Elisabeth Strowick

Wagners fluch

Es ist im Zuge der »verwirklichung«, Wagners grundlegender ästhetischer katego- rie des Musiktheaters, dass ausgehend von Siegfrieds Tod die darstellung des Mythos sukzessive zur tetralogie des Ringes der Nibelungen, genauer zur trilogie des »Bühnenfestspiels« mit »vorabend«, erweitert. auf die »darstellung des ganzen Zusammenhanges an die Sinne« muss – so Wagner in seinem Brief an theodor uhlig vom 12. november 1851 – die »szenisch-musikalische ausführung« zielen. »[i]ch muß«, so Wagner, »um vollkommen von der Bühne herab verstanden zu werden, den ganzen Mythos plastisch ausführen.«1 in seinem berühmten Essay Lei- den und Größe Richard Wagners deutet thomas Mann diese strukturelle neukon- zeption als Einzug des Epischen in die dramatische form: »[…] er ruhte nicht«, schreibt Mann,

bis er alles in voller Gegenwart auf die Bühne gebracht hatte, in vier abenden alles, von der urzelle, dem Erzbeginn, dem ersten Bassfagott-Es des rheingoldvorspieles an, womit er denn feierlich und fast unhörbar zu erzählen anhob. […] der »ring« ist ein szenisches Epos, hervorgegangen aus der abneigung gegen vorgeschichten, die hinter der Szene spuken […] und es liegt Humor darin, dass gerade das dramatische Sinnlich- keitstheorem Wagners ihn auf eine so wundervolle art zum Epischen verführte.2 der drang zum drama, der Wagner nötigt, die vorgeschichte szenisch darzu- stellen, anstatt in rezitativen zu erzählen, ist es – Mann zufolge – paradoxerweise selbst, der das drama zugunsten eines Epischen übersteigt. deutet Mann die sze- nische »verwirklichung« in Hinsicht auf die »volle[ ] Gegenwart« der inszenierten Ereignisse, so will ich im folgenden eine andere Zeitlichkeit szenischer »verwirk- lichung« bei Wagner herausarbeiten. nicht um das verhältnis von dramatischem und Epischem geht es dabei, sondern um ein spezifisches Performativ, das seinen prominenten Einsatz in Rheingold wie auch in der Götterdämmerung findet: der fluch, welcher szenische relevanz für den gesamten Ring-Zyklus hat und »ver- wirklichung«/szenische darstellung mit einer komplexen Zeitlichkeit ausstattet, die sich keineswegs in Präsenz erschöpft.

1 an theodor uhlig, Brf. v. 12. november 1851. in: richard Wagner: Sämtliche Briefe. Bd. iv. Hg. von Gertrud Strobel u. Werner Wolf. leipzig 1979, S. 174 (im Weiteren mit der Sigle »Briefe«, römischer Bandangabe und arabischer Seitenziffer). 2 thomas Mann, leiden und Größe richard Wagners. in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. frankfurt a. M. 1974, Bd. iX: reden und aufsätze 1, S. 363–426, hier: S. 374 f. 110 EliSaBEtH StroWick

Zeitigung des Gegenwärtigen: Supplementärer Szenen-Effekt

Wagners verwendung des Begriffs »verwirklichung« ist durchaus vielschichtig: Spricht er im Brief an liszt vom 20. november 1851 einerseits von der verwirkli- chung der dichterischen absicht für das Gefühl, d. h. davon, dass »ein kunstwerk […] nur dann seine richtige Wirkung haben [kann], wenn die dichterische absicht in allen ihren irgend wichtigen Momenten vollständig an die Sinne mitgetheilt wird«,3 ist im selben Brief auch von »wirklicher darstellung«4 die rede. nicht auf eine anreihung präsentischer augenblicke zielt Wagners Musiktheater, sondern auf »verwirklichung« als dynamischen Prozess, szenischen Vollzug. dass eine Gleichsetzung von »verwirklichung« und Gegenwärtigkeit zu kurz greift, lässt sich schon anhand von Wagners ausführungen in Oper und Drama zei- gen. um verwirklichende kraft zu gewinnen, bedarf szenische darstellung der »Er- gänzung«, einer supplementären Zeitlichkeit, die Wagner mit »Erinnerung« und »ahnung« benennt. die zeitliche Exzentrik, die damit in »wirkliche darstellung« einzieht, verdankt sich nichts anderem als den von Wagner so genannten »Gefühls- wegweisern«, jener komplexen, Beziehungen stiftenden Wiederholungsstruktur – besser bekannt als ›leitmotivtechnik‹. Wagner schreibt:

Wir dürfen diese ahnungs- oder erinnerungsvollen melodischen Momente nicht anders vernehmen, als daß sie uns eine von uns empfundene Ergänzung der kundgebung der Person erscheinen, die jetzt vor unsren augen ihre volle Empfindung noch nicht äußern will oder kann. diese melodischen Momente […] werden uns durch das orchester gewissermaßen zu Gefühlswegweisern durch den ganzen, vielgewundenen Bau des dra- mas. an ihnen werden wir zu steten Mitwissern des tiefsten Geheimnisses der dichteri- schen absicht, zu unmittelbaren teilnehmern an dessen verwirklichung.5

»verwirklichung« als Vollzug findet überhaupt nur in einem durch »Ergänzung« konstituierten dynamischen Beziehungsgefüge statt, in der sich die Gegenwärtig- keit der darstellung auf ihre ungegenwärtigen Supplemente hin öffnet. das un- gegenwärtige liegt m. a. W. nicht auf der Ebene des Gedankens bzw. der reflexion, auf der Wagner es gemeinhin verortet6, sondern zieht über die leitmotivtechnik in den musikalischen ausdruck, sprich: in die »wirkliche darstellung«/die Szene selbst ein. Suggeriert Wagners rede von Erinnerung, Gegenwärtigkeit und ahnung eine lineare Zeitlichkeit, sieht sich eine solche im szenischen vollzug torpediert. Er- innerung und ahnung etablieren keine linearität von vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern überlagern sich in »beziehungsvolle[r] […] Wiederkehr«7

3 richard Wagner an , Brf. v. 20. november 1851 (Briefe iv, 186). 4 Ebd., 185. 5 richard Wagner: oper und drama. Stuttgart 2000, S. 360. 6 »der inhalt hat also ein im ausdrucke stets gegenwärtiger und dieser ausdruck daher ein den inhalt nach seinem umfange stets vergegenwärtigender zu sein; denn das ungegenwärtige erfaßt nur der Gedanke, nur das Gegenwärtige aber das Gefühl.« (Ebd., S. 363) 7 Ebd., S. 362. iii. Performativa