he rnlcki verloren haben. ihrer Dringlichkeit diebisheutenichts von ethischenFragen, Umgang mit den Sterbenden undihren Angehörigenundbeleuchtet auchdieAusführungen von Der Autor untersucht wie diealltäglichePraxis amSterbebett. körperliche undseelische Wohl derSterbendenebenso esdielange Tradition derSorge umdas beschreibt zahlreicher gedruckterundhandschriftlicher Quellen Anhand medizin von derRenaissance biszurGegenwart. erstmalsdieGeschichte derPalliativ- Dieses Buchverfolgt sehr wenig. qualvollen Tod zuersparen –nurwissenwirdarübernoch denSterbendeneinen sich ÄrzteundPflegekräfte, Auch bemühten infrüheren Jahrhunderten Stellenwert. einenhohen würdiger Tod besitzen inunserer Gesellschaft Gute medizinischeSterbebegleitungundeinmenschen- www.mabuse-verlag.de ISBN 978-3-940529-79-4ISBN

Michael Stolberg Die Geschichte der Palliativmedizin von 1500bisheute Medizinische Sterbebegleitung Palliativmedizin Die Geschichte der Michael Stolberg Mabuse-Verlag Die Geschichte der Palliativmedizin Der Druck dieser Publikation wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziell unterstützt.

Michael Stolberg, geb. 1957, hat in München Medizin studiert und zunächst als Arzt in der Inneren und der Intensivmedizin gearbeitet. Nach einer Zweit- promotion in Geschichte und Philosophie widmete er sich ganz der Medzin- geschichte und veröffentlichte zahlreiche Beiträge und mehrere Bücher zu verschiedenen Aspekten der Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin. Seit 2004 ist Michael Stolberg Professor für Geschichte der Medizin an der Universität Würzburg. Michael Stolberg

Die Geschichte der Palliativmedizin

Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute

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Satz: Björn Bordon/MetaLexis, Niedernhausen Umschlaggestaltung: Caro Druck GmbH, Frankfurt am Main Umschlagabbildung: Louis Hersent (1777–1860), Bichat mourant assisté par les docteurs Esparon et Roux (mit freundlicher Genehmigung des Musée de l’Histoire de la Médecine, Paris)/Archives Charmet/The Bridgeman Art Li- brary eISBN: 978-3-86321-249-0 ISBN: 978-3-940529-79-4 Printed in Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Einleitung 7 Teil I: Die Frühe Neuzeit (1500–1800) 21 Unheilbare und Sterbende im ärztlichen Schrifttum 21 Cura palliativa. Archäologie eines modernen Begriffs 28 Ärztliche Sterbebegleitung: Cura mortis palliativa und Euthanasia medicinalis 43 Palliativmedizinische Praxis 51 Ärztliche Sterbebegleitung als professionspolitisches Dilemma 57 Ethische Herausforderungen 67 Gezielte Lebensverkürzung 67 Unabsichtliche Lebensverkürzung 74 Behandlungsverzicht 77 Ärztliche Moral und Laienkultur 83 Die Wahrheit am Krankenbett 85 Sterbeerfahrung und Sterbebegleitung im Alltag 91 Jenseitshoffnungen und die „letzte Stunde“ 91 Subjektive Erfahrung 96 Die Grauen des Sterbens 98 Behaustes Sterben 100 Die normativen Zwänge der Sterbekunst 104 Der plötzliche Tod 107 Bei wachem Verstand 108 Ärzte und Geistliche am Sterbebett 110

Teil II: Das Industriezeitalter (1800–1945) 117 Aufstieg und Niedergang der Euthanasia medica 119 Palliative Behandlungspraxis 132 Palliative Operationen 140 Pflege 144 Der Arzt als Seelsorger 149

5

Ethische Kontroversen 153 Aktive Sterbehilfe 156 Ungewollte Lebensverkürzung und Therapiebegrenzung 170 Konflikte zwischen Ärzten und Laien 175 Ein Recht auf Wissen? Die Mitteilung infauster Prognosen 178 Die Patientensicht 186 Sterben in der Institution 192 Vom Hospital zum Krankenhaus 192 Kein Platz für hoffnungslose Fälle 197 Unheilbarenhäuser 202 Einrichtungen für Krebskranke 210 Einrichtungen für Tuberkulöse 216 Tod im Krankenhaus – die Patientenperspektive 219 Die ersten Sterbehospize 226

Teil III: Die Zeit nach 1945 233 Die Anfänge der Hospizbewegung 237 Die ersten Palliativstationen 241 Ambulante Palliativmedizin 245 Die Patientenperspektive 247

Schluss: Kontinuität und Wandel 251 Medikalisierung 258 Tabuisierung 261 Stigmatisierung 266

Auswahlbibliografie 279 Index 295

6 Einleitung

Einleitung

Sterbebegleitung und Palliativmedizin genießen heute in Medizin, Öffent- lichkeit und Politik große Aufmerksamkeit. Kaum ein anderes Feld der mo- dernen Gesundheitsversorgung weist eine vergleichbare Dynamik auf und findet ähnliche gesellschaftliche Resonanz. Tausende von Hospizen, Pallia- tivstationen und anderen Einrichtungen zur Versorgung Todkranker und Sterbender sind in den letzten Jahrzehnten entstanden, und ihre Zahl wächst weiter. Immer mehr Menschen können heute ihr Leben in Würde und ohne unerträgliche körperliche Qualen unter der fachkundigen Betreuung pallia- tivmedizinisch geschulter Pflegekräfte und Ärzte beschließen. Die Pallia- tivmedizin ist zu einem eigenständigen Fachgebiet geworden, dessen Ver- treter sich in nationalen und internationalen Fachgesellschaften organisieren und in eigenen Fachjournalen alljährlich Hunderte von wissenschaftlichen Beiträgen publizieren.1 In der Öffentlichkeit wie unter den palliativmedizinisch Tätigen selbst gilt die Palliativmedizin verbreitet als ein sehr junges Phänomen. Ihre An- fänge werden meist auf die 1960er und 1970er Jahre datiert. Damals grün- dete Cicely Saunders in London das St Christopher’s Hospice, das in der Folgezeit zum Vorbild für zahllose ähnliche Einrichtungen werden sollte.2 Bald darauf wurde in Montreal unter Balfour Mount die erste pallia-

1 Globale Überblicke bei David Clark, End-of-life care around the world. Achievements to date and challenges remaining, in: Omega 56 (2007), S. 101–110; ders., From margins (2007); Economist Intelligence Unit, The quality of death. Ranking end-of-life care across the world, 2010 (www.eiu.com/sponsor/lienfoundation/qualityofdeath); zur ak- tuellen Lage in Deutschland vgl. Deutsche Hospizstiftung, HPCV-Studie 2010 (http://www.biohospiz-bernstorf.de/Willkommen_files/HPCV-Studie2010.pdf); speziell zu Afrika: Michael Wright/David Clark, Hospice and palliative care development in Africa. A review of developments and challenges, Oxford 2006. 2 Du Boulay, Cicely Saunders (1984); Mary Campion, Ein Hospiz entsteht: von Pionie- rinnen der Hospizbewegung, Straubing 1997. Zur späten Datierung der Entstehung der Palliativmedizin vgl. z. B.: Susanne Ringskog/Danuta Wassermann, Hastening the end of life. History, research and current Swedish and international debate on the issue of eutha- nasia, Stockholm 2000, S. 86: „The palliative medicine takes its start in London, in 1967.“

7 Einleitung tivmedizinische Station in einem modernen Krankenhaus eröffnet.3 Einzelne Historiker haben die Anfänge weiter zurückverfolgt, doch auch sie datieren die Wurzeln der Palliativmedizin und des Sterbehospizes bislang meist al- lenfalls auf das späte 19. Jahrhundert. Erst damals, so fasste Clare Joanne Humphreys, Autorin einer der besten Studien zur Geschichte des Sterbehos- pizes, ihre Ergebnisse zusammen, „gab es die ersten ernsthaften Versuche, die medizinische und pflegerische Betreuung Sterbender zur Aufgabe zu machen, und man begann sie als wichtige Bereiche der medizinischen und pflegerischen Praxis zu betrachten.“4 Manche Autoren haben sogar die Gründe benannt, warum die Notwendigkeit von Hospizen und eine gezielte palliativmedizinische Betreuung vor dem 19. Jahrhundert gar nicht zur De- batte stehen konnten. „Erst die moderne Medizin“, so hat beispielsweise Nicolaus Eschenbruch argumentiert, „machte es […] möglich, dass man das ‚Sterben‘ als eine längere Lebensphase, und damit als Gegenstand von Hos- pizarbeit, überhaupt eingrenzen konnte.“ In früheren Zeiten sei das Sterben dagegen „entweder kurz, kaum vorhersagbar und brutal“ gewesen „oder ein langes Siechtum, das als gottgegeben galt und einfach zum Leben gehörte.“ Erst dank der neuen therapeutischen Möglichkeiten der modernen Medizin habe das Sterben „von etwas Allgegenwärtigem und Selbstverständlichem zu einer enger und klarer umgrenzten Lebensphase werden“ können.5 Bereits ein kurzer Blick in das ältere medizinische Schrifttum und in all- tags- und praxisnahe Quellen und Zeugnisse früherer Jahrhunderte macht freilich klar, dass solche Einschätzungen an den historischen Gegebenheiten vorbeigehen, ja diese geradezu auf den Kopf stellen. Wie dieses Buch zei- gen wird, sind Palliativmedizin und ärztliche Sterbebegleitung definitiv keine Erfindung des 19. oder 20. Jahrhunderts. Ihre Geschichte reicht sehr viel weiter zurück. Das kann bei näherer Betrachtung auch schwerlich über- raschen. Gerade weil die Möglichkeiten der vormodernen Medizin nach heutigen Maßstäben sehr beschränkt waren, stellte sich nämlich früher die

3 Balfour Mount/J. Andrew Billings, What is palliative care?, in: Journal of palliative medicine 1 (1998), S. 73–81, hier S. 73. 4 Humphreys, „Undying spirits“ (1999), S. 210. 5 Nicholas Eschenbruch, Ein besseres Sterben? Die Entstehung der modernen Hospizbe- wegung und ihre historischen Voraussetzungen, in: Praxis 93 (2004), S. 1265–1267; ähnlich: Student, Geschichte (2007).

8 Einleitung

Frage in vielerlei Hinsicht noch weit brennender als heute, wie man die Leiden todgeweihter und sterbender Patienten wenigstens lindern konnte, wenn schon keine Heilung mehr möglich war. Selbst die zahlreich überlie- ferten, sonst eher nüchtern gehaltenen Fallgeschichten vormoderner Ärzte lassen das immer wieder erkennen. Eindringlich schildern sie, welche Qua- len die Patienten in den letzten Wochen und Monaten ihres Lebens oft aus- stehen mussten, wenn sie an Krebs, Schwindsucht oder Wassersucht verstar- ben, den damals führenden Todesursachen im Erwachsenenalter. Sie be- richten von Krebskranken, deren Schmerzensschreie tage- und nächtelang durch die Räume hallten und deren geschwürig zerfallende Tumoren einen unerträglichen Gestank freisetzten.6 Schwindsüchtigen und Wassersüchtigen ging es oft kaum besser. Quälender, womöglich stundenlang anhaltender krampfhafter Husten erschöpfte sie und raubte ihnen den Schlaf. Am Ende rangen sie verzweifelt nach Luft oder litten an „erschrecklicher Beklem- mung“.7 Ja, die „fürchterlichste Todesangst mit beständiger Gefahr der Er- stickung bemächtigte sich“ ihrer, wie C. W. Hufeland im frühen 19. Jahr- hundert das Leiden eines Patienten beschrieb, der darüber „in wahre Verzweiflung“ geraten sei.8 Die ärztliche Pflicht, Schwerkranken und Sterbenden bis zum Tod beizu- stehen, auch wenn keine Heilung mehr möglich schien, war spätestens seit dem ausgehenden Mittelalter weithin anerkannt. Die verfügbaren ärztlichen und pflegerischen Mittel wurden im medizinischen Schrifttum seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert unter Begriffen wie Cura palliativa und, auf Sterbende gemünzt, Euthanasia medicinalis in zahlreichen Schriften abge- handelt und am Krankenbett angewandt.9 Auch fundamentale ethische Fragen im Umgang mit Sterbenden wurden bereits im 17. und 18. Jahrhundert diskutiert, etwa ob der Arzt gezielt oder auch nur mittelbar durch seine Arzneien oder durch Behandlungsverzicht zu

6 So beispielsweise Brodie, Vorlesungen (1847), S. 66. 7 Friedrich Benjamin Osiander, Über die Entwicklungskrankheiten in den Blüthenjahren des weiblichen Geschlechts. Teil 1, Tübingen 1817, S. 117 f., zum Fall einer etwa 18- jährigen Schwindsüchtigen, die sich nur noch den Tod wünschte. 8 Hufeland, Enchiridion medicum (1837), S. 853. 9 Vgl. die Überblicke bei Hoffmann, Inhalt (1969) und Stolberg, „Cura palliativa“ (2007).

9 Einleitung einer möglichen Verkürzung des Lebens beitragen dürfe. Wenn von man- chen heutigen Autoren behauptet wird, in früherer Zeit hätten sich mangels ärztlicher Möglichkeiten solche Fragen kaum gestellt,10 so ist das eine ana- chronistische Fehleinschätzung. Aus heutiger Sicht mögen die verfügbaren Mittel wenig Aussicht auf eine Lebensverlängerung geboten haben. Doch aus der Sicht der damaligen Ärzte und Patienten konnten die Ärzte durchaus Leben erhalten und verlängern – und die Frage, inwieweit dieser Versuch einer Lebensverlängerung in verzweifelten Fällen noch sinnvoll war, wurde, wie wir sehen werden, sogar sehr eingehend diskutiert. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden die Geschichte von Palliativmedizin und medizinischer Sterbebegleitung in einer langfristigen Perspektive vom ausgehenden Mittelalter bis heute verfolgen. Die Darstel- lung wird drei zentrale Themenbereiche und Fragestellungen miteinander verknüpfen. 1.) möchte ich die theoretische Diskussion und die alltägliche ärztliche und pflegerische Praxis der Sterbebegleitung untersuchen. Ich möchte Veränderungen und Kontinuitäten in der ärztlichen Auseinanderset- zung mit diesen Themen nachgehen. Und ich möchte die Bedeutung und Erfahrung der medizinischen Sterbebegleitung aus Sicht der Patienten und ihrer Angehörigen wie der Pflegenden und Ärzte verfolgen. 2.) möchte ich die Geschichte der institutionellen Versorgung terminal Kranker und Ster- bender nachzeichnen und so zugleich den historischen Wurzeln der moder- nen Sterbehospize und Palliativstationen nachgehen. 3.) möchte ich den Wandel im Umgang mit den ethischen Dilemmata verfolgen, die der Um- gang mit todgeweihten und sterbenden Kranken aufwirft, von der Frage einer gezielten Lebensverkürzung bis hin zur Mitteilung schlechter, infaus- ter Prognosen. Der geografische Rahmen meiner Untersuchung ist bewusst weit ge- steckt. Die Entwicklung der theoretischen und ethischen Ansichten wie der palliativmedizinischen Praktiken und Institutionen war bei allen Unterschie- den im Detail in hohem Maße ein internationales Phänomen. Ich werde mich auf West- und Mitteleuropa konzentrieren, insbesondere auf Deutschland,

10 Beispielsweise Hazel Biggs, Euthanasia, death with dignity and the law, Oxford-Port- land, Oregon 2001, S. 2: „In the past the question of inappropriately prolonging life was not a consideration. Rather, people would have died for want of effective medical care.“

10 Einleitung

Frankreich, die Niederlande und England, ergänzend aber auch Entwicklun- gen und Institutionen im übrigen Europa und in Nordamerika einbeziehen. Dieser weitgesteckte zeitliche und geografische Rahmen zwingt allerdings auch zu einer bewussten Beschränkung. Dies ist keine umfassende Darstel- lung der Sozial- und Kulturgeschichte von Sterben und Tod, etwa im Stile von Philippe Ariès’ Studien zur Geschichte des Todes im Abendland.11 Ich werde mich weitgehend auf die Frage des ärztlichen und pflegerischen Um- gangs mit Todkranken und Sterbenden konzentrieren. Selbst hier werde ich manche Antwort schuldig bleiben, und zweifellos werden zukünftige For- schungen meine Darstellung in manchen Punkten differenzieren und nuan- cieren und vielleicht auch korrigieren. Das gilt insbesondere für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine Zeit, in der zwar die aktive Sterbehilfe intensiv diskutiert, die palliative Behandlung von Sterbenden aber in der zeitgenössischen Publizistik nur wenig thematisiert wurde und in der oben- drein ausgeprägte kulturelle und politische Differenzen zwischen den ein- zelnen Staaten in Rechnung zu stellen sind – man denke nur an die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Überhaupt werden länder-, konfessi- ons- oder schichtspezifische Unterschiede in der Diskussion und Praxis der Sterbebegleitung, in der stationären und ambulanten Versorgung und in den Einstellungen von Ärzten und Laien zu den zentralen ethischen Fragen zwar an manchen Stellen zur Sprache kommen, im Detail aber oft noch genauer zu untersuchen sein. Trotz solcher Einschränkungen lässt sich der folgende Versuch einer Überblicksdarstellung nach meiner Überzeugung nicht nur vertreten, son- dern erfüllt beim gegenwärtigen Forschungsstand ein dringendes For- schungsdesiderat. Die englischen und internationalen Entwicklungen, seit etwa 1960, sind immer wieder beschrieben worden. Insbesondere David Clark verdanken wir hier wertvolle Arbeiten.12 Auch für Deutschland liegt

11 Ariès, Studien (1976); ders., Geschichte (1989); für neuere Analysen in dieser Tradi- tion vgl. beispielsweise Mischke, Umgang (1996); Hugger, Meister Tod (2002). 12 Clark, Cradled to the grave? (1999); ders., From margins (2007); s. a. ders., History, gender and culture in the rise of palliative care, in: Sheila Payne/Jane Seymour/Christine Ingleton (Hrsg.), Palliative care nursing. Principles and evidence for practice, Bucking- ham 2004, S. 39–54; ders./H. A. M. J. ten Have/Rien Janssens, Palliative care service developments in seven European countries, in: H. A. M. J. ten Have/David Clark (Hrsg.),

11 Einleitung bereits eine Reihe von Studien vor.13 Für die vorangehenden Jahrzehnte ab etwa 1870 gibt es vereinzelte Untersuchungen zu führenden Protagonisten und frühen Einrichtungen für die Versorgung terminal Kranker und Ster- bender.14 Milton Lewis hat zudem 2007 für die Zeit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einen ersten monografischen Überblick für den angelsäch- sischen Raum vorgelegt, der die bis dahin vorliegenden Forschungen zu- sammenfasst, und vor allem für Australien anhand eigener Quellen- recherchen ergänzt.15 Jason Szabo hat für Frankreich, beispielhaft und auf umfangreiche Quellenstudien gegründet, den Umgang mit Unheilbaren im 19. Jahrhundert verfolgt.16 Eine umfassende, länderübergreifende Analyse der Entwicklungen in der Behandlung Todkranker und Sterbender in dieser Epoche steht jedoch bisher aus.17 Über die Zeit vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert gar und damit über die langfristigen Kontinuitäten und Veränderungsprozesse im ärztlichen und pflegerischen Umgang mit Sterbenden wissen wir bislang nur wenig, und je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto lückenhafter ist bislang unser Wis- sen.18 Lediglich die Geschichte der medizinischen Ethik und der ärztlichen

The ethics of palliative care. European perspectives, Buckingham-Philadelphia 2002, S. 34–51; siehe daneben auch Mielke, Sterben und Tod (2006), bes. S. 113–120; Stoddard Holmes, „The grandest badge“ (2003); Buck, Rights of passage (2005); J. Seymour/D. Clark/M. Winslow, Pain and palliative care: the emergence of new spe- cialties, in: Journal of pain & symptom management 29 (2005), S. 2–13; Hayley/ Sachs, A brief history (2005). 13 Zech, Entwicklung (1994); Kirschner, Hospizbewegung (1996); Klaschik/Nauck, Historische Entwicklung (1998); Seitz/Seitz, Hospizbewegung (2002). 14 Humphreys, „Undying spirits“ (1999); Humphreys, Last summons (2001); Hughes/Clark, „A thoughtful and experienced “ (2004). 15 Lewis, Medicine (2007). 16 Szabo, Incurable (2009). 17 Karen Nolte, Würzburg, arbeitet an einer umfassenden monografischen Darstellung der Verhältnisse und Entwicklungen in Deutschland im „langen“ 19. Jahrhundert; vgl. zu ihren Forschungen auch die im Folgenden zitierten Zeitschriften- und Buchbeiträge. 18 Jésus Conde Herranz, Les soins palliatifs: les origines, les antécédents et l’histoire vus à partir d'une perspective chrétienne, in: Dolentium hominum 20 (2005), S. 54–63 (vor allem zur Bedeutung des spirituellen Beistands); J.-M. Nuñez Olarte, Care of the dying in 18th-century Spain – the non-hospice tradition, in: European journal of palliative care 6 (1999), S. 23–27.

12 Einleitung

Pflichten im Umgang mit Sterbenden ist auch für die Frühe Neuzeit schon besser untersucht.19 Selbst hier finden freilich grundlegende Fragen keine befriedigende Antwort, etwa die, in welchem Maße die Ärzte früherer Jahr- hunderte den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen bei Sterbenden für gerechtfertigt hielten. Und erst kürzlich konnte ich gegen die weithin akzeptierte Annahme, die aktive Sterbehilfe sei erst im frühen 20. Jahrhun- dert zum Gegenstand ärztlicher Debatten geworden, zeigen, dass sie bereits um 1800 von einzelnen Ärzten diskutiert, gefordert und praktiziert wurde.20 Ein zweites methodisches Problem sei hier neben den Herausforderun- gen eines derart weiten zeitlichen und geografischen Rahmens zumindest erwähnt, nämlich das große aktuelle Interesse an Palliativmedizin und Hos- pizwesen. Dieses Interesse ist ein wichtiges Motiv, sich als Forscher oder Leser überhaupt mit dieser Geschichte zu beschäftigen. Der aktuelle Bezug birgt aber stets auch die Gefahr, das historische Geschehen allzu einseitig mit heutigen Augen zu betrachten und zu bewerten. In der bisherigen Lite- ratur zur Geschichte der Palliativmedizin findet sich manches mahnende Beispiel für derlei anachronistische Fehleinschätzungen. So wird neben der verbreiteten Behauptung, die Palliativmedizin sei eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, zuweilen auch in krassem Widerspruch hierzu die These vertreten, die Palliativmedizin sei gar nichts Neues. Die vormoderne Medi- zin habe nämlich über keine wirksamen Behandlungsmethoden verfügt und Krankheiten grundsätzlich „nur“ palliativ behandeln können.21 Das ist grob falsch. Wie schon erwähnt, mag nach heutiger Einschätzung die Krankheits- behandlung vor 1850 oder auch noch um 1900 in den meisten Fällen weit- gehend wirkungslos und manchmal sogar schädlich gewesen sein. Doch Ärzte und Laien waren damals davon überzeugt, dass die richtige Arznei,

19 Überblick bei Bergdolt, Gewissen (2004); speziell zur Frühen Neuzeit vgl. Pohl, Un- heilbar Kranker (1982); Elkeles, Aussagen (1979); zum 19. Jahrhundert: Brand, Ärztliche Ethik (1977). 20 Michael Stolberg, Two pioneers of active euthanasia around 1800, in: The Hastings Centre report 38 (2008), H. 6, S. 19–22. 21 H. Pichlmaier, Palliativmedizin (editorial), in: Zentralblatt für Chirurgie 123 (1998), S. 619; P. D. Wall, 25 volumes of „Pain“ (editorial), in: Pain 25 (1986), S. 1–4; Derek Doyle/Geoffrey Hanks/Nathan I. Cherny, Introduction, in: dies. (Hrsg.): Oxford textbook of palliative medicine, 3. Aufl., Oxford 2005, S. 3–8; Derek Doyle, The provision of palliative care, in: ebd., S. 41–53, hier S. 41.

13 Einleitung die richtige Behandlung das Leben eines Kranken retten konnten. Und die zahlreichen günstigen Krankheitsverläufe, die man unter ärztlicher Behand- lung erlebte, boten ihnen einen scheinbar untrüglichen Beweis für die Wirk- samkeit ärztlicher Therapie – die meisten Krankheiten heilen nach heutiger Einschätzung auch ohne wirksame Behandlung, aufgrund des natürlichen Verlaufs. Wer die vormoderne Medizin als „nur“ palliativ bezeichnet, setzt zudem – was aus der Feder von Autoren aus dem Umfeld der Palliativmedi- zin besonders befremdet – „palliativ“ mit „wirkungslos“ gleich. Dabei wird auf den ersten Blick klar, dass die wichtigsten vormodernen Behandlungs- verfahren, wie Aderlässe, drastische Abführmittel oder Quecksilberpräparate weder nach ihrer damaligen Intention noch nach heutigem Dafürhalten „pal- liativ“ wirkten und die subjektiven Beschwerden linderten, sondern teilwei- se ihrerseits ganz erhebliche zusätzliche Belastungen und Beschwerden verursachten, die man nur deshalb in Kauf nahm, weil man sich eine Hei- lung erhoffte. Mit entsprechender Vorsicht und in dem Bewusstsein betrieben, dass der eigene Blick unausweichlich durch den heutigen Kontext vorgeprägt ist, kann historische Forschung, die von heutigen Problemen und Fragestellun- gen ausgeht, jedoch nicht nur legitim, sondern sogar ausgesprochen frucht- bar sein. Historiker, die versuchen, vergangene Phänomene und Entwick- lungen ausschließlich mit (fiktiven) zeitgenössischen Augen und in zeit- genössischer Begrifflichkeit zu beschreiben, werden der ureigenen Aufgabe jeglicher Geschichtsschreibung nicht gerecht, dem Leser die Geschichte so darzulegen, dass er sie als Mensch seiner Zeit begreifen und womöglich dank der geschichtlichen Erkenntnis auch zu einem besseren Verständnis der Gegenwart gelangen kann. Die Geschichte der Palliativmedizin unter- scheidet sich in diesem Punkt nicht grundlegend von vielen anderen histori- schen Unterfangen. Ob wir die Geschichte von Königen oder Scharfrichtern, von Tanz oder Rauchen, von Ehre oder Vergewaltigung schreiben, um nur ein paar Beispiele aus dem schier unerschöpflichen Themenspektrum der neueren kulturhistorischen Forschung herauszugreifen: Stets wecken die betreffenden Ämter, Figuren, Gegenstände, Tätigkeiten oder Begriffe eine Vielzahl aus der heutigen Erfahrung geborene Assoziationen und Wertur- teile. Für die Geschichte der medizinischen Sterbebegleitung gilt aber posi- tiv gewendet, ähnlich wie für andere historische Gegenstände mit aktuellem

14 Einleitung

Bezug: Gerade aus der Reibung, aus der Aufmerksamkeit für Ähnlichkeiten und Differenzen im Vergleich zu heute, werden die Phänomene und Be- griffe in ihrer damaligen wie in ihrer heutigen Bedeutung nicht selten besser und differenzierter greifbar. Als dritte zentrale methodische Herausforderung ist schließlich die Quel- lenlage zu nennen. Der ärztliche Diskurs über die medizinische Sterbe- begleitung und über die ethischen Probleme, die diese aufwarf, lässt sich vergleichsweise gut rekonstruieren. Hier können wir auf zahlreiche ge- druckte Quellen zurückgreifen. Deutlich schwieriger schon ist es, genauere Einblicke in die alltägliche Praxis des Umgangs mit terminal Kranken und Sterbenden zu gewinnen. Vor allem ärztliche Fallgeschichten und vereinzelt überlieferte Krankenjournale bieten hier wichtige Aufschlüsse. Auch die zahlreichen vormodernen Leichenpredigten bergen, wie Werner F. Kümmel eindrucksvoll gezeigt hat, trotz ihres stark normativ geprägten und idealisie- renden Charakters wertvolle Informationen zur medizinischen Behandlung in den Tagen und Wochen vor dem Tod.22 Für das Verständnis der Versor- gung von Sterbenden in Krankenhäusern und Hospizen erweisen sich zudem die zahlreich überlieferten gedruckten Jahresberichte solcher Einrichtungen als hilfreich. Nicht zuletzt werde ich zahlreiche handschriftliche Quellen heranziehen. Sie stammen aus Dutzenden von deutschen und ausländischen Bibliotheken und Archiven. Dennoch muss ich mich hier letztlich mit einer exemplarischen, manchmal auch von Zufallsfunden aus meinen langjährigen Archivforschungen geprägten Auswahl begnügen. Wie die Kranken selbst und ihre Angehörigen die medizinische Sterbe- begleitung und die palliativmedizinischen Bemühungen der Ärzte erlebten und einschätzten, wird aus all diesen Quellen oft nur in groben Umrissen erkennbar. Die ärztlichen Berichte geben darüber in der Regel allenfalls am Rande oder zwischen den Zeilen Aufschluss. Die Betroffenen selbst haben nur selten, vor allem bei sehr langwierigen Krankheiten, in Briefen oder gar Autobiografien ihren Kampf gegen das Leiden beschrieben.23 Albrecht von

22 Kümmel, Leichenpredigten (1984). 23 Bezeichnenderweise spielt das Sterben in Lachmunds und Stollbergs umfassender Untersuchung von Patientenautobiografien vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert so gut wie keine Rolle (Lachmund/Stollberg, Patientenwelten (1995)).

15 Einleitung

Haller und Madame de Graffigny sind zwei eindrucksvolle Beispiele.24 Fast zwangsläufig brechen derlei Schilderungen aber spätestens dann ab, wenn der Sterbeprozess einsetzt. In den gebildeten Schichten schilderten diesen früher zuweilen die Angehörigen oder Freunde oder, wie im Falle Philipp Melanchthons oder des Grafen von Mirabeau, seine Ärzte, in Briefen an Freunde und Verwandte, im Rahmen einer Leichenpredigt oder auch in einer Historia mortis. Letztere war vor 1800 insbesondere in lutherischen und pietistischen Kreisen ein recht verbreitetes Genre.25 Als Spiegel der tatsächlichen Verhältnisse lassen sich solche Berichte anderer aber nur mit großer Vorsicht verwenden. Allzu offensichtlich war es den Verfassern oft ein Anliegen, den heroischen Mut und/oder die tiefe Frömmigkeit hervorzu- heben, mit denen die Verstorbenen ihr Leiden ertragen und dem nahen Tod ins Auge gesehen hätten. Nur gelegentlich sind die Schilderungen so kon- kret und detailliert, dass auch die subjektive Wahrnehmung der körperlichen Veränderungen und der medizinischen Behandlung des Sterbenden Kontu- ren gewinnt. Als wichtige ergänzende Quelle für die historische Untersuchung der Sterbeerfahrung aus Sicht der Kranken und ihrer Angehörigen können litera- rische Darstellungen dienen. Selbstverständlich sind dabei die Besonder- heiten künstlerischen Schreibens im Auge zu behalten. Gedichte, Erzählun- gen, Romane und Dramen – ähnliches gilt auch für Autobiografien – sind zudem unausweichlich durch die herrschenden Normen und Bilder von ei- nem „guten“ Sterben geprägt. Allerdings machen sie gerade dadurch auch deren kulturelle Wirkkraft deutlich. Die folgende Darstellung gliedert sich in drei grob chronologisch an- geordnete Teile. Der erste Teil ist der Zeit vom ausgehenden Mittelalter bis zur Wende zum 19. Jahrhundert gewidmet. Ausgehend von den ältesten bislang bekannten Texten, die im 14. und 15. Jahrhundert den Begriff „pal- liativ“ verwandten und definierten, skizziert er die wachsende ärztliche Aufmerksamkeit für die Cura palliativa und verfolgt, wie das medizinische Schrifttum seit der Mitte des 17. Jahrhunderts unter Stichworten wie Eutha-

24 Haller, Briefe (1923); Graffigny, Correspondance (1985–2010); zu Graffignys Erfah- rungen von Körper, Krankheit und ärztlicher Behandlung s. a. Judith Oxfort, Meine Nerven tanzen. Die Krankheiten der Madame de Graffigny (1695–1758), Köln 2010. 25 Vgl. Gleixner, Pietismus (2005), S. 195–199.

16 Einleitung nasia medicinalis verstärkt auch speziell die Behandlung Sterbender zu thematisieren begann. Er zeigt, wie Ärzte mit Kranken und Sterbenden um- gingen und wie sie sich zu den schwierigen ethischen Fragen stellten, die deren Behandlung zuweilen aufwarf, und er beschreibt die wirkmächtige Überlieferung „volkstümlicher“ Praktiken wie des plötzlichen Kissenent- zugs, mit deren Hilfe man zahlreichen Berichten zufolge in der Bevölkerung seit Jahrhunderten Leben und Leiden Sterbender zu verkürzen suchte. An- hand exemplarischer Quellentexte versucht er abschließend, auch die sub- jektive Erfahrung der Betroffenen und ihrer Angehörigen zu rekonstruieren und die Bedeutung des ärztlichen und pflegerischen Beistands im Vergleich zum geistlichen abzuschätzen. Der zweite Teil nimmt die Zeit vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in den Blick. Er schildert, wie die medi- zinische Betreuung von Schwerkranken und speziell von Sterbenden zu- nächst sehr breite Aufmerksamkeit fand und von zahlreichen Schriftstellern abgehandelt wurde, um dann im ausgehenden 19. Jahrhundert wieder in den Hintergrund zu treten. Er skizziert das wachsende Augenmerk für die pfle- gerischen Aspekte und stellt die wichtigsten Medikamente und chirurgi- schen Verfahren vor, die in der palliativen Krankheitsbehandlung eingesetzt wurden. Er geht den zunehmend kontrovers geführten ethischen Debatten nach, insbesondere über Fragen der Lebensverkürzung, und stellt die ersten Ärzte vor, die um 1800 einer aktiven Sterbehilfe das Wort redeten. Aus- führlich beschreibt er sodann, teilweise auch im Rückblick auf die voran- gehenden Jahrhunderte, die tiefgreifenden Veränderungen in der institu- tionellen Versorgung terminal Kranker und Sterbender und die Entstehung eigenständiger Häuser für diese Personengruppe, von denen manche schließ- lich zu unmittelbaren Vorbildern der modernen Sterbehospize wurden. Er zeigt, wie eng deren Entwicklung mit der wachsenden Konzentration auf die kurative Behandlung heilbarer Kranker verknüpft war, die in den Hospitä- lern und Krankenhäusern keinen Platz mehr fanden. Nicht zuletzt zeichnet er nach, unter welchen Umständen die Kranken zu Hause, im Krankenhaus und in den neuen Häusern für unheilbare und todgeweihte Patienten ihre letzten Tage verlebten, wie die Betroffenen und ihre Angehörigen das Ster- ben erlebten und wie sie damit umgingen.

17 Einleitung

Der dritte Teil gibt einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungen und Veränderungen der jüngeren Vergangenheit, seit 1945. Auch wenn diese Epoche uns heute besonders naheliegt und viele Entwicklungen hier ihren Anfang nahmen, die noch die Gegenwart maßgeblich bestimmen, werde ich diesem Zeitabschnitt keinen überproportionalen Raum geben. Die wesentlichen Geschehnisse und ihre führenden Protagonisten sind schon vielfach dargestellt worden. Ich kann mich daher damit begnügen, die maß- geblichen Entwicklungen und ihre Triebkräfte herauszuarbeiten. Allerdings werde ich auch hier teilweise auf bislang unbekannte und/oder unveröffent- lichte Dokumente zurückgreifen, wie Balfour Mounts Bericht über das Pilot- projekt einer Palliativstation am Royal Victoria Hospital in Montreal oder die Notizen von Sylvia Lack, der ärztlichen Leiterin des ersten US- amerikanischen Hospizes in New Haven, über ihre Reise zu diversen briti- schen Einrichtungen für Schwerkranke und Sterbende in den 1970er Jahren. Der Schlussteil fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen und skizziert unter den Begriffen „Medikalisierung“, „Tabuisierung“ und „Stigmatisie- rung“ drei epochenübergreifend zentrale Dimensionen des Umgangs mit Todkranken und Sterbenden. Eine Auswahlbibliografie verzeichnet die wichtigsten und/oder öfter zi- tierten Werke. Verkürzte Literaturangaben in den Fußnoten verweisen auf diese Bibliografie. Für alle übrigen Werke und für die ungedruckten Quellen enthalten die Fußnoten die vollständigen Angaben. Vormoderne Dissertatio- nen führe ich unter dem nachweislichen oder mutmaßlichen Autor – sie wurden häufig vom Doktorvater (Promotor, Praeses), manchmal aber auch vom Doktoranden oder, besonders schwer nachweisbar, von beiden gemein- sam verfasst. Die Übersetzungen von wörtlichen Zitaten aus lateinischen oder anderen fremdsprachigen Quellen sind meine eigenen, es sei denn, dies ist ausdrücklich anders angegeben. Bei Zitaten habe ich der besseren Les- barkeit halber Zeichensetzung und Großschreibung modernisiert. Kürzel, wie sie vor allem in lateinischen Quellen häufig für Wortendungen benutzt wurden, habe ich aufgelöst. Die Verwendung von „u“ und „v“ sowie von „i“ und „j“ habe ich dem üblichen deutschen beziehungsweise dem klassischen lateinischen Sprachgebrauch angepasst (z. B. „und“ für „vnd“, „sive“ für „siue“, „vicarii“ für „vicarij“).

18 Einleitung

Zum Schluss ein Wort des Dankes: Wichtige Teile dieses Buch gingen aus einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten, von mir geleiteten und mit umfangreichen eigenen Forschungen aktiv be- gleiteten Projekt zur „Geschichte der Palliativmedizin“ am Institut für Ge- schichte der Medizin der Universität Würzburg hervor. Die DFG hat auch die Drucklegung ermöglicht. Maßgebliche Vorarbeiten vor allem im Hin- blick auf die Frühe Neuzeit hatte ich bereits zuvor in einem vorangehenden, von der Fritz Thyssen-Stiftung geförderten Forschungsprojekt zur „Alltags- geschichte der medizinischen Ethik“ leisten können. Im Rahmen des DFG- Projekts hat Hannes Langrieger seinerseits die Geschichte der stationären palliativmedizinischen Versorgung vor 1914 verfolgt. Die Geschichte zwei- er früher einschlägiger Institutionen – die der Unheilbarenhäuser in Bam- berg und Regensburg – hat er in eigenständigen Publikationen ausführlich dargestellt.26 Das umfangreiche Quellenmaterial zu weiteren Einrichtungen, das er durch seine Archivrecherchen erschlossen hat und das er nicht mehr selbst publizieren will, ist in die vorliegende Darstellung eingegangen und wird ihm in den entsprechenden Fußnoten zugeordnet. Die Passagen zu den stationären deutschen Einrichtungen verdanken sich, mit Ausnahme des von mir selbst bearbeiteten Nürnberger Krankenhauses Hundertsuppe, entschei- dend diesen Vorarbeiten. Katrin Max hat im Rahmen dieses Projekts die Aufgabe übernommen, die Zeit zwischen 1880 und 1945 zu untersuchen. Als ausgebildete Germanistin hat sie sich dabei im Wesentlichen auf die Darstellung von Sterben und ärztlicher Sterbebegleitung in der deutschspra- chigen Literatur des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik konzentriert. Ein Artikel über Klabunds Die Krankheit ist bereits erschie- nen.27 Ein zweiter Beitrag aus ihrer Feder, ein Überblick über die Darstel- lung der medizinischen Versorgung terminal Kranker und der ethischen Probleme, die sie aufwarf, in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1880 und 1925, soll nach Möglichkeit noch eigens publiziert werden. Soweit Frau Max hier eigene Ergebnisse vorgelegt hat, bleiben diese deshalb im Folgen- den unberücksichtigt. An den wenigen Stellen, wo ich auf literarische Pas- sagen zurückgreife, auf die sie mich hingewiesen hat, habe ich dies in Fuß-

26 Langrieger, Ein Platz (2008); ders., Medizinische Versorgung (2010). 27 Vgl. Max, Literarische Texte (2008).

19 Einleitung noten ausdrücklich gekennzeichnet. Mein ganz besonderer Dank geht an meine Mitarbeiterin Karen Nolte, mit der mich eine langjährige Beschäfti- gung und ein reger Austausch über dieses Themengebiet verbinden. Sie hat sich im Rahmen des erwähnten, von mir geleiteten Forschungsprojekts zur „Alltagsgeschichte der medizinischen Ethik“ eingehend mit dem Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden speziell im 19. Jahrhundert befasst und diese Forschungen in den vergangenen Jahren noch erheblich vertieft und ausgeweitet. Sie hat eine ganze Reihe von einschlägigen Beiträgen veröf- fentlicht, auf die ich im Folgenden immer wieder fruchtbar zurückgreifen werde, und demnächst sollen ihre Ergebnisse auch in monografischer Form erscheinen. Ihr und Alexander Döll danke ich zudem für Anregungen und Kommentare zu früheren Fassungen des Texts und Josef Domes für die Durchsicht des fertigen Manuskripts. Danken möchte ich auch meinen übri- gen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, allen voran Monika Reininger, die mir durch ihre umsichtige Institutsverwaltung die nötigen zeitlichen Frei- räume für die Forschungsarbeit sichern half. Widmen möchte ich dieses Buch dem Andenken an meine verstorbene Mutter, Isolde Stolberg, die nach schweren Jahren der Krankheit letztlich doch noch jenen plötzlichen, sanften Tod sterben durfte, den sie sich immer gewünscht hatte.

20 Die Frühe Neuzeit (1500–1800)

Teil I: Die Frühe Neuzeit (1500–1800)

Unheilbare und Sterbende im ärztlichen Schrifttum

Die frühneuzeitlichen Ärzte haben ein reichhaltiges Schrifttum über die ärztlichen Standespflichten und das angemessene Verhalten des Arztes am Kranken- und Sterbebett hinterlassen.28 Manches war umstritten. In einem Punkt aber waren sich die Autoren sehr einig: Der Arzt musste auch unheil- baren und sterbenskranken Patienten beistehen, ja die Sorge um ihr Wohl war eine hochrangige ärztliche Pflicht.29 Auf dem ersten Blick stand diese Haltung im Widerspruch zu den antiken Autoritäten. Immerhin war in den hippokratischen Schriften zu lesen, der Arzt solle keine unheilbaren Patien- ten behandeln,30 und römische Schriftsteller stellten sich hinter diese Auffas- sung. Der Arzt, so der auch in der Frühen Neuzeit noch viel zitierte Enzy- klopädist Celsus, müsse vor allem wissen, welche Leiden unheilbar seien und welche schwer und welche leicht zu behandeln seien. Jene, bei denen er nichts ausrichten könne, solle er nämlich am besten gar nicht anrühren.31 Doch in denselben hippokratischen Schriften fanden die frühneuzeitlichen Ärzte auch andere Passagen, in denen die Behandlung unheilbarer Patienten nicht abgelehnt, sondern ausdrücklich als ärztliche Aufgabe beschrieben wurde.32 So konnte Guido Guidi im 16. Jahrhundert mit Recht zu dem Schluss gelangen, bereits Hippokrates habe vielmehr gefordert, der Arzt

28 Castro, Medicus politicus (1662); Hoffmann, Medicus politicus (1738); vgl. Elkeles, Aussagen (1979). 29 So beispielsweise mit Nachdruck Codronchi, De christiana ratione (1591), S. 24; Augenius, Epistolarum (1602), fol. 87v. 30 Hippokrates, Peri technes, in: ders., Œuvres complètes d’Hippocrate. Hrsg. v. Émile Littré (Repr. Amsterdam 1978), Paris 1839–1861, Bd. 6, S. 2–26, hier 12–14. 31 Celsus, De medicina libri octo. Hrsg. v. Johannes Antonides van der Linden, Leiden 1657, S. 282 f. (Buch 5, Kap. 26.1). 32 Renate Wittern, Die Unterlassung ärztlicher Hilfeleistung in der griechischen Medizin der klassischen Zeit, in: Münchener medizinische Wochenschrift 121 (1979), S. 731– 734; Heinrich von Staden, Incurability and hopelessness. The Hippocratic corpus, in: Paul Potter (Hrsg.), La maladie et les maladies dans la collection hippocratique. Actes du VIe Colloque International Hippocratique, Québec 1990, S. 75–112; Plinio Prioreschi, Did the Hippocratic physician treat hopeless cases? in: Gesnerus 49 (1992), S. 341–350.

21 Die Frühe Neuzeit (1500–1800) solle unheilbare Krankheiten behandeln. Zwar, so Guidi, könne man den Kranken oft nicht heilen, aber man könne beispielsweise bei Krebs dafür sorgen, dass der Mensch wesentlich weniger Qualen erleide, und sein Leben verlängern.33 Die antiken Autoritäten boten hier im Übrigen ohnehin kein geeignetes Vorbild. Schließlich waren sie Heiden und kannten die christliche Lehre nicht. Die Heilungsberichte des Neuen Testaments ebenso wie die Lebens- geschichten und Legenden christlicher Heiliger beschrieben die unheilbaren, zu schwerem körperlichen Leiden verurteilten Menschen sogar als beson- ders würdige Gegenstände göttlichen Heilwirkens und christlicher Caritas. Das Gebot der Nächstenliebe, so meinte der päpstliche Leibarzt Paolo Zacchia im 17. Jahrhundert stellvertretend für viele andere, mache es zur ärztlichen Pflicht, bei unheilbar Kranken wenigstens das Fortschreiten der Krankheit zu bremsen und die Qualen des Patienten zu lindern.34 Diese Pflicht zur ärztlichen Sorge für Unheilbare und Sterbende wurde schon den Medizinstudenten und angehenden Ärzten ans Herz gelegt. Der eben verlie- hene Doktorhut, so erklärte Laurent Joubert in einer Promotionsfeier im Jahr 1580, sei Zeichen jener Hoffnung, die der Arzt nie verlieren dürfe. Es fehle jenen an Menschlichkeit, die meinten, man dürfe verzweifelte Krankheits- fälle nicht anrühren oder in Augenschein nehmen.35 Die Frage der ärztlichen Begleitung bei Patienten, die keine Aussicht auf Heilung mehr hatten, stellte sich vor allem bei drei damals recht häufig diagnostizierten Krankheiten: Krebs, Schwindsucht und Wassersucht. Am meisten gefürchtet war der „Krebs“, eine Diagnose die bereits im 16. und 17. Jahrhundert vielfach gestellt wurde. Krebs galt mit gutem Grund als die schrecklichste aller Krankheiten. Hier drohten dem Kranken grauenvolle, unstillbare Schmerzen und damit verbunden erschöpfende Schlaflosigkeit. Dazu kamen die zerfallenden, eiternden Geschwüre, die ekelhaften Abson- derungen, der unerträgliche Gestank. Betroffen waren nach zeitgenössischer Darstellung überwiegend Frauen. Das erklärt sich rückblickend daraus, dass „Krebs“ damals im Wesentlichen nur aufgrund des Tastbefunds und des

33 Guido Guidi, De curatione generatim, in: ders., Opera omnia sive ars medicinalis (gesonderte Seitenzählung), Frankfurt 1626, S. 121. 34 Zacchia, Quaestiones (1651), S. 392 f. 35 Laurent Joubert, Oratio de praesidiis futuri excellentis medici, Genf 1580, S. 15.

22 Die Frühe Neuzeit (1500–1800)

Augenscheins diagnostiziert werden konnte. Den Augen und der tastenden Hand waren aber nur solche Tumoren zugänglich, die nahe der Hautober- fläche lagen oder über Körperöffnungen mit dieser in Verbindung standen. Das galt vor allem für den Brustkrebs und, manchmal aufgrund des Tast- befunds, häufiger noch wegen des blutigen oder eitrigen Ausflusses, für den Gebärmutterkrebs. Sie machen den weitaus größten Teil der überlieferten Krebsdiagnosen aus. Dass Frauen, zumal nach den Wechseljahren, beson- ders durch Krebsleiden gefährdet waren, passte auch gut zum früh- neuzeitlichen Verständnis der weiblichen Physiologie. Im Gegensatz zum Mann bedurfte die Frau allmonatlich einer „natürlichen Reinigung“, um all die schädlichen, scharfen und giftigen Stoffe loszuwerden, die sich aufgrund ihrer geringeren inneren Wärme ständig in ihrem Körper ansammelten. Nach dem altersbedingten Ende dieser allmonatlichen Reinigung lagerten sich diese Stoffe im Körper ab, verhärteten sich zu Tumoren und wurden schließlich zu schmerzhaften Krebsgeschwülsten, die über kurz oder lang geschwürig aufbrachen und auf diese Weise die krankmachende Materie wenigstens teilweise nach außen entleerten.36 Die Diagnose „Schwindsucht“ oder „phthisis“ zielte zwar dem Wortsinn nach generell auf „auszehrende“ Krankheiten. In der Praxis verstand man darunter aber im Wesentlichen chronische Brust- oder Lungenleiden. Soweit rückblickend ein Urteil möglich ist, dürfen wir angesichts der oft als Be- gleitsymptome genannten Nachtschweiße und des quälenden und manchmal blutigen Hustens nach heutigen Begriffen wohl in vielen Fällen eine Lun- gentuberkulose vermuten. Im Einzelfall könnten sich aber nach heutigem Verständnis durchaus auch Lungenkrebs oder andere schwere chronische Lungenerkrankungen oder auch verborgene Krebsgeschwülste an anderen inneren Organen und selbst Leber- und Stoffwechselerkrankungen hinter diesem Begriff verborgen haben, denen allesamt gemein war, dass sie mit starkem Gewichtsverlust einhergingen. Die Diagnose Schwindsucht stand in der frühneuzeitlichen Medizin in enger Beziehung zum sogenannten Zehrfieber, der „febris hectica“, und verband sich mit Bildern eines beschleunigten Verbrauchs von Lebens-

36 Michael Stolberg, A woman’s hell? Medical perceptions of menopause in preindustrial Europe, in: Bulletin of the history of medicine 73 (1999), S. 408–428.

23 Die Frühe Neuzeit (1500–1800) wärme und von deren Substrat, dem „humidum radicale“. Wie das Licht einer Öllampe, deren Öl aufgezehrt war, verlosch das Lebenslicht, wenn diese Lebensfeuchtigkeit verbraucht war. Beim Zehrfieber geschah das be- schleunigt und der Körper schmolz seine eigene Substanz ein. Geübte Harn- schauer konnten das nach damaliger Lehre sogar in Form von fettigen Bei- mengungen im Harn erkennen. Im Falle der Lungenschwindsucht gesellten sich Vorstellungen von einer scharfen, beißenden, reizenden Krankheits- materie hinzu, derer sich der Körper über die Atemwege mittels Husten und Auswurf zu entledigen suchte. Manchmal, so glaubte man, war diese Krankheitsmaterie so scharf und beißend, dass sie die Blutgefäße anfraß und es zu heftigen Blutstürzen aus der Lunge kam.37 Im 19. Jahrhundert assoziierten literarische Darstellungen der Schwind- sucht diese häufig mit Bildern einer geistigen Erhöhung und Verfeinerung, mit Künstlertum und subtilem Esprit.38 Der Blick in zeitgenössische ärztli- che Schilderungen macht dagegen schnell die brutale Gewalt der kör- perlichen Veränderungen, die die Schwindsucht typischerweise begleiteten, deutlich. Abmagerung und Schwäche hatte sie mit anderen, weniger ver- breiteten Krankheiten wie Diabetes gemein, in denen „die Lebenskräfte langsam erschöpft“ wurden.39 Nicht selten verband sich die Lungenschwind- sucht zudem mit schweren Durchfällen.40 Sehr quälend waren die anhalten- den heftigen Hustenanfälle, unter denen Schwindsüchtige häufig litten. Prä- gend für die Wahrnehmung des Sterbens bei solchen Krankheiten und die Angst vor ihnen war aber die wachsende Atemnot, die in „höchste Qual und Todesangst“ mündete.41 Gefürchtet waren auch Bluthusten und die manch- mal akut tödlichen Blutstürze. Eine dritte verbreitet diagnostizierte und wegen ihres langfristig töd- lichen Verlaufs gefürchtete Krankheit war die „Wassersucht“ (hydrops, dropsy). Die Wassersucht gilt heute als ein bloßes Symptom, das auf ein breites Spektrum von Krankheiten verweisen kann, von Herz- oder Leber- krankheiten bis hin zu Nierenversagen und Eiweißmangel. Die frühneuzeit-

37 Stolberg, Homo patiens (2003), S. 199–202. 38 Vgl. Sontag, Illness (1978); Pohland, Sanatorium (1984), S. 146–151. 39 Watson, Grundgesetze (1851), S. 73. 40 Schilling, „Ach gib mir doch nur etwas Luft“ (2011). 41 Ebd., S. 76.

24 Die Frühe Neuzeit (1500–1800) lichen Ärzte und ihre Patienten sahen und behandelten die Wassersucht jedoch als ein eigenständiges Krankheitsbild, das wegen des letztlich oft tödlichen Verlaufs gefürchtet war. Noch in den Todesursachenstatistiken des 19. Jahrhunderts ist die Diagnose häufig anzutreffen. Als Ursache galt oft eine übermäßige Anhäufung von wässriger Flüssigkeit im ganzen Körper oder speziell im Bauchraum – in diesem Fall sprach man damals wie heute von „Aszites“. War das Wasser mit Luft oder fauligen Ausdünstungen ver- mischt, dann sprach man von Windwassersucht.42 Unter den quälenden Symptomen der Wassersucht rangierten an erster Stelle, ähnlich wie bei der Schwindsucht, Atemnot – bis hin zu schweren Erstickungsanfällen – und zunehmender Kräfteverfall. Die Bildlichkeit der Krankheit aber und die Assoziationen, die sie hervorrief, waren jenen der Schwindsucht entgegengesetzt. Nicht Bilder eines abgemagerten Gerippes, sondern von einem aufgeschwemmten, prall gefüllten Bauch und Körper standen hier im Mittelpunkt. Lange Zeit setzte das medizinische Schrifttum die Wassersucht sogar in enge Beziehung zu den pathologischen Verände- rungen bei der übermäßigen Fettleibigkeit, der Obesitas nimia.43 Auch manche anderen Krankheiten galten zumindest im fortgeschritte- nen Stadium als unheilbar. Neben der Lepra, die seit dem 17. Jahrhundert nur mehr eine sehr bescheidene Rolle spielte, sind hier vor allem Lähmun- gen und schwere Gelenkleiden, Blindheit und Taubheit sowie Fallsucht und Irresein zu nennen. Im Gegensatz zu Krebs, Schwindsucht und Wassersucht verliefen sie aber oft über Jahre und Jahrzehnte und waren nur selten die unmittelbare Todesursache. Den ärztlichen Autoren der Zeit war bewusst, dass sie bei unheilbaren Krankheiten einen therapeutischen Ansatz wählen mussten, der sich von dem üblichen in wesentlichen Punkten unterschied. Entgegen einem ver-

42 Stolberg, Homo patiens (2003), S. 205 f.; Maximilian Hader, Würzburg, untersucht derzeit die Vorstellungen über die Wassersucht in der frühneuzeitlichen Medizin im Rahmen eines Promotionsvorhabens. 43 Michael Stolberg, „Abhorreas pinguedinem“. Fat and obesity in early modern medi- cine (c. 1500–1750), in: Studies in the history and philosophy of science [im Druck].

25 Die Frühe Neuzeit (1500–1800) breiteten Missverständnis44 zielte die frühneuzeitliche Medizin nämlich grundsätzlich auf eine kausale Krankheitsbehandlung. Sie wollte Krank- heiten heilen, indem sie deren Ursachen beseitigte. Diese, in zeitgenössi- scher Begrifflichkeit, „kurative“ (curatoria),45 „wahre“ (vera) oder „radi- kale“ (radicalis), also im Wortsinn an den Wurzeln der Krankheit ansetzende Behandlung zielte in der Frühen Neuzeit nur noch selten darauf, ein gestörtes Gleichgewicht der Säfte und Qualitäten wiederherzustellen. Zumal für die Behandlung chronischer, unheilbarer Krankheiten war dieser Ansatz schon seit dem 16. Jahrhundert weitgehend bedeutungslos. Vielmehr führten die frühneuzeitlichen Ärzte das Krankheitsgeschehen meist auf krankhaft veränderte Säfte oder sonstige verdorbene, faulige und manchmal auch in Form von Kontagien übertragbare Krankheitsstoffe zurück. Die „radikale“ Krankheitsbehandlung hatte folgerichtig meist zum Ziel, diesen mutmaßlichen, ursächlichen Krankheitsstoff unschädlich zu machen o- der/und ihn aus dem Körper zu entfernen. Ausführende, entleerende Verfah- ren wie Aderlässe oder Schröpfen sowie eine Vielzahl von Abführ- und Brechmitteln und schweißtreibende Arzneien waren die Grundlage fast jeder Therapie. Sie wurden durch zahlreiche Mittel ergänzt, denen man eine mehr oder weniger spezifische Wirkung auf bestimmte Krankheiten oder Krank- heitsstoffe zuschrieb.46 Im Einzelfall kamen auch weitergehende chirurgi- sche Eingriffe infrage, beispielsweise die operative Entfernung von Ge- schwülsten und Krebsgeschwüren. Auf eine solche primär kausale, an den Krankheitsursachen ansetzende Therapie musste man bei unheilbaren und sterbenden Patienten zugunsten einer Behandlung, die sich nur gegen die subjektiven Beschwerden des Pati- enten richtete, verzichten. Nicht selten seien die Symptome eines Patienten

44 Vgl. beispielsweise Derek Doyle, The provision of palliative care, in: Derek Doyle/Geoffrey W. C. Hanks/Neil MacDonald (Hrsg.), Oxford textbook of palliative medicine. 2. Aufl. Oxford 1998, S. 41–53. 45 So beispielsweise Heinrich Christoph Alberti, De scorbuto, germanice Von dem Schar- bock. Exponit Johann Henricus Schmoller, Erfurt 1692, S. 22 f. Allerdings steht bei anderen Autoren „curare“ im allgemeineren Sinne von behandeln oder betreuen im Ge- gensatz zu „sanare“ im Sinne von heilen. 46 Zur frühneuzeitlichen Krankheitslehre vgl. Stolberg, Homo patiens (2003), S. 121– 206.

26 Die Frühe Neuzeit (1500–1800) so gravierend, erklärte in diesem Sinne der berühmte Leidener Kliniker (1614–1672), dass der Arzt diese bekämpfen müsse, ohne Rücksicht auf die Krankheit selbst zu nehmen. Wenn beispielsweise starke Verluste von Blut und anderen Körperflüssigkeiten oder heftige Schmerzen die Lebensgeister erschöpften oder wenn massive Blähungen und Winde die Atmung behinderten, dann müsse man diese Beschwerden angehen und notfalls die eigentliche Krankheitsursache erst einmal unbe- rührt lassen.47 In manchen Fällen, so eine häufig vorgetragene Warnung, riskiere man sogar, die Krankheit durch das Bemühen um eine radikale, kurative Behandlung noch zu verschlimmern oder den Patienten gar umzu- bringen. Klassisches Beispiel war der Brustkrebs.48 Vor seiner leichtfertigen, aggressiven Behandlung warnte schon ein damals vielzitierter hippokrati- scher Aphorismus.49 Galen nahm seinen Kommentar zu den hippokratischen Aphorismen sei- nerseits zum Anlass für theoretische Überlegungen über grundlegende For- men der Krankheitsbehandlung, in denen er die lindernde, symptomatische Behandlung als eigene Therapieform herausarbeitete. Manchmal bekämpfe der Arzt die Ursachen der Krankheit, um diese mit ihren Ursachen zu besei- tigen. Manchmal beschränke er sich aber darauf, das Leiden zu lindern. Galen verwendete hierfür die Begriffe paregorein (mildern) und prainein (lindern).50 Er prägte diese Begriffe aber nicht selbst, sondern übernahm sie. So hatte Dioskurides, die große pharmakologische Autorität der Antike, manchen Medikamenten eine nur lindernde, „paregorische“ Wirkung zuge- schrieben.51

47 Franciscus Sylvius, De methodo medendi, in: ders.: Opera medica. Genf 1681, S. 34– 62, hier S. 37. 48 Biblioteca Lancisiana, Rom, Ms 259 Tom III, foll. 46r-48r, Konsil Giovanni Maria Lancisis vom 29.1.1707 für eine Nonne mit geschwürig zerfallendem Brustkrebs. 49 Hippokrates, Aphorismoi, in: ders., Œuvres complètes d’Hippocrate. Hrsg. v. Émile Littré (Repr. Amsterdam 1978), Paris 1839–1861, Bd. 4, S. 458–609, hier S. 572, Apho- rismus 6.38. 50 Galen, Opera omnia. Hrsg. v. C. H. Kühn, Bd. 18. Leipzig 1822 (Repr. Hildesheim 1964), S. 59–61. 51 Pedanius Dioskurides, De materia medica libri quinque. Hrsg. v. Curtius Sprengel (= Medicorum graecorum opera quae extant, Bd. 25), Leipzig 1829, beispielsweise Bd. 1, S. 37. An einer anderen Stelle differenzierte Galen noch genauer die „paregorischen

27 Die Frühe Neuzeit (1500–1800)

Cura palliativa. Archäologie eines modernen Begriffs

Den frühneuzeitlichen Ärzten war diese Unterscheidung von radikaler und lindernder Therapie vertraut, und auch der Begriff Paregorika als Bezeich- nung für entsprechende Arzneimittel war ihnen geläufig.52 Er findet sich bis weit ins 19. Jahrhundert in der medizinischen Literatur53 und in den ein- schlägigen medizinischen Wörterbüchern und Enzyklopädien, oft gering- fügig latinisiert, als Paregorica oder in landessprachlichen Entsprechungen wie Parégoriques. Manche Autoren zogen es vor, im gleichen Zusammen- hang von Mitigantia oder Mitigatoria zu sprechen, Begriffe die gleichfalls mit „lindernde“ oder „besänftigende“ Mittel zu übersetzen sind,54 und emp-

Arzneimittel“, die Symptome linderten und zugleich der Krankheit entgegenwirkten, von den „prainonta“, die keinen Einfluss auf die Krankheit selbst hatten und nur die Schmer- zen linderten (Galen, Opera omnia. Hrsg. v. C. H. Kühn, Bd. 13, S. 707); s. a. Aretaios, Aretaei Cappadocis opera omnia. Hrsg. v. Karl Gottlob Kühn (= Medicorum graecorum opera quae extant, Bd. 24), Leipzig 1828, S. 331 (Von den chronischen Krankheiten, Buch 2, Kap. 3); Oribasius, Œuvres complètes. Hrsg. u. übers. von Charles Darem- berg/Cats Bussemaker, Paris 1851–76, Bd. 2, S. 741 f. („Paregorika“). 52 Früher Überblick über die Begriffsgeschichte bei Johann Konrad Dieterich, Iatreum hippocraticum: continens narthecium medicinae veteris et novae; ex nobilioribus medi- cis, tam veteribus, quam recentioribus, jucanda verborum serie, juxta ductum aphorismo- rum Hippocratis ita compositum, ut et aliarum facultatum studiis queat inservire, Ulm 1661, S. 936; auch im 18. Jahrhundert schrieb man noch ganz selbstverständlich von einem angestrebten „effectum paregoricum“ (vgl. beispielsweise Oberlin, De opio (1752), S. 22). 53 Beispielsweise Jacques Houllier, De morborum internorum curatione libri. Mit Anmer- kungen versehen von Ludovicus Duretus, Venedig 1572, S. 136r. 54 Bartholomaeus Castellus, Lexicon medicum graecolatinum […] ex Hippocrate, et Galeno desumptum. Messanae 1598, S. 307; Emmanuel Stupanus, Lexicon medicum graeco-latinum compendiosiss. a Bartholomaeo Castello Messanense inchoatum. 1628, S. 263; Adrianus Ravesteinus, Lexicon medicum graeco-latinum a Bartholomaeo Castello Messanense inchoatum, Rotterdam 1651, S. 371 f.; Stephanus Blancardus, Le- xicon novum medicum graeco-latino-germanicum, Leiden 1690, S. 475; ebd., 5. Aufl. Halle-Magdeburg 1718, S. 246; Sylvius, Praxeos medicae idea (1695), S. 89 f., „De indi- catione urgente, quibusdam mitigatoria dicta“; Louis-Jacques Bégin et al., Dictionnaire des termes de médecine, chirurgie, art vétérinaire, pharmacie, histoire naturelle, bota- nique, physique, chimie, Paris 1823, S. 446 („parégorique“); Dictionnaire des sciences médicales, Bd. 39, Paris 1819, S. 285 („parégorique“, „paregoricus“).

28 Die Frühe Neuzeit (1500–1800) fahlen dementsprechend eine Cura mitigativa oder eine „schmeichelnde Behandlung“, eine Cura blanditiva.55 Daneben setzte sich freilich – seit dem ausgehenden Mittelalter weit- gehend bedeutungsgleich – ein anderer Begriff durch: Cura palliativa. Die früheste bislang bekannte Erwähnung stammt aus der Mitte des 14. Jahr- hunderts. In einem einführenden Kapitel zu seiner Chirurgia (um 1363) nannte Guy de Chauliac (1298–1368) drei Ausnahmesituationen, in denen der Arzt auf eine radikale, an den Ursachen ansetzende Behandlung verzich- ten und sich mit einer „cura larga, praeservativa, et palliativa“ begnügen dürfe: erstens bei Krankheiten wie der Lepra, die ihrer Natur nach unheilbar seien; zweitens wenn der Patient eine grundsätzlich mögliche kausale, kura- tive Behandlung ablehne oder die ärztlichen Anweisungen nicht befolge; und drittens wenn die kurative Behandlung größeren Schaden anrichten würde als die Krankheit selbst, beispielsweise wenn der Arzt lästige Hämorrhoidenblutungen zwar zum Versiegen bringen könne, der Körper diese Blutungen aber brauche, um sich regelmäßig krankmachender Stoffe zu entledigen.56 Guy de Chauliacs Chirurgia war die wichtigste spätmittelalterliche Ge- samtdarstellung der Chirurgie und fand auch in volkssprachlichen Überset- zungen große Verbreitung. Unter anderem sind deutsche, französische, pro- vençalische, katalanische, englische, niederländische und italienische Handschriften überliefert. In einer dieser Handschriften ist damit auch die erste volkssprachliche Verwendung des Begriffs „palliativ“ zu vermuten. Die ältesten volkssprachlichen Belege, die ich bislang entdeckt habe, finden sich in zwei mittelenglischen Handschriften der Chirurgia, die sich grob auf die Zeit um 1425 beziehungsweise auf das zweite Viertel des 15. Jahr- hunderts datieren lassen. Dort ist im Kapitel über die Behandlung von Krebsgeschwüren ausdrücklich von der cure paliatyf beziehungsweise cure palliatif und, in der Verbform von palliate die Rede.57 Auch in späteren, auf

55 Cardano, De malo medendi usu (1536), S. 8 f. 56 Guy de Chauliac, Chirurgia, Leiden 1559, foll. a2(v)-a3(v); vgl. Guy de Chauliac, Guigonis de Caulhiaco inventarium sive chirurgia magna. Hrsg. v. Michael R. McVaugh, Bd. 1: Text, Leiden 1997. 57 Guy de Chauliac, The Cyrurgerie of Guy de Chauliac. Hrsg. v. M. S. Ogden, London u. a. 1971, S. 302, nach Bibliothèque nationale, Paris, Ms. anglais 25; Guy de Chauliac,

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