstellen gende Gesetzentwurf wird meines Erachtens all diesen der einzelnen Börsen abhängig. Indem die Zulassungs- Anforderungen gerecht. befugnis nun bei der BaFin gebündelt wird, trägt dieses Gesetz durch Regelungsvereinfachung sowohl dem An- Der Finanzstandort Deutschland wird gestärkt, indem legerschutz als auch der weiteren Stabilisierung der Fi- wir die Rückabwicklung von Derivatengeschäften ein- nanzwirtschaft Rechnung. schränken. Diese Möglichkeit bestand ohnehin nur auf dem Papier und wäre in der Praxis für die Unternehmen Die hohe Qualität der Finanzdienstleistungsaufsicht kaum zu bewerkstelligen. Die Konsequenz wäre gewe- durch die BaFin ist im internationalen Wettbewerb zu ei- sen: Die Unternehmen hätten ihre Produkte in den Län- nem zentralen Standortfaktor für den Finanzplatz dern angeboten, in denen es diese Pflicht nicht gibt. (B) Deutschland geworden. Eine effiziente Aufsicht gewähr- Durch diese Entscheidung wird nicht die Position der (D) leistet Vertrauen in den Standort und die dort angebote- Anleger geschwächt, sondern Rechtsklarheit geschaffen. nen Produkte. Ohne dieses Vertrauen würden Kapital, Auch in Zukunft sind Anleger gegen falsche Angaben in Investitionen und Arbeitsplätze aus Deutschland abgezo- Prospekten geschützt. Nur die Möglichkeit des Wider- gen werden. rufs nach Lieferung der Wertpapiere gibt es jetzt ein- deutig nicht. Dafür gibt es jetzt aber Rechtssicherheit Wir Grünen begrüßen ausdrücklich, dass mit dem und -klarheit bei allen Beteiligten. konkreten Gesetz ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Implementierung des Anleger- und Verbraucher- Die FDP begrüßt, dass es künftig nur noch eine für schutzgedankens im Finanzmarkt erreicht wird. Wir ha- die Prüfung von Wertpapierprospekten zuständige Stelle ben immer dafür geworben, einen Ausgleich zwischen gibt. Damit wurde der bestehende Kompetenzwirrwarr den Interessen der Kleinanleger und der Hauptakteure bei der Prüfung von Verkaufsprospekten einerseits und auf dem Finanzmarkt zu schaffen. Dass sich diese Ein- der Börsenzulassungsprospekte andererseits abgeschafft. sicht zunehmend durchsetzt, freut uns natürlich beson- Künftig gibt es nicht mehr sieben oder mehr zuständige ders. Gleichzeitig haben wir uns aber auch dafür einge- Stellen, sondern nur noch eine: die Bundesanstalt für setzt, Spielräume, die uns bei der Umsetzung der EU- Finanzdienstleistungsaufsicht. Das schafft Transparenz Richtlinie noch geblieben sind, zu nutzen, um die Posi- und damit Vertrauen bei Anlegern und Emittenten. Wir tion des Finanzplatzes Deutschland im europäischen leisten damit auch einen Beitrag zum Bürokratieabbau. Wettbewerb zu erhalten und weiter auszubauen. So be- Ein weiterer Beitrag zu einem verbesserten Anleger- fürworten auch wir die marktnahe Preisfindung im Rah- schutz ist die Beschränkung der Gültigkeit von Wertpa- men des Bookbuilding-Verfahrens. Ebenso begrüßen wir pierprospekten auf ein Jahr. Damit ist die Aktualität der die flexible Auslegung der Sprachenregelung, wie sie in Angaben gewährleistet. Die Anleger können damit bei der nun vorliegenden Gesetzesfassung verankert ist. ihrer Investitionsentscheidung auf aktuelle Angaben zu- Schließlich haben wir in der heftig diskutierten Frage rückgreifen. Sie haben durch die Einführung der Einjah- des Widerrufsrechts bei Nachträgen eine Lösung gefun- resfrist die Gewährleistung, dass die Informationen in den, die den Interessen aller Beteiligten gerecht wird. dem Prospekt aktuell sind und der Realität entsprechen. Mit diesem Gesetz wird nicht nur einfach eine EU- Gemeinsam haben wir heute den Finanzstandort Richtlinie umgesetzt, sondern, das möchte ich abschlie- Deutschland gestärkt, ohne die Position der Anleger zu ßend noch einmal betonen, es wird eine Regelung ge- schwächen. Wir haben damit nicht nur Rechtsklarheit schaffen, die den Finanzplatz Deutschland stärkt und und -sicherheit geschaffen, sondern auch Arbeitsplätze 16198 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) im Finanzgewerbe gesichert. Gemeinsam haben wir internationalen Finanzkreisen gebräuchlichen Sprache (C) heute dazu beigetragen, den Finanzstandort Deutschland – also Englisch – erstellen wollen. Sie können sich nun- fit zu machen, fit für die Zukunft, fit für Europa, fit für mehr sicher sein, dass die BaFin auch einen englisch- den internationalen Wettbewerb. sprachigen Prospekt prüft. Diese Entscheidung ist nicht in das Ermessen der BaFin gestellt. Dies erhöht die Pla- Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim nungssicherheit für die Emittenten. Eine kostspielige Bundesminister der Finanzen: Beginnen möchte ich mit Doppelerstellung des Prospekts in Deutsch und Englisch einem Dank an die Berichterstatter für die von ihnen ge- erübrigt sich. Diese im Finanzausschuss einvernehmlich leistete gute Arbeit. vorgenommene Änderung erhöht die internationale At- traktivität des Finanzplatzes Deutschland. Fraktionsübergreifend ist ein solider und fundierter Regierungsentwurf im Detail ausgeformt worden. Mei- Die Erleichterung für Emittenten geht einher mit ei- nen Dank möchte ich auch den Mitgliedern der Aus- ner Sicherstellung des Anlegerschutzes. Denn ein Pros- schüsse für ihre konstruktive Mitarbeit aussprechen. Die pekt in englischer Sprache muss immer eine Überset- einvernehmlichen und fraktionsübergreifenden Be- zung der Zusammenfassung in Deutsch enthalten. schlussempfehlungen zeigen, dass wir ein gemeinsames Ziel ist die fraktionsübergreifende Verabschiedung Ziel verfolgen: die Stärkung des Finanzplatzes Deutsch- des Gesetzentwurfs entsprechend der Beschlussempfeh- land. lung der Ausschüsse. Ich hoffe daher, dass der Bundes- Zu den Kernpunkten des Prospektrichtlinie-Umset- tag diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung frak- zungsgesetzes: tionsübergreifend verabschieden wird. Damit dürfte Deutschland zu den ersten Ländern in der EU zählen, Erstens. EU-Pass für Prospekte. Das Prospektrichtli- deren Parlamente diese entscheidende EU-Richtlinie nie-Umsetzungsgesetz wird mit Fug und Recht als Mei- gebilligt haben. Ein zeitgerechtes In-Kraft-Treten des lenstein auf dem Weg zur Vollendung des europäischen Prospektrichtlinie-Umsetzungsgesetzes erhöht die At- Binnenmarktes im Wertpapierbereich bezeichnet. Der traktivität des Finanzplatzes Deutschland und gibt den Grund hierfür liegt in Folgendem: Emittenten – wie bereits ausgeführt – die benötigte Pla- nungssicherheit. Ab 1. Juli 2005 werden wir erstmalig einen echten EU-Pass für Wertpapierprospekte haben. Deutsche Emit- Emittenten von Schuldverschreibungen ab 1 000 Euro tenten werden nach der Genehmigung ihrer Prospekte und Derivaten haben künftig ein Wahlrecht, in welchem durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf- Mitgliedstaat der Europäischen Union sie ihren Prospekt sicht, BaFin, ihre Prospekte für den europaweiten Ver- genehmigen lassen wollen. Unsere Mitbewerber stehen (D) (B) trieb ihrer Wertpapiere nutzen. Der mühselige Gang zu ebenfalls in den Startlöchern. Deshalb möchte ich bereits einer Vielzahl von Prospektprüfungsstellen gehört damit heute die Bitte an die Adresse des Bundesrates richten, der Vergangenheit an. Deutsche Anleger werden aus ei- in seiner Sitzung am 27. Mai seine Zustimmung zum ner Vielzahl in- und ausländischer Produkte das für sie Gesetz zu geben. geeignete Wertpapier auswählen können. Zweitens. BaFin als zentrale Prospektprüfungsstelle. Ab 1. Juli 2005 wird es nur einen einheitlichen Wertpa- Anlage 6 pierprospekt geben. Für die Prüfung dieses Wertpapier- Zu Protokoll gegebene Reden prospekts wird allein die BaFin zuständig sein. Die bis- herige Zersplitterung der Zuständigkeiten für die zur Beratung des Entwurfs eines Neunten Ge- Prüfung der Verkaufsprospekte, bisher BaFin, und der setzes zur Änderung des Wohngeldgesetzes (Ta- Börsenzulassungsprospekte, bisher Börsenzulassungs- gesordnungspunkt 13) stelle, entfällt. Die Vorbereitungen in der BaFin auf diese neue Auf- Wolfgang Spanier (SPD): Wir entscheiden heute gabe sind auf einem guten Weg. Eine neue Gruppe über das Neunte Gesetz zur Änderung des Wohngeldge- „Prospekt“ ist seit dem 1. Januar dieses Jahres eingerich- setzes. Wir regeln damit die wohngeldrechtliche Ein- tet worden. Die BaFin wird kurzfristig noch erfahrene kommensermittlung von Heimbewohnern, die Sozial- Fachkräfte zur Verstärkung gewinnen. Die Kontakte mit hilfe als Hilfe in besonderen Lebenslagen nach dem den Emittenten – aber auch mit den Börsenzulassungs- Bundessozialhilfegesetz erhalten haben. stellen – werden gepflegt, um einen reibungslosen Über- gang zu gewährleisten. Der Wille des Gesetzgebers war es 1999, dass die Hilfe in besonderen Lebenslagen bei der Berechnung des Drittens. Beschlussempfehlung des federführenden Wohngeldes als Einkommen angerechnet wird. Das Finanzausschusses: Entscheidende Verbesserung beim Bundesverwaltungsgericht hat im Jahre 2004 in einem Sprachenregime. Im Zuge der Berichterstattergespräche Urteil festgestellt, das diese Regelung in der Wohngeld- ist das neue Wertpapierprospektgesetz weiter verbessert verordnung nicht durch eine Ermächtigung im Wohn- worden. Bei der Sprache des Prospekts hat der Finanz- geldgesetz gedeckt gewesen ist. Diese Klarstellung er- ausschuss ein klares Zeichen gesetzt: Bei grenzüber- folgt nun mit dieser Gesetzesänderung. Das Gesetz schreitenden Emissionen können die Emittenten frei regelt dies rückwirkend für die Jahre 2001 bis 2004. Die wählen, ob sie den Prospekt in Deutsch oder in einer in rechtliche Möglichkeit der Rückwirkung wird in der Be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16199

(A) gründung des Gesetzes ausführlich erläutert. Wir gehen Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (C) davon aus, dass diese Begründung stichhaltig ist. dem Gesetzentwurf zugestimmt. Ich bitte Sie, auch in der abschließenden Lesung im Deutschen Bundestag, Ich habe bereits in der ersten Lesung des Gesetzes dieses Gesetz zu verabschieden. ausführlich erläutert, dass durch die bisher angewandte Berechnungspraxis die Betroffenen nicht schlechter ge- stellt und damit nicht benachteiligt werden. Zunächst Gero Storjohann (CDU/CSU): Entgegen dem fach- wird der Bedarf festgestellt. Die Leistungen von Hilfe in lichen Rat vieler Experten soll heute das Neunte Gesetz besonderen Lebenslagen und von Wohngeld verhalten zur Änderung des Wohngeldgesetzes verabschiedet wer- sich zueinander wie zwei kommunizierende Röhren. den. Damit soll ein Fehler in der Gesetzgebung von Rot- Grundsätzlich steigt oder fällt nämlich die Hilfe in be- Grün beseitigt werden. Die Bundesregierung will durch sonderen Lebenslagen im gleichem Maße, wie das den vorliegenden Gesetzentwurf für 2001 bis 2004 rück- Wohngeld fällt oder steigt. Für die betroffenen Men- wirkend für das Wohngeld die Einkommensermittlung schen, die Hilfe in besonderen Lebenslagen bekommen, von Heimbewohnern regeln. Dabei geht es um Heimbe- ist also durch die bisherige Praxis der Einkommenser- wohner, die Hilfe in besonderen Lebenslagen nach dem mittlung, die übrigens von Bund und Ländern gleicher- Bundessozialhilfegesetz erhalten haben. Das Bundesver- maßen akzeptiert worden ist, kein finanzieller Nachteil waltungsgericht hat nämlich in einem Urteil vom 11. De- entstanden. Sollte dies in Ausnahmefällen dennoch der zember 2003 festgestellt, dass diese in den Jahren 2001 Fall sein, sieht der jetzige Gesetzentwurf einen Nach- bis 2004 gewährte Hilfe in besonderen Lebenslagen teilsausgleich vor. nach dem Bundessozialhilfegesetz wohngeldrechtlich kein Einkommen ist. Genau dies aber wurde durch die Ein finanzieller Nachteil entsteht aber nur in ganz 1999 beschlossene Änderung des Wohngeldgesetzes so speziellen Fällen, deren Zahl sehr gering sein dürfte, geregelt. deshalb werden die Mehrausgaben auch nur auf bis zu 75 Millionen Euro geschätzt, die dann von Bund und Ähnlich wie aktuell bei der Besteuerung von Reise- Ländern je zur Hälfte zu tragen sind. Ein solcher Fall mobilen hat Rot-Grün damals nicht zu Ende gedacht. kann vorliegen, wenn zum Beispiel ein unterhaltspflich- Wir haben es also wieder einmal mit handwerklichen tiges Kind die Sozialhilfezahlungen für die Mutter, die Fehlern und Gesetzespfusch von Rot-Grün zu tun. Diese im Heim lebt, in voller Höhe selbst übernommen hat. Unzulänglichkeiten sollen nun durch den vorliegenden Dann hat dieser Unterhaltspflichtige zu viel gezahlt, weil Gesetzentwurf wieder behoben werden, das Wohngeld zu gering berechnet wurde. Diese Diffe- Das Schlimme daran ist, dass dies auf dem Rücken der renz müsste dem Unterhaltspflichtigen erstattet werden. Kommunen geschehen soll; denn durch den Gesetzent- (B) Wäre die Gesetzesänderung nicht rückwirkend, würden wurf kämen erhebliche finanzielle Belastungen auf die (D) auf Bund und Länder etwa 800 Millionen Euro an Mehr- Kommunen zu. Diese sind die Träger der Sozialhilfe. Ih- kosten zukommen, die sich Bund und Länder je zur nen standen nach dem Gesetzentwurf von 1999 erwartete Hälfte teilen müssten. Für die betroffenen Heimbewoh- Wohngeldmehrausgaben für Bund und Länder in Höhe ner ergäbe sich rückwirkend keine Änderung. von 800 Millionen Euro zu. Dieses Geld sollten die Kommunen größtenteils über Erstattungsansprüche und Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 18. Februar übergeleitete Ansprüche erhalten. Diese den Kommunen beschlossen, gegen den Gesetzentwurf keine Einwände zustehende Rechtsposition soll durch den vorliegenden zu erheben. Dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Woh- Gesetzentwurf ausgeschlossen werden. Die vom Bundes- nungswesen liegt eine Stellungnahme der Bundesverei- verwaltungsgericht festgestellte eindeutige Rechtssitua- nigung der kommunalen Spitzenverbände vor. Darin tion würde damit zulasten der Sozialhilfeträger geändert wird der Gesetzentwurf abgelehnt. Die kommunalen werden. Bund und Länder, die für das Wohngeld zustän- Spitzenverbände sehen im Gesetz eine ungerechtfertigte dig sind, würden sich von ihrer Verpflichtung zur Leis- Verschiebung der Finanzierungslast auf die Kommunen tung entlasten. Genau diese Leistungsverpflichtung ist als Sozialhilfeträger. Es geht aber nicht um eine Mehrbe- jedoch vom Bundesverwaltungsgericht festgestellt wor- lastung der Kommunen, sondern darum, dass die Betrof- den. fenen wie auch die Sozialhilfeträger nicht mit Erstat- tungsansprüchen rechnen konnten. In einheitlicher Im Ergebnis bedeutet der vorliegende Gesetzentwurf Auslegung und Praxis wurde eben die Hilfe zum Le- eine ungerechtfertigte Verschiebung der Finanzierungs- bensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz in be- last von Bund und Ländern auf die Kommunen. Die stimmtem Umfang als wohngeldrechtliches Einkommen CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag lehnt den angerechnet. Die kommunalen Spitzenverbände argu- Gesetzentwurf daher entschieden ab! mentieren, dass der Wille des Gesetzgebers fraglich sei. Der Wille des Gesetzgebers war und ist klar, der ur- Ein weiterer Grund für unsere Ablehnung ist die im sprüngliche Wille wird im Gesetz eindeutig klargestellt. Gesetzentwurf vorgesehene echte Rückwirkung. Als Ar- Es wird auch die Rückwirkung des Gesetzes infrage ge- gument für diese Rückwirkung führt die Bundesregie- stellt. Ich habe bereits darauf verwiesen, dass dieses im rung in der Begründung des Gesetzentwurfes aus, dass Gesetz sehr eingehend begründet wird. ein Vertrauensschutz nicht gegeben sei. Die betroffenen Wohngeldempfänger hätten nicht damit rechnen können, Ich fasse zusammen: Aus den genannten Gründen höhere Wohngeldansprüche zu haben. Das sei vor dem konnten wir den Einwänden der kommunalen Spitzen- Urteil des Bundesverwaltungsgerichts einhellige Geset- verbände nicht folgen. Der Fachausschuss hat mit den zesauslegung und Praxis gewesen. Die Rückwirkung sei 16200 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) daher zulässig. Tatsächlich hat es jedoch bereits 2002 schlampige, handwerklich fehlerhafte und inhaltlich un- (C) zahlreiche Widersprüche gegen die Anrechnung der gerechte Sozialgesetzgebung der Bundesregierung dar. Hilfe in besonderen Lebenslagen gegeben. Diese Wider- sprüche bezogen sich auf die damalige Verwaltungspra- Diesen Hintergrund muss man im Auge haben, wenn xis. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erfolgte wir heute in zweiter und dritter Lesung den Gesetzent- jedoch erst im Dezember 2003. Schon lange zeitlich da- wurf der Bundesregierung zur Änderung des Wohngeld- vor haben also die betroffenen Empfänger aufgrund des gesetzes abschließend beraten. Gesetzeswortlauts mit höheren Wohngeldansprüchen ge- Für mich ist der Entwurf der Bundesregierung ein rechnet. Das notwendige Vertrauen in den Fortbestand Musterbeispiel für sture rot-grüne Politik nach dem der jetzt existierenden gesetzlichen Regelung liegt nach Motto „Augen zu und durch“! Das Gesetz sei lediglich Auffassung unserer Fraktion daher hier vor. Das Rechts- eine „Klarstellung aufgrund des Urteils des Bundesver- staatsprinzip sieht ein Verbot rückwirkender Gesetze waltungsgerichts“, so der SPD-Kollege Spanier bei der vor. Dieses Verbot ist nach Auffassung der CDU/CSU- ersten Lesung im März. Ich sehe darin keine Klarstel- Bundestagsfraktion aufgrund des Vertrauensschutzes lung, sondern nur das Verschleiern der Absicht, dass hier gegeben. Auch deswegen lehnen wir Ihren Gesetz- Rot-Grün ganz unverhohlen auf Kosten der Sozialhilfe- entwurf ab! träger sparen will! Die rückwirkende Gesetzesänderung entlastet den Haushalt von Bund und Ländern auf Kos- Ihr Gesetzentwurf sieht einen Nachteilsausgleich für ten der Sozialhilfeträger, also zulasten der Kommunen. die betroffenen Empfänger der Hilfe in besonderen Le- benslagen und private Dritte vor. Dieser mit Rücksicht Die gemeinsame Stellungnahme der kommunalen auf das Rückwirkungsverbot vorgesehene Nachteilsaus- Spitzenverbände, also des Deutschen Städtetages, Deut- gleich ist jedoch überhaupt nicht ausreichend. Warum ist schen Landkreistages und des Deutschen Städte- und dies so? Die Empfänger von Hilfe in besonderen Le- Gemeindebundes, spricht eine deutliche Sprache. Auch benslagen wurden durch die fehlerhafte Einkommensbe- die zuständigen Bundesratsausschüsse hatten schwerste rechnung vielfach nicht benachteiligt. Die an sie ausge- Bedenken, auch wenn die Regierungskoalition dies zahlten niedrigeren Wohngeldzahlungen wurden durch gerne verschweigen würde. entsprechend höhere Leistungen der Hilfe in besonderen Lebenslagen ausgeglichen. Insofern sind von der rück- Die in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bun- wirkenden Gesetzesänderung im Wesentlichen die Sozial- desregierung vertretene Auffassung, wonach sich die So- hilfeträger betroffen. Im Gesetzentwurf ist in diesem Zu- zialhilfeträger als Träger öffentlicher Aufgaben auf Ver- sammenhang von den „Trägern öffentlicher Aufgaben“ trauensschutz und insoweit auf das Rückwirkungsverbot die Rede. Das klingt schön und gut. Jedoch wird hier- nicht berufen können, ist ebenfalls höchst problematisch, (B) durch die unterschiedliche Verantwortung für die Finan- weil sie die unterschiedliche Finanzierungsverantwor- (D) zierung von Wohngeld und Sozialhilfeleistungen nicht tung für das Wohngeld und die Leistungen der Sozial- beachtet. Durch den Gesetzentwurf werden die Kommu- hilfe nicht berücksichtigt. nen belastet, die Haushalte von Bund und Ländern je- Im Vermittlungsausschuss zu Hartz IV hatten sich doch entlastet. Bund und Länder darauf verständigt, dass die Kommu- nen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Fazit: Der vorliegende Gesetzentwurf belastet durch, Sozialhilfe insgesamt um rund 2,5 Milliarden Euro ent- seine Rückwirkung die Kommunen als Träger der So- lastet werden sollten. Im Wesentlichen sollte diese Ent- zialhilfe. Er belastet die Empfänger der Hilfe in beson- lastung aus den Einsparungen resultieren, die die Länder deren Lebenslagen. Und er belastet private Dritte. Für durch die Einführung von Hartz IV beim Wohngeld ha- alle Genannten werden bereits erlangte Rechtspositionen ben würden, rund 2 Milliarden Euro. Es war vereinbart infrage gestellt. Alle sind von der Rückwirkung des Ge- worden, dass Entlastungen vollständig an die Kommu- setzes daher nachteilig betroffen. Die CDU/CSU-Frak- nen weitergegeben werden sollten. tion im Deutschen Bundestag wird den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Wohngeldgeset- Dieser Gesetzentwurf sieht jedoch keinen Ausgleich zes daher ablehnen. für die Sozialhilfeträger, also insbesondere die Kommu- nen, vor, wenn ihnen durch das Urteil finanzielle Nach- Renate Blank (CDU/CSU): Wohngeld dient der teile entstehen. Die Frage, ob dies nicht gegen das ver- wirtschaftlichen Sicherung von angemessenem und fa- fassungsrechtliche Rückwirkungsverbot, also gegen das miliengerechtem Wohnen und ist ein vom Bund und den Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, verstößt, bleibt Ländern getragener Zuschuss zu den Aufwendungen für ungeklärt. Wohnraum und soll all jenen Bürgerinnen und Bürgern Das Bundesverwaltungsgericht hat – eng am Wortlaut helfen, deren Einkommen nicht ausreicht, um die Kosten des Wohngeldgesetzes orientiert – festgestellt, dass § 10 einer angemessenen Wohnung zu tragen. Wohngeldgesetz nur zulässt, die Leistungen der laufen- den Hilfe zum Lebensunterhalt auf den Wohngeldan- Die verfehlte Steuer- und Arbeitsmarktpolitik der spruch anzurechnen, nicht aber auch den Anteil zum Le- Bundesregierung hat dazu geführt, dass leider immer bensunterhalt, der in der sozialrechtlichen Hilfe zum mehr Menschen in Deutschland auf Wohngeld angewie- Lebensunterhalt in besonderen Lagen enthalten ist. sen sind! Zur Erinnerung: Der vorliegende Gesetzent- wurf ist durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Solche Fehler dürfen dem Gesetzgeber nicht unterlau- veranlasst und stellt einen herben Schlag gegen die fen! Zu oft – auch bei anderen Gesetzen – vertraut die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16201

(A) Bundesregierung darauf, dass die Praxis schon mit den teil der Hilfe in besonderen Lebenslagen zum Jahresein- (C) Gesetzen umzugehen wisse, frei nach dem Motto, es sei kommen zuzurechnen und auf dieser Grundlage über ja bekannt, was mit den Gesetzen gemeint ist. Diese ty- den Wohngeldanspruch zu entscheiden. Täten wir dies pisch rot-grüne Vorgehensweise hält oft rechtsstaatli- nicht, käme es zu einer Gerechtigkeitslücke gegenüber chen Nachprüfungen nicht stand. anderen potenziellen Wohngeldempfängern, die keine Hilfe in besonderen Lebenslagen empfangen. Ich denke, Es ist auch merkwürdig, in der Gesetzesbegründung wir haben ausreichend Vorsorge getroffen, dass die Be- davon zu sprechen, das Urteil des Bundesverwaltungs- troffenen wirtschaftlich nicht schlechter gestellt werden gerichts stelle sich für die Betroffenen als überraschende als vorher. Bereits in der Vergangenheit führte der Bezug Entscheidung dar, weswegen sie eigentlich gar keinen eines höheren Wohngeldes zu einer anteiligen Kürzung Vertrauensschutz genießen würden. Ein merkwürdiges der Hilfe in besonderen Lebenslagen. Die Betroffenen Verständnis! hatten also in der Regel keine finanziellen Vorteile. Und Die Bundesregierung trägt mit ihrem Vorschlag je- für die wenigen Ausnahmen von der Regel sieht der Ge- denfalls die Verantwortung für mögliche weitere juristi- setzentwurf einen Nachteilsausgleich vor. sche Auseinandersetzungen. Das Ende finanzieller Risi- Die Fraktion der CDU/CSU hat nun angekündigt, ken für die Haushalte von Bund und Ländern aus dem dem Gesetzentwurf nicht zustimmen zu wollen. Als Be- Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Dezem- gründung soll die beabsichtigte Rückwirkung des Geset- ber 2003 wird damit nicht erreicht. Aufgrund des Urteils zes herhalten. Nun will ich Ihnen sagen, was passiert, hätten die Sozialhilfeträger quasi einen erheblichen Er- wenn wir auf die Rückwirkung verzichten. Dann sind stattungsanspruch für zu viel gezahlte Leistungen, die ei- nämlich für die Gruppe der Heimbewohner, die zwi- gentlich durch das Wohngeld getragen werden müssten. schen 2001 und 2004 Wohngeld bezogen haben, nach- Der Gesetzentwurf geht von circa 800 Millionen Euro träglich Wohngeldmehrausgaben in Höhe von bis zu aus, die durch das Gesetz nun auf circa 75 Millionen 800 Millionen Euro zu erwarten. Diese Mehrausgaben Euro reduziert werden sollen. sind von Bund und Ländern zu tragen. Sehr verehrte Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, ich glaube nicht, Fazit: Dieses Gesetz ist und bleibt unausgegoren! dass die Länder von Ihrer Position allzu erfreut sein Vor der Bundestagswahl 1998 hieß es bei Schröder: dürften. „Wir werden nicht alles anders machen, aber vieles bes- Kritik kommt von den kommunalen Spitzenverbän- ser“. Heute müssen wir erneut feststellen: Es wurde vie- den. Diese beklagen, dass Bund und Länder ihren Finan- les anders, aber nichts besser. zierungsanteil für das Wohngeld auf die Kommunen als Sozialhilfeträger abwälzen wollen. Dem ist natürlich (B) Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE nicht so. Es entsteht eben keine neue Belastung der Sozial- (D) GRÜNEN): Ich möchte gleich zu Anfang der Diskussion hilfeträger. Es geht lediglich darum, dass Erstattungsan- deutlich machen, dass es sich bei der vorgeschlagenen sprüche aus der Vergangenheit nicht mehr durchgesetzt Änderung des Wohngeldgesetzes um nichts anderes als werden können. Das ist schon ein großer Unterschied. eine gesetzliche Klarstellung handelt. Wir beabsichtigen weder, neue gesetzliche Tatbestände einzuführen, wie Ich komme zum Schluss. Der Gesetzentwurf in der vorliegenden Form ist notwendig und sachgerecht. Ich gelegentlich bei der Debatte behauptet wird, noch betrei- bitte um Ihre Zustimmung. ben wir eine wirtschaftliche Schlechterstellung der Be- troffenen. Lassen Sie mich kurz erläutern, warum. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Zum wieder- Das Bundesverwaltungsgericht hat am 11. Dezember holten Mal behandeln wir die Änderung des Wohngeld- 2003 entschieden, dass die den Heimbewohnern ge- gesetzes. Nachdem bereits im Ausschuss eine gemein- währte Hilfe in besonderen Lebenslagen, HbL, nach der same Beschlussfassung herbeigeführt wurde, möchte ich Wohngeldreform 2001 wohngeldrechtlich nicht dem nur noch einmal auf die Schwerpunkte des Wertegangs Einkommen zuzurechnen ist. Ebendies war aber die ur- hinweisen. sprüngliche Absicht des Gesetzgebers gewesen. Es ent- spricht übrigens auch der bis Ende 2000 geltenden Der vorliegende Gesetzentwurf ist durch ein Urteil Rechtslage und der Vollzugspraxis in Bund und Län- des Bundesverwaltungsgerichts veranlasst, das einen dern. herben Schlag gegen die schlampige und inhaltlich ungerechte Sozialgesetzgebung der Bundesregierung Mit dem Gesetzentwurf soll nun für die Zeit vom darstellt. Der vorliegende Gesetzentwurf greift die An- 1. Januar 2001 bis zum 31. Dezember 2004 die Einkom- weisungen und Klarstellungen des Bundesverwaltungs- mensermittlung für Heimbewohner, die Hilfe in besonde- gerichts auf und setzt sie um. Die FDP kann sich diesen ren Lebenslagen empfangen, rückwirkend neu geregelt Umsetzungen und Klarstellungen anschließen. Die Re- werden; neu in dem Sinne, dass damit der Rechtszustand, gierung trägt dabei die Verantwortung für die entstan- wie er vor der Wohngeldänderung des Jahres 2001 be- dene Rechtsunsicherheit und die durch die notwendigen stand, wiederhergestellt wird. Es handelt sich also um Korrekturen im Wohngeldgesetz anfallenden Mehrkos- eine Klarstellung im Sinne der ursprünglichen Intention ten in den öffentlichen Haushalten. des Gesetzgebers. Handwerkliche Fehler der Bundesregierung führten Ich glaube, es ist absolut gerechtfertigt, neben der dazu, dass nun aufgrund eines Urteils des Bundesver- Rente auch den für den Lebensunterhalt bestimmten An- waltungsgerichts wohngeldrechtliche Vorschriften, die 16202 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) das Verhältnis zu Ansprüchen aus der Sozialhilfe regeln, sprache mit dem Ministerium für Verkehr, Bau- und (C) geändert werden sollen, und das sogar rückwirkend für Wohnungswesen und den Ländern den vom Urteil be- die Jahre 2001 bis 2004. troffenen Personen, die nun einen Antrag auf Korrektur früherer Bescheide stellten, mitgeteilt haben, sie würden Das Bundesverwaltungsgericht hat – eng am Wortlaut die Berichtigung der früheren Bescheide nun erst einmal des Wohngeldgesetzes orientiert – festgestellt, dass § 10 hinten anstellen. Wohngeldgesetz nur zulässt, die Leistungen der laufen- den Hilfe zum Lebensunterhalt auf den Wohngeldan- Insgesamt bleibt offen, welche Mehrkosten den öf- spruch anzurechnen, nicht aber auch den Anteil zum Le- fentlichen Haushalten durch die fehlerhafte Gesetzge- bensunterhalt, der in der sozialrechtlichen Hilfe zum bung entstehen werden. Die im Gesetzentwurf enthalte- Lebensunterhalt in besonderen Lagen enthalten ist. Sol- nen Korrekturen sind jedenfalls notwendig, um che Fehler dürfen dem Gesetzgeber nicht unterlaufen. rechtliche Klarheit und soziale Gerechtigkeit wiederher- Zu oft – auch bei anderen Gesetzen – vertraut die Bun- zustellen. Dass dies erst wieder durch ein Urteil eines desregierung darauf, dass die Praxis schon mit den Ge- Bundesgerichts veranlasst wird, wirft ein schlechtes Bild setzen umzugehen wisse, es sei ja bekannt, was mit den auf diese Bundesregierung. Gesetzen gemeint sei. Diese Vorgehensweise hält rechts- staatlichen Nachprüfungen nicht stand. Iris Gleicke, Parlamentarische Staatssekretärin Die FDP stimmt mit der Auslegung des Bundesver- beim Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungs- waltungsgerichts überein. Die FDP trägt das ursprüngli- wesen: Der Regierungsentwurf regelt für das Wohngeld che Ziel des Wohngeldgesetzes und des nun vorliegen- die Einkommensermittlung von Heimbewohnern, die den Gesetzentwurfes mit, das Wohngeldgesetz so zu Sozialhilfe als Hilfe in besonderen Lebenslagen erhalten fassen, dass Einnahmen, die zum Lebensunterhalt zur haben. Die Regelungen sollen rückwirkend für die Jahre Verfügung stehen, auch als Grundlage bei der Ermittlung 2001 bis 2004 gelten. Ab 2005 stellt sich das Problem des Anspruches auf Wohngeld zu berücksichtigen sind. nicht mehr. Nach den Hartz-IV-Reformen sind Heimbe- Auch der Anteil der Hilfe in besonderen Lebenslagen, wohner, die Sozialhilfe erhalten, regelmäßig vom Wohn- der für den Lebensunterhalt bestimmt ist, muss dann geld ausgeschlossen, weil ihre angemessenen Unter- konsequenterweise auf zusätzliche wohngeldrechtliche kunftskosten durch die Sozialhilfe berücksichtigt Ansprüche angerechnet werden. werden. Es ist nicht richtig, dass Menschen, die bereits in wirt- Anlass für den Gesetzentwurf ist ein im April 2004 schaftlicher Bedrängnis sind, für ihr geringes selbst er- zugestelltes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom wirtschaftetes Einkommen nach der bestehenden Geset- 11. Dezember 2003, das sich auf die Gesetzgebung des (B) zeslage auch noch bestraft werden sollen. Die FDP Jahres 1999 bezieht. (D) stimmt deshalb dem Urteil des Bundesverwaltungsge- richts und dessen Umsetzung im vorliegenden Gesetz- Der Gesetzgeber hat im Jahr 1999 das Wohngeldrecht entwurf auch dahin gehend zu, dass Einnahmen des An- mit Wirkung zum 1. Januar 2001 geändert. Er wollte, spruchsberechtigten, die bereits bei der Berechnung der dass bei Heimbewohnern nach wie vor der für den Le- Hilfe in besonderen Lebenslagen berücksichtigt wurden, bensunterhalt bestimmte Anteil der Hilfe in besonderen nicht noch einmal bei der Bemessung des Wohngeldes Lebenslagen dem wohngeldrechtlichen Einkommen zu- – für Fälle der Pauschalierung nach § 8 Wohngeld- gerechnet wird. gesetz – angesetzt werden dürfen. Der für den Lebensunterhalt anzusetzende Anteil war Problematisch ist schließlich die so genannte echte bis 2004 durch einen Pauschalsatz in der Wohngeldver- Rückwirkung der angestrebten Regelungen, weil sie in ordnung bestimmt. Es war zwischen Bund, Ländern und die Wohngeldansprüche nach § 44 SGB X eingreift, die den ausführenden Gemeinden unstreitig und einhellige mit Wirkung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts Vollzugspraxis, dass dementsprechend die den Heimbe- vom 11. Dezember 2003 bestehen. Die Nachteilsaus- wohnern gewährte Hilfe in besonderen Lebenslagen als gleichsklausel in § 40 Abs. 5 des Gesetzentwurfs zielt Einkommen bei der Berechnung des Wohngeldes zu be- darauf ab, Schaden von Betroffenen abzuwenden. Dies rücksichtigen war. beseitigt hoffentlich wirklich alle finanziellen Einbußen Völlig überraschend und im Gegensatz zur Vorinstanz der Betroffenen. Nicht beseitigen kann diese Klausel die hat das Bundesverwaltungsgericht dieser Praxis für die entstandene Rechtsunsicherheit und den entstehenden Jahre 2001 bis 2004 den Boden entzogen. Nach dessen Verwaltungsaufwand. Urteil ist die Anrechnung der Hilfe nach der Änderung Es ist zynisch, in der Gesetzesbegründung davon zu des Wohngeldrechts 1999 nicht mehr durch Wohngeld- sprechen, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gesetz und Wohngeldverordnung gedeckt. stelle sich für die Betroffenen als überraschende Ent- Der Gesetzgeber hatte aber – wie gesagt – nicht die scheidung dar, weswegen sie eigentlich gar keinen Ver- Absicht, der Anrechnung der Hilfe in besonderen Le- trauensschutz genießen würden. Wer den Rechtsweg bis benslagen als wohngeldrechtliches Einkommen die zu den obersten Bundesgerichten beschreitet in dem Grundlage zu entziehen. Glauben, dort Recht zu erhalten, ist wohl kaum über- rascht, wenn seiner Klage schließlich stattgegeben wird. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil Rechtsstaatlichkeit kann nicht mit dem Hinweis darauf für den Fall des gesetzgeberischen Handelns ergänzende abgetan werden, dass die Wohngeldstellen nach Rück- Hinweise gegeben, die eine Doppelanrechnung einzelner Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16203

(A) Einkommenspositionen sowohl bei der Hilfe in besonde- Viertens. Er bewirkt für die Träger der Hilfe in beson- (C) ren Lebenslagen als auch beim Wohngeld verhindern deren Lebenslagen keine zusätzliche Belastung finan- sollen. zieller Art, sondern schließt lediglich die auch für die Träger unvorhergesehenen Rückerstattungsmöglichkei- Der dem Bundestag vorliegende Gesetzentwurf der ten für 2001 bis 2004 aus. Bundesregierung schließt nun die vom Bundesverwal- tungsgericht für die Einkommensanrechnung bei Heim- Fünftens. Er verhindert umfangreiche, verwaltungs- bewohnern festgestellte Regelungslücke und greift dabei aufwendige und damit kostenträchtige Neuberechnun- die ergänzend gegebenen Hinweise auf. Es stellt damit gen von Wohngeld. den gemeinsamen Willen von Bundestag und Bundesrat aus dem Jahr 1999 in dem vom Bundesverwaltungsge- richt gezogenen rechtlichen Rahmen klar. Vor diesem Anlage 7 Hintergrund erklärt sich von selbst, dass der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf keine Ein- Zu Protokoll gegebene Reden wände erhoben hat. Denn er regelt, was nach dem ge- zur Beratung der Anträge: meinsamen Willen von Bundestag und Bundesrat ohne- hin gelten sollte. – Konversionsregionen stärken – Verbilligte Abgabe von zu Verteidigungszwecken nicht Wichtig ist, dass die betroffenen Heimbewohner mehr benötigten Liegenschaften ermögli- durch den Gesetzentwurf finanziell nicht schlechter ge- chen stellt werden. Hilfe in besonderen Lebenslagen und Wohngeld verhalten sich zueinander wie zwei kommuni- – Konversionsregionen stärken – Sechs- zierende Röhren. Die Hilfe in besonderen Lebenslagen Punkte-Plan zur Strukturpolitik steigt oder fällt in dem gleichen Maße, wie das Wohn- (Tagesordnungspunkt 14 a und b) geld fällt oder steigt. Für den Ausnahmefall, dass den Heimbewohnern oder deren Angehörigen durch diesen Gesetzentwurf ein finanzieller Nachteil entsteht, sieht Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Von der der Gesetzentwurf vorsorglich einen Nachteilsausgleich CDU/CSU wurde der Antrag gestellt, erneut über die vor. Beseitigung der Konversionslasten zu debattieren. Der Gesetzentwurf vermeidet somit für Bund und Lassen Sie mich zunächst darauf hinweisen, dass wir Länder Mehrausgaben im Wohngeld in Höhe von je- bereits im Plenum des Deutschen Bundestages am weils mindestens 400 Millionen Euro, ohne die Heimbe- 17. Dezember 2004 und darüber hinaus im Haushalts- (B) wohner finanziell zu belasten. Der Entwurf bewirkt auch ausschuss am 26. Januar 2005 über dieses Thema aus- (D) für die Träger der Hilfe in besonderen Lebenslagen führlich beraten haben. Ich kann daher nur Folgendes keine zusätzliche Belastung finanzieller Art. Er schließt noch einmal für die SPD-Fraktion deutlich machen: lediglich die für die Träger ebenfalls unvorhergesehenen Die veränderte Sicherheitslage und die neuen sicher- Rückerstattungsmöglichkeiten für die Jahre 2001 bis heitspolitischen Herausforderungen sowie die schwie- 2004 aus. rige Finanzlage, in der sich unser Land befindet, sind Ohne Gesetzesänderung käme hingegen ein hoher wichtige Faktoren bei der Strukturierung der zukünfti- Verwaltungsaufwand auf die Länder zu. Für bis zu gen Bundeswehr. Aufgrund der verbesserten sicherheits- 100 000 Heimbewohner, die in den Jahren 2001 bis 2004 politischen Lage brauchen wir für Deutschland glückli- Wohngeld erhalten haben, müssten die Wohngeldbe- cherweise weniger Soldatinnen und Soldaten als noch scheide neu bearbeitet werden. Ich denke, wir sollten im vor zehn oder 15 Jahren. Diese Umfangsreduzierungen Interesse der sozialpolitischen Leistungsfähigkeit des bedeuten leider auch Standortreduzierungen: 105 Stand- Wohngeldes verhindern, dass es durch derartige zusätzli- orte, davon über 50 Kleinst- und Kleinstandorte, müssen che Lasten geschwächt wird. leider geschlossen werden. Für die von der Schließung Betroffenen ist diese Neustrukturierung unserer Streit- Zu dem Gesetzentwurf darf ich somit feststellen: kräfte mit Härten und Einschnitten verbunden. Auch für Erstens. Er stellt den gemeinsamen Willen von Bun- die betroffenen Städte und Gemeinden – das hat leider destag und Bundesrat klar, wie er sich vor dem Urteil des auch für den Bundeswehrstandort Hildesheim in meinem Bundesverwaltungsgerichts auch in der allgemeinen Wahlkreis Bedeutung – sind das schmerzliche Ein- Vollzugspraxis niedergeschlagen hat. schnitte. Zweitens. Die betroffenen Heimbewohner werden In diesem Zusammenhang ist es mir besonders wich- durch den Gesetzentwurf finanziell nicht schlechter ge- tig, darauf hinzuweisen, dass es für die Zivilbeschäftigten stellt Eine ohne den Entwurf erforderliche Neuberech- der Bundeswehr keine betriebsbedingten Kündigungen nung eines dann höheren Wohngeldes würde vielmehr geben wird. Dafür bin ich dem Verteidigungsminister, zur nachträglichen Kürzung der Hilfe in besonderen Le- Herrn Dr. Peter Struck, sehr dankbar. So bedauerlich die benslagen führen. Standortschließungen und Verlagerungen auch sind: Es gibt hierzu keine sinnvolle Alternative. Das war auch Drittens. Der Gesetzentwurf vermeidet Mehrausga- schon unter den Verteidigungsministern der Union der ben für Wohngeld bei Bund und Ländern in Höhe von je- Fall. Das politische Herumwurschteln aus Mitte der weils mindestens 400 Millionen Euro. 90er-Jahre hat ein Ende. 16204 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Die Kriterien, jeden Standort nur bezüglich militäri- auch bei allen bisher stattgefundenen Schließungen von (C) scher und betriebswirtschaftlicher Erfordernisse zu prü- Bundeswehrstandorten der Fall und ist nichts Neues. Im fen, machen die Standortentscheidungen nachvollzieh- Zuge der bei der Konversion in den letzten Jahren ge- bar und somit auch transparent. Zu den eigenen sammelten Erfahrungen haben sich diverse Verwer- Standortschließungen kommt erschwerend hinzu, dass tungsmodelle in der Praxis bewährt und genau zu dem auch Änderungen bei der Stationierung der US-Streit- fairen Interessensausgleich geführt, den ich schon zu Be- kräfte zu erwarten sind. Dieser Veränderungsprozess, der ginn meiner Ausführungen eingefordert habe. spätestens 2010 abgeschlossen sein soll, stellt die betrof- Ich möchte hier nur zwei dieser Modelle erwähnen: fenen Kommunen vor Herausforderungen, die nur ge- Der Bund bleibt Eigentümer, die Kommunen führen die meinsam mit Bund und Ländern bewältigt werden kön- Erschließung und Entwicklung durch. Hierzu schließt nen. Dabei muss es zu einem fairen Interessenausgleich der Bund mit den Kommunen einen städtebaulichen Ver- kommen. In den zurückliegenden Jahren hat sich aber trag, wonach sich der Bund maßgeblich an den Erschlie- vielfach auch gezeigt, dass Konversion nicht nur Risi- ßungs- und Entwicklungskosten auf der Grundlage eines ken, sondern auch Chancen zur Weiterentwicklung von abgestimmten Planungs- und Baurechts sowie entspre- Kommunen beinhaltet. chender Kosten- und Erlösprognosen beteiligt. Hierbei Nach der föderalen Aufgabenverteilung liegt die sind die bei der bisherigen Verwertung gesammelten Er- strukturpolitische Verantwortung für die Bewältigung fahrungen zu berücksichtigen und gegebenenfalls zu er- der Konversionslasten vorrangig in der Verantwortung gänzen. der betroffenen Länder und Kommunen. Der Bund hat Bundeseigene Grundstücke, für die eine Bauleitpla- und wird auch künftig daran mitwirken. Im Jahr 1993 nung aufgestellt werden muss bei denen zum Beispiel wurde der Umsatzsteueranteil der Länder um 2 Prozent- Gebäude rückgebaut oder Flächen entwickelt werden punkte erhöht, unter anderem zur finanziellen Flankie- müssen, können – wie bisher auch schon praktiziert – rung der Folgen des Truppenabbaus. Ich darf noch ein- Kommunen oder von ihnen getragene Gesellschaften mal deutlich darauf hinweisen, dass diese Mittel den oder Treuhändern zunächst gegen eine moderate Anzah- Ländern dauerhaft zur Verfügung stehen, auch nachdem lung überlassen werden. Der Kaufpreis wird erst nach sich die Belastungen durch den Truppenabbau im Zeit- Weiterveräußerung ausgekehrt und ermittelt sich aus ablauf bis jetzt verringert haben. dem Weiterveräußerungserlös abzüglich einer angemes- Es liegt nach wie vor im Interesse des Bundes, dass senen Beteiligung des Bundes an den Erschließungs-, die aufgegebenen Militärflächen so schnell wie möglich Entwicklung- und Folgekosten. einer Anschlussnutzung zugeführt werden. Dabei hat Länder und Kommunen können vom Bund und der sich eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwi- (B) Europäischen Union mitfinanzierte Förderungsinstru- (D) schen Bund, Ländern und Kommunen bewährt. mente einsetzen. Hierzu gehören insbesondere die Ge- Es gab an der einen oder anderen Stelle aber auch meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt- nicht hinzunehmende Verzögerungen und Reibungsver- schaftsstruktur“, die Städtebauförderung und Mittel aus luste. Daher ist es besonders wichtig, dass alle beteilig- den Europäischen Strukturfonds. Diese Hilfen standen ten Stellen noch erfolgsorientierter, zielführender und auch bei den bisherigen Standortschließungen und -redu- pragmatischer zusammenarbeiten. Der BlmA fällt hier zierungen zur Verfügung. gerade in der Startphase eine bedeutende und entschei- Im weiteren Verfahrensablauf ist ferner von besonde- dende Rolle zu. rer Bedeutung, dass die von Standortreduzierungen bzw. Der Deutsche Bundestag hat in seiner 149. Sitzung -schließungen betroffenen Landes- und Kommunalbe- am 17. Dezember 2004 den Antrag auf Druck- hörden so früh wie möglich über den konkreten Zeitplan, sache 15/4520 zur Federführung an den Haushaltsaus- das so genannte Feinkonzept, unterrichtet werden. Dabei schuss und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den ist auch auf eine schnelle Erklärung zwecks Freigabe der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, den Verteidigungs- Militärflächen hinzuwirken. Dazu gehört auch, an be- ausschuss und den Ausschuss für Verkehr, Bau- und troffene Kommunen schon vor der Freigabe alle für eine Wohnungswesen überwiesen. Die mitberatenden Aus- Überplanung notwendigen Informationen und Unterla- schüsse haben jeweils mit den Stimmen der Koalitions- gen zur Verfügung zu stellen. Ich denke dabei zum Bei- fraktionen und gegen die Stimmen der Opposition emp- spiel an Baubestandspläne, Lagepläne und vorliegende fohlen, die Vorlage anzunehmen. Im federführenden Gutachten. Haushaltsausschuss wurde der Antrag der Koalition in Bei der Informationsveranstaltung in Bonn wurde der Sitzung vom 26. Januar 2005 abschließend beraten ebenfalls deutlich: die von Standortreduzierungen bzw. und mehrheitlich empfohlen, den Antrag anzunehmen. -schließungen betroffenen Landes- und Kommunalbe- Am Montag dieser Woche hatte der Verteidigungs- hörden frühestmöglich über den konkreten Zeitplan, minister zu einem Informationsgespräch nach Bonn ein- Feinkonzept, zu unterrichten und auf eine schnelle Frei- geladen. Bei dieser Informationsveranstaltung waren gabe der Militärflächen hinzuwirken, sofern der Verkauf alle kommunalen Vertreter anwesend, die von Standort- einer Liegenschaft vor Planungsreife erfolgt, planungsbe- schließungen betroffen sind. Es wurde erneut deutlich dingte Wertsteigerungen oder -minderungen gegenüber gemacht, dass dem Bundeshaushalt außerhalb der be- den bei Vertragsschluß angenommenen Nutzungsmög- kannten Instrumente keine weiteren Haushaltsmittel zur lichkeiten durch Nachzahlungs- oder Erstattungsver- Verfügung gestellt werden können. Das war übrigens pflichtungen Rechnung zu tragen, auch künftig in geeig- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16205

(A) neten Fällen die Baureifmachung unter anderem durch versionspolitik ist eine Angelegenheit von nationaler Be- (C) die finanzielle Beteilung an Machbarkeitsstudien oder deutung. Der Bund darf sich hier seiner Verantwortung Nutzungskonzepten bis hin zur Bauleitplanung zu för- nicht entziehen. Die Schließung bzw. Verkleinerung von dern und sich an einzelnen Standortentwicklungsmaß- Bundeswehrstandorten ist vom Bund zu verantworten. nahmen zu beteiligen. Damit steht der Bund auch in der Pflicht, angemessene Ausgleichsmaßnahmen für die betroffenen Regionen zu Zu diesen vielfältigen Maßnahmen, die sich ebenfalls schaffen. in der Vergangenheit bewährt haben, gehören auch Zah- lungserleichterungen wie ein Hinausschieben der Kauf- Als die Damen und Herren von der SPD noch in der preisfälligkeit oder die zinspflichtige Stundung des Opposition standen, war das auch ihre Sicht. Kein gerin- Kaufpreises auch über mehrere Jahre zu ermöglichen. gerer als der jetzige Verteidigungsminister Peter Struck hat 1991 einen Antrag seiner Fraktion unterzeichnet, der Zum Schluss meiner Ausführungen noch einige An- ein umfassendes, nationales Konversionsprogramm vor- merkungen zum Verhalten der Opposition in den Aus- sah, Drucksache 12/882. Damals ging es um die Folgen schüssen und hier im Hohen Haus sowie in der Öffent- der deutschen Einheit und nicht darum, aus chronischer lichkeit: Die Veräußerung bundeseigener Liegenschaften Finanznot die Bundeswehr zu reduzieren. Sie forderten ist nur zum vollen Wert zulässig, § 63 Abs. 3 BHO. Die in dem Antrag nach dem „Verursacherprinzip“ die un- Bundesregierung beabsichtigt nicht, hiervon Ausnahmen teilbare Verantwortung des Bundes für die Folgen von zuzulassen. Ein Verkauf unter Wert wäre auch unter EU- Kasernenschließungen ein. Natürlich ist richtig: Der beihilferechtlichen Gesichtspunkten problematisch. Der Verteidigungsminister ist kein Infrastrukturminister. Bund hat bei der Verwertung der Konversionsliegen- Seine Politik hat aber wesentlichen Einfluss auf die Ent- schaften verschiedene Verwertungsmodelle entwickelt, wicklung der Infrastruktur. die eine angemessene Chancen- und Risikoverteilung zwischen den Beteiligten vorsehen. Derselbe Peter Struck, der seinerzeit eine Entlastung der Kommunen durch den Bund forderte, zeigt sich jetzt In Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen den blind gegenüber den Konsequenzen seiner radikalen Haushalt einlegen und auf der anderen Seite auf Einnah- Standortmaßnahmen. Anders ist das kategorische Nein men verzichten – das passt nicht zusammen und bleibt zu einer fairen Lastenteilung auf der Konversionskonfe- Ihr Geheimnis. Daher bitte ich um Zustimmung zu unse- renz am letzten Montag nicht zu erklären. Die Aussage rem Antrag, der vom federführenden Haushaltsaus- des Ministers, der Bund habe kein Konversionspro- schuss und von den mitberatenden Ausschüssen jeweils gramm, ist nicht nur Konzeptlosigkeit dieser Regierung. mit der erforderlichen Mehrheit angenommen worden Mehr noch: Rot-Grün wälzt konsequent die strukturpoli- ist. tische Verantwortung für die Bewältigung der Konver- (B) (D) sionsfolgen auf Länder und Kommunen ab. Die Erklä- Anita Schäfer (Saalstadt) CDU/CSU): Im Herbst rung des Ministers, der Bund habe beim Verkauf der 2004 gab der Verteidigungsminister die Schließung von Liegenschaften keine unrealistischen Verkaufspreise vor 105 Standorten bis zum Jahr 2010 bekannt. 30 weitere Augen, ist ein billiges Trostpflaster. Nur die Bereitstel- werden erheblich verkleinert. Die Zahl der Dienstposten lung der Grundstücke an die Kommunen zu verbilligten schrumpft von 339 000 auf 290 000. Dies ist Teil der Preisen fördert die schnelle, ergebnisorientierte Konver- „Transformation“ der Bundeswehr – so heißt die militä- sion. Das ist die grundsätzlich entscheidende Frage. rische Dauerreform unter Rot-Grün neuerdings. Allein in meiner Heimat Rheinland-Pfalz gehen rund 4 400 mi- Wenn dann noch Strucks Parteikollege Kurt Beck, litärische und zivile Dienststellen verloren. Neun Stand- Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, über seine posi- orte sollen komplett geschlossen, sieben weitere redu- tiven Erfahrungen nach dem Wegzug zahlreicher ameri- ziert werden. Andere Bundesländer sind noch weitaus kanischer Truppenteile aus „seinem“ Land berichtet, ist härter betroffen. die Schmerzgrenze überschritten. Ohne Zweifel: Beck kann „Positives“ vermitteln – aber aus einer Zeit, in der Die drastischen Maßnahmen der Regierung werfen unser Land noch ein Wirtschaftswachstum und keine drei Probleme auf: fünf Millionen Arbeitslose hatte! Erstens. Sicherheitspolitisch erschweren sie einen ef- Die Konferenz am letzten Montag war eine geschickt fektiven Heimatschutz unter Einbindung der Bundes- inszenierte Informationskampagne des Verteidigungsmi- wehr. nisters – mit mageren Ergebnissen. Das Thema Heimat- Zweitens. Gesellschaftspolitisch droht die Veranke- schutz und der Rückzug der Bundeswehr aus der Fläche rung der Bundeswehr in der Fläche und damit in der Be- war nicht einmal eine Randnotiz wert. Die Konferenz völkerung verloren zu gehen. untermauerte faktisch das Desinteresse von Rot-Grün an den Problemen der Kommunen, die Sie maßgeblich ver- Drittens. Strukturpolitisch sind erhebliche Nachteile ursacht haben. für Länder und Kommunen zu befürchten. Der Antrag der Grünen- und SPD-Fraktion, der heute Eine vorausschauende und nachhaltige Politik steht zur Abstimmung steht, ändert daran nichts. Die Eck- vor einer doppelten Herausforderung: Sie muss die mili- punkte bieten keine konkrete strukturpolitische Hilfe für tärische Sicherheitsvorsorge mit den strukturpolitischen die betroffenen Kommunen. Sie gehen über eine bloße Bedürfnissen der Länder und Kommunen in Einklang Beratungs- und Koordinierungsfunktion nicht hinaus. bringen. Beides leistet die jetzige Regierung nicht. Kon- Wenn es denn kein Geld des Bundes gibt, dann geben 16206 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Sie den Gemeinden wenigstens die Grundstücke. Die cherheiten bei den betroffenen Bundeswehrangehörigen (C) Forderung, „die in der Praxis bewährten Verwertungs- und den Zivilbeschäftigten. modelle auch künftig anzuwenden“, ist ein Blendmanö- Ein halbes Jahr ist verstrichen und bei der Frage der ver. Ein Modell der fairen Lastenverteilung Bund-Län- Konversion der betroffenen Standorte sind wir keinen der-Kommunen ist gefragt. Dem gehen Sie aber mit Schritt weiter. Leider hat dies auch die Konferenz bzw. wolkigen Formulierungen aus dem Weg. Es ist lebens- das Erörterungsgespräch von Minister Struck mit den wichtig für die Gemeinden, dass militärische Liegen- betroffenen Kommunalpolitikern am vergangenen schaften übergeben werden, ohne sie in die Schulden- Montag gezeigt. Die Bundesregierung ist bei der Kon- falle zu treiben. Und hier steht im Antrag der version der zu schließenden Bundeswehrstandorte kon- Regierungsfraktionen eine abenteuerliche Sache. zeptionslos. Die Kommentare in der Presse über diese Ihre Idee der zinspflichtigen Stundung der Überlas- Veranstaltung in Bonn sind eindeutig: Struck enttäuscht sungskosten läuft auf Kredite des Bundes an die Kom- Hoffnungen, Struck lehnt Zuschüsse ab. Zornige Bürger- munen hinaus. Und da Sie in der Altlastenbeseitigung meister suchen Ideen. Wenn sie Geld haben wollen, sind immer noch erhebliche Risiken bei den Kommunen be- sie hier an der falschen Stelle. lassen, könnte nach Ihren Plänen so manche Kommune Genau diese Aussprüche sind mit einer der Haupt- über ein Konversionsprojekt in eine Schuldenfalle gera- gründe, warum die betroffenen Bürgermeister fast ein- ten. Viele Standorte liegen in kleinen ländlichen Kom- hellig von einer „herben Enttäuschung“ sprechen. „Ich munen. Ich frage Sie: Wie sollen diese sowieso oft fi- zahle nichts“, „Geld habe ich auch nicht“ und „Der nanzschwachen Gemeinden dieses Risiko tragen? Eichel hat auch kein Geld“ – dies waren wohl die Kern- aussagen dieser Konferenz am Montag. Das kann nie- Die Konversionswelle trifft unser Land in sehr manden zufrieden stellen und darf auch niemanden zu- schwierigen Zeiten. Die vorliegenden Anträge der Union frieden stellen. bieten ein schlüssiges Konzept. Unser Sechspunkteplan schafft einen überzeugenden Rahmen für ein nationales Ich habe heute noch mit einem Bürgermeister meines Konversionsprogramm. Wahlkreises telefoniert, dem Bürgermeister der Ge- meinde Penzing. Dort ist ein Fliegerhorst angesiedelt: Wir müssen erstens die bestehende Strukturförderung das Lufttransportgeschwader 61, der älteste fliegende der Gemeinschaftsaufgabe optimieren, zweitens ein So- Verband der Bundeswehr, einziges LTG in Süddeutsch- fortprogramm für die Härtefälle in schwächeren Regio- land und Drehscheibe für alle internationalen Einsätze nen auflegen, drittens uns verstärkt um neue Mittel aus der Bundeswehr. An diesem Standort werden den EU-Fonds kümmern, viertens die Konversion in den 1 640 Dienstposten gestrichen. In der Gemeinde Penzing (B) Maßnahmen des Bundes und der Länder als feste Auf- leben im Vergleich dazu 3 500 Einwohner. (D) gabe verankern, fünftens Liegenschaften verbilligt und ohne Altlastrisiko abgeben und sechstens die Verfahren Dieses Verhältnis zeigt doch klar, welche Problematik bei GEBB und Vermögensamt beschleunigen. vor Ort entsteht. Die Bundeswehr hat hier tagtäglich das Leben eines jeden Bürgers in dieser Gemeinde be- Lassen sie mich vor allem den zentralen Punkt „Ver- stimmt. Dies ist kein Einzelfall! wertung der Liegenschaften“ aufgreifen. Es sollte die Hier kommen vollkommen unverhältnismäßige Aus- Möglichkeit bestehen, freigegebene Liegenschaften mit wirkungen auf diese Gemeinden zu, denen jegliche Un- einem erheblichen Abschlag vom vollen Wert, gegebe- terstützung zur Bewältigung dieser Probleme bisher nenfalls zu einem symbolischen Preis, mit Wertsteige- fehlt. Ich denke dabei an die direkten und indirekten Ar- rungsklauseln an die betroffenen Länder, Kreise und beitsplatzverluste, die Schwächung der kommunalen Fi- Gemeinden oder ansiedlungswillige Investoren zu ver- nanzen, die Kaufkraftverluste, die Unterauslastung der äußern. Außerdem steht der Bund für die Beseitigung Ver- und Entsorgungseinrichtungen, die Altlastenproble- militärischer Altlasten in der Pflicht. Die Verwendung matik und an den Wohnungsmarkt, der mit entsprechen- frei werdender Liegenschaften muss schnell, unbürokra- den Wertverlusten für die Eigentümer zusammenbrechen tisch, flexibel und zu möglichst niedrigen Preisen erfol- wird. gen. Das steigert die Wachstumschancen und erleichtert den anstehenden Strukturwandel in den Konversions- Hier stehen gewaltige Aufgaben an, bei denen die kommunen. Bundesregierung in der Mitverantwortung steht. In der Beschlussempfehlung zum Antrag der Fraktion der SPD Ich fordere Sie auf, zum Wohle der von Standort- und des Bündnisses 90/Die Grünen steht geschrieben: schließungen betroffenen Kommunen unseren Anträgen Das durch den Bundesminister für Verteidigung verkün- zuzustimmen. dete Ressortkonzept Stationierung führt infolge der Re- duzierung der Bundeswehr in vielen der von diesen Maßnahmen betroffenen Kommunen zu gravierenden Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Sechs Monate wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen. – Zumin- sind inzwischen vergangen, seit Minister Struck am dest diese Erkenntnis ist richtig. 2. November letzten Jahres das neue Stationierungskon- zept der Bundeswehr verkündet hat: mit dramatischen Gleichzeitig verkündet die Bundesregierung immer Einschnitten in die wirtschaftliche und soziale Ordnung wieder, dass die Stationierungsentscheidungen stets nach vieler Regionen und Kommunen, mit 105 Standort- militärisch funktionalen und betriebswirtschaftlichen schließungen, vor allem verbunden mit großen Unsi- Gründen erfolgen. Dass wir das in vielen Fällen bezwei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16207

(A) feln und ich eher hinter einer Reihe von Entscheidungen Stationierungsplanung wird die Zahl der militärisch ge- (C) über Standortauflösungen reine politische Gründe ver- nutzten Standorte in Deutschland bis zum Jahr 2010 auf mute und keine betriebswirtschaftlichen, das sei hier der circa 400 reduziert. Ausschlaggebende Kriterien der Vollständigkeit wegen erwähnt. So lange die Bundesre- neuen Stationierungsplanung waren richtigerweise „die gierung keine echten Zahlen vorlegt, wird diese Vermu- militärische und funktionale Notwendigkeit sowie die tung weiterhin im Raum stehen bleiben. Die Bundesre- betriebswirtschaftliche Verantwortbarkeit“. gierung führt immer wieder an, dass strukturpolitische Die Änderung des Stationierungskonzepts wird bei ei- Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. nigen Standorten zum strukturellen Aufwuchs, bei ande- Dr. Peter Struck ist kein Wirtschaftsminister; das ist ren zu Reduzierungen und bei wieder anderen zu per- uns bekannt. Aber das entbindet ihn doch nicht von der spektivischen Standortschließungen führen. Für viele Verantwortung für die Folgen seines Handelns. Die Si- Soldatinnen und Soldaten sowie die Zivilbeschäftigten tuation vor Ort hier ist vergleichbar mit einem wird dies mit beruflichen und sozialen Veränderungen 2 000 Mitarbeiter starken Unternehmen, das seine Pfor- und Belastungen verbunden sein. In den von Reduzie- ten schließt – und das nicht einmal, sondern zig Mal im rungen betroffenen Kommunen wird es zum Verlust von Bundesgebiet. Da würde mich der Aufschrei der Politik zivilen Arbeitsplätzen, dem Wegfall von Kaufkraft so- interessieren. Da würde über die soziale Verantwortung wie frei werdenden Kasernen, Depots und Übungsplät- der Unternehmen diskutiert werden, die dieser nicht zen kommen. nachkommen. Da würden dann Aussprüche von Heu- Dass sich viele Betroffene in der Anfangsphase nur schreckenschwärmen kommen, die Unternehmen befal- widerwillig oder unter Protest auf diesen Veränderungs- len, abgrasen und weiterziehen und die Betroffenen ohne prozess einlassen, ist verständlich. Im Hinblick auf die jegliches Verantwortungsgefühl zurücklassen. Ausgestaltung dieses Konversionsprozesses gibt es in Wir erleben ja die Argumentationen der Koalition. Deutschland reichhaltige praktische Erfahrungen aus Nehmen Sie hier doch Ihre Verantwortung wahr! Die den 90er-Jahren. Diese Erfahrungen haben uns gezeigt, wirtschaftliche Situation in Deutschland ist doch derzeit dass der Abzug oder die Reduzierung der Bundeswehr bei weitem nicht in der Lage, das aufzufangen, was hier keine Katastrophe sein muss. Auch wenn es keine Pa- durch diese Standortreform an Belastungen auf die Bür- tentrezepte gibt, so gibt es durchaus zahlreiche Beispiele ger zukommt. dafür, dass der Truppenabzug und die Kasernenschlie- ßungen kreativ und erfolgreich bewältigt werden konn- Zur Situation der Kommunen: Tun Sie doch nicht so, ten. als ob hier große Chancen bestehen würden, nach der Schließung der Standorte zu Marktbedingungen Unter- Ganz entscheidend ist, wie mit der Herausforderung (B) nehmen anzusiedeln, Arbeitsplätze zu schaffen oder umgegangen wird. Der Antrag der Koalitionsfraktionen (D) Wohnraum zu bauen! All dies entspricht doch zurzeit nennt hier zentrale Anforderungen. Eine wichtige Vo- nicht der Realität bei Wachstumsschwäche, Überschul- raussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung ist, dass dung der Haushalte und riesigen Arbeitslosenzahlen. sich Bund, Länder und Gemeinden unverzüglich an die Arbeit machen. Notwendig ist als Erstes die schnelle und Was die betroffenen Kommunen brauchen und zu umfassende Information über die Standortplanungen. Recht von der Bundesregierung verlangen, ist ein So- Das ist mit der Feinausplanung vom 11. April gesche- fortprogramm „Konversion“. Geben Sie beispielsweise hen. Hier sind die Maßnahmen aufs Quartal genau ein- den Kommunen die Chance, die nicht mehr benötigten geplant. Liegenschaften günstig zu vermarkten! Nehmen Sie den Vorschlag des SPD-Ministerpräsidenten Kurt Beck auf, Darüber hinaus kommt es auf das enge Zusammen- so genannte „Nachbesserungsscheine“ auszugeben! wirken der Beteiligten an. Im Rahmen der föderalen Wenn eine Kommune eine besonders lukrative Nachnut- Ordnung liegt die Hauptverantwortung bei den Ländern zung findet, kann der Bund ja anschließend beteiligt und Kommunen. Der Bund – das ist die einhellige Auf- werden. fassung aller Fraktionen des Deutschen Bundestages – steht in der Mitverantwortung. Angesichts der Haus- Nehmen Sie also Ihre Verantwortung wahr und entwi- haltssituation in Bund, Ländern und Gemeinden ist allen ckeln Sie Lösungsansätze, anstatt die Betroffenen mit Betroffenen klar, dass es keine nennenswerten zusätzli- dem Problem allein zu lassen! chen Förderprogramme zur Bewältigung des Truppenab- baus geben kann und geben wird. Wir begrüßen es, dass Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Bund der Forderung der Koalitionsfraktionen nach- Am 2. November 2004 gab Verteidigungsminister kommt und die Kommunen unter anderem bei der Ent- Struck die Entscheidung zur Schließung weiterer wicklung von Nutzungskonzepten, Machbarkeitsstudien 105 Standorte in Deutschland bekannt. Diese Anpassung und der Altlastenbewältigung großzügig zu unterstützen der Stationierungsplanung war vor dem Hintergrund der bereit ist. Neuausrichtung und Reduzierung der Bundeswehr un- ausweichlich. Unsere Fraktion begrüßt und unterstützt Darüber hinaus gibt es eine Reihe Förderprogramme die mutige Entscheidung des Ministers vorbehaltslos. des Bundes und der EU, die von den Betroffenen und In- teressenten in Anspruch genommen werden können. „Die Bundeswehr ist nicht dazu da, stationiert zu Hierzu zählen die „Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesse- sein.“ Diese markante Maxime des ehemaligen Verteidi- rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, der Europäi- gungsministers Rühe gilt auch noch heute. Mit der neuen sche Strukturfonds und die Städtebauförderung. Im 16208 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Bereich der zivilen Anschlussnutzung von militärischen xible Lösungen gefunden werden können. Das (C) Liegenschaften haben sich in den vergangenen Jahren Schlimmste, was hier passieren kann, sind für die Kom- eine Reihe von Verwertungsmodellen bewährt, auf die munen Endlosverfahren mit großem bürokratischen Auf- nun zurückgegriffen werden kann. Wir erwarten, dass wand, die nur Industriebrachen zurücklassen. eine zügige Verwertung vonseiten des Bundes nicht durch überhöhte Veräußerungsansätze behindert wird. Alles in allem unterstützt die FDP alle Bemühungen und Maßnahmen, die dem Ziel dienen, wirklich „Vor- Viele Programme und Verwertungsmodelle sind häu- fahrt für Arbeit“ und insbesondere auch für kommunale fig nicht oder unzureichend bekannt. Deshalb haben die Investitionen zu realisieren. Bündnisgrünen von Anfang an dafür plädiert, dass auf der Ebene des Bundes und der Länder Konversionsbe- Zu bedauern ist in diesem Zusammenhang jedoch, auftragte mit Lotsenfunktion als Ansprechstellen zur dass mit den im November verkündeten Standortent- Verfügung stehen. Wir begrüßen, dass vonseiten des Fi- scheidungen noch immer nicht das Ende der nunmehr nanz- und Verteidigungsministeriums im November ver- seit über einer Dekade andauernden Bundeswehrrefor- gangenen Jahres eine solche gemeinsame „Koordinie- men erreicht ist. Solange Rot-Grün nicht die Kraft hat, rungsstelle für Konversionsfragen“ eingerichtet wurde. endlich die Frage der Wehrform abschließend zu ent- Auch in den Ländern stehen entsprechende Konver- scheiden – und dies kann nur das Ende der Wehrpflicht sionsbeauftragte den Betroffenen Rede und Antwort. Die bedeuten – so lange werden uns auch die Konversions- „Konversionskonferenz“, zu der der Verteidigungsmi- prozesse nicht erspart bleiben. Rot-Grün muss deshalb nister am Montag circa 300 Bürgermeister und Landräte auch hier endlich handeln, um Planungssicherheit für die eingeladen hatte, war in diesem Sinne ein weiterer wich- Armee, ihre Angehörigen sowie die betroffenen Kom- tiger und hilfreicher Beitrag für einen fruchtbaren Infor- munen herzustellen. mations- und Erfahrungsaustausch. Vor diesem Hintergrund bin ich optimistisch, dass die Anlage 8 Folgen der Stationierungsänderung erfolgreich gemeis- tert werden können. Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Keine weitere Verzö- Gudrun Kopp (FDP): Die Neustrukturierung der gerung in der Frage der Entsorgung nuklearer Bundeswehr im Zuge der veränderten sicherheitspoliti- Abfälle (Tagesordnungspunkt 8) schen Rahmenbedingungen fordert nicht nur von den Soldaten und ihren Familien, sondern auch von den Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Für eine fried- (B) Standortkommunen große Anstrengungen. In nur einem liche Auseinandersetzung mit der Nutzung der Kernkraft (D) Jahrzehnt sind die Standorte der Bundeswehr um gut ein ist der Energiekonsens, den die rot-grüne Bundesregie- Drittel von 603 auf jetzt projektierte 392 reduziert wor- rung und die sie tragenden Fraktionen in ihrer ersten den. Insbesondere in den Städten und Gemeinden, die in Amtsperiode im Jahre 2000 durchgesetzt haben, von be- herausragender Weise von Bundeswehrgarnisonen ab- sonderer Bedeutung. Der Ausstieg aus der Atomenergie hängig sind, kann durch den Abzug der Truppen und den dient auch den Sicherheitsinteressen kommender Gene- damit verbundenen Kaufkraftverlust eine zum Teil dra- rationen. Leider haben die Oppositionsfraktionen mit ih- matische Situation eintreten. rer ideologischen Haltung zur Atomenergie dies bis Hier ist deshalb vor allem auch das Verteidigungs- heute nicht kapiert. Sonst hätten sie mit ihrem Antrag ministerium gefordert, wenn es darum geht, zusammen vom 29. Juni 2004 nicht erneut untragbare Vorschläge in mit den Kommunen nach möglichst reibungsfreien die Debatte eingebracht. Übergängen zu streben. Dies bedeutet vor allem, dass Das Ein-Endlager-Konzept als wichtiger Baustein des die jetzt eingerichtete Koordinierungsstelle für Konver- Energiekonsenses lässt keine voreiligen Schlüsse auf sionsfragen (KStK) entscheidend dazu beitragen muss, Endlagerstandorte und Endlagermedien zu. Die bisheri- dass die Veräußerung bzw. Transformation von Liegen- gen Forschungs- und Entwicklungserkenntnisse sind schaften der Streitkräfte nicht in endlosen bürokrati- wichtig, aber längst nicht als abschließend einzustufen. schen Verfahren dahinschlummert, sondern möglichst Darum spreche ich mich vorab und grundsätzlich sehr zügig und zielgerichtet umgesetzt werden kann. nachdrücklich für eine Beibehaltung und einen Ausbau Insbesondere die Bundesanstalt für Immobilienaufga- der Endlagerforschung aus. Der Bundestag selbst und ben (BImA) muss hier ihrer Verantwortung gerecht wer- die beteiligten Ministerien – Umwelt, Wirtschaft und Ar- den und die einzelnen Prüfschritte wie Entbehrlichkeits- beit sowie Bildung und Forschung – müssen weiter kon- prüfung, Prüfung von Rückübertragungsansprüchen, zentriert an diesen Aufgaben arbeiten und in einem Wis- Freigabeankündigung etc. möglichst zügig umsetzen, sensverbund dafür sorgen, dass die Zwischenergebnisse damit interessierte Kommunen schnell von ihrem Pla- zielgerichtet und effizient weiterverarbeitet werden. nungsrecht Gebrauch machen können. Der Bund dage- Es ist auch für die Koalition klar, dass ernsthafte Be- gen muss natürlich für bestehende Altlasten geradeste- mühungen um eine Lösung der Endlagerproblematik hen und diese bei Investoreninteresse möglichst schnell ohne jede Verzögerungen stattfinden müssen. beseitigen. Bei der Frage der Veräußerung unter Wert sollte in der Tat geprüft werden, ob nicht im Interesse Zugleich stehen diesem nur mittel- oder langfristig rea- von Planungssicherheit und schneller Abwicklung fle- lisierbaren Ziel die ausreichenden und beherrschbaren Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16209

(A) Möglichkeiten einer Zwischenlagerung nicht entgegen. fälle in den Jahren vor dem Regierungswechsel im Jahr (C) Die von der Opposition verbreitete Drucksituation und 1998 ablenken. Zu Ihren, so wie Sie es im Antrag formu- die damit verbundene Angstmache sind völlig unsinnig. lieren, „bis 1998 entwickelten und im internationalen Vergleich vorbildlichen Entsorgungsstrukturen“ gehört Als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises beispielsweise das Atomendlager Morsleben. Zuerst Salzgitter-Wolfenbüttel sage ich auch unter dem Ein- wurde durch Gerichtsbeschluss im September 1998 die druck direkter und praktischer Erkenntnisse, dass der weitere Einlagerung in Morsleben untersagt und wenige Antrag der CDU/CSU nicht akzeptabel ist. Mit dem ehe- Jahre danach mussten wegen drohenden Einsturzes um- maligen Salzbergwerk Asse II haben frühere Bundesre- fangreiche Stabilisierungsmaßnahmen ergriffen werden. gierungen – auch SPD-geführte – vollendete Tatsachen Mit Ihrer Sorglos-Atompolitik – hätte man Sie weiter ge- geschaffen, die eine Einschätzung von Gefahren unter währen lassen – wäre die Bevölkerung mit faktisch un- dem Gesichtspunkt der Langzeitsicherheit außerordent- begrenzten Mengen radioaktiven Mülls „beglückt“ wor- lich schwer machen. Ich fordere ausdrücklich, dass die den. Noch unerträglicher ist es, dass Sie eine Gefahrenanalyse – auch unter dem Eindruck eines mas- Entsorgungspolitik betrieben haben, die stets die Sorgen siven und dauerhaften Laugeneinbruchs in Asse II – im und Bedenken der Bevölkerung ignoriert hat. Aus diesen Rahmen der Arbeiten zum Abschlussbetriebsplan sehr Gründen steht seit über zwanzig Jahren Gorleben als ernst genommen werden. Dabei sollte auch geprüft wer- Symbol für Ihre gescheiterte Entsorgungspolitik. Die den, ob die rund 1 300 Fässer mit mittelradioaktivem Realität hat gezeigt, dass man gegen den Willen der be- Atommüll in dem Bergwerksendlager verbleiben dürfen. troffenen Bevölkerung zu keiner Lösung in der Endla- Schacht Konrad sofort für die Verfüllung mit gerfrage kommen kann. Das sind die Fakten, um nur ei- schwach- und mittelradioaktiven Abfällen mit vernach- nige davon zu nennen. lässigbarer Wärmeentwicklung zugänglich zu machen Ihr Antrag ignoriert zudem ganz bewusst die erzielten spricht für die nicht vorhandene Sensibilität in Fragen Fortschritte der rot-grünen Bundesregierung in zentralen der Gefahren von Atommaterialien bei der CDU/CSU. Fragen der Entsorgung. Wir haben Ihre Politik gegen die Dass auch der Unionsabgeordnete aus dem Wahlkreis Bevölkerung nicht nur beendet, sondern auch eine neue Salzgitter-Wolfenbüttel diese Forderung mit unterschrie- Endlagerkonzeption entwickelt. Die Auswahl des best- ben hat, sagt über seine Haltung zu diesen Gefahrenquel- möglichen Standortes für ein Endlager soll in einem len und zu den Interessen der Menschen in der Region transparenten und nachvollziehbaren Verfahren auf der alles – ist aber für diese Debatte nebensächlich. Basis des Vergleichs von Alternativen erfolgen. Diese Für Schacht Konrad sind im Rahmen des Energiekon- Zielsetzung ist angesichts der unvermeidbaren langfristi- senses die einzig möglichen und richtigen Grundlagen gen Risiken bei der Endlagerung Wärme entwickelnder (B) geschaffen worden: Die gerichtlichen Entscheidungen radioaktiver Abfälle ein Gebot der Sicherheit. Grundle- (D) werden abgewartet und durch die Aussetzung des sofor- gendes Element ist die Beteiligung der Öffentlichkeit an tigen Vollzugs werden – anders als bei Asse II – keine der Entwicklung, Festlegung und Durchführung des vollendeten Tatsachen zugelassen. Das Ein-Endlager- Auswahlverfahrens. Konzept, für das Schacht Konrad wegen der anderen Dieses Verfahren soll ohne Vorfestlegungen bundes- Grundlagen seiner Untersuchungskriterien nicht infrage weit ausgerichtet werden. Dabei soll jede Region und kommt, ist schon wegen der Volumen- und der Sicher- schließlich jeder Ort nach den gleichen vorher festgeleg- heitsfragen richtig. ten Kriterien beurteilt werden. Das betrifft dann auch die Es kommen aber auch die Standortinteressen der Region Gorleben. Eine Fortführung der Erkundung von Braunschweiger Region mit ihren mehr als l Million Gorleben zum jetzigen Zeitpunkt, wie ihn die Opposi- Einwohnern hinzu. Wer will eigentlich mit dem vorhan- tion fordert, würde die Ergebnisoffenheit eines solchen denen Atommüllendlager Asse II und dem nahe gelege- Auswahlverfahrens mit Alternativenvergleich unterlau- nen Schacht Morsleben in Sachsen-Anhalt dieser Region fen und mögliche Fehlinvestitionen auslösen. Auch Ih- noch mehr an Belastungen dieser Art zumuten? Leider nen dürfte bekannt sein, dass die Betriebsbereitschaft ei- setzt sich – unabhängig von den regionalen Bundes- und nes Endlagers für Wärme entwickelnde Abfälle aus Landtagsabgeordneten der CDU – nicht einmal die technisch-wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht CDU/FDP-Landesregierung für diesen Aspekt ein. Die erst circa im Jahr 2030 erforderlich ist. Braunschweiger Region ist einer der wichtigsten Wirt- Das BMU hatte die Oppositionsfraktionen und auch schaftsstandorte in Norddeutschland; auch das interes- die EVU schon im Jahr 2003 eingeladen, sich in einer siert die Vertreter dieser Parteien leider nicht. Verhandlungsgruppe mit breiter gesellschaftlicher Re- Es bleibt also beim Widerstand gegen Schacht präsentanz unter der Leitung von Frau Staatssekretärin Konrad und bei der nachdrücklichen Forderung nach Probst am Auswahlverfahren zu beteiligen. Die Opposi- Klärung aller Sicherheitsfragen auch beim Atommüll- tion und auch die EVU haben sich diesem Gesprächsan- endlager Asse II. Und es bleibt bei den Grundlagen des gebot verweigert. So sind auch die in der Koalitionsver- Energiekonsenses. einbarung von 2002 festgelegten Gespräche mit den EVU bisher ohne Erfolg geblieben. Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Es lohnt sich für die CDU, einen weiteren Blick in die Antrag der CDU/CSU soll offenbar von Ihren zahlrei- eigenen Reihen zu werfen. Das Land Niedersachen chen Fehlleistungen in der Entsorgung radioaktiver Ab- macht viel Lärm um das genehmigte Endlager Konrad, 16210 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) nur sind den Worten bisher keine Taten gefolgt. Obwohl Wald vernichtet und auch der Verlust an Arten und damit (C) die Klageschriften gegen den Planfeststellungsbeschluss des genetischen Reichtums der Erde schreitet unge- Konrad bereits seit eineinhalb Jahren vorliegen, lassen bremst voran. Täglich sterben 150 Arten aus und gehen die Klageerwiderungen des niedersächsischen Umwelt- damit unwiederbringlich verloren. Alarm ist wirklich ministeriums weiter auf sich warten. Wer sich so der Lö- nötig! sung des Endlagerproblems verweigert, sollte vorsichtig Deshalb hat sich die Weltgemeinschaft auf dem Welt- sein, anderen Verzögerungen vorzuwerfen. gipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg im Es hat den Anschein, dass der Zug der Zeit an der Op- Jahre 2002 das Ziel gesetzt, die Verlustrate an biologi- position und auch den EVU vorbeizieht. Die Lehre, was scher Vielfalt bis 2010 signifikant zu reduzieren. Ange- es heißt, alles auf eine Karte zu setzen, kann aus dem sichts der riesigen Herausforderungen, die uns in den Yucca-Mountain-Endlagerprojekt der USA gezogen kommenden Jahren und Jahrzehnten bevorstehen, ent- werden. Nach dem Urteil des Appellationsgerichts zum sprechen die gemeinsamen Forderungen des Deutschen Nachweis der Langzeitsicherheit ist die Zukunft dieses Bundestages im vorliegenden Antrag durchaus der Standortes ungewiss. Die USA haben keinen Alternativ- Größe der Aufgabe. standort, auf den Sie im Falle des endgültigen Scheiterns Dennoch, meine Damen und Herren von der Opposi- ausweichen könnten. tion, kann ich Ihnen nicht ersparen, einige Ihrer Äuße- International drohen wir zudem den Anschluss zu rungen aus der ersten Debatte des Antrags am 10. März verlieren. Die Vorgehensweise bei der Endlagerstandort- dieses Jahres zu kommentieren. suche ist bereits in einer Reihe von Ländern, zum Bei- Frau Kollegin Reichard von der Union hat sich vor spiel in Schweden und Finnland, an der Einbindung der gut einem Monat hier hingestellt und das Hohelied der betroffenen Bevölkerung orientiert und deshalb sehr er- Umweltökonomie und der monetären Bewertung von folgreich. Der schwedische Wirtschaftsstaatssekretär, Kosten der Umweltzerstörung gesungen. Man konnte Claes Anstrand, hat im Dezember 2003 auf einer inter- schon staunen, haben doch gerade ihre Fraktionskolle- nationalen Endlagerkonferenz in Stockholm sinngemäß ginnen und -kollegen in den vergangenen sechs Jahren festgestellt, dass die Errichtung eines Endlagers für ab- noch jede umweltpolitische Maßnahme zur monetären gebrannte Brennelemente eine offensichtliche örtliche Bewertung externer ökologischer Kosten in Bausch und Dimension habe. Um Vertrauen der Öffentlichkeit in den Bogen als Untergang des Wirtschaftsstandortes Deutsch- Entscheidungsprozess herzustellen, habe sich Schweden land verdammt. entschieden, die Öffentlichkeit an diesem Prozess zu be- teiligen, und sichergestellt, dass diese Beteiligung die Diesen geradezu grotesken Widerspruch haben Sie wohl selbst erkannt und Ihre Begeisterung für die Um- (B) Einflussnahme auf das Endergebnis ermöglicht. Ich (D) wünschte, Sie hätten den Mut, eine solche Entwicklung weltökonomie schnell wieder gedeckelt. Volkswirt- für Deutschland zu unterstützen. schaftlich betrachtet – so führen Sie weiter aus – sei es also für Deutschland wesentlich günstiger, sich im Tro- Die Grünen sind der Auffassung, dass es für alle de- penwaldschutz in Südostasien zu engagieren als Treib- mokratischen Parteien im Deutschen Bundestag gute hausemissionen in Deutschland einzusparen. Gründe gibt, einen Konsens in der Frage zu suchen, auf welche Weise ein Endlager für nukleare Abfälle in Hier offenbart sich ein umwelt- und entwicklungspo- Deutschland ausgewählt wird. litisches Gedankengut, welches – wenn überhaupt – vor 20 oder 30 Jahren einmal modern war. Kurz zusammen- gefasst könnte man Ihre Position so darstellen: Solange Anlage 9 wir den Entwicklungsländern nur genügend Geld für den Urwaldschutz zur Verfügung stellen, können wir in Zu Protokoll gegebene Reden Europa und Nordamerika ganz beruhigt so weiterma- chen wie bisher. zur Beratung des Antrags: Biologische Vielfalt schützen und zur Armutsbekämpfung und Sehr geehrte Frau Reichard, Ihre Rede lässt mich be- nachhaltigen Entwicklung nutzen (Tagesord- fürchten, dass die Union trotz unseres gemeinsamen An- nungspunkt 9) trages immer noch auf der falschen Welle reitet. Globa- ler Natur- und Ressourcenschutz ist nicht nur eine umweltpolitische, sondern immer auch eine entwick- Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Zu Beginn lungspolitische Herausforderung. möchte ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen bedanken. Es ist uns in den Beratungen im Ausschuss Die Industrieländer sind, obwohl sie nur 20 Prozent gelungen, die Unterstützung aller hier im Hause vertrete- der Weltbevölkerung stellen, für 80 Prozent des weltwei- nen Fraktionen für den Antrag zur biologischen Vielfalt ten Ressourcenverbrauchs verantwortlich. Es ist daher zu gewinnen. Jenseits aller parteipolitischen Differenzen unverantwortlich, ja verantwortungslos, auf eine ent- zwischen den Parteien gibt es also wohl einen breiten wicklungspolitisch abgefederte Abwälzung umweltpoli- Konsens über die Ziele zum Schutz und für eine nach- tischer Lasten auf die Entwicklungsländer zu setzen und haltige Nutzung der biologischen Vielfalt. Und das ist zu vermitteln, so könne die Welt vor dem ökologischen gut so. Denn trotz aller Anstrengungen beschleunigt sich Kollaps bewahrt werden. Außerdem übersieht Ihre Ar- die Zerstörung von Ökosystemen immer noch in alar- gumentation, dass die Menschen in den Entwicklungs- mierender Weise. Jährlich werden 15 Millionen Hektar ländern ihre ökologischen Lebensgrundlagen nicht ohne Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16211

(A) Grund zerstören, sie tun dies vielmehr aus Armut und Dennoch komme ich nicht umhin, verehrter Herr Kol- (C) aus tagtäglicher Not. lege Heinrich, auf eine Ihrer kritischen Anmerkungen aus der letzen Debatte näher einzugehen. Sie haben da- Es kommt also nicht nur darauf an, unsere Anstren- mals behauptet, in Punkt drei unseres Antrages werde gungen im globalen Umweltschutz zu verstärken. Viel- die einseitige Bevorzugung der ökologischen Seite bei mehr müssen wir diese Anstrengungen in den weltwei- Zielkonflikten zwischen internationalen Handelsverein- ten Kampf gegen die Armut einbetten. Nur wenn wir den barungen und den Umweltkonventionen gefordert. Menschen in den Partnerländern eine nachhaltige ökono- mische Perspektive verschaffen, eröffnen wir ihnen die Zunächst einmal möchte ich hierzu anmerken, dass realistische Chance, aus dem Teufelskreis von Armut dies so nicht im Antrag steht, vielmehr wird die Bundes- und fortschreitender Umweltzerstörung auszubrechen – regierung aufgefordert, sich in internationalen Verhand- wir handeln damit ohnehin in unserem ureigensten Inte- lungen dafür einzusetzen, dass die bestehenden Zielkon- resse. flikte zwischen den Umweltkonventionen und den Gerade die UN-Konvention über die biologische internationalen Handelsvereinbarungen aufgelöst und Vielfalt spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige die Umweltkonventionen gestärkt werden. Sie werden Rolle. Im Gegensatz zu vielen anderen multilateralen mir zustimmen, dass dies etwas völlig anderes ist, als Umweltabkommen verbindet sie den Schutz der biologi- Ihre verkürzte Darstellung suggeriert. schen Vielfalt mit deren nachhaltiger Nutzung und dem Unabhängig vom Streit um Formulierungen ist Ihre gerechten Ausgleich der sich aus der Nutzung ergeben- Kritik aber auch einfach falsch. Es geht nicht darum, die den Vorteile. Umweltkonventionen gegenüber den internationalen Die biologische Vielfalt ist das Kapital der Armen. Handelsvereinbarungen zu bevorzugen. Vielmehr geht Das nachwachsende Gold unseres Planeten konzentriert es darum, zu verhindern, dass bereits bestehende interna- sich in erster Linie in den Entwicklungsländern. Das tionale Umweltvereinbarungen im Zuge der WTO-Ver- ökonomische und kaufmännische Wissen für die indus- handlungen unterlaufen werden. Es geht also nicht um trielle Nutzung und Vermarktung biologischer Vielfalt eine Ausweitung internationaler ökologischer Standards, ist dagegen vor allem in den Industrieländern angesie- sondern um die Verhinderung ihrer Aufweichung, inter- delt. Deshalb pochen die Entwicklungsländer zu Recht nationaler ökologischer Standards übrigens, die noch auf die Umsetzung des dritten Ziels der UN-Konvention von der konservativ-liberalen Regierung unter Helmut über die biologische Vielfalt. Sie fordern ein internatio- Kohl ausgehandelt worden sind. nales Regime für den gerechten Vorteilsausgleich sowie Im Übrigen ist es auch falsch, uns zu unterstellen, wir einen wirksamen Schutz gegen Biopiraterie. wollten mit unserem Antrag eine neue Konditionierung (B) (D) Die UN-Konvention über die biologische Vielfalt bie- zugunsten des Umwelt- und Ressourcenschutzes bei der tet somit eine ideale Plattform für ein faires Bündnis von Verwendung von frei werdenden Mitteln aus der Ent- Nord und Süd im weltweiten Umwelt- und Ressourcen- schuldung einführen. Vielmehr wollen wir mit den Part- schutz. Wenn es uns gelingt, beim Schutz und bei der nerländern – wenn möglich – Projekte zum Schutz der nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt zu einem biologischen Vielfalt vereinbaren. Dies ist keine Kondi- funktionsfähigen Regime des gerechten Vorteilsaus- tionierung, sondern ein Angebot – ein gutes Angebot, gleichs zu kommen, könnte dies als Prototyp für andere wie ich hier ausdrücklich betonen möchte. Bereiche des globalen Umweltschutzes dienen. Die Bundesrepublik Deutschland genießt seit vielen Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Jahren im Umwelt- und Ressourcenschutz international Union, wir haben gelernt, Armutsbekämpfung, nachhal- ein hohes Ansehen. Sie leistet einen überproportional tige Entwicklung und Umweltschutz als Einheit zu be- hohen Anteil im Bereich des globalen Umweltschutzes. trachten und unsere Entwicklungszusammenarbeit ent- Unter der rot-grünen Bundesregierung sind die Zusagen sprechend auszurichten. Bei Ihnen kann ich mich eines der finanziellen und technischen Zusammenarbeit in die- Eindrucks nicht erwehren: Sie benutzen den globalen sem Bereich von rund 560 Millionen Euro im Jahr 2000 Umweltschutz immer noch als Feigenblatt! Wollen Sie auf circa 710 Millionen Euro im Jahr 2003 angehoben so über die Defizite Ihrer Umweltpolitik im eigenen worden. Gleichzeitig hat Deutschland seine Mittel, die Land hinwegtäuschen? es multilateralen Gebern zur Verfügung stellt, von 2001 bis 2003 von 58,9 Millionen auf 100 Millionen Euro fast Lassen Sie mich dennoch betonen, dass ich über die verdoppelt. Mit 128 Millionen Euro jährlich ist Deutsch- Gemeinsamkeit bei diesem Antrag zufrieden bin. Im land einer der weltweit größten Geber für Maßnahmen Laufe der Verhandlungen über den vorliegenden Antrag im Bereich des Urwaldschutzes. haben Sie sich immerhin auf unseren breiteren und mo- derneren Ansatz eingelassen. Mit dem vorliegenden Antrag zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt ermuti- Ganz im Sinne dieses Bewusstseinswandels wünsche gen wir die Bundesregierung, den eingeschlagenen Weg ich mir ein hohes Maß an Nachhaltigkeit in Ihrer Frak- auch in Zukunft konsequent fortzusetzen. tion. Diese Hoffnung möchte ich ausdrücklich auch auf die Kolleginnen und Kollegen von der FDP ausdehnen. Der diesjährige UN-Tag der biologischen Vielfalt am Obwohl wir nicht alle Ihre Forderungen erfüllen konn- 22. Mai steht unter dem Motto: „Biologische Vielfalt – ten, haben Sie dem Antrag letztendlich zugestimmt. Das Lebensversicherung für unsere Welt im Wandel“. Wir verdient Anerkennung. haben die enorme Bedeutung der Biodiversität für die 16212 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) weltweite Bekämpfung der Armut und für die Zukunft der Rhetorik und der praktischen entwicklungspoliti- (C) unserer Kinder erkannt. Wir sind bereit, die notwendigen schen Umsetzung erschreckend. Noch vor wenigen Jah- Beiträge für diese Lebensversicherung zu leisten. Und ren galt Deutschland auf internationaler Ebene als ein das ist Zukunftsverantwortung in Zeiten rasanten Wan- sehr engagierter Partner im internationalen Natur- und dels in einer globalisierten Welt. Ressourcenschutz. Der nun schon einige Jahre andau- ernde schleichende Bedeutungsverlust dieses Sektors in Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): Wie ich der bilateralen deutschen Entwicklungszusammenarbeit bereits in meiner Rede am 10. März zum Thema deutlich ist nicht hinnehmbar und muss umgehend gestoppt wer- gemacht habe, ist der Erhalt der biologischen Vielfalt die den. Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung auf un- Wenn Sie heute zum Beispiel durchs östliche und süd- serer Erde. Doch was verstehen wir unter dem recht abs- liche Afrika reisen, müssen Sie feststellen, dass die trakten Begriff „Biologische Vielfalt“? Es ist der Sam- meisten der renommierten Natur- und Ressourcen- melbegriff für die Variabilität des Lebens in all seinen schutzprojekte, die von der deutschen Entwicklungszu- Formen, angefangen bei der genetischen Vielfalt über sammenarbeit initiiert und aufgebaut wurden, inzwi- die Artenvielfalt bis hin zur Vielfalt einzelner Ökosys- schen beendet oder in die letzte Implementierungsphase teme. Dass die biologische Vielfalt in vielerlei Hinsicht verwiesen wurden. Von einer Fortsetzung der erfolgrei- als die Grundlage des menschlichen Lebens bezeichnet chen und auf internationaler Ebene sehr angesehenen werden kann, ist leider vielen in unserer Gesellschaft Projektarbeit auf gleichem Niveau kann nicht gespro- nicht bewusst. Sie garantiert die Bereitstellung von Pro- chen werden. Deutschland verabschiedet sich, von weni- dukten und Leistungen, die das Wohlergehen von gen lobenswerten Ausnahmen abgesehen, zunehmend Mensch und Natur ermöglichen und erhalten helfen. aus diesem so wichtigen Sektor. Selbst namhafte Exper- Und genau diese Grundlagen zerstören wir in zunehmen- ten bezeichnen den Beitrag der deutschen Entwicklungs- dem Maße. zusammenarbeit zum Schutz der Biodiversität inzwi- Ich möchte nur wenige Beispiele nennen: Wild- schen als viel zu gering und ineffizient. lebende Tier- und Pflanzenarten werden durch eine un- Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, wurde angepasste oder zu intensive Landnutzung verdrängt und auf Initiative der CDU/CSU-Fraktion letztes Jahr eine ausgerottet. Wertvolle Böden werden zunehmend degra- Expertenanhörung im Bundestagsausschuss für wirt- diert und deren Produktivität wird für immer zerstört. schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung durchge- Durch das Abholzen der Wälder schwindet die Fähigkeit führt. Der heute zur Debatte stehende interfraktionelle von Ökosystemen, Wasser zu speichern und kontinuier- Antrag ist ein Ergebnis dieser Anhörung. Ich möchte in lich abzugeben. Allein in Südostasien werden jährlich (B) diesem Zusammenhang meinen Kollegen von Rot-Grün (D) rund 5,8 Millionen Hektar Urwald vernichtet – ein Ge- im Entwicklungsausschuss sehr herzlich danken, die uns biet so groß wie die Schweiz. Die Konsequenzen für das der Sache wegen bei diesem Antrag unterstützt haben. Weltklima sind verheerend. Alarmierend ist auch die Wie schon in meiner Rede vom 10. März möchte ich auf Überfischung der Weltmeere und Binnenseen. Zudem ein paar Forderungen des gemeinsamen Antrags einge- führt die zunehmende Meeresverschmutzung zu einer hen, die meiner Meinung nach besonders wichtig sind. großflächigen Gefährdung und Zerstörung von wertvol- Wir fordern zum Beispiel die Bundesregierung auf, un- len Küstenökosystemen. seren biodiversitäts- und tropenwaldreichen Partnerlän- Natürlich ist es unsere gesellschaftliche Verantwor- dern folgendes Angebot zu machen: Wir sollten ihnen tung, die Vielfalt der Schöpfung und die ökologische In- anbieten, sie zusätzlich zu den in Regierungsverhandlun- tegrität wichtiger Ökosysteme für zukünftige Generatio- gen vereinbarten Kooperationssektoren im Bereich nen zu bewahren. Doch Anspruch und Wirklichkeit in Schutz und nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit klaffen lei- zu unterstützen. der weit auseinander. Ich möchte dies am folgenden Bei- Des Weiteren erwarten wir von der Bundesregierung, spiel verdeutlichen: Gerade in diesem Jahr sprechen wir dass sie endlich die entsprechenden Maßnahmen er- intensiv über die Millenniumsentwicklungsziele – MDG – greift, um den Import von illegal eingeschlagenem Tro- zur Halbierung von Hunger und Armut in der Welt. Der penholz nach Deutschland zu unterbinden. Hier können Schutz der natürlichen Umwelt, sprich unserer natürli- uns vor allem anerkannte Zertifizierungssysteme zur chen Lebensgrundlagen, ist eine elementare Grundvo- Kennzeichnung von legalen und aus nachhaltiger Be- raussetzung für die Erreichung dieser Ziele. Eine erfolg- wirtschaftung stammenden Tropenhölzern weiterhelfen. reiche Bekämpfung der Armut, die flächendeckende Die Unterstützung der verschiedenen anerkannten Zerti- Versorgung der Menschen mit Trinkwasser und der fizierungssysteme auch in den Entwicklungsländern Schutz der Produktivität der Böden sind allesamt unmit- halte ich für ungemein wichtig. Hier kann und muss die telbar auf die Erhaltung und Nutzung der biologischen deutsche Entwicklungspolitik einen Beitrag leisten. Vielfalt angewiesen. Vollmundig propagiert die Ent- wicklungsministerin die Notwendigkeit zur Unterstüt- Ich möchte nun zu einem anderen Punkt kommen, der zung der Millenniumsziele, vernachlässigt jedoch in der mir sehr wichtig erscheint. Nicht ohne Grund werden praktischen Durchführung zwei der wichtigsten Politik- heute viele Naturschutzgebiete und Nationalparks in bereiche: die ländliche Entwicklung auf der einen Seite Entwicklungsländern als so genannte Papier-Parks be- und den Natur- und Ressourcenschutz auf der anderen zeichnet. Gemeint ist damit, dass sie zwar auf dem Pa- Seite. Ich empfinde die eklatante Diskrepanz zwischen pier als Park eingetragen sind, aber in Wirklichkeit kei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16213

(A) nen effektiven Schutz genießen – sei es aus mangelndem natürlichen Ressourcen umzugehen. In vielen Fällen (C) Willen oder aufgrund fehlender Finanzmittel. Ohne ver- können wir nur dann die biologische Vielfalt erhalten, nünftiges Management, ohne eine Einbeziehung der Be- wenn es uns gelingt, umweltverträgliche Landnutzungs- völkerung und ohne engagierte Wildhüter sind viele systeme zu entwickeln, die eine ökonomische Alterna- Parks dem Raubbau preisgegeben. Auch hier sollte die tive zu naturzerstörenden Landnutzungsformen, wie deutsche Entwicklungszusammenarbeit einen verstärk- landwirtschaftlichen Monokulturen und Kahlschlägen, ten Beitrag leisten und unseren Partnerländern unter die darstellen. Gerade in Afrika gibt es eine Reihe von Bei- Arme greifen. Gefragt sind Beratungsleistungen zum spielen, in denen durch eine nachhaltige Nutzung von Aufbau von effektiven Managementsystemen, Systeme Naturressourcen, beispielsweise Wildtiere – im Einver- zur bestmöglichen Einbeziehung der lokalen Bevölke- nehmen mit der lokalen Bevölkerung –, wertvolle Natur- rung sowie neue innovative Instrumente zur langfristi- gebiete erhalten werden konnten. gen Finanzierung von Naturschutzgebieten. Die Einrich- tung und Unterstützung von Stiftungen oder so Bitte verstehen Sie uns nicht falsch. Es ist nicht im- genannten trust funds zur Finanzierung von Schutzge- mer notwendig, mehr Geld in die Hand zu nehmen. Vie- bieten halte ich für sinnvoll, betone aber zugleich, dass les kann schon allein durch verstärktes Engagement er- reicht werden. Wir erwarten zum Beispiel von der diese nicht dazu führen dürfen, reformbedürftige und ge- Bundesregierung, dass sie die Weltbank und die regiona- gebenenfalls korrupte Verwaltungen künstlich am Leben len Entwicklungsbanken ermutigt, in ihrer Projektpla- zu erhalten. In vielen Fällen müssen wir uns die Frage nung den Schutz und die nachhaltige Nutzung der biolo- stellen, ob der Staat wirklich der beste Akteur für das gischen Vielfalt stärker zu berücksichtigen. Management und die Absicherung von Schutzgebieten ist. Ich behaupte, dass dies in vielen Ländern nicht der Auch wünschen wir uns, dass der Schutz global wich- Fall ist. Wir müssen uns daher verstärkt mit der Frage tiger Naturressourcen von allen beteiligten Bundes- beschäftigen, ob zumindest in manchen Fällen private ministerien, wie zum Beispiel BMZ, BMU, BMBF und Akteure, kommunale Gemeinschaften oder NGOs einen AA, gleichermaßen unterstützt wird. Dies ist bisher lei- besseren Schutz der Natur gewährleisten können als zen- der nicht immer der Fall. tralistisch organisierte und bürokratische staatliche Insti- tutionen. Gerade im südlichen Afrika haben sich private Abschließend möchte ich sagen, dass die CDU/CSU Schutzgebietsansätze sehr bewährt. Es gibt eine Reihe den gemeinsamen Antrag als große Chance sieht, den et- von sehr erfolgreichen privaten Naturreservaten und so- was in Vergessenheit geratenen Sektor „Schutz der Bio- gar professionellen privaten Unternehmen, die dem Staat diversität“ wieder aufzuwerten. Wir reichen der Regie- die Dienstleistung „Schutz und Management der staatli- rung die Hand und bieten unsere konstruktive chen Parks“ anbieten. Auch sehr bewährt haben sich Unterstützung an. Lassen Sie uns in diesem Bereich zu- (B) (D) Partnerschaftsmodelle zwischen der lokalen Bevölke- sammenarbeiten. Es geht schließlich nicht nur um die rung, privaten Landbesitzern und dem Staat. Für die Lebensgrundlagen künftiger Generationen, sondern auch deutsche Entwicklungszusammenarbeit sollte dies ein um Vermeidung von zukünftigen Krisen und Konflikten. Ansporn sein, sich intensiver mit innovativen Gover- Natur- und Umweltschutz sind zudem eine zentrale Vo- nance-Strukturen für Schutzgebiete zu beschäftigen. raussetzung zur Erreichung der Millennium-Develop- ment-Ziele. Wir erwarten auch, dass die Bundesregierung die Er- gebnisse der 7. Vertragsstaatenkonferenz der Konven- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch tion über die Biologische Vielfalt – CBD – zu Schutzge- in den Beratungen in den Ausschüssen wurde die Bedeu- bieten aktiv unterstützt und umsetzt. Eines der tung des Themas „Biologische Vielfalt und Armutsbe- Ergebnisse der 7. Vertragsstaatenkonferenz ist die Ein- kämpfung“ unterstrichen. Nur die FDP hat sich wirklich richtung eines repräsentativen globalen Netzwerks von schwer getan mit der Befassung. Ein einheitliches Vo- Schutzgebieten zu Land und zu Wasser. Im Juni dieses tum in den diversen Ausschüssen lässt sich nicht erken- Jahres wird in Italien eine Geberkonferenz zur Finanzie- nen. Dies mag nicht verwundern, war doch an keiner rung dieses Schutzgebietsnetzes stattfinden. Wir erwar- Stelle der Debatte wirklich erkennbar, dass die Liberalen ten, dass sich das Bundesministerium für wirtschaftliche dem Thema die angemessene Aufmerksamkeit zukom- Zusammenarbeit in diese Konferenz aktiv einbringt und men lassen. Gleichwohl bin ich froh, dass wir mit den den Aufbau des globalen Schutzgebietsnetzwerks finan- Ergänzungen der Kollegen des Ausschusses für Verbrau- ziell unterstützt. cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, die den An- trag um den Aspekt der Ernährungssicherheit ergänzt ha- Ich habe bisher ausschließlich von Schutzgebieten ge- ben, diesen heute hier beschließen. sprochen. Uns allen sollte jedoch klar sein, dass der größte Anteil der Biodiversität außerhalb von Schutzge- Lassen Sie mich also kurz beschreiben, warum der bieten existiert. Gerade in diesen Gebieten ist die Natur Erhalt der biologischen Vielfalt so existenziell, ja von besonders gefährdet. Wir müssen uns deshalb auch ver- globaler Bedeutung ist und warum ein unmittelbarer Zu- stärkt auf Konzepte konzentrieren, die geeignet sind, sammenhang zur Bekämpfung der Armut besteht. Wie biologische Vielfalt auch außerhalb von Schutzgebieten ist denn die Ausgangssituation? Pro Jahr werden rund zu erhalten. Schutz durch nachhaltige Nutzung – ganz 15 Millionen Hektar Wald vernichtet und pro Tag ster- im Sinne der Konvention über biologische Vielfalt – ist ben rund 150 Arten aus. Die Zerstörung von Ökosyste- hier oft der erfolgreichste Ansatz. Es geht um Anreizme- men und der Verlust an Arten beschleunigt sich in alar- chanismen für die lokale Bevölkerung, schonend mit den mierender Weise. Die Staatengemeinschaft hat dies 16214 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) durchaus erkannt. Sie hat auf dem Weltgipfel von Johan- sammenhang mit Patentanmeldungen. Wenn die Men- (C) nesburg das Ziel formuliert, die Verlustrate an biologi- schen aus den Ländern – dies schließt ausdrücklich die scher Vielfalt bis zum Jahre 2010 signifikant zu reduzie- lokale Bevölkerung und die indigenen Gemeinschaften ren. Allein die Umkehr des negativen Trends zu mit ein – nicht direkt profitieren, entfällt ein Interesse erreichen ist uns noch nicht gelungen. Und genau des- am Erhalt. Wir brauchen eine gerechte Verteilung der halb müssen Industrie- und Entwicklungsländer mehr Vorteile und mittelfristig ein internationales Regime ein- tun, um die biologische Vielfalt zu erhalten. schließlich eines Mechanismus zur Umsetzung, das eine angemessene Verteilung gewährleistet. Mit der UN- Denn eines wird doch in den letzten Jahren immer Konvention über die biologische Vielfalt, CBD, haben deutlicher: Globaler Klimawandel, Wüstenbildung, die wir ein zwischenstaatliches Instrument, bei dem Schutz- Zerstörung der Bodenfruchtbarkeit oder die Verringe- und Nutzungsaspekte gleichermaßen im Blickfeld ste- rung der Vielfalt von Nutzpflanzen wie Getreide- und hen. Das ist richtig; denn nur so kann der Schutz und Er- Reissorten, die Überfischung der Weltmeere, von denen halt der biologischen Vielfalt funktionieren. die Welternährung abhängt – alles Entwicklungen, die den Erhalt der biologischen Vielfalt beeinflussen –, ha- Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Wangari ben globale Auswirkungen. Sei es bezogen auf die glo- Maathai war auch eine Ermutigung derjenigen, die sich bale Sicherheit, auf die Bekämpfung der Armut oder, all- weltweit für den Erhalt der Umwelt einsetzen. Die Bot- gemeiner formuliert, auf die Entwicklungsperspektive schaft war klar: Umweltpolitik, Friedenspolitik und die von Gesellschaften. So wird man auch daran erinnern Bekämpfung von Armut gehören zusammen. Der Erhalt müssen, dass schon heute die Zahl der Umweltflücht- der biologischen Vielfalt ist wirklich ein Menschheitsan- linge höher liegt als die Zahl der Menschen, die infolge liegen. Wir können uns nicht damit abfinden, dass der von Bürgerkrieg und Krieg ihre Heimat verlassen müs- Verlust der Artenvielfalt nicht aufzuhalten ist. sen. Wir haben in der ersten Debatte zum Thema darüber Ulrich Heinrich (FDP): Es freut mich, dass wir bei gesprochen, was man tun kann zum Erhalt der biologi- diesem Antrag im Ausschuss zu einer so schnellen Eini- schen Vielfalt und was die Bundesregierung getan hat. gung gekommen sind. In dem uns heute vorliegenden Ich habe dabei die Bedeutung des Erhalts des Regenwal- Antrag wurden in der letzten Ausschusssitzung einige des erwähnt und Projekte des Umwelt- und Ressourcen- Veränderungen vorgenommen, die ich hier noch einmal schutzes beschrieben, habe Beispiele der Sicherung der herausstellen möchte. Agrobiodiversität erwähnt und das Nationalparkmanage- Zum einen wurde die einseitige Hervorhebung der ment. Die Bundesregierung, aber auch die Durchfüh- FSC-Zertifizierung für Holznutzung aufgegeben und er- (B) rungsorganisationen haben hier wirklich Vorbildliches setzt durch die Forderung, die Unterstützung und Ver- (D) geleistet, was in der Höhe der Finanzmittel und der Qua- marktung bestehender unabhängiger Zertifizierungssys- lität der Programme zum Ausdruck kommt. Sie wissen, teme für eine ökologische, sozial und ökonomisch dass die Zusagen in der bilateralen Zusammenarbeit von nachhaltige Waldbewirtschaftung zu stärken. Dadurch circa 558 Millionen Euro im Jahr 2000 auf circa können alle acht von der FAO anerkannten Systeme glei- 710 Millionen Euro im Jahr 2003 gesteigert wurden. chermaßen gefördert werden und die Entwicklungslän- Deutschland ist zudem einer der größten bilateralen Ge- der, die sich nicht für das FSC entschieden haben, wer- ber im Bereich des Tropenwaldschutzes. Meine Fraktion den nicht mehr benachteiligt. wird sich auch in den kommenden Jahren dafür stark machen, hier nachzulegen. Zum anderen wurden die Widersprüche des Antrages zwischen dem partizipatorischen Ansatz unserer Ent- Aber ich möchte an dieser Stelle noch einen weiteren wicklungszusammenarbeit und den Interessen der Ent- Aspekt ansprechen. Was können wir tun, um internatio- wicklungsländer auf der einen Seite und die Forderun- nal weiterzukommen? Wir müssen Gebiete, die ökolo- gen, dass internationale Handelsvereinbarungen und frei gisch von besonderer Bedeutung sind, erhalten. Dies gilt werdende Mittel aus Entschuldungen nach HIPC II zu- vor allem dort; wo eine einzigartige Vielfalt existiert. Ich gunsten des Schutzes der biologischen Vielfalt verwandt spreche von den Ländern, die sich in der so genannten werden sollen, zwar nicht gelöst, aber zumindest ent- Megadiversen-Allianz zusammengeschlossen haben. schärft. Länder, in denen rund 80 Prozent der biologischen Viel- falt der Erde beheimatet sind wie Brasilien, Indonesien, Des Weiteren finde ich es wichtig und richtig, dass in Indien und China. Dies wird sich nur dann erreichen der neuen Fassung des Antrages die Bedeutung der bio- lassen, wenn den Ländern langfristig mehr Einnahmen logischen Vielfalt bei der Ernährungssicherung berück- entstehen durch den Schutz ihrer einzigartigen ökologi- sichtig wird. schen Vielfalt, durch Mittel aus der Entwicklungskoope- ration, durch Ausgleichsmaßnahmen im Kontext der Anschaulich wird im Antrag geschildert, dass das Klimakonvention und der Konvention über die biologi- Potenzial der Biodiversität in den Entwicklungsländern sche Vielfalt sowie durch eine nachhaltige Nutzung der besonders hoch ist. Dieses Potenzial kann den Menschen Ressourcen. nur zugute kommen, wenn sie den ökonomischen Wert der biologischen Vielfalt kennen und anwenden. In die- Wir müssen die Biopiraterie zum Nachteil der Ent- sem Zusammenhang wird auch erkannt, dass der Schutz wicklungsländer bekämpfen und Regeln entwickeln im der biologischen Vielfalt nur dann gelingen kann, wenn Zuge der Nutzung biologischer Ressourcen und im Zu- die Menschen in den Entwicklungsländern am Nutzen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16215

(A) der vielfältigen Flora und Fauna beteiligt werden. Hier Am 23. Februar 2005 haben wir uns im Ausschuss für (C) besteht in den Entwicklungsländern noch enormer Nach- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aus- holbedarf. führlich mit der Situation in Togo beschäftigt. Unsere schnelle Einigung über diesen Antrag zeigt, Wir haben sehr deutlich gemacht, dass wir das Ver- wie sehr uns allen der Schutz der Biodiversität am Her- halten von Faure Gnassingbé und seinen Anhängern ver- zen liegt. Ich möchte Ihnen für die Zusammenarbeit in urteilen, und haben gefordert, dass die Wahlen frei, fair diesem Punkt danken. und demokratisch ablaufen. Wir haben damals – ebenso wie die Bundesregierung – deutlich gemacht, dass es eine Übergangsregierung geben muss und die nach der Anlage 10 Verfassung gültigen Fristen für Neuwahlen eingehalten werden müssen. Wir haben unseren Ausschussvorsitzen- Zu Protokoll gegebene Reden den beauftragt, unsere deutliche Stellungnahme und un- sere Forderungen zu den Vorgängen in Togo in entspre- zur Beratung des Antrags: Togos Weg in die De- chender Weise öffentlich zu machen. mokratie unterstützen – Afrikanische Union (AU) und ECOWAS beim Engagement für Die Meldungen, die uns zwischenzeitlich erreicht ha- Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat- ben, lassen allerdings die Hoffnung, dass unsere berech- lichkeit unterstützen (Zusatztagesordnungs- tigten Forderungen Gehör finden, nicht zu. Ich denke, je- punkt 10) der von uns hier im Plenum hat seine berechtigten Zweifel, dass diese Wahlen tatsächlich demokratisch sein werden. Wir verurteilen deshalb auch auf das Gabriele Groneberg (SPD): Es ist richtig, wir in Schärfste das brutale Vorgehen des Militärs gegen De- Deutschland können uns aufgrund unserer gemeinsamen monstranten, die sich im Vorfeld gegen Manipulationen Vergangenheit mit Togo verbunden und deswegen auch aussprechen und dies durch Proteste deutlich machen. verpflichtet fühlen. Vor dem Jahr 1993 hat sich dieses in einer intensiven bilateralen Zusammenarbeit mit Togo Die Bundesregierung hat im Vorfeld durch die Aus- dargestellt. Wir haben dann diese intensive Zusammen- bildung von Wahlbeobachtern in Zusammenarbeit mit arbeit einstellen müssen. Der Grund lag für uns in den dem Kofi-Annan-International-Peacekeeping-Centre in zuvor stattgefundenen Wahlen, die weder frei und demo- Ghana bereits 2004 50 Wahlbeobachter aus ECOWAS- kratisch abgelaufen waren und auch in höchstem Maße Staaten ausbilden lassen und gegenüber ECOWAS auch unfair waren. Eine Zusammenarbeit mit dem diktatori- auf deren Einsatz bei den Wahlen in Togo gedrängt. Die schen Regime konnte unter diesen Umständen nicht Bundesregierung wird aus den Botschaften der umlie- (B) mehr aufrechterhalten werden. Dies haben wir alle sehr genden Länder Mitarbeiter zur Beobachtung der Wahlen (D) bedauert. Wie haben allerdings weiterhin in Togo tätige nach Togo entsenden. Trotzdem befürchten wir, dass es NGO’s unterstützt und tun dies immer noch. Die huma- eben nicht zu freien, fairen und demokratischen Wahlen nitäre Hilfe für die Bevölkerung ist notwendiger denn je. kommen wird. Wir haben also im Großen und Ganzen eine Übereinstimmung mit den Aussagen und Zielen Ih- Das Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem dik- res Antrages. tatorischen Regime in Togo ist generell bei der interna- tionalen Gemeinschaft wie auch bei anderen EU-Län- Ihre in Ihrem Antrag geäußerte Kritik an der AU und dern nicht sehr groß. Ablesen kann man dies durchaus an ECOWAS finde ich nicht angemessen. Beide Organi- daran, dass nur zwei EU-Länder, Frankreich und sationen müssen sich in ihrer neuen Rolle zurechtfinden. Deutschland, Botschaften in Togo unterhalten. Das geht nicht von heute auf morgen. Im vorliegenden Fall ist sehr gut reagiert worden. Umgehend ist massiver Der plötzliche Tod des Präsidenten Eyadéma im Fe- Druck auf das Regime in Togo ausgeübt worden bis hin bruar 2005 hätte den Aufbruch in ein demokratisches zu beschlossenen Sanktionen. In Kombination mit dem Zeitalter für Togo bedeuten können. Weit gefehlt! In ei- Druck der internationalen Gemeinschaft hat das dazu ge- nem Staatsstreich brachte das Militär den Sohn des Dik- führt, dass Faure Gnassingbé zurückgetreten ist und die tators, Faure Gnassingbé, an die Macht. Diverse Verfas- Verfassung wieder in Kraft gesetzt wurde. sungsänderungen sollten dafür sorgen, dass dieser bis 2008 ohne Wahlen im Amt bleiben sollte. Ich gehe davon aus, dass das gewachsene Selbstbe- wusstsein in beiden Organisationen in Zukunft dazu füh- Erst der massive Druck der internationalen Gemein- ren wird, dass sich AU und ECOWAS früher als bisher schaft, der USA, der EU, der AU – Afrikanische Union – und erfolgreich in afrikanische Konflikte einmischen und ECOWAS – Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikani- werden, und dafür brauchen sie unsere ungeteilte Unter- scher Staaten – haben dafür gesorgt, dass die alte Verfas- stützung. sung wieder Gültigkeit erlangte und ein Übergangspräsi- dent eingesetzt wurde. Ebenso wurden Neuwahlen Wundern muss ich mich allerdings darüber, warum innerhalb 60 Tagen angeordnet. Ihr Antrag erst mit Datum vom 19. April 2005 – das war am Dienstag – eingereicht wurde. Jetzt bedenken Sie Die Bundesregierung hat seit Anfang Februar mehr- einmal die Zeitschiene: Wir beraten heute am späten fach auf verschiedene Weise deutlich gemacht, dass sie Donnerstagabend über diesen Antrag. Morgen, Freitag, Vorgänge um die Machtübernahme durch Faure beginnt bei uns und in der EU das Wochenende und am Gnassingbé verurteilt. Sonntag sind die Wahlen. Insofern muss ich feststellen, 16216 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) dass Ihre an die Bundesregierung gerichteten Forderun- mentswahl besprochen und vereinbart wird. Auch hier (C) gen absolut ins Leere laufen müssen, alleine aus zeitli- erwarten die internationalen Geber einen demokrati- chen Gründen. schen Verlauf. Glauben Sie ernsthaft, dass jetzt quasi in letzter Mi- Ich will zu meinem dritten Punkt kommen: Besonders nute die Bundesregierung und die EU-Partner eine durch den Druck der Afrikanischen Union und der Wirt- Chance haben, die togolesische Regierung und das Par- schaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten lament zu überzeugen, dass die Präsidentschaftswahlen ECOWAS wurde erreicht, dass Faure Gnassingbé zu- auf einen anderen Zeitpunkt verschoben werden? Glau- rücktrat. Afrikanische Union und ECOWAS haben damit ben Sie das wirklich? Noch nicht einmal die sofortige ihre Verantwortung für den Kontinent und die Region Abstimmung dieses Antrages haben Sie verlangt. So deutlich gemacht und eine Rückkehr zur Verfassung in wird der Antrag heute überwiesen, und was die Wahlen Togo mit erreicht. Sie haben damit Durchsetzungsstärke betrifft, hat er sich am Montagmorgen erledigt. bewiesen. Auch die Vorbereitung der Wahl wird von Die Bundesregierung hat sich im Übrigen durch Frau ECOWAS begleitet. Das macht Hoffnung. Wir alle – ich Staatsministerin Kerstin Müller heute noch einmal be- denke, ich spreche hier für das ganze Hohe Haus – wün- sorgt zu den Wahlen geäußert und an die Verantwortli- schen uns und appellieren an die zuständigen Verant- chen in Togo appelliert, ihre eingegangenen Verpflich- wortlichen, dass dieses Beispiel Schule macht. Auch in tungen zu erfüllen. anderen afrikanischen Ländern sollte sich die AU nicht scheuen, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und Demokratie einzufordern. Dr. Conny Mayer (CDU/CSU): Am vergangenen Sonntag kam es in Togos Hauptstadt Lome zu blutigen Lassen Sie mich eine Bemerkung zum Schluss ma- Auseinandersetzungen. Bei gewaltsamen Zusammenstö- chen: Ich hatte über Ostern die Gelegenheit, Togo zu be- ßen zwischen Anhängern der Regierung und der Opposi- suchen. Ich konnte Gespräche mit Vertretern der Regie- tion sind mehrere Dutzend Menschen verletzt worden rung und der Opposition führen und Menschen und es gab mindestens einen Toten. außerhalb der Politik treffen. Mir ging es wie vielen an- deren vor mir auch: Die Freundlichkeit und Offenheit, Die Republik Togo steht wenige Tage vor der Präsi- die die Togolesen uns Deutschen entgegenbringen, hat dentschaftswahl. 38 Jahre lang hat Eyadéma sein Land mich tief berührt. Togo und Deutschland verbindet eine mit eiserner Hand regiert. Mit dem Tod des langjährigen lange gemeinsame Geschichte. Unsere beiden Länder Diktators hat das Land eine große Chance: die Chance verbindet eine tiefe Freundschaft. Ich wünsche mir sehr, auf einen friedlichen Übergang zu Rechtsstaatlichkeit dass Togo die gebotene Chance ergreift. Und ich wün- und Demokratie. Über viele Jahrzehnte hinweg enga- (B) sche mir sehr, dass Togo schnellstmöglich seinen Weg (D) gierte sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in zur Einhaltung von Menschenrechten, zum Rechtsstaat Togo. Seit 1993 ist diese eingefroren. Die deutsche EZ und zur Demokratie findet. konzentriert sich seitdem auf humanitär ausgerichtete Einzelmaßnahmen sowie die Arbeit von NROs. Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): In Togo zeigt Mit einem Übergang zur Rechtsstaatlichkeit, mit kon- sich, wie eine der wenigen in Afrika noch herrschenden sequenter Einhaltung der Menschenrechte, mit einem diktatorischen Dynastien mit verzweifelten Mitteln um friedlichen Wandel zur Demokratie hat Togo die Chance, ihren Machterhalt ringt. In dieser sensiblen Phase ist es an diese Zeit vor 1993 anzuknüpfen. ein nicht zu unterschätzendes und wirksames Zeichen, Die Intensivierung der Beziehung mit Deutschland dass jene Länder Afrikas, die für ihre Völker den Weg und die Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenar- der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erfolgreich be- beit setzen freie und transparente Präsidentschaftswah- schritten haben, sich in erster Linie mitverantwortlich len am kommenden Sonntag voraus. Dabei geht es nicht zeigen. nur um die Vorgehensweise am Tag der Wahl. Freie und transparente Wahlen heißt auch, dass die Revision der Es gilt, die letzten Exklaven diktatorischer Staatsre- Wahllisten und die Ausgabe der Wahlkarten vor der gime anzuprangern und mit Sanktionen zu belegen, um Wahl transparent und gemäß den Wahlgesetzen vor sich so den Prozess der Demokratisierung, einer freiheitli- gehen. Transparent und frei heißt auch, dass alle politi- chen Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung der Men- schen Kräfte bei der Vorbereitung, Durchführung und schenrechte einzufordern. Dass dieser Prozess vorrangig Auszählung der Wahlen beteiligt sind. Und natürlich ein afrikanischer ist, aber zugleich alle Unterstützung heißt frei auch, dass die Wählerinnen und Wähler ohne der freien Welt, im Falle Togos besonders jener Länder Angst und Einschüchterung zu den Wahlurnen gehen wie Deutschland, Frankreich und England, die durch können, um ihre Stimme abzugeben. ihre geschichtlich-koloniale Verbindung bis heute eine besondere Verantwortung und einen besonderen Einfluss Ich will einen zweiten Punkt ansprechen: Ein weiterer nehmen können, ist uns allen bekannt. Dabei dürfen wir wichtiger Prüfstein sind die anstehenden Parlaments- aber nicht übersehen, dass besonders in dem Bemühen wahlen; diese waren schon vor dem Tode des Präsiden- der EU, die seit vielen Jahren den Prozess der Demokra- ten zentrales Thema der EU-Togo-Konsultationen. Uns tisierung in Togo aktiv begleitet, dringend notwendig und der EU ist wichtig, dass es schnellstmöglich zu ei- mit einer Stimme gesprochen werden muss. Umso nem nationalen Dialog, auch mit der Zivilgesellschaft, schwerer ist dies, wenn auf der Seite der europäischen kommt, und dass gemeinsam der Rahmen für die Parla- Hauptakteure massive Eigeninteressen einer zu großen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16217

(A) Unentschiedenheit gegenüberstehen. Um der deutschen sition Deutschlands gegenüber der Entwicklung in Togo (C) Position eine klare Form zu geben, liegt der Antrag mei- sein kann. ner Fraktion heute vor. In ihm nehmen wir zur Kenntnis und würdigen wir die Leistung als auch die führende Position der Länder der AU und ECOWAS. Durch eine Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schnelle und klare Ablehnung der Machtergreifung NEN): Die Entwicklungen in Togo seit dem Tod von durch den Sohn des verstorbenen Staatspräsidenten ha- Diktator Eyadéma verfolgen wir alle mit einer Mischung ben sie wesentlich mit zum Rücktritt Faures beigetragen. von Besorgnis und Hoffnung. Die Befassung des Deut- Seitens der EU und seitens der Bundesrepublik gilt es schen Bundestages mit dieser Entwicklung begrüße ich. dies weiterhin zu unterstützen und zu einem nicht nach- Sie sollte allerdings so ablaufen, dass nicht der Verdacht lassenden Druck auf die Verantwortlichen in Togo zu er- aufkommt, es ginge hier zuallererst um Taktik zwischen muntern; denn mit dem Rücktritt Faure Gnassingbes hiesiger Opposition und Regierung oder um Profilierung vom Amte eines Interimspräsidenten und den angesetz- der einen Oppositionspartei. ten Neuwahlen, so wissen wir alle, ist es in Togo bei Deshalb möchte ich, bevor ich auf die Situation in weitem nicht getan. Togo zu sprechen komme, gleich zum vorliegenden An- In einem Land, in dem es keine wie bei uns übliche trag klarstellen: Die zentrale Forderung, dass die Bun- Struktur der Meldepflicht gibt, ist besonders die Vorbe- desregierung jetzt noch innerhalb von verbleibenden drei reitung der Wahlen, der Wahlliste, und ein fairer Wahl- Tagen dafür sorgen soll, dass die Wahlen in Togo ver- kampf, der eine ausreichende Vorbereitungsspanne be- schoben werden, kann ich nicht als wirklich ernsthaftes sonders der Opposition braucht, einer der sensibelsten Begehren im Sinne einer tatsächlichen Realisierung an- Punkte, um zu freien, gleichen und fairen Wahlen zu sehen. Dies schadet leider dem Antrag. Schon darum ist kommen. der Antrag der CDU/CSU mit diesem Aufforderungsteil jedenfalls heute nicht zustimmungsfähig. Wie sehr die gesamte Situation der Wahlen durch eine seit langem vorbereitete Kampagne zur Machterhaltung Wie Sie wissen, bemüht sich die Bundesregierung da- und Machtübertragung vom verstorbenen Staatspräsi- rum, dass von Deutschland ausgebildete Wahlbeobachter denten auf seinen Sohn Faure belastet ist, wird erst klar, bei den Wahlen am Wochenende zum Einsatz kommen. wenn wir uns des so genannten Verfassungsputsches Es ist wünschenswert, dass über die Aktivitäten der Bun- vom Dezember 2002 und dessen Auswirkungen auf die desregierung hinaus ein Zeichen durch den Deutschen jetzt bevorstehenden Wahlen vergewissern. In einem un- Bundestag gesetzt wird. Wenn Sie dies und ein Votum erhörtem Akt wurde dort das Wahlgesetz geändert: So einer möglichst breiten Mehrheit wollen, wäre es besser (B) wurde nicht nur eine dritte Amtszeit des Präsidenten er- gewesen, den Antrag nicht erst am Dienstagnachmittag (D) möglicht und die Machtübergabe an seinen Sohn vorbe- dieser Woche zuzuleiten. Eine Beratung war in den Frak- reitet, indem das gesetzliche Mindestalter für den Präsi- tionen nicht mehr möglich. Ich bedaure dies. Ich würde denten für den zu jungen Faure gesenkt wurde; zudem es begrüßen, wenn wir im Ausschuss noch zu einem ge- wurde durch die Einführung einer Residenzpflicht einer meinsamen Ergebnis kommen. der führenden Oppositionellen, Gilchrist Olympio – aus Sicherheitsgründen im Ausland lebend –, von der Wahl Meine Hauptsorge ist die Gefahr einer erneuten Eska- per Gesetz ausgeschlossen. lation von Gewalt vor und auch nach der Wahl. Wir soll- ten daher heute in unseren Reden an die Vernunft aller Eine schnelle und ernsthafte Rückkehr zu einem Pro- am Konflikt Beteiligten appellieren, besonnen zu han- zess der Demokratisierung und der Rechtsstaatlichkeit deln, die Wahlen ohne Blutvergießen durchzuführen und ist weiterhin auch als Bedingung für eine normalisierte alles zu tun, um eine Gewalteskalation zu vermeiden. entwicklungspolitische Arbeit grundlegend. Die Einfor- Denn wir wissen ja aus einer ganzen Reihe von Beispie- derung der Umsetzung jener 22 Punkte der Selbstver- len, dass der Übergang aus einer jahrzehntelangen Dikta- pflichtungen Togos aus dem Jahre 2004 auf diesem Weg tur in eine Demokratie alles andere als einfach ist, mög- ist unverzichtbare conditio sine qua non. licherweise von Rückschlägen begleitet. Die Wahlen Vor dieser Folie sind die anstehenden Wahlen zu be- vom Sonntag sind nur der erste Schritt. Allzu leicht kann werten und ist auch die Gemeinschaft der afrikanischen im weiteren Verlauf der Versuch einer demokratischen Länder zu unterstützen, die die Tatsache der Wahlen Selbstbestimmung in Blut ersticken. Auch die jetzigen nicht als hinreichenden Grund nehmen sollte, um den Wahlen kamen ja nur auf Druck von ECOWAS zustande. Prozess in Togo nur kritisch zu beobachten und in ihrem In Togo selbst waren nach dem Tode Eyadémas Putsch Druck auf die Verantwortlichen nachzulassen. und Verfassungsbruch bereits Realität geworden. Ich wünsche mir, dass der Fall Togo ein positives Bei- Darum ist es wichtig, dass sich der Deutsche Bundes- spiel werden kann, indem sich zeigt, wie durch die An- tag jetzt zu Wort meldet, aber auch den weiteren Prozess strengungen sowohl im Lande als auch der afrikanischen der Demokratisierung begleitet. und der europäischen Länder ein Prozess der Befreiung hin zur Demokratisierung erfolgreich beschritten werden Aber wir Deutschen haben auch besondere Gründe, kann. uns mit der Entwicklung im Kongo zu beschäftigen: 25 Jahre Entwicklungszusammenarbeit auch mit dem Einen wichtigen Schritt dazu stellt der vorliegende Diktaturregime und eine eigene unrühmliche Vergangen- Antrag dar, der eine gute Basis für eine gemeinsame Po- heit als Kolonialmacht in diesem Land Afrikas. 16218 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005

(A) Erstens. Fast vier Jahrzehnte Diktatur von Eyadéma Ulrich Heinrich (FDP): Afrika lässt uns nicht los. (C) sind nicht die einzige historische Last, die ein demokra- Der kalte Staatsstreich von Faure Gnassingbé, des Soh- tisches Togo zu tragen hat. Wer dazu beitragen will, ei- nes des im Februar 2005 verstorbenen togolesischen, nen demokratischen Weg für Togo zu eröffnen, der muss diktatorisch regierenden Staatschefs Gnassingbé – dies gilt für Togo genauso wie für andere aus ehemali- Eyadéma, hat mithilfe des Militärs den von der Verfas- gen Kolonien entstandene Staaten – erst einmal selbst sung vorgesehenen Interimspräsidenten, Parlamentsprä- wahrhaftig sein und das, was in Togo geschehen ist, auf- sident Natchaba, daran gehindert, sein von der Verfas- arbeiten. Diese Wahrhaftigkeit, die Aufarbeitung der Ge- sung vorgesehenes Amt des Interimspräsidenten bis zur schichte, hat in Afrika einen hohen Stellenwert, wie die demokratischen Neuwahl eines Staatspräsidenten zu zahlreichen Wahrheitskommissionen belegen und wie übernehmen. Dies kann und darf nicht hingenommen afrikanische Vertreter immer wieder betonen. Darüber werden; nicht von den Europäern, aber vor allem auch geht der Antrag hinweg. Unvermittelt stehen nebenei- nicht von den Afrikanern selbst. nander eine 38 Jahre währende Diktatur Eyadémas und die jahrzehntelange Entwicklungszusammenarbeit mit Die FDP begrüßt deshalb vorbehaltlos die energische Deutschland, die erst 1993 beendet wurde. Wo bleibt Reaktion des Kommissionspräsidenten der Afrikani- eine Bewertung von 25 Jahren Entwicklungszusammen- schen Union, AU, Alpha Oumar Konaré, der den Coup arbeit mit dieser Diktatur? von Gnassingbé junior als eben das bezeichnet hat, was er ist, nämlich als einen Staatsstreich. Wir begrüßen es, Zweitens. Sie übernehmen Forderungen der Opposi- dass die AU und übrigens auch die Wirtschaftsgemein- tion in Togo als Forderungen an die Bundesregierung. schaft der Westafrikanischen Staaten, ECOWAS, Togo Aber diese Opposition buchstabiert den Vornamen Faure mit Sanktionen und mit militärischer Intervention ge- des Eyadéma-Sohnes und RPT-Kandidaten auch als „Fe- droht haben. Genau diese schnelle und unzweideutige deration Assansins Unis Relayer Eyadéma“, also als Reaktion der afrikanischen supranationalen Institutionen „Verband der Vereinigten Mörder zur Werbung für Eya- ist es, was wir uns noch viel öfter wünschen würden. déma“. Wenn die RPT ein „Verband der Vereinigten Leider spricht Afrika bei anderen Konflikten nicht so un- Mörder“ ist, wie erklären Sie die uneingeschränkte Ab- zweideutig mit einer Stimme. Simbabwe steht dafür als schiebepraxis der unionsgeführten Länder in Deutsch- prominentestes, beileibe aber nicht als einziges Beispiel. land? Kann das etwas mit der bekannten Duzfreund- schaft von F. J. Strauß mit eben jenem Diktator zu tun Gerade weil wir Afrika ernst nehmen, wünschen wir gehabt haben? uns, dass bei der Lösung von regionalen oder von Staats- krisen in Afrika in allererster Linie die afrikanischen In- Drittens. Die gemeinsame Geschichte, die Deutsch- stitutionen selbst eigene Krisenlösungsmechanismen in (B) land und Togo verbindet, ist auch die Geschichte Gang setzen, bevor nach der Weltgemeinschaft gerufen (D) Deutschlands als Kolonialmacht in Togo. Es sind gerade wird. Subsidiarität, die wir Europäer und gerade auch auch die ererbten postkolonialen Strukturen, die die wir Deutsche gerne für uns in Anspruch nehmen, muss Grundlage für Diktatur, Gewalt und Rassismus nach der auch im Umgang mit Afrika gelten. Damit meine ich Entkolonisierung bilden, also dazu beitragen, dass das nicht, dass wir wegschauen sollen. Im Gegenteil, sonst Unrecht fortdauert. Zum Beispiel hat der Diktator säßen wir ja auch heute nicht hier bei der Debatte dieses Eyadéma Menschen, die nicht nachweisen konnten, dass Antrags. Nein, das heißt vielmehr, dass wir alles tun beide Eltern togoische Staatsbürger waren, mit Ausgren- müssen, um die Autorität der AU zu stärken und sie zung und Repression überzogen. Sie konnten nicht handlungsfähiger zu machen. Kommissionspräsident Staatsbürger Togos bleiben. Von vielen Familien lebten Konarés Reaktion ist deshalb ein ermutigendes Signal und leben Angehörige sowohl in Togo als auch in den für die Demokratie in Afrika und natürlich ganz beson- Nachbarstaaten. So wurden viele Menschen aus der Ge- ders für die togolesische Opposition. sellschaft in Togo ausgegrenzt und wurden Opfer dieser deutschen Art von nach dem Blut definierter Staatsbür- Die FDP unterstützt den vorliegenden Antrag der gerschaft. Sie führte zu willkürlichen, häufig schmerzli- CDU/CSU, der Gnassingbé junior dazu auffordert, die chen Ergebnissen wegen der willkürlich gezogenen Ko- extrem kurzfristig für den 24. April 2005 angesetzten lonialgrenzen. Wahlen zu verschieben. Denn unter den in Togo gegen- wärtig herrschenden Umständen kann von demokrati- Deshalb spielt die Aufarbeitung der kolonialen Ver- schen Wahlen nicht gesprochen werden. Wenn der Sohn gangenheit wie auch die Aufarbeitung der Zusammenar- von Präsident Eyadéma sein Land nicht in die internatio- beit während der Diktatur für den Weg Togos in die De- nale Isolation führen will, dann muss er diese undemo- mokratie eine wichtige Rolle. kratisch vorbereiteten Wahlen verschieben und neu aus- schreiben. Wir Entwicklungspolitiker unterstützen Diese Hinweise auf die Vergangenheit sind notwen- deshalb auch die Initiative des Menschenrechtausschus- dig. Sie müssen uns auch beschäftigen, wenn wir einen ses des Deutschen Bundestages, der den gegenwärtigen Antrag formulieren. ECOWAS-Präsidenten und Präsidenten des Niger, Mamadou Tandja, um eine nochmalige deutliche Inter- Um Missverständnissen vorzubeugen, betone ich vention gegenüber der togolesischen Interimsregierung noch einmal: Ich halte es für richtig, wenn der Deutsche zugunsten einer Verschiebung der Wahlen gebeten hat. Bundestag den Weg Togos in die Demokratie möglichst geschlossen unterstützt und dies in einem gemeinsamen Vieles verbindet uns Deutsche mit Togo: Viele Togo- Antrag zum Ausdruck bringt. lesen haben in Deutschland studiert, viele deutsche Bis- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 172. Sitzung. Berlin, Donnerstag den 21. April 2005 16219

(A) tümer und evangelische Landeskirchen arbeiten mit Ge- Nachruf gar „Africa’s most experienced despot“. Es darf (C) meinden in Togo zusammen, aber natürlich gibt es auch nicht sein, dass nach so langen Jahren der Familienherr- die 30 Jahre dauernde Kolonialgeschichte von 1884 bis schaft nun die Präsidentenwürde in Scheinwahlen auf 1914. Sogar noch länger, nämlich nicht weniger als Eyadémas Sohn vererbt werden soll. Es ist das unantast- 38 Jahre, von 1967 bis 2005, dauerte die diktatorische bare Recht des togolesischen Volkes, sein Staatsober- Regierungszeit von Präsident Eyadéma und der ihn un- haupt endlich in freier Wahl zu bestimmen. Die FDP un- terstützenden Clans aus dem Norden Togos. Der „Eco- terstützt deshalb nachdrücklich den vorliegenden nomist“ vom 10. Februar 2005 nannte ihn in seinem Antrag.

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980