69. Jahrgang, 40–42/2019, 30. September 2019

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Deutsche Kolonialgeschichte

Caroline Authaler Sebastian Conrad DAS VÖLKERRECHTLICHE RÜCKKEHR DES ENDE DES DEUTSCHEN VERDRÄNGTEN? KOLONIALREICHS DIE ERINNERUNG AN DEN KOLONIALISMUS Ulrike Schaper IN DEUTSCHLAND 1919–2019 DEUTSCHE KOLONIALGESCHICHTE Albert Gouaffo · Richard Tsogang Fossi POSTKOLONIAL SCHREIBEN SPUREN UND ERINNERUNGEN HUNDERT JAHRE NACH DER Rebekka Habermas DEUTSCHEN KOLONIALZEIT RESTITUTIONSDEBATTEN, IN KOLONIALE APHASIE UND DIE FRAGE, Marianne Bechhaus-Gerst WAS EUROPA AUSMACHT KOLONIALE SPUREN IM STÄDTISCHEN RAUM Jürgen Zimmerer DEUTSCHLAND, NAMIBIA UND DER VÖLKERMORD AN HERERO UND NAMA

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Deutsche Kolonialgeschichte APuZ 40–42/2019

CAROLINE AUTHALER SEBASTIAN CONRAD DAS VÖLKERRECHTLICHE ENDE RÜCKKEHR DES VERDRÄNGTEN? DES DEUTSCHEN KOLONIALREICHS DIE ERINNERUNG AN DEN KOLONIALISMUS Das formale Ende des deutschen Kolonialismus IN DEUTSCHLAND 1919–2019 rief seinerzeit gegensätzliche Reaktionen hervor. Lange spielte die deutsche Kolonialvergangen­ Die Debatten wurden lokal und transnational heit im öffentlichen Erinnerungshaushalt kaum geführt und waren der Ausgangspunkt hetero­ eine Rolle. Wie lässt sich das aktuelle Interesse gener Erinnerungen, die in Teilen bis heute erklären? Wie kommt es, dass mit größerer prägend sind. zeitlicher Distanz die Beschäftigung mit diesem Seite 04–10 Kapitel der deutschen Geschichte zunimmt? Seite 28–33

ULRIKE SCHAPER DEUTSCHE KOLONIALGESCHICHTE ALBERT GOUAFFO · RICHARD TSOGANG FOSSI POST ­KOLONIAL SCHREIBEN SPUREN UND ERINNERUNGEN HUNDERT Postkoloniale Ansätze fordern eine räumliche, JAHRE NACH DER DEUTSCHEN KOLONIALZEIT zeitliche und thematische Erweiterung der IN KAMERUN Kolonialgeschichte im engeren Sinn. In dem Wie präsent ist die Erinnerung an die deutsche Beitrag wird an fünf Beispielen gezeigt, wie Kolonialzeit im heutigen Kamerun, und wie wird sich das auf die deutsche Kolonialgeschichte sie verhandelt? Aufschluss geben zum einen die übertragen lässt. deutsche Kolonialarchitektur und zum anderen Seite 11–16 die geteilte deutsch-kamerunische Geschichte als Erinnerungstopos in der Literatur. Seite 34–39 REBEKKA HABERMAS RESTITUTIONSDEBATTEN, KOLONIALE APHASIE UND DIE FRAGE, WAS EUROPA AUSMACHT MARIANNE BECHHAUS-GERST In der Restitutionsdebatte, in deren Mittelpunkt KOLONIALE SPUREN IM STÄDTISCHEN RAUM die Frage steht, wie mit den Ethnographica, Der deutsche Kolonialismus hat tiefe Spuren in Kunstwerken und Naturalia umgegangen den städtischen Räumen hinterlassen. Denkmä­ werden soll, die während der Kolonialzeit nach ler, Straßennamen, Gebäude und Institutionen Europa gebracht wurden, geht es auch um eine sind Teil der kolonialen Topografie der Städte. Neubewertung europäischer Geschichte. Die Frage des Umgangs mit diesen Spuren wird Seite 17–22 zurzeit vielerorts kontrovers diskutiert. Seite 40–45

JÜRGEN ZIMMERER DEUTSCHLAND, NAMIBIA UND DER VÖLKERMORD AN DEN HERERO UND NAMA Seit 2015 verhandeln Deutschland und Namibia über den Umgang mit dem Völkermord an Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 in Deutsch- Südwestafrika. Fragen der Teilhabe, Repräsentati­ on und Reparation brachten die Gespräche immer wieder an den Rand des Scheiterns. Seite 23–27 EDITORIAL

„So lange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik“, hielt Otto von Bismarck 1881 kategorisch fest. Drei Jahre später stieg das Deutsche Reich dann doch in den „Scramble for Africa“ ein und erwarb das bald drittgrößte Kolonialreich nach dem britischen und dem französischen, mit Territorien in West-, Südwest- und Ostafrika sowie in Nordostchina und im Pazifik. Nach drei Jahrzehnten, in denen Deutschland den kolonialen Praktiken der anderen Imperialmächte in nichts nachstand, endete die deutsche Mitgliedschaft im Kreis der Weltreiche ähnlich rasch wie sie begann: Im Laufe des Ersten Weltkrieges wurden die deutschen Kolonien von den Alliierten erobert, und mit dem Ver­ sailler Vertrag musste Deutschland sie 1919 abtreten. Das Ende des deutschen Kolonialreichs war jedoch in erster Linie ein forma­ les. Die Fremdherrschaft in den ehemaligen Kolonien, die der frisch gegründete Völkerbund als Mandatsgebiete anderen europäischen und aufstrebenden Impe­ rialmächten überantwortete, setzte sich fort, und das Deutsche Reich betrieb weiterhin Kolonialpolitik und unterhielt asymmetrische Handelsbeziehungen zu seinen ehemaligen Überseegebieten. Kolonial geprägte Denk- und Wahrneh­ mungsmuster überdauerten auch jenseits kolonialrevisionistischer Diskurse in der deutschen Gesellschaft und wirken zum Teil bis heute nach. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die deutsche Kolonialgeschichte im öffent­ lichen Erinnerungshaushalt lange von der NS-Zeit überlagert. Mit der immer stärker werdenden globalen Verflechtung und der Etablierung postkolonialer Perspektiven in den Wissenschaften hat die kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit auch in Deutschland zugenommen. Derzeit erfolgt sie im Zuge der Debatte um die Rückgabe von Kunstobjekten und menschlichen Überresten aus den ehemaligen Kolonien in bislang ungekannter Intensität. Auch hundert Jahre „danach“ ist die deutsche Kolonialgeschichte keineswegs abgeschlossen.

Anne-Sophie Friedel

03 APuZ 40–42/2019

DAS VÖLKERRECHTLICHE ENDE DES DEUTSCHEN KOLONIALREICHS Globale Neuordnung und transnationale Debatten in den 1920er Jahren und ihre Nachwirkungen

Caroline Authaler

Am 28. Juni 1919 unterzeichnete Deutsch­ Mandatsverwaltungen zu kritisieren. So produ­ land den Versailler Friedensvertrag und erklär­ zierten viele Akteure – als Strategie in ihrem je­ te dadurch wider Willen den Verzicht auf sein weiligen Kontext – Erinnerungen an die Zeit des überseeisches Kolonialreich. Militärisch hatte deutschen Kolonialreichs, die teilweise bis heute Deutschland die Kolonien bereits während des prägend sind. Ersten Weltkrieges an die Alliierten verloren. In der deutschen Geschichtsschreibung wur­ Der Friedensvertrag schrieb die Abtretung der den Reaktionen auf das Ende des Kolonialreichs Kolonien völkerrechtsgültig fest und begründe­ meist als nationale Debatten und Fantasien un­ te dies ethisch mit „Deutschlands Versagen auf tersucht. 02 Die Reaktionen und Debatten trans­ dem Gebiete der kolonialen Zivilisation“. 01 Die­ national zu fassen, ist jedoch unerlässlich, weil ser Vorwurf gründete vor allem auf der Gewalt, wichtige Akteure, die die Prozesse geprägt ha­ die deutsche koloniale Akteure durch Kriege ben, sonst übersehen werden. Die Akteure nah­ und Zwangsarbeit gegen Ein­wohner*innen­ der men zudem transnational Bezug aufeinander und Kolonien verübt hatten. Als Beweis dienten ins­ diskutierten vor dem Hintergrund des neuen in­ besondere Stimmen von Bewohner*­innen der ternationalen Systems, das auf den Pariser Frie­ Kolonien, die Großbritannien im „Blaubuch“ denskonferenzen durch die Gründung des Völ­ von 1918 dokumentiert hatte. Ab 1919 gehör­ kerbunds institutionalisiert wurde. Wenngleich ten somit deutsche Kolonialverwaltungen mit sie keine offiziellen Vertreter*­innen zu den Frie­ entsprechenden Polizei- und Militärstrukturen denskonferenzen entsenden durften, diskutierten in Afrika und Asien der Vergangenheit an. Der auch die Gesellschaften der ehemaligen Kolonien deutsche Kolonialismus war damit aber nicht über die Folgen des Endes der deutschen Koloni­ beendet. Staatliche Kolonialpolitik, koloniales alverwaltungen und versuchten, Einfluss auf die Denken und koloniale Wirtschaftsbeziehungen Verhandlungen zu nehmen. Für die deutsche und zwischen Deutschland und den kolonial bean­ europäische Geschichtswissenschaft ist es essen­ spruchten Gebieten dauerten an. ziell, Kolonialgeschichte multiperspektivisch und Das Ende der deutschen Kolonialverwaltun­ in ihren Verflechtungen und Wechselwirkungen gen rief auf den Pariser Friedenskonferenzen, in zu untersuchen, wenn sie versucht, ihren Euro­ Deutschland sowie in den ehemaligen Koloni­ zentrismus zu überwinden. 03 Auf der politischen en gegensätzliche Reaktionen hervor. Durch de­ Ebene wiederum ist dies die Voraussetzung für ren Analyse lassen sich global geführte Debatten eine gemeinsame Aufarbeitung der Kolonialge­ über Kolonialismus rekonstruieren, die gleich­ schichte, zusammen mit den Gesellschaften der zeitig die Anfänge der heterogenen Erinnerungen ehemaligen Kolonien. an das deutsche Kolonialreich widerspiegeln. In Im Folgenden werde ich die Reaktionen auf der europäischen Debatte wurden Stimmen aus das Ende des deutschen Kolonialreichs aus den den Kolonien instrumentalisiert, um die eigenen Perspektiven verschiedener Akteure beleuchten, Narrative zu untermauern. Eliten in den ehemali­ die sich in Deutschland, in den Gebieten der ehe­ gen Kolonien wiederum verwendeten Erinnerun­ maligen deutschen Kolonien sowie auf der inter­ gen an die deutsche Kolonialzeit, um die neuen nationalen Ebene damit auseinandersetzten.

04 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ

MANDATSYSTEM politische Reformen zu kompensieren. 06 Dies war DES VÖLKERBUNDS weiterhin ein paternalistisches und kulturmissiona­ risches Unterfangen, denn was das Wohl der Be­ Das Ende des deutschen Kolonialreichs bedeu­ völkerung sei, definierten europäische „Expert*­ tete zunächst kein Ende der Fremdherrschaft auf innen“. Dennoch war Kolonialismus anfechtbarer den Gebieten der ehemaligen deutschen Koloni­ geworden, und Mandatsverwaltungen konnten an­ en. Zwar hatte der damalige US-Präsident, Wood­ hand von international vereinbarten Prinzipien kri­ row Wilson, in einer vielbeachteten Rede im Januar tisiert werden. Dies nutzten Unabhängigkeitsbe­ 1918 das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ als wegungen später, um Forderungen zu stellen. Voraussetzung für eine dauerhafte Weltfriedens­ ordnung gesetzt und damit das Recht, Gebiete zu WEIMAR ZWISCHEN INTER­ kolonisieren, grundsätzlich infrage gestellt. Künf­ NATIONALER REHABILITIERUNG tig bezogen sich politische Ver­treter*innen­ auf der UND KOLONIALREVISIONISMUS ganzen Welt auf dieses Selbstbestimmungsrecht. 04 Die Imperialstaaten hingegen wollten die alten Die kolonialen Bestimmungen des Versailler Ver­ Machtstrukturen beibehalten und suchten nach trags riefen in Deutschland große Entrüstung her­ neuen Legitimationsmustern für Kolonialismus. vor. Besonders schwer wog für viele der Vorwurf, Die Delegierten der Pariser Friedenskonferenzen Deutschland habe „auf dem Gebiete der kolonialen folgten nicht den liberalen Prinzipien Wilsons, son­ Zivilisation“ versagt, 07 denn die sogenannte Zivili­ dern votierten für einen Kompromiss: das Mandat­ sierung der Kolonien war der zentrale zeitgenös­ system. Sie unterstellten den Gesellschaften der sische Legitimationsdiskurs für Kolonialisierung. ehemaligen deutschen Kolonien, noch nicht zur Demnach brächten die Imperialstaaten den Kolo­ Selbstverwaltung fähig zu sein, und verschoben de­ nien den Segen der europäischen Zivilisation und ren Selbstbestimmungsrecht auf unbestimmte Zeit trügen so zur Entwicklung scheinbar rückständi­ in die Zukunft. Zeitweilig sollten sie als Mandats­ ger Gesellschaften bei. Für die europäischen Staa­ gebiete dem Völkerbund unterstellt werden. Die ten war Kolonialbesitz deshalb eine Auszeichnung Verwaltung übertrug der Völkerbund als Man­ ihrer eigenen Entwicklung und Beweis, dass sie als dat anderen Imperialstaaten in Europa, Asien und Vorbild taugten. Der Vorwurf der Alliierten schien Ozeanien, die in jährlichen Berichten nachweisen vielen daher wie ein Ausschluss Deutschlands aus mussten, dass sie die geächteten kolonialen Prak­ der Gruppe der westlichen „Kulturnationen“ und tiken wie Zwangsarbeit abgeschafft hätten und verunsicherte globale Ordnungsvorstellungen in das „Wohl der Bevölkerung“ sowie den „sozialen Deutschland. 08 Revisionist*­innen wehrten die Ar­ Fortschritt“ förderten. 05 Somit wurde versucht, gumentation der Alliierten als „Kolonialschuldlü­ die nicht gewährte Selbstverwaltung durch sozial­ ge“ ab. In der Nationalversammlung bildete sich daraufhin ein parteiübergreifender Konsens für die 01 Zit. nach Horst Gründer, Geschichte der deutschen Koloni- Rückgewinnung der Kolonien, den einzig KPD en, Paderborn 20126, S. 258. und USPD nicht mittrugen. 09 02 Vgl. z. B. Klaus Hildebrand, Vom Reich zum Weltreich. Die Rückgewinnung der Kolonien war in der Hitler, NSDAP und die koloniale Frage, München 1967; Gründer Weimarer Republik als Teil der Revisionsbestre­ (Anm. 1), S. 253–277; Florian Krobb/Elaine Martin, Weimar Colonialism. Discourses and Legacies of Post-Imperialism in bungen offizielle Regierungspolitik und institutio­ after 1918, Bielefeld 2014. 03 Vgl. Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, 06 Historiker*­innen bewerten die Zwischenkriegszeit deshalb München 2013, S. 26 f. Siehe auch den Beitrag von Ulrike Scha- auch als den Beginn der internationalen Entwicklungspolitik. Vgl. per in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Sönke Kunkel/Christoph Meyer, Fortschritt nach Plan?, in: dies. 04 Vgl. Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determina- (Hrsg.), Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und tion and the International Origins of Anticolonial Nationalism, die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren, 1917–1920, New York 2007, S. 6. Frank ­furt/M. 2012, S. 123–141. 05 Vgl. Susan Pedersen, The Meaning of the Mandates System. 07 Vgl. Gründer (Anm. 1). An Argument, in: Geschichte und Gesellschaft 4/2006, S. 560–582; 08 Vgl. Christian Rogowski, „Heraus mit unseren Kolonien!“ Der Caroline Authaler, Negotiating „Social Progress“: German Planters, Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik und die „Ham - African Workers and Mandate Administrators in the British Camero- burger Kolonialwoche“ von 1926, in: Birthe Kundrus (Hrsg.), on (1925–1939), in: Magaly Rodríguez García/Davide Rodogno/Liat Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialis- Kozma (Hrsg.), The League of Nation’s Work on Social Issues. Visions, mus, Frank­furt/M. 2003, S. 244–262, hier S. 246. Endeavours and Experiments, Genf 2016, S. 47–56, hier S. 47. 09 Vgl. Gründer (Anm. 1), S. 258.

05 APuZ 40–42/2019 nell verankert: zunächst in der Kolonial-Zentralab­ des Kolonialreichs eine Hochzeit. Durch die Debat­ teilung im Reichsministerium für Wiederaufbau und ten um den Versailler Vertrag war das öffentliche In­ ab 1924 wieder als kolonialpolitische Abteilung im teresse gestiegen, und revisionistische Argumente Auswärtigen Amt. Beide beschäftigten Beamte des wurden in der deutschen Gesellschaft verbreitet. früheren Reichskolonialamtes und sorgten so für Die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) war eine personelle Kontinuität der deutschen Kolonial­ nach wie vor der mitgliederstärkste Verein der so­ politik. Die kolonialpolitische Abteilung unterhielt genannten Kolonialbewegung und betrieb intensiv enge Beziehungen zu den kolonialen Vereinigungen Propaganda, um den Gedanken aufrechtzuerhal­ und Unternehmen und förderte deren kolonialrevi­ ten, dass Deutschland ein Recht auf Kolonien habe. sionistische Propaganda, insbesondere unter Gustav Die DKG organisierte deutschlandweit öffentliche Stresemann als Außenminister. 10 Vorträge, Lichtbildvorführungen, Kolonialkund­­ Im Unterschied zu radikalen Revisionist*in­­ gebungen, -tagungen und -ausstellungen und gab nen zielte Stresemann außenpolitisch nicht auf die Zeitschriften heraus. Auf ihr Betreiben wurden Rückgabe der ehemaligen Kolonien, sondern auf in mehreren Städten Kolonialdenkmäler errichtet. eine Beteiligung am Mandatsystem. Sein überge­ Zudem verbreiteten ehemalige Kolonialbeamte, ordnetes Ziel war die internationale Rehabilitierung Plantagenmanager und -offiziere durch die Veröf­ Deutschlands in der westlichen Staatengemein­ fentlichung von Kriegsmemoiren, Reiseerzählun­ schaft. Der Wiedereintritt in den Kreis der Impe­ gen und Abenteuerromanen die Idee eines recht­ rialmächte war dabei ein Baustein. Etappenziele mäßigen deutschen Anspruchs auf Kolonien. dieser Strategie waren Deutschlands Eintritt in den In diesen Erzählungen kristallisierten sich Nar­ Völkerbund 1926 und die Entsendung eines deut­ rative heraus, die Deutschlands koloniale Vergan­ schen Vertreters in die Mandatskommission des genheit rehabilitieren und die „koloniale Schuldlü­ Völkerbunds 1927 – in jene Kommission, die die ge“ widerlegen sollten. Eine zentrale Figur wurde Mandatsverwaltungen beaufsichtigen sollte. Über der „treue Askari“. „Askari“ war die Bezeichnung den Verhandlungsweg erreichte Stresemann Mitte für Kolonialsoldaten in Deutsch-Ostafrika, die der 1920er Jahre weitere Schritte auf dem Weg zu nach 1919 aber allgemein für alle Schwarzen 13 deut­ mehr Einfluss in den ehemaligen Kolonien: Anlege- schen Kolonialsoldaten verwendet wurde. Eng da­ und Niederlassungsrechte für deutsche Unterneh­ mit verbunden war der Mythos um den Befehls­ men und Staatsbürger*­innen ermöglichten etwa, haber in Deutsch-Ostafrika­ im Ersten Weltkrieg, dass deutsche Unternehmen und Siedler*innen­ in Paul von Lettow-Vorbeck. Er galt als unbesiegt, alle Mandatsgebiete zurückkehren konnten. 11 weil er sich mit seiner Truppe in Ostafrika erst nach dem offiziellen Ende des Ersten Weltkrieges erge­ KOLONIALREVISIONISMUS ben hatte, und wurde zum kolonialen Kriegshelden IN ZIVILGESELLSCHAFT erklärt. Dass sich in Lettow-Vorbecks Truppe 1919 UND POPULÄRKULTUR noch über 1000 Askari befanden, wurde als Beweis für deren angebliche Treue gewertet. 14 Dies soll­ Kolonialismus spielte sich nicht nur in „Übersee“ ab, te wiederum für eine gute Behandlung durch die sondern bezeichnet auch eine wirkmächtige Denk­ deutschen Kolonisatoren und somit für Deutsch­ struktur der Ungleichheit, die Menschen in dichoto­ lands „kolonisatorische Fähigkeiten“ sprechen. 15 me Kategorien einteilt und hierarchisiert, wobei den Diese Propaganda mithilfe scheinbar loyaler Per­ Kolonisator*innen­ stets die höherwertige Position spektiven von Afrikaner*­ ­innen war die kolonialre­ zugeordnet wird. 12 Dieser „kulturelle“ Aspekt des Kolonialismus erfuhr in Deutschland nach dem Ende 13 Die Adjektive „schwarz“ und „weiß“ werden groß geschrieben, um klar zu machen, dass es sich nicht um Eigenschaften der Perso- 10 Vgl. Rogowski (Anm. 8), S. 249; Dirk van Laak, Über alles in nen, sondern um soziale und politische Zuschreibungen handelt. der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, 14 Die Gründe, aus denen die Soldaten in der Truppe blieben, wa- München 2005, S. 109. ren vor allem auf ihr eigenes soziales Umfeld bezogen. Vgl. Michelle 11 Vgl. Susan Pedersen, The Guardians. The League of Nations Moyd, Making the Household, Making the State: Colonial Military and the Crisis of Empire, Oxford 2015, S. 236; Michael Dennis Communities and Labor in German East Africa, in: International Callahan, A Sacred Trust. The League of Nations and Africa Labor and Working-Class History 1/2011, S. 53–76, hier S. 56. 1929–1946, Brighton 2004, S. 7, S. 27. 15 Vgl. Stefanie Michels, Der Askari, in: Jürgen Zimmerer 12 Vgl. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte – For- (Hrsg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen men – Folgen, München 20065, S. 112–115. Kolonialgeschichte, Bonn 2013, S. 294–308, hier S. 296 f.

06 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ visionistische Antwort auf die britische Strategie, sich öffentlich gegen einen Wiedererwerb der Ko­ im „Blaubuch“ afrikanische Stimmen zur Begrün­ lonien. Ihre Aktivitäten und Forderungen standen dung der eigenen Argumentation anzuführen. im Zusammenhang mit ihrer transnationalen Ver­ Revisionistische Forderungen und Narrative netzung mit panafrikanischen Akteuren sowie an­ hielten Einzug in die Populärkultur und prägten tiimperialistischen Befreiungskämpfen und bezo­ Weltvorstellungen. Völkerschauen und exotisier­ gen sich auf die in Woodrow Wilsons 14 Punkten te Unterhaltungsshows fanden ab Mitte der 1920er artikulierte Forderung nach einem „Selbstbestim­ Jahre wieder regelmäßig statt. Manche erhielten fi­ mungsrecht der Völker“. 19 nanzielle Unterstützung aus dem Propagandafonds Die zahlreichen Migrant*innen­ aus den Kolonien der Kolonialabteilung. Neue Medien, wie die Kolo­ und ihre Nachkommen intensivierten in dieser Situa­ nialfilme, vermochten ein noch größeres Publikum tion ihre Vernetzung. Einige gründeten Vereine wie zu erreichen. Zwei Genres prägten die Weimarer den „Afrikanischen Hilfsverein“ und die deutsche Zeit: Filme mit dokumentarischem Charakter, die Sektion der „Liga zur Verteidigung der N*rasse“. an Produktionen von vor dem Krieg anschlossen, Die Mitglieder standen in regelmäßigem Austausch und der sich neu entwickelnde koloniale Spielfilm. mit ihren Herkunftsregionen und sahen sich als de­ Beide inszenierten Räume im globalen Süden als ren Sprachrohr in Deutschland. 20 Durch diesen Aus­ „unzivilisiert“, „wild“ und „barbarisch“ und präg­ tausch waren ihre Forderungen transnational. Dies ten exotistische, klischeebeladene Bilder von Afri­ zeigt sich in der sogenannten Dibobe-Petition, die ka und Asien. Insbesondere die Spielfilme spielten der aus Kamerun migrierte Martin Dibobe 1919 an mit der Spannung und Ambivalenz von „Eigenem“ die Weimarer Nationalversammlung richtete. Darin und „Anderem“. 16 Bereits 1919 kam mit „Die Her­ forderten er und 17 Mitunterzeichner unter anderem rin der Welt“ die bis dahin aufwendigste deutsche Selbstständigkeit und Gleichberechtigung für die Filmproduktion in die Kinos, für die eine riesige ehemaligen deutschen Kolonien sowie die Gleich­ Kulisse mit „vier Erdteilen“ aufgebaut wurde, in stellung Schwarzer Menschen in Deutschland. 21 denen Kompars*innen­ of Color „Authentizität“ Enttäuscht von der halbherzigen Umset­ suggerieren sollten. Als Publikumsfilm entwickel­ zung von Wilsons 14 Punkten im Völkerbund, te sich 1926 auch „Ich hatt’ einen Kameraden“, der vernetzten sich antikoloniale Bewegungen ver­ mit Außenaufnahmen aus Ostafrika aufwartete. stärkt untereinander und wandten sich der Kom­ Kolonialfilme antworteten nicht nur auf das Fern­ munistischen Internationalen (Komintern) zu. 22 weh der Nachkriegsgesellschaft, sondern lieferten Berlin wurde in den 1920er Jahren ein transna­ auch klare Weltordnungsvorstellungen, in denen tionaler Treffpunkt von Aktivist*­innen aus dem die Handlungsmacht bei den Weißen Protagonist*­ globalen Süden, europäischen Pazifist*­innen und innen lag. 17 Sowohl Völkerschauen als auch Kolo­ Kommunist*­innen. So traten Kommunist*­innen nialfilme können daher als „Resonanzraum“ des gemeinsam mit Schwarzen Aktivist*­innen auf, um Kolonialrevisionismus verstanden werden, da sie gegen die kolonialrevisionistischen Forderungen an die koloniale Ideologie anschlossen und rassis­ Stellung zu beziehen. Ihre Forderungen transpor­ tische und kulturelle Dichotomien inszenierten. 18 tierten sie durch öffentlichkeitswirksame Aktivi­ täten wie Demonstrationen, durch Eingaben und KOLONIALKRITISCHE STIMMEN Petitionen, im Rahmen öffentlicher Reden, auf in­ ternationalen Konferenzen und in Publikationen Revisionistische Forderungen und exotisierte Po­ pulärkultur blieben in der Weimarer Republik aber nicht unwidersprochen. Schwarze Aktivist*innen,­ 19 Vgl. Susanne Heyn, Der kolonialkritische Diskurs der Pazifist*innen­ und Kommunist*­innen wandten Weimarer Friedensbewegung zwischen Antikolonialismus und Kulturmission, in: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 5/2005, S. 37–65, hier S. 44. 16 Vgl. Wolfgang Struck, Die Geburt des Abenteuers aus dem 20 Vgl. Robbie Aitken/Eve Rosenhaft, Black Germany. The Geist des Kolonialismus. Exotistische Filme in Deutschland nach dem Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884–1960, Ersten Weltkrieg, in: Kundrus (Anm. 8), S. 263–281, hier S. 278. Cambridge 2013, S. 198, S. 207. 17 Vgl. Tobias Nagl, Die unheimliche Maschine. Rasse und 21 Vgl. Martin Dibobe an das Reichskolonialministerium, Repräsentation im Weimarer Kino, München 2009, S. 46. 27.. 6 1919, https://blackcentraleurope.com/sources/1914-1945/ 18 Vgl. Susann Lewerenz, Geteilte Welten. Exotisierte Unter- petitions-to-german-authorities-1919. haltung und Artist*­innen of Color in Deutschland 1920–1960, 22 Vgl. Jürgen Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Ge- Köln–Weimar–Wien 2017, S. 116, S. 134. nese, Organisation und Politik (1927–1992), Berlin 2015, S. 31 ff.

07 APuZ 40–42/2019 sowie auf künstlerische Art durch Straßentheater­ Die Reaktionen auf das Ende der deutschen aufführungen und Ausstellungen. 23 Kolonialherrschaft und die Einführung des Man­ Dennoch erlangte die Kolonialbewegung ei­ datsystems sind aber vielschichtiger, als es die nen weitaus größeren politischen und medialen politische Debatte vermuten lässt. Durch das Einfluss als die kolonialkritischen Vereinigungen, Mandatsystem und den Kolonialrevisionismus denn viele ihrer Mitglieder waren ehemalige Ko­ verkomplizierten sich die Situationen vor Ort. lonialbeamte oder Unternehmer und verfügten Am Fall Kamerun lassen sich insbesondere die über entsprechendes Ansehen und Netzwerke. 24 Folgen der Vervielfältigung von Akteuren gut beobachten. REAKTIONEN IN DEN EHEMALIGEN KOLONIEN DER FALL KAMERUN

Auch die Menschen in den ehemaligen deut­ Im Februar 1916 besiegten die Alliierten endgül­ schen Kolonien verfolgten die Versailler Frie­ tig die deutschen Truppen in Kamerun. Die Re­ densverhandlungen. Die Debatte um das Recht aktionen der kamerunischen Bevölkerung auf das auf Selbstbestimmung bestärkte insbesondere nun offensichtliche Ende der formalen deutschen die antikolonialen Positionen der urbanen Eli­ Kolonialherrschaft fielen je nach Region und so­ ten. Jedoch wurde die Hoffnung enttäuscht, mit zialer Position unterschiedlich aus und haben der Vertreibung der Deutschen das Land von der teilweise erinnerungspolitische Folgen, die bis in Fremdherrschaft befreit zu haben. In der Folge die Gegenwart reichen und die Beziehungen zu forderten viele politische Autoritäten Einfluss auf den ehemaligen Imperialstaaten prägen. die Wahl der künftigen Mandatsverwaltung. Viele Regionen, Städte und Dörfer, die zuvor Die Duala-Eliten aus Kamerun sandten si­ unter der kolonialen Gewalt und der willkürli­ cher den umfangreichsten Forderungskatalog an chen Rekrutierung von Zwangsarbeiter*innen­ die Pariser Friedenskonferenzen. 25 Aber auch auf gelitten hatten, waren erleichtert und feierten Samoa wehrten sich politische Autoritäten gegen Großbritannien und Frankreich als Befreier. An­ Neuseeland als mögliche Mandatsverwaltung. 26 In dere, die von der deutschen Kolonialverwaltung Deutsch-Südwestafrika forderte die Gruppe der profitiert hatten, hofften auf die Rückkehr dersel­ Rehoboter Unabhängigkeit und die Beibehaltung ben. Einige wiederum demonstrierten strategisch ihrer besonderen Landnutzungsrechte, die sie un­ Loyalität zur deutschen Kolonialverwaltung, um ter der deutschen Kolonialverwaltung genossen Distanz zu den neuen Verwaltern auszudrücken. hatten. 27 In Togo kam starker Protest auf, als die Die Hafenstadt Duala war bereits im Septem­ neuen Mandatsgrenzen Anfang der 1920er Jahre ber 1914 an Großbritannien gefallen, ab 1916 ver­ festgelegt wurden und dadurch die große Gruppe waltete eine britisch-französische Militärverwal­ der Ewe zwischen dem französischen und dem bri­ tung kommissarisch die ehemalige Kolonie. Als tischen Mandatsgebiet Togo aufgeteilt wurde. 28 klar wurde, dass die „Befreier“ nicht vorhatten, der Kolonie die Unabhängigkeit zu gewähren, sondern sich selbst als Verwalter einrichteten, ver­ 23 Vgl. Heyn (Anm. 19), S. 45. suchten die politischen Autoritäten in Kamerun, 24 Vgl. Rogowski (Anm. 8), S. 244. 25 Dieser ist abgedruckt bei Andreas Eckert, Die Duala und ihren verbleibenden Handlungsspielraum maxi­ die Kolonialmächte. Eine Untersuchung zu Protest, Widerstand mal zu nutzen. Viele erachteten eine britische Ver­ und Protonationalismus in Kamerun vor dem Zweiten Weltkrieg, waltung als das kleinere Übel, weil sie die Verwal­ Münster 1991, S. 306–309. tungspraktiken in den benachbarten britischen 26 Vgl. Susan Pedersen, Samoa on the World Stage. Petitions und französischen Kolonien verglichen. Als sich and Peoples before the Mandates Commission of the League of Nations, in: The Journal of Imperial and Commonwealth History London und Paris Ende März 1916 über die terri­ 2/2012, S. 231–261, hier S. 242. toriale Aufteilung einigten, versuchten einige po­ 27 Vgl. Tilman Dedering, Petitioning Geneva: Transnational litische Autoritäten ihre Zuteilung zum französi­ Aspects of Protest and Resistance in South West Africa/Nami- schen Gebiet abzuwenden. König Njoya etwa, ein bia after the First World War, in: Journal of Southern African einflussreicher Regent aus dem Grasland, der un­ Studies 4/2009, S. 785–801, hier S. 794, S. 798. 28 Vgl. J. B. Webster, African Political Activity in British West ter der deutschen Verwaltung seine Macht vergrö­ Africa, 1900–1940, in: Ade Ajayi/Michael Crowder (Hrsg.), ßert hatte, adressierte direkt den britischen König West Africa 1919–1939, S. 635–664. mit dem Wunsch, sein Reich unter britisches Pro­

08 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ tektorat zu stellen. 29 Duala-Eliten wiederum hat­ ren ausstehenden Sold beziehungsweise prestige­ ten die Einnahme der Stadt Duala durch Groß­ reiche Posten in einer deutschen Verwaltung zu britannien 1914 mitvorbereitet, um die verhassten erhalten. Für diese Personen und Gruppen kam deutschen Kolonisatoren loszuwerden. 30 Auch sie es einer teilweisen Einlösung der deutschen Ver­ versuchten im März 1919, die britische Verwal­ sprechungen gleich, als 1925 deutsche Unterneh­ tung davon zu überzeugen, die Duala unter ihre mer in das Plantagengebiet am Kamerunberg im Verwaltung zu stellen. Als diese ablehnte, wand­ britischen Mandatsteil zurückkehrten und ihnen ten sich die Duala im August mit einer Petition Arbeitsplätze anboten. In der Tat stellten diese an die Pariser Friedenskonferenz, in der sie Neu­ bevorzugt ehemalige Soldaten ein und bauten mit tralität und Selbstverwaltung gemäß der Wilson­ ihnen die Plantagenwirtschaft wieder auf. schen Prinzipien forderten. Falls dies nicht mög­ Deutsche Plantagenunternehmen ersteigerten lich sei, sollten sie wenigstens die Mandatsmacht 1924 auf einer britischen Auktion mit finanzieller wählen können. 31 Als klar wurde, dass ihre Bemü­ Unterstützung des Auswärtigen Amtes nahezu hungen keinen Erfolg hatten, arrangierten sie sich alle früheren deutschen Plantagen, die sich zwi­ zwar mit der französischen Verwaltung, behielten schen Kamerunberg und Küste befanden. Bereits aber eine kritische Distanz. Eine Strategie, Kritik im September zählte die deutsche Community an der Mandatsverwaltung zu üben, bestand da­ etwa hundert Personen und überstieg damit die rin, auf Deutsch zu kommunizieren und Erzäh­ britische, die im gesamten Mandatsgebiet nur aus lungen über eine wirtschaftlich und sozialpoli­ einem Dutzend Verwaltern und einigen Unter­ tisch erfolgreichere deutsche Kolonialverwaltung nehmern bestand. Damit befanden sich im Land in der Bevölkerung zu verbreiten 32 – eine Erzäh­ Vertreter*­innen der drei größten europäischen lung, die in Kamerun heute noch in der kollekti­ Imperialstaaten, Großbritannien, Frankreich und ven Erinnerung präsent ist. Deutschland, die die Bevölkerung in beiden Man­ Es gab aber auch Gruppen und Personen, die datsgebieten fortan miteinander verglich, kriti­ eine erfolgreiche Revanche und Rückkehr der sierte und gegeneinander ausspielte. 34 Die erneu­ Deutschen erhofften oder für wahrscheinlich te Präsenz der deutschen Plantagenunternehmen hielten und deshalb im Krieg nicht die Seiten ge­ sollte auch die ambivalente Erinnerung an die wechselt hatten. Diese verband eine strategische deutsche Kolonialverwaltung verändern. Unmit­ Allianz mit der deutschen Kolonialverwaltung, telbar nach dem Krieg dominierten Gewalt und denn sie hatten mit ihr kooperiert, waren zum die Furcht vor der deutschen Zwangsarbeit die Teil als Soldaten Teil des Kolonialsystems gewor­ Erinnerungen. Parallel dazu existierte das Nar­ den und hatten von diesem profitiert. Sie flohen rativ, wonach die Deutschen Kamerun moder­ im Februar 1916 mit den verbleibenden Teilen der nisiert hätten. Diese Modernisierungserzählung deutschen Truppen nach Spanisch-Guinea auf die verstärkte sich in der Zwischenkriegszeit. Insel Fernando Po, um von dort gemeinsam mit In beiden Mandatsgebieten wurden die neu­ den Weißen deutschen Offizieren die Rückerobe­ en Verwaltungen für die ökonomisch schwieri­ rung abzuwarten. Diese etwa 20 000 Schwarzen ge Nachkriegssituation verantwortlich gemacht. deutschen Kolonialsoldaten und Zivilist*innen,­ Die Zeit der deutschen Kolonialverwaltung darunter Angehörige der Soldaten und viele schien daher in der Rückschau eine Zeit der wirt­ Ewondo unter dem Oberhaupt Karl Atangana, 33 schaftlichen Blüte. Dieses Bild der ökonomisch bauten auf das Versprechen, nach dem Krieg ih­ erfolgreicheren Kolonialmacht bestätigten die deutschen Plantagenunternehmen ab 1925 un­ freiwillig. Der Völkerbund hatte für die Mandats­ 29 Vgl. Victor Julius Ngoh, 1884–1985. A Hundred gebiete ein partielles Zwangsarbeitsverbot erlas­ Years of History, Yaoundé 1987, S. 84 f. 35 30 Vgl. Daniel Abwa, Cameroun. Histoire d’un nationalisme sen, das jedoch nur für Privatunternehmen galt. 1884–1961, Yaoundé 2010, S. 124. 31 Vgl. Eckert (Anm. 25). 34 Vgl. Caroline Authaler, Deutsche Plantagen in Britisch- 32 Vgl. Richard Joseph, The German Question in French Cam- Kamerun. Internationale Normen und lokale Realitäten 1925 bis eroon 1919–1939, in: Bulletin of the German Historical Institute 1940, Köln–Weimar–Wien 2016, S. 9, S. 12. London 17/1975, S. 65–90, hier S. 70. 35 Vgl. Hanan Sabea, The Limits of Law in the Mandated Terri- 33 Die Gruppe der Ewondo lebte vorwiegend im Süden Kame­ tories: Becoming Manamba and the Struggles of Sisal Plantation runs. Ihr Oberhaupt Karl Atangana war von der deutschen Workers in Tanganyika, in: African Studies 1/2009, S. 135–161, Kolonialverwaltung eingesetzt worden. hier S. 136.

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Daran mussten sich die deutschen Unternehmen lismus. Wilsons 14 Punkte hatten antikolonialen halten, nicht aber die Mandatsverwaltungen. Um und emanzipatorischen Stimmen einen inter­ ausreichend Arbeitskräfte zu erhalten, zahlten national anerkannten Diskursraum eröffnet. In die deutschen Unternehmen nun vergleichswei­ Deutschland hingegen, aber auch in den ehema­ se hohe Löhne. Da die französische Mandats­ ligen Kolonien, versuchten ehemalige Kolonial­ verwaltung weiterhin in großem Stil Zwangsar­ beamte, Siedler*­innen, deren vormalige Schwarze beit anordnete, schienen die Arbeitsbedingungen Angestellte sowie Schwarze Kolonialsoldaten ko­ auf den deutschen Plantagen im Vergleich attrak­ loniale Strukturen zu reaktivieren, die ihren sozi­ tiver. Deshalb migrierten Tausende Bewohner*­ alen Status sichern sollten. Im Völkerbund setz­ innen des französischen Mandatsgebiets, um der ten sich statt antikolonialen Ideen reformistische Zwangsarbeit zu entkommen und sich im briti­ durch: Internationale Normen sollten Kolonialis­ schen Gebiet durch Arbeit auf den deutschen mus regeln und verbessern. Als Mitglied des Völ­ Plantagen eine Existenz aufzubauen. Dies be­ kerbunds eröffneten sich für Deutschland Mög­ stärkte die Erzählung, die Deutschen brächten lichkeiten, sich über wirtschaftliche Rechte und wirtschaftliches Wachstum. 36 über die Mandatskommission weiterhin am euro­ Gleichwohl wandten die deutschen Planta­ päischen Kolonialismus zu beteiligen. genmanager weiterhin physische und ökonomi­ Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war zu­ sche Gewalt gegenüber den Arbeiter*innen­ an. gleich eine Zeit, in der wirkmächtige Erinne­ Dagegen leisteten viele Arbeiter*­innen und An­ rungsstränge über das deutsche Kolonialreich an­ gestellte Widerstand, indem sie die Interessenun­ gelegt wurden – sowohl in Europa als auch in den terschiede zwischen britischer Verwaltung und ehemaligen Kolonien. Die Analyse der zeitgenös­ deutschen Plantagenmanagern ausnutzten. Sie sischen Debatten zeigt aber auch, wie asymmet­ bedienten sich des offiziellen Beschwerdesys­ risch diese strukturiert waren. Derzeit wird, aus­ tems bei den britischen District Officers, um sich gelöst durch Restitutionsdebatten um koloniale über die deutschen Manager zu beschweren und Raubkunst und menschliche Überreste in deut­ konnten dadurch nicht nur in vielen Fällen ihre schen Sammlungen, endlich in der breiten Öf­ Arbeitssituation verbessern, sondern verunsi­ fentlichkeit über die deutsche Kolonialgeschichte cherten die Macht der Weißen Plantagenmanager debattiert, begleitet von zaghaften Dialogversu­ und die rassistisch begründeten Hierarchien auf chen mit Wissenschaftler*­innen und Museums­ den Plantagen. 37 Die Menschen in dieser Region expert*­innen aus Afrika. 38 Dies ist eine Chance, beobachteten die Machtverschiebungen und die um die Bedeutungen der kolonialen Vergangen­ Konkurrenz zwischen den drei europäischen Im­ heit in einem transnationalen Gedächtnisraum perialstaaten genau, um ihre eigenen Handlungs­ zu verhandeln und Erinnerungen zu hinterfra­ spielräume zu vergrößern, das koloniale System gen. Zur Bedeutung der Kolonialgeschichte gibt mit seinen eigenen Mitteln zu kritisieren und so es in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Kolo­ zu seiner schleichenden Aushöhlung beizutragen. nien gewachsene regionale und nationale Erinne­ rungskulturen sowie akademische Debatten. Die­ KONTINUITÄTEN UND se in ihrer Vielschichtigkeit wahrzunehmen, ohne VIELSCHICHTIGE ERINNERUNGEN sie zu instrumentalisieren, ist Voraussetzung, um mehr Wissen und gegenseitiges Verständnis für Das Ende des deutschen Kolonialreichs und die den Dialog und eine gemeinsame Aufarbeitung damit einhergehenden völkerrechtlichen Verän­ der Kolonialgeschichte zu schaffen. derungen waren ein Katalysator für grundsätzli­ che Debatten über die Legitimität von Kolonia­

36 Vgl. Authaler (Anm. 34), S. 87–126. Siehe auch Stefanie CAROLINE AUTHALER Michels, Postkoloniale kamerunische Gedächtnistopographien. ist promovierte Historikerin und leitet das Projekt Medien, Akteure, Topoi, in: Steffi Hobuß/Ulrich Lölke (Hrsg.), „Gemeinsam unterwegs? Geschichte(n) der Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Migrationsgesellschaft“ im Dokumentationszentrum Afrikas und Europas, Münster 2007, S. 117–139, hier S. 124. 37 Vgl. Authaler (Anm. 34), S. 127–156. und Museum über die Migration in Deutschland 38 Siehe auch den Beitrag von Rebekka Habermas in dieser (DOMiD) in Köln. Ausgabe (Anm. d. Red.). [email protected]

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DEUTSCHE KOLONIALGESCHICHTE POSTKOLONIAL SCHREIBEN: WAS HEIẞT DAS? Ulrike Schaper

Ab 1884 war das Deutsche Reich mit dem Erwerb Ansätze postkolonialer Theorie entwickelten von Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Na­ in den 1980er Jahren vor allem Wissenschaftle­ mibia, offiziell eine Kolonialmacht. Zum deut­ rinnen und Wissenschaftler in den Literatur- und schen Kolonialreich gehörten in Afrika weiterhin Kulturwissenschaften, die aus dem Globalen Süden Kamerun, das in etwa das heutige Kamerun und stammten und an westlichen Universitäten lehrten. ab 1911 Teile der heute angrenzenden Staaten im Als theoretisches und (wissenschafts-)politisches Westen und Süden umfasste, Togoland – das heu­ Projekt sind sie angetreten, um die westliche Do­ tige Togo mit Teilen von Ghana – und Deutsch- minanz in der wissenschaftlichen Theoriebildung Ostafrika, das im Wesentlichen den heutigen Län­ herauszufordern. Indem sie eigene Perspektiven dern Tansania, Ruanda und Burundi entspricht. auf den Prozess der Kolonialisierung formulieren, Hinzu kamen in Nordostchina die Bucht Kiaut­ kritisieren sie auch das Wissenschaftssystem und schou und im Pazifik Deutsch-Samoa, das heuti­ seine Machtasymmetrien. Seit Ende der 1980er Jah­ ge Samoa, sowie Deutsch-Neuguinea, das heutige re sind diese Ansätze breit rezipiert, kritisiert und Papua-Neuguinea mit weiteren Inselstaaten. in anderen Disziplinen aufgegriffen und weiterent­ Anfangs sollten die Territorien nach dem Vor­ wickelt worden. Im Folgenden werden anhand von bild der britischen Kolonie Indien durch Han­ fünf zentralen Erweiterungen einer Kolonialge­ delsgesellschaften verwaltet werden. Das Deut­ schichte im engeren Sinne die Grundzüge postko­ sche Reich übernahm allerdings im Laufe der lonialer Ansätze in der Geschichtswissenschaft dar­ Zeit in all diesen Gebieten die Regierung, bau­ gestellt und an Beispielen gezeigt, wie sich diese auf te Kolonialverwaltungen auf und entsandte Ko­ die deutsche Kolonialgeschichte übertragen lassen. lonialbeamte und Soldaten. Völkerrechtlich gal­ ten die Kolonien als Teil des Deutschen Reichs. JENSEITS Staatsrechtlich wurden sie allerdings nicht in das DER KOLONIEN Staatsgebiet aufgenommen und blieben so „Aus­ land“ – mit weitreichenden Folgen. So erhielt die Postkoloniale Ansätze machen auf die fundamen­ Bevölkerung der Kolonien nicht die deutsche tale und anhaltende Bedeutung des Kolonialis­ Staatsangehörigkeit, und auch das deutsche Recht mus für alle beteiligten Bevölkerungsgruppen auf­ galt nicht automatisch in den Kolonien. merksam. Die Erfahrung des Kolonialismus – so Der Erste Weltkrieg beendete die Zeit formaler die Grundthese – prägte nicht nur die kolonisier­ deutscher Kolonialherrschaft. Zunächst eroberten ten Gesellschaften. Kolonialgeschichte kann somit im Verlauf der Kriegshandlungen andere europä­ nicht als eine Geschichte geschrieben werden, in ische Mächte die Kolonien. Mit dem Versailler Ver­ der Europa einseitig den Rest der Welt beeinfluss­ trag trat das Deutsche Reich dann seine kolonialen te. Kolonialismus prägte auch die Kolonialmäch­ Besitzungen ab. Formell wurden sie dem Völker­ te, ihr Selbstverständnis, ihre Kultur und ist Teil bund unterstellt. Damit endete die deutsche Ko­ ihrer nationalen Geschichten. Kolonialgeschichte lonialgeschichte in engerem Sinne. Eine postkolo­ muss als verflochtene Geschichte zwischen die­ niale deutsche Kolonialgeschichte geht allerdings sen nationalen Geschichten und der Geschichte in räumlich, zeitlich und thematisch über die histori­ den jeweiligen Kolonien geschrieben werden und schen Entwicklungen in diesen überseeischen Ge­ ebenso als Teil eines wechselseitig verflochtenen bieten unter deutscher Herrschaft hinaus. Prozesses zwischen den Kolonialmächten.

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Indem der Kolonialismusbegriff erweitert wird, an diesem Beispiel deutlich wird, sprengen post­ geraten ganz unterschiedliche Verhältnisse der Ein­ koloniale Perspektiven auch die an der formalen flussnahme und der Eroberungen des Deutschen Kolonialherrschaft orientierte zeitliche Begren­ Reichs in den Blick. Hierbei ist eine Perspekti­ zung der Kolonialgeschichte. ve wichtig, die das deutsche koloniale Projekt als Teil des europäischen Imperialismus reflektiert. JENSEITS DER In postkolonialer Perspektive ist Kolonialisierung KOLONIALZEIT Teil eines globalen Prozesses, der nicht allein von Europa auf die Kolonien gerichtet war. Diese Erweiterung hängt mit der zeitlichen Be­ Wenn man zum Beispiel die deutsche Kolonie stimmung des Postkolonialen zusammen. Zwar Deutsch-Südwestafrika zusammen mit anderen Pe­ folgt es auf die Kolonisierung, das heißt aber ripherien des Deutschen Reichs, wie den östlichen nicht, dass die Kolonisierung und ihre Auswir­ Provinzen Preußens, untersucht, treten neben eini­ kung abgeschlossen sind. Postkoloniale Ansätze gen Unterschieden auch frappierende Ähnlichkei­ gehen im Gegenteil davon aus, dass wesentliche ten hervor. 01 In diesen voneinander entfernten Räu­ koloniale Machtbeziehungen, Kategorien, Dis­ men entwickelten sich etwa ähnliche Maßnahmen, kurse und Vorstellungen nicht an die Zeiten for­ um Arbeitsmigration zu kontrollieren. In beiden maler Kolonialherrschaft gebunden sind. 03 Räumen versuchte die Regierung, die Wanderungs­ Aus postkolonialer Perspektive ist es also not­ bewegungen von Arbeitskräften zu überwachen, wendig, den deutschen Kolonialismus in seinen und setzte Passmarken oder -karten ein, um sie Wirkungen während, aber auch vor und nach den zu registrieren und als fremd zu markieren. Diese Zeiten formaler Kolonialherrschaft von 1884 bis Maßnahmen entwickelten sich im Zusammenhang 1919 zu untersuchen und seine Spuren und Nach­ derselben Diskurse zu Arbeit, Migration und einer wirkungen bis in die Gegenwart zu verfolgen. 04 Kontrolle von Mobilität. Diese Diskurse verban­ Dies umfasst erinnerungspolitisch auch eine Aus­ den nicht nur die beiden Peripherien des Deutschen einandersetzung mit den Fragen von deutscher Reichs, sondern gingen zugleich über dessen Gren­ Schuld und Wiedergutmachung, insbesonde­ zen hinaus. Schließlich waren Passmarken bereits re hinsichtlich des genozidalen Krieges gegen die in anderen imperialen Kontexten eingesetzt wor­ Herero und Nama ab 1904 im heutigen Namibia. 05 den und verweisen somit auch auf den Zusammen­ Eine postkoloniale Perspektive auf das Erbe hang europäischer imperialer Kontrolle. des deutschen Kolonialismus und seine Nach­ Verbindungen zwischen überseeischer und wirkungen fragt, wie zivilisationsmissionarische kontinentaler Expansion nachzuweisen, kann dazu Denkfiguren und gewaltvolle Praktiken fortwir­ beitragen, Kolonialgeschichte stärker an die allge­ ken, die den kolonialen Eingriffen in politische meine deutsche Geschichte anzubinden und gän­ und gesellschaftliche Zusammenhänge zugrunde gige geografische Trennungen innerhalb der Dis­ lagen. Inwieweit prägten sie beispielsweise späte­ ziplin aufzubrechen. Diese Zusammenschau wirft re entwicklungspolitische Zusammenhänge? Die auch die Frage auf, inwieweit spätere Entwicklun­ Leitlinie einer „Hilfe zur Selbsthilfe“ dominierte gen wie die nationalsozialistische Bevölkerungs­ in den 1960er Jahren die deutsche Entwicklungs­ politik im Osten auch im Lichte dieser kolonialen politik und läutete einen Bruch mit vorherigen Vorläufer gesehen werden müssen, und trägt damit Praktiken ein. Weg von westlicher Bevormundung zur Debatte über die Verbindungen von Kolonia­ sollten im ständigen, wohlwollenden Austausch lismus und Nationalsozialismus bei. 02 Projekte entwickelt werden, die aus den lokalen Eine postkoloniale Perspektive erweitert die engen Grenzen einer an den Kolonien orientier­ 03 Vgl. Stuart Hall, Wann gab es „das Postkoloniale“? Denken ten Kolonialgeschichte nicht nur räumlich. Wie an der Grenze, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den 01 Vgl. Dörte Lerp, Imperiale Grenzräume. Bevölkerungspo- Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frank­furt/M.–New York litiken in Deutsch-Südwestafrika und den östlichen Provinzen 2002, S. 219–246. Preußens 1884–1914, Frank­furt/M.–New York 2016. 04 Beispielsweise widmen sich in verschiedenen Städten 02 Vgl. Birthe Kundrus, Colonialism, Imperialism, National Vereine einer postkolonialen Spurensuche im Stadtbild. Siehe Socialism. How Imperial Was the Third Reich?, in: Bradley www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/Links.htm. Naranch/Geoff Eley (Hrsg.), German Colonialism in a Global 05 Siehe auch den Beitrag von Jürgen Zimmerer in dieser Age, Durham–London 2014, S. 330–346. Ausgabe (Anm. d. Red.).

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Gegebenheiten selbst erwuchsen. Die nachhaltigen Analysen ein. 09 Er wies zugleich darauf hin, dass Effekte dieser Arbeit sollten zu größerer Selbst­ solche Repräsentationen instrumentalisiert wur­ ständigkeit und Selbstverantwortung führen. den, um koloniale Herrschaft zu rechtfertigen. Interessanterweise lässt sich nun zeigen, dass Homi Bhabha, einer der zentralen Denker des diese Politik entgegen ihrer vordergründigen Rhe­ Postkolonialismus, differenzierte in der Folge die torik durchaus in einer kolonialen Traditionsli­ Funktion von Selbst- und Fremdbildern weiter nie stand und etwa koloniale Vorgänger in der Er­ aus. Stereotype des mächtigen Kolonisators und ziehung zu Arbeit und einem produktiven Leben machtloser Kolonisierter dürfen nach Bhabha hatte. 06 Zudem blieb die Hilfe zur Selbsthilfe kon­ nicht als einfach abzugrenzende Gegenbilder be­ zeptionell in kolonialen Annahmen verhaftet. Die griffen werden. Stattdessen müssen wir aufmerk­ Umsetzung, die oft Gewalt und Unfreiheit ein­ sam sein für die Ambivalenzen und Widersprü­ schloss, ähnelte kolonialen Praktiken. Materiell che des kolonialen Diskurses, der die Autorität fassbar wird diese Kontinuität in einer Episode aus und Identität der Kolonisatoren zugleich begrün­ den späten 1960er Jahren, als ein tansanischer Ent­ det und destabilisiert. Insbesondere hat Bhabha wicklungsexperte Frauen für ihr angebliches Fehl­ die Ambivalenz von Zivilisierungsmissionen he­ verhalten innerhalb eines Projekts zur Selbsthilfe rausgestellt, die integraler Bestandteil kolonialer bestrafte, indem er sie mit einer Nilpferdpeitsche Projekte und deren Rechtfertigung waren. 10 Die schlug, die von einem deutschen Kolonialbeam­ Nachahmung der Kolonisatoren durch die Kolo­ ten stammte und in dem Dorf aufbewahrt worden nisierten erschien immer als eine unvollkommene war. 07 Der Nachhall kolonialer Gewaltpraktiken Repräsentation. Sie hatte das Potenzial, den ko­ in der Entwicklungszusammenarbeit gehört zu ei­ lonialen Diskurs als brüchig und koloniale Kate­ ner postkolonialen deutschen Kolonialgeschich­ gorien als instabil auszustellen und so koloniale te, die auch die Perioden jenseits formaler Fremd­ Autorität zu unterwandern. Zugleich, so Bhabha, herrschaft in Übersee in den Blick nimmt. war es aus Sicht der Kolonialmacht unerwünscht und unmöglich, dass die Kolonisierten ihnen JENSEITS POLITISCHER wirklich gleich würden. Dies spiegelt sich auch in HERRSCHAFT Vorwürfen und Angstfantasien, die Kolonisierten spielten ihre Aneignung europäischer Kultur und Postkoloniale Ansätze betonen darüber hinaus, ihre Unterwürfigkeit bloß vor. 11 dass Kolonialismus nicht nur ein politisches oder Dass koloniale Kategorien vom Selbst und ökonomisches Herrschafts- und Ausbeutungs­ Anderen zentral für die koloniale Ordnung und system war. Hingegen ist für das Verständnis zugleich doch instabil waren, lässt sich für die des Kolonialismus zentral, wie er sich kulturell deutsche Kolonialgeschichte zum Beispiel an­ manifestierte, welche Stereotype und Narrati­ hand zweier diskursiver Figuren verdeutlichen: ve koloniale Herrschaft stabilisierten und wel­ dem „verkafferten Deutschen“ und dem „Ho­ che psychischen und affektiven Bedingungen senneger“. Als „Verkafferung“ wurde in den af­ die kolonialen Beziehungen strukturierten. Im rikanischen Kolonien ein Prozess bezeichnet, in Zentrum steht dabei der Vorgang des othering, dem sich weiße Deutsche während ihres Auf­ also die oft abwertende und bisweilen romanti­ enthalts in den Kolonien vermeintlich an die af­ sierende Konstruktion der Kolonien und ihrer rikanische Kultur anglichen. 12 Angeblich aus­ Bevölkerungen als „Anderes“ Europas, die kon­ gelöst durch die tropische Umgebung und den stitutive Bedeutung für die koloniale Identitäts­ intensiven (oft sexuellen) Kontakt mit der afri­ bildung hatte. 08 Edward Said führte am Beispiel kanischen Bevölkerung sanken die Deutschen in des „Orients“ als Gegenbild Europas Repräsen­ tationen als wichtiges Thema in postkoloniale 09 Vgl. Edward W. Said, Orientalismus, Frank­furt/M.–Berlin– Wien 1981. 10 Vgl. Homi K. Bhabha, Of Mimicry and Man: The Ambiva- 06 Vgl. Hubertus Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwick- lence of Colonial Discourse, in: ders., The Location of Culture, lungsarbeit in Afrika 1960–1975, Frank­furt/M.–New York 2014. London–New York 1994, S. 85–92. 07 Vgl. ebd., S. 530. 11 Vgl. ders., Sly Civility, in: October 34/1985, S. 71–80. 08 Vgl. Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tiffin, Othering, in: 12 Vgl. Felix Axster, Die Angst vor dem Verkaffern – Politiken dies. (Hrsg.), Postcolonial Studies: The Key Concepts, London– der Reinigung im deutschen Kolonialismus, in: WerkstattGe- New York 20133,. S. 188 ff schichte 39/2005, S. 39–53.

13 APuZ 40–42/2019 dieser Vorstellung auf deren Kultur herab. Ras­ starren Trennung in Kolonisator und Kolonisier­ sistische Kategorien, die eigentlich eine unüber­ te geht es also darum, wie Personen, die nicht zur windbare Differenz zwischen weißen Deutschen Kolonialmacht gehörten, mit ihren Handlun­ und der schwarzen afrikanischen Bevölkerung gen und Widerständen koloniale Herrschaftsaus­ konstruierten, wurden im Begriff der „Verkaffe­ übung beeinflusst haben. rung“ fluide. Der „verkafferte“ Deutsche verlor Diese Frage lässt sich für die deutsche Kolo­ in seiner Annäherung an die afrikanische Bevöl­ nialgeschichte zum Beispiel anhand der Dolmet­ kerung symbolisch sein Weißsein und damit sei­ scher der Kolonialverwaltung stellen. Die Dol­ nen Machtanspruch. Die Figur des „verkaffer­ metscher, die Kenntnisse europäischer Sprachen ten“ Deutschen ist damit auch ein Beispiel, wie oft an den Missionsschulen erworben hatten, bedroht die deutsche Überlegenheit über den übernahmen weitreichende Aufgaben innerhalb kolonialen Anderen war. der Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Sie vermit­ Komplementär dazu wurden Schwarze, die telten zwischen Kolonialverwaltung und koloni­ eine europäische Lebensweise annahmen, ent­ sierter Bevölkerung und kontrollierten so den In­ gegen aller Zivilisationsrhetorik als „Hosenne­ formationsfluss. Die Kolonialbeamten, die selten ger“ diffamiert. Der Begriff implizierte, dass sie die in den Kolonien gesprochenen Sprachen ver­ sich oberflächlich etwa durch ihre Kleidung an­ standen, waren bei ihrer Arbeit von den Dolmet­ glichen, insgesamt aber scheiterten, europäisch schern abhängig. Die Kolonialbeamten sahen die zu werden. Die Figur des „Hosennegers“ ver­ Dolmetscher als Beauftragte der kolonialen Ver­ körperte in ihrem Anspruch auf Gleichheit und waltung. In der Tat ermöglichten die Dolmetscher Teilhabe eine Bedrohung. Sie stellte die angeb­ in vielen Fällen erst die koloniale Herrschafts­ lich unüberbrückbare kulturell oder biologisch ausübung. Dennoch arbeiteten die Dolmetscher begründete Differenz zwischen Kolonisator auch für ihre eigenen Interessen beziehungs­ und kolonisierter Bevölkerung infrage, die das weise die Interessen ihrer Familien oder der Be­ Fundament der rassisch segregierten kolonialen völkerungsgruppen, denen sie sich verpflichtet Ordnung darstellte. 13 fühlten. Handlungen, die den Vorgaben der Ko­ Beide Figuren sind ein Ausdruck dafür, wie in­ lonialverwaltung zuwiderliefen, nahmen die Ko­ stabil zentrale koloniale Kategorien waren, zual­ lonialbeamten allerdings als Amtsmissbrauch lererst die angebliche fixe Kategorie der „Rasse“. wahr, mit allen disziplinarischen und rechtlichen Die sozialen Sanktionen, die auf diese Formen Konsequenzen. der sozialen und symbolischen Grenzüberschrei­ Exemplarisch für die ambivalente Position der tungen folgten, waren zugleich der Versuch, die Dolmetscher im Verhältnis zur Kolonialverwal­ koloniale Ordnung wiederherzustellen. tung und zur kolonisierten Bevölkerung ist das Leben des Regierungsdolmetschers David Mee­ JENSEITS DER tom in Kamerun. 14 Dieser erreichte vor allem zu KOLONIALMACHT Beginn der deutschen Kolonialherrschaft als Dol­ metscher und Unterhändler großen Einfluss, den Postkoloniale Ansätze fordern zudem, die Hand­ er auch unabhängig von den Vorgaben der Kolo­ lungsmacht (agency) und Perspektiven der Ange­ nialverwaltung nutzte. Letztlich wurde er wegen hörigen der kolonisierten Bevölkerungen einzube­ dieser Tätigkeiten angeklagt, verurteilt und auf ziehen. Postkoloniale Ansätze fassen Herrschaft der Flucht vor der Strafverfolgung erschossen. als Aushandlungsprozess. Sie vernachlässigen da­ Die Dolmetscher erlauben also eine postko­ durch nicht die Gewalt und Machtasymmetrien loniale Perspektive auf die deutsche Kolonialver­ der kolonialen Situation. Aber sie machen gängi­ gangenheit, wenn man sie als handelnde Subjek­ ge, dualistische Erzählungen von Herrschaft und te mit ihren Interessen und Perspektiven ernst Widerstand komplexer. Es geraten vielfältige For­ nimmt und versucht, ihre Handlungen vor dem men der Aneignung, der Kooperation, der Weige­ Hintergrund dieser unterschiedlichen Wahrneh­ rung und des Protests in den Blick. Jenseits einer

14 Vgl. Ulrike Schaper, David Meetom. Interpreting, Power 13 Vgl. Andreas Eckert, „Der beleidigte Negerprinz“. Mpundu and the Risks of Intermediation in the Initial Phase of German Akwa und die Deutschen, in: Etudes Germano-Africaines Colonial Rule in Cameroon, in: The Journal of Imperial and Com- 9/1991, S. 32–38. monwealth History 5/2016, S. 752–776.

14 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ mungen einzuordnen. Die Dolmetscher illustrie­ duktion kritisch reflektieren und dadurch Pro­ ren zudem beispielhaft das oft uneindeutige Ge­ zesse anstoßen, die die geistige Kolonisierung flecht aus Herrschaft und Widerstand, innerhalb überwinden, die die politische Kolonisierung be­ dessen auch die Frage, wer zur Kolonialmacht ge­ gleitete. Insofern hat das „post“ in postkolonial hört und wer zur beherrschten Bevölkerung, dif­ neben der zeitlichen auch eine epistemische Di­ ferenzierter beantwortet werden muss. Zugleich mension. 16 Es verweist auf den Versuch, die Prä­ sind in der Abhängigkeit der Kolonialbeamten missen, Erzählungen und Kategorien des Kolo­ von den Dolmetschern situativ koloniale Macht­ nialismus kritisch zu hinterfragen und über sie hierarchien infrage gestellt. hinauszugehen. Gayatri Chakravorty Spivak, eine der zen­ In diesem Sinne kritisiert der Historiker tralen Impulsgeberinnen postkolonialer Theorie, Dipesh Chakrabarty eine auf Europa bezogene hat darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, die Be­ Geschichtsschreibung, die aus der Entwicklung dingungen von Handlungsmacht zu reflektieren. Europas abgeleitete Konzepte als vermeintlich Wer konnte das Wort erheben und für eigene Be­ universale Kategorien auf außereuropäische Zu­ lange kämpfen? Welche Ausdrucksweisen hatten sammenhänge überträgt. 17 Die europäische Ent­ die jeweiligen Subjekte überhaupt zur Verfügung, wicklung werde zum Maßstab erhoben und die und wurden diese wahrgenommen? Wie werden Geschichte außereuropäischer Gesellschaften le­ sie erinnert? 15 diglich in ihrer Abweichung von dieser Entwick­ Die Frage nach der Zugänglichkeit der Per­ lung betrachtet. Folglich werden diese Erzäh­ spektiven verschiedener Akteure und Akteurin­ lungen durch die Vorstellungen eines Mangels nen berührt auch die empirische Grundlage der strukturiert. Die spezifischen außereuropäischen Kolonialgeschichtsschreibung. Diese ist mit einer Kontexte werden in ihrer Ambivalenz und Wider­ asymmetrischen Quellenüberlieferung konfron­ sprüchlichkeit eingeebnet, sie sind allenfalls empi­ tiert. Eine relative, wenn auch lückenhafte Mas­ risch präsent, nicht aber in der Theoriebildung. se an schriftlichen Dokumenten der Kolonialver­ Chakrabarty fordert, die zum allgemeinen waltungen steht einer Leerstelle entsprechender Maßstab erhobene europäische Entwicklung und schriftlicher Überlieferung der kolonisier­ aus dieser Entwicklung abgeleitete Konzepte zu ten Bevölkerung gegenüber. Eine postkolonia­ „provinzialisieren“. Die Partikularität der europäi­ le Perspektive umfasst daher die kontinuierliche schen Entwicklung soll so wieder sichtbar gemacht kritische Reflexion dieser Asymmetrien und Vor­ werden. Schließlich ist die Dominanz dieser Er­ eingenommenheiten der Quellen ebenso wie Ver­ zählungen und Begriffe selbst eine Folge des Ko­ suche, alternative Quellen aufzuspüren oder vor­ lonialismus, der die Entwicklung in Europa zum handene Quellen gegen den Strich zu lesen. analytischen Maßstab erhob und anderes Wissen oder andere Erzählungen abwertete oder verein­ JENSEITS DES nahmte. Die oft gewalttätigen Bedingungen, un­ MAẞSTABS EUROPA ter denen diese Konzepte universalisiert wurden, müssen – so Chakrabarty – mitbedacht werden. Die Forderung, die methodischen Voraussetzun­ Eine postkoloniale Kolonialgeschichtsschrei­ gen postkolonialer Geschichtsschreibung zu re­ bung nimmt daher die Funktionsweisen des Ko­ flektieren, bezieht sich auch auf die verwendeten lonialismus nicht nur als politisches Herrschafts­ Begriffe und Narrative. Postkoloniale Ansätze als system, sondern auch als Wissenssystem in den wissenschaftspolitisches Projekt zielen darauf, Blick. Sie fragt nach den Wechselwirkungen zwi­ die Dominanz europäischer Erklärungsmodel­ schen der kolonialen Eroberung und der Ent­ le und Begriffe herauszufordern und Eurozent­ wicklung von Wissensfeldern, wissenschaftlichen rismus, das heißt die Beurteilung der Welt nach Disziplinen und ihren Forschungsmethoden. europäischen Normen und Maßstäben, zu über­ Illustrieren lässt sich dies an der Erforschung winden. Sie wollen die erkenntnistheoretischen außereuropäischen Rechts in Deutschland, das Voraussetzungen unserer heutigen Wissenspro­ infolge der kolonialen Eroberungen des Deut­

15 Vgl. Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Cary 16 Vgl. Hall (Anm. 3), S. 236–239. Nelson/Lawrence Grossberg (Hrsg.), Marxism and the Interpre- 17 Vgl. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcoloni- tation of Culture, Urbana–Chicago 1988, S. 271–313. al Thought and Historical Difference, Princeton 2000.

15 APuZ 40–42/2019 schen Reichs verstärkte Aufmerksamkeit er­ JENSEITS DER hielt. 18 Schließlich schien es nützlich, die Rechts­ KOLONIALGESCHICHTE praktiken der beherrschten Bevölkerung zu kennen. Zum Teil mit Unterstützung der Kolo­ Nicht zuletzt impliziert eine postkoloniale Per­ nialverwaltung beschäftigten sich verschiedene spektive, dass auch Historiker und Historikerin­ Forschungsprojekte um 1900 mit dem Recht der nen, die sich nicht mit deutscher Kolonialgeschich­ Bevölkerungen in den Kolonien. Dazu wurden te an sich beschäftigen, sensibilisiert sein sollten vor allem Fragebögen in die Kolonien gesandt, für die potenziellen kolonialen Dimensionen ihrer die von Kolonialbeamten, Missionaren und ande­ Untersuchungsgegenstände. Deutsche Kolonial­ ren geeigneten Personen ausgefüllt und anschlie­ geschichte aus einer postkolonialen Perspektive zu ßend von Juristen in Deutschland ausgewertet schreiben, heißt, die Kolonien und das Deutsche werden sollten. Die koloniale ökonomische Aus­ Reich zusammen zu betrachten und deren ver­ beutungsstruktur wurde so im wissenschaftlichen flochtene Geschichte zu begreifen. 19 Das umfasst Bereich repliziert, indem Kolonien und ihre Be­ die Frage, wie Kolonialismus im Deutschen Reich völkerungen als Quellen von Rohdaten behandelt vermittelt, legitimiert, instrumentalisiert und erlebt wurden, die deutsche Experten, meist außerhalb wurde, kurz gesagt, wie sich das „Empire at home“ der Kolonien, verwerteten. manifestierte. Wer sich mit der Geschichte von Die Fragebögen verwendeten zahlreiche Unterhaltungs- und Vergnügungskultur beschäf­ Rechtsbegriffe, die aus der deutschen Rechtssys­ tigt, kommt zum Beispiel nicht umhin, die kolo­ tematik abgeleitet waren, wie etwa die Trennung nialen Aspekte beliebter Unterhaltungsveranstal­ in Zivilrecht und Strafrecht. Diese Begriffe wur­ tungen zu reflektieren. Sogenannte Völkerschauen den undifferenziert als universale Kategorien für inszenierten bis weit in die 1940er Jahre Menschen die Erhebung des Rechts in verschiedensten Ge­ anderer Kulturen als rückständig und fremdartig. 20 sellschaften verwendet. Eine methodische Dis­ Als eigenständige Veranstaltungen oder Attrakti­ kussion über indigene Informanten, die angeblich onen in Vergnügungsparks und Gewerbeausstel­ unzuverlässig und nicht zu abstraktem Denken lungen übten sie koloniale Sichtweisen und Vor­ fähig seien, kulminierte zudem in der Forderung, stellungen ein. Zugleich war die Anwerbung und diese aus dem Forschungsprozess auszuschließen Behandlung von Darstellern und Darstellerinnen und nur auf die Beobachtung zu setzen. Dies ist solcher Shows während der Zeit des formalen Ko­ nur ein Beispiel, wie sich rassistische Stereotype lonialbesitzes aufs Engste mit den politischen Ent­ über die kolonisierte Bevölkerung in die euro­ wicklungen in den Kolonien verbunden. In post­ päische Wissensproduktion über diese Bevölke­ kolonialer Perspektive geht es nicht nur darum, rung einlagerten. Zudem verwies die methodi­ Völkerschauen als Unterhaltungsveranstaltungen sche Diskussion die kolonisierte Bevölkerung zu untersuchen, sondern systematisch nach den auf die Rolle des Untersuchungsgegenstands und Verbindungen zwischen Unterhaltungs- und Ver­ trug so dazu bei, ihre Beteiligung an der Wis­ gnügungskultur und Kolonialismus zu fragen. sensproduktion zu verschleiern. Dadurch wur­ Die Geschichte der deutschen kolonialen An­ den symbolisch auch koloniale Hierarchien von sprüche, Fantasien und Eroberungen, die Ent­ Wissen und Unwissenheit wiederhergestellt, die wicklungen in den deutschen Kolonien und deren im Forschungsprozess sowie bei der Ausübung Rückwirkungen auf das Deutsche Reich sind un­ der kolonialen Herrschaft faktisch immer wieder verzichtbarer Teil der „allgemeinen“ deutschen Ge­ zusammen­brachen. schichte. Deutsche Kolonialgeschichte kann daher nicht als abgeschlossene Subdisziplin geschrieben werden. Im Sinne postkolonialer Ansätze müss­ 18 Vgl. Ulrike Schaper, Koloniale Verhandlungen. Gerichts- barkeit, Verwaltung und Herrschaft in Kamerun 1884–1916, te die Frage also vielmehr lauten: „Deutsche Ge­ Frank ­furt/M.–New York 2012, Kapitel 4. schichte postkolonial schreiben: Was heißt das?“ 19 Vgl. Shalini Randeria, Geteilte Geschichte und verwobe- ne Moderne, in: Jörn Rüsen/Hanna Leitgeb/Norbert Jegelka ULRIKE SCHAPER (Hrsg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Verände- ist Juniorprofessorin für die Geschichte des 19. und rung, Frank­furt/M.–New York 2000, S. 87–96. 20 Vgl. Susann Lewerenz, Geteilte Welten. Exotisierte Unter- 20. Jahrhunderts am Friedrich-Meinecke-Institut haltung und Artist*­innen of Color in Deutschland 1920–1960, der Freien Universität Berlin. Köln–Weimar–Wien 2017. [email protected]

16 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ

RESTITUTIONSDEBATTEN, KOLONIALE APHASIE UND DIE FRAGE, WAS EUROPA AUSMACHT Rebekka Habermas

2014 besuchte Octavius Seowtewa, ein Vertreter mehr ausschließlich als ein Ort verstehen, an dem der Zuni, die im Süden der USA leben, die ethnolo­ die Dinge aufbewahrt werden, sondern verstärkt gischen Museen in Paris, Berlin, London und Lei­ als eine Institution, die dafür Sorge trägt, dass die den. Er war auf der Suche nach sogenannten Ahay­ jeweiligen Gemeinschaften Kontakt zu ihrer eige­ udas – geschnitzte Figuren, die als sakrale Objekte nen Geschichte herstellen können, von der sie bis­ verehrt werden, da ihnen nachgesagt wird, viel­ her manchmal kaum etwas kannten. fältige Formen von Schutz gewähren zu können. Obschon er viele Ahayudas fand, musste er unver­ ERSTE DEBATTEN ÜBER richteter Dinge nach Hause fahren. Kein einziges RESTITUTIONEN IN EUROPA Museum war bereit, die sakralen Objekte zurück­ zugeben. Die Enttäuschung Octavius Seowtewas Die Frage, wie mit Objekten, die aus kolonialen war auch deshalb sehr groß, weil er aus den USA Unrechtskontexten stammen, umgegangen wer­ eine andere Politik gewohnt war. Bereits 1980 hat­ den soll, kam in den 1960er Jahren, kurz nach der te das Denver Museum of Art Ahayudas zurück­ Unabhängigkeit der ersten afrikanischen Staaten, in gegeben, und seit 1990 regelt ein eigenes Gesetz, Europa auf. In den 1970er Jahren gab es zaghafte, dass menschliche Überreste und bestimmte Kul­ allerdings nicht sehr erfolgreiche Versuche, Resti­ turgüter der first nations, die sich in staatlichen tutionen in die Wege zu leiten. Erst in den 2000er Museen befinden, zurückgegeben werden müssen. Jahren und verstärkt seit drei, vier Jahren diskutiert Mittlerweile sind über eine Million solcher Objek­ man intensiv über koloniale Objekte. Obschon die­ te an die Gemeinschaften zurückgegeben worden, se Debatten in den jeweiligen europäischen Ländern die diese in Museen ausstellen, im Rahmen sak­ unterschiedlich verlaufen, gibt es einige Gemein­ raler Handlungen nutzen oder, wenn es sich um samkeiten: So wird die Frage nach der Rückgabe menschliche Überreste handelt, feierlich begraben. von menschlichen Überresten mittlerweile weit­ In Neuseeland hat die Regierung 2003 ein staat­ gehend einvernehmlich dahingehend beantwortet, lich finanziertes Programm aufgelegt, das Forde­ dass diese zu restituieren sind, während der Aus­ rungen nach Rückgabe menschlicher Überreste gang des Streits über die Rückgabe von Kulturgü­ praktisch und finanziell unterstützt. Vergleichba­ tern anhält. res gibt es in Australien und Kanada. In Frankreich wurde beispielsweise bereits Auch haben sich in den Museen dieser ehemali­ 2002 beschlossen, die Überreste von Sarah Baart­ gen Siedlerkolonien mittlerweile neue Arbeitsfor­ mann zu restituieren. Baartmann war Ende des men etabliert. Man kooperiert nun ganz selbstver­ 18. Jahrhunderts aus Südafrika nach England ständlich mit den Nachkommen derjenigen, deren und später nach Frankreich gebracht worden, Objekte hier ausgestellt werden. Gemeinsam wird wo sie als „Hottentot Venus“ in Völkerschauen entschieden, wie und was präsentiert werden soll ausgestellt und zu einem begehrten Objekt der und was nicht. So gibt es in australischen Muse­ zeitgenössischen Rasseforschung wurde. Nach en zahlreiche sakrale Objekte, die überhaupt nicht ihrem Tod 1815 wurden ihr Skelett und ihre Ge­ mehr ausgestellt werden, weil dies gemäß der lo­ schlechtsteile konserviert und in einem Pariser kalen Überlieferung deren Kraft vermindern be­ Museum aufbewahrt. 2002, nach langen vergeb­ ziehungsweise einen Tabubruch darstellen wür­ lichen Rückgabebitten, wurde Sarah Baartmann de. Eine andere Folge ist, dass sich Museen nicht feierlich in Südafrika beigesetzt.

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Auch in Deutschland reagierte man auf unter nur wenig mit dem Thema beschäftigen, während anderem an die Berliner Charité gerichtete For­ Spanien gerade eine neue Diskussion über seine ko­ derungen nach Rückgabe von Skeletten bezie­ loniale Vergangenheit erlebt. hungsweise Schädeln zunächst zwar nicht sehr Mittlerweile finden auch vereinzelte Restituti­ sensibel, aber dennoch nicht vollkommen ableh­ onen statt, etwa durch das Stuttgarter Lindenmuse­ nend. 2011 begannen die ersten Rückführungen um, das 2019 den Herero entwendete Gegenstände nach Namibia, Australien und Neuseeland. Die zurückgab. Macron versprach 2018, die Kulturgü­ Beisetzungen waren auch hier meist mit größe­ ter des ehemaligen Königreichs Dahomey an Be­ ren rituellen Feierlichkeiten verbunden. Für viele nin zurückzugeben, das Niederländische Natio­ Nachfahren bildeten sie den Schlusspunkt langer nalmuseum der Weltkulturen möchte noch 2019 und schmerzhafter Bemühungen, Vorfahren, die Benin-Bronzen zurückbringen, und der Direk­ oft wichtige politische und spirituelle Positionen tor des Rijksmuseum in Amsterdam, Taco Dib­ innerhalb einer Gemeinschaft eingenommen hat­ bits, stellt Gespräche mit Indonesien und Sri Lan­ ten, in der heimischen Erde beizusetzen. ka über Restitutionen von Raubkunst in Aussicht. Den Rückgabeforderungen von Kulturgü­ Eine grundsätzliche Neuregelung ist freilich nir­ tern gegenüber zeigte man sich in Europa hinge­ gends geplant. Die Reaktionen in afrikanischen gen wesentlich reservierter. Die vom Oba von Be­ Staaten, aber auch in Teilen Ozeaniens und Asiens nin anlässlich der großen Wiener Ausstellung der schwanken zwischen zunehmendem Unverständ­ Bronzen Anfang 2000 gestellte Bitte um Rückga­ nis über die nach wie vor mehr als zögerlichen be der Benin-Bronzen, die 1897 von britischen Haltungen vieler Museen, die sich teilweise wie das Truppen im heutigen Nigeria geplündert worden British Museum weigern, über Restitutionen auch waren, wurde abgelehnt. Eine ähnliche, 2017 an nur nachzudenken, und offen artikulierter Wut. das British Museum gestellte Restitutionsbitte, wurde ebenfalls negativ beschieden. Genauso er­ ZIVILGESELLSCHAFTLICHE ging es Patrice Talon, Staatspräsident von Benin, INITIATIVEN, MUSEEN der 2016 vergeblich einige Objekte aus dem ehe­ UND POSTCOLONIAL STUDIES maligen Königreich Dahomey vom französischen Staat zurückforderte, die Ende des 19. Jahrhun­ So intensiv seit einiger Zeit aber auch darüber dis­ derts in einer kriegerischen Aktion geraubt und kutiert wird, wie viele Kulturgüter Frankreich an nach Paris gebracht worden waren. Afrika zurückgeben und wie mit den kolonia­ Erst in den vergangenen Jahren stießen die len Objekten im Humboldt-Forum umgegangen Rückgabeforderungen in Europa auf Resonanz. werden soll – im Kern der Debatte geht es um weit 2017 stellte der französische Staatspräsident Em­ mehr als um Objekte, für die sich bis vor Kurzem manuel Macron in seiner Rede in Ouagadougou nur sehr wenige Menschen überhaupt interessiert (Burkina Faso) generell die Rückgabe von Artefak­ haben. Es geht auch um die Frage, wie Europa ten aus dem subsaharischen Afrika in Aussicht. In sich zu seinem kolonialen Erbe verhält, ob die­ Deutschland nahm die Debatte im Zuge der Pla­ ses weiterhin beschwiegen wird oder ob man sich nungen für das Humboldt-Forum in Berlin Fahrt mit diesem Teil einer sehr gewaltvollen und bis auf. Dort sollen unter anderem Objekte aus dem heute nachwirkenden Geschichte auseinander­ Ethnologischen Museum in Dahlem ausgestellt setzt. Ein solches Beschweigen oder eine „kolo­ werden. In Belgien war die 2018 erfolgte Neueröff­ niale Aphasie“, 01 lässt sich nicht nur in Deutsch­ nung des Afrikamuseums in Terveuren ein Auslö­ land beobachten. Auch die Nachbarländer, die ser, während sich die Debatten in Holland aufgrund wie Frankreich, Belgien und England eine we­ der Politik des Amsterdamer Weltkulturmuse­ sentlich längere Kolonialgeschichte hatten, haben ums intensivierten. In der Schweiz diskutiert man sich mit diesem Teil ihrer blutigen Vergangenheit nicht zuletzt unter dem Eindruck der am Züricher bisher nur am Rande auseinandergesetzt. Museum Rietberg 2019 gezeigten Ausstellung zur Vor diesem Hintergrund, der in einem schar­ Provenienzforschung darüber, wie ein Land, das fen Kontrast dazu steht, dass die koloniale Ver­ offiziell keine Kolonialmacht war, sich zu Rückga­ beforderungen verhalten sollte. Auffallend ist, dass 01 Vgl. Ann Laura Stoler, Colonial Aphasia: Disabled History osteuropäische Länder, aber auch Großbritannien, and Race in France, in: dies. (Hrsg.), Duress. Imperial Durabilities das die größte Kolonialmacht war, sich kaum oder in Our Times, Durham 2016, S. 122–170.

18 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ gangenheit in den ehemaligen Kolonien bis heu­ steiner, die 2007 in Wien eine große Benin-Aus­ te überaus präsent ist, ist es nur folgerichtig, dass stellung kuratierte, zeigten, wie man das Schwei­ weder Macron noch deutsche Museumsdirekto­ gen über die brutalen Gewaltakte, durch die die ren die zentralen Stichwortgeber der Debatte sind, Objekte nach Europa gekommen waren, brechen sondern Aktivisten, Künstlerinnen und Wissen­ kann. 2016 machte das Landesmuseum Hannover schaftler, von denen viele aus ehemaligen Kolo­ das „Heikle Erbe. Koloniale Spuren bis in die Ge­ nien kommen. Sie haben in jüngster Zeit immer genwart“ selbst zum Thema einer Ausstellung. deutlicher gefordert, dass sich Europa mit der Ge­ Auch an Universitäten begann man sich mit schichte und Gegenwart des Kolonialismus ausei­ der kolonialen Vergangenheit und Gegenwart zu nandersetzen müsse, um sich neu darüber zu ver­ beschäftigen. Maßgeblich war hier Edward Saids ständigen, was „Europa“ eigentlich ist. 02 1979 erschienenes Buch „Orientalism“, 03 das heu­ 1986 gründete sich die Initiative Schwarze Men­ te häufig als Gründungswerk der postcolonial stu- schen in Deutschland. Sie macht auf den alltägli­ dies bezeichnet wird. Said, aber auch die Arbeiten chen Rassismus aufmerksam, setzt sich für die Um­ von Talal Asad, Homi Bhabba und Achille Mbem­ benennung von nach Kolonialoffizieren benannten be, die den Wirkweisen kolonialen Denkens nach­ Straßen ein und erinnert an die vielen kolonialen gingen, beeinflussten nach und nach viele wissen­ Objekte, die in europäischen Museen lagern. Ab schaftliche Disziplinen. Museologische Studien den 2000er Jahren entstanden weitere Initiativen wie die von Anne Coombes zeigten, dass die Aus­ mit ähnlichen Zielsetzungen. No Humboldt 21 ist stellungspraxis der Völkerkundemuseen vor hun­ eine dieser Gruppen, die seit 2013 die kolonialen dert Jahren, in denen die Bevölkerung Afrikas, Hintergründe des geplanten Humboldt-Forums aber auch Ozeaniens und Asiens häufig als barba­ lautstark kritisierten. In den europäischen Nach­ risch und wild dargestellt wurden, erheblich dazu barländern, etwa in Frankreich, konnte man Ähn­ beitrug, dass koloniale und damit zutiefst rassisti­ liches beobachten: Hier schlossen sich 2005 über 60 sche Perspektiven verbreitet wurden. 04 Gruppen, die sich für die Interessen der in Frank­ In der Ethnologie nahm die selbstkritische Aus­ reich lebenden Menschen einsetzten, die aus Afri­ einandersetzung mit dem eigenen Fach, die bereits ka und den Antillen, aber auch aus Ozeanien stam­ in Fritz Kramers 1978 erschienenen Klassiker über men, zu der Initiative CRAN (Conseil représentatif die imaginierten Ethnografien des 19. Jahrhunderts des associations noires de France) zusammen. Die­ begonnen hatte, 05 ab den 1990er Jahren Fahrt auf. se lancierte 2013 eine Kampagne für die Restitution Mittlerweile haben zahlreiche Studien deutlich ge­ von Kulturgütern aus afrikanischen Ländern. macht, dass die um 1900 entstehende Ethnologie, Andere, wie etwa Chimamanda Ngozi Adichie,­ wie übrigens viele andere Fächer auch, eng mit ko­ machten die alltägliche Präsenz des Kolonialen lonialen Strukturen verwoben war. Gleichzeitig ge­ in Europa und Amerika in Romanen zum The­ hörten Ethnologen und auch Missionare zu den ma. Auch die 2002 von ­Okwui Enwezor kuratier­ ganz wenigen in Europa, die sich überhaupt mit te Documenta 11 wies mit Nachdruck darauf hin, außereuropäischen Gesellschaften beschäftigten. welche Rolle koloniales Erinnern in vielen Teilen Wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten wiederum der Welt bis heute spielt. Und schließlich sei an ko­ rekonstruierten, was die moderne Botanik, Zoolo­ lonialkritische Filme wie „The Mask“ des jüngst gie, aber auch Medizin und Religionswissenschaft verstorbenen Eddi Ugbomah erinnert, in dem ein den Tausenden von Sendungen mit konservierten nigerianischer James Bond die Benin-Bronzen aus Tier- und Menschenkörpern, Artefakten, Fotogra­ dem British Museum stiehlt. fien und Fonogrammaufnahmen aus den Kolonien Dann meldeten sich immer mehr Museumsku­ verdanken. Und Kunsthistorikerinnen wie Vikto­ ratoren und -kuratorinnen zu Wort, die die Aus­ ria Schmidt-Linsenhoff zeigten, dass die Kunstge­ stellungspraxis jener ethnologischer Museen infra­ schichte außereuropäischen Artefakten lange den ge stellten, die wie vor hundert Jahren Bastkörbe Status als Kunstwerk verweigerte, während genau oder Bronzestatuen in abgedunkelten Räumen präsentierten, ohne diese auch nur rudimentär zu kontextualisieren. Andere wie Barbara Planken­ 03 Edward W. Said, Orientalism, London 1978. 04 Vgl. Annie E. Coombes, Reinventing Africa. Museums, Mate- rial Culture and Popular Imagination, New Haven 1994. 02 So der Südafrikaner Ciraj Rassool auf der Konferenz „Mu- 05 Vgl. Fritz Kramer, Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethno- seums in Motion“ im Juli 2019 in Köln. graphie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1977.

19 APuZ 40–42/2019 diese Objekte gleichzeitig die moderne europäische in manchen Dimensionen verändert sich die Dis­ Kunst des Kubismus entscheidend mitprägten.­ 06 kussion bis heute. Manche sind für Rückgabe im Wie sehr sich die Agenden zivilgesellschaft­ Sinne Sarrs und Savoys, andere fordern erst aus­ licher Initiativen von denen aus Literatur, Kunst giebige Provenienzforschung und dann eventuell und Wissenschaft auch unterschieden, alle wiesen Rückgabe. Wieder andere wollen die Objekte nur mit Nachdruck darauf hin, dass sich in Europa zirkulieren lassen oder ganz in Europa belassen. eine Fortdauer kolonialer Strukturen beobach­ Ungeachtet dieser und vieler anderer Differenzen ten lässt und eine Auseinandersetzung mit diesem konzentriert sich die Debatte auf vier Streitpunkte: Erbe längst überfällig ist. Sie betreffen die Aufgabe europäischer Museen, die Rolle der ehemaligen Kolonien, Fragen des Rechts AKTUELLE DEBATTEN UND und die Bewertung der Kolonialgeschichte. KOLONIALE VERGANGENHEITEN Das Museum wird unter zwei Aspekten disku­ tiert. Nicht wenige argumentieren, dass Restituti­ Genau diese kolonialen Spuren spielen auch in der onen, wie sie Sarr und Savoy vorschlagen, einem Debatte über den Umgang mit kolonialen Objek­ „Ausverkauf der Museen“ gleichkämen. Dem wird ten eine Rolle. Mehr noch: Wie in einem Brenn­ entgegnet, dass Museen gewiss nicht entleert wür­ glas bündeln sich in der Restitutionsdebatte die den, da einerseits die Möglichkeit zur Rückgabe kei­ Themen, die zivilgesellschaftliche Initiativen wie neswegs mit dem Vollzug derselben zu verwechseln Schwarze Menschen in Deutschland und Theoreti­ sei und andererseits die schiere Masse der Objek­ ker wie Edward Said aufgeworfen haben, und in de­ te – zwei Millionen sollen allein in Deutschland la­ ren Kern auch die Frage steht, wie wir uns neu da­ gern – allen Entleerungsfantasien widerspreche. Eine rüber verständigen können, was Europa ausmacht. weitere Befürchtung ist, dass die eigentliche Aufgabe Dies wird deutlich sichtbar, wenn man sich die des Museums, das Bewahren von Geschichte, verlo­ Restitutionsdebatte genauer anschaut. Sie entwi­ ren ginge. 08 Dem entgegnen andere, die Museen als ckelte mit dem im Auftrag von Emmanuel Mac­ lebendige Gebilde sich stetig verändernder Gesell­ ron verfassten und im November 2018 veröffent­ schaften begreifen, dass es weniger darum gehe, dass lichten Bericht von Felwine Sarr und Bénédicte Museen ihre Bedeutung verlören, als darum, diese zu Savoy eine besondere Dynamik. 07 In dem Bericht verändern. Mehr noch, als Erfindungen des 19. Jahr­ wird empfohlen, die rund 80 000 im Besitz fran­ hunderts bedürften Museen einer solchen kritischen zösischer Museen befindlichen Objekte aus dem Neubestimmung. Nur so könnten sie von einem Ort subsaharischen Afrika zurückzugeben, wenn sie des Konservierens stillgestellter Geschichten und während der Kolonialzeit im Rahmen von Ge­ des Verschweigens von kolonialer Geschichte zu ei­ waltakten und wissenschaftlichen Expeditionen nem Forum für gesellschaftliche Debatten werden. 09 oder aufgrund von Schenkungen oder Verkäu­ Ein zweites, häufig von Gegnern und Gegne­ fen an die europäische Kolonialverwaltung oder rinnen der Restitution vorgebrachtes Argument -armee in französischen Besitz gekommen wa­ bezieht sich auf die Expertise, an der es außerhalb ren. Betont wird gleichzeitig, dass es sich bei der Europas angeblich mangele. So heißt es, dass af­ Rückgabe weder um eine Entschädigung für be­ rikanische Museen im Unterschied zu europäi­ gangenes koloniales Unrecht noch um die Wieder­ schen technisch nicht in der Lage seien, wertvol­ herstellung des Status quo ante handeln könne, da le Kulturgüter angemessen aufzubewahren. Mehr sich die Bedeutung der Objekte in den vielen Jahr­ noch drohten wertvolle Kulturgüter unweigerlich zehnten, in denen sie in französischen Museen la­ auf dem Kunstmarkt zu landen, da es außerhalb gerten, grundsätzlich verändert habe. Europas vor allem um ökonomische Interessen Die sich im Anschluss an diesen Bericht ent­ wickelnde Debatte brachte weit mehr als zwei sich 08 Vgl. Brigitta Hauser-Schäublin, Ethnologische Provenienzfor- konträr gegenüberstehende Positionen hervor, und schung – warum heute? in: Larissa Förster et al. (Hrsg.), Proveni- enzforschung zu ethnologischen Sammlungen der Kolonialzeit. Positionen in der aktuellen Debatte, o. O. 2017, S. 327–333. 06 Vgl. Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Ästhetik der Differenz. 09 Vgl. Larissa Förster, Problematische Provenienzen. Museale Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert, 2 Bde., und Universitäre Sammlungen aus postkolonialer Perspektive, Marburg 2014. in: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.), Deutscher Kolonialis- 07 Vgl. Felwine Sarr/Benédicte Savoy, Restituer le Patrimoine mus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart, Berlin 2016, Africain, Paris 2018. S. 154–161.

20 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ gehe. 10 In Europa seien die Objekte hingegen seit erstmals 2002 in einer Deklaration über die Be­ Jahrhunderten beschützt und gepflegt­worden. deutung und den Wert von Universalmuseen, kurz Dem wurde entgegnet, dass genau dies ein nachdem das British Museum mit Rückgabeforde­ durch den Kolonialismus geprägtes Argument sei, rungen aus Griechenland konfrontiert worden war. das von der Minderbefähigung nichteuropäischer An anderer Stelle heißt es, die von Sarr und Savoy Menschen und von Europas spezifischer Aufga­ vorgeschlagene Rückgabe impliziere die Umkehr be und Befähigung des Bewahrens ausgehe, wäh­ der Beweislast, womit das europäische Rechtssys­ rend andernorts angeblich primär ökonomische tem als Ganzes infrage gestellt werde. Und schließ­ Interessen vorherrschten. Auf diese Weise wür­ lich – so ein weiterer rechtlicher Einwand – sei die den nur die Argumente der Sammler wiederholt, Frage vollkommen ungeklärt, an wen die Objekte die diese bereits im Kaiserreich formuliert hatten. zurückgegeben werden sollten, da die Nachkom­ Damals wollten sie die Objekte zwar nicht für men der ursprünglichen Eigentümer und Eigentü­ ein bildungsbeflissenes europäisches Museums­ merinnen meist nicht zu ermitteln seien. publikum, jedoch für die im Entstehen begriffe­ Was die rechtlichen Argumente anbelangt, ne wichtige Wissenschaft der Ethnologie „retten“. ist es in der Tat so, dass weder das Völkerrecht Weiter wurde gegen das Argument von fehlender noch das Bürgerliche Gesetzbuch und auch nicht afrikanischer Bewahrungskompetenz eingewandt, die Soft-law-Konventionen zum Kulturgut, die dass viele Objekte allein durch das Herausreißen die UNESCO in den vergangenen Jahrzehnten aus ihrem Kontext zumindest in ihrer symboli­ verabschiedet hat, Optionen auf eine Pflicht zur schen oder religiösen Bedeutung schon längst zer­ Rückgabe eröffnen. Freilich ist genau diese recht­ stört worden und viele durch die schädlichen oder liche Situation ihrerseits Teil des kolonialen Er­ auch mangelnden Konservierungsstoffe europäi­ bes: Das europäische Völkerrecht ebenso wie das scher Museen mittlerweile ebenfalls stark beschä­ deutsche Zivilrecht wurden während der Koloni­ digt seien. 11 Wieder andere wiesen darauf hin, dass alzeit kodifiziert. Beide legitimieren das Entwen­ in diesem Argument die koloniale Denkstruktur den von Gütern in den europäischen kolonialen zum Tragen komme, dass Europa das Privileg, ja Herrschaftssystemen, anstatt es unter Strafe zu das Recht habe, die Dinge anderer zu besitzen. Ein stellen. Befürworter von Rückgaben sehen hierin weiteres Argument lautet, dass die Objekte in Eu­ allerdings eher die Herausforderung für den Ge­ ropa deshalb besser aufgehoben seien, weil sie hier setzgeber, eine rechtliche Anpassung vorzuneh­ allen zugänglich seien, da das Museum per defini­ men, als ein Argument gegen Restitutionen. tionem eine Institution für die breite Öffentlich­ Ein letzter Einwand bezieht sich auf die Be­ keit sei. 12 Dieses Argument wurde unter anderem urteilung der kolonialen Geschichte. Diese kön­ von Arno Bertinas als das entblößt, was es ist: eine ne nicht pauschal über einen Kamm geschert reine Schimäre, da ignoriert wird, wie viel etwa werden, schließlich habe es auch positive Seiten Kameruner oder Bewohnerinnen von Papua Neu­ gegeben. Daran anschließend wurde argumentiert, guinea allein für Flüge und Visa ausgeben müssen, dass nicht jeder Kolonialbeamte und jede wissen­ um ihre Kulturgüter in Europa zu betrachten. 13 schaftliche Expedition mit Gewalt vorgegangen Des Weiteren wird auf der rechtlichen Ebene sei, schließlich habe es auch den Handel vor Ort diskutiert. So heißt es, Europa habe sich, weil es gegeben und man unterschätze die Möglichkeiten diese Objekte so lange gepflegt und beschützt habe, der lokalen Bevölkerung. Diese habe etwa im Fall das Recht erworben, sie zu behalten – so argumen­ Ozeanien sogar selbst Ethnographica für den eu­ tierten Vertreter der reichsten Museen der Welt ropäischen Markt hergestellt und dann gewinn­ bringend verkauft. 14 Was die Bewertung der Kolonialgeschichte an­ 10 Vgl. Bundestagsdrucksache 19/3264, 5. 7. 2018, Große Anfrage der Fraktion der AfD, Aufarbeitung der Provenienzen belangt, hat der Historiker Jürgen Zimmerer im­ von Kulturgut aus kolonialem Erbe in Museen und Sammlungen. mer wieder auf die strukturelle Gewalthaftigkeit 11 Vgl. Jörg Häntzschel, Passive Entsammlung, in: Süddeutsche kolonialer Herrschaft verwiesen. 15 Auch wurde Zeitung,. 9. 7 2019, S. 9. 12 Ein Streitgespräch über afrikanische Kunst in Europa. War Humboldt ein Kolonialist?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 14 Nicholas Thomas, Should Colonial Art Be Returned Home?, (FAZ),. 3. 1 2019, S. 11. 7. 12. 2018, www.ft.com/content/6c61c6e6-f7ed-11e8-af46- 13 Vgl. Arno Bertina, Mona Lisa in Bangoulap. Die Fabel vom 2022a0b02a6c. Weltmuseum, Berlin 2018. 15 https://twitter.com/juergenzimmerer.

21 APuZ 40–42/2019 unterstrichen, dass sich strukturelle Gewalthaftig­ Manches spricht jedoch dafür, dass man sich zu­ keit kolonialer Herrschaft und die durchaus zu­ mindest intensiver mit seiner Anfrage beschäf­ treffenden Beispiele einiger weniger lokaler Eth­ tigen würde: etwa die neuen Empfehlungen des nographicahändler keineswegs widersprechen. Deutschen Museumsbunds, das Eckpunktepa­ Gleichzeitig plädieren viele dafür, Kolonialge­ pier der Kultusminister, die von den Verantwort­ schichte nicht auf den insbesondere in den sozi­ lichen der ethnologischen Sammlungen verfass­ alen Medien in Deutschland immer wieder plaka­ te „Heidelberger Erklärung“, alle aus dem Jahr tiv betonten Genozid an den Herero und Nama 2019, sowie die öffentlichen Verlautbarungen der zu reduzieren. Mehr noch, das sei eine Verengung Kulturstaatsministerin Monika Grütters und der der Perspektive, da dadurch andere Gewaltdelikte Staatsministerin für Internationale Kulturpoli­ wie der Maji-Maji-Aufstand oder die vielen medi­ tik im Auswärtigen Amt Michelle Müntefering. 17 zinischen Experimente, vor allem aber die alltägli­ Wann und zu welchen gesetzlichen Veränderun­ che körperliche Gewalt in den Hintergrund trete gen es in Berlin, Paris und Brüssel kommt, ist al­ und auch die ökonomisch wie sozial folgenreichen lerdings weiterhin ­offen. kolonialen Verflechtungen, die bis heute nachwir­ Die Debatte hat auch andernorts Veränderun­ ken, übersehen würden. 16 gen vorangetrieben: So werden auf dem afrikani­ Wie dieser kursorische Überblick über die schen Kontinent immer mehr Museen gebaut. In Restitutionsdebatte zeigt, geht es immer wie­ Dakar wurde bereits 2018 mit chinesischer Un­ der um die Frage nach dem Fortleben des Kolo­ terstützung ein neues Museum eingeweiht. Südaf­ nialismus und dem Umgang damit. Was freilich rika hat gerade die Planung des Javatt Art Center auch deutlich wird, ist, dass viele Aspekte noch of Pretoria bekannt gegeben. In Lagos (JK Rand­ gar nicht benannt beziehungsweise verschwiegen le Center of Yoruba Culture and History) wie in werden: So kommt nicht nur die „afrikanische Benin City entstehen Museen. Mit diesen Muse­ Kunst“, wie es immer wieder verkürzend heißt, en könnte sich in Afrika, dessen Kulturgüter zu aus kolonialen Unrechtskontexten, sondern auch über 90 Prozent in ausländischen Museen sind, Naturalia, Zoologica und natürlich Ethnographi­ die Chance eröffnen, sich mit diesen auseinander­ ca. Das heißt aber auch, dass es nicht allein um zusetzen – eine Chance, die im Falle einer tatsäch­ Ethnologische Museen geht, die sich übrigens als lich beschlossenen Rückgabe im Sinne Sarrs und eine der ersten bereits in den 1980er Jahren um Savoys noch erheblich größer würde. Auch, so die Aufarbeitung ihrer Geschichte gekümmert die Kameruner Kuratorin Koyo Kouoh, würden haben, sondern um Naturkundemuseen, Kunst- einheimische Künstler, die so erstmals die Wer­ und Kunstgewerbemuseen ebenso wie um stadt­ ke ihrer Vorgängerinnen sehen können, wichtige geschichtliche Museen und universitäre Samm­ neue Impulse erhalten. Manche sprechen davon, lungen. Und schließlich fällt die Einengung der dass die Rückgabe überdies die Chance eröffne, Debatte auf Afrika ins Auge. Deutschland hatte die eigene Würde und Identität wiederzufinden, überdies in Ozeanien und dem heutigen China was Achille Mbembe allerdings bezweifelt, wenn Kolonien, ferner war Asien wie die Amerikas Teil er scheibt „Europa hat uns Dinge genommen, die von Kolonialreichen. es niemals wird zurückgeben können“. 18 Aber auch für Europa bietet die Debatte neue PERSPEKTIVEN Möglichkeiten. Nach Jahrzehnten der Geschichts­ vergessenheit könnte zusammen mit den ehemali­ Wir wissen nicht, ob Octavius Seowtewa heute, gen Kolonien ein neuer Blick auf die gemeinsame nur fünf Jahre nach dem ersten Versuch, mehr Geschichte gewagt werden: ein Blick, der koloniale Erfolg mit seinen Rückgabeforderungen hätte. Denkstrukturen hinterfragt, statt sie fortzuschrei­ ben und nach wie vor zu glauben, Europa müsse 16 Vgl. Rebekka Habermas/Ulrike Lindner, Rückgabe und die Güter Anderer bewahren und retten. mehr!, in: Die Zeit, 13. 12. 2018, S. 19. 17 Vgl. Monika Grütters/Michelle Müntefering, Eine Lücke in unserem Gedächtnis, in: FAZ, 15. 12. 2018, S. 11. REBEKKA HABERMAS 18 Achille Mbembe, Tribune, 1. 12. 2018, www.lemonde.fr/ afrique/article/2018/12/01/achille-mbembe-la-verite-est-que- ist Professorin für Mittlere und Neuere Geschichte l-europe-nous-a-pris-des-choses-qu-elle-ne-pourra-jamais- an der Georg-August-Universität Göttingen. restituer_5391216_3212.html. [email protected]

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SCHWIERIGE (POST-)KOLONIALE AUSSÖHNUNG Deutschland, Namibia und der Völkermord an den Herero und Nama

Jürgen Zimmerer

„No number of visits by the officials of the Fe­ schen und politischen Sinne, aber nicht im recht­ deral Republic of Germany will bring any re­ lichen Sinne“ benutzt werden dürfe, sowie bei conciliation between the Nama and OvaHerero der Frage der Entschuldigung. Reparationen sei­ people on the one hand, and the Federal Repub­ en allerdings ein „No-Go“, da beim Gebrauch lic of Germany on the other hand, without dia­ dieses Begriffs der Eindruck einer rechtlichen logue with the legitimate leaders of the Nama and Verpflichtung entstehe. Stattdessen solle es ein OvaHerero people.“ 01 Der Bundesminister für freiwilliges Engagement geben. Hier denke die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick­ deutsche Seite zum einen an einen „Versöhnungs­ lung hatte sich wohl eine andere Resonanz seines fonds“ und an ein Treuhandkonto für „besonders Besuches Ende August 2019 in Windhuk erhofft betroffene Gemeinschaften“ (PACT, Particular­ als diese Presseerklärung der Nama Traditional ly Affected Communities Trust). 05 Der namibi­ Leaders Association. Zunächst schien es fast, als sche Sondergesandte für die Verhandlungen, Zed werde Gerd Müller die Verhandlungen mit Na­ Ngavirue, bestätigte diesen Stand der Dinge von mibia über den Genozid an Herero und Nama namibischer Seite. Man warte darauf, dass sich von 1904 bis 1908 02 aus der Sackgasse führen, in Deutschland hinsichtlich der finanziellen Aspek­ die sie durch den Ausschluss zentraler Opferver­ te entscheide. 06 bände geraten waren. Dann sprach der Minis­ Warum dann die harsche Reaktion der Nama? ter während seiner Reise aber lediglich mit jenen In der Presseerklärung ist von Geld nicht die Vertreter*­innen von Herero und Nama, die auch Rede, zumindest nicht unmittelbar. Es geht viel­ bisher schon am Verhandlungstisch gesessen hat­ mehr um Fragen der Teilhabe und Repräsentati­ ten, und legte keine konkreten Vorschläge für den on. Wer darf für wen sprechen, mitverhandeln, zentralen Streitpunkt der Regierungsverhandlun­ auf wessen Zustimmung kommt es an? Und gen vor: die Frage der Reparationen. Der Text ei­ reicht eine freiwillige Zahlung, eine Hilfe, die ner politischen Erklärung liege vor, die Finanz­ dem Geber eine herausgehobene Moralität zu­ frage sei allerdings noch offen. 03 weist? Wie gestaltet sich überhaupt das Verhält­ Das hatte der mittlerweile in den Ruhestand nis zweier Staaten in derartigen Verhandlungen, getretene deutsche Botschafter Christian-Matthias in denen einer ein wichtiger Geldgeber des an­ Schlaga bereits im Juni 2019 erklärt, als er in ei­ deren ist und nun historische Schuld eingestehen ner Rede vor der Wissenschaftlichen Gesellschaft muss? in Swakopmund ankündigte, die Regierungsver­ Diese Konstellation hat zwischen Deutsch­ handlungen zwischen Deutschland und Nami­ land und Namibia immer wieder zu Spannun­ bia über den Umgang mit dem Krieg gegen die gen geführt, so auch im Juni 2019, als Botschafter Herero und Nama im damaligen Deutsch-Süd­ Schlaga in seiner bereits zitierten Rede Tansania westafrika hätten zu einer fast fertigen „politi­ lobend hervorhob, wo man im Vergleich zu Na­ schen Deklaration“ geführt. „Es fehlen nur noch mibia schon „einen Schritt weiter“ sei: „In Tan­ die Beträge“, wurde er zitiert. 04 Eine Einigung sania (…) wird keine Entschädigung gefordert. gebe es hingegen bei der Bewertung des Krieges Das Land möchte die Kolonialgeschichte ver­ als Genozid, wobei der Begriff nur im „morali­ gessen und ein gesundes Verhältnis aufbauen.

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Sie möchten sehen, dass Deutschland sie wei­ DEUTSCHLAND UND NAMIBIA ter unterstützt.“ 07 Ungeachtet der Tatsache, dass IM 21. JAHRHUNDERT auch in Tansania ein kritischerer Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte gefordert und eine Namibia wurde am 21. März 1990 unabhängig von Restitution von während der Kolonialzeit außer Südafrika, an das es nach dem Ersten Weltkrieg Landes gebrachten Objekten diskutiert wird und als Mandat des Völkerbunds übergeben worden einzelne Regierungsmitglieder Reparationen ge­ war, sodass eine offene Debatte über Kolonial­ fordert haben, suggerierte der höchste Repräsen­ verbrechen erst spät möglich war. 08 Dass Namibia tant Deutschlands in Namibia zweierlei: einen einst eine deutsche Kolonie gewesen war und eine Widerspruch zwischen einem kritischen Umgang deutschsprachige, als deutsch empfundene und mit der (Kolonial-)Geschichte und einem „ge­ sich selbst empfindende Minderheit existiert, be­ sunden Verhältnis“ zwischen beiden Staaten ei­ stimmte auch das Gefühl einer besonderen deut­ nerseits, die Abhängigkeit der weiteren Zahlung schen Verantwortung für Namibia, wie sie der von Entwicklungsgeldern von einem ebensolchen Deutsche Bundestag in einer Resolution am Vor­ „gesunden Verhältnis“ andererseits. abend der namibischen Unabhängigkeit festhielt. Dass Schlaga diese Rede ausgerechnet in Swa­ Obwohl in den ursprünglichen Anträgen insbe­ kopmund hielt, für viele Sinnbild für das „deut­ sondere der Grünen durchaus enthalten, findet sche“ Namibia, und vor der überwiegend von sich über die Erwähnung der deutschsprachigen deutschsprachigen Namibier*­innen getragenen Minderheit hinaus im endgültigen Resolutionstext Wissenschaftlichen Gesellschaft, rührt an einen kein Hinweis auf die Kolonialvergangenheit oder weiteren verkomplizierenden Faktor: die Exis­ den Völkermord an Herero und Nama. 09 tenz einer deutschsprachigen Minderheit in Na­ Aufgrund dieser „besonderen Verantwortung“ mibia, die sich bisher mit Blick auf die eigenen erhielt Namibia in den folgenden drei Jahrzehn­ Fehler beziehungsweise die ihrer Vorfahren so­ ten besonders hohe Entwicklungshilfezahlungen wie hinsichtlich der Quellen ihres Wohlstands aus Deutschland. Diese hatten aber im Ursprung nicht durch besondere Reflexionsbereitschaft nichts mit den kolonialen Verbrechen zu tun, son­ hervorgetan hat. Es ergibt sich aber in gewisser dern mit den deutschen „Landsleuten“. Als solche Weise aus dem besonderen Verständnis der Be­ begrüßte sie Bundeskanzler Helmut Kohl 1995 ziehung zu Namibia in Deutschland seit der Un­ während seines Besuchs in Windhuk, nachdem er abhängigkeit, wie sich überhaupt die gegenwärti­ gegen Vorbehalte der namibischen Regierung ei­ ge verfahrene Situation auch aus den politischen nen Empfang für die deutschsprachige Minderheit Verdrängungen in Berlin (und Bonn) über die in Namibia als offiziellen Programmpunkt durch­ vergangenen dreißig Jahren ableitet. gesetzt hatte. In seiner Rede wies er auf die be­ sonderen Verdienste der Deutschsprachigen bei

01 Nama Traditional Leaders Association, Press Release der Entwicklung des Landes hin. Zu einem Tref­ Following the Visit of Mr. Gert Muller, German Minister for fen mit den Opfergruppen des Völkermords kam Economic Cooperation and Development, 2. 9. 2019. es hingegen nicht. 10 Der Staatsbesuch von Bundes­ 02 Zur Einführung in die historischen Umstände siehe Jürgen präsident Roman Herzog drei Jahre später verlief Zimmerer, Widerstand und Genozid: Der Krieg des Deutschen ähnlich: Der Völkermord wurde nicht themati­ Reiches gegen die Herero in Südwestafrika (1904–1908), in: APuZ 27/2014, S. 31–38; ders./Joachim Zeller (Hrsg.), Völker- siert, stattdessen sorgte sich Herzog um den privi­ 11 mord in Deutsch-Südwestafrika (1904–1908). Der Kolonialkrieg legierten Status der deutschen Sprache. in Namibia und die Folgen, Berlin 2003. Zur historischen Ver- ortung des Genozids vgl. ders., Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, 08 Siehe für einen Überblick zur deutschen Kolonialherr­schaft Münster 2011. in Südwestafrika Jürgen Zimmerer, Deutsche Herr­schaft über 03 Zit. nach Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit vor dem Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolo - Abschluss?, 29. 8. 2019, www.dw.com/de/​a-50222104. nialen Namibia, Münster 2004. Einen Überblick über die namibi - 04 Zit. nach Erwin Leuschner, Verlangter Betrag ist Stolperstein, sche Geschichte allgemein bietet Marion Wallace, A History of in: Allgemeine Zeitung, 6. 6. 2019. Namibia. From the Beginning to 1990, London 2011. 05 Ebd. 09 Siehe im Einzelnen dazu Reinhart Kößler/Henning Melber, 06 Ndanki Kahiurika, Genocide Reparation Negotiations on Völkermord – und was dann? Die Politik der deutsch-namibi- Home Stretch, 6. 9. 2019, www.namibian.com.na/82824/read/ schen Vergangenheitsbearbeitung, Frank­furt/M. 2017, S. 45 ff. Genocide-reparation-negotiations-on-home-stretch. 10 Vgl. ebd., S. 48. 07 Leuschner (Anm. 4). 11 Vgl. ebd., S. 49.

24 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ

Auch unter der rot-grünen Bundesregierung Ohren der Betroffenen wie eine Einschränkung, änderte sich an der Haltung zu den Fragen der ein „Genozid zweiter Klasse“, klingen muss, liegt Anerkennung und Wiedergutmachung für den auf der Hand. Völkermord nichts. Bundesaußenminister Josch­ ka Fischer fand zwar immer wieder wohltönen­ ERZWUNGENE INFORMELLE de Worte über die Verantwortung, die aus Ausch­ ANERKENNUNG witz erfolge, bezüglich des Genozids an Herero und Nama wollte er „eine entschädigungsrele­ Aufgebrochen wurde diese Tabuisierung von of­ vante Entschuldigung“ aber nicht abgeben. 12 Die fizieller Seite letztendlich durch einen Eklat. Erst Angst vor der Anerkennung des Völkermords als der internationale Druck zu groß wurde, be­ und daraus folgender juristischer Konsequenzen, wegte sich die Bundesregierung – ein Muster, das also vor allem Reparationszahlungen, gehört zu jenem beim deutschen Umgang mit den natio­ den Konstanten der deutschen Politik über alle nalsozialistischen Verbrechen ähnelt, wo die er­ Regierungswechsel hinweg. innerungspolitischen Schübe häufig von außen Einen Kontrapunkt zur offiziellen Position oder von der Zivilgesellschaft erzwungen werden setzte lediglich Bundesentwicklungsministerin mussten. Im Falle des Völkermords in Deutsch- Heidemarie Wieczorek-Zeul, als sie im August Südwestafrika vermochten die Opfergesellschaf­ 2004 bei den Gedenkfeierlichkeiten der Herero ten oder deren staatliche Ver­treter*­innen auf­ in Okakarara sagte: „Die damaligen Gräueltaten grund des globalen Machtungleichgewichts und waren das, was heute als Völkermord bezeich­ innerer Uneinigkeit einen solchen Druck je­ net würde – ein General von Trotha würde dafür doch nicht selbst aufzubauen. Dies geschah un­ heute vor Gericht gebracht und verurteilt.“ Auf absichtlich erst durch den Deutschen Bundestag, Nachfrage bestätigte sie, dass es sich dabei um der ab 2015 den osmanischen Völkermord an den eine Entschuldigung handele. 13 Ihre Äußerun­ Armenier*­innen diskutierte. gen wurden jedoch als ihre Privatmeinung abge­ Mit seinem Bekenntnis zur Bedeutung einer tan, die große Chance, die ihre Geste bot, von der kritischen Auseinandersetzung mit der Vergan­ Bundesregierung nicht genutzt. genheit leitete das Parlament eher zufällig eine er­ Die Tabuisierung des Genozid-Begriffs durch innerungspolitische Wende für die Frage des Um­ die deutsche Politik setzte sich fort. Neben offen gangs mit Deutschlands kolonialer Vergangenheit kolonialapologetischen Positionen, die sich teil­ ein. Dass der Bundestag bereitwilliger die Aner­ weise auf rechtsextreme Propaganda stützten und kennung eines Völkermords eines anderen Staa­ die Ereignisse an sich infrage stellten, 14 vertraten tes diskutierte als eines deutschen, blieb ebenso Mitglieder der Bundesregierung und der sie tra­ wenig unkommentiert, 16 wie dass Bundespräsi­ genden Parteien noch 2012 das problematische dent Joachim Gauck beim zentralen Gedenkgot­ Argument, der Begriff „Genozid“ könne nicht tesdienst im April 2015 in Berlin mit Blick auf die auf Ereignisse vor dem Ersten Weltkrieg ange­ Türkei erklärte, die offene Bewältigung derarti­ wendet werden, da er erst 1948 mit der UN-Völ­ ger Verbrechen sei die Grundvoraussetzung für kermordkonvention Teil des internationalen Völ­ eine moderne, offene und demokratische Gesell­ kerstrafrechts geworden sei. 15 Anderslautende schaft, 17 wenige Wochen später jedoch ablehnte, Rechtspositionen wurden und werden ausgeblen­ eine Delegation von Herero und Nama zu emp­ det. Den Genozid-Begriff nur in einem morali­ fangen. 18 Die international wie von der deutschen schen Sinne verwenden zu wollen, ist eine Konse­ Zivilgesellschaft geäußerte Kritik entfaltete unge­ quenz dieser Rechtsauffassung. Dass dies in den ahnte Wirkung, denn nur eine rasche (Teil-)Kor­ rektur der deutschen Politik konnte den Ima­ geschaden noch begrenzen. Und so nahm die 12 Zit. nach ebd., S. 59. 13 Vgl. Heidemarie Wieczorek-Zeul, Welt bewegen. Erfahrun- gen und Begegnungen, Berlin 2007, S. 47. 16 Vgl. Historiker wirft Bundestag Doppelmoral vor, 3. 6. 2016, 14 Vgl. Dominic Johnson, Bundestag drückt sich vor Koloni- www.spiegel.de/politik/deutschland/-a-1095705.html. alzeit, in: Die Tageszeitung, 19. 6. 2004, S. 7; Kößler/Melber 17 Vgl. Jürgen Zimmerer, Widersprüche deutscher Erinnerung, (Anm. 9), S. 61 f. 9.. 7 2015, https://taz.de/!5211171. 15 Vgl. Der erste deutsche Völkermord, 22. 3. 2012, www.n- 18 Vgl. Johannes Supe, Gauck lässt sich verleugnen, 7. 7. 2015, tv.de/politik/-article5822726.html. www.jungewelt.de/artikel/268155.html.

25 APuZ 40–42/2019

Bundesregierung im Herbst 2015 Verhandlun­ te es auch in Namibia lange Streit gegeben – erst gen mit Namibia auf, für die die beiden Sonder­ 2006 hatte das namibische Parlament beschlossen, gesandten Ruprecht Polenz und Zed Ngavirue sich der Forderung von Herero und Nama anzu­ eingesetzt wurden, die eine gemeinsame Sprache schließen 21 –, und einige der traditionellen Reprä­ für die Geschehnisse als Grundlage einer Aner­ sentanten der Herero und Nama stehen nach wie kennung und Entschuldigung finden sollten. 19 vor in Opposition zur namibischen Regierung. Als der Bundestag 2016 in einer Resolution den Zwar waren Herero und Nama von Beginn Völkermord an den Armenier*­innen offiziell an in die Verhandlungen einbezogen, allerdings als solchen anerkannte und der türkische Staats­ waren ihre Vertreter*­innen von der namibischen präsident Recep Tayyip Erdoğan eine deutsche Regierung ausgesucht worden. Direkte Verhand­ Doppelmoral anprangerte, 20 konnte die Bundes­ lungen mit selbstgewählten Vertreter*innen­ der regierung auf die laufenden Verhandlungen mit Opfergruppen sollte es nicht geben – auf Wunsch Namibia verweisen. der Bundesregierung, heißt es aus Windhuk, auf Wunsch der namibischen Regierung, heißt es aus VERHANDLUNGEN Berlin. 22 Beide Seiten ignorieren dabei die in der IN DER SACKGASSE Diaspora lebenden Herero und Nama. Zu den Folgen des Völkermords gehörte nämlich auch Vier Jahre später stecken die Verhandlungen in ei­ die Vertreibung vieler Menschen, und bis heute ner Sackgasse, viele Herero und Nama fühlen sich leben ihre Nachkommen in Botswana, Südafrika zurückgestoßen und ignoriert. Die Ursachen für und weltweit verteilt. Sie sind meist keine nami­ Letzteres sind vielfältig: die schwierige innenpo­ bischen Staatsbürger*innen­ und können deshalb litische Situation in Namibia, das Auftreten der von der Regierung in Windhuk nicht vertreten deutschen Verhandlungsdelegation, die wenig werden. Ob und wie sie einbezogen werden sol­ Gespür oder Interesse für die Sensibilitäten des len, ist nicht bekannt. Themas gerade bei den Nachkommen der Op­ fer an den Tag gelegt hat, aber auch die Unmög­ REPRÄSENTANZ lichkeit, einen grundsätzlichen Verzicht auf Re­ UND REPARATIONEN parationsforderungen als Gegenleistung für eine Anerkennung als Völkermord und eine Entschul­ Repräsentanz und Reparationen waren auch die digung durchzusetzen – eine Forderung, der kei­ beiden zentralen Punkte der Klage, die Vertre­ ne namibische Regierungsdelegation nachkom­ ter von Herero und Nama aus Namibia und aus men kann. So ist es wenig überraschend, dass die der Diaspora am 5. Januar 2017 beim US District Frage des Geldes immer noch offen ist. Court – Southern District of New York, einem Es geht aber nicht allein um Reparationszah­ US-Bundesgericht, einreichten. 23 Hauptpunkt lungen. Von Anfang an gab es Konflikte darum, der Klage war neben der direkten Forderung nach wer mit am Verhandlungstisch sitzen dürfe, wer Reparationen der Versuch, eine Beteiligung aller die Vertreter*innen­ der Herero und Nama sind Herero und Nama an den deutsch-namibischen und wer eigentlich zu den Opfern des Genozids Verhandlungen durchzusetzen und nicht nur gehört – nur die Herero und Nama oder alle Op­ die der von den Regierungen selbst ausgewähl­ fer der deutschen Kolonialherrschaft in Deutsch- ten. Dazu stützte sich die Klage auf die sowohl Südwestafrika? Dass Letzteres eine ebenso zen­ von Deutschland als auch von Namibia ratifizier­ trale wie heikle Frage war, hatte sich bereits im te UN-Konvention zum Schutz indigener Min­ Vorfeld abgezeichnet, denn um die Bedeutung derheiten von 2007, in der es ausdrücklich heißt, des Genozids für die namibische Geschichte und dass indigene Minderheiten an allen sie betreffen­ auch um die Frage, ob Namibia Entschuldigung und Wiedergutmachung anstreben sollte, hat­ 21 Zur innernamibischen Debatte siehe die Ausführungen bei Kößler/Melber (Anm. 9), S. 74–80. 19 Vgl. Adressing Germany’s and Namibia’s Past and Looking 22 Vgl. ebd. for the Future, 1. 7. 2019, www.auswaertiges-amt.de/en/aussen- 23 Vgl. Class Action Complaint by Vekuii Rukoro, David politik/regionaleschwerpunkte/afrika/-/1991702. Frederick, Barnabas Veraa Katuuo against Federal Republic of 20 Vgl. Jürgen Zimmerer, Erdogan hat einen Nerv getroffen, Germany, 5. 1. 2017, Civ.No 17-0062, http://genocide-nami- 24.. 6 2016, www.fr.de/kultur/-11111045.html. bia.net/2017/01/05-01-2017.

26 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ den Verhandlungen durch ihre selbstgewählten ihre Grenzen. Der Umstand, dass Herero und Vertreter*­innen beteiligt werden müssten. Genau Nama heute als Minderheit in Namibia leben, ist dies nicht zu tun, war der Vorwurf. Die namibi­ durch Grenzziehung und Völkermord eine direk­ sche Regierung könne nicht alle Nama und Here­ te Konsequenz des (deutschen) Kolonialismus. ro vertreten, da diese infolge des Genozids auch Zu seinem Erbe gehört der namibische National­ außerhalb Namibias lebten und nicht alle nami­ staat. Nun bei der Aufarbeitung dieses Unrechts bische Staatsbürger*­innen seien. Dass einige US- darauf zu verweisen, dass man nur mit national­ Staatsbürger*­innen waren, war eine der Begrün­ staatlichen Regierungen verhandle, bestraft die dungen für die Klage in den USA. Nachkommen der Kolonisierten erneut. Hier Die Bundesregierung erkannte die Zuständig­ sind neue Wege notwendig, die deutsche Diplo­ keit des Gerichts allerdings nicht an und verzö­ matie verharrt aber immer noch zu sehr im über­ gerte die Prozessprüfung, indem sie Ladefristen kommenen Habitus der Überlegenheit. 27 verstreichen ließ. 24 Nach mehr als zwei Jahren wies das Gericht im März 2019 die Klage ab. 25 In ENTSCHULDIGUNG dieser Zeit berichteten nationale und internatio­ UND DEMUT nale Medien über die Klage und über den zugrun­ de liegenden Genozid, was zum einen zu einem Anlässlich seines Abschiedsbesuchs bei Staats­ internationalen Reputationsverlust Deutschlands präsident Hage Geingob ging der scheidende führte und zum anderen den Druck auf die ver­ deutsche Botschafter Schlaga auf die an ihm ge­ handelnden Regierungen immer weiter erhöhte. übte Kritik ein. „Ich habe mich immer nüch­ Mittlerweile haben die Anwälte der Kläger Be­ tern und professionell an die Tatsachen gehalten, rufung eingelegt. 26 Auch wenn eine gerichtliche selbst dann, wenn es Menschen und Berichter­ Entscheidung zu ihren Gunsten in weiter Ferne statter gab, die sich von politischen Motiven ha­ scheint, nutzte die Hinhaltetaktik der Bundesre­ ben leiten lassen“, sagte er in einem Gespräch gierung letztendlich den Klägern, da die Verhand­ mit der in Windhuk erscheinenden „Allgemei­ lungen und das deutsche Verhalten in der Zwi­ nen Zeitung“. 28 Weiter führte er aus: „Ich ma­ schenzeit zum internationalen Medienereignis che als Botschafter ja nicht meine eigene Politik, wurde. Eine einvernehmliche Verhandlungslö­ sondern übertrage ausgewogene Entschlüsse der sung wurde damit jedoch nicht wahrscheinlicher, deutschen Regierung.“ 29 Die Herero und Nama, da die Klageführer, allen voran Herero Para­ vielleicht auch die namibische Regierung, dürften mount Chief Vekuii Rukoro, auch deutscher­ dies ganz anders sehen. Insbesondere für Erste­ seits nun endgültig personae non gratae gewor­ re, zumindest für viele von ihnen, präsentierte die den sind. deutsche Regierung keineswegs „ausgewogene Dies führt zu der absurden Situation, dass Entschlüsse“. In der Natur von Verhandlungen deutsche Politiker*­innen immer wieder betonen, liegt es gerade, diese Ausgewogenheit erst herzu­ dass sie mit Herero und Nama sprechen würden, stellen und einen Kompromiss zu erreichen. In­ dies aber tatsächlich mit den immer gleichen Ge­ dem der deutsche Vertreter die Ausgewogenheit sprächs­partner*innen­ tun. Auf ganz grundsätzli­ für die eigene Position, die eigene Regierung, re­ cher Ebene stoßen eben auch das geltende Völ­ klamiert, weist er den Kritiker*­innen automa­ kerrecht und die diplomatische Alltagspraxis an tisch Unausgewogenheit zu. Das mag in diplo­ matischen Verhandlungen über Handelsverträge oder Fischereiquoten der Normalfall sein, bei 24 Vgl. Jürgen Zimmerer, Völkermord? Nicht zuständig, Verhandlungen über historische Verbrechen ist 24.. 1 2018, https://taz.de/!5476165. dies fehl am Platz. Es zeigt exemplarisch, woran 25 Vgl. US-Gericht weist Klage zu deutschen Kolonialverbe- chen ab, 7. 3. 2019, www.sueddeutsche.de/politik/-1.4359508. es bei den Verhandlungen fehlte: Demut – die De­ 26 Vgl. Kuzeeko Tjitemisa, Rukoro Files Genocide Notice of mut derer, die um Entschuldigung bitten. Appeal, 15. 3. 2019, https://neweralive.na/posts/rukoro-files- genocide-notice-of-appeal. 27 Vgl. etwa Jürgen Zimmerer, Habitus der Kolonialherren, JÜRGEN ZIMMERER 24.. 1 2018, www.sueddeutsche.de/politik/-1.3838662. 28 Zit. nach Frank Steffen, Schlaga angetan von Afrika, in: ist Professor für Globalgeschichte am Historischen Allgemeine Zeitung, 24. 6. 2019. Seminar der Universität Hamburg. 29 Ebd. [email protected]

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RÜCKKEHR DES VERDRÄNGTEN? Die Erinnerung an den Kolonialismus in Deutschland 1919–2019 Sebastian Conrad

Kolonialgeschichte hat gegenwärtig Konjunktur. Im Großen und Ganzen lassen sich drei Pha­ Gut hundert Jahre nach dem Ende des deutschen sen des erinnerungspolitischen Interesses an der Kolonialreichs hat die Geschichte der deutschen deutschen Kolonialgeschichte unterscheiden: der Kolonien stark an öffentlicher Aufmerksamkeit Kolonialrevisionismus der Zwischenkriegszeit, gewonnen. An den Universitäten vergeht kein die Imperialismuskritik der 1960er Jahre sowie Semester ohne Kurse zur deutschen Kolonialge­ die breitere, noch anhaltende Diskussion seit dem schichte, und auch im öffentlichen Erinnerungs­ Ende des Kalten Krieges. haushalt sind koloniale Themen – von der Umbe­ nennung von Straßennamen bis hin zur Diskussion FORTBESTAND KOLONIALER um das Berliner Humboldt-Forum und die Rück­ ANSPRÜCHE UND DISKURSE gabe von Kunstobjekten – ständig präsent. Das war nicht immer so: Lange spielte die kolonia­ In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg waren ko­ le Vergangenheit so gut wie keine Rolle. Wie lässt lonialrevisionistische Positionen, die sich mit dem sich das aktuelle Interesse erklären? Wie kommt es, Ende des Kolonialreichs nicht abfinden wollten, dass mit größerer zeitlicher Distanz die Beschäfti­ weit verbreitet und fanden über die Parteiengren­ gung mit dem Thema sogar noch zunimmt? 01 zen hinaus Zuspruch. 02 Sie zielten auf eine Rück­ Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die gabe der Kolonien und eine Fortsetzung der impe­ gegenwärtige Wiederentdeckung des Kolonialis­ rialistischen Politik. Auch wenn kolonialpolitische mus die Kehrseite einer lange währenden Amne­ Themen insgesamt ein Randphänomen blieben und sie darstellt: die Rückkehr des Verdrängten. Aber in ihrer Relevanz hinter anderen außenpolitischen ein solches kollektiv-psychologisches Deutungs­ Fragen zurückstanden, waren koloniale Deutungs­ muster ist wenig hilfreich. Produktiver ist es, nach muster und rassistische Vorstellungen nach wie vor den Bedingungen zu fragen, unter denen koloni­ weit verbreitet – sichtbar etwa in der Kolonialli­ ale Themen bei einem breiteren Publikum Re­ teratur, die in den 1920er Jahren florierte. Zu den sonanz fanden. Immer dann, wenn der deutsche populärsten Werken zählten die Erinnerungen des Kolonialismus zum politischen und öffentlichen ehemaligen Gouverneurs in Tansania (Deutsch- Thema wurde, ging es nicht nur um die kolonia­ Ostafrika), Paul von Lettow-Vorbeck, mit dem Ti­ le Vergangenheit selbst, vielmehr wurden jeweils tel „Heia Safari!“ und Hans Grimms 1926 veröf­ gesellschaftliche Veränderungen sowie Deutsch­ fentlichter Roman „Volk ohne Raum“, der bis 1945 lands Rolle in der Welt mitverhandelt. Anders als in über 650 000 Exemplaren verkauft wurde und – das Bild der Amnesie es nahelegt, ging der Impuls geografisch umgedeutet – zum Stichwort für die na­ zur Erinnerung nicht so sehr von der Vergangen­ tionalsozialistische Ostexpansion werden ­sollte. heit selbst aus, sondern von der jeweiligen Gegen­ Die kolonialen Wahrnehmungsmuster blieben wart. Und noch etwas ist wichtig: Auch wenn bei mithin nicht auf das Feld der kulturellen Produk­ den folgenden Überlegungen die deutsche Debat­ tion beschränkt, sondern hatten gesellschaftliche te im Vordergrund steht, sollte stets mitgedacht Auswirkungen. 03 Der bekannteste Fall war die öf­ werden, dass die Dynamik jeweils von anderen fentliche Empörung über die afrikanischen Kolo­ Akteuren und Stimmen – in den ehemaligen Ko­ nialtruppen, die als Teil französischer Kontingente lonien, in den europäischen Nachbarländern, in an der Besatzung des Rheinlandes beteiligt waren. den USA – mitgeprägt wurde. Erinnerungspolitik Die Kampagne gegen die sogenannte Schmach am findet nicht im abgeschlossenen nationalen Raum Rhein mit ihrer Kritik an der angeblichen Erniedri­ statt, sondern ist ein transnationales Phänomen. gung der deutschen Nation, ja der „Kultur und Mo­

28 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ ral des Abendlandes“, war überladen mit sexuellen In der Zeit des Nationalsozialismus ver­ Fantasien und somit Ausdruck der verbreiteten Sor­ schwanden die kolonialen Planungen nicht gänz­ ge um Virilität und Männlichkeit in den Jahren nach lich, aber sie blieben weitgehend in der Schubla­ der militärischen Niederlage. Sie zeigt aber auch, wie de. Die Forderung nach Rückgabe der Kolonien rassistische Vorstellungen, die unmittelbar an die im­ an Deutschland wurde aufrechterhalten, und in periale Rhetorik anknüpften, abrufbar ­blieben. 04 den Romanen und Filmen der Zeit waren koloni­ Koloniale Ansprüche und Diskurse wirkten ale Themen ausgesprochen populär. Propagandis­ also weiter. Gleichwohl ist es wichtig, nicht aus tische Filme wie „Carl Peters“ oder „Germanin“ den Augen zu verlieren, dass es auch in den 1920er fanden ein großes Publikum, und die kolonialen Jahren bereits eine kritische Auseinandersetzung Frauenschulen in Witzenhausen, Bad Weilbach mit dem kolonialen Projekt gab, wenn auch nur und Rendsburg bereiteten weiterhin unverdros­ von einer Minderheit formuliert. Eine dezidierte sen auf die Arbeit in Afrika vor. In der Erinne­ Infragestellung der Methoden und Praktiken ko­ rung waren die Kolonien also weiter präsent, aber lonialer Herrschaft, wenn auch selten des Koloni­ sie genossen keine hohe Priorität im Rahmen der alismus insgesamt, war in der Zeit des Kaiserreichs nationalsozialistischen Ideologie. Die Außen- vor allem aus den Reihen der Sozialdemokratie und Eroberungspolitik des Regimes richtete sich geäußert worden. Nach 1919 war die kommu­ in erster Linie auf Gebiete im europäischen Os­ nistische Ablehnung des Imperialismus beson­ ten, und die Planungen für Erwerbungen in Afri­ ders prominent. Sie stieß nicht zuletzt unter den ka wurden 1943 endgültig zurückgestellt. zahlreichen antikolonialen Nationalisten auf Re­ Aus diesem Grund konnte es nach Ende des sonanz, die in den 1920er Jahren vorübergehend Krieges auch so scheinen, als sei die imperialisti­ nach Deutschland kamen und insbesondere Berlin sche Phase der deutschen Geschichte bereits lange als einen Ort betrachteten, von dem aus eine Kri­ vorbei. Während die anderen europäischen Kolo­ tik an der imperialen Weltordnung formuliert wer­ nialmächte in den Dekaden nach 1945 in zum Teil den konnte. Darunter waren Intellektuelle wie der langwierige und blutige Auseinandersetzungen indische Nationalist M. N. Roy, der sich im kom­ über das Ende kolonialer Herrschaft involviert munistischen Milieu bewegte und enge Kontak­ waren, fühlten sich die beiden deutschen Staaten te unter anderem zu August Thalheimer pflegte, von dieser Problematik nicht betroffen. Dieser 1923/24 KPD-Vorsitzender. Auch der Kongress Eindruck hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass gegen koloniale Unterdrückung und Imperialis­ die nationalsozialistische Expansion in Osteuro­ mus, der 1927 in Brüssel abgehalten und von dem pa nicht als Kolonisierung interpretiert wurde, deutschen Kommunisten Willi Münzenberg vor­ auch wenn sie sich in ihren Intentionen, der dau­ bereitet wurde, war Ausdruck der antikolonialen erhaften Besatzung und Fremdherrschaft nicht Aktivitäten, die von der Präsenz von Migranten in wesentlich davon unterschied. 06 Berlin und Europa ­profitierten. 05 Aufgrund der terminologischen Unterschei­ dung von Ostexpansion und Kolonialismus war 01 Vgl. als ersten Überblick Sebastian Conrad, Deutsche es auch möglich, die erzwungene Migration von Kolonialgeschichte, München 2019; Bradley Naranch/Geoff Eley mehr als elf Millionen Deutschen aus den deut­ (Hrsg.), German Colonialism in a Global Age, Durham 2014. schen Besatzungsgebieten nach 1945 als „Vertrei­ 02 Siehe auch den Beitrag von Caroline Authaler in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). bung“ zu bezeichnen und nicht als die koloniale 03 Zur Rolle des Kolonialrevisionismus für die auswärtige Politik Rückwanderung, um die es sich in vielen Fäl­ vgl. Sean Wempe, Revenants of the German Empire: Colonial len auch handelte. Heute noch werden die deut­ Germans, Imperialism, and the League of Nations, Oxford 2019. schen Rückwanderer selten mit den Pieds-noirs 04 Christian Koller, „Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt“: Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik 1914– 06 Im Falle der deutschen Besatzung der Ukraine und in 1930, Stuttgart 2001; Fatima El-Tayeb, Schwarze Deutsche: Der Weißrussland wäre allerdings nicht das divide et impera in den Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890–1933, Frank­ afrikanischen Kolonien, sondern eher die genozidale Politik furt/M. 2001. gegenüber der indigenen Bevölkerung in Nordamerika oder 05 Vgl. Nathanael Kuck, Anti-Colonialism in a Post-Imperial Australien zum Vergleich heranzuziehen. Vgl. Robert L. Nelson Environment – The Case of Berlin, 1914–33, in: Journal of (Hrsg.), Germany, Poland, and Colonial Expansion to the East: Contemporary History 1/2014, S. 134–159; Robbie Aitken/ 1850 through the Present, New York 2009; Shelley Baranow- Eve Rosenhaft, Black Germany: The Making and Unmaking of a ski, Nazi Empire: German Colonialism and Imperialism from Diaspora Community, 1884–1960, Cambridge 2013. Bismarck to Hitler, Cambridge 2010.

29 APuZ 40–42/2019 oder den Retornados­ verglichen, also den „Rück­ in außenpolitischen Strategien, sondern eher auf Er­ kehrern“ aus den französischen (nach 1962) und satzfeldern wie beispielsweise der Entwicklungshil­ portugiesischen Kolonien (nach 1975), von de­ fe. Die Bundesrepublik hatte in den späten 1950er nen – ähnlich wie in Deutschland – viele in ein Jahren eine eigene Entwicklungspolitik initiiert, die Land „zurückkehrten“, in dem sie nie gelebt hat­ sich in erster Linie auf die ehemaligen deutschen ten. Gewiss gab es Unterschiede zwischen diesen Kolonien richtete – wenn auch nicht ganz so konse­ Fällen: Etwa drei Millionen „Vertriebene“ kamen quent wie in Großbritannien oder Frankreich, wo aus den Grenzregionen der Tschechoslowakei, in 90 Prozent der Mittel in das frühere Kolonialreich denen Deutsche seit dem Hochmittelalter gesie­ flossen. Wichtiger im Fall der Bundesrepublik war delt hatten; rund sieben Millionen Migranten ka­ die Systemkonkurrenz zur DDR, die auch auf dem men aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs, postkolonialen Parkett ausgetragen wurde. Wenn die seit den polnischen Teilungen am Ende des etwa der CDU-Abgeordnete Kurt Birrenbach eine 18. Jahrhunderts von Preußen annektiert wor­ „Schlacht um die unterentwickelten Länder“ aus­ den waren und in denen das Verhältnis zwischen rief, dann war damit nicht ein Kampf gegen Hun­ deutscher und einheimischer Bevölkerung häufig ger und Armut impliziert, sondern gegen die Staa­ koloniale Züge annahm; hinzu kamen die Siedler, ten des Ostblocks im Kalten Krieg. 08 Militärs und Verwaltungsbeamte, die im Zuge der In den 1960er Jahren setzte, nach einer Phase NS-Expansion nach Osteuropa gekommen wa­ geringer Sichtbarkeit des Themas, eine erneute öf­ ren. Insgesamt wird man aber sagen können, dass fentliche Auseinandersetzung mit dem Kolonia­ der Begriff „Vertreibung“ dazu beitrug, die kolo­ lismus ein, diesmal unter dezidiert kritischen Vor­ niale Dimension der deutschen Präsenz im Osten zeichen. 09 Ein wesentlicher Hintergrund war der Europas lange Zeit unsichtbar zu machen. 07 Prozess der Dekolonisierung, der symbolisch im „Afrikanischen Jahr“ 1960 kulminierte, in dem 17 IMPERIALISMUSKRITIK Staaten des Kontinents ihre Unabhängigkeit erlang­ UND NS-AUFARBEITUNG ten. Die anfängliche Euphorie über das Ende einer Jahrhunderte währenden Epoche wich schon bald Das Ende des Zweiten Weltkrieges und vor allem einer zunehmend kritischen Bestandsaufnahme der die Besatzungszeit markierten das Ende fast aller Beziehungen Europas zu den neuen postkolonia­ Projekte territorialer Herrschaft und kolonialer len Staaten, durch die bestehende Abhängigkeiten Expansion in Deutschland. Ähnlich wie in Japan, vielfach fortgeführt wurden. Bald bürgerte sich da­ aber in deutlichem Kontrast etwa zu Großbri­ für der Begriff des „Neokolonialismus“ ein. tannien, Frankreich oder Portugal, war das „Em­ Vor diesem Hintergrund wurde die koloniale pire“ eine abgeschlossene Epoche der Vergangen­ Vergangenheit in beiden deutschen Staaten zu ei­ heit und kaum der Gegenstand einer öffentlich nem wichtigen Gegenstand der öffentlichen Dis­ zelebrierten Nostalgie. Dies traf für die Bun­ kussion. Erstmals fand eine systematische und desrepublik und erst recht für die DDR zu und kritische Auseinandersetzung (besonders pronon­ bleibt grundsätzlich bis heute bestehen. Ein zur ciert durch ostdeutsche Historiker) mit diesem Schau getragener nationaler Stolz auf die Reich­ Teil der deutschen Vergangenheit statt. In den spä­ weite des Imperiums und die angeblichen Leis­ ten 1960er und frühen 1970er Jahren entstand eine tungen vor Ort, wie er den Besuchern etwa am Reihe wichtiger wissenschaftlicher Arbeiten, die Denkmal der Entdeckungen in Lissabon oder im auf der Basis von Archivrecherchen und mit sozi­ Victoria & Albert Museum in London entgegen­ algeschichtlichen Zugriffen ein neues Bild der Ent­ schlägt und der noch die Brexit-Diskussionen der wicklung der damals vor allem im Fokus stehen­ vergangenen Jahre prägte, war und ist in der deut­ den afrikanischen Gesellschaften unter deutscher schen Diskussion kaum anzutreffen. Herrschaft zeichneten. Sie profitierten auch von Das heißt umgekehrt nicht, dass kolonia­ le Wahrnehmungsmuster und Vorstellungen nicht weiterwirkten. Sie fanden sich nicht in erster Linie 08 Zit. nach Bastian Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt: Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959–1974, München 2006, S. 38. 07 Vgl. Manuel Borutta/Jan C. Jansen (Hrsg.), Vertriebene 09 Zur privaten, innerfamiliären Erinnerung an den Kolonia - and Pieds-Noirs in Postwar Germany and France: Comparative lismus vgl. Britta Schilling, Postcolonial Germany: Memories of Perspectives, Basingstoke 2016. Empire in a Decolonized Nation, Oxford 2014.

30 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ den Ergebnissen der jungen afrikanischen Histo­ Krieg oder die amerikanischen Gräuel in Vietnam riografie zu dem Thema und stellten häufig Fra­ anprangerten, dann taten sie das häufig in einer gen der Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt Sprache, die Bezüge zur noch wenig aufgearbeite­ in den Mittelpunkt. Die kritische Perspektive auf ten Gewaltpolitik in Deutschland selbst herstellen die koloniale Vergangenheit blieb dabei nicht auf sollte. In der DDR wiederum wurde erstmals die das Feld der Wissenschaft beschränkt. So stürzten von Hannah Arendt bereits 1951 formulierte The­ Hamburger Studierende 1968 in öffentlichkeits­ se untersucht, der zufolge die Ursprünge der nati­ wirksamen Aktionen die Denkmäler des Gouver­ onalsozialistischen Vernichtungspolitik im Geno­ neurs Hermann von Wissmann und des Kolonial­ zid an den Herero im Krieg von 1904 bis 1907 zu offiziers Hans Dominik von ihren Sockeln. suchen seien. Koloniale Themen konnten mithin Die kritische Auseinandersetzung mit der ko­ als Waffe im Systemkonflikt oder in der intergene­ lonialen Vergangenheit muss in beiden deutschen rationellen Auseinandersetzung über gesellschaft­ Staaten im Kontext der damaligen Zeit verstan­ liche Reformen eingesetzt werden. Gleichwohl den werden. Die Erinnerung an die Kolonialzeit blieben die kritischen Narrative in ihrer Wirkung war dabei immer auch ein Mittel für andere Zwe­ nicht auf den damaligen Kontext beschränkt, son­ cke. In der DDR gehörte die Abgrenzung von al­ dern ließen sich zum Teil noch Jahrzehnte später, len Formen des Imperialismus zum staatlichen etwa in Teilen der Antiglobalisierungsbewegung Selbstverständnis. Im Rahmen der marxistischen der 1990er Jahre, wieder aktivieren. 10 Geschichtsauffassung war der Imperialismus ein Die Konjunktur kolonialpolitischer Themen Produkt des Spätstadiums des Kapitalismus. Für ging in der Folge deutlich zurück. Vor allem in die ostdeutsche Gesellschaft galt der konkrete Ko­ der offiziellen Erinnerungspolitik der Bundes­ lonialismus als wenig relevant, da er – so die herr­ republik wurde dieser Aspekt der Vergangen­ schende Meinung – nicht von der Arbeiterschaft heit weitgehend ausgeblendet. Die Auseinander­ getragen worden sei. Stattdessen ließ sich die kri­ setzung mit der Kolonialzeit wurde, so sie denn tische Aufarbeitung des Kolonialismus als Spit­ überhaupt stattfand, auf kleinere Ebenen und in ze gegen den kapitalistischen Nachbarstaat in­ die Familien verlagert, nicht selten auch in affir­ strumentalisieren, vor dem man sich durch einen mativer Absicht. Das DDR-Regime wiederum „antiimperialistischen Schutzwall“ an der Grenze feierte die staatlich verordnete Überwindung des schützen müsse. Rassismus als erfolgreich, auch wenn die Praxis In der Bundesrepublik waren es vor allem Ak­ – wie die Erfahrungen der Vertragsarbeiter aus teure der Neuen Linken, die sich des Themas be­ Vietnam oder Mosambik zeigen – das nicht un­ mächtigten und es für ihre grundlegende System­ bedingt bestätigte. In den 1980er Jahren war die kritik an der kapitalistischen Gesellschaft und tatsächliche Beschäftigung mit der deutschen Ko­ neoimperialen Weltordnung einspannten. Sie sahen lonialgeschichte in beiden deutschen Staaten le­ in den Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt“ diglich eine Randerscheinung. den Ausgangspunkt für eine revolutionäre Umge­ staltung im Weltmaßstab und mithin eine Alternati­ GLOBALISIERUNG ve zur Strategie der sozialistischen und kommunis­ DER ERINNERUNG tischen Parteien, die weiterhin auf die europäische Arbeiterschaft als revolutionäres Subjekt setzten. Eine dritte intensive Phase kolonialer Erinnerung Vertreter der Neuen Linken traten in Kontakt mit setzte in den 1990er Jahren ein. Während die frü­ den antikolonialen Bewegungen, sogenannte Kof­ heren Konjunkturen vom Kolonialrevisionis­ ferträger unterstützten Algerien im Unabhängig­ mus der 1920er Jahre und der Dekolonisierung keitskrieg gegen Frankreich, Aktivisten reisten der 1960er Jahre geprägt waren, stand sie nun im nach Havanna oder demonstrierten gegen den Vi­ etnam-Krieg und die neoimperiale Ordnung. 10 Zur längeren Debatte über die Frage nach einer Kontinuität Darüber hinaus lieferte in beiden deutschen zwischen dem Völkermord an den Herero und Nama und dem Staaten die gesellschaftliche Beschäftigung mit der Holocaust vgl. Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Zeit des Nationalsozialismus einen zusätzlichen Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Münster 2011; Robert Gerwarth/Stephan Malinowski, Der Rahmen, innerhalb dessen die koloniale Epoche Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Kolonialgewalt erneut Relevanz erlangte. Wenn westdeutsche Ak­ und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und tivisten die Massaker im französischen Algerien- Gesellschaft 3/2007, S. 439–466.

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Zeichen der Globalisierung. Der Mauerfall und nennen: Zum einen wandelte sich die Gesellschaft das Ende des Kalten Krieges markierten zugleich spürbar. Ein Viertel der in Deutschland lebenden den Abschied von der bipolaren Weltordnung der Bevölkerung hatte mittlerweile einen migranti­ Nachkriegszeit. Das hatte auch bedeutende erin­ schen Hintergrund, sodass für viele die herkömm­ nerungspolitische Konsequenzen: Die Integrati­ liche Nationalgeschichte nicht mehr der selbst­ on der Welt durch die Finanz- und Gütermärk­ verständliche Bezugspunkt war. Verschiedene te sowie das Internet und die damit verbundene Organisationen wie die Initiative Schwarze Men­ globale Imagination – ab Mitte der 1990er Jahre schen in Deutschland oder die zahlreichen post­ wurde „Globalisierung“ zu einem allgegenwärti­ kolonialen Gruppen in deutschen Städten – zum gen Buzz-Word – machten auch ein neues Narra­ Beispiel Berlin postkolonial oder Freiburg post­ tiv der Geschichte des 20. Jahrhunderts erforder­ kolonial – trugen dazu bei, den Forderungen nach lich. Im deutschen Fall war diese Verschiebung gut kolonialer Erinnerungsarbeit und alternativen zu beobachten: In der langen Nachkriegszeit hat­ identifikatorischen Bezügen Gehör zu verschaf­ te der Zweite Weltkrieg und seit den 1980er Jah­ fen. Zum anderen veränderte die Erinnerungs­ ren vor allem der Holocaust die öffentliche Erin­ politik ihren Charakter und wurde zunehmend nerung dominiert, bisweilen sogar monopolisiert. in transnationalen Foren ausgehandelt, unter Be­ Dieser Bezug blieb auch nach 1990 wichtig, aber teiligung einer Vielzahl von Akteuren. Während zunehmend traten ihm Verweise zur Seite, die eher etwa Stimmen aus den ehemaligen Kolonien in der Deutschlands historische Verortung in der Welt deutschen Diskussion lange Zeit so gut wie kei­ thematisierten. 11 ne Rolle spielten, änderte sich dies nun allmählich, Die Anfänge waren eher zögerlich und blie­ wenn auch nur in ersten Ansätzen. ben zunächst auf lokale und kommunale Kontex­ Ein gutes Beispiel für diese Entwicklung war te beschränkt. Dazu gehörten Initiativen zur Än­ die Sammelklage der Herero und Nama, die als derung kolonialer Straßennamen, die aber meist „Wiedergutmachung“ für den Völkermord im auf Widerstand trafen. 12 Die Berliner Petersal­ heutigen Namibia Ansprüche gegen die Bundesre­ lee etwa, benannt nach dem für seine in Ostafri­ publik und einzelne Unternehmen geltend mach­ ka begangenen Grausamkeiten berüchtigten Carl te. 13 Im Krieg von 1904 bis 1907 waren etwa 60 000 Peters („Hänge-Peters“), heißt immer noch so – Herero aus einer Bevölkerung von 80 000 sowie allerdings soll sie nach heftigen Kontroversen seit 10 000 Nama aus einer Bevölkerung von 20 000 einer offiziellen „Umbenennung“ 1986 an den umgekommen, legitimiert durch den berüchtig­ Stadtverordneten Hans Peters erinnern, der im ten „Vernichtungsbefehl“ des deutschen Gene­ Widerstand gegen das nationalsozialistische Re­ rals Lothar von Trotha. Die Klage hat inzwischen gime tätig war. selbst eine längere Geschichte: Erstmals 2001 ein­ Seit Beginn des neuen Jahrhunderts – und noch gereicht, wurde sie im März 2019 in New York er­ verstärkt nach den Attentaten des 11. September neut verhandelt und vom Gericht zurückgewie­ 2001, die auch der deutschen Öffentlichkeit die sen, das sich für nicht zuständig erklärte. Dringlichkeit einer Auseinandersetzung mit glo­ Ungeachtet dieses juristischen Zwischenstands balen Prozessen deutlich machten – erfuhren ko­ macht das Beispiel die transnationale Verflechtung loniale Themen eine größere Aufmerksamkeit. der Erinnerungsdebatte und die damit verbunde­ Neben der generellen Sogwirkung des Globalisie­ ne Komplexität sehr gut deutlich. Die Klage be­ rungsprozesses sind vor allem zwei Faktoren zu zog sich auf die „Erklärung der Rechte für indige­ ne Völker“, die 2007 von den Vereinten Nationen verabschiedet worden war, und berief sich somit 11 Vgl. Steffi Hobuß/Ulrich Lölke (Hrsg.), Erinnern verhandeln: auf internationales Recht. Zugleich war sie das Er­ Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas, Müns- ter 2007; Helma Lutz/Kathrin Gawarecki (Hrsg.), Kolonialismus gebnis der Interaktion zwischen drei Handlungs­ und Erinnerungskultur: Die Kolonialvergangenheit im kollektiven räumen, in denen jeweils unterschiedliche Interes­ Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungs- sen und Narrative miteinander konkurrierten. Die gesellschaft, Münster 2005; Volker M. Langbehn (Hrsg.), German Klage wurde in New York eingereicht, weil dorti­ Colonialism: Race, the Holocaust, and Postwar Germany, New York ge Gesetze es erlaubten, einen Staat wegen Kolo­ 2011; Jürgen Zimmerer (Hrsg.), Kein Platz an der Sonne. Erinne- rungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frank­furt/M. 2013. 12 Siehe auch den Beitrag von Marianne Bechhaus-Gerst in 13 Siehe auch den Beitrag von Jürgen Zimmerer in dieser dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Ausgabe (Anm. d. Red.).

32 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ nialverbrechen anzuklagen. Aufgrund dieser Orts­ schen Erinnerungskultur – die Verschiebung vom wahl spielte die spezifische Erwartungshaltung der Holocaust zur Globalisierung – gut beobachten. US-amerikanischen Öffentlichkeit eine Rolle, die Das Humboldt-Forum sollte anhand von Aus­ es der Anklageseite nahelegte, den Fall rhetorisch stellungsstücken vornehmlich aus dem Ethnolo­ eng mit dem Holocaust zu verknüpfen. In Nami­ gischen Museum die Geschichte globaler Zusam­ bia wiederum forderte die Klage durch Vertreter menhänge thematisieren. Im ehemaligen Schloss der Herero und Nama den Alleinvertretungsan­ der Hohenzollern und damit dem Machtzentrum spruch der nationalen Regierung heraus, von der des Nationalstaats, so lautete die Botschaft, sollte sie sich nicht angemessen repräsentiert fühlten. Die nun der kosmopolitische Geist des neuen Berlin, Bundesrepublik tat sich auf der anderen Seite lange des neuen, postnationalen Deutschlands zu Hause Zeit schwer, an der namibischen Regierung vorbei sein. Der symbolische Schirmherr dieser Haltung mit den verschiedenen Gruppen zu verhandeln. 14 ist Alexander von Humboldt, der als Vertreter Auch in der Bundesrepublik stehen unter­ von Wissen, Neugier und Aufklärung positioniert schiedliche moralisch-politische Positionen ne­ wird, als friedliche Alternative zu Kolumbus. beneinander. Die Entwicklungsministerin Heide­ Diese Form des Geschichtsmarketings kolli­ marie Wieczorek-Zeul hatte schon anlässlich eines dierte mit einer Sichtweise, die europäische Ex­ Besuchs in Windhuk im August 2004 auf emoti­ pansion und Kolonialismus als Formen der Ge­ onale Weise um „Vergebung unserer Schuld“ für waltherrschaft versteht. Die Kritik, die das den Krieg gebeten, den „man heute als Völker­ Humboldt-Forum als Ort einer kolonialen Am­ mord bezeichnen würde“. 15 Diese Aussage traf nesie bezeichnete, ließ daher auch nicht lange auf sie jedoch dezidiert als Privatperson. Eine weitere sich warten: Die kolonialen Verhältnisse, unter Dringlichkeit erfuhr das Thema im Juni 2016, als denen die gezeigten Objekte häufig gewaltsam der Bundestag einer Resolution zustimmte, die nach Berlin gebracht wurden, würden nicht aus­ das Massaker an den Armeniern im Osmanischen reichend sichtbar gemacht. Das Schlagwort der Reich 1915 als Völkermord anerkannte. Seitdem Globalisierung, so lautete der Vorwurf, verdecke ist der internationale Druck auf die Bundesregie­ durch eine Rhetorik der „Verflechtung“ und „In­ rung gestiegen, sich auch im Fall der Herero und teraktion“ den Gewaltcharakter, den diese Ver­ Nama zu einer offiziellen Entschuldigung durch­ flechtungen unter imperialen Vorzeichen lange zuringen. Die Bundesregierung hat den Krieg in­ Zeit – und in anderer Form bis heute – aufweisen. zwischen offiziell als „Völkermord“ anerkannt, will aber keinen Präzedenzfall schaffen und lehnt SCHLUSS Entschädigungszahlungen weiterhin ab. Die aktuellste Diskussion, die um kolonia­ Die Geschichte der Erinnerung an den deutschen le Erinnerung kreist, konzentriert sich auf das Kolonialismus ist nicht zu Ende. Paradoxerwei­ Humboldt-Forum sowie die Frage der Rückgabe se scheint sie umso drängender zu werden, umso kolonialer Artefakte und Kunstobjekte. 16 Gerade länger die zu erinnernden Geschehnisse zurück­ am Humboldt-Forum, das im wieder aufgebau­ liegen. Obwohl keine Zeitzeugen mehr leben, die ten Berliner Stadtschloss eingerichtet wird, lässt auf eigene Erfahrungen mit kolonialer Herrschaft sich die Neujustierung der bundesrepublikani­ zurückblicken, hat die Intensität der Debatte in den vergangenen Jahren eher zugenommen. Da­ 14 Zur Erinnerungslandschaft in Namibia vgl. Gesine Krüger, bei wird nicht nur die koloniale Geschichte selbst Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein: Realität, Deutung verhandelt. Vielmehr sind die erinnerungspoliti­ und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia schen Debatten eine geeignete Linse, durch die 1904–1907, Göttingen 1999; Larissa Förster, Postkoloniale sich die gesellschaftlichen Veränderungen sowie Erinnerungslandschaften: Wie Deutsche und Herero in Namibia des Kriegs von 1904 gedenken, Frankfurt/M. 2010. die gewandelte Rolle der Bundesrepublik im in­ 15 Zit. nach Henning Melber, „Wir haben überhaupt nicht über ternationalen Kontext klar ­abzeichnen. Reparationen gesprochen“: Die namibisch-deutschen Beziehun- gen – Verdrängung oder Versöhnung?, in: Jürgen Zimmerer/Jo- achim Zeller (Hrsg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika: Der SEBASTIAN CONRAD Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003, S. 215–225, hier S. 223. ist Professor für Globalgeschichte am Friedrich- 16 Siehe auch den Beitrag von Rebekka Habermas in dieser Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Ausgabe (Anm. d. Red.). [email protected]

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SPUREN UND ERINNERUNGEN HUNDERT JAHRE NACH DER DEUTSCHEN KOLONIALZEIT IN KAMERUN Albert Gouaffo · Richard Tsogang Fossi

Im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebte die Welt GESCHICHTSBEWUSSTSEIN ein Wettrennen europäischer Mächte um Kolo­ UND MEDIEN DES KOLLEKTIVEN nialbesitz, den viel zitierten „Scramble for Af­ GEDÄCHTNISSES rica“. In diesem Hochimperialismus genannten Zeitalter ging es um Weltmachtansprüche, wirt­ Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses schaftspolitisches Dominanzstreben, nationales geht auf den französischen Soziologen Maurice­ Prestige, billige Rohstoffe und Absatzmärkte für Halbwachs zurück, der die Erinnerung als kol­ industrielle Produkte. Auf der Berliner Afrika- lektives Phänomen im Gegensatz zu den bis da­ Konferenz (oder Kongo-Konferenz), die zur Jah­ hin vertretenen Ansätzen von Henri ­Bergson reswende 1884/85 in Berlin stattfand, beschlossen und Sigmund Freud definiert. Für Letztere gilt die Vertreter von zwölf europäischen Staaten, der die Erinnerung als rein individueller, psycholo­ USA und des Osmanischen Reichs die Modali­ gischer Prozess. Dagegen argumentiert Halb­ täten für die Aufteilung Afrikas sowie den freien wachs, dass der Mensch sich stets in einem so­ Zugang für den Handel und Missionstätigkeiten zialen Rahmen erinnert und Gruppen wie auf dem Kontinent. Obgleich sich die Aufteilung Freundeskreise, Familien und Arbeitskollegen Afrikas unter den Kolonialmächten keineswegs unsere Erinnerungen mitprägen. 03 Die Erinne­ allein auf die Berliner Afrika-Konferenz zurück­ rung beziehungsweise das Gedächtnis tragen führen lässt, gilt sie heute unter Afrikanern als demnach zu einer kollektiven Erfahrung von Menetekel für die Fremdbestimmung und Aus­ Erlebnissen, zum Zusammengehörigkeitsgefühl beutung ihres Kontinents. einer Gemeinschaft bei. Doch die Gesamtheit Kamerun wurde offiziell am 12. Juli 1884 zum dessen, was die Mitglieder einer Gemeinschaft deutschen „Schutzgebiet“ erklärt, nachdem kurz erlebt haben beziehungsweise erleben, kann zuvor einige Verträge mit den Herrschern am Ka­ nicht auf einmal erinnert werden. Situativ wer­ merunfluss unterzeichnet worden waren. 01 Die den aus dem Speicher Elemente hervorgeholt rund dreißigjährige koloniale Fremdherrschaft und je nach Kontext verwertet, während ande­ des deutschen Kaiserreichs endete während des re außer Acht gelassen und zeitweise verges­ Ersten Weltkrieges im Jahre 1916. Obwohl in der sen werden. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Forschung die Tendenz besteht, die deutsche Ko­ Assmann unterscheidet daher zwischen „Spei­ lonialherrschaft in Kamerun im Vergleich zu der cher-“ und „Funktionsgedächtnis“ 04 und erwei­ französisch-englischen in ihren Folgen zu unter­ tert so das Konzept von Halbwachs. Ihr Modell schätzen, 02 ist nicht zu übersehen, dass auch die­ formuliert jedoch keine binäre Opposition, son­ ses „Kolonialabenteuer“ Spuren im Land hinter­ dern nimmt eine gegenseitige Ergänzung zwi­ lassen hat, die heute aufgearbeitet werden müssen. schen ausgewählten, aktualisierten und nichtak­ Hier wird danach gefragt, wer die Akteure waren tualisierten, amorphen Elementen an. und über welche Medien sich die Erinnerungsar­ Die Funktionalisierung des Gedächtnisses beit vermittelt. Das Augenmerk wird dabei zum formt neben vielem anderen auch das Geschichts­ einen auf die deutsche Kolonialarchitektur und bewusstsein einer Gemeinschaft, das aber kein zum anderen auf die geteilte deutsch-kameruni­ „bloßes Wissen oder reines Interesse an der Ge­ sche Geschichte als Erinnerungstopos in der Li­ schichte (…), [sondern zugleich] Vergangen­ teratur gerichtet. heitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zu­

34 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ kunftsperspektive“ ist. 05 An der Auslegung und auf die Bauwerke und Monumente selbst, son­ Deutung der Vergangenheit sind verschiedene dern auch auf die sich damit verbindenden Erin­ Akteure und institutionelle und informelle Bil­ nerungsnarrative gerichtet – und zwar aus kame­ dungseinrichtungen beteiligt. Die Medien spie­ runischer wie deutscher Perspektive. 07 len bei der Konstituierung und Aktivierung des Das Schloss von Jesko von Puttkamer wur­ Gedächtnisses eine entscheidende Rolle. „Die de am Fuß des Kamerunbergs in Buea erbaut. Bis Konstruktion und Zirkulation von Wissen und zur Verlegung der Hauptstadt der Kolonie nach Versionen einer gemeinsamen Vergangenheit in Yaoundé im Jahr 1909 fungierte es als Wohnhaus sozialen und kulturellen Kontexten (Kultur als der deutschen Gouverneure. Die Geschichte des Gedächtnisphänomen/collective memory) wer­ Schlosses ist insofern aufschlussreich, als es die den überhaupt erst durch Medien ermöglicht.“ 06 Beziehungen zwischen Kamerun und Deutsch­ Dabei kommen Printmedien (Literaturen), au­ land sogar in der nachkolonialen Zeit prägte und diovisuelle Medien (Film), das Internet, der schu­ Eingang in die Literatur- 08 und Filmgeschichte 09 lische Geschichtsunterricht, orale Traditionen bis gefunden hat. Jesko von Puttkamer, der sein Amt hin zu Denkmälern, Grabsteinen oder ritualisier­ von allen deutschen Gouverneuren am längsten ten Erinnerungsfeiern zum Tragen. ausübte – von 1895 bis 1907 –, ließ das Schloss um 1901 errichten. Nach Ansicht einiger Historiker DEUTSCHE wollte er sich gegenüber den immer lauter wer­ KOLONIALHERRSCHAFT denden Protesten der Duala wegen der schlech­ IM SPIEGEL DER ARCHITEKTUR ten Behandlung der Bevölkerung durch die Kolo­ nialherren abgrenzen. Außerdem hatte sich King Betrachtet werden im Folgenden Bauwerke aus Bell, Manga Douala, kurz zuvor in Douala ein re­ der deutschen Kolonialzeit, die heute noch ihre präsentatives Gebäude – die Pagode – errichten Bedeutung im kollektiven Gedächtnis der Kame­ lassen. Der Gouverneur, Vertreter eines kolonia­ runer haben, darunter das Schloss des Kolonial­ len Herrenmenschentums, wollte dies nicht hin­ gouverneurs von Kamerun, Jesko von Puttkamer, nehmen und hatte deshalb den Bau eines noch in Buea, der Sitz der deutschen Seemannsmission größeren und prächtigeren Schlosses veranlasst. 10 in Douala, die deutschen Friedhöfe, der Leucht­ Später, nach dem Ende der deutschen Kolonial­ turm in Kribi oder die Brücke über den Sanaga- herrschaft in Kamerun, soll die deutsche Bundes­ Fluss in Edea. Dabei wird der Fokus nicht nur regierung versucht haben, das Gebäude weiter in ihrem Besitz zu halten. 11 01 Schon vor der Berliner Konferenz waren deutsche Händler Etwas anders gelagert ist der Fall des See­ seit etwa 1860 am Kamerun-Fluss ansässig. Damals existier- mannsheims in Douala. Die Idee für den Bau te Kamerun aber noch nicht als Kolonie, die Einflusssphäre von Seemannsheimen stammte aus Großbritan­ beschränkte sich hauptsächlich auf einige Douala-Dörfer an der Küste. Erst mit Unterzeichnung der Deutsch-Douala-Verträge 1884 begann das Deutsche Reich, das Hinterland zu erfor- 07 Siehe auch Marc Pabois, Architecture au Cameroun sous schen, zu erschließen und zu erobern. Vgl. Florian Hoffmann, le protectorat allemand (1884–1916), in: Institut national du Okkupation und Militärverwaltung in Kamerun. Etablierung und patrimoine (Hrsg.), Architecture coloniale et patrimoine: Expéri- Institutionalisierung des kolonialen Gewaltmonopols 1891–1914, ence européennes, Paris 2006, S. 112–121; Michael Hofmann, Bd. 1, Göttingen 2007. Deutsche Kolonialarchitektur und Siedlungen in Afrika, Peters- 02 Siehe z. B. Anna-Maria Brandstetter, Kolonialismus. Wider berg 2013. die vereinfachenden Dichotomien, in: Albert Wirz/Jan-Georg 08 Siehe z. B. den Roman „Cette Afrique-là!“ (1963) von Jean Deutsch (Hrsg.), Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme Ikelle-Matibas („Adler und Lilie in Afrika. Lebensbericht eines und Debatten, Berlin 1997, S. 75–105. Afrikaners“). 03 Maurice Halbwachs, La Mémoire collective, Paris 1950, S. 31. 09 Vgl. Pascale Obolo (Interview), Occupy Schloss von Putt- 04 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlun- kamer/Decolonize Architecture Now, in: AfricAvenir Internati- gen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 133–136. onal e. V., No Humboldt 21! Dekoloniale Einwände gegen das 05 Karl-Ernst Jeismann, Geschichtsbewusstsein, in: Klaus Berg- Humboldt-Forum, Berlin 2017, S. 176–186. mann/Werner Boldt (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, 10 Vgl. Valère Epee in einem Interview mit den Schüler/innen Seelze-Velber 19924, S. 40–43, hier S. 40. des Lycée Français Dominique Savio Douala, Mai 2014, http:// 06 Astrid Erll, Literatur als Medium des kollektiven Gedächt- pedagogie.lyceesaviodouala.org/histoire-geographie/app_ nisses, in: dies./Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte grande-guerre/pages/page_7c.htm. der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und 11 So die Auskunft von Manfred Kühle, Hafenpastor und Anwendungsperspektiven, Berlin–New York 2003, S. 249–276, Direktor des Seemannsheims in Douala, in einem Interview mit hier S. 251. den Autoren am 10. 10. 2012.

35 APuZ 40–42/2019 nien und wurde 1848 vom Pastor der Evangeli­ entfernt liegt. Zur Einweihungsfeier erschienen schen Mission in Deutschland, Johann Heinrich denn auch Vertreter aller deutschen Organisatio­ Wichern, aufgegriffen. Seemannsheime boten nen im Land. „Was bedeuten 50 Jahre Austausch deutschen und ausländischen Seeleuten Unter­ und Kulturdialog angesichts der durch den Ko­ stützung gegen die Allmacht der Reeder wie auch lonialismus geprägten Geschichte für die älteren Gemeinschaft in der Fremde. Schon 1854 wurde und jüngeren Generationen beider Länder? In­ das erste Seemannsheim durch das Handelshaus wieweit kann die ‚Brücke‘ als Symbol des Di­ Friedrich M. Vitor in Bremen eingeweiht. See­ alogs stehen?“, so die Frage der Organisatoren mannsmissionen in Kiel und Bremerhaven folg­ des Projekts „Kulturbrücke“. 13 Man wies dem ten, und am 15. Juni 1891 wurde die Seemanns­ Symbol einer vergangenen, mit vielen Leiden mission in Hamburg als Komitee für Deutsche und Träumen verbundenen Realität angesichts Seemannsmission gegründet. Die deutsche See­ der neuen Herausforderungen der Gegenwart mannsmission in Douala weihte 1966 Bundesprä­ und einer gemeinsamen Zukunft neue Bedeu­ sident Heinrich Lübke ein. Die Baukosten trug tung zu: „Unter der Schirmherrschaft Seiner das deutsche Auswärtige Amt. Exzellenz des Premierministers und in Zusam­ Dass auch in Douala eine Seemannsmission menarbeit des Goethe-Instituts Kamerun mit gegründet wurde, ist an sich nichts Ungewöhn­ dem Kulturministerium, dem Ministerium Tra­ liches. Doch die Tatsache der Eröffnung so kurz vaux Publics [öffentliches Bauwesen], der Deut­ nach der Unabhängigkeitserklärung schen Botschaft in Yaoundé, der Stadtverwal­ lässt darauf schließen, dass die deutsche Bundes­ tung von Edea, dem Zentrum für zeitgenössische regierung so schnell wie möglich in der ehemali­ Kunst Doual’art sowie der Deutschen Koopera­ gen deutschen Kolonie Fuß fassen wollte. Auch tion (GIZ, KfW) wird die alte Eisenbahnbrücke die Wahl des Grundstücks war kein Zufall. Der von Edea im Jubiläumsjahr zum Gegenstand ei­ Gebäudekomplex wurde an dem Ort errichtet, ner künstlerischen Intervention im öffentlichen an dem auch die erste deutsche Kolonialregie­ Raum. Mittels der ästhetischen Aktion sollen rung und die Mission 1884/85 in Douala gebaut Geschichte und Erinnerung sichtbar (re)kon­ hatten. Ein Schild im Hof des Heims informiert struiert und zum Dialog zwischen den Kulturen darüber, dass es sich bei dem Gelände um einen angeregt werden.“ 14 Erinnerungsort der deutschen Kolonialherrschaft Die Brücke, obgleich ein Bau der Kolo­ handelt. So stellt das Seemannsheim, das heute nialarchitektur, wird unter Kamerunern auch auch vom Goethe-Institut genutzt wird und als als Ausdruck des technischen Knowhows der Wohnraum für (wohl meist deutsche) Touristen Deutschen bewundert. Vom Goethe-Institut in in Kamerun dient, eine enge Verbindung zu der ein neues Erinnerungsnarrativ eingeschrieben, deutschen Kolonialzeit her, wenn nicht in sei­ erhält die Brücke in Edea nun ihre neue Bedeu­ ner Architektur, so doch in der Geschichte seiner tung als deutsch-kamerunisches Freundschafts­ Topografie. symbol. Die Opfer, die der Bau der Brücke Ein weiterer Erinnerungsort deutsch-kame­ damals forderte, treten in den Hintergrund zu­ runischer Geschichte ist die Sanaga-Brücke in gunsten eines interkulturellen Dialogs. In die­ Edea, die 1911 fertiggestellt wurde. Als 2011 das sem Sinne wurden an der Brücke acht auf Säu­ 50-jährige Jubiläum des Goethe-Instituts in Ka­ len stehende Figuren errichtet. Sie stammen von merun – nach Angabe der Organisatoren „im Zei­ dem renommierten Kameruner Künstler Pascale­ chen der Reflexion des Brückenschlags zwischen Marthine Tayou. Die Kombination von histori­ den Kulturen Kameruns und Deutschlands“ 12 – schem Bauwerk und künstlerischer Arbeit in­ bevorstand, wurde die imposante Eisenbahn­ terpretierten die Organisatoren des Projekts brücke als materieller Bezugspunkt eines kon­ „Kulturbrücke“ folgendermaßen: „Diese künst­ zeptuellen Dialogs zwischen Deutschland und lerischen Aktivitäten sollen weitere kreative Di­ Kamerun umgedeutet. Offenbar schrieb man der alogformen und ‚Brücken‘ schaffen zwischen Brücke eine große Symbolkraft zu, wenngleich den vielfältigen und reichen Kulturen des Lan­ sie 220 Kilometer vom Sitz des Goethe-Instituts des und ihrem jeweiligen Kulturerbe, zwischen

12 Das Projekt „Kulturbrücke – Die Spaziergänger von Edea“, 13 Ebd. o. D., www.goethe.de/resources/files/pdf12/pk8651220.pdf. 14 Ebd.

36 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ den Sprachen und Literaturen Kameruns und Truppen viele Opfer zu beklagen hatten. Kurz Deutschlands, zwischen Vergangenheit, Gegen­ zuvor hatten die Spannungen zwischen deut­ wart und Zukunftsentwurf.“ 15 Nach ihren Hü­ scher Kolonialmacht und verschiedenen Bevöl­ ten und Jacken zu schließen, scheinen einige der kerungsgruppen in Kamerun ihren Höhepunkt Figuren die ehemaligen Kolonialherren zu sym­ erreicht. Einige lokale Herrscher wurden in bolisieren. Die anderen Figuren stellen mit ihren der Folge von den Deutschen verhaftet und bei bunten Kleidern wohl die heute lebende jünge­ Ausbruch des Krieges hingerichtet. 18 Die Deut­ re Generation dar. Ins Auge fällt aber, dass diese schen glaubten, einen Zweifrontenkrieg führen Figuren nicht in dieselbe Richtung blicken und zu müssen, zum einen gegen die Alliierten und nicht auf Säulen gleicher Höhe stehen. Haben zum anderen gegen die einheimische Bevölke­ die hier Dargestellten, so mag sich der Betrach­ rung, weil die Deutschen Rache und Verrat be­ ter fragen, eine gemeinsame Zukunft und dassel­ fürchteten. Es heißt, die Alliierten hätten Teile be Ziel im Blick? der Bevölkerung am Leuchtturm versammelt, Ein – auf deutscher Seite – nach wie vor re­ von wo aus sie nach Buea verschifft werden soll­ levanter Aspekt postkolonialer Erinnerungskul­ ten. Dabei starben viele Banoho und Bapuku tur ist das, was man die „Ahnenforschung“ nen­ durch Ertrinken. Die nach Buea Verschleppten nen könnte. Sie will die Spuren jener Deutschen mussten unter elenden Bedingungen bis zum erkunden, die während der „Erschließung“ Ka­ Ende des Krieges auf Plantagen arbeiten, was sie meruns ihr Leben gelassen haben. Es waren Sol­ als Sklavenarbeit empfanden. So verbinden sich daten oder Zivilisten, die im Dienste der „Schutz­ mit dem Leuchtturm im kollektiven Gedächtnis truppe“ oder der Kolonialverwaltung standen. der Kameruner Exil, Deportation, Trauer und Mit der Spurensuche verbunden ist die Restau­ Tod. Die Mayi- und die ­February-Feiern, die rierung von deutschen Friedhöfen. Im Novem­ jährlich am 9. Mai und am 14. Februar abgehal­ ber 2012 veröffentlichte die deutsche Botschaft ten werden, gehören zu den zentralen postkolo­ in Kamerun eine Liste von insgesamt 254 gefal­ nialen Gedenkfeiern bei den Batanga. Sie haben lenen Deutschen, deren Gräber sich im Land be­ die Funktion, die dunkle Seite ihrer Geschichte finden. 16 Die Initiatoren dieses weltweiten Pro­ zu erinnern und sie an die junge Generation zu jekts sprechen von „Gefallenendenkmälern“ und übermitteln. 19 suchen nach Wegen, ihrer in (Kolonial-)Kriegen umgekommenen Vorfahren zu gedenken. Wie es LITERARISCHER der Website des Projekts zu entnehmen ist, dis­ ERINNERUNGSTOPOS tanziert man sich „entschieden von jeder Form der Heldenverehrung und/oder Kriegsverherrli­ Die deutsch-kamerunische Erinnerungskultur chung“. 17 Kritisch anmerken ließe sich allerdings, wird jedoch nicht nur von den topografischen dass die in der Kolonialzeit getöteten Kameruner Orten geformt, auch mentale Orte, die eher fik­ bisher nicht mit in diese Gedenkkultur einbezo­ tional oder diskursiv sind, nehmen Einfluss, kon­ gen wurden. Wie sieht es mit der Erinnerungskultur auf­ seiten der Kameruner aus? Mit dem Leuchtturm 18 In Douala sind am 8. 8. 1914 Rudolf Dualla, Manga Bell und Ngosso Din erhängt worden, während Martin Paul Samba in in Kribi – 1906 zu einer Zeit errichtet, als sich Ebolowa erschossen wurde. Am gleichen Tag sind in Kribi die die Stadt zum Hauptausfuhrhafen von Kaut­ beiden Könige der Batanga, Wilhelm Madola und Endande schuk und Elfenbein entwickelte – ist heute für Mbita, zum Tode verurteilt und erhängt worden. Siehe u. a. die Batanga (Banaho, Bapuku, Nyassa) die Ge­ Christian Bommarius, Der gute Deutsche. Die Ermordung schichte der „Deportation“ verbunden. Invol­ Manga Bells in Kamerun 1914, Berlin 2015; Jean-Pierre Félix Eyoum/Stefanie Michels/Joachim Zeller (Hrsg.), Duala und viert waren vor allem die Banoho und die Bapu­ Deutschland – verflochtene Geschichte. Die Familie Manga Bell ku, die im Ersten Weltkrieg durch die deutschen und koloniale Beutekunst: Der Tangué der Bele Bele/Douala et l’Allemagne: une histoire croisée. La famille Manga Bell et l’œuvre d’art colonial pillé: Le „Tangué“ des Bele Bele, Köln 2011; 15 Ebd. Stefanie Michels/Joachim Zeller, „Ihr werdet Kamerun niemals 16 Für Douala siehe www.denkmalprojekt.org/2012/douala_​ haben!“ – Mebenga m’Ebono alias Martin Paul Samba, 2012, region-littoral_republik_kamerun.html. www.berlin-postkolonial.de/cms/index.php/personen2/19-orte/ 17 Onlineprojekt Gefallenendenkmäler, Willkommen, o. D., spandau/33-kladow-martin-paul-samba. www.denkmalprojekt.org. 19 Vgl. Mayi. Magazine Traditionnel Batanga, 2011.

37 APuZ 40–42/2019 kret: die Literatur und Rückgabeforderungen von löst“. 21 Einige Figuren und Fakten erfahren aber Kunst- und Kulturgütern. auch eine Umformung und sind deshalb nicht im­ In der nachkolonialen Zeit entwickelte sich mer auf den ersten Blick zu erkennen. Der Pries­ die Literatur zu einem wichtigen Bestand­ ter Heinrich Vieter zum Beispiel tritt in dem Ro­ teil der Erinnerung an die „geteilte“ Geschich­ man von Philombe als Pater Marius auf und wird te Kameruns und Deutschlands. Im Folgenden sogar als zentraler Träger der Handlung vorge­ soll besonders auf die Figurenkonstellation als stellt, die sich, nach Angaben des auktorialen Er­ Ankerpunkt der Erinnerungsarbeit in der kame­ zählers, 1915 abspielt. Vieter, der 1890 in Kame­ runischen postkolonialen Literatur eingegangen run an der Spitze der Pallottiner Mission trat und werden. Für die Literaturwissenschaftler Matías im Roman zum „weißen Zauberer von Zangali“ Martínez und Michael Scheffel sind die Figuren gemacht wird, starb allerdings schon 1914 kurz Bewohner einer fiktiven Welt, die Autoren in ih­ nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Eine ähn­ ren fiktionalen Erzählungen kreieren. Diese Fi­ liche Abwandlung erfährt in dem Roman der alte guren sind von Personen der realen Welt zu un­ Ombala Nga Dugsa, der eine Prügelstrafe von 25 terscheiden, ähneln ihnen aber zugleich, da auch Stockschlägen erleiden muss, 22 ausgeführt von sie Herkunft, Merkmale, sozialen Stand, Ge­ „Mayor Dzomnigi“. Bei dem Opfer handelt es schlecht und dergleichen besitzen. Diese Eigen­ sich um den „Häuptling“ Tsonu (oder auch Tso­ schaften haben einen tief greifenden Einfluss auf num), 23 der 1889/90 den Deutschen unter der die Handlung in den Werken. 20 Und obwohl es Führung von Hans Tappenbeck 24 Land für den sich bei literarischen Werken um Fiktion han­ Bau der Jaunde-Station anbot, wo Major Hans delt, weisen die darin auftretenden Figuren ge­ Dominik ab 1894 als Stationsleiter residierte. 25 legentlich Übereinstimmungen mit historischen In den Theaterstücken „Ach Kamerun! Unse­ Persönlichkeiten auf, nicht nur bei historischen re alte deutsche Kolonie“ von Alexandre Kum’a Werken wie Geschichtsromanen oder -dramen. Ndumbe III. von 1970 und „Ngum a Jemea ou Daher ist die Verarbeitung deutsch-kameruni­ la foi inébranlable de Rudolf Dualla Manga Bell“ scher Geschichte durch kamerunische Schrift­ von David Mbanga Eyombwan aus dem Jahr 2007 steller besonders aufschlussreich. Die nähere sind alle Charaktere der deutsch-kamerunischen Untersuchung dieser Werke zeigt, wie die lite­ Geschichte entnommen. Auf kamerunischer Sei­ rarisch-historiografische Konstruktion deutsch- te sind dies historische Persönlichkeiten, die den kamerunischer Erinnerung zwischen Konkur­ Deutsch-Duala-Vertrag von 1884 verhandel­ renz, Subversion und Antagonismus pendelt, als ten und unterschrieben, wie King Bell und King Wille einer réécriture der Kolonialgeschichte aus Akwa, aber auch Figuren, die später der deut­ der Perspektive der Besiegten. schen Kolonialmacht die Stirn boten und heute Viele der literarischen Figuren sind samt Na­ men und Eigenschaften der Geschichte entnom­ 21 René Philombe, Un Sorcier blanc à Zangali, Yaoundé 1969, men, anderen werden fiktive Namen gegeben, S. 13. Siehe auch ders., Ach, diese Deutschen!, in: Ilija Trojanow/ aufgrund ihrer Rolle jedoch bleiben sie erkenn­ Peter Ripken (Hrsg.), Afrikanissimo. Ein heiter-sinnliches Lesebuch, bar. Dies gilt zum Beispiel für den Kolonialoffi­ München–Zürich 19972, S. 181–187; Albert Gouaffo, Major zier Hans Dominik in dem Roman „Der weiße Dominik comme lieu de mémoire interculturelle au Cameroun wi- helminien: analyse interdiscursive d’un personnage historique, in: Zauberer von Zangali“ von René Philombe, ei­ Questions de Communication, série actes 6/2008, S. 195–207; nem bekannten Kameruner Schriftsteller. Dieser ders., Se guérir de la violence coloniale? Jean Ikelle-Matiba et erscheint dort als „Mayor Dzomnigi“. Dominik­ Réné Philombe face aux colonialismes français et allemand, in: war seinerzeit berüchtigt für seine brutalen „Be­ Isaac Bazié/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.), Violences postcolo- friedungsfeldzüge“, und bis heute assoziieren niales. Perceptions médiatiques, représentations littéraires, actes du colloque du 17–18 juin 2005 à Saarbrücken, Münster 2011, viele Kameruner mit dessen brutalem Regime S. 49–63. eine Epoche reiner Terrorherrschaft. Philom­ 22 Philombe 1969 (Anm. 21), S. 11. be schreibt, dass „Major Dzomnigi“ ein Mann 23 Vgl. Richard Tsogang Fossi, Les relations entre l’Europe et war, „dessen Name allein schon Alpträume aus­ l’Afrique en zone de contact tri-national: Allemands, Français et Anglais dans la mémoire littéraire camerounaise postcoloniale, Doktorarbeit, Université de Dschang 2013, S. 91. 20 Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel, Einführung in die 24 Vgl. Hoffmann (Anm. 1), S. 55 ff. Erzähltheorie, München 20129, S. 144; Christoph Bode, Der 25 Vgl. Hans Dominik, Kamerun. Sechs Kriegs- und Friedens- Roman. Eine Einführung, Tübingen–Basel 20112, S. 132. jahre in deutschen Tropen, Berlin 1901, S. 64, S. 146 f.

38 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ im Land als Identifikationsfiguren gefeiert wer­ merunischer Seite stellt sich die Erinnerungs­ den, allen voran Dualla Manga Bell, Ngoso Din arbeit manchmal überaus ambivalent dar. So und Madola. Auf deutscher Seite finden sich Cha­ stoßen etwa einige Kolonialbauten aus der deut­ raktere, die Kamerun eroberten und den deut­ schen Kolonialzeit auf Bewunderung, 26 anderer­ schen Handel mit Feuer und Schwert erschließen seits werden sie als Zeichen eines vergangenen wollten und nun als Täter literarisch verarbeitet Unrechtssystems rezipiert, unter dem die Kolo­ werden. Kameruner und Deutsche werden zu­ nisierten leiden mussten. Deutsche Architektur nächst in einer klaren Opfer-Täter-Dichotomie und andere Erinnerungsorte symbolisieren Mo­ zueinander in Beziehung gesetzt, um die Realitä­ dernisierung, aber auch Zwangsarbeit, Unterdrü­ ten der deutschen Kolonialherrschaft zum Aus­ ckung, Deportation, Tod und Grausamkeit der druck zu bringen, dann aber werden die Grenzen Kolonialherren. Diese Ambiguität bleibt auch zwischen beiden Seiten mehrfach durchlässig, in den literarischen Werken Kameruner Auto­ und Deutsche treten als Befürworter der Kolo­ ren, die die deutsche Kolonialvergangenheit zum nisierten und Kolonisierte als Kollaborateure der Thema machen, erkennbar. Aber das deutsch-ka­ Kolonialmacht auf. merunische Gedächtnis steht heute auch im Zen­ Eine weitere Erblast der deutschen Koloni­ trum gemeinsamer Projekte, die durch Feldfor­ sation sind die entwendeten Kunst- und Kultur­ schungen und Wiederentdeckung historischer güter aus Kamerun, die heute Gegenstand juris­ Materialien und topografischer Orte die geteil­ tischer und politischer Rückgabeforderungen te Geschichte in bestimmten Regionen in beiden sind. Die bekanntesten Fälle sind der Tangué von Ländern aufarbeiten. 27 Lock Priso aus Douala und der Thron des König Njoya aus Foumban, die sich in deutschen Mu­ Dieser Text erschien erstmals in: Marianne seen befinden. Alexandre Kum’a Ndumbe III., Bechhaus-Gerst/Joachim Zeller (Hrsg.), Deutschland Enkel von Lock Priso, fordert den Tangué, den postkolonial? Die Gegenwart der imperialen er als koloniales Raubgut betrachtet, seit Jahren Vergangenheit, Berlin 2018. von Deutschland beziehungsweise vom Bundes­ land Bayern zurück, bisher ohne Erfolg. Derweil moniert er, dass die Deutschen zwar ein Gebäck­ stück Namens „Kameruner“ kennen, aber nur wenige um die koloniale Vergangenheit der Deut­ schen in diesem Lande wissen.

SCHLUSS

Die deutsch-kamerunische Geschichte, die vor 140 Jahren begann, hat Brüche erfahren. Den Anfang markiert eine Kolonialgeschichte, der der Erste Weltkrieg ein Ende setzte, die aber in der Erinnerungskultur fortlebt und auf unter­ schiedliche Weise wachgehalten und kritisch re­ flektiert wird. Dazu gehören Aneignungs- wie Umdeutungsversuche auf beiden Seiten. Auf ka­ ALBERT GOUAFFO ist Professor für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft sowie interkulturelle Kommuni- 26 Vgl. Albert Gouaffo, Interkulturalität der kolonialen Kultur: Zur Fiktionalisierung der deutschen kolonialen Vergangenheit kation Afrika – Deutschland – Frankreich an der in der kamerunischen Gegenwartsliteratur, in: Deutsch als Université de Dschang, Kamerun. Fremdsprache. Zeitschrift zur Theorie und Praxis des Deutschun- www.albert-gouaffo.com terrichts für Ausländer 1/2005, S. 33–41. 27 Dies gilt etwa für das Projekt „(Post-)koloniale Erinnerungs- RICHARD TSOGANG FOSSI orte im Rheinland und im Grasland Kameruns – ein transregio- nales Forschungsprojekt. Das Kameruner Grasland und die deut- ist promovierter Germanist und Lehrbeauftragter sche Kolonialzeit“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. an der Université de Dschang, Kamerun. Siehe www.deutschland-postkolonial.de. [email protected]

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KOLONIALE SPUREN IM STÄDTISCHEN RAUM Marianne Bechhaus-Gerst

Der deutsche Kolonialismus hat tiefe Spuren Reich mit dem Verlust seiner Kolonien einher­ in den städtischen Räumen hinterlassen. Denk­ ging, die Funktion, das Erinnern an das über­ mäler, Straßennamen, Gebäude und Institutio­ seeische „Weltreich“ wach zu halten. Nach dem nen sind Teil der kolonialen Topografie unserer Zweiten Weltkrieg waren nicht nur alle kolonia­ Städte. Die kolonialen Bezüge sind nur manch­ len Ambitionen erloschen, sondern war auch ein mal noch sichtbar, zum Beispiel bei Denkmä­ Teil der Kolonialdenkmäler im Bombenkrieg zer­ lern oder Straßennamen. Häufiger sind sie stört worden. In der DDR wurden nach 1945 alle unsichtbar, teils, weil ihre materiellen Manifes­ noch erhaltenen Denkmäler abgetragen, um sich tationen im Krieg zerstört wurden, teils, weil vom deutschen kolonialen Erbe zu distanzieren. 01 ihr kolonialer Ursprung oder Zusammenhang In der Bundesrepublik dagegen tat man sich we­ vergessen, ignoriert oder von anderen, nachko­ sentlich schwerer mit den Helden- und Mahnma­ lonialen Erzählungen und Zuordnungen über­ len im öffentlichen Raum. lagert wurde. Hier sind zum Beispiel Museen, Ein Beispiel dafür ist heute das größte ur­ Universitäten, Zoos und Botanische Gärten als sprüngliche Kolonialdenkmal Deutschlands, Orte kolonialer Wissensproduktion und Ver­ das sich in Bremen befindet. Das „Kolonial- mittlung zu erwähnen. Ehrenmal“ wurde nach einem Entwurf des Die Frage des Umgangs mit diesen Spuren der Bildhauers Fritz Behn errichtet und 1932 ein­ deutschen Kolonialgeschichte wird seit einiger geweiht. Es besteht aus einem aus Klinkerstei­ Zeit vielerorts mit zunehmender Intensität disku­ nen gemauerten Elefanten, der auf einer 15 mal tiert, meist ausgehend von zivilgesellschaftlichen 11 Meter umfassenden und eineinhalb Meter Gruppen, die sich für eine kritische Auseinander­ hohen Sockelstufe steht. Das Monument er­ setzung mit dem deutschen Kolonialismus einset­ reicht eine Gesamthöhe von 10 Metern. Im Un­ zen. Als bedeutender, aber vernachlässigter Teil terbau befindet sich eine Krypta mit einem stei­ der deutschen Geschichte soll die Art und Wei­ nernen Tisch, auf dem ein Buch mit den 1490 se, wie wir uns an ihn erinnern, verändert wer­ Namen der im Ersten Weltkrieg in den Kolo­ den: Bislang weitgehend unbeachtete Aspekte der nien gefallenen deutschen Soldaten lag. Am So­ Kolonialgeschichte wie der vielfache Widerstand ckel war die Inschrift „Unsere Kolonien“ an­ gegen die deutsche Kolonialmacht, gegen kolo­ gebracht, wenngleich diese 1932 schon seit niale und rassistische Gewalt, sowie die Auswir­ 14 Jahren Vergangenheit waren. 02 kungen und Spätfolgen des Kolonialismus nicht Der Bremer Elefant gehört zu den Denkmä­ nur in den ehemaligen Kolonien, sondern auch in lern, die durch „Umsemantisierung“ einen Pro­ Deutschland, sollen Teil der Erinnerungskultur zess der Umwidmung zum antikolonialen Denk­ und damit des kollektiven Bewusstseins werden. mal durchlaufen haben. 03 Zwar hatte man sich Wie schwierig sich die Debatten zum Teil gestal­ bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg der ten, soll im Folgenden anhand einiger Beispiele Inschrift „Unsere Kolonien“ entledigt, zur Um­ aufgezeigt werden. deutung kam es aber erst in den 1990er Jahren anlässlich der Unabhängigkeit Namibias. Auf (ANTI-)KOLONIALE Initiative zivilgesellschaftlicher Gruppen wurde DENKMÄLER das Denkmal durch neue Tafeln und Inschriften, die auf die Opfer kolonialer Gewalt und die his­ Kolonialdenkmäler hatten vor allem nach dem torische Verantwortung Deutschlands verwei­ Ersten Weltkrieg, dessen Ende für das Deutsche sen, in ein antikoloniales Mahnmal umgedeutet.

40 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ

Der Elefant steht seitdem regelmäßig im Zen­ kerverständigung dienen. Unterstützt wurde das trum kolonialkritischer, erinnerungspolitischer Projekt durch die Lokalpolitik und den Ham­ und postkolonialer Veranstaltungen. Dass eine burger Honorarkonsul der Republik Tansania. solche Umwidmung jedoch nicht allen passt, Bald regte sich Widerstand gegen diesen Plan. machte 2006 eine Farbattacke deutlich, bei der Kritisiert wurde, dass eine Auseinandersetzung Unbekannte die Gedenktafel für die Opfer der mit dem historischen Kontext des Denkmals un­ deutschen Kolonialherrschaft in Namibia vor terblieben sei und somit koloniale Machtstruk­ dem Elefanten mit den Farben der Nationalflag­ turen in einem öffentlichen Erinnerungsraum ge des deutschen Kaiserreichs, schwarz-weiß- implementiert werden sollten. Die deutsche Ko­ rot, übergossen. 04 lonialzeit solle erneut glorifiziert und der Park Am Beispiel der sogenannten Askari-Reli­ zu einer „Pilgerstätte der Ewiggestrigen“ ge­ efs in Hamburg zeigt sich, wie schwer der kriti­ macht werden. 06 sche Umgang mit kolonialen Denkmälern fällt. Als der Hamburger Senat im August 2002 Die Reliefs waren 1939 durch Walter von Ruck­ die Aufstellung des Askari-Denkmals geneh­ teschell, Bildhauer und im Ersten Weltkrieg Ad­ migte, brach erneut eine heftige Debatte los. Die jutant Paul von Lettow-Vorbecks in der „Schutz­ Befürworter*­innen des Projekts zögerten nicht, truppe“ Deutsch-Ostafrikas, geschaffen worden. auf die angeblich positive Rolle der Deutschen Die Figurengruppen, die einen weißen Schutz­ als Kolonialherren in Tansania hinzuweisen. Im truppen-Offizier mit Schwarzen Soldaten 05 (As­ Laufe der Diskussion errichtete der Jenfelder kari) und Trägern auf dem Marsch zeigen, gehör­ Kulturkreis das Denkmal, ohne die Öffentlich­ ten zur Hamburger Lettow-Vorbeck-Kaserne. keit zu informieren. Es wurde entschieden, den Diese wurde 1999 geschlossen und die Askari- „Tansania-Park“ in einer Zeremonie in Anwesen­ Reliefs in der Folge abgebaut. heit des damaligen Premierministers von Tansa­ Im Mai 2002 trat der Jenfelder Kulturkreis nia, Frederick T. Sumaye, zu eröffnen. In den Ta­ mit der Absicht auf den Plan, die Reliefs in un­ gen vor der geplanten Eröffnung intensivierten mittelbarer Nachbarschaft der ehemaligen Ka­ sich die Proteste, und die Kritiker*­innen des Pro­ serne wieder dauerhaft öffentlich zu präsen­ jekts wiesen auf die Hunderttausenden Opfer der tieren. Zusammen mit dem Tansania-Pavillon deutschen Kolonialherrschaft in Afrika hin, de­ der Expo 2000 sollte das Ensemble als „Tan­ nen im „Tansania-Park“ in keiner Weise gedacht sania-Park“ die langen Beziehungen zwischen werden sollte. Deutschland und Tansania ehren und der Völ­ Kurz vor der Eröffnung des Parks, am 4. September 2003, verhängten Vertreter*­innen verschiedener Organisationen den Schrift­ 01 Vgl. Joachim Zeller, Zwischen Wilhelmshaven und München: zug „Lettow-Vorbeck-Kaserne“ und brachten (Post-)Koloniale Erinnerungskultur in Deutschland, in: ders./Ulrich van der Heyden (Hrsg.), Kolonialismus hierzulande. Eine Spu- stattdessen den Schriftzug „Mohamed Hus­ rensuche in Deutschland, Erfurt 2007, S. 267–280, hier S. 267. sein Bayume [sic!] Park“ an. Bayume Moha­ Siehe auch ders., Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewusstsein. med Hussein hatte als Kindersoldat im Ersten Eine Untersuchung der kolonialdeutschen Erinnerungskultur, Weltkrieg in der deutschen Schutztruppe von Frank ­furt/M. 2000. Deutsch-Ostafrika gekämpft und war später 02 Vgl. ders., (Post-)koloniale Gedächtnistopografien in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen einer „Dekolonisation im KZ Sachsenhausen ums Leben gekommen. der Kolonisierer“, in: ders./Marianne Bechhaus-Gerst (Hrsg.), Zwar wurde das Schild innerhalb von zwei Deutschland Postkolonial? Die Gegenwart der Imperialen Stunden durch das Bezirksamt wieder entfernt, Vergangenheit, Berlin 2018, S. 336–365, hier S. 267 ff. Zur die Proteste bewirkten aber, dass Tansanias Geschichte und Gegenwart des Denkmals siehe auch www.der- Präsident Benjamin William Mkapa seinen Pre­ elefant-bremen.de. 03 Vgl. ders. (Anm. 1), S. 270. mier anwies, nicht an der Eröffnung des „Tan­ 04 Vgl. ders. (Anm. 2), S. 348. 05 Die Schreibweisen der Adjektive „Schwarz“ und „weiß“ sollen verdeutlichen, dass es sich um politische Deutungen 06 Ludwig Gerhardt/Wolfram Weiße, Offener Brief an und nicht um biologische Eigenschaften im Sinne von „Haut- Kultursenatorin Dana Horáková und die Bezirksversammlung farben“ handelt. Siehe auch Amnesty International, Glossar Wandsbek, 4. 8. 2002. Siehe auch Gernot Knödler, Museum für diskriminierungssensible Sprache, 28. 2. 2017, www. oder Wallfahrtsort?, in: Die Tageszeitung, 5. 8. 2002, S. 21; amnesty.de/2017/3/1/glossar-fuer-diskriminierungssensible- Afrika-Hamburg, Tanzania-Park, Mai 2005, www.afrika-ham- sprache. burg.de/tanzaniapark.html.

41 APuZ 40–42/2019 sania-Parks“ teilzunehmen, und sich auch die STRAẞENNAMEN Hamburger Politiker*innen zurückzogen. Die Eröffnung wurde schließlich vom Senat abge­ Auch Straßennamen sind Erinnerungsorte im öf­ sagt. 07 Seitdem streitet man weiter über einen fentlichen Raum. Nicht nur in der Stadt, sondern angemessenen Umgang mit den Denkmälern; auch in der Geschichte dienen sie der Orientie­ ein kolonialkritischer Gedenkort ist der Park rung: Historisch bedeutsame Ereignisse, Orte bis heute nicht. und Personen werden mit Straßennamen in der Als Beispiel für einen unkommentierten Fort­ kollektiven Erinnerung gewürdigt. Benennt man bestand eines Kolonialdenkmals kann die Grab­ eine Straße zum Beispiel nach einer Persönlich­ stätte Hermann von Wissmanns auf dem Köl­ keit, tut man dies, um ihren Namen zu ehren und ner Melatenfriedhof angeführt werden, 08 die an die Verdienste der Person zu erinnern. Histo­ mit der Inschrift „inveniam viam – aut faciam“ rische Ereignisse werden durch die Benennung in (finde ich keinen Weg, so bahne ich mir einen) die Gegenwart getragen. das brutale Vorgehen des „Helden“ in Deutsch- In Deutschland gibt es in vielen Städten Stra­ Ostafrika verharmlost. Das Grab ist bis heute ßennamen mit Bezügen zur Kolonialgeschichte. ein Ort, an dem sich Kolonialverherrlicher und Manche dieser Straßen erhielten ihre Bezeich­ -romantiker treffen. An Wissmanns 100. Todes­ nungen noch während der Kolonialzeit, andere tag 2005 legten die Mitglieder des Traditions­ wurden in der NS-Zeit benannt. Koloniale Ak­ verbandes der Deutschen Schutz- und Über­ teure beziehungsweise Täter, die besonders häu­ seetruppen an seinem Grab Kränze nieder. Zu fig durch Straßenbenennungen geehrt wurden, diesem Zeitpunkt sollte das Grab eigentlich auf­ sind Carl Peters, 11 Adolph Lüderitz, 12 Hermann gehoben werden, im März 2006 übernahm je­ von Wissmann 13 oder . 14 Wenn­ doch der Traditionsverband die Patenschaft gleich es vereinzelt bereits in der unmittelbaren über das Grab, das nun erhalten bleibt, solange Nachkriegszeit zu Umbenennungen kam, 15 gibt der Verband es pflegt und restauriert. In einem es heute in Deutschland zum Beispiel noch 26 Spendenaufruf zur Finanzierung der Restaurie­ nach Lüderitz benannte Straßen, von Wissmann rung des Grabs wurde Wissmann weiterhin als wird in 22 Städten geehrt, Peters und Nachtigal „Großer Afrikaner“ bezeichnet. 09 Kritik findet jeweils in mehr als 10. 16 bislang nicht statt. Vielmehr weist der Traditi­ Seit dem Ende der 1980er Jahre ist der Um­ onsverband darauf hin, dass die Übernahme in gang mit diesen Straßennamen in einzelnen Städ­ Absprache mit der Stadt Köln erfolgt sei und ten immer wieder Thema. Meist drehen sich die das Grab als denkmalwerte Anlage eingestuft Diskussionen um das Für und Wider erklärender werde. 10 Als Traditionspflege getarnt, wird so Tafeln oder einer Umbenennung der betroffenen koloniale Gewalt an einem Erinnerungsort im

öffentlichen Raum verherrlicht. 11 Carl Peters (1856–1918) war einer bekanntesten und be- rüchtigtsten Kolonialpropagandisten und kolonialen Täter. Er 07 Zum Streit um den „Tansania-Park“ siehe Heiko Möh- wurde als Begründer der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ (heute le, Hamburg-Jenfeld: Von der Traditionspflege zum post­ Tansania, Burundi, Ruanda) geehrt. Sein grausames Vorgehen kolonialen Erinnerungsort? Der „Tansania-Park“ in der ehe- brachte ihm die Beinamen „Blutige Hand“ und „Hänge-Peters“ maligen Lettow-Vorbeck-Kaserne, in: Zeller/von der Heyden ein. Wegen zweifachen Mordes zunächst aus dem Kolonial­ (Anm. 1), S. 275–280. Zu Bayume Mohamed Hussein siehe dienst entlassen, wurde er in der NS-Zeit rehabilitiert und Marianne Bechhaus-Gerst, Treu bis in den Tod. Von Deutsch- gefeiert. Ostafrika nach Sachsenhausen – Eine Lebensgeschichte, 12 Franz Adolf Eduard Lüderitz (1834–1886) war ein Bremer Berlin 2007. Kaufmann, der ab 1883 mit betrügerischen Verträgen be- 08 Hermann von Wissmann (1853–1905) war der Begrün - trächtlichen Landbesitz im heutigen Namibia erwarb. Er gilt als der der sogenannten „Schutztruppe von Deutsch-Ostafrika“, Begründer der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“. die zunächst den antikolonialen Widerstand der Küstenbe - 13 Zu Hermann von Wissmann siehe Anm. 8. völkerung brechen sollte. 1895–1896 war er Gouverneur 14 Gustav Nachtigal (1834–1885), häufig als „Afrikaforscher“ der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“. Seine Umgestaltung des bezeichnet, war zunächst „Konsul“, dann „ für Steuersystems in der Kolonie führte 1905 zum Maji-Maji- Westafrika“ und wurde als Begründer der deutschen Kolonien Krieg. Togo und Kamerun geehrt. 09 Dokument im Privatbesitz der Autorin. 15 Siehe die Auflistung unter www.freedom-roads.de/frrd/ 10 Vgl. Marianne Bechhaus-Gerst, Das Grab des „Helden“, umbenenn.htm. in: dies./Anne-Kathrin Horstmann (Hrsg.), Köln und der deutsche 16 Vgl. Freedom Roads, Straßennamen nach kolonialen Akteu- Kolonialismus. Eine Spurensuche, Köln 2013, S. 243 f. ren, 2015, www.freedom-roads.de/frrd/akteur.htm.

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Straßen. Insbesondere wenn es um Umbenen­ zeugt allerdings nur teilweise, da für die Än­ nungen geht, kommt es immer wieder zu heftigen derung von Ausweispapieren in solchen Fällen Kontroversen für und gegen das Vergessen bezie­ keine Kosten anfallen und es im Ermessen der hungsweise Erinnern. Städte oder Stadtbezirke steht, weitere Kosten Straßenumbenennungen hat es in der deut­ zu übernehmen. Häufig werden in diesem Zu­ schen Vergangenheit immer wieder gegeben, sammenhang auch Forderungen laut, bestimm­ etwa nach 1945, nach der Wiedervereinigung te Namen einfach umzuwidmen, um mögliche oder, um Dopplungen zu vermeiden, als Fol­ finanzielle Schäden zu vermeiden. So wurde ge von Eingemeindungen. Widerstand gab es in 1986 etwa die Petersallee in Berlin umgewidmet diesen Fällen wenig oder keinen. Vollkommen und soll seitdem an Hans Peters, Jurist, Politi­ anders stellt sich der Sachverhalt bei Straßenna­ ker und Widerstandskämpfer gegen das NS-Re­ men mit kolonialen Bezügen dar. Als Argument gime, erinnern. 19 nicht nur gegen Umbenennungen, sondern ge­ Wiederholt wird bei Umbenennungsdiskus­ gen eine kritische Auseinandersetzung mit den sionen der Vorwurf laut, man wolle Geschichte Namen wird insbesondere auf „Unwissen/Un­ ungeschehen machen oder verändern. Dass dieser kenntnis“ verwiesen. Da man ohnehin nicht Vorwurf durchaus berechtigt sein kann, zeigt sich mehr wisse, wer die Person, was das Ereignis, an einigen bereits erfolgten Umbenennungen, die wo der Ort sei, und alles schon so lange zurück­ sich durch Unkenntnis, Desinteresse und Belie­ liege, seien diese Namen unproblematisch, und bigkeit auszeichnen. 20 Bei der Umbenennung von man müsse sich auch nicht mit ihren Hinter­ Carl-Peters- und Lüderitzstraße in Köln 1989/90 gründen beschäftigen. Wissenslücken werden etwa sollte zwar der „afrikanische“ Kontext der positiv gewertet, weil sie Auseinandersetzungen Namen beibehalten werden, und Erstere wur­ überflüssig machen. 17 de zur Namibiastraße, Letztere zur Usambara­ Auch äußern sich im Rahmen von Umbenen­ straße. Aber nicht nur wurde dabei der histori­ nungsdiskussionen immer wieder nach wie vor sche Hintergrund außer Acht gelassen, es kam bestehende romantisierende oder verklärende auch zu einer geografischen Verkehrung: Lüde­ Perspektiven auf den Kolonialismus: So schlimm ritz war nicht in Deutsch-Ostafrika tätig, wo die sei dieser nicht gewesen und habe für die Men­ Usambaraberge zu finden sind, Carl Peters nicht schen in den Kolonien auch sein Gutes gehabt. in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Nami­ Eine weitere Deutung ist, dass die kolonialen bia. Häufig wird bei Umbenennungen allerdings Straßennamen sogar Solidarität mit den Opfern nicht einmal der geografische Kontext berück­ kolonialer Herrschaft demonstrieren. 18 sichtigt, und die neuen Straßennamen haben mit Vor allem von in den Straßen angesiedelten dem historischen Zusammenhang der ursprüngli­ Wirtschaftsunternehmen und Geschäften, aber chen Benennungen nichts mehr zu tun. In Bietig­ auch von Privatpersonen wird der wirtschaftli­ heim-Bissingen wurde 2009 aus der Karl-Peters- che und finanzielle Aufwand beziehungsweise Straße der Eisvogelweg, in Ludwigsburg 2017 die Schaden einer Umbenennung häufig vehement Holzwiesen. 21 vorgebracht. Das finanzielle Argument über­

19 Vgl. Alexander Honold, Afrikanisches Viertel. Straßenna- 17 Das gesamte Spektrum von – teils auch polemisch formu- men als kolonialer Gedächtnisraum, in: Birthe Kundrus (Hrsg.), lierten – Meinungen für und gegen Straßenumbenennungen Phantasiereiche, Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonia- zeigt sich zum Beispiel an den Kommentaren zum Artikel von lismus, Frank­furt/M.–New York 2003, S. 305–320. Gerade in Kai Biermann, Völkermordstraße, 28. 1. 2018, www.zeit.de/ diesem Fall ist die Wirkung der Umwidmung fraglich, da die wissen/2018-01/strassennamen-kolonialismus-rassismus-umbe- Petersallee in Berlin als Teil des sogenannten „Afrikanischen nennung-initiativen?page=11. Viertels“ umgeben ist von Straßen mit kolonialhistorischen 18 So etwa im Zusammenhang mit dem sogenannten „Chi- ­B e z ü g e n . nesenviertel“ in Köln. Die dortigen Straßennamen „Takuplatz“, 20 Vgl. Marianne Bechhaus-Gerst, Koloniale Straßenna- „Lansstraße“ und „Iltisstraße“ erinnern an den sogenannten men und Erinnerungskultur, in: dies./Horstmann (Anm. 10), Boxeraufstand, der von einer internationalen Truppe brutal S. 237–241. niedergeschlagen wurde und für China langfristige wirtschaft- 21 Zu den damit verbundenen Diskussionen vgl. Verena liche und finanzielle Folgen hatte. Vgl. Marianne Bechhaus- Mayer, Genervte Pioniere in einer korrekten Straße, 14. 4. 2017, Gerst, Decolonize Germany? (Post)Koloniale Spurensuche in www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.neuer-strassenname- der Heimat zwischen Lokalgeschichte, Politik, Wissenschaft und in-ludwigsburg-genervte-pioniere-in-einer-korrekten- „Öffentlichkeit“, in: Werkstatt Geschichte 75/2017, S. 49–55. strasse.513e457a-10b5-4cc4-9294-5a2ada732649.html.

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Im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung werden eingerichtet, zum Teil nach kontroversen mit der deutschen Kolonialvergangenheit ist es Diskussionen über „richtige“ Formulierungen. 24 jedoch wichtig, bei Umbenennungen die histo­ So wurde zum Beispiel 2005 in der Berliner Wil­ rischen Bezüge zur deutschen Kolonialzeit zu helmstraße auf Initiative des aus Togo stammen­ ­erhalten. Wie langwierig und problematisch sich den Grünen-Politikers Victor Dzidzonou die so­ Umbenennungsprozesse unter dieser Prämisse genannte Afrika-Stele errichtet, die sowohl an gestalten können, lässt sich am Beispiel des zum die sogenannte „Kongo-Konferenz“ erinnert, die Bezirk Berlin-Mitte gehörenden „Afrikanischen 1884/85 in Berlin stattfand und mit der koloni­ Viertels“ demonstrieren. Beginnt man mit der alen Aufteilung Afrikas unter den europäischen Umwidmung der Petersallee, ziehen sich die Dis­ Mächten endete, als auch an den Kolonialkrieg kussionen über einen angemessenen Umgang mit 1904 bis 1908 in Namibia und den Völkermord den Straßennamen des Viertels seit mehr als drei an den Herero und Nama. 25 Jahrzehnten hin. Auf Initiative von „Berlin Post­ Zum Teil spektakuläre Interventionen im öf­ kolonial“ und Aktivist*­innen wie Mnyaka Sururu fentlichen Raum haben eine neue Öffentlichkeit Mboro und Israel Kaunatjike kam es vor einigen für die koloniale Erinnerungsproblematik ge­ Jahren erneut zu einer Debatte über die Straßen­ schaffen. Beispielhaft erwähnt werden kann hier namen. Die Aktivist*­innen forderten eine Um­ die Aufstellung des ursprünglich im Hafen von kehr der Perspektive bei den zu wählenden neuen Dar es Salaam in Tansania errichteten sogenann­ Namen. Unter der rot-rot-grünen Bezirksregie­ ten Wissmann-Denkmals, das über Jahrzehnte rung wurde schließlich die Umbenennung von im Depot der Bergedorfer Sternwarte in Ham­ Lüderitzstraße, Nachtigalplatz und Petersallee burg eingelagert war, auf der Überseebrücke im beschlossen. Die Bevölkerung konnte Namens­ Hamburger Hafen durch die Künstlerin Jokinen vorschläge einreichen, die eingesetzte erste Aus­ 2004. Das 14-monatige Projekt war begleitet von wahljury scheiterte aus verschiedenen Gründen, zahlreichen Veranstaltungen und einem Web­ und ein neu einberufenes Expert*­innengremium forum, auf dem Interessierte über das Denkmal wählte schließlich drei Namen aus, die auch ver­ und dessen Zukunft sowie über den Umgang mit abschiedet wurden. Die Umbenennungen wur­ der kolonialen Vergangenheit debattieren konn­ den im Amtsblatt für Berlin veröffentlicht, und ten. 26 Dabei sprachen sich 95 Prozent der Betei­ es gab die Möglichkeit, Widerspruch einzulegen. ligten dafür aus, dass das Denkmal sichtbar blei­ Dies ist inzwischen mehr als 500 Mal passiert. ben solle, um weiter diskutiert zu werden. Seit Diese Widersprüche müssen nun einzeln beschie­ Ende des Kunstprojekts ist die Bronzefigur auf den werden, um Klagen vor dem Verwaltungsge­ Veranlassung der Stadt Hamburg jedoch wieder richt zu ermöglichen. Bis alle Verfahren beendet ­eingelagert. sind, befinden sich die Umbenennungen im Zu­ Ein weiteres Beispiel ist das Filmprojekt stand des „schwebenden Unwirksamseins“ und „Recolonize Cologne“ von Kanak TV, das 2006 können de facto nicht umgesetzt werden. 22 die symbolische Inbesitznahme eines Teils der Kölner Fußgängerzone durch einen fiktiven STADT Kameruner König dokumentierte. Der Film er­ DEKOLONISIEREN

24 Zur Diskussion über den neuen Gedenkstein für die Seit einigen Jahren machen immer mehr zivilge­ „Opfer der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia“ auf dem sellschaftliche Gruppierungen und postkoloniale Garnisonfriedhof in Berlin-Neukölln siehe etwa ders., Einwei- Initiativen über koloniale Spuren im städtischen hung des Namibia-Gedenksteins in Berlin, 11. 10. 2009, www. Raum hinaus auf die Notwendigkeit einer Deko­ freiburg-postkolonial.de/Seiten/2009-Zeller-Namibiagedenk- stein-Berlin.htm. lonisation der Städte aufmerksam. Man kann hier 25 Vgl. ders. (Anm. 2), S. 357. Für den dreisprachigen Text von einer Erinnerungspolitik „von unten“ spre­ auf der Stele siehe www.gedenktafeln-in-berlin.de/nc/gedenk­ chen. 23 Neue Denkmäler und Erinnerungsorte tafeln/gedenktafel-anzeige/tid/berliner-afrika-konf. 26 Bis zu 300 000 Menschen besuchten das Denkmal, und mehr als 5600 Personen stimmten auf der Webseite über 22 Vgl. Bezirksamt Mitte von Berlin, Abteilung Weiterbildung, seine Zukunft ab. In mehr als 800 Textbeiträgen wurde die Kultur, Umwelt, Natur, Straßen und Grünflächen, schriftliche Kolonialgeschichte kontrovers diskutiert. Vgl. Afrika-Ham - Mitteilung vom 17. 7. 2019. burg, Willkommen, o. D., http://afrika-hamburg.de/willkom- 23 Vgl. Zeller (Anm. 2), S. 361. men.html.

44 Deutsche Kolonialgeschichte APuZ zählt die deutsche Kolonialvergangenheit aus Rassismus, Migration oder globale Wirtschaft Kameruner Perspektive und verbindet die Ko­ Bezüge und Kontinuitäten von der Kolonialzeit lonialgeschichte mit dem aktuellen Kampf um bis heute auf. Damit tragen sie nicht nur zur De­ globale Bewegungsfreiheit, Flucht und Migrati­ kolonisierung des Stadtraums bei, sondern auch on. In einer Rahmenhandlung kommt ein „Kö­ des Denkens. nig aus Kamerun“ am zentralen Neumarkt in Köln an und wird von seinen „Untertanen“ auf einer Sänfte die Einkaufsstraße entlang getra­ gen. Am Übergang zur nächsten Fußgängerzo­ ne steckt der König ein Stück Land ab, um es zu „re-kolonisieren“ und gleichzeitig auf koloniale Aneignungsprozesse in Kamerun aufmerksam zu machen. Die Passanten werden aufgefordert, dem König zu huldigen. Schließlich wird das Stück Land der Weltbürgerschaft übereignet. Als Symbol dieser Weltbürgerschaft werden Kartoffeln an die Passanten verteilt. Der Film hat durch seine weite Verbreitung einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht, durch den die sym­ bolische Aneignung des Kölner Raums über die eigentliche Intervention hinaus erhalten geblie­ ben ist. 27 Bei der Dekolonisation des städtischen Raums dürfte Hamburg eine Pionierrolle gespielt ha­ ben. Bereits Mitte der 1980er Jahre entstand an der Universität Hamburg eine studentische Ar­ beitsgruppe, die eine Stadtrundfahrt zum Thema „Hamburg – Dritte Welt“ entwickelte und dabei vor allem auf die Rolle Hamburgs im deutschen Kolonialismus hinwies. 28 Heute gibt es bundes­ weit solche Projekte. In einigen Städten finden die Rundgänge und -fahrten regelmäßig statt, in anderen sind es einmalige oder auf Anfrage buchbare Angebote. Nahezu allen Führungen gemein ist, dass sie auf die verborgenen koloni­ alen Spuren im städtischen Raum aufmerksam machen. Dazu gehören nicht mehr vorhandene Orte kolonialpolitischer Aktivitäten, aber auch noch sehr sichtbare Orte mit kolonialer Vergan­ genheit wie Museen, Universitäten, Zoos und Botanische Gärten. Die Führungen helfen da­ bei zu erkennen, wie sich die koloniale Vergan­ genheit in die städtischen Räume eingeschrieben hat. Darüber hinaus bleiben die postkolonialen Stadtführungen in der Regel nicht beim Vergan­ genen stehen, sondern zeigen mit Themen wie

27 Mehr zum Film unter www.filme-aus-afrika.de/DE/film-db/​ MARIANNE BECHHAUS-GERST a-z/film-details/​w/371. 28 Vgl. Heiko Möhle, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Branntwein, ist außerplanmäßige Professorin am Institut für Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika – eine Afrikanistik der Universität zu Köln. Spurensuche in Hamburg, Hamburg 1999, S. 7 f. [email protected]

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