DAVID GRANN Die versunkene Stadt Z
Stadt_Goldm_CS4.indd 1 01.06.2011 15:17:08 Buch »Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?«, fragt sich David Grann. Er hat David Grann Outdoor-Aktivitäten immer gehasst – und sich jetzt irgendwo im Amazonas- becken verirrt. Nachdem er zufällig über alte Tagebücher gestolpert war, be- schloss er, das »größte Entdeckergeheimnis des 20. Jahrhunderts« zu lösen: Die versunkene Stadt Z Was geschah mit dem englischen Forscher Percy Fawcett, dem »David Li- vingstone des Amazonas«? Expedition ohne Wiederkehr – Fawcett brach 1925 zusammen mit seinem 21-jährigen Sohn auf, um nach das Geheimnis des Amazonas den Überresten einer uralten Hochkultur zu suchen. Seit Jahrhunderten hatt man über das goldglänzende El Dorado spekuliert; Tausende waren bei dem Versuch gestorben, dem Dschungel das Geheimnis zu entreißen. Doch Fawcett, dessen Expeditionen Arthur Conan Doyle zu seinem Roman »Die vergessene Welt« inspirierten, hatte sich jahrelang vorbereitet und war ent- Aus dem amerikanischen Englisch schlossen zu beweisen, dass die Hochkultur – die sagenhafte Stadt Z – wirk- von Henning Dedekind lich existiert hatte. Dann verschwand er mit seiner Expedition irgendwo im Regenwald. Fawcetts Schicksal aufzuklären wurde zur fixen Idee für buch- stäblich Hunderte von Forschern und Abenteurern, die sich an seine Fersen hefteten. Viele von ihnen sind verschwunden – und haben im Urwald den Tod gefunden oder den Verstand verloren. Und nun ist David Grann auf dem Weg in die »grüne Hölle«…
Autor David Grann, Jahrgang 1967, studierte Politologie an der renommierten Flet- cher School of Law & Diplomacy und Creative Writing an der Boston Uni- versity. Er arbeitete für verschiedene Zeitungen in Washington D. C., bevor er als Redakteur zum Magazin »The New Yorker« wechselte. Seine Artikel erscheinen u. a. in »The New York Magazine«, »Washington Post«, »Atlan- tic Magazine« und »Wall Street Journal«. Seine erste Buchveröffentlichung »Die versunkene Stadt Z« war ein Sensationserfolg in den USA und stand wochenlang auf der »New York Times«-Bestsellerliste. David Grann lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in New York.
Stadt_Goldm_CS4.indd 2 01.06.2011 15:17:08 David Grann Die versunkene Stadt Z Expedition ohne Wiederkehr – das Geheimnis des Amazonas
Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind
Stadt_Goldm_CS4.indd 3 01.06.2011 15:17:08 Verlagsgruppe Random House FSC-Deu-0100 Das FSC®-zertifizierte PapierMünchen Super für dieses Buch liefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.
1. Auflage Taschenbuchausgabe August 2011 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright © der deutschen Erstausgabe 2010 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2005, 2009 by David Grann Originaltitel: The Lost City of Z. A Tale of Deadly Obsession in the Amazon Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, in Anlehnung an die Gestaltung der deutschen Erstausgabe (Rudolf Linn, Köln) Umschlagmotiv: fotolia/frogger Karten: David Cain KF · Herstellung: Str. Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN: 978-3-442-15666-5 www.goldmann-verlag.de
Stadt_Goldm_CS4.indd 4 01.06.2011 15:17:09 Für meine unerschrockene Kyra
Stadt_Goldm_CS4.indd 5 01.06.2011 15:17:09 Stadt_Goldm_CS4.indd 6 01.06.2011 15:17:09 Inhalt
t Vorwor 15 1 Wir werden zurückkehren 19 2 Das Versch winden 33 3 Die Suche beginnt 45 4 Verborgene Schätze 53 5 Weiße Fleck en auf der Landkar te 71 6 Der Schüler 85 7 Gefriergetrocknete Eiscreme und Adrenalinso cken 95 8 Abreise ins Amazonasbecken 101 9 Die Geheim pa pie re 123 10 Die grüne Hölle 129 11 Dead Horse Camp 137 12 In der Hand der Götter 139 13 Löse geld 167 14 Die Suche nach Z 173 15 El Dorado 197 16 Die verschlossene Kiste 207 17 Die ganze Welt ist verrückt gewor den 211 18 Eine wissen schaft li che Obses si on 239 19 Ein unerwarteter Hinweis 251 20 Fürchte dich nicht 257 21 Der letzte Augen zeuge 279
Stadt_Goldm_CS4.indd 7 01.06.2011 15:17:09 22 Tot oder lebendig 291 23 Die Knochen des Colonels 315 24 Die andere Welt 329 25 Z 335
Danksa gungen 355 Quellenhinweise 359 Anmerkungen 363 Literaturverzeich nis 393 Register 407
Stadt_Goldm_CS4.indd 8 01.06.2011 15:17:09 Manchmal bedarf es nur eines flüchtigen Blicks, einer Bre- sche inmitten einer undurchdringlichen Landschaft, eines hellen Lichtstrahls im Nebel, eines Wortwechsels zweier Passanten, die sich in der Menge begegnen – und schon glaube ich, dass ich, davon ausgehend, die perfekte Stadt Stück für Stück zusammensetzen werde … Wenn ich Ihnen nun sage, dass jene Stadt, zu der meine Gedanken reisen, durch Raum und Zeit nicht begrenzt ist, dass ihre Gebäude einmal weit verstreut und dann wieder dichter beisammen- liegen, so bedeutet dies keinesfalls, dass die Suche nach ihr irgendwann ein Ende haben wird.
Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte
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Stadt_Goldm_CS4.indd 13 01.06.2011 15:17:13 Stadt_Goldm_CS4.indd 14 01.06.2011 15:17:13 Vort wor
Ich zog die Karte aus meiner Gesäßtasche. Sie war nass und zerknittert. Die Linien, mit denen ich meine Route markiert hatte, waren längst verblichen. Ich starrte die Einzeich nun gen an, in der Hoffnung, sie würden mich aus dem Amazo nas becken hinausführen anstatt immer tiefer hinein. Der Buchstabe Z war in der Kartenmitte immer noch gut sicht bar. Er erschien mir jetzt mehr wie ein Zeichen des Spotts denn wie ein Wegweiser, ein weiteres Zeugnis meines wahnsinnigen Vorhabens. Ich hatte mich selbst immer als unbeteilig ten Re porter betrachtet, der seine Geschich ten und sein Priv atleben strikt trennt. Andere schienen sich oft in ihren verrückten Träu men und fixen Ideen zu verlieren, ich hinge gen versuchte, ein stummer Zeuge zu sein. Ich hatte mir eingeredet, dies sei auch der Grund, warum ich Tausen de von Kilometern weit von New York bis an den Fluss Xingu gereist war, einen der längsten Ne benflüs se des Amazo nas; der Grund dafür , dass ich mona te lang Hunderte Seiten vikto ria ni scher Tage bü cher und Briefe gewälzt, meine Frau und meinen elfjährigen Sohn zurückgelassen und eine zusätzliche Lebensversicher ung abgeschlossen hatte. Ich redete mir ein, ich sei nur deshalb hier, weil ich recher chieren wollte, wie Generationen von Wissenschaft lern und Abenteurern von einem Virus gepackt worden waren, der einmal als »das größte Entde ck ergeheim nis des zwanzigs ten Jahrhun derts« bezeich net wurde – der genauen Lage der versun k enen 15
Stadt_Goldm_CS4.indd 15 01.06.2011 15:17:13 Stadt Z. Eine uralte Stadt mit einem Netz aus Straßen, Brücken und Tempeln wurde irgendwo im Amazo nasbe ck en vermu tet, dem größten Dschungel der Welt. Im Zeital ter der Flugzeuge und Satelliten ist dieses Gebiet einer der letzten weißen Flecken auf der Landkarte. Jahrhundertelang hat es Geografen, Archäolo gen, imperiale Herrscher, Schatzsucher und Philosophen in sei nen Bann geschlagen. Als um 1500 die ersten Europä er Fuß auf südamerikanischen Boden setzten, waren sie überzeugt, in die sem Dschungel das goldglänzende Königreich El Dorado vorzu finden. Die Suche danach kostete Tausende das Leben. In jün gerer Zeit gelangten viele Wissenschaftler zu dem Schluss, dass sich in einer derart feindlichen Umgebung keine komplexe Zi vilisation habe entwickeln können: Der Boden ist nährstoff arm, Moskitos übertragen tödli che Krankhei ten, und im Dickicht des Dschungels lauern Raubtiere. Die Region gilt seit jeher als unbe rührte Wildnis, die dem von Thomas Hobbes beschriebe nen Na turzustand entspricht. Es gibt dort »keine Künste, keine Litera tur, keine gesellschaft lichen Bezie hun gen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr ei nes gewaltsamen Todes«.1 Die gnadenlosen Bedingungen im Amazo nasbeck en schienen eine der führenden Theorien über die Entwicklung der Mensch heit zu bestä tigen: den Geode terminismus. Selbst wenn es eini gen Frühmenschen gelungen sein mochte, sich auch unter den härtesten Bedingungen auf diesem Planeten durchzuschlagen, so entwickelte sich die Gesell schaft doch nie über ein paar primi tive Stämme hinaus. Mit ande ren Worten: Die Gesell schaft wird dieser Theorie zufolge durch die Geografiebe dingt. Wenn also in einem scheinbar unbe wohnbaren Gebiet die Stadt Z gefun den würde, wäre dies mehr als nur die Entde ckung eines Goldschat zes oder eine intel lektuell reizvolle Kuriosität. Man müsste , wie eine Zeitung im Jahre 1925 verkünde te, »ein ganzes Kapi tel der Menschheitsgeschichte neu schreiben«. 2 Bei nahe ein Jahrhunder t lang opferten Forscher alles, sogar ihr 16
Stadt_Goldm_CS4.indd 16 01.06.2011 15:17:13 Le ben, um die Stadt Z zu finden. Die Suche nach einer versunke nen Zivilisation und den zahllosen Männern, die auf dieser Su che versch wanden, stellt selbst die viktoria ni schen Abenteu er romane von Arthur Conan Doyle und H. Rider Haggard in den Schatten – übrigens waren beide Auto ren tatsächlich in die Su che nach der Stadt Z verstrickt. Manchmal musste ich mir in Er innerung rufen, dass alles an dieser Geschichte wirklich stimmte: Es war tatsächlich ein Filmstar von Indianern entführt worden, und auch die Kanni ba len, Ruinen, Geheimkarten und Spione wa ren Realität. Viele Entdecker waren an Hunger und Krankheiten, durch Angrif fe wilder Tiere oder vergifte te Pfeile gestor ben. Bei all diesen Abenteu ern und tödlichen Gefah ren ging es aber noch um weit mehr, nämlich um das Bild Ameri kas , bevor Christoph Kolumbus in der neuen Welt an Land ging. Nun, da ich meine speckige Karte studier te, spielte das al les keine Rolle. Ich blickte hinauf in das Gewirr von Ästen und Kriechtieren über mir und auf die Stechflie gen und Moskitos, die auf meiner Haut kleine Blutspuren hinter ließen. Ich hatte mei nen Führer verloren. Ich hatte keine Nahr ung und kein Was ser mehr. Ich steckte die Karte wieder in meine Gesäß tasche und schritt voran, um einen Ausweg aus dem Urwald zu finden. Zweige klatschten mir ins Gesicht. Dann sah ich, wie sich in den Bäumen etwas bewegte. »Wer da?«, rief ich. Keine Antwort. Zwi schen den Ästen erkann te ich eine huschen de Gestalt, dann eine zweite. Sie kamen näher. Zum ersten Mal fragte ich mich: Was zum Teufel tue ich eigentlich hier?
Stadt_Goldm_CS4.indd 17 01.06.2011 15:17:13 Stadt_Goldm_CS4.indd 18 01.06.2011 15:17:13 1 Wir werden zurückk ehren
An einem kalten Januartag des Jahres 1925 eilte ein gro ßer, distinguierter Herr über die Docks in Hoboken im Bundes staat New Jersey und auf die SS Vauban zu, einen über 150 Meter langen Ozeanriesen, der bald in Richtung Rio de Janeiro able gen sollte. Der Mann war 57 Jahre alt, gut 1,80 Meter groß und hatte lange, muskulöse Arme. Sein Haar war zwar dünn und sein Schnurrbart weiß meliert, doch war er körperlich immer noch so fit, dass er tagelang marschieren konnte und dabei praktisch ohne Rast oder Nahrung auskam. Seine Nase war krumm wie die eines Boxers, und in seinen Gesichtszügen lag eine gewisse Wildheit, insbesondere in seinen Augen. Sie lagen eng beieinan der und sta chen unter buschigen Augen br auen hervor. Niemand schien sich auf ihre Farbe festlegen zu können, nicht einmal seine eigene Familie – manche hielten sie für grau, andere für blau. Jedem, der ihn kennenlernte, fiel jedoch sofort das Funkeln in ihnen auf. Einige nannten sie »die Augen eines Visionärs«. Er war regelmä ßig in Reitstiefeln und Stetson mit einem Jagdgewehr über der Schulter foto grafier t worden, doch selbst in Schlips und Kragen und ohne seinen gewohn ten wilden Bart erkann ten ihn die Men schen auf dem Pier sofor t. Er war Colonel Percy Harrison Faw cett. Sein Name war auf der ganzen Welt bekannt. Er war der letzte der großen viktorianischen Entdecker, die mit kaum mehr als einer Machete, einem Kompass und einem beinahe übermenschlichen Willen ausgestattet in uner forschte 19
Stadt_Goldm_CS4.indd 19 01.06.2011 15:17:13 Gebiete vordrangen. 3 Seit fast zwei Jahrzehnten beflügel ten die Geschichten seiner Abenteuer die Fanta sie der Öffent lichkeit: wie er ohne jeden Kontakt zur Außen welt in der Wildnis Süd amerikas überlebte; wie ihm feindli che Einge borene auflauer ten, von denen viele zum ersten Mal einen weißen Mann sahen; wie er gegen Piranhas, elektrische Aale, Jagua re, Krokodi le , blutsau gende Fledermäuse und Anak ondas kämpfte und dabei von einer Riesenschlange fast zerquetscht worden wäre; und wie er mit Karten von Regio nen nach Hause kam, aus denen vor ihm noch keine Expedi tion zur ückgekehrt war. Man nannte ihn den »Da vid Livingstone des Amazo nas« und hielt ihn für so ungeheu er zäh, dass eini ge Kolle gen sogar behaup te ten, er sei unsterblich. Ein amerika nischer Forscher beschrieb ihn einmal als »einen furchtlosen Mann mit einem unum stöß lichen Willen und uner schöpflicher Kraft«;4 ein anderer sagte, er könne »länger gehen, marschieren und forschen als alle anderen«.5 Das Londoner Geo graphical Journal, die führende Zeitschrift auf ihrem Gebiet, be merkte 1953, Fawcet t markie re das Ende einer Ära. »Man könnte ihn sogar als den letzten großen Einzel for scher bezeichnen. Das Zeital ter des Flugzeugs, des Funks, der organisierten und mit beacht li chen finanziel len Mitteln ausge stat teten moder nen Ex pediti on war noch nicht angebr ochen. Bei ihm war es noch die heroische Geschich te eines Mannes im Kampf gegen den Ur wald.«6 Im Jahre 1916 hatte ihm die Royal Geographical Society mit dem Segen von König George V. »für seine Verdienste um die Kartografie Südamerikas« eine Goldmedaille verliehen. Und wenn er alle paar Jahre spindeldürr und verdreckt aus dem Dschungel zurückkehrte, versammelten sich Dutzende Wissen schaftler und Gelehrte im Saal der Gesellschaft, um ihn spre chen zu hören. Unter ihnen war auch Sir Arthur Conan Doyle7, der sich zu seinem 1912 erschienenen Buch Die vergessene Welt angeblich von Fawcetts Abenteuern inspirieren ließ. Darin ver schwinden Forscher in einem unbekannten Gebiet Südameri 20
Stadt_Goldm_CS4.indd 20 01.06.2011 15:17:13 kas8 eund entd cken auf einer entlegenen Hochebene ein Land, wo Dinosaurier überlebt haben. Als Fawcett an jenem Januartag auf den Landungssteg zusteu erte, ähnelte er bis aufs i-Tüpfelchen einem der Protagonisten aus Doyles Buch, Lord John Roxton: »Ein bisschen Napoleon III., ein bisschen Don Quixote, und dann doch wieder unverkennbar ein englischer Landedelmann … Der hat eine sanfte Stimme und eine ruhige Art, doch hinter seinen blitzenden blauen Augen verbirgt sich die Fähigkeit zu rasendem Zorn und wilder Entschlossenheit, welche umso gefährlicher sind, als sie an der kurzen Leine gehal ten werden.«9 Kei ne von Fawcetts vorangegangenen Expe ditionen waren mit dem, was er nun vorhatte, vergleichbar. Er konnte seine Unge duld kaum verber gen, als er sich in die Schlange der ande ren Pas sagiere einreihte, die an Bord der SS Vauban gingen. Das Schiff 10, angepriesen als »das beste der Welt«, gehörte zur überragenden »V«-Klasse von Lamport & Holt. Während des Ersten Weltkriegs hatten die Deutschen zwar einige Schiffe des Unternehmens ver senkt, doch dieses hier hatte überlebt, mit seinem schwarzen, salzverkrusteten Rumpf, seinen eleganten weißen Decks und sei nem gestreiften Schornstein, aus dem dicke Rauchwolken in den Himmel aufstiegen. »Model T«-Fords karrten weitere Passagiere ans Dock, wo ihnen Hafenarbeiter das Gepäck abnah men und im Laderaum des Schiffes verstauten. Viele männliche Passa giere er schienen in Seidenkrawatte und mit Melone; Frauen trugen Pelz mäntel und Feder hütchen, als nähmen sie an einem gesellschaft lichen Ereignis teil. Was in gewisser Weise ja auch zutraf – die Passagierlisten von Luxuslinern wurden in den Klatschspalten veröffentlicht, aufmerksam verfolgt von jungen Mädchen auf der Suche nach heiratsfähigen Junggesel len. Fawcett arbeitete sich mit seinem Gepäck vor. Seine Kisten waren vollgepackt mit Schusswaffen, Konserven, Milchpulver, Fackeln und handgeschmiedeten Macheten. Außerdem führte er einen Satz Messgeräte mit sich: einen Sextanten und ein Chrono 21
Stadt_Goldm_CS4.indd 21 01.06.2011 15:17:13 meter, um Längen- und Breitengr ad festzu stel len, ein Aneroid barometer zur Messung des atmo sphä ri schen Drucks und einen Glycerinkompass, der in seine Westen tasche passte. Jeder die ser Gegenstände war auf der Basis jahrelanger Erfahrung sorg fältig ausgewählt worden, sogar Fawcetts Kleider, die aus leich tem, aber reißfestem Gabardine-Stoff gefertigt waren. Er hatte Männer sterben sehen, weil sie eine scheinbar unwichtige Klei nigkeit übersehen hatten – ein zerrissenes Netz, ein zu fest ge schnürter Stiefel. Fawcett brach auf zum Amazo nas, einer Wildnis von gigan tischem Ausmaß. Dort wollte er eigenen Anga ben zufolge die »große Entdeckung des Jahrhunderts« machen – eine versun kene Zivilisation.11 Inzwischen war die Welt größten teils er forscht und der Schleier des Geheimnisvollen gelüftet, doch das Amazonasbecken war immer noch so unbe kannt wie die Rück seite des Mondes. Wie Sir John Scott Keltie , ehemaliger Sekre tär der Royal Geographical Society und einer der meist geach te ten Geografen der Welt, einmal so treffend bemerkte: »Niemand weiß, was einen dort erwartet.«12 Seit Francisco de Orellana und seine Armee spani scher Kon quista do ren 1542 den Amazo nas hinun ter gefah ren waren, hatte kein ande rer Ort der Erde so sehr die Fanta sie ange regt – und Männer in den Tod gelockt. Gaspar de Carvajal, ein Dominika nermönch in Orellanas Gefol ge , beschrieb weibli che Krieger im Dschungel, die den Amazonen aus der griechi schen Mytholo gie ähnelten. Ein halbes Jahrhunder t später sprach der engli sche Entdecker und Schriftstel ler Sir Walter Raleigh von India nern »mit Augen auf den Schultern und Mündern auf der Brust«13 – eine Legende, die Shakespeare in Othello verwebte:
»Zu melden war im Fortgang der Geschichte, Von Kannibalen, die einan der schlachten, Anthropophagen, Völkern, deren Kopf Wächst unter ihrer Schulter.« 22
Stadt_Goldm_CS4.indd 22 01.06.2011 15:17:14 Was es in dem Gebiet tatsächlich gab – baumlange Schlangen und Nagetiere so groß wie Schweine –, war bereits so unglaublich, dass keine Ausschmückung zu übertrieben erschien. Am hart näckigsten jedoch hielt sich die Vorstellung von El Dorado. Ra leigh behauptete, dass das Königreich, von dem die Indianer den Konquistadoren erzählt hatten, so reich an Goldschätzen sei, dass seine Bewohner das Edelmetall zu Pulver mahlten und es durch hohle Pflanzenstängel auf ihre nackten Körper bliesen, »bis sie von Kopf bis Fuß glänzten«.14 Jede Expedition, die versucht hatte, El Dorado zu finden, war bislang jedoch in einer Katastrophe geendet. Carvajal, dessen Trupp ebenfalls nach dem König reich gesucht hatte, notier te in sein Tagebuch: »Wir erreichten einen Zustand der Entbeh rung, wo wir nur noch Leder zu essen hatten, Gürtel und Schuhsoh len, gekocht mit bestimmten Kräutern – mit dem Ergebnis, dass wir schließlich so schwach waren, dass wir uns kaum noch auf den Beinen halten konnten.« 15 Allein während dieser Expedi tion starben an die viertausend Männer an Hunger und Krank heit und durch die Hände von Indianern, die ihr Territo ri um mit Giftpfeilen verteidigten. Für andere El-Dorado-Expeditio nen war der Kanniba lismus ein letzter Ausw eg. Viele Forscher wurden verrückt. Im Jahre 1561 führte Lope de Aguirre seine Männer auf einen mörderischen Beutezug und schrie: »Glaubt Gott etwa, ich werde nicht … die Welt zerstören, bloß weil es regnet?« 16 Aguirre erstach sogar sein eige nes Kind. »Empfiehldich Gott, meine Tochter, denn ich werde dich nun tö ten«, flüsterte er.17 Bevor die spanische Krone Kräfte entsandte , um ihn zu stoppen, warnte Aguirre in einem Brief: »Ich schwöre Euch, mein König , bei meinem Wort als Christ, wenn hunder t tausend Männer kämen, würde keiner entkommen. Denn die Be richte sind falsch: Auf diesem Fluss gibt es nichts als Verzweif lung.«18 Schließlich setzten sich Aguir res Beglei ter zur Wehr und töteten ihn. Sein Körper wurde gevier teilt, und spanische Behör den stellten den Kopf des »Zornes Gottes« in einem Metall käfig 23
Stadt_Goldm_CS4.indd 23 01.06.2011 15:17:14 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
David Grann Die versunkene Stadt Z Expedition ohne Wiederkehr - das Geheimnis des Amazonas
Taschenbuch, Broschur, 416 Seiten, 12,5 x 18,3 cm ISBN: 978-3-442-15666-5
Goldmann
Erscheinungstermin: Juli 2011
Spannende Biografie, Dschungelkrimi und Expeditionsbericht in einem
Ein Geheimnis, das Jahrhunderte zurückreicht. Das plötzliche Verschwinden eines Forschers, das weltweit Schlagzeilen machte. Ein Rätsel, das alle, die es zu lösen versuchen, mit ihrem Leben bezahlen. Was wurde aus dem britischen Forscher Percy Fawcett, der 1925 im brasilianischen Amazonasgebiet auf der Suche nach der sagenumwobenen Goldstadt El Dorado spurlos verschwand? Fesselnd und farbenprächtig erzählt David Grann eine großartige Abenteuergeschichte über die Suche nach einer uralten Stadt, die im undurchdringlichen Regenwald Amazoniens verborgen liegen soll.