Titel 22.01.2008 8:41 Uhr Seite 1

65316 31. Jahrgang / Januar 2008 1/08 3^^WeiSeE[WTWd7gdabS i[eeW`_eeW` integration

Vierteljahreszeitschrift des Instituts für Europäische Politik :Wi@W^hXkY^Z[h;khef_iY^[d?dj[]hWj_edZ[i?dij_# jkji\”h;khef_iY^[Feb_j_a_[f Zeakc[dj_[hjkdZ in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Europäische Integration M[hd[hM[_Z[d\[bZrMeb\]Wd]M[ii[bi>hi]$ X_bWdp_[hji[_j'/.&p[_jdW^kdZZ[jW_bb_[hjZ[d[khe# f_iY^[d?dj[]hWj_edifhep[ii$ ;djijWdZ[d_ij_d(-@W^h[d[_d[[_dp_]Whj_][:eak# @W^hXkY^Z[h c[djWj_edZ[h[khef_iY^[dP[_j][iY^_Y^j[$ ;khef_iY^[d?dj[]hWj_ed :WiØ@W^hXkY^Z[h;khef_iY^[d?dj[]hWj_ed(&&-Ç (&&- \”^hjZ_[i[JhWZ_j_ed\ehj$?d”X[h-&8[_jh][dp[_Y^# Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf

[_dp#@”h][d 7nj 1/08 ;ij^[h8WhXƒÖF[j[h8[Ya[hÖM[hd[h8[Ya[hÖIj[f^Wd8_[hb_d]ÖIWdZhW8ebZh_d_Ö8WhXWhW 8jjY^[hÖ7hdZ8kiY^[Ö7dYW9ecWdÖ@e^WddW:[_c[bÖKZe:_[Zh_Y^iÖHebWdZ:^hd d[dZ_[7kjeh_dd[dkdZ7kjeh[d_d_^h[d`[m[_b_][d konstitutionelle Grundfragen? >Wdi#=[eh];^h^WhjÖ>[_ae<”hijÖ7dd[b_Kj[=WXWdo_Ö7hcWdZe=WhY‡WIY^c_ZjÖ9bWki =_[h_d]Ö:Wd_[b=b[hÖCWhj_d=heœ[>”jjcWddÖ9^h_ijef^=kioÖ7n[b>kYaijeh\Ö8[hdZ >”jj[cWddÖ@ei[\@Wdd_d]ÖCWj^_Wi@effÖ[dd_d]AbeZjÖM_cAij[hiÖ7b[daWAhWV iel[YÖAh_ij_dWAkhp[ÖI_d_V iW Andreas Hofmann und Wolfgang Wessels AkV i_Y Ö:Wc`WdBW`^ÖAW_#EbW\BWd]ÖAh_ij_dWBWh_iY^el|ÖCWh_`B[[dZ[hiÖIj[\WdB[^d[h 9^h_ij_Wd B[gk[id[ Ö Hkj][h B_dZW^b Ö >[_a[ B_da Ö ?d]e B_di[dcWdd Ö 8WhXWhW B_ff[hj 9^h_ij_WdB_ff[hjÖFWkbBk_\Ö[hWki][][X[dled JWiY^[dXkY^Z[h[khef_iY^[d?dj[]hWj_ed M[hd[hM[_Z[d\[bZkdZ Ausgang? >[hWki][][X[dledM[hd[hM[_Z[d\[bZkdZ Meb\]Wd]M[ii[bi Meb\]Wd]M[ii[bi Andreas Wimmel (&&."+*(I$"XheiY^$"YW$*/"ÅÐ" ?I8D/-.#)#.)(/#)(*.#& '&$7kÔW][(&&-"+'(I$"XheiY^$"'/"/&Ð" Konkurrenz um Menschenrechte in Europa: die EU und der Europarat ?I8D/-.#)#.)(/#(+,/#- ;hiY^[_dj<[XhkWh(&&. Klaus Brummer

Die Ukraine nach der Parlamentswahl 2007: neue Aussichten für die Integration? Manfred Grund

Literatur: Weltraumpolitik · Europäische Nachbarschaftspolitik und externe Demokratieförderung

Tagungen: Deutsch-französische Führung in der erweiterten Union

Europäische Gesundheitspolitik · Superstaat EU? 8_jj[X[ij[bb[dI_[X[_?^h[h8kY^^WdZbkd]eZ[hX[_DeceirJ[b[\ed&-(('%('&*#)-r

Die Zeitschrift „integration“ ist die Vierteljahreszeitschrift des Instituts für Europäische Politik (www.iep-berlin.de) in Zusammenarbeit mit dem Nomos Arbeitskreis Europäische Integration (www.aei-ecsa.de) integration VIERTELJAHRESZEITSCHRIFT DES INSTITUTS FÜR EUROPÄISCHE POLITIK IN ZUSAMMENARBEIT MIT DEM ARBEITSKREIS EUROPÄISCHE INTEGRATION

31. Jg. / Januar 2008 1/08 INHALT

AUFSÄTZE

Andreas Hofmann und Wolfgang Wessels Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?...... 3

Daniela Kietz und Andreas Maurer Bilanz und Zukunft der Präsidentschaft im System des Rates der Europäischen Union 21

Heinrich Schneider Die Europäische Union, Kirchen und Religionen: Rückblicke auf eine Kontroverse...... 37

Andreas Wimmel Die demokratische Legitimität europäischen Regierens: ein Labyrinth ohne Ausgang? 48

Klaus Brummer Konkurrenz um Menschenrechte in Europa: die EU und der Europarat...... 65

FORUM

Manfred Grund Die Ukraine nach der Parlamentswahl 2007: neue Aussichten für die Integration?...... 80

LITERATUR

Markus Hesse Europa Ð einig auf dem Weg ins All? ...... 85

Anne Faber Europäische Nachbarschaftspolitik und externe Demokratieförderung durch die EU im Spiegel der Forschung ...... 89

TAGUNGEN

Gesa-Stefanie Brincker, Matti Roscher und Andrea Schilling Deutsch-französische Führung in der erweiterten Union ohne Alternative?...... 95 2 integration Ð 1/2008 Inhalt

ARBEITSKREIS EUROPÄISCHE INTEGRATION

Ulla Kalbfleisch-Kottsieper Europäische Gesundheitspolitik – ein echter Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger?! ...... 100

Michael Weiner Wie viel Integration verträgt Europa? ...... 107

Tagungsplanung des AEI für das Jahr 2008...... 112

ABSTRACTS ...... 113

Beilage: Jahresregister 2007 und korrigierte Impressumsseiten für Hefte 1-4/2007 Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?

Andreas Hofmann und Wolfgang Wessels*

Ein Meilenstein der Integration Am 13. Dezember 2007 hat der Europäische Rat als konstitutioneller Architekt1 Ð nach mehrjährigem Vorlauf und mehr als halbjähriger konkreter Vorbereitungszeit – einen weite- ren Meilenstein in der Geschichte der konstitutionellen Systemgestaltung der europäischen Integrationskonstruktion gesetzt. Ausgehend von der ‚Berliner Erklärung‘ vom 25. März 20072 über die Verabschiedung eines Mandats für eine Regierungskonferenz3 gelang im Ok- tober die politische Einigung über einen ‚Reformvertrag‘, der nun von den Staats- und Re- gierungschefs der Mitgliedstaaten in Lissabon unterzeichnet wurde. Das Dokument, das als „Vertrag von Lissabon“ in die Annalen der Integrationsgeschichte eingehen wird, ist somit als eine weitere Stufe in einem seit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte zwei Jahrzehnte währenden Prozess einzustufen, die Union „demokratischer, transpa- renter und effizienter“4 zu gestalten – oder wie es jüngst die Staats- und Regierungschefs formulierten: „Um auch in Zukunft eine aktive Rolle in einer sich rasch verändernden Welt und im Hinblick auf die ständig wachsenden Herausforderungen spielen zu können, müssen wir die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union und ihre Rechenschaftspflicht gegen- über dem Bürger bewahren und weiterentwickeln.“5 Zu prüfen wird insbesondere sein, ob und wie nationale und europäische Politiker in der Zukunft das neue Regelwerk innerhalb oder auch neben den EU-Organen nutzen werden, um die selbst gesetzten Ziele zur Steige- rung der Handlungsfähigkeit und demokratischen Kontrolle zu erreichen. Das Dokument gewinnt eine besondere Bedeutung, da die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten als Vertreter der „Herren der Verträge“6 einen ‚Schwur‘ auf die Bestän-

1* Andreas Hofmann, M.A., Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen, Universität zu Köln. Prof. Dr. rer. pol. Wolfgang Wessels, Jean Monnet Lehrstuhl, Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen, Universität zu Köln. Die Autoren danken Wiebke Dreger und Niklas Helwig für vielfältige Zuarbeit. 1 Vgl. zu dieser Rolle des Europäischen Rats Wolfgang Wessels: Das politische System der Europäischen Union. Die institutionelle Architektur des EU-Systems, Wiesbaden 2008. 2 Erklärung anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge, 25.3.2007, abrufbar un- ter: http://www.eu2007.de/de/News/download_docs/Maerz/0324-RAA/German.pdf (letzter Zugriff: 21.12.2007). Vgl. Timo Goosmann: Die ‚Berliner Erklärung‘ – Dokument europäischer Identität oder pragma- tischer Zwischenschritt zum Reformvertrag?, in: integration 3/2007, S. 251-263. 3 Europäischer Rat (Brüssel): Mandat für die Regierungskonferenz 2007, 23.06.2007, abrufbar unter: http://regi- ster.consilium.europa.eu/pdf/de/07/st11/st11218.de07.pdf (letzter Zugriff: 21.12.2007). Vgl. Klaus Hänsch: Ende gut Ð alles gut? Anmerkungen zum Reformvertrag, in: integration 4/2007, S. 499-502; Sylvie Goulard: Europäische Paradoxien – ein Kommentar zur Lage der EU, in: integration 4/2007, S. 503-511. 4 Europäischer Rat (Laeken): Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, 15.12.2001, abrufbar unter: http://european-convention.eu.int/pdf/LKNDE.pdf (letzter Zugriff: 21.12.07). Vgl. u.a. Gerhard Brunn: Die Europäische Einigung, Stuttgart 2002; Jürgen Elvert: Die europäische Integration, Darmstadt 2006; Franz Knipping: Rom, 25. März 1957. Die Einigung Europas. 20 Tage im 20. Jahrhundert, München 2004. 5 Europäischer Rat (Brüssel): Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 21./22. Juni 2007, abrufbar unter: http:// www.consilium.europa.eu/cms3_applications/Applications/newsRoom/LoadDocument.asp?directory=de/ec/ &filename=94935.pdf (letzter Zugriff: 21.12.2007), hier Ziffer 2. 6 Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 12. Oktober 1993, BVerfGE 89,155, 190, „Maastricht“. 4 integration Ð 1/2008 Vertrag von Lissabon digkeit des vorliegenden Werkes geleistet haben. So formuliert die Präambel des Lissabon- ner Vertrags7 den „Wunsch“, mit dem nun vorliegenden Vertragswerk „den mit dem Vertrag von Amsterdam und dem Vertrag von Nizza eingeleiteten Prozess, mit dem die Effizienz und die demokratische Legitimität der Union erhöht und die Kohärenz ihres Handelns ver- bessert werden sollen, abzuschlie§en [eigene Hervorhebung]“. Die Schlussfolgerungen des Vorsitzes bestätigen diese Erwartung. Mit dem „Vertrag von Lissabon [erhalte] die Union einen stabilen und dauerhaften institutionellen Rahmen“. Sie erwarten „in absehbarer Zu- kunft keine weiteren Änderungen“.8 Bundeskanzlerin bewertet den Lissa- bonner Vertrag ebenfalls als eine „gelungene Neubegründung der Europäischen Union“. Die Legitimitätsfrage sei durch die Ausdehnung der Beteiligungsrechte sowohl nationaler Parla- mente als auch des Europäischen Parlaments beantwortet, die Kompetenzordnung grenze die Zuständigkeiten der Union hinreichend ab und ein Rücktransfer von Kompetenzen an die Mitgliedstaaten sei nun rechtlich möglich. Schließlich führe die Einführung der doppel- ten Mehrheit sowohl zu gesteigerter Effizienz als auch – über das Bevölkerungskriterium – zu legitimeren Entscheidungen. Anders als seine Vorgänger lasse dieser Vertrag „keine Fra- gen offen“.9

Neue Struktur – weniger Komplexität? Der Vertrag von Lissabon nimmt einige grundlegende Änderungen an der bisherigen Struktur der vertraglichen Grundlagen des europäischen Konstrukts vor. Zwar behält der Vertrag von Lissabon vordergründig die Zweiteilung des Primärrechts bei, die Unterschei- dung zwischen „Union“ und „Gemeinschaft“ wird jedoch aufgehoben. Der Ausdruck „Ge- meinschaft“ wird durchgängig durch den Ausdruck „Union“ ersetzt. Die vertragliche Grundlage der Union bilden von nun an der „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV) sowie der „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV), der den beste- henden „Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“ (EGV) ablöst. Strukturelle Änderungen sind vor allem im EUV zu erkennen. Ein Blick auf die neu ge- ordneten Titel lässt zunächst den Eindruck aufkommen, es handele sich hier nun um eine Schilderung der Grundlagen der Union, während der AEUV lediglich die Details der sekto- ralen Zusammenarbeit klärt (siehe Übersicht 1). Bei näherer Betrachtung ist jedoch festzustellen, dass wichtige Elemente wie beispiels- weise die – in dieser Form neue – Aufzählung der Zuständigkeiten der Union entgegen der augenscheinlichen Systematik im AEUV (Artikel 2 Absatz 6 AEUV)10 zu finden ist. Zudem fällt auf, dass sich in der Lissabonner Version des EUV kein Verweis mehr auf die „polizei- liche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ findet. Dieser Teil des Regelwerks wurde als neuer Titel V „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ im Dritten Teil „Die internen Politiken und Maßnahmen der Union“ in den AEUV aufgenommen – die bis- herige „dritte Säule“ der Union ist damit aufgelöst. Die Gemeinsame Außen- und Sicher-

7 Gemeint ist hier die Präambel des Änderungsvertrags, nicht der zu ändernden Verträge. 8 Europäischer Rat (Brüssel): Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14.12.2007, abrufbar unter: http://www.consi- lium.europa.eu/cms3_applications/Applications/newsRoom/LoadDocument.asp?directory=de/ec/&file- name=97683.pdf (letzter Zugriff: 21.12.2007), hier Ziffer 6. 9 Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon am 13. Dezember und zum Europäischen Rat am 14. Dezember 2007 vor dem Deutschen am 12. Dezember 2007 in Berlin, abrufbar unter: http://www.bundesregierung.de/nn_1514/Content/DE/Bulletin/ 2007/12/141-1-bk-bt.html (letzter Zugriff: 21.12.2007). 10 Die Nummerierung der Vertragsartikel in diesem Beitrag bezieht sich auf die in der zukünftigen konsolidierten Version vorzunehmende Neunummerierung nach Artikel 5 Absatz 1 des Vertrags von Lissabon (entsprechend den Übereinstimmungstabellen im Anhang zu diesem Vertrag). Vertrag von Lissabon integration Ð 1/2008 5 heitspolitik (GASP) verbleibt jedoch als Titel V im EUV. In diesem Zusammenhang wird in Artikel 24 Absatz 1 EUV betont, dass für die GASP „besondere Verfahren“ gelten.

Übersicht 1: Aufbau des Primärrechts entsprechend dem Vertrag von Lissabon

Vertrag von Lissabon Vertrag über die Vertrag über die Arbeitsweise der Europäische Union – EUV Europäischen Union – AEUV

Titel I Gemeinsame Bestimmungen Erster Teil Grundsätze Titel II Bestimmungen über die demokra- Zweiter Teil Nicht-Diskriminierung und Uni- tischen Grundsätze onsbürgerschaft Titel III Bestimmungen über die Organe Dritter Teil Die internen Politiken und Ma§- Titel IV Bestimmungen über eine ver- nahmen der Union stärkte Zusammenarbeit Vierter Teil Die Assoziierung der übersee- Titel V Allgemeine Bestimmungen über ischen Länder und Hoheitsgebiete das auswärtige Handeln der Union Fünfter Teil Das auswärtige Handeln der und besondere Bestimmungen Union über die Gemeinsame Außen- und Sechster Teil Institutionelle Bestimmungen und Sicherheitspolitik Finanzvorschriften Titel VI Schlussbestimmungen Siebter Teil Allgemeine und Schlussbestim- mungen

Eigene Darstellung nach den Vorgaben des Vertrags von Lissabon.

Konstitutionelle Grundfragen: ein dreifaches Dilemma Für eine Einschätzung möglicher Wirkungen des Lissabonner Vertrags in der Realität der Union der 27 identifiziert unser Beitrag als Ausgangspunkt Ð in Anlehnung an die Zielset- zungen der Staats- und Regierungschefs Ð drei konstitutionelle Grundfragen in Hinblick auf die Gestaltung der Union: 1. Wie schreibt der Vertrag die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Union und damit deren Aufgabenwahrnehmung fest? 2. Wie positioniert der Vertrag Akteure und strukturiert Verfahren zur Steigerung der Hand- lungsfähigkeit innerhalb der institutionellen Architektur? 3. Werden die neuen Vorschriften das EU-System ‚demokratischer‘ gestalten und damit seine Legitimität steigern? Unser Beitrag diskutiert die Antworten des Lissabonner Vertrags auf konstitutionelle Grundfragen, die jedes politische System beantworten muss. Als ein Ergebnis konstatieren wir sowohl strukturelle Dilemmata als auch ein Mehr an Handlungsfähigkeit und demokrati- scher Beteiligung. Dabei kommen wir – so bei der Betrachtung der Regelungen für Mehr- heitsentscheidungen im Rat Ð zu Einsichten, die von bisher vorgelegten Analysen anderer Autoren abweichen. In einer Gesamtanalyse der institutionellen und prozeduralen Angebote des neuen Vertragswerks stellen wir zur Diskussion, wie unerprobte Veränderungen die in- stitutionelle Architektur insgesamt beeinflussen und damit angesichts fortbestehender Span- nungsverhältnisse Detailverbesserungen konterkarieren könnten. Bei der Analyse der Kompetenz-, der institutionellen und der Verfahrensordnung des Lis- sabonner Vertrags sehen wir ein dreifaches Dilemma, das ambivalente Einstellungen und Verhaltensmuster der Mitgliedstaaten beim Ausbau des EU-Systems seit Beginn des Inte- 6 integration Ð 1/2008 Vertrag von Lissabon grationsprozesses prägt und auch weiterhin wesentliche Elemente des Vertrags und dessen Komplexität in einem „Fusionsprozess“11 erklären hilft (siehe Übersicht 2).

Übersicht 2: Das dreifache Dilemma

Europäische Ebene Nationale Ebene

Ebenendilemma Problemlösungsinstinkt Souveränitätsreflex Entscheidungsdilemma Effizienzsuche Letztentscheidungsvorbehalt Legitimitätsdilemma eigenständig europäisch abgeleitet national

Eigene Darstellung.

Bei dem Dilemma der Aufgabenzuordnung unterstreichen die Regierungen der Mitglied- staaten einerseits die Notwendigkeit, bei grenzüberschreitenden Problemen und globalen Herausforderungen in einer irgendwie gearteten Form gemeinsam „zum Wohle der europä- ischen Bürger“12 vorgehen zu müssen. Sie betonen mit leicht variierenden Formulierungen immer wieder: „Europa ist geeint in der Überzeugung, dass wir in der Welt von morgen nur dann unsere Interessen und Ziele vertreten können, wenn wir zusammenarbeiten“.13 Deut- lich tritt in diesen Formulierungen ein ‚Problemlösungsinstinkt‘ der Mitgliedstaaten zu Tage, der zunehmend das EU-System als optimale „Problemlösungsebene“ erkennen lässt.14 Andererseits versuchen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon in einem gegenläufigen ‚Souveränitätsreflex‘ noch stärker als zuvor die Zuständigkeiten der Union zu begrenzen, um das Risiko der Aushöhlung der de jure Souveränität der Mitgliedstaaten einzuschränken. Nach der Entscheidung über die adäquate Problemlösungsebene stehen die Mitgliedstaa- ten bei der Wahl der Verfahren zur Beschlussfassung vor einem ‚Entscheidungsdilemma‘. Einerseits suchen die Mitgliedstaaten Verfahrensregeln, die die Entscheidungseffizienz stär- ken und damit „die künftige Handlungsfähigkeit der Europäischen Union“15 sichern. Ande- rerseits ist von Seiten der Mitgliedstaaten ein ausgeprägter Vorbehalt bei der Abgabe von Letztentscheidungsmöglichkeiten feststellbar, etwa in Form von Vetos im Rat. Neben dem Prozess der Effizienzsteigerung in Kompetenzverteilung und Verfahrensord- nung betont der Vertrag die Notwendigkeit, die demokratische Legitimität der Union zu stei- gern. Dieses Bestreben wird eindrücklich verdeutlicht durch die als Titel II neu in den EUV ein- gebrachten „Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze“, die in Artikel 10 EUV eine eigenständig europäische und eine abgeleitete nationale Legitimationsdimension nebeneinan- derstellen. Dieses Legitimitätsdilemma zeigt Wirkungen auf die Gestaltung des Texts, die durch rein effizienzsteigernde oder souveränitätserhaltende Motivationen alleine nicht erklärt werden können. Dabei ist zu beobachten, dass die Stärkung bestehender und die Einführung neuer Akteure zur Steigerung der Legitimität sich immer auch auf die Handlungsfähigkeit der Union auswirkt.

11 Vgl. Wolfgang Wessels: Die institutionelle Architektur des Verfassungsvertrags: Ein Meilenstein in der Inte- grationskonstruktion, in: Mathias Jopp/Saskia Matl (Hrsg.): Der Vertrag über eine Verfassung für Europa. Analysen zur Konstitutionalisierung der EU, Baden-Baden 2005, S. 45-85. 12 Europäischer Rat (Brüssel): Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 21./22. Juni 2007, Ziffer 2. 13 Europäischer Rat (Brüssel): Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 21./22. Juni 2007, Ziffer 1. 14 Vgl. Rudolf Hrbek/Wolfgang Wessels: Das EG-System als Problemlösungsebene und Handlungsrahmen, in: Rudolf Hrbek/Wolfgang Wessels (Hrsg.): EG-Mitgliedschaft: ein vitales Interesse der Bundesrepublik Deutschland? Bonn 1984, S. 501-542. 15 Europäischer Rat (Brüssel): Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 21./22. Juni 2007, Ziffer 6. Vertrag von Lissabon integration Ð 1/2008 7

Die Neuordnung der Kompetenzen: zwischen begrenzter Einzelermächtigung und staatsähnlicher Agenda

Ausprägungen des Souveränitätsreflexes Eine erste Durchsicht des Dokuments im Hinblick auf die Kompetenz- und Aufgabenzu- ordnung offenbart mehrere Ausprägungen des Souveränitätsreflexes. Der Lissabonner Ver- trag übernimmt ausdrücklich nicht die quasi-konstitutionellen, staatsanalogisierenden Cha- rakterisierungen des Verfassungsvertrags. Bereits im Mandat für die Regierungskonferenz wurde dekretiert, dass der EUV und der AEUV keinen „Verfassungscharakter“ haben dür- fen.16 Die Artikel des Verfassungsvertrags zu den Symbolen der Union (Hymne, Flagge, Eu- ropatag, Wahlspruch) und Bezeichnungen wie „Europäisches Gesetz“17 sind im neuen Ver- trag nicht zu finden. Auch die Position des „Außenministers der Union“ wird umbenannt in „Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ und ähnelt damit der Aus- schilderung dieser Position entsprechend dem gültigen Vertrag. Auch die Verbannung der Vorrangklausel des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht vom Vertragstext in eine Er- klärung18 ist als Ausdruck des Bemühens zu verstehen, einer unbegrenzten Kompetenzaus- weitung Grenzen zu setzen Ð auch wenn dieses aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgehende Prinzip seit den frühen 1960er Jahren etabliert ist. In diesem Sinne setzt auch der neu in den Vertrag aufgenommene systematisierende Zu- ständigkeitskatalog in den „Gemeinsamen Bestimmungen“ des EUV und den „Grundsät- zen“ des AEUV der Unionskompetenz deutliche Schranken auf. Die Grundsätze der Zuständigkeitsordnung (Artikel 4 und 5 EUV) betonen das Prinzip der „begrenzten Einzel- ermächtigung“, die „Verhältnismäßigkeit“ und die „Subsidiarität“ und unterstreichen damit die Position der Mitgliedstaaten als „Herren der Kompetenzen“.19 Entsprechend achtet die Union die „nationale Identität“ der Mitgliedstaaten, „die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwal- tung zum Ausdruck kommt“ (Artikel 4 Absatz 2 EUV). Zudem definiert der Lissabonner Vertrag mit der „nationalen Sicherheit“ erstmals eine ausschließliche Zuständigkeit der Mit- gliedstaaten (Artikel 4 Absatz 2 EUV).20 Das traditionelle Prinzip der ãbegrenzten Einzeler- mächtigung“ wird dadurch akzentuiert, dass „alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten“ ausdrücklich bei den Mitgliedstaaten verbleiben (Artikel 4 Absatz 1 EUV). Artikel 48 Absatz 2 EUV betont zusätzlich, dass Regierungskonferenzen bei Änderungsverfahren des Vertrags auch Rückführungen beziehungsweise Verringerung von übertragenen Kompetenzen vorsehen können. Ein „Protokoll über die Ausübung der ge- teilten Zuständigkeit“ grenzt zudem die Wirkungen geteilter Kompetenzen ein: „Die Aus- übung von Zuständigkeiten [erstreckt] sich nur auf die durch den betreffenden Rechtsakt geregelten Elemente und nicht auf den gesamten Bereich.“ Schließlich sieht eine Erklärung im Bereich der geteilten Zuständigkeiten die Möglichkeit vor, einen Rechtsakt der Union aufzuheben und so Kompetenzen an die Mitgliedstaaten zurückzugeben.21 Auch Erklärun- gen zur GASP belegen den Souveränitätsreflex: So sollen Bestimmungen des Lissabonner

16 Europäischer Rat (Brüssel): Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 21./22. Juni 2007, Ziffer 3. 17 Diese Bezeichnung lebt jedoch fort in den neu eingeführten „ordentlichen“ und „besonderen Gesetzgebungs- verfahren“. 18 Erklärung 17 zum Vorrang, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon. 19 In Anlehnung an die „Herren der Verträge“; vgl. Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 12. Oktober 1993, BVerfGE 89,155, 190, „Maastricht“. 20 Vgl. Peter-Christian Müller-Graff: Die Zukunft des europäischen Verfassungstopos und Primärrechts nach der deutschen Ratspräsidentschaft, in: integration 3/2007, S. 223-237. 21 Erklärung 19 zur Abgrenzung der Zuständigkeiten, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon. 8 integration Ð 1/2008 Vertrag von Lissabon

Vertrags „weder die derzeit bestehenden Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Formu- lierung und Durchführung ihrer Außenpolitik noch ihre nationale Vertretung in Drittländern und internationalen Organisationen berühren“.22 Ferner wird in Erklärung 14 festgestellt, dass im Vertrag von Lissabon ãder Kommission durch die Bestimmungen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik keine neuen Befugnisse zur Einleitung von Beschlüssen über- tragen werden und dass diese Bestimmungen die Rolle des Europäischen Parlaments nicht erweitern“. Expliziter als zuvor markiert der Vertrag Tabuzonen und ‚domaines reservées‘ der Mitgliedstaaten.

Im Gegenzug: eine staatsähnliche Agenda? Im Gegensatz zu diesen anfänglichen Impressionen schreibt der Lissabonner Vertrag in der Präambel und den Gemeinsamen Bestimmungen des geänderten EUV einen breit ange- legten Wertekatalog sowie eine umfangreiche Ziel- und Aufgabenliste fest. Im AEUV führen die Mitgliedstaaten – im augenscheinlichen Widerspruch zur verstärkten Grenzmar- kierung und als Ausdruck des Problemlösungsinstinkts – einen umfassenden Kompetenzka- talog der Union in mehreren Abstufungen ein. Deutlich wird aus den Formulierungen des Dokuments, dass die Vertragsväter und -mütter diese Union nicht als einen eng definierten Zweckverband23 einzig für die regulative Verwal- tung eines gemeinsamen Binnenmarktes verstehen. Der neue Artikel 3 EUV spricht wesentli- che Ziele staatlichen Handelns an; von allgemeinen Aufgaben der Förderung von Frieden, Werten und Wohlergehen ihrer Völker über (bereits an zweiter Stelle) den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, die Errichtung eines Binnenmarkts, sozial- und regionalpoliti- schen Aufgaben mit der Betonung von Solidarität, der kulturellen Vielfalt und des kulturellen Erbes Europas bis zur Wirtschafts- und Währungsunion, der Förderung der Werte der Union und des Schutzes der Unionsbürgerinnen und -bürger in den Beziehungen zur übrigen Welt. Der mit dem Lissabonner Vertrag eingeführte Kompetenzkatalog teilt sich auf in „aus- schließliche“ (Zollunion, Wettbewerb, Währungspolitik, Fischerei, Handelspolitik) und „ge- teilte“ Zuständigkeiten (unter anderem Binnenmarkt, Sozialpolitik, Innen- und Justizpolitik, Landwirtschaft, Umwelt, Verbraucherschutz und Verkehr) sowie „Unterstützungs-, Koordi- nierungs- und Ergänzungsmaßnahmen“ der Union (unter anderem Gesundheit, Industrie, Kultur, Tourismus und Katastrophenschutz). Zusätzlich – quasi außerhalb dieses nachvoll- ziehbaren Katalogs – bietet der Lissabonner Vertrag Möglichkeiten zur Koordinierung der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik (Artikel 5 AEUV). Zu dieser Liste zu zählen sind auch die im EUV (Artikel 24) aufgeführten Zuständigkeiten im Bereich der Gemeinsamen Au§en- und Sicherheitspolitik und der Gemeinsamen Sicher- heits- und Verteidigungspolitik (GSVP).24 Addiert man die erwähnten Politikfelder, so fehlt auf der EU-Ebene kein zentraler Bereich der nationalen Politik, auch wenn die Verfahren zu deren Ausgestaltung in ihrer Vielfalt keine durchgängige Zentralisierung erwarten lassen. Grundsätzlich sieht der Lissabonner Vertrag nun eine durchgängige Rechtsbasis vor, die durch die Verleihung der „Rechtspersönlichkeit“ (Artikel 47 EUV) nochmals unterstrichen wird. Ziel dabei ist es, eine durchgängige Systematik bei den „Arten von Zuständigkeiten der Union“ (Artikel 2 AEUV) und bei den „Rechtsakten der Union“ (Artikel 288 AEUV) zu erreichen.

22 Erklärung 13 zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon. 23 Hans-Peter Ipsen: Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972. 24 Interessanterweise schildert der Lisabonner Vertrag diesen Bereich jetzt als „Gemeinsam“ und nicht mehr als „Europäisch“ aus. Vertrag von Lissabon integration Ð 1/2008 9

Im Hinblick auf den Problemlösungsinstinkt ist schließlich auf Flexibilitätsoptionen in der Zuständigkeitsverteilung hinzuweisen, die ihren Ausdruck in Artikel 352 AEUV als Er- mächtigung zur Vertragslückenschließung finden, jedoch in spezifischer Form auch an an- deren Stellen im Vertrag zu finden sind.25

Legitimität durch eigenständig europäische Grundrechte? Trotz ihrer Verbannung aus dem Vertragswerk sind zum Kapitel der Kompetenzordnung auch der Artikel zur Charta der Grundrechte und das dazugehörende Protokoll zu zählen. Zwar wird im neuen Artikel 6 Absatz 1 EUV auf die Charta Bezug genommen und ihr ãdie- selbe Rechtsverbindlichkeit wie die Verträge“ zugesprochen, der Text selber wird jedoch nicht Teil des Primärrechts werden. In diesem Kontext werden die Auswirkungen des Legi- timitätsdrucks deutlich: Aufgrund ihrer bereits erreichten Kompetenzfülle soll die Union ei- nerseits als Wertegemeinschaft den Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene kodifizieren und die Charta der Grundrechte in einer modifizierten Fassung als rechtsverbindlich aner- kennen. Dem Souveränitätsreflex folgend betont der zweite Unterabsatz des Artikel 6 Ab- satz 1 EUV jedoch: „Durch die Bestimmungen der Charta werden die in den Verträgen fest- gelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert“. Für die Anwendung der Charta sieht nun ein zusätzliches Protokoll26 eine Sonderrege- lung für das Vereinigte Königreich und Polen27 vor. Dieses schafft eine weitere Form von ‚Opt-outs‘ in der ohnehin langen Liste von Ausnahmeregelungen, die insbesondere das Ver- einigte Königreich in Anspruch nimmt. Bestanden bisherige Varianten insbesondere darin, bei geplanten neuen Politikfeldern nicht mitzumachen, wird mit diesem Protokoll eine Aus- nahmeregel vom Grundsatz gleicher Rechte und Pflichten formuliert. Die Einheitlichkeit der Rechtsgemeinschaft, die als ein besonderes Gut der Integrationskonstruktion gesehen wird, wird dadurch erneut und verstärkt durchbrochen.28

Die Neuordnung der institutionellen Architektur: Legitimitätsdruck und Handlungs- fähigkeit

Demokratische Grundsätze: duale Legitimität als institutionelle Leitidee Angesichts einer breiten, wenn auch zwiespältigen Aufgabenzuordnung an die Unions- Ebene setzt sich das Dilemma der Mitgliedstaaten beim Ausbau der institutionellen Archi- tektur auf europäischer Ebene fort. Der Vertrag von Lissabon setzt so – gleichsam als insti- tutionelle Leitidee – den veränderten „Bestimmungen über die Organe“ die ebenfalls neuen „Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze“ der Union voran. Diese Bestimmun- gen lassen ein duales Legitimationsprinzip erkennen: die Union als ‚Union der Bürgerinnen und Bürger‘ und als ‚Union der Staaten‘. Die Beteiligung der Bürger auf der europäischen Ebene als eigenständig europäisches Legitimationselement wird mit ihrer direkten Vertre- tung durch das Europäische Parlament gewährt, während die Mitgliedstaaten durch ihre de-

25 Vgl. Rudolf Streinz: Europarecht, 6. Auflage, Heidelberg 2003, S. 191. 26 Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Verei- nigte Königreich. 27 Polen wird auch unter der neuen Regierung von Donald Tusk am Opt-out von der Grundrechte-Charta festhal- ten. Dieser Schritt gilt als Kompromiss gegenüber Staatpräsident Lech Kaczyński, der andernfalls mit einem Veto gedroht hatte. 28 Vgl. Walter Hallstein: Die Europäische Gemeinschaft, 5. Auflage, Düsseldorf/Wien 1979, S. 56-61; Franz C. Mayer: Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Gunnar Folke Schuppert/Ingolf Pernice/Ulrich Haltern (Hrsg.): Eu- ropawissenschaften, Baden-Baden 2005, S. 429-488. 10 integration Ð 1/2008 Vertrag von Lissabon mokratisch legitimierten Regierungen im Rat und im Europäischen Rat vertreten sind (Arti- kel 10 Absatz 2 EUV). Als zentrale Grundsätze dieser Leitidee können „Gleichheit“ (Artikel 9 EUV), „repräsen- tative Demokratie“ (Artikel 10 EUV Absatz 1) und „Partizipation“ (Artikel 11 EUV) identi- fiziert werden. Die „demokratischen Grundsätze“ umfassen auch den Verweis auf die Rolle politischer Parteien in der Herausbildung eines „europäischen politischen Bewusstseins“ (Artikel 10 Absatz 4 EUV) sowie die Rolle der nationalen Parlamente (Artikel 12 EUV).

Akteure in der institutionellen Architektur: auf dem Weg zu einem neuen institutionellen Gleichgewicht? Der Lissabonner Vertrag sieht eine Reihe von Veränderungen im institutionellen Aufbau der Union vor, deren Formulierungen einen hohen Grad an Mehrdeutigkeit signalisieren und damit auch potenzielle Konflikte für die Handlungsfähigkeit der Union erkennen lassen.29 Eine prominente Neuerung ist der (Vollzeit-)Präsident des Europäischen Rats, der nun für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren gewählt wird (Artikel 15 Absatz 5 EUV). Seine Aufgabenbeschreibung lässt die Präferenz der Staats- und Regierungschefs erkennen, ihre eigene Institution handlungsfähiger zu gestalten, legt aber auch den Schluss nahe, dass die Vertreter der „Herren der Verträge“ eine zusätzliche Instanz zur Kontrolle anderer Institutio- nen installieren wollen.30 Schließt man das ‚Gesetz der unerwarteten Folgen‘ nicht aus, so kann diese Position – wie in der öffentlichen Debatte bereits immer wieder anklingt – auch zum ‚Präsidenten der Union‘ insgesamt stilisiert werden. Die Rolle des Präsidenten des Europäischen Rats kann so zwischen zwei Polen verortet werden: der Amtsinhaber kann als ein ‚üblicher‘ Vorsitz handeln, der die Arbeit seines Gremiums vereinfacht und beschleunigt; er kann sich aber auch als Präsident im Sinne der französischen Rollendefinition verstehen, der insbesondere nach außen als Repräsentant ‚Europas‘ auftritt.31 Eine Innovation besonderer Art ist der „Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicher- heitspolitik“ (Artikel 18 EUV), der der Union mit der Unterstützung eines „Europäischen Auswärtigen Diensts“ (Artikel 27 Absatz 3 EUV) in der internationalen Politik ‚Gesicht‘ und ‚Stimme‘ verleihen soll. Der Hohe Vertreter wird dazu den Vorsitz im Rat für „Auswär- tige Angelegenheiten“ einnehmen, gleichzeitig übernimmt er die Funktion des derzeitigen Kommissars für Außenbeziehungen und fungiert dabei als einer der Vizepräsidenten der Kommission (Artikel 18 Absätze 3 und 4 EUV). Dieser ‚Doppelhut‘, den der Amtsträger tragen soll, ist ein fast schon idealtypischer Indikator des Ebenen- und Entscheidungsdilem- mas, aus dem heraus die Herren der Verträge eine komplexe institutionelle Fusion vorge- nommen haben. Zum Schutz gegen eine ‚ungebührliche‘ Stärkung dieser Position wird gleichzeitig die weiterhin bestehende au§en- und sicherheitspolitische Autonomie der Mit- gliedstaaten betont,32 die sich auch im Festschreiben intergouvernementaler Verfahren nie- derschlägt – mit Einstimmigkeit im Rat als Regelfall, einer schwachen Position für Kom-

29 Vgl. zur intensiven Diskussion u.a. CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon. Implementing the Institutio- nal Innovations, Brüssel 2007, S. 7; Christian Lequesne: Towards a new institutional balance?, in: EPC (Hrsg.): The people’s project? The new EU Treaty and the prospects for future integration, Brüssel 2007, S. 10-16. 30 Vgl. u.a. Hussein Kassim/Anand Menon: The Principal-Agent Approach and the Study of the European Union, in: Journal of European Public Policy 1/2003, S. 121-139. 31 Vgl. CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 49. 32 Erklärung 13 zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon. Vertrag von Lissabon integration Ð 1/2008 11 mission und Parlament und ohne Zuständigkeit für den Gerichtshof (Artikel 24 Absatz 1 EUV). Die Wahrnehmung dieses Amts wird so höchst schwierig werden.33 Gegenüber diesen neuen Ämtern stärkt der Lissabonner Vertrag aber auch die Rechte des Präsidenten der Kommission (Artikel 17 Absatz 6 EUV) sowie dessen Legitimation durch die „Wahl“ seitens des Europäischen Parlaments (Artikel 14 Absatz 1 EUV).34 Eine ab 2014 einsetzende Verkleinerung der Kommission soll zudem die Handlungsfähigkeit dieser Insti- tution verbessern. Bei der unausweichlichen Auseinandersetzung um zentrale Führungsrollen darf der Rats- vorsitz als vierte Institution in diesem neu geschaffenen ‚Führungsquartett‘ nicht übersehen werden. Im Rat bleibt das bisherige Rotationsprinzip mit einigen Änderungen bestehen. So soll eine Gruppe von jeweils drei Mitgliedstaaten eine ‚Team-Präsidentschaft‘ für einen Zeitraum von 18 Monaten wahrnehmen.35 Die Verteilung soll nach dem Prinzip der gleich- berechtigten Rotation unter den Mitgliedstaaten „unter Berücksichtigung ihrer Verschieden- heit und des geografischen Gleichgewichts innerhalb der Union“ festgelegt werden. Wurde mit Bezug auf die gegenwärtige Regelung in der kurzen Dauer des Vorsitzes ein Defizit hinsichtlich der Kontinuität der Zielsetzung über den Zeitraum des Vorsitzes hinaus identifiziert, stellt sich nun die Frage der Koordination zwischen den diversen Vorsitzen.36 Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die Vorbereitung und Durchführung der Tagungen des Europäischen Rats, an der sowohl der Präsident desselben als auch der Kommissions- präsident als Mitglieder sowie der Hohe Vertreter als Teilnehmer (Artikel 15 Absatz 2 EUV) und die Team-Präsidentschaft über den Vorsitz des Rats für „Allgemeine Angelegenheiten“ (Artikel 16 Absatz 2 EUV) beteiligt sind.37 Durch die Aufstellung des neuen Führungsquartetts wird die Aufgabenwahrnehmung zwar auf eine kontinuierlichere Basis gestellt, aber die Vertragsbestimmungen erhöhen gleichzeitig die Zahl der Akteure in Verantwortungspositionen. Nachteile bilden zumindest in den ersten Jahren die zu erwartende Verwirrung bezüglich Zuständigkeiten, Wettstreit um Einfluss und damit eine Verwässerung und Verwischung von Verantwortlichkeiten. Die Stärkung der einzelnen Positionen kann in der Summe zu einem ungeordneten Neben- und Gegeneinander innerhalb der institutionellen Architektur führen und so die Handlungsfähig- keit – entgegen den Absichten der Vertragsväter und -mütter – schwächen.

Die Neuordnung der Verfahren: Schritte zum Ausbau einer effizienten und legitimen (Gemeinschafts-)Methode

Mehr europäische Demokratie? Ausbau der Beteiligungsrechte des Europäischen Parla- ments und die Bürgerinitiative Deutlich feststellbar ist eine Ausweitung von Verfahrensmodalitäten, die in der Regel der Gemeinschaftsmethode zugeschrieben werden. Wie die vergangenen Vertragsrevisionen wird auch der Lissabonner Vertrag die Aufgaben des Europäischen Parlaments ausbauen, dessen parlamentarische Funktionen stärken und somit die eigenständig europäische Legitimitätsdi-

33 Vgl. Graham Avery: The new architecture for EU foreign policy, in: EPC (Hrsg.): The people’s project?, 2007, S. 17-25. 34 Vgl. CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 27. 35 Erklärung 9 zu Artikel 9c Absatz 9 des Vertrags über die Europäische Union betreffend den Beschluss des Eu- ropäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon. 36 Vgl. CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 41-46. 37 Vgl. u.a. Philippe de Schoutheete: The European Council, in: John Peterson/Michael Shackleton (Hrsg.): The Institutions of the European Union, Oxford 2002, S. 21-46. 12 integration Ð 1/2008 Vertrag von Lissabon mension der Union verstärken. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Ausbau der Legislativrechte des Parlaments (siehe Abbildung 1). Das bisherige Mitentschei- dungsverfahren, das dem Europäischen Parlament dem Rat gleichgestellte Beteiligungsmög- lichkeiten einräumt, wird nicht nur dem Begriff nach zum „ordentlichen Gesetzgebungsver- fahren“, sondern auch der Zahl der Artikel nach zu einem ‚Normalfall‘. Der Lissabonner Vertrag wird dieses Verfahren in 35 Entscheidungsfällen zusätzlich einführen und auf weitere zentrale Politikbereiche ausdehnen Ð so auf die Vorschriften zur Asyl- und Einwanderungspo- litik sowie auf die Maßnahmen im Kampf gegen internationale Kriminalität und Terroris- mus.38 Es stellt so unter den Vertragsartikeln das mit Abstand am häufigsten anzuwendende einzelne Verfahren dar (in 80 von 256 Vorgaben mit Verfahrensbezug).

Abbildung 1: Entwicklung vertraglicher Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments

OGV = Ordentliches Gesetzgebungsverfahren Quelle: eigene Darstellung aufbauend auf Wessels: Das politische System der Europäischen Union, 2008.39

39 Neben diesem Verfahren gewinnt im geschriebenen Text auch das Verfahren der Zustim- mung an weiterer Bedeutung für Grundsatzentscheidungen. Auch im jährlichen Haushalts- verfahren, das der Lissabonner Vertrag – im Unterschied zu den gegenwärtig gültigen Vertragsartikeln Ð in wesentlichen Schritten dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren an- nähert, hat das Parlament an Rechten gewonnen. Bezüglich der Wahlfunktion hat der Vertrag von Lissabon eindeutig die Rechte des Euro- päischen Parlaments festgeschrieben. Es „wählt den Präsidenten der Kommission“ (Artikel

38 Vgl. CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 7. 39 Die Berechnungen für den EUV/AEUV 2009 beruhen auf der inoffiziellen konsolidierten Version der Unions- verträge, zusammengestellt von Peadar ó Broin vom Irish Institute of European Affairs (IIEA), abrufbar unter: http://www.iiea.com/images/managed/publications_attachments/consolidated_treaties_draft.pdf (letzter Zu- griff: 21.12.2007). Vertrag von Lissabon integration Ð 1/2008 13

14 Absatz 1 EUV) mit der „Mehrheit seiner Mitglieder“ (Artikel 17 Absatz 7 EUV), auch wenn das Initiativrecht für dieses Verfahren beim Europäischen Rat bleibt. Auch im Bereich der Vertragsrevisionen weitet der Vertrag von Lissabon die bisher sehr spärlichen Beteiligungsrechte des Parlaments aus und richtet nun auch rechtlich gefasste Möglichkeiten zur Initiative und zur Vorbereitung von Regierungskonferenzen im Bereich des ordentlichen und des vereinfachten Änderungsverfahrens ein (Artikel 48 EUV). Durch seine Mitwirkung im einzuberufenden Konvent im Rahmen des ordentlichen Änderungsver- fahrens ist das Parlament nun zusätzlich an der Ausformung der Vertragsänderungen betei- ligt. Die endgültige Beschlussfassung in den Änderungsverfahren ist jedoch allein den Mit- gliedstaaten und damit de facto dem Europäischen Rat vorbehalten. Der Lissabonner Vertrag bestätigt damit das Monopol der Herren der Verträge – und damit den Souveräni- tätsreflex – bei diesem Letztentscheidungsrecht über Kompetenzen und Verfahrensordnung der Union. Neben dem Ausbau der Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments ist auch die Ein- führung einer „Bürgerinitiative“ zur Verbesserung – eigenständig europäischer – demokrati- scher Legitimität näher zu diskutieren. Artikel 11 Absatz 4 EUV erlaubt einer Anzahl von mindestens einer Million Unionsbürgern „aus einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaa- ten“ die Kommission aufzufordern, Rechtsakte zur Umsetzung der Verträge zu initiieren. Obwohl diese Bestimmungen also eine Option direkter Partizipation schaffen, erscheint die Tragweite dieses direktdemokratischen Elements zunächst begrenzt. Die Kommission bleibt das Nadelöhr; ihr Initiativmonopol wird auch durch Bürgerbeteiligung nicht umgangen. Es erscheint jedoch möglich, dass derartige Referenden – eventuell stärker als politische Par- teien im Europäischen Parlament – zur Herausbildung eines „europäischen politischen Be- wusstseins“ und zum „Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union“ (Arti- kel 10 Absatz 4 EUV) beitragen können.

Mehr Handlungsfähigkeit? Ausdehnung der Mehrheitsabstimmungen im Rat Für die Entscheidungsmodalitäten des Rats bleibt zunächst festzuhalten, dass die Mit- gliedstaaten im Lissabonner Vertrag die Anwendungsbereiche für eine Beschlussfassung nach den Regeln der qualifizierten Mehrheit im Rat gegenüber der Version von Nizza auf 21 neue und 23 bestehende Politikbereiche ausdehnen (siehe Abbildung 2).40 Unter den von dieser Ausweitung erfassten Politikbereichen ist insbesondere die Innen- und Justizpolitik zu nennen. Hier stellt nun das qualifizierte Mehrheitswahlverfahren den Regelfall.41 Als Teil des Souveränitätsreflexes und des Letztentscheidungsvorbehalts haben die Mit- gliedstaaten jedoch in zentralen Bereichen der Innen- und Justizpolitik (Artikel 82 und 83 AEUV) und der Sozialpolitik (Artikel 48 AEUV), für die laut Lissabonner Vertrag ein Mehrheitsvotum vorgesehen wird, Vetomöglichkeiten eingeführt. Im Falle der Bedrohung „wichtiger Aspekte [des] Systems der sozialen Sicherheit“ (im Bereich der Sozialpolitik) oder „grundlegender Aspekte [der] Strafrechtsordnung“ (im Be- reich der Innen- und Justizpolitik) kann ein Mitgliedstaat die Suspendierung des Mehrheits- wahlverfahrens und eine Überweisung an den Europäischen Rat verlangen, der einstimmig entscheidet. Im Bereich der GASP wird eine solche ‚Notbremse‘ fortgeschrieben (Artikel 31 Absatz 2 EUV).

40 CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 73. 41 In den Bestimmungen des Lissabonner Vertrags lassen sich in diesem Politikbereich 18 Anwendungsbereiche des qualifizierten Mehrheitswahlverfahrens gegenüber 10 der Einstimmigkeit identifizieren. 14 integration Ð 1/2008 Vertrag von Lissabon

Abbildung 2: Entwicklung der Entscheidungsarten im Rat 1952-2007

Zur besonderen qualifizierten Mehrheit wird Folgendes zusammengefasst: - die QM mit 72% der Mitglieder und 65% Prozent Bevölkerungsanteil, wenn Entscheidungen nicht auf Vor- schlag der Kommission oder des Hohen Vertreters gefällt werden (Artikel 238 Absatz 2 AEUV) - qualifizierte Mehrheitsentscheidungen ausgenommen dem betroffenen Mitgliedstaat (QM minus 1) - qualifizierte Mehrheitsentscheidungen an denen nur eine Gruppe bestimmter Staaten beteiligt sind wie z.B. Verstärkte Zusammenarbeit oder Entscheidungen der Euro-Gruppe Quelle: Eigene Berechnung aufbauend auf Wessels: Das politische System der Europäischen Union, 2008.42

42 Die geschilderten ‚Notbremsen‘ erfahren ihrerseits wiederum Einschränkungen. Der Ein- spruch einzelner Mitgliedstaaten in den genannten Bereichen kann demnach Ð so in der In- nen- und Justizpolitik – von anderen Mitgliedstaaten zur Einleitung einer „verstärkten Zu- sammenarbeit“ genutzt werden. ‚Notbremse‘ und ‚Gashebel‘ sind so eng verknüpft. Zusätzlich bietet der Vertrag von Lissabon durch sogenannte Brückenregelungen („Pas- serelle-Klauseln“) die Möglichkeit, eine Effizienzsteigerung der Verfahren durch die Ein- führung von Mehrheitsentscheidungen in Bereichen zu erreichen, in denen laut Vertrag zu- nächst Einstimmigkeit vorgesehen ist (Artikel 48 EUV).

Einschränkungen und Variationen des Letztentscheidungsvorbehalts? Die Regelungen zur qualifizierten Mehrheit im Rat Während bei der Ausweitung der Anwendungsbereiche des qualifizierten Mehrheits- wahlverfahrens im Unterschied zu vorangegangenen Regierungskonferenzen wenige Kon- troversen beobachtbar waren, erwiesen sich die Regeln für Mehrheitsabstimmungen im Rat als zentrale Kontroverse im Vorfeld der politischen Einigung zum Lissabonner Vertrag.

42 Die Berechnungen für den EUV/AEUV 2009 beruhen auf der inoffiziellen konsolidierten Version der Unions- verträge, zusammengestellt von Peadar ó Broin. Vertrag von Lissabon integration Ð 1/2008 15

Im Zentrum der Auseinandersetzung stand die Suche nach einem Ausgleich zwischen Ef- fizienzsuche in der Beschlussfähigkeit des Organs und der Absicherung nationaler Letztent- scheidungsvorbehalte. Nach zähem Ringen einigte man sich letztlich auf eine Übernahme der ‚doppelten Mehr- heit‘, die die Bestimmungen des Verfassungsvertrags aufgreift.43 Als Kompromiss wurde je- doch beschlossen, die Einführung der doppelten Mehrheit bis zum 1. November 2014 zu verzögern (Artikel 16 Absatz 4 EUV). Bis dahin gelten die Bestimmungen des Vertrags von Nizza mitsamt seinen gewichteten Stimmen und dem dreifachen Quorum (siehe Übersicht 3). Für einen Übergangszeitraum vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 räumt das „Protokoll über die Übergangsbestimmungen“ zudem die Möglichkeit ein, auch nach Ein- führung der doppelten Mehrheit auf Antrag eines Mitgliedstaates weiterhin auf die Regelun- gen von Nizza zu rekurrieren. Damit besteht für diesen Zeitraum von zweieinhalb Jahren eine Art ‚Reserveoption‘. Die doppelte Mehrheit setzt für das Zustandekommen eines Rechtsakts die Zustimmung von mindestens 55 Prozent der Mitglieder des Rats voraus, gebildet aus mindestens 15 Mit- gliedern,44 sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 Pro- zent der Bevölkerung der Union ausmachen (Artikel 16 Absatz 4 EUV – siehe Übersicht 3). Als eine Konzession an die bevölkerungsarmen Mitgliedstaaten setzt der zweite Unterabsatz voraus, dass für die Bildung einer Sperrminorität mindestens vier Mitglieder des Rates (das hei§t also nicht nur drei gro§e Mitgliedstaaten, die zusammen mehr als 35 Prozent der Be- völkerung repräsentieren) notwendig sind, andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als er- reicht. Dieses letzte Kriterium verleitet einige Kommentatoren dazu, hier eher von einer „dreifachen Mehrheit“ zu sprechen.45 Analog zu den bestehenden Regelungen gilt zudem ein erhöhtes Quorum für diejenigen Rechtsakte, die nicht auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters zustande kommen. In diesen in 13 Vertragsartikeln vorgesehenen Fällen ist eine Zustimmung von 72 Prozent der Mitgliedstaaten bei gleichbleibendem Bevölkerungsquorum für eine Verab- schiedung des Rechtsakts vonnöten.

Übersicht 3: Bestimmungen über die qualifizierte Mehrheit nach Nizza und Lissabon

Vertrag von Nizza (EU 27) Vertrag von Lissabon

¥ Mehrheit der Mitgliedstaaten ¥ 55% der Mitgliedstaaten (mind. 15) ¥ 255 der insgesamt 345 gewogenen Stimmen ¥ 65% der Bevölkerung (ca. 74%) ¥ Sperrminorität: mind. 4 Mitgliedstaaten ¥ 62% der Gesamtbevölkerung der Union (Prü- fung auf Antrag eines Mitgliedstaats)

Eigene Darstellung.

43 Vgl. Wessels: Die institutionelle Architektur, in: Jopp/Matl: Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, 2005. 44 Dieser eigentlich überflüssige Zusatz ist wohl der Verhinderung mathematischer Spitzfindigkeiten geschuldet. Relevant könnte er wohl im Falle eines nun legal möglichen Austritts eines Mitgliedstaates werden. 45 CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 63. 16 integration Ð 1/2008 Vertrag von Lissabon

Zur Ermöglichung eines Kompromisses sieht der Vertrag von Lissabon – insbesondere auf Drängen der polnischen Regierung – zudem eine Erklärung46 vor, die den sogenannten Kompromiss von Ioannina47 aufgreift und die Möglichkeit einer Form des ‚suspensiven Ve- tos‘ eröffnet. Nach dieser Formel können Mitglieder des Rates für die Übergangsperiode vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 den Rat zu weitergehenden Verhandlungen auffordern, falls sie mindestens drei Viertel der Bevölkerung oder mindestens drei Viertel der Mitgliedstaaten vertreten, die für die Bildung einer Sperrminorität erforderlich sind. Der Rat soll „alles in seiner Macht Stehende“ tun, um innerhalb einer „angemessenen Zeit“ und unter Beachtung der vertraglich vorgesehenen zwingenden Fristen eine zufriedenstellende Lösung zu finden.48 Als Kompensation für den Wegfall der ‚Reserveoption‘ ab dem 1. April 2017 soll der Schwellenwert ab diesem Zeitpunkt dauerhaft auf 55 Prozent der Mitglied- staaten beziehungsweise 55 Prozent der Bevölkerung, die für die Bildung einer Sperrminori- tät erforderlich sind, gesenkt werden. Übersicht 4 präsentiert einen Überblick über die Krite- rien der qualifizierten Mehrheit, die im Falle der Ratifikation des Lissabonner Vertrags sukzessive in Kraft treten werden und fasst den Ablauf der Regeländerungen zusammen.

Übersicht 4: Vertragsregelungen zur Bestimmung der qualifizierten Mehrheit

Zeitablauf Vertragsregelung

Gegenwärtig Berechnung nach den Regelungen von Nizza (Artikel 205 EGV) 1. Jan. 2009 Berechnung nach den Regelungen von Nizza (Protokoll über die Übergangsbestim- mungen, Artikel 3 Absatz 3) 1. Nov. 2014 Berechnung nach der doppelten Mehrheit von Lissabon (Artikel 16 Absatz 4 EUV) Auf Antrag eines Mitgliedstaats: Berechnung nach den Regelungen von Nizza (Pro- tokoll über die Übergangsbestimmungen, Artikel 3 Absatz 2) Suspensives Veto (Beschluss des Rates über die Anwendung des Artikels 16 Absatz 4 EUV, Artikel 1): ¥ 33,75% der Mitgliedstaaten (drei Viertel der Sperrminorität): 10 Mitgliedstaaten, oder ¥ 26,25% der Bevölkerung (drei Viertel der Sperrminorität): ca. 128 Mio. 1. April 2017 Berechnung nach der doppelten Mehrheit von Lissabon (Artikel 16 Absatz 4 EUV) Suspensives Veto (Beschluss des Rates über die Anwendung des Artikels 16 Absatz 4 EUV, Artikel 4): ¥ 24,75% der Mitgliedstaaten (55% der Sperrminorität): 7 Mitgliedstaaten, oder ¥ 19,25% der Bevölkerung (55% der Sperrminorität): ca. 94 Mio.

Eigene Darstellung.

Bei der Bewertung dieser Regelungen ist eine gewisse Nüchternheit geboten. Der verbes- serten Handlungsfähigkeit des Rates (und damit der Union insgesamt) kommt in erster Linie

46 Erklärung 7 zu Artikel 16 Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union und zu Artikel 238 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon. 47 Beschluss des Rates vom 29. März 1994 über die Beschlussfassung des Rates mit qualifizierter Mehrheit. Vgl. u.a. CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 62. 48 Erklärung 7 zu Artikel 16 Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union und zu Artikel 238 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon. Vertrag von Lissabon integration Ð 1/2008 17 die Ausweitung der Anwendungsfälle der qualifizierten Mehrheit zugute. Dieses Entschei- dungsverfahren Ð ungeachtet seiner spezifischen Regelungen Ð setzt die Verhandlungen im Rat einer Dynamik aus, die die Beschlussfassung erleichtert.49 In diesen Politikfeldern kann sich kein Mitgliedstaat darauf verlassen, seine Interessen durch Ausübung eines Vetorechts zu wahren. Zunächst ist festzustellen, dass die qualifizierte Mehrheitswahl ein normales Phänomen im Alltag des Rats darstellt, also vom Rat tatsächlich praktiziert wird. Entgegen der häufig geäußerten Darstellung, Konsens stelle im Rat die „angemessene“50 Verhaltensnorm dar und verdränge daher die Relevanz von vertraglich vorgesehenen Mehrheitsentscheidungen, zei- gen empirische Studien die Akzeptanz der qualifizierten Mehrheitswahl. Von 2002 bis 2006 wurde demnach in 10 bis 22 Prozent der Rechtsakte des Rats tatsächlich abgestimmt.51 Die Verhaltensmuster von Ministern und Beamten mögen zwar eine deutliche Neigung zur Kon- senssuche zeigen, sie werden jedoch durch das Risiko einer möglichen Überstimmung dyna- misiert: Verhandlungen im Rat stehen Ð bei entsprechenden Vertragsregeln Ð nach Aussagen von beteiligten Akteuren immer im „Schatten“ möglicher Abstimmungen.52 Die Einschätzung über die Auswirkungen der neuen Bestimmungen auf die Handlungsfä- higkeit des Rats variieren. Manche Analysen sehen im Senken der Schwelle für Mehrheitsbe- schlüsse einen Gewinn an Entscheidungseffizienz, rechtlicher Sicherheit und demokratischer Verantwortlichkeit; auch statistische Wahrscheinlichkeitsrechnungen prognostizieren eine deutliche Steigerung der Beschlusseffizienz des Rates nach den Regelungen von Lissabon.53 Dagegen lässt eine hier bevorzugte Auflistung möglicher Koalitionen für gestaltende Mehrhei- ten beziehungsweise für Sperrminoritäten keine wesentliche Verbesserung der Handlungsfähig- keit des Rats erkennen (siehe Übersicht 5). Lediglich geringfügige Veränderungen gegenüber dem gegenwärtig gültigen Regelwerk sind ersichtlich, so etwa der Verlust der Sperrminorität für die 2004/2007 beigetretenen Mitgliedstaaten und für die Ostseeanrainer. Auch weiterhin stellen die 23 kleinsten Mitgliedstaaten keine gestaltende Mehrheit, die größten 14 verlieren zu- dem aufgrund des neuen Staatenquorums ihre Gestaltungsmehrheit, obwohl sie 90 Prozent der Unionsbevölkerung repräsentieren. Im Gegensatz zu anderen Darstellungen54 geben die neuen Regelungen demnach weder dem Bevölkerungsquorum noch dem Staatskriterium ein Überge- wicht. Angesichts dieser Ergebnisse ist auch die häufig vorgenommene Analyse der Verände- rungen in der jeweiligen relativen Entscheidungsmacht einzelner Staaten weniger bedeutsam.55

49 Vgl. u.a. Fiona Hayes-Renshaw/Helen Wallace: The Council of Ministers, New York 2006; CEPS/EGMONT/ EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 66. 50 Vgl. James G. March/Johan P. Olsen: The logic of appropriateness, ARENA Working Papers 04/09, Oslo 2004. 51 Vgl. Sara Hagemann/Julia De Clerck-Sachsse: Old Rules, New Game. Decision-Making in the Council of Mi- nisters after the 2004 Enlargement, Brüssel 2007, S. 13. 52 Vgl. Hayes-Renshaw/Wallace: The Council of Ministers, 2006, S. 259. 53 Vgl. CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 66; Richard Baldwin/Mika Widgrén: Council vo- ting in the Constitutional Treaty: Devil in the details, CEPS Policy Brief Nr. 53/2004. 54 Vgl. CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 66. 55 Vgl zu einer näheren Analyse CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 67-72. 18 integration Ð 1/2008 Vertrag von Lissabon

Übersicht 5: Koalitionen für qualifizierte Mehrheiten und Sperrminoritäten (EU 27)

Anzahl Bevöl- Gewo- Gestaltende Sperr- der kerungs- gene Mehrheit Minorität Staaten quote EU-27 Stimmen Nizza Lissabon Nizza Lissabon EU-6 6 46,77% 116 Nein Nein Ja Ja EU-9 9 61,06% 159 Nein Nein Ja Ja EU-12 12 74,5% 210 Nein Nein Ja Ja EU-15 15 79,1% 237 Nein Ja Ja Ja NATO- 21 94,3% 304 Ja Ja Ja Ja Staaten 3 größte 3 41,57% 87 Nein Nein Ja/Nein1) Nein MS 14 größte 14 90,49% 267 Ja Nein Ja Ja MS 23 kleinste 23 46,51% 229 Nein Nein Ja Ja MS EURO- 15 64,6% 202 Nein Nein Ja Ja Gruppe Mittel- 7 38,01% 116 Nein Nein Ja Ja meerraum Ostseean- 8 30,02% 95 Nein Nein Ja Nein rainer Beitritts- 12 20,9% 108 Nein Nein Ja Nein länder 2004/07 Alte Netto- 11 64,8% 179 Nein Nein Ja Ja zahler2)

1) abhängig von einem Antrag auf Überprüfung des Anteils der Gesamtbevölkerung. 2) Stand 2005/EU-25, Quelle: Eurostat 2006. Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Berechnungen von Niklas Helwig 2007. Bevölkerungszahlen: Eurostat- Schätzung für 01.01.08.

Mehr abgeleitete Demokratie? Der Ausbau der Rechte nationaler Parlamente Die möglichen Spannungen im Hinblick auf die Legitimitätsdimension schlagen sich er- neut und nachhaltiger als in bisherigen Vertragswerken in der Stärkung der Rolle der natio- nalen Parlamente nieder (Artikel 12 EUV – siehe Übersicht 6). Vertrag von Lissabon integration Ð 1/2008 19

Übersicht 6: Ausbau der Rolle nationaler Parlamente

¥ Umfassende Unterrichtung (Artikel 12 EUV) ¥ Beteiligung an den Mechanismen zur Bewertung der Durchführung der Unionspolitiken im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Artikel 12 EUV) ¥ Beteiligung an der Kontrolle der Tätigkeiten von Europol (Artikel 88 AEUV) ¥ Einspruchsrecht eines einzelnen Parlaments im Rahmen der „allgemeinen Passerelle“ (Artikel 48 Ab- satz 7 EUV) ¥ Einspruchsrecht eines einzelnen Parlaments im Bereich des Familienrechts im Rahmen der justiziel- len Zusammenarbeit in Zivilsachen (Artikel 81 Absatz 3 AEUV) ¥ Einspruchsrecht eines Quorums von nationalen Parlamenten bei Gesetzgebungsakten im Rahmen des Subsidiaritätsprotokolls (Artikel 12 EUV)

Eigene Darstellung.

Neben einem umfassenderen Anspruch auf Unterrichtung wird ihnen ein Satz an Ein- spruchsrechten zuteil.56 Nach entsprechenden Protokollen haben nationale Parlamente im Rahmen eines ‚Frühwarnsystems‘ acht Wochen nach Vorlage eines Entwurfs für einen Ge- setzgebungsakt Zeit, eine begründete Stellungnahme hinsichtlich der Übereinstimmung des Entwurfs mit dem Grundsatz der Subsidiarität abzugeben. Übersteigt die Anzahl der negati- ven Stellungnahmen ein bestimmtes Quorum, muss der Entwurf „überprüft“ werden. Dieses Quorum beträgt im Falle von Vorlagen beim ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Mehrheit, im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ein Viertel, und in allen übrigen Fällen ein Drittel aller Parlamente.57 Das Erreichen derartiger Schwellenwerte hat jedoch nur aufschiebende Wirkung. Die für die Vorlage des Entwurfs zuständige Institution – im Regelfall die Kommission – kann nach Prüfung der Einwände beschließen, „an dem Entwurf festzuhalten, ihn zu ändern oder ihn zurückzuziehen“. Hält die Kommission bei einem Gesetzgebungsakt im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungs- verfahrens an ihrem gerügten Entwurf fest, können der Rat mit einer Mehrheit von 55 Pro- zent seiner Mitglieder oder das Parlament mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen den Entwurf verwerfen. Die für diese Ablehnung notwendigen Quoren ähneln beziehungsweise überschreiten jedoch ohnehin die Anforderungen an Sperrminoritäten im Rechtsetzungspro- zess, sodass bei diesem Regelwerk innerhalb der EU-Architektur keine qualitativ neuen Ver- fahrensformen eingeführt werden. Von nachhaltiger Relevanz könnte sich jedoch die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Befolgung des „Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ erweisen.58 Nach dessen Artikel 8 kann eine Klage wegen eines ver- meintlichen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip dem Gerichtshof „von einem Mit- gliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt werden“. Der Gerichtshof könnte so zum ‚Partner‘ nationaler Parlamente gegen die qualifizierte Mehrheit nationaler Regierungen und der Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden.

56 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Union und Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. 57 Das „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ sieht vor, jedem Parlament zwei Stimmen zuzuteilen. Diese werden in Zweikammersystemen auf beide Kammern ver- teilt. Die Quoren beziehen sich auf die Zahl der Stimmen – unterschiedliche Kammern können so unterschied- liche Meinungen kundgeben. 58 Vgl. CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 85-86. 20 integration Ð 1/2008 Vertrag von Lissabon

Eine tragfähige und abschließende Lösung? Die Übersicht über die Kompetenz-, die institutionelle und die Verfahrensordnung nach dem Vertrag von Lissabon hat die zentralen Dilemmata der Mitgliedstaaten in ihrem Ver- such verdeutlicht, für die gegenwärtigen Gestaltungsprobleme einen adäquaten Problemlö- sungsraum sowie eine möglichst effiziente Verfahrensordnung unter Wahrung nationalstaat- licher Domänen und legitimatorischer Grundanforderungen zu finden. Das Resultat ist erneut Ð wie nicht anders zu erwarten Ð gezeichnet von einer Kompromiss und Konsens er- möglichenden Komplexität. An diesen Befund knüpft sich die Frage, ob die gefundene Lösung angesichts dieser man- gelnden Struktur von Dauer sein kann.59 Begegnet der Vertrag von Lissabon abschlie§end dem dreifachen Dilemma? Eine Reihe von Veränderungen des Regelwerks lassen bei einzelnen Institutionen und Verfahren ein Mehr an Handlungsfähigkeit sowie demokratischer Mitwirkung und Kon- trolle erwarten. Ob und wie diese Auswirkungen der Neuregelung einander verstärken oder vielleicht sogar beeinträchtigen, wird sich erst im Laufe einer Erprobungsphase herausstel- len. Die Akteure werden vertraglich angelegte Spannungsfelder ausloten und gegebenenfalls zu einem neuen institutionellen Gleichgewicht führen, das dann in der Balance der geplanten Steigerung der Handlungsfähigkeit und der beabsichtigten Verbesserung der demokrati- schen Teilhabe eine neue Stufe im konstatierten Fusionsprozess erlangt. Es ist hingegen nicht auszuschlie§en, dass sich die Neuerungen des Lissabonner Vertrags in der Erprobungsphase als nicht tragfähig erweisen und das Dokument – wie die Vertrags- revisionen der letzten zwei Jahrzehnte – schon bald wieder revisionsbedürftig sein könnte. Die Hoffnung der Beteiligten besteht in erster Linie darin, die gegenwärtige Diskussion von institutionellen Fragen, die die Agenda der Vertragsreform im letzten Jahrzehnt dominiert haben, hin zu inhaltlichen Fragen der Politikgestaltung zu lenken. Im Vordergrund steht der Wunsch nach einem „Europa der Projekte“.60 Folgt man einem derartigen, der Monnet-Methode zuzuordnenden Schritt, dann ist zu erwar- ten, dass sich in der Nutzung der angepassten und neu geschaffenen Instrumente der Union langsam ein erneuter Druck zu institutionellen Reformen aufbaut.61 Die Suche nach einer Finali- tät der Integrationskonstruktion durch einen Prozess der ‚Vertiefung‘ ist so in eine neue Phase eingetreten, die aber trotz des ‚Schwurs auf Beständigkeit‘ noch keinen Abschluss der Selbst- verständigung über das politische System namens Europäische Union bilden dürfte. Auch wenn das „Verfassungskonzept“ vom Europäischen Rat „aufgegeben“ wurde,62 so können die Staats- und Regierungschefs damit eine weitergehende Debatte über die Finalität der Integrationskonst- ruktion auf Dauer nicht unterbinden. „Die Funktion des Verfassungstopos“ erweist sich als „zeitlos auch im europäischen Kontext“.63 Die Verfassungsdiskussion64 der jüngsten Vergan- genheit mag so zunächst als ‚Eintagsfliege‘ erscheinen, die ihr zugrundeliegenden Probleme und Fragen werden allerdings vom Lissabonner Vertrag nicht in abschlie§ender Form beantwortet.

59 Vgl. CEPS/EGMONT/EPC: The Treaty of Lisbon, 2007, S. 145. 60 Vgl. u.a. José Manuel Barroso: Rede vor dem Europäischen Parlament zur Tagung des Europäischen Rates am 15./16. Juni 2006, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/commission_barroso/president/pdf/speech_20060614_ de.pdf (letzter Zugriff: 21.12.2007). 61 Wolfgang Wessels/Anne Faber: Vom Verfassungskonvent zurück zur ‚Methode Monnet‘? Die Entstehung der ‚Road map‘ zum EU-Reformvertrag unter deutscher Ratspräsidentschaft, in: integration 04/2007, S. 370-381. 62 Europäischer Rat (Brüssel): Mandat für die Regierungskonferenz 2007, Ziffer 1. 63 Müller-Graff: Die Zukunft des europäischen Verfassungstopos, 2007, S. 236. 64 Vgl. Thomas Diez/Antje Wiener: Introducing the Mosaic of Integration Theory, in: Thomas Diez/Antje Wie- ner (Hrsg.): Theories of European Integration: Past, Present and Future, Oxford 2004, S. 1-21, hier S. 10. Bilanz und Zukunft der Präsidentschaft im System des Rates der Europäischen Union

Daniela Kietz und Andreas Maurer*

Im ersten Halbjahr 2007 übernahm Deutschland den EU-Ratsvorsitz in einer kritischen Phase der europäischen Integrationsgeschichte. Nach den gescheiterten Referenden zum Vertrag über eine Verfassung für Europa,1 nach der langen und ergebnislosen Phase der Re- flektion der europäischen Eliten über die zukünftige Gestaltung der Europäischen Union und vor dem Hintergrund der öffentlichen Kritik am ‚Elitenprojekt Europa‘, musste der deutsche Vorsitz davon ausgehen, dass die Vorbehalte gegen die mit dem Verfassungsvertrag geplan- ten Integrationsschritte, gegen die europäischen Organe und gegen ihre Politiken erheblich zugenommen hatten. Gleichzeitig aber waren aus Sicht vieler Mitgliedstaaten die Erwartun- gen an die Präsidentschaft hoch, insbesondere durch die Wiederbelebung der Verhandlun- gen über den Verfassungsvertrag die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union unter Be- weis zu stellen. Dem deutschen EU-Ratsvorsitz wurde in den europäischen Hauptstädten und Medien so- wie seitens der Brüssler Institutionen eine weitgehend erfolgreiche Amtszeit bilanziert.2 Trotz der widrigen Umstände und vielschichtigen Erwartungshaltungen konnten in Grund- satzfragen der Integration (Vertragsreform), in strategisch und längerfristig angelegten Pro- jekten (Energie- und Klimapolitik) sowie in einer Vielzahl laufender Legislativprojekte Konsens zwischen den EU-Mitgliedstaaten hergestellt und Kompromisse mit den anderen EU-Organen ausgehandelt werden. Gerade aufgrund dieser multifunktionalen Bandbreite der der Präsidentschaft abverlangten Aufgaben bietet sich das deutsche Beispiel an, über eine allgemeine Vorsitzbilanz hinaus, die Frage nach den wesentlichen, dossierübergreifen- den Erfolgsfaktoren für EU-Ratspräsidentschaften zu analysieren und hieraus erste, vorsich- tige Schlüsse für die im Lissabonner Vertrag vorgesehenen Reformen des Ratssystems zu ziehen. Der folgende Beitrag umreißt zunächst die Funktionen und Aufgaben der EU-Ratspräsi- dentschaften sowie die Handlungsbeschränkungen unten denen diese agieren. Im Anschluss werden diejenigen Variablen herausgearbeitet, die den Weg für die zentrale Leistung des deutschen Vorsitzes ebneten, nämlich die erfolgreiche Vermittlung zahlreicher Verhand- lungskompromisse. Der Beitrag schlie§t mit einem Blick auf den im Lissabonner Vertrag vorgesehenen Präsidenten des Europäischen Rates und die sich daraus ergebenden Fragen für die Organisation zukünftiger Ratspräsidentschaften.

1* Dipl.-Pol. Daniela Kietz, Forschungsgruppe EU-Integration, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin. Dr. Andreas Maurer, Leiter der Forschungsgruppe EU-Integration, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin. 1 Im Folgenden Verfassungsvertrag. 2 Vgl. Daniela Kietz/Volker Perthes (Hrsg.): Handlungsspielräume einer EU-Ratspräsidentschaft. Eine Funkti- onsanalyse des deutschen Vorsitzes im ersten Halbjahr 2007, SWP-Studie, Nr. S 24/2007, Berlin. Centrum für angewandte Politikforschung (CAP): Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Analyse und Bewertung, CAP Analyse 6/2007, München. Sebastian Kurpas/Henning Riecke: Is Europe Back on Track? Impetus from the German EU Presidency, CEPS Working Document 273/Juli 2007. 22 integration Ð 1/2008 Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft

Funktionen und Aufgaben des EU-Ratsvorsitzes3

Der Ratsvorsitz als Manager der Ratsgeschäfte Die grundlegende Funktion des Ratsvorsitzes besteht in der effizienten Organisation der Ratsgeschäfte. Dazu gehört vor allem die zeitliche und inhaltliche Planung und Koordina- tion der bis zu 4000 Sitzungen des Rates auf allen Ebenen (Arbeitsgruppen, interinstitutio- nelle Arbeitsgremien, Ausschuss der Ständigen Vertreter, Ministerräte etc.) während der sechsmonatigen Amtszeit. Die Arbeit der Ratsgremien muss zudem vom Ratsvorsitz, als Vertreter des Rates, in interinstitutionellen Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament koordiniert werden, insbesondere bei Rechtsakten, die im Mitentscheidungs-, Zustimmungs- und Haushaltsverfahren verhandelt werden. Mehr als bei den anderen Funktionen des Rats- vorsitzes, hängt die erfolgreiche Ausfüllung dieser Rolle von einer engen Kooperation des Vorsitzes mit dem Ratssekretariat ab, das vielfältige und lange eingeübte Koordinierungs- ressourcen vorhält und diese aufgrund der ständigen Präsenz in Brüssel und eingespielter Kooperationen mit vergleichbaren Einrichtungen im Europäischen Parlament zügig abrufen und in die ‚Groupe de Coordination Interinstitutionnel‘ – GCI einspeisen kann.4

Der Ratsvorsitz als neutraler Makler von Kompromissen In seiner Funktion als Vermittler obliegt es dem Ratsvorsitz, Konsens herzustellen zwi- schen den Positionen der EU-Mitgliedstaaten bei den Verhandlungen im Rat und als Vertre- ter beziehungsweise Verhandlungsführer seitens des Rates bei den interinstitutionellen Ver- handlungen zwischen Rat und Parlament sowie zwischen dem Rat und Drittstaaten im Bereich des auswärtigen Handelns. Neben den Vermittlungsbemühungen während der Sit- zungen der entsprechenden Ratsgremien bedient sich die Präsidentschaft zur Konsensbil- dung auch bilateraler ‚Beichtstuhlgespräche‘, um die Positionen der am Verhandlungspro- zess beteiligten Akteure (Mitgliedstaaten, Europäisches Parlament, Drittstaaten) zu sondieren (wie der deutsche Vorsitz in der Vorbereitung der ‚Berliner Erklärung‘ oder den Verhandlungen über den Verfassungsvertrag). Ein weiteres Instrument ist die Beauftragung von Expertengruppen oder die Bildung von Gremien (‚Freunde der Präsidentschaft‘), die sich aus Vertretern gleich gesinnter Mitgliedstaaten zusammensetzen und parallel zu den Verhandlungen in den Ratsgremien Kompromissvorschläge erarbeiten und damit die Ver- handlungen beschleunigen beziehungsweise zur Deeskalation von Konflikten beitragen. Auch bei der Ausübung dieser Funktion, also der Beförderung und Herstellung von Ver- handlungskompromissen, kann sich der Ratsvorsitz in zunehmendem Ma§e inhaltlich, tak- tisch und strategisch auf die Beamten des Ratssekretariats stützen.

Strategische Steuerung durch den Ratsvorsitz Der Kern jener Aufgaben von EU-Ratspräsidentschaften, die in der angloamerikanischen Literatur unter dem Begriff ‚Political Leadership‘ und von uns unter dem der ‚Strategischen Steuerung‘ zusammengefasst werden, besteht darin, tagesaktuelle Diskussionen unter den Mitgliedstaaten in einen größeren perspektivischen Zusammenhang mit den längerfristigen

3 Vgl. grundlegend Fiona Hayes-Renshaw/Helen Wallace: Taking Turns at the Wheel: The Presidency, in: Fiona Hayes-Renshaw/Helen Wallace: The Council of Ministers, 2. überarb. Aufl., Basingstoke 2006, S. 133-161; Ole Elgström: European Union Council Presidencies. A Comparative Perspective, London 2003; Jonas Tall- berg: Leadership and Negotiation in the European Union, Cambridge 2006. 4 Vgl zum Ratssekretariat ma§geblich Fiona Hayes-Renshaw/Helen Wallace: Bureaucrats Organise and Advise: The Council Secretariat, in: Fiona Hayes-Renshaw/Helen Wallace: The Council of Ministers, 2. überarb. Aufl., Basingstoke 2006, S. 101-132. Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft integration Ð 1/2008 23

Herausforderungen für die Europäische Union zu stellen. Der Vorsitz muss die mitglied- staatlichen Delegationen dazu mitunter anhalten, ihre kurzfristigen nationalen beziehungs- weise wahltaktischen (Regierungs-)Interessen zugunsten langfristiger, unter allen EU-Mit- gliedern abgestimmter europäischer Ziele hintanzustellen, wie dies der deutsche Vorsitz in der Klimapolitik versuchte.

Der Ratsvorsitz als Akzentsetzer und Impulsgeber Die politische Agenda der Europäischen Union ist durch diverse, mehrjährige Planungs- instrumente auf lange Sicht vordefiniert. Es ist daher zentrale Aufgabe der Ratsvorsitze, fortlaufend für die Umsetzung und Anpassung dieser Agenden an den Stand ihrer Abarbei- tung zu sorgen. Der verbleibende Raum zur Setzung eigener inhaltlicher Akzente, ist also deutlich geringer als gemeinhin angenommen. Dennoch gibt es Fälle, in denen es Ratspräsi- dentschaften gelingt, neue Projekte und Initiativen zur Lösung virulenter Probleme ‚im Rah- men laufender Programme‘ zu lancieren (wie die Integration des Prümer Vertrages zur grenzüberschreitenden Kooperation in der Kriminalitätsbekämpfung in den EU-Rechtsrah- men unter deutschem Vorsitz) oder neue Ziele ‚außerhalb des Rahmens laufender Pro- gramme‘ zu formulieren (wie die Initiative der Bundeskanzlerin für einen transatlantischen Wirtschaftsraum). In der Regel versuchen alle Ratspräsidentschaften, durch derartige Initia- tiven der europäischen Politikagenda ihren eigenen Stempel aufzudrücken und im europä- ischen Einigungsprozess somit bleibende Spuren zu hinterlassen.

Das Gesicht der EU: der Ratsvorsitz als externer Vertreter der EU in der Au§enpolitik Auch die externe Vertretung der Europäischen Union im Bereich der Gemeinsamen Au- §en- und Sicherheitspolitik (GASP) obliegt dem Ratsvorsitz, zusammen mit dem Hohen Vertreter für die GASP und dem Kommissar für die Außenbeziehungen vertritt die Präsi- dentschaft die Union gegenüber Drittstaaten in allen diplomatischen Angelegenheiten (wie der deutsche Vorsitz im Rahmen des Nahostquartetts). Zudem fungiert sie Ð jenseits der Handels- und Entwicklungspolitik, in der die Kommission die Europäische Union vertritt – als Sprachrohr der Europäischen Union in internationalen Organisationen und auf internatio- nalen Konferenzen. In Verhandlungen über internationale Abkommen im Bereich der GASP und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit wird der Vorsitz vom Rat mit der Verhandlungsführung mandatiert (wie der deutsche Vorsitz in den Verhandlungen über das Fluggastdaten-Abkommen mit den USA).

Vertretung der EU nach ‚innen‘: Mediatisierung und Inszenierung des Politikprozesses Zu den Aufgaben eines Ratsvorsitzes gehört es auch, die Handlungsfähigkeit der Union gegenüber den europäischen Bürgern, den Medien und den politischen Akteuren, vor allem im Heimatland zu demonstrieren. Analog zu entsprechenden Prozessen in der nationalen Po- litikarena wird hierzu die politische Agenda der Europäischen Union in der Regel auf we- nige, eng umrissene Prioritäten und Konfliktlinien zugespitzt (wie Klima- und Energiefra- gen auf dem Frühjahrsgipfel während der deutschen Amtszeit), werden Verhandlungen und Verhandlungsergebnisse, insbesondere die Treffen des Europäischen Rates, medial und un- ter Nutzung einer ausgefeilten Dramaturgie und Symbolik inszeniert. Teil dieser gezielten Effekte sind die Vorausplanung inhaltlicher Spannungsbögen, die Wahl der Sitzungsorte für Sondergipfel und informelle Ministerratssitzungen, der Entwurf des Präsidentschaftslogos und die Formulierung eines griffigen Mottos. Gemeinsame, europaweite Herausforderungen und Probleme (illegale Einwanderung, Klimawandel, externe Krisensituationen) werden 24 integration Ð 1/2008 Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft dramatisiert und die entsprechenden Lösungsansätze zeitlich so in Szene gesetzt, dass Beob- achter den Eindruck bekommen, als identifizierten und lösten die Staats- und Regierungs- chefs ein akutes Problem ‚auf‘ dem Europäischen Rat.

Handlungsbeschränkungen von Ratspräsidentschaften Bei der Erfüllung seiner verschiedenen Funktionen unterliegt der Ratsvorsitz einer Reihe von generellen strukturellen, materiellen und prozeduralen Beschränkungen, die seinen Handlungsspielraum eng begrenzen. Erstens ist jede Ratspräsidentschaft zur Umsetzung der laufenden politischen Agenda der Europäischen Union verpflichtet. Die in Arbeits- und Rechtsetzungsprogrammen der EU- Organe festgeschriebenen Vorgaben schränken den Freiraum des Vorsitzes beträchtlich ein. Au§erdem nehmen nicht vorhersehbare externe Ereignisse (Konflikte, Kriege, Terroran- schläge, Naturkatastrophen und so weiter) einen großen Teil der Kapazität des Vorsitzes auf Kosten der ursprünglichen Planung in Anspruch. Zweitens sind Ratspräsidentschaften auf einen Zeitraum von sechs Monaten befristet. Diese Spanne reicht meist nur aus, um entweder neue Projekte anzusto§en, laufende Ver- handlungen voranzutreiben oder aber Projekte abzuschließen, die vorangegangene Präsi- dentschaften und andere EU-Akteure bereits maßgeblich befördert haben. Drittens sind Ratspräsidentschaften nur ein Akteur unter vielen im europäischen Politik- gestaltungsprozess. Sie agieren neben und mit der Kommission, dem Europäischen Parla- ment und anderen nationalen Delegationen im Rat, die gegebenenfalls eigene ‚vitale‘ und ‚institutionelle‘, teils schwer zu vereinbarende Interessen in einzelnen Dossiers geltend ma- chen. Und viertens unterliegen Ratspräsidentschaften innenpolitischen Beschränkungen. Sie müssen in der Planung und in der Durchführung ihres Vorsitzes laufend Ideen, Kritik und Begehrlichkeiten des Parlaments, der Fraktionen und Parteien, der subnationalen Gebiets- körperschaften, aber auch der breiteren Öffentlichkeit berücksichtigen. Zudem sind intermi- nisterielle Koordinierungsprozesse für die Behandlung ressortübergreifender Dossiers auf die Funktionen des EU-Vorsitzes auszurichten, wobei das Konfliktpotenzial zwischen den Ministerien frühzeitig aufgefangen werden muss. In diesen Handlungsbeschränkungen des Ratsvorsitzes liegt das Kernproblem bei der Be- wertung seiner Arbeit: Welche Erfolge und Misserfolge lassen sich dem Wirken der Präsi- dentschaft zuschreiben? Ergebnisse, die als Errungenschaften oder Fehlschläge eines EU- Vorsitzes gefeiert beziehungsweise kritisiert werden, haben vielerlei Ursachen: Zum einen können die Erfolgs- beziehungsweise Misserfolgsfaktoren durchaus ‚hausgemacht‘, das heißt durch das Verhalten der Regierung, die den EU-Vorsitz ausübt, selbst verursacht sein (zum Beispiel organisatorische, interministerielle Koordinierungs- und diplomatische Fähig- keiten). Zum anderen können aber externe Handlungsbeschränkungen außerhalb der Reich- weite der Präsidentschaft dazu führen, dass Verhandlungen scheitern oder abgeschlossen werden (Vorarbeiten der letzten Präsidentschaft, Abschluss der Dossiers im Europäischen Parlament, auf die Europäische Union einwirkende Verhandlungen zwischen ‚mächtigen‘ Drittstaaten und so weiter). Ein eindimensionaler Abgleich von Präsidentschaftsprogram- men und deren Ergebnissen oder das bloße Aufzählen von Projekten, die unter einer Rats- präsidentschaft vollendet wurden, sagen somit wenig über die Leistungsfähigkeit eines Vor- sitzes aus. Um diese Probleme bei der Bewertung von Ratspräsidentschaften zu bewältigen, greifen wir auf eine Methode zurück, die sich an der Frage orientiert, wie effizient der Vorsitz seine Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft integration Ð 1/2008 25 verschiedenen Funktionen erfüllt hat.5 Ausgehend von einem bereits erprobten, situativen An- satz nehmen wir an, dass variierende Umfeldbedingungen von Verhandlungen unterschied- liche Anforderungen an den Ratsvorsitz in seinen Funktionen stellen. Werden die Anfor- derungen effizient erfüllt, wirkt sich dies positiv auf die Chancen für einen Verhandlungskompromiss aus. Entsprechend dieses Ansatzes nehmen effizient handelnde Prä- sidentschaften diejenigen Aufgaben war, die die gegebene Verhandlungssituation für ein er- folgreiches Abschlie§en oder Voranbringen der Dossiers von ihnen erfordert.6 Dies impliziert natürlich auch, dass eine Präsidentschaft die an sie gestellten Anforderungen und Funktionen sehr gut erfüllt haben kann und angesichts der diversen Handlungsbeschränkungen dennoch nicht das gewünschte Verhandlungsergebnis erreicht. Dennoch gilt: je besser ein Vorsitz seine Funktionen erfüllt hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines Verhandlungsfortschritts. Die zentrale Frage lautete damit: Inwieweit gelang es dem deutschen Vorsitz, seine Funk- tionen durch Wahrnehmung derjenigen Aufgaben zu erfüllen, die ihm unterschiedliche Ver- handlungssituationen für ein erfolgreiches Voranbringen der Dossiers abforderten?

Stärken und Schwächen des deutschen Vorsitzes Die Bilanz des deutschen Vorsitzes in der Erfüllung seiner Funktionen fällt in der Mehr- heit der Dossiers durchweg positiv aus.7 Einzig mit Blick auf die langfristige, strategische Steuerung umstrittener Verhandlungsgegenstände ist die Bilanz eher gemischt. So entstand etwa im Kontext der Migrationspolitik der Eindruck, dass der Vorsitz die Behandlung ver- schiedener Aspekte legaler Wirtschaftsmigration Ð ein in Deutschland innenpolitisch sehr sensibles Thema – bewusst hinauszögerte oder aber dass Berlin wenig zur Schärfung und Klärung recht schwammiger ‚Konzeptdebatten‘ beitrug, da die Bundesregierung nicht in der Lage war, die eigene Position für alle sichtbar zurückzunehmen. Der Präsidentschaft wird hingegen in den meisten Politikbereichen eine solide Manage- mentleistung belegt. Die Arbeitsgremien wurden fokussiert und straff geleitet, auch wenn das Tempo kleinere Delegationen streckenweise überforderte (wie in der Migrations- oder Justizpolitik). Angesichts der über 50 Jahre entwickelten Expertise aller Fachressorts der Bundesregierung und der Landesregierungen, den Erfahrungen bei der Organisation voran- gegangener Präsidentschaften und der umfassenden administrativen Ressourcen des größten EU-Staates durfte dies auch erwartet werden. Die positive Leistungsbilanz des deutschen Vorsitzes tritt jedoch vor allem in der Vermitt- lung von Kompromissen und in der außergewöhnlich hohen Zahl an neuen, während seiner Amtszeit lancierten Projekten hervor. Der deutsche Vorsitz handelte als entschlossener, in man- chen Fällen hart antreibender, aber doch weitgehend fairer Makler schwieriger Kompromisse. Diese Vermittlungsleistung stärkte die Stellung Deutschlands im Ministerrat und seinen (Mit-) Führungsanspruch8 in der Europäischen Union auch über die Ratspräsidentschaft hinaus. Neben der Glaubwürdigkeit als Makler, waren die Minimierung innerdeutscher Differenzen während der Amtszeit, eine klare Prioritätensetzung, eine überaus hohe und ressourcenaufwändige An- zahl bilateraler Konsultationen und informeller Gesprächsrunden, und vor allem das entschie- dene, persönliche Engagement der Bundeskanzlerin und des Außenministers in hochsensiblen

5 Vgl. Adrian Schout/Sophie Vanhoonacker: Evaluating Presidencies of the Council of the EU: Revisiting Nice, in: Journal of Common Market Studies 5/2006, S. 1051-1077. 6 Vgl. für Details zur Vorgehensweise Kietz/Perthes: Handlungsspielräume einer Ratspräsidentschaft, 2007. 7 Vgl. hierzu die Einzelanalysen in: Kietz/Perthes: Handlungsspielräume einer EU-Ratspräsidentschaft, 2007. 8 Vgl. zum Konzept der (Mit-)Führung: Eckhard Lübkemeier: Führung ist wie Liebe. Warum Mit-Führung in Europa notwendig ist und wer sie leisten kann, SWP-Studie, Nr. S 30/2007, Berlin. Vgl. auch: Eckhard Lübke- meier: Europa braucht Führung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Dezember 2007. 26 integration Ð 1/2008 Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft

Bereichen wie der Energie- und Klimapolitik, der Nahostpolitik und der Revision des Verfas- sungsvertrages die Erfolgsvariablen. Diese sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.

Wegbereiter der Vermittlungserfolge Faires Makeln: Die von allen Akteuren wahrgenommene Fairness und Unparteilichkeit des Vorsitzes als Verhandlungsleiter sind grundlegend für die Formulierung eines konsensfä- higen Kompromisses. Die Gratwanderung zwischen vermittelndem Vorsitz und der Vertre- tung nationaler Interessen war mit Blick auf die politischen und administrativen Ressourcen Deutschlands ein empfindliches Thema. Bei vielen Akteuren und Beobachtern bestand die Befürchtung, dass Deutschland als ‚größter‘ Mitgliedstaat seine (Eigen-)Interessen stark ak- zentuieren würde. Denn Erfahrungswerte zeigen, dass häufig kleine Mitgliedstaaten bessere Vermittler sind als große Mitgliedstaaten, denen es aufgrund stärkerer Partikularinteressen und innenpolitischer Koordinierungsanforderungen schwerer fällt, die notwendige Neutralität aufzubringen. Das Beispiel der britischen Ratspräsidentschaft im Jahre 2005 ist den meisten Beobachtern noch in guter Erinnerung. Aufgrund starker nationaler Interessen und den daraus resultierenden Beschränkungen, war die britische Regierung in wichtigen Verhandlungen (zum Beispiel über die finanzielle Vorausschau 2007-2013) nur bedingt handlungsfähig.9 Eine gute Erfüllung der Vermittlungsfunktion setzt voraus, dass die vorsitzstellende Re- gierung Konflikte zwischen dem nationalen Interesse, das sie als Delegation im Rat zu ver- treten hat, und dem Unparteilichkeitsgebot der Ratspräsidentschaft vorab ausräumt. Um das Vertrauen der Mitgliedstaaten in seine Neutralität nicht zu gefährden, muss der Vorsitz dort, wo er ein starkes nationales Interesse geltend macht, dieses für alle Delegationen im Rat of- fenlegen und Vorbehalten der Mitgliedstaaten bereits vor Beginn seiner Amtszeit durch ver- trauensbildende Maßnahmen begegnen. In jedem Fall muss sich der Vorsitz bemühen, trotz ausgeprägter Eigeninteressen mehrheitsfähige Kompromissvorschläge im Rat und gegebe- nenfalls gegenüber dem Parlament vorlegen zu können. Zur Überraschung vieler Beobachter gelang es dem deutschen Vorsitz, trotz eigener Inter- essen im Rat akzeptable Kompromissvorschläge einzubringen, die die Meinungen einer gro- §en Mehrheit der Delegationen beziehungsweise eine Konsenslinie widerspiegelten. In eini- gen Fällen wich der Vorsitz potenziellen Neutralitätskonflikten, die sich aufgrund ausgeprägter nationaler Präferenzen anbahnten, mittels bewährter Instrumente geschickt aus. Diese Konflikte wurden beispielsweise durch den Umweg über die EU-Institutionen um- schifft. So wirkte die Bundesregierung in der Migrationspolitik schon unter der finnischen Ratspräsidentschaft 2006 darauf hin, dass die Kommission durch den Europäischen Rat beauf- tragt wurde, einen Bericht zur Migration über die östlichen EU-Außengrenzen vorzulegen. Auch in der Europäischen Nachbarschaftspolitik ließ Berlin eigene Ideen zur Weiterentwick- lung dieses Politikfeldes in Kommissionspapiere einflie§en, die unter finnischem Vorsitz au- torisiert wurden und somit nicht direkt Deutschland zugeschrieben werden konnten. Beide Beispiele zeigen, dass eine erfolgsorientierte Ratspräsidentschaft, die ihre nationalen Eigenin- teressen mit der Rolle des Vermittlers in Einklang bringen will, lange vor ihrer offiziellen Amtszeit beginnt. Auch das Beispiel der Madrider Gruppe der ‚Freunde der Verfassung‘ zeigt, wie der Vorsitz seine eigene Position und Prioritäten über Gruppen gleich gesinnter Mitglied- staaten vertreten lassen kann, ohne die Glaubwürdigkeit als fairer Makler zu gefährden.10

9 Vgl. Kai Oppermann: Die britische Ratspräsidentschaft 2005: Zwischen europäischen Erwartungen und innen- politischen Restriktionen, in: integration 1/2006, S. 23-37. 10 Neue Zürcher Zeitung: Die «EU-Verfassungs-Freunde» sammeln sich. Treffen der Befürworter des Entwurfs in Madrid, 27.01.2007. Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft integration Ð 1/2008 27

Wenn dennoch offen verfolgte nationale Interessen auf Unmut im Rat stie§en (siehe zum Beispiel die deutsche Position zur Aufhebung der Sanktionen gegenüber Usbekistan), reagierte die Bundesregierung zügig und zeigte sich kompromissbereit, um jedem Glaubwürdigkeits- verlust vorzubeugen, der die Vermittlungsfähigkeit auch in anderen Dossiers beschädigt hätte. Für die erfolgreiche Wahrnehmung der Impulsgeberfunktion im Verhältnis zur Vermitt- lungsfunktion scheint grundlegend zu sein, dass eine Initiative von den anderen Akteuren als effektive Antwort auf ein bestehendes, vom Ratsvorsitz identifiziertes europäisches Problem angesehen wird. Auch hier muss das vorsitzführende Land die Mitgliedstaaten im Rat mög- lichst vor Beginn der Amtszeit, mitunter über den Umweg dritter Spieler davon überzeugen, dass das von ihm angestrebte Projekt im europäischen und nicht nur im Eigeninteresse des Vorsitzlandes liegt. Erst dann können die anderen Delegationen das nötige Vertrauen in die Neutralität der Präsidentschaft aufbauen. In der wissenschaftlichen Literatur wird zumeist argumentiert, dass angesichts der existierenden EU-Programmplanung der Spielraum für Ratspräsidentschaften gering ist, völlig neue Projekte anzustoßen. Entgegen dieser An- nahme ebneten die deutschen Akteure hinter den Kulissen des Rates und in Kooperation mit der Kommission bereits 2006 aktiv den Weg für eigene Initiativen und konnten gleich meh- rere davon auf der europäischen Agenda platzieren. Die Überführung großer Teile des Ver- trages von Prüm in den EU-Rechtsrahmen – eine maßgeblich deutsche Initiative zur Verbesserung des polizeilichen Datenaustausches Ð konnte der Vorsitz beispielsweise durch viel Überzeugungsarbeit den Mitgliedstaaten bereits vor Beginn seiner Amtszeit als ‚europä- isches‘ Projekt nahebringen. Minimale innerstaatliche Differenzen: Konkurrierende Auffassungen auf innenpoliti- scher Ebene können die Handlungsfähigkeit der Ratspräsidentschaft auf europäischer Ebene beeinträchtigen und sie somit in der Erfüllung ihrer Funktionen behindern. Wenn Fachmi- nisterien gegenläufige Positionen zu einem Verhandlungsgegenstand vertreten, führt dies dazu, dass der EU-Vorsitz entsprechende Dossiers in den Ratsverhandlungen gar nicht oder nur mit gro§en Reibungsverlusten innerhalb der jeweiligen Regierung vorantreiben kann. Auch Differenzen zwischen den Partnern einer Regierungskoalition, zwischen verschiede- nen innerstaatlichen Regierungsebenen oder zwischen Regierung und Parlament können sich negativ auf die Handlungsfähigkeit des Vorsitzes auswirken. In einigen Mitgliedstaaten wie Dänemark hat sich die Regel eingespielt, für den Zeitraum der Präsidentschaft eine poli- tische Waffenruhe zwischen allen Parteien in Parlament und Regierung zu vereinbaren. Auch im Fall des EU-Ratsvorsitzes Sloweniens im ersten Halbjahr 2008 wurde eine solche Übereinkunft zwischen Regierung und Parlament fixiert. Damit wird gerade in Ländern, in denen das nationale Parlament ein gro§es Mitspracherecht in der Formulierung der Europa- politik hat und die Regierung an einer vergleichsweise kurzen Leine hält, der Tatsache Rechnung getragen, dass die Regierung in ihrem Amt als Ratsvorsitz über einen möglichst großen Handlungsspielraum zur Kompromissfindung verfügen muss. Im Falle Deutschlands beeinträchtigten Differenzen auf nationaler Ebene die Vermitt- lungsleistung des Vorsitzes nur vereinzelt. Zumeist handelte es sich um interministerielle und parteipolitisch aufgeladene Konflikte der Regierungskoalition, die die Handlungsfähig- keit des Vorsitzes nur zeitweise beschränkten. Exemplarisch können hier die Auseinander- setzungen zwischen dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie (CSU) und dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (SPD) über die Begrenzung der Schadstoffemissionen für Kraftfahrzeuge angeführt werden. Dennoch drangen solche der Ressortautonomie geschuldeten Zuständigkeitskonflikte in den wenigsten Fällen an die für alle Akteure sicht- und in der Folge nutzbare Oberfläche. Offensichtlich waren die Berli- ner Ministerien intensiv bemüht, diese Konflikte zumindest für den Zeitraum der Ratspräsi- 28 integration Ð 1/2008 Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft dentschaft zugunsten der Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit Deutschlands als neutra- lem Vermittler auf europäischer Ebene aus dem Weg zu räumen. Klar definierte, gewichtete Prioritäten und konzentrierte Vermittlungsressourcen: Ein weiterer Faktor war für die erreichten Vermittlungserfolge besonders wichtig: die strategi- sche Konzentration der Vermittlungsressourcen auf klar definierte Prioritäten der Ratspräsi- dentschaft. Eine frühzeitige Definition der Prioritäten und Ziele ist Voraussetzung für deren Hierar- chisierung und die darauf aufbauende effiziente Konzentration der Management- und Ver- mittlungsressourcen sowie für die Ausarbeitung strategisch-taktischer Vorlagen zur Umset- zung der Ziele. In diese Phase gehört auch die Abstimmung mit den Vorgänger- und Folgepräsidentschaften, die dazu dient, die Kohärenz und Kontinuität der europäischen Poli- tik zu gewährleisten. Entsprechende Planungsgespräche müssen auch mit der Kommission geführt werden, da diese die Jahresgesetzgebungsprogramme verantwortet und die Arbeiten des Rates sich daran orientieren müssen. Kohärenzsicherungsprozesse müssen darüber hin- aus mit Blick auf die interinstitutionellen Zeitpläne zu laufenden Verhandlungen und die vom Europäischen Rat autorisierten Mehrjahresprogramme in einigen Politikfeldern recht- zeitig eingeleitet und innerhalb der Administration des vorsitzführenden Landes in und zwi- schen den Fachressorts abgestimmt werden. Vorbereitung und Planung des deutschen Vor- sitzes begannen auf nationaler Ebene nach dem Regierungswechsel im Herbst 2005. Diskontinuitäten gegenüber den Arbeiten der finnischen Präsidentschaft ergaben sich durch intensive Abstimmung kaum. Unter deutschem Vorsitz hatte die Wiederbelebung der Verhandlungen über den Verfas- sungsvertrag oberste Priorität. Um deren Erfolg zu gewährleisten, ging der deutsche Vorsitz auch in anderen Verhandlungsfeldern sehr weitgehende Kompromisse gegenüber Ländern wie Polen (in den letztlich gescheiterten Verhandlungen mit Russland über ein neues Part- nerschafts- und Kooperationsabkommen) und Frankreich (in den WTO- Verhandlungen im Rahmen der DOHA-Runde) ein, deren Zustimmung im Konflikt über den Verfassungsver- trag beziehungsweise den dann sogenannten Reformvertrag von zentraler Bedeutung war. Diese Form der Gewichtung von Kompromissen war nur möglich, weil sich die verhand- lungsführenden Ministerien der Bundesregierung frühzeitig strategisch wie taktisch ab- stimmten und während der Verhandlungen über das Bundeskanzleramt koordiniert wurden (beziehungsweise sich koordinieren lie§en). Umfassende Konsultationen und Inklusivität: Politikfeldübergreifend trug außerdem die umfassende Nutzung bilateraler Konsultationen und informeller Gesprächsrunden auf allen Arbeitsebenen sowie bei Expertenseminaren ma§geblich zum Erfolg des deutschen Vorsit- zes bei. Seit den letzten Erweiterungsrunden klagen Delegationen im Rat immer wieder, dass die Entscheidungsfindung aufgrund der gewachsenen Anzahl der Vetospieler überaus schwierig geworden sei. Dies hat die Verhandlungsatmosphäre in den Ratsarbeitsgremien drastisch verändert. Die Zeiten, in denen sich eine kleine Gruppe Bekannter relativ offen und ausführ- lich austauschen konnte, gehören zumindest für die formalen EU-27-Kreise der Vergangen- heit an. Die Auslagerung von Verhandlungen und Kompromissfindungsprozessen aus die- sem engen formellen Rahmen ist daher nicht unbedingt Ausdruck der Geringschätzung des Ratssystems, sondern eine Reaktion auf die veränderte Verhandlungssituation im Rat. Insbe- sondere im Bereich der GASP sowie der polizeilichen und strafjustiziellen Zusammenarbeit wurde unter deutschem Vorsitz deutlich, dass angesichts der Anzahl von 27 Mitgliedstaaten die einstimmige Entscheidungsfindung im Rat die Leistungsfähigkeit des Vorsitzes stark be- einträchtigt. Gerade im Bereich der polizeilichen und strafjustiziellen Zusammenarbeit stan- Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft integration Ð 1/2008 29 den viele hochsensible Ma§nahmen unter gro§em Termindruck zur Entscheidung an. Die deutschen Akteure vermittelten hier eine gro§e Bandbreite von Kompromissen durch inten- sive Konsultationen nicht nur auf den unteren Arbeitsgruppenebenen des Rates, sondern auch direkt unter den Ministern und Staatssekretären. Positiv auf die Vermittlungstätigkeit wirkte sich in diesem Zusammenhang das relativ hohe Maß an Inklusivität, das heißt die Einbeziehung möglichst vieler – kleiner wie großer – Mitgliedstaaten im Vorfeld der Ver- handlungen aus. Der Erfolg der beobachteten Bilateralisierung der Verhandlungen beziehungsweise der Konsultation in kleinen, informellen Gruppen und der Verlagerung der Entscheidungsfin- dung auf die höchsten politischen Ebenen stellt im Umkehrschluss aber auch eine Bankrott- erklärung für die derzeitigen formalen Entscheidungsmodalitäten innerhalb des Rats dar. Gleichzeitig verweist dieser Erfolg auf die Grenzen des derzeit für den Ratsvorsitz gel- tenden Rotationssystems: Konsultationen in einem ähnlich großen Umfang, wie sie der deutsche Vorsitz in einer breiten Palette von Dossiers führte, um die schwerfälligen Ent- scheidungsprozesse zu beschleunigen, sind von Ratspräsidentschaften ‚kleinerer‘ Staaten mit weniger üppigen Ressourcen nur in viel begrenzterem Maße zu leisten. Dieselben Vor- behalte gelten für die Übertragbarkeit des organisations- und vermittlungsintensiven Vorge- hens des Ratsvorsitzes in den Verhandlungen über die ‚Berliner Erklärung‘ und den Verfas- sungsvertrag. Den erst kürzlich beigetretenen Staaten mangelt es zudem an vergleichbaren Erfahrungen in der Verhandlungsführung und Kompromisserarbeitung. An diesen unter- schiedlichen Voraussetzungen werden die Grenzen des für den Ratsvorsitz geltenden Rotati- onssystems bei gegebenen Entscheidungsregeln deutlich erkennbar. Expertise und Engagement der zentralen Akteure: Das deutsche Beispiel zeigte nicht zu- letzt, wie wichtig die über lange Zeit aufgebaute und ständig vorgehaltene Fachexpertise, gewachsene persönliche Beziehungen und vor allem das Engagement der zentralen Akteure des Vorsitzes für den Verhandlungsverlauf und -erfolg sind. Die deutschen Akteure konnten in den für die Vorbereitung, Planung und Durchführung der Präsidentschaft zentralen Gre- mien auf umfangreiche EU-Expertise und zu einem großen Teil auch auf die nunmehr fünf- zigjährige Erfahrung mit der Organisation vergangener Präsidentschaften zurückgreifen. Hiervon profitierte der Vorsitz bei der Erfüllung seiner Management- und Steuerungsaufga- ben, vor allem aber bei seiner Vermittlungstätigkeit. Es muss zudem betont werden, dass die Kombination aus Expertise und persönlichem Einsatz – die sichtbare Entschlossenheit, einen Fortschritt in zentralen europäischen Ver- handlungen erreichen zu wollen Ð nicht nur auf der Ebene der leitenden Ministerialbeamten, sondern auch auf der Ebene der Regierungschefs, der Minister und Staatssekretäre den Aus- schlag für erfolgreiche Vermittlungen im Rat und gegenüber dem Europäischen Parlament geben können. Besonders augenfällig war dieser Erfolgsfaktor während der deutschen Amtszeit im Auftreten und im Engagement der Bundeskanzlerin und des Au§enministers, aber auch im gesamten Politikfeld der Innen- und Justizpolitik zu beobachten. Entsprechend seiner starken Stellung auf der nationalen Ebene profilierten sich das Bundesinnenministe- rium und Minister Schäuble auch auf europäischer Ebene mit einem ambitionierten Pro- gramm und einer Reihe an Vermittlungserfolgen. Die positiven Verhandlungsergebnisse in den Dossiers des Verfassungsvertrages, der Klima- und der Handelspolitik (transatlantischer Wirtschaftsraum) waren zu einem beträcht- lichen Teil auf das direkte Engagement und die guten Beziehungen der Bundeskanzlerin zu verschiedenen Staats- und Regierungschefs zurückzuführen. Gerade in der Klimapolitik schien ihr politisches Gewicht und Geschick notwendig, um die Verknüpfung von G-8- und EU-Verhandlungen optimal auszunutzen. Das Vorgehen bei der Initiative zum transatlan- 30 integration Ð 1/2008 Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft tischen Wirtschaftsraum zeigte zudem, dass eine Regierungschefin durch strategisch geplan- tes und taktisch durchkalkuliertes, persönliches Engagement die EU-Partner für ein neues Projekt zu gewinnen vermag. In diesem Fall gilt dies umso mehr, als die vom Kanzleramt koordinierte Initiative anfänglich nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch im deut- schen Bundeswirtschaftsministerium auf nicht unbeträchtlichen Widerstand stieß. Der Vergleich mit vorangegangenen Präsidentschaften größerer EU-Mitgliedstaaten – man denke an die französische oder britische Präsidentschaft in den Jahren 2000 und 2005 – zeigt, dass der starke persönliche Einsatz der Regierungschefin bis hin zur zentralen Leitung und Koordinierung etlicher Fachdossiers aus dem Kanzleramt heraus nicht einfach als gege- ben angenommen werden kann. Wendet man den Blick nach vorn, auf zukünftige Präsident- schaften, entstehen unter diesem Gesichtspunkt Bedenken etwa hinsichtlich der Leistungsfä- higkeit der tschechischen Ratspräsidentschaft. Es ist doch mehr als fraglich, wie viel Engagement die tschechische politische Elite, allen voran der Staatspräsident Klaus zeigen werden, um als EU-Ratsvorsitz eine überzeugende Agenda umzusetzen.

Vermittlungserfolge zu Lasten von Transparenz? Zu den größten Vermittlungserfolgen des deutschen Vorsitzes zählen die ‚Berliner Erklä- rung‘ und das Mandat zur Aushandlung des Lissabonner Reformvertrages. Während die oben genannten Erfolgsvariablen zukünftigen Präsidentschaften als allgemein bewährte Praktiken dienen können, wirft insbesondere die Analyse dieser Dossiers jedoch auch die Frage auf, ob das vom deutschen Vorsitz gewählte Vorgehen diskretionärer Verhandlungen auf der Grundlage absichtlich herbeigeführter Asymmetrien im Informationsfluss für an- dere, vergleichbare Fälle Modell stehen kann. Denn diese Praxis geht zu Lasten der Transpa- renz der politischen Prozesse und Ergebnisse. Die hohe Vertraulichkeit der Verhandlungen hat sich zwar als geeignet erwiesen, in einer politisch hochsensiblen Situation Einvernehmen zwischen den 27 mitgliedstaatlichen Regierungen zu erzeugen.11 Gleichzeitig bedeutet der Erfolg dieses Vorgehens aber eine Absage an das ursprünglich, auf dem Europäischen Rat von Laeken im Dezember 2001 konsentierte Ziel, Grundfragen und -lagen der Integration nicht länger hinter verschlossenen Türen in kleinem Kreis zu beraten.12 Die deutsche Rats- präsidentschaft machte jedoch zu keinem Zeitpunkt den Versuch, einen in die Bürgergesell- schaften hineinreichenden Konsens zu erzeugen. Der Nachteil dieses Vorgehens liegt auf der Hand: Bei erneuten Referenden über den Lissabonner Vertrag (in Irland ist dies Pflicht) besteht die Gefahr, dass sich die Bevölkerung eines oder mehrerer Länder wieder als Ve- tospieler der Umsetzung dieses Vertragswerkes in den Weg stellt. Die deutsche Präsidentschaft hatte mit der Einigung auf ein Mandat zur Einberufung der Regierungskonferenz ein Ergebnis erreicht, dass alle Staaten auf ein politisches Ziel ver- pflichtete: die rasche Ausarbeitung eines runderneuerten Vertragswerks.13 Diese Einigung stellt ein beachtliches Ergebnis dar. Das Risiko, dem sich Deutschland und seine Partner aufgrund des Verfahrens ausgesetzt haben, ist allerdings hoch. Denn ein Scheitern des Lissa- bonner Vertrages wäre nicht nur grundsätzlich, sondern auch im Hinblick auf die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union fatal: Das Reformmandat würde in diesem Fall als

11 Vgl. dazu auch Timo Goosmann: Die ‚Berliner Erklärung‘ – Dokument europäischer Identität oder pragmati- scher Zwischenschritt zum Reformvertrag?, in: integration 3/2007, S. 251-263. 12 Siehe dazu auch Wolfgang Wessels und Anne Faber: Vom Verfassungskonvent zurück zur ‚Methode Mon- net‘? Die Entstehung der ‚Road map‘ zum EU-Reformvertrag unter deutscher Ratspräsidentschaft, in: integra- tion 4/2007, S. 370-381. 13 Vgl. Rat der Europäischen Union: Schlussfolgerungen des Vorsitzes der Tagung des Europäischen Rates in Brüs- sel (21./22. Juni 2007), Dok. Nr. 11177/07, Anlage I: Entwurf des Mandats für die Regierungskonferenz, S. 15-30. Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft integration Ð 1/2008 31

‚zu eng‘ verurteilt und der ‚Übermacht‘ Deutschlands zugerechnet. Damit würde das Schei- tern des Lissabonner Vertrages mit der Rolle Berlins in der Europapolitik allgemein in Ver- bindung gebracht. Deutschlands Führungsanspruch in der Europäischen Union wäre damit schwer beschädigt. Welche Lehren können aus dem praktizierten Verfahren und dem hierbei ermittelten Funktionsprofil der deutschen Ratspräsidentschaft beim Blick auf das Dossier des Verfas- sungsvertrages für künftige Vorsitze gezogen werden? Offensichtlich ist eine alle Seiten be- friedigende Vermittlungsfunktion in institutionellen Krisen nur zum Preis extremer Transpa- renz (zum Beispiel in der Konventsmethode) oder starker Intransparenz zu haben. Wählt man die erste Variante Ð der Lissabonner Vertrag erlaubt dieses Verfahren explizit (Artikel 48 EUV) Ð, ist eine erfolgreiche Vermittlung verschiedener Interessenlagen leichter, wenn diese Funktion gemeinsam mit Akteuren gestaltet wird, die keinen mitgliedstaatlichen Wei- sungen unterliegen, sondern glaubhaft im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten agieren können. Greifen die Mitgliedstaaten dagegen auf die zuletzt praktizierte Variante der Ge- heimverhandlungen zurück, ist das Risiko groß, dass nicht nur einzelne Akteure, sondern auch die Ratspräsidentschaft die ‚Bodenhaftung‘ verlieren und an den Interessen und Be- dürfnissen der Bürgergesellschaften vorbei handeln. Der Preis hierfür wird spätestens bei Wahlen zu zahlen sein, wenn sich Bürger immer weiter von etablierten Parteien abwenden und ihre Stimme Populisten und Extremisten geben.

Ausblick: Fragezeichen des Lissabonner Vertrages Die Analyse wäre unvollständig, wenn sie die Funktionsbilanz nicht mit den im Lissa- bonner Vertrag vorgesehenen Änderungen im Ratssystem in Bezug setzen würde. Denn al- ler Voraussicht nach ändern sich mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags Mitte 2009 die Grundregeln der Vorsitzführung im Ratssystem: Ein auf zweieinhalb Jahre gewählter Präsi- dent sitzt dann dem Europäischen Rat vor und ein auf fünf Jahre von Rat und Parlament er- nannter „Hoher Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik“ (HVU-ASP) übernimmt den ständigen Vorsitz des Rates Außenbeziehungen. Das Rotationsprinzip wird in Zukunft auf die übrigen Fachministerräte beschränkt, wobei eine Verstetigung der 2007 erstmals getesteten, achtzehnmonatigen, Teampräsidentschaften angestrebt ist. An einer grundlegenden Reform des Systems aus Europäischem Rat und Ministerrat wird seit Ende der 1990er Jahre gearbeitet, um die organisatorischen Herausforderungen der 2004 und 2007 erfolgten Erweiterungen aufzufangen. Oberstes Ziel ist hierbei die Verbesserung der Handlungsfähigkeit des Ratssystems nach innen – im Hinblick auf seine Binnenstruktur der Fachratskoordination sowie auf die Zusammenarbeit des Rates mit dem Europäischen Parlament und der Kommission Ð und nach au§en gewesen Ð im Hinblick auf die Verbesse- rung der Kohärenz, Identifizierbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit in der Außen- und Si- cherheitspolitik.14 Gemäß den von allen 27 EU-Staaten bereits 2001 in der Erklärung von Laeken aufgestellten Anforderungen einer handlungsfähigeren, demokratischeren und trans- parenteren Europäischen Union wird schließlich auch die Verbesserung der Impulsgebungs- und Steuerungsfähigkeiten des Europäischen Rates und die Stärkung der Funktionen des Vorsitzes im Rat und im Europäischen Rat zur Koordinierung, Steuerung und Führung des Rates angestrebt. Diese Reformen werden sich nachhaltig auf die Handlungsmöglichkeiten ‚nationaler‘ Ratsvorsitze auswirken.

14 Vgl. ausführlicher Andreas Maurer: Auf dem Weg zur Staatenkammer. Die Reform des Entscheidungs- und Koordinationssystems im Ministerrat der EU, SWP-Studie, Nr. 6/2003, Berlin. 32 integration Ð 1/2008 Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft

Die Vorsitzfunktion in der Au§enpolitik Seit Jahren unterstreichen politische Akteure und Beobachter der Europapolitik die Not- wendigkeit verstärkter Kontinuität und Kohärenz in der EU-Außenpolitik. Der im Verfas- sungsvertrag vorgesehene und vom Lissabonner Vertrag in seinen Funktionen bestätigte HVU-ASP (Artikel 18 EUV) soll hier Abhilfe schaffen. Durch seine Doppelhutfunktion in Rat und Kommission wird er den Vorsitz in der neuen Ratsformation für Auswärtige Ange- legenheiten ausüben und ab 2009 gleichzeitig als Vizepräsident der Kommission fungie- ren.15 Hiermit wird die Koordinierung und Durchführung der EU-Außenbeziehungen ein- schließlich der zivilen und militärischen Aspekte europäischer Missionen in Absprache mit den nationalen Au§enministern im Rat erstmals auf ein Amt und eine Person konzentriert. Die Formulierung der gemeinsamen europäischen Außenpolitik fällt dem Hohen Vertreter ebenso zu wie eine internationale Repräsentationsfunktion. Mit der Koordinierungsfunktion in Rat und Kommission kommt ihm damit ein ungewöhnlich großer Aufgabenbereich und besondere Verantwortung in einem institutionellen Spannungsfeld zu. Er wird nicht nur vor die Herausforderung verschiedener Verfahren, Kompetenz- und Legitimationsquellen, son- dern auch in ein strukturelles Spannungsverhältnis zu anderen Akteuren gestellt. Denn ne- ben den nationalen Außenministern werden der Präsident der Kommission und der Präsident des Europäischen Rates im außenpolitischen Bereich agieren. Die Schaffung des neuen Außenamtes der Europäischen Union stellt zudem die 2002 ver- einbarte Reduzierung der Ratsformationen infrage. Denn sachlich nachvollziehbar ist die Wahrnehmung der Vorsitzrolle als ‚Ratsmitglied‘ bei gleichzeitiger Wahrnehmung der Rolle des Kommissionsamtes bisher nur im au§en- und sicherheitspolitischen Teil des Au- ßenrates. Eine entsprechende Personalunion für die gegenwärtig auch in dieser Ratsforma- tion behandelten Tagesordnungspunkte zur Au§enhandelspolitik und Entwicklungszusam- menarbeit würde dagegen die historisch gewachsene Eigenständigkeit und das Profil der Kommission sowie die Wahl der Kommissare in diesen Bereichen grundsätzlich infrage stellen. Organisatorisch könnte die Schaffung des neuen EU-Außenamts damit die Verknüp- fung und langfristige Zusammenführung von mindestens fünf Generaldirektionen in der Kommission mit zwei Direktionen im Generalsekretariat des Rates, den Wegfall wichtiger Kommissionsportfolios und damit eben auch prominenter Ernennungsmöglichkeiten für die Mitgliedstaaten bedeuten. Es wäre daher angebracht, die Einrichtung des neuen Außenamtes im Lichte der damit einhergehenden Struktur der Ratsformationen und -vorsitze auf allen Arbeitsebenen zu überprüfen. Sollte sich der HVU-ASP künftig vor allem auf das enge The- menfeld der GASP und Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik konzentrieren, dann müsste zwangsläufig darüber nachgedacht werden, die 2002 abgeschaffte Ratsforma- tion ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ wiederherzustellen sowie die Neugründung eines Au- ßenhandelsrates zu erwägen, um die Funktionen der Kommission und ihre Rechenschafts- pflicht gegenüber dem Europäischen Parlament aufrechtzuerhalten. Auf jeden Fall kommt dem HVU-ASP in seiner Doppelhutfunktion nicht nur die Aufgabe zu, die Kohärenz und Konsistenz des auswärtigen Handelns der Union zu befördern, son- dern auch für einen Ausgleich zwischen der zwischenstaatlichen Logik der GASP und der supranationalen Logik der Gemeinsamen Handelspolitik (GHP) zu sorgen und dabei zu ge- währleisten, „dass die zwischenstaatliche Logik der GASP die GHP nicht negativ beein- flusst“.16

15 Innerhalb der Kommission wird der HVU-ASP mit den Zuständigkeiten der bisherigen Kommissarin für die Außenbeziehungen der Europäischen Union betraut sein. Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft integration Ð 1/2008 33

Potenzielle Macht des neuen Präsidenten: ein gestärkter Europäischer Rat Der Präsident des Europäischen Rates soll ab 2009 für eine Zeitspanne von jeweils zwei- einhalb Jahren die Beratungen des Europäischen Rates leiten und diesem – relativ – neuen Organ der Europäischen Union vorsitzen. In dieser Funktion ist er auch für die Vorbereitung und Kontinuitätssicherung der Gipfeltreffen zuständig, wobei er mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission kooperieren und sich auf die Vorarbeiten des Rates ‚Allgemeine Angelegenheiten‘ stützen soll. Darüber hinaus ist der Präsident im Lissabonner Vertrag auf- gerufen, ãauf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft, unbeschadet der Befugnisse des Ho- hen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ wahrzunehmen (Arti- kel 15 Absatz 6 EUV). Diese Aufgabenbeschreibung ist wenig aussagekräftig. Der um diesen Vertragsartikel ge- worfene Schleier lichtet sich erst beim Blick auf die im Lissabonner Vertrag angeführten Handlungsermächtigungen des Europäischen Rates. Denn erst diese geben das sachliche Aufgabenspektrum des Vorsitzenden des Europäischen Rates wieder. Nach Artikel 15 Ab- satz 1 EUV gibt der Europäische Rat nun „der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten fest“. Diese Rollendefinition lehnt sich an die gültige Funktionszuschreibung aus dem Vertrag von Nizza an. Gleichwohl gehen die im Lissabonner Vertrag einzeln aufgeführten Aufgaben des Euro- päischen Rates weit über die in Artikel 15 Absatz 1 EUV definierte Rolle hinaus. Der Euro- päische Rat wird künftig über Beschlussfassungs-, Benennungs-, Wahl- und Abberufungs- rechte verfügen: Beschlussfassungsrechte institutioneller Art erhält der Europäische Rat im Hinblick auf die Zustimmung zum Vorschlag über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, zur Festlegung der Zusammensetzung der einzelnen Ratsformationen, zur Festlegung des Rotationsprinzips in den Ratsformationen, zur Verlängerung der Ausnahmebestimmungen im Protokoll über die Vertretung der Bürger im Europäischen Parlament und die Stimmen- gewichtung im Rat, zur Überführung besonderer Rechtsetzungsverfahren in das normale Gesetzgebungsverfahren, zur Überführung der Einstimmigkeitspflicht im Rat in den Ent- scheidungsmodus der qualifizierten Mehrheit, zur Festlegung der paritätischen Rotation in- nerhalb der Kommission, und zur Prüfung der vorgeschlagenen Änderungen zu den Verträ- gen und der Festlegung eines Mandats für neuerliche Regierungskonferenzen. Politikbereichsspezifische Beschlussfassungsrechte überträgt der Vertrag dem Europä- ischen Rat zur Verabschiedung allgemeiner GASP-Beschlüsse, zur Überführung des Ent- scheidungsmodus des Rates in der GASP von der Einstimmigkeit in die qualifizierte Mehr- heit, zur Feststellung, dass die gemeinsame Verteidigungspolitik zu einer gemeinsamen Verteidigung führt, zur Festlegung von Leitlinien hinsichtlich der Abkommen der Union mit einem Mitgliedstaat, der aus der Union auszutreten beabsichtigt, zur Fristverlängerung im Hinblick auf die Anwendung der EU-Verträge in einem Mitgliedstaat, der aus der Union austritt, zur Verabschiedung von Schlussfolgerungen zu den Grundzügen der Wirtschaftspo- litik der Mitgliedstaaten und der Union, zur Verabschiedung von Schlussfolgerungen zur Beschäftigungslage, zur Festlegung der strategischen Leitlinien für die legislative und ope- rative Programmplanung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, zur Festle-

16 Vgl. Europäisches Parlament: Entwurf einer Stellungnahme des Ausschusses für Internationalen Handel für den Ausschuss für konstitutionelle Fragen zu dem Vertrag zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, EP-Dok. Nr. 2007/2286(INI), 4. De- zember 2007. 34 integration Ð 1/2008 Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft gung der strategischen Interessen und Ziele der Union, sowie zur Verabschiedung von Be- schlüssen über andere Bereiche des außenpolitischen Handelns der Union, die Beziehungen der Union zu einem Land oder einer Region, oder zu Fragen mit verteidigungspolitischen Bezügen, und zur Einschätzung der Bedrohungen, denen die Union ausgesetzt ist. Wahl-, Benennungs- und Abberufungsrechte macht der Europäische Rat künftig geltend bei der Wahl seines Präsidenten und seiner vorzeitigen Entpflichtung, der Benennung des Präsidenten der Europäischen Kommission, der Ernennung (nach Zustimmung des Europä- ischen Parlaments und des Kommissionspräsidenten) und Abberufung des HVU-ASP. In ihren Wirkungen nicht eindeutig definierte Beschluss- und Weisungsrechte macht der Europäische Rat gegenüber dem Ministerrat zur Bestimmung der strategischen Interessen der Union und zur Festlegung der Ziele ihrer Gemeinsamen Au§en- und Sicherheitspolitik geltend. Darüber hinaus verfügt der Europäische Rat ab 2009 über ein Konsultationsrecht gegenüber jedem Mitgliedstaat, wenn dieser auf internationaler Ebene tätig wird oder eine Verpflichtung eingeht.

Legitimität und reale Macht Diese Stärkung des Europäischen Rates im interinstitutionellen Gefüge der Union wurde seit Mitte der 1990er Jahre von den größeren EU-Mitgliedstaaten mit viel Einsatz und letzt- lich erfolgreich vorangetrieben. Sowohl deutsch-französische als auch spanisch-italienische und verschiedene britische Initiativen haben hierzu entscheidend beigetragen. Im Ergebnis wird über die Aufgabenzuweisungen des Europäischen Rates in den Bestimmungen des den EG-Vertrag künftig ersetzenden ‚Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union‘ (AEUV) ein Organ ins Leben gerufen, dessen Zuständigkeiten nicht nur wie bislang rein im- pulsgebender Natur sind. Die institutionelle Balance zwischen dem Europäischen Parla- ment, dem Rat und der Kommission wird dabei zu Lasten der Kommission und des Parla- ments verändert. Erst die genannten, neuen Handlungsermächtigungen des Europäischen Rates geben das sachliche Aufgabenspektrum und Potenzial des künftigen Präsidenten des Europäischen Ra- tes wieder. Fraglich ist hierbei aber gerade angesichts der Funktionsbilanz des deutschen EU-Vorsitzes zweierlei: Erstens steht zur Debatte, ob der künftige Präsident oder die Präsidentin über ausrei- chende personelle, administrative, finanzielle und politische Ressourcen verfügen wird, um Führungs-, Leitungs-, Vorbereitungs-, Kontinuitätssicherungs-, Konsensförderungs- und Vertretungsaufgaben gerecht zu werden, wie sie gegenwärtig von den Staats- und Regie- rungschefs der jeweils vorsitzführenden Länder wahrgenommen werden. So drängt sich die Frage auf, ob der neue Präsident eine ähnliche Impulsgeberkraft und Repräsentationsleistung entwickeln kann wie sie vereinzelt von den heutigen Staats- und Regierungschefs in ihrer Funktion als Ratspräsident/in ausgeübt wird. Das strategische Agieren der Ratspräsidentin Merkel, die Dramaturgie der Präsidentschaft und ihres adminis- trativen Unterbaus im Hinblick auf die Zuspitzung von Problemlagen und deren feierlich verkündete ‚Lösung‘ auf zwei Europäischen Ratsgipfeln hatte entscheidenden Einfluss auf die EU- und G-8-Entscheidungen in der Klimapolitik oder die Entwicklung hin zu einem transatlantischen Wirtschaftsraum – allerdings unter Nutzung vielfältiger nationaler Res- sourcen des deutschen Vorsitzes wie die guten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Wie wird der Präsident des Europäischen Rates diese Ressourcen aufbauen und ihren Man- gel kompensieren? Ebenso zentral war die Vermittlungsrolle Merkels in den Verhandlungen über die Ände- rungen der europäischen Verträge. Welche Funktion werden Staats- und Regierungschefs in Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft integration Ð 1/2008 35

Zukunft in solchen Verhandlungen einnehmen? Werden Sie als Schattenpräsidenten weiter- hin die Fäden in der Hand halten, an der Seite des Präsidenten des Europäischen Rates agie- ren oder ihre zentrale Rolle an ihn abtreten? Verloren geht im neuen System auch die Repräsentationsrolle der derzeitigen EU-Rats- präsidenten gegenüber ihren nationalen Öffentlichkeiten. Die deutsche EU-Ratpräsident- schaft diente der Bundesregierung nicht nur zur Profilierung auf der europäischen Ebene, sondern eben auch auf der nationalen. Die derzeitige herausgehobene Rolle der Regierungschefs als EU-Ratspräsidenten, die in dem ab 2009 gültigen System nicht kompensiert wird, macht die Entwicklung gewisser An- tagonismen zwischen den nunmehr auch während ihrer eigenen Präsidentschaft zu ‚norma- len‘ Mitgliedern des Europäischen Rates degradierten Regierungschefs und dem neuen Prä- sidenten wahrscheinlich. Angesichts ihres möglichen Bedeutungsverlustes scheint der Anreiz der Staats- und Regierungschefs, den neuen Vorsitzenden des Europäischen Rates mit umfassenden Ressourcen und Aufgaben auszustatten und das Amt mit einer starken Per- sönlichkeit zu besetzen, nicht sonderlich groß. Auf die Beantwortung dieser Grauzonen des neuen Vertrages sollte sich die praktische Europapolitik rasch und konsequent einstellen. Zweitens ist fraglich, ob der neue Präsident oder die neue Präsidentin des Europäischen Rates aufgrund des umfänglichen Aufgabenzuschnitts des Europäischen Rates über ein aus- reichendes Maß an Legitimität verfügen wird. Denn während die auf sechs Monate ernannte EU-Ratspräsidentin Merkel dem Deutschen Bundestag gegenüber rechenschaftspflichtig war, gilt für den künftigen, gewählten EU-Vorsitz nichts Entsprechendes. Weder die natio- nalen Parlamente noch das Europäische Parlament verfügen über irgendwie geartete Instru- mente, um regelaverses Verhalten des Präsidenten des Europäischen Rates zu sanktionieren. Diese weitgehenden Befugnisse des Europäischen Rates und seines Vorsitzenden sollten einer baldigen Überprüfung und gegebenenfalls einer klaren Begrenzung unterzogen wer- den. Dies kann erstens durch die Einführung von Anhörungs- oder weitergehenden Kon- troll- und Mitwirkungsrechten des Europäischen Parlaments erreicht werden, vor allem in denjenigen Fällen, in denen der Europäische Rat über vertragliche Beschlussfassungsrechte verfügt, die mittelbare Auswirkungen auf die Gesetzgebung der Union haben. Zweitens soll- ten sanktionsbewährte, selbstständige Anhörungs-, Zitier-, Frage- oder Interpellationsrechte des Europäischen Parlaments gegenüber dem Präsidenten des Europäischen Rates einge- führt werden, um die parlamentarische Legitimation dieses neuen Instituts europäischer Ei- nigungspolitik abzusichern.

Organisationsprobleme der Zukunft Außerdem ist in der europäischen Gesetzgebung – angesichts der in den letzten Jahren beobachteten Realentwicklung des Europäischen Rates im Verhältnis zu den anderen Fachräten – anzunehmen, dass sich seine Rolle als höchste Schlichtungs- und Schiedsin- stanz in denjenigen Fällen weiterentwickeln wird, in denen mehrere Fachratsformationen zu gegensätzlichen Haltungen und Positionen im Gesetzgebungsprozess gelangen, und in de- nen der Allgemeine Rat nicht zu einer Einigung kommt. Der Europäische Rat wird sich in diesem Fall zu einer Art ‚Oberrat‘ entwickeln, der nach dem Lissabonner Vertrag gemäß Ar- tikel 15 Absatz 1 EUV zwar nicht „gesetzgeberisch tätig“ wird, aber doch als letzte Instanz politische Beschlüsse verabschiedet und diese faktisch als Weisungen an die einzelnen Fachratsformationen weiterleitet. Diese Entwicklung wird dann aber auch Konsequenzen für die innerstaatliche Koordinierung der Europapolitik, die demokratische Kontrolle und die Vorbereitung und Durchführung künftiger Präsidentschaften in den Fachräten nach sich ziehen: 36 integration Ð 1/2008 Bilanz und Zukunft der Ratspräsidentschaft

Tendenziell wird der Druck auf die Staats- und Regierungschefs sowie die ihnen ange- schlossenen Verwaltungsapparate zunehmen, entsprechende Koordinierungs- und Wei- sungsstrukturen aufzubauen beziehungsweise weiterzuentwickeln. Diese Entwicklung hat mittelbare Folgen für das Verhältnis der Außenminister (als Vertreter im Allgemeinen Rat) zu den Fachministern (als Vertreter in den Fachräten) sowie für die Einrichtung spezifischer Konsultations- und Koordinierungsmechanismen zwischen den ‚national‘ geführten Fach- präsidentschaften und den Gipfelvorsitzen des Präsidenten des Europäischen Rates. Unklar ist nämlich, wer in längerfristig angelegten, strategischen Projekten wie der Energie- und Klimapolitik die Fäden zwischen Fach- und Gipfeltreffen zusammenführt, wer die heute üb- lichen ‚Schlussfolgerungen des Vorsitzes‘ künftig nicht nur formal autorisiert, sondern auch gegenüber Dritten im Sinne des Präsidenten des Europäischen Rates glaubwürdig vertritt. Werden sich Staats- und Regierungschefs hinter ‚ihren‘ Präsidenten stellen und sich selbst auch in denjenigen Feldern zurücknehmen, in denen die Versuchung nationaler ‚Nebenprä- sidentschaften‘ groß bleibt, sei es in der Außenpolitik oder in national bedeutsamen The- menfeldern? Oder werden sie auf die weiterhin bestehende Option ausweichen, häufiger ‚normale‘ Fachratssitzungen in Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs abzuhal- ten, um ihren Fachpräsidentschaften Profil und Prestige zu verleihen? Und damit dann aber auch den Präsidenten des Europäischen Rates faktisch zu demontieren? Und auf wen stützt sich der Präsident innerhalb des Generalsekretariats? Wird ihm ein neuer Dienst zugeordnet oder kann er auf alle bestehenden Generaldirektionen des Sekretariats zurückgreifen? Wäh- rend für den ersten Fall bereits heute Vorkehrungen im Hinblick auf die Personalstruktur und -rekrutierung zu treffen wären, ist für den letzten Fall ein Mechanismus zu schaffen, der Konflikte um Zugriffe auf Personal und Finanzen mit dem Generalsekretär des Rates sowie dem HVU-ASP kanalisiert. Konsequenzen sind auch für die innerstaatliche Strukturierung des Verhältnisses zwi- schen den nationalen Parlamenten und ihren Regierungen zu erwarten. Denn je nach Ausge- staltung der Beziehungen zwischen Regierung und Parlament in EU-Angelegenheiten wer- den sich Kooperations-, Kontroll- und Konfliktstrukturen verändern. Außenpolitisch kann die Stärkung des Europäischen Rates im positiven Fall, durch die gemeinsame Positionierung der Staats- und Regierungschefs gegenüber Drittstaaten zu einer Stärkung der Union insgesamt führen. Demgegenüber bleibt allerdings die Gefahr einer Blo- ckade des Europäischen Rates als politisch bedeutendstes Entscheidungsgremium der Staa- ten weiterhin bestehen, was dann zu einem Ausweichen einzelner Staatengruppen auf die ‚verstärkte Zusammenarbeit‘ führen kann. Diese Option birgt im Endeffekt die Gefahr der Aushöhlung der Union auf rein wirtschaftliche Zusammenhänge. Entscheidend für das Funktionieren des neuen Systems im Europäischen Rat wird somit sein, welche Rolle die Mitglieder des Europäischen Rates dem Präsidenten im Alltag seiner Arbeit zugestehen wollen. Da er kein einzelstaatliches Amt innehaben darf, das hei§t ihm eine direkte Hausmacht fehlt, kann er – und hier lässt der Vertrag von Lissabon vieles offen – zum Spielball der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat werden, genauso aber aufgrund seiner Persönlichkeit eine starke Rolle gegenüber allen Organen der Europäischen Union spielen, oder sich genötigt sehen, seine Stärke aus der Zusammenarbeit mit den ande- ren europäischen Institutionen zu beziehen. Die Europäische Union, Kirchen und Religionen: Rückblicke auf eine Kontroverse

Heinrich Schneider*

„Gott und die Kirchen – hinein in die Verfassung!“ – ein erledigtes Thema? Der Vertragsentwurf über eine ‚Verfassung für Europa‘ (VVE) ist Vergangenheit; im- merhin kam es seither zur Einigung über den ‚Vertrag von Lissabon‘, nun hofft man auf die Ratifizierung. Inwieweit der Ertrag der Verfassungsarbeit über die Krise hinweggerettet wurde war umstritten – weil die Kriterien dafür nicht selbstverständlich sind, aber auch, weil vom Urteil darüber für manche Länder die Nötigung zu einem Referendum abhängt. Eine Neuerung ist dabei kaum erörtert worden: Der Artikel über den Status der Kirchen, religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften und Vereinigungen, sowie über den von der Union mit ihnen zu pflegenden Dialog wurde nicht mehr thematisiert. Ganz selbstver- ständlich ist das nicht, denn die Bestimmung bekräftigt zumindest implizit den Charakter der Union als ein Gemeinwesen, dessen Raison nicht auf „Systemintegration“ (im Begriffsver- ständnis von Jürgen Habermas)1 reduziert werden kann. Wozu sollte der institutionalisierte Dialog mit Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gut sein, wenn die Union nur dem besseren Interdependenzmanagement und der Interessenbündelung dienen, wenn sie nur ein (wenn auch nicht mehr auf die Wirtschaftsintegration beschränkter) Zweckverband sein soll, und nicht auch eine politisch verfasste Wertegemeinschaft? Insofern hätten jene, die die ‚Polity‘-Qualität des Staatenverbunds zurechtstutzen wollten, ähnlich wie die Liqui- dierung des Artikels über die Symbole der Union auch die des sogenannten Kirchenartikels fordern können. Er blieb erhalten. ‚Causa finita‘, möchte man meinen. ‚Die Religionen und die Europä- ische Union‘ – das Thema ist wohl bis auf Weiteres von der Tagesordnung abgesetzt. Soll man es in Frieden ruhen lassen? Da das Thema in der Phase der Verfassungsarbeit die Gemüter da und dort in erstaunli- chem Maße bewegt hat, könnte eine Nachbetrachtung nützlich sein.

Die Religionsgemeinschaften und ihre Anliegen Ð ein Element der Europapolitik In Erinnerung wird am ehesten noch ein kirchliches Anliegen geblieben sein, für das sich – neben höchsten katholischen Würdenträgern, mit dem Papst an der Spitze – auch etliche Mitgliedstaaten (nicht nur Polen) engagierten, wohingegen andere sich massiv widersetzten: Neben dem sogenannten Gottesbezug in der Verfassungspräambel ging es um die Betonung des christlichen Erbes Europas, oder um das Bekenntnis zu „christlichen Werten“. Viele meinten: nun erst, mit der Debatte darüber, hätte die viel diskutierte „Rückkehr der Religion in die Politik“ endlich auch die Europäische Union erreicht. Ganz richtig ist das nicht, auch wenn lange Zeit hindurch Verknüpfungen zwischen Euro- papolitik und Religionsangelegenheiten wenig Aufmerksamkeit fanden. Immerhin brachten Gegner der Integration in deren Frühzeit ihre Abneigung auf die Formel „Vom Vatikan ge- zeugt – von Washington gesäugt“; die Sympathiebekundungen der römisch-katholischen

*1 Prof. Dr. Heinrich Schneider, Universität Wien; Institut für Europäische Politik, Berlin. 1 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1 und 2, Frankfurt am Main 1981. 38 integration Ð 1/2008 EU, Kirchen und Religionen

Kirche für die europäische Einigung waren tatsächlich eindeutig und zahlreich.2 Nur selten berichteten die Medien über spektakuläre Vorgänge. Einer davon war der ‚Fall Buttiglione‘; damals sprachen manche Kommentatoren von einem „Kulturkampf“; namhafte Europapoli- tiker von einem „Kreuzzug“: Sollte es ihn wirklich gegeben haben, dann war er partei- und verfassungspolitisch instrumentalisiert worden (im Machtkampf zwischen Parlament und Kommission, wobei einige Akteure auch dem italienischen Regierungschef Silvio Berlus- coni eins auswischen wollten). Doch hie§ es auch: nun sei endlich einmal der oft camou- flierte Widerspruch zwischen kirchlichen Glaubenslehren und den Grundsätzen des libera- len Rechtsstaats offenkundig geworden.3 Freilich: das war eine Episode. Das Ringen um Präambelformeln und um die besondere Würdigung der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die in Anbetracht ihres „besonderen Beitrags“ zur europäischen Sache zu Partnern eines speziellen Dialogs werden sollten (unterschieden von dem mit den „repräsentativen Verbänden“ und mit der „Zivilgesellschaft“), hatte grundsätzlicheren Charakter.

Die ‚Invocatio Dei‘, ihre Alternativen – und die Motivhintergründe Was die Präambel betrifft, so war das Verlangen nach einem Präambelsatz, in dem von Gott die Rede sein sollte, am anspruchsvollsten. Dafür wurde oft das Etikett ‚invocatio Dei‘ verwendet – das war unkorrekt: eine ‚Anrufung Gottes‘, wie sie etwa im Eröffnungssatz der Verfassung Irlands ausgesprochen wird,4 hatte niemand gewünscht. In einer echten ‚invoca- tio‘ wäre Gott der Adressat eines Glaubensbekenntnisses im Namen der eigentlichen Inha- ber der verfassunggebenden Gewalt – und/oder der angerufene Bürge eines Verpflichtungs- gelöbnisses auf die Verfassung (oder auf bestimmte zentrale Inhalte), vergleichbar einer Eidesformel: „So wahr uns Gott helfe!“. In einer extrem weitgehenden Auslegung könnte das womöglich als eine Selbstweihe des Volkes an Gott gelten; freilich nicht auch schon als Sakralisierung der Verfassung als sol- cher, sodass sie in Gottes Hand gegeben und damit menschlicher Verfügbarkeit entzogen würde (dies schlösse eine Absage an das moderne, säkulare Verständnis von ‚Volkssouverä- nität‘ ein). Wohl aber könnte man eine solche Formel als eine Überantwortung der konstitu- tionellen Ordnung an das Regiment und/oder die Gnade Gottes verstehen. Andere Bewandtnisse hätte es mit einer ‚nominatio‘ (oder ‚enuntiatio‘) Gottes, also mit einem Gott erwähnenden Satz ohne Anrufungscharakter; unterschiedliche Varianten wären möglich. Eine bietet das Grundgesetz: das „Deutsche Volk“ hat es sich „im Bewußtsein sei- ner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gegeben. Eine Alternative wäre der Hin- weis auf die Gottgläubigkeit derer, in deren Namen die Verfassung gegeben wird, oder doch

2 Siehe z.B. Heinrich Schneider: Die Europäische Einigung als Thema der Katholischen Kirche, in: Peter-Chris- tian Müller-Graff/Heinrich Schneider (Hrsg.): Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Europäischen Union, Baden-Baden 2003, S. 73ff. Die Kirchen der Reformation und die Orthodoxie taten sich schwerer. 3 Der Satz stammte, wie auch das Wort vom Kreuzzug, von Kommissionsvizepräsident Günter Verheugen; vgl. Heinrich Schneider: Religionsfreiheit, Kulturkampf, oder was sonst?, in: Friedrich Glei§ner/Hanspeter Ruedl/ Heinrich Schneider/Ludwig Schwarz (Hrsg.): Religion im öffentlichen Raum, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 11ff., hier S. 17-18. 4 „Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit…“. Religionsangelegenheiten ansprechende Auszüge aus mit- gliedstaatlichen Verfassungstexten finden sich im Anhang des Buches von Joseph H. H. Weiler: Ein christli- ches Europa – Erkundungsgänge. Mit einem Vorwort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Salzburg/München 2004, S. 154ff. Auch das, wenn man es so nennen kann, Grunddokument des „westfälischen Systems“, mit dem sowohl das Miteinander souveräner Staaten wie die Plurikonfessionalität Europas besiegelt wurde, der Friedensvertrag zu Münster vom 24. Oktober 1648, beginnt – wie viele Friedensverträge der europäischen Neuzeit – mit dem Satz: „Im Namen der allerheiligsten und unteilbaren Dreifaltigkeit, Amen.“ EU, Kirchen und Religionen integration Ð 1/2008 39 eines Teils des sich als Gemeinwesen konstituierenden Volkes; ein Beispiel hierfür ist die Präambel der polnischen Verfassung. Bekanntlich gab es Bestrebungen, einen ähnlichen Text in den Verfassungsvertrag hineinzureklamieren.5 Eine andere, auf das Wort ‚Gott‘ verzichtende Option, für die sich auch Mitgliedstaaten ein- setzten, wäre ein ausdrücklicher Hinweis auf christliche (oder auch auf jüdische und christliche) Komponenten des europäischen Erbes gewesen. Auch dabei kann man an mehrere Varianten denken; zum Beispiel an eine Ð dem Anschein nach Ð blo§e historische Tatsachenfeststellung: dass das Christentum eine (oder in religiöser Perspektive sogar: die bestimmende) gestaltende Kraft Europas gewesen ist; womöglich auch unter Hinweis auf seine jüdischen Wurzeln. Enga- gierte Christen mochten sich sogar die Aussage gewünscht haben, dass dieses Erbe auch heute noch die Identität Europas mitprägt. Gewiss kann, wer dafür eintritt, die anderen, nichtreligiö- sen Komponenten des europäischen Geisteserbes nicht einfach leugnen, etwa die Vermächt- nisse der griechischen und römischen Antike, des Humanismus oder der Aufklärung. Eine Va- riante wäre die ausdrückliche Nebeneinanderstellung solcher Kräfte und Vorgänge; eine schwächere war die pauschale Bezugnahme auf das religiöse, geistige (spirituelle) und sittliche Erbe der Völker Europas (wie etwa in der Präambel zur Grundrechtecharta), oder auf die kultu- rellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen (vergleiche die Präambel zum Verfas- sungsvertrag). Dabei gab und gibt es heikle Empfindlichkeiten, manche haben sich sogar in sinnungetreuen Übersetzungen niedergeschlagen.6 Engagierte Christen bekundeten Unmut dar- über, dass die ausdrückliche Erwähnung des ‚christlichen Erbes‘ unterblieb – dieses sei doch „ein Faktum, das nur Ignoranten zu leugnen imstande sind“.7 Freilich geht es in der Textgattung ‚Verfassungspräambeln‘ kaum um historische ‚Erkenntnisse‘, vielmehr so gut wie stets um ‚Bekenntnisse‘. Wird aus einem Universum (oder Pluriversum) historischer Fakten eine Aus- wahl getroffen, dann spiegelt sich in ihr das Leitbild des Gemeinwesens wider; das Ringen da- rum, was genannt oder verschwiegen wird, kann Kulturkampfcharakter haben.8 Ergänzend oder alternativ zur Umschreibung des in die ‚religion civile‘ eingehenden his- torischen Erbes käme ein Bekenntnis zu identitätsstiftenden ‚Werten‘ infrage,9 weil dies den Verzicht auf ‚Historisches‘ einschließt und daher dem Bekenntnis einen allgemeineren Cha- rakter gibt. So könnten auch ‚christliche Werte‘, oder, noch weiter gefasst, ‚religiöse‘ ge- nannt werden, sei es unter Verwendung entsprechender Adjektive, oder so, dass die religiöse (christliche) Herkunft der betreffenden Begriffe mehr oder weniger offenkundig ist.10

5 Vgl. die Wiedergabe bei Weiler: Ein christliches Europa, 2004, S. 156f.: „Wir, die Polnische Nation, alle Bür- ger der Republik, sowohl jene die an Gott als die Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und Schö- nen glauben, als auch jene, die einen solchen Glauben nicht teilen, diese universalen Werte aber als aus andren Quellen entspringend achten, gleich in Rechten und Pflichten,…, errichten Polen...“. 6 In der Präambel der Grundrechtecharta wurde die französische Formel „patrimoine spirituel et morale“ (im Englischen „spiritual und moral heritage“) ins Deutsche in die Wendung vom „geistig-religiösen und sittlichen Erbe“ übersetzt; Frankreich war nicht bereit gewesen, den Ausdruck „réligieuse“ in ‚seinem‘ Text zu dulden; siehe dazu Sven Hölscheidt/Eva Mund: Religionen und Kirchen im europäischen Verfassungsverbund, in: Eu- roparecht 6/2003, S. 1083-1094, hier S. 1087f. 7 Michael H. Weninger: Europa ohne Gott? Die Europäische Union und der Dialog mit den Religionen, Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, Baden-Baden 2007, S. 225, unter Hinweis auf kritische Äußerungen ho- her vatikanischer Würdenträger. 8 Vgl. dazu Peter Häberle: Europäische Verfassungslehre, Baden-Baden 2001/2002, S. 273ff.; dort auch weitere Literaturhinweise zum Gegenstand. 9 Dass die Rede von „Werten“ und von der „Europäischen Wertegemeinschaft“ bei Weitem problematischer ist als ihre weite Verbreitung nahelegt, wird oft verdrängt; vgl. statt vieler: Heinrich Schneider: Die Europäische Union als Wertegemeinschaft auf der Suche nach sich selbst, in: Die Union – Vierteljahresschrift für Integrati- onsfragen (Wien) 1/2000, S. 11ff.; Robert Spaemann: Europa Ð Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung, in: Transit – Europäische Revue, Nr. 21 (Sommer 2001), S. 172ff. 10 Vgl. den Verweis auf die Menschenwürde und auf die Zentralität der Person in der Präambel zur Grundrechte- charta. 40 integration Ð 1/2008 EU, Kirchen und Religionen

Worum ging es im Tauziehen um die Einbeziehung solcher Bekenntnisse in eine Verfas- sungs- oder Vertragspräambel? Aufs Erste scheint das klar: den jeweils Engagiertesten um die Durchsetzung des Anspruchs auf verbindliche Fixierung entweder der Christlichkeit oder der Säkularität des Gemeinwesens; sofern weniger weitgehende Positionen verfochten wurden, immerhin um die Legitimität öffentlicher Bekundung religiöser Überzeugungen und auf ihnen beruhender Ansprüche, auch mit rechtlichen Konsequenzen.11 Kirchen und Kirchengegner schienen einander gegenüberzustehen. Aber man sollte es sich nicht zu einfach machen. Wer die Konstellation der Beweggründe rekonstruieren will, sollte sich zur Vermeidung von Kurzschlüssen und Engführungen wohl erst das breite Feld der Möglichkeiten vergegenwärtigen. Ein Analytiker hat gemeint, die Angelegenheit habe ihren Hauptgrund im Bestreben der Mitgliedstaaten gehabt, ihre jeweiligen Politikvorstellungen auf die Ebene der Union ãhoch- zuladen“,12 um Dissonanzen zwischen nationalem und europäischem ordre public (und den entsprechenden Bestandteilen der politischen Kultur) möglichst gering zu halten. Die Ver- mutung hat einiges für sich, dass die europapolitischen Akteure – Regierungen und andere Konventsmitglieder in erster Linie Ð in ihrer Einstellung zu entsprechenden Forderungen da- von bestimmt wurden, wie sie die richtige oder wünschenswerte Ordnung der Dinge zu se- hen gewohnt sind, vor allem aufgrund der ihnen vom eigenen Land her vertrauten Gegebenheiten: Politiker aus Paris, der Hauptstadt jener Republik, die sich im ersten Verfas- sungsartikel von 1958 als „laizistische“ deklariert hat, werden in die Diskussion andere Vor- stellungen mitbringen, als solche aus La Valletta, deren Verfassung „die Römische Katholische Apostolische Religion“ als „die Religion Maltas“ bezeichnet.13 Nur Derartiges nachzuprüfen wäre jedoch zu einfach. Erstens könnte man fragen, ob und inwieweit dabei (auch) eine womöglich nur wenig reflektierte Tendenz der Konventualen im Umgang mit kognitiven und evaluativen Dissonanzen wirksam ist, zugunsten ihrer Verdrängung oder Überbrückung; das dürfte hier nicht besonders fruchtbar sein, weil die kirchenfreundlichen Positionen so markant von ihren Vertretern ins Spiel gebracht wurden, dass die Adressaten sich damit auseinandersetzen mussten. Bedachtsam präsentierte Stellungnahmen – im Konvent wie in der Regierungskonferenz – konnten indessen auf sehr unterschiedlichen Beweggründen beruhen: Dem Versuch, das heimische religionspolitische Regime auf die europäische Ebene zu übertragen, konnten grundlegende religionspolitische Überzeugungen zugrunde liegen.14

11 Die Europäische Menschenrechtskonvention ermächtigt, wie der Straßburger Gerichtshof festgestellt hat, die Staaten, für Mitglieder von Religionsgemeinschaften Ausnahmen von der Pflicht zur Befolgung der allgemei- nen Gesetze vorzusehen, wenn eine religiös-pflichtgemäße Handlungsweise mit den entsprechenden gesetzli- chen Bestimmungen in Widerspruch steht Ð nur dann allerdings, wenn die Ausnahmeregelung nicht die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die Gesundheit, die Moral oder Rechte und Freiheiten anderer beeinträch- tigt. Solche Ausnahmeregelungen gibt es in einer ganzen Reihe von Ländern – für Christen, für Juden, zuwei- len auch für Muslime, und für andere. Dabei handelt es sich jedoch um Konsequenzen des Grundrechts auf Religionsfreiheit, dessen Verbindlichkeit von Bestimmungen wie den hier betrachteten nicht abhängt. 12 So Gregor Waschinski: Gott in die Verfassung? Religion und Kompatibilität in der Europäischen Union, Ba- den-Baden 2007, S. 57 und öfter. 13 Art. 2 Abs. 1 der Verfassung; die folgenden Absätze lauten: „Die Autoritäten der Römischen Katholischen Apostolischen Kirche haben das Recht und die Pflicht zu lehren, welche Prinzipien richtig und welche falsch sind.“ (Abs. 2); „Religiöser Unterricht des Römischen Katholischen Apostolischen Glaubens soll in allen staat- lichen Schulen Teil der verpflichtenden Erziehung sein.“ (Abs. 3). Nach Weiler: Ein christliches Europa, 2004, S. 156. 14 Analogerweise etwa so, wie von deutscher Seite bei den Verhandlungen um die Römischen Verträge und ihrer Vorbereitung (im Spaak-Ausschuss) versucht wurde, die heimischen Vorstellungen von Sozialer Marktwirt- schaft für die EWG so weit wie möglich verbindlich zu machen; darauf hat Hans von der Groeben als Beteilig- ter immer wieder hingewiesen. EU, Kirchen und Religionen integration Ð 1/2008 41

Solche Überzeugungen konnten aber auch dazu bewegen, für die europäische Ebene, aus welchen Gründen immer, ein markant anderes Regime als das im eigenen Land etablierte für gut zu halten.15 Von vornherein war auch vermutbar, dass parteipolitische Positionen die Einstellung der Akteure prägten, so dass zum Beispiel Christdemokraten den Wünschen der Kirchen freundlich gegenüberstanden, Liberale und kirchenkritisch eingestellte Sozialisten nicht. An der Grenze zwischen im strikten Sinn religionspolitischen und fundamentalpoliti- schen (gewissermaßen die Sinnbestimmung der Politik betreffenden) Beweggründen könnte man die Überlegung verorten, dass eine – aus Gründen der Tradition naheliegenderweise in religiöser Sprache artikulierte – Transzendenz-Bezugnahme geeignet wäre, totalitären Be- strebungen wenigstens ideell einen Riegel vorzuschieben; etwa in der Linie des Arguments: die Würde des Menschen ist nur dann unantastbar, wenn es eine Begründung für sie gibt, die menschlicher Macht und Manipulation entzogen ist, sodass der Politik Schranken ihrer Ver- fügungsbefugnis gesetzt sind.16 Im Ringen um die Religionsreferenzen in der Verfassungspräambel mochten aber auch Überlegungen im Spiel gewesen sein, die weder einen direkt religions- noch einen funda- mentalpolitischen Bezug hatten. Möglicherweise konnte es Befürwortern um eine Aufwer- tung ‚ideeller‘, meta-ökonomischer Sinngehalte des ‚Projekts Europa‘ zu tun sein, bezie- hungsweise Ð in gleicher Richtung, aber mit anderer Fokussierung Ð um die Relativierung des von manchen Kritikern der traditionellen Integrationspolitik Ð mit Recht oder Unrecht Ð zugeschriebenen „Ökonomismus“.17 Nicht identisch damit, aber im Effekt wahlverwandt wäre die (mögliche) Absicht, jede inhaltliche Anreicherung der Vertrags- oder Verfassungspräambel, und damit auch eine Be- zugnahme auf spirituelle oder religiöse Sinngehalte, als einen Beitrag zur prinzipiellen Auf- wertung der Europäischen Union zu befürworten. Jeder Beitrag hierzu würde die Union deutlicher als ein Gebilde charakterisieren, das die Zweckverbandskonzeption der Frühzeit hinter sich lässt (wiewohl die Wirtschaftsintegration, primär durch die Fusion nationaler Märkte, ursprünglich der Kern des Vergemeinschaftsprojekts, ohnehin nicht mehr der ein- zige Zweck des Projekts ist). Der Charakter einer ‚Polity‘, eines Gemeinwesens, das um der sinnvollen menschlichen Lebensführung willen eingerichtet ist, nicht nur zur Verbesserung von Bedingungen des Überlebens, würde betont.18 Zugleich würde damit auch der Verfas- sungscharakter der rechtlichen Grundordnung der Union bekräftigt. Zudem wäre ein Ver- weis auf religiöse Bezüge, etwa nach dem Vorbild der polnischen Präambel, ein Indiz für

15 Klarerweise wird man Derartiges etwa überzeugten Liberalen oder religiös Freisinnigen (Atheisten) aus Län- dern mit einem starken kirchlichen Einfluss auf das öffentliche Leben unterstellen können. 16 Verfechter der Einfügung religiöser Wendungen in die Verfassungspräambel haben gelegentlich so argumen- tiert, um auch Andersdenkende für ihr Anliegen zu gewinnen. Dies schließt aber nicht aus, dass auch ein „phi- losophischer Glaube“ (im Sinn z.B. von weiland Karl Jaspers) sich berufen fühlen mag, der Politik klar zu machen, dass ihre Sache allenfalls das Reich der „vorletzten Dinge“ umfasst, weil nur auf Basis dieser Sicht dem Fanatismus und dem Totalitarismus die Legitimität mit gutem Grund verweigert werden kann. Die Logik des Arguments geht freilich verloren, wenn religiöse Fundamentalisten oder Integralisten ihrerseits meinen, Politik direkt auf die „letzten Dinge“ hin ausrichten zu sollen. 17 Vor einem „Ökonomismus“, der Gemeinwohlerfordernisse zugunsten der Orientierung an Erfordernissen der Marktlogik vernachlässigt oder unternehmerischen Gewinnkalkulationen unterordnet, warnte z.B. Papst Jo- hannes Paul II.; siehe Schneider: Die Europäische Einigung als Thema der Katholischen Kirche, 2003, S. 96f.; Häberle (Europäische Verfassungslehre, 2001/2002, S. 522) meint, dass die Einfügung von Ansätzen zu einem „europäischen Religionsverfassungsrecht“ in das Unionsrecht einen „glücklichen Gegenakzent zum bislang (über)betonten ,Europa der Wirtschaft‘ setzt“. 18 Dies erinnert an den aristotelischen Satz, dass die pólis zur Sicherung des (Über-) Lebens (‚zên‘) entstand, aber um des guten, menschenwürdigen Lebens (‚eu zên‘) willen besteht, oder an den neuzeitlichen, dass sich über dem Reich der Notwendigkeit das Reich der Freiheit konstituiert. 42 integration Ð 1/2008 EU, Kirchen und Religionen eine verstärkte Eigenständigkeit der Union im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, von denen ja einige etwas Derartiges als mit ihrer eigenen Laizität unvereinbar betrachten; eine ent- sprechende Wendung würde den Charakter der verfassten Europäischen Union als einer den bloßen Staatenverbund transzendierenden Union (auch) ‚von Bürgern‘ (nämlich von gläubi- gen und ungläubigen) akzentuieren. Mit anderen Worten: Das Ringen um die Ausstattung der Präambel mit einem spirituellen oder religiösen Bezug, gar mit einem Hinweis auf Gott, war auch ein Element des Ringens um die Annäherung der Union an das, was man früher (bis in die Ära Delors) eine Födera- tion und später noch eine Politische Union genannt hat, und ein Moment der relativen Stär- kung der „sozialintegrativen“ Dimension des Staaten- und Bürgerverbundes im Verhältnis zur – im Sinne von Habermas – „systemintegrativen“ Zusammenführung von Märkten und politisch-administrativen Strukturen und Mechanismen. Das hei§t umgekehrt: Von Gegnern der Aufwertung der Union zu einer ‚Polity‘, vor allem von jenen, die in der Integrationsver- tiefung und in der Stärkung der normativen Grundordnung der Europäischen Union (also etwa in der emphatischen Aufwertung der Verträge zur ‚Verfassung‘) eine Tendenz hin zu einem ‚Superstaat‘ sehen, konnte man schon deshalb erwarten, dass sie sich der Anreiche- rung der Präambel widersetzen würden. Auch in einer weiteren Dimension konnte der Gedanke an die Finalität der Union eine Rolle spielen: was die Grenzen ihrer Ausdehnung betrifft. Ein ausdrücklicher Hinweis auf die christliche Basis der europäischen Identität hätte eine Distanzierung nichtchristlicher Beitrittskandidaten wie der Türkei bedeutet; andererseits würde ein nicht ausdrücklich als christlich oder jüdisch-christlich akzentuierter ‚Gottesbezug‘ Muslime einschließen. Andere taktische Motive mochten zusätzlich im Spiel sein. In Polen beispielsweise hatten sich katholisch-konservative Kräfte (wie Pater Tadeusz Rydzyk und sein Sender ‚Radio Ma- ryja‘) konsequent gegen die ungebremste Integration des Landes in das westlich-liberale, in ihrer Sicht die Tradition und die Moral zersetzende Europa von Brüssel gewandt und mit ih- rer Darstellung der Dinge die Frustration entsprechend gesinnter Teile der Bevölkerung vor- angetrieben. So mussten politische Akteure, denen an der Schwächung antieuropäischer Tendenzen in der Gesellschaft gelegen war (um der Erhaltung der inneren Einigkeit des Vol- kes willen, aber auch um einer Isolierung Polens in der Union entgegenzuwirken) an einer Selbstpositionierung der Europäischen Union interessiert sein, die dem liberalen und fast ‚antichristlichen‘ Image Brüssels entgegengestellt werden konnte. Das Engagement polni- scher Politiker für den Gottesbezug und für die Namhaftmachung christlicher Traditionen und Werte in der Verfassungspräambel hatte daher vermutlich auch solche Beweggründe. Schließlich muss man auch noch mit mannigfachen anderen taktischen Beweggründen des Eintretens für oder gegen die Präambelhinweise rechnen (und auch für oder gegen die Kirchen und Religionsgemeinschaften aufwertenden Vertragsbestimmungen). Rücksicht- nahmen auf innenpolitische Konstellationen können dabei eine Rolle spielen (nicht nur par- teipolitische, sondern auch solche, die sich auf die religiöse und weltanschauliche Konstella- tion in der Gesellschaft beziehen), aber auch Verhandlungskonstellationen in der Regierungskonferenz selbst (gemäß der Regel ‚do ut des‘ wird durch die Übernahme oder die Abwertung einer Detailposition ein Entgegenkommen anderer Partner in einer anderen Detailfrage eingeworben). Das alles sind Hypothesen; man sollte sie sich aber möglichst ohne Vereinfachungen vor Augen führen, bevor man zu ermitteln sucht, welche Motiv- und Kräftekonstellationen mit welcher Einflussstärke tatsächlich wirksam waren. EU, Kirchen und Religionen integration Ð 1/2008 43

Das andere Anliegen: der ‚Kirchenartikel‘ Die Sachwalter kirchlicher Anliegen merkten im Gang der Auseinandersetzung, dass in Bezug auf die Präambel ihre Hoffnungen enttäuscht werden würden; schon deshalb, weil das klare französische Nein zu Formeln, die mit dem Prinzip der Laizität in Spannung stan- den, au§er Zweifel stand. So konzentrierten sie sich auf das zweite religionspolitisch bedeut- same Projekt. Das war richtig; vermutlich war das Gewicht der religionsbezogenen Präambelwendun- gen ohnehin überschätzt worden: Welche handfeste Bedeutung eine Verfassungspräambel hat, hängt dort, wo es Verfassungsgerichte gibt, von deren Judikatur ab. Ob der Europäische Gerichtshof aus den religionsbezogenen Formulierungen viel herausgeholt (oder in sie hin- eingelegt) hätte, ist höchst zweifelhaft, und ebenso auch die andere Frage, ob die betreffen- den Wendungen den Gerichtshof bei der Rechtsprechung zu verbindlichen Vertrags- oder Verfassungsartikeln substanziell beeinflusst hätten. Von solchen Folgen abgesehen wird je- mand, der sein Handeln an christlichen oder anderen Glaubenstraditionen und -überzeugun- gen ausrichtet, dies wohl auch dann tun, wenn sich die EU-Vertragspräambel von Lissabon dazu ausschweigt; wer dazu eine ganz andere Einstellung hat, wird diese kaum dadurch än- dern, weil eine europäische Verfassungspräambel ihm das nahelegt. Die schließlich im Vertrag von Lissabon als Artikel 17 in den ‚Vertrag über die Arbeits- weise der Europäischen Union‘ (AEUV) aufgenommene Bestimmung ist in der Tat für die Kirchen wichtiger als die Realisierung ihrer Präambel-Wünsche. ‚Für die Kirchen‘ – um ihre Wünsche ging es übrigens in den entsprechenden Auseinan- dersetzungen primär und hauptsächlich; andere religiöse Vereinigungen und insbesondere die (nichtreligiösen) Weltanschauungsgemeinschaften erhielten die gleiche Zusicherung, weil sonst die Privilegierung einer Religion (oder einiger von vielen Religionen) vorgenom- men worden wäre, und dies hätte die Chancen für die Annahme des Artikels minimiert.19 Schon in der Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam findet sich die Erklärung Nr. 11, derzufolge die Union den Status von Kirchen, religiösen Vereinigungen und Gemeinschaf- ten und in gleicher Weise den von weltanschaulichen Gemeinschaften achtet, wie ihn die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten festlegen. Dass nicht nur dies in den Konventsent- wurf des Verfassungsvertrages übernommen, sondern auch noch durch die eingangs er- wähnte Klausel über den mit Kirchen, religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften „in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags“ zu führenden „offenen, transpa- renten und regelmäßigen Dialog“ ergänzt wurde, nimmt dem Vertragsartikel seine Selbst- verständlichkeit. Die Verpflichtung der Union, den mitgliedstaatlich fixierten Status von Kirchen und gleich- gestellten Vereinigungen zu achten, ist der Sache nach eine Spezialklausel im Rahmen der Ver- pflichtung der Union zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, wie sie schon als Artikel 6 Absatz 3 in den EU-Vertrag von Amsterdam eingefügt worden war, weil es Be- sorgnisse gab, die Integration könnte die nationale Identität der Mitgliedstaaten infrage stellen.

19 Moderne Grundrechtekataloge sprechen von „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ (siehe die Euro- päische Grundrechtecharta, aber auch schon den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966); Religionen und Weltanschauungen sind hierbei gleichgestellt, und neben der „positiven“ gibt es auch die „negative Religionsfreiheit“, also das Recht, religiöse Überzeugungen und Praktiken abzulehnen und für diese Ablehnung öffentlich einzutreten. Als Kommissionspräsident Barroso, sozusagen im Vorgriff auf die Bestimmung über den Dialog, Vertreter christlicher Kirchen zu einem Meinungsaustausch einlud, aber ent- sprechende Zusammenkünfte mit religionskritischen Verbandsvertretern erst danach anberaumen wollte, musste er sich harsche Kritik im Europäischen Parlament anhören, vgl. Schneider: Religionsfreiheit, Kultur- kampf, oder was sonst?, 2007, S. 14f. 44 integration Ð 1/2008 EU, Kirchen und Religionen

Gute Gründe sprechen dafür, nationale Religionsverfassungsregimes als Elemente der nationalen Identität zu betrachten, im Hinblick auf die Eigenart sowohl der Rechtsordnung wie des Selbstverständnisses und der politischen Kultur.20 Zum Selbstverständnis der Fran- zösischen Republik gehört zweifellos die ‚Laïcité‘. Aber kann man andererseits sagen, dass der öffentlich-rechtliche Status der großen Religionsgemeinschaften zur Identität der Bun- desrepublik oder der Republik Österreich gehört? Der ‚Kirchenartikel‘ des Vertrags von Lis- sabon (Artikel 17 AEUV) kann entsprechende Zweifel beheben. Er spricht dem Religions- verfassungsregime eine besondere Respektabilität zu.21 Dies war im Kontext der Unionsrechtsordnung nicht selbstverständlich; die Autoren der Formulierung hätten sonst kaum Anlass gehabt, auf die „Anerkennung“ der „Identität“ und des „besonderen Beitrags“ dieser Dialogpartner (gemeint ist wohl der Beitrag zur Förderung der Ziele der Europäischen Union und zu ihrer Verwirklichung) hinzuweisen. Die Nicht- Selbstverständlichkeit ergibt sich daraus, dass es keine genuine Religions- und Kirchenpoli- tik der Europäischen Union gibt; die entsprechende Politik bleibt den Mitgliedstaaten vorbe- halten. Wenn es um Rechtsvorschriften geht, die besondere Interessen und Anliegen der Kir- chen berühren (wie etwa das Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen), wäre es ja auch möglich gewesen, von der Bestimmung über die Anhörung der Betroffenen (Artikel I-47 Absatz 3 des Konventsentwurfs für den VVE, im Vertrag von Lissabon Artikel 11 Ab- satz 3 EUV) extensiv Gebrauch zu machen. Die Kirchen als mit den Bestimmungen zur „partizipativen Demokratie“ (Artikel I-47 VVE) beziehungsweise über die „demokratischen Grundsätze“ (im Vertrag von Lissabon Artikel 9-12 EUV) mitgemeint zu betrachten, das heißt als Partner des Dialogs der Unionsorgane „mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft“, war problematisch; die Kirchen selbst wollten nicht einfach der „Zivilge- sellschaft“ zugerechnet werden (unter Berufung auf ihren Charakter als Einrichtungen nicht nur „von dieser Welt“).22 Kirchengegner bestreiten nicht selten die Repräsentativität der Re- ligionsgemeinschaften in demokratiepolitischer Perspektive; insbesondere den zuweilen er- hobenen Anspruch, alle Mitglieder gegenüber den Regierenden zu vertreten – wer Religion als Privatsache betrachtet, wird Religionsgemeinschaften kaum ein politisches Mandat zuer- kennen. Vor allem die großen Kirchen nehmen aufgrund ihres Selbstverständnisses jedenfalls ein Mitspracherecht in öffentlichen Angelegenheiten in Anspruch. Auf katholischer Seite hat

20 Vgl. die Kommentierung der Bestimmungen des geltenden Vertrags (Stand: Nizza) von Meinhard Hilf und Frank Schorkopf, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf: Das Recht der Europäischen Union, München 2004, hier zu Art. 6 Abs. 3 EUV, Rdn. 72ff. 21 Das kann man sich klar machen, wenn man überlegt, ob auch eine vergleichbare Fixierung der Pflicht der Union, den öffentlich-rechtlichen Status der ‚Kammern‘ zur Gewährleistung der nationalen Identität (nämlich der legitimitätssichernden Eigenart des mitgliedstaatlichen ordre public) zu respektieren, vorstellbar wäre. Im Vorfeld des Beitritts des – wie man damals gern sagte – ‚Kammerstaates‘ Österreich war die Frage nach der Si- cherung der Grundlagen der österreichischen Sozialpartnerschaft ein ernsthaft erörtertes Thema der Innen- und der Europapolitik. 22 Vor allem von katholischer Seite wurde die Einordnung der Kirche selbst in die Zivilgesellschaft abgelehnt; wiewohl man für kirchliche und kirchennahe Vereinigungen die Verortung in ihr bejaht; im evangelischen Be- reich ist die Ablehnung heute weniger ausgeprägt. Indessen ist – nicht überall in Europa – zuweilen die An- dersheit der Kirchen im Vergleich zu zivilgesellschaftlichen Verbänden auch von ‚weltlicher‘ Seite unmissverständlich anerkannt worden; siehe z.B. die Aussage von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in sei- ner Regierungserklärung am 18. Januar 1973 über die Kirchen: „Wir betrachten sie nicht als eine Gruppe unter den vielen der pluralistischen Gesellschaft und wollen ihre[n] Repräsentanten darum auch nicht als Vertre- ter[n] blo§er Gruppeninteressen begegnen. Wir meinen im Gegenteil, da§ die Kirchen in ihrer notwendigen geistigen Wirkung um so stärker sind, je unabhängiger sie sich von überkommenen sozialen oder parteilichen Bindungen machen. Im Zeichen deutlicher Freiheit wünschen wir die Partnerschaft“ (zit. nach: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 19.01.1973, Nr. 6, S. 56). EU, Kirchen und Religionen integration Ð 1/2008 45 man die Aufgabe der Kirche als „Aktivierung des öffentlichen Gewissens im Dienste des Gemeinwohls“ zur „Weckung der grundlegenden Wahrheits- und Wertüberzeugungen“ be- zeichnet, wobei besonders die Laien zum Engagement berufen seien.23 Im evangelischen Sprachduktus nimmt die Kirche einen „Öffentlichkeitsauftrag“ wahr; in der Ausübung ihres „Wächteramtes“ will sie vor allem auf die Grenzen menschlicher Machtausübung und auf Missbräuche der Macht und auf Defizite bei der Verwirklichung von Freiheit und Gerechtig- keit aufmerksam machen. Die Religionsfreiheit schlie§e auch das Menschenrecht ein, den herrschenden Mächten im Einklang mit der Glaubensüberzeugung ins Gewissen zu reden.24 Befürworter der besonderen Würdigung der Kirchen argumentieren: die Kirchen ständen als „Institutionen geistlicher Daseinsvorsorge“ im Dienste öffentlicher Bedürfnisse, sodass ein öffentlich-rechtlicher Status um ihrer Beiträge zum Gemeinwohl willen gerechtfertigt sei.25 So weit geht der ‚Kirchenartikel‘ des Vertrags von Lissabon nicht, aber hinter der „An- erkennung des besonderen Beitrags“ stehen gewiss auch Erwägungen, die in die Richtung der eben referierten gehen Ð nicht nur der Gedanke an die Honorierung positiver Impulse der Kirchen zur europäischen Einigung. Klarerweise werden Vorstellungen, die vom Selbstverständnis der Kirchen abgeleitet sind, oder auch solche, die von einer anthropologisch gegebenen Religiosität des Menschen ausgehen (oder zumindest von einer Anlage dazu, oder gar von einem „religiösen Existen- tial“), von Andersdenkenden abgelehnt; dass diese ‚kirchliche Privilegien‘ heftig kritisiert und auch gegen den ‚Kirchenartikel‘ interveniert haben, war nicht verwunderlich. Schließ- lich kam es der Ausgewogenheit zuliebe zur Zuerkennung der zunächst von den Kirchen für sich reklamierten Qualifikationen und Zusagen auch an die ãweltanschaulichen Gemein- schaften“ (nicht nur an andere Religionsgemeinschaften).

23 So, die Positionen des II. Vatikanischen Konzils vorwegnehmend und ihnen den Weg weisend, etwa Franz Kardinal König: Kirche, Staat, Gesellschaft – Die Funktionen der Kirche für das Gemeinwesen von heute, in: Wort und Wahrheit – Monatsschrift für Religion und Kultur 16. Jg. 2/1961, S. 91ff. Das Konzil hat dann – un- terschieden von autoritativen Aussagen und Aktionen der leitenden Amtsträger (des Papstes, der Bischöfe) – noch eine weitere Unterscheidung betont, nämlich die zwischen solchen Unternehmungen, die Christen als einzelne oder im Verbund im eigenen Namen als Staatsbürger in die Hand nehmen, und jenen, die sie „im Na- men der Kirche zusammen mit ihren Hirten“ vollziehen (Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“, 1965, Ab- schnitt 76). Die eigene Sendung der Kirche sei religiös, nicht politisch, aber aus dieser Sendung erfließe der Auftrag und die Kraft, der menschlichen Gemeinschaft behilflich zu sein (ebenda Abschnitt 42); und für die weltlichen Dinge (die Politik eingeschlossen) seien eigentlich, wenn auch nicht ausschlie§lich, die Laien zu- ständig; treten dabei legitime Meinungsverschiedenheiten über die richtige Politik auf, solle niemand die Auto- rität der Kirche ausschließlich für sich und die eigene Meinung in Anspruch nehmen (ebenda Abschnitt 43). Angesichts dessen ist es auffällig, dass in europapolitischen Fragen katholische Standpunkte und Wünsche in erster Linie von geistlichen Amtsträgern (namentlich von Päpsten und von der ‚Kommission der Bischofskon- ferenzen der Europäischen Gemeinschaft‘ geltend gemacht wurden, wobei diese in der Auseinandersetzung um den Verfassungsvertrag auf die ökumenische Abstimmung mit der ‚Konferenz Europäischer Kirchen‘ Be- dacht nahm). 24 Vgl. Dietrich Pirson: Öffentlichkeitsanspruch der Kirche, in: Roman Herzog/Hermann Kunst/Klaus Schlaich/ Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.): Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., Stuttgart 1987, Band 2, Sp. 2278ff.; Rüdiger Schloz: Religionsfreiheit, in: Herzog/Kunst/Schlaich/Schneemelcher: Evangelisches Staatslexikon, 1987, Bd. 2, Sp. 2966ff. 25 So z.B. Paul Mikat: Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen, in: Material zum Problem Kirche und Po- litik, Heft 33 der Materialien der Politischen Akademie Eichholz, Bonn 1975, S. 9ff., hier S. 15. Man kann da- bei auch an die Frage denken, „ob nicht auch der säkularisierte Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muß, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt“ – weil sich die Freiheit im frei- heitlichen Staat aus der „moralischen Substanz des einzelnen“ reguliert (Ernst Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, 1967; hier nach: Böckenförde: Staat – Gesellschaft – Freiheit, Frankfurt am Main 1976, S. 42ff., hier S. 61, S. 60). Damit sind nicht gemeinnützige Leistungen der Kirchen im Bildungs- und Gesundheitswesen, in der Kulturpflege und dergleichen gemeint; vgl. Hans Maier: Dienste der Kirche am Staat – Entwurf einer Typologie, in: Die Verantwortung der Kirche für den Staat (Esse- ner Gespräche, Band 25), Münster 1991, S. 5ff. 46 integration Ð 1/2008 EU, Kirchen und Religionen

Dies hat dem Vertragsartikel ein etwas eigenartiges Gepräge gegeben, nicht nur durch die Art der ‚Dazwischenschiebung‘ des zweiten Absatzes nach dem ersten und vor dem dritten, sondern auch weil die Gründe für die Abhebung der Kirchen und Religionsgemeinschaften von anderen Verbänden und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen nicht auch für die irreli- giösen unterstellt werden müssen. Gerechtfertigt ist der Einschub von Absatz 2 inhaltlich ohnehin.26

Das Resultat Die Formulierung der Präambel und des sogenannten ‚Kirchenartikels‘ (diese Bezeich- nung ist tatsächlich unangemessen!) sind das Resultat eines Ringens, das sich vordergründig um mehrere für die Rechtsordnung der Union nicht unwichtige, aber scheinbar nur für be- stimmte Akteure und ihre Anliegen wichtige Fragen drehte: ¥ Die Sicherung der religionsverfassungsrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten, als ein Element der nationalen Identitätswahrung; ¥ die ausdrückliche Affirmation religiöser, insbesondere christlicher Komponenten des gei- stigen Erbes Europas und damit um deren Anerkennung als heute noch bedeutsame Ele- mente der europäischen Identität; sowie ¥ die Zuerkennung eines besonderen Status an Kirchen, religiöse Vereinigungen und Kör- perschaften sowie an Weltanschauungsgemeinschaften, deren Beiträge eine Einbeziehung in den Prozess der Selbstverständigung Europas über seine geistige und politische Positi- onierung rechtfertigen.27 Nicht alles, was die christlichen Kirchen – als die eigentlichen Initiatoren – sich wünsch- ten, haben sie erreicht, aber was schlie§lich in den Vertrag von Lissabon Eingang fand, war ihnen willkommen. Die Beschränkung des Blicks auf das, was man die im Kontext der Europäischen Union ‚Kirchen-, Religions- und Weltanschauungspolitik‘ nennen könnte, würde der Auseinander- setzung und ihren Implikationen jedoch nicht voll gerecht. Es ging dabei, wie schon ange- deutet, auch um den Charakter der Union, um ihre weitere Ablösung von der bloßen Zweck- verbandsnatur, um die Kräftigung der Qualität eines politischen Gemeinwesens. Es sieht

26 Das säkulare Gemeinwesen ist gegenüber religiösen und anderen Weltanschauungen neutral – dadurch unter- scheidet es sich von einem „säkularistischen“ ebenso wie von einem z.B. christlich oder muslimisch geprägten. Eine weitere Überlegung könnte davon ausgehen, dass Glaubensgemeinschaften einen besonderen Respekt verdienen, weil sie für die Gewissensfreiheit einstehen, der für das freiheitliche Gemeinwesen eine Schlüssel- rolle zukommt; das Bundesverfassungsgericht hat z.B. erklärt, dass religiös motiviertes Wollen und Handeln besonderen Schutz verdient, weil es für die personale Identität konstitutiv ist; daher dürften Handlungen, die aus einer bestimmten Glaubenshaltung flie§en, nicht ohne weiteres den Sanktionen unterworfen werden, die für sie vorgesehen sind, wenn sie nicht glaubensmäßig motiviert sind (BVerfGE 32, S. 98ff., hier S. 108); vgl. Stefan Huster: Religionsausübung und allgemeines Gesetz, in: Merkur 55. Jg. 625/2001, S. 424-429. Das hat das Gericht 2006 bekräftigt, wobei freilich unter Umständen auch eine Abwägung mit anderen Rechtsgütern nötig sei (siehe Süddeutsche Zeitung vom 21.06.2006, S. 6: Schulpflicht hat Vorrang). Sollte die besondere Würdigung von Gewissensüberzeugungen, die im Rahmen von Religionsgemeinschaften geweckt und gestärkt werden, allerdings bedeuten, dass die Gewissensfreiheit z.B. von Menschen, die sich einem ‚philosophischen Glauben‘ (etwa im Sinn von Karl Jaspers) verschrieben haben, weniger respektabel sei, dann wäre dies mit der Säkularität des modernen Gemeinwesens kaum zu vereinbaren; es liegt dann nahe, eine Diskriminierung von ‚Weltanschauungsgemeinschaften‘, die sich um die Gewissensbildung ihrer Mitglieder bemühen, gegenüber religiösen Vereinigungen ebenfalls als unkorrekt anzusehen. (Ein „säkularistischer“ Staat könnte versucht sein, den gewissensbildenden Einflüssen der Kirchen Misstrauen entgegenzubringen und zum Beispiel den Atheis- mus und seine Propagierung gegenüber der religiösen Bekenntnisfreiheit privilegieren). 27 Die hier gewählte Formulierung ist etwas waghalsig. Im Vertragstext von Lissabon selbst bleibt unausgespro- chen, welche Beiträge gemeint sind und man ist versucht zu meinen: solche zur europäischen Bewusstseinsbil- dung und damit zur ideellen Konsolidierung der Union. EU, Kirchen und Religionen integration Ð 1/2008 47 nicht so aus, als ob alle an der Erarbeitung, Durchsetzung oder Bekämpfung entsprechender Textpassagen Beteiligte dies stets vor Augen hatten; jedenfalls haben viele von ihnen das in den Diskussionen selbst kaum je zu erkennen gegeben. Im Zug der Konventsarbeit war dies nicht verwunderlich; waren doch die dort herrschende Stimmung und der Gesamtduktus der erstrebten Konstitutionalisierung dazu angetan, diese Qualitätsvertiefung als selbstverständ- lich erscheinen zu lassen. Als dann das Verfassungsprojekt als solches scheiterte, hatte die Substanz des nachmaligen Artikels 17 des ‚Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union‘ bereits so klar Akzeptanz gefunden, dass ihr Erhalt nicht mehr infrage gestellt wurde. Das ist für die Verfechter der Sache erfreulich. Mehr wird für ihr Anliegen auf ab- sehbare Zeit nicht zu erreichen sein. Ein neuer Konstitutionalisierungsschub steht nicht in Aussicht, und ohne ihn würde eine ‚religionspolitische Stärkung‘ der Union die mit dem er- hofften Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zu etablierende Balance von System- und Sozialintegration infrage stellen.28 ‚Causa finita‘, möchte man sagen, wenigstens für die primärrechtliche Normierung und für die absehbare Zukunft. Wie sich die Umsetzung des Artikels 17 des ‚Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union‘ und insbesondere seines dritten Absatzes darstellen wird, und ob sich daraus abermals Auseinandersetzungen ergeben, darauf werden zumindest einige der engagierten Akteure und Beobachter gespannt sein.

IY^h_\j[dpkh;khef_iY^[d?dj[]hWj_ed / :_[hi]$ L[h\Wiikd]ih[Y^j :_[[hWki][][X[dledIj[\WdAWZ[bXWY^kdZ FWh_dWiFWh^_i_ (&&-"'/*I$"XheiY^$")/"ÅÐ"?I8D/-.#)#.)(/#(/*-#) IY^h_\j[dpkh;khef_iY^[d?dj[]hWj_edkdZ?dj[hdWj_# edWb[dM_hjiY^W\jiehZdkd]"8Z$/

:Wilehb_[][dZ[8kY^[dj^bj8[_jh][pkh

8_jj[X[ij[bb[dI_[X[_?^h[h8kY^^WdZbkd] eZ[hX[_DeceirJ[b[\ed&-(('%('&*#)-r

28 Zu den soeben verwendeten Begriffen vgl. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1 und 2, 1981. Dass es Befürworter einer weiteren „religionspolitischen Stärkung“ der Union gibt, wird im Blick auf Weninger (Europa ohne Gott?, 2007) deutlich. Zur Unwahrscheinlichkeit eines neuen Konstitutionalisierungs- schubs vgl. z.B. Anne Faber: Die Weiterentwicklung der Europäischen Union: Vertiefung versus Erweite- rung?, in: integration 2/2007, S. 103-116, vor allem S. 112-113; Klaus Hänsch: Ende gut – alles gut? Anmerkungen zum Reformvertrag, in: integration 4/2007, S. 499-502, vor allem S. 500. Die demokratische Legitimität europäischen Regierens: ein Labyrinth ohne Ausgang?

Andreas Wimmel*

In einem viel zitierten Aufsatz sprechen Richard Bellamy und Dario Castiglione von ei- ner „normativen Wende“ in der Europawissenschaft.1 Mit diesem Schlagwort verweisen sie auf die Beobachtung, dass der fortschreitende Prozess europäischer Integration nicht nur in politischen und öffentlichen Debatten, sondern auch in rechts-, sozial- und politikwissen- schaftlichen Abhandlungen zunehmend mit Kritiken und Bewertungen konfrontiert ist, die über die Erklärung oder das ‚Verstehen‘ europapolitischer Institutionen, Prozesse und Poli- tikfelder hinausgehen. Normativ argumentierende Wissenschaftler und Intellektuelle haben die Europaforschung als neues Betätigungsfeld erschlossen und damit begonnen, klassische Begriffe, Konzepte und Argumente zur Rechtfertigung (nationaler) politischer Ordnungen, die neben anderen Fragen und Problemstellungen traditionell in der praktischen Philosophie behandelt werden, an das europäische Mehrebenensystem heranzutragen, anstatt sich wie die frühen Pioniere der Integrationsforschung auf den empirischen Test von Hypothesen zu beschränken.2 In erster Linie geht es in diesen kritischen Europadiskursen um die Fragen, ob und inwieweit politische oder rechtliche Entscheidungen, die innerhalb oder zwischen EU- Institutionen getroffen werden, Demokratie- und/oder Legitimationsdefiziten unterliegen (Diagnose), an welchen Merkmalen diese Defizite zu erkennen sind und auf welche Ursa- chen sie sich zurückführen lassen (Symptome), und durch welche politischen Maßnahmen oder gesellschaftlichen Entwicklungen sie gegebenenfalls gemindert oder behoben werden könnten (Therapien). Völlig zurecht datieren Bellamy and Castiglione die Geburtsstunde der kritischen Legiti- mations- und Demokratiedebatten zurück bis zum Vertrag von Maastricht (1992), der zu ei- ner erheblichen, folgenreichen und nach Jahren der Stagnation durchaus überraschenden Vertiefung und Weiterentwicklung der europäischen Integration führte. Auch wenn den ge- scheiterten Referenden und öffentlichen Protesten gegen den ‚Europäischen Verfassungs- vertrag‘ in Frankreich und den Niederlanden im Mai und Juni 2005 eine wesentlich größere Medienaufmerksamkeit zuteil wurde, setzte bereits spätestens mit dem Maastricht-Vertrag eine dreidimensionale Dynamik ein, deren Ineinandergreifen als Initialzündung der normati- ven Legitimations- und/oder Demokratiedebatte aufgefasst werden muss: Erstens begann damals die generelle Zustimmung zur Europäischen Union in vielen Mitgliedsländern zu sinken, sodass der bis dato vorausgesetzte ‚stillschweigende Konsens‘ seitens der Bürger zur Fortsetzung des europäischen Integrationsprojekts mehr und mehr ins Wanken geriet; zwei- tens wurden bekanntlich zwei nationale Verfassungsgerichte, das Bundesverfassungsgericht und der dänische Oberste Gerichtshof, angerufen, um prüfen zu lassen, ob der aus dem EG- Vertrag resultierende Verlust an nationaler Souveränität mit dem jeweiligen Verfassungs- recht zu vereinbaren ist; und drittens wurde in einigen Politikfeldern der Weg für Mehrheits-

1* Dr. Andreas Wimmel, Assistenzprofessor für European Studies am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien. 1 Richard Bellamy/Dario Castiglione: Legitimizing the Euro-Polity and its Regime. The Normative Turn in EU Studies, in: European Journal of Political Theory 1/2003, S. 7-34. 2 Siehe einführend die Überblicksartikel von Heidrun Friese/Peter Wagner: The Nascent Political Philosophy of the European Union, in: Journal of Political Philosophy 3/2002, S. 342-364 und Andreas F¿llesdal: The Legiti- macy Deficits of the European Union, in: Journal of Political Philosophy 4/2006, S. 441-468. Demokratische Legitimität europäischen Regierens integration Ð 1/2008 49 entscheidungen in Rat und Parlament freigemacht beziehungsweise ausgebaut, wodurch zu- mindest die theoretische Situation geschaffen wurde, dass eine Staatengruppe eine andere überstimmen könnte.3 Seitdem hat sich eine ungemein vielschichtige und kontrovers geführte Debatte zur Legi- timation europäischen Regierens entwickelt, die heute kaum noch zu überblicken ist. Es scheint, als sei man in einem theoretischen Labyrinth ohne Ausgang gefangen. Dieser Arti- kel versucht nicht, einen weiteren normativen Beitrag zu den Diagnosen, Symptomen und Therapien eines Demokratie- und/oder Legitimationsdefizits der Europäischen Union zu leisten (oder gegen die Existenz von Defiziten zu argumentieren) oder vorliegende norma- tive Positionen kritisch zu diskutieren, sondern konzentriert sich darauf, die ineinander ver- schlungenen Theoriestränge aufzulösen und eine analytische Differenzierung zu präsentie- ren, die Ð wie ich hoffe Ð zumindest etwas zur Ausleuchtung des Irrgartens beitragen kann. In Auseinandersetzung mit vorliegenden Kategorisierungen wird ein metatheoretisches Be- griffssystem entwickelt, das zwischen bestimmten Konzepten, Objekten, Variablen und Be- wertungsstandards unterscheidet, die mit der politischen Legitimität europäischen Regierens in normativen und empirischen Wechselbeziehungen stehen könnten. Das Ergebnis ist eine systematische Heuristik, die zu einer differenzierteren und theoretisch informierten Analyse und Bewertung von Demokratie- und Legitimationskritik, mit der die Europäische Union zunehmend konfrontiert wird, anleiten soll.

Forschungsstand zur Metatheorie der EU-Legitimationsdebatte Nachdem zunächst vor allem normative Bewertungen erster Ordnung zur politischen Le- gitimation europäischen Regierens veröffentlicht und diskutiert wurden, liegen inzwischen einige metatheoretische Studien zweiter Ordnung vor, in denen die Fachdebatte analytisch aufgearbeitet und systematisch ausdifferenziert wird.4 Während die Meinungsverschieden- heiten bezüglich der Legitimation der Europäischen Union anfangs durchaus Kreativpoten- zial hatten und für mehrdimensionale Problemlösungen sensibilisierten, geht es im metatheoretischen Diskurs um begriffliche Schärfungen sowie die Offenlegung unlogischer oder inkonsistenter Zusammenhänge und Prämissen, die in Bewertungen erster Ordnung häufig unbewusst im Dunkeln geblieben sind. Eine solche Perspektive kann insofern zur Weiterentwicklung der EU-Legitimationsdebatte beitragen, als eine der zentralen Ursachen für die teilweise vollkommen gegensätzlichen Auffassungen zum Demokratie- und Legiti- mationsgehalt europäischen Regierens in uneinheitlichen und unklaren Begriffverständnis- sen zu verorten ist, die dazu geführt haben, dass manche Diskursteilnehmer zunächst regelrecht ‚aneinander vorbeigeredet‘ haben, ohne zum tieferliegenden Grund ihres Kon- flikts vorzudringen.5 Obwohl sich diese metatheoretische Auseinandersetzung erst in ihren Anfängen befindet, wurde beispielsweise relativ schnell offensichtlich, dass die stark rezi-

3 Joseph H. H. Weiler: After Maastricht. Community Legitimacy in Post-1992 Europe, in: William J. Adams (Hrsg.): Singular Europe. Economy and Polity of the European Community after 1992, Ann Arbor 1992, S. 11- 41. 4 Vgl. Dimitris N. Chryssochoou: Metatheory and the Study of the European Union. Capturing the Normative Turn, in: Journal of European Integration 2/2000, S. 123-144; Ronald Holzhacker: Democratic Legitimacy and the European Union, in: Journal of European Integration 3/2007, S. 257-269. 5 Siehe exemplarisch die Debatte zwischen Andrew Moravcsik: In Defence of the “Democratic Deficit”. Reas- sessing Legitimacy in the European Union, in: Journal of Common Market Studies 4/2002, S. 603-624 und Andreas F¿llesdal/Simon Hix: Why There is a Democratic Deficit in the EU. A Response to Majone and Mo- ravcsik, in: Journal of Common Market Studies 3/2006, S. 533-562; vgl. außerdem die Beiträge in Beate Koh- ler-Koch/Berthold Rittberger (Hrsg.): Debating the Democratic Legitimacy of the European Union, Lanham 2007. 50 integration Ð 1/2008 Demokratische Legitimität europäischen Regierens tierte und heute fast landläufige Dichotomie zwischen Input- und Output-Legitimität von Fritz Scharpf zumindest nicht mehr ausreicht, um alle denkbaren Formen und theoretischen Verknüpfungen von Legitimations- und Demokratiekritiken, die an das europäische Mehr- ebenensystem herangetragen wurden, einzufangen. Mit dieser gleicherma§en griffigen wie vereinfachenden Unterscheidung ist es nicht möglich, alle potenziellen Quellen und Defizite von politischer Legitimität widerspruchsfrei abzudecken, denn oftmals blieb unklar, ob und wie bestimmte Legitimationsobjekte mit welchem der beiden Legitimationstypen zusam- menhängen, oder inwieweit der institutionelle Entscheidungsprozess (unabhängig von der Bürgerbeteiligung) normativ relevant ist.6 Die meisten vorliegenden metatheoretischen Studien zur EU-Legitimationsdebatte unter- scheiden mehr oder weniger explizit zwischen bestimmten Kategorien, ohne dass immer deutlich wird, ob und inwieweit diese Differenzierungen begrifflich hinreichend sind, um alle möglichen Dimensionen von EU-Legitimität aufzufangen, die eine umfassende Heuris- tik voraussetzt. Erik O. Eriksen und John Erik Fossum schlagen drei Strategien als mögliche Lösungen für EU-Legitimationsprobleme vor, die von theoretischen Finalitätsideen der eu- ropäischen Integration abgeleitet werden und laut den Autoren jeweils spezifische Stärken und Schwächen aufweisen. Der erste Typ begreift die Europäische Union als eine funktio- nale „Problemlösungseinheit“, der zweite konstruiert sie als eine „Wertegemeinschaft“, und der dritte beschreibt sie als eine „auf Rechten basierende Vereinigung“. Diese drei Typen werden vor allem entlang der ihnen zugrunde liegenden „Konzeptionen von Rationalität“ (instrumentell, kontextuell, kommunikativ) und hinsichtlich ihres „Legitimationsmodus“ (Effektivität, kollektives Selbstverständnis, Gerechtigkeit und Normen der Fairness) unter- schieden.7 Christopher Lord und Paul Magnette unterscheiden demgegenüber zwischen vier „Legitimationsvektoren“ (Vectors of Legitimation), die nicht als voll entwickelte Theorien verstanden werden sollen, sondern als Leitlinien zu einer möglichen Legitimation europä- ischen Regierens: „Indirekte Legitimität“ meint demokratische Legitimation, die von der na- tionalen Ebene in die EU-Institutionen hineingetragen wird; „parlamentarische Legitimität“ fragt nach dem Einfluss und den Kontrollfunktionen nationaler parlamentarischer Körper- schaften sowie des direkt gewählten Europäischen Parlaments im EU-Entscheidungspro- zess; „technokratische Legitimität“ bemisst sich an der Fähigkeit der EU-Institutionen, kom- plexe und technisch anspruchsvolle Probleme effizient und effektiv für die Bürger zu lösen; und „prozedurale Legitimität“ ergibt sich aus den Verfahren der Entscheidungsfindung, also aus der Frage, wie Akteure oder Institutionen zusammenwirken und kollektiv entscheiden. Für jeden Vektor werden zusätzlich eine Input- und eine Output-Variante ausdifferenziert.8 Richard Bellamy und Dario Castiglione unterscheiden zwischen einer „internen“ und einer „externen“ Dimensionen von Legitimität: Die interne Dimension reflektiert die normbasier- ten Beziehungen zwischen den Bürgern in politischen Ordnungen sowie gegenüber den In- stitutionen, von denen sie regiert werden; die externe Dimension betrifft die Rechtfertigung dieser Institutionen und ihre Vereinbarkeit mit bestimmten formalen und substanziellen

6 Fritz W. Scharpf: Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch?, Frankfurt/New York 1999; siehe dazu auch Andrew Moravcsik/Andrea Sangiovanni: On Democracy and “Public Interest” in the European Integration, in: Renate Mayntz/Wolfgang Streeck (Hrsg.): Die Reformierbarkeit der Demokratie. Innovationen und Blocka- den. Festschrift für Fritz W. Scharpf, Frankfurt/New York 2003, S. 122-148 und Peter A. Kraus: Die Begrün- dung demokratischer Politik in Europa. Zur Unterscheidung von Input- und Output-Legitimation bei Fritz W. Scharpf, in: Leviathan 4/2004, S. 558-567. 7 Erik O. Eriksen/John E. Fossum: Europe in Search of Legitimacy. Strategies of Legitimation Assessed, in: In- ternational Political Science Review 4/2004, S. 435-459. 8 Christopher Lord/Paul Magnette: E pluribus unum? Creative Disagreement about Legitimacy in the EU, in: Journal of Common Market Studies 1/2004, S. 183-202. Demokratische Legitimität europäischen Regierens integration Ð 1/2008 51

Normen. Beide Dimensionen lassen sich auf die Legitimation der ãinstitutionellen Ord- nung“ (polity) und auf das „Entscheidungssystem“ (regime) beziehen, wobei die Polity-Di- mension noch einmal in „Subjekte“ und „Sphären“ des Politischen, und die Regime-Dimen- sion in „Stile“ und „Reichweiten“ (scopes) des Politischen ausdifferenziert wird.9 Andreas F¿llesdal, der bislang die komplexeste Kategorisierung vorgelegt hat, differenziert schlie§- lich zwischen vier grundlegenden „Konzeptionen“ (Legalität, Rechtsbefolgung, Problembe- wältigung, Rechtfertigungsfähigkeit), vier institutionellen „Mechanismen“ (Partizipation, repräsentative Demokratie, faktische Zustimmung, Ergebnisse), und sechs „Objekten“ (poli- tische Entscheidungen, Autoritäten, öffentliche Institutionen, politische Ordnung insgesamt, Grundsätze der politischen Ordnung und politische Gemeinschaft) demokratischer Legiti- mation. Die jeweiligen Unterkategorien werden teilweise noch weiter ausdifferenziert, bei- spielsweise die Konzeption „Rechtfertigungsfähigkeit“ (justifiability) in legale, soziale und normative Legitimation.10 Offensichtlich unterscheiden sich diese vier metatheoretischen Ansätze erheblich vonein- ander, obwohl die meisten Kategorien in leicht veränderter Form und Struktur in allen Typo- logien auftauchen und alle Autoren das gleiche Erkenntnisziel verfolgen, nämlich die Ent- wicklung einer konsistenten und umfassenden Heuristik zur Analyse und Bewertung der politischen Legitimation der Europäischen Union. Diese Unterschiede sind erstens vor allem auf begriffliche Unschärfen zurückzuführen, da die meisten Kategorien metaphysische Prin- zipien darstellen, die sich auf nicht direkt wahrnehmbare, sehr abstrakte Sachverhalte bezie- hen, und deren Deutung und Abgrenzung einen erheblichen Definitionsaufwand erfordert. Diese Interpretationsvarianz führt zu unterschiedlichen Anordnungen der Begriffe, die teil- weise auf der gleichen Ebene angesiedelt werden, teilweise jedoch auch als Teil- oder Unter- kategorien gedeutet und deswegen anderen Oberkategorien zugeordnet werden. Während beispielsweise die vier Legitimationsvektoren von Lord und Magnette auf einer gleichrangi- gen Ebene liegen, definieren Bellamy und Castiglione bestimmte Ober-, Zwischen- und Un- terkategorien. Beide Begriffsanordnungen ziehen Begründungslasten nach sich, da entweder argumentiert werden muss, warum bestimmte Kategorien auf einer Ebene liegen und keine Unterkategorien haben, oder weil gerechtfertigt werden muss, warum bestimmte Kategorien nicht auf einer Ebene liegen und Unterkategorien einzuführen sind. Zweitens bleibt häufig unklar, ob bestimmte Ober- und Unterkategorien notwendige Bedingungen für die jeweilige Kategorie darstellen, oder sogar als hinreichende Bedingungen zu verstehen sind. Notwen- dige Bedingungen weisen bestimmte Kategorien als theoretisch dringend erforderlich aus, die in keinem kompletten metatheoretischen Begriffssystem fehlen dürfen, und hinreichende Bedingungen behaupten die analytische Vollständigkeit bestimmter Ober- und Unterkatego- rien. Während Føllesdal unmissverständlich formuliert, dass er eine hinreichende Kategori- sierung vorzulegen versucht, lassen Eriksen und Fossum in ihrem Artikel offen, ob die drei Strategien der Legitimation für eine umfassende Heuristik ausreichen. Und drittens bleibt häufig undurchsichtig, ob die Autoren bereits bestimmte Kategorien als normative Bedin- gungen für eine legitime politische Ordnung postulieren (und inwieweit diese defizitär sind), oder ob bestimmte Kategorien zunächst einmal systematisch ausdifferenziert werden, die mit der politischen Legitimität europäischen Regierens in einer normativ-theoretischen Be- ziehungen stehen könnten. Sowohl die analytische als auch die wertende Perspektive verkör- pern sinnvolle Ansatzpunkte für einen ertragreichen Legitimationsdiskurs, allerdings wäre

9 Bellamy/Castiglione: Legitimizing the Euro-Polity and its Regime, 2003. 10 Andreas F¿llesdal: EU Legitimacy and Normative Political Theory, in: Michelle Cini/Angela Bourne (Hrsg.): Palgrave Advances in European Union Studies, Basingstoke 2006, S. 151-173. 52 integration Ð 1/2008 Demokratische Legitimität europäischen Regierens eine klare Offenlegung und Positionierung hilfreich, um Missverständnisse zu vermeiden. Analytische Kategorien, die der Vollständigkeit halber in ein metatheoretisches Begriffssys- tem gehören, müssen nicht gleichzeitig als normativ notwendig oder defizitär ausgewiesen werden. Eine Bewertung der einzelnen Kategorien, die häufig empirisches Wissen voraus- setzt, bedeutet einen ungleich größeren Argumentationsaufwand und muss nicht zwingend geleistet werden, um die Kategorien analytisch zu rechtfertigen. Während Eriksen und Fos- sum von Beginn an offenlegen, dass sie ihre drei Legitimationsstrategien in erster Linie nor- mativ diskutieren wollen, und sich F¿llesdal zumindest im ersten Teil seines Textes sehr be- müht zeigt, stark wertende Begriffe zu vermeiden, vermischen sich in der komplexen Kategorisierung von Bellamy und Castiglione analytische und normative Elemente zu einem ineinander verästelten und nur schwer zu durchschauenden Begriffswirrwarr. In den folgenden Abschnitten möchte ich darlegen, dass wir vier Oberkategorien mit je- weils drei Unterkategorien benötigen, um das Problem der demokratischen Legitimation eu- ropäischen Regierens in einem theoretischen Rahmen erfassen und bearbeiten zu können. Erstens benötigen wir ein Legitimationskonzept, das präzise definiert und abgrenzt, unter welchen Bedingungen politische Macht akzeptierbar oder anerkennungswürdig erscheint. Zweitens benötigen wir ein Legitimationsobjekt, also eine bestimmte politische Einrichtung oder eine bestimmte Rechtsnorm, deren politische Legitimität bewertet werden kann. Drit- tens muss eine Legitimationsvariable bestimmt werden, von der die politische Legitimität abhängig gemacht wird, also beispielsweise der Prozess der Entscheidungsfindung oder be- stimmte Politikresultate. Und viertens muss ein Legitimationsstandard formuliert werden, an dem die Legitimität gemessen und beurteilt werden kann, also beispielsweise ein norma- tiver Idealzustand oder ein bestimmter Nationalstaat. Zudem werde ich argumentieren, dass es ausreicht, jede dieser Kategorien in jeweils drei Unterkategorien auszudifferenzieren, um die bislang in der Debatte diskutierten Formen und theoretischen Verknüpfungen von Legi- timations- und/oder Demokratiekritiken, die an das Mehrebenensystem der Europäischen Union herangetragen wurden, einzufangen.11

Legitimationskonzepte Unter welchen Bedingungen politische Ordnungen legitimiert beziehungsweise von ei- nem Staat mitunter gewaltsam durchgesetzte Zwänge gerechtfertigt werden können, ist ver- mutlich das älteste, aber nach wie vor zentrale Thema der politischen Philosophie.12 Nach- dem sich die Europäische Union zu einem supranationalen Herrschaftsverband entwickelt hat, in dem regiert wird, also rechtlich verbindliche Entscheidungen von einer Tiefe und Reichweite getroffen und durchgesetzt werden, die zuvor allein souveränen Nationalstaaten vorbehalten waren, stellt sich zwingend die Frage, welche klassischen Legitimationskon- zepte auch jenseits nationalstaatlichen Regierens ihre normative Gültigkeit behalten.13 Legi- timationskonzepte formulieren Vorstellungen darüber, ob und unter welchen Bedingungen bestimmte Legitimationsobjekte, wie beispielsweise politische Institutionen oder einzelne

11 Damit soll ausdrücklich nicht behauptet werden, dass mit dieser Heuristik nicht nur die bereits diskutierten, sondern auch alle möglichen Formen von Demokratie- und Legitimationskritiken, die in Zukunft an die EU herangetragen werden könnten, berücksichtigt werden. Ich danke einem der Gutachter für diesen wichtigen Hinweis. 12 Rodney Barker: Political Legitimacy and the State, Oxford 1990; David Beetham: The Legitimation of Power, Basingstoke 1991. 13 Rodney Barker: Legitimacy, Legitimation, and the European Union. What Crisis?, in: Paul P. Craig/Richard Rawlings (Hrsg.): Law and Administration in Europe. Essays in Honour of Carol Harlow, Oxford 2003, S. 157-174. Demokratische Legitimität europäischen Regierens integration Ð 1/2008 53 politische Sachentscheidungen, als akzeptierbar oder anerkennungswürdig unterstellt wer- den können und unabhängig von der eigenen Person intersubjektiv zu rechtfertigen sind.14 In Bezug auf die Europäische Union sind drei Konzepte politischer Legitimation unterschieden worden, mit denen bestimmte Legitimationsobjekte einer Bewertung unterzogen werden könnten, nämlich Legalität, Zustimmung/Folgebereitschaft und normative Rechtfertigung. Legalität: Das Konzept der Legalität beschränkt sich auf die rein juristisch zu beantwor- tende Frage, ob und inwieweit gegen positiv gesetzte Rechtsvorschriften versto§en wird und leitet aus dieser Beurteilung die Legitimität politischer Ordnungen ab. Ob und inwieweit diese Rechtskonformität gegeben ist, könnte entweder von den Urteilen nationaler oder su- pranationaler Instanzen wie dem Europäischen Gerichtshof abhängig gemacht werden, oder von der eigenen juristischen Argumentation. Ganz offensichtlich verbirgt sich hinter diesem ersten Konzept die seit jeher heftig umstrittene Idee des Rechtspositivismus, zu dem nach wie vor ein (allerdings überschaubarer) rechtsphilosophischer Diskurs geführt wird.15 Zu- mindest in der metatheoretischen Debatte um die politische Legitimität der Europäischen Union sollte dieses Legitimationskonzept trotzdem berücksichtigt werden, denn selbst wenn man die Legalität eines politischen Systems nicht als hinreichende Bedingung für dessen Le- gitimität akzeptiert, bleibt der Legalitätsaspekt möglicherweise dennoch eines von mehreren Bewertungskriterien. Im Zusammenhang mit der Europäischen Union können zwei Dimen- sionen von Legalität unterschieden werden, nämlich erstens die Vereinbarkeit der primär- rechtlichen Vertragsgrundlagen der Europäischen Gemeinschaft mit nationalem Verfas- sungsrecht, und zweitens die formale Rechtseinhaltung im legislativen und exekutiven Entscheidungsprozess innerhalb und zwischen EU-Institutionen.16 Zustimmung/Folgebereitschaft: Das Konzept der Zustimmung/Folgebereitschaft wird in der Tradition von Max Weber häufig als „Legitimitätsglaube“ bezeichnet.17 Die Legitimität eines politischen Systems oder einzelner Entscheidungen hängt gemäß dieses Konzepts von der faktischen Anerkennung der Bürger ab, die empirisch gemessen werden kann. Zustim- mung wird in der Regel durch Einstellungs- und Meinungsumfragen erfasst, während sich Folgebereitschaft an der Einhaltung von Rechtsnormen erkennen lässt. Sobald die Zustim- mungs- und/oder Folgebereitschaft der Bevölkerung innerhalb eines politischen Raumes un- ter ein bestimmtes (schwer zu definierendes) Niveau sinkt, müsse von einer Legitimations- krise gesprochen werden, unabhängig davon, inwieweit Bürgerproteste oder die Ausübung zivilen Ungehorsams normativ gerechtfertigt sind. Sofern nur dieses zweite Konzept heran- gezogen wird, könnten politische Ordnungen durchaus als legitim gelten, auch wenn be- stimmte Rechtsvorschriften nicht rechtmäßig erlassen wurden, solange die Bürger nur zu- stimmen und ihnen Folge leisten. Im Kontext der Europäischen Union könnte argumentiert werden, europäisches Regieren würde dann unter einem Legitimationsdefizit leiden, wenn immer weniger Bürger die EU-Mitgliedschaft ihres Landes befürworteten, wenn sie die in

14 John Rawls: Justice as Fairness. Political not Metaphysical, in: Philosophy and Public Affairs 3/1985, S. 223- 251; siehe dazu auch Glyn Morgan: The Idea of a European Superstate. Public Justification and European Inte- gration, Princeton 2005, der vertragstheoretisch analysiert hat, ob und inwieweit das politische System der Eu- ropäischen Union mit John Rawls Theorie der Gerechtigkeit legitimiert werden könnte. 15 Weyma Lübbe: Legitimität kraft Legalität. Sinnverstehen und Institutionenanalyse bei Max Weber und seinen Kritikern, Tübingen 1991; David Dyzenhaus: The Legitimacy of Legality, in: Archiv für Rechts- und Sozial- philosophie 3/1996, S. 324-360. 16 Paul P. Craig: Democracy and Rule-making within the EC. An Empirical and Normative Assessment, in: Eu- ropean Law Journal 2/1997, S. 105-130; Koen Lenaerts/Marlies Desomer: New Models of Constitution-Ma- king in Europe. The Quest for Legitimacy, in: Common Market Law Review 6/2002, S. 1217-1254. 17 Roger Cotterrell: Legality and Political Legitimacy in the Sociology of Max Weber, in: David Sugarman (Hrsg.): Legality, Ideology and the State, London 1983, S. 69-94. 54 integration Ð 1/2008 Demokratische Legitimität europäischen Regierens die nationalen Rechtsordnungen umgesetzten EU-Richtlinien nicht akzeptierten, wenn die Beteiligung an Europawahlen nachhaltig sinken würde, oder wenn der öffentliche Wider- stand gegen EU-Politik oder gegen die ‚Europäische Verfassung‘ zunähme.18 Normative Rechtfertigung: Das Konzept der normativen Rechtfertigung ist zweifellos das am häufigsten verwendete und gleichzeitig hinsichtlich der inhaltlichen Konkretisierung am meisten umstrittene Verständnis politischer Legitimation im Kontext der EU-Legitimitäts- debatte. Hinter dieser dritten Unterkategorie verbirgt sich kein eindeutiges, vom Subjekt ex- ternes Bewertungsobjekt wie positiv gesetzte Rechtsvorschriften oder die Zustimmung be- ziehungsweise Folgebereitschaft der Bürger, sondern dieses Konzept zeichnet sich vielmehr durch eine subjektive Normensetzung aus, die als Bewertungsmaßstab selbst erst begründet und gerechtfertigt werden muss: Legalität kann, muss aber nicht unbedingt Teil einer norma- tiven Rechtfertigung sein.19 Klassische Beispiele sind normative Rechtfertigungen bestimm- ter Demokratieverständnisse oder substanzielle Güter wie individuelle Freiheitsrechte oder soziale Gerechtigkeit, die politische Systeme gewährleisten und sichern müssten, um als le- gitim gelten zu können. Politische Ordnungen, in denen gemäß bestimmter Verfahrensnor- men geltendes Recht erlassen wird und die Bevölkerungsmehrheit diesem zustimmt bezie- hungsweise folgt, könnten laut diesem Konzept trotzdem illegitim sein, wenn in ihnen bestimmte, normativ als substanziell begründete Ansprüche oder Güter nicht respektiert oder nicht bereitgestellt werden.20 Bezogen auf die Europäische Union könnte mit diesem Konzept beispielsweise argumentiert werden, europäisches Regieren leide unter einem Legi- timationsdefizit, weil die Beteiligungschancen der Bürger an europapolitischen Entschei- dungsprozessen zu gering seien oder die Folgen von politischen Sachentscheidungen soziale Ungerechtigkeiten verstärken würden. Mit diesen drei Konzepten werden die bislang am intensivsten diskutierten Verständ- nisse, wie politische Legitimität begrifflich definiert und analytisch ausdifferenziert werden kann, berücksichtigt. Das rechtspositivistische Konzept Legalität leitet aus der Gesetzmä- ßigkeit bestimmter Rechtsnormen und Prozeduren deren Legitimität ab und bedient sich da- mit einem anderen Begründungsmodus als die beiden anderen Konzepte. Das Konzept der Zustimmung/Folgebereitschaft, das häufig auch als empirische Legitimität verstanden wird, fragt nach gesellschaftlichen Indikatoren zur Beurteilung politischer Herrschaftsordnungen (oder einzelner Entscheidungen), die au§erhalb des beobachtenden Subjekts selbst liegen, also vor allem Meinungsumfragen, Protestbewegungen oder öffentliche Debatten. Das Kon- zept der normativen Rechtfertigung setzt demgegenüber eine subjektive Normsetzung vor- aus, die unabhängig von sozialen Ereignissen mit überzeugenden Gründen gerechtfertigt werden muss, zum Beispiel die gängige Forderung nach transparenten Entscheidungsverfah- ren. Zweifellos könnten diese drei Konzepte zusammenhängen: So könnte die prozedurale Legalität von Rechtsnormen die Zustimmung oder Folgebereitschaft der Bürger beeinflus- sen, oder normative Legitimationskritik könnte auf zunehmende soziale Protestbewegungen gestützt werden, die sich nur empirisch feststellen ließen.

18 Dieter Fuchs: Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und die politische Integration Europas: Eine Analyse der Einstellungen der Bürger in Westeuropa, in: Frank Brettschneider/Jan van Deth/Edeltraut Roller (Hrsg.): Europäische Integration in der öffentlichen Meinung, Opladen 2003, S. 29-56; Achim Hurrelmann: European Democracy, the “Permissive Consensus”, and the Collapse of the EU Constitution, in: European Law Journal 3/2007, S. 343-359. 19 Gerald F. Gaus: Justificatory Liberalism. An Essay on Epistemology and Political Theory, New York 1996; John A. Simmons: Justification and Legitimacy, in: Ethics 4/1999, S. 739-771. 20 Brett R. Wheeler: Law and Legitimacy in the Work of Jürgen Habermas and Carl Schmitt, in: Ethics & Inter- national Affairs 1/2001, S. 173-183. Demokratische Legitimität europäischen Regierens integration Ð 1/2008 55

Legitimationsobjekte Legitimationsobjekte bezeichnen bestimmte empirische Einheiten, die einer normativen Bewertung unterzogen werden können, je nachdem, welches Legitimationskonzept gewählt wird. Während die drei Konzepte zunächst ein bestimmtes Begriffsverständnis von politi- scher Legitimität definieren, können die Objekte entlang dieser Konzepte hinsichtlich ihrer Legitimation analysiert werden. In der Regel wird in der Legitimationsdebatte die Europä- ische Union als eine empirische Einheit gesehen, ohne ausreichend zwischen verschiedenen Institutionen und speziellen Sachentscheidungen zu differenzieren. Natürlich kann die poli- tische Ordnung der Europäischen Union insgesamt Legitimationsdefizite aufweisen, die sich nicht auf untergeordnete Einheiten reduzieren lassen. Allerdings wäre auch die Situation denkbar, dass wir bestimmte Defizite ausschlie§lich bei der Analyse bestimmter Institutio- nen oder bestimmter Sachentscheidungen feststellen, während das Gesamtsystem keinen Anlass für Demokratie- oder Legitimationskritik bietet. Deswegen sind in Bezug auf die Eu- ropäische Union drei Objektebenen demokratischer Legitimation unterschieden worden, die einer kritisch-normativen Bewertung unterzogen werden könnten, nämlich die politische Ordnung der EU (oder: deren Verfassung) insgesamt, einzelne EU-Institutionen und spezifi- sche EU-Politikentscheidungen. Politische Ordnung (Verfassung) der EU: Klassischerweise wurden Legitimationsbewer- tungen meist auf politische Ordnungen insgesamt bezogen, beispielsweise auf die Chancen der Bürger, sich aktiv an politischen Entscheidungen zu beteiligen, auf die mehr oder weni- ger demokratische Verfassung eines Nationalstaates oder auf das Zusammenspiel verschie- dener Institutionen oder Ebenen innerhalb eines Bundesstaates. Die Kritik richtet sich bei diesem ersten Objekt nicht gegen einzelne Institutionen innerhalb des Systems oder gegen spezielle politische Sachentscheidungen, sondern gegen die Konstruktion der politischen Ordnung in ihrer Gesamtheit. So kann je nach Legitimationskonzept diskutiert werden, ob und warum präsidentielle Regierungssysteme weniger legitim sind als parlamentarische De- mokratien, inwieweit direktdemokratische Beteiligungsformen zu einer höheren politischen Legitimation führen als repräsentative Entscheidungsverfahren, oder inwieweit die Zustim- mung der Bürger zur politischen Ordnung vom jeweiligen Demokratietyp abhängt.21 Die Debatte zur politischen Legitimation europäischen Regierens war von Beginn an stark auf dieses erste Legitimationsobjekt konzentriert, insbesondere bei der Frage um die Notwen- digkeit einer ‚Europäischen Verfassung‘ und bezüglich institutioneller Reformen,22 aber auch aktuell im Kontext der Problematik (zu) langer „Legitimationsketten“ im komplexen Mehrebenensystem der Europäischen Union.23 EU-Institutionen: Ein zweites Objekt, das einer Legitimationsbewertung unterzogen wer- den kann, sind einzelne politische Institutionen innerhalb einer (nationalen oder supranatio- nalen) politischen Ordnung. Je nachdem, welches Konzept politischer Legitimation heran- gezogen wird, wäre theoretisch die Situation denkbar, dass zwar das politische System

21 Albert Weale: Democracy, Basingstoke 1999; Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien, Opladen 2000; Frank Cunningham: Theories of Democracy. A Critical Introduction, London 2002. 22 Dieter Grimm: Braucht Europa eine Verfassung?, in: Juristen Zeitung 50 (16. Juni 1995), S. 581-591; Joseph H. H. Weiler: Does Europe Need a Constitution? Reflections on Demos, Telos and the German Maastricht De- cision, in: European Law Journal 3/1995, S. 219-258. 23 Marcus Höreth: No Way out for the Beast? The Unsolved Legitimacy Problem of European Governance, in: Journal of European Public Policy 2/1999, S. 249-268; Stephen George: Multi-Level Governance and the Eu- ropean Union, in: Ian Bache/Matthew Flinders (Hrsg.): Multi-level Governance, Oxford 2005, S. 107-126; Ar- thur Benz: Policy-Making and Accountability in EU Multilevel Governance, in: Arthur Benz/Yannis Papadopoulos (Hrsg.): Governance and Democracy. Comparing National, European and International Experi- ences, London 2006, S. 168-199. 56 integration Ð 1/2008 Demokratische Legitimität europäischen Regierens insgesamt legitimiert ist, aber einzelne politische Institutionen spezielle Legitimationsmän- gel aufweisen, möglicherweise weil ihnen die Folgebereitschaft verweigert wird, sie sich nicht an geltendes Recht halten oder keine demokratische Partizipation ermöglichen, sofern Formen verstärkter Beteiligung normativ gerechtfertigt werden. Auf der anderen Seite wäre es aber ebenso vorstellbar, dass zwar die politische Ordnung insgesamt Defizite politischer Legitimität aufweist, aber dafür zumindest einzelne Institutionen zufriedenstellend legiti- miert sind, weil gerade sie bestimmten Kriterien gerecht werden, also zum Beispiel effektive Problemlösungen anbieten oder sehr transparent verhandeln und entscheiden. Im Kontext der Debatte um die politische Legitimation von einzelnen EU-Institutionen wurde unter an- derem gefragt, ob und inwieweit Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs von den Bürgern akzeptiert werden, inwieweit die Politik der Europäischen Zentralbank demokra- tisch legitimiert ist beziehungsweise sein sollte, und inwieweit der EU-Verfassungskonvent besser legitimiert war als herkömmliche Vertragsrevisionen im Rahmen von Regierungs- konferenzen.24 EU-Politikentscheidungen: Schließlich können bestimmte Politikentscheidungen als em- pirische Einheiten Legitimationsbewertungen ausgesetzt werden.25 Diese dritte Unterschei- dung ist notwendig, weil aus der demokratischen Legitimation politischer Ordnungen insge- samt oder einzelner politischer Institutionen nicht unbedingt geschlussfolgert werden kann, dass auch einzelne Politikentscheidungen je nach Legitimationskonzept und Legitimations- variable (siehe unten) ausreichend legitimiert sind. Beispielsweise könnte gerade in be- stimmten Politikfeldern und von verschiedenen Institutionen gegen Verfahrensrecht versto- §en oder Entscheidungen getroffen werden, die substanzielle Normen wie Freiheits- oder Gleichheitsrechte verletzen. Außerdem wäre die Situation theoretisch vorstellbar, dass für Entscheidungen in bestimmten Politikfeldern andere institutionelle Verfahren gelten, die zu anderen Legitimationsbewertungen führen könnten.26 Im Kontext von EU-Politikfeldern wurde unter anderem gefragt, ob und inwieweit Entscheidungen in der Handelspolitik der Europäischen Union als ausreichend demokratisch legitimiert bezeichnet werden können, inwieweit Entscheidungen in der Gemeinsamen Au§en- und Sicherheitspolitik (GASP) der Union ausreichend demokratisch kontrolliert sind, und aktuell, inwieweit und mit welchen Legitimationsmodellen steuerpolitische Entscheidungen in der Euro-Zone (‚Euroland‘) ge- rechtfertigt werden können.27 Diese drei Objekte decken die am meisten diskutierten Einheiten ab, die im Rahmen der EU-Legitimationsdebatte einer kritischen Bewertung unterzogen wurden oder werden könn- ten. Das offensichtlichste und gängigste Bewertungsobjekt ist dabei die politische Ordnung der EU in ihrer Gesamtheit, in der Regel das Zusammenspiel der EU-Institutionen und die Chancen der Bürger, sich an EU-Politik allgemein zu beteiligen. Gleichwohl können Legiti- mationsbewertungen auf zwei andere Objektebenen konzentriert oder beschränkt werden,

24 James L. Gibson/Gregory A. Caldeira: The Legitimacy of Transnational Legal Institutions: Compliance, Sup- port, and the European Court of Justice, in: American Journal of Political Science 2/1995, S. 459-489; Robert Elgie: The Politics of the European Central Bank. Principal-agent Theory and the Democratic Deficit, in: Jour- nal of European Public Policy 2/2002, S. 186-200; Thomas Risse/Mareike Kleine: Assessing the Legitimacy of the EUs Treaty Revision Methods, in: Journal of Common Market Studies 1/2007, S. 69-80. 25 Anders Hanberger: Public Policy and Legitimacy: A Historical Policy Analysis of the Interplay of Public Po- licy and Legitimacy, in: Policy Science 3/2003, S. 257-278. 26 David McKay: Policy Legitimacy and Institutional Design. Comparative Lessons for the European Union, in: Journal of Common Market Studies 1/2000, S. 25-44. 27 Sophie Meunier: Trade Policy and Political Legitimacy in the European Union, in: Comparative European Po- litics 1/2003, S. 67-90; Wolfgang Wagner: The Democratic Control of Military Power Europe, in: Journal of European Public Policy 2/2006, S. 200-216; Stefan Collignon: The Three Sources of Legitimacy for European Fiscal Policy, in: International Political Science Review 2/2007, S. 155-184. Demokratische Legitimität europäischen Regierens integration Ð 1/2008 57 die analytisch von dem politischen System insgesamt unterschieden werden müssen, näm- lich auf einzelne EU-Institutionen und einzelne EU-Politikentscheidungen. Normative oder empirische Zusammenhänge zwischen den drei Objekten wären möglich: So könnten even- tuelle Legitimationsmängel von speziellen Entscheidungen in bestimmten Politikfeldern (je nach Legitimationskonzept und Legitimationsvariable) auf bestimmte Entscheidungsverfah- ren in einzelnen EU-Institutionen oder auf das gesamte politische System der Europäischen Union zurückgeführt werden. Andererseits könnten Entscheidungen in bestimmten Politik- feldern selbst dann Legitimationsprobleme bescheinigt werden, wenn das Gesamtsystem oder einzelne EU-Institutionen ausreichend demokratisch legitimiert sind, zum Beispiel, weil sie bestimmten substanziellen Normen trotz eines legitimen Entscheidungsprozesses nicht gerecht werden.

Legitimationsvariablen Legitimationsvariablen sind veränderliche Faktoren, von denen je nach Legitimations- konzept die Bewertung demokratischer Legitimation abhängig gemacht werden kann. Je nachdem, inwieweit ein Legitimationsobjekt, beispielsweise eine politische Institution, einer bestimmten Variable gerecht wird, kann sie als mehr oder weniger legitimiert beurteilt wer- den. Während sich die drei Legitimationskonzepte jeweils hinsichtlich des Begründungsmo- dus unterscheiden, und die drei Legitimationsobjekte als Gegenstände zu verstehen sind, die einer Legitimationsbewertung unterzogen werden können, stellen die Legitimationsvariab- len gewissermaßen unabhängige Parameter bereit. Sie formulieren also selbst keine Ideen darüber, mit welchem Argumentationsmodus die demokratische Legitimation politischer In- stitutionen oder einzelner Sachentscheidungen gerechtfertigt werden könnte, sondern sind Pfade, mit denen nach Legitimationsquellen oder -defiziten gesucht werden kann; deswegen lassen sich theoretisch alle drei Konzepte und Objekte mit unabhängigen Variablen kombi- nieren. In Bezug auf die Europäische Union sind vor allem drei Variablen demokratischer Legitimation unterschieden worden, von denen die Legitimität bestimmter Objekte abhän- gig gemacht werden könnte, nämlich Partizipation (Input), Prozess (Throughput) und Er- gebnisse (Output). Partizipation (Input): Partizipation ist die älteste und am intensivsten diskutierte Vari- able, von der die demokratische Legitimation politischer Ordnungen abhängig gemacht wer- den kann. Sie fragt nach den direkten und indirekten Einflusschancen der Bürger auf die Politik beziehungsweise nach ihren Möglichkeiten, sich aktiv an der politischen Entschei- dungsfindung zu beteiligen.28 Diese Variable schlie§t auch die zivilen und soziokulturellen Grundlagen demokratischer Politik mit ein und deckt damit die erste Phase des politischen Prozesses bis zur inhaltlichen Politikformulierung durch die gewählten Abgeordneten ab. Einerseits könnte zur Bewertung herangezogen werden, inwieweit die Bürger an allgemei- nen, freien, gleichen und geheimen Wahlen teilnehmen dürfen oder inwieweit sie direktde- mokratisch mitbestimmen können, je nachdem, welches Modell politischer Legitimation zuvor normativ gerechtfertigt wurde. Au§erdem ist oft argumentiert worden, dass eine sta- bile kollektive Identität eine Voraussetzung für legitime demokratische Verfahren sei, vor allem bei Mehrheitsentscheidungen. Andererseits können die Chancen bewertet werden, selbst gewählt zu werden, um anschließend im Entscheidungsprozess aktiv mitzuwirken.

28 Arend Lijphart: Democracies: Forms, Performance, and Constitutional Engineering, in: European Journal of Political Research 1/1994, S. 1-18; Dieter Fuchs: Kriterien demokratischer Performanz in Liberalen Demokra- tien, in: Michael Th. Greven (Hrsg.): Demokratie Ð eine Kultur des Westens?, Opladen 1998, S. 151-179; Ro- bert A. Dahl: On Democracy, New Haven 2000. 58 integration Ð 1/2008 Demokratische Legitimität europäischen Regierens

Viele dieser Fragen wurden im Kontext der Europäischen Union breit diskutiert, unter ande- rem die Rolle von Volksabstimmungen,29 die Notwendigkeit einer europäischen Öffentlich- keit und Identität (im Sinne einer „Volksgemeinschaft“),30 oder die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und sozialer Bewegungen.31 Prozess (Throughput): Die zweite Variable, von der die Legitimation politischer Ordnun- gen abhängig gemacht werden kann, ist der institutionelle Entscheidungsprozess. Nachdem die Bürger ihre direkten oder indirekten Beteiligungschancen ausgeschöpft und ihre Präfe- renzen in der Regel delegiert haben, kommen Repräsentanten oder Interessenvertreter ins politische Spiel, die im komplexen Institutionengefüge entlang bestimmter Verfahren ver- handeln und entscheiden.32 Bezogen auf die Europäische Union hängt die politische Legiti- mität in dieser zweiten Phase von den prozeduralen Mechanismen der Entscheidungsfin- dung im europäischen Mehrebenensystem ab, sowohl innerhalb einzelner EU-Institutionen und vertikal zwischen verschiedenen EU-Institutionen als auch horizontal zwischen den na- tionalen Ebenen und der europäischen Ebene.33 Je nachdem, welches Legitimationskonzept herangezogen wird, könnten bestimmte Legislativprozesse innerhalb oder zwischen ver- schiedenen Ebenen im politischen System der Europäischen Union als mehr oder weniger (demokratisch) legitimiert bewertet werden. Im Kontext der EU-Legitimitätsdebatte ist unter anderem diskutiert worden, inwieweit nationale Parlamente stärker in legislative Prozesse eingebunden werden sollten, inwieweit Transparenz im Entscheidungsverfahren und der Zu- gang zu Informationen eine Rolle spielen, und inwieweit argumentative Beratungen in Kommissionen und Ausschüssen die demokratische Legitimation europäischen Regierens steigern können.34 Ergebnisse (Output): Die letzte Variable macht die demokratische Legitimation einer po- litischen Ordnung beziehungsweise einzelner Institutionen von der Qualität ihrer Ergebnisse abhängig, also von den getroffenen Entscheidungen und deren Folgen, die aus dem politi- schen Prozess resultieren. Für diese Variable ist nicht entscheidend, inwieweit die Bürger an der Politik beteiligt sind (input) oder wie der institutionelle Entscheidungsprozess funktio- niert (throughput), sondern welche Erträge und Bilanzen (output) am Ende herauskommen.

29 Michael Zürn: Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem, in: Politische Viertel- jahresschrift 1/1996, S. 27-55; Heidrun Abromeit: Democracy in Europe. Legitimising Politics in a Non-state Polity, New York 1998. 30 Erik O. Eriksen: An Emerging European Public Sphere, in: European Journal of Social Theory 3/2005, S. 341- 363; Bernhard Peters: Public Discourse, Identity, and the Problem of Democratic Legitimacy, in: Erik O. Erik- sen (Hrsg.): Making the European Polity. Reflexive Integration in the EU, London 2005, S. 84-123. 31 Stijn Smismans: European Civil Society. Shaped by Discourses and Institutional Interests, in: European Law Journal 4/2003, S. 473-495; Donatella Della Porta: Social Movements and Europeanisation, in: Gianfranco Bettin Lattes/Ettore Recchi (Hrsg.): Comparing European Societies. Towards a Sociology of the EU, Bologna 2005, S. 261-286. 32 Vanessa A. Baird: Building Institutional Legitimacy: The Role of Procedural Justice, in: Political Research Quarterly 2/2001, S. 333-354. 33 Arthur Benz: Mehrebenenverflechtung in der Europäischen Union, in: Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler- Koch (Hrsg.): Europäische Integration, 2. Auflage, Opladen 2003, S. 317-351; aktuell Sonja Puntscher Riek- mann: The Cocoon of Power. Democratic Implications of Interinstitutional Agreements, in: European Law Journal 1/2007, S. 4-19. 34 Siehe zuerst Karlheinz Neunreither: The Democratic Deficit of the European Union. Towards Closer Coopera- tion between the European Parliament and the National Parliaments, in: Government and Opposition 3/1994, S. 299-314; Adrienne Héritier: Composite Democracy in Europe. The Role of Transparency and Access to In- formation, in: Journal of European Public Policy 5/2003, S. 814-833; Thorsten Hüller: Assessing EU Strate- gies for Publicity, in: Journal of European Public Policy 4/2007, S. 563-581; Erik O. Eriksen/John E. Fossum: Democracy through Strong Publics in the European Union?, in: Journal of Common Market Studies 3/2002, S. 401-424; Jürgen Neyer: Discourse and Order in the EU: A Deliberative Approach to Multi-Level Governance, in: Journal of Common Market Studies 4/2003, S. 687-706. Demokratische Legitimität europäischen Regierens integration Ð 1/2008 59

An welchen Merkmalen die Qualität politischer Ergebnisse bewertet werden sollte, ist eine rein normative Frage, die nicht unbedingt mit den beiden anderen Legitimationsvariablen zusammenhängen muss. Als Leistungskriterien werden beispielsweise die staatliche Ge- währleistung von Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit, die Schaffung dauerhaften Friedens und wirtschaftlichen Wachstums, die Gemeinwohlverträglichkeit oder soziale Gerechtigkeit von Politik sowie vor allem die Effizienz oder Effektivität von Regulierungen und Problem- lösungen herangezogen.35 Im Kontext der Legitimationsdebatte ist argumentiert worden, EU-Politik müsse und könne sich bestenfalls durch ihre Ergebnisse legitimieren, weil die so- ziokulturellen und institutionellen Voraussetzungen für tragfähige Input-Legitimation auf europäischer Ebene noch nicht hinreichend gegeben seien.36 Andere haben dagegen grund- sätzlich angezweifelt, dass sich europäisches Regieren sozusagen „post-parlamentarisch“ durch Politikergebnisse legitimieren könne, weil der „allgemeine Wille“ (volonté générale) des Volkes nur durch Verfahren demokratischer Partizipation zu definieren sei.37 Diese Variablen erfassen drei der bislang am intensivsten diskutierten Faktoren, von de- nen die politische Legitimität europäischen Regierens abhängig gemacht werden könnte. Die Partizipationsvariable behandelt die politischen Beteiligungschancen der Bürger und die soziokulturellen Voraussetzungen demokratischer Politik. Die Prozessvariable setzt ein, sobald die Bürger ihre Interessen delegiert haben, und fragt nach dem institutionellen Ent- scheidungsprozess, je nach Legitimationsobjekt innerhalb einer politischen Ordnung insge- samt oder einzelner EU-Institutionen, und endet, sobald politische Ergebnisse vorliegen. Dann setzt die Ergebnisvariable ein, mit der sich die aus dem politischen Prozess hervorge- henden Resultate und deren Folgewirkungen bewerten lassen, sofern diese als Legitimati- onskriterium gerechtfertigt werden können. Wieder könnten die drei Variablen zusammen- hängen: Beispielsweise wäre es denkbar, dass die (wie auch immer definierte) Qualität politischer Ergebnisse von der Bürgerbeteiligung abhängig ist. Gleichzeitig könnte aller- dings ebenfalls die Situation gegeben sein, dass auch aus veränderten Partizipationschancen, je nach Legitimationskonzept, keine demokratisch legitimeren Ergebnisse resultieren, weil diese vor allem von der Prozessvariable abhängen. Aus der empirischen Bestätigung oder Widerlegung dieser Thesen lie§en sich dann normative Forderungen zur Verbesserung der demokratischen Legitimation der Europäischen Union ableiten.

Legitimationsstandards Nicht nur in der vergleichenden Demokratieforschung, sondern auch bei der Bewertung der demokratischen Legitimität europäischen Regierens spielt die klassische Frage, durch welche Merkmale sich Demokratien von anderen Staatsordnungen unterscheiden und wann ein politisches System als demokratisch legitimiert bezeichnet werden kann, eine ganz ent- scheidende Rolle. Nach Giandomenico Majone dreht sich die ganze Debatte um das europä- ische Demokratiedefizit letztlich um die angelegten Bewertungsstandards, mit denen die Eu-

35 Fritz W. Scharpf: Economic Integration, Democracy and the Welfare State, in: Journal of European Public Po- licy 1/1997, S. 18-36; Giandomenico Majone: The Regulatory State and Its Legitimacy Problems, in: West Eu- ropean Politics 1/1999, S. 1-24. 36 Siehe schon Fritz W. Scharpf: Democratic Policy in Europe, in: European Law Journal 2/1996, S. 136-155; ak- tuell Fritz W. Scharpf: Legitimate Diversity. The New Challenge of European Integration, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 1/2003, S. 32-60. 37 Michael Th. Greven: Output-Legitimation. „Der Zweck heiligt die Mittel“ in der Demokratie nicht, in: Michael Buckmiller/Joachim Pereis (Hrsg.): Opposition als Triebkraft der Demokratie. Bilanz und Perspektiven der zweiten Republik, Hannover 1998, S. 477-491; Christopher Lord/David Beetham: Legitimizing the EU. Is there a ‘Post-parliamentary Basis‘ for its Legitimation?, in: Journal of Common Market Studies 3/2001, S. 443-462. 60 integration Ð 1/2008 Demokratische Legitimität europäischen Regierens ropäische Union konfrontiert wird: Je höher die Demokratiestandards gesetzt werden, desto größer erscheint in der Regel das Demokratiedefizit der Europäischen Union. Und weil ge- rade in der EU-Legitimationsdebatte sehr umstritten ist, welches Demokratieverständnis für europäische Politik als angemessen erscheint, sollte stets sehr genau definiert und gerecht- fertigt werden, welche Bemessungsstandards der normativen Bewertung zugrunde gelegt sind.38 In Bezug auf die Europäische Union sind drei Standards unterschieden worden, mit denen die politische Legitimität bestimmter Objekte entlang der drei Variablen beurteilt werden könnte, nämlich kontrafaktische Idealtypen, Nationalstaaten, und andere internatio- nale Organisationen. Kontrafaktische Idealtypen: Seit ihren Anfängen entwickelt die politische Philosophie kontrafaktische Vorstellungen zu idealtypischen Formen legitimen Regierens, ohne dass all diese Ideen je eine Entsprechung in der realen Staatenwelt gefunden hätten. Im Vordergrund steht zunächst die Etablierung eines normativen Modells, das sich in theoretischen Diskur- sen bewähren soll, und weniger die empirische Analyse von praktischen Realisierungschan- cen oder -hindernissen, wie zum Beispiel im Rahmen der intensiv diskutierten Frage um den normativen Stellenwert „deliberativer“ Demokratie und Öffentlichkeit.39 Gerade im frühen Stadium der Debatte um die politische Legitimation europäischen Regierens wurden häufig normative Bewertungen formuliert, die auf kontrafaktischen Idealtypen beruhten, und somit meist Defizitdiagnosen ohne Vergleichsbasis in den Raum gestellt. Hinter diesem ersten Le- gitimationsstandard verbirgt sich häufig die kritische Position, das politische System der Eu- ropäischen Union insgesamt oder einzelne Sachentscheidungen seien noch lange nicht aus- reichend legitimiert, selbst wenn sie hinsichtlich ihrer demokratischen Legitimation nicht schlechter abschneiden sollten als Nationalstaaten oder andere internationale Organisatio- nen. Je nach angelegtem Legitimationskonzept und der in den Blick genommenen Variablen könnte die Vergleichbasis so mangelhaft demokratisch legitimiert sein, dass auch ein für die Europäische Union positives Vergleichsergebnis sie nicht ausreichend demokratisch legiti- mieren würde, sodass nur ein kontrafaktischer Idealtypus als Bewertungsstandard aussage- kräftig wäre.40 Nationalstaaten: Verschiedene Modelle real existierender, demokratischer Nationalstaa- ten stellen einen zweiten möglichen Standard zur Bewertung verschiedener Legitimations- objekte innerhalb der Europäischen Union dar. Bekanntlich hatten die allermeisten klassi- schen Theorien demokratischer Legitimation den souveränen und räumlich begrenzten Nationalstaat im Sinn, als sie nach normativ tragfähigen und damit legitimen Regierungsfor- men gesucht haben. Mit dem Entstehen und dem Machtgewinn supranationaler Herrschafts- ordnungen, zuallererst der Europäischen Union, stellte und stellt sich jedoch zunehmend die Frage, ob und inwieweit nationale Demokratien als normative Richtwerte oder gar als Vor- bilder für die Konstruktion internationaler Organisationen interpretiert werden können und sollten, insbesondere mit Blick auf eine vollständige Parlamentarisierung jenseits des Natio- nalstaates.41 Dieses Problem ist nach wie vor nicht gelöst, denn obgleich die Union in eini-

38 Giandomenico Majone: Europe’s Democratic Deficit. The Question of Standards, in: European Law Journal 1/ 1998, S. 5-28; Christopher Lord: Contested Meanings, Democracy Assessment and the European Union, in: Comparative European Politics 1/2007, S. 70-86. 39 James Bohman: Public Deliberation. Pluralism, Complexity and Democracy, Cambridge 1996; James S. Fish- kin: The Voice of People. Public Opinion and Democracy, New Haven/London 1997. 40 Siehe zu dieser Argumentationslogik Lynn Dobson: Normative Theory and Europe, in: International Affairs 3/ 2006, S. 511-523. 41 John Coultrap: From Parliamentarism to Pluralism. Models of Democracy and the European Union’s “Demo- cratic Deficit”, in: Journal of Theoretical Politics 1/1999, S. 107-135; Christopher Lord: Assessing Democracy in a Contested Polity, in: Journal of Common Market Studies 4/2001, S. 641-661. Demokratische Legitimität europäischen Regierens integration Ð 1/2008 61 gen Politikbereichen typisch staatliche Funktionen erfüllt, ist sie aus mehreren Gründen trotzdem kein Nationalstaat. Ungeachtet dieser normativen Auseinandersetzung um ange- messene Bewertungsstandards wurden bereits diverse Versuche unternommen, national- staatliche Demokratiekriterien an bestimmte Politikbereiche wie die Fusionskontrolle anzu- legen, die in der Europäischen Union fast vollständig vergemeinschaftet sind, um diese mit der Praxis in Nicht-EU-Ländern zu vergleichen, sowie die demokratische Legitimation des politischen Systems der Europäischen Union insgesamt entlang verschiedener Demokra- tiemodelle zu messen.42 Andere internationale Organisationen: Schließlich könnten andere internationale Orga- nisationen wie die Vereinten Nationen, die WTO oder die NATO als Vergleichsma§stab dienen, an dem sich die demokratische Legitimation europäischen Regierens bewerten ließe. Nicht nur die Europäische Union nimmt inzwischen vielfältige Regierungsaufgaben wahr, die teilweise erheblich und nachhaltig auf die nationalen Ebenen zurückwirken, sondern auch in anderen internationalen Organisationen oder bei anderen zwischenstaatlichen Ver- anstaltungen (wie beispielsweise den G8-Gipfeltreffen) werden Entscheidungen getroffen, die entkoppelt von lokalen demokratischen Prozessen von den nationalen Exekutiven verab- schiedet werden und deswegen nicht selten öffentliche Proteste hervorrufen.43 Die Frage, ob und inwieweit internationale Organisationen oder generell internationale Staatenbeziehun- gen mit Legitimationsproblemen zu kämpfen haben und wie sie sich demokratisieren ließen, betrifft also im weitesten Sinne alle zwischenstaatlichen Verhandlungsarrangements, in de- nen nationale Regierungsvertreter ohne Rückbindungen an nationale demokratische Kon- trollinstanzen mehr oder weniger rechtsverbindlich entscheiden.44 Gleichzeitig ist jedoch zu berücksichtigen, dass wohl keine andere internationale Organisation so supranational insti- tutionalisiert ist und über so weitreichende Entscheidungs- und Rechtsetzungskompetenzen verfügt wie die Europäische Union. Dennoch bieten andere internationale Organisationen ei- nen möglichen Legitimationsstandard, der bereits in diversen empirischen Vergleichsstudien angewendet wurde.45 Damit stehen uns drei mögliche Standards zur Beurteilung der politischen Legitimation europäischen Regierens zur Verfügung, die normativ verteidigt werden könnten. Kontrafak- tische Idealtypen entwickeln unabhängig von real existierenden politischen Systemen be- stimmte Standards, die Herrschaftsordnungen erfüllen müssten, um als demokratisch legiti- miert gelten zu können. Nationalstaaten stellen demgegenüber einen empirischen Maßstab dar, mit dem sich theoretisch auch politische Mehrebenensysteme wie die Europäische Union vergleichen ließen, während sich andere internationale Organisationen als dritter Le- gitimationsstandard anbieten. Ob und inwieweit die Europäische Union diesen Standards ge- recht werden kann, hängt wiederum sehr stark von den gewählten Legitimationskonzepten und Legitimationsvariablen ab. Sofern als Legitimationskonzept ein sehr anspruchsvolles

42 Thomas D. Zweifel: Democratic Deficits in Comparison. Best (and worst) Practices in European, US and Swiss Merger Regulation, in: Journal of Common Market Studies 3/2003, S. 541-566; Andrew Moravcsik: Is there a “Democratic Deficit” in World Politics? A Framework for Analysis, in: Government and Opposition 2/ 2004, S. 336-363. 43 Michael Zürn: Global Governance and Legitimacy Problems, in: Government and Opposition 2/2004, S. 260- 287; Allen Buchanan/Robert O. Keohane: The Legitimacy of Global Governance Institutions, in: Ethics & In- ternational Affairs 4/2006, S. 405-437. 44 Robert A. Dahl: Can International Organizations be Democratic? A Sceptic’s View, in: Ian Shapiro/Casiano Hacker-Cordon (Hrsg.): Democracy's Edges, Cambridge 1999, S. 19-36; Bruno S. Frey/Alois Stutzer: Ein Vorschlag zu mehr Demokratie in Internationalen Organisationen, in: Zeitschrift für Staats- und Europawis- senschaften 3/2005, S. 344-361. 45 Thomas D. Zweifel: International Organizations and Democracy. Accountability, Politics and Power, Boulder 2006. 62 integration Ð 1/2008 Demokratische Legitimität europäischen Regierens

Demokratieverständnis normativ gerechtfertigt und die Partizipationsvariable herangezogen wird, wäre ein negativer Befund nicht überraschend, wenn man als Bewertungsstandard eine stabile, mit direktdemokratischen Elementen ausgestattete nationale Demokratie wie zum Beispiel die Schweiz ausgibt. Demgegenüber wäre ein positiver Befund viel eher zu erwar- ten, wenn man Zustimmung oder Folgebereitschaft als Konzept wählt, die Partizipations- oder Ergebnisvariable einbezieht, und diese mit internationalen Veranstaltungen wie den umstrittenen G8-Gipfeltreffen vergleicht, die häufig starke öffentliche Proteste hervorrufen.

Fazit und Ausblick Die ‚normative Wende‘ in der Europawissenschaft hat eine intensive Debatte um die Le- gitimationsgrundlagen supranationalen Regierens innerhalb der Europäischen Union einge- leitet, die inzwischen einen erheblichen und häufig unterschätzten Grad an interner Komple- xität erreicht hat. Dieser Artikel hat versucht, die ineinander verschlungenen Theoriestränge aufzulösen und in Auseinandersetzung mit vorliegenden Kategorisierungen ein analytisches Instrumentarium zu präsentieren, das zwischen jeweils drei Konzepten, Objekten, Variablen und Bewertungsstandards demokratischer Legitimität im europäischen Mehrebenensystem unterscheidet. Dabei habe ich weder das Ziel verfolgt, den normativen Wert der einzelnen Kategorien herauszuarbeiten oder gegeneinander abzuwägen, noch war vorgesehen, den De- mokratie- oder Legitimationsgehalt europäischen Regierens entlang dieser Differenzierun- gen zu beurteilen. Die Reichweite und Aussagekraft des Artikels ist stattdessen auf die These begrenzt, dass dieses metatheoretische Begriffssystem erstens erschöpfend und zwei- tens widerspruchsfrei in dem Sinne ist, als dass bislang diskutierte Demokratie- und Legiti- mationskritiken, die an die Europäische Union als Organisation herangetragen wurden, hin- reichend und konsistent berücksichtigt werden. Der Nutzen dieser Heuristik muss sich erst noch in der praktischen Anwendung bewähren, also der Berücksichtigung der Kategorien bei der Begründung und Rechtfertigung normativer Positionen, die zwar in diesem Artikel selbst nicht geleistet werden konnte, aber die sich in zukünftigen wissenschaftlichen und auch politischen Diskussionen als hilfreich erweisen könnte. So würde sich in der Anwen- dung zeigen, dass institutionelle Reformen die demokratische Legitimation europäischen Regierens unterschiedlich beeinflussen, je nachdem, welche Kategorien in der normativen Positionierung gewählt und verteidigt werden. Insofern könnte dieser Heuristik eine gewisse politische Relevanz zukommen, als sie auf potenzielle Einflussfaktoren wie unterschiedlich verstandene Legitimationskonzepte oder Legitimationsvariablen aufmerksam macht, die bei dem politisch unumstrittenen Bestreben, die Europäische Union besser demokratisch legiti- mieren zu wollen, häufig unberücksichtigt bleiben, obwohl sie bei der Bewertung differen- ziert einzubeziehen wären. Zum Beispiel könnten verstärkte Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat durchaus zu effektiveren Ergebnissen (Output) führen, weil nationale Einzelinte- ressen an Einfluss verlieren würden. Gleichzeitig könnte die fortschreitende Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip jedoch die Input-Legitimation zusätzlich schwächen, sofern die Bür- ger selbst dann EU-Entscheidungen akzeptieren müssten, wenn ihre nationalen Repräsen- tanten überstimmt werden und sie keine kollektive europäische Identität verinnerlicht hätten, die solche Souveränitätsverluste ‚abfedern‘ könnte. Die Folgen institutioneller Reformen für die demokratische Legitimation europäischen Regierens sollten also nicht eindimensional bewertet, sondern im Lichte der Rückwirkungen auf andere potenzielle Einflussfaktoren, die in diesem Beitrag diskutiert wurden, aufmerksam im Blick behalten werden. Demokratische Legitimität europäischen Regierens integration Ð 1/2008 63

Tabelle 1: Kategorien zur Bewertung der demokratischen Legitimität europäischen Regierens

I. Legitimationskonzepte II. Legitimationsobjekte III. Legitimationsvariablen IV. Legitimationsstandards I.1 Legalität II.1 Politische Ordnung der EU III.1 Partizipation (Input) IV.1 Kontrafaktischer Idealtyp I.2 Zustimmung/Anerkennung II.2 EU-Institutionen III.2 Prozess (Throughput) IV.2 Nationalstaaten I.3 Normative Rechtfertigung II.3 EU-Politikentscheidungen III.3 Ergebnisse (Output) IV.3 Internat. Organisationen

Tabelle 1 fasst die vier Kategorien und deren jeweils drei Unterkategorien zur Bewertung der demokratischen Legitimität europäischen Regierens zusammen. Nach einer kurzen Re- konstruktion des teilweise disparaten und inkonsistenten Forschungsstandes zur Metatheorie der EU-Legitimationsdebatte wurden zunächst drei potenzielle Legitimationskonzepte defi- niert und abgegrenzt, die Argumentationslogiken formulieren, mit denen politische Macht als akzeptierbar oder anerkennungswürdig begründet werden könnte, nämlich Legalität, Zu- stimmung/Anerkennung oder normative Rechtfertigung. Zweitens wurden drei Legitimati- onsobjekte ausdifferenziert, deren demokratische Legitimität bewertet werden kann, näm- lich die politische Ordnung (oder Verfassung) der EU insgesamt, einzelne EU-Institutionen oder spezielle EU-Politikentscheidungen. Drittens wurden drei Legitimationsvariablen be- stimmt, von denen die demokratische Legitimität abhängig gemacht werden könnte, nämlich Partizipation (Input), Prozess (Throughput) oder Ergebnisse (Output). Und viertens wurden drei mögliche Legitimationsstandards formuliert, mit denen die demokratische Legitimität der Europäischen Union verglichen und damit beurteilt werden kann, nämlich entweder ein kontrafaktischer Idealtyp, ein Nationalstaat oder eine andere internationale Organisation. In jedem Abschnitt wurde begründet, warum die Unterscheidung dieser vier Oberkategorien notwendig ist, hinsichtlich welcher Merkmale sich die jeweiligen Unterkategorien unter- scheiden, und warum sie als potenzielle Faktoren normative EU-Legitimationsbewertungen beeinflussen könnten. Im Ergebnis stellt diese Kategorisierung nicht mehr, aber auch nicht weniger bereit als ein begriffliches Instrumentarium zur Analyse der demokratischen Legitimität europäischen Regierens.46 Die Beantwortung der Frage, ob und unter welchen Bedingungen diese Katego- rien normativ tragfähig sind und intersubjektiv überzeugen können, erfordert erhebliche Be- gründungsanstrengungen und hängt maßgeblich von der Kombination der einzelnen Katego- rien ab. In einem ersten Analyseschritt wäre mindestens je eine Unter- der vier Oberkategorien zu wählen und normativ zu begründen: Beispielsweise könnte man versu- chen zu argumentieren, die demokratische Legitimation europäischen Regierens wäre defi- zitär, wenn die Beteiligungschancen von Interessengruppen (Konzept: normative Rechtferti- gung) an der Vorbereitung von Ministerratsentscheidungen in Fachausschüssen (Variable: Prozess) bei speziellen Entscheidungen im Bereich der Energiepolitik (Objekt: Politikent- scheidungen) geringer wären als in Frankreich (Standard: Nationalstaat). Jede der vier Un- terkategorien muss sowohl für sich als auch im Zusammenspiel mit den drei übrigen Fakto- ren gerechtfertigt werden: So wäre in diesem Fall zunächst normativ zu begründen, warum

46 Mehr noch: Nicht nur die EU, sondern auch andere politische Regime und Institutionen jenseits des National- staates könnten mit diesem metatheoretischen Begriffssystem analysiert werden; siehe dazu Ian Hurd: Legiti- macy and Authority in International Politics, in: International Organization 2/1999, S. 379-408; Jens Steffek: The Legitimation of International Governance: A Discourse Approach, in: European Journal of International Relations 2/2003, S. 249-275; Michael Zürn/Martin Binder/Matthias Ecker-Ehrhardt/Katrin Radtke: Politische Ordnungsbildung wider Willen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1/2007, S. 129-164. 64 integration Ð 1/2008 Demokratische Legitimität europäischen Regierens die Beteiligung von Interessengruppen an der Vorbereitung von Ministerratsentscheidungen ein wichtiges oder sogar notwendiges Kriterium politischer Legitimation darstellt, zum Bei- spiel indem empirisch gezeigt werden könnte, dass die Beteiligung von Interessengruppen in der Regel zu effizienteren Ergebnissen führt. Zweitens wäre zu argumentieren, warum diese Regel auch oder gerade für Entscheidungen im Bereich der Energiepolitik gilt, und warum gerade Frankreich und kein anderes Land einen geeigneten Bewertungsstandard darstellt. All diese Begründungen setzen umfangreiche Expertisen voraus, bevor eine normative Position formuliert werden kann, die sich dann empirisch am Fall der Europäischen Union überprüfen ließe. Zudem stehen die vier Hauptkategorien (und jeweils deren drei Unterkate- gorien) nicht nur in komplexen normativen und empirischen Wechselbeziehungen zueinan- der, sondern beeinflussen sich wechselseitig. Je nachdem, welche Konzepte, Objekte, Vari- ablen und Standards gewählt und angelegt werden, hat diese Entscheidung unmittelbare Auswirkungen auf normative Bewertungen zur demokratischen Legitimität europäischen Regierens: Jede der Kombinationen führt notwendigerweise zu einem anderen Ergebnis. Damit ist das Feld bestellt für eine politische Philosophie der Europäischen Union, die zu ei- ner begrifflich differenzierten und systematischen Analyse von Demokratie- und/oder Legi- timationskritik anleiten soll. Trotz vielfältiger Bemühungen ist die normative Auseinander- setzung um die Europäische Union den Kinderschuhen noch nicht entwachsen, denn nach wie vor sind die meisten dieser Beziehungen und deren gegenseitige Einflüsse aufgrund feh- lenden empirischen Wissens und häufig unpräzise definierter Kategorien alles andere als ausreichend durchleuchtet. Der Ausgang aus dem Labyrinth ist tatsächlich noch nicht gefun- den, aber zumindest einige hell aufscheinende Markierungen, die den Weg weisen, konnten hoffentlich mit diesem Artikel freigelegt werden.

:Whij[bbkd];khefWi

;khef[WdKd_ed?Z[dj_jo F[hY[fj_edi\hec7i_WWdZ;khef[ >[hWki][][X[dled@[ii_YW8W_dkdZCWhj_d>ebbWdZ (&&-"(&)I$"XheiY^$")/"ÅÐ"?I8D/-.#)#.)(/#)&+*#- JhWdi\ehcWj_ed":[l[befc[dj"WdZH[]_edWb_pWj_ed _d=h[Wj[h7i_W"8Z$' :WiM[haZ[iD[jmehae\;khef[WdIjkZ_[i9[djh[i_d 7i_WX[^WdZ[bj[_d^eY^Wajk[bb[ikdZl_[bZ_iakj_[h# j[i [khef_iY^[i J^[cW0 Z_[ ;khef_iY^[ ?Z[dj_jj$ ?dj[hdWj_edWb[ 7kjeh[d WdWboi_[h[d _d _ddelWj_l[d IjkZ_[d"m_[;khefW_dd[h^WbXkdZWkœ[h^WbXZ[h;K ZWh][ij[bbjm_hZ$

8_jj[X[ij[bb[dI_[X[_?^h[h8kY^^WdZbkd] eZ[hX[_DeceirJ[b[\ed&-(('%('&*#)-r

Klaus Brummer*

Gibt es in Europa, dem Kontinent mit dem weltweit engmaschigsten Netz von sich mit Menschenrechtsfragen befassenden Institutionen, ‚zuviel‘ Menschenrechtsschutz? Welche Ebene im europäischen Mehrebenensystem schützt die Menschenrechte am besten: die nati- onale oder die europäische? Die ‚Solange-Rechtsprechung‘ des deutschen Bundesverfas- sungsgerichts illustriert das Problem.1 Und wie können auf den einzelnen Ebenen die Ak- teure, die sich dem Menschenrechtsschutz verschrieben haben, zusammenarbeiten, ohne dass Ressourcen verschwendet werden oder Schutzlücken und widersprüchliche Standards entstehen? Diese Frage gilt insbesondere für die europäische Ebene, wo es ein nicht-hierar- chisches Nebeneinander von Akteuren sowie Schutz- und Kontrollmechanismen gibt. Aus der gleichzeitigen Existenz verschiedener den Menschenrechtsschutz in Europa ver- folgender Akteure kann viel Positives folgen. Gelangen die Akteure zu einem komplementä- ren Vorgehen, bei dem die jeweiligen Stärken gefördert, Doppelarbeiten vermieden und stattdessen Synergien geschaffen werden, kann das nur der Überwachung und Durchsetzung der Menschenrechte in Europa dienen. Die Kehrseite besteht darin, dass die Befassung mit ein und derselben Thematik leicht zu Konkurrenzsituationen zwischen den Akteuren führen kann, etwa um politischen Einfluss, finanzielle Ressourcen oder mediale Präsenz. Laut Neu- kirch ist Konkurrenzdenken sogar charakteristisch für den Umgang von Organisationen un- tereinander.2 Institutionelle Eigeninteressen können dazu führen, dass nicht nur in allgemei- ner Hinsicht Potenziale verschenkt und Ressourcen verschwendet werden, die sich aus einer strategisch konzipierten und gezielt implementierten Zusammenarbeit mit anderen Organi- sationen ergäben. Konkret für den Menschenrechtsschutz kann die fehlende Kopplung von Organisationen zu widersprüchlichen Schutzstandards oder zu Doppelungen auf der einen und Überwachungslücken auf der anderen Seite führen. In diesem Beitrag soll die Problematik anhand des Zusammenspiels von Europarat und Europäischer Union im Bereich des Menschenrechtsschutzes untersucht werden. Es gilt, die institutionellen und konzeptionellen Grundlagen der Zusammenarbeit der beiden Organisati- onen auf ihre Funktionsfähigkeit und Praktikabilität hin zu untersuchen. Zunächst werden die Fundamente der Kooperation anhand der Vereinbarungen dargestellt, die zwischen Europarat und Europäischer Union geschlossen wurden. Es zeigt sich, dass die Menschenrechtsthematik erst relativ spät berücksichtigt wurde, was eine Zusammenarbeit in der Praxis jedoch nicht ausgeschlossen hat. Anschlie§end richtet sich der Blick auf zwei aktuelle Probleme bezie- hungsweise Streitpunkte zwischen Europarat und Europäischer Union im Bereich des Men- schenrechtsschutzes: die Einrichtung einer EU-Grundrechteagentur sowie die Untersuchung

1* Dr. Klaus Brummer, Wissenschaftlicher Assistent, Institut für Politische Wissenschaft, Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg. 1 Siehe Heinrich Pehle: Wer schützt die Grundrechte in der Europäischen Union? Grundsätzliche Überlegungen an- lässlich der Nichtigkeitserklärung des Europäischen Haftbefehlgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht, in: Gesellschaft, Wirtschaft, Politik 1/2006, S. 25-36; zudem das Interview mit dem Präsidenten des Bundesverfas- sungsgerichts Hans-Jürgen Papier: „Das muss sich ändern“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.07.2007, S. 5. 2 Vgl. Claus Neukirch: Konfliktmanagement und Konfliktprävention im Rahmen von OSZE-Langzeitmissio- nen. Eine Analyse der Missionen in Moldau und Estland, Baden-Baden 2003, S. 86. 66 integration Ð 1/2008 Menschenrechte in Europa der sogenannten ‚CIA-Affäre‘. Die Beispiele legen den Schluss nahe, dass die vielbeschwo- rene Zusammenarbeit auf den Grundsätzen von Komplementarität und der Schaffung von Sy- nergien eher auf dem Papier als in der Praxis existiert. Im nächsten Schritt werden die jüngs- ten Versuche geschildert, die Kooperation beider Organisationen auf eine neue Grundlage zu stellen, die den vereinbarten Prinzipien zur praktischen Durchsetzung verhelfen soll. Wäh- rend in einzelnen Fragen Fortschritte zu beobachten sind, bleiben Anspruch und Wirklichkeit des Zusammenspiels von Europarat und Europäischer Union allerdings bereits auf der Ebene der schriftlichen Absprachen weiterhin defizitär. Der Beitrag endet mit einer Bewertung der jüngsten Reformbemühungen und deren Folgen für den Menschenrechtsschutz in Europa.

Der Anspruch: komplementäre Partner Die Beziehungen zwischen Europäischer Union und Europarat wurden nach und nach ausgeweitet und vertieft. Während lange Zeit institutionelle Aspekte beziehungsweise Ver- fahrensfragen im Mittelpunkt standen, rückten in den letzten Jahren zunehmend Sachfragen, einschlie§lich des Menschenrechtsschutzes, in den Mittelpunkt der zwischen den beiden Or- ganisationen geschlossenen Vereinbarungen. Die Anfänge der Beziehungen zwischen der heutigen Europäischen Union und dem Europarat liegen mehrere Jahrzehnte zurück. Bereits in Artikel 230 des ‚Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft‘ vom März 1957 findet sich der, freilich wenig konkrete, Hinweis, dass „[d]ie Gemeinschaft jede zweckdienliche Zusammenarbeit mit dem Europarat“ in die Wege leiten soll.3 Ein Briefwechsel vom August 1959 zwischen dem Generalsekretär des Europarats, dem Präsidenten der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und dem Präsidenten der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) regelte anschließend grundle- gende Fragen des Austausches zwischen den drei Organisationen. Es ging vor allem um die wechselseitige Unterrichtung der Beteiligten über ihre jeweiligen Aktivitäten. Wegen der Konzentration auf Verfahrensfragen, aber auch, weil zum damaligen Zeitpunkt Fragen des Menschenrechtsschutzes weder im Kontext der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft noch bei Euratom Ð im Gegensatz zum Europarat Ð eine Rolle spielten, enthielt der Briefwechsel keine weiteren Hinweise zu dieser Thematik. Vielfältige, zum Teil parallel ablaufende Veränderungen und Umbrüche in den 1980er und 1990er Jahren (zum Beispiel Ende des Ost-West-Konflikts, Gründung der Europäischen Union, Erweiterung des Europarats) machten eine Anpassung der Zusammenarbeit zwi- schen dem Europarat und der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise später der Euro- päischen Union notwendig. Der Briefwechsel von 1959 wurde zunächst durch einen Brief- wechsel vom Juli 1987 ersetzt. Dessen Inhalte wurden anschlie§end im November 1996 durch einen weiteren Briefwechsel bestätigt und aktualisiert.4 Erneut standen Verfahrensfra- gen im Mittelpunkt. Weiterhin ging es in erster Linie darum, wie der Austausch zwischen den beiden Organisationen gewährleistet werden kann. Eine Entwicklung ergab sich insofern, als neben der wechselseitigen Unterrichtung über Aktivitäten nun auch die Einbeziehung von Vertretern der Partnerorganisation bei der Aus- arbeitung von Inhalten konkretisiert wurde. So hielt der Briefwechsel von 1987 beispiels-

3 Dieser Artikel ist Art. 303 EGV (Nizza). Im Primärrecht von EU/EG (Stand: Nizza) finden sich weitere Be- züge zum Europarat. Thematische Verweise beziehen sich auf Fragen der Bildung (Art. 149 Abs. 3 EGV) und Kultur (Art. 151 Abs. 3 EGV). Zudem führt Art. 6 Abs. 2 EUV an, dass die EU die in der Europäischen Men- schenrechtskonvention festgeschriebenen Grundrechte achtet. Diese Verweise auf den Europarat unterschei- den sich von der Satzung der Straßburger Organisation, in der sich keine Bezüge zur EU finden. 4 Die Briefwechsel sind abrufbar unter: http://ec.europa.eu/external_relations/coe/arrange.pdf (letzter Zugriff: 15.08.2007). Menschenrechte in Europa integration Ð 1/2008 67 weise fest, dass Kommissionsvertreter zu Treffen des Ministerkomitees des Europarats eingeladen werden können, um sich über den Fortschritt des europäischen Integrationspro- zesses und über weitere Fragen von gemeinsamem Interesse auszutauschen. Zudem sollten Treffen der Arbeitsgruppen des Ministerkomitees des Europarats oder Fachministerkonfe- renzen der Organisation für die Europäische Gemeinschaft, repräsentiert durch die Kommis- sion, geöffnet werden. Vertreter des Sekretariats des Europarats wiederum sollten ihrerseits als Beobachter in die Expertenausschüsse der Kommission eingeladen werden. Die Menschenrechtsthematik als solche hingegen wurde in beiden Briefwechseln nicht thematisiert. Eher war das Gegenteil der Fall: Bei der Anregung, einen regelmäßigen Aus- tausch zwischen dem Sekretariat des Europarats und der Kommission zu Fragen von wech- selseitigem Interesse zu etablieren, wurden im Briefwechsel von 1987 zwar einzelne The- menbereiche explizit erwähnt. Zu diesen gehörten Rechtsfragen, Soziales, Gesundheit, Bildung und Kultur. Der Menschenrechtsschutz als solcher wurde nicht angeführt. Die Nichtberücksichtigung der Thematik in den Briefwechseln hieß jedoch nicht, dass Menschenrechtsfragen bei der Kooperation der beiden Organisationen in der Praxis keine Rolle gespielt hätten. Zentral waren und sind noch heute die ‚Gemeinsamen Programme‘. Diese ko-finanzierten, zumeist länderspezifischen Maßnahmen werden seit 1993 durchgeführt und versuchen, den Zielländern – all jene Staaten, die seit 1989 dem Europarat beigetreten sind Ð bei rechtlichen und institutionellen Reformen, inklusive Menschenrechtsfragen, zu hel- fen. Die Türkei wird beispielsweise bei der Umsetzung von Menschenrechtsreformen unter- stützt, die Ukraine und die Staaten des Südkaukasus bei der Förderung einer ‚Kultur der Men- schenrechte‘ und Russland bei der Stärkung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit.5 Außerdem gab es von den Briefwechseln losgelöste institutionelle Entwicklungen. Von besonderer Bedeutung war die Einführung von Spitzengesprächen zwischen Europarat und Europäischer Union in Form von ‚Quadripartite-Treffen‘.6 Seit deren Einführung im Jahr 1989 kommen ein- bis zweimal pro Jahr unter anderem der Vorsitzende des Ministerkomi- tees und der Generalsekretär des Europarats mit Vertretern der EU-Ratspräsidentschaft und der Kommission zusammen. Bei diesen Treffen wird regelmäßig auch die Zusammenarbeit der beiden Organisationen in Menschenrechtsfragen diskutiert.7 In einer Vereinbarung zusammengebracht wurden die institutionellen Erwägungen und der Umgang mit Menschenrechtsfragen im April 2001. Der damalige Generalsekretär des Europarats, Walter Schwimmer, und der damalige Au§enkommissar als Vertreter der Euro- päischen Gemeinschaft, Chris Patten, unterzeichneten eine ‚Joint Declaration on Co-opera- tion and Partnership between the Council of Europe and the European Commission‘.8 Im

5 Eine Übersicht über die ‚Gemeinsamen Programme‘ ist abrufbar unter: http://www.jp.coe.int/CEAD/JP/ (letz- ter Zugriff: 15.08.2007). 6 Angesto§en wurden diese durch Committee of Ministers: On the Future Role of the Council of Europe in Euro- pean Construction, Resolution (89) 40, 05.05.1989, Art. 5. 7 Zuletzt ging es im Februar 2007 beispielsweise um die thematische wie geografische Ausrichtung der EU- Grundrechteagentur und den Beitritt der EU zur EMRK. Vgl. Committee of Ministers: 24th Quadripartite Meeting between the Council of Europe and the European Union. Common Pressline of the Two Presidencies. Brussels, 13 February 2007. 8 Die Vereinbarung geht auf die Empfehlung eines ‚Committee of Wise Persons‘ zurück. Der Ausschuss, dessen Einrichtung vom zweiten Gipfeltreffen des Europarats im Jahr 1997 angestoßen wurde, sollte Vorschläge zur strukturellen Reform des Europarats vorlegen, die infolge der Erweiterung der Organisation für notwendig er- achtet wurde. In dem im November 1998 vorgelegten Abschlussbericht des Ausschusses finden sich unter Punkt I.3 („A Europe of interlocking institutions“) Vorschläge zur Intensivierung der Zusammenarbeit zwi- schen Europarat und EU. Hierzu gehörte der Abschluss eines Rahmenabkommens zwischen den beiden Orga- nisationen. Vgl. Committee of Ministers: Committee of Wise Persons. Final Report to the Committee of Ministers, CM (98) 178, 20.10.1998. 68 integration Ð 1/2008 Menschenrechte in Europa

Gegensatz zur, wie beschrieben, eher strukturellen Ausrichtung der Briefwechsel ging es in der Erklärung vor allem um thematische Fragen, genauer um gemeinsame Zielsetzungen der beiden Organisationen sowie um Wege, diese Ziele zu erreichen.9 Ebenfalls im Unterschied zu den Briefwechseln wurde der Menschenrechtsschutz prominent angeführt. Neben Demo- kratie und Rechtsstaatlichkeit wird der Schutz von Menschenrechten als gemeinsame Werte- basis wie auch als gemeinsames Ziel der beiden Organisationen benannt. Zugleich finden sich verschiedene Verpflichtungen beider Seiten, ihre geteilten Ziele auch gemeinsam zu verfolgen, nicht zuletzt durch die schon erwähnten ‚Gemeinsamen Programme‘. Dabei sol- len ganz gezielt Länder und Themen identifiziert werden, bei denen gemeinsames Handeln einen Mehrwert erbringt.

Die Realität: ein „wackeliges Tandem“ Die für die Kooperation zwischen Europarat und Europäischer Union zentralen Prinzi- pien (vor allem Komplementarität, Vermeidung von Doppelarbeit)10 und Themen (unter an- derem Menschenrechtsschutz) wurden somit in der ‚Gemeinsamen Erklärung‘ von 2001 festgelegt. In verschiedenen Bereichen werden diese Grundsätze auch gelebt. Exemplarisch hierfür stehen die geschilderten ‚Gemeinsamen Programme‘, deren Entwicklung, Finanzie- rung und Implementierung beide Organisationen gemeinsam tragen. Auch die Beziehungen zwischen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und dem Europä- ischen Gerichtshof entwickeln sich positiv.11 Gleichwohl kommt der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker in seinem im April 2006 vorgelegten und weiter unten noch ausführlicher diskutierten Bericht über den gegenwärtigen Zustand der Beziehungen zwischen Europarat und Europäischer Union zu einem eher ernüchternden Fazit. Mit Blick auf die grundsätzlichen Potenziale konstatiert Juncker zwar, dass sich die beiden Organisationen „auf das Engste“ ergänzen würden.12 Die Bewertung der Umsetzung dieser Potenziale fällt hingegen wenig schmeichelhaft aus: „Wenngleich die beiden [Europarat und Europäische Union; KB] sich natürlich wechselsei- tig bereichert haben, bilden sie doch selbst heute noch bestenfalls ein wackeliges Tandem. Wenngleich sie vieles von dem jeweils anderen entlehnt haben, ist es ihnen doch zu keinem Zeitpunkt möglich gewesen, sich auf eine dauerhaft komplementäre Art und Weise aufzu- stellen.“13 Als Beleg für diese Bewertung dienen die folgenden, seit der Erklärung von 2001 neu aufgetretenen Reibungen und Spannungen zwischen Europarat und Europäischer Union. Die Beispiele zeigen, dass die propagierten Grundsätze nicht durchweg charakteris- tisch für die Interaktion der beiden Organisationen sind. Das betrifft sowohl grundsätzliche institutionelle Aspekte, wie die Diskussion um die EU-Grundrechteagentur zeigt, als auch die Behandlung spezifischer inhaltlicher Fragen wie der ‚CIA-Affäre‘.

9 Die Deklaration ist abrufbar unter: http://www.jp.coe.int/programmes/general/JointDeclaration_EF.asp (letzter Zugriff: 18.07.2007). 10 Bauers Untersuchung der Kulturpolitik ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Doppelarbeiten zwischen Europa- rat und EU als Resultat von verbesserungswürdigen Kooperationsmechanismen und Kompetenzüberschnei- dungen auftreten. Vgl. Hans-Joachim Bauer: Der Europarat nach der Zeitenwende 1989-1999. Zur Rolle Straßburgs im gesamteuropäischen Integrationsprozess, Hamburg 2001, S. 260-263. 11 Laut Bergmann existiert eine „ernsthafte und umfassende Kooperation“ zwischen den beiden Gerichtshöfen, zumal der EuGH bestrebt sei, „in Sachen Grundrechtsschutz kein Quäntchen Raum zwischen sich und Straß- burg [dem EGMR; KB] zu lassen.“ Vgl. Jan Bergmann: Das Bundesverfassungsgericht in Europa, in: Europä- ische Grundrechte-Zeitschrift 20-21/2004, S. 620-627, hier S. 623-624. 12 Jean-Claude Juncker: Europarat – Europäische Union: Eine einheitliche Zielstellung für den europäischen Kontinent, 11.04.2006, S. 2-3. 13 Juncker: Europarat – Europäische Union, 2006, S. 2. Menschenrechte in Europa integration Ð 1/2008 69

EU-Grundrechteagentur Angestoßen wurde die ‚Agentur der Europäischen Union für Grundrechte‘ (nachfolgend: Agentur) im Dezember 2003 durch einen Beschluss des Europäischen Rates. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich, das Mandat der in Wien bereits bestehenden ‚Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit‘ derart auszuweiten, dass sie zu einer Agentur für den Menschenrechtsschutz werden würde. Den Hintergrund für die- sen Schritt bildete die im Dezember 2000 auf dem Europäischen Rat in Nizza proklamierte Grundrechtecharta der Europäischen Union, die durch den Verfassungsvertrag in das Pri- märrecht der Union eingehen und deren Einhaltung von der Agentur überprüft werden sollte.14 Auf dieser Grundlage trieb die Kommission die Vorarbeiten an der Agentur voran, insbesondere durch eine Mitteilung im Oktober 2004 und darauf aufbauenden detaillierten Vorschlägen im Juni 2005.15 Die abschlie§ende Einigung auf der politischen Ebene unter den Mitgliedstaaten wurde Anfang Dezember 2006 im Rat der Innen- und Justizminister er- zielt.16 Am 1. März 2007 nahm die Agentur ihre Arbeit auf. Der Europarat stand diesen Entwicklungen lange Zeit skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die Befürchtung war, dass die Agentur inhaltlich wie geografisch in den Kernbereich der Organisation vordringen würde. Ersteres bezog sich auf den Menschenrechtsschutz in Eu- ropa, letzteres auf die Einbeziehung auch der Beitrittskandidaten und der im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik mit der Union kooperierenden Staaten in das Aufga- benfeld der Agentur. Der Generalsekretär des Europarats, der Brite Terry Davis, kommen- tierte im Februar 2005 die konkreter werdenden Pläne der Europäischen Union mit den Worten: „[W]ith all the best will in the world, I can’t understand what it [die Agentur; KB] is going to do.“17 Etwas weniger deutlich, in der Sache jedoch identisch, äußerte sich im März 2005 die Parlamentarische Versammlung des Europarats. Zwar wurde der Agentur eine po- sitive Wirkung zugesprochen, jedoch unter der Voraussetzung, dass ãa useful role and field of action is defined for it [für die Agentur; KB] and that the agency therefore genuinely ‚fills a gap‘ and presents irrefutable added value and complementarity in terms of promoting re- spect for human rights.“18 In einer im April 2006 an das Ministerkomitee adressierten Emp- fehlung kamen die Parlamentarier zudem auf die Gefahr von Doppelungen zwischen den Arbeiten von Institutionen des Europarats und der Agentur und deren negative Folgen für den Menschenrechtsschutz in Europa zu sprechen: ãDuplication could lead to inconsisten- cies and create the possibility of ‚forum shopping‘, with the countries that were subject to the different mechanisms giving preference to whichever took the more favourable posi- tion.”19

14 Der ‚Vertrag von Lissabon‘ (Art. 6 Abs. 1 EUV) sieht nun vor, der Charta Rechtsverbindlichkeit zu verleihen. 15 Vgl. Europäische Kommission: The Fundamental Rights Agency Public consultation document. Communica- tion from the Commission, COM (2004) 693 final, 25.10.2004; Europäische Kommission: Proposal for a Council Regulation establishing a European Union Agency for Fundamental Rights and Proposal for a Council Decision empowering the European Union Agency for Fundamental Rights to pursue its activities in areas re- ferred to in Title VI of the Treaty on European Union, COM (2005) 280 final, 30.06.2005. 16 Die Verzögerung ergab sich durch weiter unten noch beschriebene Unstimmigkeiten zwischen den Mitglied- staaten über das Mandat der Agentur. 17 Zitiert in Lucia Kubosova: EU discouraged from further overlap in human rights monitoring, in: EUobser- ver.com, 07.02.2005. 18 Parliamentary Assembly: Plans to set up a fundamental rights agency of the European Union, Resolution 1427, 18.03.2005, Art. 10. 19 Parliamentary Assembly: Follow-up to the 3rd Summit: the Council of Europe and the proposed fundamental rights agency of the European Union, Recommendation 1744, 13.04.2006, Art. 4. 70 integration Ð 1/2008 Menschenrechte in Europa

Die letztlich verabschiedeten Bestimmungen zu Aufgaben und Zielen der Agentur ent- sprechen den Anliegen des Europarats in weiten Teilen.20 Das Mandat der Agentur wurde geografisch wie inhaltlich begrenzt. Geografisch können sich neben den Mitgliedstaaten der Union auch die Bewerberländer sowie die Staaten des westlichen Balkans, mit denen die Union ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen geschlossen hat, als Beobachter an der Agentur beteiligen.21 In diesem Punkt fanden die Anliegen des Europarats nur teilweise Gehör, schließlich wollte er eine noch engere Begrenzung der Agentur einzig auf die Mit- gliedstaaten der Union.22 Inhaltlich wiederum soll die Agentur Ð ganz im Sinne des Europa- rats Ð ausschlie§lich innerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts aktiv wer- den. Laut der die Agentur begründenden Verordnung besteht deren maßgebliche Aufgabe darin, „den relevanten Organen, Ämtern und Agenturen der Gemeinschaft und ihren Mit- gliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in Bezug auf die Grundrechte Unterstützung zu gewähren und ihnen Fachkenntnisse bereitzustellen, um ihnen die unein- geschränkte Achtung der Grundrechte zu erleichtern, wenn sie in ihrem jeweiligen Zustän- digkeitsbereich Maßnahmen einleiten oder Aktionen festlegen.“23 Das insbesondere auf der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und dem Gerichtshof für Menschenrechte beruhende Kontrollsystem des Europarats für den individu- ellen Menschenrechtsschutz in Europa bleibt somit unangetastet. Das ist schon allein deshalb der Fall, weil die Agentur nicht von Einzelpersonen angerufen werden und deshalb auch nicht über Einzelfälle (etwa analog zu den Individualbeschwerden vor dem EGMR) ent- scheiden kann. Stattdessen steht sie den Mitgliedstaaten sowie den Institutionen der Union beratend und unterstützend zur Seite, indem sie Expertise zu allgemeinen Fragen zur Verfü- gung stellt. Die Agentur soll insbesondere Informationen und Daten erheben, auswerten und publizieren. Dabei soll sie die Ergebnisse anderer mit Menschenrechtsfragen befasster Ak- teure einbeziehen. Der Europarat wird in diesem Zusammenhang ausdrücklich erwähnt.24 Diese Nennung des Europarats ist einer von mehreren Verweisen auf die Stra§burger Or- ganisation in der Agenturverordnung. Als Maxime des Zusammenspiels beider Institutionen gilt, „Doppelarbeit zu vermeiden und Komplementarität und einen Mehrwert sicherzustel- len.“25 Hierfür ist eine enge Koordination zwischen den beiden Organisationen vorgesehen.26 Dies soll gerade durch die Einbindung einer vom Europarat zu bestimmenden unabhängigen Persönlichkeit in die Institutionen der Agentur geschehen. Laut Generalsekretär Davis soll die Person „darauf aufmerksam [machen], wenn die Agentur ihr Mandat überschreitet.“27

20 Toggenburg spricht von zwei „Formen der Verdoppelungsreduktion“ – generell möglichst wenig inhaltliche Überschneidungen sowie Mechanismen zur Zusammenarbeit in gemeinsamen Bereichen –, die in der Verord- nung zur EU-Agentur berücksichtigt worden seien. Vgl. Gabriel Nikolaij Toggenburg: Die EU-Grundrechte- agentur: Satellit oder Leitstern? Daseinsberechtigung, Aufgaben und Herausforderungen der neuen Agentur der Europäischen Union, SWP-Aktuell 8, Februar 2007, S. 3. 21 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates vom 15. Februar 2007 zur Errichtung einer Agentur der Europä- ischen Union für Grundrechte, in: Amtsblatt der Europäischen Union, Nr. L 53 vom 22. Februar 2007, Art. 28. 22 Diese Forderung wurde von Vertretern des Europarats beispielsweise auf dem 23. Quadripartite-Treffen geäu- §ert. Vgl. Committee of Ministers: 23rd Council of Europe/ European Union Quadripartite meeting (Brussels, 3 November 2006), CM/Inf (2006) 46 revised, 15.11.2006, Art. IIa. 23 Verordnung: Errichtung einer Agentur, 2007, Art. 2. Bezugspunkte hinsichtlich „der Grundrechte“ sind die Bestimmungen von Art. 6 Abs. 2 EUV, und zwar „unter Einschluss der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“. Vgl. Verordnung, Errichtung einer Agentur, 2007, Präam- bel, Abs. 9. 24 Vgl. Verordnung: Errichtung einer Agentur, 2007, Art. 4 Abs. 1a. 25 Verordnung: Errichtung einer Agentur, 2007, Art. 9. 26 Laut Toggenburg enthält die Verordnung „durchaus taugliche Bestimmungen zur Kooperation und Koordina- tion zwischen Europarat und EU“. Toggenburg: Die EU-Grundrechteagentur, 2007, S. 4. 27 Zitiert in Frankfurter Allgemeine Zeitung: EU-Grundrechteagentur eröffnet, 02.03.2007, S. 6. Menschenrechte in Europa integration Ð 1/2008 71

Konkret soll die vom Europarat zu bestimmende Person Mitglied des Verwaltungsrats werden, der „Planungs- und Überwachungsinstanz“28 der Agentur, sowie an den Sitzungen des Exekutivausschusses der Agentur teilnehmen können, der den Verwaltungsrat unter- stützt. Die Person besitzt allerdings nur eingeschränkte Abstimmungsrechte im Verwal- tungsrat.29 Abstimmungsberechtigt ist sie etwa bei der Verabschiedung des Jahresar- beitsprogramms oder der Annahme der Jahresberichte der Agentur. Nicht abstimmen darf die vom Europarat zu bestimmende Persönlichkeit hingegen bei noch wichtigeren Führungs- und Finanzfragen. Hierzu zählt die Ernennung beziehungsweise Amtsenthebung des Direk- tors der Agentur oder die Verabschiedung des Jahreshaushaltsplans. Dem Exekutivaus- schuss wiederum kann die Persönlichkeit generell nur ohne Abstimmungsrecht „beiwoh- nen“.30 Ein noch abzuschlie§endes Kooperationsabkommen soll die Zusammenarbeit zwischen Agentur und Europarat weiter spezifizieren.31 Als Folge dieser weitgehenden Berücksichtigung der Anliegen des Europarats änderte sich dessen Haltung gegenüber der Agentur. Generalsekretär Davis etwa sagte Mitte Februar 2007: ãI welcome the decision by the EU Council of Ministers to create a new Fundamental Rights Agency to scrutinise EU institutions and the application of EU laws. This is an im- portant and challenging task, and the new Agency can make a useful contribution in helping the EU to comply with the Council of Europe standards based on the European Convention on Human Rights.”32 Laut Ministerkomitee des Europarats solle das Hauptaugenmerk des Europarats nun darauf liegen, dass die Vorgaben auch in der Praxis umgesetzt würden.33 Unklar ist, zu welchem Grad dieser ‚Erfolg‘ des Europarats der – nicht vom Europarat als Organisation erzeugten – Kongruenz seiner Interessen mit denjenigen einzelner europä- ischer Staaten geschuldet ist. Nicht zuletzt angetrieben durch die Sorge um nationale Souve- ränitätsrechte sprachen sich Länder wie Großbritannien, Irland und die Slowakei für eine klare geografische wie vor allem inhaltliche Begrenzung der Agentur aus.34 Auch Deutsch- land – allen voran der EU-Ausschuss des Bundestags – setzte sich „für eine schlanke Agen- tur und eine Beschränkung des geographischen Tätigkeitsbereichs auf EU und Beitrittskan- didaten“35 ein. Als Gründe für die kritische Haltung des EU-Ausschusses gegenüber der Agentur nannte der damalige Ausschussvorsitzende, , neben grundsätz- lichen Problemen beim Zusammenspiel zwischen Bundestag und Bundesregierung36 die Ge-

28 Verordnung: Errichtung einer Agentur, 2007, Art. 12 Abs. 6. 29 Vgl. Verordnung: Errichtung einer Agentur, 2007, Art. 12 Abs. 8. 30 Verordnung: Errichtung einer Agentur, 2007, Art. 13 Abs. 1. 31 Vgl. Verordnung: Errichtung einer Agentur, 2007, Art. 9. 32 Council of Europe: SG Ð European Fundamental Rights Agency, Press Release 102a07, 15.02.2007. 33 Vgl. Committee of Ministers: Follow-up to the Third Summit: the Council of Europe and the proposed funda- mental rights agency of the European Union. Parliamentary Assembly Recommendation 1744, CM/AS (2007) Rec 1744 final, 19.01.2007, Art. 5. 34 Die inhaltliche Begrenzung bezog sich vor allem darauf, ob die Agentur auch Fragen mit polizeilichem oder justiziellem Bezug untersuchen solle Ð und somit Themen, die nicht unter das Gemeinschaftsrecht, sondern in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten fallen und für deren Behandlung durch die Agentur es keine Rechts- grundlage gegeben hätte. Vgl. Lucia Kubosova: Legal dispute could delay EU rights agency, in: EUobser- ver.com, 12.09.2006. Allerdings verständigten sich die EU-Mitgliedstaaten darauf, bis Ende 2009 eine Überprüfung des Mandats der Agentur durchzuführen mit der Möglichkeit, dieses auf die polizeiliche und jus- tizielle Zusammenarbeit auszuweiten. Vgl. Lucia Kubosova: EU opts for fundamental rights agency with li- mited scope, in: EUobserver.com, 05.12.2006. 35 Newsletter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft: EU-Grundrechteagentur kann Tätigkeit zum 1. März 2007 aufnehmen, 15.02.2007. 36 Hier ging es um die – aus Sicht der Abgeordneten ungenügende – Berücksichtigung der Forderungen des Bun- destags durch die Bundesregierung im Rahmen der europäischen Verhandlungen zur EU-Agentur. 72 integration Ð 1/2008 Menschenrechte in Europa fahr von Kompetenzüberschreitungen der Agentur wie auch mögliche Überschneidungen mit anderen Organisationen. Wissmann hatte hier insbesondere den Europarat im Blick.37 Vor diesem Hintergrund ergeben sich mehrere Fragen. Welche Defizite gab es beim In- formationsaustausch zwischen Europäischer Union und Europarat im Zuge der Konzeptio- nierung der Agentur, damit es zu den oben angeführten Befürchtungen und Spannungen kam? Weshalb wird der Abschluss eines Kooperationsabkommens erst nach der Gründung der Agentur Ð und scheinbar erst in Reaktion auf die Kritik des Europarats38 Ð in Angriff ge- nommen? Die entscheidende Frage schlie§lich: Wenn die Interessen vor allem gro§er EU- Staaten wie Deutschland und Gro§britannien nicht denjenigen des Europarats entsprochen hätten, wäre auch dann eine auf Arbeitsteilung und die Vermeidung von Duplizierungen ab- zielende Regelung gefunden worden?

Untersuchung der ‚CIA-Affäre‘ Im Europarat wurde die ‚CIA-Affäre‘, eine Umschreibung für Geheimflüge, Entführun- gen und vermeintliche Geheimgefängnisse des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA in Europa, mehrgleisig verfolgt. Den Anfang machte die Parlamentarische Versamm- lung des Europarats im November 2005. Als Reaktion auf Medienberichte wurde der Schweizer Dick Marty, Vorsitzender des Ausschusses für Recht und Menschenrechte der Versammlung, zum Berichterstatter ernannt. Auf der Grundlage von Martys Berichten hat die Versammlung auf ihren Sitzungen im Juni 2006 und im Juni 2007 mehrere Empfehlun- gen und Resolutionen verabschiedet.39 Neben den eigenen Arbeiten ersuchte die Parlamentarische Versammlung Mitte Dezem- ber 2005 die ‚Europäische Kommission für Demokratie durch Recht‘ (‚Venedig-Kommis- sion‘), eine Stellungnahme über die Rechtmäßigkeit von Geheimgefängnissen zu erstellen. In diesem Bericht sollten gerade die für die Mitgliedstaaten des Europarats aus der EMRK erwachsenden Verpflichtungen untersucht werden. Die Venedig-Kommission, ein Experten- gremium, das sich vorrangig mit verfassungsrechtlichen Fragen auseinandersetzt, legte Ende März 2006 ihre Stellungnahme vor.40 Zuvor hatte bereits Ende November 2005 der Generalsekretär des Europarats, Terry Da- vis, auf der Grundlage von Artikel 52 EMRK41 eine Anfrage an die Vertragsstaaten der Menschenrechtskonvention zu den rechtlichen Aspekten möglicher problematischer ameri- kanischer Flugbewegungen in Europa gerichtet. Davis wollte von den Staaten unter anderem wissen, ob sie angemessene Mechanismen zur Kontrolle der Aktionen von Agenten auslän- discher Geheimdienste in ihrer Jurisdiktion besäßen. Eine andere Frage lautete, ob Beamte der Staaten seit Anfang 2002 wissentlich oder durch Unterlassung am Freiheitsentzug oder dem Transport von Gefangenen beteiligt waren und ob es diesbezüglich offizielle Untersu-

37 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Nicht noch ein Amt, 03.01.2007, S. 3. 38 Laut Kubosova haben sich die EU-Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament erst als Reaktion auf die Kritik des Europarats auf den Abschluss eines ‚Memorandum of Understanding‘ verständigt. Vgl. Kubosova: Legal dispute, 12.09.2006. 39 Zuletzt angenommen wurden Parliamentary Assembly: Secret detentions and illegal transfer of detainees in- volving Council of Europe member states: second report, Resolution 1562, 27.06.2007; sowie Parliamentary Assembly: Secret detentions and illegal transfer of detainees involving Council of Europe member states: sec- ond report, Recommendation 1801, 27.06.2007. 40 Vgl. European Commission for Democracy Through Law: Opinion on the International Legal Obligations of Council of Europe Member States in Respect of Secret Detention Facilities And Inter-State Transport of Pris- oners, Opinion no. 363/2005, 17.03.2006. 41 Art. 52 EMRK besagt: „Auf Anfrage des Generalsekretärs des Europarats erläutert jede Hohe Vertragspartei, auf welche Weise die wirksame Anwendung aller Bestimmungen dieser Konvention in ihrem innerstaatlichen Recht gewährleistet wird.” Menschenrechte in Europa integration Ð 1/2008 73 chungen gegeben habe oder gebe. Davis veröffentlichte seinen Bericht am 1. März 2006. Mitte Juni 2006 ergänzte er seine Ausführungen durch einen Folgebericht.42 Am 15. Dezember 2005 wiederum entschied das Europäische Parlament, einen nichtstän- digen Ausschuss zur Untersuchung der CIA-Affäre einzusetzen. Der Beschluss fiel somit zu einem Zeitpunkt, an dem die Untersuchungen der Versammlung und des Generalsekretärs des Europarats bereits seit Wochen liefen sowie exakt an dem Tag, an welchem die Vene- dig-Kommission ihren Auftrag erhielt. Mitte Januar 2006 wurden Mandat und Mitglieder des 46 Personen umfassenden Ausschusses des Europäischen Parlaments bestätigt. Nach mehreren Untersuchungsreisen und Dutzenden von Anhörungen des Ausschusses legte des- sen Berichterstatter, der Italiener Giovanni Claudio Fava, Ende Januar 2007 seinen Ab- schlussbericht vor.43 Dieser bildete die Grundlage für die Mitte Februar 2007 vom Europä- ischen Parlament angenommene Resolution.44 Zuvor hatte die Europäische Kommission bereits Anfang April 2006 das ‚EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights‘ um eine Stellungnahme zu den CIA-Aktivitäten in Europa ersucht. Die Stellung- nahme des Expertenkreises wurde Ende Mai 2006 vorgelegt und floss in die Resolution des Parlaments ein.45 Aus dem Geschilderten ergeben sich eine inhaltliche Frage und eine Verfahrensfrage. In inhaltlicher Hinsicht ist zu diskutieren, welche neuen Ergebnisse die Untersuchung des Eu- ropäischen Parlaments erbracht hat. Dessen Abschlussresolution betont jedenfalls ausdrück- lich „die Übereinstimmung der von beiden Ausschüssen [des Europäischen Parlaments und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats; KB] bislang erzielten Ergebnisse.“46 Die für diesen Beitrag wichtigere Frage lautet, ob die Untersuchung der CIA-Affäre – losge- löst von den Untersuchungsergebnissen als solchen – hinsichtlich der Zusammenarbeit zwi- schen den beiden Organisationen als Erfolg bewertet werden kann. Zwei Punkte sind unbestreitbar. Erstens fällt die CIA-Affäre in den Aufgabenbereich der Europäischen Union. Laut Artikel 6 des EU-Vertrags von Nizza „beruht“ die Union „auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grund- freiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“. Zudem findet sich in diesem Artikel die Verpflich- tung der Union zur Achtung der in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeleg- ten Grundrechte. Eine Untersuchung von möglichen fundamentalen Verletzungen dieser Grundrechte kann entsprechend nicht als eine Kompetenzüberschreitung gewertet werden. Zweitens hat eine Zusammenarbeit zwischen Europäischer Union und Europarat stattgefun- den. So lobt beispielsweise der Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Eu-

42 Vgl. Secretary General: Secretary General’s report under Article 52 ECHR on the question of secret detention and transport of detainees suspected of terrorist acts, notably by or at the instigation of foreign agencies, SG/Inf (2006) 5, 28.02.2006; sowie Secretary General: Secretary General’s supplementary report under Article 52 ECHR on the question of secret detention and transport of detainees suspected of terrorist acts, notably by or at the instigation of foreign agencies, SG/Inf (2006) 13, 14.06.2006. 43 Vgl. Nichtständiger Ausschuss zur behaupteten Nutzung europäischer Staaten durch die CIA für die Beförde- rung und das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen: Bericht über die behauptete Nutzung europäischer Staaten durch die CIA für die Beförderung und das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen, A6-0020/2007, 30.01.2007. 44 Vgl. Europäisches Parlament: Entschließung des Europäischen Parlaments zu der behaupteten Nutzung euro- päischer Staaten durch die CIA für die Beförderung und das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen, T6- 0032/2007, 14.02.2007. 45 Vgl. EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights: The Human Rights Responsibilities of the EU Member States in the Context of the C.I.A. Activities in Europe (‚Extraordinary Renditions‘), Opinion no. 3-2006, 25.05.2006. 46 Vgl. Europäisches Parlament: Entschließung, 14.02.2007, Art. 33. Ein konservatives Mitglied des Parlaments aus Großbritannien konstatierte, dass der EP-Untersuchungsbericht einen früheren Bericht des Europarats nur „dupliziert“ hätte. Zitiert in Financial Times.com: MEPs condemn rendition flights, 14.02.2007. 74 integration Ð 1/2008 Menschenrechte in Europa roparats die Unterstützung, die er seitens der Europäischen Kommission erfahren hat. Diese sei gerade für den Erhalt der Informationen der Europäischen Organisation für Flugsiche- rung (Eurocontrol) und des EU-Satellitenzentrums über Flugbewegungen „unschätzbar“ ge- wesen.47 Dennoch stellt sich die Frage, ob diese gezielte Unterstützung der laufenden Untersu- chung des Europarats durch die Kommission oder durch andere EU-Institutionen nicht auch ohne parallel laufende eigenständige Aktivitäten im Rahmen der Europäischen Union mög- lich gewesen wäre – Aktivitäten, welche den propagierten Zielen von Kooperation und Komplementarität diametral entgegenstehen. Voraussetzung hierfür wäre eine klare Arbeits- teilung zwischen den beiden Organisationen gewesen, in diesem Fall verstanden als Feder- führung der einen und einer gezielten Zuarbeit der anderen. Die Federführung hätte nicht bei der Europäischen Union und deren Institutionen gelegen, sondern beim Europarat. Schließ- lich hatte der Europarat bereits, wie geschildert, mittels verschiedener Institutionen (Parla- mentarische Versammlung, Venedig-Kommission) und Mechanismen (Artikel 52 EMRK) mit der Untersuchung der gegen die CIA erhobenen Vorwürfe begonnen. Der Union wäre die Rolle des weniger beachteten Juniorpartners zugekommen.48 In einer echten Partner- schaft wäre die inhaltliche Dimension der Aufklärung über dem Aspekt der institutionellen Verortung diesbezüglicher Aktivitäten gestanden. Dem war nicht so. Institutionelle Eigenin- teressen scheinen gegenüber Effizienzerwägungen überwogen zu haben.49

Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Menschenrechtsschutz?

Anstöße durch den dritten Europaratsgipfel Die beiden Fallbeispiele zeigen, dass die Grundlage für ein möglichst reibungsfreies und Doppelarbeiten vermeidendes Zusammenspiel zwischen Europarat und Europäischer Union noch nicht gefunden worden ist. Der jüngste Anstoß zur Fortentwicklung der Beziehungen ging vom jüngsten Gipfeltreffen des Europarats aus. Auf dem Mitte Mai 2005 unter polni- scher Präsidentschaft in Warschau durchgeführten dritten Gipfel standen für deren Zu- kunftsfähigkeit grundlegende Themen im Mittelpunkt. Die entscheidenden internen Fragen betrafen die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Europarats und seiner Institutionen, ins- besondere des EGMR. Nach au§en ging es vor allem um die langfristige Positionierung des Europarats innerhalb des europäischen Integrationsprozesses – und somit auch um die Selbstbehauptung gegenüber der Europäischen Union. Das Gipfeltreffen mündete in der ‚Warschauer Erklärung‘ als dem Abschlusskommuni- qué des Gipfels und dem ‚Aktionsplan‘, der die Schwerpunkte der Europaratsaktivitäten der nächsten Jahre festhält. Beide im Namen der Staats- und Regierungschefs der damals noch 46 Europaratsstaaten50 angenommenen Dokumente gingen auf das Zusammenspiel zwi- schen Europarat und Europäischer Union ein, und zwar in allgemeiner Hinsicht ebenso wie

47 Committee on Legal Affairs: Alleged secret detentions and unlawful inter-state transfers involving the Council of Europe member states. Draft report Ð Part II (Explanatory Memorandum), AS/Jur (2006) 16 Part II, 07.06.2006, S. 5. 48 Die Öffentlichkeitswirkung der eigenen Aktivitäten scheint für die Mitglieder des Ausschusses des Europä- ischen Parlaments eine große Rolle gespielt zu haben. Siehe Das Parlament: Fünf Fragen an: Ewa Klimt, 19./ 26.02.2007, S. 11. 49 Zugleich war das Parlament bezüglich der Bewertung der Untersuchungsergebnisse beinahe gespalten. Bei der abschlie§enden Abstimmung im Plenum zum Bericht des Sonderausschusses stimmten 382 Abgeordnete mit „Ja“, 256 mit „Nein“ und 74 enthielten sich. Vgl. Honor Mahoney: MEPs approve critical CIA report but remain divided, in: EUobserver.com, 14.2.2007. 50 Im Mai 2007 ist Montenegro als 47. Staat dem Europarat beigetreten. Menschenrechte in Europa integration Ð 1/2008 75 speziell mit Blick auf die Zusammenarbeit im Bereich des Menschenrechtsschutzes. In der Warschauer Erklärung wurde explizit die Verbindung zwischen dem Menschenrechtsschutz – laut Erklärung eines der drei „Hauptziele“ der Organisation, zu deren Durchsetzung alle Aktivitäten der Organisation beitragen sollen – und der Zusammenarbeit des Europarats mit der Europäischen Union hergestellt.51 Die Staats- und Regierungschefs des Europarats be- kundeten die Absicht ãto create a new framework for enhanced co-operation and interaction between the Council of Europe and the European Union in areas of common concern“.52 Zu diesen Feldern gemeinsamen Interesses zählte der Menschenrechtsschutz. Die Forderung, die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union im Bereich des Men- schenrechtsschutzes auszubauen, wurde im Aktionsplan weiter spezifiziert.53 Um dieses Ziel, sowie grundsätzlich eine effizientere und Synergien schaffende Kooperation der beiden Organisationen zu gewährleisten, sollten die Beziehungen durch den Abschluss eines ‚Me- morandum of Understanding‘ auf eine neue Grundlage gestellt werden. Als Referenzpunkte für diese Absichtserklärung wurden im Anhang des Aktionsplans zehn Leitlinien ange- führt.54 Unter diesen finden sich speziell bezogen auf die Zusammenarbeit beim Menschen- rechtsschutz folgende drei Aspekte: Erstens solle die Europäische Union schnellstmöglich der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten, wodurch die Kohärenz bei Men- schenrechten in Europa gesichert werden würde. Zweitens bekundete der Europarat seinen Willen, die Europäische Union auch in Zukunft im Bereich der Menschenrechte zu unter- stützen und zu beraten. Drittens wurde mit Blick auf die EU-Grundrechteagentur die Hoff- nung geäußert, dass diese eine Gelegenheit zur weiteren Vertiefung der Zusammenarbeit der zwei Organisationen bieten und zudem zu einer größeren Kohärenz und Komplementarität beitragen werde.

Weitere Impulse durch den Juncker-Bericht Im Nachgang zum dritten Gipfeltreffen des Europarats wurden vier Prioritäten bei der Umsetzung der dort getroffenen Beschlüsse festgelegt. Neben der Intensivierung der Demo- kratieförderung und der Entwicklung eines menschlicheren Europas waren dies die Konsoli- dierung des Menschenrechtsschutzsystems des Europarats sowie die Pflege der Zusammen- arbeit mit der OSZE und der Europäischen Union.55 Die Frage, wie die letztgenannte Kooperation verbessert werden kann, und zwar auch mit Blick auf den Menschenrechts- schutz in Europa, wurde noch auf dem Gipfeltreffen an den luxemburgischen Premierminis- ter Jean-Claude Juncker herangetragen. Junckers Aufgabe lautete, in „persönlicher Eigen- schaft“ den Zustand der Europarat-EU-Beziehungen zu durchleuchten und Vorschläge für deren Optimierung auszuarbeiten.56 Knapp ein Jahr nach seiner Beauftragung legte Juncker im April 2006 seinen Bericht ‚Eu- roparat – Europäische Union: Eine einheitliche Zielstellung für den europäischen Kontinent‘ vor. In diesem findet sich eine Vielzahl von Einzelvorschlägen, die zu einer strategischen Partnerschaft zwischen Europarat und Europäischer Union beitragen sollen. Nachfolgend

51 Vgl. Committee of Ministers: Third Summit of Heads of State and Government of the Council of Europe (Warsaw, 16-17 May 2005). Warsaw Declaration, CM (2005) 79 final, 17.05.2005. 52 Committee of Ministers: Warsaw Declaration, 17.05.2005, Art. 10. 53 Vgl. Committee of Ministers: Third Summit of Heads of State and Government of the Council of Europe (Warsaw, 16-17 May 2005). Action Plan, CM (2005) 80 final, 17.05.2005, Kap. 4 Art. 1. 54 Vgl. Committee of Ministers: Action Plan, 17.05.2005, Appendix 1 (“Guidelines on the Relations between the Council of Europe and the European Union“). 55 Vgl. Committee of Ministers: Follow-up to the Third Summit. Parliamentary Assembly Recommendation 1712, CM/AS (2006) Rec 1712 final, 20.01.2006. 56 Vgl. Committee of Ministers: Warsaw Declaration, 17.05.2005, Art. 10. 76 integration Ð 1/2008 Menschenrechte in Europa werden die wichtigsten Anregungen hinsichtlich der Zusammenarbeit beim Menschenrechts- schutz angeführt.57 Eine der Forderungen Junckers war der umgehende Beitritt der Europä- ischen Union zur EMRK. Dieser Schritt würde „im Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte in Europa für ein Höchstmaß an Kohärenz und Koordinierung (...) sorgen.“58 Eine zweite Forderung lautete, den Europarat als Bezugsrahmen in Menschenrechtsfra- gen zu etablieren. Die Europäische Union sollte nach Ansicht Junckers die Arbeiten der mit Menschenrechtsfragen befassten Institutionen des Europarats als primäre Bezugsquellen nutzen. Würden die Aktivitäten des Europarats systematisch wie auch verbindlich im Rah- men der Europäischen Union genutzt und zudem die Europaratsinstitutionen konsequent von EU-Gremien im Zuge der Entwicklung neuer Maßnahmen konsultiert, erführe die Orga- nisation eine deutliche Aufwertung. Drittens sprach sich Juncker für eine konsequente Nutzung des Menschenrechtskommis- sars des Europarats auch durch die Europäische Union aus. In Menschenrechtsfragen, wel- che die EU-Mitglieder berühren und die zugleich durch keine vorhandenen Kontrollmecha- nismen abgedeckt werden, solle es der Europäischen Union formal ermöglicht werden, den Menschenrechtskommissar einzuschalten. Ein vierter Vorschlag bezog sich auf die Begrenzung der EU-Grundrechteagentur. Jun- cker verwies „auf die mögliche Bedrohung, welche von dieser neuen Institution für die Ein- heitlichkeit des Schutzes der Menschenrechte in Europa ausgehen könnte.“59 Um dieser Be- drohung zu begegnen, schlug Juncker vor, dass die Agentur komplementär zu den Überwachungseinheiten des Europarats agieren sollte. Insbesondere müsse das Mandat der Agentur auf Menschenrechtsfragen begrenzt werden, die sich aus der Umsetzung des Ge- meinschaftsrechts ergäben. Eine allgemeine Überwachungsfunktion dürfe der Agentur dem- gegenüber nicht zukommen. Beide Punkte wurden, wie oben geschildert, bei der Gründung der Agentur berücksichtigt.

Memorandum of Understanding Im Mai 2007 wurde auf der Grundlage der Vorgaben des Warschauer Gipfels, des Jun- cker-Berichts sowie weiterer Vorschläge, etwa der Parlamentarischen Versammlung des Eu- roparats,60 ein neues Grundlagendokument zwischen Europarat und Europäischer Union un- terzeichnet: das ‚Memorandum of Understanding between the Council of Europe and the European Union‘.61 Diese Absichtserklärung setzt die Linie der ‚Gemeinsamen Erklärung‘ von 2001 in zweifacher Hinsicht fort. Zum einen wird erneut das gesamte Spektrum von the- matisch-inhaltlichen bis hin zu institutionell-verfahrenstechnischen Vorgaben behandelt. Zum anderen bleiben diese Bestimmungen weiterhin wenig ambitioniert und insgesamt eher vage.62 Deshalb dürfte auch dieses Dokument nur ein weiterer Zwischenschritt auf dem Weg zu einer tatsächlich auf Arbeitsteilung und Komplementarität beruhenden Zusammenarbeit zwischen Europarat und Europäischer Union bleiben.

57 Daneben sprach sich Juncker insbesondere für eine größere Substanz der interinstitutionellen Beziehungen aus. Das gilt sowohl für die Quadripartite-Treffen als auch für die Beziehungen zwischen Parlamentarischer Ver- sammlung und Europäischem Parlament. Zudem befürwortete Juncker einen Beitritt der EU zum Europarat bis zum Jahr 2010. Auf diese Weise könne die EU in allen Europaratsgremien für sich sprechen. 58 Juncker: Europarat – Europäische Union, 2006, S. 5. 59 Juncker: Europarat – Europäische Union, 2006, S. 9. 60 Vgl. Parliamentary Assembly: Memorandum of Understanding between the Council of Europe and the Euro- pean Union, Recommendation 1743, 13.04.2006. 61 Vgl. Committee of Ministers: Memorandum of Understanding between the Council of Europe and the Euro- pean Union, CM (2007) 74, 10.05.2007. Menschenrechte in Europa integration Ð 1/2008 77

Das Memorandum bekräftigt die anvisierten Grundprinzipien der Zusammenarbeit. Eine vertiefte Kooperation und eine verlässliche Koordination in Fragen gemeinsamen Interesses werden als Zielvorgaben angeführt. Erneut wird die Menschenrechtsthematik besonders he- rausgestellt, und zwar allgemein für den Europarat wie auch konkret für dessen Zusammen- spiel mit der Europäischen Union. Bei letzterem wird der Schutz von Menschenrechten und Grundfreiheiten an erster Stelle bei den Feldern angeführt, in denen die Organisationen ihre Kooperation ausbauen wollen. Zu den Themenschwerpunkten gehören der Schutz von Min- derheiten, der Kampf gegen Folter und Menschenhandel sowie die Förderung von Mei- nungs- und Informationsfreiheit. Auf der Grundlage ebenso unteilbarer wie universeller Menschenrechte gilt es aus Sicht beider Organisationen dabei, die ãcohesion of the human rights protection system in Europe“63 zu bewahren. Das betrifft speziell die Kohärenz zwi- schen EG- und EU-Recht auf der einen und den einschlägigen Konventionen des Europarats auf der anderen Seite. Ausdrücklich erwähnt wird freilich, dass EG-/EU-Recht bereits beste- hende Schutzmechanismen weiter vertiefen dürfe. Während das Vorherige größtenteils Bekanntes wiederholt, geht das Memorandum an verschiedenen Stellen über frühere Vereinbarungen hinaus. Neu ist beispielsweise die mehr- fache ausdrückliche Betonung des Europarats als Referenzpunkt für den Menschenrechts- schutz in Europa, und zwar auch für die Europäische Union. Der Europarat wird nicht nur als „the benchmark for human rights, the rule of law and democracy in Europe“64 bezeich- net. Darüber hinaus ist angeführt, dass “[t]he European Union regards the Council of Europe as the Europe-wide reference source for human rights”,65 dessen Normen in den EU-Doku- menten als Referenz angeführt werden sollen. Zudem, einem der Vorschläge Junckers fol- gend, will die Europäische Union ihre Beziehungen zum Menschenrechtskommissar des Europarats ausbauen. Schlie§lich wird die Reichweite der EU-Grundrechteagentur aus- drücklich auf den Unionsrahmen begrenzt. Die Inhalte der rechtsverbindlichen Agenturver- ordnung werden somit im nicht bindenden Memorandum symbolisch bekräftigt. So wenig spezifisch wie teilweise der Text selbst sind auch die zu dessen Weiterverfol- gung vorgesehenen Ma§nahmen. Beide Seiten verpflichten sich, die Umsetzung des Memo- randums regelmäßig zu überprüfen. Auf der Grundlage der Evaluierungen soll bis spätestens 2013 ein gemeinsamer Beschluss getroffen werden, der zur Anpassung des Textes durch die Einführung neuer Schwerpunkte der Zusammenarbeit führen könnte.66

Fazit Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Zusammenarbeit von Europarat und Europäischer Union beim Menschenrechtsschutz ist offensichtlich. Bekundungen von Ab- stimmung und Partnerschaftlichkeit stehen in der Praxis Doppelarbeiten und Konflikte ent- gegen, welche das Gegenteil bezeugen. Sicher: Zusammenarbeit findet statt, und wo dies ge- schieht, wird auch Mehrwert erzielt. Die jüngsten Differenzen bei der Gründung der EU- Grundrechteagentur und der Untersuchung der ‚CIA-Affäre‘ verdeutlichen allerdings das

62 Die Unbestimmtheit beschränkt sich nicht auf die Zusammenarbeit im Menschenrechtsbereich. Vielmehr trifft sie auch auf weitere inhaltliche wie institutionelle Bereiche zu. Exemplarisch hierfür ist die Aussage, dass beide Seiten „prüfen“ werden, wie sie ihre Präsenz bei der Partnerorganisation ausbauen können – ein Hin- weis, der sich vor allem auf die bislang fehlende permanente Präsenz von EU/EG beim Europarat bezieht. Vgl. Committee of Ministers: Memorandum of Understanding, 10.05.2007, Art. 51. 63 Committee of Ministers: Memorandum of Understanding, 10.05.2007, Art. 16. 64 Committee of Ministers: Memorandum of Understanding, 10.05.2007, Art. 10. 65 Committee of Ministers: Memorandum of Understanding, 10.05.2007, Art. 17. 66 Vgl. Committee of Ministers: Memorandum of Understanding, 10.05.2007, Art. 55. 78 integration Ð 1/2008 Menschenrechte in Europa fortbestehende Koordinations- und Kooperationsproblem zwischen den beiden Organisatio- nen beim Menschenrechtsschutz. Beide Seiten scheinen gewillt, ihre Zusammenarbeit weiter zu verbessern. Angesto§en durch das dritte Gipfeltreffen des Europarats im Mai 2005, und bekräftigt durch den Jun- cker-Bericht, mündeten die Abstimmungen zwei Jahre später in ein ‚Memorandum of Un- derstanding‘. In diesem wird erneut der Wille bekundet, bestehende Defizite zu überwinden und zu Komplementarität und Synergien zu gelangen. Auch diese nicht bindende Absichts- erklärung stellt jedoch nur einen Zwischenschritt zur Erreichung dieser Ziele dar. Gerade die Unbestimmtheit der Inhalte lässt weiterhin viel Raum für Auslegungen, Missverständnisse und Konflikte. Eine ‚Hochrangige Expertengruppe‘ diskutiert gegenwärtig weitere Vor- schläge des Juncker-Berichts. Ob diese umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Weitergehende Impulse für die Zusammenarbeit zwischen Europäischer Union und Eu- roparat brächte der ‚Vertrag von Lissabon‘. In diesem verpflichtet sich die Europäische Union zum Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (Artikel 6 Absatz 2 EUV).67 Hierdurch würden die Organe der Union durch die Konvention gebunden, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erhielte eine unmittelbare Zuständigkeit, die Vereinbarkeit des Gemeinschaftsrechts mit der Konvention zu prüfen.68 Während der Bei- tritt der Union zur Menschenrechtskonvention die Kohärenz beim Menschenrechtsschutz in Europa verbessern dürfte, könnte eine andere Neuerung des Vertrags von Lissabon den ge- genteiligen Effekt haben. Der Vertrag sieht vor, dass die Grundrechtecharta der Union Rechtsverbindlichkeit erhält (Artikel 6 Absatz 1 EUV). Als ein eigenständiger EU-Grund- rechtekatalog eröffnet die Charta laut Alber und Widmaier dem Europäischen Gerichtshof die Möglichkeit, eine von der Menschenrechtskonvention getrennte Grundrechtsdogmatik zu entwickeln. Als Folge könnten Interpretations- und somit Rechtsprechungsdivergenzen in Zukunft wahrscheinlicher werden.69 Die entscheidenden, vornehmlich politischen Fragen blieben freilich auch nach dem In- krafttreten des Vertrags von Lissabon unbeantwortet. Sie lauten: Wie genau darf bezie- hungsweise muss die Zusammenarbeit zwischen Europarat und Europäischer Union ge- und verregelt werden? Und wie viel Freiraum bedarf es? Detaillierte Festlegungen, die Schwer- punkte und Arbeitsteilungen bestimmen, würden ein Mehr an Verlässlichkeit bringen und verstärkt zu Einsparungseffekten und Synergien führen. Sie würden allerdings Reibungen oder Doppelarbeiten nicht grundsätzlich ausschließen. Politischer Wille zur Zusammenar- beit, was in manchen Fällen auch eine Zurücknahme der eigenen Organisation bedeutet, ist und bleibt entscheidend. Gerade medial prominent behandelte Themen wie die CIA-Affäre scheinen prädestiniert dafür zu sein, eine Eigendynamik zu entwickeln, bei der Absprachen zwischen Organisationen den Eigeninteressen von Organisationen nachgeordnet werden. Politischer Wille ist es allerdings auch, der das Gegenteil bewirken kann: die praktische Umsetzung einer auf Koordination und, wo immer möglich, Kooperation beruhenden Zu- sammenarbeit. Von derart ineinandergreifenden Institutionen (‚interlocking institutions‘) würden alle Beteiligten profitieren. Der Europarat könnte sein Gewicht gegenüber den

67 Ein Beitritt ist auf beiden Seiten an Voraussetzungen geknüpft. Insbesondere müsste die Union eine Rechtsper- sönlichkeit erhalten – was sie im Falle der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon täte –, und die Menschen- rechtskonvention, die bislang nur Staaten offen steht, müsste für den Beitritt von internationalen bzw. supranationalen Organisationen geöffnet werden – was im 14. Zusatzprotokoll zur EMKR vorgesehen ist. Das Protokoll konnte aufgrund der fehlenden Ratifizierung durch Russland jedoch noch nicht Inkrafttreten. 68 Vgl. Siegbert Alber/Ulrich Widmaier: Mögliche Konfliktbereiche und Divergenzen im europäischen Grund- rechtsschutz, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 5-8/2006, S. 113-123, hier S. 122-123. 69 Vgl. Alber/Widmaier: Mögliche Konfliktbereiche und Divergenzen, 2006, S. 122. Menschenrechte in Europa integration Ð 1/2008 79

Adressatenstaaten zusätzlich erhöhen, wenn er seine Arbeiten im Bereich des Menschen- rechtsschutzes in einen klar erkennbaren Bezug zur politisch wie finanziell ungleich mächti- geren Europäischen Union stellen könnte. Die Union würde ihrerseits Entlastung erfahren und sich zudem bei ihren Aktivitäten auf vom Europarat erarbeitete hochwertige Ergebnisse stützen können, ohne diese selbst erstellen oder finanzieren zu müssen. Die EU-Staaten, die allesamt auch Europaratsstaaten sind, sähen ihre Mittel effizienter eingesetzt, ohne dass die Qualität des Menschenrechtsschutzes in Europa leiden würde. Alle von den Kontrollmechanismen von Europarat und Europäischer Union erfassten Staaten schließlich würden nicht mit möglicherweise widersprüchlichen Standards und Vor- gaben beim Menschenrechtsschutz konfrontiert werden. Zugleich wäre die Gefahr des ‚forum shoppings‘ gebannt, bei dem sich Staaten mit Defiziten beim Menschenrechtsschutz auf diejenige Organisation berufen, die ihnen weniger kritisch gegenübersteht. Durch ein ab- gestimmtes Vorgehen von Europarat und Europäischer Union ließe sich diese Gefahr in eine Chance für die beiden Organisationen umwandeln, ihre geteilten Ziele durch ein geeintes Vorgehen umzusetzen. Wenn die Herausforderung somit darin besteht, die Zusammenarbeit so weit zu verregeln wie nötig und zugleich so flexibel zu belassen wie möglich, sind Euro- parat und Europäische Union weiterhin auf der Suche nach der richtigen Balance.

Feb_j_a\[bZ[h_c;K#C[^h[X[d[dioij[c ?dijhkc[dj[kdZIjhWj[]_[d[khef_iY^[dH[]_[h[di >[hWki][][X[dled>kX[hj>[_d[bjkdZ C_Y^„b[AdeZj (&&."YW$)+&I$"XheiY^$"YW$(/"ÅÐ" ?I8D/-.#)#.)(/#((-)#) ;hiY^[_dj@kd_(&&. :_[i[hIWcc[bXWdZ]_Xj[_d[d{X[hXb_Ya”X[hZ_[p[d# jhWb[dFeb_j_a\[bZ[hZ[h;K$:WX[_m_hZ`[m[_bid[X[d Z[h^_ijeh_iY^[d;djm_Yabkd]Z[h[_dp[bd[dFeb_j_a\[b# Z[hWk\Z_[m[i[djb_Y^[dIj[k[hkd]ic[Y^Wd_ic[d kdZZ_[cWœ][Xb_Y^[d7aj[kh[X[_Z[hFeb_j_a\ehck# b_[hkd]kdZ?cfb[c[djWj_ed[_d][]Wd][dkdZdWY^ Z[h aedah[j[d 7kifh]kd] kdZ 8[Z[kjkd] [_d[h C[^h[X[d[dijhkajkh][\hW]j$

8_jj[X[ij[bb[dI_[X[_?^h[h8kY^^WdZbkd] eZ[hX[_DeceirJ[b[\ed&-(('%('&*#)-r

Die Ukraine nach der Parlamentswahl 2007: neue Aussichten für die Integration?

Manfred Grund*

Die orange Revolution des Jahres 2004 weckte bei ihren Anhängern und nicht wenigen Beobachtern auch im westlichen Ausland gro§e Hoffnungen auf eine demokratische Erneu- erung und eine schnelle Integration in die euro-atlantischen Strukturen. Was folgte, löste vielfach Ernüchterung aus: eine politische Dauerkrise mit drei nationalen Wahlen und vier Regierungswechseln in weniger als drei Jahren, deren vorläufigen Schlusspunkt der Urnen- gang vom 30. September 2007 darstellte. Doch auch wenn sich allzu optimistische Einschätzungen nicht bestätigten, ist eine pessi- mistische Sicht ebenso fehl am Platze. Vor Stereotypen über die politischen Kräfte sollte man sich ebenfalls hüten. Schlichte Antagonismen bestimmen die Entwicklung allenfalls vordergründig. Der tatsächlichen Situation können nur nuancierte Urteile gerecht werden. Dies gilt nicht nur für die Beurteilung der orangen Revolution und ihrer Folgen, sondern auch der sich daraus ergebenden Aussichten für die Zukunft der Ukraine. Dieser Befund schließt die Aussichten für eine weitere Annäherung an die Europäische Union ein. Da eine explizite Beitrittsperspektive vorerst nicht besteht, lassen sich die Chan- cen für eine Integration nur vor dem Hintergrund des Transformationsprozesses und der Konsolidierung der Demokratisierung in der Ukraine einschätzen. Erforderlich ist auch in dieser Hinsicht eine realistische Sicht, die Probleme beleuchtet, ohne die Fortschritte auszu- sparen.

Eine politische Dauerkrise Zumindest vordergründig bestimmt das Bild einer politischen Dauerkrise die Entwick- lung der Ukraine seit der orangen Revolution. Bruchlinien zeigten sich schon bald auch in- nerhalb des orangen Lagers, das in den Wahlen 2004/05 ebenso wie bei der Parlamentswahl von 2007 weniger durch eine gemeinsame Agenda zusammengehalten wurde als vielmehr durch eine gemeinsame Abwehrhaltung gegen einen sonst überlegenen Janukowytsch. Die nicht selten sozialpopulistischen Forderungen Tymoschenkos lie§en sich jedoch mit den marktwirtschaftlichen Reformvorstellungen Juschtschenkos nur schwer vereinbaren. Zu- sammen mit Kompetenzstreitigkeiten mit der machtbewussten Tymoschenko war dies die tiefere Ursache für das Auseinanderbrechen der orangen Koalition weniger als ein Jahr nach der Wahl Juschtschenkos zum Präsidenten. Ähnlich gelagerte Probleme drohen auch eine Neuauflage der orangen Koalition zu über- schatten. Der Präsident hatte mit seinem Befreiungsschlag gegenüber Janukowytsch zwar vorerst Erfolg, doch droht ihm nun eine Marginalisierung durch eine allzu sehr dominie- rende Tymoschenko, die sich bereits auf eine Präsidentschaftskandidatur für 2009 vorberei- ten dürfte. Die Mehrheitsverhältnisse sind jedoch so knapp und die Parteiloyalitäten der Ab- geordneten so wenig ausgeprägt, dass sich ohne Einbeziehung des Parteienblocks des

* Manfred Grund, MdB, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion und Mitglied im Auswärti- gen Ausschuss. Forum ¥ Ukraine integration Ð 1/2008 81 früheren Parlamentspräsidenten Litvin schwerlich eine regierungsfähige Koalition der ‚orangen‘ Kräfte bilden lässt. In der Opposition wartet die Partei der Regionen (PdR) auf ihre Chance. Ein Zugewinn an politischer Stabilität wird wohl kaum das Resultat der Wah- len allein sein. Zur politischen Dauerkrise trat nach der orangen Revolution noch ein wirtschaftlicher Rückschlag. Preiserhöhungen für russische Energielieferungen waren dafür nur zum Teil verantwortlich. Willkürlich erscheinende Änderungen von Zoll- und Steuervorschriften, die Aufhebung der Sonderwirtschaftszonen und nicht zuletzt auch eine Revision früherer Priva- tisierungen richteten sich unter anderem gegen ukrainische Oligarchen, verunsicherten aber auch viele Investoren. Im Ergebnis brach das Wirtschaftswachstum der Ukraine 2005 zu- nächst drastisch ein. Schlie§lich kam und kommt noch eine Verfassungs- und Staatskrise hinzu. Die Ver- fassungsreform, die Juschtschenko den Weg ins Präsidentenamt ebnete, stärkte die Rechte von Parlament und Regierung gegenüber dem zuvor herrschenden Präsidialregime, ließ aber eine Reihe wichtiger Entscheidungskompetenzen wie beispielsweise die Besetzung von Schlüsselressorts offen. Die Folge war eine Flut von Verfassungsklagen und eine seither latente Verfassungskrise. Sie wurde durch den Autoritätsverlust aller zentralen Verfassungs- organe infolge des Machtkampfs zwischen Premier Janukowytsch und Präsident Juschtschenko zusätzlich verschärft. Parlamentsdebatten dienten mehr und mehr der Inszenierung von Gegensätzen unter oft chaotischen Umständen. Ganze Gruppen von Parlamentariern wechselten aufgrund augen- scheinlich rein persönlicher Vorteile ins blaue Lager. Die verfassungsrechtlich umstrittene Parlamentsauflösung, die der Präsident anordnete, wurde zunächst ebenso wie andere seiner Verfügungen ignoriert. Dass er auf dem Höhepunkt der Krise mit der Staatsgewalt drohte, demonstrierte eher Machtverfall als Stärke. Auch das Verfassungsgericht fiel als Schlichter aus, teils aufgrund der Parteilichkeit seiner Mitglieder, teils aufgrund von Eingriffen des Präsidenten, der inmitten der Krise die Entlassung mehrerer Richter anordnete.

Fortschritte im Transformationsprozess Die Krisen der vergangenen Jahre sind auch mit der Wahl vom September 2007 nicht ausgestanden. Sie sollten jedoch nicht über die Wandlungsprozesse hinwegtäuschen, die sich in der Ukraine inzwischen vollzogen haben. Fortschritte im Transformationsprozess de- monstrierten nicht zuletzt die jüngsten Wahlen. Vorherige Befürchtungen vor Manipulationen erfüllten sich nicht. Die Berichterstattung und der Zugang zu Medien waren durchaus ausgewogen. Allerdings war die Gewähr dafür weniger eine Unabhängigkeit der Medien, als vielmehr der Umstand, dass die Zusammensetzung nahezu aller ma§geblichen Kontrollorgane inzwischen den politischen Kräfteverhältnissen entspricht. Die Ukraine ist in einem Entwicklungsstadium, in dem nahezu jede Aussage zu den Verhältnissen, gleichgül- tig ob positiv oder negativ, von einem relativierenden ‚Aber‘ gefolgt werden muss. Ähnliches gilt für die ökonomische Entwicklung. Das Wirtschaftswachstum hat sich seit 2005 wieder erholt. Reformen haben zu greifen begonnen. Die Höhe der ausländischen Di- rektinvestitionen – der beste Indikator für ihren Erfolg – hat sich seit 2004 vervierfacht. Die Europäische Union hat der Ukraine Ende 2005 den Status einer Marktwirtschaft zuerkannt. Doch die wirtschaftlichen Strukturen sind von einem echten Wettbewerb in vielen Berei- chen tatsächlich noch weit entfernt. Korruption, schlecht funktionierende Verwaltungs- und Justizsysteme, die Verflechtung politischer und wirtschaftlicher Macht sowie Überregulie- rung bleiben grundlegende Probleme. 82 integration Ð 1/2008 Forum ¥ Ukraine

Das Parteiensystem hat sich mit den beiden gro§en Fraktionen der PdR und dem Block Julija Tymoschenko (BJUT) zunehmend stabilisiert. Relativer Verlierer dieser Entwicklung ist mit dem Parteienbündnis Präsident Juschtschenkos jedoch die politische Kraft, die sich bislang am konsequentesten für eine Integration in die euro-atlantischen Strukturen einge- setzt hat. Neben politischen Fehlern hat ihn nicht zuletzt die zu den Herrschaftskompromis- sen nach seiner Amtsübernahme zählende Entscheidung, den Wahlfälschern von 2004 Am- nestie zu gewähren, in seiner ursprünglichen Anhängerschaft nachhaltig diskreditiert. Dass sich sein Parteienbündnis entgegen früherer Prognosen behaupten konnte, war nicht zuletzt der Popularität von Spitzenkandidat Luzenko geschuldet. Als heteronomstes unter den drei großen politischen Blöcken wird es künftig einer ständigen Zerreißprobe zwischen den bei- den größeren Kräften ausgesetzt sein. Langfristig bedeutsamer dürfte jedoch sein, dass sich die Gegensätze zwischen den bei- den großen Kräften des BJUT und der PdR abschwächen, auch wenn die Wahlergebnisse insgesamt nach wie vor die regionalen Unterschiede widerspiegeln. So hat es der BJUT ver- standen, auch die Interessen von Bevölkerung und Geschäftsleuten der Ostukraine einzubin- den, und entwickelt sich nach seinen zunehmenden Wahlerfolgen dort zur ersten gesamt- ukrainischen Partei. Janukowytschs Regierungsübernahme hat Desintegrationstendenzen in den östlichen und südlichen Landesteilen entgegengewirkt, zugleich aber verhindert, dass die PdR die regionalen Unterschiede ausspielen konnte. Zugleich aber vermochte sie ihre Verluste in Ost und Süd im Westen zu kompensieren. Aber auch die politischen Unterschiede verlieren an Schärfe. Die Wahlprogramme der großen Parteien waren über weite Strecken austauschbar. Während die PdR sich zunehmend als gesamtukrainische Kraft zu profilieren suchte, kann die Beantragung eines Beobachter- status in der Europäischen Volkspartei seitens des BJUT als Abrücken von sozialpopulis- tischen Forderungen gedeutet werden. Ohnehin wurzelten die Machtkämpfe der vergange- nen Jahre oft mehr in den Rivalitäten der Protagonisten als in programmatischen Unterschieden; und sie wurden durch Kompromisslosigkeit bei der Berücksichtigung der In- teressen der jeweiligen Opposition zusätzlich verschärft. Stellungnahmen Tymoschenkos und Juschtschenkos nach der Wahl scheinen aber auch in dieser Hinsicht ein Umdenken an- zukündigen. Stereotypen, nach denen ein an Russland angelehntes ‚blaues‘ einem west- und reform- orientierten orangen Lager gegenübersteht, sind endgültig überholt. Sie waren zu keinem Zeitpunkt hilfreich, weil so tief greifende Projekte wie die demokratische Transformation des Landes oder die EU-Integration dauerhaft nicht nur von einer Hälfte der politischen Kräfte getragen werden kann. Die wichtigste Voraussetzung für die Etablierung einer funkti- onierenden Demokratie besteht nicht aus dem Sieg vermeintlicher Demokraten über ver- meintliche Nichtdemokraten, sondern aus der Entwicklung eines Wechselspiels von Regie- rung und Opposition. Daher ist das Comeback von Janukowytsch mit seiner PdR nach der orangen Revolution nur zu begrüßen. Graustufen markieren die Unterschiede zwischen den maßgeblichen politischen Kräften. Janukowytsch zeigt sich inzwischen als geläuterter Machtpolitiker, der sich den neuen Spiel- regeln und Realitäten anzupassen vermochte. Dies gilt auch für Außenpolitik und Westinte- gration. Differenzen bestehen in der Frage einer NATO-Mitgliedschaft, die von der PdR in Übereinstimmung mit einer deutlichen Mehrheit in der Bevölkerung abgelehnt wird. Doch auch die PdR hat sich das Ziel eines EU-Beitritts zu eigen gemacht. Dass sie dabei einen pragmatischen Ansatz verfolgt, stellt eine Abweichung in der Akzentsetzung, nicht aber im Grundsatz dar. Darin spiegelt sich ein Wandel der Interessenlage, den die orange Revolution für alle politischen Lager bewirkt hat. Forum ¥ Ukraine integration Ð 1/2008 83

Unabhängig von allen politischen Präferenzen sind dafür vor allem zwei Motive aus- schlaggebend: erstens die Veränderung im Verhältnis zu Russland und zweitens wirtschaft- liche Eigeninteressen. Mit der Entwicklung des politischen Pluralismus in der Ukraine gin- gen Irritationen und Entfremdungsprozesse zu Moskau nahezu zwangsläufig einher. Eine Entflechtung von Wirtschaftsstrukturen, insbesondere in der Rüstungsindustrie vollzieht sich bereits. Abhängigkeiten bestehen zwar fort. Sie ermöglichen es Russland, den Prozess der Westintegration zu erschweren, vielleicht auch zu verlangsamen, aber es muss sich dafür Mittel bedienen, die eine demokratische Ukraine in ihrem Kurs nur bestärken würden. Aus demselben Grund wie aufgrund der Bevölkerungsstruktur wird jede ukrainische Regierung eine pragmatische Politik gegenüber Moskau betreiben, auch wenn zwischen Tymoschenko, die vom Erfordernis einer Eindämmung Russlands spricht, und Janukowytsch ebenfalls un- terschiedliche Akzentsetzungen herrschen. Zugleich aber ist allen Protagonisten bewusst, dass die Ukraine auch gegenüber Moskau in stärkerem Maße als bisher auf die Unterstüt- zung des Westens angewiesen sein wird. Wirtschaftliche Eigeninteressen verbinden sich mit einer EU-Integration insbesondere auch für ukrainische Oligarchen, die auf die ukrainischen Parteien und nicht zuletzt auf die PdR nach wie vor einen kaum zu überschätzenden Einfluss haben. Dies betrifft nicht nur Absatzmärkte, von denen vor allem die ostukrainische Industrie profitieren würde, oder aus- ländisches Kapital, auf das die ukrainische Industrie zu ihrer Modernisierung angewiesen ist, sondern auch die Sicherung von Besitzständen. War Regierungsnähe unter Kutschma ein Faktor wirtschaftlicher Vorteile, ist sie mit der Aussicht auf mögliche Machtwechsel zum Risikofaktor geworden. Dass die Privatisierung des Stahlwerks Kriworoschstal, das ein Konsortium um Achmetov und Pintschuk zuvor erworben hatte, nach der orangen Revolu- tion aufgehoben wurde, demonstrierte nur allzu deutlich, dass schnell erworbene Vermögen ebenso schnell wieder verloren gehen können, wenn sie nicht durch rechtsstaatliche Garan- tien abgesichert werden. Eine EU-Integration aber verspräche auch diese entscheidend zu stärken.

Welche Integrationsperspektive für die Ukraine? Eine zunehmende Westorientierung liegt in der inneren Logik der Entwicklung, die die Ukraine seit der orangen Revolution genommen hat. Die Entscheidung für eine EU-Integra- tion dürfte im Prinzip unumkehrbar sein. Bereits in ihrer gemeinsamen Strategie gegenüber der Ukraine hat die Europäische Union die ‚European Aspirations‘ Kiews anerkannt und die Möglichkeit einer künftigen Mitgliedschaft seither stets als offen behandelt. Zugleich aber wurde die Nachbarschaftspolitik explizit als Alternative zum Beitritt entwickelt. Ob eine Vertiefung der Nachbarschaftspolitik das Fehlen des Reformanreizes der Beitrittsperspek- tive ersetzen kann, muss sich noch zeigen. Die Verhandlungen über ein erweitertes Nachfolgeabkommen des auslaufenden Partner- schafts- und Kooperationsabkommens wurden auch während der ukrainischen Krise weitge- hend unbeeinträchtigt fortgesetzt. Dem Begriff nach könnte im Ergebnis ein Assoziationsabkommen stehen, das für europäische Staaten bislang stets den Beginn eines Beitrittsprozesses markierte. Herzstück der neuen Vereinbarung soll die Einrichtung einer gemeinsamen Freihandelszone werden, sobald die Ukraine der WTO beigetreten ist. Das Bestreben, dieses Ziel nicht zu gefährden, dürfte zumindest kurzfristig einen moderierenden Einfluss auf die Auseinandersetzungen zwischen den politischen Kräften in der Ukraine ha- ben. Dies mag dokumentieren, welche Bedeutung die Integration inzwischen parteiübergrei- fend gewonnen hat. 84 integration Ð 1/2008 Forum ¥ Ukraine

Von Seiten der Europäischen Union ist jedoch zunächst keine explizite Beitrittsperspek- tive zu erwarten. Hinsichtlich des Transformationsprozesses in der Ukraine und der damit noch verbundenen Unsicherheiten wäre ein solches Zeichen aber auch verfrüht. Eine Vor- aussetzung wäre, dass die Ukraine ihre politische Dauerkrise überwindet und zu einer konse- quenten Reformpolitik findet. In der Zwischenzeit bedürfte es vielmehr auch von Seiten der Europäischen Union einer pragmatischen Politik der schrittweisen Vertiefung und Auswei- tung der Integration. Ein Grundproblem der Nachbarschaftspolitik liegt nicht darin, dass sie keine Beitrittsperspektive gewährt, sondern dass sie sich nicht von der Logik der bisherigen Erweiterungsprozesse löst, nach der nur eine formale Beitrittsperspektive die spätere Mit- gliedschaft zu versprechen scheint. Einer Ukraine, die die Beitrittskriterien erfüllt, und die den acquis bereits im Zuge ihrer EU-Annäherung weitgehend übernommen hätte, wird die Mitgliedschaft kaum verwehrt bleiben können. So gesehen, besteht für die Ukraine bereits eine Perspektive zur Perspektive oder eben eine implizite Beitrittsperspektive. Diese Feststellung sollte Ð und wird auch zu- nehmend – den Kern der Botschaft bilden, die die Europäische Union der ukrainischen Poli- tik vermittelt. Die Antwort auf die Beitrittswünsche der Ukraine ist nicht von vornherein in Brüssel zu finden, sie muss zuerst im eigenen Land gegeben werden, mit dem Fortschritt der Reformen.

;khef_iY^[8[iY^\j_]kd]ifeb_j_a

IY^h_\j[dZ[h>Wdi#8Yab[h#Ij_\jkd] r( :_[8[iY^\j_]kd]ifeb_j_aZ[h;K pkh[khef_iY^[d7hX[_ji#kdZIep_Wbfeb_j_a =[d[i[";jWXb_[hkd]kdZ=h[dp[dZ[h;8I Led7dj`[Ij[f^Wd

7dj`[Ij[f^Wd (&&."YW$)+&I$"XheiY^$"YW$,*"ÅÐ" ?I8D/-.#)#.)(/#)()+#& :_[8[iY^\j_]kd]ifeb_j_aZ[h;K

=[d[i[";jWXb_[hkd]kdZ=h[dp[dZ[h;8I IY^h_\j[dZ[h>Wdi#8Yab[h#Ij_\jkd]pkh[khef_iY^[d 7hX[_ji#kdZIep_Wbfeb_j_a"8Z$( ;hiY^[_dj7fh_b(&&. ;khef_iY^[8[iY^\j_]kd]iijhWj[]_["E\\[d[C[j^e# Z[Z[hAeehZ_d_[hkd]kdZB_iiWXed#IjhWj[]_[Åiel_[b# \bj_]m_[Z_[7dijp[Z[h;Ki_dZ"pkc[^h8[iY^\j_# Decei ]kd]pk][bWd][d"iel_[b\bj_]i_dZWkY^Z_[=h”dZ[" mWhkcZ_[iX_ibWd]dkhkdpkh[_Y^[dZ][bkd][d_ij$ :_[i[ IjkZ_[ b_[\[hj [hijcWbi [_d[ ckbj_Z_ip_fb_dh[ ;habhkd]\”hZ_[X_i^[hcW][h[;h\eb]iX_bWdp$

8_jj[X[ij[bb[dI_[X[_?^h[h8kY^^WdZbkd] eZ[hX[_DeceirJ[b[\ed&-(('%('&*#)-r

Markus Hesse*

Die Europäische Union wird in der Europä- ischen Sicherheitsstrategie von Javier Solana Stephan Hobe/Katharina Kunzmann/Thomas als globaler Akteur beschrieben, der vor allem Reuter/Julia Neumann (Hrsg.): Rechtliche Rah- durch zivile Konfliktprävention eine neue menbedingungen einer zukünftigen kohärenten Struktur der europäischen Raumfahrt, [Kölner multilaterale Weltordnung mitgestalten will.1 Schriften zum Internationalen und Europäischen Um dieses Ziel zu erreichen und eine Haupt- Recht, Band 13], LIT Verlag: Münster 2006, rolle in internationalen Ordnungsfragen spie- ISBN 3-8258-8963-7; 656 Seiten, 64,90 B. len zu können, muss die Europäische Union über eigenständige Handlungsfähigkeiten ver- Heiko Borchert (Hrsg.): Europas Zukunft zwi- fügen. Unerlässlich sind dazu autonome Fä- schen Himmel und Erde. Weltraumpolitik für higkeiten der Aufklärung, Navigation und Sicherheit, Stabilität und Prosperität, [Schriften- Kommunikation sowie Instrumente zur Füh- reihe Vernetzte Sicherheit, Band 4], Nomos Ver- rung ziviler und militärischer Einsatzkräfte. lagsgesellschaft: Baden-Baden 2005, ISBN 3- 8329-1410-2; 170 Seiten, 24,90 B. Beim Erwerb und Ausbau dieser Fähigkeiten spielt die Weltraumpolitik zunehmend eine Schlüsselrolle. cherheitspolitik (GASP) ihrer Mitgliedstaa- ten. Die Tätigkeitsfelder und Interessen der So erfuhren Raumfahrttechnologien in der beiden Organisationen ESA und EG/EU über- Vergangenheit einen enormen Bedeutungs- schneiden sich folglich zwangsweise in der zuwachs und werden heute in vielen verschie- Weltraumpolitik. Diesen Überschneidungen denen Politik- und Wirtschaftsbereichen wurde bereits in mehreren wegweisenden Ab- eingesetzt: in der Sicherheits- und Verteidi- kommen Rechnung getragen, wie dem EU- gungspolitik ebenso wie in den Bereichen ESA Rahmenabkommen vom Mai 2004 und Verkehrsinfrastruktur, Umweltschutz und Da- der Entschließung zur Europäischen Welt- tentransfer. Dabei ist die Struktur, die auf eu- raumpolitik, die im Mai 2007 vom Weltraum- ropäischer Ebene die rechtlichen, politischen rat, der gemeinsamen Tagung des Rates der und technischen Rahmenbedingungen syste- Europäischen Union und des Rates der Euro- matisiert, sehr komplex. Ein zentraler Akteur päischen Weltraumorganisation, gebilligt ist die Europäische Weltraumorganisation wurde. In diesen Dokumenten wird die immer (ESA), zu deren Aufgaben die Koordination enger werdende Zusammenarbeit der für die und Durchführung nationaler und europä- Weltraumpolitik relevanten Akteure hervor- ischer ziviler Weltraumprojekte zählen. Die gehoben, um benutzerorientierte Gro§pro- Europäische Gemeinschaft besitzt hingegen jekte, wie das Navigationssystem ‚Galileo‘ Kompetenzen in Wirtschaft, Wissenschaft oder das Erdbeobachtungsprogramm ‚Global und Technik; in Ergänzung bemüht sich die Monitoring for Environment and Security‘ Europäische Union – mit wechselndem Er- (GMES), gemeinsam erfolgreich umsetzen zu folg Ð um eine Gemeinsame Au§en- und Si- können. * Markus Hesse, M.A., M.E.S., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Professur Europäische Integration, Technische Universität Chemnitz. 1 Javier Solana: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel 2003, ab- rufbar unter: http://ue.eu.int/uedocs/cmsUpload/031208ESSIIDE.pdf (letzter Zugriff: 22.11.2007). 86 integration Ð 1/2008 Literatur

Zwei kürzlich erschienene Bücher untersu- Schweiz derzeit 17 Staaten ESA-Mitglieder. chen die komplizierten Strukturen, die Ak- Zudem unterscheiden sich die Entscheidungs- teure und die politischen Prozesse der europä- prozesse in der ESA als einer ‚rein‘ internati- ischen Weltraumpolitik. onalen Organisation stark von denen in der EG/EU. Darüber hinaus gibt es schließlich Modelle für eine europäische Raumfahrt- verschiedene Finanzierungsarten und unter- struktur schiedliche Auffassungen über die zivile und/ Mit den rechtlichen Rahmenbedingungen der oder militärische Nutzung des Weltraums. europäischen Raumfahrt beschäftigt sich eine Wie kann also in Anbetracht dieser Aus- von Stephan Hobe, Katharina Kunzmann, gangslage eine praktische Aufgabenabgren- Thomas Reuter und Julia Neumann herausge- zung zwischen den Organisationen auf der gebene Studie, die von Juni 2003 bis Mai 2005 Basis des geltenden Rechts aussehen? Wie am Institut für Luft- und Weltraumrecht der könnten geeignete zukünftige Strukturen auf- Universität Köln durchgeführt wurde. Erklär- gebaut sein? tes Ziel der Wissenschaftler war es, ãin einem sich wandelnden organisatorischen Umfeld Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen die rechtlichen Perspektiven der europäischen stellen die Autoren drei institutionelle Mo- Weltraumadministration und damit das zu- delle sowie deren Rechtsgrundlagen und je- künftige Verhältnis der Europäischen Welt- weiligen Vor- und Nachteile in der prakti- raumorganisation zur Europäischen Union zu schen Umsetzung vor. Ein besonderes evaluieren, sowie Vorschläge für mögliche Verdienst der Studie ist sicherlich das umfas- künftige Strukturen zu erarbeiten“ (Vorwort). send und schlüssig begründete Ergebnis. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Demnach ist das Beitrittsmodell, also ein Bei- Akteure EG/EU und ESA, wobei mögliche tritt der EG/EU zur ESA, rechtlich und poli- Modelle einer Zusammenarbeit der beiden Or- tisch kaum umzusetzen. Als kurzfristige Lö- ganisationen vor einem rechtlichen und insti- sung präsentiert das Autorenteam das tutionellen Hintergrund geprüft werden. Die Kooperationsmodell unter Berücksichtigung Studie ist in drei Abschnitte gegliedert: Im ers- der aktuellen Rechtsgrundlage, das eine ver- ten Teil werden die Grundlagen der beiden stärkte Zusammenarbeit der beiden Organisa- Organisationen und ihre bisherige Zusammen- tionen EG/EU und ESA vorsieht. Zu diesem arbeit vorgestellt und erläutert. Der zweite Ab- Zweck empfehlen sie ein weiteres völker- schnitt stellt aktuelle Problemfelder in der rechtliches Abkommen zu unterzeichnen, das Kooperation der beiden Organisationen dar die Entscheidungsfindungsstruktur und die und präsentiert Modelle für eine zukünftige Durchführung von Raumfahrtprogrammen Zusammenarbeit. Im dritten Teil werden In- eindeutiger regelt, die einheitliche Interessen- dustrie- und Wirtschaftspolitik von EG/EU vertretung europäischer Raumfahrt gegenüber und ESA untersucht und ebenfalls die denkba- Drittstaaten klärt und sogar die Einbeziehung ren Kooperationsmodelle geprüft. militärischer Raumfahrtprogramme ermögli- Die Autoren beleuchten alle bedeutenden Pro- chen soll. Als langfristige Lösung wird blemstellungen, die sich auch aus einem ver- schließlich das Integrationsmodell präsentiert, stärkten Engagement der Europäischen Union das die Integration der ESA in die EG/EU und auf dem Gebiet der Raumfahrt ergeben haben. damit die primärrechtliche Errichtung einer Hier sind zunächst die unterschiedlichen Mit- EU-Raumfahrtagentur vorsieht. In der Studie gliedstaaten der beiden Organisationen zu wird mehrfach eine engere Kooperation von nennen. Während die Europäische Union be- EG/EU und ESA angeregt, die eine unnötige reits auf 27 Mitgliedstaaten angewachsen ist, Verdoppelung der Entscheidungsfindungs- sind mit den EU-15, Norwegen und der mechanismen vermeiden soll. Literatur integration Ð 1/2008 87

Die Autoren berücksichtigen auch die Rechts- bands. Dem Ansatz der vernetzten Sicherheit grundlagen des EU-Verfassungsvertrages. wird dadurch Rechnung getragen, dass der Die Analysen sind jedoch nach wie vor rele- Themenkomplex ‚Weltraum‘ aus politischer, vant, da der Vertrag von Lissabon im Bereich rechtlicher, militärischer und industrieller der Raumfahrt durch den neuen Artikel 189 Sichtweise betrachtet wird. Der Herausgeber im Vertrag über die Arbeitsweise der Europä- hat ein Autorenteam gewonnen, das zusätz- ischen Union ähnliche rechtliche Rahmenbe- lich zur ausgewiesenen Expertise eine gelun- dingungen schaffen soll, wie sie im EU- gene Mischung aus Theorie und Praxis sowie Verfassungsvertrag in Artikel III-254 vorge- verschiedener Fachbereiche aufweist. Dieser sehen waren. Insgesamt ermöglicht die Studie interdisziplinäre Ansatz in Verbindung mit des Kölner Instituts Studienanfängern durch dem gegebenen Praxisbezug stellt den aktuel- den Grundlagenteil einen Einstieg in Welt- len Stand der sicherheitspolitischen For- raumrecht und -politik und liefert Experten schung umfassend dar und ist somit eine her- ein bedeutendes Werk zur aktuellen rechtlich- vorragende Weiterführung der zahlreichen institutionellen Debatte. Ein umfangreiches theoriebasierten Debatten über den erweiter- Literatur- und Dokumentenverzeichnis rundet ten Sicherheitsbegriff. die Studie ab, die in diesem Themenkomplex sicherlich als ein Standardwerk zu bezeichnen Unter diesen Gesichtspunkten erkennt Bor- ist. chert die zunehmende sicherheitspolitische Bedeutung des Weltraums: ãIndem weltraum- Rolle des Weltraums in der vernetzten Sicher- basierte Fähigkeiten die globale Präsenz mit heit der jederzeitigen Möglichkeit zur lokalen Ein- Die von Heiko Borchert und Ralph Thiele he- wirkung verbinden, die Beschaffung und die rausgegebene Schriftenreihe ‚Vernetzte Si- Weitergabe von Informationen erleichtern so- cherheit‘, in der bereits sieben Bände veröf- wie das Handlungsspektrum durch einen zu- fentlicht worden sind, behandelt verschiedene sätzlichen Operationsraum erweitern, erfül- aktuelle Themenbereiche der Sicherheitspoli- len sie in idealtypischer Weise die tik. Dabei liegt den Ausführungen stets der transformatorischen Kernanliegen der Ent- Ansatz einer vernetzten Sicherheit zugrunde. scheidungsüberlegenheit, der Vernetzung, der Gemeint ist damit die enge Kooperation aller Beschleunigung der Entscheidungsprozesse Akteure im Bereich Sicherheit, deren Not- und der gezielten Wirkung“ (S. 11). Ein ver- wendigkeit sich aus den Beschleunigern der stärktes staatliches Engagement bei der Er- sicherheitspolitischen Vernetzung begründet: schließung des Weltraums führt nach Bor- Neues Risiko- und verändertes Operations- chert zu einem erweiterten nationalen bild, welche militärische und polizeiliche Handlungsspielraum. Zusätzlich seien die po- Aufgaben vermengen, und fortschreitende eu- sitiven Auswirkungen von Investitionen in ropäische Integration in Form von Erweite- Technologien, wie beispielsweise der Infor- rung und Vertiefung.2 Die Realisierung ver- mations- und Kommunikationstechnologie, netzter Sicherheitspolitik kann dabei auch beim Aufbau weltraumbasierter Fähigkeiten eine europäische Weltraumpolitik einschlie- zu berücksichtigen. §en. Der vorliegende Sammelband folgt diesen Be- Die Diskussion über eine zukünftige europä- zugspunkten, indem die ersten Beiträge natio- ische Weltraum- und Sicherheitspolitik ist nale und internationale Weltraum-Au§enpoli- Ausgangspunkt der Beiträge des Sammel- tiken und deren Verbindungen zur

2 Heiko Borchert: Vernetzte Sicherheitspolitik und die Transformation des Sicherheitssektors: Weshalb neue Si- cherheitsrisiken ein verändertes Sicherheitsmanagement erfordern, in: Vernetzte Sicherheit. Leitidee der Si- cherheitspolitik im 21. Jahrhundert, Schriftenreihe Vernetzte Sicherheit, Band 1, Hamburg 2004, S. 53-79. 88 integration Ð 1/2008 Literatur

Sicherheitspolitik beleuchten. Untersucht Zukunft europäischer Weltraumpolitik werden in diesem Zusammenhang Kooperati- onsbeziehungen innerhalb der Europäischen Die Weltraumpolitik in Europa befindet sich Union (Thomas Jäger/Mischa Hansel) sowie momentan in einer interessanten und spannen- die Zusammenarbeit zwischen Europa, den den Phase, da Finanzierung und Governance- USA, Russland und China (Niklas Reinke). Struktur der beiden Flaggschiffprojekte, des Weitere Schwerpunkte bilden Industriestrate- Satellitennavigationsprogramms ‚Galileo‘ und gie und -politik (Achim Bachem/Karsten Be- des Erdbeobachtungsprogramms ‚GMES‘, von den beteiligten Akteuren im kommenden Jahr neke/Helmut Süß/Thomas Dittler/Dieter konkretisiert werden sollten, um eine erfolgrei- Hayn/Joachim Klein), weltraumrelevante in- che Umsetzung zu ermöglichen. Erfolg oder dustrielle Kompetenzen (Robert Haberber- Misserfolg in der Zusammenarbeit zwischen ger/Gerd Hofschuster) und die Rolle von Pu- EG/EU und ESA werden eine entscheidende blic-Private-Partnerships (Martin U. Ripple). Rolle für die zukünftige Entwicklung und die Weitere Beiträge zu rechtlichen (Kai-Uwe Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Welt- Schrogl) und militärischen Fragestellungen raumnationen, vor allem USA und Russland, (Ralph Thiele) sowie zu kommerziellen welt- aber auch China, Indien und Japan, spielen. raumgestützten Dienstleistungen (Reinhard H. Czichy/Heiko Borchert) runden den Band Doch wie kann und wird eine kohärente recht- ab. liche und politische Struktur der europäischen Raumfahrt aussehen? Eine konkrete Koopera- Auffällig ist bei einigen Abhandlungen, dass tion findet zum Beispiel beim Projekt ‚Galileo‘ kritische Meinungen, zum Beispiel zu einer derzeit mit wechselndem Erfolg statt. Nach Militarisierung des Weltraums oder einem Aussage des Europäischen Wirtschafts- und neuen Wettrüsten im All, kaum berücksichtigt Sozialausschusses hätte jedoch „eine Aufgabe werden. Die Autoren untermauern ihre The- des Galileo-Projekts verheerende Folgen für sen mit stichhaltigen und gleichzeitig nach- die Europäische Union“.3 Auf der Sitzung am vollziehbaren Argumenten, ohne jedoch je- 21. und 22. Juni 2007 bekräftigte auch der Eu- weils explizit die Gegenmeinungen, die als ropäische Rat nochmals die Bedeutung von Gegensatz beispielsweise in Friedensfor- ‚Galileo‘ als ein Schlüsselprojekt der Europä- schung und Sicherheitspolitik existieren, auf- ischen Union. Der Rat ‚Verkehr, Telekommu- zunehmen. Die sicherheitspolitische Nutzung nikation und Energie‘ hat die Europäische des Weltraums wird größtenteils vorausge- Kommission unter deutscher Ratspräsident- setzt und könnte an einigen Stellen stärker schaft aufgefordert, neue Möglichkeiten zur Fi- hinterfragt werden. nanzierung zu erarbeiten. In einer Mitteilung der Europäischen Kommission wurden darauf- Herausragende Merkmale des Bandes sind si- hin neue politische, finanzielle und verwal- cherlich seine Praxisrelevanz und seine Viel- tungstechnische Vorschläge präsentiert, die seitigkeit. Die Entwicklungen in der Welt- eine Weiterführung des Projekts sichern sol- raumpolitik und -technologie schreiten len.4 Die Kommission geht in ihren aktuellen schnell voran. Es ist daher zu hoffen, dass die Berechnungen von Beschaffungskosten in Herausgeber und Autoren sich in Zukunft Höhe von 3,4 Mrd. Euro und einer vollständi- weiterhin dem Weltraum widmen werden. gen Betriebsfähigkeit des Systems im Jahr

3 Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss: Stellungnahme zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – GALILEO am Scheideweg: die Umsetzung der europäischen GNSS-Programme“, KOM(2007) 261 endgültig, 16.05.2007, in: Amtsblatt der EU, Nr. C 256 vom 27.10.2007, S. 73. 4 Europäische Kommission: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Galileo: Die europäischen GNSS-Programme mit neuem Profil, KOM(2007) 534 endgültig, 19.09.2007. Literatur integration Ð 1/2008 89

2013 aus, wobei sie auch potenzielle Risiken, politischen und rechtlichen Struktur hängen in wie Konzeptions-, Errichtungs- und Marktri- diesem Politikbereich aber auch stark von na- siko, berücksichtigt. Ende November/Anfang tionalen Interessen ab. Tendenziell haben Dezember 2007 kam es schlie§lich im Ver- Staaten mit umfangreichem Weltraumpro- kehrsrat zu einer Einigung über ‚Galileos‘ Zu- gramm und umsatzstarker Raumfahrtindus- kunft und die Regeln zur Auftragsvergabe. trie, wie Frankreich und Deutschland, auch Mehrere EU-Organe und -Institutionen sind ein größeres Interesse an neuen Entwicklun- also maßgeblich in aktuelle und künftige Ent- gen. Weitere Impulse könnte vor allem die wicklungen einer europäischen Raumfahrtpoli- französische EU-Ratspräsidentschaft im tik eingebunden. zweiten Halbjahr 2008 bringen, die Welt- raumpolitik und -projekte auf die Agenda der Fortschritte beim Ausbau einer kohärenten Europäischen Union setzen wird.

Europäische Nachbarschaftspolitik und externe Demokratieförderung durch die EU im Spiegel der Forschung

Anne Faber*

Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) ist seit den ersten Ausgangsüberlegungen zu Johannes Varwick und Kai-Olaf Lang (Hrsg.): einer systematischeren und kohärenteren Poli- European Neighbourhood Policy. Challenges for tik der Europäischen Union gegenüber ihren the EU-Policy Towards the New Neighbours, neuen Nachbarstaaten in Ost- und Südeuropa Barbara Budrich Publishers: Opladen & Far- mington Hills 2007, ISBN 978-3-86649-125-0; in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zuneh- 229 Seiten, 24,90 B. mend in den Vordergrund politischer und wis- senschaftlicher Debatten über die europäische Annette Jünemann und Michèle Knodt (Hrsg.): Außen- und Erweiterungspolitik gerückt. Es Externe Demokratieförderung durch die Europä- stellt sich jedoch die Frage, ob dies der einzig ische Union. European External Democracy Pro- gangbare Weg bei der schwierigen Konsens- motion, [Schriftenreihe des Arbeitskreises Euro- suche zwischen der ‚Erweiterungsmüdigkeit‘ päische Integration e.V., Band 58], Nomos beziehungsweise der vielfach zitierten, schein- Verlagsgesellschaft: Baden-Baden 2007, ISBN bar erschöpften ‚Absorptionskapazität‘ der 978-3-8329-2794-3; 376 Seiten, 49,00 B. Europäischen Union einerseits und dem er- Martin Große Hüttmann, Matthias Chardon und klärten Wunsch nach einer baldigen Vollmit- Siegfried Frech (Hrsg.): Das neue Europa, WO- gliedschaft seitens einer Reihe von Staaten in CHENSCHAU Verlag: Schwalbach/Ts. 2007, Mittel- und Osteuropa, aber auch in Südeu- ISBN 978-3-89974355-5; 298 Seiten, 16,80 B. ropa andererseits, ist. Gleichzeitig werden bei der konkreten Umsetzung und Anwendung der ENP die Brüche und Grenzen dieser Poli- wicklung aufwirft. Aber auch das au§en- tik deutlich, was eine Reihe von Fragen nicht politische Handeln der Europäischen Union nur zu ihrer Konzeption und ihrem aktuellen insgesamt steht auf dem Prüfstand: Wie steht Stand, sondern auch ihrer zukünftigen Ent- es um die Umsetzung des erklärten Ziels, De-

* Dr. Anne Faber, ehem. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Jean Monnet Lehrstuhl Prof. Dr. Wolfgang Wessels, Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen, Universität zu Köln. 90 integration Ð 1/2008 Literatur mokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschen- dabei die besondere Verantwortung der Euro- rechten als den Leitprinzipien europäischen päischen Union für die Stabilität Europas im politischen Handelns weltweit zur Durchset- Ganzen, die aber eine politisch und institutio- zung zu verhelfen? Welche Ergebnisse sind nell gefestigte Union zwingend voraussetzt, hier seit den 1990er Jahren zu verzeichnen? um Stabilität exportieren zu können, und Wo lassen sich Defizite und Handlungsbedarf nicht Instabilität zu importieren. feststellen? Und welche Instrumente und Wege stehen der Europäischen Union jenseits Die folgenden 14 Beiträge thematisieren eine der ENP zur Verfügung, um als außenpoliti- breite Palette von konzeptionellen und prakti- scher Akteur ihre Interessen durchzusetzen? schen Fragen, die die ENP von Beginn an be- gleitet haben: Motive, Ursachen und kritische Aus der Vielzahl der Veröffentlichungen zu Bewertungen des Entwicklungsstands der diesem Themenbereich werden hier drei neue ENP aus unterschiedlichen (institutionellen) Sammelbände herausgegriffen und bespro- Perspektiven, die Analyse der ENP als Dach chen, die sowohl repräsentativ für die am häu- für unterschiedliche Regime, Fragen der figsten aufgegriffenen Fragestellungen ste- Grenzziehung und Grenzdurchlässigkeit im hen als auch neue, eigene Schwerpunkte in Rahmen der ENP, die Chancen und Grenzen der Debatte setzen. der ENP bei der Demokratisierung von Nach- barstaaten, die Bedeutung des Raums der Stabilisierung durch ENP? Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für den Erfolg der ENP, die Möglichkeiten, In dem von Johannes Varwick und Kai-Olaf Probleme und institutionellen Wege einer Lang herausgegebenen Band gehen die insge- Einbeziehung der Nachbarländer in die Ge- samt 18 Autorinnen und Autoren Fragen in meinsame Au§en-, Sicherheits- und Verteidi- drei Schwerpunktbereichen nach: den konzep- gungspolitik, die Anreize und Vorteile einer tionellen und strategischen Herausforderun- wirtschaftlichen Kooperation mit den ENP- gen der Europäischen Nachbarschaftspolitik, Ländern, die Bedeutung einer engeren gesell- den Prioritäten und Kooperationsfeldern in schaftlichen Vernetzung zwischen der Euro- der Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten päischen Union und den Nachbarländern für und neuen Mechanismen bei der Einbezie- den Erfolg der ENP, die innere Verfassung hung von Drittstaaten in das europäische Inte- und Stabilität der Europäischen Union und al- grationsprojekt. Leitfragestellung des Bandes ternative Modelle differenzierter Integration ist dabei, ob Ð und wenn ja auf welchem Weg und Kooperation (wie eine Modernisierungs- – die Europäische Union in der Lage ist, ihre und Stabilisierungspartnerschaft oder eine Peripherie mithilfe der Europäischen Nach- ‚modulare Integration‘) als Alternativen zur barschaftspolitik zu stabilisieren (S. 9). Dabei ENP. zielt der Band darauf ab, Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage zu liefern, ob die Zwischenergebnisse ENP tief greifend reformiert werden sollte, oder ob nur kleinere Anpassungen in der Im- Trotz der vielfältigen Aspekte, die von den plementation erforderlich sind (S. 12). Ergänzt Autorinnen und Autoren des Bandes unter- wird der Band durch einen kurzen Anhang mit sucht werden, ergeben sich eine Reihe von Überblickstabellen zum Entwicklungsstand Schnittpunkten und gemeinsamen Schlussfol- der ENP-Länder und der Geschichte der ENP. gerungen zu Stand und Zukunft der ENP: In ihrer Einleitung umrei§en Varwick und ¥ Die ENP entspricht in ihrer Umsetzung we- Lang die veränderte außenpolitische Lage der niger ‚einer‘ Politik, sondern stellt einen Europäischen Union nach den Süd- und Ost- Rahmenbegriff für ein Set hochkomplexer erweiterungen der Union sowie die wach- und differenzierter, bilateraler Ma§nahmen sende „Erweiterungsmüdigkeit“. Sie betonen und Politiken zwischen der Europäischen Literatur integration Ð 1/2008 91

Union und ihren Nachbarstaaten dar: bedingt oder überhaupt nicht vorhanden ist ãLooking at the extreme diversity of conditi- (wie etwa in Wei§russland), lassen sich De- ons and the wide geographic spread of the mokratie, Menschenrechte und wirtschaft- EU neighbours one has to admire the cou- liche Reformen allein im Rahmen der ENP rage of EU policy makers to design a single kaum durchsetzen (Stefan Fröhlich, Volk- set of policy with similar objectives, tools hart Vincentz). Das bedeutet, dass die Euro- and methodology“ (Eberhard Rhein, S. 42). päische Union im Rahmen der ENP noch Es erscheint daher sinnvoll, die ENP als ein viel weniger als in einem Beitrittsprozess Set unterschiedlicher Regime oder als ein Reformen erzwingen, sondern nur verhan- multidisziplinäres Projekt zu konzeptionali- deln und Anreize bieten kann. sieren und zu analysieren, das auf viele un- terschiedliche Bereiche und Politiken abzielt ¥ Für eine optimale Umsetzung der ENP ist (Annegret Bendiek, Wilhelm Knelangen). das geschlossene und konsequente Handeln der Union, vertreten durch die Kommis- ¥ Die ENP stellt den Versuch einer ‚Quadra- sion, bei der Förderung von Demokratie tur des Kreises‘ dar, bei der einerseits die und Menschenrechten eine zwingende Vor- umfassende ‚Europäisierung‘ der Nachbar- aussetzung. länder der Europäischen Union erreicht wer- den soll, um das Sicherheitsbedürfnis der ¥ Das Nachdenken über die Weiterentwick- Union zu befriedigen, gleichzeitig aber eine lung der ENP wie auch der Europäischen neue Erweiterungsrunde ausgeschlossen Union insgesamt muss alternative Modelle werden soll. Die Paradoxien und Widersprü- differenzierter Integration und Koopera- che im Design der ENP sind ein Beleg hier- tion unterhalb der Schwelle der Vollmit- für. Bleibt die ENP aber eine permanente gliedschaft, aber oberhalb blo§er bilateraler Alternative zur Erweiterung, so wird die Eu- Beziehungen explizit mit einschlie§en, um ropäische Union nicht in der Lage sein, die die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Johan- von ihr gewünschten Reformen nachhaltig Europäischen Union zu bewahren ( nes Varwick Joachim Koops Michael durchzusetzen. Ein Beitritt der ENP-Länder / , Wohlgemuth Clara Brandi Barbara Lip- sollte daher nicht von vornherein ausge- / , pert Andreas Maurer Max Haerder schlossen werden (Eberhard Rhein S. 45, Jo , / ). Leinen/Sandra Weidemann S. 58, Martin Damit wird im Hinblick auf die eingangs ge- Kahl S. 69). stellte Frage nach den Möglichkeiten und ¥ Die Motive der ENP-Länder, mit der Union Grenzen der ENP bei einer Stabilisierung des zu kooperieren, liegen in der Unterstützung europäischen Nachbarschaftsraumes sehr deut- bestehender Reformbemühungen und lich, dass die ENP nur unter einer Reihe von Transformationsprozesse. Gleichzeitig ist institutionellen und politischen Voraussetzun- das Interesse der Nachbarländer an einer gen sowohl in der Europäischen Union als Kooperation im Rahmen der ENP die auch in den Nachbarländern das geeignete In- Achillesferse dieser Politik, die nur dann strument ist beziehungsweise sein wird, um greifen kann, wenn in einem Land bereits die Interessen der Europäischen Union (die In- die grundsätzliche Bereitschaft zu Refor- teressen ihrer Mitgliedstaaten) mit den Interes- men und Demokratisierungsprozessen be- sen der Nachbarländer in Einklang zu bringen. steht (Jo Leinen/Sandra Weidemann S. 59, Dabei bleibt die ENP durch eine Vielzahl von Wilhelm Knelangen S. 98). Die ENP be- Brüchen gekennzeichnet. Darüber hinaus wird ruht, viel stärker als eine Vorbeitrittsstrate- der Erfolg der ENP in jedem Einzelfall auch gie, auf Sozialisierungseffekten. Wenn von externen Faktoren und dem Verhalten von Länder aber eher arm und autokratisch re- Drittstaaten abhängen. Ihre größten Erfolge, da giert sind und der Wille zu Reformen nur sind sich die Autorinnen und Autoren des Ban- 92 integration Ð 1/2008 Literatur des einig, wird die ENP in denjenigen Nach- pflichtet (Beiträge von Siegmar Schmidt, barländern haben, denen eine Mitgliedschaft in Stefan Brüne und Gordon Crawford zu Af- Aussicht gestellt werden kann Ð und sei es als rika, Kirsten Westphal und Susanne Gratius Langzeitperspektive. zu Lateinamerika und der Karibik, Florian P. Kühn, Franco Algieri und Alexander Demokratieförderung durch die EU Warkotsch zu Asien, Timm Beichelt, Susan Stewart, Sabine Fischer und Pamela Jawad Der Sammelband von Annette Jünemann und zu Russland und Mittel- und Osteuropa sowie Michèle Knodt geht der Frage nach, warum es Annette Jünemann, Ana Echagüe/Richard in der Art und Weise, wie Demokratieförde- Youngs und Elena Baracani zu Arabien und rung durch die Europäische Union konkret dem Mittelmeerraum). geschieht, zu teilweise deutlichen Unterschie- den in der Wahl der Strategien und Mittel so- Die zentralen Ergebnisse der komparativen wie den Ergebnissen in der Implementierung Länderstudien werden von den beiden Her- kommt, was Rückwirkungen auf die außenpo- ausgeberinnen in einem Schlusskapitel zu- litische Glaubwürdigkeit der Union hat: „In sammengefasst. Annette Jünemann und practice, the EU policy of democracy promo- Michèle Knodt betonen insbesondere fol- tion is a policy of double standards, as some gende Punkte: die internen Schwierigkeiten countries are strictly sanctioned while others der Europäischen Union bei der Suche nach remain almost untouched. This has led to a einer kohärenten und konsequenten außenpo- credibility gap which weakens the EU’s room litischen Linie, die aus der Mehrebenenstruk- to manoeuvre“ (Michèle Knodt/Annette Jüne- tur der Europäischen Union und den unter- mann, S. 19). Ziel des Bandes ist eine kompa- schiedlichen au§enpolitischen (kolonialen) rative Untersuchung dieser Fragestellung, wo- Traditionen und Interessen der Mitgliedstaa- bei fünf Schwerpunktregionen in den Blick ten herrühren (S. 353ff.); die Bedeutung ande- genommen werden: Afrika, Lateinamerika rer Akteure auf der internationalen Ebene, die und Karibik, Asien, Russland und Mittel- und durch ihr Handeln die Durchsetzungskraft Osteuropa, Arabien und der Mittelmeerraum. (negativer) europäischer Demokratisierungs- Nach Auffassung der beiden Herausgeberin- instrumente deutlich relativieren können nen stellen dabei das Mehrebenensystem der (S. 357ff.) sowie die Rolle des politischen Europäischen Union, Interdependenzstruktu- Systems in dem jeweiligen Drittstaat und des ren zwischen der Europäischen Union und ei- Timings von Ma§nahmen, die wesentlich zum nem Drittstaat sowie die innenpolitischen Vo- Erfolg oder Scheitern externer Demokratisie- raussetzungen in einem Drittstaat (seine rungsversuche beitragen (S. 360ff.). Schluss- ‚Resonanzstruktur‘) die wichtigsten Faktoren folgernd halten die beiden Herausgeberinnen bei der Auswahl von Instrumenten durch die fest, dass das Zusammenspiel einer Vielzahl Europäische Union dar (S. 19). Annette Jüne- von Faktoren für das widersprüchliche, zu- mann und Michèle Knodt unterscheiden hier rückhaltende und oftmals unzureichende au- zwischen positiven (das hei§t konstruktiven) ßenpolitische Auftreten der Europäischen und negativen (das hei§t restriktiven) Instru- Union bei der Demokratieförderung verant- menten und stellen fünf Hypothesen vor, die wortlich ist. Insbesondere die unterschiedli- die Wahl der Instrumente der Europäischen chen Interessenlagen der Mitgliedstaaten er- Union bei der externen Demokratieförderung schweren im Mehrebenensystem der zu konzeptionalisieren und zu kontextualisie- Europäischen Union die konsequente Durch- ren versuchen (S. 22ff.). setzung negativer Demokratisierungsinstru- mente. Aber auch eine instabile innenpoliti- Diesem methodisch-theoretischen Rahmen sche Struktur in einem Drittstaat oder sind die folgenden 15 Länderstudien ver- au§enpolitische Alternativen zu den Angebo- Literatur integration Ð 1/2008 93 ten der Europäischen Union beeinflussen die der von der Union gewünschten Stabilisie- externe Demokratieförderung negativ. rung und Europäisierung ihres Nachbar- schaftsraums zu führen. Voraussetzung für Nachbarschaften und Beitrittsmodelle: den Erfolg dieser Politiken ist die Kohärenz Defizite und Perspektiven europäischen Handelns sowie das Engage- ment der Europäischen Union bei der Su- Der von Martin Große Hüttmann, Matthias che nach Problemlösungsstrategien im kon- Chardon und Siegfried Frech herausgegebene kreten Einzelfall. Den innenpolitischen Band beschreibt die Politik der Europäischen Strukturen und Voraussetzungen in den je- Union gegenüber ihren Nachbarländern. Da- weiligen Partnerländern kommt jedoch eine bei gehen die Herausgeber von der Annahme Schlüsselrolle für das Gelingen oder Schei- aus, dass „die Europäische Kommission die tern beziehungsweise Verpuffen dieser Po- bislang gültigen Wege der Erweiterung einer- litiken zu (Iris Kempe, Barbara Lippert, seits, aber auch der Au§enbeziehungen der Annegret Bendiek, Annette Jünemann und EU andererseits verlassen und neue Wege Sabine Fischer). eingeschlagen hat“ (Martin Große Hüttmann/ ¥ Permanente bilaterale Beziehungen zwi- Matthias Chardon/Siegfried Frech, S. 7). Die schen der Europäischen Union und einem Autorinnen und Autoren des Bandes behan- Drittstaat erscheinen Ð wie im Fall der deln in insgesamt zwölf Beiträgen vier Schweiz oder Norwegens – für bestimmte Schwerpunktthemen: alte und neue Beitritts- Staaten zwar als passende Alternative zu ei- kandidaten, zeitlich begrenzte oder perma- ner Vollmitgliedschaft, sie werden jedoch nente Alternativen zur Vollmitgliedschaft um den Preis einer hohen Komplexität und (wie die ENP oder den Stabilitätspakt für Intransparenz der Beziehungen sowie eines Südosteuropa), permanente bilaterale Bezie- fehlenden Mitspracherechts dieser Staaten hungen zwischen der Europäischen Union bei der europäischen Rechtssetzung er- und Drittstaaten sowie Perspektiven für das kauft (Burkard Steppacher und Ulf Sver- europäische Integrationsprojekt. Damit bildet drup/Hans-Jörg Trenz). auch dieser Sammelband die gro§e Band- ¥ Die erfolgreiche Weiterentwicklung der breite des Themenfeldes ab. Die Autorinnen Europäischen Union erfordert dreierlei: die und Autoren heben in ihren Beiträgen fol- Reform und den Ausbau der internen Ent- gende Punkte hervor: scheidungsstrukturen, die bessere Sichtbar- ¥ Vom Beitritt der Länder Ostmitteleuropas keit und Handlungsfähigkeit der Europä- werden sowohl die neuen Mitgliedstaaten ischen Union auf der weltpolitischen Ebene als auch die Union wirtschaftlich wie poli- (durch neue Institutionen und Aufgaben für tisch profitieren, selbst wenn die Union da- die Europäische Union im außen- und si- durch heterogener geworden ist (Kai-Olaf cherheitspolitischen Bereich) sowie ver- Lang, Jürgen Dieringer). Gleichzeitig zeigt ständliche und kommunizierbare gemein- sich am Beispielfall Türkei, dass der unbe- same (Gro§-)Projekte (Franco Algieri/ streitbar gro§e Erfolg der Erweiterungspo- Janis E. Emmanouilidis, Almut Möller). litik für die Union zu einem Verlust ihrer Kohärenz und Handlungsfähigkeit führen Ausblick: Reformen und Handlungsbedarf könnte. Es bedarf daher neuer Konzepte Die drei Sammelbände bilden die Breite und und Alternativen zu einem Beitrittsautoma- Heterogenität der wissenschaftlichen Debatte tismus (Beitrag von Martin Große Hütt- zu europäischem außenpolitischen Handeln in mann/Matthias Chardon). den Bereichen ENP, Beitrittspolitik und ex- ¥ Die ENP steht ebenso wie der Stabilitäts- terne Demokratieförderung exemplarisch ab. pakt für Südosteuropa und die Partner- Diese Breite und Heterogenität der Debatte schaftspolitik vor der Herausforderung, zu verweist dabei auf die Komplexität des Poli- 94 integration Ð 1/2008 Literatur tikfeldes, das ebenfalls durch eine stetig zu- den‘ in ihrer mangelnden internen Kohärenz nehmende Heterogenität und neue Schwer- liegt, die den unterschiedlichen Interessen der punkte gekennzeichnet ist. Auch innerhalb Mitgliedstaaten geschuldet ist. Gleichzeitig ist von Politiken wie der ENP oder bei Quer- dies der einzige Faktor, bei dem die Europä- schnittsaufgaben wie der externen Demokra- ische Union selber handeln könnte, um ihre tieförderung sind große Unterschiede bei den außenpolitische Leistungsfähigkeit zu verbes- Zielen, den eingesetzten Instrumenten und sern und als Akteur auf der weltpolitischen den Ergebnissen festzustellen. Vor dem Hin- Ebene stärker Einfluss auszuüben. Solange tergrund der zunehmenden institutionellen sich die Europäische Union nicht als geeinter Ausdifferenzierung europäischen außenpoliti- Akteur präsentieren kann, werden auch ENP, schen Handelns überrascht es nicht, dass in Beitrittspolitik und externe Demokratieförde- der wissenschaftlichen Debatte vor allem ver- rung weiter den Schwierigkeiten und Brüchen gleichende Studien einerseits und Versuche ausgesetzt bleiben, die in den drei vorgestell- einer Theoriebildung zum au§enpolitischen ten Sammelbänden umfassend beschrieben Handeln der Europäischen Union andererseits und analysiert werden. Neben vergleichenden selten zu finden sind, wie auch Annette Jüne- und theoretischen Beiträgen wären daher auch mann und Michèle Knodt feststellen. Den- alle Vorschläge für institutionelle Reformen noch wird in allen drei Bänden deutlich, dass begrüßenswert, die den dringenden Reform- die Hauptschwierigkeit der Europäischen und Handlungsbedarf in der europäischen Au- Union als ‚außenpolitischem Akteur im Wer- §enpolitik weiter verdeutlichen.

DWY^XWhiY^W\jifeb_j_a

DWY^XWhiY^W\j[d_dd[h^WbX Z[h;khef_iY^[dKd_ed >[hWki][][X[dledKbh_Y^>k\[bZ"F[j[h#9^h_ij_Wd C”bb[h#=hW\\kdZIj[\WdEahkY^ (&&."(-)I$"XheiY^$"+/"ÅÐ"?I8D/-.#)#.)(/#(//*#- IY^h_\j[dh[_^[Z[i7hX[_jiah[_i[i;khef_iY^[?dj[]hW# j_ed[$L$"8Z$,( :_[DWY^XWhiY^W\j[dWdZ[d8_dd[d]h[dp[dZ[h;khe# f_iY^[d Kd_ed i_dZ [_d _dj[hZ_ip_fb_dh[i J^[cW ZWk[h^W\j[h_dj[]hWj_edim_ii[diY^W\jb_Y^[h7ajkWb_# jj$ :[h 8WdZ _ij ;h][Xd_i [_d[h ckbj_Z_ip_fb_dh[d Aed\[h[dppkcJ^[cW$;hl[h[_djl_[hp[^d8[_jh][" m[bY^[Z_[=hkdZbW][d"[_dp[bd[DWY^XWhiY^W\j[d_d C_jj[b[khefWkdZZ_[F[hif[aj_l[dZWhij[bb[d$

8_jj[X[ij[bb[dI_[X[_?^h[h8kY^^WdZbkd] eZ[hX[_DeceirJ[b[\ed&-(('%('&*#)-r

Deutsch-französische Führung in der erweiterten Union ohne Alternative?

Gesa-Stefanie Brincker, Matti Roscher und Andrea Schilling*

Politische Führung bedeutet Verantwortung zu übernehmen, die Prioritäten der politischen Politische Führung in der Agenda zu definieren und Lösungshorizonte erweiterten Union: deutsche und für ihre Umsetzung zu offerieren. Dass Füh- französische Impulse rung in der erweiterten EU-27 in Anbetracht Jahresexpertenkonferenz des Instituts für einer komplexeren Interessenlage einen deut- Europäische Politik (IEP) in Zusammenarbeit lichen Bedeutungszuwachs erfährt, liegt auf mit dem Wissenschaftlichen Direktorium mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes, des der Hand. Zugleich taucht der Begriff ‚leader- Centre International de Formation Européenne ship‘ in den Verträgen jedoch nicht auf. War (CIFE), der Europäischen Kommission sowie der es in der Vergangenheit das deutsch-französi- Fritz Thyssen Stiftung sche Tandem, das als ‚Motor‘ den Integrati- Berlin, 27./28. September 2007 onsprozess voranbrachte und nachhaltig prägte, ist die Zukunft politischer Führung in Begrüßung Dr. Gerhard SABATHIL, Leiter, Europäische der Union offen. Während es kleinen Mit- Kommission, Vertretung in der Bundesrepublik gliedstaaten an den nötigen Ressourcen man- Deutschland, Berlin gelt, gerät das europapolitische Engagement Prof. Dr. Michael KREILE, Vorsitzender des der gro§en schnell in den Verdacht der Domi- Wissenschaftlichen Direktoriums des IEP; Hum- nanz. Ungeachtet dieses Widerspruchs be- boldt-Universität zu Berlin steht ein klarer Bedarf an politischer Führung. Prof. Dr. Hartmut MARHOLD, Generaldirektor, In Anbetracht dessen verwundere es, wie Centre International de Formation Européenne (CIFE), Nizza/Berlin stiefmütterlich die Forschung diese zentrale Thematik bislang behandelt habe, betonte der Mehr als Führung auf Zeit? Eine Bilanz der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Direkto- deutschen Ratspräsidentschaft riums Professor Michael Kreile in seiner Ein- Vorsitz führung in die Thematik der interdisziplinären Prof. Dr. Michael KREILE, Vorsitzender des Jahresexpertenkonferenz des Instituts für Eu- Wissenschaftlichen Direktoriums des IEP; Hum- boldt-Universität zu Berlin ropäische Politik in Zusammenarbeit mit sei- nem Wissenschaftlichen Direktorium im Sep- Die Binnenperspektive Günter GLOSER, MdB, Staatsminister für Eu- tember 2007. Die Fachtagung widmete sich ropa, Auswärtiges Amt, Berlin dem Stand der deutsch-französischen Bezie- Die Au§enperspektive hungen und suchte nach Antworten auf die Prof. Dr. William E. PATERSON, Universität Frage nach der Zukunft politischer Führung in Birmingham Europa (siehe Programmübersicht). Zu den Dr. Peter DRULÁK, Direktor, Institut für Inter- Referentinnen und Referenten zählten Vertre- nationale Beziehungen, Prag ter der Bundesregierung, Mitglieder des Wis- Die europarechtliche Perspektive senschaftlichen Direktoriums des IEP sowie Prof. Dr. Dr. h.c. Peter-Christian MÜLLER- weitere Frankreichexperten. GRAFF, Universität Heidelberg

* Gesa-Stefanie Brincker, M.E.S., Institut für Europäische Politik, Berlin. Matti Roscher, Institut für Europä- ische Politik, Berlin. Andrea Schilling, Institut für Europäische Politik, Berlin. 96 integration Ð 1/2008 Tagungen

Positive Bilanz der deutschen EU-Ratspräsi- dentschaft Programmatik und Perspektiven französi- scher Europapolitik nach den Wahlen Den Einstieg in die Tagung bildete die Erörte- rung der Ergebnisse der deutschen EU-Rats- Vorsitz Prof. Dr. Hartmut MARHOLD, Generaldirek- präsidentschaft. Aus der Binnenperspektive tor, Centre International de Formation Euro- fiel die Bilanz durchweg positiv aus und er- péenne (CIFE), Nizza/Berlin gab folgendes Bild: Die Besonderheit der deutschen Verhandlungsleistung lag in dem Innenpolitische Voraussetzungen französi- eher vermittelnden Interessenausgleich zwi- scher Europapolitik schen den Mitgliedstaaten. Um selbst extrem Dr. Sylvie GOULARD, Präsidentin der Euro- päischen Bewegung Frankreich, Paris gegensätzliche Partner zusammenzubringen, wurde gezielt nach bilateralen Lösungen ge- Prof. Dr. Joachim SCHILD, Universität Trier sucht. Die Präsidentschaft moderierte zwi- Eine neue französische Europapolitik unter schen den unterschiedlichen Präferenzen und Sarkozy? wahrte während des gesamten Prozesses eine Prof. Dr. Anne-Marie LE GLOANNEC, Cen- transparente Vorgehensweise gegenüber den tre d'Études et de Recherches Internationales, Verhandlungspartnern. Auf der Arbeitsebene Paris konzentrierte sich die deutsche Ratspräsident- schaft auf die ‚focal points‘ und versuchte das Inhalte und Weg zur Wiederbelebung des Ziel einer grundlegenden vertraglichen Er- deutsch-französischen Führungsduos Dr. Daniela SCHWARZER, Stiftung Wissen- neuerung der Europäischen Union in einem schaft und Politik, Berlin Prozess steigender Verbindlichkeit zu errei- chen. Die politische Steuerung durch den PD Dr. Matthias WAECHTER, Direktor des Institut Européen des Hautes Études Internati- Ratsvorsitz erfolgte in engster Zusammenar- onales (IEHEI), Centre International de For- beit mit den EU-Institutionen. Von herausra- mation Européenne (CIFE), Nizza gender Bedeutung war dabei der Juristische Dienst des Ratssekretariats, der die Präsident- schaft Ð bedingt durch seine Mittlerrolle Ð Deutsche und französische Impulse auf vom Verdacht der Dominanz entlastete. Im wichtigen Politikfeldern Ergebnis lag ein sehr konkretes Mandat für Vorsitz den Reformvertrag vor, das keine neuen Ver- Dr. Jürgen TRUMPF, Generalsekretär a.D. handlungen zulie§ und zugleich die Substanz des Rates der Europäischen Union; Präsident des Verfassungsvertrages erhielt. des IEP, Bonn

Auch die Referenten aus dem Vereinigten Die Überprüfung des Haushalts 2008/09 Königreich sowie der Tschechischen Repu- Dr. Friedrich HEINEMANN, Zentrum für blik bestätigten aus der Außenperspektive die Europäische Wirtschaftsforschung, Mann- heim positive Einschätzung der deutschen Ratsprä- sidentschaft. Sowohl der Führungsstil wäh- Dr. Christian WEISE, Europäische Kommis- rend der Präsidentschaft als auch die sion, Brüssel Ergebnisse fanden breite Zustimmung. Aus- Zielrichtung und Prioritäten der Nachbar- schlaggebend waren nicht zuletzt auch die schaftspolitik (Osteuropa vs. Union Méditer- günstigen Rahmenbedingungen: Während in ranéenne?) den anderen gro§en EU-Mitgliedstaaten Prof. Dr. François BAFOIL, Centre National Frankreich und dem Vereinigten Königreich de la Recherche Scientifique / Centre d’Étu- kurz zuvor ein neuer Präsident beziehungs- des et de Recherches Internationales, Paris weise Regierungschef die Amtsgeschäfte Dr. Barbara LIPPERT, Stellv. Direktorin, Ins- übernommen hatte, zeichnete sich die deut- titut für Europäische Politik, Berlin Tagungen integration Ð 1/2008 97 sche Bundesregierung durch politische Stabi- lität sowie parteiübergreifende Einigkeit Politische Führung durch Kernstaaten hinsichtlich der europapolitischen Prioritäten oder durch Institutionen? aus. Bundeskanzlerin Merkel profitierte von Vorsitz dem Vertrauensvorschuss, der ihr auf europä- Prof. Dr. Heinrich SCHNEIDER, Universität ischer Ebene entgegengebracht wurde, und Wien; Ehrenvorsitzender des Wissenschaftli- führte die Europäische Union, trotz der im chen Direktoriums des IEP, Berlin Vorfeld hohen Erwartungen, erfolgreich aus der Verfassungskrise. Obwohl Konflikt- Einführungen Dirk LÖLKE VLR, Leiter des Referats 511, schlichtung erfahrungsgemäß oft von den Prä- EU-Grundsatzangelegenheiten, Bundeskanz- sidentschaften ‚kleinerer‘ EU-Mitgliedstaaten leramt, Berlin erzielt wird, war es dieses Mal der Regierung Prof. Dr. Wolfgang WESSELS, Universität des größten Mitgliedstaates gelungen, wirk- zu Köln sam zwischen den divergierenden Interessen seiner EU-Partner zu vermitteln und dabei zu- Kommentar gleich eigene Interessen (wie den Erhalt der Dr. Andreas MAURER, Stiftung Wissen- inhaltlichen Substanz des Verfassungsvertra- schaft und Politik, Berlin ges) umfassend zu wahren. Für diese Zielset- zung stand der Bundesregierung nicht zuletzt Schlussfolgerungen ein Gro§teil der 17 Mitgliedstaaten, die be- reits den Verfassungsvertrag ratifiziert hatten, Prof. Dr. Michael KREILE, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Direktoriums des IEP; unterstützend zur Seite. Humboldt-Universität zu Berlin Inzwischen haben die Staats- und Regierungs- Prof. Dr. Mathias JOPP, Direktor, Institut für chefs im Oktober 2007 auf der Grundlage des Europäische Politik, Berlin Mandats den Lissabonner Vertrag ausgehan- delt, der daraufhin am 13. Dezember 2007 fei- rungswechsel im Mai 2007 hat sich Frank- erlich unterzeichnet wurde. Die Ratifikation reichs Engagement in und für Europa deutlich des Lissabonner Vertrags durch die Mitglied- dynamisiert. Hatte sich das Land unter Präsi- staaten steht im Jahr 2008 an. Während einige dent Chirac zuletzt kaum noch auf der europä- Konferenzteilnehmer auf mögliche Stolper- ischen Bühne gezeigt, ist es unter Sarkozy steine und Unsicherheiten im Ratifizierungs- wieder präsent. Gleichwohl unterliegt seine prozess hinwiesen, wurde von Seiten der Europapolitik innenpolitischen Handlungsres- Bundesregierung bekräftigt, dass es keinen triktionen. Sarkozys eigenem Anspruch nach „Plan B“ gebe. soll seine Europapolitik für die Wähler mehr- heitsfähig sein. Es gilt der Primat der Innen- Chancen deutsch-französischer Kooperation politik. Europa- und Au§enpolitik sind folg- lich nur Funktionen innenpolitischer Für den Erfolg der Vertragsverhandlungen Imperative. Das französische Dilemma ist war neben der deutschen Führungsstärke ins- durch eine Ambivalenz zwischen nationaler besondere die Rolle Frankreichs ausschlagge- Souveränität und verstärktem europapoliti- bend. Mit seinem Konzept des traité simplifié schen Engagement gekennzeichnet. Sarkozy trug der neu gewählte französische Präsident muss versuchen den au§enpolitischen An- Nicolas Sarkozy zur Überwindung der Ver- sprüchen gerecht zu werden und dabei gleich- fassungskrise der Union bei. Die Analyse der zeitig innenpolitische Empfindlichkeiten be- französischen Innen- und Europapolitik bil- rücksichtigen. Besonders Wirtschafts- und dete den zweiten Schwerpunkt der Konferenz. Sozialpolitik sind innenpolitisch sensibel und Aus Sicht der Frankreichexperten zeichnen hier verfolgt Frankreich seine eigenen Interes- sich folgende Trends ab: Durch den Regie- sen mit Nachdruck. Die Europäische Union 98 integration Ð 1/2008 Tagungen dürfe nicht das Trojanische Pferd der Globali- Projekte, welche die östliche EU-Nachbar- sierung werden, stellte der neugewählte Präsi- schaft einbeziehen. Um den geografischen dent gleich zu Beginn klar. Die gro§en Pro- Gegensatz auszubalancieren und die deutsch- jekte für Europa fehlten und überhaupt sei französische Kooperation im Rahmen der Sarkozy kein überzeugter Europäer, bemerkte ENP zu fördern, gäbe es die Möglichkeit die eine Referentin. Rollen zu vertauschen. So könnte sich Frank- reich, einem Vorschlag des Podiums zufolge, Neben dieser unter den Referenten mehrheit- für die Interessen der östlichen Nachbarstaa- lich geteilten Einschätzung der französischen ten einsetzen, Deutschland demgegenüber für Europapolitik wurde jedoch auch eine weitere die der südlichen. Aus dem französischen Argumentationslinie deutlich. Hierbei wurde die starke Machtposition des Präsidenten und Blickwinkel sei die Erweiterung der Union sein Wille zum Tabubruch betont: Sarkozy zum Ende gekommen, eine Phase der institu- hat die Ressourcen und den Willen, der Euro- tionellen Konsolidierung nun notwendig, er- papolitik seines Landes ein eigenständiges läuterte ein Referent. Die Mittelmeerunion Profil zu geben. Das Bemühen um Europa ist wäre geeignet, die Türkei in die euromediter- glaubwürdig. Alles in allem bestand unter den rane Strategie einzubeziehen, um ihr die Bei- Referenten Konsens, dass eindeutige Schluss- trittsperspektive unmissverständlich zu neh- folgerungen über den künftigen europapoliti- men. Mit einer gemeinsamen deutsch- schen Kurs Frankreichs verfrüht seien. Unter französischen Initiative zur Frage des Türkei- der Ratspräsidentschaft ab Juni 2008 werde beitritts sei somit nicht zu rechnen. sich klarer zeigen, welches Europa Frankreich wünscht. Zentrale Bewährungsproben für die deutsch- französische Kooperation sahen einige Refe- Im Hinblick auf konkrete Politikfelder für die renten in der Budgetreform und insbesondere deutsch-französische Kooperation kamen aus in der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik Sicht der Referenten vorrangig die Europä- (GAP) sowie einer gemeinschaftlichen Ener- ische Nachbarschaftspolitik (ENP), Teile der giepolitik. Gerade im Bereich der GAP seien Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs- die Hoffnungen auf eine Modernisierung der politik (ESVP) und die europäische Finanzre- Strukturen gering, denn obschon Frankreichs gulierung infrage. Ob Fortschritte ohne das Interesse an den Subventionszahlungen für Vereinigte Königreich im Bereich der ESVP heimische Landwirte sinke, bleibe sein Stand- erzielt werden können, blieb unter den Konfe- punkt unklar und die Frage, ob es den Status renzteilnehmern bis zuletzt umstritten. quo erhalten wolle, unbeantwortet. In diesem Auch die Bewertung der ENP aus beiden Län- Fall könnte Polen, aber auch einige andere derperspektiven fiel kontrovers aus. Zwar be- neue Mitgliedstaaten, zu einem Verbündeten stand Einigkeit darin, dass die politischen Eli- Frankreichs zur Verteidigung der GAP-Zah- ten beider Länder eine Europäisierung der lungen werden. Nachbarstaaten auch ohne Beitrittsverspre- chen und somit eine starke ENP als Alterna- Obwohl Deutschland und Frankreich weiter- tive zu weiteren Beitritten wünschten. Aller- hin ein breites Spektrum unterschiedlicher In- dings zeigten sich bereits bei grundlegenden teressen repräsentieren, wodurch deutsch- Fragen der geografischen Prioritätensetzung französische Kompromisse auch in der gro- zwischen Süden und Osten Divergenzen. ßen EU-27 am ehesten konsensfähig sein Während das französische Konzept einer Mit- könnten, bleiben die Erfolgsaussichten telmeerunion noch recht ‚nebulös‘ und für deutsch-französischer Führungsimpulse ange- deutsche Akteure weniger überzeugend sei, sichts der zum Teil divergenten Leitbilder in fehlten im Gegenzug vergleichbare deutsche der erweiterten Europäischen Union unsicher. Tagungen integration Ð 1/2008 99

Ausblick auf die institutionelle Zukunft der kann, besteht jedoch gleichzeitig die Gefahr, Europäischen Union die europäischen Institutionen langfristig aus- zuhöhlen, solange die Zusammenarbeit dauer- Den abschlie§enden Schwerpunkt der Konfe- haft auf einzelne Mitgliedstaaten beschränkt renz bildete der Ausblick auf die Auswirkun- bleibt. Die Konferenzteilnehmer betonten, gen der Primärrechtsreform, welche die ge- wie wichtig es im Kontext jedweder Koopera- meinschaftlichen Institutionen und ihre tion sei, dass die gro§en Mitgliedstaaten die Handlungsweisen grundlegend erneuert. Im Interessen der kleinen berücksichtigen und Zentrum der Diskussion standen dabei die diese nicht marginalisieren. Fragen nach der operativen Rolle des Präsi- denten des Europäischen Rates und nach den Unbestritten war die gro§e Bedeutung Konsequenzen der im Vertrag von Lissabon deutsch-französischer Impulse für die EU-27. vorgesehenen und bereits praktizierten Trio- Zwar werde die Arbeit des Tandems in der er- präsidentschaften. Dabei wurden zwei kon- weiterten Union schwieriger und die Erfolgs- träre Argumente besonders deutlich: Einer- chancen unsicherer, letztendlich bleibe sie seits könnten beide Neuerungen als positiver aber alternativlos, da von keinem der anderen Schritt zu größerer Kontinuität interpretiert gro§en Mitgliedstaaten entsprechende Im- werden. Andererseits könnte diese Kontinui- pulse erwartet werden könnten. Insbesondere tät aber auch politische Impulse seitens der in schwierigen Situationen, wenn die nationa- nationalen Regierungen erschweren sowie len Interessen der Mitgliedstaaten weit aus- ‚Ad-hoc‘-Koalitionen zur Durchsetzung von einander lägen, sei die Zusammenarbeit Interessen verhindern. Kontrovers diskutiert zwischen Paris und Berlin für eine Kompro- wurde des Weiteren der Gegensatz zwischen missfindung nach wie vor ma§geblich. Dies der mit dem Vertrag von Lissabon beabsich- gelte beispielsweise für EU-Erweiterungen tigten Stärkung der Institutionen und der ver- oder Vertragsänderungen. Die Kommunika- stärkten Zusammenarbeit. Während eine sol- tion zwischen den Institutionen beider Staaten che Avantgarde Integrationsimpulse geben sei jedoch noch ausbaufähig.

=h[dp”X[hiY^h[_j[dZ[=[ikdZ^[_ji# l[hieh]kd]WkiZ[hF[hif[aj_l[Z[i Z[kjiY^[d=[ikdZ^[_jiioij[ci IjWjkigke"8[ij_cckd]i]h”dZ[kdZ ;djm_Yabkd]ifej[dp_Wb[ LedJ^ecWiP_cc[hcWdd (&&."YW$),&I$"XheiY^$"YW$+/"ÅÐ" ?I8D/-.#)#.)(/#)(.,#( 8[_jh][pkc=[ikdZ^[_jicWdW][c[dj"8Z$(& ;hiY^[_djChp(&&.

8_jj[X[ij[bb[dI_[X[_?^h[h8kY^^WdZbkd] eZ[hX[_DeceirJ[b[\ed&-(('%('&*#)-r

Europäische Gesundheitspolitik – ein echter Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger?!

Ulla Kalbfleisch-Kottsieper*

In Weimar trafen sich Vertreter verschiedener Fachrichtungen zu einem interdisziplinären Die Europäische Gesundheitspolitik: Erfahrungsaustausch zur Frage, ob die euro- bürgernah und effizient auch ohne päische Gesundheitspolitik auch ohne echte, Kompetenzen? formalrechtliche Kompetenzen „bürgernah Wissenschaftliche Tagung des Arbeitskreises und effizient“ sein könne. An der Diskussion Europäische Integration und des Instituts für beteiligten sich Vertreter der Rechts- und Po- Europäische Politik mit freundlicher litikwissenschaft, der Psychologie und Medi- Unterstützung der Europäischen Kommission zin sowie Praktiker aus der Ministerialbüro- und der ASKO-Europa-Stiftung kratie, der Landtagsverwaltung, aus dem Weimar, 1./2. Juni 2007 Bereich der Gewerkschaften, Krankenkassen und des Verbraucherschutzes. Wissenschaftliche Leitung: Ulla KALBFLEISCH-KOTTSIEPER, Institut Vor dem Hintergrund der gescheiterten Rati- für Europäische Politik, Berlin fizierung einer europäischen Verfassung ge- Begrüßung und Einführung winnt die Auseinandersetzung mit den soge- Ulla KALBFLEISCH-KOTTSIEPER, Institut nannten eigentlichen ‚Politiken‘ der für Europäische Politik, Berlin Europäischen Union beziehungsweise der Eu- Die sozialrechtliche Dimension der europä- ropäischen Gemeinschaften besondere Be- ischen Gesundheitspolitik deutung. Diese betreffen die europäischen Prof. Dr. Dr. Eberhard EICHENHOFER, Fried- Bürgerinnen und Bürger oft viel unmittelbarer rich Schiller Universität, Jena als solch ‚symbolische‘ Akte wie die Verab- Deutsche Interessen an einer europäischen schiedung einer Verfassung oder auch Neu- Gesundheitspolitik konstruktion von Institutionen und Verfahren Ortwin SCHULTE, Bundesministerium für Ge- der Entscheidungsfindung in der Europä- sundheit, Berlin ischen Union. Dies gilt in besonderem Ma§e Paneldiskussion: Fragen aus der Praxis: Wel- für die Gesundheitspolitik, deren bisherige chen europäischen Regelungsbedarf sehen formale Verankerung im Vertrag zur Grün- Ärzte, Patienten, Krankenkassen und andere dung der Europäischen Gemeinschaft (Artikel stakeholder der Gesundheitswirtschaft? 3, 1p und Artikel 152 EGV) eher schwach PD Dr. Stefan SCHRÖDER, Chefarzt der Klinik entwickelt ist. Der Europäischen Kommission für Psychiatrie und Psychotherapie KMG-Klini- ist es dennoch in den letzten Jahren gelungen, ken Güstrow auch spektakuläre Erfolge zu erzielen – die Guido DRESSEL, Leiter der Techniker Kran- Durchsetzung des Nichtraucherschutzes ist kenkasse, Thüringen Dr. Ralph WALTHER, Verbraucherzentrale dafür nur ein aktuelles Beispiel. Ihre Beharr- Thüringen, lichkeit, dieses Thema über Jahre hinweg im- mer wieder Ð und letztlich auch unter Mitwir- Moderation: Ulla KALBFLEISCH-KOTTSIE- kung der Mitgliedstaaten Ð auf die Agenda PER, Institut für Europäische Politik, Berlin

* Ulla Kalbfleisch-Kottsieper, Ministerialdirigentin, Institut für Europäische Politik, Berlin. Arbeitskreis Europäische Integration • Tagungen integration Ð 1/2008 101 gesetzt und seine politische Umsetzung vor- angetrieben zu haben, macht zum einen den EU-Gesundheitspolitik im Praxis-Check: Die Europäische Versicherungskarte – ein best- ‚europäischen Mehrwert‘ gemeinschaftlichen practice Beispiel? Handelns deutlich. Zum anderen zeigt es aber Dr. Gottfried DIETZEL, e-health-Consultancy, auch, dass es nicht unbedingt traditioneller Bonn Kompetenzübertragung durch konstitutionelle Position des DGB zur Mitteilung der Kom- Akte bedarf, um europäischen Fortschritt zu mission über Gemeinschaftsmaßnahmen im erreichen. Bereich der Gesundheitsdienstleistungen Inge KAUFMANN, Deutscher Gewerkschafts- Europäische Gesundheitspolitik im sozial- bund, Berlin/Brüssel rechtlichen Kontext Gesundheitspolitische Interessen im Entwurf In seinem Einführungsvortrag wies Eberhard der Europäischen Verfassung Eichenhofer darauf hin, dass entgegen der in Dr. Martin BOROWSKY, Richter am Landge- richt Erfurt der Politik gerne verbreiteten Auffassung, So- zialpolitik sei im Wesentlichen immer noch EU-Gesundheitspolitik in der regionalen Ver- nationale Aufgabe, dies von der europäischen antwortung – ein Überblick zur europäischen Realität längst überholt sei. So sehe auch der Kompetenzlage im Bereich der Gesundheits- politik Entwurf des Vertrags über eine Verfassung Ulla KALBFLEISCH-KOTTSIEPER, Institut für Europa (VVE) sowohl eine offiziell „ge- für Europäische Politik, Berlin teilte Zuständigkeit“ (Artikel I-14 VVE) als auch eine sogenannte „Sozialklausel“ (Artikel Schlusspanel: Gute Genesung Europa Ð EU- III-117 VVE) vor. In Artikel III-136 VVE sei Gesundheitspolitik als Beispiel für „kompe- tenzlose“ europäische Eigendynamik? Cui sogar eine „kleine europäische Kompetenz“ bono? in Richtung auf die sozialen Sicherungssys- teme enthalten, gemäß der zu- und abwan- dernden Arbeitnehmern im europäischen Bin- Europäische Binnenmarkt ohne flankierende nenmarkt die ãZusammenrechnung aller nach europäische Sozialpolitik gar nicht denkbar. den verschiedenen innerstaatlichen Rechts- vorschriften zu berücksichtigenden Zeiten für Die offene Methode der Koordinierung den Erwerb und die Aufrechterhaltung des (OMK) habe sich seit den 1990er Jahren zu Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung einem gut funktionierenden Steuerungsinstru- der Leistungen“ garantiert werden solle. Als ment in der Gesundheits- und Sozialpolitik ‚Notbremse‘ für die Nationalstaaten – und entwickelt. Dabei sei, wie gelegentlich be- auch zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips hauptet wird, in den Mitgliedstaaten kein ‚race to the bottom‘ entstanden, sondern die- – sei vorgesehen gewesen, in Zweifelsfällen ser ‚Best Practice‘-Ansatz habe vielmehr in den Europäische Rat mit dem entsprechenden der Europäischen Union mit ihren transnatio- Entwurf eines Europäischen Gesetzes bezie- nalen Wirtschaftsräumen zu einem erhebli- hungsweise Rahmengesetzes zu befassen. Ei- chen Modernisierungsschub geführt. chenhofer ging ebenfalls davon aus, dass die europäische Integration, seit einem halben Europäische Gesundheitspolitik während der Jahrhundert ein wirtschaftliches Vorhaben, deutschen Ratspräsidentschaft inzwischen kaum merklich, jedoch ausweis- lich ihrer Rechtsordnung auch zu einem Die Sicht des Praktikers und Mitgestalters der sozialpolitischen Projekt geworden sei. Die deutschen Ratspräsidentschaft der Europä- Mitgliedstaaten der Europäischen Union seien ischen Union brachte Ortwin Schulte mit sei- „Zeugen und Beteiligte einer Europäisierung nem aktuellen Überblick zu den Interessen des sozialen Schutzes“. Im Übrigen sei der und Prioritäten der deutschen Regierung auf 102 integration Ð 1/2008 Arbeitskreis Europäische Integration • Tagungen dem Gebiet einer europäischen Gesundheits- standortes in Europa, durch die Förderung politik ein. Nach wie vor gehe die Bundes- von wettbewerbsfähigen Schlüsselbereichen regierung prinzipiell vom Vorrang einer wie zum Beispiel Gentherapie oder Zell- und nationalstaatlichen Gestaltung der Gesund- Gewebeersatz. Prävention betreffe sowohl heitssysteme aus, dennoch sei sie Ð auch ange- den Bereich der HIV/AIDS-Bekämpfung – sichts einer in den letzten Jahren zunehmend und hier vor allem die Einbeziehung einer ak- an Bedeutung gewinnenden europäischen Ge- tiven Zivilgesellschaft Ð als auch die Entwick- sundheitspolitik Ð zu einem ma§vollen Aus- lung einer gemeinschaftlichen Strategie der bau der Kompetenzgrundlagen in Artikel 152 Mitgliedstaaten gegenüber Krankheiten, die EGV bereit. Man setze sich für eine stärkere durch Fehlernährung und mangelnde Bewe- Verbindlichkeit der Zusammenarbeit im Rah- gung verursacht werden. In beiden Bereichen men der offenen Methode der Koordinierung steige die Zahl der Betroffenen ständig, wobei ein, sowie dafür, dass Mittel der Struktur- und mit diesen Erkrankungen nicht nur erhebliche Kohäsionsfonds stärker auch auf Gesundheits- Einschränkungen individueller Lebensquali- projekte fokussiert werden. tät, sondern nicht zuletzt auch erhebliche volkswirtschaftliche Kosten verbunden seien. Erstmals wurde eine Ratspräsidentschaft als Beim Zugang zu den Gesundheitsdienstleis- sogenannte Triopräsidentschaft1 konzipiert, tungen stehe unter anderem die sich verstär- was zwar eine intensivere Koordinationsar- kende grenzüberschreitende Nutzung von Ge- beit bedeutet, zugleich jedoch den Vorteil ei- sundheitsangeboten im Vordergrund Ð auch ner insgesamt nachhaltigeren Planung mit wenn derzeit nach Aussage von Schulte ledig- sich gebracht habe. Der Aktionsrahmen der lich ein Prozent der gesetzlich vorgeschriebe- deutschen Ratspräsidentschaft sei laut Schulte nen Krankenversicherungsleistungen Aus- zunächst einmal von den ohnehin anstehen- landsbehandlungen beträfen. Ziel sei es, einen den legislativen und nicht-legislativen Projek- gemeinschaftlichen Rechtsrahmen zu entwi- ten der Europäischen Kommission bestimmt ckeln, der zum einen Rechtssicherheit für die worden. Dies waren im ersten Halbjahr 2007 Patienten und die Leistungserbringer bietet, unter anderem Vorschläge für Entwürfe zu gleichzeitig die nationale Verantwortung für Verordnungen über Arzneimittel für neuartige die Sozialversicherung und ihre Steuerungsin- Therapien, Richtlinien zu Medizinprodukten, strumente wahrt und die Rechtsfortentwick- Entwicklung eines Gemeinschaftsrahmens für lung nicht dem Europäischen Gerichtshof sichere und hochwertige Gesundheitsdienste, überlässt. Die bereits 2006 vom Europäischen das Grünbuch zum Nichtraucherschutz und Rat beschlossenen Grundwerte „Universalität, vor allem das Zweite Aktionsprogramm der Zugang zu einer qualitativ guten Gesundheits- Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit versorgung, Gleichbehandlung und Solidari- (2007-2013) sowie die hierzu vorliegenden tät“ sollen dabei Berücksichtigung finden. Er- Änderungsvorschläge des Europäischen Par- neuter Regelungsbedarf sei auch deshalb lamentes. entstanden, weil das Europäische Parlament in der zurückliegenden Debatte um die Die eigenen inhaltlichen Akzente der deut- Dienstleistungsrichtlinie auf die Ausklamme- schen Präsidentschaft in der Gesundheits- rung der Gesundheitsdienstleistungen bestan- politik könnten mit den drei Leitbegriffen den hatte. Innovation, Prävention und Zugang zu Ge- sundheitsdienstleistungen zusammengefasst In Hinblick auf die Diskussion um die offene werden. Innovation meine hier vor allem die Methode der Koordinierung, die erst seit 2006 Sicherung eines zukunftsorientierten Pharma- auch für die Gesundheitspolitik verstärkt An-

1 Unter anderem wurde mit den in der Ratspräsidentschaft nachfolgenden Mitgliedstaaten Portugal und Slowe- nien ein gemeinsames 18-Monatsprogramm erstellt. Arbeitskreis Europäische Integration • Tagungen integration Ð 1/2008 103 wendung finde, nachdem sie zuvor schon in cher Versorgung gelte nur ãnach Ma§gabe der den Bereichen Rente, soziale Ausgrenzung einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Ge- und Beschäftigung eingesetzt worden war, pflogenheiten“ – dies könne kaum als wirk- forderte Schulte eine differenzierte Betrach- lich „europäischer Zugewinn“ bezeichnet tungsweise: Einigkeit bestehe hinsichtlich des werden. Im Gesamtentwurf des Verfassungs- Erfahrungsaustausches und ‚Best Practice‘. vertrages findet sich die Gesundheitspolitik Nicht unumstritten sei hingegen der Einsatz unter anderem in den Artikeln über die geteil- dieser Methode als indikatorengestütztes Mo- ten Zuständigkeiten (Artikel I-14 VVE), die nitoring der Reformprozesse in einzelnen soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, Mitgliedstaaten. Grundsätzlich abgelehnt den Gesundheitsschutz (Artikel I-94/95 VVE) wird seitens der Bundesregierung die juristi- sowie zur öffentlichen Gesundheit (Artikel sche Verbindlichkeit dieser Vorgehensweise. III-278 VVE) wieder, wobei noch unklar sei ob und wie der dritte Teil im Reformvertrag Europäische Gesundheitspolitik im Verfas- enthalten sein werde.2 Borowsky stellte auch sungsvertrag fest, dass die europarechtliche Realität in der Europäischen Union hinter den – zumindest Die primärrechtlichen Änderungen im Be- in Umfragen – geäußerten, politischen Erwar- reich der Gesundheitspolitik durch eine euro- tungen der Bürgerinnen und Bürger zurück- päische Verfassung skizzierte Martin Bo- bleibe. rowsky in seinem Beitrag. Als Koautor eines umfassenden Kommentars zur Charta der Europäische Gesundheitspolitik in der Pra- Grundrechte der Europäischen Union konnte xis: e-Health er aus der ganzen Fülle seiner Erfahrung be- richten und bestätigen, dass die Heterogenität Enttäuschte Erwartungen gab es bislang auch der gesundheitspolitischen Vorstellungen der bei einer scheinbar so simplen und notwendi- Mitgliedstaaten innerhalb der Europäischen gen Sache wie der europäischen Krankenver- Union doch erheblich seien, was durch die Er- sicherungskarte Ð dies wurde im Vortrag von weiterung der Europäischen Union um die Gottfried Dietzel deutlich, der sowohl als Mit- zehn mittel- und osteuropäischen Staaten arbeiter der Europäischen Kommission als noch verstärkt worden sei. Im Mandat des auch im Bundesgesundheitsministerium we- EU-Gipfels von Laeken für den ‚Konvent zur sentlich an der Entwicklung der rechtlichen Zukunft Europas‘ sei die Sozialpolitik – und und technischen Grundlagen zur Einführung damit auch die Gesundheitspolitik Ð kaum be- dieser Versicherungskarte als auch an der Im- achtet worden. Wenn man sich auf eine ãSpu- plementierung der sogenannten e-Health Poli- rensuche“ begebe, sei allerdings festzustellen, tik der Europäischen Union beteiligt war. Für dass die Grundrechtecharta eine Reihe von Dietzel stellt die elektronische Gesundheits- gesundheitspolitisch relevanten Artikeln ent- karte ein (vor allem auch national notwendi- halte, wobei das Spektrum vom Recht auf Le- ges) Instrument und Symbol zur Modernisie- ben und Unversehrtheit über besondere ar- rung des Gesundheitswesens dar. Genau aus beitsschutzrechtliche Formulierungen bis hin diesem Grund resultierten seiner Meinung zu Artikel II-95 VVE, der sich speziell mit nach auch die erheblichen Widerstände in den dem Gesundheitsschutz befasst, reicht. An der Reihen sowohl der Ärzteschaft als auch der Formulierung des Artikels II-95 VVE lasse Krankenkassen, die sich einerseits mit der sich die Ambivalenz der Mitgliedstaaten deut- Einführung der notwendigen neuen Technolo- lich ablesen, denn das „Gewähren“ eines Zu- gien überfordert sähen,3 andererseits zum Teil gangs zur Gesundheitsvorsorge und ärztli- jedoch auch kein Interesse an der hierdurch

2 Im Vertrag von Lissabon finden sich die wesentlichen Artikel zur Gesundheitspolitik in Art. 4 Abs. 2 k, Art. 9 und im Titel XIV (Art. 168) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. 104 integration Ð 1/2008 Arbeitskreis Europäische Integration • Tagungen transparenteren Abrechnungspraxis hätten. ropäische Sozialversicherungspolitik. Auch Volks- und betriebswirtschaftliche Vorteile wenn die Europäische Union global gesehen seien allerdings kaum von der Hand zu Modellcharakter hinsichtlich der in ihr insge- weisen, wenn man berücksichtige, dass 20 bis samt repräsentierten sozialstaatlichen Grund- 40 Prozent der Leistungen im Gesundheitswe- werte habe, so könne es jedoch nicht das Ziel sen Datenerfassungs- und Kommunikations- sein, ein einziges europäisches Sozialmodell dienste betreffen und durch effizientere Orga- zu entwickeln. Sinnvoll sei es nach Auffas- nisation ein Einsparpotenzial von 35 sung von Kaufmann aber Ð gerade im Bereich Milliarden Euro jährlich realisiert werden der Gesundheitspolitik Ð, die Methode des könnte. Alleine das e-Rezept reduziere die ‚Benchmarking‘ anzuwenden, Mindeststan- Bearbeitungskosten je Rezept von 0,34 auf dards – auch im Bereich der Beschäftigungs- 0,07 Euro, was bei rund 750 Millionen Ver- politik Ð zu definieren und durch Aktionspro- ordnungen jährlich eine Einsparung von 183 gramme und Leitlinien, Anregungen für eine Millionen Euro bedeuten würde. Für den im insgesamt zukunftsorientierte Gesundheitspo- Europäischen Binnenmarkt mobiler geworde- litik in Europa zu geben. nen europäischen Patienten wäre die e-tech- nisch transportable und damit grenzenlos ver- Europäische Gesundheitspolitik im ‚Praxis- fügbare Maximalinformation auf der test‘ elektronischen Gesundheitskarte eine opti- Die Teilnehmer der Paneldiskussion, Stefan male Verbesserung. Es bedürfe aber noch im- Schröder, Guido Dressel und Ralph Walther mer einer erheblichen Akzeptanzoffensive bei brachten die Sicht der sogenannten Stakehol- den Stakeholdern des Gesundheitssystems, der aus der Praxis in die Debatte ein. Schröder für die das traditionelle Gestrüpp veralteter legte besonderen Wert darauf, aus europä- Kommunikationsformen auch Gerüst tradier- ischer Sicht immer auch eine globale Verant- ter Gewohnheiten sei. wortung im Blick zu haben und gerade auch Europäische Gesundheitspolitik aus gewerk- bei der Gesundheitspolitik nicht eine ãnatio- schaftlicher Sicht nale Hurrapolitik“ zu betreiben. Deutschland liege zwar europaweit an zweiter Stelle was Um Verständnis für die gewerkschaftliche die Ausgaben für das Gesundheitssystem be- Position des Verbleibs der Gesundheitspolitik treffe, ein entsprechender Effizienzgewinn sei in möglichst umfassender nationaler Verant- aber deshalb nicht unbedingt zu verzeichnen. wortung warb Inge Kaufmann. Es gehe hier- Zumindest schlage sich dieser nicht in einer bei vor allem auch um politisch gewachsenes höheren Lebenserwartung beziehungsweise Vertrauen. Sie erläuterte nochmals detailliert auch Lebensqualität im Alter nieder. Einer – die Position der Gewerkschaften, die im Zu- nicht unumstrittenen Ð Untersuchung der sammenspiel mit dem Europäischen Parla- Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem ment zur Herausnahme des Gesundheitsberei- Jahr 2000 zufolge, liege Deutschland hin- ches aus der Dienstleistungsrichtlinie geführt sichtlich der Qualität seines Gesundheitssys- habe. Hinsichtlich der Position des Deutschen tems lediglich auf Platz 25 ( bei 191 unter- Gewerkschaftsbundes zur offenen Methode suchten Ländern). Walther stellte zum einen der Koordinierung stellte sie fest, dass sich die Arbeit der Patientenbetreuung, einer dieser Ansatz im Bereich des Sozialschutzes neuen Aufgabe der Verbraucherzentralen vor, durchaus bewährt habe. In der Europäischen wies aber auch darauf hin, dass die grenzüber- Union müsse eine aktive Sozialpolitik ver- schreitende Gesundheitsversorgung Ð jeden- stärkt gefördert werden, jedoch nicht eine eu- falls in seinem regionalen Verantwortungsbe-

3 Anfang Oktober 2007 haben die gesetzlichen Krankenkassen mitgeteilt, dass sie sich erst 2009 in der Lage sä- hen, eine elektronische Gesundheitskarte einzuführen. Arbeitskreis Europäische Integration • Tagungen integration Ð 1/2008 105 reich Ð noch keine wesentliche Rolle spiele. dienstleistungen aus der europäischen Dienst- Auch Dressel bestätigte, dass sich dieser Pos- leistungsrichtlinie auch künftig die alleinige ten in den Leistungen der Krankenkassen erst Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Aus- zu maximal einem Prozent der Gesamtausga- gestaltung und Finanzierung ihres nationalen ben niederschlage. Dennoch sei diese europä- Gesundheitssystems und deren Prinzipien zu ische Entwicklung schon sehr früh und inten- wahren sei, stellte Kalbfleisch-Kottsieper den- siv verfolgt worden. Dies gelte im Übrigen noch in diesem Hort des föderalen Beharrens auch für die gesamte Entwicklung in der „Ge- auch eine gewisse Bewegung fest. Im Be- sundheitswirtschaft“: Es gehe dabei ja nicht schluss der Ministerkonferenz hei§t es unter nur um die gute Versorgung der Versicherten anderem, man sähe auf europäischer Ebene in in Deutschland, sondern auch um ein konkur- Bezug auf Gesundheitsdienstleistungen ãeinen renzfähiges Angebot an gesundheitlicher In- Bedarf“ für die Schaffung von Rechtssicher- frastruktur für Interessenten/Patienten aus heit. Dies gelte sowohl für die Definition der dem Ausland. Gesundheitspolitik sei nicht zu- Gesundheitsdienstleistungen und für deren letzt heute auch Standortpolitik. Kostenerstattung. Für eine generelle, gemein- schaftliche Regelung zur grenzüberschreiten- Regionale Mitverantwortung für gute europä- den Gesundheitsversorgung bestehe nach An- ische Gesundheitspolitik sicht der Gesundheitsminister der Länder aber „kein aktueller Bedarf“. Dies gelte ebenso für In ihrem Überblick zur Kompetenzverteilung die Absicht der Europäischen Kommission, in der europäischen Gesundheitspolitik bezog für bestehende Netzwerke von Referenzzent- sich Ulla Kalbfleisch-Kottsieper zum Teil auf ren einen einheitlichen rechtlichen Rahmen zu das, was Borowsky bereits in seinem Vortrag schaffen. Dies werde Ð gemeinsam mit dem zum Verfassungsentwurf festgestellt hatte. Bund Ð abgelehnt, obwohl der dort stattfin- Zusätzlich verwies sie aber auf die interessan- dende Erfahrungsaustausch durchaus einen ten Stellungnahmen zu diesem Bereich im europäischen Mehrwert darstelle und im Ausschuss der Regionen, im Kongress der Wege bilateraler Verträge auch verstärkt ge- Regionen und Kommunen beim Europarat nutzt werden sollte. Der generelle gesund- und der Versammlung der Regionen Europas. heitspolitische Ansatz der Europäischen Kom- Besonders in der grenzüberschreitenden Zu- mission für eine stärkere Berücksichtigung sammenarbeit im Rahmen der Gesundheits- des Gesundheitsaspektes in allen sonstigen politik bewähre sich das, was die Regionen Politikbereichen finde Unterstützung. Es solle und Kommunen seit vielen Jahren in ver- aber hierfür eine Prioritätenliste erstellt und im schiedensten Politikbereichen an vertrauens- Sinne des Subsidiaritätsprinzips bei deren bildenden Ma§nahmen und konkreter Projekt- Umsetzung die bestehenden Einrichtungen der zusammenarbeit entwickelt hätten. Nach Mitgliedstaaten genutzt werden, um den Auf- Meinung von Kalbfleisch-Kottsieper wäre es bau unnötiger neuer Strukturen zu vermeiden. schade, wenn dem im Reformvertrag nicht Rechnung getragen werden würde.4 Fazit: EU-Gesundheitspolitik wird sich dyna- misieren, trotz Ð oder gerade auch wegen Ð Auch wenn die Gesundheitsministerkonferenz der ‚Verweigerung‘ von Kompetenztransfer der deutschen Länder5 nochmals auf ihre be- kannten Positionen hingewiesen habe, dass In der Schlussdiskussion wurde nochmals neben der Ausklammerung der Gesundheits- deutlich, dass ein Widerspruch zwischen dem

4 Im Vertrag von Lissabon sind die Neuformulierungen aus dem VVE zur grenzüberschreitenden Zusammenar- beit im Fall schwerwiegender Gesundheitsgefahren und zur Verbesserung der Komplementarität der Gesund- heitsdienste im Grenzgebiet weiter enthalten. 5 Sonderkonferenz der Gesundheitsminister im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, Stuttgart, 8. März 2007. 106 integration Ð 1/2008 Arbeitskreis Europäische Integration • Tagungen

Beharrungsvermögen nationaler Politikver- müssen. Die Umsetzung des Nichtraucher- antwortlicher und den eigentlichen Interessen schutzes und auch das Interesse und die Ak- bereits sehr viel europäischer denkender Pati- zeptanz, die andere europäische Initiativen, enten und auch vieler junger Ärzte besteht. zum Beispiel im Kampf gegen den Krebs und Patienten orientieren sich am Preis und an der Alkoholmissbrauch bei den europäischen Verfügbarkeit des Produktes ‚Gesundheit‘. Bürgern – und bei den Medien – gefunden ha- Junge Ärzte gehen – Erasmuserfahren – ins ben und finden werden, machen deutlich, dass europäische Ausland, wenn Arbeitsbedingun- die Europäische Union Politik auch ohne um- gen und Bezahlung in Deutschland nicht den fassende Kompetenzen durchsetzen kann, Erwartungen entsprechen. Selbst die Kran- kenkassen als einer der wichtigsten Akteure wenn sie die richtigen Themen mit nachhalti- im gesundheitspolitischen Machtpoker euro- gem politischen Druck konsequent benennt päisieren ihre Angebote. Wenn die deutsche und Schritt für Schritt umsetzt. Eine solche Europapolitik nicht nach dem Muster politics Politik nützt den Menschen in Europa und follows facts verfahren will, wird sie sich in sollte deshalb auch von den Regierungen der der europäischen Realität aktiver einbringen Mitgliedstaaten mitgetragen werden.

<Z[hWb_icki_d:[kjiY^bWdZkdZ _c[khef_iY^[dL[h]b[_Y^

8WdZ. @W^hXkY^Z[i<Z[hWb_icki(&&-

;khef_iY^[iP[djhkc\”h<Z[hWb_icki#

:_[WY^j[7ki]WX[Z[i@W^hXkY^X[^WdZ[bj_d*( ;_dp[bX[_jh][d ZWi Xh[_j[ If[ajhkc led

8_jj[X[ij[bb[dI_[X[_?^h[h8kY^^WdZbkd] eZ[hX[_DeceirJ[b[\ed&-(('%('&*#)-r

Wie viel Integration verträgt Europa?

Michael Weiner*

Das „Nein“ der französischen und der nieder- ländischen Bevölkerung zum europäischen Superstaat EU? Verfassungsvertrag war nicht rein innenpoli- Jahreskolloquium des Arbeitskreises tisch motiviert. Vielmehr bestand auch die Europäische Integration e.V. Sorge, von einem ‚EU-Superstaat‘ verein- mit Unterstützung der Europäischen nahmt zu werden. Juristisch gesehen ist die Kommission Europäische Union kein Staat und diese Sorge Berlin, 15./16. November 2007 somit unbegründet. Politisch ist diese Be- fürchtung jedoch nicht völlig von der Hand zu Begrüßung und Einführung weisen. Daher beschäftigte sich der Arbeits- Prof. Dr. Dr. h.c. Peter-Christian MÜLLER- kreis Europäische Integration e.V. im Rahmen GRAFF, Vorstandsvorsitzender des Arbeitskrei- seines Jahreskolloquiums aus politik-, rechts- ses Europäische Integration e.V.; Universität und wirtschaftswissenschaftlicher Sichtweise Heidelberg mit der Thematik einer vermeintlich überbor- Die Europäische Union im Spiegelbild der denden europäischen Dimension, die von den Medien Bürgerinnen und Bürgern als problematisch Norbert ROBERS, Redakteur, Nordwest-Zei- empfunden wird und somit zum Hindernis der tung, Oldenburg europäischen Integration geworden ist. Beschränkungen oder Wandel der nationalen Europa in der Wahrnehmung der Bürgerin- Handlungsspielräume in der EU am Beispiel nen und Bürger der Verkehrspolitik: Transformation Europä- ischer „Governance“ Die deutschen Medien sind in Brüssel sehr Dr. Dieter PLEHWE, Wissenschaftszentrum präsent: Von circa 1200 akkreditierten Journa- Berlin listen stammen 150 aus Deutschland, berich- Europäische Rechtsetzung – überbordend tete Norbert Robers. Darunter haben vor allem oder funktionsadäquat? die gro§en deutschen Tageszeitungen eigene Prof. Dr. Dr. h.c. Peter-Christian MÜLLER- Brüssel-Korrespondenten, während Regional- GRAFF, Universität Heidelberg zeitungen häufig gemeinsame ‚Pools‘ bilde- Kompetenzausweitung der EU durch externe ten, für die jeweils ein Korrespondent tätig sei. Einbindung Die Berichterstattung über die Europäische Prof. Dr. Michèle KNODT, Technische Univer- Union gestalte sich gegenwärtig eher schwie- sität Darmstadt rig, da die gro§en Themen fehlten, die es in der Zeit der Osterweiterung und des abgelehn- Beschränkungen oder Wandel nationaler ten Verfassungsvertrags noch gegeben habe. Handlungsspielräume in der EU? Der Wandel der parlamentarischen Funktionen Auch zur Schaffung einer europäischen Öf- Dr. Andreas MAURER, Stiftung Wissenschaft fentlichkeit trage die Presse momentan wenig und Politik, Berlin bei. Die Berichterstattung über Europa erfolge

* Michael Weiner, Praktikant in der Forschungsgruppe EU-Integration, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin. 108 integration Ð 1/2008 Arbeitskreis Europäische Integration • Tagungen noch immer aus einem stark nationalen Blick- winkel. Auch aus praktischen Beweggründen Steuerpolitik in der Europäischen Politik Prof. Dr. Clemens FUEST, Universität zu Köln werde meist über die nationalen Abgeordneten und Funktionsträger berichtet, da es so keine Solving the Common Pool Problem in the EU Sprachbarriere gebe und ein Interview auch Fiscal Constitution schneller zu führen sei. Oftmals werde auch Dr. Friedrich HEINEMANN, Zentrum für Euro- die Tragweite der auf europäischer Ebene ge- päische Wirtschaftsforschung, Mannheim fällten Entscheidungen für die eigene Leser- schaft nicht erkannt. Somit fehlten auf den Re- Europäische Wettbewerbspolitik am Scheide- gional- und Lokalseiten der Zeitungen die weg? Chancen und Risiken des more econo- Nachrichten zum Thema Europa Ð doch ge- mic approach rade diese Seiten würden am meisten gelesen. Prof. Dr. André SCHMIDT, European Business School, Oestrich-Winkel Daher müsse, damit das Thema Europäische Union kein Elitethema bleibt, die Bericht- erstattung aus Brüssel so „heruntergebrochen“ Verkehrspolitik sei klar geworden, dass man werden, dass die Folgen der europäischen Ent- zunächst einmal ein tieferes Verständnis für scheidungsprozesse für die Lebenswelt der das zu untersuchende Politikfeld entwickeln Leserinnen und Leser nachvollziehbar und so- müsse, um überhaupt alle relevante Rechtsset- mit interessant werden. zung zu finden. Zusammenfassend sei zu den Ergebnissen zu sagen, dass die Europäisie- Europäische Rechtssetzung und mitglied- rung zweifelsohne und in zunehmendem staatliche Souveränität Ma§e die nationale Autonomie bei der Rechtssetzung und die der beteiligten Akteure In seinem Vortrag berichtete Dieter Plehwe begrenze. Zu warnen sei aber vor allgemeinen von einem Forschungsprojekt, das die Be- und vereinheitlichenden Äußerungen, die schränkung nationaler Handlungsspielräume schnell zur Über- aber auch zur Unterschät- durch europäische Rechtssetzung im Bereich zung der Bedeutung europäischen Rechtes der Verkehrspolitik untersuchte. Zu einer sol- führen könnten. chen Beschränkung seien einige Behauptun- gen im Umlauf, zum Beispiel, dass 80 Prozent Anhand eines Fallbeispiels thematisierte des deutschen Rechts europäischen Ursprungs Peter-Christian Müller-Graff die Frage der sei. Ansatzpunkt der vorgestellten Studie war Qualität europäischer Rechtssetzung und das Fehlen beziehungsweise die Überarbei- stellte zunächst fest, dass eine neue Form des tungsbedürftigkeit der quantitativen Erfas- Sekundärrechts entstünde. Die ‚Geschäfts- sung und wissenschaftlichen Berechnung, um praktiken Richtlinie‘ (2005/29/EG),1 die zum das tatsächliche Verhältnis von europäischer Zweck der Erhöhung des Verbraucherschutz- und nationaler Gesetzgebung zu beurteilen. niveaus das Verbot unerlaubter Geschäfts- Es stelle sich nämlich zum Beispiel die Frage, praktiken zum Ziel habe, bediene sich einer was überhaupt als Gesetz zähle, welche Art abstrakten und sehr umfangreichen Sprache, von Gesetzen ins Verhältnis gesetzt werden die rechtsaktspezifische Definitionen schaffe. könnten und ob alle Gesetze gleich zu ge- Das erschwere die Übernahme in nationales wichten seien. Darüber hinaus sei zu hinter- Recht und die Rechtsanwendung. Die Kritik fragen, ob ein quantitativer Anstieg europä- am europäischen Rechtssystem sei vielfältig. ischer Gesetzgebung auch zwangsläufig einen Unter anderem führe eine Zersplitterung euro- gro§en supranationalen Einfluss bedeute. In päischen Rechts, zum Beispiel durch mehrere der empirischen Arbeit für diese Studie zur parallele Richtlinien, auch zur Zersplitterung

1 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Ge- schäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern, in: Amtsblatt der EU, Nr. L 149 vom 11. Juni 2005, S. 22-39. Arbeitskreis Europäische Integration • Tagungen integration Ð 1/2008 109 nationalen Rechts. Au§erdem bedingten viele der Trend vor allem zu einer besseren Zusam- Definitionskataloge innerhalb der Rechtsakte menarbeit mit Wirtschaftsakteuren und der eine Künstlichkeit der Begriffsbildung, die al- Einbindung von Vertretern der Zivilgesell- lerdings bisweilen unvermeidlich sei, da es schaft analog zur Einbindungsstrategie der sonst zu Begriffsvermengung käme. Ange- Welthandelsorganisation. Letztendlich werde sichts dieser Kritikpunkte habe die Kommis- die Tendenz zur Gemeinschaftsförderung in sion drei Aufgaben. Sie müsse zum einen su- der Stärkung der Rolle der Kommission deut- pranationales Recht schaffen, das das lich. Funktionieren des Binnenmarktes sichert. Des Weiteren müsse sie transnational verständli- Die schleichende und sachwidrige Zentrali- ches und zwischenstaatlich sinnfälliges Recht sierung der Regelungskompetenzen in Brüs- schaffen. Letztendlich solle man keine zu ho- sel sei, so Andreas Maurer, ein viel bemühter hen Erwartungen an eine europäische Rechts- Vorwurf. Wäre dies wirklich der Fall, müsse ordnung haben, denn zwangsläufig bleibe eine Bedeutungszunahme des Europäischen Vertrautes auf der Strecke. Allgemein präge Parlaments erkennbar sein. Tatsächlich sei Gemeinschaftsrecht einen neuen europä- eine kontinuierliche Zunahme der Beteiligung ischen Normstil, der allerdings funktionsad- des Europäischen Parlaments an Entscheidun- äquat sein müsse. gen zu verzeichnen. Ohne die Gemeinsame Agrarpolitik, bei der das Europäische Parla- Vergemeinschaftung durch Internationale Or- ment keine Mitsprache habe, betrage die Be- ganisationen und die Rolle der Parlamente teiligungsquote an Rechtsakten 90 Prozent. Die Folgen dieses Funktionswandels seien je- Michèle Knodt stellte die Ergebnisse eines doch vielfältig. So sei eine Straffung und In- Forschungsprojektes vor, in dessen Rahmen formalisierung der Entscheidungsprozesse zu sie die Auswirkungen, die der internationale beobachten Ð Effizienz komme vor Transpa- Kontext (am Fallbeispiel der Welthandelsor- ganisation) auf das europäische Regieren hat, renz. Auch sei die Auswahl der Kommissi- die Mechanismen die diese bewirken und wie onsmitglieder und die Haushaltskompetenz sie zu bewerten sind, untersucht hatte. Zu Be- ein eigenständiges Element sanktionsmächti- ginn stellte Knodt die Hypothesen auf, dass ger Vorabkontrolle geworden. Der Funktions- die Einbindung der Europäischen Union in wandel äußere sich auch immer mehr durch das Welthandelsorganisations-System zu ei- die Bildung von Gro§koalitionen im Parla- nem institutionellen Wandel führe, was eine ment. Dies stünde dem traditionellen Politik- Aufwertung der Gemeinschaft und die Zen- verständnis der Bürgerinnen und Bürger von tralisierung des politischen Systems der Euro- ‚Rechts‘ und ‚Links‘ entgegen. Die Politikge- päischen Union bedeute. Im Primärrecht sei staltungsfunktion der nationalen Parlamente eine Zunahme von exklusiven Kompetenzen hingegen werde durch zunehmende Gewal- der Union gegenüber geteilten Kompetenzen tenverschränkung und die Exekutivlastigkeit mit den Mitgliedstaaten erkennbar. Im Sekun- der europäischen Ebene in Frage gestellt. Die därrecht werde durch die externe Einbindung Kontrollfunktion könne häufig nur über den einerseits neues Recht geschaffen, anderer- Umweg der europäischen Ebene wahrgenom- seits bestehendes Recht den Erfordernissen men werden. Des Weiteren bescherten Kom- der externen Ebene angepasst. Durch Anpas- petenzkonflikte, zum Beispiel zwischen Au- sungsdruck und durch Lernprozesse sei in der §en- und Europaausschuss im Deutschen formalen Organisation der Union ein Wandel Bundestag, der nationalen Exekutive größeren in Richtung Vergemeinschaftung zu erken- Handlungsspielraum. Somit ergäben sich auf nen. Auch in den Arbeitsroutinen und den beiden Ebenen Lücken in der parlamentari- Konzepten legitimer Ordnung der Union schen Arbeit, die unter anderem zu größerer seien Veränderungen erkennbar. Hier gehe Bürgerferne führten. 110 integration Ð 1/2008 Arbeitskreis Europäische Integration • Tagungen

Regulierung im Binnenmarkt Europäischen Union entstünde. Die Kosten würden von allen getragen, während der Nut- Über die Reformperspektive einer gemeinsa- zen über Politiken wie die Gemeinsame men, konsolidierten Bemessungsgrundlage Agrarpolitik oder die Kohäsionspolitik lokal zur Unternehmensbesteuerung in der Steuer- konzentriert werde. Dadurch entstünde für politik der Europäischen Union berichtete Akteure der hohe Anreiz, bei den Verhand- Clemens Fuest. Die Unternehmensbesteue- lungen zum Finanzrahmen nicht an das ‚große rung sei eigentlich Sache der Mitgliedstaaten, Ganze‘ zu denken, sondern für die eigene Re- doch dürfe sie wiederum nicht die Grundfrei- gion etwas herausholen zu wollen. Dabei be- heiten des Binnenmarktes gefährden. Grenz- fänden sich die Akteure in einem überschreitende Vorgänge dürften daher nicht Gefangenendilemma zu Lasten der Gesamt- diskriminiert werden. Momentan gebe es zur heit der Steuerzahler. Dieses Problem ver- Unternehmensbesteuerung 27 unterschiedli- schlimmere sich zudem, je höher die Anzahl che, nationale Steuersysteme. Dies führe zu der Verhandlungsparteien sei. Es sei weder hohen administrativen Kosten für grenzüber- durch eine EU-Steuer noch durch Mehrheits- schreitend tätige Unternehmen. Außerdem be- entscheidungen im Rat oder eine Verlagerung stünde der Anreiz zur Verlagerung von Buch- des Verfahrens ins Europäische Parlament zu gewinnen in Niedrigsteuerländer. Nationale lösen. Andere Lösungen wie ein mit großen Ma§nahmen zum Schutz des nationalen Steu- Kompetenzen ausgestatteter europäischer Fi- eraufkommens stünden dabei häufig in Kon- nanzminister seien unrealistisch. Erfolg ver- flikt mit den Beschränkungs- und Diskrimi- sprechend und gleichzeitig realistisch sei nierungsverboten im Binnenmarkt. Momentan hingegen die Zweiteilung des europäischen würden zum Zweck der Unternehmensbesteu- Budgets. In einen Topf 1 kämen die Mittel für erung die Gewinne für Mutter- und Tochter- die Gemeinsame Agrarpolitik und die Kohäsi- unternehmen in jedem Mitgliedstaat getrennt onspolitik, in Topf 2 die Mittel für andere öf- ermittelt. Dies führe zu großem Aufwand, da fentliche Güter. Durch einen generellen grenzüberschreitende Transaktionen im prak- Korrekturmechanismus stiegen die Mittel in tisch gleichen Unternehmen kompliziert abge- Topf 2 relativ zu denen in Topf 1, weshalb die wickelt werden müssen. Die Reformidee sehe Common-Pool-Problematik gleichzeitig an die Ermittlung eines europaweiten, konsoli- Gewicht verlöre. dierten steuerpflichtigen Gewinns vor, der dann nach Indikatoren der realwirtschaftli- Die Rolle industrieökonomischer Modelle in chen Tätigkeit auf die Mitgliedstaaten der Eu- der Wettbewerbspolitik ropäischen Union zur Versteuerung aufzutei- len sei. Eine Angleichung der Steuersätze sei André Schmidt legte in seinem Vortrag die dabei nicht vorgesehen. Die ökonomischen Chancen und Risiken des ‚More Economic Vorteile eines solchen Systems hielten sich je- Approach‘ dar. Diesem Ansatz zufolge sollten doch in Grenzen, sodass Fuest dem Reform- die Entscheidungen der Europäischen Kom- ansatz wenig Chancen auf Verwirklichung mission auf der Basis industrieökonomischer einräumte. Modelle und daraus abgeleiteter Simulations- studien getroffen werden. Mit dem Ziel der Das Dilemma kollektiver Entscheidungsfin- Konsumentenwohlfahrt solle dies vor allem dung im Rahmen von Einzelfallentscheidungen mit einer Ausrichtung dieser Entscheidungen an Einen Weg aus dem ‚Common-Pool-Pro- deren ökonomischen Konsequenzen gesche- blem‘ versuchte Friedrich Heinemann aufzu- hen. Dadurch würde eine hohe Treffsicherheit zeigen. Das Common-Pool-Problem äußere gewährleistet und Fehler minimiert werden. sich durch die asymmetrische Kosten-Nutzen- Der Ansatz berge allerdings auch Risiken. Da Verteilung, die durch den Finanzrahmen der Einzelfallentscheidungen einen gewissen Er- Arbeitskreis Europäische Integration • Tagungen integration Ð 1/2008 111 messensspielraum voraussetzten, seien die Fazit Einflussmöglichkeiten der jeweiligen Lobby höher und die Rechtssicherheit geringer. Au- Die auf dem Jahreskolloquium vorgestellten §erdem sei eine Vielzahl von Einzelentschei- Projekte und diskutierten Fragen aus ver- dungen mit steigendem Verfahrensaufwand schiedenen Bereichen der Sozialwissenschaf- und höheren Kosten verbunden. Zusätzlich er- ten lassen eine zweigeteilte Bilanz der Ent- gäben sich Probleme bei der Auswahl der ein- wicklung der Europäischen Union zu. zusetzenden ökonomischen Modelle. Als al- Einerseits konnte gezeigt werden, dass beste- ternatives Leitbild schlug Schmidt den ‚More hende Behauptungen, die Europäische Union Order Economic Approach‘ vor. Dabei solle habe sich widerrechtlich zu einem Superstaat ökonomische Theorie zu sinnvollen Regeln entwickelt, nicht der Realität entsprechen. führen, und an den Voraussetzungen, nicht Dennoch wurde auch deutlich, dass die Au- den Ergebnissen des Wettbewerbs orientiert ßenwahrnehmung der Europäischen Union sein. Die individuellen Handlungs- und Ent- verbesserungsbedürftig ist. Zudem entfernt schließungsfreiheiten könnten so gesichert sich das Europäische Parlament von den euro- werden. päischen Bürgerinnen und Bürgern.

:_[[khef_iY^[?dj[]hWj_edWki Z[kjiY^#\hWdpi_iY^[hF[hif[aj_l[

:Wiaecc[dZ[;khefW :[kjiY^[kdZ\hWdpi_iY^[8[jhWY^jkd][d pkhPkakd\jZ[h;khef_iY^[dKd_ed >[hWki][][X[dledCWhj_dAeefcWddkdZ Ij[f^WdCWhj[di (&&.")..I$"XheiY^$"*/"ÅÐ"?I8D/-.#)#.)(/#)(,+#- :=7F#IY^h_\j[dpkh?dj[hdWj_edWb[dFeb_j_a

7ki7dbWiiZ[i+&$@W^h[ijW][iZ[hHc_iY^[dL[hjh# ][l[hX_dZ[d((Z[kjiY^[kdZ\hWdpi_iY^[7kjeh[d [_d[8_bWdpZ[i[khef_iY^[d;_d_]kd]ifhep[ii[ic_j [_d[h7dWboi[Z[ha”d\j_][d>[hWki\ehZ[hkd][d_d ;khefW$D[X[d[_d[c{X[hXb_Ya”X[hZ[dIjWdZZ[h ?dj[]hWj_edb_[\[hjZ[h8WdZ[_d[d;_dXb_Ya_dZ_[Z[kj# iY^[d kdZ \hWdpi_iY^[d MW^hd[^ckd][d Z[h IY^m[hfkdaj[[khef_iY^[hFeb_j_a$

8_jj[X[ij[bb[dI_[X[_?^h[h8kY^^WdZbkd] eZ[hX[_DeceirJ[b[\ed&-(('%('&*#)-r

Tagungsplanung des AEI für das Jahr 2008

Das Präsidium des Arbeitskreises Europäische Integration hat auf seiner Sitzung am 15. November 2007 beschlossen, die nachstehend aufgeführten Tagungsthemen für das Jahres- programm 2008 vorzusehen. Mitglieder erhalten wie bisher rechtzeitig vor jeder Tagung eine Mitteilung mit Programm und können an den Veranstaltungen zu ermäßigten Konditio- nen teilnehmen. Interessierte Nichtmitglieder können sich bei der Geschäftsstelle des AEI, per E-Mail oder im Internet über einzelne Tagungen informieren. Adresse der Geschäftsstelle: c/o SWP, Ludwigkirchplatz 3-4, 10719 Berlin; Tel.: (030) 88 920 186, Fax: (030) 88 920 196, E-Mail: [email protected]; im Internet: http://www.aei-ecsa.de Kommunale Aufgaben im Spannungsfeld zwischen Gemeinwohl und Binnen- markt Datum: 29. Februar/1. März 2008 Ort: Stuttgart

Die neue EU-Wettbewerbspolitik. Auswirkungen und Dimensionen der neu geregelten europaweiten Kartellkontrolle Datum: 7./8. März 2008 Ort: Erlangen

Ökonomik und politische Ökonomie staatlicher Reformen in Europa Datum: 10./11. April 2008 Ort: Freiburg i.B.

Die neue Grundrechteagentur der EU: Erwartungen und Herausforderungen Datum: April 2008 Ort: Tutzing

Die gemischten Abkommen der EG. Recht und Realität in der Analyse Datum: Mai/Juni 2008 Ort: Berlin

Neues Gesellschaftsrecht in der Europäischen Gemeinschaft Datum: Juni 2008 Ort: Würzburg

Germany and the Europeanisation of European Immigration Policy Datum: Juni/Juli 2008 Ort: Berlin

Europa und die Demokratie (10. Drei-Länder-Tagung) Datum: 17./18. Oktober 2008 Ort: Luzern/Schweiz

Jahreskolloquium Datum: November 2008 Ort: Heidelberg ABSTRACTS

Andreas Hofmann and Wolfgang Wessels The Treaty of Lisbon Ð a Stable and Conclusive Answer to Key Constitutional Ques- tions? The Treaty of Lisbon presents itself as the answer to three key constitutional questions: How should the division of competencies between the Union and the member states best be defined? How can actors be positioned and procedures be structured to increase the Union’s capacity to act? What provisions will make the EU system ‚more democratic‘ and thereby increase its legit- imacy? In answering these questions the member states are faced with a number of structural di- lemmas. A series of changes to the existing provisions is expected to lead to increased efficiency as well as more democratic participation and controls within individual institutions and proce- dures. It is uncertain, however, if these effects will prove mutually reinforcing or if, on the con- trary, they will turn out to be counterproductive in combination. The underlying constitutional problems and questions are not conclusively addressed by the Lisbon Treaty.

Daniela Kietz and Andreas Maurer Review and Future of the Presidency within the Council System of the European Union The German EU-Presidency has been praised by European capitals, media and EU institutions for its successful term in office. Despite difficult conditions and complex expectations, EU member states and EU institutions agreed under the German aegis not only upon key questions of integration (particularly within the process of treaty reform), but also several strategic and long-term projects (for example in energy and climate policy) as well as upon a multitude of leg- islative projects. Considering this diverse spectrum of tasks demanded of the Presidency, the German Presidency provides a good case not only for analysing its specific performance but also for examining the factors which generally enable EU-Presidencies to work successfully. Having done so, this article tries to relate its findings to the reforms of the Council system foreseen in the Lisbon Treaty and draws conclusions about their likely impact on the future organisation of Council Presidencies. Will the (elected) President of the European Council be able to play a strategic role in giving impetus to the EU’s political agenda and in brokering compromises in the same way as the Heads of State and Government who act as EU Council Presidents today?

Heinrich Schneider The European Union, Churches and Religions: Reflections on a Controversy The article in the European constitution concerning churches, religious associations or commu- nities and philosophical and non-confessional organisations as well as the inclusion of ref- erences to religion in the constitution’s preamble gave rise to notable controversy at the time when the document was being negotiated. The debate focused not only on the requests of the Christian churches and the assertion of national religious models at the European level. The au- thor considers the various options brought into play together with their at times unspoken impli- cations and draws a conclusion. That the ‘Church clause’ remained intact in the Treaty of Lisbon is by no means an automatic success for its advocates; in this respect there are likely to be very few treaty changes in the near future. 114 integration Ð 1/2008 Abstracts

Andreas Wimmel The Democratic Legitimacy of European Governance: a Labyrinth With No Exit? In recent years, the question of the legitimacy of European governance and the repercussions it has on democratic procedures in EU member states has led to an extraordinarily intricate and controversial debate of which one struggles to maintain an overview. Indeed, it can seem as if one is trapped in a labyrinth with no exit. This article makes an effort to disentangle the inter- twined strands of theory and to present an analytical differentiation that sheds some light on this complex maze. Taking the available categorisations into consideration, a metatheoretical frame- work is developed which differentiates between particular concepts, objects, variables and standards of democratic legitimacy in the European multi-level system. The result is a heuristic which should enable a more precise analysis and evaluation of democracy and legitimacy criti- cisms with which the European Union is increasingly confronted.

Klaus Brummer Competition Over Human Rights in Europe: the EU and the Council of Europe How can human rights be protected effectively and efficiently in the European multi-level sys- tem? This question is particularly relevant at the European level where a range of actors coexists in a non-hierarchical system. The failure of actors to join forces can lead to inconsistent stand- ards in the protection of human rights or to a duplication of efforts on the one hand and gaps in the system on the other. The article discusses the problems surrounding the interaction between the European Union and the Council of Europe. In a series of agreements the two have commit- ted themselves to cooperative action on the protection of human rights. The founding of the EU Agency for Fundamental Rights and the investigation into the CIA affair, however, demonstrate the continuing problems of coordination. The task remains to regulate the cooperation between EU and Council of Europe on the protection of human rights in Europe as much as necessary while allowing as much flexibility as possible.

Manfred Grund Ukraine After the 2007 Parliamentary Elections: New Prospects for Integration? The Orange Revolution of 2004 gave rise to great hopes of a democratic revival and a swift inte- gration of Ukraine into Euro-Atlantic structures. What followed was starkly sobering: a long- term political crisis with three general elections and four changes of government within less than three years. The election of September 2007 also failed to bring an end to the crises of the pre- vious years. This, however, should not detract from the transformation processes which have taken place in Ukraine in the meantime. The internal logic behind the transformation which has gripped Ukraine since the Orange Revolution is becoming increasingly Western-oriented. We should not expect, however, any immediate prospects for accession on the part of the EU. None- theless, the door to the EU will, in principle, also be open to Ukraine. One condition would be that Ukraine overcomes its long-term political crisis and finds its way to a stable reform policy.

Übersetzungen aus dem Deutschen von Matthew Beavers.