Was Bleibt Vom Glück Des Mauerfalls?
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ISSN 2199-3572 Nr. 11 (63) November 2019/ / Cheschwan – Kislew 5780 RU ND SCHA U 3,70 € JÜDISCHEUNABHÄNGIGE MONATSZEITUNG · H EraUSGEGEBEN VON DR. R. KORENZECHER Entwertung des Herzlichen Ein „Hallelujah“ Theodor-Herzl-Preises Glückwunsch, auf Leonard Cohen E ine musikalisch- Eine unverdiente Herr Premierminister! literarische Konzertreise Preisverleihung an die rund um den großen Kanzlerin B enjamin Netanjahu ist 70 geworden. jüdischen Liedermacher seite 10-11 seite 22 seite 30-31 KOLUMNE DES HERAUSGEBERS DR. R. KORENZECHER Was bleibt vom Glück des Mauerfalls? Liebe Leserinnen und liebe Leser, mit dem Ausklingen des Zyklus der hohen jüdischen Feiertage neigt sich so allmählich auch das Jahr 2019 seinem Ende entgegen. Nach der Feiertags-Ver- schnaufpause des Monats November freuen sich be- sonders die jüdischen Kinder bereits auf das Geschenk- reiche Chanukkah-Fest, dessen erste Kerze in diesem Jahr mit dem Ausklang des vierten Adventssonntags gezündet wird, und das in diesem Dezember genau auf die Weihnachtswoche fällt. Auch wenn der Monat November in unseren Breiten insgesamt ein eher von elegischer Stimmung getra- gener Herbstmonat ist und nicht wenige, meist dieser Stimmung entsprechende Gedenktage aufweist, so beinhaltet er doch gerade in der neueren Geschich- te Tage der Erinnerung an Ereignisse, die sowohl für Deutschland als auch für die Juden von schicksalhafter Bedeutung sind und maßgeblich zur heutigen politi- schen Situation beigetragen haben. Der 29. November 1947 ist der Tag der Resolution 181 (II), in der sich die UNO mit überwältigender Mehrheit falsch verstandenen Multiperspektivi- Die Unsicherheit darüber, welche für eine Teilung des damaligen britischen Mandatsge- Von Paul Möllers tät diesen Antisemitismus auch im Bil- Werte und Traditionen überhaupt zu biets und die langersehnte Wiederentstehung eines dungsbereich zu tolerieren, wie die An- verteidigen sind, spiegelt sich in öf- jüdischen Nationalstaates auf einem Teil des alten jüdi- Ein Detail fiel insA uge bei der Be- tisemitismusforscher Samuel Salzborn fentlichen Verlautbarungen oder in schen Territoriums aussprach. Dieser Tag ist damit die richterstattung über die geplanten Fei- und Alexandra Kurth in einem Gut- ungelenk und inhaltssleer anmutenden eigentliche Geburtsstunde des modernen demokrati- erlichkeiten anlässlich des Jubiläums achten Anfang des Jahres feststellen. Kampagnen der Bundesregierung wie schen Staates Israel. des Mauerfalls: Der Hinweis auf die Ob sich Ignatz Bubis, Heinz Galinski zuletzt bei „Wir sind Rechtsstaat“. Soll- Für Deutschland, aber auch für die deutschen und erhöhten Sach- und Personalkosten oder Paul Spiegel diese Entwicklung te dies als ein Eingeständnis der Regie- europäischen Juden schicksalhaft sind jedoch auch aufgrund der zu treffenden erhöhten hätten vorstellen können?A ngela Mer- rung zu verstehen sein? In den letzten unfraglich die historischen Ereignisse, die jeweils ko- Sicherheitsmaßnahmen. „Seit dem An- kels Rede zu 20 Jahren Wiederverei- Jahren sind auch neue Mauern ent- inzidenterweise auf den 9. November fielen und von schlag vom Breitscheidplatz“ seien die nigung vor der jüdischen Gemeinde standen, politischer Streit wurde lan- denen insbesondere jeweils der 9. November der Jahre Sicherheitsanforderungen gestiegen – im Oktober 2010 könnte deutschen ge nicht mehr so unerbittlich geführt. 1918, 1938 und 1989 hervorzuheben ist. an dieser lapidaren Erklärung nimmt Juden heute aufstoßen; neben ihrem Ein Konsens, der als unhintergehbar Sehr bald wieder zertreten wurde der Hoffnungsfun- jedoch fast niemand mehr Anstoß, der Bekenntnis zu Israels Sicherheit als betrachtet wurde, scheint aufweicht. ke, den vor 101 Jahren die Abdankung des deutschen Verlust an Sicherheitsgefühl wird nur Staatsräson äußerte Merkel auch: „Jü- Die zunehmende Polarisierung und Kaiserreichs und das Ausrufen einer Republik Deutsch- ungern zum Thema gemacht. disches Leben gehört zu Deutschland, das Handeln nicht zuletzt der großen land am 9. November 1918 in dem geschundenen Eu- Als besonders betroffene Gruppe ha- es hat hier seine Heimat“. Koalition hat die politischen Ränder ropa für einige wenige Jahre ebenso aufkeimen ließ, ben zuletzt die Vertreter der jüdischen gestärkt. Die Bruchlinien zeichnen sich wie zwei Tage später am 11. November 1918 das offizi- Gemeinden auf diesen Punkt hinge- In Osteuropa brauchen Juden in den kleinsten Einheiten von Gesell- elle Ende des schrecklichen Ersten Weltkriegs mit über wiesen. So wurde der fehlende Schutz weniger Schutz als in Deutsch- schaft ab:I n vielen Familien steht man 17 Millionen Todesopfern, davon allein 12.000 für das an Synagogen bemängelt, nur durch land sich zum Teil unversöhnlich gegen- deutsche Kaiserreich gefallenen Juden. einen glücklichen Umstand konnte E s mutet wie Ironie an, dass sich nun über, wenn es um Themen wie Einwan- Er wurde brutal zertreten von der durch Deutschland ein Massaker in der Synagoge in Halle nach Deutschland eingewanderte Juden derung, Bildung und Wirtschaftspoli- selbsterwählten braunen Nazi-Herrschaft, dem antise- verhindert werden. Die Bitten der Ge- aus Osteuropa mittlerweile sicherer in tik geht. mitischen Terror der Pogromnacht des 9. November meinden um mehr Polizeischutz blie- ihren Herkunftsländern fühlen als in 1938 und der folgenden Ermordung von sechs Millio- ben unerhört. der sogenannten offenen Gesellschaft Politische Bildung mit blinden nen europäischen Juden durch deutsche Nazischergen – trotz Bedenken, wenn es etwa um Flecken? und ihre bereitwilligen Helfer aus unterschiedlichen Bedrohte Werte die Person Orbán geht. Sind doch Ju- A uch in anderen Bereichen ist fast Nationen. Fortsetzung Seite 2 A uch die Berichterstattung über die den hierzulande auf mehr Schutz ange- schon eine Umwertung zu verzeich- veränderte Quantität und Qualität von wiesen als z.B. in dem so bezeichneten nen, so geraten heute Bürgerrechtler Österreich 3,70 €; Italien 3,70 €; Schweiz 4,60 CHF; Luxemburg 3,80 €; Belgien 3,90 €; Niederlande 4,60 €; antisemitischen Attacken bewirkte „rechtspopulistischen“ Ungarn unter wie Vera Lengsfeld unter „Rechts“- Slowakei 4,50 €; Slowenien 35 KN zunächst nur Aktionismus und Lip- dem mindestens als rechtsnational oder Verdacht, Medien wie die „Frankfur- penbekenntnisse. Über die Bedrohung rechtskonservativ geltenden Orbán. ter Rundschau“ attestieren ihr, „nach durch Antisemitismus von rechtsext- Eine zunehmende Entfremdung Rechtsaußen gedriftet“ zu sein. remer Seite hat man sich bislang keine macht sich auch unter Einwanderern Andere wiederum genießen trotz Illusionen gemacht. Man tut sich aber muslimischer Herkunft breit, sie erken- langjähriger Stasi-Mitarbeit hohes schwer, den zunehmenden islamischen nen die Bundesrepublik nicht wieder, Ansehen, werden gar im Bereich poli- Antisemitismus, insbesondere den „pa- in der sie einst Zuflucht suchten und tische Bildung prominent eingesetzt, lästinensischen“ Antisemitismus, zu fanden vor religiöser und politischer so wie etwa Anetta Kahane. thematisieren und ist geneigt, aus einer Verfolgung. Fortsetzung auf Seite 2 KOLUMNE № 11 (63) November 2019 JÜDISCHE RUNDSCHAU 2 Fortsetzung von Seite 1 30 JahreWas nach der friedlichen bleibt Revolution vom verspielt Deutschland Glück erneut die des Freiheit seiner Mauerfalls? jüdischen und nicht-jüdischen Bürger. Zuletzt erlitt ihr Kampf gegen Rassis- dungen zu Vereinen zu haben, die der antise- Man wäre direkt geneigt, der Doyenne der Neid der „Eingeborenen“ auf die „Vitalität“ mus und Antisemitismus einen Verlust mitischen Muslimbruderschaft zugeordnet wiedervereinigten bundesrepublikanischen und Risikobereitschaft der ausländischen an Glaubwürdigkeit, als sie im Verein mit werden. Auch andere Beteiligte wie Dr. Farid politischen Bildung ein wenig, ja, politische Intensivtäter, schlägt vor, am 9. November Stiftungsmitarbeiterin Dr. Rosa Fava eine Hafez, der für eine wohl AKP-nahe Denkfa- Bildung ans Herz zu legen. Mit kundigen aus dem „deutsch-deutschen Sud heraus“ zu angeblich neue „Allianz gegen Islam- und brik wie SETA arbeitet, erscheinen zunächst Aufklärern wie Vojin Saša Vukadinović kommen. Dazu solle jeder „selbstbewusst“ Muslimfeindlichkeit“ namens „CLAIM“ nicht wie natürliche Verbündete im Kampf beispielsweise, selbst Historiker, könnte sie ein „Merkmal seiner Herkunft“ tragen, eine bewarb. Allein die Namenswahl müsste gegen Antisemitismus. Wie auch andere die Fallstricke des postmodernen „Kampfs Flagge oder ein religiöses Zeichen. wie ein Affront erscheinen, vor allem wenn in diesem Bereich der politischen Bildung gegen Rassismus“ begreifen lernen. „Das Versteck der eigenen Identität zu man dazu den Umgang der DDR mit der Tätigen hat es Anetta Kahane bislang nicht Man darf also gespannt sein auf die Fei- verlassen, kann befreiend und aufregend Jewish Claims Conference betrachtet. vermocht, die negativen Implikationen ei- erlichkeiten zum Mauerfall, von massen- zugleich sein“ – dieser Satz kann nur Sollte das einer so profilierten politischen nes postmodernen Antirassismusbegriffs zu wirksamen Happenings bis leisen Tönen zeitgeistig „vielfältigen“ Geistern wie Bildnerin entgangen sein? durchschauen: Eine analytische Durchdrin- wird alles vertreten sein. Und man kann nur Lehming gefallen. Juden jedoch, die im Auch die personelle Zusammensetzung gung der Spezifik von Antisemitismus bleibt hoffen, dass „Impulse“ wie der von Malte wiedervereinigten Deutschland mittler- der Allianz wirft Fragen auf, so finden sich aus, in der Folge bleibt der Bereich Antise- Lehming, den 9. November einfach zu ei- weile gut beraten sind, auf jegliche