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DAVID GRANN Die versunkene Stadt Z

Stadt_Goldm_CS4.indd 1 01.06.2011 15:17:08 Buch »Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?«, fragt sich David Grann. Er hat David Grann Outdoor-Aktivitäten immer gehasst – und sich jetzt irgendwo im Amazonas- becken verirrt. Nachdem er zufällig über alte Tagebücher gestolpert war, be- schloss er, das »größte Entdeckergeheimnis des 20. Jahrhunderts« zu lösen: Die versunkene Stadt Z Was geschah mit dem englischen Forscher , dem »David Li- vingstone des Amazonas«? Expedition ohne Wiederkehr – Fawcett brach 1925 zusammen mit seinem 21-jährigen Sohn auf, um nach das Geheimnis des Amazonas den Überresten einer uralten Hochkultur zu suchen. Seit Jahrhunderten hatt man über das goldglänzende El Dorado spekuliert; Tausende waren bei dem Versuch gestorben, dem Dschungel das Geheimnis zu entreißen. Doch Fawcett, dessen Expeditionen Arthur Conan Doyle zu seinem Roman »Die vergessene Welt« inspirierten, hatte sich jahrelang vorbereitet und war ent- Aus dem amerikanischen Englisch schlossen zu beweisen, dass die Hochkultur – die sagenhafte Stadt Z – wirk- von Henning Dedekind lich existiert hatte. Dann verschwand er mit seiner Expedition irgendwo im Regenwald. Fawcetts Schicksal aufzuklären wurde zur fixen Idee für buch- stäblich Hunderte von Forschern und Abenteurern, die sich an seine Fersen hefteten. Viele von ihnen sind verschwunden – und haben im Urwald den Tod gefunden oder den Verstand verloren. Und nun ist David Grann auf dem Weg in die »grüne Hölle«…

Autor David Grann, Jahrgang 1967, studierte Politologie an der renommierten Flet- cher School of Law & Diplomacy und Creative Writing an der Boston Uni- versity. Er arbeitete für verschiedene Zeitungen in Washington D. C., bevor er als Redakteur zum Magazin »« wechselte. Seine Artikel erscheinen u. a. in »The New York Magazine«, »Washington Post«, »Atlan- tic Magazine« und »Wall Street Journal«. Seine erste Buchveröffentlichung »Die versunkene Stadt Z« war ein Sensationserfolg in den USA und stand wochenlang auf der »New York Times«-Bestsellerliste. David Grann lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in New York.

Stadt_Goldm_CS4.indd 2 01.06.2011 15:17:08 David Grann Die versunkene Stadt Z Expedition ohne Wiederkehr – das Geheimnis des Amazonas

Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind

Stadt_Goldm_CS4.indd 3 01.06.2011 15:17:08 Verlagsgruppe Random House FSC-Deu-0100 Das FSC®-zertifizierte PapierMünchen Super für dieses Buch liefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.

1. Auflage Taschenbuchausgabe August 2011 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright © der deutschen Erstausgabe 2010 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2005, 2009 by David Grann Originaltitel: The Lost City of Z. A Tale of Deadly Obsession in the Amazon Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, in Anlehnung an die Gestaltung der deutschen Erstausgabe (Rudolf Linn, Köln) Umschlagmotiv: fotolia/frogger Karten: David Cain KF · Herstellung: Str. Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN: 978-3-442-15666-5 www.goldmann-verlag.de

Stadt_Goldm_CS4.indd 4 01.06.2011 15:17:09 Für meine unerschrockene Kyra

Stadt_Goldm_CS4.indd 5 01.06.2011 15:17:09 Stadt_Goldm_CS4.indd 6 01.06.2011 15:17:09 Inhalt

t Vor­wor 15 1 Wir wer­den zu­rück­kehr­en 19 2 Das Versch­ winden­ 33 3 Die Suche­ beginnt­ 45 4 Ver­bor­gene­ Schät­ze 53 5 Weiße­ Fleck­ en auf der Landkar­ ­te 71 6 Der Schüler­ 85 7 Ge­frier­ge­trock­nete­ Eis­creme und Ad­re­na­linso­ ­cken 95 8 Ab­rei­se ins Ama­zo­nas­be­cken 101 9 Die Geheim­ pa­ pie­ r­e 123 10 Die grüne­ Hölle­ 129 11 Dead Horse Camp 137 12 In der Hand der Göt­ter 139 13 Löse­ geld­ 167 14 Die Suche­ nach Z 173 15 El Do­ra­do 197 16 Die ver­schlos­se­ne Kis­te 207 17 Die ganze­ Welt ist ver­rückt gewor­ ­den 211 18 Eine wissen­ schaft­ li­ che­ Obses­ si­ on­ 239 19 Ein un­er­war­teter­ Hin­weis 251 20 Fürchte­ dich nicht 257 21 Der letz­te Augen­ ­zeu­ge 279

Stadt_Goldm_CS4.indd 7 01.06.2011 15:17:09 22 Tot oder le­ben­dig 291 23 Die Kno­chen des Co­lon­els 315 24 Die an­de­re Welt 329 25 Z 335

Danksa­ ­gun­gen 355 Quel­len­hin­wei­se 359 An­mer­kun­gen 363 Li­te­ra­tur­verzeich­ nis­ 393 Register 407

Stadt_Goldm_CS4.indd 8 01.06.2011 15:17:09 Manchmal bedarf es nur eines flüchtigen Blicks, einer Bre- sche inmitten einer undurchdringlichen Landschaft, eines hellen Lichtstrahls im Nebel, eines Wortwechsels zweier Passanten, die sich in der Menge begegnen – und schon glaube ich, dass ich, davon ausgehend, die perfekte Stadt Stück für Stück zusammensetzen werde … Wenn ich Ihnen nun sage, dass jene Stadt, zu der meine Gedanken reisen, durch Raum und Zeit nicht begrenzt ist, dass ihre Gebäude einmal weit verstreut und dann wieder dichter beisammen- liegen, so bedeutet dies keinesfalls, dass die Suche nach ihr irgendwann ein Ende haben wird.

Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte

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Stadt_Goldm_CS4.indd 13 01.06.2011 15:17:13 Stadt_Goldm_CS4.indd 14 01.06.2011 15:17:13 Vort ­wor

Ich zog die Kar­te aus mei­ner Ge­säß­ta­sche. Sie war nass und zer­knit­tert. Die Li­nien,­ mit de­nen ich mei­ne Route­ mar­kiert hat­te, wa­ren längst ver­blichen.­ Ich starr­te die Einzeich­ nun­ gen­ an, in der Hoff­nung, sie wür­den mich aus dem Amazo­ nas­ ­be­cken hin­aus­füh­ren an­statt im­mer tie­fer hin­ein. Der Buch­sta­be Z war in der Kar­ten­mit­te im­mer noch gut sicht­ bar. Er er­schien mir jetzt mehr wie ein Zei­chen des Spotts denn wie ein Weg­wei­ser, ein wei­te­res Zeugnis­ mei­nes wahn­sin­ni­gen Vor­ha­bens. Ich hat­te mich selbst immer­ als un­be­teilig­ ­ten Re­ por­ter be­trach­tet, der seine­ Geschich­ ­ten und sein Priv­ at­le­ben strikt trennt. An­de­re schie­nen sich oft in ih­ren ver­rück­ten Träu­ men und fi­xen Ide­en zu ver­lier­en, ich hinge­ ­gen ver­such­te, ein stum­mer Zeu­ge zu sein. Ich hat­te mir ein­ge­re­det, dies sei auch der Grund, war­um ich Tausen­ de­ von Ki­lo­metern­ weit von New York bis an den Fluss Xingu ge­reist war, ei­nen der längs­ten Ne­ benflüs­ se­ des Amazo­ nas;­ der Grund dafür­ , dass ich mona­ te­ lang­ Hun­der­te Seiten­ vikto­ ria­ ni­ scher­ Tage­ bü­ cher­ und Briefe­ gewälzt,­ mei­ne Frau und mei­nen elf­jäh­ri­gen Sohn zu­rück­ge­las­sen und eine zu­sätz­li­che Le­bens­ver­si­cher­ ung ab­ge­schlossen­ hat­te. Ich re­de­te mir ein, ich sei nur des­halb hier, weil ich re­cher­ chie­ren woll­te, wie Ge­ne­ra­tio­nen von Wis­senschaft­ ­lern und Aben­teu­rern von ei­nem Vi­rus ge­packt wor­den war­en, der ein­mal als »das größte­ Entde­ ck­ er­geheim­ nis­ des zwanzigs­ ten­ Jahrhun­ ­ derts« bezeich­ net­ wur­de – der ge­nauen­ Lage der versun­ k­ enen­ 15

Stadt_Goldm_CS4.indd 15 01.06.2011 15:17:13 Stadt Z. Eine ur­alte­ Stadt mit einem­ Netz aus Stra­ßen, Brü­cken und Tem­peln wur­de ir­gendwo­ im Amazo­ ­nasbe­ ck­ en vermu­ tet,­ dem größ­ten Dschun­gel der Welt. Im Zeital­ ­ter der Flug­zeu­ge und Sa­tel­li­ten ist die­ses Ge­biet ei­ner der letz­ten wei­ßen Fle­cken auf der Land­kar­te. Jahr­hun­der­telang hat es Geo­gra­fen, Ar­chäo­lo­ gen, im­pe­ria­le Herr­scher, Schatz­su­cher und Phi­lo­so­phen in sei­ nen Bann ge­schla­gen. Als um 1500 die ers­ten Eu­ropä­ ­er Fuß auf süd­ame­ri­ka­ni­schen Bo­den setz­ten, wa­ren sie über­zeugt, in die­ sem Dschun­gel das gold­glän­zen­de Kö­nig­reich El Do­ra­do vor­zu­ fin­den. Die Su­che da­nach kos­te­te Tau­sen­de das Le­ben. In jün­ ge­rer Zeit ge­lang­ten vie­le Wis­sen­schaft­ler zu dem Schluss, dass sich in einer­ der­art feind­li­chen Um­ge­bung kei­ne kom­ple­xe Zi­ vi­li­sa­ti­on habe ent­wi­ckeln kön­nen: Der Boden­ ist nährstoff­ ­arm, Mos­ki­tos über­tragen­ tödli­ ­che Krankhei­ ­ten, und im Dickicht­ des Dschun­gels lau­ern Raub­tie­re. Die Re­gi­on gilt seit je­her als un­be­ rühr­te Wild­nis, die dem von Tho­mas Hob­bes be­schriebe­ ­nen Na­ tur­zu­stand ent­spricht. Es gibt dort »kei­ne Küns­te, kei­ne Li­ter­a­ tur, kei­ne ge­sellschaft­ ­lichen­ Bezie­ hun­ gen,­ und es herrscht, was das Schlimms­te von al­lem ist, be­stän­di­ge Furcht und Ge­fahr ei­ nes ge­walt­sa­men To­des«.1 Die gna­den­lo­sen Be­din­gun­gen im Amazo­ ­nas­beck­ en schie­nen eine der führ­en­den Theo­rien­ über die Ent­wicklung­ der Mensch­ heit zu bestä­ ­tigen:­ den Geode­ ­ter­mi­nis­mus. Selbst wenn es eini­ ­ gen Früh­men­schen ge­lun­gen sein moch­te, sich auch un­ter den här­tes­ten Be­din­gungen­ auf die­sem Pla­ne­ten durch­zu­schla­gen, so ent­wi­ckel­te sich die Gesell­ schaft­ doch nie über ein paar primi­ ­ ti­ve Stäm­me hin­aus. Mit ande­ ­ren Wor­ten: Die Gesell­ ­schaft wird die­ser Theo­rie zu­folge­ durch die Geo­gra­fiebe ­dingt. Wenn also in ei­nem schein­bar unbe­ ­wohn­ba­ren Ge­biet die Stadt Z gefun­ ­den wür­de, wäre dies mehr als nur die Entde­ ­ckung ei­nes Goldschat­ ­ zes oder eine intel­ ­lek­tu­ell reiz­volle­ Ku­rio­sität.­ Man müsste­ , wie eine Zei­tung im Jah­re 1925 ver­künde­ ­te, »ein gan­zes Kapi­ ­tel der Mensch­heits­ge­schich­te neu schreiben«.­ 2 Bei ­na­he ein Jahr­hunder­ t lang op­fer­ten For­scher al­les, so­gar ihr 16

Stadt_Goldm_CS4.indd 16 01.06.2011 15:17:13 Le ­ben, um die Stadt Z zu fin­den. Die Su­che nach ei­ner ver­sun­ke­ nen Zi­vi­li­sa­ti­on und den zahl­lo­sen Män­nern, die auf dieser­ Su­ che versch­ wan­den, stellt selbst die vik­toria­ ni­ schen­ Abenteu­ er­ ­ ro­ma­ne von Ar­thur Conan Doyle und H. Rider­ Hagg­ard in den Schat­ten – üb­ri­gens wa­ren bei­de Auto­ r­en tat­säch­lich in die Su­ che nach der Stadt Z ver­strickt. Manchmal­ muss­te ich mir in Er­ in­ne­rung ru­fen, dass al­les an die­ser Ge­schich­te wirk­lich stimm­te: Es war tat­säch­lich ein Film­star von In­dianern­ ent­führt wor­den, und auch die Kanni­ ba­ ­len, Rui­nen, Ge­heim­kar­ten und Spio­ne wa­ ren Rea­li­tät. Viele­ Ent­de­cker wa­ren an Hun­ger und Krank­heiten,­ durch Angrif­ ­fe wilder­ Tier­e oder ver­gifte­ te­ Pfeile­ gestor­ ben.­ Bei all die­sen Abenteu­ ern­ und töd­lichen­ Gefah­ r­en ging es aber noch um weit mehr, nämlich­ um das Bild Ameri­ kas­ , be­vor Chris­toph Ko­lum­bus in der neu­en Welt an Land ging. Nun, da ich mei­ne spe­cki­ge Kar­te studier­ ­te, spielte­ das al­ les kei­ne Rol­le. Ich blick­te hin­auf in das Ge­wirr von Äs­ten und Kriech­tie­ren über mir und auf die Stechflie­ gen­ und Mos­ki­tos, die auf mei­ner Haut klei­ne Blut­spu­ren hinter­ ­ließen.­ Ich hat­te mei­ nen Füh­rer ver­lo­ren. Ich hat­te kei­ne Nahr­ ung und kein Was­ ser mehr. Ich steckte­ die Kar­te wie­der in meine­ Gesäß­ ­ta­sche und schritt vor­an, um ei­nen Aus­weg aus dem Ur­wald zu fin­den. Zwei­ge klatsch­ten mir ins Ge­sicht. Dann sah ich, wie sich in den Bäu­men et­was be­weg­te. »Wer da?«, rief ich. Keine­ Ant­wort. Zwi­ schen den Ästen­ erkann­ te­ ich eine huschen­ ­de Gestalt,­ dann eine zwei­te. Sie ka­men nä­her. Zum ers­ten Mal frag­te ich mich: Was zum Teu­fel tue ich ei­gent­lich hier?

Stadt_Goldm_CS4.indd 17 01.06.2011 15:17:13 Stadt_Goldm_CS4.indd 18 01.06.2011 15:17:13 1 Wir wer­den zu­rückk­ eh­ren

An ei­nem kal­ten Ja­nu­ar­tag des Jah­res 1925 eil­te ein gro­ ßer, dis­tin­guier­ter Herr über die Docks in Hobo­ken im Bun­des­ staat New Jer­sey und auf die SS Vau­ban zu, ei­nen über 150 Me­ter lan­gen Oze­an­rie­sen, der bald in Rich­tung Rio de Ja­nei­ro ab­le­ gen soll­te. Der Mann war 57 Jah­re alt, gut 1,80 Me­ter groß und hat­te lan­ge, mus­ku­lö­se Arme. Sein Haar war zwar dünn und sein Schnurr­bart weiß me­liert, doch war er kör­per­lich im­mer noch so fit, dass er ta­ge­lang mar­schie­ren konn­te und da­bei praktisch­ ohne Rast oder Nah­rung aus­kam. Sei­ne Nase war krumm wie die ei­nes Bo­xers, und in sei­nen Ge­sichts­zü­gen lag eine ge­wis­se Wild­heit, ins­be­son­de­re in sei­nen Augen.­ Sie la­gen eng bei­einan­ der­ und sta­ chen un­ter bu­schigen­ Augen­ br­ auen­ her­vor. Niemand­ schien sich auf ihre Far­be fest­le­gen zu kön­nen, nicht ein­mal sei­ne ei­ge­ne Fami­lie – man­che hiel­ten sie für grau, an­de­re für blau. Je­dem, der ihn ken­nen­lern­te, fiel je­doch so­fort das Fun­keln in ih­nen auf. Ei­ni­ge nann­ten sie »die Au­gen ei­nes Visio­närs«. Er war re­gel­mä­ ßig in Reit­stie­feln und Stet­son mit ei­nem Jagd­ge­wehr über der Schul­ter foto­ ­grafier­ t wor­den, doch selbst in Schlips und Kragen­ und ohne sei­nen gewohn­ ten­ wilden­ Bart erkann­ ten­ ihn die Men­ schen auf dem Pier sofor­ t. Er war Colonel­ Per­cy Harri­son Faw­ cett. Sein Name war auf der ganzen­ Welt bekannt.­ Er war der letz­te der gro­ßen vik­to­ria­ni­schen Ent­de­cker, die mit kaum mehr als einer­ Ma­che­te, ei­nem Kom­pass und ei­nem bei­na­he über­mensch­li­chen Wil­len aus­ge­stat­tet in uner­ ­forsch­te 19

Stadt_Goldm_CS4.indd 19 01.06.2011 15:17:13 Ge­bie­te vor­drangen.­ 3 Seit fast zwei Jahr­zehn­ten be­flügel­ ten­ die Ge­schichten­ seiner­ Aben­teu­er die Fanta­ sie­ der Öffent­ ­lich­keit: wie er ohne jeden­ Kontakt­ zur Außen­ ­welt in der Wildnis­ Süd­ ame­ri­kas über­lebte;­ wie ihm feindli­ che­ Einge­ ­bo­re­ne auf­lauer­ ­ten, von de­nen vie­le zum ers­ten Mal einen­ weißen­ Mann sa­hen; wie er gegen­ Pi­ran­has, elek­tri­sche Aale, Jagua­ r­e, Kro­kodi­ le­ , blutsau­ gen­de Fle­der­mäu­se und Anak­ on­das kämpfte­ und dabei­ von einer­ Rie­sen­schlange­ fast zer­quetscht wor­den wäre; und wie er mit Kar­ten von Regio­ ­nen nach Hau­se kam, aus de­nen vor ihm noch kei­ne Ex­pedi­ ­ti­on zur­ ück­ge­kehrt war. Man nannte­ ihn den »Da­ vid Livingstone­ des Amazo­ nas«­ und hielt ihn für so un­geheu­ er­ zäh, dass eini­ ge­ Kolle­ gen­ sogar­ behaup­ te­ ten,­ er sei un­sterblich.­ Ein ame­rika­ ­ni­scher Forscher­ beschrieb­ ihn ein­mal als »ei­nen furcht­lo­sen Mann mit ei­nem unum­ stöß­ ­li­chen Willen­ und uner­ ­ schöpf­licher­ Kraft«;4 ein an­de­rer sag­te, er kön­ne »län­ger ge­hen, mar­schie­ren und for­schen als alle an­de­ren«.5 Das Lon­doner­ Geo­ graphi­cal Journal,­ die füh­rende­ Zeitschrift­ auf ih­rem Ge­biet, be­ merkte­ 1953, Fawcet­ t markie­ r­e das Ende einer­ Ära. »Man könnte­ ihn so­gar als den letzten­ großen­ Einzel­ for­ scher­ be­zeichnen.­ Das Zeital­ ter­ des Flug­zeugs, des Funks, der or­ga­ni­sier­ten und mit beacht­ li­ ­chen fi­nan­ziel­ len­ Mit­teln ausge­ stat­ ­te­ten moder­ nen­ Ex­ pe­diti­ on­ war noch nicht an­gebr­ ochen.­ Bei ihm war es noch die ­her­oi­sche Geschich­ te­ eines­ Mannes­ im Kampf gegen­ den Ur­ wald.«6 Im Jah­re 1916 hat­te ihm die Roy­al Geo­graphi­cal Soci­ety mit dem Se­gen von Kö­nig George V. »für sei­ne Ver­diens­te um die Karto­gra­fie Süd­ame­ri­kas« eine Gold­me­dail­le ver­lie­hen. Und wenn er alle paar Jah­re spin­del­dürr und ver­dreckt aus dem Dschun­gel zu­rück­kehr­te, ver­sam­mel­ten sich Dut­zen­de Wis­sen­ schaft­ler und Ge­lehr­te im Saal der Ge­sell­schaft, um ihn spre­ chen zu hö­ren. Un­ter ih­nen war auch Sir Ar­thur Conan Doyle7, der sich zu sei­nem 1912 er­schie­ne­nen Buch Die ver­ges­se­ne Welt an­geb­lich von Faw­cetts Aben­teu­ern in­spi­rie­ren ließ. Dar­in ver­ schwin­den For­scher in ei­nem un­be­kann­ten Ge­biet Süd­ame­ri­ 20

Stadt_Goldm_CS4.indd 20 01.06.2011 15:17:13 kas8 eund ent­d ­cken auf ei­ner ent­le­ge­nen Hoch­ebe­ne ein Land, wo Di­no­sau­ri­er über­lebt ha­ben. Als Faw­cett an je­nem Ja­nu­ar­tag auf den Lan­dungs­steg zu­steu­ er­te, äh­nel­te er bis aufs i-Tüp­fel­chen ei­nem der Prot­ago­nis­ten aus Doyles Buch, Lord John Rox­ton: »Ein biss­chen Na­po­le­on III., ein biss­chen Don Quix­ote, und dann doch wie­der un­ver­kenn­bar ein eng­li­scher Land­edel­mann … Der hat eine sanf­te Stim­me und eine ru­hi­ge Art, doch hin­ter sei­nen blit­zen­den blau­en Au­gen ver­birgt sich die Fä­hig­keit zu ra­sen­dem Zorn und wil­der Ent­schlos­sen­heit, wel­che umso ge­fähr­li­cher sind, als sie an der kur­zen Lei­ne ge­hal­ ten wer­den.«9 Kei ­ne von Faw­cetts vor­an­ge­gan­ge­nen Expe­ ­di­tionen­ wa­ren mit dem, was er nun vor­hat­te, ver­gleich­bar. Er konn­te sei­ne Un­ge­ duld kaum verber­ ­gen, als er sich in die Schlan­ge der ande­ r­en Pas­ sa­gie­re ein­reih­te, die an Bord der SS Vau­ban gin­gen. Das Schiff 10, an­ge­prie­sen als »das bes­te der Welt«, ge­hör­te zur über­ra­gen­den »V«-Klas­se von Lam­port & Holt. Wäh­rend des Ersten­ Weltkriegs­ hat­ten die Deut­schen zwar ei­ni­ge Schif­fe des Un­ter­neh­mens ver­ senkt, doch die­ses hier hat­te über­lebt, mit sei­nem schwar­zen, salz­ver­krus­te­ten Rumpf, sei­nen ele­gan­ten wei­ßen Decks und sei­ nem ge­streif­ten Schorn­stein, aus dem di­cke Rauch­wol­ken in den Him­mel auf­stie­gen. »Mo­del T«-Fords karr­ten wei­te­re Pas­sa­gie­re ans Dock, wo ihnen­ Ha­fen­ar­bei­ter das Gepäck­ abnah­ ­men und im La­de­raum des Schif­fes ver­stau­ten. Vie­le männ­li­che Passa­ ­gier­e er­ schie­nen in Sei­den­kra­wat­te und mit Me­lo­ne; Frau­en tru­gen Pelz­ män­tel und Feder­ ­hüt­chen, als näh­men sie an einem­ ge­sell­schaft­ li­chen Er­eig­nis teil. Was in ge­wis­ser Wei­se ja auch zu­traf – die Pas­sa­gier­lis­ten von Lu­xus­lin­ern wur­den in den Klatsch­spal­ten ver­öf­fent­licht, auf­merk­sam ver­folgt von jun­gen Mäd­chen auf der Su­che nach hei­rats­fä­hi­gen Jung­gesel­ ­len. Faw­cett ar­bei­te­te sich mit sei­nem Ge­päck vor. Sei­ne Kis­ten wa­ren vollge­packt mit Schuss­waf­fen, Kon­ser­ven, Milch­pul­ver, Fa­ckeln und hand­ge­schmie­de­ten Ma­che­ten. Au­ßer­dem führ­te er ei­nen Satz Mess­ge­rä­te mit sich: ei­nen Sex­tan­ten und ein Chrono­ 21

Stadt_Goldm_CS4.indd 21 01.06.2011 15:17:13 me­ter, um Län­gen- und Brei­tengr­ ad festzu­ stel­ len,­ ein Ane­roid­ ­ bar­o­meter­ zur Messung­ des atmo­ sphä­ ri­ schen­ Drucks und einen­ Glyc­erin­kom­pass, der in sei­ne Westen­ ­tasche­ pass­te. Je­der die­ ser Ge­gen­stän­de war auf der Ba­sis jahr­e­lan­ger Er­fah­rung sorg­ fäl­tig aus­ge­wählt wor­den, so­gar Faw­cetts Klei­der, die aus leich­ tem, aber reiß­fes­tem Ga­bar­dine-Stoff ge­fer­tigt wa­ren. Er hat­te Män­ner ster­ben se­hen, weil sie eine schein­bar un­wich­tige­ Klei­ nig­keit über­sehen hat­ten – ein zer­ris­se­nes Netz, ein zu fest ge­ schnür­ter Stiefel.­ Faw­cett brach auf zum Amazo­ ­nas, einer­ Wild­nis von gigan­ ­ ti­schem Aus­maß. Dort woll­te er ei­ge­nen Anga­ ­ben zu­folge­ die »gro­ße Ent­de­ckung des Jahr­hun­derts« ma­chen – eine ver­sun­ ke­ne Zi­vi­li­sa­ti­on.11 In­zwi­schen war die Welt größten­ ­teils er­ forscht und der Schlei­er des Ge­heim­nis­vol­len ge­lüf­tet, doch das Ama­zo­nas­be­cken war im­mer noch so unbe­ kannt­ wie die Rück­ sei­te des Mon­des. Wie Sir John Scott Keltie­ , ehe­ma­li­ger Se­kre­ tär der Roy­al Geo­graphi­cal Soci­ety und ei­ner der meist geach­ ­te­ ten Geo­grafen der Welt, ein­mal so tref­fend be­merk­te: »Nie­mand weiß, was ei­nen dort er­war­tet.«12 Seit Fran­cisco­ de Or­ell­ana und sei­ne Ar­mee spani­ ­scher Kon­ quista­ do­ r­en 1542 den Amazo­ ­nas hinun­ ter­ ­gefah­ r­en war­en, hat­te kein ande­ ­rer Ort der Erde so sehr die Fanta­ sie­ ange­ r­egt – und Män­ner in den Tod ge­lockt. Ga­spar de Car­va­jal, ein Do­mi­nika­ ­ nermönch­ in Or­ell­anas Gefol­ ge­ , beschrieb­ weibli­ che­ Krie­ger im Dschun­gel, die den Ama­zo­nen aus der griechi­ schen­ My­tholo­ ­ gie äh­nel­ten. Ein halbes­ Jahr­hunder­ t spä­ter sprach der engli­ ­sche Ent­de­cker und Schriftstel­ ­ler Sir Walter­ Ra­leigh von India­ nern­ »mit Au­gen auf den Schultern­ und Mündern­ auf der Brust«13 – eine Le­gen­de, die Shake­speare in Ot­hello ver­web­te:

»Zu mel­den war im Fortgang­ der Ge­schich­te, Von Kan­ni­ba­len, die einan­ der­ schlach­ten, An­thro­po­pha­gen, Völ­kern, de­ren Kopf Wächst un­ter ih­rer Schul­ter.« 22

Stadt_Goldm_CS4.indd 22 01.06.2011 15:17:14 Was es in dem Ge­biet tat­säch­lich gab – baum­lan­ge Schlan­gen und Na­ge­tie­re so groß wie Schwei­ne –, war be­reits so un­glaub­lich, dass kei­ne Aus­schmü­ckung zu über­trie­ben er­schien. Am hart­ nä­ckigs­ten je­doch hielt sich die Vor­stel­lung von El Do­ra­do. Ra­ leigh be­haup­te­te, dass das Kö­nig­reich, von dem die In­dia­ner den Kon­quis­ta­do­ren er­zählt hat­ten, so reich an Gold­schät­zen sei, dass sei­ne Be­woh­ner das Edel­me­tall zu Pul­ver mahl­ten und es durch hoh­le Pflan­zen­stän­gel auf ihre nack­ten Kör­per blie­sen, »bis sie von Kopf bis Fuß glänz­ten«.14 Jede Ex­pe­di­ti­on, die versucht­ hat­te, El Do­ra­do zu finden,­ war bis­lang je­doch in einer­ Ka­ta­strophe­ ge­en­det. Car­vajal,­ des­sen Trupp ebenfalls­ nach dem König­ r­eich gesucht­ hat­te, notier­ ­te in sein Ta­ge­buch: »Wir er­reich­ten einen­ Zustand­ der Entbeh­ ­rung, wo wir nur noch Le­der zu es­sen hat­ten, Gür­tel und Schuh­soh­ len, ge­kocht mit be­stimm­ten Kräu­tern – mit dem Er­geb­nis, dass wir schließlich­ so schwach war­en, dass wir uns kaum noch auf den Bei­nen halten­ konnten.«­ 15 Al­lein wäh­rend die­ser Ex­pe­di­ ti­on star­ben an die vier­tau­send Män­ner an Hun­ger und Krank­ heit und durch die Hän­de von In­dianern,­ die ihr Ter­rito­ ri­ um­ mit Gift­pfei­len ver­tei­dig­ten. Für an­de­re El-Dor­ado-Ex­pe­ditio­ ­nen war der Kan­niba­ ­lismus­ ein letzter­ Ausw­ eg. Vie­le For­scher wur­den ver­rückt. Im Jahr­e 1561 führ­te Lope de Agu­ir­re sei­ne Män­ner auf ei­nen mör­de­ri­schen Beu­te­zug und schrie: »Glaubt Gott etwa, ich wer­de nicht … die Welt zer­stö­ren, bloß weil es regnet?«­ 16 Agu­ir­re er­stach so­gar sein eige­ ­nes Kind. »Emp­fiehldich Gott, mei­ne Toch­ter, denn ich wer­de dich nun tö­ ten«, flüs­ter­te er.17 Be­vor die spa­ni­sche Kro­ne Kräf­te ent­sandte­ , um ihn zu stop­pen, warn­te Agu­ir­re in ei­nem Brief: »Ich schwö­re Euch, mein König­ , bei meinem­ Wort als Christ, wenn hunder­ t­ tau­send Män­ner kä­men, wür­de kei­ner ent­kom­men. Denn die Be­ rich­te sind falsch: Auf die­sem Fluss gibt es nichts als Ver­zweif­ lung.«18 Schließ­lich setzten­ sich Aguir­ ­res Beglei­ ­ter zur Wehr und tö­te­ten ihn. Sein Körper­ wur­de gevier­ ­teilt, und spa­ni­sche Be­hör­ den stell­ten den Kopf des »Zor­nes Got­tes« in ei­nem Metall­ ­käfig­ 23

Stadt_Goldm_CS4.indd 23 01.06.2011 15:17:14 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

David Grann Die versunkene Stadt Z Expedition ohne Wiederkehr - das Geheimnis des Amazonas

Taschenbuch, Broschur, 416 Seiten, 12,5 x 18,3 cm ISBN: 978-3-442-15666-5

Goldmann

Erscheinungstermin: Juli 2011

Spannende Biografie, Dschungelkrimi und Expeditionsbericht in einem

Ein Geheimnis, das Jahrhunderte zurückreicht. Das plötzliche Verschwinden eines Forschers, das weltweit Schlagzeilen machte. Ein Rätsel, das alle, die es zu lösen versuchen, mit ihrem Leben bezahlen. Was wurde aus dem britischen Forscher Percy Fawcett, der 1925 im brasilianischen Amazonasgebiet auf der Suche nach der sagenumwobenen Goldstadt El Dorado spurlos verschwand? Fesselnd und farbenprächtig erzählt David Grann eine großartige Abenteuergeschichte über die Suche nach einer uralten Stadt, die im undurchdringlichen Regenwald Amazoniens verborgen liegen soll.