Stefan Fleischauer Der Traum von der eigenen Nation Ostasien im 21. Jahrhundert. Politik – Gesellschaft – Sicherheit – Regionale Integration

Herausgegeben von Verena Blechinger-Talcott Thomas Heberer Sebastian Heilmann Patrick Köllner Hanns W. Maull Gunter Schubert Stefan Fleischauer

Der Traum von der eigenen Nation

Geschichte und Gegenwart der Unabhängigkeitsbewegung Taiwans Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

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1. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands

ISBN 978-3-531-16044-3 Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Vogel, bedanken, der die Arbeit mit großem Engagement begleitet und gefördert hat. Seine freund- liche und zuvorkommende Unterstützung stellten für mich eine unschätzbare Hilfe und Ermutigung dar. Mein besonderer Dank gilt auch meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Schubert, der mir mit seinem kritischen und fachkundigen Rat wertvolle Denkanstöße gab, und der durch sein großes Engagement die Veröffentlichung des Buches ermöglichte. Während meines Aufenthaltes in Taiwan hatte ich Gelegenheit zu zahlreichen Inter- views, bei denen meine Gesprächspartner mit großer Geduld und Bereitwilligkeit auf meine Fragen eingingen. Prof. Li Xiaofeng und Herr Roger Hsieh gaben mit zudem Anregungen für weitere Forschungen. Herr Chen Jiahong stellte mir seine umfangreiche Quellensamm- lung zur Verfügung. Besonders erwähnen möchte ich auch Herrn Günter Whittome, mit dem ich viele interessante Gespräche zum 228-Aufstand führte, sowie Herrn Dr. Chiu Chi-chun, der mir kompetente Hinweise zu verschiedenen Aspekten der taiwanesischen Rechtssprechung gab. Mein besonderer Dank gilt Frau Dr. Linda Arrigo. Sie ließ mich von ihrem reichen Er- fahrungsschatz profitieren, und nahm am Fortgang meiner Arbeit großen und persönlichen Anteil. Ohne ihre unschätzbare Hilfe hätte dieses Buch nicht in seiner jetzigen Form entste- hen können. Ich möchte mich weiterhin bei all jenen Institutionen und Organisationen bedanken, die mich auf unterschiedliche Weise unterstützt und zu dieser Dissertation beigetragen haben. Das Institut für taiwanesische Geschichte der Academia Sinica nahm mich als Visiting Scholar auf und ermöglichte mir den Zugang zu der umfangreichen Institutsbiblio- thek. Das 228 Memorial Museum gewährte mir unbeschränkten Einblick in die Sammlung des Museums, und zahlreiche ehrenamtliche Mitarbeiter standen mir mit über- wältigender Freundlichkeit zur Seite. Die Wu Sanlian-Stiftung für historische Materialien Taiwans (Wu Sanlian Taiwan shiliao jijinhui) und das National Taiwan Museum stellten mir seltene historische Materialien zur Verfügung. Die Redaktion der Zeitung Liberty Times stellte Bild- und Textmaterialien aus ihrem Archiv bereit. Schließlich gilt mein besonderer Dank der Landesgraduiertenförderung Baden- Württemberg (GRAFÖG), dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der Chiang Ching-kuo Foundation for International Scholarly Exchange, ohne deren Stipendien die vorliegende Arbeit nicht zu realisieren gewesen wäre.

Ich widme diese Arbeit meinen Eltern, Prof. Peter und Ursula Fleischauer.

Stefan Fleischauer Inhalt

1 EINLEITUNG ...... 15 1.1 Forschungsinteresse, Aufbau und Methodologie ...... 15 1.1.1 Aufbau der Arbeit ...... 16 1.1.2 Methodisches Vorgehen und zentrale Fragestellungen ...... 17 1.2 Forschungsstand und Literatur ...... 21 1.2.1 Forschungsstand und Literatur zum 228-Aufstand ...... 22 1.2.1.1 Sekundärliteratur ...... 22 1.2.1.2 Quellen ...... 23 1.2.2 Forschungsstand und Literatur zur taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland ...... 25 1.2.2.1 Sekundärliteratur ...... 25 1.2.2.2 Quellen ...... 26 1.2.3 Forschungsstand und Literatur zur Unabhängigkeitsbewegung zur Zeit des Weißen Terrors ...... 27 1.2.4 Forschungsstand und Literatur zur Dangwai-Periode ...... 27 1.2.5 Forschungsstand und Literatur zur modernen taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung ...... 28 1.3 Konventionen ...... 29

2 HISTORISCHE EINFÜHRUNG ...... 33 2.1 Frühe Besiedlung und die Herrschaft des Koxinga ...... 33 2.2 Taiwan unter der Qing-Herrschaft ...... 34 2.3 Die „Republik Taiwan“ und die japanische Kolonialherrschaft ...... 36 2.4 Taiwans Rückkehr nach China ...... 40 2.5 Taiwan am Vorabend des 228-Aufstandes ...... 42 2.5.1 Strukturelle Defizite der Provinzverwaltung und Diskriminierung der Taiwanesen ...... 42 2.5.2 Wirtschaftlicher Niedergang ...... 43 2.5.3 Korruption und Raub: Die Plünderung Taiwans ...... 45 8 Inhalt

3 DER 228-AUFSTAND ...... 49 3.1 Beginn des 228-Aufstandes ...... 50 3.1.1 Der Zigaretten-Vorfall vom 27.2 ...... 50 3.1.2 Ausbreitung des Aufstandes: Der Vorfall vor dem Gouverneursbüro ... 51 3.1.3 Ausschreitungen gegen Festländer ...... 53 3.2 Politische Verhandlungen ...... 55 3.2.1 Erste Schritte ...... 55 3.2.2 Beginn der Schlichtungsversuche ...... 57 3.2.3 Die Schlichtungskommission ...... 59 3.2.3.1 Gründung der Schlichtungskommission, Aufbau und Mitglieder ...... 59 3.2.3.2 Verhandlungen zwischen Regierung und Schlichtungskommission ...... 62 3.2.3.3 Pragmatische Aufgaben der Schlichtungskommission ...... 66 3.3 Die Regierung in der Defensive ...... 69 3.3.1 Manipulation der taiwanesischen Volksvertreter ...... 70 3.3.2 Mangelnde Streitkräfte und die Anfrage um Verstärkung ...... 74 3.4 Das Ende des 228-Aufstandes ...... 79 3.4.1 Der 228-Aufstand in Gaoxiong ...... 80 3.4.2 Der 228-Aufstand in Taizhong: Xie Xuehong, die 27. Truppe und die Schlacht von Puli ...... 82 3.4.3 Der 8. März - der letzte Tag des Aufstandes in Taipei und die Ankunft der Armee ...... 85

4 DIE TAIWANESISCHE UNABHÄNGIGKEITSBEWEGUNG IN JAPAN ...... 89 4.1 Die „Exilregierung der Republik Taiwan“ des Liao Wenyi ...... 89 4.1.1 Die Brüder Liao Wenyi und Liao Wenkui ...... 89 4.1.2 Die Blütephase der Exilregierung, 1950-1961 ...... 93 4.1.3 Der Kampf auf Taiwan – die Untergrundorganisation der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung ...... 95 4.1.4 Die Kapitulation des Liao Wenyi ...... 97 4.2 Die Entwicklung in Japan in den späten 60er Jahren ...... 99 4.2.1 Die Hauptströmung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung ... 100 4.2.2 Shi Ming und die „linke“ Strömung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung ...... 102 4.3 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit ...... 105 4.3.1 Der Kampf gegen das KMT-Regime ...... 105 Inhalt 9

4.3.1.1 Der revolutionäre Kampf auf Taiwan ...... 105 4.3.1.2 Taiwan, USA und VRCh – die internationale Perspektive .... 107 4.3.2 Taiwanesischer Nationalismus ...... 109 4.3.2.1 Liao Wenyi und die Theorie des „Taiwanesischen Mischblutes“ ...... 110 4.3.2.2 Taiwan zwischen Volk und Nation: Das Nationalismuskonzept des Wang Yude ...... 112 4.3.2.3 Klassenkampf und nationale Befreiung: Das Nationalismuskonzept des Shi Ming ...... 114 4.3.2.4 Nationalismus und der Kampf um Unabhängigkeit – die praktische Ebene ...... 117 4.3.3 Der 228-Aufstand ...... 119 4.3.3.1 Mangelhafte Quellenlage ...... 120 4.3.3.2 Der 228-Aufstand als Mittel der politischen Propaganda ...... 122

5 DIE TAIWANESISCHE UNABHÄNGIGKEITSBEWEGUNG IN DEN VEREINIGTEN STAATEN ...... 127 5.1 Von der frühen Unabhängigkeitsbewegung zur WUFI ...... 127 5.1.1 Von der UFI zur WUFI – organisatorischer und personeller Aufbau .. 127 5.1.2 Die WUFI und die „Taiwanesischen Heimatverbände“ ...... 130 5.1.3 Der 424-Vorfall: Wendepunkt und Spaltung der WUFI ...... 132 5.2 Die Lobby-Tätigkeiten der Unabhängigkeitsbewegung ...... 136 5.2.1 Beginn der taiwanesischen Lobby-Arbeit ...... 136 5.2.2 Die Morde an Chen Wencheng und Jiang Nan: Prestigeverlust für das ROC-Regime ...... 138 5.2.3 FAHR und FAPA - organisierte Lobby der Unabhängigkeitsbewegung ...... 139 5.3 Der Meilidao-Vorfall und die Verschärfung des Richtungsstreites ...... 140 5.4 Die letzte Phase der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland, 1986 ...... 142 5.5 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit ...... 145 5.5.1 Taiwanesische Unabhängigkeit ...... 145 5.5.1.1 Die WUFI und ihr Anspruch als revolutionäre Gruppe ...... 145 5.5.1.2 Der Blick auf die Volksrepublik China ...... 149 5.5.2 Taiwanesischer Nationalismus ...... 151 5.5.2.1 „Taiwanesischer Nationalismus“ und die „Festländer“ ...... 151 5.5.2.2 Die Herausforderung durch den chinesischen Nationalismus ...... 154 5.5.3 Der 228-Aufstand ...... 156 5.5.3.1 Die historische Aufarbeitung des 228-Aufstandes in den 70er Jahren ...... 156 10 Inhalt

5.5.3.2 Der 228-Aufstand in der politischen Wirksamkeit der Unabhängigkeitsbewegung ...... 158

6 TAIWAN NACH 1947 – DER BEGINN DES WEIßEN TERRORS ...... 163 6.1 Die Hinrichtung des Chen Yi und die Tabuisierung des 228-Aufstandes ...... 164 6.2 Widerstand in Zeiten des Weißen Terrors ...... 165 6.2.1 Der Free China-Vorfall 1960 ...... 168 6.2.2 Der Peng Mingmin-Vorfall 1964 ...... 174 6.2.3 Vergleich der Fälle im Hinblick auf diese Arbeit ...... 178

7 DIE FRÜHE DANGWAI-BEWEGUNG ...... 183 7.1 Beginn der Dangwai-Bewegung ...... 184 7.1.1 Die politische Opposition in lokalen und nationalen Wahlen ...... 184 7.1.2 Die Opposition und der Beginn der Dangwai-Zeitschriften: Die Taiwan zhenglun ...... 186 7.2 Die Oppositionsbewegung verfestigt sich zur Massenbewegung ...... 189 7.2.1 Widerstand der Massen gegen die KMT – der Zhongli-Vorfall 1977 . 190 7.2.2 Der Yu Dengfa-Vorfall und der Qiaotou-Marsch ...... 191 7.3 Der Meilidao-Vorfall 1979: Wendepunkt der Dangwai-Bewegung ...... 194 7.3.1 Die Gründung der Zeitschrift Meilidao ...... 194 7.3.2 Der Konflikt spitzt sich zu: Die Amtsenthebung Xu Xinliangs und Übergriffe gegen die Opposition ...... 195 7.3.3 Der Gedenktag der Internationalen Menschenrechte in Gaoxiong ...... 197 7.3.4 Verhaftungen ...... 199 7.3.5 Die Meilidao-Prozesse, 18.3.-28.3.1980 ...... 200 7.3.6 Der „zweite 228-Vorfall“ – die Morde an der Familie des Lin Yixiong ...... 203 7.4 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit ...... 206 7.4.1 Taiwanesischer Nationalismus ...... 206 7.4.2 Der 228-Aufstand ...... 207 7.4.2.1 Der 228-Aufstand in den Dangwai-Zeitschriften der frühen Periode ...... 207 7.4.2.2 Der Meilidao-Vorfall und der 228-Aufstand ...... 209 7.4.3 Taiwanesische Unabhängigkeit ...... 213 7.4.3.1 „Republik China“ oder „Taiwan“? ...... 213 7.4.3.2 „Aufgeklärte“, „Militär“ und Präsident: die Gegner der Dangwai ...... 216 Inhalt 11

8 DIE DANGWAI-BEWEGUNG NACH DEM MEILIDAO-VORFALL ...... 219 8.1 Die oppositionellen Zeitschriften der späteren Dangwai-Periode ...... 219 8.1.1 Die Oppositionszeitschriften in Konflikt mit dem KMT-Regime ...... 220 8.1.2 Die Entwicklung der Dangwai-Zeitschriften nach 1981: Konkurrenzdruck und Rivalität ...... 224 8.2 Spaltungstendenzen innerhalb der Dangwai, 1982-86 ...... 227 8.2.1 Demokratiedefizit innerhalb der Dangwai? ...... 230 8.2.2 Korrumpierung der Dangwai durch öffentliche Ämter? ...... 230 8.2.3 Die Dangwai vor der Spaltung? ...... 231 8.2.4 Reform des Systems gegen Reform innerhalb des Systems ...... 233 8.3 Konsolidierung der Opposition und die Gründung der DPP ...... 236 8.3.1 Beginn der Konsolidierung: Das „Empfehlungs-System“ ...... 236 8.3.2 Organisatorische Strukturen der Dangwai im Zeichen der Flügelkämpfe ...... 237 8.3.3 Von der „Studiengesellschaft“ zur „DPP“ – Kompromisse und erneute Vereinigung ...... 238 8.4 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit ...... 243 8.4.1 Taiwanesischer Nationalismus ...... 243 8.4.1.1 Taiwan als Sprachgruppe – der Sprachstreit in der Dangwai ...... 244 8.4.1.2 Der Hou Dejian-Vorfall ...... 249 8.4.2 Taiwanesische Unabhängigkeit ...... 257 8.4.2.1 Die Hongkong-Frage und die Taiwan-Frage ...... 258 8.4.2.2 Die Dangwai und die Forderung nach „Selbstbestimmung“ ...... 262 8.4.2.3 Der Blick ins Ausland: Die spätere Dangwai-Periode und die WUFI ...... 265 8.4.3 Der 228-Aufstand ...... 268 8.4.3.1 Der Beginn der 228-Forschung auf Taiwan ...... 269 8.4.3.2 Der 228-Aufstand im Spannungsfeld von akademischen und politischen Interessen ...... 274 8.4.3.3 Der 228-Aufstand als gezielte Tabuverletzung ...... 279

9 TAIWAN HEUTE: DEMOKRATISIERUNG UND POSTAUTORITÄRE GESELLSCHAFT ...... 281 9.1 Die Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan ...... 282 9.1.1 Beginn der Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan ...... 283 9.1.2 Die DPP und die taiwanesische Unabhängigkeit: Von „Selbstbestimmung“ zu „Referendum“ ...... 285 12 Inhalt

9.1.3 Die DPP und die taiwanesische Unabhängigkeit in der aktuellen taiwanesischen Politik ...... 287 9.1.4 Offene Fragen der Unabhängigkeitsbewegung ...... 294 9.1.4.1 Notwendigkeit der taiwanesischen Unabhängigkeit ...... 294 9.1.4.2 Die wirtschaftliche Dimension: Interdependenz zwischen Taiwan und dem Festland ...... 296 9.1.4.3 Die militärische Dimension: Die Kriegsdrohung der VRCh ...... 299 9.1.4.4 Die öffentliche Meinung ...... 305 9.2 Der 228-Aufstand ...... 309 9.2.1 Das Jahr 1987: Entstehung der „228-Bewegung“ ...... 309 9.2.2 Die Forderungen der 228-Bewegung ...... 311 9.2.2.1 Die Strukturen der modernen 228-Forschung ...... 311 9.2.2.2 Die Errichtung von 228-Gedenkstätten und Mahnmalen ...... 316 9.2.2.3 Finanzielle Entschädigung der Opfer ...... 320 9.2.2.4 Der 28. Februar als nationaler Gedenktag ...... 324 9.2.2.5 Juristische Strafverfolgung der Täter – der Fall Peng Mengqi ...... 327 9.2.2.6 Die „mündliche Geschichte“ und das 228-Museum ...... 330 9.2.3 Der 228-Aufstand im Spannungsfeld von parteipolitischen Interessen der KMT ...... 333 9.2.3.1 Die Abwehrhaltung der KMT, 1987-1990 ...... 333 9.2.3.2 Der 228-Aufstand im parteiinternen Fraktionsstreit der KMT ...... 335 9.2.3.3 Die politische Vereinnahmung der Angehörigen ...... 338 9.2.4 Die umstrittenen Fragen der aktuellen 228-Forschung ...... 340 9.2.4.1 Der 228-Aufstand als kommunistischer Umsturzversuch ...... 340 9.2.4.2 Kulturelle Entfremdung zwischen Taiwan und dem Festland ...... 342 9.2.4.3 Anzahl der Todesopfer ...... 346 9.2.4.4 Die Verantwortung der Zentralregierung ...... 350 9.2.4.5 Der 228-Aufstand und die taiwanesische Unabhängigkeit .... 353 9.2.5 Die politische Entschärfung des 228-Aufstandes ...... 356 9.2.6 Die Präsidentschaftswahl 2004 und die 228-Kundgebung ...... 359 9.2.6.1 Die neue 228-Interpretation des Jahres 2004 ...... 360 9.2.6.2 Die 228-Kundgebung im Wahljahr 2004 ...... 363

10 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK ...... 365 10.1 Der 228-Aufstand im Licht der neueren Forschung ...... 365 10.2 Der 228-Aufstand und die Konzeption eines taiwanesischen Nationalismus ...... 368

Forschungsinteresse, Aufbau und Methodologie 13

10.2.1 Der 228-Aufstand und die Gegner der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung ...... 368 10.2.2 Der 228-Aufstand und die Entwicklung des taiwanesischen Nationalismus ...... 371 10.2.2.1 Der primordiale Ansatz der frühen Unabhängigkeitsbewegung ...... 371 10.2.2.2 Der zivile Nationalismus als Basis der strategischen Partnerschaft ...... 375 10.2.2.3 Der 228-Aufstand und der „Neuen Taiwanese“ ...... 377 10.2.3 Der 228-Gedenktag im Jahre 2004: Gefahr der parteipolitischen Instrumentalisierung? ...... 380

11 LITERATURVERZEICHNIS UND ANHANG ...... 383 11.1 Namensregister ...... 383 11.2 Liste der Interviewpartner ...... 396 11.3 Literaturverzeichnis ...... 398 11.4 Alphabetisches Verzeichnis der chinesischsprachigen Zeitschriften und Zeitungen ...... 422 11.5 Internet-Seiten ...... 423 1 Einleitung

1.1 Forschungsinteresse, Aufbau und Methodologie

Am Nachmittag des 8. März 1947 erschienen Militärschiffe der chinesischen Marine vor der taiwanesischen Hafenstadt Jilong. Bei ihrer Einfahrt in den Hafen eröffneten die Schiffe mit Kanonen und Maschinengewehren das Feuer auf die Stadt, der Angriff wurde nur spo- radisch erwidert. Nach über fünf Stunden ebbte die Kanonade allmählich ab; die Schiffe legten an mit der Vorhut einer Streitmacht, die in den nächsten Stunden und Tagen auf über 10.000 Soldaten anschwoll und die Insel mit rücksichtloser Gewalt unter die feste Kontrolle der Zentralregierung zwang. Damit endete eine zehntägige Periode, die in den taiwanesi- schen Geschichtsbüchern unter der Bezeichnung „228-Aufstand“ eingegangen ist: Ein ge- scheiterter Versuch der taiwanesischen Eliten, der ökonomischen Ausbeutung der Insel durch eine korrupte und ineffiziente chinesische Provinzverwaltung zu begegnen, die im Herbst 1945 nach 50 Jahren japanischer Kolonialherrschaft eingesetzt hatte. Das Streben nach größerer Autonomie vom Festland hatte damit einen katastrophalen Ausgang genom- men, und durch die zahllosen Übergriffe der undisziplinierten Armee und die gezielten Unterdrückungsmaßnahmen der Behörden verloren Tausende von taiwanesischen Zivilisten ihr Leben. Der 228-Aufstand gehört zweifellos zu den prägenden Ereignissen der jüngeren taiwa- nesischen Geschichte. Auf Taiwan markierte der Aufstand den Beginn der autoritären und unangefochtenen Ein-Parteien-Herrschaft der Regierungspartei KMT, die sich nach dem Rückzug des Regimes auf die Insel bis zum Ende der 80er Jahre auf das Kriegsrecht stützte. Zugleich läutete der 228-Aufstand jedoch auch den Beginn einer Bewegung ein, die sich dem Kampf gegen die KMT-Herrschaft verschrieben hatte und die für eine formale Loslö- sung der Insel von China und die Errichtung eines unabhängigen taiwanesischen Staates eintrat. Während sich diese taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung über lange Jahre nur im Ausland artikulieren konnte, ist die Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit seit Beginn der politischen Liberalisierung der Insel in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zu einem geläufigen Topos der taiwanesischen Politik geworden. Die vorliegende Arbeit will der Frage nachgehen, welchen Einfluss der 228-Aufstand auf die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung nahm, d.h. in welchem Umfang und auf welche Weise die Akteure der Bewegung in ihrem politischen Kampf um staatliche Unab- hängigkeit auf den 228-Aufstand rekurrierten und welche Hindernisse es dabei zu überwin- den galt. Dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Noch im Jahre 2004 wurde das Gedenken an den 228-Aufstand bei der 228 Hand-in-Hand Kundgebung, in deren Verlauf eine der längsten Menschenketten der Geschichte gebildet wurde, auf spektakuläre Weise mit der Bekräftigung der taiwanesischen Eigenständigkeit gegenüber dem Festland ver- knüpft. Auch die jüngste Entscheidung des Präsidenten Chen Shuibian, den Nationalen Wiedervereinigungsrat am 28.2.06 zu suspendieren, belegt die hohe Symbolträchtigkeit, die dieses Datum bis heute besitzt. Zudem ist offensichtlich, welch hohe Brisanz die Frage der 16 Einleitung taiwanesischen Unabhängigkeit für die Sicherheitsarchitektur des pazifischen Raumes hat: Die Forderung nach taiwanesischer Unabhängigkeit könnte die latente Spannung zwischen Taiwan und der Volksrepublik China, welche die Insel als ihr Hoheitsgebiet betrachtet und im Falle einer formalen taiwanesischen Unabhängigkeitserklärung mit einem Militärschlag droht, zu einem folgenschweren und gewalttätigen Ausbruch bringen, dessen Auswirkun- gen für den Weltfrieden kaum abzuschätzen wären.

1.1.1 Aufbau der Arbeit

Der Aufbau der Arbeit gliedert sich in fünf Teile: Im ersten Teil wird zunächst eine kurze historische Einführung vorangestellt (Kapitel Zwei). Im Folgenden wird der aktuelle Forschungsstand zum 228-Aufstand wiedergegeben (Kapitel Drei). Hierbei wird jedoch nicht das Anliegen verfolgt, die Forschung über den 228-Aufstand durch eigene Forschungsergebnisse wesentlich zu bereichern. Während je- doch der 228-Aufstand auf Taiwan in den letzten 15 Jahren zum Gegenstand intensiver Forschungstätigkeit geworden ist, haben die Ergebnisse dieser neueren Forschung in der westlichen Fachliteratur bislang nahezu keinen Niederschlag gefunden. Die Intention des Autors ist es daher, den aktuellen taiwanesischen Forschungsstand zu bündeln und einem westlichen Publikum zugänglich zu machen. Zudem soll der Leser in die Lage versetzt werden, die Argumente der verschiedenen politischen Vereinnahmungsversuche des 228- Aufstandes anhand des aktuellen Forschungsstandes einer kritischen Bewertung zu unter- ziehen. Trotz dieser Einschränkung ist der Autor in einigen strittigen Fragen zu Ergebnis- sen gelangt, die sich im Gegensatz zur herrschenden Lehrmeinung der aktuellen 228- Forschung befinden. Insbesondere betrifft dies die Frage, inwieweit der Wunsch nach staat- licher Unabhängigkeit bereits während des Aufstandes artikuliert wurde, sowie die Ein- schätzung der Beteiligung von kommunistischen Kräften, verkörpert in der Person der taiwanesischen Kommunistin Xie Xuehong. Auf diese und andere Fragen der aktuellen 228-Forschung wird im Kapitel 9.2.4. nochmals eingegangen. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der taiwanesischen Unabhängigkeits- bewegung im Ausland, unterteilt in die frühe Phase in Japan (1950 bis 1970, Kapitel Vier) und die spätere Unabhängigkeitsbewegung in den USA (1970 bis 1986, Kapitel Fünf). Im dritten Teil der Arbeit wird die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung darge- stellt, wie sie sich nach 1950 auf Taiwan entwickelte. Diese Periode lässt sich wiederum in drei Unterabschnitte unterteilen: Die Phase des Weißen Terrors (Kapitel Sechs), die demo- kratische Oppositionsbewegung (die so genannte Dangwai-Bewegung) vor dem Meilidao- Vorfall (Kapitel Sieben) und nach dem Meilidao-Vorfall (Kapitel Acht), der eine wichtige Zäsur in der Demokratisierung Taiwans markiert. Der vierte Teil der Arbeit widmet sich der offenen, artikulierten Unabhängigkeitsbe- wegung auf Taiwan heute, wie sie sich seit Beginn der politischen Liberalisierung der Insel zu Ende der 80er Jahre entfaltete (Kapitel Neun). Hier sollen die wichtigsten Fragen zur aktuellen Debatte über die staatliche Unabhängigkeit dargelegt werden; darüber hinaus wird ausführlich erörtert, welche Maßnahmen von Seiten des Regimes für eine Beilegung des 228-Aufstandes getroffen wurden, und wie sich die KMT heute ihrer „historischen Verantwortung“ für den Aufstand stellt. Forschungsinteresse, Aufbau und Methodologie 17

Im abschließenden fünften Teil (Kapitel Zehn) werden die Ergebnisse nochmals kompakt zusammengefasst, zudem wird das aktuelle Geschichtsbild des 228-Aufstandes und dessen Bezug zur Unabhängigkeitsbewegung, wie es sich besonders deutlich in der 228- Kundgebung des Jahres 2004 manifestierte, einer kritischen Bewertung unterzogen. Die Arbeit verfolgt vor allem das Ziel, die wichtigsten Akteure der jeweiligen Perio- den darzustellen und eine Vorstellung davon zu vermitteln, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zielsetzungen der Kampf der Unabhängigkeitsbewegung geführt wurde. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, der Vielschichtigkeit der Unabhängigkeitsbewegung gerecht zu werden – ein Aspekt, der bislang weitgehend vernachlässigt wurde. Im Mittel- punkt des Interesses stehen die zentralen Fragestellungen der Arbeit, die am Ende jedes Unterabschnittes zusammenfassend aufgegriffen werden.

1.1.2 Methodisches Vorgehen und zentrale Fragestellungen

In ihrem methodischen Vorgehen verfolgt die Arbeit den Ansatz einer vergleichenden his- toriographischen Studie. Mit Rückgriff auf authentische Primärquellen soll die Frage be- antwortet werden, welchen Einfluss der 228-Aufstand auf die zentralen Themen der taiwa- nesischen Unabhängigkeitsbewegung nahm und bis heute nimmt, und welche Entwicklun- gen hierbei festzustellen sind. Die folgenden drei Fragestellungen stehen im Zentrum des Forschungsinteresses:

1. Die Gegner der Unabhängigkeitsbewegung und die Mittel des Kampfes

Im Mittelpunkt dieses Themenkomplexes steht die Frage, wer von der Unabhängigkeitsbe- wegung zu verschiedenen Zeiten als hauptsächlicher Gegner des Unabhängigkeitsstrebens betrachtet wurde, und mit welchen Mitteln der Kampf jeweils geführt werden sollte. Dies beinhaltet die Punkte:

Wie sollte sich der Kampf um Unabhängigkeit konkret gestalten, und welche Schritte wurden unternommen, um den Kampf voranzutreiben? Bestand aus Perspektive der Unabhängigkeitsbewegung die Hoffnung, das angestrebte Ziel mit friedlichen Mitteln zu erreichen? Welche strategischen Allianzen wurden jeweils gesucht? Wie gezeigt werden soll, betraf dieser Gesichtspunkt insbesondere die Wahrnehmung der VRCh und der Fest- länder auf Taiwan, die sich in einer gegenläufigen Bewegung auf der Freund-Feind Matrix der Unabhängigkeitsbewegung jeweils von einem zum anderen Extrem ver- schoben.

2. Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung und der taiwanesische Nationalismus

Mit dem Nationalismus wird das bei weitem komplexeste und vielschichtigste Themenfeld der vorliegenden Arbeit berührt, das daher einige Vorbemerkungen erfordert. In Politik- und Sozialwissenschaft ist der Nationalismus bereits seit vielen Jahrzehnten ein kontrovers diskutierter Forschungsgegenstand. Seit der Phase der postkolonialen Befreiungsbewegun- gen in den 60er Jahren ist ein umfangreiches Schrifttum zur Nationalismusdebatte entstan- 18 Einleitung den. Der Zugang zu dem Forschungsgebiet wird durch zahlreiche terminologische Hinder- nisse verstellt, die bereits bei dem Begriff der „Nation“ selbst ansetzen. So schrieb Eric Hobsbawm:

[…] the problem is that there is no way of telling the observer how to distinguish a nation from other entities a priori, as we can tell him or her how to recognize a bird or to distinguish a mouse from a lizard. Nation-watching would be simple if it could be like bird-watching. Attempts to establish objective criteria for nationhood, or to explain why certain groups have become „na- tions” and others not, have often been made […] the criteria used for this purpose – language, ethnicity or whatever – are themselves fuzzy, shifting and ambiguous, and as useless for pur- poses of the traveller’s orientation as cloud-shapes are compared to landmarks. This, of course, makes them unusually convenient for propagandist and programmatic, as distinct from descrip- tive purposes.1

In der Alltagssprache besteht die Tendenz, den Begriff „Nation“ mit „Staat“ gleichzusetzen. Während „Staat“ jedoch eine legale und juristische Organisation beschreibt, die über die Autorität verfügt, Gehorsam und Loyalität ihrer Bürger einzufordern, meint der Begriff der „Nation“ eine Gemeinschaft von Individuen, deren Mitglieder durch ein Gefühl der Solida- rität und das Bekenntnis zu einer nationalen Identität miteinander verbunden sind. Ein Staat ist ein unbestreitbares Faktum; eine Nation hingegen enthält eine Begründung. An dieser Stelle würde es zu weit führen, die Nationalismusdebatte in all ihren Details aufzugreifen. Für die Anliegen dieser Arbeit genügt es, zwischen den beiden bedeutenden Ansätzen, dem „Primordialen Nationalismus“ (primordial nationalism) und dem „Zivilen Nationalismus“ (civic nationalism) zu unterscheiden. Wie sich aus dem Namen bereits ableiten lässt, betrachtet der primordiale Nationalis- musansatz die Zugehörigkeit zu einer Nation als eine grundlegende Eigenschaft der „ersten Ordnung“, die durch keine anderen Faktoren bestimmt wird und jedem Individuum von Geburt an zukommt. Die nationale Zugehörigkeit wird als fundamentale Dimension der menschlichen Natur aufgefasst; jeder Mensch, in den Worten von Ernest Gellner, „[…] has a nationality as he has a nose and two ears.“2 Entsprechend werden die Charakteristika, die die Zugehörigkeit des Individuums zu einer Nation bestimmen, durch objektive und stati- sche Merkmalen wie ethnische Abstammung, Blutsbande und vor allem Sprache3 beschrie- ben:

One common denominator of the primordialists […] is their belief in the „givenness” of ethnic and national ties. If the strong attachments generated by language, religion, kinship and the like are given by nature, then they are also fixed, or static.4

1 Hobsbawm 1990: 5f. In ähnlicher Weise äußerte sich Hugh Seton-Watson: „I am driven to the conclusion that no ‚scientific definition’ of a nation can be devised; yet the phenomenon has existed and exists. All that I can find to say is that a nation exists when a significant number of people in a community consider themselves to form a nation, or behave as if they formed one. It is not necessary that the whole of the population should so feel, or so behave, and it is not possible to lay down dogmatically a minimum percentage of a population which must be so affected.” Seton-Watson 1977: 5. 2 Gellner 1983: 6. 3 Zur besonderen Bedeutung der Sprache in der Nationalismusdebatte schrieb Clifford Geertz: „[…] the ‚language problem’ is only the ‚nationality problem’ writ small, though in some places the conflicts arising from it are in- tense enough to make the relationship seem reversed.” Geertz 1973: 242. 4 Özkirimli 2000: 75. Forschungsinteresse, Aufbau und Methodologie 19

Ein weiteres prägendes Merkmal, das den primordialen Nationalismus typischerweise aus- zeichnet, ist der Glaube an ein hohes und letztlich prähistorisches Alter der Nation – ein Phänomen, das im Englischen mit „perennialism“ bezeichnet wird. Hier besteht der deutlichste Unterschied zum zivilen Nationalismus, der davon ausgeht, dass Nationen ein historisch relativ junges Alter aufweisen. Die Nation wird betrachtet als das Produkt einer historischen Entwicklung unter spezifischen soziokulturellen Bedingun- gen – wenngleich die Faktoren, die von verschiedenen Autoren hierbei als maßgeblich angesehen werden, erheblich voneinander abweichen. Dies bedeutet auch, dass Nationen letztlich Artefakte sind, die der menschlichen Vorstellung entspringen. In seinem bahnbre- chenden Werk „Imagined Communities“ schrieb Benedict Anderson zur Definition des Nationenbegriffes:

[The nation] is an imagined political community – and imagined as both inherently limited and sovereign. It is imagined because the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the im- age of their communion […] In fact, all communities larger than primordial villages of face-to- face contact (and perhaps even these) are imagined.5

Daraus folgt, dass der Zugang zur Mitgliedschaft in einer Nation nicht länger an primordia- le objektive Merkmale gebunden ist, sondern auf die Bereitschaft des Individuums zurück- geht, sich selbst als Teil der Nation zu begreifen. Die nationale Identität ist das Produkt der Selbstwahrnehmung und des individuellen Bekenntnisses zu einer Nation. Es wird erkenn- tlich, dass dieser Ansatz eines zivilen Nationalismus, der prinzipiell eine Perforation der nationalen Abgrenzung gegenüber Außenstehenden erlaubt, den Bedürfnissen und Anforde- rungen eines modernen Staatswesens in wesentlich höherem Maße gerecht werden kann – mit der Folge, dass der primordiale Erklärungsansatz einer natürlichen und ethnisch begründeten Nation in der Literatur heute kaum mehr eine Rolle spielt.6 Ein weiterer Begriff, der der Klärung bedarf, ist der Terminus „Nationalismus“: Mit diesem Begriff werden in der vorliegenden Arbeit diejenigen politischen Programme und Entwürfe bezeichnet, die auf die Gründung einer Nation (und damit letztlich die Gründung eines unabhängigen und souveränen Nationalstaates) ausgerichtet sind. Im Gegensatz zu Nation, der ein statisches Gebilde beschreibt, bezeichnet Nationalismus also eine zielge- richtete Bewegung. Diese Bewegung wird hervorgerufen und gesteuert von spezifischen Gruppen, die Jefferey Alexander als „carrier groups“7 bezeichnete: soziale und kulturelle Eliten mit jeweils eigenen Interessen und politischen Programmen. Ein wichtiges Element des Nationalismus – und zwar unabhängig davon, welches na- tionale Modell zu Grunde gelegt wird – ergibt sich aus der Notwendigkeit, eine Abgren- zung der eigenen nationalen Gruppe gegenüber der Außenwelt zu ermöglichen; ein Mecha- nismus also, der eine Zuordnung in Mitglieder und Nicht-Mitglieder der eigenen „Wir“- Gruppe in Kontrast zu einer „Gruppe der Anderen“ erlaubt. Schon Fredrik Barth wies dar-

5 Anderson 1983: 6. 6 So kommt etwa Umut Özkirimli zu dem Fazit: „There is no need to dwell too much on the primordialist ap- proach […] very few scholars today continue to subscribe to the view that nations are primordial unchanging entities. Almost everybody admits that nations are born at a particular period in history, notwithstanding dis- agreements on the precise date of their emergence or the relative weight of pre-modern traditions and modern transformations in their formation.” Özkirimli 2000: 220. 7 Alexander 2004. 20 Einleitung auf hin, dass dieses Setzen und Aufrechterhalten von Grenzen von noch höherer Bedeutung ist als der eigentliche Inhalt der Gruppenidentität, „the cultural stuff“, der die Gruppe in ihrem Inneren ausmacht und zusammenhält.8 Auch John Armstrong betont hierzu:

[…] both the cultural and the biological content of the group can alter as long as the boundary mechanisms are maintained […] Anthropological historians have been increasingly obliged to confront the fact […] that groups tend to define themselves not by reference to their own charac- teristics but by exclusion, that is, by comparison to „strangers”.9

Im Zuge dieser Grenzsetzung ist häufig zu beobachten, dass gerade traumatische Erfahrun- gen als wichtige Bezugspunkte bei der Konstruktion einer kollektiven Gruppenidentität instrumentalisiert werden – wobei, wie Neil Smelser betonte, sowohl die harmonisierende, nach innen gerichtete Dimension der Gruppenzusammengehörigkeit als auch der nach au- ßen gerichtete Aspekt der Abgrenzung gegenüber Anderen berührt werden können:

[…] a collective trauma, affecting a group with definable membership, will, of necessity, also be associated with that group’s collective identity […] Any given trauma may be community- and identity disrupting or community- and identity solidifying – usually some mixture of both.10

Im Hinblick auf den Themenkomplex des Nationalismus in der taiwanesischen Unabhän- gigkeitsbewegung werden im Kontext dieser Arbeit die folgenden Fragen aufgeworfen:

Wie wurde die taiwanesische Nation aus Sicht der Unabhängigkeitsbewegung zu ver- schiedenen Zeiten definiert, und welche Entwicklungen sind hierbei zu beobachten? Welche Unterscheidungskriterien für die nationale Zugehörigkeit wurden jeweils zu Grunde gelegt? Welches „Gegenüber“ wurde der eigenen nationalen Identität jeweils entgegenge- stellt? Das heißt: Von „Wem“ wollte man sich mit welchen Mitteln abgrenzen, um über diesen Akt der Abgrenzung die eigene nationale Identität überhaupt erst in Er- scheinung treten zu lassen? Wie gezeigt werden soll, ist in dieser Hinsicht von beson- derem Interesse, welchen Standpunkt die Unabhängigkeitsbewegung in ihrer nationa- len Selbstwahrnehmung jeweils gegenüber den verschiedenen ethnischen Gruppen auf Taiwan (und insbesondere den Festländern) bezog. Wurden die Festländer als Fremd- körper der taiwanesischen Nation betrachtet, oder wurde eine Koexistenz der ver- schiedenen ethnischen Gruppen oder gar eine Verschmelzung in einem übergreifenden nationalen Bezugsrahmen als möglich und wünschenswert erachtet? Wie gestaltete sich das Verhältnis von Nationalismus und den politischen Anliegen der Unabhängigkeitsbewegung jeweils in der Praxis? Konnte der Nationalismus, in der subjektiven Selbstwahrnehmung der Unabhängigkeitsbewegung, einen wichtigen oder gar entscheidenden Beitrag für eine erfolgreiche Massenmobilisierung leisten, oder wurde er gelegentlich als kontraproduktiv und hinderlich empfunden?

8 Barth 1969. 9 Armstrong 1982: 5. 10 Smelser 2004: 43f. Forschungsstand und Literatur 21

3. Der 228-Aufstand

In dem dritten Themenkomplex werden die Aspekte, die in den vorangegangenen Frage- stellungen erarbeitet wurden, auf den 228-Aufstand angewandt. Zudem soll hier auch be- rücksichtigt werden, inwieweit einer historischen Aufarbeitung des Aufstandes Rechnung getragen wurde, und ob und in welchem Umfang die Kenntnis der historischen Tatsachen das Bild des 228-Aufstandes beeinflusste. Die konkreten Fragestellungen beinhalten daher die folgenden Gesichtspunkte:

Hinsichtlich der politischen Instrumentalisierung ist zu fragen, auf welche Weise und mit welchem Erfolg der 228-Aufstand für die politischen Ziele der Unabhängigkeits- bewegung nutzbar gemacht wurde und wird. Wie sind diese Vereinnahmungsversuche zudem im Spiegel des heute verfügbaren historischen Kenntnisstandes zu bewerten? Dies leitet über zum zweiten Aspekt: Über welchen Kenntnisstand zum 228-Aufstand verfügte die Unabhängigkeitsbewe- gung zu unterschiedlichen Zeiten? Welche Quellen waren jeweils bekannt, und welche Anstrengungen wurden unternommen, um den Kenntnisstand zu erweitern? Welche Fragen sind bis heute umstritten? Und schließlich: Welche Auswirkung hatten even- tuelle Erkenntnislücken auf die politisch motivierte Instrumentalisierung des Aufstan- des? Dieser letzte Aspekt bezieht sich sowohl auf die Unabhängigkeitsbewegung als auch auf das Regime, das sich seit Beginn der 90er Jahre um eine Aufarbeitung des Aufstandes bemüht. Bezüglich des taiwanesischen Nationalismus stellt sich die Frage, welche Funktion dem 228-Aufstand bei der Konstruktion einer nationalen taiwanesischen Identität zu- kam. Konnte der 228-Aufstand von der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung als „nationales Trauma“ im Sinne von Neil Smelser interpretiert werden, und welche Be- deutung hatte dieses nationale Trauma für die Entstehung und Konsolidierung ver- schiedener Nationalismuskonzepte? Welche Versuche wurden unternommen, die Interpretation des 228-Aufstandes an die wechselnden Wahrnehmungen der nationalen taiwanesischen Identität anzupassen?

1.2 Forschungsstand und Literatur

Aus dem Aufbau der Arbeit wird ersichtlich, dass die vorliegende Untersuchung mehrere zeitlich getrennte Abschnitte unterscheidet. Im Zuge der Recherchen wurden die jeweils wichtigsten Quellen und Sekundärquellen zu jeder Periode gesichtet, zudem konnte der Autor im Zuge eines Aufenthaltes in Taiwan die Quellenbasis um insgesamt 28 Interviews bereichern.

22 Einleitung

1.2.1 Forschungsstand und Literatur zum 228-Aufstand

1.2.1.1 Sekundärliteratur

In der westlichen Forschung hat der 228-Aufstand bislang nur wenig Beachtung erfahren. Die bis heute einzige umfassende Darstellung des Aufstandes in deutscher Sprache stellt das Werk Taiwan 1947. Der Aufstand gegen die von Günter Whittome dar. Dieser verdienstvolle Beitrag wurde jedoch bereits im Jahre 1991 veröffentlicht, und konn- te daher die neueren Erkenntnisse der taiwanesischen Forschung nicht berücksichtigen. Aus demselben Jahr datiert das englischsprachige Werk A Tragic Beginning: Taiwan Uprising of February 28, 1947, verfasst von Lai Zehan und Wei Wou, das nach seiner Veröffentli- chung auf gemischte Reaktionen stieß. Zu Beginn der 90er Jahre war der 228-Aufstand auf Taiwan noch von hoher politischer Sensibilität. Allein durch den Titel des Buches, der den Aufstand als ein tragisches und damit schicksalhaftes Ereignis beschreibt, setzten sich die Autoren dem Vorwurf aus, die politisch Verantwortlichen des Aufstandes bewusst zu ent- lasten. Auf Taiwan ist der 228-Aufstand, der bis zum Beginn der demokratischen Liberalisie- rung mit einem strengen politischen Tabu belegt war, seit Beginn der 90er Jahre zum Ge- genstand intensiver Forschungstätigkeit geworden. Von großer Bedeutung in dieser Ent- wicklung war der offizielle 228-Forschungsbericht, der in den Jahren 1991/92 im Auftrag des Exekutiv-Yuan von einer Gruppe von Historikern um Lai Zehan abgefasst wurde und der bis heute die umfassendste Sichtung von Quellen zum Aufstand darstellt. Seitdem ist auf Taiwan eine Fülle an wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Beiträgen zum 228-Aufstand hinzugekommen. Das Spektrum der Beiträge reicht dabei von akademischen Arbeiten über einzelne Aspekte des Aufstandes (wie etwa die Dissertationsschrift von Luo Shimin Untersuchung des 228-Vorfalles aus Perspektive der Rechtsgeschichte, Taipei 2000) über populärwissenschaftliche Arbeiten (z.B. der Beitrag von Xu Junya Frühling ohne Sprache. Ausgewählte Kurzgeschichten zum 228, Taipei 2003) bis hin zu Arbeiten aus dem Bereich der Jugend- und Pop-Kultur (etwa Ruan Meishu und Zhang Ruiting: Der 228 im Comic, Taipei 2005). Neben diesem weiten Spektrum an unterschiedlichen Genres kam bei der Suche und Auswahl der relevanten Literatur erschwerend hinzu, dass der 228-Aufstand auf Taiwan bis heute zu einem politisch kontroversen Thema zählt. Es kann einem Autor daher kaum gelingen, ein Buch über den 228-Aufstand jenseits von politischen Interessen und Verein- nahmungen vorzulegen – oder sich zumindest diesem Vorwurf auszusetzen. In der vorlie- genden Arbeit wurde versucht, diesen politischen Kontroversen durch eine ausgeglichene Auswahl der relevanten Beiträge Rechnung zu tragen, wobei natürlich wissenschaftliche Beiträge im Zentrum des Interesses standen. Als wichtigster Repräsentant der (mit Einschränkung) KMT-freundlichen Beiträge fungiert der bereits erwähnte 228- Forschungsbericht des Exekutiv-Yuan aus dem Jahre 1992, der bis heute als offizielle Stel- lungnahme der Regierung zum Aufstand betrachtet werden kann. Kontrastiert wurde diese Darstellung durch Beiträge von dezidiert KMT-kritischen Forschern. Besonders zu erwäh- nen ist hierbei das Werk von Chen Cuilian Faktionskämpfe und Machtpolitik. Ein anderes Gesicht der 228 Tragödie (Taipei 1995), das einen historisch fundierten Blick auf die inter- nen Faktionskämpfe der KMT zur Zeit des 228-Aufstandes eröffnet, sowie die Beiträge von Li Xiaofeng (Taiwan, meine Wahl!, Taipei 1995, sowie Interpretations on 228, Taipei Forschungsstand und Literatur 23

1998) und Li Ao (Was Sie über den 228 nicht wussten, Taipei 1998). Besondere Erwäh- nung verdient zudem der Research Report on Responsibility For The 228 Massacre, er- schienen im Frühjahr 2006, der von der halbstaatlichen Stiftung 228 Memorial Foundation herausgegeben wurde und der in Taiwan auf großes Medieninteresse stieß. Es muss jedoch konstatiert werden, dass auch dieser Versuch einer eindeutigen Schuldzuweisung für die Massaker des Aufstandes hinter der Zielsetzung der Autoren zurückblieb und die immer noch vorherrschenden Differenzen über die historische Rolle des Chiang Kai-shek und der KMT nicht ausgeräumt werden konnten – zumal das Buch kaum neue Erkenntnisse liefert, sondern zumeist auf Quellen zurückgreift, die schon seit langem bekannt waren.

1.2.1.2 Quellen

Die bedeutendste Quelle zum 228-Aufstand, die bis heute in der Sekundärliteratur auf Tai- wan als maßgebliche Referenzgrundlage angeführt wird, stellt die Tageszeitung Taiwan xinshengbao dar, die während der gesamten Dauer des Aufstandes (vom 28.2. bis zum 8.3.47) täglich erschien. Trotz ihrer unbestreitbaren politischen Nähe zu den taiwanesischen Regierungsbehörden – die Redaktion der Taiwan xinshengbao stand unter dem maßgebli- chen Einfluss der Parteizentrale der KMT – zeugen die entsprechenden Berichte von einem mitunter erstaunlichen Maß an politischem Freiraum. Dennoch entging die Taiwan xin- shengbao nach Niederschlagung des Aufstandes dem Vorwurf der „Kollaboration mit den Aufständischen“ – im Gegensatz zu vielen anderen taiwanesischen Tageszeitungen, die im März 1947 ihr Erscheinen einstellen mussten und deren Redaktionsmitglieder im Zuge der „Säuberung“ der Provinz von Aufständischen nicht selten verschwanden. Daher lassen sich in der Taiwan xinshengbao auch die Ereignisse nachzeichnen, die nach dem 8. März statt- fanden – wenngleich für diesen Zeitraum selbstverständlich keine Berichte mehr toleriert wurden, die von den politischen Maßgaben der lokalen Machthaber abgewichen wären. Im Zuge der vorliegenden Arbeit wurden sämtliche Ausgaben der Zeitung vom Zeitraum Januar bis September 1947 sorgfältig durchgesehen. Des Weiteren wurden im Verlauf der Arbeit verschiedene Quellensammlungen aufge- sucht. Diese Sammlungen beinhalten etwa offizielle Verlautbarungen der verschiedenen Regierungsbehörden auf lokaler und zentraler Ebene, Sammlungen von Berichten relevan- ter Augenzeugen und Dokumente aus Archiven der unterschiedlichsten militärischen und zivilen Regierungsorgane. Diese Quellensammlungen lassen sich ihrerseits in zwei Gruppen unterteilen:

Zum einen solche Quellensammlungen, die im Zuge der historischen Aufarbeitung des Aufstandes seit Beginn der 90er Jahre von der Regierung selbst veröffentlicht wurden. An erster Stelle stehen auch hier die Quellen, welche die Forschergruppe des Exeku- tiv-Yuan verwendete und die vom Institut für moderne Geschichte der Academia Sini- ca in einer Auswahl veröffentlicht wurden (Ausgewählte Materialien zum 228-Vorfall, Taipei 1992). Daneben wurden jedoch auch die Archive auf lokaler Ebene ausgewer- tet, wie etwa das Archiv der Provinz Taiwan (The Historiographical Records on the Taiwan Event of February 28, 1947, drei Bände, Nantou 1992). Zum anderen wurden auch von Seiten der unabhängigen und zumeist regimekritischen Forschung bereits seit Ende der 80er Jahre erste Sammlungen von Quellen aus dem 24 Einleitung

Jahre 1947 zusammengetragen. Besondere Erwähnung verdienen hierbei die Beiträge von Wang Xiaobo (Die Wahrheit des 228, Taipei 2002, sowie die drei Bände Die tai- wanesische Liga und der 228-Vorfall, Chen Yi und der 228-Vorfall und Die KMT und der 228-Vorfall, Taipei 2004); Ceng Jianmin (Das neue Geschichtsbild des 228, Taipei 2003); Li Ao (Untersuchung zum 228 auf Taiwan, drei Bände, Taipei 1989) und Chen Fangming und Lin Delong (Die hochgeheimen historischen Materialien der Behörden zum 228, Taipei 1992). Ein großer Vorzug dieser regierungsunabhängigen Quellen- sammlungen besteht darin, dass ein kritischer Vergleich mit der Quellenauswahl der offiziellen Forschung ermöglicht wird.

Angesichts der überwältigenden Fülle des Materials war es dem Autor nicht möglich, die Quellen zum 228-Aufstand umfassend zu durchdringen – allein im Zuge des offiziellen 228-Forschungsberichtes wurden über 80.000 Dokumente ausgewertet. Für das Anliegen dieser Arbeit, die den 228-Aufstand ja nicht zum eigentlichen Forschungsgegenstand hat, sondern lediglich als Ausgangspunkt der Arbeit nutzt, wäre ein solches Vorgehen auch unzweckmäßig. Stattdessen wurde das Ziel verfolgt, den aktuellen Forschungsstand auf Taiwan kritisch zu reflektieren und einem westlichen Publikum vorzustellen. Als Aus- gangspunkt dienten hierbei die bedeutendsten, das heißt meistzitierten, Beiträge aus dem Bereich der wissenschaftlichen Sekundärliteratur. Dennoch wurden in ausgewählten Teil- gebieten häufig die originalen Quellen des Jahres 1947 ausgewertet; insbesondere betrifft dies die Fragen, die in der zeitgenössischen 228-Forschung bis heute umstritten sind. Der Bereich der Quellen im weiteren Sinne umfasst auch Memoiren und Berichte von Augenzeugen des Aufstandes. Im Zuge der Recherchen wurden jedoch keine gezielten Anstrengungen unternommen, Augenzeugen des 228-Aufstandes aufzufinden. Dieser Ver- zicht geschah aus zwei Gründen: Zum einen wurde die Befragung von Augenzeugen auf Taiwan bereits seit Mitte der 80er Jahre in großem Umfang betrieben. Insbesondere zu Beginn der 90er Jahre wurde die „mündliche Geschichte“ zu einem Schwerpunkt der 228-Forschung (siehe Kapitel 9.2.2.6.). Die Ergebnisse dieser Befragungen liegen in zahlreichen Sammelbänden vor, etwa Zeugen- aussagen zum 228, herausgegeben von Ye Yunyun (Taipei 1993) oder die sehr umfangrei- che und nach Orten gegliederte Interviewserie unter der Federführung von Zhang Yanxian (Taipei 1992-1996). Aus Sicht des Autors wäre es für einen einzelnen Forscher ein vergebliches Unterfangen, diesen umfangreichen Quellenschatz um wesentliche Beiträge bereichern zu wollen – zumal leider konstatiert werden muss, dass fast 60 Jahre nach dem Aufstand zahlreiche Zeitzeugen bereits verstorben sind. Zum anderen zeigen die vorliegenden Interviews, dass das Mittel der Befragung von Augenzeugen (wenngleich eine sicher verdienstvolle Tätigkeit) doch nur begrenzt geeignet ist, wissenschaftlich wertvolle Erkenntnisse zu liefern und die strittigen Fragen der histori- schen Hintergründe des Aufstandes zu erhellen. Oftmals erweist sich, dass ein Einzelner jeweils nur einen kleinen Bereich überblicken konnte, so dass es schwer fallen muss, aus den einzelnen Impressionen ein Gesamtbild der Vorgänge zu gewinnen. Im Rahmen der Recherchen zu dieser Arbeit waren Interviews mit Augenzeugen des 228-Aufstandes daher zumeist Zufallsbegegnungen, die über Dritte vermittelt wurden und in der Regel nicht auf die Initiative des Autors zurückgingen. Zu den Interviews, die auf diese Weise entstanden, gehört etwa das Gespräch mit Frau Lin Licai, die zur Zeit des Aufstandes noch ein Kind war, oder mit Herrn Lin Taicheng, der den 228-Aufstand als Jugendlicher in Gaoxiong Forschungsstand und Literatur 25 erlebte. Diese für den Autor sehr beeindruckenden Interviews eröffneten einen unmittelba- ren emotionalen Zugang zu den Geschehnissen der damaligen Zeit. Eine besondere Bedeu- tung kam hierbei dem ausführlichen Gespräch mit Herrn Zhong Yiren zu, der im März 1947 nach eigenen Aussagen den militärischen Widerstand gegen die anrückenden Truppen des Regimes in Süd- und Mitteltaiwan anführte (siehe Kapitel 3.4.2. und 9.2.4.1.), und dessen Schilderungen einen deutlichen Kontrast zu der vorherrschenden Lehrmeinung dar- stellen. Für die Darstellung der Aufarbeitung des 228-Aufstandes seit dem Ende der 80er Jah- re wurden vor allem taiwanesische Tageszeitungen ausgewertet. Als sehr hilfreich erwies sich hierbei das umfangreiche Zeitschriftenarchiv der Wu Sanlian-Stiftung, das zahlreiche relevante Beitrage aus den Jahren 1987-1997 umfasst. Für die neueren Entwicklungen wur- den aktuelle taiwanesische Tageszeitungen ausgewertet; auch hier wurde besonderer Wert darauf gelegt, eine ausgeglichene Repräsentation aller politischen Lager zu gewährleisten. Darüber hinaus wurden die verfügbaren Materialien durch eigene Interviews ergänzt. Hierzu gehören die Gespräche mit Chen Yongxin, der maßgeblich an der Gründung der „228-Bewegung“ in den Jahren nach 1987 beteiligt war; Shao Minghuang, dem Leiter der Geschichtsabteilung der KMT; Lai Zehan, unter dessen Federführung der offizielle 228-Forschungsbericht der Regierung entstand; Ye Bowen, dem ehemaligen Kurator und Mitbegründer des 228-Museums in Taipei; Xie Yingcong, dem aktuellen Kurator des 228- Museums, sowie Vertretern von Organisationen der Opferverbände des 228-Aufstandes: Lin Licai, Yang Zhenlong und Zhang Qiuwu.

1.2.2 Forschungsstand und Literatur zur taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland

1.2.2.1 Sekundärliteratur

Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung im Ausland wurde bis dato kaum als Gegenstand der historischen Forschung betrachtet. Dies gilt insbesondere für die frühe Unabhängigkeitsbewegung in Japan, der in den wenigen zum Thema erschienenen Beiträ- gen zumeist nur ein kurzer Abschnitt gewidmet wird. Diese oberflächliche Auseinanderset- zung mag dadurch begründet sein, dass die Unabhängigkeitsbewegung in ihrer Frühphase einen sehr kleinen Personenkreis von allenfalls einigen hundert Mitgliedern umfasste und die Zeitschriften dieser frühen Periode, die nur in geringer Auflage erschienen, heute kaum mehr aufzufinden sind. Dieser Mangel macht sich deutlich in dem Beitrag von Claude Geoffrey Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung (Taipei 1997) bemerkbar, der eine intensive Auseinandersetzung mit den verfügbaren Quellen dieser Zeit vermissen lässt. Eine ähnliche Kritik muss gegen das Werk von Chen Jiahong Geschichte der taiwanesi- schen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland (Taipei 1998) vorgebracht werden. Wenn- gleich hier die Darstellung der späteren taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den USA durch die Auswertung zahlreicher Quellen und Befragung von Zeitzeugen als sehr fundiert erscheint, widmet Chen der Beschreibung der frühen Unabhängigkeitsbewegung in Japan nur wenige Seiten, die sich zumeist auf das Zusammentragen der wichtigsten biogra- phischen Daten beschränkt. Zudem ist auffällig, dass das von Chen verwendete Material offenbar weitgehend von der WUFI, der führenden Unabhängigkeitsbewegung im Ausland, 26 Einleitung bezogen wurde, so dass kritische Stimmen zur WUFI, die es damals (und bis heute) stets gegeben hat, nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Weitere Beiträge zur Unabhängigkeitsbewegung basieren oftmals auf Befragung von führenden Aktivisten der Bewegung, oder wurden gar von diesen selbst verfasst. Dies gilt etwa für den Beitrag von Song Zhongyang (Munataka Takayuki) Private Erinnerungen an die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung (Taipei 1996) sowie das Buch von Chen Mingcheng 40 Jahre der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland (Taipei 1992). Wenngleich dieser unmittelbare Zugang zweifellos eine unverstellte Sicht auf die Aktivitäten und Motive der damaligen Akteure ermöglicht, weisen die genannten Beiträge an vielen Stellen einen narrativen und oftmals anekdotischen Charakter auf. Auch ist fest- zustellen, dass sich die Darstellung weitgehend auf die einseitige und oftmals verklärende Sicht der führenden Gruppierungen der Unabhängigkeitsbewegung beschränkt

1.2.2.2 Quellen

Wie schon beschrieben, sind die Quellen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland oftmals nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten aufzufinden – ein Problem, das auch bei der Literaturrecherche zur vorliegenden Arbeit nicht immer befriedigend ge- löst werden konnte. Insbesondere gilt dies für die frühe und mittlere Phase der „Exilregie- rung“ des Liao Wenyi (vor 1960), deren Pamphlete und Propagandamaterialien oftmals aus handgeschriebenen und in kleiner Auflage produzierten Flugschriften bestanden, die nicht überliefert sind. Von großer Hilfe war daher das sehr verdienstvolle, von Zhang Yanxian herausgegebene Werk Die erste Stimme der taiwanesischen Unabhängigkeit: Die Republik Taiwan (Taipei 2000), das eine Sammlung von Interviews mit den damals noch lebenden Akteuren der frühen Unabhängigkeitsbewegung umfasst und das nach Kenntnis des Autors das einzige Werk überhaupt darstellt, das sich ausschließlich dieser frühen Periode widmet. Die wichtigsten Quellen für die vorliegende Arbeit waren die führenden Zeitschriften der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland, insbesondere die Zeitschrift Taiwan qingnian (nach 1960) und Taidu yuekan (nach 1970, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Herrn Chen Jiahong). Sämtliche verfügbaren Ausgaben wurden sorgfältig auf Beiträge durchgesehen, die sich mit den Fragestellungen der vorliegenden Arbeit befassen. Zudem konnte der Autor Zeitzeugen und führende Akteure der Unabhängigkeitsbewegung zu Gesprächen treffen: Shi Ming, der seit den 50er Jahren in der taiwanesischen Unabhängig- keitsbewegung aktiv ist und der als Gründervater der marxistischen Strömung gilt; Frau Linda Arrigo, die sich seit den 70er Jahren in der Unabhängigkeitsbewegung engagiert und die lange Jahre mit Shi Mingde, einem der führenden Aktivisten der Unabhängigkeitsbe- wegung, verheiratet war; Tian Tairen (Joshua Tin), der im Jahre 1986 als „Abweichler“ der WUFI eine eigene revolutionäre Splitterpartei der Unabhängigkeitsbewegung in den USA mitbegründete, Zheng Zicai und Huang Wenxiong (Peter Huang), den beiden Hauptakteu- ren im so genannten „424-Vorfall“ von 1970, und Wang Xingnan, der im Jahre 1976 ein Bombenattentat auf führende Politiker des KMT-Regimes verübte. Für den Autor lag die besondere Bedeutung dieser persönlichen Begegnungen darin, dass sich die genannten Interviewpartner zumeist außerhalb der „Hauptströmung“ der Unabhängigkeits- bewegung befanden; somit wurde eine fundierte und kritische Auseinandersetzung mit Forschungsstand und Literatur 27 dieser Hauptströmung, die in anderen Beiträgen zum Thema weitgehend vernachlässigt wurde, ermöglicht.

1.2.3 Forschungsstand und Literatur zur Unabhängigkeitsbewegung zur Zeit des Weißen Terrors

Die Phase der autoritären Ein-Parteien-Herrschaft der KMT, auch genannt die Phase des „Weißen Terrors“, ist bis heute nicht systematisch aufgearbeitet worden. Die wenigen Wer- ke, die zu dem Thema erschienen sind, bieten zumeist nur einzelne Impressionen dieser Zeit. Zum Teil liegt dies daran, dass der Weiße Terror auf Taiwan bis heute als politisch sensibles Thema gilt. Eine erschöpfende Darstellung dieser Periode ist daher nicht möglich. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden lediglich die beiden Vorfälle herausgestellt, die am besten dokumentiert sind. Der Free China-Vorfall von 1960: Als wichtigste Bezugsquelle für den Free China- Vorfall (auch: Lei Zhen-Vorfall) diente die ausführliche und fundierte Studie des Xue Huayuan Die „Free China“ und die demokratische Verfassung (Banqiao 1996). Zudem wurden die Jahrgänge 1957 bis 1960 der Zeitschrift Free China, soweit im Zeitschriften- archiv der Academia Sinica vorhanden, auf relevante Artikel und Beiträge durchgesehen. Der Peng Mingmin-Vorfall von 1964: Eine wichtige Quelle für den Peng Mingmin- Vorfall sind die Memoiren des Peng A Taste of Freedom (, Chicago und San Francisco 1972), die dieser nach seiner erfolgreichen Flucht aus Taiwan veröffentlichte. Darüber hinaus hatte der Autor Gelegenheit zu ausführlichen Gesprächen mit Xie Congmin (Roger Hsie), einem Studenten und Mitstreiter des Peng Mingmin, dem, wie gezeigt werden soll, eine entscheidende Rolle im Vorfall zukam.

1.2.4 Forschungsstand und Literatur zur Dangwai-Periode

Die Dangwai-Periode bezeichnet die Phase der beginnenden Liberalisierung, in der sich erstmals eine Opposition außerhalb der Regierungspartei KMT bildete und in einer Viel- zahl von politischen Zeitschriften und Magazinen artikulierte. In der neuern historischen Forschung zu Taiwan wird diese Periode als wichtiger Abschnitt der jüngeren taiwanesi- schen Geschichte gewürdigt; sowohl in Beiträgen westlicher Sprachen (wie das von Murray Rubinstein herausgegebene Buch Taiwan. A New History, New York und London 1999, oder Denny Roy Taiwan. A Political History, New York und London 2003) als auch in taiwanesischen Beiträgen in chinesischer Sprache (z.B. Li Xiaofeng 40 Jahre der Demokra- tiebewegung auf Taiwan, Taipei 1987 oder Liao Qingxiu Die Geschichte Taiwans, Taipei 2003). Jedoch ist auffällig, dass insbesondere die Darstellungen von taiwanesischen Auto- ren oftmals nicht die kritische Distanz und Tiefe aufweisen, die für diese vielschichtige und äußerst komplizierte Periode angemessen wären. Dies mag daran liegen, dass der histori- sche Abstand zu dieser Phase der taiwanesischen Geschichte noch nicht gegeben ist. Zahl- reiche Akteure dieser Zeit sind heute noch in der taiwanesischen Politik aktiv – wie etwa der amtierende Präsident Chen Shuibian, der seine politische Karriere als Strafverteidiger der Ange-klagten des Meilidao-Vorfalles begann, oder der KMT-Politiker Song Chuyu, der bei der Präsidentschaftswahl im Jahre 2004 für das Amt des Vize-Präsidenten kandidierte. 28 Einleitung

In den 80er Jahren trug Song Chuyu als Vorsitzender der Nachrichtenabteilung des KMT- Regimes maßgebliche Verantwortung für die Unterdrückungsmaßnahmen des Regimes gegen politische Dissidenten und zählte daher auf Seiten der Opposition zu den meistge- hassten Vertretern der Regierungspartei. Diese zeitliche Nähe zur aktuellen taiwanesischen Politik hat es bislang erschwert, die Dangwai-Periode einer kritischen und emotionsfreien historischen Forschung zu unterziehen. Ein weiteres Hindernis für einen Zugang zur Dangwai-Periode ist die beinahe unüber- schaubare Fülle an Quellenmaterial. In den Jahren nach 1980 erschien eine verwirrende Vielzahl an politischen Magazinen, die unter ständiger Beobachtung des Regimes standen und auf Grund von Zensurmaßnahmen oftmals nach nur wenigen Tagen oder Wochen ver- boten wurden – freilich nur, um unmittelbar darauf unter einem anderen Namen erneut zu erscheinen. Von großem Wert für die Recherchen zur vorliegenden Arbeit erwies sich der Beitrag von Peng Linsong Die Zeitschriften der Dangwai und die demokratische Bewegung auf Taiwan (Taipei 2003), in der eine systematische Katalogisierung der wichtigsten Zeit- schriften der Dangwai vorgenommen wurde. Im Zuge der Recherchen wurden die wichtigsten Zeitschriften der Dangwai sorgfältig durchgesehen, darunter die Zeitschriften Taiwan zhenglun/Taiwan Political Review, Meili- dao/Formosa, Bashi niandai/The Eighties, Qianjin/Progress, Ziyou shidai, Penglaidao, Shen geng und Xin chaoliu. Zwei weitere Zeitschriften, die kontrastiert an der vorangegan- genen Aufzählung etwas aus dem Rahmen fallen, sind die Zeitschrift Xiachao, die zwar eine regimekritische Grundhaltung vertrat, sich aber (im Gegensatz zu den anderen opposi- tionellen Zeitschriften) ausdrücklich für eine Wiedervereinigung mit dem Festland aus- sprach, sowie die Zeitschrift Jifeng, in der sich in den Jahren 1979/1980 die konservativsten Unterstützer des KMT-Regimes sammelten und die sich als Sprachrohr der nationalchinesi- schen Patrioten und bewusstes Gegenmodell zu der Herausforderung der politischen Opposition betrachtete. Auch für diese Periode konnte die Quellensammlung durch Interviews mit Zeitzeugen ergänzt werden. Besonders erwähnt werden sollte hierbei das Gespräch mit Professor Li Xiaofeng, der in den 80er Jahren in der Redaktion der Zeitschrift Bashi niandai mitwirkte, sowie Herrn Lin Zhuoshui, der für verschiedene Publikationen der Dangwai tätig war.

1.2.5 Forschungsstand und Literatur zur modernen taiwanesischen Unabhängigkeitsbe- wegung

Im letzten Kapitel der Arbeit, das sich mit der modernen taiwanesischen Unabhängigkeits- bewegung auf Taiwan beschäftigt, wird der Anschluss an die aktuelle Tagespolitik Taiwans vollzogen. Eine Unterteilung in Literatur und Quellen, oder selbst in relevante und weniger relevante Literatur, gestaltet sich hier zunehmend schwierig: Es lässt sich mit einigem Recht behaupten, dass die Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit das dominierende Grundthema der Politik Taiwans überhaupt darstellt, und es gibt kaum ein Politikfeld, das nicht in direkter oder indirekter Weise von dieser Frage betroffen wäre. In der vorliegenden Arbeit wurde der Versuch unternommen, diesen äußerst vielschichtigen Themenkomplex auf die zentralen Fragen zu reduzieren: Die Frage nach Berechtigung und Notwendigkeit einer taiwanesischen Unabhängigkeit, die militärische und wirtschaftliche Dimension sowie die öffentliche Meinung (Kapitel 9.1.4.). Neben der allgemeinen Recherche, die sich auf Konventionen 29

Tageszeitungen und Internet-Seiten von wichtigen Akteuren erstreckte, wurde der Kontakt zu Vertretern verschiedener relevanter Organisationen gesucht. Diese Interviews lassen sich in drei Gruppen unterteilen: An erster Stelle standen hier Gespräche mit prominenten Vertretern der drei großen11 politischen Parteien DPP (Lin Zhuoshui), KMT (Shao Minghuang) und TSU (Lin Zhijia). Daneben wurden zwei kleinere Parteien kontaktiert, die zwar über wenig Einfluss verfügen, sich jedoch an den jeweiligen Extremem des politischen Spektrums befinden: Xu Qingsong und Lin Yufa als Vertreter der Taiwan Independence Party (TIP), die sich (wie der Name bereits erkennen lässt) vehement für eine sofortige staatliche Unabhängigkeit engagiert, sowie Yu Muming, den Parteivorsitzenden der New Party (NP), die mittelfristig für eine Wiedervereinigung mit dem Festland plädiert. Des weiteren wurden Gespräche mit Repräsentanten von zwei politischen Gruppierun- gen geführt, die sich in jeweils entgegen gesetzter Zielrichtung mit der Frage der taiwanesi- schen Unabhängigkeit beschäftigen: Die World United Formosans for Independence (WU- FI), vertreten durch einer ihrer bedeutendsten Theoretiker Shi Zhengfeng, sowie die „Liga für die Wiedervereinigung Chinas“, deren Vorsitzender Wang Jinping für ein Interview zur Verfügung stand. Drittens schließlich wurden Interviews mit Wissenschaftlern geführt, die sich mit Themen beschäftigen, die in direktem Zusammenhang mit der taiwanesischen Unabhängig- keit stehen. Hierzu gehört der renommierte Historiker Li Xiaofeng, der Sozialwissenschaft- ler Wu Naide sowie die Medizinerin Lin Mali, die sich in ihrer Forschung mit der geneti- schen Verwandtschaft zwischen Taiwanesen und Chinesen beschäftigt.

1.3 Konventionen

Für die Vorfälle des Jahres 1947 finden sich in der chinesischen Literatur unterschiedliche Bezeichnungen. Am häufigsten findet heute der Begriff „228-Vorfall“12 Verwendung. Von Seiten der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland wurden hingegen zumeist die Termini „228-Revolution“ bzw. „Große 228-Revolution“13 bevorzugt. Der in dieser Arbeit gewählte Ausdruck „228-Aufstand“14 lässt sich hingegen eher selten auffinden. Eine ähnliche termi- nologische Vielfalt ist im Englischen zu konstatieren, wo zumeist der Begriff „228- Incident“, daneben aber auch „228-Uprising“ oder „228-Insurrection“ verwendet werden. Die Bezeichnung „Aufstand“ steht vor der Schwierigkeit, dass eine allgemeine Volkserhe- bung assoziiert werden könnte, die den Sturz der staatlichen Autorität verfolgte – eine Ziel- setzung, die jedoch nur von einer Minderheit der Akteure angestrebt wurde. Andererseits impliziert die heute überwiegende Bezeichnung „Vorfall“ nach Ansicht des Autors eine unzulässige Bagatellisierung und Verharmlosung der Ereignisse; daher wurde, trotz aller Vorbehalte, der Begriff „Aufstand“ als einzig angemessene Übersetzung gewählt.

11 Eine Partei, die in dieser Aufzählung fehlt, ist die People First Party (PFP), die sich im Anschluss an die Präsi- dentschaftswahlen im Jahre 2000 unter Führerschaft von Song Chuyu von der KMT abspaltete. In der Haltung der PFP zur Frage der Taiwanesischen Unabhängigkeit bestehen jedoch keine nennenswerten Differenzen zu den Ansichten der KMT; in den letzten Monaten wurde mehrmals über eine erneute Verschmelzung der beiden Partei- en PFP und KMT spekuliert. 12 Er-er-ba shijian ҼҼޛһԦ 13 Er-er-ba geming ҼҼޛ䶙ભ bzw. er-er-ba da geming ҼҼޛབྷ䶙ભ 14 Er-er-ba qiyi ҼҼޛ䎧㗙 oder er-er-ba minbian ҼҼޛ≁䆺 30 Einleitung

Die offiziellen Staatsnamen der politischen Gebilde auf beiden Seiten der Taiwan-Straße lauten „Volksrepublik China“ (VRCh) 15 bzw. „Republik China“ (Republic of China, ROC).16 Im Sinne einer besseren Leserlichkeit wurden an Stellen, wo Missverständnisse ausgeschlossen werden konnten, jedoch auch die Begriffe „Festland“ bzw. „Nationalchina“ oder „Taiwan“ verwendet. „Taiwan“ bezieht sich dann selbstverständlich auf das gesamte Staatsgebiet der Republik China, das – neben der Hauptinsel Taiwan – auch die Inselgrup- pen Jinmen und Mazu, die Pescadores (Penghu) und eine Anzahl weiterer kleiner Inseln umfasst. Die autoritäre Ein-Parteien-Herrschaft der KMT über Taiwan wird zudem gele- gentlich als „KMT-Regime“ oder „ROC-Regime“ bezeichnet. Diese bewusst abwertende Bezeichnung „Regime“ ist nach Meinung des Autors seit der demokratischen Liberalisie- rung jedoch nicht mehr angemessen, und findet für die Beschreibung der Periode nach 1990 keine Anwendung. Im Folgenden wird die Republik China wie ein staatliches Gebilde be- handelt – etwa, wenn vom „taiwanesischen Präsidenten“ oder der „nationalchinesischen Regierung“ die Rede ist. Dies geschieht jedoch unter dem Vorbehalt, dass der taiwanesi- sche Anspruch auf Eigenstaatlichkeit von der Mehrheit der internationalen Staatenwelt (darunter auch die Bundesrepublik Deutschland) nicht anerkannt wird. Für die Umschrift von chinesischen Termini wurde die international gebräuchliche -Umschrift verwendet. Abweichungen wurden nur dort vorgenommen, wo Begriffe unter anderen Umschriften in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen sind – also etwa „Peking“ (statt Beijing) oder „Chiang Kai-shek“ (statt Jiang Jieshi). Eine besondere Schwierigkeit bereitete hierbei die Umschrift des Begriffes „Chiang/Jiang-Clan“,17 mit der die Unabhängigkeitsbewegung im abfälligen Sinne das Regime des Chiang Kai-shek und dessen Sohn und Nachfolgers Jiang Jingguo bezeichnete. Für die Periode, die in die Lebzei- ten des Chiang Kai-shek fällt, wurde hier die Umschrift „Chiang-Clan“ gewählt, für die Zeitspanne nach dessen Tod im Jahre 1975 hingegen die Umschrift „Jiang-Clan“. Für den Begriff „Liumang“, mit der in offiziellen Regierungsdokumenten oftmals die Aufständischen des Jahres 1947 diffamiert wurden, fand sich keine geeignete deutsche Übersetzung. Liumang bezeichnet Mitglieder von Mafia-ähnlichen, organisierten Verbre- cherbanden. Im Gegensatz zur Mafia weisen Liumang-Banden jedoch einen eher geringen Organisationsgrad auf, zudem rekrutieren sich die Liumang zumeist aus den unteren Gesellschaftsschichten. Dem Begriff haftet daher auch die Konnotation von „Kleinkrimi- neller, Gewalttäter“ an. Bei Günter Whittome findet sich die Übersetzung „Rowdy“, die, bezogen auf den 228-Aufstand, zutreffend ist. Wie gezeigt werden soll, traten die Liumang- Banden jedoch auch im weiteren Verlauf der Unabhängigkeitsbewegung in Erscheinung, hier wäre die Übersetzung „Rowdy“ irreführend. Der Autor hat sich daher entschieden, den Begriff unübersetzt zu lassen und die chinesische Umschrift Liumang zu übernehmen. Für die Festlegung der Jahreszahlen existieren auf Taiwan zwei unterschiedliche Sys- teme: Neben der im Westen gebräuchlichen Zählweise nach Christi Geburt findet auch das „Jahr der Republik“ (beginnt 1911) Verwendung. In den letzten Jahren ist die Wahl der Jahreszählung auf Taiwan Gegenstand einer politischen Kontroverse geworden, deren Ergebnis bislang aussteht. 18 In der vorliegenden Arbeit wurde im Sinne einer besseren

15 Zhonghua renmin gongheguo ѝ㨟Ӫ≁ޡ઼഻ 16 Zhonghua minguo ѝ㨟≁഻ 17 Jiang zu 㭓᯿ 18 In jüngster Zeit wurde von Seiten der DPP ein Vorstoß unternommene, die westliche Zählung des gregoriani- schen Kalenders auf Taiwan allgemein verbindlich festzuschreiben. Von Kritikern wird jedoch auf die hohen Konventionen 31

Leserlichkeit in der Regel die westliche Zählung verwendet; Ausnahmen von dieser Kon- vention wurden durch Fußnoten besonders gekennzeichnet. Die auf Taiwan lebenden Volksgruppen lassen sich wie folgt unterscheiden:

1. Zum einen diejenigen Inselbewohner, die bereits vor der Rückkehr Taiwans nach China im Jahre 1945 dort lebten und die als „Leute aus der Provinz“19 bezeichnet wer- den. Diese (aus Perspektive des Jahres 1945) ursprünglichen Einwohner lassen sich unterteilen in Ureinwohner20 sowie Nachfahren der frühen Siedler vom chinesischen Festland, die sich wiederum in Siedler aus der Provinz Fujian und Angehörige der eth- nischen Minderheit der Hakka unterscheiden lassen. Die Nachkommen der frühen Einwanderer aus der Provinz Fujian, auch als Fulaoren oder Hoklo bezeichnet, stellen in dieser Gruppe den bei weitem größten prozentualen Anteil. 2. Demgegenüber stehen die Bewohner, die sich nach der Rückkehr Taiwans zum Fest- land im Jahre 1945 auf der Insel niederließen und die insbesondere zu Ende des chine- sischen Bürgerkrieges im Jahre 1949 dem ROC-Regime in großer Zahl nach Taiwan folgten. Diese späteren Einwanderer und deren auf Taiwan geborenen Nachkommen werden allgemein als „Festländer“21 (Waishengren, eigentlich: „Leute von außerhalb der Provinz“) bezeichnet. In jüngster Zeit findet sich auch der als politisch korrekt empfundene Terminus „Neue Einwanderer“.22 Dieser Begriff konnte sich aber noch nicht allgemein durchsetzen, der Autor behält daher die eingebürgerte Bezeichnung „Festländer“ bei.23

In der vorliegenden Arbeit wird zumeist die Unterscheidung in „gebürtige Taiwanesen“ bzw. „Taiwanesen“ und „Festländer“ getroffen – dies mit dem Vorbehalt, dass die Nach- kommen der zweiten und dritten Generation der Festländer natürlich auch auf Taiwan geboren wurden. Darüber hinaus wird der Begriff „Taiwanesen“ gelegentlich auch in Ab- grenzung zu den Chinesen auf dem Festland, den Einwohnern der VRCh also, verwendet. In dieser letzten Bedeutung sind mit „Taiwanesen“ jeweils sämtliche Bewohner Taiwans, einschließlich der gebürtigen Taiwanesen und der Festländer, gemeint.

Folgekosten dieses Vorhabens verwiesen. Es wurde spekuliert, ob die Frage der Kalenderreform zum Gegenstand eines Referendums gemacht werden könnte. Siehe China Post, 14.3.06. 19 Benshengren ᵜⴱӪ 20 Yuanzhumin ৏տ≁. Dem Begriff yuanzhumin haftet dabei nichts Abwertendes an, der Terminus wird etwa auch von verschiedenen politischen Interessenvertretungen der Ureinwohner verwendet. 21 Waishengren ཆⴱӪ 22 Xin yimin ᯠ〫≁ 23 Für den Autor ist nicht erkennbar, dass der Begriff „Festländer“ auf Taiwan als herabsetzend empfunden würde. 2 Historische Einführung

2.1 Frühe Besiedlung und die Herrschaft des Koxinga

Die Insel Taiwan, durch eine 150km breite Meeresstraße vom chinesischen Festland getrennt, trat erst zu einem relativ späten Zeitpunkt in den Wahrnehmungskreis der chinesi- schen Herrscher. Über die ursprüngliche Besiedlung Taiwans, die bereits im Paläolithikum einsetzte, ist wenig bekannt. Die Ureinwohner der Insel, die in mehreren Stämmen auf Taiwan lebten und deren Sprachen der malayisch-austronesischen Sprachgruppe zugerech- net werden, verfügten über keine Schriftkultur; die Herkunft dieser Ureinwohner ist daher umstritten.24 Seit dem dritten Jahrhundert verweisen chinesische Quellen auf die Existenz einer Insel im Osten, die Ziel von gelegentlichen Expeditionen gewesen sei – es ist aller- dings umstritten, ob mit dieser Insel, die meist als Liuqiu bezeichnet wurde, tatsächlich Taiwan gemeint war. Erst unter der Mongolendynastie der Yuan wurden dauerhafte militä- rische Vorposten auf der Taiwan vorgelagerten Inselgruppe Penghu errichtet; seit dem 14. Jahrhundert lässt sich ein nennenswerter Zustrom von chinesischen Einwanderern nach Taiwan nachweisen, die vor allem in küstennahen Fischerdörfern siedelten. Seit dem 16. Jahrhundert geriet Taiwan zudem als berüchtigtes Piratennest in Verruf. Im Jahr 1517 durchkreuzte eine portugiesische Flotte auf ihrem Weg nach Japan die Taiwan-Straße und gab der Insel den Namen „die schöne Insel“ (Ilha Formosa) – ein Name, der bis heute als Synonym für Taiwan Verwendung findet. Im 17. Jahrhundert wurden auf Taiwan die ersten dauerhaften Außenposten europäischer Kolonialmächte etabliert: Im Jahr 1624 errichteten die Niederlande an der Südküste der Insel eine Reihe von militärischen Befestigungen, während die Spanier im Jahre 1626 den nördlichen Küstenstreifen der Insel besetzten. Im Jahr 1642 gelang es den Holländern, die spanischen Konkurrenten zu vertreiben und formal die gesamte Insel unter ihre Jurisdiktion zu bringen. In der Mitte des 17. Jahrhunderts ereignete sich auf dem chinesischen Festland ein epochaler politischer Umbruch, dessen Auswirkungen die weitere Entwicklung Taiwans entscheidend prägen sollte. Die chinesische Ming-Dynastie wurde von den nördlichen Rei- terstämmen der Mandschus gestürzt, die im Jahre 1644 mit der Eroberung der Hauptstadt Peking die Qing-Dynastie begründeten – die, wie sich herausstellen sollte, letzte Kaiserdy- nastie der chinesischen Geschichte. Die neuen Herrscher benötigten jedoch noch über 20 Jahre, um die letzten Reste von Ming-loyalen Widerstandsbewegungen zu beseitigen und ihre Herrschaft über das ganze Reich zu konsolidieren. Der militärische Widerstand für eine

24 In den letzten Jahrzehnten ist die Herkunft dieser Ureinwohner Gegenstand einer politisch motivierten Debatte geworden. Von chinesischen Forschern wurde geltend gemacht, dass die frühe Besiedlung Taiwans vom chinesi- schen Festland ausgegangen sei. Damit sollte belegt werden, dass Taiwan bereits seit der Altsteinzeit Teil des chinesischen Siedlungsraumes gewesen sei. Eine andere Theorie besagt hingegen, dass die ersten Einwohner Taiwans aus Indonesien und den Philippinen stammten oder – dies eine Hypothese, die sich besonders in Kreisen der politischen Bewegung für die Rechte der Ureinwohner großer Beliebtheit erfreut – dass Taiwan gar Ursprung des austronesischen Volksstammes gewesen sei. Vgl. Stainton 1999: 27-44.