Plenarprotokoll 12/27

Deutscher

Stenographischer Bericht

27. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Inhalt:

Entsendung von Mitgliedern des Deutschen Peter Conradi SPD 1924 A Bundestages in das Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Volker Rühe CDU/CSU 1925 A Deutschland" 1919A Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD . . . 1925 B Erweiterung der Tagesordnung 1919 B Wolfgang Lüder FDP 1925 C Tagesordnungspunkt I: Hans H. Gattermann FDP 1928 B Fortsetzung der Zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Wolfgang Lüder FDP 1929A Entwurfs eines Gesetzes über die Fest- stellung des Bundeshaushaltsplans für CDU/CSU 1929 C das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) (Drucksachen 12/100, 12/494) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . . 1933 C

Einzelplan 08 Ingrid Matthäus-Maier SPD . . 1937B, 1942A, 1954 D Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen (Drucksachen 12/508, 12/530) Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 1937D, 1943 A in Verbindung mit Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste 1939 A Einzelplan 32 Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 1941A Bundesschuld (Drucksache 12/527) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . 1942 B in Verbindung mit Joachim Poß SPD 1943 B Einzelplan 60 Erwin Horn SPD 1943 C

Allgemeine Finanzverwaltung (Drucksache Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD 1950A 12/529) Adolf Roth (Gießen) CDU/CSU 1952 C in Verbindung mit Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . . . 1953 D Einzelplan 20 Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . . 1956 C Bundesrechnungshof (Drucksachen 12/520, 12/530) Jochen Borchert CDU/CSU 1957 D

Ingrid Matthäus-Maier SPD . . . 1920A, 1929B Dr. Norbert Rieder CDU/CSU 1957 D II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Joachim Poß SPD 1958 C Einzelplan 05

Dr. Theodor Waigel CDU/CSU . . . 1958 C Geschäftsbereich des Auswärigen Amtes (Drucksachen 12/505 (neu), 12/530) Dr. Gero Pfennig CDU/CSU 1960 C Ernst Waltemathe SPD 1994 C Heribert Scharrenbroich CDU/CSU . . 1962 C Dr. Klaus Rose CDU/CSU 1996D Joachim Poß SPD 1963 B Ernst Waltemathe SPD 2000 A Zur Geschäftsordnung Dr. PDS/Linke Liste . . . 2000 C Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . . . 1963 C Dr. Sigrid Hoth FDP 2002 B Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste . . . 1964 B Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 2003 D Ulrich Irmer FDP 1965A Dr. Hans Stercken CDU/CSU 2006 D CDU/CSU . . . . 1965D, 1967 A Norbert Gansel SPD 2009 A Dr. Renate Hellwig CDU/CSU 1966 C Dr. Klaus Rose CDU/CSU 2009 D Dr. Peter Struck SPD 1967A, C Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . 2010A

Einzelplan 06 Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 2013 A Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern (Drucksachen 12/506, 12/530) Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste . . 2013 C in Verbindung mit Norbert Gansel SPD 2014 D

Einzelplan 36 Einzelplan 14 Zivile Verteidigung (Drucksachen 12/528, 12/530) Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung (Drucksachen 12/514, 12/530) in Verbindung mit in Verbindung mit Einzelplan 33 Einzelplan 35 Versorgung (Drucksache 12/521) Verteidigungslasten im Zusammenhang mit Rudolf Purps SPD 1968 B dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte (Drucksache 12/522) CDU/CSU 1972 A Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD . . . . 2016D FDP 1974 C Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 2019B PDS/Linke Liste 1977 C Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . . . 2020 C Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 1979A Andrea Lederer PDS/Linke Liste 2022 C Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . 1980B Carl-Ludwig Thiele FDP 2023 C Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMI 1982 A SPD 2025 D

Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE 1983A, 1984 A Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . . 2036 B

Gerhard O. Pfeffermann CDU/CSU . . . 1983 C Günther-Friedrich Nolting FDP 2026D, 2033 B

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . 1986A Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE . 2029 B

Gerd Wartenberg (Berlin) SPD 1987 B Dr. , Bundesminister BMVg 2031 B Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . 1989 B Walter Kolbow SPD 2032C, 2033 B Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . . 1991D Dr. FDP 2033 A Dr. PDS/Linke Liste (Erklärung nach § 30 GO) 1993 D Norbert Gansel SPD 2034 B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 III

Einzelplan 10 Ernst Kastning SPD 2039* D

Geschäftsbereich des Bundesministers für Dr. Sigrid Hoth FDP 2040* D Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Drucksachen 12/510, 12/530) 2035 C Horst Sielaff SPD 2041* D

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Einzelplan 30 Linke Liste 2042* D Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie (Drucksachen , Bundesminister BML . . 2043* C 12/524, 12/530) 2035 C Anlage 3

Einzelplan 31 Zu Protokoll gegebene Reden zum Einzel- Geschäftsbereich des Bundesministers für plan 30 — Geschäftsbereich des Bundesmi- Bildung und Wissenschaft (Drucksachen nisters für Forschung und Technologie 12/523, 12/530) 2035 D (Drucksachen 12/524, 12/530) CDU/CSU 2044* D Zusatztagesordnungspunkt: Beratung der Beschlußempfehlung des Dr. Emil Schnell SPD 2047* A Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- gesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Werner Zywietz FDP 2049* C Gesetz zur Änderung des Landwirt- schaftsanpassungsgesetzes und anderer Dr. PDS/Linke Liste . . . 2050* D Gesetze (Drucksachen 12/161, 12/404, 12/589, 12/650) 2036A Anlage 4 Nächste Sitzung 2036 C Zu Protokoll gegebene Reden zum Einzel- plan 31 — Geschäftsbereich des Bundesmi- Anlage 1 nisters für Bildung und Wissenschaft (Druck- sachen 12/523, 12/530) Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 2037' A Dr. Klaus-Dieter Uelhoff CDU/CSU . . . . 2052* A Anlage 2 Hinrich Kuessner SPD 2053* B Zu Protokoll gegebene Reden zum Einzel- plan 10 — Geschäftsbereich des Bundesmi- Carl-Ludwig Thiele FDP 2056* C nisters für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Drucksachen 12/510, 12/530) Dr. PDS/Linke Liste . . . 2057* C Bartholomäus Kalb CDU/CSU 2037* C Dr. , Bundesminister BMBW 2058* B

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1919

27. Sitzung

Bonn, den 5. Juni 1991

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, Wir setzen nun die Haushaltsberatungen fort. liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Sit- zung. Ich rufe auf: Zunächst einiges Amtliches: Gemäß § 7 Abs. 1 des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Haus der Ge- I. Zweite Beratung des von der Bundesregierung schichte der Bundesrepublik Deutschland" werden eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über vom Deutschen Bundestag sechs Mitglieder in das die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für Kuratorium entsandt. das Haushaltsjahr 1991 Die Fraktion der CDU/CSU schlägt die Abgeordne- (Haushaltsgesetz 1991) ten Dr. Dorothee Wilms, Wilfried Seibel und Dr. Gün- — Drucksachen 12/100, 12/494 — ther Müller als ordentliche Mitglieder sowie die Abge- Beschlußempfehlungen und Be richt des Haus- ordneten Dr. Roswitha Wisniewski, Dr. Volkmar Köh- haltsausschusses (8. Ausschuß) ler und Otto Regenspurger als stellvertretende Mit- glieder vor. Einzelplan 08 Die Fraktion der SPD schlägt die Abgeordneten Geschäftsbereich des Bundesministers der Dieter Schloten und Do ris Odendahl als ordentliche Finanzen Mitglieder sowie die Abgeordneten Gerlinde Häm- — Drucksachen 12/508, 12/530 — merle und Dr. Hartmut Soell als stellvertretende Mit- Berichterstatter: glieder vor. Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Ber lin) Die Fraktion der FDP schlägt den Abgeordneten Hans-Werner Müller (Wadern) Uwe Lühr als ordentliches Mitglied und die Abgeord- Werner Zywietz nete Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink als stellvertre- Einzelplan 32 tendes Mitglied vor. Bundesschuld Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? — Kein Widerspruch. Damit sind die genannten Kolle- — Drucksache 12/527 — ginnen und Kollegen in das Kuratorium „Haus der Berichterstatter: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" ent- Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) sandt. Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Helmut Wieczorek (Duisburg) heutige Tagesordnung um die Beratung der Be- Einzelplan 60 schlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zu Allgemeine Finanzverwaltung dem „Gesetz zur Änderung des Landwirtschaftsan- passungsgesetzes und anderer Gesetze" auf Drucksa- — Drucksache 12/529 — che 12/650 erweitert werden. Der Zusatzpunkt soll am Berichterstatter: Ende der heutigen Sitzung aufgerufen werden. Sind Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) Sie auch damit einverstanden? — Dann ist es so be- Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) schlossen. Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Dr. Gero Pfennig Die Fraktion der SPD hat fristgemäß eine Erweite- rung der Tagesordnung beantragt. Dieser Antrag wird Einzelplan 20 nach dem nächsten Tagesordnungspunkt gegen Bundesrechnungshof 13 Uhr aufgerufen. — Drucksachen 12/520, 12/530 — (Zuruf von der SPD: Das ist nur eine Erklä- Berichterstatter: rung!) Abgeordnete Rudolf Purps — Ja. Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) 1920 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für zulassen, daß den Menschen in beiden Teilen die gemeinsame Aussprache dreieinhalb Stunden Deutschlands durch solche parteipolitische Finessen vorgesehen. — Auch dagegen sehe ich keinen Wider- geschadet wurde? spruch. (Beifall bei der SPD) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abge- ordnete Frau Ing rid Matthäus-Maier. Dies ist nicht das erstemal. Schon vor einem Jahr war Parteitaktik für Sie wichtiger als Problemlösung. Jeder, der etwas von Ökonomie versteht, wußte, daß Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Frau Präsidentin! Hilfen und vor allem öffentliche Investitionen für den Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir bera- Aufbau der neuen Länder unerläßlich sind. Wenn Sie ten heute den ersten gesamtdeutschen Bundeshaus- uns Sozialdemokraten nicht glauben, warum hören halt in zweiter Lesung. Trotz aller Probleme, vor de- Sie dann nicht wenigstens auf den Sachverstand der nen wir beim Aufbau der neuen Bundesländer stehen Wirtschaft? Der Deutschlandchef der renommierten und die wir noch lange nicht überwunden haben, McKinsey-Unternehmensberatungsgesellschaft hat möchte ich eines klarstellen: Ohne die friedliche Re- dazu vor einigen Wochen in der „Zeit" zutreffend volution, ohne den Fall der Mauer, ohne die deutsche gesagt — ich zitiere — : Einheit wäre es heute nicht möglich, einen gesamt- Daß man in den Straßen- und Schienenbau und deutschen Bundeshaushalt zu lesen. die Telekommunikation investieren muß, so wie (Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Und nicht dies heute geschieht, war auch vor zwölf Mona- ohne !) ten schon klar. Ebenso wußte man, daß der Mit- Ich finde, das ist ein Grund zur Freude. telstand und besonders das Handwerk von Inve- stitionen der Städte und Gemeinden leben. Also (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der hätte Bonn die Voraussetzungen dafür schaffen FDP) müssen, daß die ostdeutschen Kommunen schnell Die größte politische Herausforderung, vor der wir investieren können. stehen, ist es, die deutsche Einheit nun auch im Inne- Aber als wir Sozialdemokraten dies Anfang 1990 ge- ren unseres Landes zu verwirklichen und den Aufbau fordert haben, fiel Ihnen nichts Geschmackloseres ein, im Osten Deutschlands aktiv zu gestalten. Daher be- als zu sagen, wir wollten Herrn Modrow 15 Milliarden grüße ich es sehr, daß in den Haushaltsberatungen DM über den Tisch schieben. zusätzliche 11 Milliarden DM für Maßnahmen in den neuen Bundesländern in den Bundeshaushalt aufge- (Beifall bei der SPD — Friedrich Bohl [CDU/ nommen wurden. Dies ist ein Schritt in die richtige CSU]: So war es doch! — Adolf Roth [Gießen] Richtung, auf den wir Sozialdemokraten lange ver- [CDU/CSU]: Es war geschmacklos, was Sie geblich gedrängt haben. da wollten!) Allerdings bedauere ich sehr, daß der gesamtdeut- Aus rein parteitaktischen Gründen, nur um die SPD sche Haushalt nicht ordnungsgemäß bereits im auszugrenzen, unterließen Sie es viele Wochen und Herbst letzten Jahres vorgelegt und verabschiedet Monate lang, das Ingangsetzen der öffentlichen Inve- worden ist. Dies wäre bei gutem Willen aller Beteilig- stitionen in der damaligen DDR zu fördern. Dabei war ten möglich gewesen. Wir hatten hierzu unsere kon- doch jedem Sachkundigen klar: Angesichts der lan- struktive Mitarbeit ausdrücklich angeboten; denn wir gen Vorlaufzeit für öffentliche Investitionen würde wußten: Ohne umfassende öffentliche und p rivate In- davon nicht eine Regierung Modrow, sondern ein de- vestitionen ist der Aufbau in den neuen Bundeslän- mokratisch gewählter neuer Ministerpräsident profi- dern nicht zu schaffen. Die notwendigen Vorausset- tieren. zungen für diese Investitionen wollten wir mit einem bereits im vorigen Herbst verabschiedeten Haushalt (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ 1991 rechtzeitig schaffen. CSU) Der Bundesfinanzminister hat aber den Bundes- Das Ergebnis dieser langen Untätigkeit der Bundes- haushalt 1991 nicht im letzten Herbst vorgelegt, weil regierung war, daß Investitionen in den neuen Bun- er den Bürgerinnen und Bürgern vor der Bundestags- desländern nur schwer in Gang kamen und daß am wahl die enormen Kosten des Aufbaus und die Not- Ende des Jahres 1990 10 Milliarden DM der Bundes- wendigkeit von Steuerhöhungen verschweigen mittel für Ostdeutschland nicht abgerufen worden wollte. waren. Dadurch wurde der Aufschwung verzögert. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der FDP: Außerdem wurde dem Steuerzahler dadurch die Zah- Alte Unwahrheiten werden nicht besser!) lung vieler Millionen unnötiger Zinsen beschert. Ich frage Sie, Herr Finanzminister: Ist das nicht ein zu So trägt die Bundesregierung jetzt die Verantwor- hoher Preis für Parteitaktik? tung dafür, daß der Bundeshaushalt für 1991 aus wahltaktischen Gründen erst sechs Monate nach Be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ginn des Jahres in Kraft tritt. Sie trägt damit die Ver- antwortung auch dafür, daß die notwendigen Be- Der zweite wichtige Grund, warum Sie die wirt- schäftigungsimpulse mit großer Verspätung kommen schaftlichen Probleme in den neuen Ländern nicht in und daß wahrscheinlich — wie im letzten Jahr — die den Griff bekommen — auch nicht in diesem Bundes- Ideo- Mittel dafür nicht alle wie vorgesehen abfließen. haushalt — , ist, daß bei Ihrer Wirtschaftspolitik logie wichtiger ist als kompetente Problemlösung. Das schadet den Menschen in Ost und West. Ich frage Sie, Herr Finanzminister: Wie konnten Sie es (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1921

Ingrid Matthäus-Maier Es war reine Ideologie, zu glauben, mit der Einfüh- Ihre Ideologie „Ohne Staat geht alles besser!" hat rung der Marktwirtschaft allein werde der Auf- leider dazu geführt, daß die Bundesregierung die not- schwung in den neuen Ländern von selber kom- wendigen wirtschafts- und sozialpolitischen Begleit- men. maßnahmen zur Währungsunion unterlassen hat. Wenn Sie uns Sozialdemokraten nicht glauben, (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch dann hören Sie doch — ich wiederhole es — wenig- gar nicht!) stens auf den Sachverstand der Wirtschaft. Als einen — Warum haben Sie denn dann in den folgenden besonders prominenten Zeugen zitiere ich den Mer- Wochen dauernd nachgebessert? cedes-Chef Edzard Reuter, der nach einem Be richt der „Süddeutschen Zeitung" gewarnt hat (Beifall bei der SPD) vor einem nahezu infantilen Glauben, allein das Professor Wolfram Engels hat in der „Wirtschafts- Inkraftsetzen eines marktwirtschaftlichen Sy- woche" mit Bitterkeit festgestellt, daß Ihre Wirt- stems werde alle Probleme von heute auf morgen schaftspolitik „keinen auch nur irgend vorstellbaren von selber lösen. Fehler ausgelassen hat". (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Was (Peter Conradi [SPD]: Infantil!) hat er denn zu Ihrer Vorstellung gesagt?) — Infantil! — Reuter erklärte weiter: Der Vorwurf ist hart, aber berechtigt. Bei der deut- Gefordert sei jetzt ein Zusammenwirken zwi- schen Einigung wurde von Marktideologen versucht, schen Staat und Unternehmen, um Infrastruktur mit den Menschen in den neuen Bundesländern zu zu schaffen, um industrielle Ansiedlungen zu för- experimentieren. dern und die Qualifikation der Menschen zu si- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chern. Das Experiment ist gescheitert. Viel Zeit und viel Geld Ihre Ideologie will einfach nicht zur Kenntnis neh- wurden vertan. Die Leidtragenden sind die Men- men, daß die hohe Produktivität und die außerge- schen. wöhnliche Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft darauf beruhen, daß bei uns Markt und Staat in einer (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: sinnvollen Wechselbeziehung zusammenwirken. Das glauben Sie doch alles selbst nicht!) (Zuruf von der CDU/CSU: Da haben Sie rela- Es war wiederum reine Ideologie, die die Bundesre- tiv wenig gelernt!) gierung dazu gebracht hat, sich bei der Eigentumsre- gelung in den neuen Bundesländern gegen unseren Unsere moderne Volkswirtschaft ist deshalb so er- Widerstand für das Prinzip „Rückgabe vor Entschädi- folgreich, weil sie eben nicht eine reine Marktwirt- gung" zu entscheiden. Jeder Fachkundige weiß doch, schaft ist, sondern ein gemischtes Wirtschaftssystem, daß dann die notwendigen Investitionen ausbleiben. das nach dem Grundsatz funktioniert: Soviel Markt Besonders Graf Lambsdorff hat sich hier als Investi- wie möglich und soviel Staat wie nötig. tionshindernis Nummer eins in den neuen Bundeslän- (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Wolf- dern erwiesen. gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dieser unideologischen, pragmatischen Kombina- Erneut: Wenn Sie uns Sozialdemokraten nicht glau- tion von Markt und Staat verdanken wir unseren ben, warum hören Sie dann z. B. nicht auf das Vor- Wohlstand. Dieser Wohlstand beruht eben nicht nur standsmitglied der Deutschen Bank, Herrn Dr. Cartel- darauf, daß die p rivaten Unternehmen mit ihren Ar- lieri, der vor wenigen Wochen laut „Handelsblatt" beitnehmern immer wieder bessere Produkte und lei- gesagt hat: - stungsfähigere Produktionsverfahren entwickeln. Un- Diese Investitionsblockade läßt sich nur dann ser Wohlstand beruht genauso sehr darauf, daß der schnell überwinden, wenn der Grundsatz „Ent- Staat ein modernes Verkehrswesen, moderne Nach- schädigung vor Rückgabe " absoluten Vorrang richtenübermittlung, ein leistungsfähiges Bildungssy- erhält. stem und eine qualifizierte öffentliche Verwaltung zur Verfügung stellt. Recht hat Herr Dr. Cartellieri. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Und daß eine (Beifall bei der SPD) gute Regierung am Werk ist!) Die wirtschaftliche Inkompetenz dieser Bundesre- Dieses kleine Einmaleins der Wirtschaft müßten doch gierung schadet unserem Land. Sie greifen zwar mit auch Sie kennen. monatelanger Verzögerung immer wieder Forderun- gen von uns Sozialdemokraten auf, weil Sie erkennen Die Unternehmen haben es uns doch gesagt: Wie müssen, daß kein Weg daran vorbeigeht. Aber diese sollen sie denn in den neuen Bundesländern ohne Erkenntnis auf Raten können sich die Menschen in Telefon investieren? Oder: Wenn die Verkehrswege unserem Land nicht länger leisten. Jetzt muß an die fehlen, auf denen ihre Waren transportiert werden Lösung der Probleme endlich energisch und umfas- können, dann investieren sie nicht. Und wenn es send herangegangen werden. keine öffentliche Verwaltung gibt, dann können sie, Die Vorschläge dazu haben wir in unserem Natio- selbst wenn sie wollen, nicht investieren, weil sie dann vorgelegt. nicht einmal eine Baugenehmigung erhalten. Ohne nalen Aufbauplan öffentliche Infrastruktur gibt es keine privaten Inve- (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Ein schö stitionen. ner Tip!) 1922 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Ingrid Matthäus-Maier Diesen Aufbauplan stellen wir in dieser Haushalts- Bund an der Finanzierung der Kinderbetreuungsein- debatte zur Abstimmung. richtungen über den 30. Juni 1991 hinaus beteili- gen. Nötig ist erstens eine investitionsfreundliche Rege- lung der Eigentumsfrage. (Beifall bei der SPD — [SPD]: Nötig ist zweitens die wirksame Förderung privater Sehr richtig!) Investitionen durch eine Verbesserung der Investi- tionszulage von 12 % auf 25 % für Investitionen in den Nötig ist siebtens die Beseitigung von investitions- neuen Ländern, da von den von Ihnen vorgeschlage- hemmenden Umweltlasten. Hier muß sich der Bund nen Abschreibungsverbesserungen die Unternehmen noch viel stärker engagieren, damit die Umwelt ver- in Ostdeutschland praktisch nichts haben. bessert und dieses Hemmnis für Investitionen besei- tigt wird. Nötig ist drittens ein klarer gesetzlicher Sanie- rungsauftrag für die Treuhandanstalt; denn die Treu- Nötig ist achtens schließlich der Aufbau leistungs- hand muß auch ihrer regional- und arbeitsmarktpoli- fähiger öffentlicher Verwaltungen in den neuen Län- tischen Verantwortung gerecht werden. dern und Kommunen. Bei aller Kritik, die am öffentli- chen Dienst zu äußern modern ist, hat die Situa tion in (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf- den neuen Bundesländern klar gezeigt: Öffentliche gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) Verwaltungen sind keine unnütze Bürokratie, son- Nötig ist viertens die Befreiung der Treuhandunter- dern ihr Funktionieren ist eine Grundvoraussetzung nehmen von den Altschulden aus der früheren Kom- für die Wirtschaft. mandowirtschaft. Dieser Vorschlag hätte gegenüber der von Ihnen gewählten bürokratischen Einzelfall- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf prüfung den Vorteil, daß für die Bet riebe ein klarer gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) Schlußstrich unter die SED-Mißwirtschaft gezogen Die Lehre, die die Bundesregierung aus ihren bis- ebe aus eigener Kraft investitionsfähig wird, daß Betri herigen Fehlern ziehen muß, lautet: Hören Sie endlich werden und daß den Betrieben — auch Psychologie ist auf den wirtschaftspolitischen Sachverstand und war- wichtig — ein deutliches Signal für eine bessere wirt- ten Sie nicht immer monatelang, bis Sie Vorschläge schaftliche Zukunft aus eigener Verantwortung gege- der SPD aufgreifen! ben wird. Arbeitgeber, Gewerkschaften, Wirtschaft, Wissenschaft und Banken haben dieselbe Altschul- (Lachen bei der CDU/CSU) denregelung wie die SPD gefordert. Sie ist vernünfti- ger und letztlich auch billiger. Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen, wird Nötig ist fünftens die Einrichtung von Beschäfti- jeden Tag deutlicher: Es sind sozialdemokratische Lö- gungs- und Qualifizierungsgesellschaften in großem sungsansätze, die die Massenarbeitslosigkeit beseiti- Umfang. gen können und den Aufschwung in Ostdeutschland in Gang setzen können. (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Richtig!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf Auch hier gilt: Wenn Sie wieder einmal uns Sozialde- gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) mokraten nicht glauben, so greifen Sie doch endlich die Vorschläge der Gewerkschaften und auch der Es sind sozialdemokratische Konzepte, die unser Land deutschen Arbeitgeber auf, die solche zeitlich befri- in der Wirtschaftspoli tik, in der Finanzpolitik und in steten Beschäftigungs- und Auffanggesellschaften der Umweltpolitik voranbringen. durch ihren Präsidenten Dr. Murmann seit Wochen fordern. - (Beifall bei der SPD — Jochen Borchert [CDU/CSU]: Bis 1982! — Ernst Hinsken (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Den [CDU/CSU]: Da müssen Sie doch selber la würde ich an Ihrer Stelle nicht so oft zitie- chen!) ren!) Angesichts der enormen Aufgaben in der Altlastensa- — Nun regen Sie sich mal nicht so auf! Ich bin doch nierung und beim Städtebau und der Notwendigkeit, ganz freundlich. die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern zu Genauso war es der sozialdemokratische Ansatz in qualifizieren, ist es doch aberwitzig, Arbeitslosigkeit der Ostpolitik, dem Sie sich lange widersetzt haben, zu bezahlen, statt die Menschen in solchen Beschäfti- der uns die Entspannung in Europa und am Ende auch gungsbrücken für sinnvolle Arbeit und Qualifizierung die deutsche Einheit gebracht hat. zu entlohnen. (Beifall bei der SPD — Adolf Roth [Gießen] (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ [CDU/CSU]: Haben Sie gestern nicht zuge- CSU) hört?) Der dritte entscheidende Fehler der Bundesregie- Nötig ist sechstens die Förderung der Beschäfti- rung bei der deutschen Einigung war, daß sie falsche gungschancen für Frauen. Frauen müssen entspre- Erwartungen geweckt und genährt hat. Diesen Kardi- chend ihrem Anteil an den Arbeitslosen bei der Ver- nalfehler hat die Grundwertekommission der SPD vor gabe der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Fort- zwei Wochen recht überzeugend so beschrieben: bildungsmaßnahmen berücksichtigt werden. Das ist heute leider nicht der Fall. Außerdem muß sich der (Lachen bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1923

Ingrid Matthäus-Maier Wir Sozialdemokraten tadeln die Bundesregie- vergessen. Diese Steuerlüge ist der Anfang vom Ende rung nicht für das Tempo der deutschen Eini- dieser Bundesregierung. gung, (Beifall bei der SPD — Dr. Klaus Rose [CDU/ (Volker Rühe [CDU/CSU]: Nicht mehr! — Dr. CSU]: Sie werden dann die Steuern wieder Klaus Rose [CDU/CSU]: Voriges Jahr senken!) schon!) Jedermann weiß es; darum kann ich es kurz ma- — Erst schreien Sie laut, wenn Ihnen etwas nicht paßt, chen: Ihre Steuererhöhungen sind nicht nur mit dem und jetzt schreien Sie laut, wenn Ihnen etwas gefällt. Makel der Unehrlichkeit behaftet, sondern auch mit Vielleicht hören Sie einfach zu! — Ich zitiere weiter: dem Makel der Ungerechtigkeit. Die kleinen Leute werden von Ihnen zur Kasse gebeten, die großen aber also auch nicht für die Folgen dieses Tempos. Die wollen Sie zusätzlich mit Milliardensteuergeschenken Mehrheit der Menschen in der DDR wollte ihren beglücken. Wer so gegen das Gerechtigkeitsgefühl Staat so rasch wie möglich loswerden. Aber wir der Menschen verstößt, der kann keine Solidarität ein- werfen der Bundesregierung vor, daß sie die fordern. Deutschen in West und Ost wider das bessere Wissen, das ja nicht nur in der Sozialdemokratie (Beifall bei der SPD — Karl Stockhausen vorhanden war, im unklaren darüber ließ, was die [CDU/CSU]: Bringen Sie mal etwas rasche Einigung an Gefahren mit sich brachte Neues!) und an Opfern verlangte. Wer sich aus verständ- Sie können noch so laut rufen; wer den kleinen Leuten lichen Gründen für die rasche Einheit entschied, in die Tasche greift und gleichzeitig die Vermögen- mußte wissen, daß dies für den Osten gewaltige steuer abschaffen oder senken will, der hat von Soli- Umbrüche, Verluste und Entbehrungen und für darität nichts verstanden. den Westen beträchtliche Leistungen und Opfer für mindestens ein Jahrzehnt bedeutete. (Beifall bei der SPD — Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Legen Sie einmal eine neue So die Grundwertekommission. Platte auf!) (Beifall bei der SPD — Volker Rühe [CDU/ Die Politik muß mit den Menschen ehrlich umge- CSU]: Das haben auch wir gesagt!) hen, auch wenn die Wahrheiten, die man sagen muß, Die bei vielen Menschen durchaus vorhandene Op- unangenehm sind. Optimismus ja, Schönfärberei ferbereitschaft wurde von Ihnen nicht eingefordert. nein. Das Tricksen, das Schummeln, das Mogeln in Daß die Teilung nur durch Teilen überwunden wer- der Finanzpolitik müssen ein Ende haben. den kann, kam nicht von diesem Bundeskanzler, son- (Beifall bei der SPD) dern von unserem Bundespräsidenten. Sagen Sie den Bürgern endlich die Wahrheit! Nehmen (Beifall bei der SPD — Volker Rühe [CDU/ Sie sich die „FAZ" von gestern zu Herzen, wo es CSU]: Das kam von de Maizière, Frau heißt: Matthäus-Maier, nicht vom Bundespräsiden- ten!) (Volker Rühe [CDU/CSU]: Die ganze Aus gabe?) — Gut; von de Maizière. Es bleibt genauso gut. Aber ich meine, mich zu erinnern, daß in der großen De- Nach dem neuerlichen Wahldebakel der CDU in batte am Einigungstag, am 3. Oktober, der Bundes- Hamburg sollte es die Regierung vielleicht doch präsident diesen Satz wiederholt hat. Ich bin sehr si- mit etwas mehr Ehrlichkeit bei den Bürgern ver- cher. suchen. (Beifall bei der SPD — Detlev von Larcher (Beifall bei der SPD — Volker Rühe [CDU/ - CSU]: Er hat de Maizière zitiert!) [SPD]: Ihr fehlt der Mut!) — Wenn es gleich zwei gesagt haben, ist das ja wun- Da wir gerade bei Ehrlichkeit in der Finanzpolitik derbar. Um so schlimmer ist es, daß Sie das nicht sind, greife ich einen Punkt auf, zu dem ich eigentlich beherzigt haben, meine Damen und Herren. heute nicht Stellung nehmen wollte. (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Dann lassen CSU) Sie es sein!) Aber da der Kollege Helmut Esters mich persönlich Statt auf die politische Reife und die Solidarität un- serer Bürger zu bauen, haben Sie sich von der Union gestern zu meiner großen Überraschung in seiner und von der FDP aus wahltaktischen Gründen für die Rede angesprochen und gesagt hat, ein Umzug von Regierung und Parlament von Bonn nach Berlin Steuerlüge entschieden. würde auf keinen Fall Steuererhöhungen nach sich (Beifall bei der SPD — Volker Rühe [CDU/ ziehen, CSU]: Pfui! Daß Sie das noch wiederholen, (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Was spricht nicht für Sie!) hat er weiter gesagt?) Dieser Steuerlüge haben die Bürgerinnen und Bürger stelle ich für mich ganz persönlich — nicht für meine bei dem großartigen Wahlerfolg der SPD in Hamburg Fraktion — klar, daß ich dies für absolut unrealis tisch nun zum drittenmal nach den Wahlerfolgen in Hessen halte. und Rheinland-Pfalz eine Quittung erteilt. Ich sage Ihnen, die Bürger werden das auch in Zukunft nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 1924 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Ingrid Matthäus-Maier Die Kosten für den Umzug, für Infrastrukturmaßnah- Diese haben Sie bis heute nicht offen und ehrlich men in Berlin und Strukturhilfen für den Bonner Raum beantwortet. würden einige zig Milliarden DM betragen. Nachdem Sie vor der Bundestagswahl noch heftig (Zuruf von der CDU/CSU: Aber das sind In- bestritten haben, daß Sie die Mehrwertsteuer erhö- vestitionen, keine Kosten!) hen wollen, geben Sie mittlerweile zu, daß Sie die Ich stimme Herrn Waigel in diesem Punkt ausdrück- Mehrwertsteuer anheben wollen. Dabei versuchen lich darin zu — das kommt ja nicht oft vor, Herr Sie aber schon wieder zu tricksen, indem Sie den Ein- Waigel —, daß wir dieses Geld nicht haben. Deswe- druck erwecken wollen, die Europäische Gemein- gen besteht für mich persönlich kein Zweifel daran, schaft würde uns zur Anhebung der Mehrwertsteuer daß wir bei einem Umzug an spürbaren Steuererhö- zwingen. hungen nicht vorbeikämen. Es gehört für mich zu der Die Wahrheit ist: Hinter der Europäischen Gemein- Ehrlichkeit in der Politik, das offen zu sagen. schaft können Sie sich nicht verstecken. Das bestä- (Beifall bei der SPD) tigte z. B. vor wenigen Tagen der Präsident des Deut- schen Industrie- und Handelstages, Hans Peter Stihl, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Matthäus der kürzlich in München zur Mehrwertsteuererhö- Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- hung gesagt hat: „Ich bin für Ehrlichkeit in der Dis- ordneten Conradi? kussion; es gibt keinerlei Handlungszwang auf EG- Ebene."

Peter Conradi (SPD): Frau Kollegin, haben Sie oder Tatsache ist, das Harmonisierungskonzept der Eu- einer Ihrer Vorgänger in den vergangenen 40 Jahren ropäischen Gemeinschaft sieht bis heute einen Mehr- die Einhaltung des Versprechens, Berlin solle wieder wertsteuersatz von 14 % vor. Hauptstadt mit Parlament und Regierung werden, (Zuruf von der CDU/CSU: Nein!) einmal von den Umzugskosten abhängig gemacht? — Wohl! Wenn Sie das bezweifeln, dann denken Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ daran, daß das gestern in der Anhörung noch einmal CSU und der FDP — Dr. Klaus Rose [CDU/ klargestellt worden ist. CSU]: Wer in der Nähe von Bonn wohnt, kann so reden!) (Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren doch gar nicht da!)

Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Lieber Herr Conradi, — Selbstverständlich war ich da. ich habe jetzt ein Problem, weil ich hier als Fraktions- (Weiterer Zuruf von der CDU/CSU) sprecherin und nicht persönlich als Ing rid Matthäus Maier stehe. Aber da Sie mich schon so lieb fragen, — Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, Herr Kollege, will ich Ihnen persönlich die Antwort geben: Wir ha- wenn Sie etwas wollen. Aber ich weiß schon, warum ben im Einigungsvertrag in Art. 2 die bisherigen Aus- Sie das nicht tun: Ich würde Ihnen die richtige Ant- sagen zur Hauptstadt und zum Sitz von Regierung wort geben. und Parlament auf eine neue Grundlage gestellt. Des- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) wegen hat es sehr wohl mit der Glaubwürdigkeit zu Erst die Ankündigung der Bundesregierung, daß sie tun, daß wir heute zu einer Aufgabenteilung stehen: die Mehrwertsteuer anheben will, hat die Kommission Berlin als Hauptstadt, Bonn als Sitz von Regierung dazu bewogen, man kann auch sagen: provoziert, und Parlament. jetzt in Richtung von 15 % zu gehen. Daran gibt es (Unruhe bei der SPD — Beifall bei Abgeord- keinen Zweifel. Seien Sie doch einfach ehrlich. neten der CDU/CSU — Dr. Klaus Rose (Zuruf von der CDU/CSU: Versuchen Sie es [CDU/CSU]: Das war aber eine Kurve! Aus-- gesprochen schwach!) doch einmal!) Da durch Herrn Esters dieses Thema in die Debatte Wegen des Einstimmigkeitsprinzips in der Europäi- eingeführt wurde, will ich wenigstens eines am Schluß schen Gemeinschaft ist eine Anhebung der Mehr- deutlich sagen. Das Gute an dieser Debatte ist, daß wertsteuer ohne Ihre Zustimmung nicht möglich. Sie, zum erstenmal, seit ich Mitglied in diesem Parlament Herr Finanzminister, haben es also in der Hand, durch bin, die Frage quer durch alle Fraktionen unterschied- die Verweigerung Ihrer Zustimmung die deutsche lich entschieden wird. Das ist ja ein Positivum. Wirtschaft und den Verbraucher vor einer Mehrwert- steueranhebung zu bewahren. (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Ist das alles?) Leider kommt auch bei der gegenwärtigen Mehr- Statt durch eine Flut von Steuererhöhungen den wertsteuerdiskussion die Wahrheit nur scheibchen- kleinen Leuten in die Tasche zu greifen, müßten doch weise ans Licht. Niemand von der Bundesregierung zuerst einmal die Vermögen der Nutznießer des alten sagt deutlich, daß die finanzpolitischen Probleme der DDR-Regimes, die sie sich zu Unrecht angeeignet ha- nächsten Jahre noch nicht gelöst sind. Herr Waigel, ben, eingezogen werden. Ich muß Ihnen sagen: Ich Sie haben die Ergänzungsabgabe auf ein Jahr bef ri halte es wirklich für empörend, daß über anderthalb -stet. Gleichzeitig wird der Fonds Deutsche Einheit in Jahre nach dem Fall der Mauer die PDS, aber auch die absehbarer Zeit drastisch heruntergefahren. Ihre Fi- CDU und die FDP als Erben der ehemaligen Blockpar- nanzpolitik gibt damit Bürgern und Wirtschaft, Län- teien dern und Gemeinden mittelfristig keine verläßliche (Volker Rühe [CDU/CSU]: Das ist unglaub Perspektive. Die Frage ist, wie Sie die Finanzproble- lich! Wir haben doch wirklich auf alles ver me der nächsten Jahre in den Griff bekommen wollen. zichtet!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1925

Ingrid Matthäus-Maier bei der Bestandsaufnahme, Herr Rühe, und bei der ordentlich merkwürdig, daß der Generalsekretär der Herausgabe ihrer alten DDR-Vermögen immer noch CDU ausgerechnet Herrn Schalck-Golodkowski als mauern. Kronzeugen gegen die Sozialdemokraten bemühen (Beifall bei der SPD — Volker Rühe [CDU/ muß? CSU]: Nein, überhaupt nicht! Das, was Sie da (Zuruf von der CDU/CSU: Überhaupt sagen, ist nun wirklich die Unwahrheit!) nicht!) Empörend finden es unsere Bürger auch, daß sich der Stasi-Oberst Schalck-Golodkowski am Tegernsee Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ich habe folgendes schöne Tage macht, statt das Milliardenvermögen gelernt, Frau Kollegin Herta Däubler-Gmelin: Wenn herauszurücken, das er für die SED weltweit angelegt es der CDU paßt, die SPD zu verunglimpfen, dann war hat. ihr bisher immer jedes Mittel recht, auch die SED und (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ ihre Vergangenheit, meine Damen und Herren. GRÜNE) (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der Ich hoffe, daß der Untersuchungsausschuß, der auf CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Un unseren SPD-Antrag hin eingesetzt wird, möglichst -verschämtheit!) schnell dieses ehemalige SED-Vermögen aufspürt, damit es endlich den Menschen in den neuen Bundes- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Matthäus ländern zugute kommt. Ihnen gehört es und sonst nie- Maier, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und mandem. zwar des Herrn Abgeordneten Lüder? (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE) Wolfgang Lüder (FDP): Frau Kollegin, ich bin in einer schwierigen Lage, weil die Frage ein Wissen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Matthäus- darlegt, das ich hier nicht offenbaren darf. Deswegen Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- frage ich Sie nur: Sind Sie bereit, sich von den von ordneten Rühe? Ihrer Fraktion in die unabhängige Kommission ent- sandten Mitgliedern darüber informieren zu lassen, Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja. wie der Sachverhalt, den Sie hinsichtlich des FDP- und CDU-Vermögens eben fälschlich dargestellt ha- Volker Rühe (CDU/CSU): Frau Kollegin Matthäus- ben, in Wahrheit ist? Maier, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — die CDU bis zum letzten Pfennig auf das gesamte Ver- Zurufe von der CDU/CSU: Ehrliche Antwort mögen der Ost-CDU verzichtet hat, und zwar notariell bitte! — Ehrliche Politik!) beglaubigt — es ist meine herzliche Bitte, daß Sie Ihre Vorwürfe hier nun wirklich ablegen sollten — , und Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege Lüder, sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, was bevor ich mir diese Rede so vorgenommen habe, habe Herr Schalck-Golodkowski über die besonders engen ich selbstverständlich mit den SPD-Mitgliedern in die- Verbindungen zwischen sozialdemokratischen Spit- ser Kommission gesprochen. Sie bestätigen ausdrück- zenpolitikern und ihm erzählt hat? lich das, was ich hier gesagt habe, daß nämlich bei der (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der Bestandsaufnahme bzw. bei der Rückgabe dieses al- SPD) ten Vermögens nach wie vor gemauert wird. Daran führt leider kein Weg vorbei. Ingrid Matthäus-Maier (SPD) : Herr Rühe, ich kenne (Zuruf von der CDU/CSU: Und wie ist es mit Ihre Erklärung den SPD-Zeitungen?) (Volker Rühe [CDU/CSU]: Notar!) - Wenn Sie das mit uns wollen, dann unternehmen Sie vor dem Notar vom letzten Jahr, aber ich weiß genau- doch endlich die Anstrengung, daß das Geld an den sogut, daß sich die Sonderkommission, die zur Auf- Staat zurückkommt und endlich in die Taschen der spürung dieses Vermögens eingesetzt worden ist, bis Bürger in Ostdeutschland fließt, wo es hingehört! heute darüber beschwert, daß die Parteien — inklu- (Beifall bei der SPD — Volker Rühe [CDU/ sive Ihrer — keine ordentliche Bestandsaufnahme CSU]: Das ist doch bei der Treuhand! — Wei vorgenommen haben. tere Zurufe) (Beifall bei der SPD) — Na selbstverständlich ist es bei der Treuhand. Nur, Herr Rühe, daß der Herr Schalck-Golodkowski nun wenn es die Treuhand hat, dann ist das ein Aktivum, eher ein Spezi von Herrn Strauß als von der SPD war, das den Menschen in den neuen Bundesländern zu- das weiß in diesem Lande jedes Kind. gute kommt, Herr Rühe! (Beifall bei der SPD — Volker Rühe [CDU/ (Volker Rühe [CDU/CSU]: Das ist doch bei CSU]: Von Lafontaine! — Zurufe von der der Treuhand! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU — Zuruf: Das war ein Eigentor!) CDU/CSU) Meine Damen und Herren, Ihre Politik des T rick Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eine weitere Zwi- sens und des Täuschens setzen Sie leider auch bei schenfrage der Abgeordneten Frau Däubler-Gmelin! diesem Bundeshaushalt fort. Sie sagen, Sie hätten im Bundeshaushalt 1991 35 Milliarden DM eingespart. Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Frau Kollegin Tatsache ist aber, daß mehr als die Hälfte dieser Matthäus-Maier, halten Sie es nicht auch für außer- 35 Milliarden DM angeblicher Einsparungen durch 1926 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Ingrid Matthäus-Maier Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge zu- über 200 Milliarden DM zusätzlich ergeben. Das sind stande gekommen ist. Sie haben den Bürgern in die über 7 % des Bruttosozialprodukts, meine Damen und Tasche gegriffen und in dieser Höhe leider eben nicht Herren. Das ist fast das gesamte Sparaufkommen der eingespart. Bürger in diesem Lande. Das ist eine Rekordverschul- dung, die selbst die schlimmsten Alpträume von Fi- Sie tricksen auch beim Schuldenmachen. Weil die nanzpolitikern noch übersteigt. Bundesbank nicht mehr bereit war, Ihre ausufernde Schuldenpolitik hinzunehmen, haben Sie im letzten Sicher ist die deutsche Einigung ein Ereignis, das Jahr notgedrungen zugesagt, daß die öffentliche Neu- auch finanzpolitisch Spuren hinterläßt und für das verschuldung 1991 140 Milliarden DM nicht überstei- man neue Kredite machen darf. Aber, meine Damen gen wird. Damit diese Schuldengrenze nicht über- und Herren, auch einmalige und großartige Ereig- schritten wird, haben Sie nicht etwa die Neuverschul- nisse wie dieses dürfen kein Vorwand sein, um die dung entsprechend reduziert, notwendige Solidität der Finanzpolitik außer Kraft zu setzen. (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Aber natür- lich!) (Beifall bei der SPD) sondern mit den Zahlen getrickst. So geschehen, als Mehr als 200 Milliarden DM neue Schulden allein Sie wahrheitswidrig für 1991 die Neuverschuldung in diesem Jahr sind auch wirtschaftspolitisch riskant. des ERP-Sondervermögens mit 3 Milliarden DM statt Die öffentliche Kreditaufnahme in diesem Umfang 7 Milliarden DM und die Neuverschuldung von Län- hält die Zinsen hoch und behindert damit notwendige dern und Gemeinden im Westen mit 11 Milliarden Investitionen in neue Arbeitsplätze und im Woh- DM statt mit 24 Milliarden DM angegeben haben — nungsbau und stranguliert auch die Handlungsfähig- alles nur, damit die Zahl 140 nicht überschritten wird. keit der öffentlichen Haushalte. Meine Damen und Herr Bundesfinanzminister, ich frage Sie: Wie heißt Herren, quer über die Parteigrenzen hinweg muß es die neue Zahl, statt 140 Milliarden DM? — Nennen Sie für uns doch außerordentlich beunruhigend sein, daß sie hier endlich! die öffentliche Hand — Bund, Länder, Gemeinden, Treuhand, der Fonds und die Sondertöpfe — allein in Aber auch das ist noch nicht alles. Sie versuchen diesem Jahr 100 Milliarden DM Zinsen zahlt. Das darüber hinaus, Schulden kunstvoll in verschiedenen heißt: Ehe der Umweltminister eine DM für Umwelt Schuldentöpfen zu verstecken. Da gibt es z. B. den oder der Bildungsminister 10 DM für neue Universitä- Sonderfonds Deutsche Einheit mit einem Schuldenvo- ten zur Verfügung hat, sind erst einmal 100 Milliarden lumen von 95 Milliarden DM. Da gibt es z. B. den Kre- DM für Zinsen an die Seite zu legen, für die der Bürger ditabwicklungsfonds, in dem zusätzlich noch mehr als ja keine Gegenleistung bekommt. 100 Milliarden DM Schulden geparkt sind. Da ist z. B. bereits ein neuer Entschädigungsfonds beschlossen, Zu einer wahrhaftigen finanzpolitischen Bestands- der demnächst mit Milliardenbeträgen gefüllt werden aufnahme gehört außerdem, daß Sie auf die voraus- muß. In die Verschuldung des Bundes muß auch die sichtlichen Mehrbelastungen und Haushaltsrisiken Treuhandanstalt in Berlin einbezogen werden, die al- hinweisen. Es sind doch riesige Summen, die wir Mit- lein in diesem Jahr mehr als 22 Milliarden DM neue tel- und Osteuropa zur Verfügung stellen müssen. Ich Schulden macht. erinnere an die Transferrubel-Geschäfte. Sie wissen doch heute schon, daß von seiten der Treuhand noch Meine Damen und Herren, ich werfe Ihnen nicht zusätzliche Belastungen kommen werden. Frau vor, daß diese Schulden bestehen — sie sind zum gro- Breuel hat gesagt: Da werden so manchem Finanz- ßen Teil eine Altlast des ehemaligen Regimes in der politiker die Augen übergehen; so wörtlich Frau ehemaligen DDR —, aber ich werfe Ihnen vor, daß Sie Breuel. das wahre Ausmaß der Staatsverschuldung durch Ihre Schuldentöpfe systematisch verunklaren wollen. Sie wissen doch heute schon, daß für die Enteig- nung in der ehemaligen DDR vom Bund Entschädi- (Zustimmung bei der SPD) gungen zu zahlen sind. Sie wissen doch heute schon, Noch in diesem Jahr wird die öffentliche Verschul- daß das Existenzminimum in unserem Lande verfas- dung auf mindestens 1,2 Billionen DM ansteigen, sungswidrig besteuert wird. Das heißt: Jedermann meine Damen und Herren. Das sind 1 200 Milliarden weiß, daß Milliarden nötig sein werden, um diesen DM Schulden der öffentlichen Hand. Das sind pro Zustand abzustellen und den Menschen für die Jahre Kopf unserer Bevölkerung umgerechnet rund 1990 und 1991 die zuviel gezahlten Steuern zurückzu- 15 000 DM Staatsschulden. Für eine vierköpfige zahlen. Durchschnittsfamilie heißt das, daß auf sie eine durch- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Wer schnittliche Verschuldung von rund 60 000 DM ent- soll es denn machen, wenn nicht wir?) fällt. Sagen Sie das doch unseren Bürgern. Es gehört doch zu einer ungeschminkten finanzpolitischen Be- Sie wissen doch heute schon, daß nach dem Urteil des standsaufnahme, daß Sie dies offen sagen. Die Konse- Verfassungsgerichts den Familien mit Kindern lau- quenz daraus muß heißen: Das Ausufern der Staats- fend zuviel an Steuern abgezogen wird, was korrigiert verschuldung muß gestoppt werden. werden muß. Sie wissen doch heute schon, meine Damen und Herren, daß im Zusammenhang mit der In diesem Jahr haben Sie die Kehrtwende leider Neufassung des Abtreibungs-Paragraphen insbeson- nicht vollzogen. Auch Ihre Finanzpolitik in diesem dere für die Beratung und für soziale Hilfen für Frauen Jahr ist durch hohe neue Schulden gekennzeichnet. Milliardensummen bereitgestellt werden müssen Zusammen mit den Sondervermögen und Sondertöp- fen wird sich eine öffentliche Neuverschuldung von (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Pro Jahr!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1927

Ingrid Matthäus-Maier — pro Jahr — und daß die Riesenprobleme in der Drit- spesen, bei der p rivaten Nutzung des Betriebs-Pkw ten Welt nicht ohne unsere Hilfe zu lösen sind, und und bei der steuerlichen Abzugsfähigkeit von zwar schon deshalb, weil sonst noch größere Wande- Schmiergeldern. Die Liste wird noch länger, wenn rungsbewegungen von Süden nach Norden und von man berücksichtigt, daß Sie das Dienstmädchenprivi- Osten nach Westen erfolgen werden. Das wissen Sie leg sogar weiter anzuheben beabsichtigen und daß zu auch, das wollen Sie aber offiziell nicht zur Kenntnis Ihren Plänen die Senkung der Vermögen- und die nehmen, nach dem Motto „Was ich nicht weiß, das Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer gehört, was ja macht mich nicht heiß". Da kann sich kein Vertrauen nichts anderes ist als die Einführung neuer Steuersub- in Ihre Finanzpolitik einstellen, meine Damen und ventionen, die wir auf keinen Fall mitmachen werden, Herren. meine Damen und Herren. Wir fragen Sie, Herr Finanzminister: Wann wollen (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Sie endlich anfangen einzusparen? GRÜNE) (Zuruf von der CDU/CSU: Seit 1982!) Herr Finanzminister, Sie haben bisher beim Sub- Wir haben in mehreren Anträgen, auch heute wieder, ventionsabbau gekniffen. in dieser Haushaltsdebatte, umfangreiche Einspa- (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Er ist gar rungsvorschläge vorgelegt, deren Annahme Steuer- nicht da!) erhöhungen in dem jetzigen Umfang unnötig ge- — Er wird schon wiederkommen, nehme ich an. macht hätten. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) Wir haben z. B. vorgeschlagen, Milliarden im Ver- teidigungshaushalt einzusparen. Gekürzt werden Der Finanzminister hat also bisher beim Subventions- kann beim Panzerabwehrhubschrauber, bei der Be- abbau gekniffen. Wenn man sich genau ansieht, wer schaffung und Entwicklung des MRCA Tornado, denn die Subventionen bekommt, dann wird offen- kundig, daß da gespart werden muß. Es ist das Ver- (Volker Rühe [CDU/CSU]: Wenn bei den dienst meiner Kollegin , durch mo- Standorten gekürzt wird, dann protestieren natelange Kleinarbeit nachgewiesen zu haben, daß Sie!) der größte Konzern in diesem Lande zugleich der bei der Wehrtechnik, bei der Beschaffung des Panzers größte Subventionsempfänger ist. Ich frage Sie: Ist Leopard II und bei der Munition. Wenn wir Sie erneut denn der Daimler-Benz-Konzern wirklich so arm, daß auffordern, auch den Jäger 90 einzustellen, dann weiß man ihm in diesem Maße unter die Arme greifen ich, daß das bei Ihnen, wie immer, Gelächter hervor- muß? ruft. (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ (Zuruf von der CDU/CSU: Was ist denn die CSU: Vorhin haben Sie den Reuter gelobt! — Alternative?) Wie viele Milliarden wollen Sie da kürzen? Aber, meine Damen und Herren, das ist nicht zum Sagen Sie es! — Weitere Zurufe von der Lachen; denn die Menschen — — „Was ist denn die CDU/CSU) Alternative?" Wir haben doch wohl genug Munition Da der zuständige Bundesfinanzminister bisher und genug Rüstung. Es dient doch dem Frieden, end- seine Aufgaben nicht gemacht hat, hat Bundeswirt- lich abzurüsten und nicht aufzurüsten, meine Damen schaftsminister Möllemann die Bundesregierung und und Herren! sich ganz persönlich auf ein Ziel von 10 Milliarden (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und DM Subventionsabbau festgelegt. dem Bündnis 90/GRÜNE) (Volker Rühe [CDU/CSU]: Ihr besonderer Aber ich bin bei dem neuen Jagdflugzeug Jäger 90 Freund!) ganz hoffnungsfroh. Jahrelang habe ich hier vergeb- Das begrüße ich ausdrücklich. lich gefordert: Stellen Sie die Wiederaufarbeitungsan- (Zuruf von der CDU/CSU: Na bitte!) lage in Wackersdorf ein! — Sie haben höhnisch ge- lacht. Jetzt ist sie eingestellt. Damit aber niemand glaubt, er könne sich nach dem 3. Juli herausmogeln, möchte ich hier genau festhal- (Beifall bei der SPD) ten, was er unter dem Ziel des Abbaus von 10 Milliar- Jahrelang haben wir gefordert: Machen Sie den den DM Subventionen verstanden wissen will. Herr Schnellen Brüter in Kalkar dicht! — Sie haben höh- Möllemann hat in seinem Schreiben vom 19. März an nisch gelacht. Jetzt ist er Gott sei Dank geschlossen. die Präsidenten der großen Wirtschaftsverbände klipp Ich sage Ihnen: Ihnen wird es mit dem Jäger 90 ganz und klar formuliert, daß es ein Beschluß der Koalition genau so gehen, und das ist gut so. sei, „bereits im Bundeshaushalt 1992 10 Milliarden DM Finanzhilfen, Steuervergünstigungen und sub- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke ventionsähnliche Ausgaben einzusparen". Ich wie- Liste) derhole, worum es geht, damit es klar ist: 10 Milliar- Wir haben umfangreiche Subventionsabbauvor- den DM Subventionsabbau müssen im Bundeshaus- schläge gemacht, z. B. bei der bemannten Raumfahrt halt 1992 kassenwirksam werden. — die selbst in der Regierungskoalition doch keine Meine Damen und Herren, da haben Sie aber noch Mehrheit mehr hat, wenn ich es richtig sehe — , bei kräftig zu arbeiten; der Kernenergie, bei der industriellen Agrarproduk- tion, beim Flugbenzin, beim Dienstmädchenprivileg, (Zuruf von der CDU/CSU: Sie würden sich bei dem neuen Tariffreibetrag, bei den Bewirtungs- das ja auch nicht zutrauen!) 1928 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Ingrid Matthäus-Maier denn von dem Ziel sind Sie noch weit weg. Wenn ich sehr wenig hält. Ich habe selber im Fernsehen gese- mir die Vorschläge Ihrer Steuerpolitiker anschaue, hen, wie der Herr Finanzminister diese Vorschläge dann stelle ich fest, daß das noch lange nicht 5 Milli- doch sehr stark dadurch relativiert hat, daß er gesagt arden DM sind. hat, es sei nichts entschieden, es sei nichts beschie- (Zuruf von der CDU/CSU: Machen Sie mal den, es sei nichts beschlossen. Vorschläge, Frau Kollegin! — Weitere Zurufe (Zuruf von der CDU/CSU: Das Parlament von der CDU/CSU) entscheidet!) — Das ist beim Bundeshaushalt etwa eine einzige Mil- Herr Gattermann, damit eines klar ist: Wenn Sie — liarde, Herr Faltlhauser. Außerdem möchte ich erst einigen wir uns doch darauf — beim Abbau von Steu- einmal sehen, ob Sie das wirklich hinkriegen. ervergünstigungen — kämen sie aus dem Souterrain (Zuruf von der CDU/CSU: Machen Sie mal oder aus dem fünften Stock — 5 Milliarden DM Bun- Vorschläge!) desanteil kassenwirksam für das Jahr 1992 herausho- Der Regierungssprecher hat nämlich einen Tag nach len, dann halte ich das für eine große Leistung, vor- Ihren Vorschlägen diese als — so hat er wörtlich ge- ausgesetzt, zwei Bedingungen werden erfüllt: Er- sagt — aus dem politischen Souterrain kommend be- stens. Dieser Subventionsabbau muß wirtschaftspoli- zeichnet. Herr Faltlhauser, wo haben Sie denn da ge- tisch vernünftig sein; zweitens muß er steuerpolitisch sessen? Im Souterrain? Der Bundesfinanzminister hat gerecht sein. Wenn Sie wieder einen Subventionsab- sehr unwirsch reagiert, meine Damen und Herren. bau mit dem Ziel betreiben, die kleinen Leute zur Kasse zu bitten — das steht nämlich auch in Ihren Für uns, die wir 1981 und 1982 zwei umfangreiche Plänen — , dann werden Sie bei uns auf erbitterten Subventionsabbaupakete durchgesetzt haben, ist Widerstand stoßen, meine Damen und Herren. klar: Subventionsabbau ist ein schwieriges Geschäft. Ich stelle hier auch klar, das kann nicht nach dem (Beifall bei der SPD) Motto gehen: Schlägst du meine Klientel, dann Ich möchte meine Ausführungen zur Kohle fortfüh- schlage ich deine Klientel. ren. Gerade damit der Abbau der Förderung sozial Selbstverständlich muß bei der Diskussion um den verträglich geschieht, gibt es doch den Jahrhundert- Subventionsabbau auch über die Kohle und nicht nur vertrag. Deswegen darf es nicht darum gehen, in ei- über die Landwirtschaft geredet werden. Aber eines, nen bestehenden Vertrag einzugreifen, denn dieser meine Damen und Herren, werden Sie bei der Kohle macht den geordneten Übergang in der betroffenen berücksichtigen müssen: Die Steinkohleförderung Region erst möglich. Lassen Sie die Finger vom Jahr- wurde in der Vergangenheit schon mehr als halbiert. hundertvertrag. Andernfalls werden Sie einen ener- Es ist unstreitig, daß in Zukunft — die nordrhein-west- giepolitischen Konsens mit uns nicht erreichen, meine fälische Landesregierung hat das immer wieder ge- Damen und Herren. sagt — die Kohleförderung weiter wird zurückgenom- men werden müssen. (Beifall bei der SPD) Schließlich: Sparen Sie endlich bei sich selber ein. Die Bundesregierung hat das bisher schon bedeu- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Matthäus tungslose Familienministerium in drei neue Ministe- Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- rien aufgeteilt — außerordentlich überflüssig und ordneten Gattermann? teuer. Die Bundesregierung hat die Zahl der Minister- und Staatssekretärsposten von 61 auf 81 erhöht — überflüssig und teuer. Hans H. Gattermann (FDP) : Herzlichen Dank. Frau Kollegin, der Zusammenhang ist durch Ihre weitere Dieser Tage war in der Zeitung zu lesen, daß das Rede jetzt ein bißchen unterbrochen. Abgesehen da- Bonner Büro der Treuhand als neue Versorgungsan- von, daß es auch im Souterrain sehr hübsche Wohnun-- stalt für CDU-Politiker ausgebaut wird. Es ist eine gen geben kann, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen Schande, daß die Treuhand 250 000 DM ausgeben bekannt ist, daß die Erklärung des Regierungsspre- soll, um einen abgehalfterten CDU-Politiker zu be- chers Vogel am Montag — das Datum habe ich jetzt zahlen. Ich hoffe, wir halten gemeinsam dagegen. nicht mehr im Kopf — sich auf Äußerungen und Dar- (Beifall bei der SPD) stellungen in der „Süddeutschen Zeitung" bezog, nicht auf Äußerungen, die am nächsten Tag vom Kol- Wie recht hatte doch Robert Leicht, als er in der legen Faltlhauser und mir in der Presse gestanden „Zeit" am 1. Februar schrieb: haben. Dieser Kanzler kann für sich beanspruchen, das Beutesystem zu Lasten der Staatskasse aus nack- ter Parteipolitik und purer Gefälligkeit auf die Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege Gatter- mann, es ist sehr freundlich, daß Sie auf diesen nicht Spitze getrieben zu haben: ein Abgrund von Pa- sehr bemerkenswerten Unterschied hinweisen. Ob tronage. Sie nun bei dem einen oder bei dem anderen Papier So die „Zeit". im Souterrain gesessen haben, finde ich letztlich nicht Ich fasse zusammen: Dieser Bundeshaushalt wird so wichtig. Der Regierungssprecher hat durch diese den politischen Herausforderungen unseres Landes Antwort klarmachen wollen, daß er von diesem Pa- nicht gerecht. Die Bundesregierung macht beim Auf- pier bau der neuen Bundesländer schwere Fehler und (Hans H. Gattermann [FDP]: Das er nicht schafft es nicht, die deutsche Einheit solide zu finan- kannte!) zieren. Der Haushalt zeigt: Diese Bundesregierung ist Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1929

Ingrid Matthäus-Maier wirtschaftspolitisch inkompetent und finanzpolitisch meiner Vorstellung von Politik gehört es, nicht von unsolide. Horrorzahlen zu reden. Ich sehe das gelassen. Ein Wir brauchen einen nationalen Aufbauplan für die Jahr lang haben mir die Union und die FDP vorgewor- neuen Länder, eine Finanzpolitik, die offen und ehr- fen, Horrorzahlen zu verbreiten. Die Zahlen zur deut- lich die Wahrheit sagt, und einen Bundesfinanzmini- schen Einheit vom letzten Jahr sind heute schon ster, der endlich die Kraft zu Einsparungen und zum Schönfärberei. Ich glaube, es gehört zur Ehrlichkeit in Subventionsabbau hat, damit die vor uns liegenden der Politik, die Wahrheit zu sagen. Aufgaben solide finanziert werden können. Herr Kollege Lüder, Sie sprechen von der Berliner Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. Bank. Diese hat ausgerechnet, durch einen Umzug bekommen wir 2,4 Milliarden DM mehr. Wissen Sie, (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ das ist ja eine tolle Milchmädchenrechnung. Herr GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Waigel, ich muß Sie ausdrücklich dafür kritisieren, Linke Liste) daß Sie diese wundersame Geldvermehrung bis heute noch nicht entdeckt haben. Wir ziehen nur ein paar- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer mal um, und damit bauen wir die Schulden des Staa- Kurzintervention hat der Abgeordnete Lüder. tes ab. So kann es ja nun nicht sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wolfgang Lüder (FDP): Frau Präsidentin! Frau Kol- der CDU/CSU) legin Matthäus-Maier hat sich in einem der Teile ihrer Rede, die sich nicht mit dem Haushalt befaßten, an- ders als der SPD-Sprecher, der gestern die Offenheit Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt der Kostenrechnung für eine Hauptstadtentscheidung der Abgeordnete Jochen Borchert. betont hat, wie ich es verkürzt sagen will, geäußert. Sie hat hier eine Steuererhöhungsvision dargelegt Jochen Borchert (CDU/CSU): Frau Präsidentin! und hat sich dabei auf allgemeine Behauptungen be- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach der zogen. Diskussion über die Hauptstadtfrage Berlin — Bonn Ich halte eine solche Äußerung für nicht tragfähig. lassen Sie uns zum Haushalt 1991 zurückkehren. Ich halte es für nicht ziemlich, wenn im Deutschen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bundestag eine Steuererhöhungsvision für den Fall dargelegt wird, daß der 12. Deutsche Bundestag das Wir haben für die Beratungen des Haushalts 1991 wiederholend beschließen würde, was vom 1. bis zum im Haushaltsausschuß nur fünf Wochen Zeit gehabt. 11. Bundestag hier Konsens war, nur weil wir es jetzt Für die gute Zusammenarbeit und die Unterstützung realisieren können. durch die Bundesregierung, den Bundesfinanzmini- ster, seinen Parlamentarischen Staatssekretär und alle Ich möchte insbesondere die Finanz- und Haus- haltspolitiker darauf hinweisen, daß die Berliner Bank Beamten des Hauses darf ich mich sehr herzlich be- in einem soliden Gutachten zu einer total abweichen- danken. Dies hat die Beratungen wesentlich erleich- tert. den Zahl kommt, auf die ich mich jetzt genausowenig stütze, wie sich andere auf andere Gutachten hier im In dieser kurzen Beratungszeit hat sich bei schwie- Plenum stützen können. Ich halte es für unsolide, daß rigen Erörterungspunkten auch das besondere Klima wir im Plenum darüber diskutieren, welche Zahlen im Haushaltsausschuß bewährt. Der Vorsitzende des gelten. Es ist aber ebenfalls unsolide, hier Horrorvisio- Ausschusses, Rudi Walther, und der stellvertretende nen darzulegen. Vorsitzende, Dr. Klaus Rose, haben die Verhandlun- Da Sie bei einem Hinweis auf den Bundesfinanzmi- gen immer fair geleitet. Die Kolleginnen und Kollegen nister gezeigt haben, daß Sie die gestrige „FAZ" gele- der SPD waren bereit, den Haushalt unter großem sen haben, möchte ich Ihnen den Hinweis geben, daß- Zeitdruck konzentriert und sachlich zu beraten. Die im Feuilleton, ein paar Seiten hinter dem Wirtschafts- ganz seltene Teilnahme der Gruppen Bündnis 90/ teil, ebenfalls gestern ein guter Artikel des früheren GRÜNE und PDS haben die Beratungen weder ge- Präsidenten Womit der Stiftung Preußischer Kulturbe- stört, noch haben sie die Beratungen beeinflußt. Beide sitz zur Hauptstadtfrage mit dem Tenor „Die Verle- Gruppen haben bei den Haushaltsberatungen im gung würde Bonn weniger zumuten, als Berlin schon Ausschuß keine Anträge gestellt. Dafür erleben wir lange hinnehmen mußte" steht. jetzt eine Flut von Anträgen in der zweiten Lesung. Es wäre sicher sachdienlicher gewesen, wenn wir diese (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ Anträge bei den Beratungen im Ausschuß hätten mit CSU und der SPD — Beifall beim Bündnis 90/ beraten können. GRÜNE) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der FDP) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Matthäus- Maier, möchten Sie antworten? Für das gute persönliche Klima und die gute sachli- che Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe der Koali- tion im Haushaltsausschuß möchte ich mich bei allen Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ich glaube, wir wer- bedanken, vor allem bei Wolfgang Weng und den Kol- den diese Debatte an einem anderen Tage fortsetzen leginnen und Kollegen der FDP. Ich finde, die gute können. Zusammenarbeit in der Koalition ist die Grundlage für Ich betone noch einmal — ich habe es nur angespro- die erfolgreiche Beratung des Regierungsentwurfs für chen — , Herr Esters hat mir gestern unter ausdrückli- den ersten gesamtdeutschen Haushalt, der ganz im cher Nennung meines Namens widersprochen. Zu Zeichen der Wiedervereinigung steht. 1930 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Jochen Borchert Dieser Haushalt ist durch folgende Kernaussagen unbestreitbar vorhandenen Schwierigkeiten müssen geprägt: auch Sie heute diesen kurzen zeitlichen Ablauf immer Erstens. Der Bundeshaushalt 1991 ist von außeror- wieder beachten. Ich meine, nur Phantasten konnten dentlichen Anstrengungen zur Überwindung der mehr und schnellere Ergebnisse erwarten. Wir haben schrecklichen Hinterlassenschaft von 40jähriger so- stets betont, daß die Einheit Deutschlands nicht zum zialistischer Mißwirtschaft gekennzeichnet. Zerfal- Nulltarif zu haben ist und auch nicht über Nacht zu lene Städte und Dörfer, schlechte Infrastruktur, ex- vollenden ist. Aber wir haben ebenso betont, daß sich treme Umweltbelastungen, verdeckte hohe Arbeitslo- durch die deutsche Einheit große Zukunftsperspekti- sigkeit und geringe Produktivität waren die Kennzei- ven für unser Land und für Europa ergeben. chen des früheren SED-Regimes. Wer wie die SPD heute beklagt, daß der Haushalt Zweitens. Mit dem Bundeshaushalt 1991 wird das 1991 erst nach der Wahl und damit zu spät einge- richtige Signal für die wichtigste innenpolitische Auf- bracht worden ist und erst jetzt beraten werden kann, gabe dieser Legislaturperiode gesetzt, nämlich die den muß man daran erinnern, daß die SPD im vorigen schrittweise Herstellung einheitlicher Lebensver- Jahr eine frühere Wahl verhindert hat hältnisse in ganz Deutschland. Drittens. Von dem Gesamtvolumen des Haushalts, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das sich nach Abschluß der Beratungen im Haushalts- und daß diese Blockadepolitik der SPD dazu geführt ausschuß auf rund 410 Milliarden DM beläuft, sind hat, daß wir wertvolle Monate für den Aufbau der mehr als 90 Milliarden DM einigungsbedingte Aus- neuen Bundesländer verloren haben. gaben. Sowohl auf der Ausgaben- als auch auf der Einnahmenseite schlägt sich das breite Bündel von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Maßnahmen zur schnellen Modernisierung und Sa- — Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ra nierung der neuen Bundesländer nieder. bulistik ist das!) Viertens. Die in den Eckwertebeschlüssen im No- Frau Kollegin Matthäus-Maier, in der Fernsehsen- vember 1990 als Obergrenze festgelegte Nettokredit- dung „Ich stelle mich" vom 28. April 1991 haben Sie aufnahme von 70 Milliarden DM konnte im Rahmen auf die Frage nach dem Karrierewunsch geantwortet: der Haushaltsberatungen mit 66,4 Milliarden DM Das, was ich jetzt mache, das würde ich gern weiter- deutlich unterschritten werden. Bei einer Nettokredit- machen. aufnahme von 66,4 Milliarden DM und Investitionen von 65 Milliarden DM konnte damit auch im Ausnah- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) mejahr 1991 die Grenze des Art. 115 des Grundgeset- zes beinahe eingehalten werden. Ich finde, vor allem nach Ihrer heutigen Rede, ist das eine realistische Einschätzung. Wir werden alles tun, Fünftens. Wir bekräftigen unsere Auffassung, daß damit dieser Wunsch in Erfüllung geht und Sie noch diese hohe Kreditfinanzierung 1991 nur vorüberge- lange finanzpolitische Spreche rin der Opposition blei- hender Natur sein darf und daß dies keine Abkehr von ben. unserer bewährten soliden Finanzpolitik ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sie Eine konsequente Ausgabenpolitik, die eine gemein- werden dabei nicht gefragt, Herr Kollege same Aufgabe aller öffentlichen Gebietskörperschaf- Borchert! — Dr. [CDU/ ten ist, erfordert, daß die Ausgabenzuwächse deutlich CSU]: Oder Hausfrau!) hinter der Zunahme gesamtwirtschaftlicher Leistun- gen zurückbleiben. Frau Kollegin, Sie haben heute erneut den Vertrag, Meine Damen und Herren, bei den Haushaltsbera- den ein Kollege mit der Treuhand abgeschlossen tungen standen wir auf Grund der Wiedervereinigung- hatte, angesprochen. Wenn Sie es nicht wissen, dann in diesem Jahr vor der besonderen Schwierigkeit, kei- möchte ich Ihnen hier sagen: Dieser Vertrag ist aufge- nerlei Vergleichsdaten aus dem Vorjahr zu haben. löst, und wir sollten das, glaube ich, gemeinsam zur Kenntnis nehmen und nicht immer wieder versuchen, (Unruhe) dies erneut hochzuspielen.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Darf ich vielleicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — In um eine Rücknahme der Geräuschkulisse bitten. grid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist gut! Das Sonst ist es für den Redner schier unmöglich, sich ver- war mir wirklich nicht bekannt!) ständlich zu machen. — Ich sagte: Wenn Sie es nicht wissen. Deswegen wollte ich es hier auch in aller Deutlichkeit sagen. Jochen Borchert (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau Meine Damen und Herren, im wiede rvereinigten Präsidentin. — Dabei haben wir sicherlich den einen Deutschland ist die Konjunktur tief gespalten. Die oder anderen Haushaltsansatz durchaus großzügig Wirtschaft in den alten Bundesländern ist mit anhal- bemessen, um von der finanziellen Seite her das Zu- tendem Schwung ins neunte Jahr des Aufschwungs sammenwachsen Deutschlands zu erleichtern. Man eingetreten. In der „Welt" von heute heißt es: muß sich auch bei den heutigen Beratungen immer wieder den Zeithorizont der deutschen Einheit vor ... so setzt sich damit eine neunjährige Auf- Augen führen. Seit elf Monaten haben wir die Wirt- schwungphase — davon drei Jahre Hochkon- schafts-, Währungs- und Sozialunion. Seit acht Mo- junktur — fort. Eine Entwicklung von derartiger naten ist unser Vaterland wiede rvereinigt. Trotz der Stetigkeit sah dieses Jahrhundert noch nicht. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1931

Jochen Borchert Meine Damen und Herren, dies ist ein Erfolg unserer wir heute wahrscheinlich kein vereintes Vaterland. Er konsequenten und soliden Wirtschafts- und Finanzpo- wollte diesen Prozeß doch sehr viel langsamer. Ihm litik. war das Tempo der Wiedervereinigung viel zu hoch. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Wenn die SPD beklagt, alles hätte schneller gehen Weng [Gerlingen] [FDP]: So ist es!) müssen, dann hätte die SPD im vergangenen Jahr ihre eigene Blockadepolitik aufgeben müssen und uns bei Unsere Politik der Erneuerung der Sozialen Markt- unserem Tempo unterstützen sollen. wirtschaft seit Herbst 1982 hat dazu geführt, daß wir auf die Einheit Deutschlands finanziell gut vorbereitet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) waren. Die SPD und Lafontaine haben die Chancen der (Zuruf von der SPD: Warum erhöhen Sie Wiedervereinigung zu spät erkannt und die Risiken dann die Steuern?) einer Verzögerung falsch eingeschätzt. Heute weiß jeder, daß der Bundeskanzler die historische Dimen- Die Frau Kollegin Matthäus-Maier hat heute immer sion richtig erkannt und die Chance zur Wiederverei- wieder sozialdemokratische Rezepte angepriesen. Ich nigung konsequent wahrgenommen hat. Ohne diese glaube, wir haben die Auswirkungen derartiger Re- konsequente Politik des Bundeskanzlers und der Bun- zepte bis 1982 gerade im finanzpolitischen Bereich desregierung könnten wir heute sicherlich keinen deutlich erlebt. Wir haben keine Sehnsucht nach einer Haushalt für ein wiedervereintes Deutschland in Fortsetzung solcher Rezepte. zweiter und dritter Lesung beraten. Wer weiß, ob die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Wiedervereinigung unter den heutigen weltpoliti- — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: schen Bedingungen überhaupt noch möglich wäre. Wir haben uns wenigstens gebessert, Mat- Ich finde es empörend, wie sich die saarländische thäus-Maier nicht!) SPD-Landesregierung heute verhält. In Bonn erklärt Denn es ist doch unstrittig, daß die finanziellen Mittel die SPD, der Aufbau in den neuen Bundesländern Ende 1982 als die Sozialdemokraten in der Regie- gehe nicht schnell genug voran; Frau Matthäus-Maier rungsverantwortung abgelöst wurden, nicht in dem beklagt wortreich, wir müßten mehr tun, es müßte Umfang zur Verfügung gestanden hätten, wie wir sie alles viel schneller gehen. Gleichzeitig wendet sich heute zur Verfügung stellen können. die Wirtschaftsförderungsgesellschaft des Saarlan- des im Auftrag der Landesregierung an die Indust rie Wir brauchen heute diese große wirtschaftliche Dy- und fragt — ich zitiere — : Ist Ihnen das Risiko zu groß, namik, um mit den Herausforderungen von mehr als in Ostdeutschland zu investieren? Ja? Dann sollten Sie 40 Jahren Sozialismus und dem sicher zunächst stei- fünf Minuten Ihrer Zeit opfern, damit ich Sie auf einen nigen Weg in die Soziale Marktwirtschaft fertigzu- Wirtschaftsstandort aufmerksam machen kann, das werden. Saarland. Ganz ohne Zweifel ist die Wirtschaft in den neuen (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Unver Bundesländern durch große Strukturanpassungs- schämtheit! — Weitere Zurufe von der CDU/ probleme gekennzeichnet. Die kurzfristige Umstel- CSU) lung von der Planwirtschaft auf eine Soziale Markt- wirtschaft, zu der es keine Alternative gibt, ist eine Hier wird die Doppelmoral der SPD-Regierung deut- große und geschichtlich einmalige Aufgabe. Wir müs- lich. In Bonn wird beklagt, daß alles viel schneller und sen den Schutt der sozialistischen Mißwirtschaft weg- besser gehen müßte, aber gleichzeitig wird vor den räumen. Völlig zu Recht schrieb die Deutsche Bundes- Risiken in den neuen Bundesländern gewarnt und bank in ihrem Geschäftsbericht 1990: dafür geworben, statt in den neuen Bundesländern doch lieber im Saarland zu investieren. Dies ist wirk- Die enormen Altlasten in Form von Strukturmän- - lich eine schlimme Doppelmoral, die hier praktiziert geln, insbesondere eines desolaten Zustandes wird. des Kapitalstocks, von Eigentumsproblemen und Umweltschäden beim Start in die neue Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — schafts-, Währungs- und Sozialordnung sind eine Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Das ist gar keine vom sozialistischen System hinterlassene Hypo- Moral!) thek, die jetzt abgetragen werden muß. Im Zuge der Haushaltsberatungen haben wir die Dies sind die rein ökonomischen Fakten, die ein Sy- Mittel aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost stem hinterlassen hat, von dem der saarländische Mi- in Höhe von 12 Milliarden DM — für 1992 sind eben- nisterpräsident Lafontaine im „Spiegel" am 13. Au- falls 12 Milliarden DM vorgesehen — in den Haushalt gust 1990 gesagt hat: 1991 eingearbeitet. Dies ist der entscheidende Grund dafür, daß das im Regierungsentwurf veranschlagte Die DDR war, bis die Mauer fiel, ein führendes Ausgabevolumen von knapp 400 Milliarden DM auf Industrieland. nunmehr rund 410 Milliarden DM angewachsen ist. Welch eine eklatante Fehleinschätzung der wirt- Im Rahmen dieses Gemeinschaftswerkes sind 5 Milli- schaftlichen Situation der DDR vor zehn Monaten! arden DM Investitionspauschalen an die Kommunen in den neuen Bundesländern, 2,5 Milliarden DM für (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Der Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnah- ganze Kandidat war eine Fehleinschät- men, 1,4 Milliarden DM für Verkehrsinfrastrukturin- zung!) vestitionen sowie 1,1 Milliarden DM für den Woh- Wir müssen uns dies immer wieder in Erinnerung ru- nungsbau und Wohnungsmodernisierung einge- fen. Wenn es nach Lafontaine gegangen wäre, hätten setzt. 1932 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Jochen Borchert Finanzielle Mittel für die neuen Bundesländer und Mit einer Nettokreditaufnahme von 66,4 Milliarden Kommunen sind jetzt in ausreichendem Umfang vor- DM für 1991 ist der Bund an die Grenze des Vertret- handen. Nunmehr kommt es darauf an, daß dort die baren gegangen. Eine noch stärkere Erhöhung der schnelle Umsetzung in Aufträge, Produktion, Arbeits- Nettokreditaufnahme hätte negative kapitalmarkt-, plätze und damit Einkommen für die Menschen er- zins-, stabilitäts-, konjunktur- und wachstumspoliti- folgt. sche Effekte gehabt. Bei allen Schwierigkeiten in den neuen Bundeslän- Die stark expansiv orientierte Finanzpolitik 1991 dern aber dürfen wir zwei Dinge nicht übersehen: bedeutet keine Abkehr von der seit 1982 erfolgreich Erstens. Wir haben mit unserer Politik, die im Bundes- praktizierten soliden Finanzpolitik. Von 1982 bis 1989 haushalt 1991 auf der Ausgabenseite, also in der stiegen die Ausgaben des Bundes jährlich um durch- Haushaltspolitik, und auf der Einnahmeseite, also in schnittlich 2,5 %. Dies war nur halb soviel wie der der Steuerpolitik, ihren Niederschlag findet, die Rah- durchschnittliche jährliche Anstieg des Bruttosozial- menbedingungen für den wirtschaftlichen Neuauf- produkts. Der Anteil der Nettokreditaufnahme des bau und die Vereinheitlichung der Lebensverhält- Bundes am Bruttosozialprodukt, der 1975 bei fast 3 nisse in Deutschland geschaffen. lag, konnte bis 1989 auf 0,8 % reduziert werden. Ebenfalls als Anteil am Bruttosozialprodukt gemes- Zweitens. Die SPD betätigt sich weiterhin als unver- sen, erreichte die Nettokreditaufnahme des Bundes besserlicher Miesmacher, aber ich meine, sie hat in- 1991 nur einen Wert von rund 2,5 %. Dies ist trotz der zwischen schlechte Farben für ihr Katastrophenge- geschichtlich einmaligen Aufgabe der Bewältigung mälde. Die Zeichen der Verbesserung werden immer der deutschen Einheit und der zusätzlichen internatio- dem ich von dieser sichtbarer. Professor Karl Schiller, nalen Belastungen weniger als die Neuverschuldung, Stelle aus noch einmal zu seinem 80. Geburtstag gra- die die SPD, gemessen am Bruttosozialprodukt, 1975 tulieren möchte, sagte kürzlich zur wirtschaftlichen ohne derartige Sonderbelastungen realisieren mußte. Lage in den neuen Bundesländern: Dies führte dazu, daß wir bis heute, bis zum Jahre Das Ganze ist überhaupt nicht mit dem Wort Ka- 1991, neue Kredite aufnehmen mußten, die aus- tastrophe zu bezeichnen; das ist völlig falsch. Das schließlich zur Bezahlung der Zinsen der Schulden ist eine Riesenaufgabe, die wir lösen können, die der SPD dienten. wir auch schaffen werden. Die Umstellung der (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist Wirtschaft in den neuen Bundesländern auf eine eine Lüge! — Widerspruch bei der CDU/ voll funktionierende Marktwirtschaft wird uns CSU) am Ende gelingen. — Herr Kollege, das haben wir schon häufig genug Bei diesem Zitat von Karl Schiller kann ich nur sagen: diskutiert. Ich empfehle der SPD erneut, doch einige Nachhilfe- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist stunden bei Karl Schiller zu nehmen. eine Lüge!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Niemand sollte aber übersehen, daß die hohe Kre- ditfinanzierung 1991 nur vorübergehender Natur sein Erste Erfolge des beginnenden Gesundungspro- darf. Die finanziellen Möglichkeiten des Bundes sind gramms in den neuen Bundesländern sollte inzwi- nicht unbegrenzt. Ich stimme den Wirtschaftsfor- schen auch die SPD zur Kenntnis nehmen. Seit der schungsinstituten zu, die in ihrem Frühjahrsgutach- Öffnung der Mauer gibt es über eine Million neuer ausgeführt haben: Arbeitsplätze. Seit Jahresbeginn liegt die Zahl der ten 1991 Gewerbeanmeldungen bei fast 300 000. Nach einer Bewältigen lassen sich die wirtschaftliche Verei- jüngsten Ifo-Untersuchung mehren sich auch in den nigung der beiden Regionen Deutschlands und neuen Bundesländern die Anzeichen einer Stabilisie- ihre Integration in die Weltwirtschaft nicht, wenn rung. Knapp 40 % der Befragten rechnen mit einem alle Beteiligten die Verantwortung immer wieder besseren Geschäftsklima im nächsten Halbjahr. Auch dem Staat zuschieben. bei der vielfach zu Unrecht gescholtenen Treuhand- (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Sehr anstalt sind Privatisierungsfortschritte zu verzeich- wahr!) nen. Die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ist (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Das ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund, alten und neuen aber reine Gesundbeterei!) Bundesländern und allen Kommunen. Eine konse- quente Ausgabenbegrenzung, bei der die Zuwächse Lassen Sie mich abschließend noch etwas zum mit- deutlich hinter der Zunahme der gesamtwirtschaftli- telfristigen Aspekt unserer Haushaltspolitik sagen: In chen Leistung zurückbleiben, ist das Markenzeichen dem ursprünglich vorgesehenen Finanzrahmen für unserer bisherigen erfolgreichen Finanzpolitik. Es den Bundeshaushalt 1991 von 70 Milliarden DM Neu- gibt keinen Grund, diese wachstums- und stabilitäts- konnten die gewaltigen und nicht vor- verschuldung orientierte Finanzpolitik für Gesamtdeutschland zu hersehbaren Belastungen des Bundes im internatio- ändern. nalen Bereich — Golfkrieg, Hilfen für Mittelost- und Südosteuropa — nicht aufgefangen werden. Ohne Mittelfristig müssen wir strenge Ausgabendisziplin Steuererhöhungen hätten diese zusätzlichen Anfor- walten lassen und die Nettokreditaufnahme deutlich derungen von 18 Milliarden DM in diesem Jahr zu verringern. Der Finanzplan weist hier für 1994 mit nicht vertretbaren Einschränkungen bei den Hilfen einer Nettokreditaufnahme von rund 30 Milliarden für die neuen Bundesländer geführt. DM den richtigen Weg. Um dieses Ziel zu erreichen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1933

Jochen Borchert werden wir an vielen Stellen von liebgewordenen Fi- derliche Toleranz gibt es viele hoffnungsvolle Zeichen nanzhilfen und Steuervergünstigungen Abschied — im Osten wie im Westen, in den alten und in den nehmen müssen. Bei dem von vielen Seiten immer neuen Bundesländern. Mauer und Stacheldraht sind wieder geforderten Subventionsabbau werden wir Vergangenheit. Eine gute Zukunft in Deutschland in Mut, Durchsetzungsvermögen und Standfestigkeit einem geeinten Europa hat begonnen. benötigen. Aber mit der Unterstützung der SPD wer- Mit dem Haushalt 1991 haben wir den richtigen den wir hier nicht rechnen können. Weg für das Zusammenwachsen Deutschlands einge- (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Leider!) schlagen. Wir stimmen dem Bundeshaushalt 1991 zu. Die SPD fordert den Subventionsabbau zwar immer lautstark, solange es nicht konkret wird. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das hätten wir nicht für möglich gehalten!) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Vielen Dank. Wenn es dann aber konkret wird, findet sie bei jeder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Position Einwände. Damit wird sie beim Subventions- abbau nicht hilfreich sein, sondern eher blockieren. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der Abgeordnete Dr. Wolfgang Weng. ordneten der FDP — Dr. Klaus Rose [CDU/ CSU]: Leider wahr!) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Frau Präsi- Ausdruck für die Fortsetzung unserer erfolgreichen dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Haushaltspolitik der 80er Jahre sind auch die Be- Nach Verabschiedung im Haushaltsausschuß debat- schlüsse zur mittelfristigen Entwicklung im Perso- tieren wir heute im Deutschen Bundestag über den Ich denke, die Koalitionsfraktionen haben nalbereich. Etat 1991, der in der Ausschußfassung ein Ausgaben- den richtigen Weg gefunden: Das kurzfristige Aufga- volumen von ca. 410 Milliarden DM vorsieht und des- benpensum kann erledigt werden. Mittelfristig ist sen politisch festgelegte Obergrenze von 70 Milliar- eine deutliche Reduzierung eingeleitet. den DM Nettoneuverschuldung um ca. 3,5 Milliarden Die Bundesregierung hat in ihrem Entwurf das Per- DM unterboten wird. Das heißt: Die geplante Netto- sonal bei den obersten Bundesbehörden gegenüber kreditaufnahme für das laufende Jahr beläuft sich auf 1989 um rund 23 % aufgestockt. Korrigiert man diese 66,4 Milliarden DM. Zahl um die Verfassungsorgane, die obersten Ge- Dieser Haushalt ist der erste gesamtdeutsche Etat richte, dann beträgt die Zunahme gut 20 %. Die Koali- nach der Wiedervereinigung. Wegen der Wiederver- tionsfraktionen haben beschlossen, diesen Aufwuchs einigung, wegen des Bundestagswahlkampfes und mittelfristig auf 10 % zu begrenzen, also zu halbie- wegen der Koalitionsverhandlungen sind wir erst jetzt ren. in der Mitte des Jahres in der Lage eine entschei- Die Umsetzung dieser Beschlüsse wird allerdings dungsreife Vorlage zu debattieren. Wer sich erinnert nur dann gelingen, wenn der Wegfall von Planstellen — ich sage das wegen der vorhin gehörten Ang riffe und Stellen, die im Haushalt 1991 für die Jahre bis der Opposition —, wie der Ablauf des vergangenen 1996 vorgesehen sind, strikt vollzogen wird und wenn Jahres gewesen ist, weiß, daß es hinsichtlich der Ver- sowohl Regierung als auch Parlament keine neuen tagung der Debatte über den Etat keine Hintergedan- Stellen bewilligen. ken gab. Es wäre völlig unmöglich gewesen, in der Phase zwischen Ende September 1990 und dem lau- (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Sehr fenden Bundestagswahlkampf während des Vollzugs gut!) der deutschen Einheit die beiden Etats zusammenzu- Eine vorübergehend höhere Zunahme ist notwen- ziehen und sie an Hand von Zahlen, die tragfähig dig, da der Bund für kurze Zeit Aufgaben zu überneh- gewesen wären, tatsächlich sorgfältig, ordnungsge- men hat, die eigentlich im Zuständigkeitsbereich der mäß zu beraten. Länder liegen. Dies ist politisch gewollt, um das Zu- (Beifall bei der FDP) sammenwachsen Deutschlands schneller voranzu- bringen. Mittelfristig ist jedoch der rasche und konse- Deswegen haben wir vertagt. Das ist eigentlich quente Abbau dieser nur kurzfristig bewilligten Stel- auch ein Beweis ordnungsgemäßen Haushaltens, wie len notwendig. Es bedarf gemeinsamer Anstrengun- wir es in der Koalition mit der CDU/CSU seit 1983 gen, diesen Weg bis 1996 durchzuhalten. praktiziert haben. Die Tatsache dieser Terminierun- gen spricht für sich. Deswegen laufen die Ang riffe der Meine Damen und Herren, das Geld für den Aufbau Opposition an dieser Stelle eindeutig ins Leere. der neuen Bundesländer ist zur Verfügung gestellt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gemeinsam müssen wir uns im Westen wie im Osten anstrengen, um gleiche Lebensbedingungen zu erar- Es ist also das erste Mal seit Bestehen der Koalition beiten. Auf dem Weg zur inneren Einheit Deutsch- zwischen CDU/CSU und FDP, daß der Etat mit Beginn lands müssen noch viele Hindernisse überwunden des Kalenderjahres noch nicht rechtskräftig gewesen werden. 40 Jahre sozialistischer Erziehung und In- ist. Diese Praxis soll sich wieder ändern. doktrination lassen sich nicht über Nacht überwin- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wird sich auch den. wieder ändern!) Es kommt jetzt darauf an, daß die Menschen aufein- Der Beschluß der Koalition bezüglich der Beratungen ander zugehen und Verständnis füreinander aufbrin- für das Jahr 1992 macht dies deutlich. Wir werden gen. Für das notwendige Verständnis und die erfor- schon ab September im Deutschen Bundestag über 1934 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) einen Regierungsentwurf für das folgende Jahr zu Fraktion — ich erinnere an ihre klare Haltung zur beraten haben, der schon im Juli von der Regierung Wiedervereinigung, an ihren konsequenten Einsatz erstellt werden wird. In diesem Zusammenhang sollte für den Fall der Mauer; Hans-Dietrich Genschers un- auch gesagt werden, daß allen damit befaßten Beam- vergessene Leistung steht hier für die FDP insge- ten aller Ministerien eine hohe Verantwortung zuge- samt — wird es an Unterstützung für die Erfordernisse kommen, aber auch eine hohe Aufgabenbelastung der Menschen im Osten nicht fehlen lassen. erwachsen ist. Parallel zur laufenden Beratung für das Jahr 1991 und zur Abwicklung mit all den Sonderpro- (Beifall bei der FDP) blemen dieses Jahres kam dann noch die Vorberei- So ist es kein Zufall, wenn — wesentlich durch den tung für 1992 hinzu. Für diesen besonderen Einsatz Bundeswirtschaftsminister Möllemann veranlaßt — in gebührt den hiermit befaßten Beamten ein ganz be- den ursprünglichen Regierungsentwurf noch das Ge- sonderer Dank. meinschaftswerk Aufschwung Ost eingearbeitet (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wurde, ein über zwei Jahre verteiltes 24-Milliarden- DM-Programm, das eine Soforthilfe für die dringend- In Kenntnis dieser Terminlage, aber auch in Kenntnis sten Belange im Osten beinhaltet. der engeren finanziellen Voraussetzungen und der geänderten Mehrheiten im Bundesrat geht mein drin- Meine Damen und Herren, wenn die finanzielle gender Appell an den Bundesrat, das Mögliche zu Ausstattung für ausreichend angesehen wird, so stellt tun, damit der Etat 1991 jetzt wenigstens schnellst- sich jetzt die Frage an die Menschen, wie sie den Start möglich in Kraft tritt. Hier darf es nicht zu einer De- ins gemeinsame Deutschland bewäl tigen. Pflicht der struktionshaltung kommen. Es darf nur die Ausnahme Politiker ist es, als Ansprech- und Gesprächspartner sein, daß der Finanzminister über einen so langen zur Verfügung zu stehen, für unser bewährtes System Zeitraum des Jahres im Zuge der vorläufigen Haus- Verständnis zu wecken, auch auftauchende Mängel haltsführung praktisch alleine über die Ausgaben des zu erklären, Mut zu machen und konsequent dort auf- Bundes entscheidet und das Parlament damit ohne zubauen, wo Aufbau Sache der Politik ist: öffentliche tatsächliche Mitwirkungsmöglichkeit in diesem wich- Verwaltung, öffentliche Infrastruktur, rechtsstaatliche tigen Politikbereich bleibt. Einrichtungen. (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Es war Diese neben den jetzt ja vorhandenen demokratisch doch ordentlich!) legitimierten Parlamenten im Osten wesentlichen Pfeiler eines funktionierenden Staatswesens haben — Herr Finanzminister, ob es bis hierher ordentlich immer noch großen Nachholbedarf, auch wenn es er- war, werden wir sehen, wenn die Abrechnung vor- sichtlich vorangeht. Ich will das auch aus eigenen liegt. Das wissen wir im Augenblick noch nicht. Wir Erfahrungen der vergangenen Woche sagen: Wenn unterstellen allerdings, daß die vorläufige Haushalts- man sich die Dinge in den neuen Bundesländern an führung ordentlich ist. Sonst wären wir nicht so ruhig Ort und Stelle vor Augen hält, sieht man, daß es vor- und gelassen. Dennoch können Sie aber relativ frei- angeht. Wenn man mit den Menschen spricht, dann händig agieren, während wir der Auffassung sind, daß hört man auch von vielen, daß sie dieses Vorangehen die parlamentarische Beratung und die gesetzliche sehen und daß sie daran Hoffnungen knüpfen — bei Festsetzung das Richtige sind, daß also das Parlament allen Schwierigkeiten, die im Augenblick noch beste- sein wesentliches Recht wahrnehmen soll. Hier sind hen und die sicher noch eine Zeit bestehen werden. wir eben auch auf die Abwicklung im Bundesrat an- gewiesen. Vieles von dem, was im ersten gesamtdeut- Meine Damen und Herren, mein Appell und meine schen Haushalt vielleicht noch nicht endgültig ausge- Bitte gehen deshalb von hier aus an die Menschen in reift erscheint, kann ja in der nächsten Beratung fast Gesamtdeutschland: Gehen Sie mehr als bisher ge- umgehend korrigiert und verändert werden. Hier ha- wohnt aufeinander zu! Zwei Gesellschaften in einem ben wir unsere Aufgaben fest vor Augen. Land kann und darf es nicht geben. Meine Damen und Herren, die FDP-Haushalts- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie gruppe hat im Haushaltsausschuß des Deutschen bei Abgeordneten der SPD) Bundestages engagiert an einem Etat mitgewirkt, der als wichtigste Aufgabe das klare innenpolitische Si- Nur — ich meine das auch wechselseitig gedacht — gnal beinhaltet, den Wiederaufbau in den neuen Bun- wenn die Menschen im Osten erkennen, daß es sich desländern zu bewältigen. Das, was in über 40 Jahren bei den Deutschen im Westen auch um ganz normale Unterdrückungsregime an menschlicher Substanz Leute handelt, dann wird das Gefühl der Gemeinsam- zerstört worden ist, kann nur langsam heilen. Die Er- keit wachsen. Ich sage: Sie können das auch umkeh- neuerung dessen, was an wirtschaftlicher Substanz ren. ruiniert ist, bedarf ebenfalls eines zeitlichen Vorlau- Meine Damen und Herren, wenn es zu DDR-Zeiten fes. Es wird einige Zeit vergehen, bis für die Bürger vielleicht naheliegend war, daß aus Angst vor Bespit- der neuen Bundesländer wenigstens angemessene zelung und polizeilicher Überwachung Ostdeutsche Lebensumstände hergestellt sind. Das, was hierzu im gleichen Lokal an einem anderen Tisch saßen als kurzfristig von der öffentlichen Seite finanziell gelei- Westdeutsche, dann muß dieses jetzt vorbei sein. Es stet werden kann, haben wir im Haushaltsausschuß muß gezielt überwunden werden. Mein Appell an die mit der Mehrheit der Koalition beschlossen. Daß ein Menschen: Gehen Sie aufeinander zu; dies ist ein weiter Weg vor uns liegt, bis wir menschlich wie wirt- wichtiger Beitrag zur staatlichen Einheit. schaftlich in Gesamtdeutschland die verfassungsmä- ßig vorgeschriebenen vergleichbaren Lebensbedin- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie gungen vorfinden, wissen wir. Aber gerade die FDP- bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1935

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost enthält beitsplätze in der freien Wirtschaft erhalten und schaf- als wesentliche Elemente direkte Investitionen und fen könnte. mit denen ein weitgehender Zu- Unterstützungen, (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans sammenbruch — man muß vielleicht fast sagen: ein Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]) noch weitergehender Zusammenbruch — des Ar- beitsmarktes in den neuen Bundesländern verhindert Dies wäre in doppelter Weise kontraproduktiv. werden soll. Die östliche Wirtschaft hat den Schock Eine weitere Feststellung: Arbeitsbeschaffungs- der Einführung der D-Mark einerseits, des Abbre- maßnahmen sind ein Notbehelf. Sie sind keine Lö- chens der damaligen Märkte in den östlichen Nach- sung, schon gar keine Dauerlösung für eine Volks- barländern andererseits nicht verkraften können, zu- wirtschaft — jedenfalls für eine gesunde Volkswirt- mal die erforderliche Modernität und Flexibilität der schaft. Deshalb wünscht sich die FDP den Abbau die- Industrie im wesentlichen nicht vorhanden war. Das ser Maßnahmen, sowie es die wirtschaftliche Entwick- war eine der wirklichen Täuschungen. Wir waren der lung im Osten wieder erlaubt. Überzeugung, daß hier tatsächlich ein moderner In- dustriestaat besteht. Das, was wir in diesem Bereich (Beifall bei der FDP) vorgefunden haben, sieht ja ganz anders aus. Ein massiver Einstieg geschieht bei den erforderli- chen Investitionsvorhaben im Verkehrsbereich. (Beifall bei Abgeordneten der FDP — Carl- 1,4 Milliarden DM für den Straßenbau und den öffent- Ludwig Thiele [FDP]: Konkursmasse!) lichen Personennahverkehr, und zwar zusätzlich zu Die strukturellen Probleme, aber auch die anfäng- den ohnehin geplanten Baumaßnahmen. Die Bundes- lich geminderte Handlungsfähigkeit der Treuhand- regierung und die sie tragende Koalition gehen auch anstalt taten ein übriges. Daß wir jetzt für das Jahr hier an die Bewältigung dringlicher Aufgaben heran. 1991 schnellstens fünf Milliarden DM als direktes Auch dies ist ein Bild, wenn man die neuen Bundes- kommunales Investitionsprogramm verfügbar ge- länder besucht. Man sieht, daß es hier vorangeht. Man macht haben, zeigt, daß wir hier einen wichtigen Not- sieht aber auch, daß noch zahlreiche Mängel bestehen nagel gesetzt haben. Die Gemeinden sind fast freihän- und auch noch eine Weile bestehen werden. dig dazu in der Lage, Handwerker zu beauftragen, Meine Damen und Herren, die Erfordernisse einer insbesondere Schulen, Krankenhäuser und Alten- modernen und auch mobilen Industriegesellschaft an heime zu bauen oder zu modernisieren. Wer sich die den Bau von Verkehrswegen müssen erfüllt werden, Situation der Bausubstanz in den neuen Bundeslän- ohne allerdings die in der Vergangenheit im Westen dern vor Augen hält, der weiß, welch massive Not- gemachten Fehler zu wiederholen. Die FDP-Fraktion wendigkeiten hier bestehen. hat deshalb frühzeitig — ich erwähne dies ausdrück- lich — an die Bundesregierung appelliert, beim öffent- Dazu kommt, daß ein solches Investitionsprogramm lichen Straßenbau mehr Rücksicht auf die Umwelt zu eine Sofortbeschäftigung vor allem im mittelständi- nehmen, als dies im Westen in den früheren Jahren schen Bereich bedeutet, einem Bereich, der während der Fall war. Die wunderschönen Alleen in den neuen der sozialistischen Kommandowirtschaft fast völlig Bundesländern dürfen nicht sinnlos abgeholzt wer- ruiniert worden war und dessen Aufbau im Sinne ei- den, denn hier ist Erhaltenswertes. Ich bin sicher, daß ner ausgewogenen Wirtschaftsstruktur ein auch die notwendigen Lösungen auch dann gefunden wer- staatspolitisch wichtiges Ziel ist. den können, wenn man diese Erhaltenswerte beste- hen läßt. Meine Damen und Herren, gerade die Ausgewo- genheit zwischen kleinen, mittleren und großen Be- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) trieben hat die gute Situation in der alten Bundesre- Die notwendige Renovierung und der Ausbau des publik wesentlich verursacht. Eine vergleichbare - Schienennetzes der Reichsbahn müssen auch den Be- Struktur wird zukünftig auch östlich der Elbe sinnvoll langen Rechnung tragen, nicht allzu viele Güter von sein. der Schiene auf die Straße zu verlagern; denn wo wir im Westen noch stärker daran arbeiten müssen, den Das kommunale Investitionsprogramm mit einem Transportweg Schiene besser auszubauen und auch Volumen von 5 Milliarden DM soll nur in diesem Jahr besser auszunutzen, so ist im Osten eine gegenläufige 1991 eingesetzt werden. Wir hoffen — wir müssen Entwicklung notwendig. Aber gerade für Massengü- hoffen — , daß die Gebietskörperschaften ihre Auf ga- ter und für etwas größere Wegstrecken soll die ben danach im wesentlichen selbst erfüllen können. Schiene eine bevorzugte Alternative bleiben. Umfangreiche zusätzliche Ausgaben sieht das Ge- Meine Damen und Herren, ein großes Finanzvolu- meinschaftswerk bei den Arbeitsbeschaffungsmaß- men fließt in den Wohnungs- und Städtebau: 700 Mil- nahmen vor. Mit zusätzlich 2,5 Milliarden DM im lau- lionen DM für die dringlich erforderliche Modernisie- fenden Jahr werden öffentliche Einrichtungen darin rung und Instandsetzung, 200 Millionen DM zusätz- unterstützt, Menschen zu beschäftigen, die sonst ohne lich für die Städtebauförderung, aber auch 200 Millio- Arbeit wären. Die riesige Menge an notwendigen öf- nen DM zur Unterstützung der Privatisierung kommu- fentlichen Arbeiten gibt einen breiten Bereich von naler Wohnungen. Einsatzmöglichkeiten. Einen Hinweis allerdings, der Den Deutschen Mieterbund verstehe ich in diesem auch eine gewisse Mahnung beinhaltet: Die Gemein- Zusammenhang überhaupt nicht. den sollten die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Beschäftigten natürlich nicht da einsetzen, wo eine (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Der wird ja Auftragsvergabe an Handwerk und Mittelstand Ar- auch von einem Sozialdemokraten geführt!) 1936 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Meine Damen und Herren, wenn er den Mietern da- Jahren Steuermehreinnahmen nach Steuersenkun- von abrät, ihre Wohnungen günstig zu erwerben und gen erzielt haben und daß das Ziel eines möglichst damit Eigentümer zu werden, dann müssen bei ihm geringen Staatsanteils nicht aufgegeben werden die politischen Scheuklappen schon außerordentlich darf. eng angelegt sein. Gerade das Eigentum an Wohnung ermöglicht den Menschen ein großes Maß an Unab- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hängigkeit bei der Gestaltung des eigenen Lebens- Die Deutsche Bundesbank, bei der Personalände- raums und dazu die Sicherheit bezüglich der eigenen rungen für eine gewisse Unruhe gesorgt haben vier Wände. — eine Unruhe, die in der Politik, glaube ich, nicht (Beifall bei der FDP) begründet ist — , ist für uns Garant einer stabilen Währung. Diese stabile Währung ist Voraussetzung Denjenigen, der hiervon abrät, wohl in der fälschli- für ein vorbildliches Sparverhalten der deutschen Bür- chen Erwartung, daß die Betroffenen als Mieter mehr ger. öffentliche Mittel erwarten könnten, den bezeichne ich als engstirnigen Ideologen. Meine Damen und Herren, der Konsumverzicht un- serer Bürger, der sich in diesem Sparverhalten aus- (Beifall bei der FDP) drückt, wäre ohne diese Stabilität nicht mehr gewähr- Die zusätzlichen Aufwendungen für die Wirt- leistet. schaftsförderung will ich nur beiläufig erwähnen, zu- (Beifall bei der FDP) mal wir noch in der Aussprache über den Etat des Wirtschaftsministers über eine Vielzahl wirtschaftli- Gerade dieser Konsumverzicht ist es aber, der uns in cher Fördermaßnahmen in den neuen Bundesländern der Sondersituation dieses Jahres nach der deutschen auch mit Blick auf die Förderung des Mittelstandes Einigung in die Lage versetzt, die Kapitalmärkte kurz- werden debattieren können. Erwähnung aber sollte fristig mit einer außerordentlich hohen Beanspru- finden, daß wir in großem Maße für die Ausbildung chung durch die öffentlichen Hände zu belasten. der jungen Menschen in den neuen Bundesländern (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) zusätzlichen Einsatz leisten. Der Hochschulbau erhält zusätzliche Bundesmittel in Höhe von 200 Millionen Die Stabilität der Deutschen Mark im internationa- DM. Die betriebliche Ausbildung wird massiv geför- len Vergleich zeigt, daß wir auf dem richtigen Weg dert, und auch überbetriebliche Ausbildungsstätten sind. Ich meine, auch die Zinssituation zeigt, daß wir entstehen in großem Umfang. In der jetzigen Situation auf dem richtigen Weg sind. muß alles getan werden, um für die jungen Menschen (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: So ist Ausbildungsmöglichkeiten zu bieten. das!) (Beifall bei der FDP) Wer sich vor Augen hält, in welchen Höhen sich der Sollte die Zahl der Ausbildungsplätze auch weiterhin Zinssatz in — ich sage das einmal — schon in ganz nicht ausreichen, muß politische Flexibilität in zusätz- normalen Zeiten der alten Bundesrepublik bewegt lichen Bereichen einsetzen. hat, der muß sagen: Der augenblickliche Zinssatz ist Erstens. Ausbildungsfähige und ausbildungsbereite nicht erschreckend hoch. Ich meine vielmehr, daß die Meister müssen auch dann Ausbildungsberechtigun- Bundesbank im Augenblick, aber auch die internatio- nalen Kapitalmärkte die Regierungspolitik, die von gen erhalten, wenn nicht alle westlichen Formalien erfüllt sind. der Koalition getragen wird, als richtig erkannt haben und entsprechend flankieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, es kann keine Gewähr dafür geben, daß die politischen Vorgaben, die wir Zweitens. Im äußersten Fall muß auch flankiert wer- uns gemacht haben, ausreichend sind. Aber wer den den, daß die zahlreichen freien Ausbildungsplätze im Ablauf der deutschen Einigung einerseits und wer die Westen als Angebot für junge Menschen im Osten jetzige Situation andererseits kritisiert, der muß nicht verfügbar gemacht werden. nur sagen, daß er alles besser gemacht hätte. Wir (Beifall bei der FDP) haben hier von Frau Matthäus-Maier wieder den mo- dellhaften Oppositionsvortrag bekommen. Da, wo Ich sage dies auch mit Blick auf eine offensichtlich Mehreinnahmen geplant sind, erklärt man seinen gewisse Radikalisierung unter den jungen Menschen Ausstieg schon vorab. Da, wo Einsparungen gemacht in den neuen Bundesländern, die im Westen leider werden sollen, ist man selbstverständlich dagegen. traurige Vorbilder haben. Nichts wäre schlimmer als eine Generation von Menschen, die ohne Ausbildung (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das stimmt und — dann in der Konsequenz — ohne angemessene doch gar nicht!) Arbeit ihr Erwachsenendasein beginnt. Dann gibt man noch lauthals die Erklärung ab, daß die (Beifall bei der FDP) Verschuldungspolitik selbstverständlich des Teufels sei. Wir wissen, wo der richtige Weg liegt. Wir werden Der Haushaltsausschuß hat in seinen Beratungen diesen Weg ganz konsequent fortsetzen. Wir wissen, auf der Einnahmenseite die Steuereingänge einbezo- daß die Öffentlichkeit ein gutes Gespür dafür hat, wo gen, denen die neueste Steuerschätzung zugrunde falsche Versprechungen gemacht werden und wo liegt. Auf der Basis erforderlich gewordener Steuerer- eine klare Kursbestimmung besteht. höhungen nehmen die staatlichen Einnahmen natür- lich zu. Aber wir wissen, daß wir in den vergangenen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1937

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Es hilft nicht, zu sagen, man hätte alles besser ge- noch einmal betont — , daß es nicht das Tempo ist, das macht. Das hilft schon deswegen nicht, weil der Weg wir kritisiert haben, auch nicht die Wirtschafts-, Wäh- bis heute ja so beschritten ist und Räder nicht zurück- rungs- und Sozialunion? gedreht werden können. (Zurufe von der CDU/CSU) (Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Leider, — Das habe ich heute morgen doch ausdrücklich ge- leider!) sagt. Wir haben sie sogar erfunden. — Wollen Sie bitte Ich bin aber auch der Überzeugung, daß es zum Ab- zur Kenntnis nehmen, daß wir kritisiert haben, wie Sie lauf des vergangenen Jahres keine Alternative gab, es gemacht haben, nämlich mit einer schlechten (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Eigentumsregelung, mit nicht vorhandener Struktur- politik und ohne steuerliche Begünstigung von priva- wenn man die deutsche Einheit und damit die persön- ten Investitionen? Wollen Sie bitte zur Kenntnis neh- liche Freiheit von 16 Millionen Deutschen östlich der men, daß Sie da Fehler gemacht haben? Es geht nicht Elbe tatsächlich wollte. um das Ob, sondern um das Wie. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aber zu Ihrer Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Frau Kolle- Wirtschaftspolitik gab es eine Alternative!) gin Matthäus-Maier, nach bestimmten Entwicklun- Bei aller Finanzdiskussion, Frau Kollegin Matthäus- gen zu sagen, daß an irgendeiner Stelle Fehler ge- Maier, darf der Aspekt nicht vergessen werden, daß macht worden sind, ist einfach. Die Frage, was gewe- die Menschen von einer unglaublichen Unterdrük- sen wäre, wenn es anders gemacht worden wäre, kung befreit worden sind. Ich meine, die Höhe unse- kann ja nicht beantwortet werden. Aber gut, wir ha- res Finanztransfers in die neuen Bundesländer zeigt, ben das immer in dem Rollenspiel: Die Opposition daß wir nicht nur zur Starthilfe, sondern zur massiven versucht, Schwachstellen herauszustellen, auch in der Flankierung des dortigen Aufbaus bereit sind. Es ist laufenden Debatte. eine akademische Frage, ob eine andere Wirtschafts- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dafür sind politik besser gewesen wäre. Der beschrittene Weg wir ja da!) war der richtige, und wir müssen die Konsequenzen des beschrittenen Weges weiter voranschreitend lö- Sie ist ja an dieser Stelle nicht in der Verantwortung. Aber bei der deutschen Einigung waren Sie mit in der sen. Verantwortung und haben entsprechend dieser Ver- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aber man antwortung dem Einigungsvertrag zugestimmt, der kann doch für die Zukunft lernen! — Gegen- alle diese Elemente mit beinhaltete. Sich daraus jetzt ruf von der CDU/CSU: Das ist Ihnen unbe- nach dem Motto zu verabschieden „Wir haben immer nommen, Frau Matthäus-Maier!) gewarnt" , ist Oppositionshaltung, sie hilft aber nicht Wenn Sie sagen, die Dinge wären von Ihnen besser weiter. gemacht worden, dann müssen Sie sich an folgendes (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) erinnern — in dieser schnellebigen Zeit mit ihren viel- fältigen Ereignissen geht das manchmal etwas verlo- Herr Abgeordneter ren —: Die Zahl der Menschen, die aus der damaligen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Weng, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des DDR nach Öffnung der Grenze abgewandert sind, Abgeordneten Seifert? also die Zahl der Menschen, die dort keine Hoffnung mehr gesehen haben, wäre nach meiner festen Über- zeugung ohne die Einführung der D-Mark und ohne Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Wenn es die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion höher dabei bleibt, daß meine sowieso knappe Redezeit da- gewesen. durch nicht beansprucht wird, Frau Präsidentin — ich wollte eigentlich die Position unserer Fraktion zum (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das habe ich Haushalt darlegen —, gerne. doch gar nicht kritisiert!) Die DDR wäre total zusammengebrochen. Die Men- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Sie sehen, daß die schen wären dort nicht mehr geblieben. Insofern gab Zeit steht. es keine Alternative. Natürlich haben Sie dies letzt- endlich in den Konsequenzen kritisiert. Einen ande- ren Weg als den beschrittenen gab es vernünftiger- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Die Uhr weise nicht. steht, Frau Präsidentin, nie die Zeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Heiterkeit)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Die Uhrzeit steht. — Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter Herr Seifert. Weng, gestatten Sie ein Zwischenfrage der Abgeord- neten Frau Matthäus-Maier? Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Ich staune, daß Sie über mangelnde Redezeit reden. Aber das wollte ich Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Wenn es mir jetzt nicht sagen. auf die Redezeit, Frau Präsidentin, tatsächlich nicht Welchen Unterschied sehen Sie in der Abwande- angerechnet wird, gern. rung von Menschen aus der DDR vor der Währungs- union und jetzt? Die Zahlen von Abwanderern sind ja Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Weng, wollen kaum gesunken. Die fehlen doch nach wie vor dort Sie bitte zur Kenntnis nehmen — das habe ich heute drüben, oder? 1938 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Es gibt jetzt weil die Kollegen mit einer scherzhaften Bemerkung keine offiziellen Zahlen mehr, wie es sie vorher gab. zum Klatschen animiert wurden. Die Frage, ob die Zahlen so geblieben sind, kann ich deswegen nicht beantworten. Ich sehe keinen prinzi- (Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Das war piellen Unterschied, wenn jetzt Menschen die neuen auch scherzhaft!) Bundesländer verlassen. Mein Appell von dieser — Wenn bei der SED, Herr B riefs, irgend etwas Stelle aus ist vor und nach der Einigung immer wieder scherzhaft war, dann würde ich Ihnen raten, dorthin an die Menschen gegangen, sich darauf zu verlassen, zurückzugehen. daß wir beim Aufbau helfen werden, und ihre Chan- cen an Ort und Stelle zu nutzen. Dies geschieht u. a. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — mit dem Etat, den wir heute zur Abstimmung vorle- Rudi Walther [SPD]: Aus Holland kommt er! gen. — Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Wolfgang, mach ruhig weiter! — Heiterkeit) (Beifall bei der FDP) — Immer dann, wenn man es etwas unterhaltsamer Wir helfen in eklatantem Maße beim dortigen Aufbau. gestaltet, gibt es das Problem, daß einem nachher die Ich appelliere auch an die Menschen im Westen, sich Zeit für die Aussagen fehlt, die man eigentlich noch zu überlegen — ich habe das gestern in der Debatte machen wollte. zum Justizetat gesagt —, in den Osten zu gehen und sich dort anzusiedeln. Es gibt zwar im Augenblick Ich will abschließend darauf hinweisen, daß die Be- noch ein Gefälle. Aber ich hoffe, daß mit unserem ratungsatmosphäre im Haushaltsausschuß erneut Haushalt und unseren Bemühungen dieses Gefälle eine sehr gute war. Ich glaube, auch die Opposition eingeebnet wird. Der Wunsch ist, daß die Menschen — die SPD-Kollegen; andere Oppositionsgruppierun- dort bleiben sollen. Was ich gerade zur Frage der Aus- gen haben nicht stattgefunden — war sich der Tatsa- bildungsmöglichkeiten und der Unterstützung der che bewußt, daß wir mit dem Etat 1991 den Versuch Ausbildungsmöglichkeiten ausgeführt habe, zeigt, einer Positionsbestimmung unternommen haben, der daß wir alles Erforderliche, was von öffentlicher Seite viele Unwägbarkeiten und viel Unvorhergesehenes mit Finanzen getan werden kann, dafür tun, daß die beinhaltet. Menschen dort bleiben können. Da der Haushalt praktisch erst zur Jahresmitte in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Kraft gesetzt wird, werden wir im Herbst bei den Bera- Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Sie wer- tungen des Haushalts 1992 Gelegenheit haben, Kor- den weiter vor Ihrer Politik davonlaufen!) rekturen vorzunehmen. Ich bin aber sicher und sage voraus, daß wir mit den Erfahrungen dieses ersten —Die Frage, ob die Leute eher vor mir oder vor Ihnen gesamtdeutschen Haushalts für 1991 ein gutes parla- davonlaufen, Herr B riefs, will ich lieber hier nicht stel- mentarisches Fundament geschaffen haben. Ab 1992 len. werden wir wieder im stärkeren Maße eine Kontrolle (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der der Regierung und auch parlamentarische Gestal- CDU/CSU) tungsfähigkeit und -möglichkeit durch den Haushalt erreichen. Die europäische Integration schreitet fort. Wir wis- sen, daß bei manchen Partnerländern die Fragen der Ich hoffe sehr, daß die Entwicklung in den neuen Geldwertstabilität nicht so gesehen werden wie bei Bundesländern positiv ist und zu einer gesamtdeut- uns. Deshalb bleibt die FDP-Fraktion bei allem Ver- schen Entwicklung führt, die geordnete öffentliche ständnis für den Wunsch nach schnellen Fortschritten Finanzen ermöglicht. in der europäischen Einigung der Auffassung, daß Die Arbeitsatmosphäre im Ausschuß war — ich eine gemeinsame europäische Währung eine ver-- habe es bereits gesagt —, wie gewohnt, gut. Ich danke nünftige Angleichung der Volkswirtschaften voraus- hierfür auch den SPD-Kollegen. Ich danke aber um so setzt und daß die Stabilität einer solchen Währung mehr den Kollegen der CDU/CSU-Haushaltsgruppe, unverzichtbare Forderung ist. — Da wollte ich eigent- mit Jochen Borchert an der Spitze, für kollegiale Zu- lich gerne einen Applaus der FDP-Fraktion im Proto- sammenarbeit in Vorbereitung und Sacharbeit. Ich koll sehen. danke sehr meinen jetzt vier Mitstreitern in der Haus- (Heiterkeit — Beifall bei der FDP) haltsgruppe der FDP. — Vielen Dank. Ich hoffe, das Protokoll hat auch (Zurufe von Abgeordneten der FDP: „-in den Applaus des Finanzministers mit verzeichnet; nen" ! — Heiterkeit) denn man weiß ja, daß sich nicht immer alle einig sind. — Mitstreiterinnen, Mitstreitern — da muß die deut- An dieser Stelle ist es mir doch wichtig, daß Einigkeit sche Sprache noch irgend etwas Besseres erfinden; besteht. denn bei „MitstreiterInnen" kommt das großgeschrie- (Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Das war bene „I" akustisch nicht herüber. Es wird niemand auch bei der SED; auch da gab es die Claque, einen Zweifel daran haben, daß ich die Damen hier in Herr Weng! — Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: ihrer Arbeit mindestens so positiv bewe rte wie die Sie müssen es ja wissen! — Heiterkeit) Herren, die an meiner Seite mitkämpfen. — Ich habe den Zwischenrufer nicht genau identifi- Ich danke den Mitarbeitern des Ausschusses und zieren können. Aber wenn er von seiten der PDS kam, ebenso den Beamten der Ministerien sowie dem Bun- dann sollte er nicht dem frei gewählten deutschen desrechnungshof für die vielfältige Unterstützung Parlament Claque in irgendeiner Form vorwerfen, und — last not least — dem Vorsitzenden des Haus- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1939

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) haltsausschusses, Rudi Walther. Für seine schwere Eine gewisse Kurskorrektur in der Arbeitsweise der Arbeit unsere Verbundenheit! Treuhandanstalt kam viel zu spät. Zunächst ging es (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der nur um Liquidation. Es sollte und soll sicherlich noch SPD) immer alles beseitigt werden. „Sanieren" war ein Fremdwort. Doch das kostet enorm viel und bringt auf In der Überzeugung, mit dem Bundeshaushalt 1991 lange Sicht keine Einnahmen. auf dem richtigen Weg zu sein, stimmt die FDP-Frak- tion dem Etat in der Ausschußfassung in zweiter Le- Wir erkennen durchaus die Bemühungen auch die- sung zu. ses Haushalts im Sozialbereich an. Nur: Prophylaxe im Bereich der Erwerbstätigkeit ist viel sinnvoller, so- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wohl in finanzieller Hinsicht für den Staatshaushalt als auch vor allem für die Betroffenen selbst. Die PDS/Linke Liste setzt sich deshalb für einen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der Grundforderungen an eine solida- Abgeordnete Dr. Fritz Schumann das Wort. Haushalt ein, der rische Gesellschaft für jede Bürgerin und jeden Bür- ger gerecht wird. Man kommt nicht umhin, das von der Bundesregierung vorgelegte Finanzierungskon- (Kroppenstedt) (PDS/Linke Li- Dr. Fritz Schumann zept für den Haushalt 1991 als unsozial zu werten. ste): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zumindest stellen die Bürgerinnen und Bürger einige Dieser erste gesamtdeutsche Haushalt kann nicht die Fragen, die — das ergibt sich wenigstens aus meiner einfache Erweiterung des bisherigen Haushalts sein, Tätigkeit im Wahlkreis — von der Bundesregierung sondern er verlangt geradezu auch nach einer neuen nicht beantwortet wurden bzw. wo die Antworten Qualität im Ansatz und in den Einzellösungen. Dabei nicht die Zustimmung der Wählerinnen und Wähler ist uns auch klar, daß dieser Haushalt Kosten tragen fanden. muß, die als Altlasten aus der ehemaligen DDR über- nommen wurden und die vor allem — neben der völlig Die Beitragspflichtigen in der Arbeitslosenversiche- anderen Wirtschafts- und Finanzstruktur — aus der rung wurden mit der Erhöhung der Beiträge zur Ar- uneffizienten Wirtschaft der ehemaligen DDR herrüh- beitslosenversicherung mit einem Sonderopfer bela- ren. stet. Wo bleibt soziale Gerechtigkeit, wenn die Gruppe von Menschen, die vom Verlust des Arbeits- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wohl platzes bedroht sind, ihr eigenes Risiko selbst tragen wahr!) muß? Wo bleibt da die Fürsorge der Gesellschaft? Nur sind wir der Meinung, daß diese Bundesregie- rung vor allem in den ersten Ansätzen nichts dazu Zugleich ist es doch in höchstem Maße sozial unge- getan hat, die Kosten der Einheit dadurch zu begren- recht, daß Besserverdienende, die in den alten Bun- zen, daß ein vernünftiger, in Etappen und auf der desländern über der Beitragsbemessungsgrenze von Grundlage von Analysen vollzogener wirtschaftlicher 6 500 DM liegen, anteilig viel geringer belastet wer- Anschluß gesteuert wurde. den. Die durchschnittlich verdienenden Arbeitneh- mer zahlen ab 1. Ap ril die bekannten 1,25 % mehr für Herr Borchert hat vorhin die SPD und namentlich die Arbeitslosenversicherung, die mehr als 6 500 DM Oskar Lafontaine dafür kritisiert, daß er vor zehn Mo- Verdienenden vielleicht nur 1 % und bei höherem naten die ehemalige DDR zu den zehn größten Indu- Einkommen noch weniger. Bestimmte Gruppen wie striestaaten gerechnet hat. Herr Dr. Weng hat gerade Freiberufler werden zu einer Beteiligung überhaupt gesagt, daß Sie dieser Täuschung erlegen seien. Nun nicht herangezogen, obwohl es sich ohne Zweifel um will ich hier nicht untersuchen, inwieweit sich die FDP eine Aufgabe handelt, die die gesamte Gesellschaft von der SPD in diesen Fragen beraten läßt; mich be- berührt. Wo bleibt da soziale Gerechtigkeit? wegt viel mehr, daß Warnungen von Wirtschafts- und Finanzexperten aus Indust rie, von Banken und aus Sozial gerechter wäre die Rücknahme der Erhö- der Wissenschaft von einer führenden Partei in den hung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und Wind geschlagen wurden. Damit, daß Warnungen von dafür die Erhebung einer Arbeitsmarktabgabe für Wissenschaftlern in den Wind geschlagen werden, Besserverdiendende ab einem Monatseinkommen haben wir nun wieder einige Erfahrung. von 6 500 DM. (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Li- Die Ergänzungsabgabe auf die Lohn-, Einkommen- ste — Jochen Borchert [CDU/CSU]: Sagen und Körperschaftsteuerschuld von 7,5 % konzentriert Sie das der SPD deutlich!) die Belastung auf die Bezieher niedriger Einkommen. Die Steuerentlastung bei den Arbeitnehmereinkom- Die Vernichtung von Wirtschaftszweigen und In- men in den alten Bundesländern wird dadurch mehr dustrien, das radikale Abschneiden des Osthandels als rückgängig gemacht. Eine sozial gerechtere Lö- und vieles andere haben die Kosten der Einheit erhöht sung wäre die Einführung von Freigrenzen für die und das ohnehin vorhandene wirtschaftliche Chaos in Erhebung des Zuschlags zur Einkommensteuer- der ehemaligen DDR verschlimmert. schuld, nämlich von 50 000 DM für Alleinstehende Das alles hat natürlich zur Folge, daß viel mehr Geld — entsprechend höher für Alleinerziehende — und gebraucht wird. Ich werde im Anschluß über soziale von 100 000 DM für Verheiratete. Gerechtigkeit bei der Verteilung der Lasten sprechen. (V o r sitz : Vizepräsident ) Ich sehe eine prinzipielle Grundlage auch da rin, Ver- antwortung dafür zu tragen, Kosten in jeder Hinsicht Es wäre sozial gerechter, wenn die im letzten Jahr zu begrenzen und damit einen Solidarbeitrag für alle stark, auf jeden Fall stärker als die Einkommen der zu leisten. Beschäftigten gestiegenen Gewinne der Unterneh- 1940 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) men zur Finanzierung der zusätzlichen Aufgaben im Zusammenhang mit der Einheit Deutschlands erziel- Zusammenhang mit der Vereinigung herangezogen ten zusätzlichen Gewinne. Gemeint ist eine Anleihe würden. Um sich einer sozialen Symmet rie auch nur mit Zeichnungspflicht für Banken, Versicherungen anzunähern, wäre eine Erhöhung des Zuschlags auf und vor allem für Handelsketten sowie eine Investi- die Körperschaftsteuerschuld der Kapitalgesellschaf- tionshilfeabgabe durch die gewerbliche Wirtschaft ten von 7,5 % auf 10 To vorzunehmen; das wäre sozial der alten Bundesländer zugunsten von Investitionshil- gerechter. fen in den neuen Bundesländern. Selbst die Bezieher von Sozialeinkommen werden Wir unterstützen die Forderung sozial benachteilig- durch die Erhebung spezieller Verbrauchsteuern be- ter Bürgerinnen und Bürger nach einem gerechteren lastet. Andererseits wird über die Senkung der Unter- Haushalt 1991. In der reichen Bundesrepublik nehmensteuern im Zusammenhang mit der Abschaf- Deutschland ist das möglich. Wir sind dafür, erstens fung der Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer in mehr für die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu tun, den alten Bundesländern nachgedacht. Die Aussage damit Menschen über Erwerbstätigkeit ein selbstbe- des Finanzministers über eine künftig mögliche stimmtes Leben führen können, und zweitens die Ko- Mehrwertsteuererhöhung macht deutlich, wie mit sten für die Schaffung verbesserter Lebensverhält- der Steuerpolitik der Bundesregierung die soziale nisse in den neuen Bundesländern nicht über höhere Einkommenspolarisierung verschärft werden soll. Steuern und Abgaben den bereits jetzt sozial Benach- teiligten aufzuerlegen, sondern in erster Linie die Ge- Die Erhöhung der Mineralölsteuer ab 1. Juli 1991 winner aus der deutschen Einheit daran zu beteiligen. soll sozial flankiert werden mit der Erhöhung der Kilo- Drittens ist es dringend geboten, Wohnungsnot zu meterpauschale. Aber wie ist es um die Menschen mit beseitigen und in den neuen Bundesländern keine schweren Gehbehinderungen bestellt? Vor allem im entstehen zu lassen. ländlichen Raum, in dem der Personennahverkehr nicht so gut entwickelt ist, ist ein Umsteigen von pri- vaten auf öffentliche Verkehrsmittel nicht ohne unzu- mutbare Einschränkungen möglich. Es wäre sozial Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, Ihre notwendig, den Schwerbehinderten mit einem jährli- Redezeit ist abgelaufen. chen Ausgleichsbetrag aus den zusätzlichen Mineral- (Zuruf von der CDU/CSU: Sofort aufhören!) ölsteuereinnahmen zu helfen, um eine bessere Nut- zung von Kraftfahrzeugen zur beruflichen und gesell- schaftlichen Integration zu ermöglichen. Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Li- Auch beim Wohnen wird der Staat den neuen An- ste): Vielen Dank, Herr Präsident. Ich bin bei meinem forderungen an sozial verträgliche Lösungen nur un- letzten Satz. zureichend gerecht. Das trifft nicht nur auf die neuen Dies sollte geschehen, indem die Erhöhung der Bundesbürger zu, auch wenn in den neuen Ländern Mieten, so wie versprochen, nur in Abhängigkeit von hinsichtlich der Ausstattung und der Werterhaltung der Einkommensentwicklung erfolgen darf. von Wohnungen sehr vieles im argen liegt. Der der- Herr Präsident, wenn Sie gestatten, möchte ich eine zeitige soziale Wohnungsbau genügt den Anforde- Bemerkung zum PDS-Vermögen machen, weil das in rungen der Wohnungssuchenden nicht. Der Weg über der Debatte eine Rolle spielt. den freien Wohnungsbau geht wieder einmal zu La- sten der sozial Schwachen. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Da sind wir gespannt! — Dr. Wolfgang Weng [Gerlin Während es auf der einen Seite sozial Schwachen gen] [FDP]: Er soll es rüberbringen!) oft auch nur an der einfachsten Mindestsicherung fehlt, gibt es auf der anderen Seite großen Reichtum. — Wenn ich es hätte, würde ich es gerne bringen. Sozial gerecht wäre z. B. eine Abschöpfung der Ge-- — Ich persönlich sage dazu, daß uns das Vermögen, winne aus Bodenspekulation und Steigerung der Bo- das wir von der SED als Erbe übernommen haben, nur denpreise sowie eine höhere Besteuerung der ruhen- belastet und geschadet hat, daß es uns nichts genutzt den Vermögen. hat. Was die Frage der Verantwortung anbelangt, die Subventionen werden gekürzt. Die Bürgerinnen wir als Erbe übernommen haben, so glaube ich schon, und Bürger in den neuen Bundesländern trifft das ins- daß es wichtig ist, daß es Leute gibt, die dazu stehen. besondere bei Mieten, bei Energie- und Verkehrstari- Es gibt bei den Blockparteien ohnehin genügend fen. Wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, muß im Leute, die als neugeboren gelten und die keine Ver- Gegensatz zur angekündigten linearen Kürzung der antwortung tragen wollen. Subventionen eine zielgerichtete Durchforstung der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen im Unter- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das stimmt! nehmenssektor erfolgen. Nach einer DIW-Untersu- Aber das Geld sollten sie trotzdem rausrük chung hat der Unternehmenssektor 1989 Hilfen und ken!) Vergünstigungen in einem Umfang von 86,4 Milliar- Ich glaube, darüber sollte man sich auch einmal unter- den DM erhalten. Darüber sollte man nachdenken. halten. Nach unserer Meinung sind weiterhin Maßnahmen Was das Vermögen anbelangt, so hat die PDS, auf der Tagesodnung, welche die Reichen und die rechtlich gesichert, 95 % ihres Vermögens zur Verfü- Vermögenden in diesem Lande an den Kosten für die gung gestellt. Herr Gysi hat hier und auch an anderer Schaffung vergleichbarer Arbeits- und Lebensbedin- Stelle öffentlich erklärt — auch schriftlich — , daß Ver- gungen beteiligen, zumindest im Rahmen ihrer im mögen, wenn sie irgendwo im Ausland entdeckt wer- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1941

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) den, sofort der Treuhand zur Verfügung gestellt wer- Bundesratspräsident Voscherau dazu beigetragen den, da wir darüber keine Kenntnis haben. hat, (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer es (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr rich glaubt, wird selig! — Dr. Wolfgang Weng tig!) [Gerlingen] [FDP]: Seitdem ist er abge- aufgegriffen werden sollten und es verdienen, ver- taucht!) folgt zu werden. Uns bewegt in dem Zusammenhang, Frau Kollegin Matthäus-Maier, daß bis heute das abgetretene Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge mögen eben nicht eingesetzt werden kann für den ordneten der FDP und der SPD) Aufbau, für ökologische Maßnahmen, für die Sanie- Danach, Frau Kollegin Matthäus-Maier, wurde es rung der Wirtschaft, weil es blockiert wird. Dafür trägt leider wieder langweilig, enttäuschend: das gleiche die PDS die Verantwortung nicht. Ritual, (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von (Zuruf von der CDU/CSU: Immer das der SPD: Aber Herr Modrow!) selbe!) leider auch immer wieder Unterstellungen. Bei Ihnen Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Bundes- taucht sehr oft das Wort „ehrlich" auf. minister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist immer ver (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: dächtig!) CSU, Herr Präsident!) Sie sollten es allerdings nicht permanent mit Unter- stellungen, mit Beleidigungen anderen gegenüber verbrämen. Sie können sagen „Die anderen machen Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: eine falsche Politik. ", aber ständig anderen Unehr- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und lichkeit, Lüge und anderes mehr zu unterstellen, das Herren! verrät ein schlechtes Gewissen Ihrerseits, Sie haben (Erwin Horn [SPD]: Herzlich willkommen!) nicht das Recht, das zu tun. — Vielen Dank für den Gruß. Herzlich willkommen — (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) daran sieht man, wie sich die SPD auf den Finanzmi- Sie haben kritisiert, dieser Haushalt werde verspä- nister freut. tet beraten. Natürlich hätten wir ihn auch lieber früher (Heiterkeit im ganzen Hause — Zurufe von beraten. Sie hätten eine Beratung früher haben kön- der CDU/CSU: Wir auch, Herr Minister!) nen, wenn Sie dem Wahltermin 14. Oktober 1990 zu- Ich habe mich auf den Tag auch gefreut — strahlen- gestimmt hätten. der Sonnenschein — und habe mir in der Früh' über- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — legt: Wie wird die Frau Kollegin Matthäus-Maier Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ kommen? Ich hatte ein schickes blaues Kostüm erwar- CSU]: Ein halbes Jahr haben wir verloren!) tet. Das rote ist aber auch nicht schlecht. Es ist etwas schwarz eingefärbt. Wenn wir in den dramatischen Jahren 1990 und 1991 den Haushalt noch vor Mitte des Jahres verab- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Blau!) schieden können und damit in dem Zeithorizont sind, Sie hatten auch einen guten Beginn. Sie haben auf den sozialdemokratische Finanzminister bei insge- die friedliche Revolution, auf die Wiedervereinigung samt 13 Haushalten zwölfmal so praktiziert haben, verwiesen, darauf, daß wir alle daran Freude hätten. dann haben Sie kein Recht, uns vorzuhalten, daß wir Das war richtig, hat Beifall verdient. Dann haben Sie den Haushalt der deutschen Einheit erst im Juni 1991 sich vom Kollegen Conradi leider ein bißchen aus dem - in zweiter und dritter Lesung beraten. Konzept bringen lassen. Das war schade, weil man die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diskussion über die Hauptstadt ernster und tiefer füh- ren muß und diese Frage nicht nur en passant abhan- Außerdem haben wir auch hier die notwendigen deln kann. Vorkehrungen getroffen. Durch die Verpflichtungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ermächtigungen im Nachtragshaushalt noch des ver- Zuruf von der SPD: Das werden wir auch gangenen Jahres waren alle Ausgaben, die getätigt tun!) werden mußten, möglich. Schneller kann man eine Verwaltungsvereinbarung eigentlich nicht schließen, Man kann sie auch nicht mit nur einer Zwischen- als wir es bei der Investitionspauschale für die Kom- frage abhandeln. Vielmehr sind — wir werden uns munen getan haben. Am 28. Februar 1991 haben wir dazu ja auch die Zeit nehmen — die Glaubwürdigkeit, uns auf der Konferenz mit den Ministerpräsidenten die Geschichte, die Kosten, auch die Auswirkungen geeinigt, und am gleichen Tag wurde die vorbereitete auf die Menschen und die Effizienz der Verwaltung Verwaltungsvereinbarung bereits unterzeichnet. (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr rich- Keinen Gefallen haben Sie sich damit getan, Frau tig!) Kollegin Matthäus-Maier, daß Sie nochmals 15 Milli- ganz entscheidende Fragen, um die wir uns kümmern arden DM für Herrn Modrow gefordert haben. Das müssen. Hier spreche ich nur für mich: Wir sollten hätte ich an Ihrer Stelle schon aus taktischer Sicht alles tun, um eine vernünftige, auch die Funktion ge- nicht mehr getan. Einem Mann, von dem heute fest- währleistende Lösung, einen Konsens zu finden. Ich steht, wie verhängnisvoll auch seine Zeit für Deutsch- meine, daß die Gedankenelemente, die gestern der land war und was er alles an schlimmen Dingen auch 1942 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Bundesminister Dr. Theodor Waigel in dieser Zeit für die Menschen in der DDR getan hat, damals gerade waren — zusätzliches Geld in die 15 Milliarden DM hinzuschieben, in ein korruptes, Hand zu drücken? verrottetes System, das gar nicht mehr in der Lage (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — gewesen wäre, 15 Milliarden DM sinnvoll auszuge- Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was keiner ben, das sie möglicherweise nur in die Abdeckung wollte!) von Zahlungsbilanzproblemen gesteckt hätte — da- mit haben Sie sich keinen Gefallen erwiesen. Ich meine, es war richtig, die Milliarden zu diesem Zeit- punkt nicht zu geben, sondern sie später in vielfacher Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Höhe in den Aufbau der Demokratie und der Sozialen Ich bedanke mich, Herr Kollege Weng, für diese Marktwirtschaft zu stecken. Frage, die genau dargestellt hat — das müßte zwi- schenzeitlich jeder wissen, auch die SPD —, daß es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der falscheste Weg gewesen wäre, damals Geld zur Verfügung zu stellen. Es war richtig, es anschließend Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, ge- den gewählten Demokraten zu geben, um ihnen die statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mat- Hilfe beim Wideraufbau ihres Landes zu gewähren. thäus-Maier? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Dann hat Frau Kollegin Matthäus-Maier wieder die Bitte schön. alte Platte bezüglich Entschädigung und Rückgabe aufgelegt. Sie wissen doch, daß das im Rahmen des Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Bundesfinanz- Möglichen längst geklärt, längst gelöst ist. Daß es hier minister, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß Zielkonflikte gibt, werden Sie doch nicht bestreiten. ich heute morgen eindeutig wiederholt habe — ich Nur, wenn Sie so für eine schnelle Entschädigung habe ja die Reden vor einem Jahr gehalten —, sind, warum wollen Sie es dann bei den SPD-Zeitun- (Zuruf von der CDU/CSU: Dieselbe!) gen, den früheren SPD-Zeitungen oder möglichen daß es nicht darum ging, Herrn Modrow Geld über SPD-Zeitungen, anders? den Tisch zu schieben, sondern daß es darum ging, (Beifall bei der CDU/CSU) frühzeitig im Jahre 1990 die öffentliche Infrastruktur- Warum wird dort geklagt? Warum werden einstwei- planung in Gang zu setzen, weil man weiß, daß das lige Verfügungen, die Wiedereinsetzung in den vori- Wochen dauert mit der Folge, daß überhaupt erst ein gen Stand beantragt? Wichtig ist doch, daß investiert demokratisch gewählter Regierungschef eine Mark wird. Wichtig ist, daß Arbeitsplätze geschaffen wer- gesehen hätte und Herr Modrow nicht einmal den. Dem nützen Sie durch Ihre Klage nicht. 50 Pfennige bekommen hätte? Die eigene Politik muß schon in sich stimmig sein. Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Man kann nicht hier auftreten und etwas fordern und Erstens war Herr Modrow dazu gar nicht in der Lage, vertreten, was man in einem anderen Bereich — was und zum zweiten wäre es auch politisch der falsche ich nicht zu kritisieren habe — völlig anders prakti- Weg gewesen, diesem Altkommunisten einen Riesen- ziert. Ehrlich muß man sein. vorteil noch vor den Volkskammerwahlen zukommen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — zu lassen. Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Ehrlich blei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ben!) Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Er hätte kei- Was den Treuhandauftrag anbelangt: Das Lesen nen Vorteil bekommen!) des Gesetzes befreit von Irrtümern. In diesem steht nämlich genau, daß neben der Privatisierung selbst- Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesfinanzmini-- verständlich auch die Sanierung und die Strukturpoli- ster, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des tik eine Rolle spielen. Abgeordneten Weng? Sie haben die Grundwertekommission zitiert und dabei eine Passage gebracht — ich zitiere aus dem Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Bitte schön; auch weil er vorhin so gut gesprochen Gedächtnis — : „Wer sich aus guten Gründen für hat. die rasche Einigung entschied, ... " Frau Kollegin Matthäus-Maier, hätte es eine langsamere Einheit (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) überhaupt gegeben? Das ist doch die Frage. Ich glaube, die Chance für die Einheit gab es nur wenige Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP) : Herr Mini- Wochen und Monate. Wir haben sie, Gott sei Dank, ster, erinnern Sie sich — und damit vielleicht auch die genutzt. Einen Weg der langsameren Einheit hätte es Öffentlichkeit — daran, daß die letzte DDR-Regierung nicht gegeben. Darum war unsere Politik richtig und ihr von der Bundesregierung zur Verfügung gestellte Ihre zögerliche damals unter Lafontaine falsch. Mittel in großem Maße nicht für die vorgesehenen Zwecke eingesetzt, sondern zweckentfremdet hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) — beispielsweise die Einnahmen aus der Straßenbe- Ihre Behauptung in bezug auf die Steuerlüge wird nutzungsgebühr, die zum Straßenbau eingesetzt wer- durch Wiederholung nicht wahrer. Sie wissen ganz den sollten — , daß jede Menge Mittel nicht wieder genau, daß wir bis in den Januar dieses Jahres hinein auffindbar in Kanälen versickert sind und es insoweit keine Steuererhöhungen geplant haben und daß wir sicher nicht sinnvoll gewesen wäre, dem SED-Re- auch keine durchgeführt hätten, wenn nicht die ande- gime, der SED/PDS — ich weiß nicht genau, was sie ren Lasten auf uns zugekommen wären; Lasten, die es Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1943

Bundesminister Dr. Theodor Waigel uns nicht ermöglicht hätten, in diesem Jahr 12 und im Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: nächsten Jahr wieder 12 Milliarden DM für das Auf- Das nehmen Sie aber sofort zurück! bauwerk in den fünf neuen Bundesländern zur Verfü- (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und gung zu stellen. In dieser Abwägung haben wir uns der FDP) für diesen schwierigen, unbequemen Schritt entschie- den. Ich meine, man kann es auch gut begründen. Es Joachim Poß (SPD): Ich wollte Sie im Zusammen- ist zumutbar, und es ist ein solidarisches Opfer, das hang mit dem Ihnen bekannten Thema der Steuer- unter diesen Umständen auch alle Deutschen tragen lüge fragen, was Sie von der Äußerung von Herrn können. Wilhelm, CDU Rheinland-Pfalz, halten, der nach Flugbenzin, Wehrdienstnovelle und Steuererhö- hungsdebatte vor einer Fortsetzung der Legende der Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, der Abgeordnete Seifert möchte gerne eine Zwischen- Lügen warnt. frage stellen. Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Ach, wissen Sie, wir führen hier eine Bundestagsde- Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Minister, da batte und nicht eine Landtagsdebatte in Rheinland- Sie jetzt schon von der Erhöhung von Steuern spre- Pfalz. chen, frage ich Sie: Warum besteuern Sie die kleinen (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das hat Leute und nicht die Spekulationsgewinner? Das sind er auf einem Kreisparteitag gesagt!) doch die wahren Gewinner der Einheit. Vizepräsident Hans Klein: Jetzt folgt eine Zwi- schenfrage des Kollegen Horn. Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Beim Solidaritätszuschlag Erwin Horn (SPD): Herr Minister, ich glaube, man (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: O Gott!) könnte der gesamten beg rifflichen Auseinanderset- werden genau diejenigen am stärksten besteuert und zung aus dem Wege gehen, wenn Sie das einmal vor mit dem Opfer bedacht, die am meisten verdienen. dem Parlament sagen würden, was Ihr Kabinettskol- (Zustimmung bei der CDU/CSU) lege Möllemann draußen gesagt hat, nämlich: Wir haben uns verschätzt, wir haben uns geirrt, und dar- Das ist ein sehr angemessenes leistungsbezogenes aus sind dann eben so schwerwiegende Konsequen- und, wie ich meine, auch sozial verträgliches Opfer, zen gefolgt. das wir von jedem verlangen. Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, ge- Herr Kollege Horn, jeder muß selber kommentieren, statten Sie auch noch Zwischenfragen der Kollegen wie er zu dem steht, was er vor einem Jahr gesagt hat. Poß und Horn? Ich habe vor einem Jahr gesagt: Ich kenne die Kosten, die entstehen, nicht. Ich weiß nicht, wieviel es sein wird. Da können Sie kritisieren, daß ich das hätte wis- Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: sen müssen. Ich bin aber weder ein Hellseher noch Es wird jetzt allmählich ein bißchen viel. Aber, Herr konnte mir das jemand sagen. Poß, Ihnen gestatte ich eine Zwischenfrage natürlich (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Im Novem gerne. Ich hoffe jedoch nicht, daß die Fragen vorher ber!) im Finanzministerium formuliert worden sind. Sie ver- fügen über gute Mitarbeiter aus dem Finanzministe- Wenn ich damals gesagt habe, ich weiß nicht, was es rium. 1991 oder 1992 kostet, dann kann ich auch jetzt nicht - sagen, ich habe mich wegen dieser Aussage geirrt. Ich (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der FDP und hoffe, daß Sie mich verstehen können. der SPD — Zuruf von der SPD: Trauen Sie Ihren eigenen Leuten nicht?) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD — Dr. Cornelie Sonntag- — Ich habe auf den Wunsch der Fraktion hin selbst- Wolgast [SPD]: Das nehmen Sie aber sofort verständlich hochqualifizierte Leute aus dem Finanz- zurück! — Horst Jungmann [Wittmoldt] ministerium an die SPD abgestellt, weil sich, wenn [SPD]: Sie haben sich nicht sachkundig ge qualifizierte, gelernte Steuerleute bei Ihnen arbeiten, macht!) viel Unfug in der Steuerpolitik vermeiden läßt. Nun noch zur Mehrwertsteuer. Was Sie, Frau Kol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- legin Matthäus-Maier, hier gesagt haben, ist schlicht- ordneten der FDP — Ing rid Matthäus-Maier weg falsch. Sie wissen ganz genau, daß wir immer für [SPD]: Aber die gab es doch schon bei Matt- den Mindeststeuersatz 14 % oder für die Bandbreite höfer! — Weiterer Zuruf von der SPD: Er hat 14 bis 18 % oder 14 bis 20 % eingetreten sind. Sie wis- gerade noch einmal die Kurve gekriegt!) sen auch, daß es bereits auf den letzten Sitzungen des Ecofin-Rates sehr starke Bestrebungen gab, auf 15% Joachim Poß (SPD): Herr Minister, wir stimmen darin überein, daß die Qualität der Mitarbeiter des (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Oder auf Finanzministeriums durchweg gut ist, was man von 16%!) Ihrer möglicherweise nicht durchgängig behaupten oder auf 16 % zu gehen. Wir haben uns dem bei der kann. letzten Sitzung nicht angeschlossen. 1944 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Zwischenzeitlich hat die Luxemburgische Ratsprä- Wenn Ihnen die Behandlung des Falles Schalck sidentschaft — Luxemburg ist neben Spanien das ein- Golodkowski nicht gefällt, dann setzen Sie sich mit zige Land, das beim Normalsatz noch unter unserem Ihrer Genossin, der sozialdemokratischen Justizsena- Mehrwertsteuersatz liegt — selber vorgeschlagen, auf torin von Berlin, in Verbindung, die, wie ich glaube, 15 % zu gehen. Glauben Sie denn, daß wir in dieser das Notwendige, Mögliche unparteiisch tut, um die- Situation als einziges Land dabei bleiben könnten? sem Fall gerecht zu werden und die Sachen zu verfol- Mit Sicherheit nicht. gen, wenn sie verfolgt werden können. Unabhängig davon — das will ich klipp und klar (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wir setzen ei sagen — haben wir bereits im Februar gesagt, daß für nen Untersuchungsausschuß ein!) 1993 auch aus unseren Interessen heraus eine Erhö- — Selbstverständlich. Aber bisher jedenfalls liegt die hung der Mehrwertsteuer notwendig, sinnvoll und Sache in den Händen einer sozialdemokratischen Ju- zumutbar ist; eine Mehrwertsteuererhöhung übri- stizsenatorin. Ich glaube nicht, daß Sie Frau Limbach gens, die alle sozialdemokratischen Finanzminister in dem Zusammenhang tadeln wollen. und -senatoren wollen. Zum Teil haben sie es offen gesagt, zum Teil haben sie es mir unter vier Augen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nein, habe bereits gesagt. ich nicht die Absicht!) Ich habe auch Verständnis dafür, daß die alten Län- Noch ein Wort zum Fonds-Vorwurf: Auch das war der für einen Teil dessen, was sie vor allen Dingen nicht besonders originell. Der Sonderfonds Deutsche jetzt, im Jahre 1991, für die neuen Bundesländer auf- Einheit war, wie wir wissen, zwischen Bund und Län- wenden, auch teilweise refinanziert werden wollen. dern der einzige Weg zur gemeinsamen Finanzie- Es ist auch ein Beitrag zur Neufestsetzung der Finanz- rung. Er ist verfassungsrechtlich, haushaltsrechtlich beziehungen zwischen Bund und Ländern, das wis- und ordnungspolitisch vertretbar. Der Kreditabwick- sen Sie ganz genau. Es wird, jedenfalls nach unseren lungsfonds ist zeitlich befristet bis Ende 1993. Er ver- Vorstellungen, beim verminderten Steuersatz bleiben teilt dann die Schulden, deren Verteilung jetzt zwi- — das ist eine ganz bewußte soziale Komponente —, schen Bund, Ländern und Kommunen noch nicht auch wenn der Normalsatz erhöht wird. möglich ist. Die hälftige Zinserstattung erfolgt durch Bund und die Treuhand, und die Zinsen sind selbst- Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang dann verständlich im Haushalt ausgewiesen. Es gibt hier noch etwas sagen. Was Sie im Zusammenhang mit kein Versteckspiel. gesagt haben, ist weit unter Schalck-Golodkowski Daß nicht die ganze Wirtschaft der früheren DDR Ihrem Niveau, Frau Kollegin Matthäus-Maier. Wenn beim Staat, beim Bund bleibt, sondern über die Treu- Sie von Schalck-Golodkowski als einem Spezi von handanstalt abgewickelt wird, war doch eigentlich Franz Josef Strauß sprechen, dann ist das eine boden- auch unser Wille. Wir wollten, daß diese Wirtschaft lose Unverschämtheit, entflochten, privatisiert, dezentralisiert wird. Insofern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- glaube ich auch, daß diese Organisationsform — bei ordneten der FDP) aller Kritik im Einzelfall — die richtige war. dann ist das eine Gemeinheit einem Menschen ge- Allgemeinpolitisch — aber das wird sich ja noch genüber, der sich als Toter dagegen nicht mehr weh- morgen zeigen — und finanzpolitisch hat die SPD bis- ren kann und von dem die Menschen in den neuen her keine Alternative dargestellt. Bundesländern wissen, daß er gerade in den letzten (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr Jahren viel für sie getan hat, daß er viel dafür getan richtig!) hat, daß Menschen geholfen worden ist, Selbstschuß- Und es wird in der Außen- über die Sicherheits- bis anlagen abgebaut worden und viele Erleichterungen zur Finanzpolitik mehr notwendig sein, als sich an der in Gang gesetzt worden sind, die es vorher nicht gege-- eigenen Pfeifentasche wie an einem archimedischen ben hat. Ich weise diese Unterstellungen zurück. Punkt festzuhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Joachim Poß [SPD]: Na! Na!) ordneten der FDP) wie das bisher bei Björn Engholm — ich sage das trotz SPD-Politiker, FDP-Politiker, CDU-Politiker und aller persönlichen Sympathie — der Fall ist. Ich als CSU-Politiker mußten in dieser Zeit, ob ihnen das Pfeifenraucher darf das wohl durchaus sagen. gepaßt hat oder nicht, mit Machthabern der ehemali- gen DDR sprechen, um die Folgen der Teilung erträg- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und lich zu gestalten und Menschen zu helfen. der FDP — Joachim Poß [SPD]: Was haben Sie gegen Pfeifenraucher?) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dafür haben — Gar nichts. Ich sagte es doch gerade als Pfeifenrau- Sie uns kritisiert!) cher, obwohl ich das Rauchen etwas eingeschränkt Ich weiß nicht, mit wem Sie alles gesprochen haben. habe, aber nicht wegen der Erhöhung der Tabak- Ich weiß, mit wem ich gesprochen habe, und ich brau- steuer, sondern aus anderen Gründen. che mich keines Gesprächs zu schämen. Darum soll- (Rudolf Purps [SPD]: Ihnen fehlt der archime ten Sie diese versteckten, verdeckten und unehrli- dische Punkt!) chen Unterstellungen nicht mehr weiter pflegen. Meine Damen und Herren, der Bundeshaushalt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- 1991, über den wir in dieser Woche abschließend be- ordneten der FDP) raten, ist die überzeugende Antwort auf die Heraus- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1945

Bundesminister Dr. Theodor Waigel forderungen der deutschen Einheit und auf unsere Die finanzpolitische Stabilität ist trotz dieser riesi- internationalen Verpflichtungen. Er enthält die Per- gen Herausforderung nicht gefährdet. Die Wiederver- spektiven, die heute die Menschen in ganz Deutsch- einigungsaufgabe hat das wirtschafts- und finanzpoli- land wieder haben, Perspektiven der Freiheit, des tische Gleichgewicht unseres Staates zu keinem Zeit- wachsenden Wohlstands und der sozialen Gerechtig- punkt gefährdet. Wir sind trotz der einmaligen histo- keit. Es ist ein Haushalt der Einheit. Die vorüberge- rischen Herausforderungen im Rahmen dessen ge- hende Unterscheidung in einen Abschnitt A und ei- blieben, was in früheren Jahren bereits für gemein- nen Abschnitt B für das Beitrittsgebiet ist aufgehoben; schaftliche Aufgaben aufgebracht wurde. auch das ein Zeichen der wachsenden Einheit, die Die Nettokreditaufnahme beläuft sich im Bundes- sich in allen Bereichen von Wirtschaft, Staat und Ge- haushalt 1991 auf 66,4 Milliarden DM. Damit wird im sellschaft vollzieht. Jahr nach der deutschen Einheit ein geringerer Anteil Im Zusammenhang mit der deutschen Einheit der Bundesausgaben durch Kredite finanziert als z. B. mußte die Verabschiedung des Bundeshaushalts auf im Jahre 1975, als es um die vergleichsweise gerin- das Frühjahr verschoben werden. Ich habe dazu vor- gere Aufgabe der Bewältigung der ersten Ölpreiskrise her das Notwendige gesagt. ging. Auch ich möchte nicht versäumen, den Kolleginnen Wichtig ist, noch folgendes festzuhalten: 1991 ist die und Kollegen des Haushaltsausschusses für ihre her- Nettokreditaufnahme fast vollständig durch die Inve- vorragende Arbeit zu danken. Trotz des engen Zeit- stitionsausgaben von 65 Milliarden DM gedeckt. Wer rahmens haben sie mit gewohnter Sorgfalt und Sach- hätte es für möglich gehalten, daß wir im Jahre 1991 kunde jede einzelne Position durchleuchtet. kaum mehr Schulden machen, als Investitionen im Bundeshaushalt vorhanden sind, d. h. Art. 115 des (Joachim Poß [SPD]: Darauf kommen wir noch einmal zurück!) Grundgesetzes nur tangiert wird, obwohl jeder, mit Sicherheit auch das Bundesverfassungsgericht, in ei- Ich glaube, es gibt nur wenige Bereiche, in denen die ner solchen Situation Verständnis für ein Ungleichge- parteiübergreifende Zusammenarbeit so gut funktio- wicht, d. h. für die Inanspruchnahme der Sonderrege- niert wie gerade im Haushaltsausschuß des Deut- lung nach Art. 115 gehabt hätte? Dies beweist, wie schen Bundestages. Ich möchte mich auch beim Vor- stabil unsere Finanzplanung und unsere Finanzpolitik sitzenden und bei allen — — auch in bezug auf die Nettokreditaufnahme im Ver- (Rudolf Purps [SPD]: Das große Lasso!) hältnis zu den Investitionsausgaben sind. — Entschuldigung, was heißt denn da „großes (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lasso"? Es muß doch möglich sein, den Respekt ge- Allein im Jahre 1991 stehen für die deutsche Einheit genüber der Kollegialität zum Ausdruck zu bringen, 100 Milliarden DM im Bundeshaushalt zur Verfü- die hier stattfindet. gung. Wenn die Ministerpräsidenten der neuen Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) desländer von einer ausreichenden Finanzausstat- tung sprechen, dann kann uns hier mit Sicherheit nie- Die Verwirklichung der deutschen Einheit ist eine mand Versäumnisse vorwerfen. Insgesamt investie- parteiübergreifende Aufgabe. Selbstverständlich ha- ren die öffentlichen Haushalte einschließlich Bahn ben Regierung und Opposition in einer solchen Aus- und Post in diesem Jahr 50 Milliarden DM im Beitritts- einandersetzung unterschiedliche Rollen zu spielen, gebiet. Einschließlich der privaten Investitionen er- wie es die demokratischen Regeln vorsehen. Aber lei- gibt sich im Jahr 1991 eine volkswirtschaftliche Inve- der hat es in der SPD wenig Ansätze zu einer kon- stitionsquote von über 30 %. Das ist rund die Hälfte struktiven Rolle gegeben. mehr als im ursprünglichen Bundesgebiet. Sie haben vorhin zitiert, Frau Kollegin Matthäus- Mit 20 Milliarden DM setzen wir uns für die Linde- Maier. Sie haben vergessen, die sehr geschätzte Frau rung der Arbeitsmarktprobleme ein. Allein 6,6 Milli- Kollegin zu zitieren. Sie sagte: arden DM stehen für die berufliche Fortbildung und Wir lagen neben dem Lebensgefühl in Ost und Umschulung zur Verfügung. Dadurch bestehen zu- West. Wir waren nicht die Alternative. Man traute sätzliche berufliche Chancen für 330 000 Arbeitneh- uns nichts zu. mer. Zur Bekämpfung des Lehrstellenmangels haben wir eine Prämie von 5 000 DM für jeden zusätzlich zur Das sind die Worte von Anke Fuchs am letzten Mitt- Verfügung gestellten Ausbildungsplatz vorgesehen. woch auf dem Bremer Parteitag. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Die 43 wichtigsten Fördermaßnahmen zur Stärkung privater Investitionen und zur Erweiterung des Ar- Die deutsche Einheit war und ist keine Frage allein beitsplatzangebots erreichen im Jahre 1991 ein Volu- der finanz- und haushaltspolitischen Machbarkeit. men von 100 Milliarden DM. Das entspricht rund der Um es ganz klar zu sagen: Wir hätten sie auch ange- Hälfte des Bruttosozialprodukts in den neuen Bundes- strebt, anstreben müssen, wenn sie uns im letzten Jahr ländern. statt 30 Milliarden 60 Milliarden DM gekostet hätte und wenn sie uns in diesem Jahr statt der 100 Milliar- Wir haben die Fähigkeit zu unbürokratischer Hilfe den DM noch mehr kostete. und Unterstützung gerade bei der Investitionspau- schale bewiesen. Auch beim Gemeinschaftswerk Auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — schwung Ost haben wir durch die gegenseitige Dek- Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Richtig! Das kungsfähigkeit Vorsorge dafür getroffen, daß flexibel ist aber nicht das Thema!) gearbeitet werden kann. Wir werden baldmöglichst Die Freiheit hat ihren Preis. feststellen, ob der Mittelabfluß irgendwo nicht wie 1946 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Bundesminister Dr. Theodor Waigel vorgesehen laufen kann, und werden dann umschich- gen bekanntgegeben haben. Unabhängig davon wer- ten, damit das Geld ausgegeben wird. Normalerweise den auch die Verfahren besonders beschleunigt. ist der Bundesfinanzminister daran interessiert, daß Wir sind an einer dauerhaften Stärkung der Finanz- am Schluß des Jahres etwas übrigbleibt, damit er die kraft der neuen Länder interessiert. Wir stehen zu Nettokreditaufnahme senken kann. In diesem Jahr unserer Mitverantwortung für die Finanzen in den bin ich daran interessiert, daß das Geld für Investitio- neuen Bundesländern. Die Zuwendungen aus dem nen, für Arbeitsplätze ausgegeben wird. Fonds Deutsche Einheit gehen in den kommenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jahren zurück. Auf der anderen Seite haben wir in Wir wollen auch die Bereitstellung von Grundstük- den Koalitionsvereinbarungen festgelegt, die Finanz- ken und Gebäuden für Investitionen und den Woh- kraft der neuen Länder durch eine Umschichtung der nungsbau noch weiter erleichtern. So wird es schon Leistungen nach dem Strukturhilfegesetz weiter zu durch den Bundeshaushalt 1991 im gesamten Bundes- verbessern. Die Einzelheiten werden derzeit in einer gebiet für Zwecke des sozialen Wohnungsbaus Preis- Arbeitsgruppe zwischen Bund und Ländern disku- nachlässe von 15 % oder die Einräumung von Erbbau- tiert. rechten geben. Im Beitrittsgebiet sind Preisnachlässe Wir sind auch bereit, weitere Maßnahmen zu prü- von 25 bis 75 % für Gebietskörperschaften möglich, fen, um die finanzielle Situation der neuen Länder zu wenn Bedarf für unmittelbare Verwaltungszwecke stabilisieren. Eine Entscheidung darüber kann aller- besteht. Erst in der letzten Woche habe ich mich mit dings erst getroffen werden, wenn die Haushaltsent- dem Finanzminister von Sachsen-Anhalt, Professor wicklung des Bundes und der neuen Länder für 1992 Mönch, eingehend darüber unterhalten. deutlich erkennbar ist. Aber wir haben hier auch darüber nachzudenken, Die Opposition wirft uns vor dem Hintergrund der was wir in den alten Bundesländern in diesem Zusam- noch ungünstigen Wirtschafts- und Arbeitsmarktda- menhang verbessern können. ten Versagen in den neuen Bundesländern vor. (Zuruf von der SPD: Richtig!) (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Zu Im Zuge der Abrüstungsmaßnahmen ist in den kom- Recht!) menden Jahren auch im alten Bundesgebiet mit um- Genauso könnten wir einen Bauunternehmer ankla- fangreichen Freigaben von bislang militärisch ge- gen, der wenige Monate nach Erteilung der Bauge- nutzten Liegenschaften zu rechnen. Wir wollen den nehmigung noch kein Richtfest bei seinem Hochhaus- von der Konversion besonders betroffenen Gebieten projekt feiern kann. gezielt helfen, die unvermeidliche Strukturanpassung zu bewältigen. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sie ha ben doch noch gar kein Fundament gelegt! (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wie?) Sie schachten noch nicht einmal aus!) —Einen kleinen Moment! Auf das Wort „wie" kommt — Sie waren doch nicht dabei! Sie haben doch ge- gleich die Antwort. Zuhören, an den Wahlkreis wei- schlafen, als wir die Dinge beschlossen haben. tergeben, loben! (Beifall bei der CDU/CSU) (Heiterkeit — Beifall von der CDU/CSU und der FDP — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Mit anderen Worten: Der Vorwurf ist absurd und SPD wählen!) nicht ernst zu nehmen. Sie müssen sich einmal von Ministerpräsident Stolpe sagen lassen, wie zufrieden — Hören Sie zu, sonst wissen Sie es nachher wieder er mit unserer Finanzpolitik ist. nicht und wiederholen das Falsche! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Leute - Jochen Borchert [CDU/CSU]: Der hat Angst werden SPD wählen!) vor der SPD! — Helmut Wieczorek [Duis- — Hören Sie zu! Ich glaube, das täte Ihnen gut! burg] [SPD]: Wir reden mit Herrn Bieden Ich denke hier an die Verdoppelung der jetzigen kopf, aber das paßt Ihnen nicht so sehr!) Vergünstigung von bisher 15 %. Darüber sollten wir — Entschuldigung, Sie dürfen mit jedermann reden. bei der Aufstellung des Haushalts 1992 miteinander Ich habe mit Herrn Biedenkopf schon wesentlich öfter sprechen. und sinnvoller geredet als Sie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Aber Das wird bereits in den nächsten Wochen der Fall schon lange nicht mehr, Herr Waigel!) sein. —Erst gestern abend habe ich ihn im Fernsehen gese- Es ist allerdings — darauf möchte ich hinweisen — hen. nicht unser Ziel, Gemeinden bei Industrieansiedlun- (Heiterkeit) gen oder sonstigen Vorhaben der gewerblichen Wi rt -schaft Zwischenerwerbe mit Gewinnspannen zu er- Ein Wort zur Sanierung und Privatisierung. Wo die möglichen. Sanierung von Betrieben sinnvoll und vertretbar ist, werden wir den Verlust von Arbeitsplätzen begren- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr gut! zen. Sanieren und Privatisieren sind zwei eigenstän- Jawohl!) dige Aufgaben der Treuhandanstalt, wie es sich schon Hier wird der Bund deshalb unmittelbar an die Inve aus ihrem Auftrag ergibt. Wir haben dazu im März storen verkaufen, sobald die Gemeinden ihre Planun gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der neuen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1947

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Länder und den Sozialpartnern noch unter Detlev stungen fordert, muß konkret sagen, woher das Geld Karsten Rohwedder das Notwendige beschlossen. kommen soll. Dort, wo der Abbau von Arbeitsplätzen unvermeid- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bar ist, will die Treuhandanstalt durch die Unterstüt- Andernfalls sind solche Vorschläge nicht ernst zu neh- zung bei der beruflichen Umschulung, durch Hilfe bei men. Existenzgründungen und durch andere Maßnahmen zum Ausgleich beitragen. Sozialpläne werden inner- Wachstum und Stabilität, das Vertrauen der inter- halb bestimmter finanzieller Grenzen auch dann ab- nationalen Finanzmärkte und die Zusammenarbeit gesichert, wenn in den zu schließenden Bet rieben mit unseren Partnern in den großen Industrieländern keine ausreichende Substanz mehr vorhanden ist. sind die entscheidenden Voraussetzungen für die Be- wältigung der Wiedervereinigungsaufgabe. Wir müssen — darüber sind wir uns im klaren — eine Durststrecke überdauern, bis die p rivaten und Die internationalen Märkte und natürlich auch die öffentlichen Investitionen wirken, bis mehr neue Ar- internationale Politik haben der Bundesregierung und beitsplätze entstehen, als alte vernichtet werden. der Bundesrepublik Deutschland insgesamt eindeutig die Kompetenz zugesprochen, mit den wirtschafts- Es gibt erste Hoffnungszeichen für das Beitrittsge- und finanzpolitischen Folgeaufgaben der Wiederver- biet. Man braucht nur die Wirtschaftsseiten der Ta- einigung fertigzuwerden. Der gewogene Außenwert geszeitung aufzuschlagen und die Firmenberichte zu der deutschen Mark — Gradmesser vielfältiger Stim- lesen, um zu sehen, wie jeden Tag die Weichen in mungen und Bewertungen — hat sich gegenüber dem diese Richtung gestellt werden. Nach einer Umfrage Januar 1990 überhaupt nicht verändert. Die D-Mark des Ifo-Instituts planen über 40 % der Großunterneh- ist nach wie vor der Anker im Europäischen Wäh- men bis 1992 Investitionen in den neuen Bundeslän- rungssystem und begehrte Reservewährung. dern. Dabei verlagern sich die Investitionsschwer- Ich wiederhole auch hier: Wir sind zur Integration punkte zunehmend vom Vertrieb auf die Schaffung bereit. Wir arbeiten in der neuer Produktionsstätten. Wirtschafts- und Wäh- rungsunion konstruktiv mit; wir haben einen eigenen Die Privatisierungsbilanz der Treuhandanstalt wird Entwurf eingebracht. mit rund 200 Veräußerungen pro Monat immer län- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Einen sehr ger. Bei inzwischen 1 600 Privatisierungen wurden guten!) Vereinbarungen über die Sicherung von 400 000 Ar- beitsplätzen und 60 Milliarden DM an Investitionen Wir sind bereit, bereits 1996 in die dritte Stufe einzu- getroffen. treten. Aber die dann kommende europäische Wäh- rung muß so stabil sein wie die Deutsche Mark. Nur Angesichts des massiven Engagements der deut- dann ist sie der deutschen Bevölkerung zuzumuten. schen Wirtschaft und der umfassenden öffentlichen Förderung und Unterstützung ist die wirtschaftliche (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Trendwende im Beitrittsgebiet eine Frage der Zeit. In bei Abgeordneten der SPD) der Phase des Übergangs bleibt niemand mit seinen Durch die Berufung von Dr. Helmut Schlesinger finanziellen Sorgen und Problemen, die wir ernst neh- und Dr. Hans Tietmeyer in der Spitze der Deutschen men, allein. Bundesbank haben wir deutlich gemacht: Wir werden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch künftig nicht einen Millimeter vom Stabilitäts- kurs abweichen. Es bedarf keiner besonderen Auffor- Wir haben das soziale Netz ausgespannt. Schon heute derung an diese beiden Persönlichkeiten, diesen Auf- übertreffen die sozialen Leistungen bei weitem das, trag in voller Unabhängigkeit zu erfüllen. Ich freue was im sogenannten sozialistischen Arbeiter- und mich, daß fast alle politischen Sprecher der Parteien Bauernparadies jemals möglich und finanzierbar diese Berufung positiv kommentiert haben. war. Das nahezu unerschütterliche Vertrauen in die Meine Damen und Herren, die Leistungen für die deutsche Leistungsfähigkeit zeigt sich auch — für uns neuen Bundesländer belaufen sich zur Zeit auf rund 3 nicht ganz unproblematisch — im Zusammenhang bis 4 % des westdeutschen Bruttosozialprodukts. Das mit den großen internationalen Aufgaben, bei denen sind 50 % der selbst erwirtschafteten Leistungen im unsere Beteiligung gewünscht wird. Beitrittsgebiet. Das — das sagen wir mit großem Das wiedervereinigte Deutschland hat sich auf der Stolz — ist wohl die größte Solidarleistung, die jemals internationalen Bühne umfassend engagiert. Wir tra- in eine deutsche Region geflossen ist. gen die Hauptlast für den Abzug der Sowjetarmee aus (Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ Mitteleuropa. Wir tun dies nicht nur für uns, sondern CSUJ: Das kann man wohl sagen!) dies liegt im Interesse des Westens insgesamt. Wir ste- hen bei der Hilfe für die mittel- und osteuropäischen Diese Solidarität ist geboten, sie ist notwendig. Wir Staaten an vorderster Front. 25 Milliarden DM in zwei müssen aber auch das ökonomische Limit sehen. Die Jahren. Wir haben zur Lösung des Golfkonflikts bei- Grundlagen für Wachstum und Beschäftigung in ganz getragen und den geflohenen Kurden geholfen. Nicht Deutschland dürfen nicht gefährdet werden. zuletzt ist der Wiederaufbau im Osten Deutschlands Der schwierige, aber erfolgreiche Konsolidierungs- selbst ein wirksames Programm zur Förderung von weg der 80er Jahre war und ist die entscheidende Wachstum und Beschäftigung in ganz Europa. Erfahrung. Eine Überforderung von Staat und Wirt- Ich habe unseren ausländischen Freunden beim G- schaft darf es nicht geben. Wer weitere staatliche Lei- 7-Treffen und bei der Tagung des Internationalen 1948 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Währungsfonds in aller Klarheit immer wieder eines kommt es aber auch bei Ihnen vor. Niemand kann das gesagt: Das, was wir in Deutschland, in Europa ge- leugnen. genüber der Sowjetunion tun, ist mehr als das, was unser nationales Interesse eigentlich ausmacht. Wir (Heiterkeit bei der CDU/CSU — Zuruf von engagieren uns überproportional, und wir bitten, dies der CDU/CSU: Aber selten! — Ing rid Mat auch in ein globales, internationales burden-sha ring, thäus-Maier [SPD]: Das sieht man an den in eine globale Lastenverteilung mit einzubeziehen, Wahlerfolgen!) weil niemandem in der Welt gedient wäre, wenn die — Wir haben sehr gute Wahlerfolge in Bayern. deutsche Volkswirtschaft in diesem Zusammenhang überfordert würde. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nicht mehr viele!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) — Sie sind ja auf dem Parteitag mit dem Kollegen Wir setzen uns vor allem auch für die marktwirt- Hiersemann nicht gerade gut umgegangen. Aber viel- schaftliche Erneuerung und das Entstehen demokra- leicht kommen Sie einmal nach Bayern. tischer Strukturen in der Sowjetunion ein. Dieser Einsatz liegt in unserem eigenen ökonomischen und (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ich bin dau sicherheitspolitischen Interesse. Aber der Transfer ernd da!) von Finanzmitteln oder die Gewährung von Krediten kann nicht am Anfang stehen. Zunächst geht es — Sie seien dauernd da? darum, eine tragfähige Konzeption für den schrittwei- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Selbstver sen Übergang von der zentralen Plan- zur dezentralen ständlich! Bei Frau Schmidt und anderen!) Marktwirtschaft zu entwickeln. Dabei müssen die be- sonderen realen Bedingungen in der Sowjetunion be- — Niemand kennt Sie! rücksichtigt werden. Erst dann kann in internationaler Abstimmung darüber gesprochen werden, was der (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Westen materiell beitragen kann, damit im größten Es gibt keinen Anlaß — — Land der Welt der wirtschaftliche und politische Zu- sammenbruch verhindert wird. (Anhaltende Heiterkeit bei der CDU/CSU) Staatssekretär Dr. Köhler hat im Auftrag des Bun- — Ich muß meine Fraktionsfreunde wieder um Auf- deskanzlers und in meinem Auftrag letzten Samstag merksamkeit bitten. — Es gibt keinen Anlaß, über in Moskau mit Präsident Gorbatschow über die Per- Belastungen aus der Wiedervereinigungsaufgabe zu spektiven der Hilfe und eine mögliche Beteiligung der klagen, wenn die Tariflöhne in diesem Jahr um min- Sowjetunion am kommenden Weltwirtschaftsgipfel destens 6 % bis 7 % zunehmen. Was wir an Solidar- gesprochen. Wir haben damit unsere besondere Ver- beitrag im Bereich von Steuern und Abgaben einfor- antwortung für die Entwicklung im Osten unterstri- dern müssen, wird durch die Lohn- und Gehaltsent- chen. Aber die Aufgabe wirksamer Hilfe kann selbst- wicklung vollständig ausgeglichen. Auch das muß verständlich nur von den großen Industrienationen man sehen. gemeinsam angegangen werden. Dennoch gehe ich davon aus — es wäre wohl auch gut —, daß Gorba- Es gibt auch keine Vernachlässigung staatlicher tschow beim Weltwirtschaftsgipfel in London dabei- Aufgaben im Westen. Im Verkehrsbereich wird die sein wird, um diesen Dialog der Sowjetunion mit der Bundesregierung 1991 die im Beitrittsgebiet nicht be- internationalen Wirtschaft fortzuführen. Nur dieser nötigten Straßenbaumittel in die alten Länder zurück- Dialog und die Beteiligung an den internationalen geben. Darüber hinaus wird in den alten Ländern zusätzlicher Spielraum beim Straßenbau durch eine Institutionen können der Sowjetunion und uns ge-- meinsam weiterhelfen. Aufstockung der Verpflichtungsermächtigungen im Bundeshaushalt 1991 zur Verfügung gestellt. Damit (Beifall bei der CDU/CSU) werden die alten Länder in die Lage versetzt, alle für 1991 geplanten Vorhaben ungeschmälert fortzufüh- Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik ren. Deutschland gehört in diesem Jahr zu den ganz weni- gen Industriestaaten, die nicht von schweren Rezes- Alle staatlichen Leistungen — im Osten wie im We- sionserscheinungen betroffen sind. Auch das ist vor sten — beruhen auf der wirtschaftlichen Leistungs- allem der Wiedervereinigung zu verdanken. Man soll kraft unseres Landes. Das ist das entscheidende Mo- nicht nur von den Lasten der Wiedervereinigung tiv, weshalb wir die wachstums- und beschäftigungs- sprechen, sondern auch von den wirtschaftlichen fördernde Steuerreform trotz der Belastungen durch Vorteilen, die auch im Westen unseres Vaterlandes die Wiedervereinigung weiter voranbringen müs- bei der Konjunktur und bei den Aufträgen spürbar sen. sind. Meine Damen und Herren, man muß doch darüber (Beifall bei der CDU/CSU — Helmut Wieczo- nachdenken: Warum ist es in den 70er Jahren und rek [Duisburg] [SPD]: Wenn er recht hat, hat Anfang der 80er Jahre durch eine ständige Erhöhung er recht!) der Steuerlast nicht gelungen, Wachstum und Kon- junktur voranzubringen? Und warum ist es durch eine — So ist es. Dies gilt auch für Sie, Herr Wieczorek. ständige, konsequente Steuerentlastungspolitik von Wenn Sie recht haben, haben Sie recht. Allerdings ist 1982 bis 1990 gelungen, den längsten Wirtschaftsauf- dies bei mir öfters als bei Ihnen der Fall. Bisweilen schwung, den längsten Zyklus einer positiven Wirt- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1949

Bundesminister Dr. Theodor Waigel schaftsbewegung in der Geschichte Deutschlands Das einzige, was von der früheren Steuerpolitik herbeizuführen? heute noch negativ fortwirkt, ist die damalige Ab- schaffung der Kinderfreibeträge, die uns auf Grund (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP des Urteils des Bundesverfassungsgerichts heute noch — Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ Probleme bereitet. CSU]: Das war Null-Wachstum bei denen!) Meine Damen und Herren, die Fragen der Um- Ich bin deswegen überzeugt, daß künftige Steuerent- schichtung staatlicher Mittel zwischen Ost und West, lastungen, die notwendig sind, um im Europäischen des Subventionsabbaus, der Ausgabendisziplin sowie Binnenmarkt zu bestehen, wie schon in der Vergan- der Steuer- und Abgabenlast werden zum entschei- genheit bei der Steuerreform 1986 bis 1990 für die denden Prüfstein für den Fortschritt, den wir bei der öffentlichen Haushalte kein Verlust-, sondern letztlich Heilung der nationalen Verletzungen durch den kal- ein Gewinngeschäft sein werden. ten Krieg erzielen können. Ost und West können nur zusammenwachsen, wenn die Verwirklichung der Auch kurzfristig wollen wir keine Lücken in den Haushalten von Ländern und Gemeinden durch die Wiedervereinigung in allen Lebensbereichen als ge- Abschaffung der Gewerbekapital- und durch die Sen- meinsame Aufgabe begriffen wird. Wir müssen in Ost kung der Vermögensteuer — ich sage nochmals: es und West erreichen, daß der Rückzug ins P rivate — in geht in erster Linie um die Senkung der betrieblichen der Vergangenheit in Ostdeutschland wegen des Re- Vermögensteuer — aufreißen. Durch die Verringe- gimes notwendig; bei uns aber auch manchmal ein rung der Gewerbesteuerumlage, durch den steuerli- Stück Verweigerung gegenüber der Politik und den chen Subventionsabbau, vor allem aber auch durch Herausforderungen — wieder abgebaut wird und wir eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ab 1. Januar 1993 die Menschen wieder motivieren. wird vielmehr die Finanzausstattung der übrigen Ge- Herr Präsident, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie bietskörperschaften dauerhaft verbessert. das rote Licht abstellen könnten. Sonst muß ich die Hand darüber legen. Es stört mich nämlich beim Vor- Schließlich haben wir vorgesehen, künftig 3 Milliar- trag meiner letzten Bemerkungen. den DM aus dem erhöhten Mineralölsteueraufkom- men für die Förderung des öffentlichen Personennah- verkehrs zur Verfügung zu stellen. — Jetzt müßte hier Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, die Beifall kommen. ausgehandelten Redezeitbegrenzungen gelten auch für Bundesminister. (Beifall bei der CDU/CSU — Helmut Wieczo- rek [Duisburg] [SPD]: Man muß alles selber machen! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Und dann klatscht ihr noch! Ihr seid ja Ham- Ich nehme das mit großem Respekt zur Kenntnis. Las- pelmänner!) sen Sie mich jetzt aber mit zwei Philosophen schlie- ßen, Herr Bundestagspräsident. — Frau Kollegin Matthäus-Maier, die sind von vorhin noch so positiv angetan. — Aber das ist ganz wichtig: Der Regensburger Professor Dr. Ul rich Hommes hat Diese 3 Milliarden DM für den öffentlichen Personen- kürzlich geschrieben: nahverkehr haben im Interesse unserer Länder und Zahlreiche Untersuchungen verweisen für das unserer Kommunen eine sehr, sehr positive Auswir- Anwachsen der Angst auf den Umstand, daß die kung. Wir wissen, wie es gerade im öffentlichen Per- Menschen heute ganz allgemein unter einer ei- sonennahverkehr auch an der finanziellen Ausstat- gentümlichen Beziehungslosigkeit leiden. Ganz tung bisweilen mangelt. Ich meine, das ist ein wichti- offensichtlich hat gerade Beziehungslosigkeit ges und positives Angebot an die Länder und an die Angst zur Folge, sowie Beziehungslosigkeit auch Kommunen. zu gesteigerter Aggressivität führen kann. (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Jetzt klatschen Ich glaube, indem wir den Begriff der wiederverein- wir noch einmal! — Jochen Borchert [CDU/ ten Nation auch im Bewußtsein der Menschen leben- CSU]: Diesmal unaufgefordert! — Beifall bei dig halten und zur Nation die große Perspektive Eu- der CDU/CSU) ropa fügen, geben wir den Menschen eine neue Iden- tität, die Ihnen einen Teil der Ängste, der Unsicherheit Wir erreichen damit konkrete Verbesserungen für oder der Unübersichtlichkeit, wie es Habermas formu- die Menschen. Demgegenüber hat die SPD in der liert hat, nimmt. Steuerpolitik seit Jahrzehnten nichts Konkretes vor- Meine Damen und Herren, wir haben die Grund- zuweisen. steine gelegt. Wir haben Grund zum Optimismus. Es bereitet immer wieder Vergnügen, in dem Buch Nach den Worten von Sir Karl Raimund Popper kön- „Der Abstieg" von zu lesen. Da heißt es nen wir an die Stelle von Utopien Hoffnung setzen. z. B. zu den Arbeiten an der im Jahre 1984 geplanten Anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Steuerreform: „Doch die Partei sieht es anders. Wenn katholischen Universität Eichstätt am Montag letzter schon Geld verteilt werden soll, dann nicht an die Woche sagte der 89jährige Philosoph Karl Popper: Steuerzahler. " Da wir es erreicht haben, manche Dinge besser zu Und in den Notizen zum Jahre 1987 heißt es: „Wir machen, ist ein ähnlicher Erfolg in der Zukunft rechnen ihnen" — den Steuerzahlern — „vor, wie nicht unmöglich. schlimm sie dran sind. Wir spitzen den Mund und for- Nach seiner Auffassung ist bewiesen, daß eine Re- dern eine konjunkturell wirksame und sozial gerechte gierungsform der Freiheit nicht nur möglich ist, son- Steuerpolitik. Nur pfeifen dürfen wir nicht. " dern daß sie die größten Schwierigkeiten erfolgreich 1950 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Bundesminister Dr. Theodor Waigel überwinden kann. Mit der Aufhebung der Teilung denke, da wird die Gesprächsfähigkeit erhöht wer- Deutschlands setzen wir auf die Gestaltungskraft von den. Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Wir wol- Meine Damen und Herren, ich wollte im Zusam- len und werden unsere Chance entschieden und ent- menhang mit dem Bundeshaushalt darauf hinweisen, schlossen nutzen. — Vielen Dank. daß wir einer Legendenbildung vorbeugen müssen, (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ nämlich der, die neuen Länder seien unfähig, die zur CSU und der FDP) Verfügung gestellten Finanzmittel umzusetzen. Die Hauptverantwortung dafür trägt die Bundesregierung Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- mit ihrer Politik der Verzögerung. ordnete Dr. Nils Diederich. (Beifall bei der SPD)

Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Herr Präsident! Ich sage voraus, daß wir, wie im Vorjahr, am Ende des Meine Damen und Herren! Sie haben soeben den Jahres wieder riesige Haushaltsreste haben werden. Regensburger Philosophen Hommes zitiert, Bezie- Ich sage das nur, damit wir nachher keine falschen hungslosigkeit sei auch immer durch Angst verur- Schuldzuweisungen haben. sacht. Da zwischen uns aber offensichtlich keine Meine Damen und Herren, Frau Matthäus-Maier wechselseitigen Angstgefühle bestehen, so müssen hat Ihnen Ihre konzeptionellen Fehler vorgerechnet. unsere Beziehungen doch sehr viel besser sein, als das Passen Sie auf, daß Ihnen das Kursbuch der Nation in den Debatten hier manchmal zum Ausdruck nicht zum Konkursbuch der Koalition gerät! kommt. Herr Waigel, Sie haben in der ersten Lesung gesagt: Wir führen die Debatte zu einem Zeitpunkt, zu dem Niemand konnte die Kosten der Wiedervereinigung alle unsere Kräfte eigentlich auf die Konzeption der voraussagen. Sie haben das jetzt wiederholt. Ich kann Haushaltspolitik des nächsten Jahres gerichtet sein dem vorbehaltlos zustimmen. Nur, ich denke: Man müßten. Die Bundesregierung hat entgegen ihrer konnte sehr schnell eine Ahnung von der Größenord- haushaltsrechtlichen Verpflichtung aus wahltakti- nung haben. Was wir Ihnen vorwerfen, ist, daß Sie bis schem Kalkül heraus den Bundeshaushalt 1991 erst heute das Problem systematisch unterschätzt und zum jetzt vorgelegt. Nun gut, dieser Haushalt wird auch Teil auch vor sich hergeschoben haben. den Problemen und Herausforderungen der deut- schen Einigung nur ungenügend gerecht; denn er (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja uner stellt immer noch — so anerkennenswert die Einarbei- hört!) tung von A- und B-Haushalt auch ist — nur eine Addi- Ich zitiere Herrn Wolfram Engels, dem die Ohren tion überkommener westdeutscher Haushaltsstruktu- klingen müssen, daß er zweimal an einem Tag von ren dar. Das, was einigungsbedingt notwendig ist, ist Sozialdemokraten zitiert wird. In der „Wirtschafts- angepappt. Das sieht man auch an dem nachgescho- woche" vom 31. Mai sagte er: benen und auf zwei Jahre bef risteten Gemeinschafts- werk Aufschwung Ost. Dies kann kein Konzept erset- Soweit es bekannt ist, hat die Regierung über- zen, um die rapide Verschlechterung der wirtschaftli- haupt keinen Rat von außenstehenden Fachleu- chen und sozialen Bedingungen in den neuen Bun- ten desländern aufzuhalten. — für ihre Wirtschaftspolitik — Aber, meine Damen und Herren, der Haushalt für eingeholt. Es sieht so aus, als habe sie nicht ein- 1991 wird nicht nur außerordentlich spät verabschie- mal ihre eigenen Fachleute gehört ... Bei der det, er ist auch unordentlicher Haushalt. Die Bundes- deutschen Wiedervereinigung hat der Chef per- regierung hat das selber gemerkt; denn wir haben bis sönlich gekocht. zum letzten Augenblick wichtige Dinge nach Minu- tenbedenkzeit nachschieben müssen. - (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Das war sehr genießbar!) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, ich darf Sie Ich nehme an, daß Sie bei dieser Kocherei der Hilfs- einen Moment unterbrechen. koch waren. Ich muß sagen, der Mangel an Konzep- Meine Damen und Herren, ich bitte um Aufmerk- tion, der in diesem Haushalt deutlich wird, ist eine samkeit für den Redner. Wenn Sie Besprechungen Schande. führen wollen, tun Sie das bitte draußen im Flur. Es gibt noch einen anderen Punkt, an dem man das nachweisen kann. Herr Waigel, Sie sind dabei, die Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Es hat einmal je- Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit unseres mand gesagt: Es gibt Abgeordnete zu Fuß und Abge- Bundeshaushalts auszuhöhlen. Der Einzelplan 60, der ordnete zu Pferde. Wenn ein Ritter geredet hat, dann ja ursprünglich ein reiner Steuer- und Abschlußhaus- sind die Fußvölker vielleicht nicht mehr so ganz inter- halt war, wird mehr und mehr zum Sammelhaushalt essant. für riesige Programmstücke. Diese Ansammlung zeigt (Beifall bei der SPD) übrigens die Konzeptions- und Entscheidungsunfä- Ich denke aber, daß wir dennoch etwas zu sagen ha- higkeit in einer Phase von historischer Bedeutung, ben. weil Sie nicht in der Lage waren, zu entscheiden, ob Sie die Titel einzelnen Ressorts zuordnen oder ob Sie Ich möchte übrigens hinzufügen: Unsere Koopera- das einmal geplante Aufbauministerium realisieren. tion wird in nächster Zeit sicherlich besser werden, weil sich in einem gewissen Verfassungsorgan des Einige Zahlen hierzu: 1989 hatten wir im Einzel- Bundes Mehrheitsverhältnisse verschoben haben. Ich plan 60 lediglich 6 % des Ausgabenvolumens des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1951

Dr. Nils Diederich (Berlin) Bundes. Das war überwiegend Berlin-Förderung, Deswegen appelliere ich noch einmal dringend nämlich 13 von 17 Milliarden DM. Der Ansatz dieses daran, gemeinsam zu versuchen, die dem Auf- Jahres im Einzelplan 60 weist bereits 11 % der Ausga- schwung in den neuen Bundesländern bisher noch ben des Bundeshaushalts aus. Das sind 45 Milliarden entgegenstehenden Hemmnisse konzeptionell zu klä- DM. Das ist der viertgrößte Ausgabenbrocken über- ren. Wir haben zwar das Hemmnisbeseitigungsgesetz haupt nach Soziales, Verteidigung und Bundesschuld. verabschiedet. Aber ich kann Ihnen aus eigener Er- Man kann doch nicht mehr von einem ordentlichen fahrung sagen, daß es nur Stückwerk bleiben wird. Haushalt sprechen, wenn nicht mehr an den Fachres- Wir müssen in der administrativen Umsetzung und sorts festzumachen ist, wo die Verantwortlichkeit möglicherweise in weiteren rechtlichen Regelungen liegt, sondern wenn die Mittel beim Bundesfinanzmi- noch konsequenter vorangehen. nister sind, aber im Haushaltsplan den Ministerien zur Lassen Sie mich mit einigen Bemerkungen, die für Bewirtschaftung zugewiesen werden. Herr Weng hat den Vereinigungsprozeß wichtig sind, auf den Einzel- vorhin davon gesprochen, daß man irgendwann wie- plan des Finanzministeriums eingehen. der zu einer ordnungsgemäßen Haushaltsführung übergehen wolle, wenn die Zeit ruhiger geworden ist. Erstens. In den neuen Ländern muß schnell eine Herr Finanzminister, ich bitte darum, schon für 1992 wirksame Finanzverwaltung aufgebaut werden. Ich die Überlastung des Einzelplans 60 radikal zu redu- möchte hier die Gelegenheit nehmen, den dort bereits zieren. wirkenden Beamten aus westdeutschen Oberfinanz- direktionen, aus der Bundesverwaltung und des Zolls Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler, dafür zu danken, daß sie mit hohem Engagement, mit der für bemerkenswerte Worte immer gut ist, hat sich großer Begeisterung und voll von dieser Zukunftsauf- auf dem St. Gallener Managementgespräch am gabe erfüllt ans Werk gehen. Aber die Ausstattung 27. Mai dieses Jahres, also vor einem sachverständi- muß noch verstärkt werden. Wir sollten nicht verges- gen Publikum, dessen Mitwirkung wir beim wirt- sen, daß eine wirksame Steuerverwaltung die Grund- schaftlichen Erneuerungsprozeß in den neuen Län- lage für das Funktionieren der staatlichen Agenturen dern wirklich brauchen, zu folgender Aussage ver- ist. stiegen: Zweitens. Mit dem Aufbau der Zollverwaltung in Die Investitionsbedingungen in den neuen Bun- den ostdeutschen Ländern sind neue, große Aufga- desländern sind ausgezeichnet. ben hinzugekommen. Wir haben nunmehr lange Er muß sehr lange nicht mehr dort gewesen sein. Sie Grenzen zu zwei Nachbarstaaten, nämlich zu Polen sollten nach alldem, was uns von Herrn Waigel pro- und zur Č SFR, die von der Ostsee bis zum Fichtelge- grammatisch vorgeführt worden ist, ausgezeichnet birge EG-Außengrenze sind, an der die komplizierten sein. Aber die Realität ist anders. Nicht nur aus kon- Bestimmungen der EG-Zoll- und -Steuergesetzge- kreter Anschauung aus meinem Wahlkreis weiß ich, bung anzuwenden sind. wo die Probleme liegen. Die sachkundigen Zuhörer in Herr Waigel, ich möchte daher ausdrücklich an Sie Genf haben das auch gewußt. Warum kommen denn appellieren, Ihre Aufmerksamkeit auf die unhaltbaren die Investitionen so zögerlich? Ich wäre sehr dankbar, Zustände an den Grenzübergangsstellen zu richten, wenn der Herr Bundeskanzler z. B. mir dazu verhelfen die nicht nur durch die zögernde Abfertigung auf pol- könnte, daß die für die Verwirklichung von tatsächlich nischer Seite, sondern auch durch den mangelhaften vorhandenen Investitionswünschen in meinem Wahl- baulichen Zustand verursacht sind. Ich hatte Gele- kreis benötigten gewerblichen Grundstücke auch zur genheit, mit dem Staatssekretär Carstens in der vori- Verfügung stünden. gen Woche den Übergang Zinnwald zu sehen, und ich (Beifall bei der SPD) kenne aus eigener Anschauung die meisten Grenz- übergänge nach Polen. Dort ist dringend Abhilfe ge- Sie sind nämlich bislang durch die geltenden eigen- boten. tumsrechtlichen Regelungen blockiert. In der Vorlage Ihres Haushaltsplans vom Januar Herr Weng, Sie haben vorhin gesagt, man solle auch war von 40 großen Bauprojekten nur ein einziges an das Positive sehen, man solle nicht Miesmacher spie- den Grenzen der neuen Länder vorgesehen, während len. Das ist richtig; aber es darf auch keine Gesund- mehrere große neue Projekte an westdeutschen Gren- beterei geben. zen im Haushaltsplan stehen. Gott sei Dank haben dann Ihre Beamten nach meinem Protest und Drängen Ein wichtiger Indikator ist die Abwanderung. Es im Berichterstattergespräch nachgebessert und eine gelingt uns eben nicht, die Menschen in den neuen Liste mit kleinen Projekten, die bereits 1991 begonnen Ländern zu halten, sondern sie wandern in massiver werden können, vorgelegt. Zahl nach Westdeutschland ab oder diejenigen, die im Umland von Berlin wohnen, pendeln in massiver Zahl Ich denke aber, daß dies nicht reicht. Ich möchte Sie nach West-Berlin ein. Wir sollten froh sein, daß jeder, deswegen, Herr Bundesfinanzminister, auffordern, der einen Arbeitsplatz finden will, ihn auch findet. Wir mit dem Haushaltplanentwurf 1992 mindestens für sollten auch über die Mobilität froh sein. Aber wir soll- die wichtigsten Grenzübergänge nach Polen und in ten bedenken, daß wir ein Ausbluten der neuen Län- die CSFR eine gründliche Planung und eine entspre- der, wenn die dynamischen und die handlungsfähi- chende finanzielle Dotierung vorzusehen, die es mög- gen Personen weggehen, nicht auf Dauer ertragen lich macht, den Lkw-Stau dort abzubauen, können. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ und die die Möglichkeiten für die sich verändernden GRÜNE) Handelsströme eröffnet. 1952 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Nils Diederich (Berlin) Drittens zur Bundesvermögensverwaltung. Herr Vielen Dank. Bundesfinanzminister, auch hier möchte ich an Sie (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ appellieren. Sie haben eben davon gesprochen, daß GRÜNE — Bundesminister Dr. Theodor Wai der Bund weiterhin verbilligt Grundstücke zur Verfü- gel: Schade!) gung stellen will. Das ist richtig. Nur, wenn man sich die Objekte in Ostdeutschland anguckt, dann weiß man, daß sie aufbereitet werden müssen und daß es Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Abgeord- dort vieler administrativer Vorbereitungen bedarf. neten Adolf Roth das Wort. Es ist unheimlich wichtig, daß die Vermögensver- waltung nicht zu einem Engpaß in der Frage der Be- Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU) : Herr Präsident! reitstellung von bebaubaren und wirtschaftlich ver- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD wertbaren Grundstücken wird. Ich denke, daß Sie, hat in Bremen neue Fahnen aufgezogen. Herr Finanzminister, dafür sorgen müssen, daß die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bundesvermögensverwaltung in den neuen Ländern ausreichend ausgestattet wird und auch personell Die Optik ist neu. Die Substanz — wie die Debatte schnell anwächst. In Dresden etwa hat man uns ge- gerade heute beweist — ist wie gehabt. sagt: Es wird noch bis zum Ende des Jahres dauern, (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Die Fahnen bis wir die Stellen überhaupt besetzen können. Das ist stangen sind die gleichen!) natürlich kein Zustand. Die Platten sind etwas abgewetzt. Wir müssen also alles daransetzen, daß die Umset- Herr Kollege Diederich, der freundliche Hinweis zung der Grundstücke, die Zurverfügungstellung am auf ein nationales Aufbauprogramm, das Ihre Haupt- Markt schnell erfolgt. Sonst handeln Sie sich den Vor- rednerin hier angeblich ausgebreitet haben soll, hat wurf ein, mit Ihrem Ministerium selber ein Investi- mich schon in merkwürdiges Erstaunen versetzt. Au- tionshemmnis darzustellen. ßer der Überschrift habe ich zu diesem Thema über- haupt nichts gehört. Dem nachhaltigen Drängen der Opposition im Haushaltsausschuß ist es zu verdanken, daß nun die (Beifall bei der CDU/CSU — Ingrid Matt verbilligte Vermietung und Verpachtung von Grund- häus-Maier [SPD]: Aber acht Forderungen stücken und der Verkauf von Grundstücken bis zu haben Sie doch mitgekriegt!) 75 % unter dem Verkehrswert an die Kommunen er- Ich denke, es entspricht schon dem allgemeinen Ge- möglicht worden ist. Leider hat die Koalition unseren fühl der Menschen in der Bundesrepublik, daß Haus- Antrag, aufgelassene Liegenschaften der Bundes- halten und Rechnen nie die Stärke der SPD gewesen wehr bzw. der alliierten Streitkräfte in strukturschwa- ist chen Regionen — also auch in Westdeutschland — für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — den sozialen Wohnungsbau usw. zur Verfügung zu Zuruf von der SPD: Das ist der große Irr stellen, erst einmal abgeschmettert. Aber ich habe tum!) mich sehr gefreut, daß Sie heute ankündigen, daß Sie uns bei dem, was wir noch vor 14 Tagen im Ausschuß und daß die relative Beliebtheit, deren Sie sich nach nicht durchsetzen konnten, einen Schritt entgegen- verlorenen Bundestagswahlen jetzt wiederholt er- kommen. Ich denke, wenn wir nachhelfen, können freuen, andere Quellen haben muß. wir die Prozentsätze für die Ermäßigung noch etwas (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja, Steuer weiter nach oben schieben. lüge!) Lassen Sie mich zum Schluß folgendes sagen: Wir Sie haben jetzt zum vierten Mal in acht Jahren Ihren Hoffnungsträger ausgewechselt. Auch diesmal wurde haben in der Politik dieser Republik das gleiche Ziel.- Ich vertrete hier einen Ost-Berliner Wahlkreis, und ich angekündigt, jetzt beginne ein neues sozialdemokra- weiß um die dringenden Probleme der Menschen tisches Jahrhundert. Man darf sehr gespannt sein. dort. Ich weiß aber auch, daß es um soziale und wirt- (Rudolf Purps [SPD]: Wir haben wenigstens schaftliche Probleme in der ganzen Republik geht. noch welche! — Ing rid Matthäus-Maier [SPD]: Sie haben ja gar keinen!) In aller Bescheidenheit: Wir Sozialdemokraten ha- ben Ihnen in der Vergangenheit die Bereitschaft zur Jedenfalls haben Sie in dieser Debatte bis jetzt keine Mitwirkung signalisiert. Auch wir sind nicht Doktor Antwort auf die Frage gegeben, was eine sozialdemo- Allwissend, aber wir sind in der Lage, Konzepte anzu- kratische Bundesregierung eigentlich substantiell an- bieten. Frau Matthäus-Maier hat dies hier getan. Das ders machen würde. von uns vorgelegte Nationale Aufbauprogramm hat Ihr gescheiterter Kanzlerkandidat Lafontaine hat im jedenfalls den Charakter einer langfristigen Konzep- letzten Jahr die zentrale deutsche Entscheidungsfrage tion und nicht des momentanen Nachbesserns. mit den Worten „Umbau der Industriegesellschaft West" überschrieben. Völlig neben der Sache! Völlig Wir fordern Sie auf, mit uns zusammen zu versu- neben der Sache! Deshalb hat ja auch Frau Fuchs chen, die Entwicklung noch zu verbessern; denn sie davon sprechen müssen, daß die Menschen Ihnen in ist nicht nur verbesserungsfähig, sie ist auch unbe- dieser entscheidenden Umbruchsituation in Deutsch- dingt verbesserungsbedürftig. land nichts zugetraut haben. Nach dem, was ich über den Zustand Ihres Haus- Genausowenig tragfähig und prinzipiell falsch ist haltsplanes gesagt habe, können wir den Einzel- der Ansatz, den Herr Engholm dieser Tage gebracht plan 08 hier nur ablehnen. hat, der letztlich nur darauf hinausläuft, dem Staat Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1953

Adolf Roth (Gießen) größere Regieverpflichtungen zuzuordnen, weitere Wir haben Ausgabenkürzungen in Höhe von über Steuererhöhungen als notwendig in den Mittelpunkt 5,5 Milliarden DM vorgenommen. der Betrachtung zu stellen. (Beifall bei der CDU/CSU — [CDU/CSU]: Und ohne Mölle (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Angst vor mann!) Engholm!) Das ergibt unter dem Strich eine Einsparsumme von Ich sage: Das ist prinzipiell falsch, meine Damen immerhin deutlich über 1 Milliarde DM. Man darf und Herren, weil nach vierzig Jahren SED-Sozialis- nach all den Unkenrufen aus den Reihen der Opposi- mus jetzt nicht staatliche Lenkungsvarianten gefragt tion doch wohl darauf hinweisen, daß dieser ohnehin sind, sondern der Aufbau im Sinne einer wirklich schon sehr sorgfältig erarbeitete Regierungsentwurf, marktwirtschaftlichen Erneuerung. was die Nettokreditaufnahme angeht, noch einmal um 3 Milliarden DM auf 66,4 Milliarden DM abge- (Beifall bei der CDU/CSU — Helmut Wieczo- senkt worden ist. rek [Duisburg] [SPD]: Diese Oberflächlich- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das keit ist schon sträflich, Herr Roth!) sind Korrekturen schlampiger Vorberei tung!) Wer Teilung wirklich überwinden will, muß zur Ver- änderung fähig sein, und darum geht es jetzt. In dieser Größenordnung der Kreditaufnahme, Kol- lege Wieczorek, liegen jetzt auch die Investitionen, Meine Damen und Herren, der Bundeshaushalt die mit 15,4 % des Haushaltsvolumens immerhin eine 1991, wie er in der durchberatenen Ausschußfassung Spitzenstellung einnehmen. Ich meine, dies deutet vorliegt, ist eine Antwort auf die heutige Herausforde- auch darauf hin, daß wir die Ausgabenpolitik an der rung. An ihm gibt es in der Sache wenig zu mäkeln. Er richtigen Stelle verbessert haben. wird der Verantwortung des Bundes gerecht. Er ent- Gemessen am gesamtdeutschen Bruttosozialpro- spricht den Empfehlungen des Finanzplanungsrats. dukt, das für dieses Jahr immerhin — die Zahl ist noch Er bewegt sich auch innerhalb der haushaltspoliti- wenig bekannt — auf 2 815 Milliarden DM geschätzt schen Eckwerte, die die Bundesregierung am 14. No- wird — das sind fast 3 Billionen DM — , ist die Kredit- vember 1990 öffentlich vorgestellt hat. aufnahme in Höhe von 2,4 % — es ist leider nicht weniger, füge ich hinzu — doch sehr bemerkenswert. Trotz der sich verschärfenden Anpassungskrise und Das ist eine Rate, auf die die SPD in den Jahren, in der außenwirtschaftlichen Strukturbrüche, insbeson- denen sie regierte, sicher stolz gewesen wäre. Peter dere im osteuropäischen Wirtschaftsraum, auf die wir Gillies hat heute in der „Welt" kommentiert: Wenn ja reagieren müssen, aus eigenem deutschen Inter- eine sozialdemokratische Bundesregierung solche esse heraus reagieren müssen, trotz dieser Belastun- Leistungen erbracht hätte, hätte die SPD den damali- gen haben wir den Ausgabenzuwachs auf 3,6 % be- gen Kanzler mindestens für den Nobelpreis, wenn grenzen können. Damit bleibt auch die Zunahme die- nicht gleich zur Heiligsprechung angemeldet. — Ich ses Haushalts deutlich unter der Zunahme des ge- glaube, das kann man unterstreichen. samtdeutschen Bruttosozialprodukts. Ich denke, es ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schon wichtig, daß sich die Menschen in der Bundes- republik diese Zahl der maßvollen Steigerung um 3,6 % einmal einprägen. Angesichts der täglich wech- selnden Nachrichtenbilder und der teilweise — wie Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Roth, ge- ich zugeben muß — schwindelerregenden Milliar- statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wieczo- denkonfigurationen kann man ja manchmal den rek? Überblick verlieren. - Der Haushaltsausschuß hat das jedenfalls nicht ge- Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Wenn die Uhr ge- tan, Herr Kollege Ullmann. Der Haushaltsausschuß stoppt wird. — Bitte. hat von seinen parlamentarischen Gestaltungsmög- lichkeiten angemessen und vernünftig Gebrauch ge- macht. Wir haben bereits im März dieses Jahres das Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Ich will jetzt 12-Milliarden-DM-Programm „Gemeinschaftswerk nicht über die Heiligsprechung der unterschiedlichen Aufschwung Ost" als Sonderkapitel in den diesjähri- Kollegen reden, sondern ich wi ll Sie nur fragen: Wel- gen Haushalt eingearbeitet. che Quote der Nettokreditaufnahme ist eigentlich in Ihren Augen eine vertretbare und gesunde und unse- Abgesehen davon hat es am ursprünglichen Regie- rer Volkswirtschaft zuträgliche Quote? rungsentwurf kräftige Umschichtungen gegeben, auch Abstriche gegeben. Wir hatten unabweisbare Anforderungen, Mehranforderungen in einer Größen- Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Lieber Herr Kol- ordnung von über 4 Milliarden DM zu bedienen, z. B. lege Wieczorek, vertretbar und gut war z. B. die Kre- je eine halbe Milliarde DM im humanitären Bereich — ditaufnahmequote des Jahres 1989. Stichwort: Kurdenhilfe — und bei unseren internatio- nalen Finanzierungsbeiträgen. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Da hatten wir beim gesamtstaatlichen Finanzierungs Aber wir haben auch im Ausgabenbereich konse- defizit sozusagen einen Nullwert erreicht; wenn man quent den Rotstift dort angesetzt, wo es möglich war. die Überschüsse der Sozialversicherungssysteme mit 1954 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Adolf Roth (Gießen) einrechnet, war sogar ein geringfügiger Überschuß Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Die letzte Be- von 0,3 % zu verzeichnen. merkung, nämlich daß Sie die Kapitalmärkte nicht überfordert hätten, bringt mich eigentlich schon zu (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Herr einer neuen Zwischenfrage. Ich würde dann gern fra- Kollege, das ist Rabulistik! — Weitere Zurufe gen, wieso denn die Zinsen hochgegangen sind und von der SPD) der kleine Mann, der Sparer und der Häuslebauer, Der Bund hatte damals eine Quote von 0,8 %. Ich sage: davon betroffen sind. — Meine Frage wird Ihnen nicht Das war vernünftig. Ohne die Ergebnisse einer sie- angerechnet, sondern nur Ihre Antwort, Herr Kol- benjährigen engagierten Konsolidierungspolitik hät- lege. ten wir in der Stunde der Wiedervereinigung über- haupt nicht den sicheren Boden unter den Füßen ge- Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Die Uhr läuft al- habt, um die massive Aufbaufinanzierung, Anschub- lerdings weiter. finanzierung nach Osten hin in Gang zu setzen. Das ist die Situation. Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Meine eigent- (Beifall bei der CDU/CSU — Helmut Wieczo- liche Frage ist aber: Ich möchte Sie bitten, mit der rek [Duisburg] [SPD]: Nur, meine Frage, gleichen Elle, mit der Sie meine erste Frage beantwor- Herr Kollege, ist nicht beantwortet!) tet haben, indem Sie der Nettokreditaufnahme die — Wenn Ihnen bei Ihrer eigenen Finanzgeschichte, Entlastung der sozialen Sicherungssysteme zugerech- die Sie politisch zu verantworten haben, eine Nu ll net haben, zu messen, wenn wir jetzt über die gesamte -Quote noch nicht angemessen erscheint, ist das Ihre Nettokreditaufnahme des Staates reden. Sache. Ich bin gar nicht so kühn, zu sagen, wir sollten nur auf das Defizit des Bundeshaushalts achten. Ent- Vizepräsident Hans Klein: Was ist bitte die Frage, scheidend ist natürlich das gesamtstaatliche Finanzie- Herr Kollege Wieczorek? rungsdefizit unter Einschluß der alten und der neuen Bundesländer, unter Einschluß aller Gemeinden, des Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD) : Ich möchte ihn Fonds Deutsche Einheit, des Kreditabwicklungsfonds fragen, wie hoch denn jetzt ehrlicherweise die Netto- und auch eines Großteils der Treuhandkredite. kreditaufnahme der öffentlichen Hand ist, einschließ- Das ist ja das Problem, dem wir als Haushaltspoliti- lich der Schattenhaushalte. Man kann ja nicht inner- ker uns mit Blick auf die Zukunft zu stellen haben. Die halb von fünf Minuten auf der einen Seite so und auf gesamte Größenordnung von — sage ich einmal — der anderen Seite so rechnen. rund 150 Milliarden DM erreicht ja die Schmerz- zone. Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Das ist wohl Ihr (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: 200 Milliar- Problem, wenn Sie meiner Rede bis jetzt inhaltlich den DM mit dem, was Sie da aufgeführt ha- nicht gefolgt sind. Ich hatte genau davon eben Zahlen ben!) vorgetragen und Ausführungen gemacht und möchte das jetzt nicht wiederholen. — Gehen wir einmal von realistischen Zahlen aus! Ich will hier ja nicht Ihre Phantasiezahlen zugrunde le- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist sein Pro- gen. Eine realistische Zahl liegt bei 150 Milliarden blem, richtig! — Weiterer Zuruf von der DM. Das sind dann schon über 5 %. Ich meine, da bin- CDU/CSU: Weil er sich immer auf die näch- det uns alle die gesetzliche Pflicht zur Wahrung des ste Zwischenfrage konzentriert! — Zurufe gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Deshalb von der SPD — Abg. Ingrid Matthäus-Maier müssen wir unsere Haushaltspolitik mehr und mehr [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) zukunftsorientiert im Sinne einer Selbstdisziplinie- — Nein, im Moment bin ich dran! rung betreiben, und genau dies haben wir beim Haus- (Zuruf von der CDU/CSU: Mach weiter!) halt 1991 gemacht. Sie hatten vorhin ausreichend Gelegenheit. Sie haben Meine Damen und Herren, stabiles Wachstum Ihre Chance nicht genutzt. — gestern hieß es, wir hätten ein schlaffes Wachstum; (Zurufe von der CDU/CSU: Es hätte mehr heute sind die Zeitungen voll davon, daß wir in der kommen können in der Zeit! — Nutze die Bundesrepublik einen neuen europäischen Spitzen- Chance zur Aufklärung, Adolf!) wert von 4,2 % Realwachstum erreicht haben — , aber auch die einheitsbedingte Sonderkonjunktur: Das Heißt das, keine weiteren waren die beiden wesentlichen Quellen — nicht etwa Vizepräsident Hans Klein: Zwischenfragen, Herr Kollege Roth? Steuertarife —, aus denen heraus wir die mittlerweile 150 Milliarden DM für die Finanzierung des Aufbaus speisen konnten. Wir haben die Kapitalmärkte nicht Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Also gut, Sie als überfordert. letzte. Bei Ihnen mache ich noch eine Ausnahme.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Roth, wollen Sie bestreiten, daß Bund, Länder, Gemeinden, der Fonds Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Roth, ge- Deutsche Einheit, die Treuhand, Bahn und Post, der statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Kreditabwicklungsfonds, das ERP-Sondervermögen, Wieczorek? alles dies zusammen, in diesem Jahr um die 200 Mil- (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Er soll reden liarden DM Schulden machen, wollen Sie das ernst- und nicht immer zwischenfragen!) haft bestreiten — seien Sie vorsichtig, Herr Kollege, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1955

Ingrid Matthäus-Maier das kann man nachrechnen, über 200 Milliarden Haushaltsvorsorge, Schaffung von Gestaltungsspiel- DM! —, räumen. Für uns ist es immer ein ordnungspolitisches (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das Anliegen gewesen, ein Stück weit dem Grundsatz zur sind fast 8 % des Bruttosozialprodukts!) Geltung zu verhelfen: Besser niedrige Steuertarife mit wenig Ausnahmen als überhöhte Steuertarife mit zu und daß das über 7 % des Bruttosozialprodukts aus- vielen Schlupflöchern. macht? Wollen Sie diese Zahl bestreiten? (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Rich (Zuruf von der CDU/CSU: Da ziehen wir die -tig!) Schulden der SPD-Länder ab!) Das ist ordnungspolitisch unser Ansatz. Ich möchte in diesem Zusammenhang eine herzli- Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Ich möchte Ihnen che Aufforderung an die Opposition richten. Wir wol- eines sagen. Natürlich bin ich bei Ihnen vorsichtig. len ja noch in diesem Monat Klarheit über das von uns Warum nicht?! gewollte und in der Koalition vereinbarte Subven- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und tionsabbauprogramm von 10 Milliarden DM schaffen. der SPD) Sie sind herzlich aufgefordert, Ihren Beitrag dazu zu liefern. Nur öffentlich die Vorschläge zu zerpflücken Nur sollten Sie, wenn ich hier ehrlicherweise auf das und polemisch zu verzerren, das ist kein sachgerech- gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit und nicht nur ter Beitrag zu einer vernünftigen politischen Arbeit. auf das Finanzierungsdefizit des Bundes selbst auf- Sie mögen das für gute Opposition halten; eine ver- merksam mache, nünftige Politik ist es allemal nicht. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sie (Gudrun Weyel [SPD]: Aber wir dürfen doch können sich die Wahrheit nicht aussu- eine eigene Meinung haben!) chen!) Meine Damen und Herren, ich möchte nur kurz mit jetzt nicht alles hineinrechnen, was Ihnen dazu pas- Blick auf den Bundeshaushalt 1992, den wir in diesem send erscheint. Parlament bereits in fünf Wochen als Regierungsent- (Zuruf von der CDU/CSU: Auch nicht die wurf vorgelegt bekommen, darauf hinweisen dürfen, SPD-regierten Bundesländer! — Helmut daß wir uns mit unserer Politik erhebliche Gestal- Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist doch tungsspielräume geschaffen haben. Da ist zum einen eine Eierei hier!) der Bundesanteil aus dem beabsichtigten Abbau von Die Sondervermögen des Bundes — da nenne ich jetzt steuerlichen Vergünstigungen und Finanzierungshil- einmal die Deutsche Bundespost, die wir gerade pri- fen. Da sind zum anderen die 17 Milliarden DM aus vatisiert haben, dem Wegfall von internationalen Sonderkosten — Golfkrieg und ähnliche Aufwendungen —. Da sind (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Rech- ferner 10 Milliarden DM zusätzliche Einnahmen aus nen Sie sich nicht gesund!) dem befristeten Solidaritätszuschlag für 1992. Da geht die sich sozusagen als marktfähiges Unternehmen in es ferner — ich schätze die Größenordnung nur — um der deutschen Wirtschaft betätigt —, 4 bis 5 Milliarden DM aus dem weiteren schrittweisen (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Abbau der ehemals teilungsbedingten Kosten. Komm, komm, komm!) Bereits diese wenigen Positionen ergeben 40 Mil li sollte man jetzt nicht auch noch in den Bundeshaus- -arden DM. Bei diesem Volumen muß es dem Bundes- halt, in das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit hin- finanzminister möglich sein, die in der mittelfristigen einrechnen. Finanzplanung vorgesehene Rückführung der Netto- kreditaufnahme im nächsten Jahr entsprechend zu (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Aber bewerkstelligen. natürlich! — Weitere Zurufe von der SPD) Ich möchte für die Haushaltspolitiker der Koalition Ich bleibe bei der Größenordnung, die die Deutsche Bundesfinanzminister Dr. Waigel, der heute hier eine Bundesbank ihren Bewertungen zugrunde legt. ganz ausgezeichnete Rede gehalten hat (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch rich -tig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hier meine ich schon, daß wir die Verpflichtung ha- und in der Sache Punkt für Punkt auf jeden einzelnen ben, mit Blick auf dieses gesamtstaatliche Finanzie- Einwand der Opposition sehr sachgerecht eingegan- rungsdefizit unsere Haushaltsplanungen für die näch- gen ist, unsere volle Unterstützung auf diesem Wege sten Jahre sehr sorgfältig vorzunehmen. versichern, auch im Blick auf eine weiterhin konse- quente Begrenzung des Ausgabenzuwachses. Wir Nun will ich Ihnen noch etwas sagen. Ich will jetzt nehmen die Empfehlungen des Finanzplanungsrats nicht in extenso auf das Thema Subventionsabbau auch in den kommenden Haushaltsjahren ernst. eingehen. Lassen Sie mich mit Blick auf die Risiken, die sich (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist mittelfristig stellen, einen Punkt offen ansprechen, auch besser; da packen wir dich nämlich über den wir noch manche Diskussion zu führen ha- noch einmal!) ben werden. Ich meine den Kreditabwicklungsfonds, — Herr Kollege Wieczorek, Subventionsabbau ist ja der, wie es im Errichtungsgesetz vom 23. September keine mutwillige Quälerei. Subventionsabbau ist, wie 1990 festgelegt wurde, Ende 1993 aufgelöst werden in Reden hier an diesem Pult oft benannt, ein Stück wird. Er wird dann, soweit möglich, auf die Treuhand- 1956 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Adolf Roth (Gießen) anstalt übertragen, ansonsten zu je 50 To auf den Bund Wir stimmen dem Haushalt in seiner vorliegenden und die neuen Bundesländer. Fassung zu. Er ist die richtige Antwort auf die Heraus- Jedem, der sich um diese Dinge im Detail geküm- forderungen, die sich mit der deutschen Einheit und mert hat, ist einigermaßen klar, um was es hier geht. mit den Veränderungen in Osteuropa ergeben ha- Es geht um 28 Milliarden DM übernommene Gesamt- ben. verschuldung des ehemaligen DDR—Staatshaushalts. Herzlichen Dank. Es geht um mindestens 35 Milliarden DM aus den Verbindlichkeiten des Ausgleichsfonds Währungs- (Beifall bei der CDU/CSU — Gudrun Weyel umstellung, über den Endgültiges allerdings erst [SPD]: Ihre Zustimmung ist außergewöhn dann gesagt werden kann, wenn die DM—Eröff- lich!) nungsbilanzen der Geldinstitute und der Außenhan- delsbetriebe vorliegen. Schließlich geht es auch um die Abwicklungskosten Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- aus dem Außenhandels- und Valutamonopol der ehe- ordnete Dr. Briefs. maligen DDR. Ich nenne hier die Stichworte Deutsche Außenhandelsbank (DABA) und Staatsbank Berlin. Hier geht es z. B. um die Werthaltigkeit von rund Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! 30 Milliarden DM Forderungen in Clearing-Währung, Meine Damen und Herren! Die Finanzpolitik und die darunter allein 24 Milliarden DM für Guthaben, die Haushaltspolitik dieser Bundesregierung, die offen- im Jahre 1990 aus dem Transferrubelgeschäft mit den sichtlich so etwas wie ein Kabinett der Pumpgenies ist, Staaten des ehemaligen RGW aufgelaufen sind. für das laufende Jahr ist unangemessen, unsozial, ins- gesamt ungeeignet zur Lösung der gegenwärtigen Meine Damen und Herren, ich will hier gar keine und zukünftigen Aufgaben, insbesondere ungeeignet Hochrechnung machen — ich versage mir das — , wie zur Lösung der Probleme des Anschlusses der frühe- Ende 1993 die Gesamtverschuldung dieses Kreditab- ren DDR. Sie ist unsozial und unangemessen, weil sie wicklungsfonds aussehen wird. Die jetzige Zinslast die vordringlichen Aufgaben, die Bekämpfung der des Bundes, mit 3,2 Milliarden DM eingestellt, wird Beschäftigungskatastrophe im Osten, die ökologische sich dann vervielfachen. Sanierung in Ost und West, und die Sicherung des Das gilt in gleicher Weise für den Komplex Treu- Friedens im Norden und im Süden sträflich vernach- handanstalt mit seinen extrem defizitären Wirt- lässigt. schaftsplänen, und das gilt für einen sehr schwierigen Von vielen Seiten wird die Bundesregierung be- Bereich, nämlich die Hermes-Exportbürgschaften, die Gewährleistungstitel im Zusammenhang mit un- drängt — ich nenne nur den CDU-Ministerpräsiden- seren internationalen Garantieleistungen. ten Sachsens, Herrn Biedenkopf; ich nenne die Memo-Gruppe, Unternehmensberater wie Herrn Ber- Das Haushaltsdefizit liegt allein im letztgenannten ger, den DGB oder das Sofortprogramm der PDS/ Bereich jetzt schon bei über 3 Milliarden DM. Dabei Linke Liste — , sind aktuelle Entwicklungen gar nicht eingerechnet. Ich nenne nur Algerien, wo schnell mehrere hundert (Lachen bei der CDU/CSU, der FDP und der Millionen Mark Entschädigung fällig werden können, SPD) wenn sich die Dinge dort zuspitzen. mit Ernsthaftigkeit und Zügigkeit Mittel in der not- Wir wissen alle um das sprunghaft gewachsene Ob- wendigen Größenordnung, insgesamt zwischen 150 ligo gegenüber der Sowjetunion. Wir wissen, welche und 200 Milliarden DM in jedem der kommenden strukturellen Veränderungen in Osteuropa dahinter- Jahre, für den Aufbau im Osten zur Verfügung zu stehen. stellen. Ich denke, niemand in diesem Hause will und wird- (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Wovon reden der Bundesregierung in den Rücken fallen, wenn es Sie denn?) im Rahmen der internationalen Verhandlungen beim Weltwirtschaftsgipfel um entsprechende Vereinba- Die Bundesregierung jedoch kleckert weiter plan- rungen geht. und konzeptionslos vor sich hin, Aber ungebundene Kreditierungen ohne ausrei- (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Wovon reden chende staatliche Garantiezusagen der jeweils ande- Sie denn?) ren Seite — etwa der sowjetischen Außenwirtschafts- statt planmäßig und effizient Abhilfe zu schaffen. Sie, bank — überfordern jedenfalls die Leistungsfähigkeit die Bundesregierung und die Koalitionsparteien, tre- des Bundeshaushalts. ten auf der Stelle, wundern sich, daß nichts Richtiges zustande kommt und lamentieren dann darüber. Ihr ständiges wiederholtes Selbstlob, Herr Weng, Herr Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Roth, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Borchert, Herr Roth oder auch Herr Bundesminister Waigel, kann daran nichts ändern. Stereotyp versu- chen Sie, Ihre Fehler anderen anzulasten. Daß die Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Deshalb meine DDR unter der Führung der SED und der Blockpar- ich, daß wir bei aller Verantwortung für die Industrie- teien CDU und Deutsche Bauernpartei — inzwischen arbeitsplätze in den neuen Bundesländern, die nach bei der CDU — , der LDPD und der NDPD, die inzwi- Osten hin orientiert sind, gerade hier der Bundesre- schen in der FDP aufgegangen sind, nur halb so pro- gierung eine vernünftige Entscheidungslinie abfor- duktiv war wie die Bundesrepublik Deutschland, dern müssen. kann man ihr, der DDR, kaum vorwerfen. Eine nied- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1957

Dr. Ulrich Briefs rigere Produktivität kann nun einmal kein Verbre- Mittel für Markterschließung und Diversifizierung zur chen sein. Verfügung stellt! Sichern Sie die Ausdehnung der Kurzarbeitsregelung, der Arbeitsbeschaffungs- und (Zurufe von der CDU/CSU) Qualifizierungsmaßnahmen auch in Qualifizierungs- — So toll sind Sie in Ihrer Produktivität nun auch wie- und Beschäftigungsgesellschaften! der nicht. Wie Sie sehen, es gibt genug zu tun. Tun Sie es Wenn die neue, unvorstellbar hohe Massenarbeits- endlich! losigkeit auf dem Gebiet der früheren DDR, wie zu (Lachen bei der CDU/CSU) befürchten ist, auf bis zu 75 % der früheren Arbeits- Schaffen Sie mit einer expansiven Finanz- und Haus- plätze steigen wird, dann ist nach den Regeln der — in haltspolitik einen Rahmen, in den die p rivate Wirt- Anführungszeichen — „Erfolgsaufspaltung" ein Drit- schaft oder auch genossenschaftlich oder beleg- tel dieser Arbeitslosen — im Klartext: mindestens 2 bis schaftsgetragene Produktionsinitiativen oder ökolo- 2,2 Millionen Arbeitslose — im Osten der Plan- und gisch orientierte Alternativbetriebe von jungen ver- Konzeptionslosigkeit gerade der Finanz- und Haus- antwortungsbewußten Leuten hineinwachsen kön- haltspolitik dieser Bundesregierung zuzurechnen. Die nen! Legen Sie die Hände auf Mittel, die ansonsten an Bundesregierung hat das zweifelhafte Verdienst, in den internationalen Geld- und Kapitalmärkten her- kurzer Zeit auch und gerade durch ihre verfehlte Fi- umvagabundieren würden! Sichern Sie Mittel für den nanz- und Haushaltspolitik die größte Beschäfti- Aufbau im Osten, die ansonsten nur als direkte Aus- gungskatastrophe — läßt man einmal die Dauerka- landsinvestitionen der deutschen Wirtschaft in stei- tastrophe in der sogenannten Dritten Welt beiseite — gendem Maße in die reichen Industrieländer des We- in der gesamten Nachkriegszeit in der gesamten kapi- stens fließen! Legen Sie die Hände auf parasitäre talistischen Welt verursacht zu haben. Parallelen sind Maklereinkommen und Spekulationsgewinne! eigentlich nur in der Massenarbeitslosigkeit der Wirt- schaftskrise der Jahre 1929 ff. zu finden. Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter Wir fordern Sie deshalb als erstes auf: Ändern Sie Briefs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen die Grundkonzeption Ihrer Wirtschaftspolitik, Ihrer Borchert? Finanz- und Haushaltspolitik. (Zurufe von der CDU/CSU: So wie früher?) Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Bitte schön, Herr Gehen Sie voran; werden Sie aktiv; legen Sie ein ent- Borchert. sprechend dotiertes Sofortprogramm, ein Notpro- gramm vor, das Ihre Fehler und Versäumnisse der Jochen Borchert (CDU/CSU): Herr Kollege, darf letzten Jahre in einem zumindest mittelfristigen Pro- ich Sie fragen, warum Sie diese Ausführungen nicht zeß zu beseitigen erlaubt. einmal zumindest ansatzweise im Haushaltsausschuß vorgetragen haben? Wir sagen es noch einmal: Legen Sie ein über fünf Jahre reichendes Programm mit einem Gesamtvolu- (Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!) men von 500 bis 600 Milliarden DM vor, (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Herr Bochert, Fünfjahresplan! — Zuruf von der CDU/CSU: Sie können sich darauf verlassen, daß diese und an- Typische Aussage von Bankrotteuren!) dere Initiativen von uns, der PDS/Linke Liste, in den künftigen Beratungen im Haushaltsausschuß vorge- das beschäftigungsexpansive Maßnahmen in folgen- tragen werden. Darauf können Sie sich ganz fest ver- den Bereichen vorsieht: im Ausbau der Telekommu- lassen. nikation, bei der Modernisierung des Eisenbahnnet- - (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Kin zes, bei der Sanierung von Industriestandorten, Was- der, provoziert ihn nicht, er kommt sonst!) serreservoirs und Mülldeponien, beim Wiederaufbau des Sero-Systems — bauen Sie das Sero-System wie- Ich weiß aus den Beratungen im Haushaltsausschuß, der auf! — , beim Ausbau des sozialen Wohnungsbaus, daß Sie bei solchen konkreten Punkten, wenn es bei der Alt- und Neubaumodernisierung, insbeson- darum geht, eben nicht nur heiße Luft von sich zu dere mit Maßnahmen der Wärmedämmung und geben, wie Sie das tun, in arge Argumentationsnot Wohnumfeldverbesserung, beim Aufbau leistungsfä- kommen. higer Kommunalverwaltungen und kommunaler So- (Abg. Dr. Norbert Rieder [CDU/CSU] meldet zialdienstleistungen, beim Ausbau der Hochschulen sich zu einer Zwischenfrage) und der industrieorientierten Forschung, durch Unter- stützung von Unternehmensgründungen insbeson- Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine wei- dere auch in genossenschaftlicher Organisation, bei tere Zwischenfrage? der Unterstützung von Neugründungen landwirt- schaftlicher und auch sonstiger Produktionsgenossen- schaften. Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Bitte schön. (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Die Rede war (CDU/CSU): Herr B riefs, Sie ha- zu einem anderen Thema geschrieben!) Dr. Norbert Rieder ben etwas über den ersten Fünfjahrplan, den Sie vor- Praktizieren Sie endlich eine branchenbezogene sy- schlagen, vorgetragen. Werden Sie im zweiten Fünf- stematische Industriepolitik, die den Bet rieben der jahrplan auch wieder sozialistische Kollektive bilden ehemaligen DDR neue Produkte und Verfahren sowie und entsprechende Initiativen einführen? 1958 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste) : Herr Kollege, Joachim Poß (SPD): Herr Präsident! Meine Damen ich glaube, diese Frage erledigt sich von selbst, und Herren! Herr Bundesfinanzminister, Sie scheinen (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU, der ein Müßiggänger zu sein, ebenso wie ich. FDP und der SPD) (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Was?) weil sie zeigt, wie platt und wenig greifend sogar ihre Sie haben nämlich gestern abend um 22.30 Uhr den Parallelen sind. Sie haben noch nicht einmal ein biß- Fernsehbericht über Biedenkopf angeschaut. Sie ha- chen Phantasie, um sich eine bessere Parallele einfal- ben das in Ihrer Rede leider nicht weiter ausgemalt, len zu lassen. sonst hätten Sie berichten müssen, daß der Herr Kol- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Solche lege Biedenkopf eigentlich in sehr harten Worten mit Phantasien haben wir nicht!) Ihrer Finanzpolitik ins Ge richt gegangen ist, wenn ich ihn richtig verstanden habe, — Doch, die haben Sie. Das ist doch auf Ihrem Mist gewachsen. (Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie nicht!) Legen Sie — ich sage es noch einmal — die Hände auf parasitäre Maklereinkommen, auf Spekulations- — wir können das Manuskript gerne anfordern — , als gewinne, die ihr Entstehen dem Spiel mit der Not von er an einer Stelle in Richtung Bundesregierung davon Wohnungssuchenden oder der Not der Hungernden sprach, daß es sehr wohl illusionär sei, in Bonn zu in der Dritten Welt verdanken! Auch hierbei sagen wir meinen, daß die wesentlichen Probleme der Finanz- Ihnen konkret — hören Sie gut zu, auch das wird, so politik 1994 ausgestanden seien. Ich glaube, daß in- hoffe ich, Ihre Phantasie vielleicht ein bißchen anre- zwischen alle, die etwas von der Sache verstehen, gen —, wo Sie wieviel Mittel für eine ökologisch wirk- diese Einschätzung von Herrn Biedenkopf teilen. lich nützliche und sozial verantwortbare Finanz- und Haushaltspolitik sichern können. Erheben Sie Ergän- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, gestat- zungsaufgaben, Ergänzungsabgaben — - ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten (Rudi Walther [SPD]: „Ergänzungsaufga- Dr. Waigel? ben"!) — Es ist eine Aufgabe, Kollege Walther, da haben Sie Joachim Poß (SPD): Bitte schön. recht. Es ist eine wichtige Aufgabe. Auch Sie sollten Sie gelegentlich ins Visier nehmen. — Erheben Sie Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Ist es, Herr Kol- Ergänzungsabgaben auf höhere Einkommen und lege, nach dem Besichtigen des Fernsehgerätes ge- Vermögen! Praktizieren Sie Arbeitsmarktabgaben für stern abend Ihrer Aufmerksamkeit beim Verfolgen Beamte, Freiberufler und Selbständige! Verbessern meiner Rede heute entgangen, daß ich genau darauf Sie den Steuereinzug, z. B. durch — endlich — Ein- verwiesen habe, daß wir, sobald feststeht, wie sich die führung des Quelleneinzugsverfahrens bei Zinsein- Finanzentwicklung 1992 in Bund und Ländern dar- künften! Bekämpfen Sie die Wirtschaftskriminalität! stellt, hier noch weiter etwas tun werden, daß beim Praktizieren Sie häufigere Betriebsprüfungen! Si- Strukturhilfegesetz umgeschichtet wird und daß dar- chern Sie, daß die reiche Wirtschaft im Westen, wie in über hinaus an weitere Erleichterungen für Bund und den 50er Jahren bereits geschehen, eine Investitions- Länder gedacht ist? Ist also Ihrer Aufmerksamkeit ent- hilfeabgabe aufbringt, diesmal für den Osten! Gehen gangen, daß das ausdrücklich Gegenstand meiner Sie zu einem Mittel wie der Zwangsanleihe für Han- Rede war und insofern die Aussage von Herrn Bieden- del, Banken, Versicherungen und auch gutverdie- kopf in dem Streifen von gestern positiv durch eine nende Privathaushalte über! Kürzen Sie den Rü- überholende Kausalität der Geschehnisse überholt stungshaushalt! Wir fordern eine Kürzung von 10 Mil- wurde? liarden DM, davon 5 Milliarden DM für ein umfassen- des Rüstungskonversionsprogramm! Praktizieren Sie (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP — sozial vertretbare Subventionsstreichungen! Da wird Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Der Ihnen jeder in diesem Hause zustimmen. Biedenkopf ist oft ein bißchen hinterher!) Gehen Sie ruhig zu weiterer Nettokreditaufnahme über, wenn es für diese Zwecke dient. Aber was Sie Joachim Poß (SPD): Herr Kollege Waigel, man muß machen, ist doch, daß Sie nichts bewirken und gleich- Ihnen zugestehen, daß Sie die Nacht genutzt haben, zeitig die Verschuldung des Staates in einem Maße wenn Sie die Erkenntnisse, die Sie gestern abend bei hochgedrückt haben, wie wir es bisher wirklich nicht der Berichterstattung über Herrn Biedenkopf gewon- gewohnt waren. Über 200 Milliarden DM insgesamt nen haben, heute schon teilweise umgesetzt haben. Nettoneuverschuldung aller Gebietskörperschaften, Aber Herr Biedenkopf ging mit seinen Formulierun- der Schattenhaushalte usw., das ist das Ergebnis Ihrer gen wirklich weit darüber hinaus. — Ich glaube, daß Politik. Das kann es doch nun wirklich nicht sein. Und diese Eingangsbemerkung von mir nicht dazu führen im Osten steigt die Arbeitslosigkeit. So geht es wirk- sollte, daß wir den Disput hier endlos fortsetzen. lich nicht weiter. Aber Sie haben noch eine Frage, bitte. Herr Präsident, ich danke Ihnen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Waigel zu der CDU/CSU: Das war alles?) einer weiteren Frage.

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Ich wollte Sie noch ordnete Joachim Poß. fragen: Es kann doch sicher nicht ein Vorwurf mir Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1959

Dr. Theodor Waigel gegenüber sein, daß ich die Nacht positiv genutzt ich: Sie haben in informellen Gesprächen die Tür ge- habe? öffnet. In Brüssel wurde schließlich gelesen, daß Sie (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und selbst die Mehrwertsteuer ab 1993 erhöhen wollen. der FDP) (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein [CDU/CSU]: Können Sie sich an Ihre Steuer erhöhungen noch erinnern? Sie haben auch Joachim Poß (SPD): Ich finde, daß auch ich — so zwei Mehrwertsteuererhöhungen vorge wie ich festgestellt habe, daß auch ich mich als Müßig- nommen! — Gegenruf von der SPD: Das ist gänger sehe, da ich schon um 22.30 Uhr fernsehe — lange her!) wie Sie versuche, die Nacht produktiv zu nutzen. — Herr Kollege, die letzte Mehrwertsteuererhöhung (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) war 1983 unter Ihrer Verantwortung. Die Menschen in unserem Lande, Herr Bundesfi- nanzminister, reagieren auf die Aufschwungtäu- (Zuruf von der CDU/CSU: Nachdem ihr alles schung und die Steuerlüge. Die Diskussionen in Ihren zum Niedergang gebracht hattet!) Reihen, in den Reihen von CDU/CSU, zeigen das sehr Mit dieser Mehrwertsteuererhöhung hat sich die deutlich. Herr Bundeskanzler Kohl hat — trotz Ihrer Bundesregierung selbst ein Alibi geschaffen, mit dem Einschränkung jetzt und Ihres Themenwechsels — sie die Steuererhöhungen für die breiten Schichten immer nur von blühenden Landschaften in drei, vier unseres Volkes später rechtfertigen kann. Jahren gesprochen, nicht von längeren Zeiträumen und auch nicht von den tiefen Tälern dazwischen. Zu Recht hat der Präsident des Deutschen Industrie- Nun ist es, meine Damen und Herren, die angeblich und Handelstages, Herr Stihl, heftige Kritik an der erfolgreiche Bonner Politik, auf die Herr Kohl Nieder- Bundesregierung geäußert und für Ehrlichkeit plä- lagen zurückführt. diert. Wenn die Bundesregierung für den Aufbau in den neuen Bundesländern weitere finanzielle Mittel (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!) benötige, so Stihl, solle sie dies klipp und klar sagen Anstatt bei den Bürgern durch Offenheit und soziale und nicht um die Sache herumreden. Ausgestaltung der Steuerpolitik um Glaubwürdigkeit (Beifall bei der SPD) zu werben und Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, manövriert sich die Regierung immer weiter in eine Auf die unsozialen Auswirkungen einer Mehrwert- steuerpolitische Sackgasse. steuererhöhung hat der DGB gestern in einer Anhö- (Beifall bei der SPD) rung des Finanzausschusses noch einmal eindringlich hingewiesen. Der DGB verwies auf höchst unsoziale Da kann man eben CDU-Leute wie Herrn Wilhelm Konsequenzen. Die Ergänzungsabgabe wird als einzi- aus Rheinland-Pfalz zitieren, der davon sprach, daß ges progressives Element aus den Regierungsbe- wir nach Flugbenzindebatte, Wehrdienstnovelle und schlüssen zur Finanzierung der deutschen Einheit ab Steuererhöhungsdebatte vor einer Fortsetzung der Mitte 1992 gestrichen. Gleichzeitig wird eine regres- Legende der Lüge stehen, vor der er warnt. Das müs- siv wirkende Mehrwertsteuererhöhung beschlossen. sen nicht nur Sozialdemokraten sagen, sondern das Zusammen mit der Mehrwertsteuererhöhung wird für stellen Leute Ihrer Couleur fest. wenige Spitzenverdiener die Vermögensteuer abge- Die Ungerechtigkeit und Unehrlichkeit der Steuer- senkt. Weitergehende umfassende Steuersenkungen politik dieser Bundesregierung und der sie tragenden für den Unternehmensbereich sollen folgen. Gleich- Koalition war erst am 14. Mai dieses Jahres bei Ver- zeitig erhalten reiche Eltern durch die Erhöhung des abschiedung des Steuererhöhungspakets Gegen- Kinderfreibetrages um 1 000 DM einen Steuervorteil stand parlamentarischer Debatte. Bereits wenige Wo- von 530 DM, der mindestens doppelt so hoch ist wie chen danach sind neue steuerpolitische Entwicklun-- der Steuervorteil von Durchschnittsverdienern. Dieser gen erkennbar, die Anlaß zu höchster Besorgnis ge- verteilungspolitischen Kritik durch den DGB ist nichts ben. hinzuzufügen. Ich möchte nur drei besonders wichtige Punkte her- Die Mehrwertsteuererhöhung ist unseres Erachtens ausgreifen, und zwar erstens die weiteren Steuererhö- auch wirtschaftspolitisch schädlich, weil sie die Infla- hungspläne der Bundesregierung, mit denen sich die tionsrate weiter nach oben treibt und weitere Zinser- Koalition hinter der EG verstecken will; zweitens den höhungen provoziert. Ein weiterer Anstieg des Zins- sich abzeichnenden Etikettenschwindel beim Abbau niveaus würde Investitionen noch zusätzlich verteu- steuerlicher Subventionen; drittens den weiteren ern und den Aufbau in den neuen Ländern weiter Marsch in den Lohnsteuerstaat, der durch die jüng- erschweren. Abgesehen davon würde die mittelstän- sten Steuerschätzungen offensichtlich geworden ist. dische Wirtschaft Schwierigkeiten haben, diese Nach dem Willen der Koalition soll die deutsche Mehrwertsteuererhöhung preislich umzusetzen. Mehrwertsteuer ab 1993 erhöht werden. Dabei wird All diese negativen Konsequenzen möchte die SPD immer klarer, daß sich die Koalition mit ihren Steuer- vermeiden. Deswegen will sie den zusätzlichen Fi- erhöhungsplänen hinter der EG verstecken will. Mit nanzbedarf nicht über eine Mehrwertsteuererhöhung ihrem Vorhaben hat die Bundesregierung die sich decken, sondern über eine auf vier Jahre bef ristete jetzt auf EG-Ebene abzeichnende Entwicklung ver- Ergänzungsabgabe. Das ist die klare Alternative zur stärkt; sie hat diese Entwicklung sozusagen provo- Mehrwertsteuererhöhung. ziert. Herr Waigel, Bezug nehmend auf die Passage heute morgen in Ihrer Rede, daß Sie sich jetzt bedau- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis ernd dem anschließen, was in der EG passiert, sage 90/GRÜNE) 1960 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Joachim Poß Gestatten sie mir eine kurze Anmerkung zum Sub- lich diese Politik ändern wollen? Wo sind diese ventionsabbau. Auch hier arbeitet die Bundesregie- 100 Abgeordneten? rung mit dem bereits bekannten Instrumentarium der (Beifall bei der SPD) Unehrlichkeit. Es droht die Gefahr, daß zur Steuerlüge Herr Scharrenbroich hat gesagt, daß für die Arbeit- der Subventionsschwindel hinzukommt. Bei den bis- nehmergruppe der CDU/CSU alle steuerpolitischen her veröffentlichten Plänen der Koalitionsarbeits- Beschlüsse der Koalitionsvereinbarungen zur Disposi- gruppe zum Subventionsabbau handelt es sich näm- tion stehen. Ich frage die Arbeitnehmervertreter der lich zum weitaus überwiegenden Teil nicht um einen CDU/CSU, die hier sitzen — Herr Scharrenbroich Abbau von Subventionen. Angeboten wird vor allem kommt gerade — : Wer löst das denn ein? Wann kön- die Einschränkung von Gestaltungsmöglichkeiten, nen wir mit Ihnen zusammen, Herr Scharrenbroich, durch die es zu ungerechtfertigten Steuervorteilen die steuerpolitische Wende im Bundestag einleiten? kommt. Das Schließen von Steuerschlupflöchern ist — Auf die kommt es nämlich an. jedoch Daueraufgabe einer funktionierenden Steuer- verwaltung zur Durchsetzung des gesetzgeberischen Willens und zur Sicherung des Steueranspruchs. Da- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- durch aber wird die im Subventionsbericht darge- zeit ist schon reichlich überschritten. stellte Liste der steuerlichen Subventionen nicht kür- zer. Vielmehr muß man dem Bundesfinanzminister Joachim Poß (SPD): Gestatten Sie mir einen letzten vorwerfen, daß er die bereits seit einiger Zeit bekann- Satz, Herr Präsident: Die Zeiten, in denen in der Steu- ten Steuerumgehungsmöglichkeiten nicht schon erpolitik nach Gutsherrenart Umverteilung von unten längst beseitigt hat. nach oben betrieben werden konnte, sind vorbei, auch dank der Wahlerfolge der Sozialdemokraten in (Beifall bei der SPD) den Ländern. Ich bin ganz sicher, daß sich das fortset- zen wird. Wir brauchen die Wende in Bonn. Ich glaube also, daß Herr Möllemann, wenn er am 10. Juli eine ehrliche Liste vorlegen will, diese Vor- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und schläge der Koalitionsarbeitsgruppe sehr genau prü- dem Bündnis 90/GRÜNE) fen muß und daß er sein Ziel noch lange nicht erreicht hat. Steuerliche Subventionen können Sie jetzt schon Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- im Vermittlungsverfahren streichen, wenn Sie unse- ordnete Dr. Gero Pfennig. ren Vorstellungen zustimmen, z. B. beim Dienstmäd- chen-Privileg und beim Schulgeld für Privatschulen. Dr. Gero Pfennig (CDU/CSU): Herr Präsident! Eine ähnliche bedauerliche Entwicklung haben wir Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Poß bei den Lohnsteuereinnahmen. Sie werden immer hat hier einen Wunsch geäußert. Wünsche werden mehr zur Haupteinnahmequelle des Staates. Die sich irgendwann erfüllen. Ab dem Jahr 2000 würde Lohnsteuereinnahmen steigen in den nächsten Jah- ich mal wieder nachfragen. ren mehr als doppelt so schnell wie die anderen Steu- (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein ern. [CDU/CSU]: So ist das! Das habe ich auch gerade gesagt!) (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Ich wollte zunächst einmal auf das eingehen, was [CDU/CSU]: 2 Millionen neue Arbeits- sich der Kollege B riefs heute morgen — vor wenigen plätze!) Minuten — geleistet hat. Es lohnt vielleicht nicht, aber Lag der Anteil der Lohnsteuer am gesamten Steuer- mir fallen dazu zwei Dinge ein. Wissen Sie, Herr Kol- aufkommen im Jahre 1990 noch bei 31,9 %, so wird er lege Briefs, wenn ich Ihnen im Stil Ihres Ex-Parteige- neralsekretärs Honecker antworten müßte, dann sich im Jahre 1995 auf 37,7 % belaufen. Die Belastung- durch die Lohnsteuer steigt von 15,7 % im Jahre 1991 würde ich sagen: Mit Empörung und Abscheu weisen auf 18,7 % im Jahre 1995. Das ist eine Rekordmarke alle Werktätigen in der Deutschen Demokratischen und zeigt, daß Sie die Arbeitnehmer einseitig belasten Republik Ihre verleumderischen Vorschläge hiermit und nicht daran denken, diese Situation, z. B. durch zurück. einen höheren Grundfreibetrag, zu verändern. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Das kön (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ nen sie aber gut! Kongenial!) GRÜNE) Weiter würde ich Ihnen gerne antworten: Sorgen Deswegen hat wohl auch Herr Scharrenbroich, der Sie doch endlich dafür, daß die SED/PDS die ersten Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe, mit bemer- 2 Milliarden DM des Parteivermögens zur Beseiti- kenswerter Offenheit erklärt, daß die CDU ihr Tief nur gung der von ihr verursachten ökologischen Schäden überwinden werde, wenn sie zur Verbesserung ihrer herausrückt. Das wäre etwas Gutes. Glaubwürdigkeit auch mehr Wert auf Stetigkeit in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Steuerpolitik lege. bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Meine Kolleginnen und Kollegen, heute morgen hat Frau Kollegin Matthäus-Maier von der SPD darzule- Die Steuerpolitik müsse sozial akzeptabler werden. gen versucht, daß sie jetzt einen Plan entwickelt hätte, Man kann dieses Bekenntnis von Scharrenbroich nur mit dem die Probleme des Zusammenwachsens begrüßen. Aber wo bleiben die Konsequenzen? Wo Deutschlands schnell und zügig gelöst werden könn- sind die 100 Abgeordneten der CDU/CSU, die angeb ten und mit dem keine Zeit- und Geldverluste mehr Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1961

Dr. Gero Pfennig einträten. Ich kann aus meinen Erfahrungen, Frau-tragsteller ein Formular ausfüllt, das ungefähr 25 Sei- Kollegin, nur sagen: Wenn Sie selbst und andere im ten umfaßt — und das für 5 000 DM Modernisierungs- Jahre 1990 nicht versucht hätten, den Termin der zuschuß! Da wird beim Aufbau der neuen Bundeslän- deutschen Einheit immer wieder hinauszuschieben, der Verwaltung an der falschen Stelle aufgebläht, dann hätten wir weit weniger Reibungs- und auch statt an der richtigen Stelle anzusetzen. Das sind die Geldverluste gehabt. Übrigens hätte es mit Sicherheit Probleme. weniger Probleme gegeben, wenn sich alle westli- (Beifall bei der CDU/CSU) chen Bundesländer rechtzeitig darauf vorbereitet hät- ten, daß in der DDR keine Verwaltung und keine Ich will ein Weiteres sagen. Es nützt überhaupt nichts, Gerichtsbarkeit existierte, sondern nur etwas, was sich über Pläne und Planspiele zu unterhalten. Viel- sich so nannte. mehr kommt es darauf an, daß die Signale, die der Bund mit seinem Haushalt setzt, endlich zum Erfolg Ich will damit sagen: Für mich paßt es nicht zusam- führen. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, daß men, wenn die Opposition der Bundesregierung und die Landes- und Kommunalverwaltung funktioniert. dem Bund einerseits Vorhaltungen macht, nicht ge- nug für den Aufbau in den neuen Ländern zu tun und Ich möchte Ihren Blick auf folgendes lenken: getan zu haben, und andererseits den Bund wegen Deutschland ist keine Insel; wir sind ein Teil der Euro- der Höhe der Bundesausgaben und der dafür erfor- päischen Gemeinschaft. derlichen Neuverschuldung kritisiert. Es nährt in mir (Rudi Walther [SPD]: Wer sagt denn das Ge den Verdacht, daß einige die wirklichen Probleme des genteil?) wiedervereinigten Deutschlands im sich vereinigen- den Europa bis heute nicht erkannt haben. Schon in der alten Bundesrepublik haben wir uns an dieser Stelle darüber lustig gemacht — übrigens oft zu Ich möchte Ihnen das an drei Beispielen deutlich Unrecht — , daß die Rechtsvorschriften, Verwaltungs- machen. strukturen und Antragsverfahren der EG so kompli- Hier wurde heute morgen behauptet, wenn der ziert sind. In den neuen Bundesländern sind das Ver- Bund endlich zum Grundsatz „Entschädigung vor ständnis für das Rechts-, Verwaltungs- und Finanzsy- Rückgabe" überginge, dann würde alles besser funk- stem der Gemeinschaft und die Erfahrung damit sehr tionieren. Ich kann darüber auf Grund meiner Praxis gering. Auch hier muß schnellstens hinzugelernt wer- nur lachen. Nicht die Frage „Rückgabe oder Entschä- den. Denn es fließen nicht nur über den Fonds „Deut- digung" oder „Entschädigung vor Rückgabe" ist das sche Einheit" 37 Milliarden DM — aus dem Bundes- wirkliche Problem, sondern das Problem, das gelöst haushalt insgesamt 100 Milliarden DM — in das neue werden muß, lautet: Was ist der Gegenstand, der zu- Bundesgebiet, sondern die Europäische Gemein- rückgegeben und für den entschädigt werden soll? schaft bringt mit ihren drei Strukturfonds für Regiona- Wer ist derjenige, der etwas zurückgeben muß, und les, Soziales und Landwirtschaft in den nächsten drei wer derjenige, der etwas zurückbekommen kann oder Jahren zusätzlich über 6 Milliarden DM für das neue dafür entschädigt werden soll? Bundesgebiet auf. Ich kann es einfacher ausdrücken: Wenn es keine Diese Möglichkeiten wollen erst einmal erkannt Rechtspfleger, keine Grundbuchämter und häufig werden, und diese Möglichkeiten müssen auch ge- nicht einmal Grundbücher gibt — wie bei sehr vielen nutzt werden. Dazu muß man die Rechtsvorschriften Grundstücken, auf denen frühere Kombinatsbetriebe der Gemeinschaft kennen. Ihre Anwendung ist beson- sitzen —, dann kann ich die Probleme nur dadurch ders kompliziert, weil es mittlerweile zu viele Ausnah- lösen, daß ich eine funktionierende Verwaltung auf- meregelungen gibt. baue. Das ist nach dem Grundgesetz Aufgabe der Ich bin der Gemeinschaft sehr dankbar, daß sie uns Bundesländer und hat mit finanziellen Ausgaben des nicht nur politisch, sondern auch anderweitig bei der - Bundes sehr wenig zu tun. Wiedererlangung der Einheit unterstützt hat und fi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nanzielle Mittel zur Verfügung stellt. Allerdings ma- ordneten der FDP — Carl-Detlev Freiherr che ich darauf aufmerksam, daß der Haushalt der von Hammerstein [CDU/CSU]: Genau das ist Gemeinschaft in diesem Jahr erstmals deutlich die es, Gero!) 100-Milliarden-DM-Grenze überspringt und daß die Europäische Gemeinschaft damit demnächst wieder Ich wiederhole: Die westlichen Bundesländer müs- an die Obergrenze ihrer finanziellen Ziele gerät. sen endlich mehr als bisher Hilfe leisten und dafür sorgen, daß schneller als bisher eine funktionierende In den Erläuterungen zu Kapitel 60 01 des Bundes- Verwaltung in den fünf neuen Bundesländern aufge- haushalts ist dankenswerterweise eine Übersicht ent- baut wird. halten, aus der sich ergibt, daß die Gemeinschaft be- reits im Jahre 1992 die Obergrenze erreicht haben (Zustimmung bei der SPD) könnte. Zweiter Teil der Problematik: Es nützt wirklich nur Wir sollten uns alle rechtzeitig Gedanken darüber sehr wenig, wenn wir als Bund viel Geld für verschie- machen, ob hier neue Belastungen auf Deutschland dene Aufbaumaßnahmen zur Verfügung stellen, die- zukommen und wie wir diesen gegenüberstehen wür- ses Geld aber nicht abfließt, weil z. B., wie ich seit den. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es mit einem gestern weiß, in Brandenburg — unter nordrhein- harten Nein getan wäre, wenn wir, Herr Finanzmini- westfälischer Anleitung, aber möglicherweise auch in ster, auf Wünsche der Gemeinschaft reagieren müs- anderen Ländern so — Zuschüsse zur Wohnungsmo- sen. Schließlich haben wir im Zusammenhang mit der dernisierung nur dann erhältlich sind, wenn der An Einheit in den letzten Jahren Hilfen bekommen. 1962 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Gero Pfennig In diesem Zusammenhang ist im übrigen auch die die EG werden in der Lage sein, ein derart massives Harmonisierung der Mehrwertsteuer zu sehen. Herr Aufbauprogramm, wie wir es derzeit für die neuen Kollege Poß und auch Frau Kollegin Matthäus-Maier, Bundesländer fahren, aus staatlichen Mitteln auch für ich kann das, was der Finanzminister heute morgen unsere Nachbarstaaten zu finanzieren. Die Summe gesagt hat, bestätigen. Ihre Behauptung, daß die Ge- der beispielsweise jetzt schon im Bundeshaushalt vor- meinschaft lediglich deswegen zu einem höheren gesehenen Gelder für den Stabilisierungsfonds der Mehrwertsteuermindestsatz kommt, weil es angeb- westlichen Industrienationen zugunsten Polens läßt lich derzeit Steuererhöhungswünsche der Bundesre- sich nicht unbegrenzt erhöhen. Deshalb plädiere ich gierung gibt, entspricht nicht den Tatsachen. Ich weiß, nachdrücklich dafür, daß wir uns auch angesichts der Frau Kollegin Matthäus-Maier, daß Sie ununterbro- schwierigen Haushaltslage des Bundes schnellstens chen von Steuererhöhungen reden. In diesem Fall Gedanken darüber machen, wie wir den wirtschaftli- hätte ich doch empfohlen, durch einfaches Nachlesen chen Aufschwung bei unseren Nachbarn Polen, von Meldungen festzustellen, wie die Verhältnisse in Tschechoslowakei und auch Ungarn fördern können. Europa tatsächlich sind. Alle Mitgliedstaaten der Eu- Diese Aufgabe sollten wir beim Blick auf die Probleme ropäischen Gemeinschaft sprechen sich für einen der deutschen Einheit nicht vergessen. Dies liegt in Mehrwertsteuermindestsatz von 16 % aus. unserem Interesse und im Interesse der Europäischen Gemeinschaft. (Zuruf von der SPD: Das ist nicht wahr!) (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Nur Spanien und Deutschland treten für 14 % ein. — neten der FDP) Lesen Sie doch die gestrige Meldung im vwd-Eu- ropa! (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Sehr Das Wort zu einer wahr!) Vizepräsidentin : Kurzintervention hat der Kollege Scharrenbroich be- Ich kann sie Ihnen gerne vorlesen. Liebe Kollegin antragt. Matthäus-Maier, wenn Sie hier schon Behauptungen aufstellen, dann sollten Sie sich vorher wenigstens mit der Wahrheit vertraut machen. Heribert Scharrenbroich (CDU/CSU): Frau Präsi- Dies gilt übrigens auch für Ihre Kassandrarufe für dentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! den Fall eines Umzuges des Bundestages von Bonn Ich möchte zu dem Stellung nehmen, was der Kollege nach Berlin. Poß vorhin gesagt hat. (Beifall bei der CDU/CSU) (Rudi Walther [SPD]: Muß aber nicht sein!) Ich finde, gegenüber der Europäischen Gemein- Es ist relativ leicht verständlich, daß die steuerpoliti- schaft verhandelt die Bundesregierung in Sachen schen Beschlüsse der Koalitionsvereinbarung in der Mehrwertsteuerharmonisierung derzeit ausgespro- gefaßten Form nicht mehr in der Gänze verbindlich chen gut. Sie hat die Bundesländer hinter sich. Zur sind, und zwar deswegen, weil wir zu jener Zeit, als Bedingung hat sie ein einheitliches System gemacht, die Koalitionsvereinbarung abgeschlossen worden ist, in dem eine Übergangszeit genau festgelegt werden noch nicht daran gedacht haben, die Steuern wegen wird, nach der zum Ursprungsland-Prinzip überge- der zusätzlichen Belastungen erhöhen zu müssen. gangen werden soll. Diese Verhandlungen sind des- (Lachen bei der SPD) wegen wichtig, weil sie natürlich auf den Haushalt der Gemeinschaft, aber auch auf den Haushalt der Bun- Nachdem wir die Koalitionsvereinbarung bezüglich desrepublik Auswirkungen haben werden und weil der Steuererhöhungen verändert haben, gilt die Ko- wir die Europäische Gemeinschaft noch mit Ausnah-- alitionsvereinbarung nach Auffassung der Arbeitneh- men zum Mehrwertsteuersystem werden in Anspruch mergruppe meiner Partei auch nicht mehr in dem Teil, nehmen müssen. der sich mit der Senkung oder der Abschaffung der Vermögensteuer befaßt. Das wollte ich noch einmal Wenn wir wirklich mit unserer Absicht Ernst ma- ganz klar sagen, damit keiner in der Koalition sagt: chen wollen, Polen, die Tschechoslowakei und auch Aber das steht schwarz auf weiß in der Koalitionsver- Ungarn schneller an das sich einigende Europa her- einbarung. anzuführen, dann müssen wir darüber nachdenken, wie Produktion und Handel in den Grenzgebieten Wir brechen die Koalitionsvereinbarung keines- belebt werden können. Eine Möglichkeit besteht wegs, wenn wir in der Frage der Vermögensteuer eine darin, daß über die Kooperationsabkommen der Ge- andere Position einnehmen. Das ist eine Position, die meinschaft hinaus ein Zoll- und Steuerbefreiungssy- auch schon von einigen Landesverbänden der FDP stem gefunden wird, so wie dies beispielsweise zwi- eingenommen wird. Ich erinnere nur an die Koali- schen den USA und Mexiko existiert und praktiziert tionsvereinbarung zwischen der SPD und der FDP in wird. Dies wird aber nur möglich sein, wenn es Aus- Rheinland-Pfalz. nahmen im Steuer- und Zollsystem der EG gibt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie mögen daraus auch erkennen, daß der Vorwurf der Steuer- Sowohl allgemeinpolitisch als auch aus wirtschafts- lüge auch deswegen unhaltbar ist, politischen Gesichtspunkten wie aus haushaltspoliti- schen Gründen liegt es vorrangig in deutschem Inter- (Rudi Walther [SPD]: Nun ist aber gut! Frau esse, daß diese Zusammenarbeit gerade in den Grenz- Präsidentin, das ist doch keine Kurzinterven gebieten in Gang kommt. Weder Deutschland noch tion; das ist eine lange Rede!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1963

Heribert Scharrenbroich weil wir zu jener Zeit eine Koalitionsvereinbarung pläne 08, 32, 60 und 20 gemeinsam mit der Abstim- abgeschlossen haben, die noch überhaupt keine mung über die Einzelpläne 06, 36 und 33 nach der Steuererhöhung vorsah. Debatte über die drei zuletzt genannten durchzufüh- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das wa- ren. ren schon fünf Minuten! Kurzintervention!) Wir kommen nun — wie heute früh angekündigt — — Nein, meine Damen und Herren, ich muß noch auf zu einer Geschäftsordnungsdebatte über den Antrag einen anderen Punkt aufmerksam machen, wenn es der Fraktion der SPD, die Tagesordnung zu ergänzen mir die Zeit gestattet. um die Beratung des Antrags der Fraktion der SPD auf Einsetzung eines Ausschusses für Fragen der Europäi- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege schen Gemeinschaft — Drucksache 12/448 —. Die De- Scharrenbroich, Sie haben noch sieben Sekunden. batte soll am morgigen Donnerstag stattfinden. Wird zu diesem Aufsetzungsantrag das Wort ge- Heribert Scharrenbroich (CDU/CSU): Sieben Se- wünscht? — Ja. Frau Kollegin Heidemarie Wieczorek- kunden? — Ich möchte nur sagen, daß man bei dem Zeul. ganzen Gerede der SPD von der Steuerlüge doch ei- gentlich davon ausgehen sollte, daß man nur dann lügt, wenn man bewußt anders handelt. (SPD): Liebe Kollegin- (Beifall bei der SPD — Dr. Nils Diederich Heidemarie Wieczorek-Zeul nen und Kollegen! Mit dieser Abstimmung über die [Berli n] [SPD]: Genau das haben Sie ge- Geschäftsordnung entscheiden Sie auch über die macht! — Rudi Walther [SPD]: Das war ein Frage, ob es im Deutschen Bundestag einen Euro- Eigentor!) paausschuß geben wird, den wir bereits in der vorigen Unterstellen Sie uns das nicht! Was Sie dem deut- Wahlperiode beantragt und bei der Konstituierung schen Parlamentarismus mit Ihrer Hetzkampagne da dieses Bundestags erneut gefordert haben. Dieser antun, werden Sie später noch sehr bedauern. Ausschuß und schon die Aufsetzung des seine Einset- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zung fordernden Antrags auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages sind von den Regierungspar- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort zu einer teien bislang in einem Tauziehen ohnegleichen ver- weiteren Kurzintervention hat der Kollege Poß. weigert worden. Wir appellieren an Sie, heute mit uns gemeinsam dafür zu stimmen, daß der Eurpoaaus- schuß morgen in diesem Deutschen Bundestag einge- (SPD): Herr Kollege Scharrenbroich, Joachim Poß setzt wird, damit er sich konstituieren und seine Arbeit Sie wie alle Politiker der Koalition sollten zur Kenntnis noch vor der Sommerpause beginnen kann. nehmen, daß sich unser Vorwurf der Steuerlüge nicht auf die Koalitionsvereinbarung vom Januar bezieht, (Beifall bei der SPD) (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit einem halben wird aber behauptet!) Jahr laufen die beiden Regierungskonferenzen zur — das haben Sie soeben gerade ausgeführt — , son- politischen Union sowie zur Wirtschafts- und Wäh- dern auf die Tatsache, daß Sie auf den absehbaren rungsunion. Wichtige Zwischenergebnisse liegen vor. finanziellen Mehrbedarf nicht in der Weise eingegan- Ein Ausschuß, der erst im Dezember dieses Jahres gen sind, daß Sie unseren Feststellungen und Forde- eingesetzt werden soll, kann nichts mehr beeinflus- rungen, finanzpolitisch sozusagen die Hose runterzu- sen. Er kann nur noch mit dem Kopf nicken oder nein lassen, nachgekommen wären und damit eingestan- sagen. Der Deutsche Bundestag sollte sich zu schade den hätten, daß es zu Steuermehreinnahmen kommen dafür sein, ein solches Verfahren einzuschlagen. müsse — wie es die SPD und ihr Spitzenkandidat im - (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf Wahlkampf gesagt haben. Darauf bezog sich der Vor- gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) wurf der Steuerlüge. Jetzt wird über die europäische politische Union bera- (Beifall bei der SPD) ten. Jetzt besteht die Chance, Einfluß zu nehmen. Wer Wenn Sie das Image der CDU jetzt verbessern wol- jetzt darauf verzichtet, der verzichtet als Mitglied die- len, indem Sie fordern, daß die CDU redlicher auftre- ses Deutschen Bundestags darauf, in dieser Frage mit- ten soll, dann sollten Sie das im Bundestag bitte schön zureden. praktizieren. Die Präsidentin des Deutschen Bundestages Rita (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das Süssmuth, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat doch ist gar nicht mein Thema!) offensichtlich auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion Ich freue mich schon darauf, mit den 100 Kollegen gesprochen, als sie zu Beginn des vorigen Monats und Kolleginnen der CDU/CSU-Arbeitnehmergruppe gesagt hat, daß ein Unterausschuß für Fragen der demnächst in diesem Hause für eine sozialere Steuer- europäischen Gemeinschaft nicht ausreiche, sondern politik stimmen zu dürfen. wir einen Europaausschuß bräuchten. Bitte schön, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf- liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU- gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) Fraktion, stimmen Sie doch für das, was Frau Süss- muth für die Abgeordneten dieses Parlaments zu Recht gesagt hat! Vizepräsidentin Renate Schmidt: Meine sehr ge- ehrten Kollegen und Kolleginnen, es ist interfraktio- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf nell vereinbart, die Abstimmung über die Einzel- gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) 1964 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Heidemarie Wieczorek-Zeul Nach der deutschen Vereinigung wird die europäi- Kosten der Dritten Welt verläuft und den Nord-Süd- sche politische Union der nächste wichtige Schritt bei Konflikt verschärft. den umwälzenden Veränderungen in unserem Land Schließlich ist die PDS/Linke Liste der Auffassung, sein. Das ist eine Stufe, liebe Kolleginnen und Kolle- daß der vorgeschlagene Ausschuß demokratische gen, die für alle Menschen in unserem Lande tiefgrei- im europäischen Integrationsprozeß beför- fende Veränderungen mit sich bringen wird: eine ein- Elemente dern und stärken kann. heitliche neue Währung, eine neue und andere So- zialpolitik, eine gemeinsame Außen- und Sicherheits- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Davon politik. verstehen Sie doch nichts!) Wenn Sie dem Deutschen Bundestag einen solchen Dabei geht es nicht allein um die Entscheidungsbe- Ausschuß versagen und ihm darüber hinaus verweh- fugnis des gewählten Parlaments, sondern um die de- ren, darüber in diesem Bundestag abzustimmen, dann mokratische Einbeziehung aller Schichten unseres ist das so, als hätten Sie darauf verzichtet, einen Aus- Volkes in allen, nicht zuletzt in den neuen, Bundes- schuß für die deutsche Einheit einzurichten, so daß ländern. sich der Deutsche Bundestag mit diesen zentralen Fragen nicht hätte beschäftigen können. Die verhängnisvollen ökonomischen und sozialen Der Bundesrat hat bereits in der vorigen Wahlpe- Folgen der ohne jegliche Übergangsphase erfolgten riode einen Europaausschuß eingesetzt. Damit hat er Ausdehnung der EG auf diese Länder sind bekannt. sich wichtige Einflußchancen gesichert. Wollen Sie für Sie zumindest mildern zu helfen, darin sollte der Aus- den Deutschen Bundestag darauf verzichten? Sie wol- schuß im Interesse der Menschen eine vorrangige len das hoffentlich gemeinsam mit uns nicht. Aufgabe sehen. Deshalb appelliere ich an Sie, die internen Spiel- (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Das chen zwischen CDU/CSU und FDP zu unterlassen und sind doch nicht die Folgen! Die Ursache ist im Interesse der Demokratie und der europäischen doch Ihr Mißerfolg gewesen und nicht die Einigung ein Votum für den Antrag der SPD-Fraktion Ausdehnung der EG! Ihre Politik hat das her zur Aufsetzung ihres Antrags auf Einsetzung eines beigeführt, und nicht die Ausbreitung der Europaausschusses zu geben. — EG! Das ist ja unglaublich!) Ich danke Ihnen sehr. — Sie haben heute schon einmal nicht zu Unrecht (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf- gehört, daß es nicht nur um 40, sondern um 41 Jahre gang Ullmann [Bündnis 90/GRUNE]) geht. (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: 45 Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es liegen mir wei- Jahre Mißwirtschaft von Ihnen und nicht die tere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung vor. Zu- EG-Politik! Sie sollten schweigen! Sie sollten nächst Herr Dr. Modrow. sich schämen und nicht hier vorne reden!) (Zurufe von der CDU/CSU: Oho!) Das 41. Jahr haben auch Sie vor allem in dem ganzen Prozeß der Vereinigung mit am Hut. Das bekommen Sie nicht los. Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- tin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herzlichen Die Geschichte dieses Landes wird sich nicht als Dank für Ihr Wohlwollen, das Sie hier zum Ausdruck eine Geschichte derart darstellen lassen, daß es nur gebracht haben. die DDR und eine Bundesrepublik gegeben hat, die Gegenwärtig befindet sich der Zug der europäi- nie mit dieser DDR zusammen existierte. Bleiben Sie schen Integration auf einem wichtigen Streckenab-- mal beim Thema! schnitt. Bei den Entscheidungen über die Vollendung (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Blei des EG-Binnenmarkts und in den Beratungen über ben Sie einmal dabei! Ihr Versagen und Ihre eine Wirtschafts- und Währungsunion sowie eine Poli- Mißwirtschaft!) tische Union müssen jetzt die Weichen gestellt wer- den, wenn das anzustrebende Ziel, die Schaffung ei- Niemand wird ernsthaft bestreiten, daß die Herstel- nes nach innen und außen friedlichen, kooperativen lung der europäischen Einheit nicht allein den Regie- und solidarischen Europas, nicht verfehlt werden soll. rungen zu überlassen ist. Ein europäischer Bundes- Der vorgeschlagene Ausschuß kann dabei hilfreich staat, zumal mit gesamtkontinentalen Perspektiven, sein, um so mehr, da die europäische Integration der kann aber auch nicht allein vom Parlament beschlos- parlamentarischen Begleitung und Kontrolle bisher sen werden. Er bedarf einer breiten Zustimmung, Ge- nicht selten entzogen war. staltung und Mitwirkung der Öffentlichkeit. Ein fried- Der Ausschuß wird die ihm zugedachten Aufgaben liches geeintes Europa kann nicht von oben aufge- jedoch nur dann erfüllen, wenn er in seiner Arbeit an pfropft werden. Es muß vor allem auch von unten der Gestaltung der Europäischen Union stets eine ver- wachsen. Das gehört genau zu dem Problem, zu dem pflichtende gesamteuropäische Perspektive im Blick Ihre Zwischenrufe kommen. hat. Ebensowenig wie die Entwicklung der EG zu (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein einer weiteren Abschottung Westeuropas und damit [CDU/CSU]: Aber doch nicht die PDS!) zur Vertiefung der politischen, ökonomischen und so- zialen Klüfte zwischen Ost und West führen darf, kann Dazu könnte der Ausschuß für Fragen der Europäi- zugelassen werden, daß die europäische Einigung auf schen Gemeinschaft einen Beitrag leisten. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1965

Dr. Hans Modrow In diesem Sinne stimmen wir dem Vorschlag zu. tige Ausschuß verankert. Dies ist nicht nur eine For (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Gerhard malität, sondern der Auswärtige Ausschuß trägt die O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie waren doch Verantwortung dafür, die Entscheidungen des ge- Nutznießer der EG! Ohne die Hilfe der EG samten Hauses federführend vorzubereiten. Der Aus- wären Sie doch schon vorher pleite gewe- wärtige Ausschuß kann sich dies schlicht nicht aus der sen!) Hand nehmen lassen. Das ist ganz eindeutig. Zur Ar- beitsfähigkeit: Der Unterausschuß des Auswärtigen Ausschusses hat in der vorigen Wahlperiode gute Ar- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die nächste Wort- beit geleistet. meldung zur Geschäftsordnung: Herr Abgeordneter (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Irmer. Ich verstehe gar nicht, weshalb die Kolleginnen und Kollegen, die dort an der vordersten Front mitge- Ulrich Irmer (FDP) : Frau Präsidentin! Meine Damen kämpft haben, jetzt das alles so klein und häßlich und Herren! Es ist einigermaßen erstaunlich, wie sich machen wollen und so tun, als ob dort überhaupt an dieser Geschäftsordnungsfrage hier plötzlich Lei- nichts erledigt worden wäre. denschaften enthemmen. Ich bitte Sie alle, doch zu (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wir einer gewissen Nüchternheit der Betrachtung zurück- wollen abstimmen!) zukehren. Ferner wurde das Argument gebracht, wir hätten im Wir sind gegen die Aufsetzung dieses Punktes in Bundestag keine vernünftige Übersicht über die Vor- dieser Sitzungswoche, weil wir uns der guten Hoff- lagen, die aus der EG kommen. Das ist doch keine nung hingeben, daß es interfraktionell zu einer Eini- Aufgabe eines Parlamentsausschusses, das ist eine gung kommt. Aufgabe der Verwaltung. Diese Aufgabe kann die (Detlev von Larcher [SPD]: Wann denn? Im Verwaltung vernünftig erledigen. Dezember?) (Beifall bei der FDP) Wir sind uns in der Sache selbst ja alle einig. Bitte stimmen Sie dagegen, den Punkt jetzt aufzu- (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!) setzen. Ich hoffe, daß wir eine vernünftige Einigung Wir wollen die Europapolitik hier im Deutschen Bun- erreichen. Ich hoffe, daß wir mit Ihnen die verfas- destag in der Weise behandeln, die ihr gebührt. sungsrechtlichen Fragen klären können. Ich warne davor, im Schnellschuß eine Entscheidung zu treffen, (Beifall der Abg. Cornelia Schmalz-Jacobsen die mit der Verfassung nicht in Einklang steht. [FDP] — Zurufe von der SPD: Aha!) Ein letztes Wort an meine lieben Koalitionsschwe- Die Europapolitik braucht politisch den Stellenwert, stern und -brüder von der CDU/CSU. Ich bitte Sie, 1 der ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung nicht nicht ausgerechnet an dieser eher pe ripheren Frage nur unseres Landes, sondern des gesamten Konti- eines Unterausschusses oder Ausschusses das Prinzip nents zukommt. zu verlassen, tunlichst nicht mit wechselnden Mehr- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) heiten abzustimmen. Hier ist genau der Punkt: Bilden wir uns doch nicht Ich danke Ihnen. ein, diese Probleme durch einen Querschnittausschuß (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten lösen zu können, der gar nicht in der Lage sein wird, der CDU/CSU) das politische Gewicht zu entfalten, das diesen Fragen zukommt! (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es liegt eine wei- Ich frage die Agrarpolitiker, ob sie bereit wären, - tere Wortmeldung vor, und zwar die des Kollegen sich die Entscheidungen über die wichtigen agrarpoli- Bohl. tischen Weichenstellungen aus der Hand nehmen zu (Rudi Walther [SPD]: Seit wann interessiert lassen. Ich frage die Finanzpolitiker, ob sie bereit wä- der sich für Europa?) ren, die Federführung an einen Europa-Ausschuß ab- zugeben und damit den entscheidenden Einfluß auf diese Fragen zu verlieren. Friedrich Bohl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute bei der Ab- Der dritte Punkt ist wiederum nur ein Beispiel: Der stimmung zunächst um die Frage, ob wir den Antrag Auswärtige Ausschuß darf nach unserem Grundge- der SPD, einen Europa-Ausschuß einzusetzen, auf die setz die federführende Kompetenz für die Fragen der Tagesordnung nehmen. europäischen Integration überhaupt nicht aus der Hand geben. Die Einsetzung eines Europa-Ausschus- (Zurufe von der SPD) ses, der die Federführung für die entscheidenden Fra- Es geht also nicht um die Entscheidung in der Sa- gen der europäischen Integration bekäme, wäre ver- che. fassungswidrig. Es gab, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, bisher die (Beifall bei Abgeordneten der FDP — Zurufe gute Übung, in den Haushaltswochen im Grunde ge- von der SPD) nommen keine Sachanträge auf die Tagesordnung zu Im Grundgesetz ist neben dem Verteidigungsaus- nehmen. schuß als einziger Parlamentsausschuß der Auswär- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 1966 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Friedrich Bohl Sicher gibt es keine Regel ohne Ausnahme. Wir neh- Vielen Dank. men z. B. die Empfehlung des Vermittlungsausschus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU ses, damit das Gesetz verabschiedet werden kann, auf — Beifall bei der FDP) die Tagesordnung, ohne darüber eine Aussprache zu führen. Das ist richtig. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es liegen mir zwei Aber Sie haben zu dem jetzt erörterten Punkt in der weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung vor. jüngsten Sitzung des Ältestenrates keinen Antrag ge- Als nächste hat Frau Kollegin Dr. Renate Hellwig das stellt, sondern Sie haben ihn erst nach jener Sitzung Wort. nachgeschoben und als Wunsch vorgetragen. Die bis- herige Tagesordnung für diese Woche hatten wir im Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Meine sehr verehr- Ältestenrat einvernehmlich festgelegt. Am Montag ten Damen und Herren! Ich spreche für die hoffentlich sind wir mit Ihrem Wunsch konfrontiert worden, den nicht zu kleine Gruppe in der CDU/CSU-Fraktion, die Punkt in dieser Woche auf die Tagesordnung zu neh- es leid ist, an Geschäftsordnungsfragen die Grund- men. satzfrage, ob wir einen Europa-Ausschuß einrichten oder nicht, nunmehr seit Januar dieses Jahres schei- Nun ist der Sachverhalt offensichtlich: Es gibt auch tern zu lassen. in der Koalition — warum soll das hier geleugnet wer- den? — unterschiedliche Bewertungen in dieser (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Frage. Wenn ich es richtig einschätze, ist in meiner — Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Fraktion mehrheitlich durchaus der Wunsch vorhan- GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ den, einer solchen Überlegung, einen Europa-Aus- Linke Liste) schuß einzusetzen, näherzutreten. Wir wissen alle ganz genau, daß eine Vereinbarung mit der SPD-Fraktion, es statt heute einvernehmlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der nächste Woche zu behandeln, möglich gewesen wäre, SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE) wenn die Koalition so weit gewesen wäre, sich auf den Nun wissen Sie aus vielen Jahren der gemeinsamen Europa-Ausschuß zu einigen. Mitarbeit — Frau Kollegin Matthäus-Maier lacht be- Ich sehe es als unabdingbar an, daß wir heute nicht sonders wissend — , daß man sich in einer Koalition nur das Thema auf die Tagesordnung setzen, sondern auch verständigen muß. Es ist auch kein Geheimnis, auch in der Sache darüber abstimmen. daß es in den Reihen der FDP gewisse Vorbehalte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU gibt. — Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Ich meine, es müßte nun doch möglich sein, unse- Linke Liste) rem Angebot, diesen Tagesordnungspunkt in der nächsten Sitzungswoche zu behandeln, näherzutre- Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kol- ten. leginnen und Kollegen, bitte — ich spreche jetzt ins- besondere in meine Fraktion hinein — nehmen Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU meine Worte ernst. Ich sage Ihnen voraus: Wenn wir — Beifall bei der FDP) heute den Europa-Ausschuß nicht einsetzen, werden wir ihn dieses Jahr nicht mehr bekommen. Er wird in Ich meine, es könnte an einer Woche in der Tat nicht Überweisungen und in Diskussionen um das Für und liegen. Wider im Geschäftsordnungsausschuß versacken. Wir, die Fraktion der CDU/CSU, haben gestern die- Bitte nehmen Sie das ernst. sen Punkt behandelt, und die Fraktion der CDU/CSU Ich bin im Mai auf der Tagung der Vorsitzenden der hat sich entschieden, mit der FDP heute gegen eine Europa-Ausschüsse gewesen. Ich war als einzige mit Aufsetzung auf die Tagesordnung — nur darum geht einer Sondergenehmigung der Präsidentin dort. Wir es — zu stimmen. sind das einzige Parlament, das nicht mit einem Eu- ropa-Ausschuß vertreten war. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE) Ich bitte, weil ich, glaube ich, Anlaß habe, dieses zu Jedes halbe Jahr finden diese Sitzungen statt. Die sagen, alle Kollegen auch der CDU/CSU-Fraktion, Vorbereitung für die nächste beginnt jetzt in der Som- diese Überlegungen zu verinnerlichen merpause, und wir sind nicht handlungsfähig. Unser Bundesrat war mit drei Mitgliedern voll vertreten; (Lachen bei der SPD — Detlev von Larcher denn der Bundesrat hat schon seit den 60er Jahren [SPD]: Seit Dezember!) einen eigenen Europa-Ausschuß. und mit der Koalition gemeinsam den Antrag der SPD, Wenn dieses Parlament nicht die Kraft findet, dann dieses Thema heute auf die Tagesordnung zu setzen, hat sich dieser Bundestag von allen Bekenntnissen zu abzulehnen. Ich glaube, wir würden uns einen Europa und von der parlamentarischen Kontrolle der schlechten Dienst erweisen, wenn wir mit wechseln- Regierungskonferenzen verabschiedet. den Mehrheiten in einer Geschäftsordnungsdebatte Vielen Dank. hier im Bundestag agierten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Also, für die CDU/CSU-Fraktion stelle ich fest, daß — Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ wir dem Antrag der SPD, das Thema auf die Tages- GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ ordnung zu setzen, widersprechen. Linke Liste) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1967

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Mir liegt eine Nehmen wir einmal an, dieser Antrag fände eine letzte Wortmeldung zur Geschäftsordnung vor. Der Mehrheit. — Der Kollege Bohl ist jetzt gerade dafür Kollege Dr. Peter Struck. eingetreten, daß nicht sofort in der Sache abgestimmt wird. Unsere Geschäftsordnung sieht für diesen Fall vor, daß das nicht sofort sein muß. Von der SPD ist Dr. Peter Struck (SPD): Frau Präsidentin! Meine beantragt worden, diesen Punkt morgen auf die Ta- Damen und Herren Kollegen! Erstens. Die Ausführun- gesordnung zu setzen und dreißig Minuten dafür vor- gen des Kollegen Bohl sind von der Kollegin Frau zusehen. Dr. Hellwig überzeugend zurückgewiesen worden. Ich sehe nicht die Möglichkeit, darüber abstimmen Ich schließe mich ihr vollinhaltlich an. zu lassen, ob sofort abgestimmt wird. Wenn dem jetzt Zweitens möchte ich darauf hinweisen, daß sich die entgegengetreten worden ist, muß eine interfraktio- SPD dann, wenn — wie es im Augenblick den An- nelle Verständigung herbeigeführt werden. Ich sehe schein hat — ihr Geschäftsordnungsantrag eine keine Möglichkeit, anders zu verfahren. So sieht das Mehrheit findet, dem Antrag der Kollegin Hellwig unsere Geschäftsordnung vor. anschließen wird und eine sofortige Abstimmung über (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Einrichtung des Europaausschusses beantragen wird. Nun wird also darüber abgestimmt, dies noch in die- ser Woche — entsprechend einer interfraktionellen (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Vereinbarung — auf die Tagesordnung zu setzen. Ich GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ weise nur auf das Begehren der SPD hin, daß am Don- CSU) nerstag eine 30minütige Debatte dafür angesetzt wird. Kollege Struck, dazu noch einmal? Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nachdem jetzt dieser Antrag noch ergänzt worden ist, gebe ich nach einer weiteren Wortmeldung zur Geschäftsordnung dem Kollegen Friedrich Bohl das Wort. Dr. Peter Struck (SPD): Frau Präsidentin, auch auf die Intervention des Kollegen Bohl hin sage ich: Uns liegt selbstverständlich an einer gedeihlichen Zusam- menarbeit in diesem Hause in vielen Fragen. Friedrich Bohl (CDU/CSU): Frau Präsidentin, dem Hilfsantrag des Kollegen Struck, sofort auch die Ab- (Unruhe bei der CDU/CSU — Zuruf von der stimmung in der Sache herbeizuführen, kann ich nicht CDU/CSU: Mister Biedermann!) zustimmen. — Natürlich! Selbstverständlich! Geschäftsordnungslage ist, daß dann, wenn dem Ich akzeptiere auch die Bitte des Kollegen Bohl. Ob Antrag stattgegeben wird, dieser Punkt für diese Wo- die Abstimmung inhaltlich über diesen Ausschuß che auf der Tagesordnung ist. Es gibt dann keine Ver- dann am Donnerstag oder vielleicht noch heute sein einbarung darüber, zu welchem Zeitpunkt dieser wird, bleibt einer weiteren Besprechung vorbehal- Punkt aufzurufen ist. Wir müssen uns darüber verstän- ten. digen, zu welchem Zeitpunkt er aufgerufen werden soll. (Widerspruch bei der SPD — Unruhe) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die Präsidentin Es ist, glaube ich, unstrittig, daß eine solche Verein- sieht Ihren Vereinbarungen mit Erwartung entge- barung über den Zeitpunkt der Debatte immer unter gen. den Geschäftsführern im Einvernehmen mit der Präsi- (Heiterkeit) dentin erfolgt ist. Nun darf ich zur Abstimmung kommen und darf Deshalb bitte ich den Kollegen Struck, doch wirk- diejenigen um das Handzeichen bitten, die für die lich zu überlegen, ob das korrekt ist, zumal wir im Aufsetzung auf die Tagesordnung sind. — Gegen- Ältestenrat vereinbart haben, im Anschluß an den Etat stimmen? — Stimmenthaltungen? — des Finanzministers den Etat des Innenministers auf- zurufen und sich die Redner für den Bereich des In- (Unruhe) nenressorts entsprechend eingerichtet haben. Ich darf das Ganze wiederholen; denn der Sitzungs- Ich glaube also, der Punkt sollte aus kollegialen vorstand kann sich nicht einigen. Gründen, sonst hilfsweise aus Geschäftsordnungs- Ich darf diejenigen, die für die Aufsetzung auf die gründen heute so behandelt werden, wie ich es gesagt Tagesordnung sind, noch einmal um das Handzei- habe: Wir verständigen uns über einen Zeitpunkt, zu chen bitten. — Die Gegenstimmen! — Stimmenthal- dem der Punkt aufgerufen wird. tungen? — Meine Damen und Herren, nachdem der Sitzungsvorstand über das Ergebnis der Abstimmung nicht einig werden kann, kommen wir zur Abstim- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Liebe Kollegen, mung über den Antrag der SPD durch Zählung der liebe Kolleginnen, um Klarheit über die Geschäftsord- Stimmen. Ich bitte Sie daher, den Saal zu verlassen, nungslage zu schaffen, möchte ich auf folgendes hin- und bitte die Saaldiener, dann die Türen zu schlie- weisen: Ich lasse jetzt abstimmen über den Geschäfts- ßen. ordnungsantrag, den Punkt auf die Tagesordnung zu Sind alle Türen mit Schriftführerinnen und Schrift- setzen. führern besetzt? 1968 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Vizepräsidentin Renate Schmidt Die Abstimmung ist eröffnet. maligen Einzelplan 27 — Bundesminister für inner- (V o r s i t z : Vizepräsident Helmuth Becker) deutsche Beziehungen. Die Übernahme neuer, einheitsbedingter Aufga- ben, die Errichtung neuer Bundesoberbehörden, die Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Umorganisation beim Bundesgrenzschutz, bei der ten Damen und Herren, wir wollen die Sitzung fortset- Deutschen Welle, beim Deutschlandfunk und beim zen. Ich möchte auch das Abstimmungsergebnis be- RIAS, aber natürlich auch der Wegfall von Aufgaben kanntgeben. haben für alle Bediensteten des Ministeriums große An der Abstimmung haben sich 463 Mitglieder des Aufgabenvermehrungen und Arbeitsumstellungen Bundestages beteiligt. Mit Ja haben 215 gestimmt, mit gebracht, deren Erledigung ohne starkes persönliches Nein haben 235 gestimmt. Engagement und viele zusätzliche Arbeitsstunden (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- nicht möglich wäre. neten der FDP) Ich möchte als Berichterstatter der Opposition allen Der Stimme enthalten haben sich 13 Mitglieder des Bediensteten, den Angestellten, den Arbeitern und Hauses. Damit ist eine Aufsetzung auf die Tagesord- den Beamten, meinen aufrichtigen Dank für die bis- nung abgelehnt. herige Leistung aussprechen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wol- (Beifall bei der SPD) len die Haushaltsberatungen fortsetzen. Dies ändert natürlich nichts daran, daß die politischen Vorgaben, wie sie von der Regierungskoalition in der Ich rufe auf: Innenpolitik gesetzt werden, Einzelplan 06 (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sehr Geschäftsbereich des Bundesministers des gut waren!) Innern in weiten Bereichen kritikwürdig oder schlichtweg — Drucksachen 12/506, 12/530 — falsch sind, wie ich nun durch meine Ausführungen Berichterstatter: belegen möchte. Abgeordnete Karl Deres Zum sportpolitischen Teil des Haushalts wird im Ina Albowitz Laufe der Debatte mein Kollege Wilhelm Schmidt Rudolf Purps Stellung nehmen. Aber soviel sei schon jetzt gesagt: Einzelplan 36 Ich glaube, es stößt bei Millionen Sportlern hier und in Zivile Verteidigung den neuen Bundesländern auf völliges Unverständnis, daß nicht einmal eine kleine Summe, eine Art Good- — Drucksachen 12/528, 12/530 — will-Zeichen, für eine Anschubfinanzierung zum Auf- Berichterstatter: bau des Breitensports, wie wir es im Haushaltsaus- Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff schuß beantragt haben, zur Verfügung gestellt wird. Rudolf Purps Hier nützt auch der immer wieder angeführte Hinweis Ina Albowitz darauf nichts, es sei der Zuständigkeit oder der Klei- Ingrid Köppe derordnung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden Einzelplan 33 halber nicht möglich, daß dieser Bereich gefördert Versorgung wird; denn dieses Prinzip, meine Damen und Herren von der Koalition, wird ja wegen der deutschen — Drucksache 12/521 — Einheit und der Folgen daraus ständig durchbro- Berichterstatter: chen, auch im Innenbereich, insbesondere im Kul- Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) - turbereich. Ich sage Ihnen, Herr Innenminister Rudolf Purps Dr. Schäuble: Was für die Kultur richtig ist und über Ich sage Ihnen zur Erläuterung, daß zu den Einzel- einige Jahre gewährt haben muß, kann für den Sport plänen 06 und 36 jeweils zwei Änderungsanträge der nicht falsch sein, Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN vorliegen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für insbesondere dann nicht, wenn es darum geht, das die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgese- große ehrenamtliche Engagement, das wir an allen hen. Orten spüren, nicht in Resignation umschlagen zu las- Ich erteile unserem Kollegen Rudolf Purps das sen. Wort. Die Übernahme von Aufgaben des ehemaligen Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen Rudolf Purps (SPD): Herr Präsident! Meine Damen wird auch in der Zukunft erhebliche Schwierigkeiten und Herren! Der Haushalt des Bundesministers des bereiten. Eines ist sicher: Mit dem Wegfall der Teilung Innern weist mit 8,278 Milliarden DM gegenüber dem entfallen auch auf Dauer Aufgabenbereiche, die die- Vorjahr eine Steigerungsrate von 26,2 % aus. Hierbei ses Ministerium besonders wahrgenommen hat. Aber liegt der Schwerpunkt der Mehraufwendungen bei ob man, liebe Kolleginnen und Kollegen, über den den Ausgaben für die fünf neuen Bundesländer, dabei Bereich der Förderung der deutschlandpolitischen vor allem in der Übergangsfinanzierung im kulturel- Bildungsarbeit und der Besucherinformation in Berlin len Bereich, im Aufbau des Bundesgrenzschutzes-Ost so mit der Sense hinweggehen kann, wie dies die und in der Übernahme von Aufgaben aus dem ehe Koalition getan hat, das wage ich doch sehr zu be- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1969

Rudolf Purps zweifeln. Wir leben nicht im Normalfall Deutschland. Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheits- Die wirtschaftlichen Blütenträume, die von der Koali- dienstes". Die Bespitzelung und Terrorisierung von tion vor der Einheit verheißen wurden, haben sich als Millionen von Bürgern, das planmäßige Aussäen von Wählertäuschung und schwere Fehleinschätzung er- Mißtrauen und Furcht über alle Bereiche der Gesell- wiesen. schaft bis tief in die Familien hinein haben die Ent- wicklung normaler zwischenmenschlicher und sozia- (Beifall bei der SPD) ler Beziehungen 40 Jahre lang erheblich behindert Der Einheit Deutschlands — das ist deutlich zu er- und sind genauso scharf zu verurteilen wie die verbre- kennen — folgt zur Zeit die ökonomische Teilung, cherische Perversion, Terroristen nicht nur Unter- und — das ist für mich erschreckend — in den Köpfen schlupf, sondern auch Ausbildungs- und Operations- vieler Menschen in den neuen und alten Bundeslän- basis zu bieten. Dieser ganze unappetitliche und wi- dern entsteht eine neue, eine psychologische derwärtige Komplex muß aufgearbeitet werden. Für Mauer. diese immensen Aufgaben sollten wir alle Herrn „Ossi" und „Wessi" sind für mich schreckliche Gauck und seinen Mitarbeitern alle nur möglichen Sprachgebilde, die am Anfang wohl liebevoll vernied- Hilfestellungen geben. lichend gemeint waren. Sie erhalten jedoch im (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Sprachgebrauch immer mehr diskriminierenden Cha- Liste) rakter. Das notwendige qualifizierte Personal und die erfor- In dieser Situation, die auch der Bundeskanzler bei derlichen Sachmittel müssen zur Verfügung gestellt aller ökonomischen Inkompetenz erkannt hat, halte werden; denn unsere Mitbürger im Osten — aber ich es schlichtweg für einen großen Fehler, den bil- nicht nur im Osten — haben ein Anrecht darauf, daß dungspolitischen Teil des Haushalts herunterzufah- hier lückenlos in einem möglichst überschaubaren ren. Es geht nicht nur um Vertrauensschutz für dieje- Zeitrahmen aufgearbeitet und aufgeklärt wird. nigen, die diese Arbeit während der Teilung hervor- ragend gemacht haben, sondern es geht darum, die Durch die Umwandlung von Stellen für Wachperso- Zukunft der deutschen Einheit in den Köpfen und in nal in höher qualifizierte Stellen für Rechercheure, den Herzen der Menschen, insbesondere der jungen Archivare, Aktenaufarbeiter und Sortierer haben wir, Menschen, zu festigen. meine Damen und Herren von der CDU, im Vorgriff auf den Haushalt 1992 gemeinsam einen ersten Was aber tut die Koalition? — Sie kürzt im Bereich Schritt in die richtige Richtung getan. Ich möchte aber der politischen Bildung, und zwar zu einer Zeit, in der in aller Deutlichkeit festhalten: Wenn dies nicht aus- es darauf ankommt, im geeinten Deutschland gegen- seitige Vorbehalte, die noch vorhanden oder wieder reichen sollte, dann wird sich die SPD für eine weitere neu im Entstehen sind, abzubauen und Verständnis personelle Verstärkung einsetzen. dafür zu wecken, daß die Bürger hüben und drüben Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang folgen- sehr unterschiedliche Lebens- und Erfahrungshinter- des sagen, Herr Minister: Wenn die Übertragung der gründe haben, aus denen heraus ihr Handeln und Akten auf EDV, die ja unerläßlich ist, in Ang riff ge- Denken bestimmt wird. Wir wissen, nur zusammen nommen wird, so schalten Sie von Anfang an das können wir Bürger und Bürgerinnen des geeinten Ihnen unterstehende Amt für Sicherheit in der Infor- Deutschlands Perspektiven für eine gemeinsame Zu- mationstechnik ein, und sorgen Sie für strikte Daten- kunft erarbeiten. sicherheit. Wie wir alle wissen, gibt es höchst interes- (Beifall bei der SPD) sierte Kreise, die jede Schwachstelle in der Datensi- cherung nutzen würden, um durch manipulative Ein- Demokratisches Miteinander kann man lernen, griffe zu versuchen, Daten, Namen zu löschen oder aber es muß auch gelehrt werden. Demokratie muß Vorgänge umzuschreiben. erfahrbar, erlebbar sein, sonst laufen insbesondere die jungen Menschen zu den politischen Rattenfängern. Da ich gerade beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik bin: Ich habe sehr große Zweifel (Beifall bei der SPD) daran, ob das Amt so, wie es offensichtlich seine Auf- Das ist eine Tendenz, die Sie in zunehmendem Maße gabenstellung sieht und in die Arbeit einsteigt, den auch in den Medien in den neuen Bundesländern Erfordernissen nachkommt, aus denen heraus es ge- beobachten können. Wenn Sie die politische Bildung gründet wurde. Wie Sie alle wissen, hat der Bundes- in diesem Stadium radikal beschneiden, dann ist das rechnungshof bei der Informationsverarbeitung in ei- nicht nur kurzsichtig, sondern politisch vollkommen ner umfangreichen Prüfung gravierende Sicherheits- verfehlt. mängel festgestellt. Dies ist der eigentliche Grund für die Errichtung dieses neuen Amtes. Diesen Aufgaben (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li- muß es daher vorrangig gerecht werden. Es geht nicht ste) an, daß ein Großteil der Forschungsarbeiten die Wei- Ich fordere Sie, Herr Minister Schäuble, auf, für den terführung alter BND-Aufgaben beinhaltet und daß neuen Haushalt ein bildungspolitisches Konzept vor- die Beratung der Verwaltung bezüglich der Sicherheit zulegen und dabei der pluralistischen Struktur der der Informationssysteme nicht stattfindet oder viel zu politischen Jugend- und Erwachsenenbildung Rech- kurz kommt. nung zu tragen. Ich fordere Sie auf, Herr Innenminister, hier im Ein sehr düsteres Kapitel der deutschen Geschichte, nächsten Haushalt für Klarheit zu sorgen. Man kann und zwar nicht nur der ostdeutschen, verbirgt sich nicht mit öffentlichen Geldern Aufträge an die Indu- hinter der Bezeichnung „Sonderbeauftragter für die strie vergeben und Studien erstellen lassen, die man 1970 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Rudolf Purps selbst zu erstellen hätte. Als Durchlauferhitzer für öf- Ich hielte es für besser, den alten Ansatz so zu las- fentliche Gelder ist dieses Amt nicht gedacht. sen, wie er ist, und die 20 Millionen DM Aufwuchs in deutsch-polnische Begegnungen, in die Zukunft bei- In diesem Zusammenhang ein Wort zu den Anträ- der Völker zu investieren, insbesondere in Begegnun- gen der Kollegen vom Bündnis 90/GRÜNE: Wenn Sie gen junger Menschen, und damit nicht die Pflege schon an Sitzungen nicht teilnehmen, finde ich es her- musealer Landschaft zu betreiben. vorragend, daß Sie hinterher wenigstens die Proto- kolle lesen und die SPD-Anträge daraus abschreiben, (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dag die Sie dann hier zur Debatte stellen. Wir werden mar Enkelmann [PDS/Linke Liste]) Ihren Anträgen zustimmen. Aber ich möchte Ihnen Im übrigen, Herr Minister, hat es einen faden Beige- raten: Stil ist das nicht, lassen Sie das sein! schmack, wenn direkt im Jahr nach der deutschen (Beifall bei der SPD — Gerd Poppe [Bünd- Einheit die zusätzlichen Zuwendungen für die Ver- nis 90/GRÜNE]: Bisher war es meistens um triebenenverbände und ihre Projekte insgesamt um -gekehrt!) 100 % steigen. Ich als Vertriebener würde mich des Eindrucks nicht erwehren können, hier solle mögli- Die nach der deutschen Einigung notwendige Neu- cherweise — in aller Vorsicht gesagt — Wohlverhal- organisation des Bundesgrenzschutzes und der Auf- ten erzeugt und Protest abgekauft werden. des Bundesgrenzschutzes bau einer Abteilung Ost (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) muß zügig vorangebracht werden. Hierbei unter- stütze ich durchaus die Auffassung, daß neue Aufga- Um diesem Eindruck vorzubeugen, aber auch aus benbereiche — siehe den Bereich Bahnpolizei, siehe sachlichen Überlegungen haben wir Sozialdemokra- Sicherung bei den Flughäfen — dem BGS zugeordnet ten die Streichung der Ansatzerhöhung gefordert. werden. Wenn aber die Entwicklung des BGS schon in Daß sich auch die Koalition bei dieser Frage nicht Richtung einer Bundespolizei geht, dann ist zu über- ganz wohl fühlt, zeigt ja die Tatsache, Herr Kollege legen, sehr geehrter Herr Minister, ob die Frage des Deres, daß die Kollegen von der Koalition im Haus- Personenschutzes, bei dem bisher Bundeskriminalamt haltsausschuß zumindest eine teilweise Zurückfüh- und BGS gleichwertig tätig waren, nicht zur alleini- rung dieses Ansatzes vorgenommen haben. gen Aufgabe des Bundesgrenzschutzes werden sollte. Im Einigungsvertrag ist die Hilfe des Bundes zum Ich weiß, daß dies ein sensibles Thema ist. Aber den- Substanzerhalt der Kultur und der Kulturdenkmäler noch möchte ich sagen, daß wir dadurch eine große in den fünf neuen Bundesländern festgeschrieben Anzahl hochqualifizierter Beamter aus dem BKA frei- worden. Hierfür steht im Haushalt die große Summe bekämen, die im BKA dringend gebraucht werden, von einer runden Milliarde DM zur Verfügung. Kern um die vermehrten Aufgaben bei der Bekämpfung der dieses Programms: 900 Millionen DM für die Sub- organisierten Rauschgiftkriminalität, bei der Bekämp- stanzerhaltung und Förderung der kulturellen Infra- fung des organisierten, mafiösen, bandenkriminellen struktur als direkter Ausfluß des Art. 35 des Eini- Deliktbereichs und bei der leider auch sehr stark zu- gungsvertrages. nehmenden Kriminalität in den neuen Bundesländern und im Terrorismus wahrnehmen zu können. Daß der Nun ist eines ganz sicher: daß dies auf Dauer keine Personenschutz darunter nicht leiden darf und leiden Bundesaufgabe bleiben kann. Es ist letztlich eine Län- kann, ist selbstverständlich. der- und eine kommunale Aufgabe. Es soll auch ganz deutlich gesagt werden, daß ein Abbau der Aufgabe Die Zuwendungen an zentrale Organisationen der beim Bund — Schritt für Schritt, so wie sich die finan- Vertriebenenverbände und die Förderung der Erhal- ziellen Möglichkeiten der Länder und Gemeinden tung und der Auswertung des kulturellen Erbes der bessern — erfolgen muß. Aber: Solange der Bund hier Heimatvertriebenen sowie der kulturellen Bestre- tätig werden muß, weil sonst der Zusammenbruch der bungen der Flüchtlinge werden im Haushalt des In-- Kulturarbeit in den fünf neuen Bundesländern sofort nenministers im Jahre 1991 sehr stark erhöht, im letz- bevorstände, hat er auch die Verpflichtung, die erfor- teren Fall sogar verdoppelt. Allein sieben neue Zu- derlichen Mittel in entsprechender Höhe zur Verfü- wendungsempfänger sollen gefördert werden. Die gung zu stellen. Begründung für diesen unglaublich hohen Aufwuchs, Ich möchte feststellen, daß diesen Verpflichtungen ist, Herr Dr. Schäuble, wie wir immer hören, daß das bisher nur sehr ungenügend nachgekommen worden kulturelle Erbe nach der endgültigen Festschreibung ist, insbesondere deshalb, weil durch die Einbezie- der deutsch-polnischen Grenze erhalten bleiben hung Berlins in die Förderung eine Kürzung für die müßte. übrigen Länder in Höhe von 150 Millionen DM vorge- Diese Begründung ist mir zu schmalbrüstig, Herr nommen wurde. Ohne Zweifel stellt die für Ber lin vor- Minister. Abgesehen von der Tatsache, daß das ge- gesehene Summe nur die untere Grenze dar, wie Kul- einte Deutschland einen neuen Anfang mit seinem tursenator und Regierender Bürgermeister Ihnen, polnischen Nachbarvolk braucht, der nicht durch Re- Herr Dr. Schäuble, vorgerechnet haben. Also muß miniszenzen an die Vergangenheit belastet werden man die Gesamtsumme fairerweise um diese 150 Mil- darf, lionen DM erhöhen, (Beifall des Abg. Dr. Nils Diederich [Berlin] (Beifall bei der SPD) [SPD]) darf also Berlin nicht zu Lasten der anderen Länder in die Förderung einbeziehen. wird mit dem Begriff kulturelles Erbe ein statischer, ein eher rückwärtsgewandter Beg riff und Denkansatz Dieser Vorstellung, die die Sozialdemokraten voll honoriert. teilen, hat sich auch der Innenausschuß einstimmig Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1971

Rudolf Purps angeschlossen. Nur, die Koalition im Haushaltsaus- hat mittlerweile selbst der hartgesottenste militärische schuß hat dieses Votum nicht aufgegriffen, und Sie, Hardliner begriffen, daß die Bedrohungslage, wie sie Herr Minister, haben sich als der für Kultur zuständige noch vor fünf Jahren herrschte, in keiner Weise mehr Minister bei Ihrem Kollegen Waigel in dieser Frage besteht. Der Zerfall des Warschauer Paktes und die entweder nicht bemüht oder sind in dieser Situation eingeleiteten Reformen im ehemaligen Ostblock ha- bei ihm auf taube Ohren gestoßen. Ich nehme an, das ben zu unser aller Freude und zum Nutzen der Men- zweite war der Fall. schen in ganz Europa Voraussetzungen geschaffen, die uns die Risiken einer militärischen Auseinander- Wie es auch sei: Ausbaden müssen diese Situation setzung und ihre Auswirkungen auf die Zivilbevölke- die neuen Bundesländer. Ausbaden müssen das rung ganz anders bewerten lassen als vor einiger Theater, Museen, Orchester, Bibliotheken — mögli- Zeit. cherweise mit ungeahnten Folgen. Wenn ich mir ansehe, Herr Minister, daß Sie im Man sollte nun glauben, daß aus diesem Zusam- nächsten Jahr nur noch 500 Millionen DM in den Ver- menhang heraus auch wesentliche Veränderungen in pflichtungsermächtigungen haben und 1993 nach Ih- der zivilen Verteidigung erfolgen würden. Wenn die ren Vorstellungen nichts mehr dort steht und dann Bundeswehr auf 370 000 Soldaten reduziert wird alles von den neuen Ländern und Gemeinden bezahlt — mit all den Schwierigkeiten und Folgen an den werden soll, dann geht das meines Erachtens an der Standorten — , muß dies auch Auswirkungen auf die Realität völlig vorbei. Hinter dieser Finanzplanung Mittel für die zivile Verteidigung haben. steckt die völlige Fehleinschätzung, daß bei uns in Angesichts dieser Situation fordern wir die Bundes- kürzester Zeit „blühende Landschaften" — so pflegen regierung auf, die Neukonzeption des Zivilschutzes Sie sich ja auszudrücken — entstehen werden. Be- voranzutreiben. Dabei sollte sie sich an folgenden greifen Sie bitte endlich, daß dies so schnell nicht Grundsätzen orientieren: Schwerpunkt muß in Zu- gehen wird, daß die Steuerkraft der Städte und Ge- kunft der friedensmäßige Katastrophenschutz sein so- meinden viel langsamer wachsen wird, als wir alle uns wie die Abwendung von Gefahren durch Naturkata- das wünschen. Korrigieren Sie deshalb möglichst strophen und von Menschen verursachten Großunfäl- schnell diese Ansätze im nächsten Haushalt. Passen len, z. B. im Bereich der Indust rie. Mittlerweile ist es Sie sie den notwendigen Erfordernissen an. eine simple Erkenntnis, meine Damen und Herren, Nachdem die Koalition, nachdem Ihre Regierung daß das Gefahren- und Gefährdungspotential auf die- durch völliges Versagen in der Bewertung der ökono- ser Erde insbesondere auch gegenüber der Umwelt mischen Bedingungen und durch falsche Entschei- von Jahr zu Jahr gewachsen ist, während die Gefahr dungen, die Investitionen eher hindern als fördern, im einer kriegerischen Auseinandersetzung in dem ent- Osten Deutschlands ein ökonomisches Ödland ange- sprechenden Zeitraum zurückging. richtet hat, Wir finden es gut, daß nun endlich der Schutzraum- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na, bau beendet wird. Wir halten das für sehr vernünftig. na, jetzt hör aber auf!) Aber ich habe kein Verständnis dafür, wenn nun die Organisation des THW sofort auf die neuen Bundes- warne ich Sie dringend davor, Herr Kollege Gerster, länder übertragen werden soll, dem auch noch eine Kulturwüste hinzuzufügen. (Beifall bei der SPD — Johannes Gerster (Zurufe von der CDU/CSU: Eine sehr gute [Mainz] [CDU/CSU]: Märchen aus der Kü- Entscheidung! — 15 Länder wünschen che, was Sie hier vortragen!) dies!) Ein auseinandergelaufenes Ensemble, ein sich auflö- ohne daß eine Neukonzeption überhaupt ersichtlich ist. Hier sollen einfach Fakten geschaffen werden, die sendes Orchester bekommen Sie nicht wieder zusam-- men, Herr Kollege. Es ist vielleicht einfacher, eine mit der neuen Entwicklung nichts zu tun haben. Statt Fabrik, die nicht mehr konkurrenzfähig ist, an anderer die Organisation auf die neuen Bundesländer zu über- Stelle modern aufzubauen, die Leute umzuschulen — tragen — wogegen auch der Bundesrechnungshof er- und nach zwei Jahren ist da wieder Arbeit. Aber eine hebliche Einwände hat; das ist Ihnen auch bekannt —, kaputte kulturelle Landschaft kriegen Sie so schnell sollten sie lieber darüber nachdenken, wie das THW nicht wieder in Ordnung. besser ausgerüstet werden kann, um in Zukunft stär- ker im internationalen Katastrophenschutz eingesetzt (Beifall bei der SPD) zu werden. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Eine Übertra- gung dieser Aufgaben an die Länder vorzunehmen, (Beifall bei der SPD — Johannes Gerster bevor nicht sichergestellt ist, daß sie diese Aufgaben [Mainz] [CDU/CSU]: Herr Kollege, Sie ha ben keine Ahnung!) auch finanziell verkraften können, würde sehr großen Schaden anrichten. Sie haben in der dritten Lesung — Das, Herr Kollege Gerster, können Sie ja beweisen, noch die Chance, unserem wirklich hervorragenden wenn Sie gleich reden. — Meine Damen und Herren Entschließungsantrag, der auch diesen Punkt enthält, von der CDU, ich komme zum Schluß. Die SPD hat zuzustimmen. Nutzen Sie sie. Es könnte auch Ihnen den Haushalt des Bundesministers des Innern sorgfäl- zum Nutzen gereichen. tig geprüft, sie hat ihn in seinen Schwerpunkten ge- (Beifall bei der SPD) wichtet und bewertet ihn insgesamt als unzurei- chend. Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zum Einzelplan 36 — Zivile Verteidigung — machen. Nun (Zuruf von der CDU/CSU: Na, na!) 1972 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Rudolf Purps Wir lehnen den Haushalt des Bundesinnenministers nen 50 Millionen DM. Im Haushalt des Bundesbaumi- ebenso ab wie den Einzelplan 36 — Zivile Verteidi- nisters ist ja noch eine ganze Menge mehr hierfür ver- gung. anschlagt. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der FDP: So Ein Theater- und Orchestersterben — wie befürch- eine Überraschung! — Johannes Gerster tet — konnte verhindert werden. Sobald die Länder [Mainz] [CDU/CSU]: Schwacher Beifall von und Kommunen im Beitrittsgebiet aber übersehen, links!) was sie pro Jahr für Kultureinrichtungen aufwenden wollen und können, sollte sich der Bund schrittweise Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat nun- aus der kulturellen Substanzerhaltung zurückziehen. mehr unser Kollege Karl Deres. Die substanzerhaltende, nur unter dem Gesichtspunkt der deutschen Einheit zu rechtfertigende Bundeshilfe darf nicht dazu führen, daß sich die Länder und Kom- (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr Karl Deres munen im Beitrittsgebiet künftig auf den Bund verlas- verehrten Damen und Herren! Wenn etwas richtig ist, sen oder die notwendige Wende — das möchte ich braucht man es nicht richtigzustellen. Unsere Ausfüh- sehr unterstreichen — weg von der Staatskultur hin rungen sind richtig; die Ausführungen von Rudolf Purps sind falsch. zur freien, autonomen Kunst und Kultur verschleppt wird. Trotz dieser Rede des Kollegen Purps möchte ich mit einem Dank an die Kollegen Mitberichterstatter Ehrlicherweise ist auch in Sachen Kultur eine Struk- Frau Albowitz und Herr Purps beginnen. Beide wer- turreform nicht zu umgehen. So erwünscht kulturelle den genau wie ich die Stunden gar nicht mehr zählen Vielfalt im Beitrittsgebiet auch ist, die Länder und können, die wir mit dem 590 Seiten starken Einzel- Kommunen werden auf Dauer — das ist meine per- plan des Bundesinnenministers verbracht haben. Was sönliche Meinung — 217 Theater und 87 Orchester ist dabei herausgekommen? Eigentlich ein schlechtes nicht finanzieren können. Gewissen eines Haushälters; denn, Herr Minister, bei Im übrigen sieht der BMI-Haushalt für 1991 nicht den über 8 Milliarden DM haben wir nur um 40 Mil- weniger als 329 Millionen DM für Kultureinrichtun- lionen gekürzt. Ich gehe mit schlechtem Gewissen gen in Berlin vor; das ist nahezu derselbe Betrag, den nach Hause; aber ich sage Ihnen: Es ist noch nicht der Bund für bundesbedeutsame Kultureinrichtungen aller Tage Abend. Denn im Herbst sitzen wir ja schon im alten Bundesgebiet aufwendet. Ich möchte dem wieder zusammen. Ein guter Grund stand natürlich Bundesinnenminister ausdrücklich danken, daß er die dahinter: die Tatsache, daß es sich um den Haushalt alten Bundesländer dazu bewegt hat, sich im Rahmen handelt, der im Jahr nach der Vereinigung verab- der Stiftung „Preußischer Kulturbesitz" doch an den schiedet wird. Betriebsausgaben für die neu hinzugekommenen Meine Damen und Herren, uns lagen zu dem Regie- Teile — das heißt insbesondere auf der Museumsin- rungsentwurf ca. 150 Berichterstattervorschläge vor. sel — zu beteiligen. Die meisten davon waren einvernehmlich. Deswegen mein Wort des Dankes. Herr Bundesinnenminister, in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diesen Dank beziehe ich Sie persönlich und auch Ihre Ich halte es für ein Gebot des kooperativen Föderalis- Mitarbeiter mit ein. Ich bitte Sie, diesen Dank in Ihrem mus, daß die wiedervereinigten preußischen Samm- Hause weiterzugeben. Wir haben sehr viel Informa- lungen unter dem Dach der Stiftung „Preußischer Kul- tion erhalten, es ist uns sehr viel zugearbeitet worden, turbesitz" als gemeinsames deutsches Erbe von sämt- und wir haben sehr viel Verständnis gefunden. Dafür lichen Ländern, den alten und den neuen, sowie dem sagen wir Ihnen herzlichen Dank. Bund in angemessenem Verhältnis finanziert wer- Lassen Sie mich aber auch in aller Kürze einige Eck- den. werte des Innenhaushaltes ansprechen. Für die Kultur - Meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Mini- im Beitrittsgebiet werden insgesamt 1,22 Milliarden ster, ich hoffe nicht, daß wir im nächsten Jahr wieder DM bereitgestellt. den Ärger haben und wir Ihnen den Auftrag zur Ver- (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) handlungsführung geben müssen. Ich hoffe, daß wir Frau Matthäus-Maier hat heute morgen behauptet, von vornherein an dieser Stelle im Haushaltsentwurf für die Kultur gäbe es nichts. Es sind 1,22 Milliarden mit den Ländern einig sein werden. DM bereitgestellt worden. Nach Adam Riese ist dies Die Mittel für die Sportförderung des Bundes wer- mehr als nichts. Allein für die Erhaltung der kulturel- den gegenüber 1990 mit 110 Millionen DM auf len Substanz und zur Förderung der Infrastruktur in 248,2 Millionen DM in diesem Jahr mehr als verdop- den neuen Ländern einschließlich des Ostteils von pelt. Meine Damen und Herren, darin sind noch Berlin sind 900 Millionen DM veranschlagt. Nach un- 15 Millionen DM für Verbandsarbeit und Aufbau des serem Grundgesetz sind aber die Länder und Kommu- Breitensports vorgesehen. Ihr Erhöhungsantrag, in nen in Angelegenheiten der Kultur grundsätzlich al- Höhe von 10 Millionen DM lieber Kollege Purps, hätte lein verantwortlich. Daß diese reine Lehre im Beitritts- - wenn man das über die neuen Länder verteilt — gebiet aus den verschiedensten Gründen noch nicht höchstens einen ganz geringen Regen bedeutet. Wir praktiziert werden kann, leuchtet ein. Der Einigungs- sind nicht in der Lage, nun auch noch den gesamten vertrag läßt deswegen insoweit ausdrücklich eine Breitensport so massiv zu fördern, wie wir bereits den Bundesfinanzierung zu. Die CDU/CSU-Fraktion be- Leistungssport fördern. grüßt diesen Haushaltsansatz ebenso wie die beim BMI im Rahmen des ressortübergreifenden Denkmal- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht Sache schutzprogramms für das Beitrittsgebiet vorgesehe des Bundes!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1973

Karl Deres Allein die Mittel für den Sportstättenbau wachsen Herr Gauck und seine Mitarbeiter zu bewältigen ha- um 24 Millionen DM; für das Beitrittsgebiet sind ins- ben, von den etwa 200 km Aktenbänden in Berlin und gesamt 135 Millionen DM, für das alte Bundesgebiet weiteren 15 Standorten, die zum größten Teil erst 113,2 Millionen DM vorgesehen. noch mühsam geordnet werden müssen, während So kann der Kommandosport der ehemaligen DDR, gleichzeitig wöchentlich Hunderte von Auskunftser- der seine Spitzenathleten unter anderem mit Doping suchen eingehen. zu Werkzeugen eines geltungssüchtigen Regimes ge- Die Behörde — meine Damen und Herren, hören macht hatte, in einen staatsfreien Sport umstrukturiert Sie jetzt gut zu — verfügt über 979 Planstellen bzw. werden, in welchem Breiten- und Leistungssport Stellen, beschäftigt zur Zeit aber erst 485 Personen. grundsätzlich in unabhängigen Vereinen organisiert Gewiß sind Aufbaustand und Wartezeiten für Aus- sind. künfte unbefriedigend, obgleich bereits verschiedent- Die rund 135 Millionen DM an Bundeshilfe werden lich eine größere Anzahl von Hilfskräften zur Sortie- allerdings versickern, wenn sie nicht auf klare Kon- rung der riesigen Papierberge eingesetzt wurde. Un- zeptionen des DSB und seiner Spitzensportverbände geduld wäre hier jedoch falsch. Gerade diese Behörde über den Aufbau z. B. von Bundesleistungszentren muß überlegt aufgebaut und das Personal äußerst und Olympia-Stützpunkten im Beitrittsgebiet treffen. sorgfältig ausgesucht werden. Nach den Erfahrungen Gleiches gilt für das Forschungsinstitut für Körperkul- der letzten Wochen muß beim Sonderbeauftragten die tur und Sport und die Forschungs- und Entwicklungs- Auswertungskomponente zu Lasten der Bürohilfs- stelle für Sportgeräte; dafür sind 16,5 Millionen DM funktionen und der Bewachungskomponente ver- bereitgestellt worden. stärkt werden, damit insbesondere Rückstände bei der Auswertung der Unterlagen abgebaut werden. Ich appelliere hier in aller Höflichkeit an diesen DSB und — was die beiden im Einigungsvertrag an- Wir Berichterstatter haben uns deshalb mit einer gesprochenen Einrichtungen angeht — an das Land kurzfristigen Umstrukturierung des Stellenplans ein- Sachsen und das Nationale Olympische Komitee, dem verstanden erklärt. Ich gehe davon aus, daß uns dar- Bundesinnenministerium mit den Beteiligten abge- über hinaus die Bundesregierung im Herbst dieses stimmte Vorschläge zu unterbreiten und ihre Kraft Jahres eine weitere modifizierte Stellenausstattung und ihre Möglichkeiten nicht darin zu erschöpfen, unter Berücksichtigung der anstehenden Gesetzge- Politiker zu beschimpfen, die sich vor Ort in der ehe- bung dieser Behörde vorschlägt. Darin sind wir uns, maligen DDR entsprechende Sportorganisationen an- Kollege Purps und Frau Albowitz, durchaus einig. sehen. Die unabhängige Kommission zur Überprüfung des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vermögens der Parteien und Massenorganisationen Für den Aufbau einer effektiv und rechtsstaatlich der ehemaligen DDR, deren Sekretariat mit 162 Plan- arbeitenden Verwaltung in den neuen Ländern trifft stellen bzw. Stellen ausgestattet wurde, hat der Präsi- der Bundeshaushalt die ihm möglichen Vorkehrun- dentin des Deutschen Bundestages soeben einen Zwi- gen. Aus den Mitarbeiternachweisen des letzten schenbericht zugeleitet. Da die Kommission auf DDR-Haushalts sind für die betroffenen BMI-Behör- Grund der Tatsache, daß u. a. qualifiziertes Personal den — z. B. Statistisches Bundesamt, Bundesarchiv derzeit auf dem Arbeitsmarkt kaum zu gewinnen ist, und BGS — die beantragten Stellen ausgebracht wor- in erheblichem Umfang auf externen Sachverstand, den. Außerdem haben wir die haushaltsmäßigen Vor- z. B. von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, zurück- aussetzungen geschaffen, damit das Aus- und Fortbil- greifen muß, werden wir im Herbst dieses Jahres eine dungspotential der Bundesakademie für öffentliche Überprüfung des Stellenbestandes vornehmen. Verwaltung, der Fachhochschule des Bundes und des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesverwaltungsamtes auch für Mitarbeiter der Verwaltung der neuen Länder und Kommunen ge- Am 1. Januar dieses Jahres hat das Bundesamt für nutzt werden kann. Daneben kommen aus dem Ein- die Sicherheit in der Informationstechnik, ausgestat- zelplan 60 insgesamt 250 Millionen DM für Bundes- tet mit 213 Stellen, seine Arbeit aufgenommen. Aus zuschüsse zur Gewinnung von Bediensteten im Bei- der Arbeit im Rechnungsprüfungsausschuß stehen trittsgebiet. uns die Ausführungen des Bundesrechnungshofes zu Mängeln bei der Datensicherheit in der Bundesver- Den drei neuen beim BMI eingerichteten Behörden waltung besonders lebhaft vor Augen. Das neue Amt gilt unsere besondere Aufmerksamkeit als Berichter- wird deshalb schnellstmöglich eine wirksame Bera- statter. Zunächst möchte ich die Behörde des Sonder- tungskapaziät für den öffentlichen und den privaten beauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Bereich aufbauen müssen. Die Berichterstatter wer- Staatssicherheitsdienstes nennen. Diese Behörde den dies mit großer Aufmerksamkeit verfolgen. Auch muß sicherlich eine der schwierigsten Aufgaben erfül- in diesem Punkt herrscht unter uns dreien im Grunde len, die vor uns liegen. Die Erfüllung dieser Aufgaben genommen ein großer Konsens, daß das, was gewollt soll dazu beitragen, daß schuldige Stasi-Täter bestraft ist, letztendlich auch aufgebaut wird. werden und wir vor den Handlangern dieses un- menschlichen Apparates geschützt bleiben. Zugleich Aus dem früheren innerdeutschen Ministerium soll sie verhindern, daß die zu Tausenden von Ausspä- führt der BMI-Haushalt die Ansätze für die deutsch- hung, Schikanen und Heimtücke dieses Apparates landpolitische Forschung und die deutschlandpoliti- betroffenen Bürger in den neuen und alten Ländern sche Bildungsarbeit mit einigen kleinen Abstrichen weiterhin eine Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte fort. Ein großer Abstrich ist bei der Förderung der befürchten müssen. Ich weiß von den riesigen An- Berlinfahrten gemacht worden. Darüber ist ja auch im fangsschwierigkeiten, welche der Sonderbeauftragte Ausschuß sehr deutlich diskutiert worden. Von der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Karl Deres Richtigkeit dieser auf den ersten Blick nach Erreichen Meine Damen und Herren, ich hätte gerne noch vie- der deutschen Einheit paradoxen Veranschlagung bin les zu der Politik der Zusammenführung, der Aussied- ich jedoch fest überzeugt. Deutschlandpolitische For- lerpolitik und zur Frage des kulturellen Erbes gesagt. schung besteht nicht mehr im Gewinnen von Erkennt- Ich meine, wir sollten mit dieser Diskussion aufhören. nissen über ein mit Mauer und Stacheldraht abge- Auf der einen Seite hat der Kollege Purps beklagt, daß schottetes fremdes Land. Die Notwendigkeit deutsch- wir viel zu wenig für die Kultur tun. Und wenn es um landpolitischer Forschung besteht heute darin, die Kultur der Vertriebenen geht, dann vertritt er 44 Jahre Ostzone und DDR unter möglichst vielen einen kleinlichen Standpunkt. Kollege Purps, Sie sind wissenschaftlichen Gesichtspunkten systematisch so groß: Sie müßten das eigentlich mitschaffen kön- aufzuarbeiten. nen. Zum Beispiel wird an Hand der jetzt zugänglichen (Beifall bei der CDU/CSU) Quellen die Geschichte der Gleichschaltung der spa- Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion ter sogenannten Blockparteien mit der SED zu schrei- stimmt diesem Haushalt zu. Wir bringen damit gleich- ben sein, oder es wird die Leidensgeschichte der nach zeitig zum Ausdruck, daß dieser Bundesinnenminister 1945 in Buchenwald, Bautzen und an anderen Orten unser vollstes Vertrauen genießt. willkürlich inhaftierten Menschen nachzuzeichnen Ich danke Ihnen. sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Dazu können sicher die Mitarbeiter und Unterlagen Herren, das Wort hat jetzt unsere Kollegin Frau Ina des aufzulösenden Gesamtdeutschen Instituts beitra- Albowitz. gen. Aus meiner Sicht sollte die Bundesregierung mög- Ina Albowitz (FDP): Herr Präsident! Meine sehr ver- lichst bald mit den neuen Ländern zur Gewährlei- ehrten Damen und Herren! Im Haushalt des Bundes- stung einer systematischen Erforschung der ehemali- ministeriums des Innern sind viele Bereiche etatisiert, gen DDR eine zweigleisige Lösung prüfen, z. B. in die ganz besonders von der veränderten Lage in Anlehnung an das Institut für Zeitgeschichte in Mün- Deutschland betroffen sind. Das Bemühen um die chen, welches sich der Geschichte der NS-Zeit wid- Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in Ost- und met, dazugehörig ein Archiv der Ostzone/DDR, in Westdeutschland ist eine klassische Aufgabenstel- welches u. a. auch das Archiv der SED eingegliedert lung dieses Hauses. werden könnte. Über den Standort sollte man sich mit (Zuruf von der FDP: So ist es!) den neuen Ländern einigen. Eine unentbehrliche Voraussetzung für dieses Zu- Meine Damen und Herren, für den Bet rieb von sammenwachsen ist das Funktionieren des öffentli- Deutscher Welle, Deutschlandfunk und Rias wendet chen Dienstes in den neuen Bundesländern. Die Re- der Bund 1991 rund 700 Millionen DM auf. gierungsparteien haben kürzlich die notwendigen Re- gelungen beschlossen, damit im Beitrittsgebiet der (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Viel Aufbau einer rechtsstaatlichen, funktionsfähigen Ver- Geld!) waltung erfolgen kann und alle Bereiche die notwen- dige Unterstützung erhalten, um den enormen Anfor- Mit der deutschen Einheit ist die seit langem als re- derungen besser gerecht zu werden. formbedürftig erkannte Struktur der Bundesrund- funkanstalten noch dringender geworden. Mit Blick Daß es hier Anlaufschwierigkeiten gibt, ist ange- auf die Zeit will ich mich hier sehr kurz fassen. Ich sichts des Erbes, das uns hinterlassen wurde, unver- hoffe, daß wir baldmöglichst zu Lösungen kommen. meidbar. Die Übernahme von Bediensteten der öf- Ich sage Ihnen, Herr Bundesinnenminister, ich bin fentlichen Verwaltung gestaltet sich nicht so einfach, bereit, dabei zu helfen. Notfalls müßten wir das im wie man sich das manchmal wünscht; denn Mitglie- Herbst bei den Haushaltsberatungen mit Druck verse- der der ehemaligen Staatssicherheit können nun ein- hen, damit es auf diesem Gebiet vorangeht. mal nicht bedenkenlos in den öffentlichen Dienst, in die öffentliche Verwaltung übernommen werden bzw. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Be- verbleiben. handelt mir die Deutsche Welle gut! Den Rest (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — könnt ihr streichen!) Dr. Klaus Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Auch — Ich möchte hier hinzufügen: Der Deutschlandfunk nicht mit Bedenken!) hat gerade in der historischen Zeit der Entwicklung — Auch das nicht, Herr Kollege. Deutschlands einen hervorragenden Beitrag an Infor- Hier muß noch viel geistige Aufräumarbeit stattfin- mation und Berichterstattung geleistet. Herr Gerster den, die zwar den Verwaltungsaufbau verlangsamt, ist Vorsitzender des Verwaltungsrates der Deutschen andererseits aber unbedingt und dringend notwendig Welle, und ich bin Mitglied des Rundfunkrates des ist. Deutschlandfunks. Ich sage dies, damit die Fronten hier klar sind. Zur Bewältigung der unsäglichen DDR-Vergangen- heit ist auch die Arbeit der Behörde des Sonderbeauf- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Die tragten für die Unterlagen der ehemaligen Staats- Deutsche Welle behalten wir, den Rest strei- sicherheit, , unerläßlich. Ich möchte chen wir!) hier noch einmal die Unterstützung der FDP für diese Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1975

Ina Albowitz Arbeit betonen, vor allem angesichts der zum Teil per- Haushalt 1991. Aber, meine Kollegen und Kollegin- sönlichen Anfeindungen gegenüber dem Sonderbe- nen, die Zunahme von terroristischen Anschlägen in auftragten. jüngster Zeit, der abscheuliche Mord an Treuhand- chef Detlef Rohwedder, ließen uns bei der Bewilli- (Beifall bei der FDP) gung und der Erweiterung des Personenschutzkon- Herr Kollege Deres, ich bin Ihnen ausgesprochen zeptes keine andere Wahl. Welche Aufgaben wir dem dankbar, daß Sie in Ihrer Rede darauf besonders ein- BGS dabei übertragen, müssen wir noch einmal aus- gegangen sind. Mit dem Haushalt 1991 sind weitere führlich diskutieren. personelle Verbesserungen für ein Funktionieren der Nach der Bereitstellung der genannten Mittel er- Behörde geschaffen worden. warten wir aber von Ihnen, Herr Innenminister, daß es Ein herausragendes Beispiel für die notwendigen nun auch zu Fortschritten bei der Beratung des BKA- Änderungen im vereinten Deutschland ist der Bun- Gesetzes kommt. Nachdem man den Referentenent- desgrenzschutz. Bis zur Wende in der ehemaligen wurf schon überall lesen kann, wird es höchste Zeit, DDR wurde seine Existenz hauptsächlich mit der in- daß die Koalitionsrunde und das Parlament darüber nerdeutschen Situation — die Probleme an der ehe- beraten. maligen Grenze sind noch alle geläufig — begründet. Der Bundesgrenzschutz, der in diesen Tagen sein (Beifall bei der FDP — Johannes Gerster 40jähriges Bestehen feiert, wird jetzt umstrukturiert [Mainz] [CDU/CSU]: Das machen wir schon und erhält neue Aufgaben. Außerdem sind für die in der Koalition!) Ausdehnung des BGS auf die neuen Bundesländer — Wir hätten es auch gern mal. Ich freue mich, daß Sie neue Organisationsformen nötig. es auch so sehen, Herr Kollege. Ab dem 1. Oktober dieses Jahres soll der Bundes- An dieser Stelle eine kurze Bemerkung zum Bun- grenzschutz in den alten Bundesländern zusätzlich desbeauftragten für den Datenschutz. Alfred Einwag die Aufgaben der Bahnpolizei und die Aufgaben zum hat kürzlich seinen Jahresbericht vorgestellt. Trotz Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftver- der einzelnen Beanstandungen konnte der Beauf- kehrs übernehmen. In den neuen Ländern wurde das tragte der Bundesrepublik ein gutes Zeugnis in Sa- BGS-Tätigkeitsfeld bereits ab dem 3. Oktober 1990 chen Datenschutz ausstellen. Dieses Fazit fiel nicht auf diese neuen Bereiche ausgedehnt. Daß die Eta- immer so aus. Zum einen ist dieser Fortschritt ein Ver- blierung des BGS in den neuen Bundesländern auf dienst der unermüdlichen Behörde. Zum anderen hat Grund der Standort- und Personalprobleme nicht besonders die FDP immer wieder darauf gepocht, leicht sein würde, war jedem klar. Die Konzeption, die beim Datenschutz nicht nachlässig zu werden. Ich die Bundesregierung nun vorgelegt hat, bedarf noch verspreche Ihnen, das wird auch in Zukunft so blei- der intensiven Beratung, Herr Innenminister. ben. Der BGS muß nach meiner Auffassung auf Grund (Beifall bei der FDP) der neuen Aufgabenstellung in seiner heutigen Grö- ßenordnung fortbestehen. Die Länder, meine Damen Eine besondere Herausforderung stellt sich bei der und Herren, haben vielfach Bedenken, daß der BGS Zusammenführung des Sports in Deutschland. Die zu stark als Polizei des Bundes ausgebaut und da- unterschiedlichen Systeme in beiden deutschen Staa- durch die Polizeihoheit der Länder angetastet wer- ten waren am Beispiel des Hochleistungssports be- den könnte. Doch ich glaube, daß diese Gefahr nicht sonders gut erkennbar. In der ehemaligen DDR wurde besteht, sondern daß der BGS ein wichtiger ergänzen- mit unangemessenem Aufwand in den Leistungssport der und entlastender Faktor ist. Dabei denke ich vor investiert, während man den Breitensport vernachläs- allem an die Großeinsätze, z. B. bei den vieldiskutier- sigte, um die Überlegenheit eines Systems zu doku- ten, auch in diesem Hause schon diskutierten Fußball- mentieren, die, wie wir es heute besser wissen, nie krawallen und an die anderen eben genannten Son- bestand. Eine so geartete Sportförderung ist mit unse- derauf gaben. rem freiheitlichen System unvereinbar. Bei einem Besuch der Grenzschutzkommandostel- Trotzdem gibt es auch in den neuen Bundesländern len in West und Ost konnte ich mich persönlich davon einige Einrichtungen und Trainingssysteme, die es überzeugen, daß klare und vielversprechende Überle- wert sind, weiter durch den Bund gefördert zu wer- gungen angestellt werden, wie die Rolle des BGS im den. Bislang fehlt jedoch — ich fordere das nach- größer gewordenen Deutschland aussehen soll. Der drücklich — ein schlüssiges und überzeugendes Kon- abschließende Bericht einer Arbeitsgruppe des Innen- zept des Deutschen Sportbundes, das eindeutig auf- ministeriums über die Neuorganisation wird nach zeigt, wie die gesamtdeutsche Sportzukunft in einem meinen Informationen Mitte dieses Jahres vorgelegt angemessenen finanziellen Rahmen aussehen soll. werden. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Nun zu einer weiteren Frage der inneren Sicherheit, Möglichst ehe die Sportler Rentner sind!) meine Damen und Herren. Die Zustimmung zu einer deutlichen Verstärkung des Haushalts des Bundeskri- — Ja, darauf komme ich noch. minalamtes ist uns allen nicht leichtgefallen. Denn die Daß bis zur Olympiade 1992 die Sportförderung in Aufstockung der Personenschutzgruppe um 150 Per- Übergangsfristen lebt, damit auf den Umbruch nicht sonen, die Bereitstellung von 23 sondergeschützten der abrupte leistungsmäßige Einbruch erfolgt, ist all- Fahrzeugen und von 42 Aufklärungsfahrzeugen be- gemeiner Konsens. deuten — der Kollege ist eben darauf eingegangen — eine zusätzliche Ausgabe von 17,38 Millionen DM im (Beifall bei der FDP) 1976 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Ina Albowitz Doch es darf keiner darauf spekulieren, daß dies ein Menschen berücksichtigen. Trotzdem muß ich an die- Dauerzustand ist und man in baldiger Zukunft von ser Stelle den Berliner Senat zum Handeln auffor- Kürzungen verschont bleibt. Die Selbstverwaltungs- dern. darauf pochen sie immer wie- organe des Sports — Die veränderte weltpolitische Situation hat auch auf der — müssen eigene überzeugende Konzepte vorle- andere Teilbereiche des Einzelplans 06 deutliche gen und vor allem klarstellen, welche Maßnahmen Auswirkungen. Der Haushaltsausschuß hat eindeu- der Sport selber ergreift. Zu hoffen, daß mit Mitteln tige Weichen gestellt, daß die Mittel für Vertriebe- der öffentlichen Gelder alles schon funktionieren nenverbände gekürzt werden. Wir dürfen unsere Au- wird, ist ein Trugschluß. gen nicht vor den geänderten Realitäten in Europa (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten verschließen. Wir können nicht einerseits den der CDU/CSU) deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag unter- Erhebliche Defizite bezüglich eines klaren Zu- zeichnen und andererseits gleichzeitig die Mittel für kunftsprogramms gibt es auch noch bei der Kulturför- die Vertriebenenverbände sogar erhöhen, wie das ei- nige Mitglieder des Hauses fordern. Dann wäre un- derung. In diesem Bereich dürfen die Länder nicht immer mehr finanzielle Lasten dem Bund aufbürden, sere Politik unglaubwürdig. Daß man in einem verän- auch wenn die jetzige Situation zunächst einmal des- derten Europa nicht weiterhin so wie in den vergan- sen größeres Engagement erfordert. Dem haben wir genen 40 Jahren handeln kann, muß doch inzwischen auch mit 1,22 Milliarden DM an Kulturförderung nur deutlich geworden sein. für das Beitrittsgebiet in diesem Haushalt Rechnung Ein anderer Bereich, in dem die Mittel erheblich getragen. Damit können bei vielen der Kulturgüter verringert werden, ist die deutschlandpolitische Bil- dringend notwendige Erhaltungsarbeiten durchge- dungs- und Kulturarbeit. Auch hier hat sich nach der führt werden. Einheit etwas geändert. Es ist doch absurd, Berlin- Der Bund ist mit diesen Maßnahmen zur Erhaltung fahrten wie bisher zu bezuschussen. Auch die ande- von Kunst und Kultur in den neuen Bundesländern an ren Ausgaben, mit deren Hilfe man die Trennung der die Grenze dessen gegangen, was für ihn finanzierbar beiden Teile Deutschlands bewältigen helfen wollte und was auch verfassungsrechtlich vertretbar ist. — die Trennung, meine Damen und Herren! —, müs- sen zurückgefahren werden. Ab dem kommenden (Zustimmung bei der CDU/CSU) Jahr müssen dann folgerichtig alle Zuschüsse für poli- Deshalb muß diese Unterstützung in den kommenden tische Bildungsarbeit in einem Haushaltstitel zusam- Haushaltsjahren wieder deutlich reduziert werden. mengefaßt werden. Damit wird die teilungsbedingte Wie ich in den Zeitungen vom Wochenende lese, Herr Differenzierung dieser Ausgaben endgültig besei- Innenminister, haben Sie das auch schon angekün- tigt. digt. Die Bundesländer sind hier auf Grund ihrer kul- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Das turellen Zuständigkeit gefordert. dient auch der Transparenz!) Hervorheben, und zwar nicht nur dankbar, möchte Wenn die SPD hierbei anderer Meinung ist, Herr ich in diesem Zusammenhang die Entscheidung der Kollege Purps, dann muß sie sich fragen lassen, wenn Länder, ihren Beitrag von 14,7 Millionen DM für die man denn sparen will: Wenn nicht dort, wo denn Stiftung „Preußischer Kulturbesitz" doch noch zu dann? zahlen. Ich habe das gestern schon einmal in einem anderen Zusammenhang, in einem anderen Debat- Manchmal habe ich bei der Opposition allerdings tenbeitrag gesagt: Es kann doch wohl nicht wahr sein, den Eindruck: Sie tun allzu häufig so, als hätten wir daß wir ständig vertragliche Vereinbarungen mit den eine direkte Pipeline zur Deutschen Bundesbank nach Ländern machen, und wenn es dann ans Einlösen Frankfurt und müßten unseren Finanzbedarf dort nur abrufen. — Die Kollegin hat heute morgen davon ja geht, die Länder sich einen schlanken Fuß machen- wollen. Herr Innenminister, wenn Sie Hilfe brauchen, nachdrücklich Gebrauch gemacht. unterstützen wir Sie in Zukunft gerne, und sei es (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: So — der Kollege Deres hat das eben angekündigt — zialismus! — Lachen bei der SPD — Dr. Will beim kommenden Haushalt. fried Penner [SPD]: Der Zwischenruf des Zudem muß gerade für den Bereich Kultur nach Jahres!) weiteren Finanzierungsmöglichkeiten gesucht wer- Als Folge der politischen Ereignisse muß sich auch den. Interessant scheint mir der Vorschlag, zur finan- im Rundfunkbereich einiges ändern. Nach der Eini- ziellen Unterstützung der Sanierung historischer gung Deutschlands und den veränderten politischen Bausubstanz in den neuen Bundesländern Sonder- Verhältnissen in den osteuropäischen Staaten ist der briefmarken mit Zuschlag aufzulegen. Ich glaube, die Programmauftrag von Deutschlandfunk und Rias Ber- Bevölkerung ist durchaus bereit, entsprechende Ak- lin überholt. Wir erwarten, daß die Bundesregierung tionen zu unterstützen. zusammen mit den Ländern nun ein überzeugendes Besonderer Handlungsbedarf besteht auf dem Kul- und den geänderten Verhältnissen angemessenes tursektor vor allem bezüglich der Situation in Berlin. Konzept zur Rundfunkneuordnung vorstellt. Eine Ar- Das Nebeneinanderexistieren von mehreren ähnli- beitsgruppe wurde eingerichtet. Sparsamkeit muß chen Einrichtungen kann auf die Dauer in der Stadt so auch bei allen diesen anstehenden Entscheidungen nicht fortgeführt werden. Das ist nicht finanzierbar. oberstes Gebot sein. Ausgabenerweiterung im größer Natürlich muß die Auflösung oder Zusammenlegung gewordenen Deutschland und die Errichtung des von Einrichtungen die besonderen Umstände dieser deutsch-französischen Kulturkanals dürfen nicht zu jahrzehntelang geteilten Stadt sowie die Situation der einer überhöhten Gebührenanhebung führen. Die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1977

Ina Albowitz Gebührenanforderungen müssen streng betriebswirt- Meine Damen und Herren, wir haben zur Zeit eine schaftlich geprüft werden. Menge Probleme zu lösen, und wir lösen sie — davon Einsparmöglichkeiten gibt es genug. Zum Beispiel bin ich fest überzeugt —, wenn auch manches nicht einfach ist. Aber es steht auch nirgends geschrieben, sollte die Kooperation zwischen den Anstalten ausge- daß es einfach sein soll. dehnt werden. Das ist möglich, ohne daß dabei je- mand seine Eigenständigkeit verliert. Die Zusammen- (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) arbeit zwischen Süddeutschem Rundfunk und Süd- (Vorsitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cro westfunk ist ein beispielhafter Schritt. nenberg) Zudem, meine Damen und Herren, muß bei jeder Die FDP-Fraktion unterstützt den Innenminister, rundfunkpolitischen Entscheidung der Zukunft dar- seine Beamten im Hause und in den Außenstellen auf geachtet werden, daß die Benachteiligung der bei der Arbeit im vereinigten Deutschland. Wir wün- privaten Sender nicht noch größer wird. schen ihm viel Erfolg und den Mitarbeitern ein gutes Standing. (Beifall bei der FDP) Ich danke Ihnen. Deutlich wird diese unterschiedliche Behandlung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch am Einigungsvertrag, in dem in Artikel 36 nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk erwähnt wird, und das, obwohl in den neuen Bundesländern die Vorherr- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort schaft der öffentlich-rechtlichen Sender ohnehin ekla- hat die Abgeordnete Frau Jelpke. tant ist.

(Zuruf von der FDP: Keine Vorherrschaft! Da Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Meine Damen und gibt es nichts Privates!) Herren! In Ost und West bekommen die Bürgerinnen Meine Damen und Herren, ein eigenständiges Ka- und Bürger jetzt die politischen, sozialen und wirt- pitel im Einzelplan des Bundesministeriums des In- schaftlichen Folgen präsentiert. Für viele Menschen nern umfaßt die zivile Verteidigung. Die weitreichen- war der Prozeß der Einigung — vor allem zu Beginn — den politischen Veränderungen innerhalb des Ost- allerdings mit der Hoffnung auf eine friedlichere, de- blocks und die Auflösung des Warschauer Pakts ma- mokratischere und solidarischere Entwicklung im In- chen es notwendig, den Zivilschutz der geänderten nern und nach außen verbunden. Für sie waren die sicherheitspolitischen Situation anzupassen. Aller- Gründe für militärische Rüstung und hochgerüstete dings ist zu berücksichtigen, daß auch in einer nicht Sicherheitsapparate im Innern endgültig beseitigt. mehr von Gegnerschaft geprägten Beziehung zu un- Die Kosten hierfür könnten für soziale Zwecke wie seren östlichen Nachbarn eine vernünftige Sicher- Bildung, Ausbildung und Wohlstand für alle verwandt heitsvorsorge erhalten bleiben muß. In der Zeit des werden. tiefgreifenden wirtschaftlichen und politischen Wan- Wollte die Regierung die Hoffnung dieser Men- dels im Osten Europas sind immer wieder Konstella- schen erfüllen, müßten Ausgabensenkungen giganti- tionen denkbar, die bedrohliche Situationen auslösen schen Ausmaßes festgestellt werden. Doch im Bereich können. Trotzdem werden die Vorkehrungen gegen- der inneren Sicherheit, der Geheimdienste, des BKA, über Gefahren aus technischen Unglücksfällen und des BGS, des Zivilschutzes, der Bereitschaftspolizei Naturkatastrophen zukünftig deutlich mehr an Ge- usw. ist leider nur das Gegenteil der Fall. Polizeifüh- wicht gewinnen. rer, Verfassungsschützer und deren Datenexperten waren die ersten, die die ehemalige DDR eroberten Diese Veränderungen im Zivilschutzkonzept wer- den auch beim Aufbau des Technischen Hilfswerks in (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Hö den neuen Bundesländern berücksichtigt. Über die - ren Sie doch mal auf!) Notwendigkeit einer Ausweitung des THW in die und mit ihrem Netzwerk der sogenannten inneren neuen Bundesländer bestand Einigkeit, auch mit den Sicherheit überzogen. Dieses Netzwerk wird jetzt Bundesländern. Nur NRW-Innenminister Herbert auch immer engmaschiger. Schnoor nahm eine Außenseiterposition ein. — Herr Hier nur einige Kostproben aus dem Haushalt: Es Kollege, ich brauche das nicht zu wiederholen; wir sind Ausgaben für das Bundesamt für Verfassungs- hatten das schon. schutz in Höhe von über 210 Millionen DM vorgese- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das hen. Über 56 Millionen DM sind für das neugeschaf- ist eine krause Figur in dem Punkt!) fene nachrichtendienstlich ausgerichtete Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik veranschlagt — Ja, da gebe ich Ihnen ausnahmsweise recht. Das ist worden. Fast 8 Millionen DM mehr sind für Beschaf- wirklich so, Herr Gerster. fungsmaßnahmen im Bereich der Bereitschaftspoli- Im Zusammenhang mit einer Änderung der Struk- zeien vorgesehen. Ich verweise ferner auf eine Steige- turen im Zivilschutz ist auch der Arbeitsauftrag der rung um glatte 400 Millionen DM beim Bundesgrenz- Schutzkommission deutlicher zu definieren. Diese schutz und auf eine fast bescheidene Erhöhung um muß die Beratung der Bundesregierung bei der Fest- 60 Millionen DM beim BKA. stellung des Forschungsbedarfs auf dem Zivilschutz- Kurzfristig drohten — vor allem im Jahre 1990 — sektor auch daran orientieren, daß keine Doppelfor- die Waffen, die geschmiedet wurden, um den Kalten schung betrieben wird. Zudem dürfen nach unserer Krieg zu bestehen, also vor allen Dingen BGS, VS, Auffassung keine Zivilschutzforschungsprojekte mit Bereitschaftspolizei und BND, ihren angeblichen Exi- Hilfe von Tierversuchen erfolgen. stenzgrund zu verlieren. Die Existenzangst ging um. 1978 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Ulla Jelpke Verfassungsschützer und BGS-Führer suchten überall schen und faschistischen Anschlägen gegen Auslän- neue Arbeitsfelder. der und Ausländerinnen begründen. (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Un- (Zuruf von der FDP: Wo leben Sie? Was er glaublich! Die Stasi sucht neue Arbeitsfel- zählen Sie da?) der!) — Das alles können Sie im Haushalt nachlesen, Herr Kollege. — Wenn Bundesminister Schäuble den ver- —Ja, ist es denn etwa nicht so? — Auch hierfür liefert stärkten Einsatz verdeckter Ermittler gegen die orga- der Haushalt deutliche Beweise: Der Bundesgrenz- nisierte Kriminalität fordert und wenn er durchsetzen schutz wird zu einer umfassenden Bundespolizei aus- will, daß die Polizisten auch milieubedingte Straftaten gebaut, ein weiterer Schlag gegen föderalistische begehen dürfen, dann muß man feststellen, daß hier Strukturen. Die Bahnpolizei und die Flugsicherung der Rechtsstaat ausgehebelt wird. werden übernommen. Das Grenzschutzkommando Ost ist ausgebaut worden. (Zuruf von der CDU/CSU: Davon haben Sie ja viel Ahnung!) Auch östliche Spionagetätigkeit muß weiter und Hier wird gezielt der Geheimbereich der Polizei aus- intensiver verfolgt werden. In einem Memorandum gebaut, der öffentlichen Kontrolle entzogen. des Verfassungsschutz-Präsidenten heißt es — ich zi- tiere — : „Durch die Verselbständigung der bisheri- (Ina Albowitz [FDP]: Wo kommen Sie her, gen Satellitenstaaten verliert die Sowjetunion ihr Vor- von der SED?) feld. Daher wird das Aufklärungsbedürfnis steigen". Wir schließen daraus, daß auf diese Weise die sozialen Das heißt, jetzt organisieren die parlamentarisch ver- und politischen Folgen der Annexion auf polizeistaat- faßten ehemaligen Vorfeldstaaten ihre eigene Spio- liche Art und Weise bewältigt werden sollen. nage gegen die BRD, und da muß der Verfassungs- schutz natürlich auch mehr als bisher ran. Daß dabei davon ausgegangen wird, daß der Schwerpunkt der Probleme zunächst in den fünf Neue Polizeien müssen nach Meinung des BMI ge- neuen Ländern liegen wird, macht neben Bedro- schult und ausgerüstet werden, neue Grenzen müssen hungsanalysen auch das Beispiel BGS und BGS-Ost geschützt und gesichert werden. Ein kleiner Posten deutlich. Kommt im Westen ein BGS-Beamter auf ca. dazu ist der Zuschuß für das Büro für die zentrale 2 730 Bürgerinnen und Bürger, so dürfen sich im Unterstützungseinheit des Schengener Informations- Osten schon 2 050 Bürgerinnen und Bürger dieser systems in Straßburg aus dem Haushalt des BKA. Betreuung erfreuen. Erheblich teurer dürfte das Datennetz sein, das Poli- (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Wie zei, Verfassungsschutz, Sozialämter und Arbeitsämter viele Stasi-Leute kamen auf die Bürger der zur Kontrolle und Aussortierung der Ausländerinnen DDR?) und Ausländer unterhalten. Ausländerinnen und Aus- — Das können Sie im „CILIP" nachlesen. länder sind ebenfalls Ziel des Verfassungsschutzes und der geforderten effizienteren Personalaufstok- Kosmetische Korrekturen an diesem Haushalt hel- fen nicht. Die Finanzierung dieser undemokratischen kung. Auch der BGS wird verstärkt auf dieses Einsatz- gebiet angesetzt. Politik der inneren Sicherheit muß radikal einge- schränkt werden. All das sind nur Momentaufnahmen. Die Planungen (Zuruf von der CDU/CSU: Das müssen ge reichen weiter. Mit Hilfe des neuen Ausländergeset- rade Sie uns erzählen!) zes und des Bundeszentralregistergesetzes wi ll die Polizei systematisch bundesweite Lagebilder über die In einem Bereich werden doch allen Ernstes für den Haushaltstitel „Förderung der historischen Landes- in der BRD lebenden Ausländerinnen und Ausländer- erstellen. Man will also die totale Überwachung von kunde in Mitteldeutschland" — interessant wäre ein- Ausländerinnen und Ausländern; das gilt insbeson- mal zu erfahren, was die Bundesregierung unter „Mit- dere für die als Risikogruppe eingeordneten Jugend- teldeutschland" versteht — „sowie politischer und lichen. kultureller Arbeit von Flüchtlingen und Vertriebe- nen" 5 Millionen DM ausgegeben. Auch der Bund der (Dr. Willfried Penner [SPD]: Glauben Sie das Vertriebenen, der die bestehenden Grenzen in Eu- eigentlich? — Dr. Joseph-Theodor Blank ropa nicht anerkennen will und damit gegen die f ried- [CDU/CSU]: Sie erzählen hier Märchen aus liche Koexistenz arbeitet, wird nicht nur mit Geld be- „Tausend und eine Nacht" ! ) dacht, sondern kann auch, wie wir gerade erleben, auf die bundesdeutsche Außenpolitik Einfluß nehmen. — Das können Sie nachlesen. Meine Damen und Herren, dem allen gegenüber In dieses Bild gehören die bisher schon in großem stehen Organisationen und Institutionen, die sich für Stil vorgenommenen Abschiebungen von Flüchtlin- eine Demokratisierung der Gesellschaft einsetzen, die gen. „Amnesty international" schätzt, daß ab 30. Juni gegen die Ausschnüffelung der Bürgerinnen und Bür- 1991 mehr als 120 000 Ausländer und Ausländerinnen ger durch die Geheimdienste keinerlei finanzielle Un- unmittelbar vor der Abschiebung stehen. Eine effekti- terstützung erfahren; vere Variante der Parole „Ausländer raus! ". (Zuruf von der FDP: Ach du meine Güte! Sie Vertretern dieser Politik ist es kaum abzunehmen, kommen von der PDS!) wenn sie den Aufbau des Sicherheitsapparats in der ebenfalls nicht antifaschistische Organisationen und ehemaligen DDR mit alltäglich gewordenen rassisti Gruppierungen, die sich gegen die gnadenlose Ab- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1979

Ulla Jelpke schiebungspolitik zur Wehr setzen. Sie sind eher der gerieten bzw. geraten, die steigende Mieten und Le- Anlaß dafür, daß die entsprechenden Positionen im benshaltungskosten nicht mehr bezahlen können und Bundeshaushalt steigen. die eine solche tiefgreifende Veränderung ihrer Le- Wir lehnen den Haushalt für den Bereich Innen- bensumstände möglicherweise nicht einfach über sich politik ab. ergehen lassen wollen. Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören. Ohne soziale Gerechtigkeit kann es auch keinen (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Johannes inneren Frieden einer Gesellschaft geben. Die ge- Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Diese Frau hat nannte Schieflage zwischen den fraglichen Ausga- mit den Realitäten nichts im Sinn! Sie lebt in benbereichen habe ich bereits in der ersten Lesung der eigenen Welt! Früher hat man solche dieses Haushalts festgestellt und um Erläuterungen Leute verrückt genannt! — Ina Albowitz und Änderungen in weiteren Beratungen gebeten. [FDP]: Wenn die zugestimmt hätte, hätte der Vor etwa zwölf Wochen fragte ich an dieser Stelle Innenminister etwas falsch gemacht!) u. a.: Ist es richtig, daß im Einzelplan 06 die Mehran- sätze für innere Sicherheit mit am höchsten sind und daß für den Bundesgrenzschutz das meiste Geld auf- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort gewendet werden soll — einer der höchsten Steige- hat die Abgeordnete Frau Köppe. rungsraten mit 30 % —, daß für Polizei und BGS mehr ausgegeben werden soll als für die gesamte Jugend- hilfe, daß die Bereitschaftspolizei der Länder doppelt (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident! Ingrid Köppe soviel Geld erhält wie Drogenmodellprogramme, Meine Damen und Herren! In dem zur Debatte ste- henden Bereich Innenpolitik sollen die Ausgaben ge- (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Die genüber dem Vorjahr um rund ein Drittel, im Bereich Jugendhilfe ist eine kommunale Aufgabe!) der zivilen Verteidigung um mehr als 10 % ansteigen. daß der Bund für die Nachrichtendienste und das BKA Wir haben den Eindruck, daß die in weiten Teilen die- mehr Geld ausgibt, als für den ganzen Bereich der ser Einzelpläne vorgesehenen Ausgaben oder Ausga- Berufsausbildung, Berufsfortbildung und Umschu- bensteigerungen nicht unmittelbar den Menschen zu- lung ausgegeben wird? gute kommen werden, sondern an den Bedürfnissen der Menschen, insbesondere an denen der Menschen Alle diese Fragen müssen leider mit Ja beantwortet in Ostdeutschland, vorbeigehen oder sich gar direkt werden. Dies ist von Bund und Parlament offenbar gegen diese Bedürfnisse richten. ernstlich gewollt. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Das Na!) stimmt nicht! Die Kommunen geben für die Hier findet die herrschende Neigung ihren finanzi- Jugendhilfe sehr viel aus!) ellen Ausdruck, den Bürgern und Bürgerinnen in der Doch wir wollen Ihnen sagen: Wer den Menschen ehemaligen DDR westdeutsche Einrichtungen und insbesondere in Ostdeutschland heute die Hilfe zur Strukturen überzustülpen, ohne einmal innezuhalten Selbsthilfe in dem benötigten Umfang verweigert, und die Eignung dieser Einrichtungen und Strukturen wer insoweit tatenlos dem erwarteten heißen Herbst angemessen zu überprüfen, ohne anläßlich der Verei- entgegensieht, also der anstehenden Ausweitung be- nigung mögliche Anpassungen und Veränderungen rechtigter sozialer Proteste, oder wer sich im fernen auch in Westdeutschland zu erwägen. Als Beispiele Bonn damit beruhigt, wir hätten für diese Zeiten ja für diese Tendenz nenne ich hier nur den gesamten genug Polizei, wir hätten genug Geld für Panzerwa- Bereich der zivilen Verteidigung und insbesondere gen, Schlagstöcke und Tränengas bereitgestellt — das Technische Hilfswerk. Ich werde darauf noch zu- solche Politiker nenne ich unmenschlich und skrupel- rückkommen. los. Ich bedauere sehr, daß der dabei zum Ausdruck kommenden Trägheit, ja vielleicht auch der ein wenig Dieses Denken hat z. B. vor einigen Wochen der zum Ausdruck kommenden westdeutschen Selbstbe- Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei Lutz auf stätigung nicht nur die Bundesregierung, sondern den Punkt gebracht: Mehr Personal und technische auch die Mehrheit in diesem Hause zu erliegen Ausstattung für die Polizei im Osten seien eine Grund- droht. voraussetzung für die Bereitschaft von Investoren, in der ehemaligen DDR langfristig Kapitel zu binden. Meine Kritik, dieser Haushalt berücksichtige zuwe- nig die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen, er- Beispielhaft für diesen Bereich haben wir mit dem gibt sich auch aus der Struktur und der Gewichtung Ihnen vorliegenden Änderungsantrag gefordert, die der verschiedenen Ausgabenzwecke, also aus einem Bundeszuwendungen für den Aufbau zusätzlicher Be- Vergleich mit Ansätzen in anderen Einzelplänen. Da- reitschaftspolizeien in den neuen Ländern zu strei- bei gewinne ich z. B. den Eindruck, den Bürgerinnen chen. Dies ist nicht nur ein politisches Problem unter und Bürgern wird die erhoffte soziale Sicherheit in den bereits skizzierten Gesichtspunkten. Dies ist auch dem benötigten Umfang vorenthalten und dafür die ein haushalts- und finanzverfassungsrechtliches Pro- sogenannte innere Sicherheit im Übermaß verspro- blem; denn die Bereitschaftspolizei ist ja einschließ- chen. lich der Finanzierung Ländersache. Diese Verheißung kann jedoch nicht beruhigend, Eine Mitfinanzierung durch den Bund könnte nur sondern wohl nur bedrohlich auf Menschen in Ost- im Hinblick auf begrenzte Bundeskompetenzen für deutschland wirken, die gestern, heute oder morgen Polizeimaßnahmen — etwa im Spannungs- und Ver- aus der Kurzarbeit Null in die offene Arbeitslosigkeit teidigungsfall — gerechtfertigt werden. Genau diese 1980 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Ingrid Köppe Fälle werden immer unwahrscheinlicher, und schon des Bundesrechnungshofs, was dieses Gebiet an- die bundeseigene Polizei BGS stünde dafür mehr als geht. früher zur Verfügung. Daher hat der Bund rechtlich keinen Spielraum, nun Tausende zusätzlicher Bereit- (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Die schaftspolizisten im Osten mitzufinanzieren. neuen Bundesländer haben nichts dagegen! Sie freuen sich darüber!) Entsprechende Einwände liegen unseren Ände- rungsanträgen zum Einzelplan 36 — zivile Verteidi- Im übrigen haben wir — das wollte ich noch zu dem gung — zugrunde. Deshalb stelle ich sie in einem sagen, was Herr Kollege Purps vorhin sagte — auch in Exkurs an dieser Stelle vor. diesem konkreten Fall keinen Antrag abgeschrieben. Die Bedeutung der zivilen Verteidigung für einen Wir haben es auch nicht nötig, Anträge von der SPD Krieg in Mitteleuropa nimmt immer mehr ab, damit abzuschreiben; wir können uns schon unsere eigenen auch die Rechtfertigung für die hohen Aufwendungen Gedanken machen. des Bundes in diesem seinem Zuständigkeitsbereich, die aller Entwicklung zum Trotz nun noch einmal um Ich beziehe mich jetzt auf den Antrag zum Techni- über 10 % ansteigen sollen. schen Hilfswerk. Wenn man der Auffassung ist, daß das Technische Hilfswerk im Osten nicht aufgebaut Demgegenüber nimmt die Bedeutung des allein werden soll, dann muß man auf die Zahlen in unserem von den Ländern verantworteten Katastrophenschut- Antrag kommen. Daher haben wir diese Zahlen ge- für Friedenszeiten immer mehr zu. Von Verfas- zes nannt. sung wegen darf der Bund sich in diesem Bereich aber nicht finanziell engagieren, wie er dies seit Jahren (Rudolf Purps [SPD]: Aus dem Protokoll!) jedoch verstärkt tut. Hier fehlt nach wie vor ein von Bund und Ländern getragenes Konzept für beide Be- Unseren Änderungsanträgen liegt also außer dem reiche, das der genannten Entwicklung endlich Rech- Bundesrechnungshofsvotum die Aufforderung zu- nung trägt und unzeitgemäße Zivilverteidigungsvor- grunde, sich der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu kehrungen zurückschraubt zugunsten nutzbringen- erinnern, politische Veränderungen zu überprüfen der Zwecke. Ein Beispiel: Wohnungs- statt Bunker- und über das träge Motto „Das haben wir schon im- bau. mer so gemacht, und das sollen die Ossis jetzt auch einmal so machen" hinauszukommen.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- Ich kehre nach dem Exkurs über die Zivile Vertei- geordnete, sind Sie geneigt, eine Zwischenfrage des digung zu meinem Eingangsthema Ausbau der inne- Abgeordneten Gerster zu beantworten? — Bitte sehr, ren statt der sozialen Sicherheit zurück. Denn das Herr Abgeordneter. zuletzt genannte Motto scheint mir auch der Tätigkeit der Nachrichtendienste und deren Ausdehnung nach Ostdeutschland zugrunde zu liegen. Überzeugende Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU) : Frau Kolle- Gründe dafür, die Menschen dort gegen all ihre Erfah- gin, ist Ihnen entgangen, daß der Bundestag mit Zu- rungen mit dem MfS nun wieder und sehr schnell mit stimmung des Bundesrates in der letzten Wahlperiode Geheimdiensten zu beglücken, habe ich trotz aller ein Gesetz über den erweiterten Katastrophenschutz Bemühungen immer noch nicht vernehmen können. und ein THW-Helferrechtsgesetz beschlossen hat, das Der Verfassungsschutz nennt ja neuerdings gern exakt das vorsieht, was Sie hier bestreiten, nämlich den Einsatz gegen Rechtsextremisten und Stasi-Seil- daß z. B. auch das Technische Hilfswerk im erweiter- schaften als seine Anliegen, weil diese beiden Berei- ten Katastrophenschutz gesetzliche Aufgaben hat? Ist che den Menschen viel Sorge bereiten. Doch bei ei- Ihnen weiterhin entgangen, daß im Auftrag der Bun- nem Blick auf die bisherige Verfassungsschutzpraxis desregierung z. B. dieses Technische Hilfswerk in der im Westen überzeugt das nicht. Traditionell war der Sowjetunion, jetzt in Kurdistan, in Afrika und in vielen Verfassungsschutz seit seines Bestehens Staats- und anderen Bereichen humanitäre Aufgaben wahr- damit Regierungsschutz, vor allem gegen links. nimmt? Ist Ihnen das wirklich entgangen? Rechtsextreme Gruppen dagegen wurden durch den Verfassungsschützer bei schweren Straftaten beob- achtet, toleriert oder durch V-Leute sogar allzuoft tat- Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE) : Es ist mir nicht kräftig unterstützt. entgangen, Herr Kollege. Aber zu dem Bereich, zu dem ich mich eben geäußert habe, liegen Stellung- Nicht auf diese Weise und durch einen geheim ar- nahmen aus den Ländern vor, die sich deutlich gegen beitenden Nachrichtendienst kann Rechtsextremis- diese Sache ausgesprochen haben. mus, Hooligans, Ausländerfeindlichkeit begegnet (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie und können Stasi-Machenschaften aufgedeckt wer- haben zugestimmt! — Dr. Klaus-Dieter Uel- den, sondern nur durch die Information der Bevölke- hoff [CDU/CSU]: Aus einem Land! Nur rung und die Förderung einer offenen gesellschaftli- NRW!) chen Auseinandersetzung mit diesem Problem. Solange hier keine Linie erkennbar ist — so sagte ich Das Gegenteil aber geschieht. Damit komme ich bereits — , dürfen die alten Strukturen nicht pauschal unmittelbar auf den Haushalt 1991 zurück. Die Bera- übernommen werden. tung der Haushaltsansätze über die Finanzausstat- Außerdem gibt es — das ist uns bekannt — seit vie- tung der Nachrichtendienste findet in einem gehei- len Jahren auch dringende Mahnungen von seiten men Kreis von fünf Kollegen statt und ist für mich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1981.

Ingrid Köppe nicht nachprüfbar, geschweige denn für die Öffent- menten herbeigeführt wurde, geschweige denn ein lichkeit transparent. gesellschaftlicher Konsens besteht. Die Diskussion darüber, welche Bereiche und Funktionen im öffentli- (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Doch, chen Dienst und in der Privatwirtschaft für diesen Per- Sie sind eingeladen! Sie müssen nur kom- sonenkreis künftig tabu sein sollten und wo diese Per- men! Sie sind normalerweise nicht da, Frau sonen beruflich tätig sein sollten und ihr Auskommen Kollegin!) finden könnten, muß endlich breit und transparent geführt werden. Hierzu gehört auch, Kriterien und — Ich bin nicht in dem Gremium, das über den Haus- Verfahrensweisen bei derartigen Sicherheitsüber- halt der Nachrichtendienste berät. prüfungen, bei Kündigungen und Weiterbeschäfti- gungen über die Vorgaben des Einigungsvertrags (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Da hinaus zu präzisieren und offenzulegen. Dies haben sind Sie nicht, das ist richtig! Aber zu den wir bereits vor geraumer Zeit beantragt, und dies wird anderen, zu denen Sie eingeladen werden, immer dringlicher. kommen Sie auch nicht!) Es geht nicht an, daß die einen durch allzu laxe Ihm gehören nur fünf Mitglieder an. Die Öffentlich- Überprüfung quasi weißgewaschen werden — bis- keit erfährt davon nichts. weilen etwa im Polizeibereich, wo das Personal drin- gend gebraucht wird — und andere mit Hilfe dubioser Vorgestern habe ich beim Bundesamt für Verfas- Fragebögen ohne Rücksicht auf Datenschutz und Per- sungsschutz von Herrn Werthebach auf konkrete sönlichkeitsrechte zu politischen Selbstbezichtigun- Nachfragen ebenfalls kaum Auskünfte erhalten. Daß die Mieten für konspirative Wohnungen in München gen gezwungen werden. Hier muß ein angemessener Ausgleich zwischen den konkurrierenden Anliegen höher sind als anderswo, das konnte ich mir auch schon vorher denken. und insbesondere eine Annäherung und Transparenz der unterschiedlichen Prüfungsverfahren und -ergeb- Eng mit dem nachrichtendienstlichen Bereich hängt nisse erreicht werden, welche auch von der Bevölke- das Bundesamt für Sicherheit in der Informations- rung im Osten akzeptiert werden können. technik zusammen. Die Personalstellen und Mitarbei- ter stammen ganz überwiegend aus den Diensten. Sie In diesem Zusammenhang ist eine beschleunigte sitzen sogar zum Teil weiterhin an ihren alten Gewinnung von Personal für die Gauck-Dienststelle Schreibtischen außerhalb und beschäftigen sich erforderlich, um die Auswertung und Aufarbeitung schwerpunktmäßig mit alten Themen — am Bedarf der MfS-Akten zu beschleunigen; denn diese sind, vorbei, monierte der Bundesrechnungshof mehrfach. wie bekannt, in der Berliner Zentrale bisher nur zu Er stieß dabei allerdings bislang bei der Mehrheit in 30 % und in den Außenstellen zu 20 % ausgewertet diesem Hause auf taube Ohren. Entsprechend seinen worden. Die Beschleunigung der Aktenauswertung Vorschlägen beantragen wir daher auch die Ände- soll meiner Meinung nach die Voraussetzungen rung der Ansätze für das BSI. schaffen, erstens den Betroffenen Auskünfte und Ein- sicht zu Rehabilitierungszwecken gewähren zu kön- Wie steht es mit den Personalaufwendungen und nen, zweitens für die Feststellung und öffentliche Do- der Übernahme von Stasi-Mitarbeitern im Geschäfts- kumentation von nicht personenbezogenen Struktur- bereich des BMI? Insgesamt seien dort nur 177 ehe- informationen über die Stasi zu Forschungs- und Auf- malige Mitarbeiter übernommen worden, teilte mir arbeitungszwecken, drittens für Personalüberprüfun- das BMI vor drei Wochen mit. Ich muß das sehr be- gen einschließlich der Parlamentsabgeordneten und zweifeln, wenn ich an Hand von Presseberichten und viertens für Zwecke der Strafverfolgung. Sie bemer- sonstigen mir vorliegenden Informationen einmal ken es, die Nachrichtendienste erwähne ich in dieser nachzurechnen versuche. Allein 163 hauptamtliche Aufzählung ausdrücklich nicht. MfS-Leute sind beim Bundesverwaltungsamt be- schäftigt, schrieb vorgestern „Der Morgen", 1049 wei- Dies leitet zur Haushaltsausstattung von Strafver- tere ehemalige Grenzabschnittsbevollmächtigte und folgungsbehörden über, im Einzelplan 06 primär des Paßkontrolleinheiten sind bereits in den BGS über- BKA. Ich befürchte, daß auch die hier vorgenomme- nommen worden. nen Steigerungen keine positive Auswirkung auf ei- nen Bereich haben werden, der uns besonders am Beim Sonderbeauftragten Gauck sind MfS-Mitar- Herzen liegt: auf die Ahndung der sogenannten Re- beiter tätig, und demnächst sollen 45 als Personen- gierungskriminalität, also die Strafverfolgung der schützer vom BKA übernommen werden. Daher muß Führungsspitze in der ehemaligen DDR. die Bundesregierung endlich Öffentlichkeit und Par- lament rückhaltlos über die tatsächliche Zahl über- Ich fordere die Bundesregierung nachdrücklich auf, nommener ehemaliger MfS-Mitarbeiter und ihre im Rahmen ihrer Zuständigkeit alles ihr Mögliche zu künftigen dienstlichen Aufgaben aufklären, statt im- tun, die ermittelnde Berliner Schwerpunktstaatsan- mer nur auf Presserecherchen hin Stück für Stück im waltschaft mit Fachkräften des BKA z. B. für Wirt- nachhinein einzuräumen. schaftsdelikte zu unterstützen und alle der Bundesre- gierung vorliegenden Erkenntnisse — z. B. von Über- Diese Politik macht nochmals sehr deutlich, daß läufern, aber nicht zuletzt auch von Herrn Schalck- über die weiteren beruflichen Verwendungsmöglich- Golodkowski — rückhaltslos zur Verfügung zu stel- keiten von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern immer noch len, soweit dies für die Strafverfolgung dienlich sein keine Verständigung zwischen Regierung und Parla- kann. 1982 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Ingrid Köppe Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß die Gruppe ein Staat, Regierungen und Parlamente tun können, Bündnis 90/GRÜNE dem Entwurf der Einzelpläne 06 um inneren Frieden, friedliches Zusammenleben der und 36 nicht zustimmen wird. Menschen zu gewährleisten, soweit der Staat das (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE — Johan- überhaupt kann; das kann er alleine ja nicht — kön- nes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist aber nen wir wenig aus der Zeit der totalitären DDR über- sehr traurig!) nehmen. (Gerd Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]: Wer von uns hat das gefordert?) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat der Bundesinnenminister Dr. Schäuble. —Ihre Vorrednerin von der SED-PDS hat von der tota- len Überwachung von Ausländern in den fünf neuen Ländern gesprochen. Ich habe mich wirklich gefragt Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern: — sie ist schon gegangen; das schadet auch weiter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- nichts — : ren! Frau Kollegin Köppe, es gibt ja viele in diesem (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Haus — ich zähle mich dazu — , die sich Mühe geben, mit Ihnen eine sachliche Diskussion zu führen, auch Wo kommt sie denn eigentlich her? bei allen unterschiedlichen Standpunkten. Aber mit (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Aus Reden wie dieser machen Sie es wirklich schwer. der Normannenstraße?) (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie der Mit zu dem wirklich bitteren Erbe, das uns die DDR Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD]) hinterlassen hat, mit dem wir uns herumschlagen Ich würde Ihnen sogar — wenn ich Ihnen einen Rat müssen und weswegen es u. a. so wichtig ist, daß wir geben sollte — raten, darauf zu achten, daß Sie sich schnell eine leistungsfähige Polizei und auch einen noch erkennbar von Ihrer Vorrednerin unterschei- leistungsfähigen Verfassungsschutz in den fünf neuen den; Ländern aufbauen, gehört die Gefahr, daß nach 40 Jahren totalitärer Herrschaft in der DDR die Men- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) schen noch nicht gelernt haben, mit Ausländern zu- denn Sie tun auch dem keine Ehre an, wofür das sammenzuleben, Bündnis 90 in der ehemaligen DDR angetreten war. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sehr (Gerd Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]: Das kön- wahr!) nen wir selber beurteilen!) und daß es Bösewichte, Rechtsradikale insbesondere, Es mutet einem schon absurd an, wenn Sie sich aus- gibt, die mit dem Schüren von Ausländerhaß ihre gerechnet im Hinblick auf den Bereich der Sicherstel- Suppe kochen wollen. lung von Rechtsstaat und Freiheit — das ist nämlich das, dem der Einzelplan 06 in bezug auf innere Si- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der cherheit und inneren Frieden insbesondere dient — SPD) darüber beklagen, daß wir, wie Sie gesagt haben, Und jetzt müssen wir uns das von der SED-PDS vor- Strukturen aus der alten Bundesrepublik einfach den halten lassen. neuen Ländern übergestülpt haben. Wissen Sie, ge- Deswegen brauchen wir in den neuen Ländern rade im Hinblick auf die Sicherstellung von Rechts- — das ist ein entscheidender Grund, warum wir uns so staat, Demokratie und Freiheit gibt es aus der Zeit der engagieren — den raschen Aufbau eines leistungsfä- totalitären DDR relativ wenig in das vereinte Deutsch- higen Verfassungsschutzes. Die Aufgaben des Ver- land zu übernehmen. fassungsschutzes — darüber haben wir in den vergan- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der genen Jahren oft miteinander gesprochen —haben SPD) sich, Gott sei Dank, durch eine glückliche Entwick- Wenn Sie den Einzelplan wirklich sorgfältig studiert lung in den Ost-West-Beziehungen ein Stück weit und auch ein Stück weit sachgerecht gewürdigt hät- verändert. Aber der Verfassungsschutz ist — das se- ten, hätten Sie vielleicht im Bereich der Kulturförde- hen wir in den neuen Ländern und in dem, was sich dort an Gewalttätigkeiten in der rechtsextremen rung Ansätze gefunden — und zwar mit ganz anderen Steigerungsraten als in allen anderen Bereichen —, Szene und an Ausländerfeindlichkeit zeigt — nicht entbehrlich geworden, sondern er bleibt notwendig. (Ina Albowitz [FDP]: So ist es!) Deswegen ist es auch nicht richtig, Frau Kollegin mit denen wir uns — da bin ich ungeheuer dankbar Köppe — Sie sollten wirklich noch einmal überlegen, für die Unterstützung, die wir für diese Arbeit in die- ob Sie es nicht in Zukunft lassen —, den Verfassungs- sem Hohen Hause erfahren — gerade dafür einsetzen, schutz, der die freiheitliche, rechtsstaatliche Grund- daß der kulturelle Reichtum der fünf Länder von ordnung dieser Bundesrepublik Deutschland zu Mecklenburg bis Sachsen-Anhalt und von Thüringen schützen hat, in irgendeiner Weise subkutan mit dem bis Brandenburg auch in diesem Prozeß, in dieser gleichzusetzen, was in der früheren DDR die Staatssi- schnellen Entwicklung zur deutschen Einheit erhalten cherheit getan hat, die nämlich die Freiheit der Men- wird. Dort geht es um Erhaltenswertes; dort haben wir schen unterdrückt hat. Sie tun wirklich unrecht. die höchsten Steigerungsraten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD) Aber im Bereich der Gewährleistung von Demokra- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mi- tie, Freiheit, Rechtsstaat — übrigens auch in dem, was nister, sind Sie gewillt, eine Frage zu beantworten? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1983

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern: Ihre gegenteilige Behauptung weise ich mit Entschie- Bitte sehr. denheit zurück. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte bei Abgeordneten der SPD) schön, Frau Abgeordnete. Sie sagen: Die arbeiten mit nachrichtendienstlichen Methoden und mit informellen Mitarbeitern. Dazu Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE) : Stimmen Sie sage ich: Das müssen sie natürlich auch tun. Damit mir zu, daß sowohl der Staatssicherheitsdienst als setzen Sie gleich, was einander diametral entgegen- auch der Verfassungsschutz konspirativ arbeitende gesetzt ist. Damit verwischen Sie, was nicht zusam- Gremien waren bzw. sind, daß beide mit inoffiziellen mengemengt werden darf. Mitarbeitern bzw. V-Leuten arbeiten, Sie tun damit im übrigen den Mitarbeitern des Ver- (Zuruf von der FDP: Aber das sind doch nur fassungsschutzes von Bund und Ländern unrecht. Sie die Methoden! Das sind doch nicht die reden falsches Zeugnis. Deswegen meine ich: Sie soll- Ziele!) ten sich so nicht äußern. daß beide konspirative Wohnungen hielten bzw. hal- Gerade ein freiheitlicher Rechtsstaat muß sich und ten, daß beide mit nachrichtendienstlichen Mitteln seine Bürger auch gegen diejenigen schützen, die die arbeiten, daß beide konspirativ Leute überwachen Freiheit mißbrauchen wollen und die die innere Si- (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Wo ist cherheit untergraben wollen. der entscheidende Unterschied des politi (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — schen Auftrags?) Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Heiligt und daß — dürfte ich aussprechen? — mit jeder A rt der Zweck also wieder alle Mittel, Herr Mini von konspirativer Überwachung und Beschnüffelung ster?) Menschenrechte verletzt werden? Vielleicht darf ich ergänzend noch bemerken: Ich Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mi- meine, daß es einer Demokratie besser anstehen nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- würde, sich mit den Problemen, die Sie nannten und neten Pfeffermann? — Bitte, Herr Abgeordneter Nef- die durchaus vorhanden sind, besonders im Osten fermann. Deutschlands — Rechtsextremismus und Ausländer- feindlichkeit —, öffentlich auseinanderzusetzen und eine öffentliche Diskussion zu führen, als diese Pro- Gerhard O. Pfeffermann (CDU/CSU) : Herr Innen- bleme überwiegend dem Verfassungsschutz zu über- minister, könnte es sein, daß Fragen dieser Art und lassen Auseinandersetzungen dieser Art, so, wie sie im Mo- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ist ment von Ihnen notwendigerweise geführt werden, das noch eine Frage?) deswegen permanent in Deutschland wiederkehren, weil zum Ziel der politischen Auseinandersetzung in oder ihn gerade dafür zu fordern. der Zwischenzeit ganz gezielt in der früheren DDR (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Jetzt das Wirken der Einrichtungen des Stasi gemacht wor- reicht es aber!) den ist, während dabei ganz gezielt unterschlagen Eine weitere Frage: Welche Erfolge hat der Verfas- worden ist, daß dies die Einrichtung einer politischen sungsschutz — — Führung war, die Stasi also Hilfsmittel einer politi- schen Führung gewesen ist und in der politischen Dis- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- kussion in der Bundesrepublik Deutschland die ei- geordnete, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die gentlich Verantwortlichen für die Tätigkeit des Stasi Geschäftsordnung nicht mißbrauchten. - öffentlich kaum noch genannt werden?

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern: Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern: Frau Kollegin Köppe, Sie haben jetzt noch einmal das Ich glaube, Herr Kollege Pfeffermann, daß dies eine vorgeführt, um dessen Unterlassung ich Sie eben ge- wesentliche Ursache dafür ist, daß wir diese Diskus- beten hatte. sion wieder zu führen haben. Ich führe die Diskussion Wissen Sie, auch Herr Honecker hat Unterschriften in der Tat, weil ich gern möchte, daß verhindert wird, geleistet. Insofern können Sie sagen, der hat dasselbe daß hier die fundamentalen Unterschiede verwischt getan wie ein Regierungschef der Bundesrepublik werden, und weil ich finde, daß die Menschen, die in Deutschland. Das könnten Sie dann auch verglei- der damaligen DDR eine friedliche Revolution ge- chen. macht haben, um Freiheit und Einheit zu erreichen, Es kommt doch nicht darauf an, welches die Metho- die uns Deutschen miteinander geschenkt worden ist, den sind, es nicht verdient haben, daß in einer solchen Weise die Grenzen zwischen Freiheit und Unfreiheit ver- (Zuruf von der FDP: Richtig!) wischt werden. sondern darauf, auf Grund welcher rechtlichen Grundlagen und zu welchen Zwecken Polizeibehör- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den oder auch Verfassungsschutzbehörden tätig wer- den. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mi- Übrigens: Der Verfassungsschutz in der Bundesre- nister, Frau Abgeordnete Köppe bittet noch einmal publik Deutschland verletzt keine Menschenrechte. um eine Zwischenfrage. 1984 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern: Länder mit Einzelplan 06 die notwendigen Mittel zur Gut, bitte sehr. Bitte sehen Sie dann aber ein, daß das Verfügung gestellt werden. Wir brauchen sie, damit dann die letzte Zwischenfrage für den Augenblick wir in Zukunft in sicherem inneren Frieden und in ist. Freiheit miteinander leben können. Das ist das Ent- scheidende. (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Minister, Ingrid Köppe Aber das ist nicht alles, was wir mit Einzelplan 06 zu Sie sagten, daß der Verfassungsschutz gerade im Be- entscheiden haben. Frau Kollegin Köppe, Ihr Fehler reich des Rechtsextremismus in den neuen Bundes- war, daß Sie den Einzelplan 06 unter diesem Gesichts- ländern dringend erforderlich sei. Könnten Sie uns punkt völlig verzerrt dargestellt haben. vielleicht die Erfolge des Verfassungsschutzes in der Vergangenheit in den Altbundesländern gerade auf Ich finde, mindestens ebenso wichtig ist, daß in dem diesem Gebiet nennen, und ist es nicht vielmehr so, Prozeß der schnellen Veränderungen, die in den fünf daß der Verfassungsschutz in den Altbundesländern Ländern stattfinden, nicht verlorengeht, was dort er- in der Vergangenheit sehr wenig gegen Rechtsextre- halten werden muß. Deswegen will ich noch einmal mismus unternommen hat, daß der teilweise sogar auf das Thema zu sprechen kommen, das Herr Kol- eher geduldet wurde; ich nenne stellvertretend die lege Purps, Herr Kollege Deres und Frau Kollegin Hansa-Bande, aber es gibt etliche Fälle mehr? Albowitz angesprochen haben und das zentral im Haushalt 1991 des Bundesministers des Innern steht, Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern: daß wir nämlich weit über 1 Milliarde DM an Mitteln Frau Kollegin Köppe, der Verfassungsschutz hat in haben, um in den fünf neuen Bundesländern über- den über 40 Jahren Bundesrepublik Deutschland mit gangsweise Kulturförderung zu betreiben. dazu beigetragen, daß weder Rechts- noch Links- extremisten in dieser freiheitlichen rechtsstaatlichen Wir wissen, daß wir damit — Frau Albowitz hat dies Demokratie eine nennenswerte Rolle spielen konn- gesagt — an die Grenzen dessen gegangen sind, was ten dem Bund finanzpolitisch und verfassungsrechtlich überhaupt möglich ist. Aber wir haben es getan, und (Friedrich Bohl [CDU/CSU] : Sehr gut!) es ist richtig, weil wir in dieser Zeit helfen müssen, daß und daß diese Bundesrepublik Deutschland eine sta- nicht verlorengeht, was in den fünf Ländern an kultu- bile Demokratie geworden und geblieben ist, die übri- reller Substanz nicht verlorengehen darf, und weil der gens mit der Herstellung einheitlicher Lebensverhält- Bund unbürokratisch und flexibel hilft. Daß das Parla- nisse im vereinten Deutschland auch den raschen ment die notwendigen Mittel dafür zur Verfügung Wandel in Stabilität und in innerem Frieden bewälti- stellt, halte ich für einen der wirklich entscheidenden gen wird. Deswegen hat sich der Verfassungsschutz Akzente im Bundeshaushalt 1991. ein großes Verdienst dafür erworben, daß unsere ge- meinsame Freiheit so stabil und verläßlich geworden Ich möchte mich bei allen, die daran mitgewirkt ist. Daher lasse ich nicht zu, daß Sie über den Verfas- haben, bedanken. Ich erbitte Ihre Hilfe auch dafür, sungsschutz und seine Mitarbeiter in einer Weise re- daß wir den Abbau dieser Mittel, der auf Dauer natür- den, wie Sie das eben getan haben. lich erfolgen muß — nach dem Verfassungsgefüge unseres Grundgesetzes kann es keine Dauerfinanzie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung des Bundes geben — , nur in einem Maße betrei- Ich will übrigens gleich hinzufügen, daß ich auch ben müssen, das gleichzeitig die Übernahme entspre- nicht der Meinung bin, daß wir die Gefahren für die chender Verantwortlichkeiten durch die fünf neuen innere Sicherheit durch Gewalttätigkeiten, durch Länder und auch die Kommunen in den fünf neuen Rechtsextremisten und durch Ausländerfeindlichkeit Ländern ermöglicht. in den neuen Ländern überzeichnen dürfen. (Beifall der Abg. Ing rid Matthäus-Maier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie [SPD]) bei Abgeordneten der SPD) Aber ich bin dafür, daß wir mit aller Entschiedenheit Ich will — weil wir auf Zusammenarbeit mit den den Anfängen wehren, daß wir sie benennen, daß wir Ländern angewiesen sind — in aller Behutsamkeit er- — auch wir aus den alten Ländern — in aller Offenheit wähnen, daß die elf alten Bundesländer, die an den sagen: Die Kriminalität ist in den elf alten Ländern Verhandlungen über den Einigungsvertrag beteiligt insgesamt immer noch höher als in den fünf neuen waren, die im Bundesrat auch zustimmen mußten, Ländern. Wir haben überhaupt keinen Grund, mit den damals gesagt haben: Wenn sich der Bund in der Zeit Fingern auf irgend jemand anderen zu zeigen, son- des Übergangs auch nur für eine Minute Zuständig- dern wir haben allen Grund — das ist die Linie unse- keiten anmaßen wollte, die nach dem Grundgesetz rer Politik und unseres Handelns — , unsere Verant- nicht dem Bund, sondern den Ländern zustehen, wer- wortung ernst zu nehmen. den die Länder nicht zustimmen. Wir sind heute Gott Deswegen bin ich im übrigen dafür dankbar, daß sei Dank ein Stück weit davon weggekommen. Aber den zuständigen Behörden des Bundes, dem Bundes- ich bin der Meinung, daß die Länder, auch die elf kriminalamt, dem Bundesgrenzschutz, den wir drin- alten, ihre Zuständigkeiten inzwischen wieder stärker gend brauchen — denken Sie an die Krawalle in den wahrnehmen könnten. Es war in der Tat schon ziem- Fußballstadien der neuen Länder, wo jede Woche von lich nervenaufreibend, die Einigung über die mindestens drei Bundesländern der Bundesgrenz- 14,5 Millionen DM Komplementärmittel für die Stif- schutz ergänzend angefordert wird — und den wir tung „Preußischer Kulturbesitz" noch zustande zu aufbauen müssen, dem Bundesamt für Verfassungs- bringen. Es ist am Schluß mit Hilfe des Bundeskanz- schutz und auch für die Bereitschaftspolizeien der lers zwar gelungen, aber ich finde, daß wir es im näch- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1985

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble sten Jahr auf der Ebene der Fachminister leisten soll- Ich bin froh, daß wir in den Beratungen der Innen- ten. Trotzdem bin ich dankbar, daß es gelungen ist. minister von Bund und Ländern Anfang Mai nach meiner Einschätzung ein Stück weitergekommen Ich will übrigens, Herr Kollege Purps, zum Sport an sind. Auf der Grundlage des Gesetzentwurfs des Bun- dieser Stelle nur sagen: Es ist nicht zutreffend, wenn desrats zur Bekämpfung organisierter Kriminalität Sie — oder vielleicht auch Herr Kollege Schmidt, werden wir hier im Bundestag sehr kurzfristig die not- wenn Sie im Anschluß noch sprechen — den Eindruck wendigen gesetzgeberischen Entscheidungen zu tref- erwecken sollten, als würde nicht auch hier Außeror- fen haben. Das ist nicht alles, was hier zu geschehen dentliches in diesem Bundeshaushalt geschehen. Der hat, aber es ist wichtig. Und noch wichtiger scheint Kollege Deres hat die Zahlen vorgetragen: Wir haben mir zu sein, daß wir in der Zusammenarbeit aller Ver- im Haushalt 1991, verglichen mit dem Haushalt 1990, antwortlichen von Bund und Ländern das Notwendige mehr als eine Verdoppelung der Sportförderungsmit- und Mögliche tun, um unserer Verantwortung und tel; das ist ungeheuer viel. Herr Kollege Schmidt, viel- auch den Erwartungen unserer Bürger, die von uns leicht nehmen Sie Gelegenheit, mißverständliche Äu- natürlich schon erwarten, daß wir der Geißel des Ter- ßerungen von Ihnen zurechtzurücken, als wollten Sie rorismus ein Stück weit Herr werden, zu entspre- den Leistungssport gar nicht mehr fördern. Ich kann chen. mir gar nicht vorstellen, daß Sie Äußerungen gemacht haben, wie ich sie von Ihnen in Zeitungen gelesen Zur Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität haben habe. wir vor knapp einem Jahr einen nationalen Rausch- giftbekämpfungsplan entwickelt. Wir werden in we- (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Na ja, der muß nigen Wochen innerhalb der Bundesregierung dar- ein bißchen mehr Leistung bringen!) über zu beraten haben, wie wir diesen weiterentwik- Ich finde es schon wichtig, daß es gelungen ist, das, keln und wie wir weiter vorankommen. Ich füge was vom Leistungssport in der früheren DDR erhal- hinzu: Unser aller Aufmerksamkeit muß auf die Be- tenswert ist, im wesentlichen in das vereinte Deutsch- kämpfung dieser Geißel der Wohlstandsgesellschaft land zu überführen, nicht zuletzt durch diese gewal- insbesondere westlicher Demokratien gerichtet wer- tige Steigerung der Sportförderungsmittel im Einzel- den. Dies ist alleine mit polizeilichen Mitteln nicht zu plan 06. leisten. Dies ist der geringere Teil. Die Prävention ist wichtiger. Aber alles muß zusammenwirken. Ich Im übrigen sage auch ich — Herr Kollege Deres hat denke, wir brauchen die Gemeinsamkeit der demo- es vorgetragen — : In diesen Mitteln sind nicht uner- kratischen Kräfte auch in der Bewahrung des Rechts- hebliche Beträge für die Verbände enthalten, um auch staats und übrigens auch in der Bewahrung gewisser für den Breitensport in den neuen Ländern entspre- Spielregeln von Gewaltfreiheit. chende Verbands- und Vereinsstrukturen aufzu- bauen. Und schließlich, meine Damen und Herren, Mich hat wirklich betroffen gemacht — ich bin nicht sind die Kommunen in den fünf neuen Ländern nicht mehr so leicht zu erschüttern —, daß, Herr Kollege gehindert, von den 5 Milliarden DM Investitionsmit- Penner, am Rande des Bremer Parteitages der Sozial- tel, die sie pauschal haben, auch Teile für die Errich- demokraten dieser merkwürdige Eierwerfer aus Halle tung, Einrichtung und Sanierung von Sportstätten in einer Weise, die ich wirklich als schamlos empfinde, einzusetzen. Zumindest könnte man das Geld, das wieder in die SPD aufgenommen worden ist. Sie hät- man auf Festgeldkonten in London angelegt hat, in ten ihn ja nicht auszuschließen brauchen; aber nach- die Sanierung von Sportstätten stecken. dem man sich erst so geniert hat, drei Tage später diesen jungen Mann, der da Eier geworfen hat und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — damit nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für die Zuruf von der CDU/CSU: Es wäre schon et- Fähigkeit der SPD ist, zwischen politischer Streitkul- was, wenn sie nur die Zinsen dafür näh- tur und Gewalttätigkeiten — — men!) - (Ulla Jelpke [PDS/Linke Liste]: So etwas dis Aber wir können, wir müssen als Bund, wenn wir kutieren Sie unter dem Stichwort „Terroris handlungsfähig bleiben wollen, natürlich ein Stück mus"! Das ist ja furchtbar!) weit darauf achten, daß wir den Rahmen dessen, was überhaupt möglich ist, nicht völlig sprengen. Deswe- — Das gehört dazu. Wehret den Anfängen! gen müssen wir Prioritäten setzen. Ich glaube, daß wir (Zuruf von der FDP: Der Innenminister hat sie in diesem Haushalt richtig gesetzt haben. schon recht!) Ich will im Zusammenhang mit dem, was wir — ein So fängt es an. Mit Ihnen rede ich ja nicht über die bißchen falsch intoniert durch die Ausführungen mei- Gemeinsamkeit demokratischer Parteien. Da können ner beiden Vorrednerinnen, das gebe ich zu; aber ich Sie sich gar nicht einmischen. wollte sie nicht länger als unbedingt notwendig hier im Raum unwidersprochen lassen — zur inneren Si- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) cherheit zu sagen haben, dann doch darauf hinwei- Ich rede mit den Sozialdemokraten, die es nicht ver- sen, daß wir die gewaltigen Probleme, die wir auf dem dient haben, daß Sie sich in dieser Frage zu ihrem Feld der inneren Sicherheit auch in den elf alten Län- Fürsprecher machen. dern haben, am ehesten, besser werden lösen können (Zuruf der Abg. Ulla Jelpke [PDS/Linke Li — in der Bekämpfung des Terrorismus, der organi- ste]) sierten Kriminalität, der Rauschgiftkriminalität —, wenn wir zu einem möglichst hohen Maß an Zusam- Es hat mich betroffen gemacht. Keine Partei kann menarbeit der Verantwortlichen von Bund und Län- etwas dafür, daß es dumme Jungen gibt. Ich fand auch dern kommen. die Bemerkung Ihres jetzigen Parteivorsitzenden, daß 1986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble er ihm eine gelangt hätte, sympathisch. Aber ich finde nung der Ostgrenze des vereinten Deutschland den es nicht in Ordnung, daß er ihm jetzt wieder eine Bei- inneren Frieden in Deutschland nicht beschädigt, son- trittserklärung für die SPD langt. Ich finde, das sollten dern ihm ein Stück weit gedient hat. Sie in Ordnung bringen. Ich finde, in diesem Zusammenhang kann die Lei- stung der Vertriebenenverbände gar nicht hoch ge- Die Abge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: nug eingeschätzt werden; sie haben sich um den inne- ordnete Frau Sonntag möchte gerne eine Zwischen- ren Frieden in diesem vereinten Deutschland mehr frage stellen. Sind Sie bereit zu antworten? verdient gemacht als viele, die das Wort ständig auf der Lippe führen. Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern: Ja. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sicher, für diejenigen, die in besonderer Weise da- Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD) : Herr Minister, ist Ihnen entgangen, daß — entgegen anderslauten- von betroffen sind, sind Aussöhnung, Gewaltverzicht den Meldungen — der in Frage kommende Bremer und die Bereitschaft zu einer besseren Zukunft eben Ortsverein erst im Laufe des heutigen Tages über eine nicht nur Lippenbekenntnisse, sondern sie stellen ei- Aufnahme von Herrn Schipke entscheiden wird? nen konkreten Beitrag, der für ein besseres Deutsch- land und für eine bessere Zukunft Deutschlands wich- tiger ist als manche Reden, dar. Deswegen finde ich Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern: Nein, Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, es ist mir nicht auch wichtig, daß es uns gelungen ist, den Streit, den entgangen. Ich mache diese Ausführungen bewußt, wir noch vor einem Jahr zur Frage, ob wir Aussiedler weil ich noch die Hoffnung habe, daß dieser Bremer in Zukunft noch aufnehmen wollen oder nicht, hatten, Ortsverein den Aufnahmeantrag ablehnen wird. Mir beizulegen. ist aber auch nicht entgangen, Frau Kollegin, daß z. B. Es ist uns gelungen, durchzusetzen, daß diese Bun- der niedersächsische Ministerpräsident Schröder am desrepublik Deutschland auch in Zukunft für Men- Rande des Bremer Parteitags Äußerungen gemacht schen, für Deutsche aus uralten deutschen Siedlungs- hat, von denen ich finde, daß er sie in Ordnung brin- gebieten, die in ihrer alten Heimat nicht mehr leben gen sollte, weil sie nicht in Ordnung sind und weil sie wollen, die zu uns kommen, offenbleibt, und daß wir unsere politische Auseinandersetzung und auch un- sie aufnehmen. Mittlerweile werden wir mit diesen sere Zusammenarbeit belasten. Ich möchte nicht, daß Aufgaben gut fertig. Im übrigen greift unsere Politik dies so ist. inzwischen erfolgreich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der SPD) Aus diesem Grunde habe ich es so angesprochen. — Herr Kollege Schmidt, wenn es im Jahre 1990 nach Herr Präsident, meine Damen und Herren, weil mir den Sozialdemokraten gegangen wäre, hätten wir daran liegt, daß wir Innenpolitik — also auch den Ein- 1990 das Tor für Aussiedler zugemacht. Das ist die zelplan 06 — nicht nur als etwas verstehen, das mit Wahrheit. Risiken, Problemen und schlechten Nachrichten zu tun hat, möchte ich auch ein paar erfreuliche Tatbe- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: So stände ansprechen. ist das!) Ich finde es erfreulich, daß sich die Sorgen, die viele Das waren Ihre Forderungen, und das war die Position Menschen und Verantwortliche gerade in den neuen Ihres Kanzlerkandidaten. Das ist die Wahrheit. Ländern — auch in Berlin — im Zusammenhang mit der Einführung der Visafreiheit für Polen hatten, nicht Wir haben uns bei der Auseinandersetzung über realisiert haben. Unsere Landsleute in Brandenburg Aus- und Übersiedler — hätten Sie im Frühjahr 1990 das Tor zugemacht, wäre es anders gekommen — und in den anderen neuen Ländern sind vielmehr mit- großer Reife dabei, ein besseres Nachbarschaftsver- durchgesetzt. Wir brauchen heute nicht mehr darüber hältnis zu Polen zu entwickeln, so wie wir dies in den zu streiten. vergangenen 40 Jahren auch an der deutsch-französi- (Zuruf von der SPD: Das ist doch nur eine schen Grenze entwickelt haben. Reaktion auf Ihre Ausländerpolitik!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie — Nein, es ist eine Reaktion auf unsere Politik. Wir bei Abgeordneten der SPD) haben gesagt: Wir müssen die Ursachen in Rumänien, Ich bin im übrigen sehr stolz darauf, daß es der in Polen und auch in der Sowjetunion bekämpfen. Innenminister der Bundesrepublik Deutschland war, der dem Außenminister frühzeitig vorgeschlagen hat, Es hilft nicht, Menschen auszugrenzen, sondern un- man solle die Visafreiheit für Polen einführen. Ich sere Politik muß darauf gerichtet sein, den Menschen finde, wir müssen auch in den neuen Bundesländern in den Siedlungsgebieten zu helfen, ihnen eine Per- lernen, problematische Nachbarschaftsverhältnisse spektive zu vermitteln, damit sie dort eine Zukunft für zu verbessern und mit Ausländern zusammenzule- sich und ihre Kinder sehen. Dann werden die Aussied- ben. Ich finde, hierbei sind wir auf einem guten Weg. lerzahlen aus diesen Gebieten zurückgehen; sie sind Frau Kollegin Köppe, dies ist übrigens die Form öf- aus Rumänien zurückgegangen, sie sind aus den pol- fentlicher Auseinandersetzung, die Sie eingefordert nischen Gebieten zurückgegangen. haben. Wir führen sie und betreiben sie in konkretem Das zeigt, daß unsere Politik richtig war und erfolg- Handeln. reich ist, und das zeigt auch, daß eine Politik, die Hilfe Dazu gehört auch — dies ist für mich ebenfalls er- und Ursachenbekämpfung an die Stelle von Ausgren- freulich — , daß der Prozeß der endgültigen Anerken zung setzt, durchaus erfolgversprechend ist. Deswe- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1987

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble gen, meine Damen und Herren, ist übrigens auch die Sie haben zu Recht moniert, daß hier unzulässiger- Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung nach wie weise der Eindruck entstehen könnte, daß Verfas- vor richtig; sie ist keineswegs zur Erfolglosigkeit ver- sungsschutz und Stasi in einem Atemzug genannt dammt, sondern auch sie hat durchaus — auf einzelne werden. Das ist unzulässig. Das geht nicht. Aber ha- Länder bezogen — bereits Erfolge. Wir sind entschlos- ben Sie es nötig, in direkter Linie von Ex tremisten, sen, auf diesem Weg weiterzufahren. Terroristen und Gewalttätern auf einen problemati- Ich finde, daß wir auch in der A rt, wie wir in den schen Fall von Eierwerfern zu kommen? Ohne Frage letzten anderthalb Jahren innenpolitische Diskussio- „problematisch". nen geführt haben — jedenfalls zwischen den großen (Beifall bei der SPD) Fraktionen dieses Hauses, wobei ich die FDP eben- falls als eine große Fraktion be trachte — — Ich glaube, daß Sie es eigentlich nicht nötig haben, einen solchen Vorfall einzubinden und hier vorzutra- (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist übertrieben! gen. Ich finde das nicht gut. — Weitere Zurufe von der SPD) (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Das — Das ist ein bißchen übertrieben; aber es tut gut, und war die Linie von der anderen Seite her! Eier damit hilft es mir wieder. Das verstehen Sie doch werfer, und dann geht es nach oben wei sicher. ter!) Ich würde gern das Bündnis 90 einladen, sich da — Ach, Herr Pfeffermann, quaken Sie nicht immer miteinzureihen. Dann hätte ich es auch leichter, dann dazwischen! würde ich einfach sagen: zwischen allen unbestreit- bar demokratischen Kräften in diesem Hause, zu de- Meine Damen und Herren, es gibt einige wesentli- nen ich die PDS nicht rechnen kann. Aber leider che Schwerpunkte der Innenpolitik, die uns im Au- schließen sie sich noch ein bißchen aus. genblick große Probleme bereiten. Probleme bereiten der Aufbau der Verwaltung in den neuen Bundeslän- (Zuruf vom Bündnis 90/GRÜNE: Wann hö dern und die schwierige Lage der inneren Sicherheit ren Sie denn endlich auf, Zensuren zu vertei mit steigender Kriminalität und Gewalttätigkeit in len?) den neuen Bundesländern, die dadurch verstärkt wer- — Sie zensieren ja auch dauernd. Ich weiß gar nicht, den, daß die Sicherheitsorgane und Sicherheitskräfte was Sie eigentlich wollen. in den neuen Bundesländern noch partiell handlungs- Zwischen den drei Fraktionen dieses Hauses haben unfähig sind. Im Westen ist die innere Sicherheit da- wir in den innenpolitischen Diskussionen der letzten durch gekennzeichnet, daß wir auch hier ein hohes anderthalb bis zwei Jahre im wesentlichen — dafür Anwachsen der organisierten Kriminalität feststellen möchte ich mich bedanken — einen S til entwickelt, und gleichzeitig die Fahndungserfolge im Bereich des der auch ein Stück weit zum inneren Frieden beiträgt. Terrorismus ausbleiben. Interessant ist, daß ange- Ich werbe dafür, daß wir ihn fortsetzen. Wir müssen sichts des Ausbleibens der Fahndungserfolge bei den uns unserer Verantwortung auch bewußt bleiben. Regierungsparteien eine merkwürdige Funkstille zu Ich füge hinzu: Die drei Berichterstatter für den Ein- verzeichnen ist. Wenn ich nur einmal daran denke, zelplan 06, die zu Beginn der Debatte gesprochen ha- wie groß das Feldgeschrei der Opposi tion, der Union, ben, haben dies mit ihren Ausführungen noch einmal gegenüber der damaligen Regierung war — übrigens ausdrücklich vorgelegt. Auch dafür möchte ich mich bei erheblich größeren Fahndungserfolgen — , dann bei allen dreien bedanken. wundert man sich, warum jetzt eine solche Funkstille herrscht. Ich möchte mich generell auch dafür bedanken, daß das Bundesministerium des Innern durch die Innen- (Beifall bei der SPD) politiker sowie durch die Haushaltspolitiker in einer Offensichtlich sind Sie nicht in der Lage, eigene Miß- - Zeit großer Aufgaben, großer Herausforderungen, erfolge, eigene überholte Fahndungskonzepte in aber auch großartiger Gestaltungsmöglichkeiten in Frage zu stellen. diesem Hohen Hause viel Unterstützung erfahren hat. Nach diesem Schweigen haben Sie, Herr Schäuble, nun vor etwa zehn Tagen eine Äußerung gemacht, die Ich bedanke mich dafür und bitte Sie, uns diese wohl etwas mit der Ausweglosigkeit zu tun hat, in der Unterstützung auch weiterhin zu gewähren. wir uns im Hinblick auf die Fahndung derzeit befin- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und den. Sie haben für die Bereiche Terrorismus und or- der FDP) ganisierte Kriminalität vorgeschlagen, daß verdeck- ten Ermittlern zukünftig erlaubt sein soll, ein bißchen kriminell zu werden, um sich im Milieu durch Strafta- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort ten zu bewähren. Das heißt, den verdeckten Ermitt- hat der Abgeordnete Wartenberg. lern soll die Möglichkeit gegeben werden, die soge- nannte Keuschheitsprobe zu bestehen. Ich glaube, daß dies ein Vorgang ist, der nicht akzeptiert werden Gerd Wartenberg (Berlin) (SPD): Herr Präsident! kann. Für uns gilt der Grundsatz: Verdeckte Ermittler Meine Damen und Herren! Bevor ich zu zwei Themen dürfen nicht kriminell werden. der Innenpolitik einen kurzen Beitrag leiste, möchte ich doch noch ein Wort an Sie, Herr Schäuble, richten. (Beifall bei der SPD) Sie haben Zensuren erteilt. Zuvor sind Zensuren er- Die Gesellschaft darf ihren Ermittlern nicht erlauben, teilt worden. Also möchte jetzt auch ich Ihnen eine selbst Straftaten zu begehen. Der Rechtsstaat gäbe Zensur erteilen. sich auf, würde er Unrecht mit Unrecht bekämpfen. 1988 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Gerd Wartenberg (Berlin) Wir erinnern uns mit Schrecken daran, daß es auch mit Rechtsradikalität. Es ist wohl etwas mehr. Es ist bei uns Vorgänge gegeben hat, bei denen dies ansatz- zum Teil auch das, was an Brutalität bei Fußballspie- weise versucht worden ist. Wir brauchen nur einmal len im Westen vorzufinden ist, also eine Form von an das Celler Loch zu denken. So etwas möchte ich in Gewalttätigkeit, die im Ursprung nicht unbedingt einem größeren Umfang nicht für den Bereich der politisch ist, die sich aber bestimmter politischer Äu- Ermittlung haben. Das, was der Verfassungsschutz ßerungen bedient. Sie kann politisch sein. Wir stellen damals gemacht hat, war höchst problematisch. fest, daß insbesondere Rechtsradikale aus West- deutschland versuchen, diesen Hang zur Gewalttätig- An dieser Stelle auch ein Wo rt an Frau Köppe und keit auszunutzen. an andere, die hier etwas zum Verfassungsschutz ge- sagt haben. Ich stehe vielen Bereichen des Verfas- Es gibt zwei Ansatzpunkte, um das zu bekämpfen. sungsschutzes sehr kritisch gegenüber. Trotzdem Der eine Ansatzpunkt muß der sein, durch Aufklärung bitte ich Sie, nicht den Anschein zu erwecken, als und durch politische Bildung politische Entwicklun- könnte man Verfassungsschutz und Stasi gleichstel- gen im Alltagsleben in einem demokratischen Land len. verständlich zu machen und den Menschen die Mög- lichkeit zu geben, Konflikte — und es gibt in den (Beifall bei der SPD) neuen Ländern viele Konflikte — so zu bewäl tigen, Das führte zu einer Exkulpierung der Stasi, gewollt wie es in einem demokratischen Staat üblich ist. oder ungewollt. Wenn man wie ich die Aktenlage Weiter muß — das ist ganz wichtig — für diese jun- kennt — als Berichterstatter für den Verfassungs- gen Menschen eine Perspektive auf dem Arbeits- schutz habe ich mich beim Datenschutz mit dem Ver- markt eröffnet werden. Ohne das wird das Problem fassungsschutz beschäftigt, und ich habe in der Nor- nicht gelöst werden. mannenstraße gesehen, was auf Hunderten von Sei- ten über eine Person bis ins p rivateste Detail hinein (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Das sind doch steht —, dann kann man nur sagen, daß dies nichts mit nicht die Rowdies!) unserem Verfassungsschutz zu tun hat, selbst wenn er Der dritte Punkt ist aber ohne Frage der Aspekt der einige Fehlleistungen aufzuweisen hat. Versuchen Repression. Die Repression, d. h. der Einsatz von Poli- Sie bitte nicht, dies gleichzustellen. Das bringt uns zei, ist notwendig. Da bin in anderer Meinung als Vor- auch in bezug auf die Aufarbeitung der Stasi-Vergan- redner, die gesagt haben, in den neuen Ländern genheit wirklich in große Schwierigkeiten. Das darf werde nun wahnsinnig viel Geld in den Polizeiapparat nicht geschehen. gegeben, und das sei ganz fatal. Man muß wohl eher Zurück zu den verdeckten Ermittlern, weil das der umgekehrt sagen: Wir stehen vor der Schwierigkeit, Ansatzpunkt war. Ich habe das Gefühl, Herr Schäuble daß die Sollstärken eben nicht erreicht sind, weder hat diesen Vorschlag gemacht, um der CSU Zucker zu beim Bundesgrenzschutz noch bei der Polizei. Man geben. Die CSU hat in der Vergangenheit große muß hinzufügen, daß die Polizei in vielen Bereichen Schwierigkeiten mit der Union gehabt. Es hat den Rie- auch aus ihrem Autoritätsverlust heraus nicht einsatz- senkrach gegeben. Man hat zur eigenen Identifika- bereit ist und daß das zu einer Verstärkung der Ge- tion bestimmte Dinge erwartet. Nun wurde dieser walttätigkeit führen kann, weil sich die Menschen, die Vorschlag von Minister Schäuble offensichtlich ge- gewalttätig sind, vor der Polizei sicher fühlen und macht, um der CSU einen Punkt zu geben, mit dem sie keine Angst haben. ein bißchen wuchern kann. Insofern würde ich den Innenminister ermuntern, Ich finde es absolut blödsinnig, eine Form der Kri- den Aufbau der Polizei zu stärken, die Sollstärke für minalitätsbekämpfung einzuführen, die eigentlich den Bundesgrenzschutz in diesem Bereich möglichst darauf schließen läßt, daß einige Leute zu häufig schnell zu erreichen und auch — das ist für die Mo ti „Miami Vice" gesehen haben. Sich hier an die ameri- -vation gerade bei Einsätzen gegen Gewalttäter wich- kanischen Vorbilder zu halten ist nicht nur problema- tig — die Besoldung zu verbessern, da die Besol- tisch, sondern abwegig, weil wir wissen, daß überall dungssituation eine große Rolle spielen wird. Wir ha- da, wo verdeckte Ermittler Straftaten begehen kön- ben das bei vielen Diskussionen gehabt: Es ist sehr nen, die verdeckten Ermittler und auch die Polizei schwierig, wenn ein Ostdeutscher mit seinem west- sehr schnell auf eine schiefe Ebene kommen können deutschen Kollegen zusammen die gleiche Arbeit ver- und daß die Nähe zur Kriminalität Polizeien in den richtet und dafür etwa nur 40 % der Besoldung erhält. Ländern, wo dies möglich ist, häufig sehr belasten. Das ist ein ärgerliches Problem, aber eines, das viele Wir haben in Deutschland den großen Vorteil, daß bedrückt. Da muß man gerade im Bereich der inneren unsere Polizei keine Korruption in dem Sinne, wie wir Sicherheit relativ schnell Lösungen finden. es in anderen Ländern kennen, vorweisen kann. Meine Damen und Herren, ein Punkt noch zur Kul- (Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt) tur. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, Herr Schäuble, daß Denkmalschutz und die Sicherung des Ich habe die große Sorge, daß, wenn wir hier einstei- kulturellen Erbes in den neuen Bundesländern vor- gen, die Nähe zur Kriminalität das Ansehen der Poli- rangig sind. Ich verstehe allerdings nicht, daß Sie hier zei bei den Bürgern belasten würde. nicht auch ein kritisches Wort an den Finanzminister (Beifall bei der SPD) gerichtet haben, warum die 150 Millionen DM nicht zusätzlich für Berlin bewilligt worden sind, um die Meine Damen und Herren, in den neuen Bundes- neuen Bundesländer mehr zu stärken. Das hätten Sie ländern stellen wir fest, daß sich gewalttätige Radika- allerdings machen müssen. Kollege Purps hat darauf lität auf brutale Weise darstellt. Man überschreibt das hingewiesen. Entweder waren Sie zu schwach, oder Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1989

Gerd Wartenberg (Berlin) Sie hatten kein Interesse daran, es durchzusetzen. Sie endlich auf, irgendwelche Tabus zu errichten! Das Offensichtlich konnten Sie sich nicht durchsetzen. Sie deutsche Kulturelle ist ein Stück Verbindung und hat hätten das ehrlicherweise ansprechen müssen. mit dem, was Sie mit Revanchismus meinen, über- (Beifall bei der SPD) haupt nichts zu tun. Ferner hätte angesprochen werden müssen, daß die (Beifall bei der CDU/CSU) ostdeutsche Kulturarbeit zugunsten der Vertriebe- Herr Kollege Wartenberg — er muß etwas früher nenverbände sehr verstärkt worden ist, die meines Erachtens unter dem neuen Aspekt der Entwicklung weggehen, wie er mir vorhin gesagt hat; ich habe Ver- in Osteuropa nicht das Monopol für diesen Bereich ständnis dafür —, haben dürfen. (Dr. Willfried Penner [SPD]: Er ist aber noch (Beifall bei der SPD) da!) Verbände, die den deutsch-polnischen Nachbar- das Problem ist nicht allein die Frage, wie die SPD den schaftsvertrag nicht anerkennen, können meines Er- Eierwerfer aus den neuen Bundesländern behandelt. achtens keine Kulturarbeit und keine Sicherung des Wir alle sollten einen kleinen Moment nachdenken. kulturellen Erbes der deutschen Geschichte bewerk- Wenn wir sehen, wie Menschen, die über 40 Jahre zu stelligen. Selbst wenn sie es wirklich nicht tun — häu- Intoleranz erzogen worden sind — das ist das Problem fig tun sie es aber —, muß ihnen von den anderen in den neuen Bundesländern, zumindest zu Teilen — Ländern immer unterstellt werden, daß sie eine Arbeit und die natürlich Mühe haben, sich in demokratische betreiben wollen, die nicht im Geiste der Zusammen- Spielregeln einzufinden und sich dort zurechtzufin- arbeit und der Aussöhnung liegt. Deswegen muß die den, und zwar auf einer neuen Rechtsgrundlage, die ostdeutsche Kulturarbeit umgestellt werden. Andere sie seit dem 3. Oktober haben, Schwierigkeiten bei Förderungswege und insbesondere andere Institutio- der Umstellung von einer Kommandowirtschaft hin zu nen mit anderen Formen von Auslandskulturarbeit einer Sozialen Marktwirtschaft haben, und wenn wir müssen im Mittelpunkt dieser Förderung stehen. sehen — ich kann das den Kolleginnen und Kollegen Recht herzlichen Dank. von den Sozialdemokraten nicht ersparen —, wie ein- (Beifall bei der SPD) zelne — nicht nur, aber auch Mitglieder ihrer Partei — sei es im Deutschen Gewerkschaftsbund, sei es als Sozialdemokraten, die Unruhe und Unsicherheit dort Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der unten zum Teil aus parteipolitischen Gründen schü- Kollege Johannes Gerster. ren, (Zurufe von der SPD: Das ist eine Unver Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Frau Präsi- schämtheit! Unerhört!) dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! dann sollten Sie sehr wohl überlegen, wie Sie im ein- Nachdem der Kollege Purps bereits eine Philippika zelnen mit symbolischen Akten umgehen. Mich hat gegen die ostdeutsche Kulturarbeit gehalten hat, hat das empört. Zunächst wurde bestritten, daß ein Juso der Kollege Wartenberg es wiederholt. Ich kann mich Mann Eier auf den Bundeskanzler geworfen hat. Als darüber nur wundern. es dann peinlich wurde, wurde er sofort aus der Partei Kulturarbeit ist, wie bekannt ist, Sache der Länder. ausgeschlossen. Wenn es eine Notwendigkeit des Bundes gibt, Kultur- arbeit zu fördern, dann ist es die Aufgabe, das, was (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das ist Teil der deutschen Kultur ist und was in Teilen ent- doch überhaupt nicht wahr! Er ist ausgetre standen ist, die heute unbestreitbar zu Polen gehören, ten!) in unsere Geschichte und unsere kulturelle Darstel-- Als der SPD-Parteitag in Bremen lief, sagte ein Mini- lung einzubeziehen. Wollen Sie wirklich, wenn sich sterpräsident aus dem Westen, nämlich Herr Schröder der Bund der Bewahrung des Erbes von Joseph von aus Niedersachsen, er würde ihn sogleich wieder auf- Eichendorff, von Gerhart Hauptmann, von Adalbert nehmen. Ich finde, das ist nicht die richtige Behand- Stifter, von Adolph von Menzel, von Angelus Silesius, lung, wie man diesem Thema gerecht wird. von Immanuel Kant und von anderen widmet, dies als Revanchismus bezeichnen? Kurt Schumacher oder (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Wenzel Jaksch, die in diesen Gebieten geboren sind, ordneten der FDP) würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie hörten, was Sie zu diesem wichtigen deutschen kulturellen Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, daß gerade Ihre Partei, hätte sie die Möglichkeit gehabt, Erbe zu sagen haben, mit ihrem Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine die (Beifall bei der CDU/CSU — Horst Jung- Politik zu bestimmen, mit Sicherheit im letzten Jahr mann [Wittmoldt] [SPD]: Die würden sich im nicht die Chance der Einheit wahrgenommen hätte. Grabe umdrehen über Hupkas Revanchis- Es stellt sich die Frage, ob nicht diese Partei in diesem mus!) Jahr eine besondere Verantwortung hat und nach- das wir nicht als völkertrennend, sondern als völker- dem die deutsche Einheit — es war ein Glücksfall, daß verbindend ansehen, so wie wir heute zwischen der Bundeskanzler die Chance so schnell ergriffen Deutschland und Frankreich das Erbe, das in Elsaß- hat — vollzogen ist, wegen der Fehlentscheidungen Lothringen entstanden ist, als Erbe der Franzosen und im letzten Jahr jetzt doppelten Anlaß hätte, den Men- der Deutschen ansehen, und zwar nicht um zu tren- schen drüben ein Stück Hoffnung zu geben, statt Äng- nen, sondern um über den Rhein zu verbinden. Hören ste zu schüren, die die Menschen drüben haben kön- 1990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Johannes Gerster (Mainz) nen. Wenn Sie sie aber schüren, stellen Sie durch Ihre Ist Ihnen wirklich entgangen — wenn Ihnen das Partei wenig verantwortliche Politik dar. Argument der Zahlen nichts gibt — , daß der Verfas- sungsschutz in dem Rechtsstaat Bundesrepublik (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Deutschland, der eine gesetzliche Zuständigkeit für ordneten der FDP) Terrorismus, für gewalttätigen Extremismus und für Ich bin der Meinung, daß es um ein sehr hohes Gut Spionageabwehr hat, ausschließlich die Aufgabe hat, geht, nämlich darum, ob es uns gelingt, daß mit den auf Grund der Rechtsgrundlagen Informationen zu Menschen, die 60 Jahre — ich wiederhole das — nicht sammeln und auszuwerten, daß dieser Verfassungs- die Chance der pluralistischen Demokratie hatten, die schutz nicht vorladen darf, daß er nicht verhören darf, nicht die Chance hatten, Pluralität in ihren Lebensbe- daß er keinen verhaften darf, daß er keinen inhaftie- dingungen leben und erfahren zu können, und die ren darf, daß er keinerlei exekutive Maßnahmen er- nicht die Chance hatten, das Wechselspiel zwischen greifen kann und in einer engen Zweckbindung nur Regierung und Opposition erleben zu können, sehr auf Grund eines gesetzlichen Auftrages konkret zum schonungsvoll umgegangen wird. Darauf müssen ge- Sammeln von Informationen tätig werden kann, die rade die westlichen Parteien, und zwar alle, die größte dann z. B. nur zu Maßnahmen führen, die durch or- Sorgfalt verwenden. dentliche Ge richte angewiesen werden? Ist Ihnen wirklich unbekannt, daß in der Bundesrepublik Wer drüben hinläuft und behauptet, es würde vom Deutschland nach dem G-10-Gesetz nur auf Grund Westen zu wenig getan, und — wie es leider Gottes dieses Gesetzes abgehört werden kann, und zwar heute noch geschieht — im Westen erzählt, das Ganze nach einer Genehmigung durch eine parlamentari- sei nach wie vor zu teuer, ist meines Erachtens für die sche Kontrollinstanz? Verantwortung, in der wir hier stehen, nicht reif. Da wagen Sie es, als Mitglied der PDS hierherzutre- (Beifall bei der CDU/CSU — Ing rid Mat- ten und die Methoden, für die Ihre Partei immer noch thäus-Maier [SPD]: Wer tut das denn, Herr Verantwortung trägt, auf die Bundesrepublik Gerster?) Deutschland zu übertragen! Das lehne ich ab. Das Lassen Sie mich einen weiteren Gesichtspunkt an- weisen wir zurück. Sie haben hier keinerlei Anspruch, sprechen. Ich finde es sehr bedauerlich — ich bin moralische Grundsätze zu vertreten, die Sie selbst ver- dankbar, daß sich die Kollegen der SPD von dem, was letzt haben. ich jetzt anspreche, klar distanziert haben — , daß man (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durch die Reden der Spreche rin der PDS, Frau Jelpke, und der Spreche rin des Bündnisses 90 den Eindruck Meine Damen, meine Herren, ich bin auch der Mei- bekommt, als kämen sie aus der gleichen Gruppe. nung, daß Sie bis zum Jahre 2000 ausgedient ha- ben. Frau Köppe, ich will auch hier einmal den Versuch unternehmen — wie in vielen Gesprächen etwa über (Ina Albowitz [FDP]: So lange?) das Stasi-Unterlagengesetz —, einige Unterschiede, Sie sollten sich zunächst einmal in den demokrati- die Sie bisher entweder nicht zur Kenntnis nehmen schen Grundsätzen einüben und dann hier den mora- wollten oder die Sie übersehen haben, deutlich zu lischen Lehrmeister spielen. machen, auch in der Hoffnung, daß dies die Menschen Meine Damen, meine Herren, lassen Sie mich einen drüben so nachvollziehen können. weiteren Punkt ansprechen — hier sind schon sehr Frau Jelpke stellt sich hier hin und sagt, es gebe viele Punkte angesprochen worden — und noch ein- eine totale Überwachung durch das Bundesamt für mal deutlich machen. — Frau Köppe, Sie sagen, wir Verfassungsschutz. Das ist schon eine tolle Sache. wollten westdeutsche Strukturen überstülpen — der Minister hat das dankenswerterweise schon ange- Frau Jelpke, Sie sind in der Nachfolgepartei der sprochen — , und haben als Beispiele den Zivil- und SED. Ich will Ihnen nur zwei Dinge entgegenhalten: Katastrophenschutz und das Technische Hilfswerk Ist Ihnen wirklich entgangen, daß das Bundesamt für genannt. Verfassungsschutz, das für jetzt 78 Millionen Men- schen gesetzliche Verantwortung trägt, gerade 3 000 Frau Köppe, gerade Ihnen, die Sie für das Bünd- Mitarbeiter hat und die Partei, für die Sie in der Nach- nis 90/GRÜNE angetreten sind, um — wie viele an- folgepartei ein Stück Mitverantwortung tragen, die dere übrigens auch, etwa vom Demokratischen Auf- SED, ein Ministerium für Staatssicherheit unterhalten bruch, die heute in unserer Partei arbeiten — Demo- hat, das für 16 Millionen Bürger über 200 000 Mitar- kratie in der damaligen DDR zu erkämpfen, sage ich: beiter hatte? Ich finde, Sie sollten zwei Dinge zur Kenntnis nehmen, wenn Sie etwa den zivilen Katastrophenschutz des (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) THW als Beispiel anführen, nämlich daß wir in den Da kommen Sie, die Sie als Vertreterin der Nachfol- fünf neuen Bundesländern inzwischen demokratisch gepartei der SED antreten und damit für eine Partei gewählte Kommunalpolitiker haben — in den Stadt- stehen, die für das Ministerium für Staatssicherheit räten, in den Kreistagen — und daß wir in den fünf und seine 200 000 Schnüffler Verantwortung trägt, neuen Bundesländern und in Berlin frei gewählte hierher und wollen diesem Bundesamt für Verfas- Landesparlamente mit frei gewählten Landesregie- sungsschutz dieselben Methoden andrehen. rungen haben. — Moment! — Alle diese Landesregierungen sind an (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie den Bund herangetreten mit der Bitte, daß wir das bei Abgeordneten der SPD) Technische Hilfswerk drüben aufbauen. Alle diese Sie sollten sich da wirklich ein Stück schämen. Landesregierungen haben einen Katalog aufgestellt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1991

Johannes Gerster (Mainz) mit Angaben darüber, in welchen Orten, in welchen Wer die Debatte verfolgt hat, konnte unschwer fest- Kreisen, in welchen Städten sie das Technische Hilfs- stellen: Echte Alternativen zu diesem Paket von über werk wollen. Die Liste ist bedeutend länger, als daß 8 Milliarden DM auf rund 500 Seiten wurden weder der Bund sie jetzt bedienen könnte. Deshalb werden durch die SPD noch durch die PDS, noch durch das wir in diesem Jahr 20, im nächsten Jahr 30 und im Bündnis 90 deutlich. Ich glaube, das, was hier an ein- dritten Jahr noch einmal 30 Ortsverbände aufbauen zelnen Punkten gemäkelt wurde, entsprang zum Teil statt die gewünschten 80 in einem Zug. Mißverständnissen, vielleicht Mißverständnissen über den gesetzlichen Auftrag, vielleicht auch ab und Ich finde, Sie sollten eine Sprachregelung „Wir stül- zu einmal ein bißchen der Unkenntnis. Da kann jeder pen über" nicht gebrauchen, wenn wir nichts anderes lernen, wir übrigens auch. tun als das, was die frei gewählten Regierungen dort Ich bin der Meinung, daß dieser Etat allein auf von uns verlangen. Wenn wir das also vollziehen, soll- Grund des Ablaufs der Debatte sehr überzeugend wir- ten Sie nicht von „Überstülpen" sprechen. Sie sollten ken muß; denn Alternativen werden nicht erkennbar. so viel Demokratin sein, daß Sie auch das akzeptieren, Deswegen werden wir, die CDU/CSU-Fraktion, dem was die frei gewählten Landesregierungen dort wol- Etat zustimmen; wir werden ihm freudig zustimmen. len. Wir werden damit die Politik des Innenministers Die wollen das auch aus gutem Grund, weil sie viel- Dr. Schäuble unterstützen. Sie, die Damen und Her- leicht mehr als andere erkannt haben, daß sich das ren von der Opposition, sind herzlich eingeladen, von Technische Hilfswerk aus Leuten zusammensetzt, die dem reichen Schatz der Erkenntnis mit zu profitieren sich freiwillig — früher zehn Jahre, jetzt acht Jahre — und zuzustimmen. Sie würden damit einer guten Poli- verpflichten, im Jahr mindestens 200 Stunden ehren- tik Ihre Zustimmung verleihen und deutlich machen, amtlichen Einsatzes zu erbringen — dazu kommen daß auch in die Reihen der Opposition demokratische noch viele Schulungen; junge Führungskräfte kom- Reife eingezogen ist. men sogar auf mehr als 300 Stunden — , um Vorsorge Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. zu treffen für die Rettung von Menschenleben, und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zwar zur Rettung von Menschenleben im Auftrag der Bundesregierung im Ausland, aber auch auf Grund gesetzlicher Bestimmungen im Inland, also auch in Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der Ihren Ländern. Kollege Wilhelm Schmidt. Ich frage Sie zurück, ob es nicht richtig ist, daß die Menschen in den fünf neuen Bundesländern den glei- Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Frau Präsiden- tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn chen Anspruch auf Vorsorge und auf Katastrophen- schutz haben wie die Menschen im Westen. — Ich wir heute in der zweiten Lesung des Haushalts zum erstenmal gesamtdeutsch diskutieren können, dann sage Ihnen: Sie haben den gleichen Anspruch, und kann die Debatte naturgemäß auch an den Erforder- weil sie den gleichen Anspruch haben, werden wir nissen des Sports nicht vorbeigehen. Ich denke, daß das Technische Hilfswerk dort kräftig ausbauen, auch wir auch den neuen gesellschaftlichen und politischen wenn Sie das weiter kritisieren. Wir sind sicher, daß Entwicklungen in diesem Bereich der Politik Rech- die Menschen drüben das auch verstehen werden. nung tragen müssen. Dabei ergibt sich manches Pro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- blem, dies bietet aber eigentlich auch die einmalige ordneten der FDP) Chance, sich mit Grundstrukturen und Grundfragen auseinanderzusetzen, die in der Vergangenheit Sie sind herzlich eingeladen, wenn wir am 29. Juni in manchmal leider etwas zurückgedrängt worden Halberstadt und in Erfurt Ortsverbände gründen. sind. Gucken Sie sich die jungen Leute an. Sie werden von Der Sport im Osten war nicht selten — das ist viel- ihnen begeistert sein. leicht etwas grob skizziert, aber, so glaube ich, doch zutreffend — von einer nahezu pervertierten Hochrü- Meine Damen, meine Herren, die Haushaltspoliti- stung gekennzeichnet, und er war von einer viel zu ker, unterstützt durch die Fachausschüsse, haben den schwach ausgeprägten Beteiligung der Allgemeinheit Etat des Bundesinnenministers vorgelegt, einen Etat in Form von Freizeit- und Breitensport unterlegt. mit einem Volumen von mehr als 8 Milliarden DM, mit dem wir den neuen Aufgaben in den neuen Bundes- Der Sport im Westen, meine Damen und Herren, ländern Rechnung zu tragen versuchen. liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sich mit einer halbherzigen, aber immerhin tendenziell vorhande- Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine nen Nachrüstung dieser Art des Sports an einer Auf- Bemerkung, weil hier etwas merkwürdige Verbin- rüstung beteiligt, die in den letzten Jahren weltweit dungen zwischen Sicherheitsausgaben und Jugend- beispiellos gewesen ist. Er hat auch im Interesse einer hilfeausgaben hergestellt wurden. Frau Köppe, auch medaillenträchtigen Orientierung manche manipula- hier muß gesagt werden: Sie vergleichen hier natür- tiven und auch inhumanen Eingriffe zugelassen und lich Äpfel mit Birnen. Natürlich haben wir auch drü- akzeptiert. Zum Glück hat es der Sport im Westen ben den Föderalismus. Natürlich sind drüben für die aber auch immer wieder geschafft, mit einer großen Jugendhilfe die Länder und die Kommunen zustän- Breitensportbewegung und mit einer guten Vereins- dig, während für Bundesbehörden im weitesten Sinne sportorientierung die ganz schlimmen Entwicklun- etwa über den Bundesinnenminister der Bund zustän- gen nicht in vollem Umfange mitzumachen. Dies dig ist. Bitte gucken Sie sich den Haushalt genau kann, dies soll und dies muß auch weiterhin die selbst- an! formulierte Grundlage für den Sport sein. Dies muß 1992 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) auch die Grundlage für die Entwicklung des Sports in des Sports in der ehemaligen DDR im besonderen Ostdeutschland sein. unterrichten zu lassen . . . (Beifall bei der SPD) Eines war offensichtlich allen klar . . . Diesem Ansatz stimmen wir Sozialdemokraten zu. Es ist hier nochmal ganz nachdrücklich zum Aus- Von daher sind wir der Meinung, daß bei einer Um- druck gekommen, daß die Berichte in den Me- orientierung in der Debatte natürlich auch an Struk- dien und die Klagen der Betroffenen keine Über- turen gedacht werden muß, die in diesem Haushalt treibungen sind, sondern der Realität entspre- und in der Auseinandersetzung mit ihm durchaus eine chen. Der Ost-Sport droht Mitte des Jahres wirk- gewisse Rolle hätten spielen können. lich zusammenzubrechen. Ein weiteres Zitat aus dieser Meldung lautet: Tabus darf es bei den künftigen Sportdebatten, bei den Auseinandersetzungen um Strukturen nicht ge- Wenn wir nicht bis Ende Mai Gelder erhalten, ben. Nicht mehr und nicht weniger — Herr Innenmi- sagte einer der Landessportbundpräsidenten, nister, das sage ich, weil Sie mich darauf angespro- chen haben — habe ich gemeint, als ich in den letzten ist der Ofen aus. Tagen und Wochen eine öffentliche Debatte um diese Oder das folgende: Dinge angezettelt habe, zumal auch Sie selbst an Sportpolitiker haben bei der öffentlichen Anhö- manchen Dingen dieser Art inzwischen gerüttelt ha- rung des Sportausschusses im Bundestag Kritik ben. Sie haben dabei an ein ganz bestimmtes Problem am Bundesinnenministerium geübt, das für die erinnert, nämlich an die Folgen der Dopingpraxis und Sportförderung zuständig ist ... Spitzenfunktio- an die Konsequenzen, die wir als Sportpolitiker, aber näre aus Ost-Deutschland zeichneten in der sie- die auch die Sportorganisation selbst in diesem Zu- benstündigen Anhörung ein dunkles Bild vom sammenhang ziehen muß. Zustand der Sportstätten und des Sportbetriebes Meine Damen und Herren, nachdem sich die Regie- in der ehemaligen DDR. rungsfraktionen in den Ausschußberatungen zum Allein der Aufwand für die Sanierung von Kleinsport Haushalt 1991 bedauerlicherweise nicht einmal im anlagen wird mit mindestens 4 Milliarden DM bezif- Ansatz an dieser Strukturdebatte beteiligen wollten, fert. haben wir sie an mancher Stelle — ich will das mit Oder die Aufforderung von Hans Hansen, dem aller Vorsicht sagen — doch zum Jagen tragen müs- DSB-Präsidenten — Zitat: „Die Sturheit muß wei- sen. Wir haben die zum Sport in Ost- Anhörungen chen" — , der uns alle, die Sportpolitiker, auffordert, deutschland durchgesetzt, wir haben die Anhörungen daß nun endlich ausreichend großes Interesse für den zur Gewalt im Sport durchgesetzt, und wir haben auch Sport gezeigt wird. die Anhörung zu der Frage der dioxinbelasteten Sportstätten durchgesetzt. Das sind aktuelle Themen Oder das Gespräch des DSB-Präsidenten beim In- im Bereich des Sports, denen wir uns hier im Hause als nenminister, in dem zum Ausdruck gekommen ist, Parlament sonst wahrscheinlich nicht, jedenfalls nicht daß auch der DSB selbst nun endlich auf den Weg in dem Maße, zugewandt hätten. Wir hätten das der kommt, mehr als bisher Geld für den Sport, zum Auf- Regierung überlassen. Dies ist aber zu kurz gesprun- bau des Sports in Ostdeutschland zu fordern. gen; denn es ist auch eine Aufgabe des Parlaments, Oder — ich will noch einen anderen Teil, den ich sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. mit einem Stichwort schon genannt habe, hier anspre- chen — die Frage der Bewegung in Richtung auf die (Beifall bei der SPD) Klärung grundsätzlicher Fragen, gerade im Spitzen- Meine Damen und Herren, wir haben dabei auch und Hochleistungssport. die Erkenntnis gewonnen, daß das Ganze mehr ist als - Wenn beispielsweise der frühere Aktiven-Sprecher nur eine kurzfristige Auseinandersetzung mit diesen der deutschen Leichtathletik-Nationalmannschaft, drei genannten schwierigen Themen. Wir brauchen Peter Bouschen — ich will von der Rücktrittsforderung eine Auseinandersetzung mit den Grundstrukturen gegenüber Willi Daume einmal absehen —, nach- und eine Zukunftsdebatte. Wir sind deswegen froh drücklich Konsequenzen aus der nun immer deutli- darüber, daß im Zusammenhang mit den von uns cher werdenden Dopingpraxis fordert, dann sage ich, durchgesetzten Anhörungen auch über diese Grund- meine Damen und Herren: Es ist mehr als Zeit, daß wir strukturen — jedenfalls von den Beteiligten aus der uns mit den Grundfragen des Sports, insbesondere Sicht des Sports — zunehmend gesprochen worden denen des Spitzensports in seiner pervertierten Form, ist. auseinandersetzen und unsere Konsequenzen in Zu- Ich möchte Ihnen einige Zitate vortragen, damit Sie sammenhang mit der Sportorganisation auch selbst den Hintergrund erkennen, der uns dazu bewegt, bei skizzieren, diskutieren und ziehen, die sich an eine diesem Thema nicht lockerzulassen. In der „Frankfur- solche Debatte zu knüpfen haben. ter Rundschau" heißt es nach dem Sitzungsmarathon (Beifall bei der SPD) des Sportausschusses des Bundestages Ende April in Berlin: Unsere Haushaltsanträge haben wir von Anfang an in diese Richtung orientiert. Wir haben ein Sonder- Lieber spät als gar nicht, dachte sich der Sport- programm für den Aufbau des Vereins- und Breiten- ausschuß des Deutschen Bundestages, und eilte, sports in der früheren DDR gefordert. Wir wissen, daß nachdem die SPD heftig gedrängelt und sich end- dort unten bei den Vereinen bedauerlicherweise das lich durchgesetzt hatte, in den Berliner Reichstag, Geld immer noch nicht in dem Maße ankommt, wie es um sich dort in einem Hea ring über den Zustand dringend notwendig wäre, um die ehrenamtliche Ar- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1993

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) beit zu untermauern und sie auf den Weg zu bringen. für die jungen Menschen die vielfältigen guten Wir- Da uns der große Bedarf nachdrücklich und häufig kungen des Sports respektieren und ausbauen und genug genannt worden ist, haben wir ein Sonderpro- damit auch eine Umorientierung der bisher doch sehr gramm, ein Sofortprogramm für den Sportstättenbau, belasteten Spitzensportförderung erreichen. gefordert, das wir erneut „Goldener Plan" genannt Vielen Dank. haben. Jeder, der sich mit dem Sport und mit der Ent- wicklung des Sports in den vergangenen 40 Jahren im (Beifall bei der SPD) Westen der Bundesrepublik auseinandergesetzt hat, weiß, welche segensreiche Wirkung der von der Deut- schen Olympischen Gesellschaft, dem DSB und vielen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Liebe Kollegin- anderen Organisationen, auch von den Kommunen, nen, liebe Kollegen, wie sind damit am Ende der Aus- entwickelte Goldene Plan in den vergangenen Jahr- sprache zu den Einzelplänen 06, 36 und 33. Wir kom- zehnten gehabt hat. Warum wollen wir denn nicht die men zur Abstimmung, und zwar zunächst zu den Än- Chance wahrnehmen und nicht die Notwendigkeit derungsanträgen der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜ- sehen, für den Aufbau des Sports in der jetzigen Situa- NEN zum Einzelplan 06. tion in Ostdeutschland ein solches zusätzliches, neues Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa- Instrumentarium zu schaffen? che 12/640? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltun- (Beifall bei der SPD) gen? — Der Änderungsantrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Unter diesem Gesichtspunkt, meine Damen und Wer stimmt für den Änderungsantrag der Gruppe Herren, stehen wir zu unseren Haushaltsanträgen, Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/641? auch wenn wir sie jetzt nicht mehr in die letzte De- — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Än- batte getragen haben, weil sie nunmehr in eine Zeit- derungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt. phase hineinragen, in der sie nicht mehr die Wirkung entfalten können, wie wir es alle erhoffen. Wer stimmt für den Einzelplan 06 — Geschäftsbe- reich des Bundesministers des Innern — in der Aus- Ich kann nur an die Kolleginnen und Kollegen von schußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? den Regierungsparteien appellieren, mit uns gemein- — Der Einzelplan ist damit angenommen. sam an dieser Stelle nicht lockerzulassen und sich in Wir kommen jetzt zum Einzelplan 36. Wir stimmen den nächsten Tagen, Wochen und Monaten weiterhin zuerst über den Änderungsantrag der Gruppe Bünd- mit diesem Thema zu befassen: im Sportausschuß, im nis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/647 ab. Wer Finanzausschuß, im Haushaltsausschuß ; vielleicht stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Stimment- zum nächsten Nachtragshaushalt, vielleicht zum haltungen? — Der Änderungsantrag ist damit abge- Haushalt 1992. Der große Handlungsbedarf und der lehnt. Finanzbedarf sind vorhanden. Da das Ganze insbe- sondere im Sportstättenbau auch noch investive und Wer stimmt für den Änderungsantrag der Gruppe damit arbeitsmarktwirksame Funktionen entwickeln Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/648? kann, ist dies eine Sache, die uns allen gemeinsam am — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Än- Herzen liegen müßte. derungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt. Wer stimmt für den Einzelplan 36 — Zivile Verteidi- Meine Damen und Herren, wenn wir um die Struk- turen des Sports in ganz Deutschland ringen, dann gung — in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — tun wir dies, weil wir zutiefst davon überzeugt sind, Enthaltungen? — Der Einzelplan ist damit angenom- daß sich nun auch der Sport selbst in dieser Frage men. bewegen muß. 1987 ist bei dem vom Deutschen Sport- Zum Einzelplan 33 liegen keine Änderungsanträge vor. Wer stimmt für den Einzelplan 33 — Versor- bund in Gang gebrachten Kongreß „Menschen im - Sport 2000" ein erster Ansatz dazu gemacht worden. gung — in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Ich beklage an dieser Stelle zum wiederholten Mal: Stimmenthaltungen? — Der Einzelplan 33 ist damit Dies ist leider nicht fortgeführt und umgesetzt wor- mit großer Mehrheit angenommen. den. Ich bitte den Sport dringlichst darum, sich dieser Nun hat, bevor wir zu den Abstimmungen, die wir Zukunftsdebatte noch intensiver als bisher zuzuwen- heute mittag zurückgestellt haben, kommen, noch die den und sie mit uns gemeinsam zu einem Ergebnis zu Kollegin Frau Dagmar Enkelmann das Wort zu einer führen, das man unter den Werteorientierungen er- persönlichen Erklärung nach § 30 unserer Geschäfts- zielt, die der Spitzensport in den nächsten Jahren neu ordnung. erlangen muß, auch im Interesse der jungen Men- schen, die ihn als eine Orientierung, als eine Vorbild- funktion empfinden. Dr. Dagmar Enkelmann: (PDS/Linke Liste): Meine Dies funktioniert offensichtlich noch nicht ganz. Es Damen und Herren! Frau Präsidentin! Herr Minister kommt nicht von ungefähr, daß der Sport in diesen Schäuble und der Herr Abgeordnete Gerster haben in Tagen und Wochen wach wird. Das ist deshalb so, ihren Reden in hohen Tönen den Rechtsstaat BRD weil er selbst endlich diese Notwendigkeit empfin- gelobt. det. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Lassen Sie uns alle gemeinsam daran arbeiten und Bötsch [CDU/CSU]: Die „BRD" haben sie si dabei ohne Tabus vorangehen. Wir sollten die Vor- cher nicht gelobt!) bildwirkung des Sports in breite Kreise der Gesell- Zu einem Rechtsstaat gehört nach meiner Auffassung schaft hinein nutzen, wir sollten zum Positiven gerade auch die Akzeptanz Andersdenkender. Das ist eine 1994 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Dagmar Enkelmann bittere Erfahrung, die wir in der ehemaligen DDR ge- Dr. Sigrid Hoth macht haben. Ernst Waltemathe (Zurufe von der CDU/CSU: Mit Berufsverbo- Zu dem Einzelplan und zu den Beschlußempfehlun- ten! — Unglaublich! — Weitere Zurufe von gen liegen ein Änderungsantrag der Gruppe Bündnis der CDU/CSU) 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/639 und ein Än- Das schließt auch ein, daß man akzeptiert, daß in die- derungsantrag der SPD auf Drucksache 12/658 vor. sem Parlament 17 Abgeordnete einer legalen Partei Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für und ihrer Listenpartner sitzen, die in freien demokra- die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Gibt es tischen Wahlen gewählt wurden und denen über eine dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist Million Wähler ihre Stimmen gegeben haben. dies so beschlossen. Die diskriminierenden Äußerungen von Herrn Mi- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kol- nister Schäuble und Herrn Gerster treffen nicht nur lege Ernst Waltemathe. die freigewählten Abgeordneten, sondern vor allem ihre Wähler. Sie sprechen der eigenen Beschwörung des Rechtsstaats und der Demokratie hohn. Vielleicht, Ernst Waltemathe (SPD): Frau Präsidentin! Meine Herr Gerster, sind Sie auf diesem Gebiet noch lernfä- sehr geehrten Damen und Herren! In der Außenpoli- hig. tik war es bisher üblich — und es war durchaus eine Danke. gute Gepflogenheit und eine Tugend — , ein Höchst- maß an Gemeinsamkeit zwischen Regierung und Op- position nicht nur anzustreben, sondern auch durch- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin En- zusetzen, denn das Handeln oder auch das Nichthan- kelmann, ich möchte nur noch einmal darauf hinwei- deln der jeweiligen Regierung gegenüber dem Aus- sen, daß der § 30 unserer Geschäftsordnung vorsieht, land betrifft das ganze Volk. Parlamentarische Demo- daß Sie sich ausschließlich mit Ang riffen auseinander- kratie bedeutet für uns jedenfalls bei außenpoliti- setzen, die sich gegen Ihre Person richten. Dies war schen Debatten nicht eine Auseinandersetzung mit jedoch eine allgemeine Erklärung. Ich bitte Sie, das der Regierung um jeden Preis, denn auch, wie sich das beim nächsten Mal wirklich auf Ihre Person zu bezie- Parlament insgesamt und jedes seiner Mitglieder ver- hen. Die Erklärung war kurz. Trotzdem würde ich Sie hält, kann auswärtige Beziehungen positiv und auch bitten, das nächste Mal darauf zu achten. negativ berühren. Wir kommen nun zu den Abstimmungen, die wir Wir als größte Oppositionspartei haben uns immer heute mittag zurückgestellt haben, und müssen jetzt so und damit anders als die damalige Opposition der noch über die Einzelpläne 08, 32, 60 und 20 abstim- Regierungen Brandt und Schmidt und anders als der men. kleinere Koalitionspartner des Herrn Genscher ver- halten und uns immer darum bemüht, einen konstruk- Wir kommen zunächst zum Einzelplan 08, zum Ge- tiven Beitrag zur Entwicklung gedeihlicher Beziehun- schäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. gen zu allen europäischen Nachbarn, zu den USA Wer stimmt für den Einzelplan 08 in der Ausschußfas- sung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Ein- (Zuruf von der CDU/CSU) zelplan ist damit angenommen. — der kleinere Koalitionspartner sitzt auf dieser Seite (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) von Herrn Genscher — , zu den Ländern des Nahen Ostens, den Staaten Asiens, Afrikas und Lateinameri- Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 32 — Bun- kas zu leisten, und haben uns natürlich auch für gute desschuld — in der Ausschußfassung ab. Wer stimmt Beziehungen zu internationalen Organisationen ein- für diesen Einzelplan? — Gegenprobe! — Enthaltun- gesetzt. Gerade die internationale Tradition der So- gen? — Auch dieser Einzelplan ist damit angenom- zialdemokratie hat sich positiv auf Demokratisie- men. rungstendenzen, Überwindung von Unterdrückung Wir stimmen nun über den Einzelplan 60 — Allge- und Elend sowie Wahrung von Menschenrechten in meine Finanzverwaltung — in der Ausschußfassung anderen Teilen der Welt ausgewirkt und den Gedan- ab. Wer stimmt für diesen Einzelplan? — Gegenprobe! ken der europäischen f riedlichen Zusammenarbeit — Enthaltungen? — Auch dieser Einzelplan ist ange- gefördert. nommen. (Beifall bei der SPD) Wer stimmt für den Einzelplan 20 — Bundesrech- Weil das so ist, haben wir auch bei Haushaltsbera- nungshof — in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! tungen den Etat des Auswärtigen Amtes oft oder sogar — Stimmenthaltungen? — Dieser Einzelplan ist mit in den meisten Fällen einer anderen politischen Wer- großer Mehrheit bei wenigen Enthaltungen ange- tung als andere Einzelpläne des Bundeshaushalts un- nommen. terzogen. Leider ist das in diesem Jahr anders. Auch die amt- Ich rufe nun auf: liche Außenpolitik dieser Bundesregierung ist ge- Einzelplan 05 kennzeichnet von Streit innerhalb der Koalition, vom zeitweiligen Wegtauchen und dann wieder von plötz- Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes lichem Aktionismus des Außenministers, von Taktie- — Drucksachen 12/505 (neu), 12/530 — rerei, Inkonsequenz und zuweilen würdeloser Show. Berichterstatter: (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Das hört Abgeordnete Dr. Klaus Rose sich ja schlimm an!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1995

Ernst Waltemathe Aus dem Bundeshaushalt selbst läßt sich die durchaus wegs um eine mißratene Fachpolitik, sondern um ei- als unseriös zu bezeichnende Politik ablesen, wenn zu nen wesentlichen Teil falscher Außenpolitik. dem eigentlichen Einzelplan des Auswärtigen Amtes Das nächste Beispiel: Der auch noch die Etatansätze mitbetrachtet werden, die Golfkrieg und seine Fol- gen haben zu erheblichen Verlusten an Vertrauen in sich beim Finanzminister im Einzelplan 60 verstek- die deutsche Außenpolitik geführt. Hektische Reisen ken, über den soeben abgestimmt worden ist. zu den arabischen Nachbarn des Irak und Israels, das Ich will zunächst positiv vermerken, daß der Prozeß Überreichen von Schecks im Werte von insgesamt der deutschen Einigung von Erfolgen der Außenpoli- 800 Millionen DM tik begleitet worden ist. Nicht nur die westlichen Ver- bündeten, nein, auch die ehemaligen Ostblockstaaten (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Vor wie z. B. Polen, Ungarn, die CSFR und natürlich die allem in Israel sehr unbeliebt!) UdSSR selbst haben durch ihr Verhalten in den Jahren und die Finanzierung von Kriegshandlungen durch 1989 und 1990 die jahrzehntealte sogenannte deut- die Bundesregierung haben nicht nur viel Geld geko- sche Frage endgültig beantwortet. Die endgültige stet, sondern auch erhebliches politisches Ansehen Festlegung der polnischen Westgrenze, die Zwei- und entsprangen eher einem politischen Dilettantis- plus-Vier-Verhandlungen, der KSZE-Prozeß, die Ver- mus als fundierter, durchdachter Vertretung der einbarungen mit der Sowjetunion im Überleitungs- neuen Rolle Deutschlands. vertrag, das alles wird von uns mitgetragen. Die So- zialdemokraten, Hauptinitiatoren der neuen Ostpoli- Auf den Zwischenruf von Herrn Weng: Herr Weng, tik der 70er Jahre, freuen sich darüber, daß jetzt ge- ich rede im Saal des Deutschen Bundestages nicht erntet werden konnte, was als politische Saat in den anders, als ich vor sechs Wochen in Israel geredet europäischen Friedensprozeß eingebracht worden habe — damit das völlig klar ist. ist. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste (Beifall bei der SPD) — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Ich habe nicht das in Frage gestellt, sondern Nun scheint das vereinigte Deutschland seine neue Ihre Ausführungen im Inhalt! — Dr. Klaus Rolle in der Welt zu suchen. Dabei ist schon befremd- Rose [CDU/CSU]: Was war das?) lich, daß in erster Linie davon die Rede ist, ob, welche und wie viele Soldaten mit welchen Helmen an wel- — Kollege Rose, ich komme dazu. cher Stelle für internationale Aufgaben bereitzustel- Die eben erwähnte Überreichung von Schecks an len sind. Aus diesen Fragen unsere Hauptrolle ablei- Potentaten, unter anderem an den Präsidenten Assad ten zu wollen ist schlicht falsch. von Syrien in Höhe von 100 Millionen DM und an Besser wäre es, mit konsequenter Gesetzgebung König Hussein von Jordanien in Höhe von 150 Millio- und Kontrolle gegen Rüstungsexporte endlich ernst nen DM, und die Tatsache, daß diese beiden Länder zu machen. Aber auf diesem Gebiet kann sich auch Entwicklungshilfe in Höhe von 160 Millionen DM der Außenminister nicht damit rühmen — obwohl er bzw. 350 Millionen DM erhalten, wirft die Frage auf, durchaus Verantwortung trägt — , daß er in früheren ob Deutschland damit einen Beitrag zum Friedenspro- Zeiten seinen Einfluß wirklich geltend gemacht hat, zeß im Nahen Osten beisteuert oder in Wahrheit neue um Lieferungen nach Libyen, in den Irak und in an- Aufrüstung in eben dieser Region finanziert; denn dere Regionen zu unterbinden, noch können wir ir- Jordanien soll 20 französische Düsenjäger vom Typ gendeine massive Einflußnahme des Außenministers Mirage 2000 kaufen wollen, und Sy rien will bei der erkennen, nach den negativen politischen Erfahrun- slowakischen Panzerfabrik Dubnice offenbar Panzer gen mit solchen Exporten wenigstens für die Zukunft im Wert von 300 Millionen US-Dollar kaufen. Die pau- konsequente Gesetze im Inland durchzusetzen und in schale Hergabe von deutschem Geld legt den Ver- die europäische Gesetzgebung einzubringen. dacht nahe, daß der deutsche Steuerzahler Beihilfe zu Rüstungskäufen leisten soll oder bereits geleistet (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ hat. GRÜNE) Ähnlich muß man im Zusammenhang mit der Politik Auch, meine Damen und Herren, das neue Strate- gegenüber Israel die Unberechenbarkeit deutscher giekonzept der NATO kann nicht allein den Verteidi- Außenpolitik bewerten. Durch das sträfliche Zulassen gungsministern und dem NATO-Generalsekretär von Rüstungs- und Know-how-Exporten in den Irak überlassen werden. Bündnispolitik muß immer ein hat sich das deutsch-israelische Verhältnis bekannt- wesentlicher Teil der Außenpolitik sein und unterliegt lich sehr stark verschlechtert. Dies konnte auch durch damit der Einflußnahme durch den Außenminister. die Zahlung von 250 Millionen DM an den Staat Is- Wenn der europäische Einigungsprozeß voranschrei- rael, der von den Scud-Raketenangriffen betroffen tet, der Warschauer Pakt aufgelöst ist, wie es ja der war und dessen Tourismuseinnahmen in diesem Jahr Fall ist, somit eine Konfrontation in Europa gar nicht bislang fast ausblieben, nur notdürftig repariert wer- mehr vorhanden sein wird, dann ist Abrüstung ange- den. Viel dringlicher wäre eine Israel-Initiative zu ver- sagt. Also ist es nicht hinnehmbar, daß ein sich als stärkten Begegnungsmöglichkeiten der jungen Gene- Verteidigungsbündnis bezeichnendes Bündnis sich rationen Israels und Deutschlands. Hierzu hat Herr mangels eines konkreten Gegenübers neue Aufga- Bernhard Vogel — der Bruder unseres Fraktionsvor- benfelder sucht und vorgibt, die Welt neu zu ordnen sitzenden — als Vorsitzender der Konrad-Adenauer- und dazu Atomwaffen zu benötigen und Rüstungs- Stiftung im Auftrag aller übrigen politischen Stiftun- programme auflegen zu müssen. Bei solchen Phanta- gen konkrete Vorschläge an den Bundeskanzler her- sien militärischer Strategen handelt es sich keines- angebracht. Es darf wohl vermutet werden, daß der 1996 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Ernst Waltemathe deutsche Botschafter in Israel gegenüber dem Außen- wohl nicht tun. Im Haushaltsausschuß haben Sie es minister ähnliche Anregungen geäußert hat. jedenfalls nicht getan. Ich bin der Auffassung, daß sowohl die heutige Diese bloße Fortschreibung solcher militärischer junge Generation in Israel als auch die heutige junge Ausgaben im Etat des Auswärtigen Amtes zeigt wei- Generation in Deutschland, also die jeweils dritte Ge- tere Ungereimtheiten einer von uns als falsch angese- neration nach 1945 — ich sage das einmal so, um es henen deutschen Außenpolitik in diesem neuen nicht noch näher bezeichnen zu müssen — besondere, Deutschland und in seiner neuen Rolle. neue Beziehungen miteinander und zueinander auf- Ich habe positiv angefangen, und ich will auch mit bauen müssen und daß dazu ein entsprechendes Pro- einem positiven Beispiel enden, ohne daß das Konse- gramm aufgelegt werden müßte. quenzen auf unser Abstimmungsverhalten hat. Außerdem ist es dringend erforderlich, daß nicht Im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik sind nur die junge Generation, sondern auch andere Men- Schritte in die richtige Richtung unternommen wor- schen, Menschen aus den fünf neuen Flächenländern den. Dazu hat auch das gemeinsame Drängen aller — allerdings meine ich auch die Berliner — , die bis Fraktionen des Bundestages beigetragen. Wir Sozial- zur Vereinigung Deutschlands mangels Beziehungen demokraten werden auch in Zukunft gern bereit sein, von Staat zu Staat und mangels Beziehungen von für verstärkte Aktivitäten der Sprachenarbeit, des Mensch zu Mensch überhaupt keine Kontakte mit Is- Kulturaustausches, der Begegnungen, der Bildung rael hatten, verstärkt in Austausch- und Begegnungs- und der Ausbildung zusätzliche finanzielle Konse- programme einbezogen werden. quenzen im Etat des Auswärtigen Amtes durchzuset- In Israel wird durch die Zuwanderung — insbeson- zen. dere aus der Sowjetunion — in einigen Jahren ein Gerade Kulturarbeit kann mit verhältnismäßig ge- weniger „westeuropäischer" Eindruck entstehen als ringem Aufwand sehr viel zu einer friedlichen Zusam- heute. Auch dort wird es Veränderungen geben. In menarbeit und menschlichem Vertrauen beitragen dieser Zeit der Veränderungen kann eine Israel-Initia- und rentiert sich somit. tive neue Impulse geben und neues gegenseitiges (Beifall bei der SPD) Vertrauen aufbauen. Die Kosten dafür würden etwa 20 Millionen DM pro Jahr ausmachen. Leider haben Aber auch wenn ich zuletzt dieses Thema positiv die Koalitionsfraktionen — vielleicht bedingt durch hervorgehoben habe und auch wenn die Sozialdemo- eine Panne — unseren Antrag, schon für dieses Jahr kratie in der Außenpoliltik ihre Oppositionsrolle nicht die ersten 20 Millionen DM zu bewilligen, was der so versteht, daß sie die Pflicht hätte, jegliches Regie- Anregung von Herrn Bernhard Vogel gegenüber dem rungshandeln zu kritisieren, so werden wir aus der Bundeskanzler entsprochen hätte, abgelehnt. Gesamtbetrachtung der von der Bundesregierung be- triebenen Außenpolitik und der vorgetragenen gra- Aber, meine Damen und Herren: 880 Millionen DM vierenden Beispiele von Fehlern den Etat des Auswär- für die Lieferung von zwei U-Booten nach Israel sind tigen Amtes in diesem Jahr leider ablehnen. offenbar vorhanden. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider! Lei GRÜNE) der!) Die SPD-Bundestagsfraktion stimmte zu, Kosten für Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der die Beschaffung von Patriot-Abwehrraketen und für Kollege Dr. Klaus Rose. andere Abwehrmöglichkeiten in der Zeit der Scud- Angriffe auf Israel mitzutragen und aus dem deut- schen Haushalt zu finanzieren. Aber bei U-Booten Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Frau Präsidentin! handelt es sich nicht um Rüstungsgüter, die eine aus-- Meine Damen und Herren! Niemand wird bestreiten, schließlich lebensrettende Abwehrfunktion haben. daß der Außenpolitik nach der Wiedervereinigung (Zuruf von der SPD: So ist es!) eine wichtige Rolle zukommt. Im Rahmen der Haus- haltsberatungen fühlen wir uns zwar stark an den Vielmehr ist die Lieferung von U-Booten — auch Hemmschuh Geld erinnert. Doch vieles geschieht be- wenn sie nach Israel gehen — in Wahrheit ein verbo- kanntlich im psychologisch-politischen Bereich, wo tener Waffenexport in eine Region, in der Abrüstung nicht unbedingt das Finanzielle, sondern das Atmo- und ein Friedensprozeß dringend erforderlich sind. sphärische bestimmend wirkt. (Beifall bei der SPD — E rich Fritz [CDU/ Ich möchte deshalb zunächst auf einige grundle- CSU]: Scheinheilig! Was habt ihr denn jahre- gende Fragen eingehen, um dann später noch Haus- lang gemacht?) haltsansätze zu beleuchten. Wir tun uns — der Beitrag Trotz der Auflösung des Warschauer Paktes und des des sonst sehr geschätzten Kollegen Waltemathe hat Wegfalls konkreter Bedrohung des europäischen das wieder deutlich gemacht — NATO-Gebietes werden ungerührt im Etat des Aus- (Ernst Waltemathe [SPD]: Immer!) wärtigen Amtes für die NATO-Verteidigungshilfe zur Zeit ein bißchen schwer damit, wie wir die Rolle 164 Millionen DM als Jahresrate fortgeschrieben und der deutschen Außenpolitik definieren sollen. daneben 75,6 Millionen DM Rüstungssonderhilfen an Griechenland und Portugal bewilligt. Sie haben die (Ernst Waltemathe [SPD]: Vor allen Dingen Möglichkeit, diese Bewilligung nicht vorzunehmen, die CSU!) indem Sie unserem Antrag auf Drucksache 12/658 Vor allen Dingen der SPD-Parteitag hatte plötzlich zustimmen. Aber so wie ich Sie kenne, werden Sie das als Hauptthema die Frage gehabt: Sollen es Blau- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1997

Dr. Klaus Rose helme sein, oder sollen es gar die Rotkäppchen sein? Die Diskussion läuft vor allem in die Richtung, daß Man hat sich fast nur mehr um dieses Thema gestrit- Europa eine Staatenverbindung mit Regionen, mit re- ten. Sie wissen ganz genau — in allen ernst zu neh- gionalem Charakter sein muß. In diesem Europa der menden Zeitungen wird die SPD angegriffen — : Regionen haben dann die Volksgruppenrechte Platz. Wenn man kein anderes Thema hat, als sich damit In diesem Europa der Regionen schaut man gerne herumzuschlagen, darum herumzueiern, dann ist über die Grenzen, weil man sich auch bisher schon wirklich nicht zu verstehen, wohin die Außenpolitik über die Grenzen hinweg begegnet ist. In diesem der SPD gehen soll. Meine Damen und Herren, Sie Europa der Regionen werden Gegensätze ausgegli- haben keinen Grund, uns zu kritisieren. chen, die wegen komplexer nationaler Vorstellungen bisher als unüberbrückbar galten. Die ganz großen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fragen, wie z. B. die Wirtschafts- oder Währungs- Man fragt sich: Dürfen wir, oder dürfen wir nicht? union, von der in diesen Tagen so viel die Rede ist, werden natürlich national gelöst werden müssen. (Norbert Gansel [SPD]: Ist das hier der Baye- Aber das unmittelbare Zusammenleben der Men- rische Landtag?) schen, die kulturelle Vielfalt, die vertrauensvolle Zu- sammenarbeit sind im ganz großen Verbund nicht Es mag ja sein, daß bei Ihnen manche vor dem Polizi- ohne weiteres möglich. Deshalb glaube ich, daß wir sten-Spiel Angst haben, ob das im Inland oder im Aus- auch im Deutschen Bundestag die von verschiedenen land ist; diese Fragen haben wir oft genug kennenge- regionalen Kreisen stark vertretene These stärker be- lernt. Aber ich glaube nicht, daß das die Zukunft der tonen sollten: Ein Europa der Zukunft kann wegen der deutschen Außenpolitik wirklich so wesentlich beein- kulturellen Vielfalt nur dann Bestand haben, wenn es flußt. Deshalb sage ich zu den grotesken Entscheidun- ein Europa der Regionen ist. gen, die Sie auf Ihrem Parteitag getroffen haben: Das Ansehen der Deutschen haben Sie mit dieser Diskus- (Beifall des Abg. Adolf Roth [Gießen] [CDU/ sion bestimmt nicht gestärkt. CSU]) (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Wir sind dabei, eine allgemeine außenpolitische Leider! — Zuruf von der SPD: Aber das stär- Standortbestimmung vorzunehmen. Ich muß für ken Sie dafür!) meine Partei und meine Fraktion festhalten, daß es Hauptaufgabe unserer Außenpolitik ist, zusammen Ich meine, daß wir eigentlich stolz darauf sein kön- mit unseren Partnern und Freunden deutsche Interes- nen, daß im Jahre 1990, und im bisherigen Jahr 1991, sen auf der internationalen Ebene wirksam zur Gel- außenpolitisch doch viel erreicht wurde. Wir leben in tung zu bringen. Wir leben in einem Land mitten in Europa auf einem Kontinent der supranationalen Zu- Europa, mit entsprechender geostrategischer Bedeu- sammenarbeit und des Friedens, zumindest was den tung. Unsere Wirtschaft ist in hohem Maß von Roh- Westen Europas beinhaltet. Gerade diese Bundesre- stoffimporten abhängig. gierung und gerade auch dieser Bundeskanzler, auch dieser Bundesaußenminister, haben für die Zusam- Auf der anderen Seite hat sich Deutschland zu menarbeit in Europa intensiv gewirkt. einem der wichtigsten exportierenden Staaten ent- wickelt. Wir sind in geradezu existentieller Weise auf Dabei wurde aber der Gedanke an die deutsche eine Öffnung der Weltmärkte angewiesen. Ohne die Wiedervereinigung niemals aufgegeben. Das politi- Bereitschaft der meisten Länder in der Welt, ihre sche und diplomatische Meisterstück der Wiederver- Märkte für deutsche Erzeugnisse zu eröffnen, gäbe es einigung ist inzwischen gelungen. Am wichtigsten ist bei uns weder wirtschaftliches Wohlergehen noch si- dabei die Tatsache, daß stets die Menschenrechte so- chere Arbeitsplätze. wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Uns muß daher daran liegen, Mittelpunkt gestellt waren. Wir haben uns nie Wandel möglichst gute Bezie- hungen zu möglichst vielen Staaten durch Annäherung vorgestellt, sondern wir haben im- in der Welt zu unterhalten. mer ganz klar unsere Standpunkte gehabt und geäu- ßert: Selbstbestimmungsrecht der Völker, Achtung (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der Menschenrechte. Das ist mit Hilfe eines weitverzweigten diplomati- Die Bundesrepublik Deutschland war in diesen Fra- schen Netzes, aber auch durch die Unterstützung der gen immer Vorreiter. Das ist einer guten Außenpolitik deutschen Industrie und der deutschen Wirtschaft, dieser Bundesregierung, aber auch, so meine ich, aller z. B. durch die Außenhandelskammern, und selbst- im Deutschen Bundestag vertretenen großen Fraktio- verständlich auch durch kulturelle Einflüsse beson- nen zu verdanken. Den Konsens im Einsatz um Men- ders gelungen. schenrechte in aller Welt sollten wir deshalb niemals (Ernst Waltemathe [SPD]: Besonders wenn aufgeben. man Sprachenzulage bekommt!) (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der Es führt für uns Deutsche daher kein Weg daran SPD) vorbei, Beziehungen möglichst weltweit zu pflegen. Wir sollten aber auch einen anderen Konsens nicht Das wird in multinationalen Organisationen der Fall sein. Es werden aber auch unmittelbare bilaterale Be- aufgeben, nämlich die Weiterentwicklung zum verei- nigten Europa. Auch hier haben die Deutschen eine ziehungen gepflegt. große Vorreiterrolle gespielt. Auch hier kommt ihnen, Ein Teil des Geheimnisses des Aufschwungs der den Deutschen, in der Zukunft eine wichtige Aufgabe deutschen Wirtschaft und des deutschen Außen- zu. gleichgewichts liegt jedoch darin, daß wir in eine feste 1998 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Klaus Rose Bündnisgemeinschaft verankert wurden. Deshalb Weg zu bringen, haben wir uns bislang immer gut muß Hauptziel der Deutschen sein, in dieser Bündnis- verstanden. In Zukunft sollten wir in dieser Richtung gemeinschaft zu bleiben, aber möglichst vielen ande- weiterarbeiten. ren, besonders in der Bündnisgemeinschaft der Euro- Die Mittlerorganisation, ganz besonders das päischen Gemeinschaft, die Tür zu dieser Gemein- Goethe-Institut und der Deutsche Akademische Aus- schaft zu öffnen. tauschdienst, natürlich auch die Alexander-von-Hum- Öffnung — das ist überhaupt das wichtigste Wort boldt-Stiftung, die politischen Stiftungen überhaupt, unserer neuen Außenpolitik. aber auch die Volkshochschulen und andere Träger der Bildung, haben in den Grenzbereichen verant- (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Ganz wortliche Aufgaben zu erfüllen. Dies weiß ich von neu!) Bayern. Im Sächsischen wird dies im Hinblick auf Die Deutschen öffnen sich gegenüber dem Osten und Polen so sein. Diesen Organisationen gebührt die dem Südosten Europas. Sie öffnen sich — Gott sei volle Unterstützung des Deutschen Bundestages. Dank — wieder, weil es möglich ist. Sie sehen dort Trotz aller finanzieller Einengungen sind neue ihre traditionellen Märkte, ihre traditionellen Kultur- Goethe-Institute gegründet worden. Ein paar er- beziehungen. Dafür ist natürlich noch unendlich viel wähne ich, weil ich in der Diskussion draußen immer zu tun, und es lohnt sich, viel dafür zu tun. wieder bemerke, daß der Ruf nach neuen Goethe Da ist z. B. die unmittelbare Öffnung der Grenzen Instituten, nach neuen deutschen Kulturinstituten laut zu unseren östlichen Nachbarn; wie wir sie — ich sage ist und daß man nicht immer weiß, wo schon erste das als bayerischer Abgeordneter mit großer Schritte unternommen wurden. Ich erwähne deshalb, Freude — am vergangenen Wochenende im Beisein daß wir in Warschau, in Moskau, in Krakau, in Prag, des Herrn Bundeskanzlers bei der Wiedereröffnung aber auch in der Slowakei, nämlich in Preßburg, deut- der Eisenbahnstrecke im bayerischen Grenzland zur sche Kulturinstitute ausbauen werden. Tschechoslowakei, in Bayerisch Eisenstein, gern er- (Ernst Waltemathe [SPD]: In Budapest lebt haben. Das war eine großartige Veranstaltung auch!) über die Grenzen hinweg. Zum Teil sind diese Maßnahmen schon angelaufen; (Beifall bei der CDU/CSU — Rudolf Kraus personelle Voraussetzungen sind geschaffen, die die [CDU/CSU]: Der Kalb war dabei!) langersehnte Chance bieten, die deutsche Sprache Das war das Europa der Regionen, wie wir uns das erneut als Verkehrssprache zu pflegen. Der Zwi- vorstellen. Den „Kronzeugen" , den Kollegen „Bar- schenruf des Kollegen Waltemathe: „In Budapest thel" Kalb, sehe ich hier gerne. Er hat mit klugen auch!" ist richtig. Dies liegt schon etwas länger zu- Fernsehstatements dazu beigetragen, daß dieser Tag rück. Deshalb habe ich es in diesem Zusammenhang ihm und uns unvergeßlich sein wird. nicht erwähnt. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Es zeigt sich auf jeden Fall, daß diese wichtige Auf- gabe der deutschen auswärtigen Kulturpolitik in den An den geographischen Grenzen ist noch viel zu ostmitteleuropäischen Ländern aufgenommen wird verbessern. Mehr noch muß allerdings gegen die gei- und daß die Menschen dort dankbar dafür sind, daß mentale stigen Grenzen getan werden, gegen neue deutsche Kulturpolitik mit Hilfe solcher Institute ver- Stacheldrähte, die sich hüben wie drüben mancheror- wirklicht und dadurch eine wesentliche Vorausset- ten wieder spannen. zung dafür geschaffen wird, zwischen Ost und West Der Kulturetat des Auswärtigen Amtes muß sich eine große Brücke zu schlagen. dieser Aufgabe, nämlich dem Abbau von geistigen Jetzt erfüllt sich endlich ein Passus der Regierungs- Hemmnissen, besonders widmen. Ost- und Südosteu- erklärung von 1983: Wir werden neue Anstrengungen ropa gehören in den europäischen Kulturkreis zurück-- unternehmen, um die deutsche Sprache im Ausland geführt. Sie verdienen es, vom Westen mit der lange wieder mehr zu verbreiten. ersehnten geistlichen — Entschuldigung: geistigen — Hilfe versorgt zu werden. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wir verreisen ja auch viel!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Fehlleistung!) Wir haben es insgesamt gewollt, und wir haben jetzt, da sich diese Länder wieder geöffnet haben, die — Man kann sich versprechen, lieber Kollege von der Chance, die deutsche Sprache zu verbreiten. Das FDP. Ich als CSU-Mann bin vielleicht doch mehr für Goethe-Institut sieht eine seiner Hauptaufgaben das Geistliche und Sie nur für das Geistige. darin, für Deutsch als Fremdsprache zu werben. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: So Solange das Goethe-Institut in dieser Richtung wei- habe ich es auch verstanden!) terarbeitet, brauche ich nicht mehr viel Kritik zu üben. Aber vielleicht treffen wir einander. — Im Bundes- Manche werden sich schon wundern, daß ich in letzter haushalt 1991 ist deshalb den verschiedenen Mittler- Zeit nicht mehr soviel Negatives über das Goethe organisationen der deutschen kulturellen Außenpoli- Institut sage. Schließlich kann man sich ja auf einen tik ein besonderes Augenmerk gewidmet worden. Konsens einigen. Offensichtlich ist die deutsche Spra- che wieder in den Mittelpunkt gerückt. Das ist für Im übrigen ist mehr als eine Milliarde DM für die mich sehr wertvoll. Aufgaben der auswärtigen Kulturpolitik bereitgestellt worden. Herr Kollege Waltemathe, Frau Kollegin Wir erinnern uns, daß es auch in diesem Hause Dr. Hoth, wenn es darum ging, hier etwas auf den herbe Diskussionen gab, in denen die deutsche Spra- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 1999

Dr. Klaus Rose che gar als Instrument nationalistischer Gesinnung Sowjetunion; in diesem Zusammenhang müßte man verteufelt wurde. Das ist jetzt Gott sei Dank vorbei. auch die 176 Millionen DM, die als Beitrag an die Ver- Wir wissen, daß nach dem Wegfall des Russischen als einten Nationen gehen, erwähnen. der ersten Fremdsprache Deutsch die Chance hat, in Besonders müssen wir — auch dies ist jetzt in dem Ostmitteleuropa wieder die Lingua franca zu werden. Etat des Auswärtigen Amts nicht unbedingt enthal- Deshalb sollten wir hierfür einiges tun. ten, wird aber über das Auswärtige Amt verwaltet — Selbstverständlich können wir in Osteuropa auf die Kurdenhilfe sehen. Dabei spielen die Deutschen manche Erfahrung der früheren DDR-Kulturinstitute eine herausragende Rolle. oder auch -Botschaften und -Generalkonsulate auf- Das mag zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein bauen. Wo immer deutschfreundliche Beziehungen sein. Trotzdem ist es eine wertvolle Hilfe. Was hier von entstanden sind, sollten sie gepflegt werden. Ehema- deutscher Seite geleistet wurde, verwischt hoffentlich lige DDR-Konsulate oder -Botschaften im östlichen den immer wieder auftauchenden Eindruck vom häß- Europa wurden von uns übernommen. In gleichem lichen Deutschen, dem nur am Materiellen und am Maß können Kulturinstitute weiter betrieben werden. Wirtschaftlichen interessierten Deutschen. Weil ich seit rund zwei Jahrzehnten Kontakte zu tschechischen und slowakischen Persönlichkeiten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und Organisationen pflege, kenne ich die Chance, auf der FDP) langjährigen Erfahrungen aufzubauen. Die SPD hat heute — ich glaube, bei den Grünen Prag wird sich als eines der neuen Zentren west- gibt es einen ähnlichen Antrag — wieder einmal östlicher bzw. ost-westlicher Kulturbegegnung her- Streichungsanträge gestellt: bei der NATO-Verteidi- ausstellen. Aber die Slowakei und damit Preßburg gungshilfe, bei der Rüstungssonderhilfe; bei den Grü- dürfen nicht hintangestellt werden. In einem Europa nen ist es, glaube ich, auch die Ausstattungshilfe. der Regionen wird man viel mehr als bisher auf die Das geschieht alle Jahre. Fast wäre ich geneigt, zu Vielfalt kultureller Zentren achten und den regiona- sagen: The same procedure as every year. len und landsmannschaftlichen Aspekten Aufmerk- samkeit schenken müssen. Die jugoslawischen Ereig- Deshalb müssen wir das aus den gesamten außen- nisse lehren uns, daß auch mit Slowenien oder mit politischen Erwägungen wieder ablehnen. Niemand Kroatien eigenständige kulturelle Verbindungen ein- soll meinen, daß wir da etwas ganz Besonderes ma- gegangen werden müssen. chen. Solange die SPD regiert hat, sind diese Positio- nen selbstverständlich alle unterstützt worden. In der Das Goethe-Institut als das besondere Aushänge- Opposition vertreten Sie jetzt eine andere Meinung. schild der deutschen auswärtigen Kulturpolitik muß Wer weiß — das wissen wir freilich nicht, denn es wird sich besondere Wege einfallen lasen, um dem Wunsch erst nach dem Jahr 2000 passieren —, was wäre, wenn und dem Drang frei gewordener Völker Europas in Sie wieder regieren würden. Auf jeden Fall werden ihrer kulturellen Vielfalt begegnen zu können. wir diese Anträge ablehnen. Das gilt im übrigen auch für andere Gegenden Eu- Ansonsten gab es im Haushaltsausschuß viel Ge- ropas, die momentan in Vergessenheit zu geraten meinsames, so daß im Interesse der Mitarbeiter des scheinen; ich meine das Baltikum, aus dem in den Auswärtigen Dienstes weitere Fortschritte erzielt wer- letzten Tagen wieder schlimme Nachrichten zu hören den konnten. waren. Gerade deshalb sollten auch wir Deutsche auf- gerufen sein, enge Kontakte mit den baltischen Völ- Man sollte deshalb den Bediensteten im Auswärti- kern zu pflegen. gen Amt und in den Vertretungen in aller Welt einen besonders herzlichen Dank sagen. Ich hoffe, daß die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der jetzt spürbaren Auswirkungen des Gesetzes zum Aus- FDP, der SPD und dem Bündnis 90/ wärtigen Dienst motivieren und beflügeln. Die deut- GRÜNE) sche Außenpolitik braucht natürlich einen motivierten Der Haushalt 1991 ist im Etat des Auswärtigen Amts Dienst. besonders von humanitären Aufgaben geprägt. Zum Abschluß greife ich etwas auf, was der Kollege Die Deutschen insgesamt, zahlreiche Organisatio- Waltemathe vorhin etwas kritisch vorgetragen hat, nen wie das Deutsche Rote Kreuz, aber auch andere nämlich diese Unterstützung für Israel, die durch ei- private Spenderverbände, leisten Jahr für Jahr un- nen Stiftungspräsidenten, Bernhard Vogel, zur Spra- schätzbare wertvolle Hilfe für Problemregionen der che gebracht wurde. Es kann und darf nicht der Ein- Welt. Allen diesen Organisationen kann man gar nicht druck stehenbleiben, als hätten das Parlament und die dankbar genug sein. Mehrheitsfraktionen der CDU/CSU und der FDP ir- gend etwas gegen Israel. Trotzdem ist auch der Staat gefragt, der sich in wohlgezielten Aktionen bilateral und multilateral für (Ernst Waltemathe [SPD]: Das habe ich nicht die Linderung menschlicher Not einsetzen muß. gesagt!) Allein aus dem Haushalt des Auswärtigen Amts Im Gegenteil, wir haben im zurückliegenden Jahr werden bis zu 300 Millionen DM für humanitäre eine Reihe von Unterstützungsmaßnahmen auch für Zwecke ausgegeben. Ich nenne einige Zahlen: Israel unternommen. 18 Millionen DM für das Kinderhilfswerk UNICEF Nur als Haushaltspolitiker — lieber Kollege Walte- über den Hohen Flüchtlingskommissar, die direkten mathe, das müssen wir hier feststellen — können wir Hilfen zur Unterstützung auf dem Energiesektor, z. B. nicht damit einverstanden sein, daß man kurzfristig an für Ungarn und Rumänien, besondere Hilfen für die den Haushaltsausschuß herantritt und daß ohne vor- 2000 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Klaus Rose herige genaue Kontrollmöglichkeit plötzlich 10 oder Deshalb sage ich — ich sehe gerade, daß das rote 20 Millionen DM über den Tisch geschoben werden Licht leuchtet — : Wir stimmen dem Einzelplan 05 sollen. Gerade Sie, die zuvor kritisiert hatten, daß es selbstverständlich zu. Wir würden uns freuen, wenn eine Scheckbuch-Diplomatie gab, können nicht sa- auch Sie in ferner Zukunft wieder grünes Licht geben gen: Gut, es geht um Israel, und deshalb müssen wir würden. es tun. (Beifall bei der CDU/CSU — Norbert Gansel Ein geordnetes Verfahren ist angebracht. Der Haus- [SPD]: Wenn wir die Regierung stellen!) halt 1992 steht vor der Haustür. Wir haben alle Chan- cen, diese Frage noch zu lösen. Es sollte aber bitte nicht der Eindruck bestehen bleiben, etwas werde Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der gegen ein bestimmtes Land gerichtet. Herr Abgeordnete Dr. Hans Modrow.

Herr Kollege Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- Vizepräsidentin Renate Schmidt: tin! Meine Damen und Herren! Wenn man über den Rose, gestatten Sie eine Zwischenfrage? ersten Haushalt der Bundesrepublik Deutschland nach dem Anschluß der DDR zu befinden hat, Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Ich habe den Wunsch (Zurufe von der CDU/CSU: Es war kein An bemerkt. Darum habe ich meinen letzten Satz abge--schluß!) kürzt. überrascht es nicht, daß er mit allen Spannungen be- lastet ist, die mit den ungelösten Problemen der deut- Ernst Waltemathe (SPD): Herr Kollege Rose, ich schen Einheit zusammenhängen. bestätige Ihnen zunächst, daß ich keine Koalitions- Die Hauptfrage ist aber, ob er dieser neuen Situa- fraktion angegriffen habe. Vielleicht war es ein Ver- tion gerecht wird oder nicht. Die bisherige Debatte hat sehen. voll und ganz gezeigt, daß dies wohl nicht der Fall ist. Können Sie mir Ihrerseits bestätigen, daß ich dieses Der Haushalt spiegelt — je nach Bereich unterschied- Thema erst am 23. Mai, als der Haushaltsausschuß zu lich — alle Mängel, die aus der Sturzgeburt der deut- seinen abschließenden Beratungen, zur sogenannten schen Einheit herrühren. Bereinigungssitzung, zusammengetreten ist, aufge- (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Ihr seid abge griffen habe und daß am gleichen Tag, nachdem stürzt!) plötzlich eine Vorlage der Regierungskoalition vorge- legt worden war, 100 Millionen DM, die als humani- — Wissen Sie, ich habe an diesem Prozeß ein ganz täre Hilfe für die Golfregion bezeichnet waren, aus klein wenig mitgewirkt. Wir wollen hier über die dem Haushalt herausgenommen worden sind, so daß Dinge in gegenseitiger Verantwortung und nicht mit wir den Eindruck hatten, daß man auch 80 Millionen dieser Unkultur reden, die Sie hier hineinzutragen DM hätte herausnehmen können, so daß man am glei- versuchen. chen Tag auch noch über diese Israel-Geschichte (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: hätte entscheiden können? Warum denn so empfindlich?) (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Wo ist — Halten Sie sich doch endlich zurück; dann brau- denn da der Zusammenhang?) chen wir nicht empfindlich zu sein. — Ich will nur nicht, daß der Eindruck entsteht, daß Beim Haushalt des Auswärtigen Amtes ist vor allem man am letzten Tag der Bereinigungssitzung nicht zu fragen, ob er der neuen außenpolitischen Rolle die- auch noch positive Beschlüsse hätte fassen können. ses Staates, seinen Herausforderungen, den gebote- Am gleichen Tag haben Sie aus dem Haushalt etwas nen Chancen wie auch den zu erwartenden Risiken herausgenommen, was vorher nicht vorgesehen- gerecht wird. war. Alle politischen Kräfte stimmen darin überein, daß (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Das war die Vereinigung das politische und ökonomische Ge- schon die Spitzabrechnung!) wicht Deutschlands und damit seine Verantwortung Auch da mußten Sie entscheiden. Das ist die Frage. in der internationalen Arena erhöht hat. Nach Art und Größe ist diese Bundesrepublik sogar einmalig in der langen Geschichte des Kontinents. In seiner Mitte ge- Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): So, wie Sie es darge- legen, ist sie der wichtigste Partner der USA wie der stellt haben, stimmt es nicht ganz. Natürlich sind Sowjetunion und hat die meisten Nachbarn. 100 Millionen DM anderswohin geschoben worden. Bewertet man den vorliegenden Haushalt unter die- Das war aber schon lange vorher ausgemacht, weil sem Aspekt, ergibt sich ein alarmierendes Bild. Im diese Mittel ja vom Einzelplan 16 herüberkamen. Prinzip bleibt alles, wie es war, sieht man von dem (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Das war größeren Volumen ab. Dieses Bild wird verstärkt, schon abgewickelt!) wenn man den dazu gegebenen Begründungen der Es war nicht angemessen vorbereitet — darüber sind Bundesregierung folgt. wir uns ja einig — , diese Millionen herüberzuschie- Vermißt werden wirklich gravierende Initiativen ben. Es spricht überhaupt nichts dagegen, mit dem der Außenpolitik, die den neuen Ansprüchen und gleichen Antrag zum Haushalt 1992 noch einmal zu Herausforderungen gerecht werden. Wo sind die Ak- kommen. Wir sollten die Gemeinsamkeit, die Sie vor- tivitäten der Bundesregierung zum Bau des vor der hin so gern betont haben, besonders in der Außenpo- Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags so viel litik bewahren und vertiefen. zitierten Europäischen Hauses, zur Schaffung gesamt- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2001

Dr. Hans Modrow europäischer Sicherheitsstrukturen unter Einbezie- Osten oder in Kroatien, sei es im Baltikum oder zwi- hung der Sowjetunion, zur Stärkung der so mühevoll schen Ungarn und Rumänien — im Auftrag der UNO, geschaffenen KSZE-Institutionen, z. B. des Konflikt- der NATO oder der WEU tätig würden. verhütungszentrums? Wo sind nennenswerte Initiati- Von dieser Bundesregierung werden aber für den ven der deutschen Außenpolitik zur Erleichterung globalen Einsatz der Bundeswehr unter Umgehung und Lösung der Probleme der Dritten Welt? Wo blei- ben wirklich neue Schritte, um mitzuwirken, die sich dieses Parlaments wie der Öffentlichkeit in der NATO bereits die Weichen gestellt. nicht zuletzt aus der Preis- und Zinspolitik der Länder der „Ersten Welt" zuspitzenden Probleme zu lösen? Hier sagen wir entschieden: Wehret den Anfän- gen! Wir vermissen Initiativen zur Reformierung der UNO und zur Lösung der zahlreichen globalen Pro- Es ist demagogisch, vor allem aber unmoralisch und bleme. Auch hier gibt es offensichtlich keine neuen mit dem Grundgesetz unvereinbar, wenn diese Hal- Denkansätze. Deshalb können ihnen weder der vor- tung als Feigheit und als Ausweichen vor der Verant- gelegte Haushalt insgesamt noch der Haushalt für den wortung diffamiert wird. Gerade dem vereinten Bereich des Auswärtigen Amtes entsprechen. Deutschland stünde es gut zu Gesicht, als Staat Leh- ren aus seiner Geschichte Noch schlimmer aber ist, daß es eine Ausnahme zu ziehen und eine quali- gibt. Folgt man der Bundesregierung, dann soll, nein, tativ wirklich neue Rolle anzustreben, die den Erfor- muß das vereinigte Deutschland militärisch — zwar dernissen der Welt von heute entspricht. schrittweise, aber schnellstmöglich — Aktionsräume Das kann Deutschland, wenn es seine wiederge- außerhalb des NATO-Gebiets und überhaupt in der wonnene Souveränität und gewachsene Verantwor- Welt erschließen, als wäre nicht bereits zweimal in tung für Frieden und Sicherheit dadurch wahrnimmt, diesem Jahrhundert von deutschem Boden militäri- daß es sein politisches, ökonomisches, geistiges, wis- scher Einsatz mit all den sich daraus ergebenden Fol- senschaftlich-technisches und kulturelles Potential gen ausgegangen. für die Konfliktregelungen ohne militärische Gewalt- Außenpolitik soll bekanntlich Vertrauen schaffen anwendung, für vorbeugende Friedenssicherung, für und berechenbar sein. Um wieviel mehr gilt das für die Rettung der Völker der Dritten Welt, für die Ver- das entstandene größere Deutschland und für seine hinderung des Kollapses der natürlichen Umwelt, für Friedensverantwortung! wirtschaftliche und technologische Partnerschaft und für weitere Abrüstung in die Waagschale der interna- Diese Politik aber, finanziert mit diesem Haushalt, tionalen Politik legt. muß Mißtrauen erzeugen, muß die Prozesse der euro- päischen Einigung erschweren. Mehr noch: Eine sol- Aus dem Haushalt des Auswärtigen sind die Posten che Politik läßt Weitblick vermissen. Sie führte zur für NATO-Verteidigungshilfe, Ausstattungshilfe und Rüstungshilfe unbedingt zu streichen. Beteiligung der Bundesregierung am Golfkrieg, der die deutschen Steuerzahler mindestens 17 Milliarden (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) DM kostet. Schlimmer noch: Dieser Krieg hat keines der gravierenden Probleme des Nahost-Konflikts ge- Die Bundesregierung vermag offensichtlich weder löst. aus der Einheit noch aus der bisherigen Entwicklung in Ost-Europa und der Sowjetunion die erforderlichen Statt wenigstens jetzt die Konsequenzen aus dieser Schlußfolgerungen zu ziehen. verhängnisvollen außenpolitischen Aktion des verei- nigten Deutschlands zu ziehen, beabsichtigt die Bun- (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: desrepublik, auf diesem Gebiet weiterzugehen. Das stimmt ja wohl nicht!) Der Beweis: Ihre Zustimmung zur Schaffung einer Statt nach der Auflösung des Warschauer Vertrags schlagkräftigen mobilen Eingreiftruppe der NATO und nach dem Wiener Abrüstungsabkommen für die unter Führung der USA, die den atomaren Knüppel Aufgabe des NATO-Konzepts der konfrontativen Si- dazu beisteuern. Die vorgesehene Beteiligung der cherheit und die Umstellung der strategischen Vertei- Bundeswehr mit bis zu drei B rigaden an dieser „Welt- digungskonzeption auf Hinlänglichkeit zu wirken, gendarmen" -Truppe, der nach Minister Stoltenberg betreibt die Bundesregierung einen Kurs der Umrü- fallweise weitere Heeresverbände zugeordnet wer- stung und Modernisierung der Bundeswehr sowie der den können, ist eine eindeutige Verletzung des Verfestigung der NATO. Als hätte es den Beginn nu- Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, klearer Abrüstung mit der Null-Lösung bei Mittel- nach dem jeder Einsatz der Bundeswehr außerhalb streckenraketen und das Versprechen baldiger Ver- des NATO-Gebietes untersagt ist. Sie widersp richt handlungen über taktische Kernwaffen nicht gege- der besonderen Friedensverantwortung des vereinig- ben, befürwortet sie in der NATO die Modernisierung ten Deutschlands, die auch in Art. 2 des Zwei-Plus- der Kernwaffen und die Schaffung modernster Ab- Vier-Vertrages ausdrücklich verankert wurde. standswaffen. Die PDS/Linke Liste lehnt jede wie auch immer Ich wiederhole deshalb: Die bisherigen Ansätze in geartete Erweiterung des militärischen Handlungs- der deutschen Außenpolitik, die lediglich alte Kon- spielraums der Bundesrepublik ab. Hier darf auch zepte — allerdings militärisch untersetzt — fortführen nicht der kleinste Spalt einer Möglichkeit geöffnet wollen, werden den Anforderungen nicht gerecht. werden. Denn viele Menschen in diesem Land, in Noch eine Bemerkung: Die neue Rolle Deutsch- Europa wie in der übrigen Welt empfinden es nach lands in der internationalen Politik muß in Deutsch- zwei Weltkriegen als unerträglich, wenn deutsche land selber beginnen. Es spricht aber für sich, wie sich Truppen in anderen Regionen — sei es im Nahen die Diplomatie im größeren Deutschland ihrer neuen 2002 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Dr. Hans Modrow Aufgabe annimmt. Es wurde soeben hier auf die Ar- Vor anderthalb Jahren galt es, den Angehörigen der beit verwiesen, die von Kulturzentren und diplomati- Botschaften in Budapest, Prag und Warschau den schen Vertretungen der DDR geleistet wurde. Warum Dank dafür auszusprechen, daß sie in den schweren gibt man jenen, die in dieser Arbeit tätig waren und Wochen des Spätsommers 1989 schier Übermensch- sie geleistet haben, keine Möglichkeit, darin auch liches geleistet haben, um den in die Botschaft Ge- jetzt und künftig weiter tätig zu sein? flüchteten aus der damaligen DDR erste Versorgung Diese Politik, die auch viele andere Berufsgruppen zu gewähren und eine menschenwürdige Ausreise zu betrifft, führt zu völlig unnötigen sozialen Spannun- ermöglichen. gen. Vor allem aber schadet sie dem internationalen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ansehen der Bundesrepublik. Die Ereignisse haben sich seither fortgesetzt. Vom Die größere Verantwortung Deutschlands in der in- Umbruch in Bukarest über die Botschaftsflüchtlinge in ternationalen Politik beginnt bei der Korrektur der Tirana bis zu den Ereignissen in Kuwait, Bagdad, Tel Haltung gegenüber den neuen Bundesländern und Aviv und den Folgen der Bürgerkriege in Libe ria, So- der Vermeidung eines solchen Herangehens beim Zu- malia und, in diesen Tagen, Äthiopien, immer waren sammenwachsen Europas. Erfolgt nicht bald im Den- es die Botschaftsmitarbeiter und ihre Familienange- ken und Handeln dieser Bundesregierung eine hörigen, die die Hauptlast von Betreuung und Eva- grundsätzliche Kurskorrektur, dann wird das verei- kuierung zu tragen hatten. nigte Deutschland seiner neuen Verantwortung nicht gerecht. Die Erwartungen, die Europa und die Welt in Das im letzten Jahr verabschiedete Gesetz über den uns setzen, und das Vertrauen, das Europa und die auswärtigen Dienst hat aus Anlaß dieser Fälle, bei Welt uns entgegenbringen, könnten tief enttäuscht denen oft Hab und Gut Opfer von Kriegseinwirkun- werden. gen und Plünderungen waren, seine erste Bewäh- rungsprobe bestanden. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Im besonderen Maße zu begrüßen ist es, daß im nun zu verabschiedenden Haushalt eine zusätzliche Stel- lenausstattung für das Auswärtige Amt beschlossen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat Frau worden ist, die es in die Lage versetzt, die vermehrten Kollegin Dr. Sigrid Hoth. Aufgaben auf Grund der deutschen Vereinigung im zusammenwachsenden Europa und weltweit in bila- teraler und multilateraler Form zu übernehmen. Dr. Sigrid Hoth (FDP) : Sehr verehrte Frau Präsiden- tin! Meine verehrten Damen und Herren! Haushalts- Ich freue mich, in diesem Zusammenhang auch fest- beratungen sind immer auch ein Zeitpunkt der Bilanz stellen zu können, daß bei der Auswahl der Anwärter geleisteter Arbeit. für den auswärtigen Dienst durchweg Bewerber aus den neuen Bundesländern proportional zum Zuge Für den ersten Einzelplan 05 eines gesamtdeut- kommen. schen Bundeshaushalts bedeutet dies: Die außenpoli- tische Aufgabe „deutsche Vereinigung" ist abge- Auch bei der Ausstattung mit Sachmitteln konnte schlossen. Herr Modrow — dies ausdrücklich an Ihre den steigenden Anforderungen und den zusätzlichen Adresse — , ich empfinde es als deutsche Vereinigung Belastungen Rechnung getragen werden. Damit sind und nicht wie Sie als Anschluß. u. a. die Voraussetzungen geschaffen worden, um den Vertretungen in Stettin, Danzig, Breslau, Minsk, Preß- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) burg, Krakau sowie Pjöngjang, Phnom Penh, Saigon Nun geht es an die langwierige und komplizierte und demnächst auch Alma-Ata — es handelt sich hier- Umsetzung dieser Aufgabe im Innern, die unsere bei vorwiegend um bewahrenswerte Erbstücke der Kräfte sicher auf Jahre in Anspruch nehmen wird. ehemaligen DDR — die Arbeitsaufnahme zu ermögli- Eine erfolgreiche Außenpolitik, eingebettet in Eu- chen. ropa und im westlichen Bündnis, hat entscheidend Generell ist jedoch festzustellen, daß für die Aus- dazu beigetragen, daß die Überbleibsel von Mauer landsbediensteten der Ausnahmefall zur Normal- und Eisernem Vorhang und die Reste stalinistischer situation geworden ist. Auch nach dem Wegfall des Gewaltherrschaft mit all ihren Unerträglichkeiten ver- Ost-West-Konfliktes sind die Krisen und Bürgerkriege schwinden. Nun gilt es, die Trümmer aufzuräumen in der Welt nicht weniger, sondern eher mehr gewor- und ein besseres, ein friedliches Gesamteuropa zu den. Gewachsene deutsche Verantwortung hat zur bauen. Folge, daß unsere Präsenz in Form politischen Enga- Die ersten Gewitter der neuen Weltordnung sind gements und humanitärer Hilfe praktisch überall als überstanden. Deutschland hat gezeigt: Es ist in vor- Selbstverständlichkeit erwartet wird. derster Linie dabei, wenn es um Menschenrechte und Neben der traditionellen Entwicklungszusammen- Minderheitenschutz gegen brutale Tyrannei geht und arbeit, die sich seit 30 Jahren um die Rahmenbedin- wenn Erste Hilfe bei den Folgen natürlicher oder gungen in der Dritten Welt bemüht und sich mit glo- durch Menschen verursachter Katastrophen zu leisten balen Herausforderungen wie Umweltzerstörung und ist. Bevölkerungsexplosion auseinandersetzt, spielt die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bewahrung menschlichen Lebens und menschlicher Würde in den Grenzbereichen der Politik eine immer Der Auswärtige Dienst hat auch in diesen Zeiten größere Rolle. Weltinnenpolitik bedeutet, daß es uns seine Bewährungsprobe bestanden. nicht kalt lassen kann, wenn in der Sowjetunion und (Beifall bei Abgeordneten der FDP) in Rumänien die Menschen hungern und f rieren, daß Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2003

Dr. Sigrid Hoth uns das Schicksal der von den Schergen Saddam Nus- weist, daß keineswegs alles beim alten bleibt, wie Sie seins vertriebenen Kurden genauso angeht wie die vorhin ausführten. Opfer in Bangladesch und in den Dürre- und Bürger- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — kriegsgebieten Afrikas. Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Gott sei Eine besondere Hervorhebung bei der Jahrhun- Dank!) dertaufgabe der Schaffung eines neuen Europa in ei- Das sind etwa 9 % des gesamten Kulturetats, gewiß ner friedlichen Welt verdient die deutsche Kulturar- nicht zuviel angesichts der Tatsache, daß das verei- beit im Ausland einschließlich der Tätigkeit der Goe- nigte Deutschland um ein Viertel mehr Bürger hat als the-Institute. Es gilt, auch die neuen Bundesländer die bisherige Bundesrepublik. umfassend in die internationale kulturelle und wis- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich folgen- senschaftliche Zusammenarbeit, d. h. in die Pro- des festhalten: Eine verstärkte internationale kultu- grammarbeit der kulturellen Mittlerorganisationen relle, wissenschaftliche, pädagogische und gesell- wie die Personenaustauschprogramme, einzubezie- schaftspolitische Zusammenarbeit zugunsten von In- hen. stitutionen oder gesellschaftlichen Gruppen und vor Die wissenschaftliche Kooperation und die deut- allem zugunsten der Bürger der neuen deutschen sche Sprache in Mittel- und Osteuropa soll verstärkt Länder wird auch den Partnern in den Nachbarstaaten gefördert werden. In allen neuen Demokratien wirken zugute kommen. Goethe-Institute an der Aufgabe mit, die große Nach- Mittel- und Osteuropa bildet seit dem mit dem Na- frage nach deutscher Sprache und nach Informatio- men Gorbatschow verbundenen politischen Umbruch nen über Deutschland zu bef riedigen. Wir fördern den ein sich rasch ausweitendes Feld unseres politischen, Deutschunterricht durch Entsendung von Lektoren an wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Universitäten sowie von Lehrern an Schulen der je- Engagements. Wir werden mit unseren westlichen weiligen Länder. Von den weltweit ca. 16 Millionen Partnern Hilfestellung für die jungen Demokratien Deutschlernenden leben allein 12 Millionen im Balti- beim Aufbau offener und demokratischer Gesell- kum und in Mittel- und Osteuropa. schaften geben. Solche Beiträge zum Wandel leisten wir nicht zuletzt durch umfangreiche Programme zur Wir werden, wie es am 31. Oktober 1990 der Deut- Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräf- sche Bundestag ausdrücklich bekräftigt hat, tun, was ten der Wirtschaft, z. B. aus der Sowjetunion, Ungarn wir können, um dieser Nachfrage gerecht zu wer- und Polen. den. Seit dem politischen Wandel in Mittel- und Osteu- Auch das Netz der Auslandsschulen wird nach Be- ropa ist die Unterstützung der dort lebenden deutsch- darf ausgebaut werden. Die Neugründungen deut- sprachigen Minderheiten möglich geworden. Sprach- scher Schulen in Prag und Budapest sind erste Ergeb- liche und kulturelle Eigenständigkeit soll nicht mehr nisse. Trennendes, sondern Verbindendes zwischen den Völkern sein. Auch dies ist auswärtige Kulturpolitik. Die Spracharbeit der DDR-Kulturinstitute wurde Der in diesen Tagen ausgehandelte „Vertrag über weitgehend vom Goethe-Institut übernommen. Zum gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusam- erheblichen Teil fördert die Bundesrepublik auch die menarbeit" mit unserem direkten östlichen Nachbarn von der ehemaligen DDR zugesagten Gastspiele und Polen ist ein beredtes Beispiel für den Weg in eine Ausstellungen. bessere Zukunft. Etwa 11 000 ausländische Stipendiaten befanden (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sich in der ehemaligen DDR, etwa 4 000 DDR-Studen- der CDU/CSU) ten im Ausland. Viele Länder haben uns dringend gebeten, ihren jungen Leuten die Fortsetzung ihres Wir wollen, daß Europa politisch, wirtschaftlich und kulturell zusammenwächst und die Beziehungen zwi- Fachstudiums bis zum Examen zu ermöglichen. Das schen den Staaten unseres Kontinents immer mehr zu haben wir nach dem Grundsatz des Vertrauensschut- einer Sache ihrer Bürger werden. zes getan. Etwa 6 500 Ausländer an den Universitäten und Hochschulen der neuen Ländern haben jetzt ein Meine Damen und Herren, ein in Frieden geeintes Stipendium des Deutschen Akademischen Aus- prosperierendes Europa, eine neue f riedliche Welt- tauschdienstes. ordnung zu begründen liegt in unseren Händen. Er- greifen wir doch gemeinsam diese Chance! Auch die einst von der DDR ins Ausland, fast aus- Ich danke Ihnen. schließlich nach Osten entsandten jungen Deutschen können und werden weiterstudieren, hoffentlich bis (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zu einem guten Abschluß. Die Bilanz der Integration der bisherigen DDR im Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der Bereich der auswärtigen Kulturpolitik ist allerdings Kollege Gerd Poppe. gemischt. Durch die scharfe ideologische Ausrichtung sind viele der entsandten Personen und ein Großteil der Programme nicht zur Übernahme geeignet. Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Frau Präsiden- tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Alle diese Maßnahmen kosten den Kulturhaushalt deutsche Einheit sollte Ausgangspunkt für die Aufhe- des Auswärtigen Amts in diesem Jahr rund 105 Mil- bung der europäischen Teilung sein. Das vereinte lionen DM zusätzlich. Herr Modrow, ich möchte Sie Deutschland sollte einen entscheidenden Beitrag zur ausdrücklich auf diese Zahl hinweisen; denn sie be- Friedenssicherung und zur Garantie der Menschen- 2004 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Gerd Poppe rechte in aller Welt leisten. — So oder ähnlich lauteten und eine neue Strategie angekündigt. Aber die Reali- die Beteuerungen der regierenden deutschen Par- tät ist: Die gewohnten Feindbilder sind trotz Beendi- teien im Jahre der Einheit, und zwar beiderseits des gung des Kalten Krieges immer noch nicht abgebaut. ehemaligen Eisernen Vorhangs. Der im Osten vermutete Feind verschwindet nicht ein- fach mit seinem Militärbündnis. Statt der Lösung der Und doch ist im Jahr danach zu konstatieren, daß gravierenden Probleme des ärmeren Südens mittels das Aussprechen solcher Sätze inzwischen eher ein einer entschiedenen Neuorientierung des Haushalts schales Gefühl hervorruft. Durch die andauernde näherzukommen, wird der Nord-Süd-Konflikt nur auf Wiederholung werden sie nicht glaubwürdiger. Auch populistisch verkürzende Weise zur Kenntnis genom- mehren sich die Stimmen, die sagen: Besser nicht men. In schwärzesten Farben ausgemalt, entsteht ein daran rühren. Bloß nicht schlafende Hunde wecken. undifferenziertes und unreflektiertes Bild vom islami- Besser wäre es, wir täten so, als bliebe alles beim schen Fundamentalismus einerseits, vom Teufel Sad- alten. Wozu also am Grundgesetz rütteln, mit dem wir dam Hussein andererseits. seit Jahrzehnten gut leben? Wozu einen Haushalt ver- ändern, der doch seit vielen Jahren einen hinreichen- Wo bleiben da die Träume von der friedenstiftenden den Rahmen für die Führung unserer Geschäfte abge- Rolle des vereinten Deutschland? Im Einzelplan 05 geben hat? — Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes — haben sie keine Spur hinterlassen. Wie eh und je erscheinen Andere, die von der neuen Rolle Deutschlands in die 164 Millionen DM NATO-Verteidigungshilfe so- der Welt sprechen, meinen damit etwas völlig anderes wie die Rüstungssonderhilfe für Griechenland und als die mögliche Mittlerrolle gegenüber Ost und Süd: Portugal zur Absicherung der sogenannten Stützung Endlich wären wir wieder wer. Lange genug hätten der Südflanke des NATO-Gebietes, also reine Militär- wir ja darauf gewartet. Es wäre nun endlich an der ausgaben. Diese sinnlos verausgabten Mittel haben Zeit, unsere neue Rolle auch im internationalen Ge- nichts im Bundeshaushalt und schon gar nichts in dem schehen vorzuführen, z. B. im Rahmen von Out-of- des Auswärtigen Amts zu suchen. area-Einsätzen der Bundeswehr. — Manchmal habe ich das Gefühl, daß sich die Verfechter dieser Idee nur Zweitens. Entsprechendes gilt für die sogenannte allzuschnell beweisen wollen. Ausstattungshilfe für Länder der Dritten Welt. Wer glaubt, hier gehe es um eine Ergänzung der Entwick- Schon werden diejenigen als Drückeberger verteu- lungshilfe, irrt. Mit solchen Geldern wurden bisher felt, die ein deutsches Engagement in Krisenregionen beispielsweise Polizisten in autoritären Ländern aus- in keiner Form wünschen, oder auch diejenigen, die gebildet. sich Deutsche nur unter blauen Helmen von UN-Frie- denstruppen vorstellen können, und auch das nur (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Das ist ja nicht dann, wenn nach entsprechenden Reformen der UNO wahr!) die Instrumentalisierung solcher Einsätze für die je- — Aber selbstverständlich; das können Sie in früheren weiligen nationalen Interessen mit Sicherheit auszu- Berichten nachlesen. schließen ist. (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU] : Sie waren ja nie Die vehement geführte Diskussion zu diesem dort! Da wurden Krankenhäuser ausgestat Thema drängt sich mir auf, wenn ich die einzelnen tet, da wurden Druckereien errichtet und vie Titel dieses Haushalts nachlese und dann feststelle, les andere mehr!) daß sich nichts von alledem darin niederschlägt. Wäh- rend alle in der einen oder anderen Weise von der In ihren Sonntagsreden relativieren die Außenpoli- neuen Rolle Deutschlands reden, bleibt doch alles tiker im Interesse der Durchsetzung der Menschen- beim alten. rechte das oberste Gebot des bisherigen Status quo, die Nichteinmischung in die sogenannten inneren neue Situation in Europa verlangt jedoch kei- Die - Angelegenheiten. neswegs das sture Festhalten an alten Bedrohungs- szenarien. Angesichts der anhaltenden existentiellen ( [CDU/CSU]: Das ist doch ein Bedrohung von Milliarden von Menschen sind weder fach nicht wahr!) fatalistische Ergebenheit noch militärische Kraftmei- — Das ist wahr, nicht? Ich hoffe jedenfalls, daß Sie erei Deutschlands angebracht. Gefordert ist statt des- dem zustimmen. sen, einerseits die zunehmend katastrophale Lage in der sogenannten Dritten Welt und andererseits die (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Genau das veränderte politische und militärische Situation in Eu- Gegenteil ist der Fall! — Weiterer Zuruf von ropa endlich zur Kenntnis zu nehmen. Das bedeutet der CDU/CSU: Sie stimmt dem nicht zu!) im Klartext der heutigen Debatte notwendigerweise, — Sie stimmen also dem Prinzip der Nichteinmi- die unnötigen Ausgaben zu streichen und die frei wer- schung in der bisher praktizierten Weise auch weiter- denden Mittel so einzusetzen, daß die Einheit der hin zu. Habe ich das recht verstanden? — Aha. Die Deutschen tatsächlich einen Hoffnungsschimmer in Kollegin hat mich jetzt nicht richtig verstanden. — Sie aller Welt aufkommen läßt. müssen sich aber sagen lassen, daß Sie die ordnungs- Lassen Sie mich das an ein paar Beispielen deutlich politischen Vorstellungen von Regimes, für die Demo- machen. kratie und Gewaltenteilung nach wie vor Fremdworte sind, ausgerechnet mit Mitteln des Auswärtigen Am- Erstens. Das Verschwinden des Warschauer Pakts tes unterstützen. hat immer noch nicht zu angemessenen Konsequen- zen im NATO -Bereich geführt. Verbal wird seit mehr Daß diese Befürchtung nicht aus der Luft gegriffen als einem Jahr von der NATO die Umstrukturierung ist, läßt sich leicht an dem Umgang mit der sogenann- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2005

Gerd Poppe ten Volksrepublik China zeigen. Fast auf den Tag Humanitäre Hilfe bleibt ein Faß ohne Boden, wenn genau sind zwei Jahre seit dem Massaker auf dem sie nicht von angemessenen politischen Maßnahmen Platz des Himmlischen Friedens vergangen. Noch im- der Bundesregierung begleitet ist. Betrachtet man mer wird die Demokratiebewegung in China krimina- dies hinsichtlich der Unterstützung des kurdischen lisiert, noch immer werden die Tibeter und die musli- Volkes, so ist das Ergebnis doch recht mager. mischen Minderheiten unterdrückt. Fast täglich ist Auf der Tagesordnung stand die notwendige Unter- von neuen Verhaftungen und von vollstreckten To- stützung der Kurden auf ihrem Weg zur politischen desurteilen die Rede, und doch sind die westlichen und kulturellen Selbstbestimmung und bei ihren Ver- Demokratien schon längst wieder zur Tagesordnung handlungen mit dem Regime in Bagdad. Doch mit all- übergegangen. Ein deutscher Staatssekretär begrüßt dem werden die Kurden alleingelassen, und zwar die stabile Lage in China. trotz gegenseitiger verbaler Ankündigungen. In (Norbert Gansel [SPD]: Hört! Hört! — Kürze werden die amerikanischen Truppen aus dem Dr. [FDP]: Der ist aber Nordirak abziehen. Niemand weiß, was dann ge- nicht im Auswärtigen Amt!) schieht, außer daß wir in absehbarer Zeit erneut vor der Notwendigkeit stehen werden, in vergleichbarer Deutsche Exporteure dürfen sich der begehrten Her- Weise humanitäre Hilfe zu leisten. mes-Bürgschaften sicher sein. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie wollen Wir fordern, die drei genannten Titel des Einzel- das doch wohl nicht tadeln! — Karsten D. plans 05 zu streichen. Sie ergeben insgesamt eine Voigt [Frankfurt] [SPD]: Sie wollen, daß die Summe von etwa 276 Millionen DM. Das sind Mittel, Truppen dort bleiben?) die im Sinne einer neuen Rolle Deutschlands weitaus — Ich bin nicht dafür, daß amerikanische Truppen angemessener eingesetzt werden könnten, z. B. zur dort bleiben, aber ich bin für politische Lösungen, Linderung des Elends in Flüchtlingslagern oder zur Katastrophenhilfe in Bangladesch. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aha! Die anderen!) Drittens. Die Streichung und Umwidmung der ge- nannten Titel hätte eine Signalwirkung in dem von die z. B. sicherstellen, daß die Kurden tatsächlich in uns gewünschten Sinne einer deutschen Vorreiter- ihre Wohngebiete zurückkehren können, ohne erneut rolle, bezogen auf die Durchsetzung der Menschen- bedroht zu werden. rechte, auf die f riedliche Schlichtung von Konflikten (Zurufe von der CDU/CSU) oder auch auf die Bewahrung der natürlichen Um- Ich bin nicht für die Vorherrschaft von Truppen von welt. Großmächten. Andere Titel beziehen sich auf die humanitäre (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Die feine Hilfe. Sie ist notwendig, und sie wird es noch für eine Art, daß die anderen das tun!) lange Zeit bleiben. Sie sollte sogar verstärkt werden. Aber was macht es für einen Sinn, 18 Milliarden DM — Ich bin auch nicht dafür, daß deutsche Truppen das in einen sinnlosen Krieg zu investieren, um sich an- machen. Vielmehr bin ich dafür, daß es Truppen aus schließend der 470 Millionen DM zur Linderung sei- kleinen Ländern, aus blockfreien Ländern sind, die, ner Folgen für die Betroffenen zu rühmen? So gesche- natürlich finanziell unterstützt, solche Aufgaben über- hen im Golfkrieg und danach. Dabei sind die massi- nehmen können. ven Rüstungsexporte, die den Krieg mit ermöglicht (Beifall bei der PDS/Linke Liste) haben, noch gar nicht erwähnt, ebensowenig wie die noch zu erwartenden Schäden auf Grund der nach wie Viertens. Unzureichend — ich erwähnte das vor unzulänglichen Korrekturen in der Außenwirt- schon — berücksichtigt der Haushalt die tiefgreifen- schaftspolitik und in der Aufarbeitung der Wirt- den Veränderungen in Europa. — Natürlich ist es schaftskriminalität. sinnvoll, die Entwicklung einer sozialen Marktwirt- schaft in der Sowjetunion und in Jugoslawien zu un- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Es scheint, terstützen und die Demokratisierung der ehemals so Sie verwechseln da etwas!) genannten sozialistischen Länder zu fördern. Frag- würdig ist es aber, umfangreiche finanzielle Mittel zur Um nicht mißverstanden zu werden: Stützung zentralistisch regierter Staaten bereitzustel- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Mehr als len. Hilfe für den sowjetischen Staatsapparat, der die das!) Grenzen seiner Fähigkeit zur erfolgreichen Reform von Wirtschaft und Gesellschaft längst erreicht hat Selbstverständlich muß humanitäre Hilfe geleistet und sich nunmehr in Konfrontation mit fast allen Er- werden — für die kurdischen Flüchtlinge reicht sie bei neuerungskräften in der Sowjetunion befindet, ist weitem nicht aus — , nur genügt es nicht, im nachhin- nicht nur in den Sand gesetzt, sondern geht auch an ein mit unzureichenden Mitteln einen Schaden zu den gegebenen Realitäten vorbei. begrenzen, der durch den Einsatz wesentlich höherer Mittel, auch deutscher Mittel, zuvor entstanden ist Längst haben sich in den baltischen und in den und der in seinen durch militärische Mittel verursach- anderen Republiken Kräfte formiert, die tatsächlich in ten Folgen sogar provoziert und billigend in Kauf ge- der Lage zu sein scheinen, die Wirtschaft zu sanieren nommen wurde. und die Demokratie zu entwickeln. Sie nicht als ge- genüber der Zentrale zumindest gleichwertige Part- (Zuruf von der CDU/CSU: Besonders durch ner zu behandeln bedeutet, daß die Hilfe wie in den die Sozialistische Internationale!) vergangenen Jahren bestenfalls folgenlos versickert 2006 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Gerd Poppe oder aber daß gar Jahre später einer ohne unser Zutun Wir achten ihre Arbeit und wünschen uns keines- reformierten Sowjetunion eine katastrophale Schul- wegs Vertreter der sogenannten alten Seilschaften in denlast aufgebürdet wird. der ehemaligen DDR an ihrer Stelle. Noch deutlicher wird das Problem in Jugoslawien, (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der wo der gesamtstaatliche Partner faktisch von der Bild- CDU/CSU) fläche verschwunden ist und somit die Gefahr besteht, Wir würden es aber sehr begrüßen, wenn in den Bot- ausgerechnet das so unsäglich vom kommunistischen schaften auch Menschen arbeiteten, die von ihren Er- zum nationalistischen gewendete Regime Serbiens an fahrungen in der früheren DDR und den heutigen seine Stelle zu setzen. neuen Bundesländern geprägt sind. Die veränderte Gesamtsituation in Europa endlich (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der zur Kenntnis zu nehmen heißt also, nicht einfach Geld CDU/CSU, der SPD, der FDP und der PDS/ oder mehr Geld zur Verfügung zu stellen, sondern Linke Liste — Siegfried Hornung [CDU/ heißt vor allem, eine neue politische Konzeption ge- CSU]: Können Sie die alle richtig unterschei genüber dem Osten zu entwickeln, Hilfe zur Selbst- den?) hilfe zu leisten und dabei vor allem die Kräfte zu Die Außenvertretung der Bundesrepublik kann, berücksichtigen, die zu einer Erneuerung fähig wenn wir es mit der deutschen Vereinigung ernst neh- sind. men, nicht nur durch Westler geschehen. Sicher ist der Wir vermissen die mitdenkende Verantwortungs- Einwurf richtig, daß es zur Zeit nur wenige Menschen übernahme des Westens hinsichtlich der osteuropäi- in Ostdeutschland gibt, die ausreichende Vorausset- schen Reformen. Können wir einfach unbeteiligte Zu- zungen für eine solche Arbeit mitbringen. schauer bleiben, wenn wir erkennen, wie groß die (Zuruf von der CDU/CSU: Zum Beispiel aus sozialen Folgen der Wirtschaftsreform in Polen, das Halle!) sich strikt an die Auflagen von IWF und Weltbank — Die Hallenser und wir schätzen die Arbeit des Bun- hält, sind? Können wir es verantworten, wenn die not- desaußenministers. Es gibt aber auch Menschen, die wendige Rekonstruktion der Marktwirtschaft in noch längere Zeit in Halle gelebt haben und auch Osteuropa im Stil des Frühkapitalismus abläuft? Kön- heute noch dort leben. Warum sollten nicht auch sie in nen wir es akzeptieren, daß einerseits Geld zur Ver- diese Arbeit einbezogen sein? fügung gestellt wird, andererseits aber nur unzurei- chende Bereitschaft besteht, die Schuldenlast zu ver- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der ringern? PDS/Linke Liste — Bundesminister Hans Dietrich Genscher: Sicher, machen wir ja!) Ist das nicht Wasser auf die Mühlen populistisch Wir vermissen ein entsprechendes Förderpro- argumentierender Demagogen, die Haß auf den We- gramm, z. B. für Menschen aus den neuen Bundeslän- sten schüren? dern, die seinerzeit ihre persönlichen und politischen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da hat Ih- Kontakte mit Osteuropäern unter sehr schwierigen nen der Professor aber große Worte aufge- Bedingungen knüpften und aufrecht erhielten und die schrieben!) auf Grund ihrer politischen Einstellung keine Chance einer angemessenen Ausbildung hatten. Wir wissen, daß es ohne sozialen Frieden im Inneren keinen Frieden nach außen gibt. Ohne wirkliche An- (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) teilnahme unsererseits wird es gewaltsame Auseinan- Der Osten Deutschlands und Europas ist nicht nur dersetzungen, Nationalismus, eine verstärkte Flucht- ein finanzielles Problem für den Westen, nicht nur bewegung, eben die befürchtete Instabilität geben. ökologische oder gar menschliche Altlast, sondern in vielem auch eine menschliche Bereicherung. Ich Die Rahmenbedingungen für unsere intensivere - wünschte mir, daß sich dieser Gedanke stärker in Mitwirkung sind durch die begrüßenswerten Ver- westlichen Köpfen einnistete. Ich hätte mir ge- träge mit der Sowjetunion, mit Polen und demnächst wünscht, daß er auch folgenreich für den vorliegen- auch mit der CSFR gegeben. Nun gilt es, die Verträge den Haushalt im einzelnen wie auch in seiner Ge- mit wirklichem Leben zu erfüllen. Dazu bedarf es des meinsamkeit gewesen wäre. Engagements der Gesellschaft, vieler einzelner Men- schen und Gruppen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Eine Reihe von Projekten, die in diesem Sinne wir- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der ken, sind bereits entstanden, z. B. beiderseits der SPD und der PDS/Linke Liste) deutsch-polnischen Grenze. Ich vermisse in diesem Haushalt die Bereitschaft, ein derartiges Engagement Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der zu unterstützen. Kollege Dr. Hans Stercken. Fünftens und letztens soll schließlich noch ein Pro- blem genannt sein, nämlich das der Außenvertretun- Dr. Hans Stercken (CDU/CSU): Frau Präsidentin! gen des Auswärtigen Amts. Sie sind besetzt von Di- Meine Damen und Herren! Die Beratung eines Haus- plomaten, die im Westteil der heutigen Bundesrepu- halts, der die Wahrung deutscher Interessen im Be- blik aufgewachsen und ausgebildet sind. reich der Außenpolitik in europäischer und weltwei- ter Verantwortung gewährleisten soll, gibt Anlaß, auf (Zuruf von der CDU/CSU: Wollen Sie die die langfristigen und die aktuellen Aufgaben hinzu- alten Stasi-Leute nehmen?) weisen, denen wir uns zur Sicherung des Friedens, zur — Ich komme gleich darauf. Wahrung der Rechte aller Menschen und zum Ausbau Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2007

Dr. Hans Stercken der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Verantwor- Wie soll es angesichts der Bevölkerungsexplosion in tung in der Welt widmen wollen. Hat sich auch die diesen Ländern eigentlich weitergehen? Lage in Europa entspannt, so bedeutet dies keines- wegs, daß nicht andere Probleme an die Stelle der (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Da müs bisherigen getreten wären; Probleme, die uns in einer sen Sie den Papst fragen!) anderen Weise als der bisherigen beschäftigen müs- — Der Papst ist für die arabische Welt, lieber Kollege sen. Voigt, nun weiß Gott nicht zuständig. Ich denke an das Wiedererwachen nationalen Den- Aber trotzdem darf ich die Frage auch an Sie rich- kens, das für einen Bürger der Europäischen Gemein- ten: Mit welchen Maßstäben werden wir im eigenen schaft oft schwer nachzuvollziehen ist, weil der Inte- Interesse zu diesen Lösungen beitragen? Was wird grationsprozeß in der Gemeinschaft ein Weg in die morgen geschehen, wenn die Sowjetunion ihre übernationale Zusammenarbeit ist, mit dem das Zeit- Schleusen öffnet? Wir werden es schwer haben, meine alter nationalstaatlicher Rivalitäten beendet werden ich, angesichts unseres gerechtfertigten Verlangens soll. nach Freiheit und Freizügigkeit den Besuch zu begrü- (Beifall des Abg. Dr. [SPD]) ßen und die möglichen Folgen zu verhindern. Die deutsche Außenpolitik wird die Einsicht fördern Hier zeigt sich, wie gerechtfertigt die Politik der helfen, daß auch die Interessen der ost- und südosteu- Bundesregierung ist, eine möglichst rasche Entwick- ropäischen Völker und ethnischen Gruppen nur auf lung in der Sowjetunion zu fördern, um Zeichen der einer gemeinsamen Grundlage zu erfüllen sind. Hoffnung in der UdSSR zu setzen und um damit die- sen Exodus zu vermeiden. Außenpolitik darf ja gele- Die Europäische Gemeinschaft wird nicht alle an sie gentlich auch einmal präventiv sein, und ich kann uns gerichteten Erwartungen erfüllen können. Der KSZE nur empfehlen, darüber in stärkerem Umfange nach- Prozeß vermag aber Strukturen und Zusammenarbeit zudenken. und damit die Lösung lokaler Konflikte zu bieten. Die bevorstehende Konferenz in Berlin wird nachhaltig In der Außenpolitik Deutschlands muß jetzt auch von diesen Bemühungen bestimmt sein. Dem Außen- spürbar werden, daß wir nicht fragwürdigen Ambitio- minister sollen wir für die Leitung dieser Gespräche nen folgen, wenn wir die Verantwortung für diese Glück wünschen. Welt ernster nehmen, nachdem uns das Vertrauen der Welt den Weg zur deutschen Einheit erleichtert hat. Die Frage der Minderheiten und ihrer gerechten Behandlung bleibt auf der außenpolitischen Tages- (V o r s i t z : Vizepräsident Helmuth Becker) ordnung. Die damit verbundenen Probleme sind nicht nur durch mangelnde Toleranzbereitschaft der betrof- Ich spreche nicht von Normalität. Was ist schon Nor- fenen Menschen, sondern auch durch die Vermark- malität, und wer legt das eigentlich fest? Ich spreche tung ihrer Gefühle zum Zwecke der politischen Agi- von der Bereitschaft zur Verantwortung. Wer mitre- tation entstanden. Gerade die politisch Verantwortli- det, Kollege Gansel, muß mithaften. Manche Argu- chen müssen daher von uns erfahren, daß wir nicht mente zu diesem Thema verkürzen diese Ethik allein nur für wirtschaftliche Vorteile und Kredite zur Verfü- auf militärische Konsequenzen, etwa unter Hinweis gung stehen, sondern daß diese Zusammenarbeit auf den Golfkrieg. Alle denkbaren Konflikte und Be- auch den Willen voraussetzt, die europäischen Maß- drohungen haben mit einem solchen Szenario wirk- stäbe zu respektieren, die für eine Zone der Sicherheit lich nichts zu tun. Doch die Strategie der Konfliktver- und Zusammenarbeit unerläßlich sind. hinderung wird kaum in der Arbeitsteilung bestehen, daß die einen reden und die anderen haften. Zu den langfristigen Aufgaben der Außenpolitik gehört sicher auch das Weltflüchtlingsproblem. Ein In diesem Zusammenhang verdient die immer wie- immer größerer Teil der Weltbevölkerung befindet- der eingesetzte Formel von der Nichteinmischung in sich auf der Wanderschaft im eigenen Land und über die inneren Angelegenheiten anderer eine sehr ge- die Grenzen hinweg. Diese Menschen wollen dem wichtige Rolle. Bei allem Respekt vor nationaler Ei- Elend entrinnen. Ihre Hoffnungslosigkeit läßt sie je- genständigkeit sollte für uns der Abschluß von Verträ- des Wagnis eingehen, auch das des politischen Asyls. gen so ernsthaft sein, daß wir die Nichteinhaltung der- Die Europäische Gemeinschaft wird für das Europa artiger Vereinbarungen auch geltend machen. der Freizügigkeit neue Maßstäbe festlegen müssen. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Damit wird aber das Problem sicherlich nicht an der China!) Wurzel gepackt. Wir sollten schon bereit sein, uns in die inneren Ange- Die neue humanitäre Weltordnung, die Aga Khan legenheiten Europas einzumischen, besonders bei einst den Vereinten Nationen empfohlen hat, setzt denjenigen, die sich in der Zukunft wirtschaftlich und eine Bereitschaft zum Teilen mit den Habenichtsen finanziell eines höheren Maßes an Solidarität der Eu- dieser Welt voraus, die uns leider illusionär erschei- ropäer bedienen wollen. Daß die Europapolitik, d. h. nen muß. Wo ist in der Debatte bei uns oder anderswo konkret die Schaffung der politischen und der Wäh- die Bereitschaft zu erkennen, etwa den Zugewinn für rungsunion, das dominierende Ziel der Politik der eine Linderung des heulenden Elends an vielen Plät- Bundesregierung bleibt, ist eine richtige Konsequenz zen der Dritten Welt einzusetzen? aus der gewonnenen Einheit. Einheit und europäische (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Einigung sind miteinander verflochtene Aufträge der Bundesverfassung. Die Wanderungsbewegungen aus Nordafrika ha- ben den Süden Europas schon millionenfach erreicht. (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [FDP]) 2008 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 Dr. Hans Stercken Dies in Erinnerung zu bringen gibt Veranlassung zu Nach den Leiden, die der Golfkrieg für Millionen der Bemerkung, daß die bevorstehenden Verhand- Menschen in vielen Ländern des Nahen Ostens verur- lungen nicht nur der Reorganisation der Exekutive sacht hat, stellt sich die Frage, ob nicht alle Betroffe- dienen dürfen, sondern insbesondere der Zuweisung nen nun um so energischer nach einer Lösung dieses der längst fälligen legitimen Rechte für das Europäi- Konfliktes verlangen müßten. Da wir mit einer euro- sche Parlament. päischen Nahostpolitik nicht aufwarten können, soll- ten wir dem amerikanischen Außenminister Baker (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD Glück wünschen, der sich mit großem Einsatz um eine und dem Bündnis 90/GRÜNE) Annäherung der Standpunkte bemüht. Ich sehe dabei Wenn dies nicht schleunigst mit der Hilfe des Bundes- jedoch auch Ansatzpunkte für flankierende Maßnah- tags geschieht, men der Europäer, beispielsweise im Libanon, wo sich trotz Geiseln und weiterer Spannungen doch eine (Norbert Gansel [SPD]: Und der Hilfe des kompromißbereitere Haltung erkennen läßt. Ausschusses für Europafragen!) Ich hoffe, daß auch die nächste Phase der europäi- wird eine neuerliche Wahl zum Europaparlament we- schen Neuordnung ihre Impulse auf der Grundlage nig Interesse finden. Das ist nicht nur eine institutio- der deutsch-französischen Zusammenarbeit erfährt. nelle Frage, Herr Gansel. Wir sollten damit verdeutlichen, daß diese Grundlage (Norbert Gansel [SPD]: Aber auch!) deutscher Außenpolitik durch die Ereignisse des letz- ten Jahres eher an Aktualität gewonnen hat. Ich denke, ich bringe den Wunsch aller Fraktionen Wir begrüßen daher, daß auch die Beiträge der bri- in Erinnerung, daß die der Gemeinschaft bereits oder noch zu übertragenden Aufgaben samt und sonders tischen Regierung einen Weg zu öffnen scheinen, der einer Beschleunigung des europäischen Prozesses zu- dem Europäischen Parlament zu übertragen sind und daß daher folgerichtig unser Parlament auf diese le- gute kommen kann. Dies könnte auch den Weg zu einer politischen Union erleichtern, für den die gute gislativen Rechte dann auch verzichtet. Wir schulden Zusammenarbeit mit Großbritannien in der WEU zu- diese klare Aussage unseren Kollegen im Europäi- sätzliche Impulse liefern könnte. schen Parlament. Wir wachen darüber, daß die Bun- desregierung und der Bundestag für die europäische Meine Erwähnung einiger konkreter Probleme hat parlamentarische Demokratie eintreten und nicht nur deutlich gemacht, daß wir die enge Zusammenarbeit der bisherige Zustand korrigiert, sondern die längst mit den Vereinigten Staaten, insbesondere auch im fällige Erweiterung stattfinden wird. Bündnis der amerikanischen und europäischen De- mokratien, für unverzichtbar halten. Ich denke, wir Nun zu einigen Aktualitäten, die wir bedenken soll- wollen auch im parlamentarischen Bereich daran mit- ten, weil sie den Verlauf der Außenpolitik in den wirken, in europäischer und atlantischer Solidarität nächsten Jahren beeinflussen werden. Ich denke zu- nicht nachzulassen. nächst an die Resolution 688 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, die davon ausging, daß Bürger- Das ist kein Gegensatz zu unserem Wunsch, daß krieg und Völkermord als Destabilisierung einer gan- auch die Sowjetunion einen Weg in eine erfolgreiche zen Region anzusehen seien. Im Sicherheitsrat ist demokratische Zukunft gehen möge. Wir wünschen durch die Enthaltung Chinas und Indiens deutlich das gerade auch um Europas willen. geworden, wie Regierungen sich verhalten, wenn Dieser Weg in die Öffnung und in die Demokratie Prinzipien zur Debatte stehen, die gegebenenfalls wird auch die Voraussetzung für eine freiheitliche auch auf sie angewandt werden können. Unsere Auf- Lösung vieler Probleme ermöglichen — von einigen gabe besteht da rin, die sich jetzt entwickelnde erwei- war eben hier die Rede —; dies wünschen nicht nur terte Rechtsauffassung auszubauen. Dies ist dringend die Deutschen dringlichst. erforderlich, wenn unsere Bemühungen künftig stär- Wir erhoffen dies auch, um den Weg Polens, der ker auf die Verhinderung von Konflikten als auf deren militärische Lösung gerichtet sein sollen. Wir wün- Tschechoslowakei und Ungarns in die Europäische Gemeinschaft zu erleichtern und zu beschleunigen. schen ja auch von Herzen, daß den Völkern in Jugo- slawien der Einsatz militärischer Mittel zum Zwecke (Beifall bei Abgeordneten der FDP) des Erhaltes der Einheit des Landes erspart bleibt. Europa ist in vielerlei Hinsicht unterwegs. Die Wertmaßstäbe, die Grundlage des Verhältnis- Meine Damen und Herren, dies waren einige Ge- ses der Europäischen Gemeinschaft zu Jugoslawien danken zu politischen Schwerpunkten. An ihrer Um- sind, werden nicht nur von dem Wunsch nach Einheit setzung ist ein Auswärtiger Dienst beteiligt, für des- bestimmt, sondern auch vom Selbstbestimmungsrecht sen erfolgreiches Wirken wir nicht nur deshalb dan- der Völker und von der Achtung der Menschenrechte. ken wollen, weil wir sehr häufig diesen Dienst in allen Ich möchte für meinen Teil bekennen, daß die Politik Regionen der Welt in Anspruch nehmen. Aber gerade der Republik Serbien solchen Maßstäben nicht ge- das sollte eine Veranlassung für Parlamentarier sein, recht wird. Die Lage in Kosovo ist dafür leider ein auch einmal in diesem Haus zu danken. beredtes trauriges Beispiel. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD SPD) und dem Bündnis 90/GRÜNE) Durch die Diskussionen mit den Bediensteten des Wir, meine ich, sollten auch in diesem Hause mit Auswärtigen Amtes vor Ort hat sich der Eindruck ver- allem Nachdruck vor dem Einsatz von Gewalt warnen stärkt, daß das Gesetz über den Auswärtigen Dienst und Demokratie und Menschenrechte einfordern. dort allgemeine Anerkennung gefunden hat. Man- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2009

Dr. Hans Stercken cherorts hat es den zutreffenden Eindruck vermittelt, schaften und Entwicklungshilfe mit ausdrücklicher daß die oft schwierigen Lebensverhältnisse auch von Zustimmung der Mehrheit des Bundestages. diesem Hause gewürdigt worden sind. Jetzt hat der Staatssekretär bei einem neuerlichen Ich erhoffe daher auf dieser Grundlage einen kon- Besuch den grausamen alten Mann umarmt, der bei struktiven Beitrag der Deutschen zur weiteren Stär- dem Massaker an der Macht war und noch heute an kung des Friedens, der Entwicklung und der Mensch- der Macht ist, den chinesischen Ministerpräsidenten lichkeit in der Welt. Li Peng. Während Tausende der damals denunzierten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie und verhafteten chinesischen Demokraten im Ge- bei Abgeordneten der SPD) fängnis sitzen oder vor dem Tribunal stehen, erklärt der Herr Staatssekretär Presseberichten zufolge — ich zitiere —, „die jetzige stabile Lage in China habe ihn Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat jetzt tief beeindruckt". der Abgeordnete Norbert Gansel. (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Pfui! — Zuruf von der CDU/CSU: Hat er nicht ge sagt!) Norbert Gansel (SPD): Herr Präsident! Meine Da- Wie mögen wohl diejenigen fühlen, die bei den Bür- men und Herren! Auch in dieser Bundestagssitzung gerprotesten in Leipzig und Prag damals auf die muß unsere gemeinsame Sorge den Vorgängen im Straße gegangen sind, obwohl sie eine chinesische Baltikum gelten. Die Übergriffe sowjetischer Soldaten Lösung fürchteten? auf das litauische Parlament haben Methode. Wir dür- fen uns nicht daran gewöhnen. Als Sozialdemokrat habe ich selten Anlaß, die Ju- gendorganisation der CDU/CSU zu loben, (Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber ein Fehler!) Wir fordern die sowjetische Seite auf, wen immer es aber die Forderung der Jungen Union, Staatssekretär angeht, die Rechte der Litauer zu wahren. Von den Dr. Lengl müsse zurücktreten, ist nur allzu berech- Litauern erwarten wir, daß sie weiter ihr Recht auf tigt. Selbstbestimmung auf friedlichem Wege verfolgen. (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP) und dem Bündnis 90/GRÜNE) Sie ist ein Gebot des politischen Anstands, und ich Es ist nun auf den Tag genau zwei Jahre her, daß im fordere den Bundeskanzler auf, dem Bundespräsiden- Westen der heutigen Bundesrepublik viele tausend ten die Entlassung Dr. Lengls vorzuschlagen. Menschen auf die Straße gingen, um in Trauer für die Studentinnen und Studenten der chinesischen Demo- (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ kratiebewegung zu demonstrieren, die in der Nacht GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP) vom 4. zum 5. Juni auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking von Panzern niedergefahren wor- Vizepräsident Helmuth Becker: Kollege Gansel, ge- den waren. Wer erinnert sich nicht an die Bilder? statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rose? Wir haben damals für die Demokratiebewegung in China und zugleich für die Demokratie in Osteuropa Norbert Gansel (SPD): Bitte sehr, Herr Präsident. und in der damaligen DDR demonst riert. Nicht we- nige von uns fürchteten nämlich, daß auch andere kommunistische Diktatoren versuchen würden, mit Dr. Klaus Rose (CDU/CSU) : Herr Kollege Gansel, der Gewalt des Militärs den Zug der Freiheit zum Ste- ich weiß zwar nicht, was der Herr Lengl in China hen zu bringen, der seine Fahrt gerade durch Osteu- - genau gemacht hat, aber darf ich Sie daran erinnern, ropa und die Sowjetunion begonnen und die DDR daß wir gemeinsam auf einer Reise junger Abgeord- erreicht hatte. neter im Jahre 1978 durch die Volksrepublik China innerhalb von zweieinhalb Wochen durchaus mit chi- Am 15. Juni 1989 erklärte die außenpolitische Spre- nesischen „Würdenträgern" zu tun hatten und daß Sie cherin der CDU/CSU im Bundestag — ich zitiere — : damals eine sehr positive Einstellung zu dem dortigen Nach diesem grausamen Massaker am eigenen System hatten? Volk, nach den Massenverhaftungen und dem unverhohlenen Aufruf zur Denunziation darf es Norbert Gansel (SPD): Ja, und es war für uns eine nicht bei rein formalen Protesten bleiben. Busi- große Überraschung und ein Entsetzen, daß wenige ness as usual muß ausgeschlossen bleiben, so- Wochen danach, als wir gesagt haben: Man kann über lange die grausamen alten Männer, die für das dieses China sagen, was man will, aber militaristisch brutale Vorgehen der chinesischen Soldaten ver- ist es nicht!, die kriegerischen Aktionen gegen Viet- antwortlich sind, an der Macht sind. nam begonnen wurden. Ich habe das öffentlich kriti- (Eckart Kuhlwein [SPD]: Wohl gesprochen!) siert und stehe auch zu dem, was ich in derselben Frau Geiger ist heute Parlamentarische Staatsse- Debatte mit Frau Geiger zusammen gesagt habe: Ich kretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zu- werde denen, an deren Händen Blut klebt, als Außen- sammenarbeit. Der beamtete Staatssekretär dessel- politiker nie die Hand geben, geschweige denn sie ben Ministeriums, Dr. Lengl, hat schon im Herbst ver- umarmen. gangenen Jahres China besucht und „business as (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ usual" gemacht: Exportförderung mit Hermes-Bürg- GRÜNE) 2010 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Gan- trag unverzüglich dem Parlament zur Ratifizierung sel, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? vorzulegen. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Norbert Gansel (SPD): Bitte sehr. GRÜNE) Es ist richtig, daß der Vertrag in bezug auf die deut- sche Minderheit in Polen mehr Absichtserklärungen Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Abge- als Garantien enthält. Aber wir setzen Vertrauen in ordneter Gansel, ist Ihnen bekannt, daß Staatssekre- die Entwicklung der polnischen Demokratie, die auch tär Lengl bei seiner China-Reise die dortige bedrük- die Minderheitenrechte der in Polen lebenden Deut- kende Menschenrechtssituation angesprochen hat schen wahren und entwickeln muß. Wir vertrauen auf und daß er möglicherweise in Kürze zu erwartende die europäische Orientierung Polens. Dieses Ver- Erfolge bei der Freilassung politischer Gefangener trauen wird um so stärker bestätigt werden, wie wir erzielt haben wird? Polen den Zugang zur Europäischen Gemeinschaft erleichtern können.

Norbert Gansel (SPD): Ich habe von den Dementis Zu einer wünschenswerten Normalität unserer Au- des Bundesministeriums für wirtschaft liche Zusam- ßenpolitik wird es auch gehören, den bilateralen Ver- menarbeit gelesen. Wer solche Dementis kennt, weiß, trag mit der CSFR möglichst rasch zustande zu brin- daß sie ihn mehr belasten als entlasten. Warum ver- gen. Die Verantwortung für das Aushandeln des Ver- teidigen Sie den falschen Mann? trages trägt die Bundesregierung, für seine Ratifizie- (Beifall bei der SPD) rung trägt sie das ganze Parlament. Auf den außenpolitischen Kongressen der CDU und Der Außenminister ist gut beraten, in der Vorberei- der CSU ist in den vergangenen Tagen viel davon tung dieses Vertrages mit den Sudetendeutschen zu geredet worden, Deutschland müsse auch in der Au- sprechen. Aber ihr Verband gehört so wenig an den ßenpolitik zur Normalität zurückkehren. Was heißt Verhandlungstisch wie der Freistaat Bayern. zurückkehren? Was heißt eigentlich Normalität? Nicht alle in der Union haben sich so nachdenklich geäußert (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ul rich wie heute der Kollege Stercken. Aber wenn der Be- Irmer [FDP]) griff der Normalität in der einen Sinn Außenpolitik Es gehört sich nicht — das sage ich an die Adresse haben soll, dann muß er, und zwar besonders für gewisser Pfingstredner aus den Unionsparteien —, Deutschland, vor allem Berechenbarkeit und Zuver- solches in anbiedernder Weise auf Vertriebenenkon- lässigkeit vermitteln. Für die Berechenbarkeit und gressen in Aussicht zu stellen. Zuverlässigkeit der Bundesrepublik ist es von ent- scheidender Bedeutung, daß wir unsere Verpflichtun- Im übrigen gibt es Anlaß, davor zu warnen, den gen aus dem Zwei-plus-Vier-Vertrag nach Geist und Vertrag mit Entschädigungsansprüchen zu überfrach- Buchstaben einhalten, also die Verpflichtungen aus ten. Das würde doch nur zu einer schlimmen Aufrech- jenem Vertrag, der uns völkerrechtlich die Einheit nerei führen. Allerdings kann erwartet werden, daß gebracht hat. die CSFR, soweit sie in der Aufarbeitung ihrer kom- Der Grenzvertrag mit Polen ist immer noch nicht munistischen Vergangenheit und bei der demokrati- ratifiziert. Der Vertrag über gute Nachbarschaft und schen Neugestaltung ihrer Wirtschaft alte Rechtsver- freundschaftliche Beziehungen ist noch nicht einmal letzungen durch generelle Regelungen für ihre unterzeichnet. Der Bundeskanzler lobt den Vertrags- Staatsbürger zu heilen versucht, die Sudetendeut- entwurf als einen Erfolg. Der stellvertretende CDU- schen einbezieht. - Fraktionsvorsitzende Hornhues erklärt ihn für unter- schriftsreif. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Dregger Meine Damen und Herren, für unsere Sicherheits- verlangt dagegen Konkretisierung des Vertragstex- politik gilt, daß sich die Bedrohung mit der Vereini- tes. Die CSU verlangt Nachverhandlungen und Zu- gung Deutschlands grundlegend verändert hat. Tat- sätze. Jetzt wird in den Regierungsparteien über eine sache ist, daß nach dem Abzug der sowjetischen Trup- interpretierende Entschließung des Deutschen Bun- pen aus der ehemaligen DDR sowjetische Armeen destages diskutiert — das alles, nachdem die Regie- nicht länger an den Grenzen zur Bundesrepublik ste- rung, aus denselben Personen und Parteien beste- hen. Ich empfinde die Anwesenheit von mehr als 300 000 hend, den Vertrag mit der polnischen Regierung aus- sowjetischen Soldaten in den neuen Bundes- gehandelt hat. ländern auch jetzt noch nicht als eine Bedrohung. Da geht es nicht um eine berechenbare und zuver- (Zuruf von der CDU/CSU: Aber als beruhi lässige Politik. Da geht es nicht um Normalität, son- gend auch nicht!) dern da wird das deutsch-polnische Verhältnis zum Gegenstand einer fast manischen politischen Profil- Aber niemand hat zu Mißverständnissen Anlaß, wenn neurose gemacht; der Bundesaußenminister trägt da- ich darauf hinweise, daß es unser primäres sicher- für die Verantwortung. heitspolitisches Interesse ist, daß diese Soldaten, wie in den deutsch-sowjetischen Verträgen vereinbart ist, (Beifall bei der SPD) die Bundesrepublik bis 1994 verlassen. Es gehört ja zu Die SPD-Bundestagsfraktion forde rt die Bundesre- den Absurditäten der Politik, daß wir in der alten Bun- gierung auf, den Freundschaftsvertrag mit Polen zu desrepublik vor dieser Armee mehr Angst hatten, als unterzeichnen und ihn zusammen mit dem Grenzver sie jenseits der Grenze stand, als heute im vereinten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2011

Norbert Gansel Deutschland, wo sie mitten auf unserem Ter ritorium Streitkräfte in Umfang, Doktrin, Struktur und ist. Ausrüstung so bemessen sein, (Volker Rühe [CDU/CSU]: Aber es ist jetzt (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: eine Armee mit einer ganz anderen Mis Ist das nicht zu naiv gedacht?) sion!) daß sie zur Landesverteidigung befähigt sind und In dem Jahr, in dem sich der von Hitler befohlene die Bündnisverpflichtungen erfüllen können. Sie Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjet- müssen so vermindert werden, daß Bedrohung union zum 50. Male jährt, muß es sich dabei um den von ihnen nicht ausgeht, sie jedoch weiterhin Beginn einer Rückkehr der sowjetischen Truppen in kriegsverhindernd wirken. ihre Heimat und nicht um einen Rückzug handeln. Wir Deutsche haben ein Interesse daran, daß die so- (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: wjetischen Armeen, die als Befreier und Besatzer ka- Das ist doch recht naiv!) men und Bündnispartner des unfreien Teils Deutsch- Wie ist die Lage im Bündnisgebiet? Das Territorium lands und eine Bedrohung der westlichen Sicherheit des NATO-Bündnisses hat mit der Sowjetunion nur waren, in Würde zurückkehren können. noch an den Flanken, in der Türkei und in Norwegen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie gemeinsame Grenzen. In Zentraleuropa ist es von der bei Abgeordneten der FDP und der PDS/ Sowjetunion durch die osteuropäischen Demokratien Linke Liste) getrennt. Es wäre zynisch, diesen Staaten wieder die Rolle eines Puffers zuzuschieben. Sie müssen sich Wir alle sind aufgerufen, daran mitzuwirken. Für die in eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur Zukunft des deutsch-sowjetischen Verhältnisses wird gleichberechtigt einfügen können. Die KSZE muß da- das von fundamentaler Bedeutung sein. für weiterentwickelt werden. Aber Tatsache ist, daß Ich hoffe, daß die Bundesregierung ihrer Verant- die Bedrohung des NATO-Gebiets der Mitte durch die wortung gerecht wird und die erforderliche Mischung nach Auflösung des Warschauer Pakts verbliebenen aus Sensibilität und Weitsicht aufbringen wird. Wenn sowjetischen Armeen drastisch zurückgegangen ist. es möglich ist, die Rückkehr der sowjetischen Trup- Es ist nicht erkennbar, daß etwa die Bedrohung an den pen noch schneller und reibungsloser zu organisieren, Flanken entsprechend gestiegen ist. so daß sie vor 1994 abziehen könnten, sollte uns das Es ist also Raum für konventionelle Abrüstungs- einiges wert sein. schritte, die weit über den im KSZE-Vertrag geschaf- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Dann müs- fenen Rahmen hinausgehen könnten und unseren sen Sie dem Haushalt zustimmen!) Völkern endlich die Friedensdividende gewähren könnten. Jede Mark, die zu diesem Zweck ausgegeben wird, ist zehnmal besser in unsere Sicherheit investiert als bei (Beifall bei der SPD) der Beschaffung neuer Panzer und Kampfflugzeuge. Als eine Bedrohung bleibt allerdings das atomare (Beifall bei der SPD) Arsenal der Sowjetunion, das im Verlauf der Erosion Meine Damen und Herren, für uns Sozialdemokra- alter Strukturen noch an Gefährlichkeit gewinnen ten sind Streitkräfte nicht Selbstzweck oder gar Mani- kann. Diese Bedrohung ist nur durch einschneidende festation eines Mythos „nationaler Souveränität". Auf Abrüstungsvereinbarungen über Atomwaffen zu re- dem Bremer Parteitag haben wir eine alte Grund- duzieren. Die Bundesregierung hätte sich deshalb bei überzeugung der Sozialdemokraten bekräftigt — ich der vor wenigen Tagen abgehaltenen Frühjahrsta- zitiere — : gung der NATO-Verteidigungsminister für eine reali- stische Bedrohungsanalyse und für neue Abrüstungs- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist al- initiativen einsetzen müssen. Sie hat kläglich ver- lerdings wahr!) - sagt. Wir erstreben eine Weltordnung, in der Kriegs- (Beifall bei der SPD) handlungen geächtet und unterbunden werden und die Vereinten Nationen das internationale Es ist unbegreiflich, daß die NATO ihre Ankündigung Gewaltmonopol erhalten. vom Londoner Gipfel, Abrüstungsverhandlungen über nukleare Kurzstreckenwaffen kurz nach der Un- Nationale Armeen durch eine mit Machtmitteln verse- terzeichnung eines KSE-Abkommens aufzunehmen, hene internationale Rechtsordnung überflüssig zu sechs Monate später noch immer nicht wahr gemacht machen bleibt eine Vision, die wir das erste Mal im hat. Die Position der SPD ist klar. Wir wollen den Godesberger Programm beschworen haben. Abzug sämtlicher Nuklearwaffen auch aus dem west- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ihr Grund- lichen Teil Deutschlands erreichen. Es stimmt hoff- satz war: Wasch mir den Pelz, aber mach nungsvoll, daß Amerikaner und Sowjets bei ihren mich nicht naß!) Verhandlungen über die Reduzierung ihrer strategi- schen Nuklearwaffen in diesen Tagen endlich vor ei- Diese Vision wird uns leiten, auch dort, wo für die ner Einigung stehen; aber es ist beängstigend, daß Gegenwart praktische Entscheidungen getroffen wer- Europa mit Zehntausenden Nuklearwaffen kurzer den müssen. Wir haben deshalb in Bremen beschlos- Reichweite vollgestopft ist, ohne daß Initiativen zu sen — ich zitiere — : ihrer Beseitigung ergriffen werden. An Stelle von Ab- Deutschland wird auf absehbare Zeit Streitkräfte rüstungsvorschlägen enthält das Kommuniqué der zur Verteidigung brauchen. Ziel ist es, sie über- NATO-Verteidigungsminister — ich bitte, es Herrn flüssig zu machen. Bis dahin müssen deutsche Stoltenberg zu sagen, wenn er nicht gelesen hat, was 2012 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Norbert Gansel er beschlossen hat — die alte Standardformel, nach Bedauern die Regierungsparteien tatsächlich, daß der an substrategischen Nuklearwaffen festgehalten deutsche Soldaten am militärischen Sieg über Sad- werden soll, die — ich zitiere — „auf dem gebotenen dam Hussein nicht beteiligt waren, daß — zugespitzt Stand gehalten werden, wo dies erforderlich ist. " Da- formuliert — Reservisten nicht eingezogen und in den hinter verbergen sich Modernisierungspläne, die wir Krieg am Golf geschickt werden konnten, daß die auf das entschiedenste bekämpfen werden. Luftwaffe nicht mitgebombt hat? Denn das alles hätte doch dazugehört. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch gar Geradezu absurd muß die Absicht erscheinen, im We- nicht die Frage!) sten Deutschlands neue Luft-Boden-Raketen mit ei- ner Reichweite von 1 000 Kilometern zu stationieren. Herr Genscher, ich kann mir eigentlich nicht vor- Wer an Stelle der gerade abgeschafften bodenstatio- stellen, daß Sie das gewollt haben. Aber eine Bundes- nierten nuklearen Mittelstreckenraketen luftgestützte regierung, die während des Krieges die Verfassung Nuklearraketen derselben Reichweite einführen will, als Versteck ihrer wahren Absichten benutzt und nach hat aus Geschichte und Gegenwart nichts gelernt. Wir dem Krieg ihre heimlichen Wünsche offenbart, ver- warnen die Bundesregierung, sich auf solche Pläne dient weder internationales noch nationales Ver- einzulassen. Sie würde die NATO damit einer neuen trauen. Belastungsprobe aussetzen, die wir dem Bündnis er- (Beifall bei der SPD) sparen wollen. Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen Meine Partei hat in Bremen unterstrichen, daß die werden gänzlich unglaubwürdig, wenn sie nun eine Bundeswehr befähigt bleiben muß, die Bündnisver- Verfassungsergänzung zugunsten von friedenserhal- pflichtung zu erfüllen. Das gilt für die Bündnisver- tenden Missionen der Vereinten Nationen ablehnen pflichtung, die die Bundesrepublik bei der Unter- wollen, und zwar weil sie ihnen nicht weit genug zeichnung des NATO-Vertrages auf sich genommen geht. hat. Der NATO-Vertrag schließt wie das Grundgesetz Wahrscheinlich ist, daß sich die UNO erneut an die jeden Einsatz von Streitkräften im Rahmen der Bundesregierung wenden wird, um eine deutsche Be- NATO zu anderen Zwecken als denen der Verteidi- teiligung an Blauhelm-Einsätzen zu erbitten. Will die gung aus. Jeder Versuch der NATO, eine militärische Bundesregierung — wie in der Vergangenheit — sol- Aufgabe out of area, also außerhalb des Bündnisberei- che Beteiligungen mit dem Hinweis auf das Grundge- ches, zuzuweisen, wird auf unseren entschiedenen setz ablehnen, obwohl die Opposition bereit ist, an Widerstand stoßen. einer notwendigen Verfassungsänderung mitzuarbei- (Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung ten? Kann eine Position des Alles oder Nichts wirklich [CDU/CSU]: Ausgewichen sind Sie!) verantwortet werden, wenn es um friedenserhaltende Die Bundesregierung muß wissen, worauf sie sich ein- Missionen und um die Stärkung der Vereinten Natio- läßt, wenn mit ihrer Zustimmung die Eingreiftruppen, nen geht? die jetzt innerhalb der NATO zur höheren Beweglich- Friedenserhaltende Missionen unter den Blauhel- keit und zum besseren Schutz der Flankenstaaten ge- men gehören zu den großen Leistungen der UNO, bildet werden, so organisiert und mit solch politischer ohne die es auf unserer Welt mehr Krieg und mehr Begleitmusik versehen werden, daß der Eindruck ent- Elend geben würde. Die Zukunft wird der UNO mehr stehen muß, daß hier schnelle Eingreiftruppen für Ein- abverlangen. sätze außerhalb des Bündnisgebietes geschaffen wer- Wir Sozialdemokraten haben auf unserem Bremer den sollen. Die Beteiligung von Bundeswehreinheiten Parteitag eine Initiative für eine UNO der zweiten an solchen Einsätzen wäre verfassungswidrig. Generation beschlossen, mit der die UNO ihrer Auf- Auf dem Bremer Parteitag ist die SPD für eine Er- gabe der kollektiven Sicherheit nicht nur im militäri- gänzung des Grundgesetzes eingetreten, die es der schen Sinn gerecht werden kann. Bundesrepublik möglich machen würde, einzelne Wir werden dazu einen Beitrag leisten. Er be- Bundeswehreinheiten für friedenserhaltende Maß- schränkt sich nicht auf Blauhelme der Bundeswehr nahmen der Vereinten Nationen zur Verfügung zu und auch nicht auf ein Friedenskorps, das Soldaten stellen. Für die CDU/CSU und neuerdings auch für und anderen Helfern bei Einsätzen nach Natur- oder die FDP ist das Ja der SPD zu Blauhelm-Einsätzen Zivilisationskatastrophen, bei großen Flüchtlingsbe- nicht ausreichend. Sie verlangen auch ein Ja zur Ver- wegungen und Hungersnöten die Bewährung, im fassungsergänzung, die die Beteiligung der Bundes- Ernstfall Frieden abverlangen würde. wehr an Aktionen unter der Führung der amerikani- schen Supermacht auf der Grundlage von UNO-Be- In diesem Bereich aber stellt sich zuerst eine ge- schlüssen wie im Golfkrieg ermöglicht. Ich frage mich, wachsene Verantwortung für Deutschland; in diesem warum die Regierungsparteien eine solche Verfas- Bereich müßten Regierung und Opposition zu einem sungsänderung nicht während des Golfkrieges vorge- Konsens kommen können, und zwar jenseits ihrer schlagen haben, als die Bundesregierung wegen der fundamentalen Meinungsunterschiede über welt- militärischen Abstinenz der Bundesrepublik erhebli- weite militärische Einsätze der Bundeswehr. chem Druck befreundeter Regierungen ausgesetzt (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Dazu ist die war. Lag es nur an der ablehnenden Haltung der Op- Opposition nicht in der Lage!) position, oder lag es daran, daß man die öffentliche Jetzt ist die Bundesregierung, jetzt sind die Regie- Meinung in der Bundesrepublik fürchtete? rungsparteien gefordert. Ich warne Sie: Verweigern (Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!) Sie sich nicht der Realität der Friedensarbeit, damit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2013

Norbert Gansel wir gemeinsam helfen können, die Eventualität des Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir An- Krieges zu bannen. Das ist die Normalität, die nicht laß haben, den Staaten der Europäischen Gemein- nur die Welt, sondern auch die Deutschen vom verein- schaft dafür zu danken, daß sie die neuen Bundeslän- ten Deutschland erwarten. der, das vereinte Deutschland ohne Neuverhandlun- (Beifall bei der SPD) gen zugleich auch in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen haben und durch eine großzügige Hilfe dazu beitragen, daß wir die schwere Erblast des Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat der Sozialismus in den neuen Bundesländern überwinden Bundesaußenminister, Hans-Dietrich Genscher. können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Aus- wärtigen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, ge- men und Herren! Der Deutsche Bundestag berät statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten heute den Bundeshaushalt für das vereinte Deutsch- Modrow? land und für das — was gelegentlich in den letzten Monaten übersehen wurde — seit dem 15. März 1991 auch voll souveräne Deutschland. Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Aus- wärtigen: Bitte sehr! Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Frage der Konsequenzen der deutschen Einheit und der vollen Souveränität für die deutsche Außenpolitik ge- Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste): Herr Außen- stellt und verantwortet werden muß. Auch für das ver- minister, wie bewerten Sie die von der schleswig-hol- einte Deutschland bleibt das maßgeblich, was das steinischen Finanzministerin im Fernsehen abgege- Grundgesetz uns aufträgt: als gleichberechtigtes bene Erklärung, daß ein Beamter der Bundesrepublik Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Deutschland eine „Buschprämie" in Höhe von Welt zu dienen. 2 000 DM erhält, wenn er in die neuen östlichen Län- Dieser Form der Normalität haben wir schon immer der zum Einsatz geht? genügt. Alle anderen, darüber hinausgehenden Be- trachtungen über Normalität möchte ich mit dem glei- Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Aus- chen Unbehagen zurückweisen, wie das der Kollege wärtigen: Herr Abgeordneter Modrow, ich weiß nicht, Stercken hier soeben überzeugend getan hat; ich ob die Frau Kollegin aus Schleswig-Holstein das ge- möchte Herrn Gansel gern einschließen, wenn er die- sagt hat. Mein Wort wäre es aber nicht. Aber ich bin ses Unbehagen teilt. dafür, daß wir alles tun, um möglichst viele Beamte zu Meine Damen und Herren, als gleichberechtigtes gewinnen, die bereit sind, auf Zeit in die neuen Bun- Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der desländer zu gehen, damit dort endlich eine funk- Welt dienen ist das Gegenteil von Machtstreben. Ver- tionsfähige Verwaltung die großen materiellen Lei- antwortung aber bedeutet das schon, und zwar grö- stungen wirksam werden läßt, die wir für den Aufbau ßere Verantwortung, weil das vereinte Deutschland in den neuen Bundesländern gemeinsam aufbrin- von der Last seiner Teilung frei geworden ist und weil gen. die Politik der Bundesrepublik Deutschland in ihren (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) alten Grenzen wesentlich dazu beigetragen hat, daß Europa und die Welt von den Belastungen des West- Meine Damen und Herren, die erhöhte Verantwor- Ost-Konflikts frei geworden sind. tung Deutschlands drückt sich in unserer Mitwirkung an der Fortentwicklung unserer Europäischen Ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) meinschaft hin' zur europäischen Union aus. Es ist Deutschland braucht sich seiner Beiträge zur Ent- unbestreitbar, daß diese Europäische Gemeinschaft wicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte in Europa von den Völkern Mittel- und Osteuropas heute als die nicht zu schämen. große Hoffnung für ihre eigene europäische Zukunft (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der empfunden wird. Deshalb müssen wir als Deutsche SPD) gerade als Ausdruck unserer größeren Verantwortung im vereinten Deutschland die Anwälte Mittel- und Die Menschen in beiden Teilen Deutschlands haben Osteuropas bei der Annäherung an die Europäische es nach ihren jeweiligen Möglichkeiten getan, die Gemeinschaft und auch bei der Erfüllung ihres Wil- Deutschen in der früheren DDR durch ihren unbeirr- lens zur Mitgliedschaft in dieser Europäischen Ge- baren Willen zu Freiheit und Einheit, den sie letztlich meinschaft sein. in einer für unsere Geschichte schicksalhaften Frei- heitsrevolution durchgesetzt haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich kann Ihnen sagen, daß meine Kollegen, mit de- nen ich am Sonntag und am Montag in Dresden zu- Deshalb, Herr Kollege Modrow: Es war kein An- sammen war, tief davon beeindruckt waren, daß sich schluß, sondern die Entscheidung für Freiheit und die Landesregierungen derjenigen beiden neuen Einheit, eine Entscheidung, deren Tragweite wir auch Bundesländer, die der Tschechoslowakei und Polen in den Auswirkungen für die Menschen in den neuen unmittelbar benachbart sind, nicht nur über ihr eige- Bundesländern sehr wohl kennen. nes Schicksal Gedanken machen, sondern daß sie (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Bei einem auch ihre regionale Brückenfunktion zu den benach- Anschluß wäre Modrow gar nicht hier!) barten Regionen in Polen und in der Tschechoslowa- 2014 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher kei erkennen und diese europäische Herausforderung des Warschauer Paktes als westliches Bündnis auch annehmen. durch bilaterale Beziehungen, durch Begegnungen, durch Kontakte und auch durch Parlamentarierbe- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gegnungen dazu beitragen können, daß das westliche Hier wird wahr, was wir Deutschen immer gesagt Bündnis als Stabilitätsfaktor vertrauensbildend sein haben: Die deutsche Einheit wird auch der Schlüssel Verhältnis zu allen Staaten östlich von uns in Europa, zur Vereinigung des ganzen Europa werden. Aber sie die Sowjetunion eingeschlossen, gestaltet. Das ist ein wird diese Schlüsselfunktion nur erfüllen können, wichtiger Beitrag zu den kooperativen Sicherheits- wenn sie gleichzeitig die Handlungsfähigkeit der Eu- strukturen, die in Europa entstehen müssen und in ropäischen Gemeinschaft verstärkt. denen die Staaten, die den Warschauer Pakt verlassen haben, ihre Sicherheit suchen und auch finden wer- Wir werden in Europa zu einer neuen Stabilität den. kommen, wenn wir uns über den Inhalt dieser Stabi- lität einig sind. Die Grundlagen wirklicher Stabilität in (Zuruf von der SPD: Wozu dann neue Atom einem Europa der Zukunft, wie es die Charta von waffen?) Paris vorsieht, sind für uns die Achtung der Men- — Im Augenblick geht es darum, daß wir die Atom- schenrechte, des Selbstbestimmungsrechts der Völ- waffen, Herr Kollege Glotz, die hier stationiert ker und der Minderheitenrechte. Das bedeutet wirt- sind — — Ich weiß nicht, wer den Zwischenruf ge- schaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit. macht hat. Wenn Sie sich, wer immer ihn gemacht hat, Das bedeutet auch ökologische Stabilität, und es be- davon distanzieren, sehe ich das gerne. deutet sicherheitspolitische Stabilität. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Erst alles das zusammengenommen macht Stabilität Es geht im Augenblick darum, die nukleare Artillerie in einem qualitativen Sinne aus und unterscheidet und die landgestützten Kurzstreckenraketen in Eu- sich damit von der Unterdrückungsstabilität, die Sta- ropa zu beseitigen. Sie haben keinen Platz mehr hier bilität vorgibt, während sie bereits die ersten Zeichen bei uns, aber sie haben auch keinen Platz mehr im künftiger revolutionärer Entwicklungen vorausahnen europäischen Teil der Sowjetunion. Deshalb wollen läßt. Es geht dabei immer um die Revolution für die wir, daß auch über diese Frage verhandelt wird. Freiheit und gegen die Unterdrückung. Das gilt nicht nur für Europa, das gilt für die ganze Welt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, es ist nicht verwunder- lich, daß das westliche Bündnis in diesen Monaten Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, darüber spricht, wie sich seine Strategie angesichts gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen der grundlegend veränderten Lage in Europa verän- Gansel? dern muß. Die Außenminister werden sich morgen und übermorgen in Dänemark damit befassen. Die abschließenden Entscheidungen über die künftige Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Aus- Strategie werden auf dem NATO-Gipfel gegen Ende wärtigen: Ich würde jetzt gern fortfahren — — dieses Jahres gefällt werden. (Norbert Gansel [SPD]: Ah!) Aber schon heute können wir sagen, daß das west- — Wenn Ihnen das einen solchen Lustgewinn berei- liche Bündnis als Faktor der Stabilität für ganz Europa tet, Herr Gansel, dann mal zu. auch in Zukunft eine bedeutsame Rolle erfüllen wird. Es wird eine bedeutsame Rolle erfüllen, die vielleicht (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der schärfer als von manchen in Westeuropa gerade von CDU/CSU) unseren unmittelbaren Nachbarn in Osteuropa und Mittelosteuropa erkannt wird. Für mich ist unvergeß-- lich, daß der tschechoslowakische Staatspräsident Norbert Gansel (SPD): Herr Bundesaußenminister, Havel, als er den NATO-Rat besuchte, seine Rede werden Sie in diesem Sinne auf der morgen stattfin- damit begann, daß er sagte: Ich distanziere mich von denden Außenministerkonferenz der NATO-Staaten den Verleumdungen, die meine Vorgänger über Ihr eine Initiative der Bundesregierung zur Abschaffung Bündnis und seine Absichten verbreitet haben. der atomaren Artillerie und Kurzstreckenraketen vor- legen, oder ist das nur ein Kommentar? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, dieses Bündnis war nie Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Aus- eine Bedrohung für andere Staaten. wärtigen: Herr Kollege, Sie sollten mich gut genug kennen, um zu wissen, daß ich einen Vorgang selbst (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) dann, wenn ich ihn nur kommentiere, damit in mei- Es ist auch heute keine Bedrohung. Es wird auch mor- nem Sinne beeinflusse. Das ist ja eine gewisse Mei- gen keine Bedrohung sein. Dieses Bündnis sucht sterschaft, die mir nachgesagt wird. heute nach Beziehungen der Partnerschaft zu allen (Heiterkeit — Dr. Peter Glotz [SPD]: Sie sind seinen Nachbarn im Osten, nicht nur zu den Demo- heute gut drauf!) kratien Mittel- und Südosteuropas, sondern auch zur —Ich weiß nicht, wie es kommt. Es mag daran liegen, Sowjetunion. daß der Kollege Waltemathe zuerst erklärt hat, daß Sie Es wird morgen ein wichtiger Beitrag in unseren diesmal den Haushalt ablehnen wollen, aber dann Diskussionen sein, wie wir gerade nach der Auflösung doch nicht verschwiegen hat, daß es ihm eigentlich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2015

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher leid tut. Das hat mich menschlich angerührt und des- chen Stärke Hilfe leisten können, dann tragen wir halb bin ich gut drauf. auch zu europäischer und weltweiter Stabilität bei. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD Wir sehen eine erhöhte deutsche Verantwortung auch — Norbert Gansel [SPD]: Kommt noch eine in der Überzeugungsarbeit, die wir bei vielen unserer Antwort?) westlichen Partner zu leisten haben. — Ich habe Ihnen schon eine Antwort gegeben, näm- Die vor uns liegende KSZE-Außenministerkonfe- lich die, daß wir natürlich dafür eintreten, daß diese renz — ich bin froh darüber, sagen zu können, daß sie Waffen so schnell wie möglich verschwinden. Wir in Berlin stattfindet —, wollen aber auch durch Verhandlungen erreichen, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der daß die landgestützten Kurzstreckenraketen und die CDU/CSU) nukleare Artillerie nicht nur aus diesem Teil Europas verschwinden, sondern auch aus dem anderen Teil wird ein wichtiger Beitrag sein, um nun auf der Europas. Wir nehmen auf diese Weise mit solchen Grundlage der Charta von Pa ris nicht nur die Fragen Verhandlungen übrigens auch die Sicherheitsinteres- der Konfliktverhütung und Konfliktschlichtung in Eu- sen unserer unmittelbaren östlichen Nachbarn wahr, ropa voranzubringen, sondern auch um kooperativen die ja noch in der Reichweite sowjetischer Kurzstrek- Sicherheitsstrukturen den Weg zu bereiten und kenraketen liegen. gleichzeitig die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das bedeutet auch, daß wir mehr und mehr das Ich habe keinen Zweifel, daß die Sowjetunion, die sich ganze Europa als einen Wirtschaftsraum verstehen, zu neuen Sicherheitsstrukturen in Europa bekennt, als einen Ökologieraum begreifen, daß wir gesamteu- diesen Weg mit uns gehen wird. ropäische Verkehrsstrukturen schaffen, daß wir einen gesamteuropäischen Energieverbund schaffen und Meine Damen und Herren, es wird in diesen Tagen daß wir einen gesamteuropäischen Kommunikations- und Wochen in der Welt sehr viel darüber gesprochen, raum schaffen. Denn nur dann, wenn Europa auch auf wie es mit der Entwicklung in der Sowjetunion wei- diese Weise zusammenrückt, werden unsere Hilfs- tergehen wird. Wenn wir den ersten Haushalt des ver- und Unterstützungsmaßnahmen für die Reformpolitik einten Deutschlands zu beraten haben, dann sollten in Mittel- und Osteuropa und in der Sowjetunion ihre wir zu allererst feststellen, daß die neuen Entwicklun- volle Wirksamkeit entfalten können. gen in der Sowjetunion, wie sie von Gorbatschow ein- Die größere Verantwortung des vereinten Deutsch- geleitet worden sind, dazu geführt haben, daß wir den lands wird sich auch darin ausdrücken, daß wir zu ersten Haushalt eines vereinten Deutschlands beraten einer größeren und stärkeren Rolle der Vereinten können. Nationen beitragen, zu einer verstärkten Rolle, die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie zuallererst die neugewonnene Kooperations- und bei Abgeordneten der SPD) Handlungsfähigkeit nutzt, um politische Lösungen möglich zu machen, um die Verantwortung der Ver- Weil das so ist, vertraue ich darauf, daß wir auch in einten Nationen für die Überwindung der schwerwie- den Fragen der Sicherheitspolitik den Weg weiterge- genden ökonomischen Nord-Süd-Probleme und da- hen können, der die Bedrohungselemente in Europa mit unmittelbar zusammenhängend auch der welt- zugunsten kooperativer Strukturen der Sicherheit ab- weiten Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen baut, in denen unser Bündnis eine wichtige Rolle spie- zu erkennen, und um das Instrumenta rium der Ver- len wird. einten Nationen für Hilfsmaßnahmen zu stärken. Ich fand es beschämend, daß es leichter war, in wenigen Wir werden dabei umso erfolgreicher sein, je stär- Wochen 500 000 Soldaten nach Saudi-Arabien, als ker die westlichen Staaten erkennen, daß der Erfolg wenige Hundert Menschen zur Hilfe nach Bangla- auch der ökonomischen Reformpolitik in Mittel- und desch zu bringen. Das darf sich nicht wiederholen. Osteuropa sowie in der Sowjetunion ein wichtiger Bei- trag dazu ist, daß die politischen Reformen erfolg- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD reich fortgesetzt werden können. Das ist der Grund, und dem Bündnis 90/GRÜNE) warum sich die Bundesregierung dafür einsetzt, daß Deshalb ist es notwendig, daß die Mitgliedstaaten die Sowjetunion beim Weltwirtschaftsgipfel vertreten der Vereinten Nationen ihre Möglichkeiten für Hilfe sein wird. bei Katastrophen der verschiedensten Art den Verein- Meine Damen und Herren, nicht nur für die wirt- ten Nationen melden, daß dort ein Register über die schaftliche Entwicklung in Europa — wer wüßte das Ressourcen — über die menschlichen und die techni- besser als die Deutschen in den östlichen Bundeslän- schen — geschaffen wird und daß ein mit großer Auto- dern, die traditionelle Handelsbeziehungen mit der rität ausgestatteter Bevollmächtigter des Generalse- Sowjetunion kennen — , sondern auch für die gesamte kretärs in jedem einzelnen Katastrophenfall diese ein- weltwirtschaftliche Entwicklung und damit für die po- zelnen Hilfsmaßnahmen zweckmäßig und koordiniert litische Stabilität ist es von größter Bedeutung, ob die abrufen und einsetzen kann. schwerwiegenden ökonomischen Probleme in der Wir müssen dafür sorgen, daß das Recht, das sich Sowjetunion überwunden werden können. Wenn wir hier in Europa letztlich durchgesetzt hat, das Recht dabei zur Durchsetzung eines richtigen, eines markt- der einzelnen und der Völker, auch weltweit durchge- wirtschaftlichen Konzeptes mit unserer wirtschaftli- setzt werden kann. Das verlangt, daß die Menschen- 2016 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher rechte weltweit durchgesetzt werden und daß wir mit dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Bei Stim- einem Menschenrechtsgerichtshof der Vereinten Na- menthaltung der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE tionen eine Instanz schaffen, an die sich jeder wenden (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Mit einer kann, der sich in seinem elementaren Menschenrech- Person!) ten verletzt fühlt. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD ist dieser Änderungsantrag abgelehnt. und dem Bündnis 90/GRÜNE) Wer stimmt für den Einzelplan 05 — Geschäftsbe- Die Vereinten Nationen werden sich nicht länger reich des Auswärtigen Amtes — in der Ausschußfas- ernst nehmen können, wenn sie nicht auch eine Insti- sung? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltun- tution schaffen, vor der Menschen angeklagt werden gen? — Bei Gegenstimmen aus den beiden Gruppen können, die für Völkermord, Umweltverbrechen oder und der SPD ist dieser Einzelplan angenommen. Kriegsverbrechen verantwortlich sind. Lassen Sie uns Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zu: auch hier Vorkämpfer des Sieges des Rechts im welt- weiten Maßstab sein! Einzelplan 14 (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Geschäftsbereich des Bundesministers der und dem Bündnis 90/GRÜNE — Norbert Verteidigung Gansel [SPD]: Deshalb muß man Herrn Lengl — Drucksachen 12/514, 12/530 — in die Wüste schicken!) Berichterstatter: Herr Kollege Gansel, Sie haben auch ein Wort zu Abgeordnete Hans-Gerd Strube dem notwendigen Gewaltmonopol gesagt, das die Hans-Werner Müller (Wadern) Vereinten Nationen haben müssen. Ich stimme Ihnen Kurt J. Rossmanith zu. Das muß dann auch die Konsequenz haben, daß Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) dieses Monopol durchgesetzt werden kann. Carl-Ludwig Thiele (Beifall bei der FDP — Siegfried Hornung Rudi Walther [CDU/CSU]: Da hört es bei der SPD auf!) Horst Jungmann (Wittmoldt) Ich denke, daß wir in großem Ernst darüber zu spre- Einzelplan 35 chen haben, wie wir in unserer Verfassung die Vor- aussetzungen dafür schaffen, daß wir auch in dieser Verteidigungslasten im Zusammenhang mit Beziehung unsere Verantwortung übernehmen kön- dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte nen — Drucksache 12/522 — Meine Damen und Herren, eines steht schon heute Berichterstatter: fest: Das größer gewordene Deutschland sieht seine Abgeordnete Dr. Emil Schnell Verantwortung in der Verwirklichung der Grund- Dr. Klaus-Dieter Uelhoff werte unseres Grundgesetzes nach außen. Seine Au- ßenpoliltik wird von diesen Grundwerten geleitet, Zum Einzelplan 14 liegt ein Änderungsantrag der und diese stützen sich auf Freiheit und Menschen- SPD auf Drucksache 12/659 vor. rechte. Ich denke, daß das Verfassungsgebot unseres Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Grundgesetzes, in einem vereinten Europa dem Frie- die gemeinsame Aussprache eine Stunde und fünf- den der Welt zu dienen, eine unverrückbare Richt- zehn Minuten vorgesehen. — Ich höre und sehe kei- schnur jeder deutschen Außenpolitik sein muß. nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich danke Ihnen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Abgeordnete Horst Jungmann. bei Abgeordneten der SPD) (Unruhe)

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich (Wittmoldt) (SPD): Herr Präsident! schließe die Aussprache. Horst Jungmann Meine Damen und Herren! Der Außenminister ist ge- Wir kommen zur Abstimmung. Ich lasse zunächst rade gegangen. abstimmen über den Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/639. Wer (Zurufe von der FDP: Nein!) stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt — Entschuldigung! Ich hatte ihn nur auf der Regie- dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei Zustimmung rungsbank vermutet. der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Er (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Einer! — ist auch Abgeordneter!) Zuruf von der CDU/CSU: Zwei Leute!) Herr Außenminister, ich wollte Ihnen zum Abstim- und Enthaltung bei der Gruppe PDS/Linke Liste ist mungsverhalten meiner Fraktion nur folgendes sa- dieser Änderungsantrag abgelehnt. gen: Wenn Sie nur einen Teil dessen, was Sie hier an Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag der starken Ankündigungen vorgetragen haben, bis zur Fraktion der SPD auf Drucksache 12/658 ab. Wer nächsten Haushaltsberatung auf den Weg gebracht stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt haben, dann können Sie sicher sein, daß wir beim Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2017

Horst Jungmann (Wittmoldt) nächsten Mal unser Abstimmungsverhalten wieder in gungsministeriums eine Bedrohung der Bundesrepu- eine andere Richtung überdenken. blik Deutschland nicht mehr erkennen können, nicht klarmachen können, Herr Minister, warum Sie in die- (Beifall bei der SPD — Siegf ried Hornung sem Jahr Munition für 2,1 Milliarden DM beschaffen [CDU/CSU]: Das ist eine billige Ausrede!) wollen. Ich denke, hier ergibt sich ein Streichungs- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu Be- potential. ginn meiner Ausführungen vor allen Dingen den Sol- daten der Bundeswehr danken, die sich bei der Ein- Sie werden der deutschen Bevölkerung auch nicht gliederung und Auflösung der ehemaligen NVA ein- klarmachen können, daß Sie, obwohl wir uns im Rah- gesetzt haben und die den Aufbau der Bundeswehr men der Abrüstungsverhandlungen dazu verpflichtet Ost unter erheblichen Schwierigkeiten vollziehen. haben, Kampfpanzer und gepanzerte Kampffahr- zeuge zu verschrotten und abzubauen, weiterhin für (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten über 1,6 Milliarden DM gepanzerte Kampffahrzeuge der CDU/CSU) und neue Kampfpanzer Leopard 1 beschaffen sowie Mein besonderer Dank gilt vor allen Dingen den Kampfwertsteigerungen beim Leopard 1 vornehmen Soldaten und zivilen Helfern, die durch ihren selbst- wollen. Hier ergibt sich aus unserer Sicht ein weiteres losen Einsatz helfen, die Not des kurdischen Volkes zu Streichungspotential. lindern. Ich versäume es auch nicht, den Marinesolda- Wenn ich mir gerade auf Grund der neuen Entwick- ten am Golf zu danken, die — obwohl das aus unserer lung in Richtung neuer sicherheitspolitischer Konzep- Sicht verfassungspolitisch ja sehr bedenklich ist — mit tionen den Bereich der Wehrforschung, der wehrtech- ihrem Einsatz auf den Minensuchbooten dort die Fol- nischen Entwicklung und sonstigen Erprobung und gen des Golfkrieges beseitigen helfen. Erforschung im wehrtechnischen Bereich ansehe, ist (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten festzustellen, daß Sie in diesem Jahr mehr als 3 Milli- der CDU/CSU) arden DM ausgeben wollen. Ich danke auch den Mitarbeitern des Verteidi- Hier darf natürlich der obligatorische Jäger 90 nicht gungsministeriums und meinen Kollegen Mitbericht- fehlen. 800 Millionen DM für ein überflüssiges Waf-- erstattern für die gute Zusammenarbeit. Ich denke, fensystem — das müssen Sie sich einmal vorstellen: wir werden die Beratung dieses Haushalts gemeinsam 800 Millionen DM für ein überflüssiges Waffensy- zum Wohle der Menschen in der Bundeswehr und in stem! —, sind den Bürgerinnen und Bürgern in unse- der Bundesrepublik Deutschland zu Ende bringen. rem Land nicht mehr klarzumachen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und zu (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Bisher hat stimmen werden Sie auch?) es uns den Frieden gesichert!) — Herr Kollege, da Sie ja Vorsitzender des Landwirt- Schon zum Zeitpunkt der Entscheidung der Bundes- schaftsausschusses sind, sind Sie, denke ich, Wehr- regierung über die Beschaffung dieses Waffensystems experte und wissen, wie wir stimmen werden. war die Bedrohungssituation nicht so, daß das not- (Heiterkeit bei der SPD — Siegf ried Hornung wendig gewesen wäre. [CDU/CSU]: Ich bin immerhin auch Mitglied (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: des Verteidigungsausschusses!) Wann kommen endlich mal neue Argu- Lassen Sie uns unser Stimmverhalten allein bestim- mente?) men, und Sie bestimmen das Ihre. Warum wollen Sie um keinen Preis zur Kenntnis Der Bundesverteidigungsminister hat einen Ent- nehmen, daß sich die sicherheitspolitische Lage in wurf in Höhe von 52,5 Milliarden DM vorgelegt. Er Europa grundlegend geändert hat? Worin sehen Sie wollte Verpflichtungsermächtigungen für die näch- nach der Auflösung des Warschauer Pakts noch die sten vier Jahre in Höhe von ca. 18 Milliarden DM militärische Bedrohung, um dieses Mammutprojekt, durchsetzen; das ist ihm nicht gelungen. Er beklagt in das ja nicht mit 800 Millionen DM in einem Jahr abge- der Öffentlichkeit, daß das Geld für die Aufgaben, die tan ist, sondern das im Endeffekt 100 Milliarden DM er zu erfüllen hat, nicht ausreicht. Er hat sich also in kosten wird, zu rechtfertigen? der Bundesregierung nicht durchgesetzt. Er hat, wenn es so sein sollte, auch die Haushälter der Koalitions- (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: fraktionen durch sein Gejammer nicht überzeugt; Wie rechnen Sie denn das?) denn sie haben ihm noch magere 65,3 Millionen DM Wer soll diese Politik noch verstehen: auf der einen aus seinem Etat gestrichen. Seite Steuern erhöhen und auf der anderen Seite Mil- (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: lionen und Milliarden verpulvern in sinnlose Rü- Immerhin!) stungsvorhaben? — Herr Kollege Müller, auf Sie komme ich nachher (Beifall bei der SPD) noch in einer besonderen Passage zu sprechen. Dem Deutschen Bundestag liegt hierzu übrigens Wenn man jedoch diesen Etat durchforstet, dann eine Petition vor. Sie läßt sich nicht so einfach erledi- wird man feststellen, daß der erste gesamtdeutsche gen, wie die Koalitionsfraktionen das wollen, indem Haushalt des Verteidigungsministers mit rund man sie nämlich an die Fraktionen überweist und sie 52,5 Milliarden DM weitere Spielräume zur Kürzung dann in den Fraktionsschubladen der FDP und der bietet. Sie werden der deutschen Bevölkerung in die- CDU verschwindet, obwohl die FDP nach außen hin ser Situation, in der selbst Experten des Verteidi immer etwas anderes sagt. Die SPD-Fraktion wird 2018 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Horst Jungmann (Wittmoldt) deshalb beantragen, diese Petition der Bundesregie- von den Kommunen und den Ländern kurzfristig Stel- rung zur Berücksichtigung zu überweisen. lungnahmen zu Dingen erwarten, die Sie in mehr als einem Dreivierteljahr nicht geleistet haben. Die Kom- Ich stelle fest — Herr Kollege Müller, da spreche ich munen und die Länder brauchen mehr Zeit, als Sie Sie persönlich an —, daß 20 Jahre lang für die Be- ihnen zugestanden haben. schaffung eines Stör- und Täuschsenders mit dem Namen Cerberus sinnlose Milliardenausgaben ge- Hinzu kommt, daß Sie gestern im Verteidigungs- macht werden, daß der Bundesrechnungshof in sei- ausschuß zwar versprochen haben, Mitte dieses Mo- nem Bericht der Bundesregierung vorgeworfen hat, nats das Konzept zur Reduzierung auch der zivilen die Ursachen dieser Fehlentwicklung seien in der Arbeitsplätze im Bereich der Kommandobehörden Mißachtung von Vorschriften, in der von den Vor- und Truppen — so habe ich Sie doch richtig verstan- schriften abweichenden Vorhabenbearbeitung und in den? — vorzulegen. Das bedeutet aber, daß in der ter- schwerwiegenden Managementfehlern begründet, ritorialen Wehrverwaltung, also in den Wehrbereichs- daß am Ende für mehr als 1,2 Milliarden DM nichts verwaltungen, in den Standortverwaltungen und in Brauchbares herauskommt und daß Sie, wenn schon den anderen nicht truppen- und kommandobehör- die politische Leitung des Hauses nicht den Mut hat, dengebundenen Verwaltungen der Bundeswehr die dieses Rüstungsvorhaben zu beenden, nicht die Kraft Unsicherheit weiter Platz greift. besitzen, im Parlament einen Schlußstrich zu zie- Es ist den Kommunen und den Ländern von der hen. Bundesregierung und auch von Ihnen, Herr Verteidi- Das gleiche gilt für das Führungssystem der Luft- gungsminister, in vollmundigen Ankündigungen ver- waffe, für das System Eifel. Ich bin Ihnen, Herr Kol- sprochen worden, daß Sie bei der Bewältigung der lege Müller, außerordentlich dankbar, daß Sie trotz Probleme durch die Reduzierung der Streitkräfte mit aller Bedenken einer qualifizierten Sperre dieser Mit- finanziellen Zuweisungen helfen wollen. Sie wollen tel zum Teil zugestimmt haben und die Bundesregie- das im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben regeln; rung mit diesem Vorhaben noch einmal in das Parla- so haben Sie dies angekündigt, und so wollen Sie das ment kommen muß. mit dem Wirtschaftsminister, der dafür zuständig ist, In diesem Bereich des Entwicklungs- und Füh- verhandeln. Dies reicht unserer Auffassung nach rungsinformationssystems der Luftwaffe ist festzustel- nicht aus. len, daß der Entwicklungsvertrag im Ursprung eine Ich glaube, daß es hier um ein besonderes Problem Höhe von 41 Millionen DM hatte, daß er sich im Laufe geht, das nicht wie die Aufgaben, die im Katalog der der Jahre aber um 75 % erhöht hat. Das ist eine Geld- Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung und Verbesse- verschwendung sondergleichen. Auch in diesem Be- rung der regionalen Wirtschaftsstruktur aufgeführt reich sind Sie nicht bereit, Konsequenzen zu ziehen. sind, bewältigt werden kann. Deswegen fordern wir Sie wissen, daß viele Bürger in der Bundesrepublik Sie auf, sich innerhalb der Bundesregierung dafür ein- Deutschland die Frage der Truppenreduzierung be- zusetzen, einen Sonderfonds Rüstungskonversion, wegt. Wir alle sind, unabhängig von der Parteizuge- Beseitigung der Abrüstungsfolgen und Umstellung hörigkeit, für Abrüstung gewesen. auf zivile Arbeitsplätze in den betroffenen Regionen zu erarbeiten (Helmut Esters [SPD]: Das sind wir noch!) Deswegen kann man, Herr Kollege Esters, heute aber (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE) nicht nach dem Prinzip verfahren: Wasch' mir den Pelz, aber mach' mich nicht naß! und dieses Konzept in seiner Förderkulisse so auszu- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das war weiten, daß es der Förderkulisse des Strukturhilfege- Ihre Position!) setzes entspricht. Hier ist, anders als bei der Gemein- schaftsaufgabe zur Förderung und Verbesserung der Abrüstung hat ihren Preis — das sage ich hier ganz regionalen Wirtschaftsstruktur, eine Vielfältigkeit der bewußt — , aber, meine lieben Kolleginnen und Kolle- Förderung möglich. gen von den Koalitionsfraktionen, es geht nicht so, daß der Verteidigungsminister am 24. Mai ein Kon- Wir werden gleich — wie heute mittag schon ein- zept vorlegt, das vorher niemand kannte, das seine mal — bei den Koalitionsfraktionen Schwierigkeiten Fehler hat. Niemand kann aus diesem Konzept erken- bei der Abstimmung über die Beschlußempfehlung nen, wie viele Grundwehrdienstleistende, wie viele des Haushaltsausschusses feststellen. Herr Kollege Berufssoldaten und Zeitsoldaten an welchem Standort Müller, wenn Sie im Haushaltsausschuß auf mich ge- verbleiben. Niemand kann aus diesem Konzept er- hört hätten, hätten Sie sich diese Peinlichkeit jetzt im kennen, welche Liegenschaften tatsächlich für eine Plenum ersparen können. andere Nutzung freigegeben werden, welche Liegen- (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: schaften also den Kommunen für eine zivile Nutzung Keine Peinlichkeit!) zur Verfügung gestellt werden können. Wenn wir Ihrer Empfehlung gefolgt wären, dann hätte (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber die der Verteidigungsminister zurücktreten müssen. Herr rot-grünen Länder sind eifrig dabei, ihre Minister, Sie haben gestern im Haushaltsausschuß Standorte zu halten!) selbst zugegeben — Ihre Inspekteure haben das be- Dieses Konzept kann nicht dazu dienen — und wird stätigt — , daß Sie, wenn das, was in der Beschlußemp- auch von uns nicht dazu benutzt werden —, daß Sie, fehlung des Haushaltsausschusses unter II steht, Rea- Herr Verteidigungsminister, jetzt den Schwarzen Pe- lität würde, Ihre Bundeswehrplanung mit 370 000 ter den Kommunen und den Ländern zuschieben und Mann nicht umsetzen könnten. Sie müßten den Offen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2019

Horst Jungmann (Wittmoldt) barungseid leisten, weil diese Durchführung 3,8 Milli- des Kollegen Horst Niggemeier, der in der vergange- arden DM kosten würde. nen Woche in der Zeitung geschrieben hat: Herr Kollege Müller, wenn Sie sich das vorher über- Die internationale Völkergemeinschaft erwartet legt hätten, wäre alles viel besser geworden. Sie soll- von Deutschland mehr außenpolitisches Engage- ten ab und zu — vielleicht etwas häufiger als in der ment als nur Blauhelme und Schecks. Vergangenheit — auf die erfahrenen Politiker in der Oppositionsfraktion hören. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Aber nicht: Am deutschen Wesen soll die Welt ge- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ nesen!) GRÜNE) Ich glaube, daß es richtig ist, noch einmal klar fest- Dem ist nichts hinzuzufügen, meine Damen und Her- zustellen, was mein Kollege Gansel vorhin in der De- ren. batte zum Etat des Auswärtigen Amts gesagt hat: Ich will den Satz von Blaise Pascal, der vor über Unsere Stimme für Kampfeinsätze der Bundeswehr 300 Jahren gesprochen wurde, noch einmal zitieren: überall in der Welt und für finanzielle Mittel zur Be- „Gerechtigkeit ohne Macht ist hilflos, Macht ohne schaffung von Großraumflugzeugen und Versor- Gerechtigkeit Tyrannei. " Gerechtigkeit und Macht gungsflugzeugen sowie von Schiffen der Bundesma- sind miteinander in Einklang zu bringen. rine, die deutsche Truppen überall in der Welt hin- bringen können, werden Sie nicht bekommen. Wir Deutschland ist keine Weltmacht, und das ist gut so. werden uns durch einen solchen Beschluß, den Sie, Aber Deutschland, insbesondere das vereinigte Herr Verteidigungsminister, in der NATO mitgetra- Deutschland, spielt auch keine politische Zwergen- gen haben, nicht die Friedensdividende nehmen las- rolle. Deswegen hat unsere Friedenspolitik die Kom- sen. Wir werden Ihrem Haushalt nicht zustimmen. ponente der militärischen Absicherung einzuschlie- ßen. Der Haushalt, über den wir debattieren, dient (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ genau diesen Komponenten. GRÜNE — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wo haben Sie Friedensdividende geleistet?) (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Eine Kanonenbootpolitik!)

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Erstens. Die Bundeswehr ist eine Armee ohne er- Herren, das Wort hat nunmehr der Abgeordnete kennbaren Gegner. Eine neue NATO-Struktur wird Hans-Werner Müller (Wadern). angedacht. Neue Aufgaben werden formuliert. Zweitens. Die Bundeswehr schrumpft. Bei der Ver- einigung von Ost und West hatten wir einschließlich Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): Herr der zivilen Bediensteten rund 700 000 Menschen bei Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! der Bundeswehr. Ende 1994 werden wir nur noch Ihr Redebeitrag, verehrter Herr Kollege Jungmann, 370 000 Soldaten haben. hat gezeigt, daß in der politischen Diskussion der letz- ten anderthalb Jahre der Haushalt, den wir jetzt de- Drittens. Die Bundeswehr wird reformiert. Sie än- battieren, zum Steinbruch der Nation erklärt worden dert ihren Auftrag und ihre Truppenstärke. Sie gibt ist. Was sollte nicht alles mit dieser sogenannten Frie- Standorte auf. Sie ändert ihre Strategie im Bündnis, densdividende finanziert werden? Berufene und Un- ihre innere Struktur und ihre Ausbildung. berufene haben Umschichtungen zu Lasten dieses Herr Kollege Jungmann, ich verstehe auch nicht die Haushalts durchgerechnet. Krokodilstränen, die jetzt, insbesondere von Verant- Hinter dieser fiskalischen Betrachtung steht leider wortlichen der SPD, vergossen werden, wenn der eine — das muß ich zu Beginn sagen — eine Infragestel- oder andere Standort aufgegeben werden muß. Wenn lung der Verteidigungsbereitschaft schlechthin. Hier man den Plänen meines Ministerpräsidenten, des wird von Ihnen eine gefühlspazifistische Stimmung SPD-Politikers Lafontaine, gefolgt wäre, dann hätten geschürt, ja es wird regelrecht gegen die Wehrbereit- wir nur noch 200 000 Soldaten. Dann wäre das Ge- schaft aufgewiegelt. Das ist das, was so gefährlich schrei über zusätzlich aufgegebene Standorte noch ist. viel größer. Das müssen Sie bei diesen Dingen beden- Es gibt z. B. einen Pfarrer in Gladbeck, der 3 000 ken. Briefe an seine männlichen Gemeindemitglieder ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schrieben und die Aufforderung ausgesprochen hat, den Kriegsdienst zu verweigern. Da wird eine Stim- Natürlich gibt es eine Diskussion, weil die einen mung „Frieden um jeden Preis" geschürt. sagen, der Plafond mit 52,5 Milliarden DM sei viel zu hoch — das haben wir eben gehört —, und weil die (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Herr Kollege Müller, das können Sie mir alles anderen sagen, dies sei ein Finanzkorsett für die Bun- deswehr, das nur dann passe, wenn man andauernd nicht vorwerfen!) die Luft anhalte. Die Wahrheit liegt wie immer in der Das, was auf dem SPD-Parteitag geschehen ist, ist ja Mitte. Mit den Zahlen, die wir nach intensiver Bera- lediglich ein weiterer Beweis dafür. Das Ja zum Blau- tung im Haushaltsausschuß verabschiedet haben und helm-Einsatz ist ein Nein zur internationalen Verant- die wir auch politisch vertreten können, kommen wir, wortung. wie ich überall höre, und kommt auch die Bundes- Ich will es einmal mit den Worten eines Ihrer Kolle- wehr gut hin. Mit 52,5 Milliarden DM ist dieser Haus- gen kommentieren, mit dem ich in der Kohlepolitik halt auf ein vernünftiges Maß zurückgeschnitten wor- sehr gut zusammenarbeite, nämlich mit den Worten den. 2020 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Hans-Werner Müller (Wadern) Hätten wir die dramatischen, ja die erfreulichen den Eindruck hatten, daß sich die Regierung beim Änderungen im Ost-West-Verhältnis nicht und hät- Vereinigungsprozeß im Personalbereich recht ten wir die Wiedervereinigung nicht, so hätten wir, ordentlich bedient hat. wenn die beiden Staaten nebeneinander weiterexi- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Hat sie stiert hätten, in der Addition der Verteidigungshaus- auch!) halte der alten Bundesrepublik und der DDR insge- — Das war unsere gemeinsame Klage. — Wir haben samt 30 Milliarden DM mehr ausgegeben. gebremst, soweit das in unseren Möglichkeiten ge- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das standen hat, und wir haben z. B. die B-Stellen im Ein- kann doch gar nicht sein!) zelplan 14 gestrichen. So beläuft sich der Verteidigungshaushalt 1990, (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sehr Teil West und Teil Ost, auf 62,2 Milliarden. Hinter die- gut!) sen nackten Zahlen steht eine ungeheure menschli- Wir haben etwas für die kleinen Beamten und Unter- che Leistung. Sie haben das angesprochen. Ich stehe offiziere getan; ich werde das noch ausführen. Inso- nicht an, noch einmal ganz deutlich für das zu danken, fern verstehe ich überhaupt nicht, wenn wir eine sol- was bei der Zusammenführung der beiden Armeen che Entschließung jetzt neu aufrufen und neu disku- geleistet worden ist. tieren. Das ist das Normalste der Welt. (Beifall bei der CDU/CSU — Siegf ried Hor (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Dann nung [CDU/CSU]: Was die Bundesregierung beschließt das doch hier!) geleistet hat!) Der Plafond von 52,5 Milliarden DM beinhaltet die Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie eine Kosten der Eingliederung der ehemaligen NVA mit Zwischenfrage des Kollegen Wieczorek? immerhin 4,3 Milliarden DM. Ferner ist die globale Minderausgabe von 1 Milliarde DM berücksichtigt. Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): Bitte Dies alles wird nur erreicht, indem wir einen ersten schön. - Einstieg in die personelle Reduzierung in einer be- achtlichen Größenordnung sowohl im militärischen wie im zivilen Teil machen. Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Herr Kollege Müller, es fällt auf, daß Sie im Haushaltsausschuß Der Anteil der Verteidigungsausgaben an den ge- gemeinsam mit Kollegen der FDP sehr vehement samten Bundesausgaben beträgt lediglich 13 %. Dies darum gekämpft haben, die von Herrn Kollegen Jung- ist der niedrigste Anteil seit 1956. mann und von Ihnen eben angesprochenen Passagen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist der nicht als Entschließung etwa in die Beschlußempfeh- Erfolg einer konsequenten Politik!) lung aufzunehmen, sondern Teil des Haushaltsgeset- zes werden zu lassen. Es stand eigentlich schon im Meine Damen und Herren, ich will jetzt das anspre- Haushaltsgesetz, als Sie zurückgepfiffen wurden und chen, was eben in bezug auf den Entschließungsan- es auf diese mindere Form der Rechtsverbindlichkeit trag polemisch vorgetragen worden ist. zurückgebracht wurde. Jetzt nehmen Sie diese Form (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das ist noch einmal zurück. Können Sie uns einmal sagen, die Wahrheit! Was hat Wahrheit mit Polemik worin Ihre neuen Erkenntnisse eigentlich bestehen, zu tun?) die dazu führen, diesen Eiertanz mit dem Parlament zu machen? Wir haben darin einen politischen Willen formuliert, nicht mehr und nicht weniger. Dies ist im Verteidi- gungsausschuß querbeet kritisiert worden. Wenn da Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU) : Herr noch Diskussionsbedarf besteht, Kollege Wieczorek, ich habe Ihnen das vorhin erläu- tert. Der Verteidigungsausschuß hat sich darüber (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Bei uns noch einmal ausgesprochen, und es ist neuer Diskus- nicht!) sionsbedarf angemeldet worden. Schlicht und ergrei- werden wir uns diesem selbstverständlich stellen. Wir fend stellen wir uns diesem Diskussionsbedarf. Nach- werden natürlich der Rücküberweisung an den Haus- dem wir diesen politischen Willen formuliert haben, haltsausschuß zustimmen, und dann werden wir se- werden wir auf diese Sache noch einmal eingehen. hen. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ist es Wenn man bei dem Abschmelzen der Bundeswehr nicht so, daß der Verteidigungsminister ge- im Vergleich zu früher nun — um es salopp zu formu- fährdet war? — Abg. Horst Jungmann [Witt- lieren — mehr Häuptlinge bei weniger Indianern moldt] [SPD] meldet sich zu einer Zwischen- braucht, dann muß das erklärt werden. Ich bin auch frage) gar nicht dagegen, daß das dann korrigiert wird. Wir — Kollege Jungmann, jetzt nicht. haben die im Entwurf zum dritten Nachtrag 1990 aus- Ich darf jetzt ein kurzes Wort zur Finanzplanung gebrachten kw-Vermerke in diesem Regierungsent- und zur Ausgabenstruktur sagen. Für 1992 sieht die wurf auch geändert — ich werde nachher noch kurz Planung für den Bundeshaushalt eine Steigerung von darauf zurückkommen — , weil wir uns gewissen Er- 0,8 %, für 1993 von 2,2 % und für 1994 eine gleich kenntnissen nicht verschließen konnten. hohe Steigerung vor. Demgegenüber geht der Vertei- Kollege Jungmann, lassen Sie mich doch einmal digungshaushalt 1992 um 2,9 %, 1993 um ebenfalls von Haushälter zu Haushälter etwas ganz kurz an- 2,9 % und 1994 um 3,0 % herunter. Die Zahlen spre- sprechen. Wir haben alle miteinander geklagt, daß wir chen für sich. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2021

Hans-Werner Müller (Wadern) Die Ausgabenstruktur ändert sich auch. Der Anteil unausgewogene Altersstruktur der Bundeswehrver- der Betriebsausgaben steigt auf 71,9 % gegenüber waltung führt zu geringen Pensionierungsraten und 66,4 %, und der investive Anteil vermindert sich um damit zu geringen Beförderungschancen. Die Pro- 5 % von 33,6 % auf 28,1%. Dieses Absinken will ich bleme können wir damit als gelöst ansehen. Ich ganz kritisch ansprechen. Es kann nämlich negative glaube, das ist ein sehr zu begrüßender Schritt. Folgen für die Bundeswehr und ihre Vertrags- und (Bernd Wilz [CDU/CSU]: Sehr gut!) Bündnispartner haben. Dies wird von uns auch so gesehen. Wir werden uns bemühen, die Folgen ent- Wir betrachten gerade die letztgenannten Maßnah- sprechend abzufedern. Ich werde das noch kurz an- men als eine Würdigung der friedenserhaltenden Ar- sprechen. beit unserer Soldaten, unserer zivilen Mitarbeiter und auch deren Familien durch die Fraktion der CDU/ Ich sprach bereits vom ersten Abbauschritt beim CSU. Personal. An sich haben wir das im Haushaltsaus- schuß vorgesehene Kürzungsprogramm im dritten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nachtrag 1990 noch einmal korrigiert, weil ansonsten Anzusprechen sind auch die Bauerhaltung und die die anfallenden Arbeiten nicht zu erledigen gewesen Modernisierung von Truppenunterkünften, wobei wir wären. Die Mißwirtschaft im real existierenden Sozia- schwerpunktmäßig die sanitären Anlagen, die Sperr- lismus zwingt uns zu dieser Korrektur. Wir haben uns zäune, die Küchen usw. sanieren und modernisie- dies in den Kasernen im Beitrittsgebiet an Ort und ren. Stelle angesehen. Da werden noch Leute zur Betreu- ung alter Braunkohleheizanlagen, zur Bewirtschaf- Meine Damen und Herren, ich habe ein kritisches tung total veralteter Gebäude, zur Aufrechterhaltung Wort zu dem zurückgehenden Anteil an investiven der Fernmeldeversorgung und vielem anderen mehr Ausgaben gesagt. Ich spreche damit an die Mittel für gebraucht. Forschung, Entwicklung, Erprobung und militärische Da müssen z. B. Bewirtschaftungen von Heizanla- Beschaffung. Will man moderne Ausrüstungsgüter gen fortgesetzt werden, weil neben den alten NVA- beschaffen, so bedarf es eines Entwicklungsvorlaufes Liegenschaften vom selben Heizwerk aus zivile von etwa zehn Jahren. Das, was wir Ende der neunzi- Wohnsiedlungen bedient werden. Auch dürfen die ger Jahre brauchen, muß also jetzt entwickelt wer- NVA-Liegenschaften nicht ohne Bewachung bleiben. den. Das macht an Personalkosten 2 Milliarden DM, an Intensive Forschung und Entwicklung werden not- Bewirtschaftungszusatzkosten 1,5 Milliarden DM und wendig, um unsere Armee in ihrer Ausrüstung inno- an Bewachungskosten 0,5 Milliarden DM aus. Diese vationsfähig zu halten und auch zu gewährleisten, daß DDR-Altlasten stehen nun weiß Gott nicht in der Ver- Alternativen zur Verfügung stehen. Dazu zählt auch antwortung dieser Bundesregierung. eine moderne wehrtechnische Industrie, die bereit ist, Einen ganz erheblichen Schritt nach vorne haben im westlichen Bündnis zu kooperieren. Es gehört auch wir in Ergänzung der Vorlage der Bundesregierung zur politischen Unabhängigkeit, daß ein gewisses bei der Verbesserung im Personalbereich vorgenom- Maß an Selbständigkeit in der Rüstungswirtschaft er- men. Ich freue mich, daß die Kollegen der Koalition halten bleibt. hier uneingeschränkt mitgezogen haben. Es wird eine Ein ganz kurzes Wort zu dem Antrag, den Sie vor- wesentliche Verbesserung der beruflichen Situation legen. Der hochverehrte Kollege Rudi Walther, der ja einer breiten Schicht von Soldaten und Zivilbeschäf- Mitberichterstatter zu diesem Haushaltsplan ist, hat, tigten geben. als wir auf der Hardthöhe begonnen haben, in diesen Es handelt sich im einzelnen erstens um die Anglei- Haushalt einzusteigen, bei den Berichterstatterge- chung der Bezüge der Grundwehrdienstleistenden im sprächen gesagt: Für das, was die Bundeswehr an Osten und im Westen Deutschlands. Aufgaben zu leisten hat, ist dieser Haushalt insgesamt sehr knapp bemessen. Er hat damit recht gehabt. Und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie stellen hier noch einmal zusätzliche Kürzungsan- Es ist als Auftrag an die Regierung formuliert, hier träge. Ich kann diese nur als sogenannte Schauan- kurzfristig Gesetz- bzw. Verordnungsentwürfe vorzu- träge titulieren. Deswegen lehnen wir sie ab. legen. Wir wollen einheitliche Tagessätze, einheitli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ches Weihnachts- und Entlassungsgeld und eine Ver- doppelung des Verpflegungsgeldes. Ich will zu dem immer wieder vorgebrachten Thema des Jäger 90 etwas sagen. Weil mich das schon lange Zweitens. Die soziale Situation älterer Berufsun- ärgert, will ich dazu zwei Sätze sagen. Erstens. Nach teroffiziere wird im Jahre 1991 schnell und spürbar wie vor wird vergessen, daß wir bis jetzt nur die Ent- verbessert, indem wir in diesem Haushalt 1991 und im wicklungsphase beschlossen haben. Haushalt 1992 rund 2 800 Hebungen beschließen. Da- mit ist ein Ärgernis beseitigt. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: 7,2 Mil- liarden DM!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Über eine Beschaffungsphase werden wir im nächsten Es gibt dann ab nächstem Jahr keine Unteroffiziere oder übernächsten Jahr beraten. Der Rechnungshof mit Portepee mehr im Stau. Die Attraktivität des hat dazu ja seine Bemerkungen gemacht. Dienstes der Unteroffiziere steigt. ( [SPD]: Kleinigkeit!) Drittens. Über 300 Hebungen bringen wir in den Jahren 1991 und 1992 für den mittleren und gehobe- Zweitens. Es ist doch völlig unbestritten, daß wir nen Dienst in der Bundeswehrverwaltung aus. Die zum Ende dieses Jahrhunderts ein neues Flugzeug 2022 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Hans-Werner Müller (Wadern) brauchen, weil dann die Phantom über 40 Jahre alt Unsere Bundeswehr ist nicht irgendein Arbeitgeber, sein wird. Es gibt doch nur zwei grundsätzliche Mög- sondern eine Institution mit einem festumrissenen lichkeiten: erstens die Kauflösung oder zweitens die Auftrag. Weil wir von der Union davon überzeugt eigene Entwicklung. Bei der Kauflösung gibt es wie- sind, daß wir weiterhin eine gut ausgebildete, gut aus- derum drei Möglichkeiten: Wir können entweder die gerüstete und gut motivierte Bundeswehr brauchen, amerikanische F-18 kaufen und sie germanisieren stehen wir uneingeschränkt zu diesem Haushalt. oder wir kaufen die französische Rafale oder wir kau- Ich bedanke mich. fen die sowjetische MiG. Wollen wir das ernsthaft oder wollen wir ein eigenes Flugzeug entwickeln? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mich hat immer ein Argument beeindruckt, verehr- ter Herr Kollege Jungmann: das industriepolitische Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Argument. Wie kommen wir denn dazu, an unseren Herren! Das Wort hat nunmehr die Frau Abgeordnete Technischen Hochschulen noch Flugzeugingenieure Andrea Lederer. auszubilden, wenn wir in Europa keine Flugzeuge mehr entwickeln und produzieren? Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Es gibt Meine Damen und Herren! Ich finde, der vorangegan- doch zivile Flugzeuge, Kollege Müller!) gene Beitrag war erstens ein prägnantes Beispiel da- Wenn wir dann ausschließlich auf den Weltmarkt an- für, wie man sich selber militärische Sachzwänge gewiesen sind, werden uns die sagen, was die Flug- schafft, zeuge kosten. Wir haben in Europa schon in vielen (Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/ Industriefeldern den Anschluß verloren. Verlieren wir Linke Liste]) ihn bitte nicht auch bei den Flugzeugen. und zweitens denke ich, daß nicht die Armee in einer Ein Letztes will ich Ihnen sagen: Bei diesem ständi- Krise ist und daß das Gegenstand der Sorgen sein gen Gerede von den 100 Milliarden DM wird die müßte, sondern daß sich die herrschende Sicherheits- ganze Lebenszeit dieser Flugzeuge betrachtet, und politik in einer Krise befindet, die mehr als bedrohlich- die Kosten werden mit einem Zinssatz hochgerechnet; ist. sämtliche Betriebskosten, alles wird dazugeknallt. (Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/ Das ist genauso, Kollege Jungmann, als wenn Sie Linke Liste]) sich einen Mittelklassewagen kaufen, der 25 000 DM Während der ersten Beratung dieses Verteidi- kostet. Ich sage zu Ihnen: Er kostet 150 000 DM. Wenn gungshaushalts forderte Verteidigungsminister Stol- sie nämlich diesen Wagen zehn Jahre fahren und die tenberg, noch bevor überhaupt die Debatte begonnen 25 000 DM für zehn Jahre mit 10 % verzinsen und hatte, eine Erhöhung des im Haushalt festgelegten dazu die gesamten Bewirtschaftungskosten rechnen, Etats um 16,5 Milliarden DM. dann kommen Sie in zehn Jahren auch auf 150 000 DM. Diese Rechnung ist eines Haushälters unwürdig, Seit dieser ersten Beratung haben militärische Fra- weil sie unseriös ist, verehrter Kollege Jungmann. gen, nämlich die geplante Erweiterung des militäri- schen Handlungsspielraums der Bundesrepublik, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) außen- und sicherheitspolitische Diskussion be- stimmt. Die Rede ist von einer deutschen Beteiligung an Blauhelm-Missionen, an UNO-Kampfeinsätzen Vizepräsident Helmuth Becker: Kollege Müller, ge- und vor allem an multinationalen Eingreiftruppen auf statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wollen- europäischer NATO-Ebene. berger? Deshalb: Der Verteidigungshaushalt wird hier un- ter einem neuen Vorzeichen diskutiert. Das neue Vor- zeichen lautet: Deutsche Soldaten künftig weltweit im Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): Nein. Ich möchte jetzt zum Schluß kommen. Einsatz — sollen die Voraussetzungen hierfür ge- schaffen werden oder nicht? (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Erst an Nicht zuletzt ist dies auch deswegen ein neues Vor- dere beschimpfen und dann keine Zwischen zeichen, weil — leider, sage ich — die SPD auf ihrem fragen zulassen!) Parteitag mit der Zustimmung zu deutscher Beteili- Ich möchte sagen, daß wir uns mit diesem Haushalt gung an Blauhelm-Missionen die Tür zumindest ei- erheblich Mühe gegeben haben. Wir haben uns Mühe nen Spaltbreit für diese Entwicklung mit aufgestoßen gegeben, hier aufgabengerecht ein Zahlenwerk vor- hat. zulegen, mit dem wir durchaus leben können und mit Schon jetzt stöhnen NATO-Militärs auf. Weniger dem wir vor allen Dingen vor unsere Soldaten treten Truppen werden teurer heißt es, und es stimmt wohl können. auch. So berichtet die „Frankfurter Rundschau", je Mein Dank gilt der Zuarbeit des Ministeriums und weniger Kämpfer man habe, desto mehr Hochtechno- den Mitarbeitern des Ausschusses. Wir hoffen zuver- logie müsse in ihren Waffen stecken, weil man nur so sichtlich, daß dieser Haushalt dazu beiträgt, über das — verwiesen wird auf den Golfkrieg — mit wenigen Gerede, daß die Armee in einer Krise sei, hinwegzu- eigenen Verlusten siegen könne. Das dürfte dann kommen. wohl auch auf Bundeswehrebene gelten. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das hat Die Finanzierung des Golfkrieges, die unter dem keiner gesagt! Der Minister ist in einer Krise, Titel „Allgemeine Finanzverwaltung" versteckt nicht die Armee!) wurde, ist längst nicht alles, was die Bundesrepublik Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2023

Andrea Lederer als Beitrag zu diesem Krieg geleistet hat. Die Bundes- Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Lede- republik war — wie man heute der „Frankfurter All- rer, gestatten Sie eine Zwischenfrage? gemeinen Zeitung" entnehmen konnte — Hauptbasis für den Truppenaufmarsch am Golf. Besonders ein- Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Nein, weil ich drucksvoll — ich zitiere — „stellen sich Umfang und jetzt zum Ende komme. Ablauf der Verlegung der amerikanischen Heeresver- Die PDS/Linke Liste wird diesen Verteidigungs- bände aus Deutschland an den Golf dar". haushalt daher ablehnen. (Zuruf von der CDU/CSU: Große Geheim (Beifall bei der PDS/Linke Liste) nisse, die Sie hier mitteilen!)

So friedfertige Unternehmen — wie etwa die Deut- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und sche Bundespost — haben einen immensen Beitrag Herren, das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carl-Lud- geleistet. Es waren also keineswegs nur 17 Milliarden wig Thiele. DM (Zuruf von der CDU/CSU) Carl-Ludwig Thiele (FDP): Sehr geehrter Herr Präsi- — ich werde Ihnen gleich erläutern, warum ich hier- dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu- auf zurückkomme —, sondern der geschätzte Beitrag nächst möchte ich mich bei meinen Mitberichterstat- der Bundesrepublik zu diesem Krieg geht weit, weit tern für die angenehme Zusammenarbeit bedanken. über das offiziell Zugegebene hinaus. Eine Bemerkung möchte ich noch zu Herrn Kolle- gen Jungmann machen. Die Bedrohung der deut- Wenn nun also hier über einen Verteidigungshaus- schen Bevölkerung sei nicht mehr zu erkennen, sag- halt entschieden werden soll, dann ist die Berücksich- ten Sie. Ich bin der Auffassung, daß die Bedrohung der tigung dieser Fakten militärischen Engagements als Deutschen Bevölkerung reduziert ist. Aber daß sie offenkundiges Zeichen Grundlage für die Zukunft. nicht mehr zu erkennen sei, dieser Aussage kann ich Solange die Bundesregierung und damit auch das noch nicht zustimmen. Die Hoffnung allerdings, die Verteidigungsministerium daran arbeiten, die vielzi- hinter Ihren Worten steht, teile auch ich. - tierte sogenannte neue deutsche Verantwortung aus- Trotz aller Schwierigkeiten bei der Bewältigung der schließlich militärisch zu verstehen und als Legitima- finanziellen Probleme im Zusammenhang mit der tion für eine Erweiterung des militärischen Hand- Herstellung der inneren Einheit Deutschlands begin- lungsspielraums zu bemühen, solange sie statt wirkli- nen wir auf einem Feld bereits die Früchte einer sehr cher Abrüstung — darauf ist der Kollege von der SPD langfristig angelegten Politik zu ernten. Die im Har- schon eingegangen — eine Modernisierung und ent- mel-Konzept von 1967 angelegte Politik der Frie- sprechende Umstrukturierung der Bundeswehr in An- denssicherung durch Streitkräfte einerseits und durch griff nimmt, die deutsche Truppen in die Lage verset- das Angebot zu systemübergreifender Kooperation zen soll, an weltweiten Einsätzen teilzunehmen, tech- andererseits haben über den KSZE-Prozeß und über nisch perfekt ausgerüstet, mobil und motiviert, so- Perioden harter Konfrontation bis Mitte der 80er Jahre lange sich der Verteidigungsminister in eklatantem nun dazu geführt, daß die Mauern in Europa gefallen Widerspruch zu den vielen hier beschworenen histo- sind. rischen Stunden des letzten Jahres wegen der angeb- Die deutsche Souveränität haben wir in den von lichen Überwindung des Ost-West-Konflikts an der Hans-Dietrich Genscher geführten Zwei-plus-Vier- Erarbeitung einer NATO-Strategie beteiligt, die nach Gesprächen nur deshalb erreichen können, weil un- wie vor den Hauptfeind in der Sowjetunion sieht, sich sere Nachbarn, westlich und östlich, von der Friedens- deren instabile Lage zur Begründung der alten Ab- liebe der Deutschen seit dem Bestehen der Bundesre- schreckungsdoktrin inklusive der nuklearen Bedro- publik überzeugt sind. hung zunutze macht und sich ein zusätzliches Auf ga- benfeld in der Dritten Welt sucht, solange also nichts, Nach den Erfahrungen, die unsere Nachbarn in die- aber auch gar nichts darauf hindeutet, daß diese grö- sem Jahrhundert mit uns Deutschen gemacht haben, ßer gewordene Bundesrepublik aus der Vergangen- ist diese Einstellung keine Selbstverständlichkeit, heit lernt, aus der Verantwortung wegen zweier von sondern Folge einer verläßlichen und berechenbaren ihrem Territorium ausgegangenen Kriege auf militäri- Politik, die gerade im Bereich der Außenpolitik seit sches Engagement verzichtet mehr als 20 Jahren von Liberalen, nämlich von Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher, gestaltet wird. (Zuruf von der CDU/CSU: Schnelle Vorle sung!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — [CDU/CSU]: Das gilt nicht für und statt dessen ihren Reichtum ausschließlich für die SED und die PDS!) friedliche zivile und humanitäre Zwecke einsetzt, so- — Ich habe auch Bundesrepublik gesagt! lange also das, was Sie als Überwindung der Block- konfrontation verkaufen wollen, zum Muskelspiel des Diese Politik bedeutete eben nicht starres Beharren leider nicht ebenfalls aufgelösten Militärblocks NATO auf formalen Rechtspositionen, sondern die Suche führt, nach dem Gespräch und demzufolge eine Öffnung der Grenzen. Diese liberale Politik bedeutete ebenfalls (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ohne diese nicht, aus populistischen Gründen von gemeinsam Bundeswehr stünden Sie nicht da vorne!) getroffenen Entscheidungen abzurücken und unzu- so lange wäre die Zustimmung zu auch nur einem verlässig und unberechenbar zu sein. Pfennig dieses Haushalts eine indirekte Unterstüt- Diese beharrliche und kontinuierliche Außenpolitik zung dieser Großmachtpolitik. unseres Landes im Rahmen des Nordatlantischen 2024 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Carl-Ludwig Thiele Bündnisses hat zusammen mit dem Realitätssinn und Wir appellieren an die Kommunen und Regionen, die der auf Frieden angelegten Politik Michail Gorbat- vom Abzug betroffen sind, nicht nur die Nachteile der schows dazu geführt, daß die Streitkräfte der NATO Verminderung, sondern auch die Vorzüge wie zusätz- und des Warschauer Pakts, der ja inzwischen aufge- lichen Wohnraum oder Gewinnung von Räumen für löst ist, bereits in den Prozeß der Veränderung, vor Naherholung oder indust rielle Umstrukturierung als allem in den Prozeß der Verringerung, eingetreten Chance zu sehen und zu begreifen. sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ist uns eigentlich noch bewußt, welch weiten Weg wir in diesem Zusammenhang gegangen sind? Ich bin der festen Überzeugung, daß dieser Abbau zu keinem besseren Zeitpunkt hätte erfolgen können. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Oh Gerade in den alten Bundesländern, die von dem Sta- ja!) tionierungskonzept betroffen sind, hatten wir noch nie Wir Deutschen hatten im Jahre 1989 mehr als eine eine so hohe Zahl von Beschäftigten wie derzeit. Inso- Million Mann unter Waffen. In der Bundesrepublik fern hilft jetzt nur entschlossenes Handeln aller Betei- waren es 495 000 Mann; in der ehemaligen DDR wa- ligten bei der Bewältigung dieser Probleme. ren zu diesem Zeitpunkt 170 000 Mann bei der NVA. Aber bleiben wir bei den Menschen. Die Bundesre- Hinzu kamen mehr als 400 000 Mann Betriebskampf- publik Deutschland wird im Rahmen ihrer Außen- gruppen bzw. paramilitärische Verbände. und Sicherheitspolitik, die wir noch intensiver als eu- Wir Deutschen werden bis zum Jahre 1994 die Bun- ropäische Außen- und Sicherheitspolitik gestalten deswehr im vereinten Deutschland auf 370 000 Mann wollen, auch weiterhin Streitkräfte als Element ihrer reduziert haben. Ferner verlassen die sowjetischen Politik benötigen. Deshalb steht in diesen bewegten Streitkräfte bis Ende 1994 unser Territorium. politischen Zeiten bei der Zuweisung der Mittel für die Bundeswehr an erster Stelle der Mensch. Mit dem Dies alles schafft kurzfristig große Probleme. Aber 3. Nachtragshaushalt 1990 hatten wir im Einzel- welche Chancen und Perspektiven öffnen sich da- plan 14 einen Personalausgabenanteil von 48 % er- durch für uns? Deshalb möchte ich auch all denen, die reicht. Die weitere Verringerung der Anzahl der Sol- über die Kosten der deutschen Einheit klagen, entge- daten der Bundeswehr wird und muß im Personalbe- genhalten, daß der Frieden ein unbezahlbares Gut ist; reich mittelfristig wieder Mittel freisetzen. und dieser Friede ist sicherer geworden. Wie ernst wir es mit den finanziellen Perspektiven (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) für die Soldaten der Bundeswehr meinen, werden Sie Der Verteidigungshaushalt ist reduziert und wird daran erkennen, daß wir für 1991 Hebungen für 1 399 weiter reduziert werden. Die Friedensdividende der Portepee-Unteroffiziere vorgesehen haben. Die glei- erfolgreichen Außen- und Sicherheitspolitik wird che Zahl von Stellenhebungen soll im kommenden schon gezahlt und wird weiter gezahlt werden. Jahr erfolgen. Selbstverständlich beinhalten diese Veränderun- (Zuruf von der FDP: Sehr gut!) gen auch Probleme. Viele Mitbürger — aber auch manch einer in der Opposition — übersehen, daß wir Dazu kommt für die zivilen Mitarbeiter der Bundes- mit der Herstellung der deutschen Einheit die ehema- wehr im mittleren und gehobenen Dienst eine Anhe- lige NVA mit Menschen, Liegenschaften und Material bung von je 455 Stellen im Jahre 1991 und 1992. übernommen haben und in einem atemberaubend Besonders wichtig scheint mir auch die Herstellung schnellen Prozeß integrieren müssen. der Einheit bei den Grundwehrdienstleistenden zu Auch wenn der Prozeß der Verringerung des Perso- sein. Ich habe mich persönlich dafür eingesetzt, daß nalbestands bereits angelaufen ist, sei hier deutlich der Wehrsold und weitere Zuwendungen wie Weih- darauf hingewiesen, daß ein großer Teil des Haushalts nachtsgeld und ähnliches auf das gleiche Niveau wie Personalkosten sind. Ich halte es deshalb für außeror- bei den Grundwehrdienstleistenden in den alten Bun- dentlich unredlich, wenn einzelne Politiker nach im- desländern angehoben werden. mer mehr Abrüstung und immer weiterer Verringe- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rung des Verteidigungshaushalts rufen, sich aber an anderer Stelle, vor Ort, in den Wahlkreisen, mit ge- Es erschien uns nämlich nicht gerecht und zumutbar, spielter Empörung an die Seite der Soldaten, zivilen den finanziellen Ausgleich zwischen den Grundwehr- Mitarbeiter, Familienangehörigen und der regional dienstleistenden in Ost und West durch Verkürzung zuständigen Politiker stellen und sich gegen die Ver- der Zahlung bei den westlichen Wehrpflichtigen zu ringerung oder Auflösung von Standorten wehren. realisieren. Dies wäre ein Sonderopfer der Wehr- pflichtigen West an die Wehrpflichtigen Ost gewesen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Gerade das wollten wir nicht. Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das sind die zwei Gesichter der SPD! — Paul Breuer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) [CDU/CSU]: Mindestens zwei Gesichter!) Was wir aber wollen, ist die Aufrechterhaltung des Für die FDP ist es auf jeden Fall wichtig, daß die Prinzips der allgemeinen Wehrpflicht. Ich halte die Phase der Unsicherheit für die Lebensplanung betrof- allgemeine Wehrpflicht für ein konstitutives Element fener Bundeswehrangehöriger und ihrer Familien unserer Wehrgesetzgebung. Die Bundeswehr und die ebenso schnell behoben wird, wie die Umstrukturie- Wehrpflicht sind Teil unseres Staates. Die Wehrpflicht rung der von der Truppenverminderung und vom Ab- ist jedoch sehr eng mit dem Prinzip der Wehrgerech- zug von Truppenteilen betroffenen Regionen erfolgt. tigkeit verknüpft. Wehrpflicht und Wehrgerechtigkeit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2025

Carl-Ludwig Thiele müssen auch zukünftig unabdingbar im Einklang mit- sehe ich heute bei einem großen Teil der SPD — hier einander stehen. meine ich nicht die leider immer weniger werdenden (Beifall bei der FDP) Kollegen der SPD, die sich zur Sicherheitspolitik und zur Bundeswehr bekennen — einen immer größer Hierbei ist insbesondere darauf zu achten, daß wir werdenden Abstand zu Fragen der Streitkräfte in inzwischen mehr Wehrpflichtige haben, als das vor Deutschland, im Bündnis oder in der internationalen der deutschen Einheit der Fall war. Hinzu gekommen Verantwortung. sind die sechs neuen Bundesländer einschließlich West-Berlins. Deshalb hat der Haushaltsausschuß die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Bundesregierung aufgefordert, bei der Zurückfüh- Zuruf von der SPD: Das ist unfair!) rung der Personalstärke der Bundeswehr auf 370 000 Ich erinnere an den NATO-Doppelbeschluß und die Soldaten bis 1994 das Verhältnis von Berufs- und Zeit- anschließend ablehnende Haltung der SPD hierzu. soldaten zu Grundwehrdienstleistenden so einzuhal- Wir hätten die späteren Verträge und die jetzige Ver- ten, wie es im Einzelplan 14 des Haushalts 1989 nichtung all dieser Raketen nie erreicht, wenn wir stand. nicht im Hinblick auf die Bündnissolidarität selbst et- was in die Waagschale geworfen hätten. Diebe Linie Ich betone jedoch für meine Fraktion, daß die Streit- kräfte Deutschlands im sich weiter integrierenden Eu- setzt sich leider fort bis hin zum Parteitagsbeschluß der SPD in Bremen über den Einsatz der Bundeswehr ropa zukünftig selbstverständlich modern und zweck- Blauhelm-Aktionen der mäßig ausgerüstet sein müssen, damit wir auch bei im Rahmen von sogenannten unseren Partnern im Rahmen politischer Entschei- Vereinten Nationen. dungsprozesse das Gewicht einbringen können, das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — wir nun einmal haben. Verantwortungspolitik ist auch Zurufe von der SPD) abhängig von der Achtung und dem Respekt der Part- Gerade wir Liberalen kennen die deutsche Ge- ner. schichte und die besondere Verantwortung. Wir wol- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten len an erster Stelle die Stabilität und den Frieden in der CDU/CSU) der Welt. Wir Liberalen wollen, daß im Rahmen der- UNO und der NATO eingegangene Verpflichtungen Verläßlichkeit im Bündnis und Offenhalten zukünf- nicht in Frage gestellt, sondern eingehalten werden. tiger Optionen bedeuten jedoch auch, daß wir For- Wir wollen aber auch, daß diese Verpflichtungen schung und Entwicklung auf militärischem Gebiet nicht verdeckt bestehen und Anlaß zu rechtlichen In- weiter betreiben und hierbei nach dem Rechtsgrund- terpretationen geben, sondern daß diese Verpflich- satz „pacta sunt servanda" getroffene Vereinbarun- tungen verfassungsrechtlich eindeutig verankert sind. gen einhalten. Dies gebieten nämlich die Verfassungswahrheit und Ich sage dies deshalb, weil die verehrte Opposition die Verfassungsklarheit. im Rahmen gebetsmühlenartig wiederholter Ent- (Beifall bei der FDP) schließungen und Beschlüsse zur Entwicklung des Jä- ger 90 wieder versuchen wird — sie hat es schon ge- Wir wollen die verfassungsrechtlichen Voraussetzun- tan — , die Regierungskoalition ins unrechte Licht zu gen dafür schaffen. Nach unseren Vorstellungen setzt setzen. In der Koalitionsvereinbarung ist Einverneh- aber die Entscheidung darüber, ob der Einsatzfall ge- men darüber erzielt worden, daß die Entwicklung des geben ist, die Zustimmung des Deutschen Bundesta- Jäger 90 fortgeführt und dann zu gegebener Zeit über ges mit der Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder die Produktion oder über Alternativen entschieden voraus. wird. (Beifall bei der FDP) Wer sich dieser Aufgabe verweigert, stellt die eigene Regierungsfähigkeit in Zweifel und gefährdet die Po- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege litikfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Thiele, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Herr Präsident, ich komme zum Schluß. Ich fordere daher die nachdenklichen und verantwortungsbe- wußten Kollegen der Opposition auf, Sicherheits- und Carl-Ludwig Thiele (FDP): Herr Präsident, ich möchte jetzt keine Zwischenfrage zulassen, Ich bitte Verteidigungspolitik, die keine Frage einer Fraktion um Nachsicht. oder Partei ist, mit der Regierungskoalition gemein- sam zu betreiben und dem Haushalt zuzustimmen. Die SPD tut sich offensichtlich zunehmend schwerer damit, die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Ich bedanke mich. Bundesrepublik Deutschland dadurch zu erhalten, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) daß wir ein verläßlicher Partner für Freunde in West und Ost auch in der Einhaltung von Verträgen sind. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sie sind Herren, das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter beim Jäger 90 schon zum vierten Mal umge Kolbow. fallen!)

Es tut mir leid, aber an dieser Stelle muß ich sehr Walter Kolbow (SPD): Herr Präsident! Meine Da- deutlich werden. Auch wenn die SPD nun einen men und Herren! Herr Kollege Thiele, weite Teile neuen Vorsitzenden hat und ich Herrn Engholm per- Ihrer Rede, in denen Sie sich mit der SPD befaßt ha- sönlich alles Gute wünsche, ben, hätten Sie besser draußen in einer Wahlver- (Zuruf von der SPD: Das ist aber nett!) sammlung vorgetragen. Dies wäre besser gewesen, 2026 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Walter Kolbow als hier mit fundamentaler Kritik und falschen Voraus- legt hat, daß nach der Entwicklungsphase entschie- setzungen anzutreten. den wird, ob gebaut wird oder nicht — als Teil der (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Weng Koalitionsvereinbarungen. Ich habe daraufhin den [Gerlingen] [FDP]: Dort sind aber nicht so Herrn Wirtschaftsminister zitiert, der im Deutschen viele Leute!) Fernsehen gesagt hat — möglicherweise auch im ZDF bei „Was nun, Herr Möllemann?" — : Er fresse einen Da Sie den als Einstieg in Ihre Kritik an uns Jäger 90 Besen, wenn der Jäger 90 gebaut würde und es sei das benutzt haben, sage ich Ihnen: Der Kollege Mölle- sicherste Flugzeug, weil es nicht gebaut würde. Es ist mann hat erklärt, dies sei das sicherste Flugzeug der doch nun ein nicht unmaßgeblicher Exponent, den ich Welt, weil es nie fliegen werde. So machen Sie Politik mir erlaube einzuführen. Das Sie das etwas unsicher vor der Wahl. Jetzt sagen Sie, Sie wollten entwickeln, und verlegen macht, das allerdings verstehe ich. um zu bauen. Das ist eine Unverschämtheit! (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, ich wende mich jetzt Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie, Herr dem Herrn Bundesminister der Verteidigung zu. — Kollege Kolbow, noch eine weitere Frage des Kolle- Sie können gelegentlich wieder auf mich zurückkom- gen Weng? men, Herr Kollege Nolting. — (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Darauf können Sie sich verlassen!) Walter Kolbow (SPD): Soviel er möchte. Sie rechnen Ich darf jetzt in aller Ruhe die „Süddeutsche Zeitung" es mir ja nicht auf die Redezeit an. bemühen und darauf aufmerksam machen, daß diese Dazu darf ich noch unlängst geschrieben hat, von Verteidigungsminister Vizepräsident Helmuth Becker: einmal sagen, bei solchen Zwischenfragen wird nichts Stoltenberg sei keine kritische Bestandsaufnahme zu auf die Redezeit angerechnet. erwarten; er übe den P rimat der Politik nicht aus, er sei kein Reformminister, er wickle ab. Genau diese Walter Kolbow (SPD) : Ich weiß, ich konnte mich- auf Philosophie liegt dem Haushaltsplanentwurf, über Sie verlassen. den wir heute zu reden haben, zugrunde. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ Vizepräsident Helmuth Becker: Die Uhr steht still. CSU: Der Minister rüstet ab!) Sie führen das Begonnene fort, Sie planen Minderaus- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Darf ich Ih- gaben, statt Schwerpunkte zu setzen, Sie gestalten nen, Herr Kollege Kolbow, meinen Eindruck vermit- nicht neu, Sie verwalten wider bessere Erkennt- teln, daß Sie meine Frage nicht verstanden haben? nisse. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kol- Walter Kolbow (SPD): Herr Kollege Weng, Ihnen bow, gestatten Sie jetzt Zwischenfragen? einen Eindruck zu vermitteln ist immer außerordent- lich schwierig; denn Sie nehmen nur das an, was Sie annehmen wollen, und nicht das, was schlicht und (SPD): Nachdem sich inzwischen Walter Kolbow einfach auf Überzeugung beruht. bereits eine Schlange von Zwischenfragern gebildet hat, will ich jetzt Zwischenfragen zulassen. (Beifall bei der SPD — Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Unter Niveau!) Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr, Herr Kol- Vizepräsident Helmuth Becker: Jetzt hat der Kol- lege Weng! lege Nolting eine Zwischenfrage.

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Herr Kollege Günther Friedrich Nolting (FDP) : Herr Kollege Kol- Kolbow, die Zwischenfrage bezieht sich auf das, was bow, würden Sie mir zustimmen, daß Sie nach dem, Sie vor dieser enormen Attacke gegen den Verteidi- was Sie jetzt wieder geäußert haben, offensichtlich gungsminister gesagt haben. Darf ich Sie darauf hin- zwischen Entwicklungsphase und Produktionsphase weisen und insoweit Ihre Erinnerung kräftigen, daß nicht unterscheiden können? der Kollege Thiele in seiner Rede davon gesprochen hat, daß in der Koalitionsvereinbarung steht, daß der Walter Kolbow (SPD): Herr Kollege Nolting, ich Jäger 90 entsprechend der gültigen Verträge fertig stelle bei der Beantwortung Ihrer Frage fest, daß es entwickelt wird und die Frage der Produktion offen ist Ihnen höchst unangenehm ist, auf Widersprüche in und daß das, was Sie gesagt haben, er hätte gesagt, es der Koalition so hingewiesen zu werden, wie ich es werde entwickelt, um zu produzieren, nicht korrekt hier getan habe. ist? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP — Horst Jungmann Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf [Wittmoldt] [SPD]: Dann fallt Ihr zum fünften mich wieder dem Bundesminister der Verteidigung Mal um!) zuwenden und zum Ausdruck bringen, daß dies im Zusammenhang mit den Zitaten, die ich hier benutzt Walter Kolbow (SPD): Herr Kollege Weng, ich weiß habe, unserer Meinung nach in diesem Haushalt und nicht, wie oft die FDP in dieser Frage noch umfallen in der Ausführung Ihrer Politik, Herr Bundesminister, will. Es ist schlicht und einfach so, daß auch der Kol- keine Politik im eigentlichen Sinne, so wie Sie sie für lege Müller (Wadern) in seinen Ausführungen darge unser Land führen sollten, ist, sondern ein Ausdruck Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2027

Walter Kolbow der Hilflosigkeit gegenüber den Problemen. Es ist Bundesregierung bisher in keiner Weise neu definiert Folge der Gedankenlosigkeit, mit der die Bundes- werden konnte. regierung insgesamt — dieses Frage-und-Antwort- Spiel hat das auch zum Ausdruck gebracht — an die (Beifall bei der SPD) großen Gegenwartsaufgaben herangeht. Die Herausforderungen und Aufgaben für die näch- Nach dem Golfkrieg — das ist ein zweites wichtiges sten Jahre haben sich auch — das hat auch in der Faktum — ging es bei diesen Haushaltsberatungen außenpolitischen Debatte seinen Niederschlag gefun- erstmals auch darum, der Bundeswehr Ersatz für das den, und der Kollege Jungmann hat es ebenfalls dar- zu beschaffen, was die Bundesregierung für einen gelegt — von Grund auf verändert: Drastische Verrin- Krieg hergab, immerhin Rüstungsgüter einschließlich gerungen der Umfangszahlen, Neustrukturierung der von NVA-Material im Wert von 2,5 Milliarden DM. nun gesamtdeutschen Streitkräfte für aktuelle und Sofern die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr durch künftige Aufgaben, Bewältigung der Abrüstungsfol- diesen Aderlaß eingeschränkt wurde, besteht anzuer- gen, Standorte und Rüstungskonversion. Wer nun kennender Handlungsbedarf im Haushalt. Die Bun- glaubt, der von der Bundesregierung vorgelegte Ver- desregierung wählte aber den Weg, in Einzelplan 60 teidigungshaushalt würde diese Erkenntnisse aufneh- einen eigenen Titel mit der Überschrift „Ersatzbe- men und umsetzen, der sieht sich in der Tat ge- schaffungen zur Erhaltung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr" zu schaffen und dort 500 Millionen DM täuscht. für das Jahr 1991 sowie eine weitere Milliarde DM an Wir treten — wir haben das auch in den Ausschuß- Verpflichtungsermächtigungen für die Jahre 1992 bis beratungen deutlich gemacht — für Umschichtungen 1994 einzusetzen. ein, die klare Schwerpunkte setzen. Wir streiten für Kürzungen, die dafür die erforderlichen Finanzmittel Wir haben während der Haushaltsberatungen auch freimachen können. Die aktuellen Herausforderun- diesen Einzelplan 60 abgelehnt, zu Recht, wie wir gen können nicht mit halbherzigem Verwaltungshan- meinen; denn der Verteidigungsminister sieht den deln bewältigt werden. Einzelplan 60 als Ersatzentwicklungs- und Ersatzbe- schaffungsetat für Projekte an, die sich im Einzel- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) plan 14 mangels Masse nicht mehr unterbringen lie- Es sind, Herr Minister, Konzepte gefragt. Strategie ßen. Am Fachausschuß vorbei definierten Sie, Herr ist erforderlich, nicht taktisches Verhalten. Dr. Stoltenberg, den Bedarf der Bundeswehr wie z. B. die „künftige Panzerhauptbewaffnung", „mudulare (Beifall bei der SPD) Abstandswaffe Luft/Boden", „Kleinfluggeräte Zielor- Eine auf 370 000 Soldaten schrumpfende Bundeswehr tung", „Luft/Luft-Flugkörper AMRAAM" und vieles muß nach sorgfältiger Planung entschlossen umstruk- andere mehr. Hier wurden Forderungen für die Streit- turiert und neu gegliedert werden. Sie muß anders kräfte definiert, wie sie sich in Angriffsoperationen ausgerüstet werden. Sie muß einen neuen Auftrag der Golfkoalition bewährt haben. Das lehnen wir für bekommen. die zukünftige Ausrüstung unserer Streitkräfte aber (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie sind ab. doch dagegen!) (Beifall bei der SPD) Wir halten bei entschlossenem, zielorientiertem Han- Ich merke wiederum an, daß die Bundeswehr kei- deln einen Finanzrahmen von unter 50 Milliarden DM nen den Herausforderungen der Zukunft entspre- für hinreichend und möglich. Um ein politisches Si- chenden Auftrag hat. Noch ist der Einsatz der Bundes- gnal in diese Richtung zu setzen, lehnen wir diesen wehr auf reine Verteidigungsaufgaben im westlichen vorliegenden Einzelplan ab. Bündnis begrenzt. Bei der Änderung dieses Auftrags Der vorgelegte Etatentwurf wird den tiefgreifenden werden wir auf der Basis unserer Parteitagsbeschlüsse Veränderungen in den außen- und sicherheitspoliti- — das hat auch in dieser Debatte eine Rolle gespielt — schen Fragen nicht gerecht. Er bietet keine Grundlage mitzureden haben. für einen Umbau unserer Streitkräfte, der sich an den Für die obengenannten und in dieser Debatte er- drastisch veränderten strategischen und operativen wähnten Rüstungsprojekte gibt es derzeit kein ver- Gegebenheiten orientiert. nünftiges militärisches Konzept und keine sicher- Die großen Herausforderungen und Aufgaben für heitspoliltische Rechtfertigung. Hier wird aus politi- die nächsten Jahre spiegeln sich in der Ausgabenpla- schen und wirtschaftlichen Erwägungen heraus Geld nung des Verteidigungshaushalts nicht wider. Im Ge- verteilt, das wir für andere Aufgaben dringend benö- genteil, die bisherigen Ausrüstungs- und Beschaf- tigen. fungsprogramme werden im Grundsatz unverändert Meine Damen und Herren, von der Verringerung fortgeschrieben. Der Kollege Jungmann hat dies aus- der Streitkräfte sowohl der Bundeswehr als auch der führlich dargelegt. Unserer Meinung nach fehlt insbe- Stationierungsarmeen werden viele Soldaten, zivile sondere ein geschlossenes Gesamtkonzept, das sich Beschäftigte, Städte, Gemeinden und Regionen be- auf einen neuen Auftrag oder — wie Sie es im Vertei- troffen. Sie, Herr Minister, haben lange Monate ha rt digungsausschuß formuliert haben, meine Damen -näckig den gesellschaftlichen Dialog zur sozialver- und Herren von der Koalition — auf eine Fortschrei- träglichen Gestaltung für die betroffenen Menschen bung des Auftrags stützt. und die Notwendigkeit zur Strukturförderung in den Wir fordern die Aussetzung der großen Rüstungs- betroffenen Gebieten verweigert. Der Gipfel ist unse- projekte, da der künftige Auftrag der Streitkräfte rer Meinung nach jedoch, daß Sie nun, nachdem Sie nach Wegfall der Ost-West-Konfrontation durch die der Öffentlichkeit am 24. Mai Ihr Stationierungskon- 2028 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Walter Kolbow zept vorgestellt haben, den betroffenen Gebietskör- neueren Geschichte von Verbündeten und solchen perschaften und Ländern aber nur etwa sechs Wochen Staaten umgeben, die politisch und wirtschaftlich ei- zur Prüfung und Stellungnahme zubilligen wollen. nen vergleichbaren, längerfristig in einem europäi- schen Sicherheitssystem vielleicht sogar sicherheits- Sie haben nun die Folgen Ihrer restriktiven Informa- politisch verbündeten Status anstreben. Die sich für tionspolitik zu tragen. Sie — oder Ihr Vertreter, weil Deutschland herausbildende Sie dort ja nicht hingehen — werden bei der Abrü- Zentrallage erfährt durch die amerikanisch-sowjetische Annäherung und stungskonferenz in Hessen am 7. Juni das Entspre- den daraus resultierenden Interessenausgleich eine chende zu hören bekommen. Jetzt nämlich kommen um so nachdrücklicher die Fragen und Forderungen überregionale Einbettung. Angesichts dieser radikal veränderten politischen Landschaft ist nicht einzuse- der betroffenen Menschen auf den Tisch. Der Kollege hen, daß der Verteidigungsminister noch immer den Jungmann hat sie eindrucksvoll dargestellt. Ich darf zweitgrößten Einzeletat verwaltet. sie in einem Satz zusammenfassen. Wie planen Sie, Herr Bundesminister, sozialverträglich für die betrof- (Beifall bei der SPD) fenen Menschen? Was verstehen Sie unter Sozialver- Dies gilt auch, weil sich um die zentralstrategische träglichkeit? Erklären Sie uns in diesem Hause, daß Lage Deutschlands eine rundum gelegene Schutz- Sie gewillt sind, für die Wahrung des Besitzstands der zone gebildet hat und sich aus dieser Mittellage ein betroffenen Soldaten und Zivilbeschäftigten einzutre- weitgehender Schutz gegenüber aggressiven Land-, ten! Erklären Sie auch — das hat auch der Bundes- See- und Luftoperationen ergibt. Dabei ist das Ver- kanzler einmal getan; das ist gefährlich, aber stehen hältnis zu den regional peripher gelegenen Staaten Sie zu Ihren Aussagen — , daß es keinem Soldaten und insoweit von strategisch-operativer Bedeutung, als keinem Zivilbeschäftigten schlechter gehen soll als diese von dem wirtschaftlich starken und sich stabili- bisher! Erklären Sie auch, daß Sie Sozialpläne für jede sierenden vereinigten Deutschland, das hinter dem einzelne Dienststelle entwickeln werden und daß Sie von ihnen gebildeten Schutzcordon liegt, einen soli- einen nationalen Sozialplan und einen Konversions- darischen Sicherheitsbeitrag erwarten. Es ist vor die- fonds für die Bewältigung der Abrüstungsfolgen im sem Hintergrund absolut unverständlich, warum in Bundeskabinett nicht nur vorschlagen, sondern auch der neuen Heeresstruktur noch die „Dinosaurier", die durchsetzen wollen, wenn Sie dazu noch die Kraft gepanzerten, mechanisierten und äußerst kostenin- haben. tensiven Großverbände, in so großem Umfang überle- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und laut ben. SPD darf das alles nichts kosten!) Unverständlich ist auch, warum Sie, Herr Minister, Und bringen Sie endlich das Personalstärkegesetz in den Schnellen Eingreifkräften der NATO vergan- das Parlament ein, damit unsere Soldaten wissen, gene Woche in Brüssel in dieser Form zugestimmt woran sie denn mit Ihnen und mit Ihren Vorstellungen haben. Noch im März hatten sie entschieden, daß in diesem Zusammenhang sind! unter allen Umständen ein britisch geführtes „Ein- satzkorps" verhindert werden muß. Sie sind noch vor (Beifall bei der SPD) wenigen Wochen von Ihrem britischen Amtskollegen Meine Damen und Herren, das veränderte politi- im Streit geschieden, weil er unbedingt die angelsäch- sche und militärische Umfeld in Europa hat — das hat sische Dominanz bei diesem Korps durchdrücken hier wiederholt eine Rolle gespielt — traditionelle Be- wollte. Warum, so frage ich Sie, sind Sie in Brüssel drohungsszenarien obsolet werden lassen. Es ist bes- umgefallen? Warum haben Sie diese Strukturvorent- ser, von Risikoszenarien zu sprechen. Das bedeutet, scheidungen in der NATO mitgetragen, obwohl es daß Sicherheit nicht mehr in erster Linie ein militäri- auch die kreativen Köpfe auf der Hardthöhe — davon scher, sondern ein politischer Beg riff ist. Gefährdun- gibt es nicht wenige, ganz im Gegenteil — schmerzt, gen und Konflikte resultieren aus Instabilitäten im was Sie während der NATO-Tagung bei den Vertei- globalen Maßstab. digungsministern in der Planungsgruppe und auch in der nuklearen Planungsgruppe getan haben? Meine Die Überwindung der Ost-West-Konfrontation und große Sorge ist, daß die NATO mit Ihrer Hilfe Fakten die auf zwei Supermächten austarierte Weltordnung geschaffen hat, die die europäischen Pläne für eine hat in vielen Teilen der Welt neue oder seit langem eigene europäische Sicherheitsidentität konterkarie- latente Konfliktpotentiale freigesetzt. Angesichts ver- ren. Die derzeit stattfindenden Regierungskonferen- änderter Gefährdungen brauchen wir ein erweitertes, zen zur Europäischen Politischen Union, die sich ne- internationales Verständnis von nationaler Sicherheit. ben der Wirtschafts- und Währungsunion die Ent- Da jedoch diese Probleme, meine Damen und Herren, wicklung einer gemeinsamen Außen- und Sicher- primär aus ökonomischen Verwerfungen und ökologi- heitspolitik zum Ziel setzen, sind durch diese Ent- schen Risiken resultieren, sind militärische Mittel zur scheidungen weitgehend präjudiziert. Wir haben des- Konfliktlösung weitestgehend ungeeignet. Dennoch wegen heute in der außenpolitischen Debatte den wird Europa als Ganzes oder regional möglicherweise Außenminister aufgefordert, Ihren Fehler, den Sie auch künftig Risiken, Konflikten und Gefährdungen dort gemacht haben, wiedergutzumachen und deut- ausgesetzt sein, die eine militärische Vorsorge ange- sche Interessen dort zu vertreten. raten erscheinen lassen. (Beifall bei der SPD) Ich will Ihnen in der mir verbleibenden Zeit kurz unsere militärpolitischen und strategischen Folgerun- Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Fazit gen aus dieser Beurteilung aufzeigen. Deutschland ist, daß die Streitkräfte in Umfang, Struktur und Aus- gewinnt mit dem Zusammenwachsen Europas eine rüstung zur Durchführung einer Vielzahl von wech- strategisch zentrale Lage. Es ist erstmals in der selnden, nicht nur militärischen Aufgaben, sondern Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2029

Walter Kolb ow zunehmend auch humanitären Einsätzen im nationa- etwas von Ihnen nicht vernommen. Aber vielleicht len und multinationalen Verbund befähigt werden kommt das noch. müssen und daß dies eine Task-force-Organisation Über 73 Milliarden DM für die Instrumentalisierung erfordert, in der Verbände je nach Auftrag kombiniert eines Verteidigungskonzeptes, das aus den Zeiten werden. Wir werden in der Europäischen Politischen härtester Blockkonfrontation stammt und mit der da- Union, die NATO, WEU und KSZE — der gilt unser mals durchaus existierenden Kriegsgefahr begründet besonderes Augenmerk — teilweise abdeckend, da- werden konnte, passen heute nicht mehr in die euro- für Sorge tragen, daß sie zum wesentlichen Kristalli- päische politische Landschaft. Im Gegenteil: Das Fest- sationselement der künftigen europäischen Sicher- halten an dem bisherigen Konzept der Gesamtvertei- heitsstruktur wird. digung, das ja auch durch den offiziellen Aufruf zur Wenn man noch einmal das Zitat der „Süddeut- Ausarbeitung einer neuen NATO-Strategie bereits schen Zeitung" aufgreift, dann wird einem mit Ihnen hinfällig ist, ist sicherheitspolitisch auch schon des- auf dem Sitz des Bundesministers der Verteidigung, halb kontraproduktiv, weil es die Nachbarstaaten Herr Stoltenberg, ein wenig bang. Die „Süddeutsche Deutschlands nicht zur Abrüstung stimuliert. Zeitung" schreibt: Der Einzelplan 14 und alle anderen Einzelpläne, in Bundeskanzler Kohl hat ihn — den Verteidi- denen Verteidigungsausgaben versteckt sind, basie- gungsminister Dr. Stoltenberg — bei der letzten ren auf der falschen Voraussetzung, daß die Bundes- Kabinettsumbildung verschont; wahrscheinlich republik Deutschland in einem Krieg erfolgreich ver- aus Dank dafür, daß er in schweren Zeiten loyal teidigt werden könnte. Der Golfkrieg war hoffentlich zu ihm gestanden ist. Die Dankesschuld dürfte der letzte Beweis dafür, daß man ein Land zwar mili- aber inzwischen abgetragen sein. Sollte der tärisch vernichten, ökonomisch und ökologisch zer- Kanzler das Kabinett im Herbst ohnehin umbil- stören, nicht aber verteidigen kann. Selbst militäri- den müssen, dann sollte er Stoltenberg in seine sche Insider wissen, daß nach dem Ende des War- Überlegungen einbeziehen. schauer Vertrages und im Zusammenhang mit den Dem habe ich im Interesse der Soldaten, der Streit- Zerfallsprozessen in der UdSSR auch 370 000 Solda- kräfte und unseres Landes nichts hinzuzufügen. ten noch zuviel sind und daß der vielbeschworene- Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. militärische Abschreckungseffekt nicht mit Kriegs- projektionen à la Zweiter Weltkrieg erzielt zu werden (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ braucht. GRÜNE) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist wirklich dummes Zeug!) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat Frau Kollegin Vera Wollenberger. Was sollen also die sinnlosen Ausgaben für die Um- rüstung früherer NVA-Schützenpanzer oder die 10 Millionen für die ehemaligen NVA-Schiffe? Was Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Frau Prä- soll der dreiste Griff in die Kasse des Gemeinschafts- sident! Meine Damen und Herren! Die Verantwortli- werks Aufschwung Ost, um die ehemaligen NVA- chen für diesen Verteidigungshaushalt haben noch Dienststellen zu modernisieren? nicht mit der Denktradition des Kalten Krieges gebro- chen. Bei genauerem Hinsehen und in Kenntnis der (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ohne Bun- vielen kritischen Einzelbemerkungen aus anderen deswehr wären Sie gar nicht da!) Fraktionen ergibt sich für uns aber noch eine andere Warum müssen nahezu unveränderte Summen in den Bewertung. Aus unserer Sicht stellen der Einzel- Wartime Host Nation Support fließen, wenn es für plan 14 und der Einzelplan 35, die heute hier zur De- diese Bundesrepublik keine „war time" mehr geben batte stehen, einen echten Fall von Betrug und Selbst- wird, sondern höchstens eine „end time ", wenn sie die betrug dar. Nicht nur hier, sondern auch in den Me- ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme dien wurde bereits nachgewiesen, daß die im Einzel- der deutschen und der europäischen Einigung nicht plan 14 angegebenen 52,6 Milliarden DM nicht die lösen kann? einzigen verteidigungsrelevanten Ausgaben sind. Zu den nach NATO-Kriterien ausgewiesenen weiteren (Paul Breuer [CDU/CSU]: Ich stelle fest, ich 11 Milliarden DM verstecken sich in den Einzelplä- habe Sie völlig überschätzt!) nen 05, 07, 30, 33, 35, 36 und 60 noch einmal 10 Mil- Der Einzelplan 14 macht aber noch etwas anderes liarden DM. deutlich. Das Verteidigungsministerium, nun auch (Zuruf von der FDP: 70 haben Sie verges noch gestärkt durch die NATO-Pläne, setzt auf ver- sen!) schiedene Eingreiftruppen. Diese Pläne sind in unse- rem Verteidigungsministerium, wie bekannt ist, mit An dieses Betrugsmanöver hat sich zwar die Alt-Bun- ausgedacht worden. Damit wird die alte Linie des desrepublik gewöhnt. Wir aber vom Bündnis 90/ GRÜNE können und wollen das nicht. Der Herr Kol- Ausbaus der Offensivfähigkeit der Bundeswehr in operativer Hinsicht fortgesetzt. lege Müller hat vorhin gesagt, daß der Verteidigungs- haushalt mit seinen 52,6 Milliarden DM auf ein ver- Warum müssen luftgestützte Abstandswaffen, Jä- nünftiges Maß zurückgeschnitten worden ist. Man ger 90, Panzerabwehrhubschrauber, Pioniergerät für hätte erwarten können, daß sich die Kollegen von der schnelle Flußübergänge, neue Fregatten und U-Boote Regierungskoalition vor allen Dingen gegen die of- sowie 35 ECR Tornados bezahlt werden, wenn sich fenbar unvernünftigen versteckten Verteidigungs- die osteuropäischen Nachbarn sowie die neutralen ausgaben aussprechen würden. Leider habe ich so und nicht paktgebundenen Staaten in militärischer 2030 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Vera Wollenberger Hinsicht am Konzept der nichtoffensiven Verteidi- Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Nein, ich gung orientieren? — Ich glaube, der Herr Kollege möchte erst zum Ende kommen. Müller ist die Erklärung, wozu der Jäger 90 im näch- sten Jahrtausend denn notwendig sein soll, schuldig (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Dann muß geblieben. Sie haben mir diese Frage leider nicht be- ich das gleich als Zwischenruf machen!) antwortet. Andererseits beeilt sich das Verteidigungsministe- (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: rium nicht mit dem Verkauf bzw. der Freigabe von Wir brauchen ein neues Flugzeug!) Liegenschaften der Ex-NVA, um die Einnahmebilanz positiv zu beeinflussen. — Warum? Das können Sie mir vielleicht einmal privat Wie politisch instinktlos und militärisch infantil sich erzählen. das Verteidigungsministerium benimmt und dazu die (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Steuergelder mißbraucht, ist an der Aufnahme der Weil das andere alt ist!) Tiefflugübungen über dem Territorium der Ex-DDR zu sehen. Daraus kann man doch nur ableiten, daß die alte operative Offensivfähigkeit in die neue Weltpolizi- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: An keiner stenrolle passen soll, von der hier in diesem Hause Sitzung teilnehmen, aber hier Schlußfolge- mancher zu träumen scheint. rungen ziehen!)

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Diese Nai Einerseits behauptet das Verteidigungsministerium vität ist nicht zu überbieten!) mehrfach, daß es mit der Ausübung der Lufthoheit über dem gesamten Gebiet der Bundesrepublik auch Das Wort Verteidigungshaushalt erweist sich auch in einen Beitrag zum Schutz der sowjetischen Streit- dieser Hinsicht als Täuschung des Steuerzahlers und kräfte leisten will. Andererseits dehnt die Luftwaffe unserer Nachbarn. ihre bisher eindeutig gegen eben diese Streitkräfte gerichtete Übungstätigkeit aus, während die Übungs- Noch ein Umstand muß hier angesprochen werden, tätigkeit der sowjetischen Luftwaffe radikal einge-- der sowohl den Einzelplan 14 als auch den Einzel- schränkt wird. Ist das etwa vertrauensbildend? plan 35 unannehmbar macht. Truppenreduzierung, Truppenabzug, Standortschließungen und -verklei- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Hätten Sie es um- nerungen, wie sie sowohl aus dem Ressortkonzept des gekehrt lieber?) Verteidigungsministeriums vom 24. Mai dieses Jahres Einerseits behauptet das Ministerium, für den als auch aus den Verlautbarungen der Alliierten be- Schutz der Bürger dazusein und die Belastungen in kannt sind, führen nicht nur die bisherige Berech- Grenzen halten zu wollen. Andererseits dient als Be- nungsgrundlage des Verteidigungshaushaltes ad ab- gründung für die militärisch sinnlosen Tiefflugübun- surdum, sondern bringen auch völlig neue Kostenan- gen die impertinente Erklärung, die Bewohner müß- sätze hervor. ten langsam an Tiefflüge gewöhnt werden. Dennoch findet aber die ganze Breite der Rezivili- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Im Tiefflug sierung bzw. Konversion ehemals militärisch genutz- sind Sie!) ter und vernutzter Menschen, Mittel und Liegenschaf- ten keinen Niederschlag im Etat des Verteidigungs- Haben die Menschen in den neuen Bundesländern haushaltes. Nicht nur fällt der Punkt Rüstungskon- nicht genug Belastungen und Belästigungen, an die trolle und Abrüstung mit 233 Millionen DM lächerlich sie sich gegen ihren Willen gewöhnen mußten? niedrig aus, von dieser Summe ist auch lediglich die Einerseits behauptet das Verteidigungsministe- Hälfte für direkte Abrüstungsausgaben vorgesehen, rium, daß die Luftraumüberwachung über den neuen wenn man einmal die Konventionalstrafen für stor- Bundesländern mit der veralteten, dem Stand der 50er nierte Rüstungsaufträge der Ex-DDR als solche an- Jahre entsprechenden Radartechnik nur auf Grund sieht. des geringen Flugaufkommens und der langfristigen Die Abrüstung soll von den Kommunen und Län- Anmeldeverfahren für den Luftverkehr noch gesi- dern getragen werden, damit der Verteidigungshaus- chert werden könne, und fordert folglich Mittel zur halt nicht nur nicht gekürzt, sondern in voller Höhe für Neubeschaffung. Andererseits aber erhöht dasselbe die Reorganisation der Streitkräfte genutzt werden Ministerium ohne Begründung die militärische Flug- kann. Offensichtlich ist sich das Verteidigungsmini- dichte über diesem sensiblen Gebiet. Will man damit sterium nicht im klaren darüber, daß selbst die angeb- etwa den Nachweis für die dringende Modernisierung lich so reiche Bundesrepublik Deutschland nicht in erbringen und die Steuerzahler unter Druck setzen, der Lage ist, gleichzeitig die Kosten für die deutsche eben jene Militärtechnik zu beschaffen, die nicht nur Einheit, für die Entwicklung Osteuropas und der Drit- zur allgemeinen Luftraumüberwachung dient, son- ten Welt sowie für eine derartige Streitkräftemoderni- dern von Anfang an in das NATO-Frühwarnsystem sierung aufzubringen. einbezogen ist? Wird damit nicht sogar die NATO- Integration Ostdeutschlands vor 1994 eingeleitet? Daraus kann sich nur eine Forderung ergeben: kein Geld für den Ausbau der militärischen Luftraumüber- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegein wachung, sondern Umleitung dieser Mittel in den Wollenberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Haushalt des Verkehrsministers für eine moderne zi- Herrn Kollegen Nolting? vile Luftraumüberwachung. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2031

Vera Wollenberger Die politisch instinktlosen, militärisch sinnlosen und sich auf neue Bedingungen einzustellen. — Sie sollten ökologisch nicht zu verantwortenden Tiefflüge müs- wissen, daß es sich hierbei um politische Entscheidun- sen aufhören. gen handelt, die mit Zustimmung des Deutschen Bun- (Beifall bei dem Bündnis 90/GRÜNE sowie destages 1987 diskutiert wurden und mit deren Um- bei Abgeordneten der SPD — Zuruf von der setzung 1988 begonnen wurde. So, wie Manfred Wör- CDU/CSU: Komm, komm, komm! So in ner einmal die unbezahlten Rechnungen von Herrn stinktlos sind Sie doch gar nicht!) Apel und Herrn Leber finanzieren mußte — zu einem Zeitpunkt, zu dem, relativ gesehen, was den Anteil am Aus unserer Sicht gebietet die veränderte militäri- Haushalt angeht, ungleich mehr für Rüstung ausgege- sche, politische und wirtschaftliche Situation in ben wurde als heute —, Deutschland und in Europa, das der Verteidigungs- haushalt 1991 nur ein Nothaushalt sein kann, der mit (Walter Kolbow [SPD]: Zu anderen Zeiten!) einem Minimum für die laufenden Ausgaben auszu- so müssen natürlich auch wir gewisse Weichenstel- kommen hat und in dem alle die Ausgaben storniert lungen früherer Jahre heute ordnungsgemäß abwik- werden müssen, die mit der mittel- und langfristigen keln. Gestaltung der deutschen Streitkräfte sowie des Sy- stems der Gesamtverteidigung verbunden sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie fordern Weil das zum Einmaleins eines sachkundigen Haus- also mehr Mittel!) halts- und Verteidigungspolitikers gehört, unterstelle Die Bundesrepublik ist weder heute noch in unmittel- ich, daß Sie hier wider besseres Wissen gesprochen barer Zukunft militärisch so bedroht, daß wir nicht in haben, weil Ihnen bessere Argumente für Ihre Pole- Ruhe über jenes militärische Minimum nachdenken mik nicht einfallen. könnten, das wir für die Zukunft wirklich brauchen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben kein Geld für militärische Fehlplanungen oder veraltete militärische Planungen zu verschen- Ich werde natürlich auch nachdenklich, wenn Sie ken. Aus dieser Verantwortung heraus lehnen wir die die bekannten Formeln zum Thema Jäger 90 nur wie-- vorgelegten Einzelpläne ab. derholen. Ich will nicht das wiederholen, was die Kol- Ich danke Ihnen. legen aus CDU/CSU und FDP ausgeführt haben über den Stand unserer Meinungsbildung und die Fragen, (Beifall bei dem Bündnis 90/GRÜNE sowie die wir entscheiden wollen. Mir kam nur in den Sinn, bei Abgeordneten der SPD — Arnulf Kried daß ich vor einigen Tagen in einer führenden deut- ner [CDU/CSU]: Das hätten Sie lieber schrift schen Zeitung gelesen habe, daß die sowjetische Re- lich zu Protokoll gegeben! — Vera Wollen gierung unter Präsident Gorbatschow bei der jetzt berger [Bündnis 90/GRÜNE]: Das mache ich wieder bevorstehenden großen Luftfahrtschau in Le außerdem noch!) Bourget bei Paris die MiG 32, die soeben in der Ent- wicklung fertiggestellte und in die Produktion ge- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der hende modernste Jagdflugzeugversion, der westli- Bundesminister für Verteidigung, Herr Stoltenberg. chen Welt präsentiert. Ich behaupte nicht, daß diese Entscheidung Gorbatschows ein Indiz dafür ist, daß er von der Politik der Kooperation abgeht, aber ich be- Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- haupte, daß Sie es sich nicht so leicht machen dürfen teidigung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- mit Ihren Primitivformeln, wenn wir die Welt von ren! Ich möchte gern einige Stichworte aus der außen- heute und das Verhalten anderer Staaten, hier vor politischen Debatte zu Grundfragen unserer Sicher- allem der Sowjetunion, betrachten. heitspolitik aufnehmen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Gernot Erler [SPD]: Ich habe Sie bei dieser Debatte gar nicht gesehen!) Frau Wollenberger, ich will das sehr höflich gegen- und dabei an das anknüpfen, was schon die Kollegen über einer neuen Kollegin sagen: Vieles von dem, was Müller (Wadern) und Thiele bei diesem Einzelplan Sie sagten, ist ja kritisch zu untersuchen, aber eines ist vorgetragen haben. klar: daß ein Jagdflugzeug keine Offensivwaffe ist und daß die Entwicklung eines Jagdflugzeugs kein Herr Kollege Kolbow und Herr Kollege Jungmann, Indiz für offensive Absichten ist. Sie haben eher — ich will das ganz höflich formulie- ren — holzschnittartig gesprochen. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Ich möchte dies Ihnen gegenüber nur als Fußnote Zuruf von der CDU/CSU: Mit dem stumpfen anmerken. Messer!) Ich möchte jetzt etwas zu den sicherheitspolitischen Sie haben, wenn Sie mit den Problemen des Verteidi- und strategischen Grundfragen sagen. Es ist so, daß gungshaushalts wirklich im einzelnen vertraut sind, wir uns in der nationalen Sicherheits - und Verteidi- zum Teil auch wider besseres Wissen Vorwürfe erho- gungskonzeption und natürlich vor allem in dem ben. neuen Bundeswehr-Konzept, daß ja nur eine eher Schauen Sie einmal: Sie haben die Haushaltsan- oberflächliche Erwähnung durch die Opposition ge- sätze für die auslaufende Ersatzbeschaffung für den funden hat, auf die veränderten Sicherheitsbedin- Leopard 2 und für die Umrüstung des Panzers gungen in Europa einstellen, freilich nicht in einer Leopard 1 als Beispiele für die Unfähigkeit der jetzi- eindimensionalen Betrachtung. Wir begrüßen alle gen Regierung oder für meine Unfähigkeit angeführt, miteinander, daß wir schrittweise ein besseres Mitein- 2032 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg ander von West und Ost in Europa erreichen und daß Wenn Sie nun heute sagen — ich kann mich ja nur der Eiserne Vorhang, der Europa getrennt hat, auch in wundern —, das hätten wir alles schon vor neun Mo- sicherheitspolitischer Hinsicht allmählich zerfällt. Wir naten machen sollen, dann will ich sagen: Vor acht begrüßen das alle miteinander. Bauen wir hier doch Monaten haben wir die Einheit Deutschlands erreicht. keinen Popanz auf in einer Diskussion am späten Wir haben ein Konzept für alle Standorte im vereinten Abend! Deutschland vorgelegt. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir ziehen natürlich tiefgreifende Konsequenzen Wenn Sie sagen, das hätten wir vor neun Monaten für die Reform der Allianz wie auch für die Bundes- machen können, dann muß ich wirklich einmal an der wehrplanung. Sie können mir ja vieles vorwerfen, Seriosität Ihrer Aussagen zweifeln, übrigens auch aber ich behaupte schlicht, daß wir in den letzten mancher Zitate, die Sie hier vorgetragen haben. sechs, sieben Monaten im Verteidigungsministerium (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sie ha- in der Vorbereitung von Entscheidungen des Deut- ben überhaupt nicht zugehört!) schen Bundestages wie der Bundesregierung wesent- — Ich habe das schon mitgeschrieben. Wir können lich weiterreichende Beschlüsse gefaßt haben, als es das ja nachher in Ruhe mit dem stenographischen Pro- vorher, etwa in den 70er Jahren, in Ihrer Regierungs- tokoll vergleichen, wenn es vorliegt. Ich habe es schon zeit der Fall war. mitgeschrieben. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir haben seit August Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, ge- letzten Jahres, seitdem klar war, daß wir — im Gegen- statten Sie eine Zwischenfrage? satz zu den Vorstellungen der SPD — am 3. Oktober die Einheit Deutschlands erreichen würden, vor und nach dem 3. Oktober an der gewaltigen Aufgabe der Walter Kolbow (SPD): Wenn Sie sie mitgeschrieben Auflösung der Nationalen Volksarmee und der haben, Herr Minister, würden Sie mir dann bitte er- Schaffung neuer Bundeswehrstrukturen mit einer In- stens sagen, wer von den Oppositionsrednern von tensität gearbeitet, daß auch unbefangene Kollegen neun Monaten gesprochen hat, und würden Sie mir der Sozialdemokratischen Partei zweitens zugeben, Herr Minister, daß die Kritik, die ich hier vorgebracht habe, darauf hinausgelaufen ist, ( [Nordstrand] [CDU/ daß Sie nicht rechtzeitig die Betroffenen beteiligt ha- CSU] : Gibt es das?) ben, einbezogen haben und haben mitwirken lassen anerkennen, daß dies eine ganz ungewöhnliche Lei- und daß von Ihrer Seite — ich meine hiermit die Koali- stung der Bundeswehr, aber auch der politischen Füh- tionsfraktionen — auch die Aufforderung an Sie ge- rung der Bundeswehr ist, meine Damen und Her- richtet wurde, die Dinge etwas offensiver, bürger- ren. freundlicher, betroffenenfreundlicher zu handha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben? Die Umsetzung der grundlegenden Vereinbarun- gen des Bundeskanzlers mit Präsident Gorbatschow Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- vom August, die etwas erreicht haben, was Sie nicht teidigung: Jetzt haben Sie einen dritten Punkt einge- für möglich hielten und was viele von Ihnen nicht führt, auf den ich später eingehen werde. wollten, nämlich daß wir seit dem 3. Oktober eine (Zuruf von der SPD: Nein, das ist nicht Bundeswehr haben und daß ganz Deutschland mit wahr!) Zustimmung der Sowjetunion Mitgliedstaat der NATO ist und die Umsetzung auch des anderen Teils, Ich bleibe dabei, daß Sie die seit Monaten immer ste- der Selbstbeschränkung Deutschlands auf 370 000 reotyp wiederholte Behauptung hier erneut aufge- Soldaten, ist natürlich mehr als eine mechanistische stellt haben, wir hätten das alles viel früher machen vordergründige Planung. können, und Sie haben von einem Dreivierteljahr ge- sprochen. Das ist der eine Punkt. Wir haben in den ersten Monaten dieses Jahres die Der zweite Punkt ist dann wirklich, daß wir das nach militärische Führungsorganisation der sogenannte meiner Überzeugung sehr schnell gemacht haben; in einem Umfang gestrafft, vereinfacht, Streitkräfte denn wir waren doch erst nach dem 3. Oktober in der der — das behaupte ich — in der Geschichte der Bun- Lage, die sogenannte militärische Infrastruktur, die deswehr ohne Beispiel ist. Darüber wird gründlicher wir, wie vieles andere dort auch, teilweise als Erbla- zu sprechen sein. Wir haben das ja gestern sechs, sie- sten, übernommen haben, überhaupt zu überprüfen, ben Stunden im Verteidigungsausschuß miteinander und wir haben natürlich erst seit Ende Februar die erörtert; übrigens, Herr Kolbow, dort ein bißchen Erkenntnisse, die wir brauchten, um unter Einbezie- sachlicher als hier, was Sie anbetrifft. hung der neuen Bundesländer — ausgehend von zum (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Teil ziemlich beklagenswerten Tatbeständen auch in der FDP) diesem Sektor — Folgerungen für eine gesamtdeut- Die Umsetzung dieser Planung ist natürlich eine der sche Streitkräfteplanung zu ziehen. großen innovatorischen Leistungen. Ich behaupte, daß wir mit unserem Konzept immerhin eine gute Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, ge- Grundlage dafür gelegt haben. statten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen (Zuruf von der FDP: Wohl wahr!) Hoyer? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2033

Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- Walter Kolbow (SPD): Würden Sie mir dann bitte teidigung: Ja, gern. Ich gehe dabei davon aus, daß auch das Ergebnis Ihrer Lesebemühungen, wenn es das, wie vorhin, die Redezeit nicht belastet. dazu gekommen ist, hier mitteilen und damit dann auch bestätigen, daß es in diesen Beschlüssen heißt: Dr. Werner Hoyer (FDP): Herr Minister Stoltenberg, „Deutschland wird auf absehbare Zeit Streitkräfte zur finden Sie es nicht zumindest ganz entzückend, daß Verteidigung brauchen. die Kollegen von der sozialdemokratischen Seite, die (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: die Bundeswehr vor kurzem noch auf deutlich unter Aber der nächste Satz!) 300 000 Mann reduzieren wollten, jetzt plötzlich zu- mindest im Zusammenhang mit dem Stationierungs- Ziel ist es, sie überflüssig zu machen."? Besteht Ein- konzept ihr Herz für die Streitkräfte entdeckt ha- verständnis einmal darüber, daß damit in diesem Zu- ben? sammenhang nicht nur von wirtschaftlicher Funktion die Rede ist, und zum anderen darüber, daß der Slo- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gan des Herrn Bundeskanzlers „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" auf das gleiche hinausläuft Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- wie unser zweiter Satz hier? teidigung: Ich habe bei der Mehrzahl der sozialdemo- kratischen Politiker, die sich bisher dazu geäußert ha- ben — nicht bei jedem einzelnen im Bundestag, aber Bundesminister der Ver- bei der Mehrzahl auch der sozialdemokratischen Bun- Dr. Gerhard Stoltenberg, teidigung: Die Aussage des Bundeskanzlers heißt destagskollegen —, den Eindruck, daß die Bundes- „Frieden schaffen mit weniger Waffen" , und zu der wehr und die Soldaten immer mehr, fast nur noch als bekennen wir uns ausdrücklich. Das heißt aber nicht gewertet werden. Das ist eine völlig Wirtschaftsfaktor eine Nullösung mit dem Ziel der Abschaffung unserer unerträgliche Betrachtungsweise, meine Damen und Streitkräfte, auch nicht längerfristig, weil das in der Herren, und zwar auch im Hinblick auf den Dienst, Welt, in der wir leben, mit unserer Sicherheit und mit den die Soldaten für unsere Sicherheit und Freiheit unserer internationalen Verantwortung unvereinbar weiterhin zu leisten haben. ist, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es liegen noch Nun darf ich mit Ihrer freundlichen Zustimmung zwei weitere Wortmeldungen zu Zwischenfragen vor, fortfahren. — Vieles, was hier an Scheingefechten zuerst die des Kollegen Nolting und dann die des Kol- dargeboten wird, und zwar nicht nur heute abend, legen Kolbow. Ich würde aber bitten, daß es dann mit beruht doch auf einem Mißverständnis. Meine Damen den Zwischenfragen ein Ende hat. und Herren, das Bekenntnis zur Zusammenarbeit und zum Dialog mit Blick auf unsere Nachbarn in Osteu- Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- ropa und vor allem auch mit Blick auf die Sowjetunion teidigung: Bitte sehr. — bei all ihren Unwägbarkeiten und Krisenerschei- nungen — über die Grenzen von NATO und EG hin- Günther Friedrich Nolting (FDP): Herr Minister, aus auf der einen Seite und das Bekenntnis zur Bünd- würden Sie mir zustimmen, daß wir die Bundeswehr nis - und Verteidigungsfähigkeit auf der anderen nicht verkleinern dürften, sondern um mindestens Seite ist kein Gegensatz, sondern beides ist notwen- 100 000 oder 200 000 Soldaten aufstocken müßten, dig, wenn wir unsere Verantwortung in der Welt von wenn wir den z. B. in der letzten Sitzung des Vertei- heute und morgen wahrnehmen wollen. digungsausschusses von SPD-Kollegen aus allen Län- (Beifall bei der CDU/CSU) dern gestellten Forderungen nach massiven Nachbes- serungen vor allen Dingen hinsichtlich der Zahl der Ich glaube, das ist der Kernpunkt, über den man sich Soldaten für einzelne Standorte folgten? wirklich verständigen sollte. (Zuruf von der SPD: Das ist doch gar nicht (Zuruf von der SPD) wahr!) — Es wird nur von einigen von Ihnen nicht mehr wirk- lich nachvollzogen und klar gesagt. Bundesminister der Ver- Dr. Gerhard Stoltenberg, Nun komme ich zu einem bestimmten Punkt, Herr teidigung: Herr Kollege Nolting, ich habe den Ein- Kollege Kolbow, weil Sie mich dankenswerterweise druck, daß diese Bewertung zutreffend ist. gestern mit allen Beschlüssen des Bremer Parteitages (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zur Sicherheits-, Verteidigungs- und Außenpolitik Jetzt noch abschließend Herr Kollege Kolbow. Ich ausgestattet haben. Da gibt es einige grundlegende schließe mich hierbei der Mahnung der Frau Präsi- wirkliche Widersprüche. Ich will das an zwei Beispie- dentin an. len deutlich machen. Ein Zitat ist vorhin in der außen- politischen Debatte schon kurz erwähnt worden. Es ist Walter Kolbow (SPD): Herr Bundesminister, wür- der Satz: den Sie mir bestätigen, daß ich Ihnen nach der gestri- Wir erstreben eine Weltordnung, in der Kriegs- gen Sitzung des Verteidigungsausschusses die Be- handlungen geächtet und unterbunden werden schlüsse des SPD-Parteitages von Bremen ausgehän- und die Vereinten Nationen das internationale digt habe? Gewaltmonopol erhalten.

Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- Das ist ein diskussionsfähiger Satz. teidigung: Ja, auf die wollte ich gleich eingehen. Aber dann sagen Sie wenige Seiten später: 2034 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg Eine deutsche Beteiligung an militärischen — Es ist auch nicht Ihre Aufgabe, mir die Wortwahl Kampfeinsätzen unter UNO-Kommando oder vorzuschreiben. Ich habe eine Gemeinsamkeit in ei- durch Ermächtigung der UNO lehnen wir ab. ner politischen Zielvorstellung entwickelt. Für uns ist Eine Welt von morgen, in der die UNO entschei- es nicht vorstellbar, daß wir kurzfristig die Bundes- dend in ihrer friedenssichernden, friedensstiftenden wehr unter diesem Vorzeichen in Frage stellen. Für und das Völkerrecht durchsetzenden Weise gestärkt uns ist es vorstellbar, daß wir nicht von heute auf mor- wird, ist ein Ziel, in dem wir uns einig sind. Natürlich gen, aber mittelfristig wirklich im Ausbau der Politi- haben wir zum erstenmal durch den Abbau der Kon- schen Union Europas zu einer Situation kommen, in frontation zwischen den Vereinigten Staaten und der der wir zu einer gemeinsamen europäischen Streit- Sowjetunion eine Chance, daß die UNO, 45 Jahre macht gelangen. Dann könnten wir vereint für inter- nach ihrer Gründung, diese Aufgabe nachhaltiger nationalen Frieden und Völkerrecht wirksamer ein- übernimmt. Aber wenn Sie sich dann zum Gewaltmo- treten als jetzt rein national. nopol für die UNO bekennen, können Sie doch die In Wahrheit haben wir das nationale Stadium be- Konsequenzen dieser Aussage nicht verweigern in reits mit dem Beitritt zum Atlantischen Bündnis über- einer Zeit, in der in Verbindung mit der Golfkrise die wunden. Diese Integration im Altlantischen Bündnis Tschechoslowakei unter Vaclav Havel und Polen un- kann eine Vorform für noch wirksamere Formen inter- ter Lech Walesa im Rahmen der alliierten Allianz nationaler Organisation sein. Streitkräfte an den Golf entsandt hatten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Warum hat denn ein Mann wie Vaclav Havel, über Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, weil die dessen großartige Persönlichkeit und dessen großar- Zeit voranschreitet, noch weniges sagen. Ich habe er- tige Leistung wir uns wahrscheinlich alle einig sind, klärt, daß wir mit der grundlegenden Veränderung diese Entscheidung getroffen, Herr Kollege Gansel? der Bundeswehrstrukturen, vor allem in den Kom- — Weil er damit demonstrieren wollte, daß die Tsche- mandobehörden, daß wir mit dem Konzept für die Sta- tionierung, wie ich glaube, tiefgreifende Schritte der choslowakei jetzt als Mitglied der Völkergemein- - schaft und als demokratischer Staat auch in dieser Erneuerung auch für die Bundeswehr zur Diskussion Weise internationale Solidarität übt. stellen. Aber die Bundeswehr muß die damit verbun- denen Probleme auch meistern können. Das gilt nun (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und Ver nicht nur für die militärische oder politische Führung; antwortung!) es gilt für die Soldaten und zivilen Mitarbeiter, denen Ihre Partei hat jetzt — ich habe das sehr wohl ver- natürlich in den kommenden Jahren Enormes abge- folgt — , abweichend von einigen ihrer eigenen Aus- fordert wird, wenn ein solches Konzept verwirklicht sagen zuvor, die ich mit Interesse und Sympathie ge- werden soll. In dem Punkt, daß wir hier flankierende lesen habe, und abweichend von den eindringlichen Maßnahmen in verschiedenster Form brauchen, Herr Mahnungen Willy Brandts eine Position beschlossen, Kollege Kolbow, sind wir uns einig; darüber haben wir die man als Verweigerung der internationalen Soli- gestern lange gesprochen, und wir werden weiter dar- darität gegenüber den Vereinten Nationen kenn- über sprechen. zeichnen muß. Aber es muß neben der Reduzierung auch eine Per- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) spektive dasein, daß wir weiterhin tüchtige junge Leute gewinnen, die bereit sind, als Berufs- und Zeit- Vizepräsident Renate Schmidt: Herr Minister, ge- soldaten einen wesentlichen Teil ihres Lebens mit statten Sie eine Frage des Herrn Kollegen Gansel? unseren Streitkräften zu verbinden. Deswegen haben wir ja in der Koalition vereinbart — der Bundeskanz- ler hat es öffentlich gesagt — , daß die Personalstruk- Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- teidigung: Bitte sehr, Herr Kollege. tur eben nicht so bleiben kann, wie sie jetzt ist, son- dern daß die Personalstruktur der Bundeswehr grundlegend verbessert werden soll, natürlich auch Norbert Gansel (SPD) : Herr Minister, Sie haben vor- bei den Stellenkegeln. hin das internationale Gewaltmonopol der UNO be- schworen. Bedeutet ein internationales Gewaltmono- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- pol nicht, daß die nationalen Armeen abgeschafft wer- neten der FDP) den, denn sonst ist es ja kein Monopol? Sind Sie also Deswegen begrüße ich die Bereitschaft, die Entschlie- auch der Auffassung, daß langfristig nationale Ar- ßung des Haushaltsausschusses, die in dieser Form meen und damit auch die Bundeswehr durch die ent- nicht mit den Vereinbarungen deckungsgleich ist, sprechende Autorität der UNO ersetzt werden kön- noch einmal zurückzuverweisen und sie erneut — ich nen? Wenn ja, dann weiß ich nicht, warum Sie die hoffe, auch unter Beteiligung der Verteidigungspoliti- Formulierung unseres Parteitags kritisiert haben. ker und des Verteidigungsministers — freundschaft- lich zu beraten. Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- Wir muten den Soldaten und zivilen Mitarbeitern teidigung: Herr Gansel, ich habe sehr genau formu- mit dieser Neustationierung wirklich eine ganze liert. Ich habe Ihre Aussage zitiert und Ihnen dann Menge zu. Es ist mit guten Worten und flankierenden gesagt: Wir sind uns einig, daß die UNO entscheidend Maßnahmen für Kommunen allein nicht getan. Wir gestärkt werden muß. Ich lege mich jetzt nicht auf die müssen vielmehr klarmachen, daß wir eine kleinere, Wortwahl der SPD fest. aber auch eine moderne Bundeswehr wollen. Wir (Norbert Gansel [SPD]: Aha!) müssen klarmachen, daß wir Verteidigungsfähigkeit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2035

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg auf niedrigem Niveau organisieren wollen, aber daß discher Streitkräfte — in der Ausschußfassung? der Dienst der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Ein- unverändert anerkannt wird und nicht nur dann, zelplan ist damit bei wenigen Gegenstimmen ange- wenn es um Standorte geht, sondern auch wenn es im nommen. Alltag um die Erfordernisse geht, zu üben und auch ordentlich auszubilden. Daran fehlt es gegenwärtig doch in manchen Bereichen der Bundesrepublik Ich rufe auf: Deutschland sehr. Einzelplan 10 Wir werden mit diesem Verteidigungsetat gewis- Geschäftsbereich des Bundesministers für Er- senhaft umgehen, wenn er so beschlossen wird. Er nährung, Landwirtschaft und Forsten setzt uns knappe Grenzen. Ich will das auch zu Ihren kritischen Bemerkungen sagen, Herr Kolbow. — Drucksachen 12/510, 12/530 — Ich habe auf Anfragen darauf hingewiesen, daß wir Berichterstatter: in der Vorbereitung dieses Etats noch nicht alle Auf- Abgeordnete Bartholomäus Kalb wendungen berücksichtigen konnten, die jetzt aus Dr. Sigrid Hoth den neuen Bundesländern kommen. Wir wissen seit Ernst Kastning wenigen Monaten, daß wir einen dringenden Investi- Die vorgesehenen Redner und Rednerinnen haben tionsbedarf haben, wenn wir dort zunächst 50 000 ihre Redebeiträge zu Protokoll gegeben.*) Ich glaube, und nach dem jetzt vorgelegten Konzept im Jahre wir danken Ihnen dafür alle ganz herzlich. 2000 66 000 Soldaten stationieren wollen, der auf (Beifall) mindestens 17 bis 18 Milliarden DM zu schätzen ist. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Ich bin der Meinung, daß wir nicht nur in der sozia- Einzelplan 10 — Geschäftsbereich des Bundesmini- len Gleichstellung, sondern auch in der Unterbrin- sters für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — in gung, also der Qualität der Kasernen, den Soldaten der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltun- drüben nicht lange das vorenthalten können, was in gen? — Der Einzelplan ist damit angenommen. - den alten Bundesländern seit 20 Jahren selbstver- ständlich ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich rufe auf: Wenn ich hier dafür werbe, daß wir die dafür erf order- Einzelplan 30 lichen zusätzlichen Mittel erhalten, dann ist das nicht Geschäftsbereich des Bundesministers für For- mit einem Kriegsminister oder einer unangemessenen schung und Technologie Aufrüstung in Verbindung zu bringen, sondern mit der Verantwortung, die wir für die Gleichmäßigkeit — Drucksachen 12/524, 12/530 — der Lebensverhältnisse in Deutschland haben und Berichterstatter: von denen wir die Soldaten der Bundeswehr drüben Abgeordnete Dr. Emil Schnell in den neuen Bundesländern nicht ausnehmen wol- Dietrich Austermann len. Werner Zywietz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch hier haben die Kollegen mit unserem Dank Meine Damen und Herren, verbale Bekenntnisse ihre Redebeiträge zu Protokoll gegeben.**) zur Bundeswehr und zu Soldaten müssen sich auch in Wer stimmt für den Einzelplan 30 in der Ausschuß- konkreten Entscheidungen widerspiegeln. Insofern fassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der hoffe ich, daß wir in jeder Hinsicht unserer Bundes- Einzelplan 30 ist damit angenommen. wehr auch eine gute Perspektive zu eröffnen vermö- gen. Vielen Dank. Ich rufe auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Einzelplan 31 Geschäftsbereich des Bundesministers für Bil- dung und Wissenschaft Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit schließe ich — Drucksachen 12/523, 12/530 — die Aussprache zu diesem Einzelplan. Berichterstatter: Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff zum Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Carl-Ludwig Thiele Drucksache 12/659 zum Einzelplan 14. Wer stimmt für Hinrich Kuessner diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Auch hier haben die Kollegen ihre Redebeiträge zu Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist damit ab- Protokoll gegeben.***) gelehnt. Wer stimmt für den Einzelplan 31 in der Ausschuß- Wer stimmt für den Einzelplan 14 — Geschäftsbe- fassung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — reich des Bundesministers der Verteidigung — in der Der Einzelplan 31 ist damit angenommen. Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan ist damit angenommen. *) Anlage 2 Wer stimmt für den Einzelplan 35 — Verteidigungs- **) Anlage 3 lasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt auslän ***) Anlage 4 2036 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Vizepräsidentin Renate Schmidt Ich rufe den heute morgen aufgesetzten Zusatz- schäftsordnung beschlossen, daß über die Änderun- punkt auf: gen im Deutschen Bundestag gemeinsam abzustim- men ist. Wer der Beschlußempfehlung des Vermitt- Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- lungsausschusses auf Drucksache 12/650 zuzustim- schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes men wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Ä n- Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Da- derung des Landwirtschaftsanpassungsgeset- mit ist diese Beschlußempfehlung des Vermittlungs- zes und anderer Gesetze ausschusses mit großer Mehrheit angenommen. — Drucksachen 12/161, 12/404, 12/589, 12/650 — Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- ordnung angekommen. Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? destages auf morgen, Donnerstag, den 6. Juni 1991, 9 Uhr ein. (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Der verzich tet!) Ich wünsche Ihnen einen guten Abend. — Das habe ich mir beinahe gedacht. Die Sitzung ist geschlossen. Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungs- ausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge (Schluß der Sitzung: 20.43 Uhr)

- Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2037*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Wissmann, Matthias CDU/CSU 05. 06. 91 entschuldigt bis Zierer, Benno CDU/CSU 05. 06. 91** Abgeordnete(r) einschließlich * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Adler, Brigitte SPD 05. 06. 91 lung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Antretter, Robert SPD 05. 06. 91** Blunck, Lieselott SPD 05. 06. 91** Böhm (Melsungen), CDU/CSU 05. 06. 91* Anlage 2 Wilfried Büchler (Hof), Hans SPD 05. 06. 91** Zu Protokoll gegebene Reden Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 05. 06. 91** zum Einzelplan 10 - Geschäftsbereich des Catenhusen, SPD 05. 06. 91 Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft Wolf-Michael und Forsten - - Drucksachen 12/510, 12/530 - Diller, Karl SPD 05. 06. 91 Duve, Freimut SPD 05. 06. 91 Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Bei der Vorberei- Glos, Michael CDU/CSU 05. 06. 91 tung auf diesen Redebeitrag habe ich ein wenig in Haack (Extertal), SPD 05. 06. 91 Unterlagen der zurückliegenden Jahre geblättert. Karl-Hermann Kaum eine Rede, kaum eine Schlagzeile in der es Haschke CDU/CSU 05. 06. 91 nicht hieß: Lage der Landwirtschaft so schlecht wie (Großhennersdorf), nie zuvor, kritische Lage, ernste Situation, die Geduld Gottfried ist zu Ende, es muß endlich gehandelt werden, usw. Irmer, Ulrich FDP 05. 06. 91 Es wird manchmal der Eindruck erweckt als wäre Kirschner, Klaus SPD 05. 06. 91 nichts getan worden. Das Gegenteil ist der Fall! Allein Kittelmann, Peter CDU/CSU 05. 06. 91** der Bund hat in den Jahren von 1983 bis 1990 seinen Agraretat von 5,9 auf 9,9 Milliarden DM angehoben 05. 06. 91 Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU und damit weit überdurchschnittlich gesteigert. Ähn- Klaus W. lich verhält es sich mit den Aufwendungen der EG Lummer, Heinrich CDU/CSU 05. 06. 91** und der Bundesländer. Deren Leistungen dürfen in Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 05. 06. 91** diesem Zusammenhang keineswegs vernachlässigt Erich werden. Marten, Günter CDU/CSU 05. 06. 91** Unsere Aufgabe ist es, in erster Linie Politik mit Dr. Meyer (Ulm), Jürgen SPD 05. 06. 91 Geld zu gestalten. Es stellt sich für mich aber die Dr. Meyer zu Bentrup, CDU/CSU 05. 06. 91** Frage: Können die Probleme der Landwirtschaft über- Reinhard haupt gelöst werden, und wenn ja, können sie mit Michels, Meinolf CDU/CSU 05. 06. 91** Geld bzw. mit mehr Geld gelöst werden? Dr. Müller, Günther CDU/CSU 05. 06. 91** Zunächst sehe ich nichts, was auf eine Beendigung des Strukturwandels hindeuten würde. Eher wird sich SPD 05. 06. 91 Pfuhl, Albert wegen der Verhältnisse in den neuen Bundesländern Dr. Probst, Albert CDU/CSU 05. 06. 91** eine beschleunigende Rückwirkung auf die alten Reddemann, Gerhard CDU/CSU 05. 06. 91** Bundesländer ergeben. Jedenfalls wird er sich in etwa Reimann, Manfred SPD 05. 06. 91** im Rahmen der Steigerung der Arbeitsproduktivität Reuschenbach, Peter W. SPD 05. 06. 91 - und das ist die eigentliche Wurzel des Struktur- von Schmude, Michael CDU/CSU 05. 06. 91** wandels - fortsetzen. Im übrigen gibt es ihn nicht erst seit wenigen Jahren, sondern seit den Anfängen der Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 05. 06. 91 Technisierung und Industrialisierung. Allein in den Schulte (Hameln), SPD 05. 06. 91 letzten 20 Jahren ist die Zahl der insgesamt in der Brigitte Landwirtschaft Beschäftigten von 2,821 Millionen auf Seesing, Heinrich CDU/CSU 05. 06. 91 1,663 Millionen (41,4 %) und die Zahl der Vollbe- Singer, Johannes SPD 05. 06. 91 schäftigten sogar von 878 000 auf 373 000 (58 %) zu- Dr. Soell, Hartmut SPD 05. 06. 91** rückgegangen. Wir werden diese Entwicklung auch in Zukunft nicht aufhalten können, vor allem dann Dr. Stavenhagen, Lutz G. CDU/CSU 05. 06. 91 nicht, wenn uns nichts Neues einfällt. Steiner, Heinz-Alfred SPD 05. 06. 91** Dennoch sehe ich im Strukturwandel, im Gegensatz Terborg, Margitta SPD 05. 06. 91** zu vielen - auch aus dem Bereich der Betriebswirt- Vogel (Ennepetal), CDU/CSU 05. 06. 91** schaft und Wissenschaft - , nicht die Lösung der Pro- Friedrich bleme. Wir dürfen ihn deshalb nicht auch noch durch Vosen, Josef SPD 05. 06. 91 (falsche) politische Vorgaben künstlich beschleuni- Dr. Wieczorek CDU/CSU 05. 06. 91 gen. (Auerbach), Bertram Begünstigt bzw. beschleunigt wurde die Entwick- Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 05. 06. 91 lung dadurch, daß sich die Landwirtschaft selbst im- 2038* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 mer mehr aus den vor- und nachgelagerten Bereichen Rohstoffen und Energien, wie es Jahrtausende Auf- zurückgezogen und auf die reine Produktion mit einer gabe der Landwirtschaft war, zumindest teilweise zu- überdurchschnittlich gestiegenen Arbeitsproduktivi- rückübertragen werden. Die Koalitionsvereinbarun- tät zurückgezogen hat. Andererseits nimmt in moder- gen enthalten hierzu klare Aussagen. Erforderlichen- nen Volkswirtschaften der Anteil des Dienstleistungs- falls ist hier auch mit dem Instrument der Anwen- sektors immer mehr zu. Eine Änderung der strukturel- dungsgebote und -verbote zu arbeiten. len Entwicklung könnte es meines Erachtens nur Die Bedeutung und die Anerkennung landeskultu- dann geben, wenn es der Landwirtschaft gelänge, reller bzw. allgemeiner Wohlfahrtsleistungen werden Elemente der Dienstleistung, insbesondere im Ver- sowohl in der Koalitionsvereinbarung wie auch in der marktungsbereich, Fremdenverkehr u. a. zu überneh- Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut men. Kohl zum Ausdruck gebracht. Ich möchte in diesem Bleiben also die bekannten Probleme! Sind sie ein- Zusammenhang einem manchmal geradezu absicht- fach nur mit mehr Geld zu lösen? Nein! Oft höre ich lich — oder gar böswillig — herbeigeführten Mißver- von Bauern die Forderung: „Gebt uns anständige ständnis entgegentreten: Preise, wir brauchen keine Subventionen". Dabei Wir wollen die Bauern nicht zu hauptberuflichen wird gründlich verkannt, daß angesichts der über- Naturschützern oder Landschaftsgärtnern umfunktio- vollen Agrarmärkte der Versuch, eine Preis- und Ab- nieren. Vielmehr wollen wir, daß gerade durch geord- nahmegarantie zu gewährleisten, am teuersten ist, netes bäuerliches Wirtschaften die Schönheit unserer immer mehr Finanzmittel erfordert und gleichzeitig Landschaft und unsere Kulturlandschaft erhalten und die Einkommenswirksamkeit für den Bauern ungün- Gewässer und Grundwasser geschont werden. Dies stiger wird. Zudem ist die Verteilungswirkung äußerst muß auch in Zukunft die Landwirtschaft hierzulande unbefriedigend. Die EG-Kommission geht nach eige- positiv von der östlichen Kolchosen- oder amerikani- nen Angaben davon aus, daß sich 80 % der Mittel auf schen Farmwirtschaft unterscheiden. 20 % der (größeren) Betriebe und die restlichen 20 % der Mittel auf 80 % der (kleineren) Betriebe in Europa Die sogenannten landeskulturellen Leistungen verteilen. Zudem kann nicht geleugnet werden, daß müssen in Zukunft gesondert honoriert werden, weil die bisherigen Mechanismen der EG-Agrarmarktord- eine Abgeltung über die Erzeugerpreise bei Agrar- nung zur Mehrproduktion Anreiz bieten. produkten — wie in der Vergangenheit — nicht mehr erfolgt und auch in Zukunft nicht möglich sein dürfte. Ein Blick in die Agrarberichte beweist, daß die Maß- nahmen des Bundes, insbesondere die Leistungen im Dies ist auch ganz im Sinne der Marktwirtschaft, weil in der Tat keine höhere Nachfrage nach Nahrungsgü- Bereich der Agrarsozialpolitik, des soziostrukturellen tern aber ein ganz erheblicher Bedarf — gleich Nach- Einkommensausgleichs und der sogenannten Aus- frage — an intakter Landschaft besteht. gleichsleistungen, mit einem hohen Wirkungsgrad ei- nen Beitrag zur Verbesserung der Einkommen in der Dies werden wir auch gegenüber dem Bürger und Landwirtschaft darstellen. Steuerzahler mehr als bisher herausstellen müssen. Wir brauchen dringend eine durchgreifende Reform Wir kommen in einen Begründungszwang, und wir der Agrarpolitik, insbesondere der EG-Agrarpolitik. müssen die Legitimation öffentlicher Leistungen an Dazu ist es aber notwendig, zunächst eine klare Ana- die Landwirtschaft nachweisen. Diese ergibt sich in lyse und Zielbestimmung vorzunehmen. erster Linie aus dem gemeinwirtschaftlichen Nutzen. Wir müssen die sogenannten Wohlfahrtsleistungen Wie ist die Lage? — wie sie der Bauernverband nennt — sehr viel deut- 1. Die Zahl der Verbraucher in Europa stagniert. licher herausstellen, bewerten und honorieren. Ich bin sehr dafür, in der nationalen und insbesondere in der 2. Der Verbrauch pro Kopf ist eher rückläufig. europäischen Agrarpolitik im Rahmen einer durch- 3. Kaufkräftige Drittlandmärkte stehen kaum mehr greifenden Reform von den mengenbezogenen auf zur Verfügung. flächenbezogene Leistungen umzustellen. Dem müs- sen dann aber Einsparungen bei den Marktordnungs- 4. Die Agrarproduktion steigt trotzdem permanent kosten gegenüberstehen. Natürlich weiß ich, daß es an. — um Brüche zu vermeiden — notwendig ist, diese Wir müssen deshalb klar definieren, welche Aufga- Umstellung in Stufen und mit Übergangsregelungen ben die Landwirtschaft in unserer modernen Gesell- zu machen. schaft mit hohem Wohlstandsniveau zu erfüllen hat. Wir sollten zu einem bundesweit flächendeckenden Zur klassischen Aufgabe der Erzeugung hochwerti- Ausgleichszahlungssystem kommen, um landeskultu- ger Nahrungsmittel tritt immer mehr die Aufgabe der relie Leistungen abzugelten. Erhaltung einer intakten Natur- und Kulturlandschaft Mir machen die Vielzahl der Programme für die und der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des ländli- Landwirtschaft von EG, Bund, Ländern und zum Teil chen Raumes insgesamt, damit dieser seine Aufgabe Kommunen und die sich daraus ergebende Unüber- als Erholungs- und Regenerationsraum für alle sichtlichkeit, Kompliziertheit und Verbürokratisie- Schichten und Gruppen unserer Bevölkerung erfüllen rung große Sorgen. Unsere bäuerliche Landwirtschaft kann. Das heißt: Die Landwirtschaft erbringt Leistun- darf nicht zur Antrags- und Verwaltungslandwirt- gen für jeden Mitbürger, die sonst niemand erbringen schaft verkommen. und die er sich nicht im Ausland kaufen kann. Hinzu kommt — nicht zuletzt aus umweltpolitischen Grün- Deshalb müssen wir in Abstimmung zwischen Bund den — : Der Landwirtschaft müssen die Aufgaben der und Ländern und mit Zustimmung der EG die Vielzahl Versorgung der Bevölkerung mit nachwachsenden der bisherigen Programme zusammenfassen und ein Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2039* umfassendes und vor allem einfacheres Förderinstru- Es mag ja sein, daß die Vorschläge nicht ausrei- ment entwickeln. Auch aus diesem Grunde habe ich chend, nicht umfassend oder in Teilbereichen sogar die vorhin erwähnten Ausgleichszahlungen — oder völlig unannehmbar sind. Für mich scheint jedoch wie man sie künftig auch immer nennen wird — vor- eine Kursänderung erkennbar zu sein, die jedenfalls geschlagen. Wie die Erfahrungen in den benachteilig- in der Tendenz in die richtige Richtung weist. Persön- ten Gebieten Bayerns zeigen, können durch die Zu- lich höre ich oft und von vielen Seiten die Forderung, grundelegung der sowieso für jeden Bet rieb vorhan- es müsse etwas getan werden, etwas Gescheites, aber denen Landwirtschaftlichen Vergleichszahl (LVZ) bei wirklich echte Alternativen werden kaum aufge- der Bemessung der Hektar-Beträge relativ einfach zeigt. unterschiedliche Gegebenheiten wie Ertragskraft der Ich habe nun über viele Aspekte der Agrarpolitik Böden, Bewirtschaftungserschwernisse, ökologische gesprochen, aber nicht über die Situation der Land- Wertigkeit und anderes mehr sowie auch besondere wirtschaft in den neuen Bundesländern. Wir haben Bewirtschaftungsauflagen durch einen Zuschlag be- uns im Rahmen der Haushaltsberatung bemüht, durch rücksichtigt werden. Zu denken wäre auch an die Ent- Aufstockung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe wicklung einer Ökologischen Vergleichszahl. und anderer Maßnahmen den Erfordernissen Rech- Auch hinsichtlich des, in letzter Zeit für einige an- nung zu tragen, um der Landwirtschaft in den neuen scheinend zum Lieblingsthema gewordenen, Subven- Ländern in ihrem ungeheuer schwierigen Umstel- tionsabbaues ist die besondere Aufgabenstellung der lungs- und Umstrukturierungsprozeß zu helfen. Landwirtschaft zu berücksichtigen. Es kommt darauf Ich versuche zwar, mich zu informieren, mich sach- an, wofür Leistungen gewährt werden! kundig zu machen und hineinzudenken, gebe aber zu, daß ich mich nicht sachkundig genug fühle, um Das gilt auch für den häufig kritisierten großen hier weitreichende Ausführungen über die Landwirt- Posten der Agrarsozialausgaben. Bei genauerem Hin- schaft in den neuen Bundesländern machen zu kön- sehen wird man feststellen, daß im agrarsozialen Be- nen. Da ich selber Leute nicht mag, die über Dinge reich der sogenannte Generationenvertrag nicht bzw. reden, von denen sie nichts verstehen, möchte ich nicht mehr funktioniert, weil zwar die Leistungsemp- meinerseits diesen Fehler vermeiden. fänger im Bereich der landwirtschaftlichen Sozialver- sicherung verbleiben, die nachwachsende Generation Abschließend danke ich den Mitberichterstattern, aber aufgrund des Strukturwandels — ich habe vor- Frau Kollegin Dr. Sigrid Hoth, und dem Kollegen her einige Vergleichszahlen genannt — ihre Beiträge Ernst Kastning, für die gute und faire Zusammenar- in die Kassen anderer Sozialversicherungsträger be- beit. Wir haben uns bemüht im Rahmen unserer Mög- zahlen. lichkeiten den Notwendigkeiten Rechnung zu tragen. Herrn Bundesminister Ignaz Kiechle und all seinen Auf europäischer Ebene wird unverzüglich zu ent- Mitarbeitern wünsche ich alles Gute und viel Erfolg scheiden sein, welche Prioritäten bei den noch anste- bei der Umsetzung dieses Haushalts. henden Verhandlungen im GATT gesetzt werden sol- len. Aus deutscher Sicht kann — das ist jedenfalls meine Meinung — kein gesteigertes Interesse daran Ernst Kastning (SPD): Die enorme Steigerung des bestehen, daß der Kampf um Drittlandsmärkte, wie Agrarhaushaltes 1991 auf mehr als 14 Milliarden DM bisher, mit ungeheueren Exportsubventionen geführt ist vor allem in den hinzugekommenen Ansätzen für wird. Das kostet ungeheuer viel Geld, bringt verhält- die neuen Bundesländer begründet. Dennoch bleibt nismäßig wenig und belastet unnötigerweise die übri- der Einzelplan 10 hinter den Erwartungen zurück und gen Handelsbeziehungen. Ganz abgesehen davon, kann unsere Zustimmung nicht finden. Die Politik der daß es entwicklungspolitisch unvertretbar ist, drük- Bundesregierung wird den Problemen im Beitrittsge- ken wir damit selbst die Weltmarktpreise, was wie- biet nur unzureichend gerechet. Angesichts der be- derum höhere Exporterstattungen erforderlich vorstehenden Debatte zum Agrarbericht 1991 will ich macht. heute nur einige Punkte kurz ansprechen. Ich habe den Eindruck, als betreibe der zuständige Andererseits können Agrarmärkte nicht beliebig Bundesminister in dem wichtigen Bereich der Anpas- mit den Weltmärkten für andere, insbesondere Indu- sungs- und Überbrückungshilfen eine zurückhal- strieprodukte, verglichen werden. Weder Erzeuger tende Ausgabepolitik, um auf die LPGen Druck zur noch Verbraucher können und dürfen schutzlos den Transformation auszuüben. Dieses vermeintlich erzie- Wirrnissen des Weltmarktes ausgeliefert werden. Der herische Verhalten steht im Widerspruch zu der von Weltmarkt für Agrargüter ist nichts anderes als die mir geteilten Erkenntnis des Kollegen Susset, Voraus- Schutthalde der Überschußproduzenten. Deshalb setzung für den Umbau landwirtschaftlicher Unter- muß der Aufrechterhaltung eines wirksamen Außen- nehmen zu lebensfähigen Betrieben seien umfangrei- schutzes an den Grenzen der Europäischen Gemein- che Finanzhilfen. Ohne ausreichende finanzielle Un- schaft höchste Priorität eingeräumt werden. terstützung sind die meisten LPGen jeder Chance zur Eine grundlegende EG-Agrarreform wird sowohl Umstrukturierung beraubt. Warum dann die verhäng- wegen des inneren als auch des äußeren Druckes un- nisvollen Regelungen im Landwirtschaftsanpassungs- vermeidbar sein. gesetz? Warum die Halbherzigkeit in der Frage der Entschuldung? Gerade die Zahlungsverpflichtungen Nun sind die ersten Überlegungen der Kommission aus teils aufgezwungenen Altkrediten — so z. B. auch und insbesondere die von Kommissar Ray McSharry Staatssekretär Dr. Eisenkrämer — und die damit ein- auf breite Ablehnung besonders beim Berufsstand ge- hergehenden Liquiditätsprobleme sind es, die den an- stoßen. gestrebten Umbau erschweren. 2040* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Positive Ansätze sehe ich bei der Gemeinschaftsauf- in agrarpolitische Maßnahmen fließen, sind die Pro- gabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Kü- bleme der deutschen Landwirtschaft auch daran fest- stenschutzes". Die Mittel für die neuen Länder wur- zumachen. Damit ist die Bundesregierung keines- den — erfreulicherweise einvernehmlich — um wegs aus der Verantwortung entlassen. Die steigen- 150 Millionen DM aufgestockt. Daraus dürften zusätz- den Ausgaben der EG haben kaum Wirkung auf die liche beschäftigungswirksame Effekte entstehen. Zur landwirtschaftlichen Einkommen gehabt. Die jüng- Lösung der Probleme, wie z. B. der Förderung der stei- sten Brüsseler Agrarpreisbeschlüsse sind kein Durch- genden Zahl der Wiedereinrichter oder die Schaffung bruch zur Reform der Agrarpolitik. einer akzeptablen Infrastruktur im ländlichen Raum, wären sicherlich mehr Mittel erforderlich. Als Haus- Aus dem BML vernehme ich, statt der Verschwen- hälter sehe ich allerdings die Schwierigkeit, genaue dung volkswirtschaftlicher Ressourcen durch Über- und umsetzbare Summen zu benennen und die Mög- produktion könnten Haushaltsmittel besser direkt zur lichkeiten der Gegenfinanzierung durch die Länder Honorierung gesellschaftlich erwünschter Leistungen schnell zu lösen. der Land- und Forstwirtschaft eingesetzt werden; also direkte Einkommensübertragungen. Im Haushalts- Fast 6 Milliarden DM werden für agrarsoziale Maß- ausschuß wurde aus den Reihen der Union gefragt, nahmen bereitgestellt. Von der überfälligen Reform was aus den Zielen eines Entschließungsantrages der der agrarsozialen Gesetzgebung entdeckt man jedoch Koalitionsfraktionen vom November vorigen Jahres keine Spur. Immer noch weist die Gestaltung der Bei- (Drucksache 11/8481 vom 22. 11. 1990) geworden sei. träge und Zuschüsse zur Landwirtschaftlichen Kran- Der Antrag forderte, „bis zu einer erfolgten Neuorien- kenversicherung und zur Altershilfe Ungerechtigkei- tierung der EG-Agrarpolitik" direkte Einkommens- ten zu Lasten kleiner und mittlerer Bet riebe auf. Im- übertragungen an die deutschen Bauern vorzusehen mer noch bestehen Lücken bei der sozialen Absiche- oder die Mitverantwortungsabgabe auf EG-Ebene ab- rung der Landfrauen und mitarbeitenden Familienan- zuschaffen. Die Antwort blieb aus. Wurde der Antrag gehörigen. vielleicht nur für den 2. Dezember 1990 gestellt? Regierung und Koalition wollen jetzt mit dem Ren- Zu vielen Problemen des Einzelplans 10, die -ich tenüberleitungsgesetz eine neue Schräglage schaf- nicht angesprochen habe, u. a. zu den nachwachsen- fen. Einerseits wird die Gründung neuer p rivater den Rohstoffen, zur Zukunft der Agrarforschung in landwirtschaftlicher Bet riebe in den neuen Bundes- den neuen Ländern und zur Subventionsproblematik ländern gefördert, andererseits soll aber für die aus im Zusammenhang mit den Anstrengungen von Mini- den neuen Ländern stammenden Betriebsgründer die ster Möllemann besteht erheblicher Beratungs- und Landwirtschaftliche Altershilfe nicht eingeführt wer- Entscheidungsbedarf. Hierzu werden Sie, Herr Mini- den. Davon betroffen sind auch mehrere tausend be- ster Kiechle, sich spätestens im Herbst des Jahres klar reits existierende Inhaber von p rivaten Gartenbaube- äußern müssen, spätestens, wenn der Haushalt 1992 trieben. Geradezu kurios wird es, wenn jemand aus beraten wird. der alten Bundesrepublik in einem neuen Bundesland einen Betrieb gründet. Er ist bzw. bleibt Mitglied der LAK. Mit der unterschiedlichen versicherungsrechtli- Dr. Sigrid Hoth (FDP): Der Etat des Bundesministe chen Bewertung der beruflichen Tätigkeit als Land- riums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten um- wirt in Ost und West wird der Grundsatz der Rechts- faßt in diesem Jahr 13,86 Milliarden DM und enthält und Wirtschaftseinheit über Bord geworfen. Den selb- Verpflichtungsermächtigungen für die kommenden ständigen Landwirten und Gartenbauern im Osten Jahre in Höhe von 3,17 Milliarden DM. Neben den werden höhere Sozialversicherungskosten aufgebür- sozialpolitischen Maßnahmen, die mit einer Größen- det als denen im Westen. Der Hinweis auf die noch ordnung von insgesamt 5,642 Milliarden DM zu Bu- ausstehende AgrarSozialreform kann kein Hinde- che stehen, somit gegenüber dem Vorjahr eine Stei- rungsgrund für eine gerechte Lösung sein. gerungsrate von 6,4 % aufweisen und hauptsächlich den Bauern in den alten Bundesländern zugute kom- Voll einverstanden bin ich damit, daß verstärkt Mit- men, sind insbesondere Fördermittel für die Entwick- tel für die Verbraucheraufklärung im Beitrittsgebiet lung der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern bereitgestellt werden. Verbraucheraufklärung kann in Höhe von 4,07 Milliarden DM etatisiert. dazu beitragen, daß nicht zum existenzbedrohenden Nachteil für ostdeutsche Erzeuger bevorzugt West- Der nach wie vor äußerst komplizierte Umstruktu- ware gekauft wird. Landwirtschaftliche Produkte aus rierungsprozeß des ostdeutschen Agrarsektors, der unseren neuen Ländern sind qualitativ hochwertig durch zu große Betriebseinheiten, falsche Standort- und erreichen zunehmend sogenanntes Westniveau, entscheidungen, eine Überbesetzung an Arbeitskräf- wie die Kollegen Dr. Thalheim und Kuessner jüngst ten und zum Teil erhebliche Umweltbelastungen ge- richtig geäußert haben. Wünschenswert wäre es, da- prägt war, in leistungsfähige, eigenverantwortlich ge- mit nicht allein den AID zu beauftragen, sondern glei- führte, bäuerlich strukturierte Bet riebe unterschiedli- chermaßen die Orts- und verbrauchernahen Verbrau- cher Rechtsformen wird noch erschwert durch große cherzentralen. Mitunter frage ich mich, ob das bishe- Probleme im Bereich der Vermarktungs- und Verar- rige Verhalten von Handelsketten und Kaufhäusern beitungsindustrie landwirtschaftlicher Produkte. im Hinblick auf ostdeutsche Waren eigentlich wettbe- werbsrechtlichen Kriterien standhält. Die Bauern in den neuen Bundesländern können selbst mit größter Anstrengung den Umstrukturie- Der Einzelplan 10 spiegelt nicht die gesamte finanz- rungsprozeß nur dann erfolgreich gestalten, wenn wirksame Agrarpolitik wieder. Wenn aus dem EG- durch den Bund Finanzhilfen in erheblicher Größen- Haushalt allein rund drei Fünftel (60 Milliarden DM) ordnung bereitgestellt werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2041*

Wir haben uns deshalb besonders für die im Ver- die neuen Bundesländer in der Regel zeitlich begrenzt laufe der Haushaltsberatungen vorgenommenen Er- sind und daß ohne diese Maßnahmen der gesamtwirt- höhungen der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe schaftlich noch teurere totale Zusammenbruch der „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten- ostdeutschen Landwirtschaft kaum hätte verhindert schutzes" auf 650 Millionen DM für 1991 bei gleich- werden können. zeitiger Festschreibung von Verpflichtungsermächti- Die von mir aufgezählten Hilfen sollen in erster Li- gungen in Höhe von 755 Millionen DM für 1992 für die neuen Bundesländer eingesetzt. Diese Gelder sind nie Hilfe zur Selbsthilfe sein. Sobald die Umstruktu- rierungsphase abgeschlossen ist und die Entwicklung insbesondere für die Investitionsförderung bei der Wiedereinrichtung landwirtschaftlicher Betriebe, die aus eigener wirtschaftlicher Kraft weiterläuft, müssen die Hilfen abgebaut werden. Dies muß allen klar sein. Umstrukturierung von Genossenschaften, zur Markt- In der Landwirtschaft werden wir künftig mit weniger, strukturverbesserung sowie für Maßnahmen der Dorf- dafür aber gezielteren Subventionen auskommen erneuerung, des Straßen- und Wegebaus und der müssen. Wasserwirtschaft bestimmt. Das für marktstrukturverbessernde Maßnahmen in Die Überproduktion darf nicht weiter gefördert wer- den neuen Bundesländern geplante Finanzvolumen den. Die Weltmärkte müssen entlastet werden, Ex- von insgesamt über 1,1 Milliarden DM, die vorgese- portsubventionen ungeheuren Ausmaßes sind ange- henen Zuschüsse zur Zinsverbilligung von Darlehen sichts der handelspolitischen Probleme und der hohen für einzelbetriebliche Investitionsförderung in Höhe Verschuldung der Entwicklungsländer, die sich ihre von 5,5 Millionen DM, die für Flächenstillegung und Devisen kaum noch verdienen können, völlig unzeit- Extensivierung vorgesehenen 440 Millionen DM so- gemäß. Die jüngsten EG-Agrarpreisbeschlüsse sind wie die für Maßnahmen der Dorferneuerung bereitge- ein Schritt, wenn auch nur ein sehr kleiner, in diese stellten 15 Millionen DM werden den notwendigen Richtung. Der Mengenrückführung wurde vor weite- Strukturwandel ebenfalls unterstützen. ren Preissenkungen der Vorrang eingeräumt. Die Bundesregierung steht jedoch nach wie vor vor Die jüngst im Haushaltsausschuß unter maßgebli- - cher Beteiligung der FDP beschlossene Fortschrei- der Aufgabe, eine Neuorientierung der Agrarpolitik bung der Sonderbeihilfe für die Verfütterung von Ma- mit dem Schwerpunkt der Marktentlastung insbeson- germilch für weitere vier Monate, die eine Erhöhung dere durch mengenbegrenzende und absatzför- des national zu tragenden Finanzierungsanteils auf dernde Maßnahmen einzuleiten. Nicht nur die derzei- 60 Millionen DM bedeutet, trägt auch der Tatsache tige unbefriedigende Einkommenssituation der Bau- Rechnung, daß die derzeit noch bestehende Überpro- ern, die auf Grund der preismindernden Überschuß- duktion im Zusammenhang mit der Neustrukturie- produktion besteht, verlangt dies, sondern der vor der rung der Molkereien so stark auf die Milchauszah- Tür stehende EG-Binnenmarkt und der zu erwartende lungspreise drückt, daß sie derzeit um ca. 10 Pfennig/ Abschluß der GATT-Verhandlungen zwingen ge- kg unter dem Niveau westdeutscher Molkereien lie- nauso wie unsere angespannte Haushaltslage zu bal- gen. Hinzu kommt, daß auf Grund von Liquiditäts- digen, grundsätzlichen Entscheidungen. problemen das Milchgeld häufig verspätet ausgezahlt wird. Diese Situation kann dazu führen, daß die Horst Sielaff (SPD): Die Situation der Landwirt- Milcherzeuger, insbesondere die Neugründer, ihre schaft in den neuen wie in den alten Bundesländern Betriebe aufgeben müssen, bevor die geplanten Um- wird für die Betroffenen immer unerträglicher. Für die strukturierungen der Molkereibetriebe greifen und Öffentlichkeit erscheint sie zunehmend paradox: Im- Preise wie im Westen gezahlt werden können. mer noch werden Mittel in Milliardenhöhe an Sub- Ein weiteres Kardinalproblem besteht darin, daß ventionen in die Landwirtschaftspolitik gesteckt, aber nach wie vor westliche Produkte bei den Angeboten die Bauern werden immer ärmer. Kein vernünftiger in den neuen Bundesländern dominieren — nach An- Mensch versteht diese irrationale Politik. Selbst gaben des Ministeriums sogar einen Anteil von bis zu Staatssekretär Dr. Eisenkrämer vom Landwirtschafts- 70 % ausmachen — und der drastische Rückgang des ministerium erklärte am 13. Mai 1991, daß die „Neu- Anteils östlicher Marktprodukte ebenfalls auf die Er- ausrichtung der EG-Agrarpolitik ein Gebot der Ver- zeugerpreise drückt. Die Bundesregierung unterstützt nunft" sei. Daß die Sache total verfahren ist, bemerkt deshalb neben qualitätsverbessernden Maßnahmen inzwischen jeder Laie. Trotzdem hält die Bundesre- in Form der Molkerei- und Schlachthofstrukturpro- gierung an dieser verfehlten Agrarpolitik fest und gramme auch die Verbraucheraufklärung im Beitritts- zeigt keinerlei neue Perspektiven auf. gebiet mit 2,6 Millionen DM. Laut Agrarbericht der Bundesregierung wurden An dieser Stelle sei jedoch einmal die Frage gestellt, 1990 insgesamt 25,7 Milliarden DM öffentliche Hilfe ob nicht die Verpackungsaufschrift „Made in West für die westdeutsche Landwirtschaft aufgewendet. Germany" generell durch „Made in Germany" zu er- Das sind 34 267 DM Subventionssumme je landwirt- setzen ist; denn der Verbraucher sollte nicht dazu ver- schaftliche Arbeitskraft. Viele landwirtschaftliche Be- führt werden, die Qualiltät der Produkte anhand der triebe wären froh, wenn sie diese Summe erarbeiten Verpackung zu beurteilen. Außerdem gibt es ja wohl könnten. Viele Familienbetriebe erwirtschaften weni- seit längerem nur noch ein geeintes Deutschland. ger. Abschließend ist zu sagen, daß sich durch die För- Die Kosten der Getreidemarktordnung werden dermaßnahmen für die neuen Bundesländer natürlich 1991 knappe 11 Milliarden DM betragen; das sind einerseits der Anteil der Agrarsubventionen drastisch 170 % mehr als 1984. Im gleichen Zeitraum sind die erhöht hat, daß jedoch andererseits diese Hilfen für Getreidepreise von 49 DM auf 32 DM je Dezitonne, 2042* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 um 35 % zurückgegangen. Statt den Bauern aus- ändern können. Dabei müssen diese Verhandlungen kömmliche Preise zu sichern, fließen die auf gewende- zum Erfolg geführt werden, um das Bauernsterben in ten Subventionen in die Taschen weniger Lagerhalter der Bundesrepublik zu stoppen. und Exporteure. Das Ziel der Markteingriffe ist damit total verfehlt. Die Tonne Weizen wird mit 75 % des Die subventionierten Exporte müssen drastisch zu- rückgeführt werden, nicht zuletzt, um knappe öffent- Erzeugerpreises — das sind rund 265 DM — subven- liche Mittel für direkte Einkommensübertragungen tioniert, um sie auf dem Weltmarkt überhaupt verkau- fen zu können. freizubekommen. Die subventionierten Exporte kön- nen nur auf drei Wegen zurückgeführt werden, wenn 10 Millionen t Getreide lagerten vor Beginn der erstens entsprechend viele Flächen stillgelegt wer- Ernte noch in Lagerhallen der Bundesrepublik, den, oder zweitens andere, marktfähige Produkte auf 20 Millionen t sind es in der EG. Über 800 000 t Rind- den Flächen erzeugt werden oder drittens weniger auf fleisch lagern in den Kühlhäusern der EG; die Sub- den Flächen produziert wird. Die Bundesregierung ventionen übersteigen inzwischen schon den Waren- setzt auf die ersten beiden Möglichkeiten. Dies, ob- wert selbst. wohl die dafür aufgewendeten öffentlichen Mittel keine durchgreifende Wirkung zeigen. Die Über- Und dann stimmt der Landwirtschaftsminister am schüsse bei Getreide in der EG stiegen weiter an. Die 22. Mai 1991 auch noch auf der Agrarministerratsta- Talfahrt der Getreidepreise beschleunigt sich. Den gung der EG einem Preiskompromiß zu und nennt ihn deutschen Landwirten gehen unwiederbringliche einen Erfolg, obwohl die seit Jahren beschworene Re- Marktanteile verloren. form der EG-Agrarpolitik damit wieder nicht eingelei- tet wird. Im Gegenteil, deutsche Positionen werden Minister Kiechle preist dennoch unentwegt die drangegeben. Und das Ergebnis kostet viel Geld — Mengenrückführung über Flächenstillegung in Geld, das nicht vorhanden ist, im vorliegenden Haus- Deutschland, während Landwirte in exportorientier- haltsplan nicht eingeplant wurde. ten Nachbarländern lustig weiter ihre Produktion aus- dehnen. In Frankreich sind beispielsweise die Anbau- Der Agrarpreiskompromiß in der EG wird für Herrn flächen für Buchweizen in diesem Jahr um 8,7 % , für- Kiechle eine dramatische Entwicklung bringen: Hartweizen um 17 % und für Mais um 15 % ausge- Schon vor Jahren hat sich der Minister festlegen müs- dehnt worden. sen, keine weitere Milchquotenkürzung auf Kosten der Landwirtschaft zuzulassen. Aus der jetzigen Quo- Wir zahlen das meiste Geld aus der nationalen tenkürzung von 3 % — also etwa 850 000 t Milchab- Kasse für Brache, fürs Nichtstun. Wir entlasten damit nahme weniger — kann sich der Landwirtschaftsmi- die übervollen Interventionsläger vor Ort und die nister nur herauskaufen: Da werden 1,4 bis 1,7 Milli- Kasse in Brüssel — aber kaum unsere Landwirte. Um- arden DM benötigt, die nirgends im Haushaltsplan weltverträglicher und für die Landwirte nützlicher ist 1991 zu finden sind. Der Landwirtschaftsminister ist ja die Extensivierung in der Fläche. ein freundlicher Mensch, gutwillig ist er wahrschein- Die Politik der Bundesregierung ist landwirtschaft- lich auch, aber er hat keinerlei vernünftige Konzep- lich in der Sackgasse gelandet, sie führt nicht weiter, tion für die Gestaltung der künftigen Agrarpolitik. auch nicht national. Jetzt gibt es auf Betreiben der Selbst der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU/ Bundesregierung Beschlüsse in Brüssel über zusätzli- CSU-Fraktion Wissmann nennt die Agrarsubventio- che Flächenstillegungen, aber keine Beschlüsse über nen einen Skandal. Stimmt! Nur, wo bleiben die Kon- EG-einheitliche Prämien, die allein bezüglich Men- sequenzen aus dieser Erkenntnis? Laut Interview in genrückführung in der EG etwas bewirken könnten. der „Europäischen Zeitung", Ausgabe Juni 1991, er- Es bleibt alles beim alten. Wir legen Flächen still, klärte Kollege Wissmann richtig, daß alle großen In- andere produzieren munter drauflos. dustrienationen, also auch die Bundesrepublik, mit Die Agrarpolitik der Bundesregierung ist geschei- Milliarden Dollar den Export von Agrargütern sub- tert. Die Beschlüsse von Brüssel beinhalten selbst ventionierten, um damit die Märkte von Dritt- und nach Auffassung des CSU-Staatsministers Maurer aus Viertweltländern kaputtzumachen. An Stelle der Bayern „keine Zukunftsperspektive für die Bauern". Mengen- und Preisstützung schlug Wissmann direkte Dem vorgelegten Haushalt kann man deshalb nur die Einkommenstransfers für die Landwirte vor. Wir Zustimmung verweigern. freuen uns über die Einsichtigkeit — das sind unsere Vorschläge seit Jahren. Schade nur, daß die Politik der Bundesregierung bisher ganz anders aussieht. Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Li ste): Der Entwurf des Einzelplanes 10 ist aus Sicht der Erstaunlich ist, wie brav und regierungsfromm Gruppe der PDS/Linke Liste — und ich wage zu be- heute CDU und FDP argumentieren. Im Ausschuß haupten, auch aus Sicht der Mehrheit der Bauern — wurde ja bei der Beratung des Haushaltsplanes auch eine einzige Enttäuschung. Analysiert man die Struk- von Ihren eigenen Koalitionskollegen massiv Kritik an tur der Mittelverwendung, entdeckt man faktisch der Regierung vorgebracht, Herr Minister. Hat man keine neuen Elemente, man konstatiert vielmehr eine jetzt nicht mehr den Mut, öffentlich auch so deutlich von Konservatismus getragene Kontinuität der Agrar- zu reden und zu kritisieren? politik, die nicht dazu beitragen wird, der im Westen Von der Notwendigkeit einer Reform der Agrarpo- latenten und im Osten offen ausgebrochenen, sich ins- litik wird weiter geredet. Sie bleibt aber ein Sturm im gesamt zuspitzenden Agrarkrise Herr zu werden. Wasserglas, und in den Ansätzen des Haushaltsplanes An diesem Agrarhaushalt dokumentiert sich ein ist davon nichts zu sehen. Selbst die vor der Tür ste- weiteres Mal, daß die Koalitionsregierung über kein henden GATT-Verhandlungen haben daran nichts tragfähiges Konzept zur Bewältigung der großen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2043* agrarpolitischen Herausforderungen der Gegenwart gegen Besserungsscheine trifft, und unterstützen c) und Zukunft verfügt. Anstatt die Weichen in Richtung die Initiative zur Wertberichtigung der Bilanzen. allmähliches Zusammenwachsen — ich betone: Zu- sammenwachsen — der beiden unterschiedlichen Fünftens. Über den Stand der Evaluierung der Ein- deutschen Landwirtschaften und auf ihr Hineinwach- richtungen der Ernährungs- und Agrarforschung sen in den europäischen Binnenmarkt zu stellen, wird wurde bisher nicht informiert. Auch enthält der Ge- auf eine Anpassungs- und Eingliederungspolitik der samthaushalt nur eine globale undifferenzierte Zu- ostdeutschen Landwirtschaft an und in die westdeut- weisung von rund 195 Millionen DM an die ostdeut- sche Landwirtschaft gesetzt, so als könne im Westen schen Länder. Da bleiben die Fragezeichen groß, und alles beim alten bleiben. Dabei pfeifen es die Spatzen es ist zu befürchten, daß einiges den Bach herunter- vom Dach, daß auch im Westen eine neue Agrarstruk- geht und diese ganze Strecke der parlamentarischen turpolitik längst überfällig ist, um dem enormen Kon- Kontrolle entzogen werden soll. kurrenzdruck, den der europäische Binnenmarkt und Laut Agrarhaushalt ist lediglich für 120 Wissen- die GATT-Runde unweigerlich bringen werden, schaftler und wissenschaftliche Kräfte aus der Pflan- durch entsprechende Leistungsentwicklung erfolg- zenschutzforschung Kleinmachnow die Perspektive reich begegnen zu können. geklärt, aber die Ernährungs- und Agrarwissenschaf- Ausgehend von dieser grundsätzlichen Kritik, ten der ehemaligen DDR hatten rund 15 000 Beschäf- möchte ich vor allem folgendes feststellen: tigte. Der Agrarausschuß konnte sich vor erst 14 Ta- gen in Mecklenburg-Vorpommern vom hohen Stand Erstens. Der Agrarhaushalt sieht rund 30 % der Aus- der Tierproduktionsforschung in Dummerstorf über- gaben für die neuen Bundesländer vor. Unter norma- zeugen. Wir erwarten deshalb sachgerechte Entschei- len Verhältnissen wäre das angemessen. Da aber die dungen hinsichtlich der Übernahme von Forschungs- Verhältnisse alles andere als normal sind, ist der kapazitäten in die Bundesforschung und die entspre- Nachtragshaushalt bereits vorprogrammiert, will man chende haushaltsmäßige Einordnung. nicht auf eine komplette wirtschaftliche und soziale Katastrophe in den ostdeutschen Dörfern zusteuern. In Anbetracht der falschen Konstruktion des Agrar- haushaltes lehnen wir den vorliegenden Entwurf ab. Zweitens. Die Funktion der Anpassungshilfen ist der teilweise Ausgleich des enormen Preisbruches durch die Währungsunion. Dafür wurden allein im Ignaz Kiechle, Bundesminister für Ernährung, zweiten Halbjahr 1990 3 Milliarden DM ausgegeben. Landwirtschaft und Forsten: Drei Qualitäten sollen Für das ganze Jahr 1991 sind nur 1,2 Milliarden vor- — so sagt man — einen Politiker auszeichnen: Lei- gesehen. Damit lassen sich gerade die Preisdifferen- denschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. zen zwischen den alten und neuen Bundesländern Leidenschaft haben Sie, meine Damen und Herren decken, d. h. es bleibt keine müde Mark für den Preis- von der Opposition, das will ich nicht bestreiten, wo bruch übrig. Das hat nichts mit realistischer Finanz- aber ist das Verantwortungsgefühl gegenüber den und Agrarpolitik zu tun, auch nicht mit dem viel be- Bauern, wenn die Opposition im ganzen Land immer schworenen Anpassungsdruck. Sie werden auch in nur altbekannte Parolen zur Agrarpolitik vorträgt? der Alt-BRD keinen Betrieb finden, der einen Rück- Kritik an der Politik der Bundesregierung ist noch gang des Erzeugerpreisniveaus um weit mehr als 50 % lange kein Beleg für Sachkompetenz! Und auch um kurzfristig verkraftet. Nötig ist also die Aufstockung Augenmaß ist die Opposition offensichtlich nicht be- der Anpassungshilfen und die politische Entschei- müht. So ist das eben: In der Opposition können Sie dung, daß auch in den Folgejahren 1992 und 1993 fordern, was Sie wollen, Sie müssen nicht beweisen, solche Hilfen gewährt werden. daß Ihre Forderungen auch ernst gemeint sind. Dage- gen setzt die Bundesregierung mit dem Entwurf des Drittens. Für die neuen Bundesländer sind die Mit- Agrarhaushaltes 1991 wieder ein deutliches Zeichen tel zur Verbesserung der Agrarstruktur auch bei einer der Solidarität mit unserer Landwirtschaft und der Erhöhung auf 650 Millionen DM unzureichend. Hier Ermutigung für unsere Bauern. muß a) nachgebessert werden, b) sind höhere Förder- sätze als im Westen nötig, und c) ist die Chancen- Die Landwirtschaft macht derzeit eine schwierige gleichheit der Betriebsformen bei der möglichen Inan- Phase durch: Preise und Einkommen sind unbefriedi- spruchnahme von Mitteln endlich herzustellen. gend; die Perspektiven sind wegen der anstehenden Viertens. Trotz der im Osten geringeren Schulden- EG-Agrarreform und der GATT-Verhandlungen un- last je Hektar ist eine schnelle und gründliche Ent- klar; der Umstrukturierungsprozeß in den neuen Bun- desländern geht langsamer voran als erhofft. Es ist schuldung nötig. Das hat nichts mit Wettbewerbsver- zerrung zum Nachteil der Bauern der Altbundeslän- mittlerweile Allgemeingut: Die beste Preis- und Ein- der zu tun, sondern wäre ebenso wie höhere Förder- kommenspolitik für die Landwirte ist und bleibt die sätze ein elementarer Akt der Schaffung von Bedin- Ordnung der Märkte. Die Produktion ist an dem aus- gungen, damit die ostdeutschen Landwirte überhaupt zurichten, was der Markt mengen- und qualitätsmä- am Wettbewerb teilnehmen können. ßig verlangt. Mit diesem Ziel sind wir in die diesjäh- rigen Preisverhandlungen gegangen. Der nach lan- Man kann der Treuhand nur zustimmen, wenn sie gen Sitzungen gefundene Kompromiß bringt noch feststellt, daß die bewilligten 1,4 Milliarden DM nicht keine Lösung der Überschußprobleme in der EG, das ausreichen. Wir fordern deshalb, daß a) ein Teil der ist wahr, aber die Weichen wurden in die richtige Entschuldung auch aus Mitteln des Bundeshaushaltes Richtung gestellt, und die Richtung, in die wir gehen, erfolgt, b) der Herr Bundesfinanzminister endlich die lautet: EG-weite, gleichgewichtige Mengenrückfüh- längst überfällige Entscheidung zu Kreditaussetzung rung. 2044 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Mit dem neuen Sonderstillegungsprogramm in Ver- lich vorgesehenen 500 Millionen DM weitere 150 Mil- bindung mit der Befreiung von der MVA wird überall lionen DM bewilligt. in der EG ein deutlicher Anreiz gesetzt, lieber weniger Mit einem Bewilligungsrahmen von insgesamt als mehr Getreide zu produzieren. 1,4 Milliarden DM — einschließlich Verpflichtungser- Bei Milch wird EG-weit die Produktion vorerst um mächtigungen — ist der finanzielle Spielraum für 2 % zurückgeführt. Die Experten sagen uns: Der Strukturmaßnahmen in den neuen Bundesländern Milchmarkt verlangt eine Mengenrückführung von größer als im alten Bundesgebiet. mindestens 5 %. Soviel war diesmal am Ratstisch noch Der politische Wille ist klar: Im Osten muß mit allen nicht durchsetzbar. Über das, was noch fehlt, wird bei Mitteln ein rascher struktureller Umwandlungsprozeß der bevorstehenden Reform der Gemeinsamen Agrar- unterstützt werden. Aber noch etwas wird deutlich. politik entschieden. Wir haben jedoch für jetzt er- Die Landwirtschaft in Ost und West bedarf auch wei- reicht: Die gekürzte Milchquote wird den Bauern ver- terhin der nachhaltigen Unterstützung aus steuerli- gütet — die ursprüngliche Absicht der Kommission chen Mitteln. Zu den schon jetzt vorhandenen, kom- war eine entschädigungslose Kürzung — und eine men aus der bevorstehenden EG-Agrarreform und Herauskaufaktion auf freiwilliger Basis hat Vorrang den noch laufenden GATT-Verhandlungen weitere, vor einer linearen Kürzung. neue Herausforderungen auf die Bauern zu. Bei Zucker haben wir die Kommission dazu ge- Die Bundesregierung ist angetreten, alles in ihren bracht, den völlig unverständlichen Vorschlag einer Kräften Stehende zu tun, um eine geordnete Entwick- 5 %igen Stützpreissenkung zurückzunehmen. lung der deutschen Landwirtschaft sicherzustellen. In Die Preise, die die Bauern im Herbst am Markt diesem Sinne bitte ich Sie, meine lieben Kolleginnen erzielen, werden nicht in Brüssel festgesetzt. In Brüs- und Kollegen, um Ihre Unterstützung. sel geht es vielmehr um Preise für Überschüsse, die Ich danke allen, die — trotz teils unterschiedlicher der Intervention angedient werden. Das EG-Markt- Standpunkte — zum Gelingen der Beratungen über ordnungssystem sichert also bestimmte Mindestpreise den Einzelplan 10 beigetragen haben. — nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nur weil es - dieses Marktordnungssystem und den EG-Außen- schutz gibt, können die Agrarpreise in der EG meist weit über dem Weltmarktpreis liegen. Dies muß auch in Zukunft so sein; denn zu Weltmarktpreisen hätten Anlage 3 unsere Bauern keine Chance, Nahrungsmittel zu pro- duzieren und die Landschaft zu pflegen. Zu Protokoll gegebene Reden Wer dennoch auf Weltmarktpreise hinaus will, muß zum Einzelplan 30 — Geschäftsbereich des wissen: Der Staat wäre nie und nimmer in der Lage, Bundesministers für Forschung und Technologie — die vielen Milliarden DM auszugleichen, um den — Drucksache 12/524, 12/530 — Bauern ein ausreichendes Einkommen zu garantie- ren. Der Agrarpolitik werden doch schon die jetzigen Dietrich Austermann (CD U/CSU): Ausgaben für die notwendigen Subventionen für die Landwirtschaft Forschung müssen sich vor allem an der Frage messen ständig wie ein „Schuldschein" vor Augen gehalten. lassen, ob sie die nationalen Voraussetzungen in ei- Deshalb bleibe ich dabei: Den wesentlichen Teil ihrer nem international härter werdenden Technologie- Einkommen müssen die Bauern auch zukünftig über wettbewerb verbessern. In diesem Jahr ist besonders den Markt erwirtschaften können. Deshalb unser gro- kritisch zu prüfen, ob der jetzt zu verabschiedende ßer Einsatz für mengenbegrenzende Maßnahmen. Etat auch die neuen Aufgaben nach Beendigung der Der Staat kann Einkommen ergänzen, nicht aber er- Teilung zu bewältigen hilft. setzen. Wir haben, meine ich, einen gangbaren Weg gefun- Der ergänzende Charakter staatlicher Maßnahmen den, der dem Einzelplan im Regierungsentwurf noch ist gleichwohl keine billige Angelegenheit. Der nicht vorgegeben sein konnte, dafür sogar um 60 Mil- Agraretat beläuft sich 1991 auf 13,8 Milliarden DM. lionen DM auf 8,46 Milliarden DM aufgestockt und in Davon entfallen auf die Agrarsozialpolitik allein einem lebhaften „Gespräch" mit dem Fachausschuß 5,6 Milliarden DM; das sind gut 300 Millionen mehr auf der Basis des Regierungsentwurfs kräftige Ak- als im letzten Jahr. Erneut bedürfen in diesem Jahr die zente gesetzt: 600 Millionen DM von 3,5 Milliarden landwirtschaftlichen Betriebe in den neuen Bundes- DM stehen an Projektmitteln zugunsten der fünf ländern Anpassungs- und Liquiditätshilfen. Dafür neuen Länder bereit. sind 1,2 Milliarden DM angesetzt einschließlich des Durch Kürzungen, u. a. im Bereich der Kernener- Ausgleichs für benachteiligte Standorte. gieforschung, wurden die Mittel für medizinische For- Die vorgesehenen Ausgaben für die Gemein- schung, Ökologie- und Klima- sowie Energie- und schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und Mikroelektronikforschung kräftig erhöht. des Küstenschutzes" belaufen sich auf insgesamt rd. Die Forschungsmittel zugunsten der Forschungsge- 2,5 Milliarden DM, das sind 690 Millionen mehr als sellschaften (MPG, FhG) ermöglichen den Aufbau 1990. neuer Institute in den neuen Bundesländern. Allein Ein wichtiger Punkt in den Ausschußberatungen die Fraunhofer-Gesellschaft plant neun Einrichtun- war die Bereitstellung ausreichender Mittel für die gen und zehn Außenstellen für vorhandene Institute Umstrukturierung im neuen Bundesgebiet. Hier hat in den alten Bundesländern. Die Max-Planck-Gesell- der Haushaltsausschuß zusätzlich zu den ursprüng schaft plant 13 Arbeitsgruppen und 3 Institute. Wei- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2045* tere Hilfen ermöglicht das Hochschulerneuerungs- politik umgesetzt werden können. Es fehlt noch an programm für 15 bis 20 wissenschaftliche Einrichtun- Anträgen. gen. Vorhandene Institute werden überprüft. Dies Der Forschungshaushalt hat also einen alles überla- sollte übrigens gelegentlich auch bei westdeutschen gernden neuen Schwerpunkt: die neuen Bundeslän- Einrichtungen erfolgen. der. Auf Rekordhöhe steigen 1991 die Mittel für Raum- Die grundlegende Zielrichtung hat sich damit nicht fahrt (1,6 Milliarden DM). Eine Einbeziehung des In- geändert. Die Grundlagenforschung behält einen we- stituts für Kosmosforschung und der Firma Zeiss kann sentlichen Anteil am Gesamtetat, wird aber nicht stär- jetzt vorgesehen werden. ker ausgeweitet. Nach der Weltraumforschung erhält Die Mittel für ein laufendes Projekt „Innovative die Vorsorgeforschung — Klima, Umwelt, Gesund- Seehafentechnologie " sind verstärkt worden, um die heit — besonderes Gewicht. 44 % des Haushalts er- Häfen an der Ostseeküste für die Zukunft fit zu ma- möglichen Technologie- und Innovationsförderung. chen. Weitere 11 Millionen DM sind für Schiffstechnik Dabei muß schon hier deutlich gesagt werden, daß vorgesehen. So kann z. B. die Stralsunder Werft in diese technologischen Impulse so wenig Subventio- einem Projekt „Fischereischiff der Zukunft" ihre Pro- nen sind wie der Bau von Straßen oder Schulen, auch duktion auf neueste Technologien umstellen. wenn sie in Großunternehmen fließen. Die von der Für das Projekt der Magnetschnellbahn Transrapid, Opposition geübte Kritik an der Förderungspolitik für das bisher eine Trasse von Hannover nach Ham- geht fehl. Konkret definierte Forschungsvorhaben im burg bzw. im Ruhrgebiet erörtert wurde, soll eine Re- Auftrage des Staates sind Erfüllung öffentlicher Auf- ferenzstrecke in den neuen Bundesländern gesucht gaben, die häufig nur von Großunternehmen durch- werden. geführt werden können. Ein neues Ökosystemzentrum Bodenlandschaft Forschung heute heißt: Arbeitsplätze und gesi- wird in Mecklenburg-Vorpommern eingerichtet. Im cherte Zukunft. Dies ist etwas anderes als „Erhal- nördlichsten der fünf neuen Bundesländer dürften tungsbeihilfen". Es sollte jeder modernen Nation zur- auch die zusätzlichen Mittel — insgesamt 318 Millio- Ehre gereichen, hier zu klotzen und nicht zu kleckern. nen DM — für erneuerbare Energien Anwendung fin- Für Subventionsjäger bietet der Forschungshaushalt den. Wind- und Sonnenenergie, aber vor allem Geo- keine Trophäen. Die Mittel für kleine und mittlere thermie-Projekte können weitergeführt bzw. neu ein- Unternehmen werden übrigens gegenüber 1982 auf gerichtet werden. 500 Millionen DM kräftig aufgestockt. Hohe Beträge werden für die Erforschung der gro- Lassen Sie mich noch kurz über vier gesonderte ßen Volkskrankheiten bereitgestellt. Ein in der frühe- Themen sprechen, die die Diskussion in der For- ren DDR aufgebautes medizinisches Archiv wird für schungspolitik bestimmt haben oder bestimmen: medizinische Forschung gesichert. Raumfahrt, Energiepolitik, Transrapid und Mikro- elektronik. Aus dem Titel Biotechnologie sollen neue Projekte mit nachwachsenden Rohstoffen neue Wege in der Beim Thema Raumfahrt hat man den Eindruck, es Landwirtschaft aufzeigen. werde in Deutschland geradezu mit schlechtem Ge- wissen betrieb en. Die unbeteiligten Unternehmen Erhebliche Mittel stehen auch für die Erhaltung von beißen sich an dem Einzelaspekt der bemannten Kulturbauten und Wohnungsbausubstanz in den Raumfahrt fest. Die Beteiligten haben ihre Schwierig- neuen Bundesländern bereit. keiten mit der noch nicht geglückten Organisation der Die speziellen Probleme der neuen Bundesländer öffentlich-rechtlichen Seite, einschließlich der Über- sollen auch vor allem im Bereich Ökologie und Klima- wachung der ESA. forschung aufgenommen werden. Pilotprojekte wer- Während einzelne Projekte ihre Mittel nicht ausge- den die Sanierung kleinerer Flüsse und stehender ben können, werden andere notleidend. Die DARA ist Gewässer sowie die Beseitigung von Grundwasserbe- noch nicht topfit, und die DLR will noch nicht wahr- lastungen, exemplarische Altlastensanierungspro haben, daß sie nicht mehr die DARA ist. Das Manage- jekte, Waldschadensforschung z. B. im Erzgebirge ment ist teuer, aber noch nicht besser, weil niemand und die Erforschung der geologischen und techni- Kompetenzen abgeben will. Die SPD lehnt bemannte schen Voraussetzungen der alten Kaligruben in Thü- Raumfahrt einschließlich der Projekte Hermes und ringen und Sachsen-Anhalt als Sondermülldeponien Columbus praktisch ab, wie ihre Sperranträge — von zum Ziel haben. 126 Millionen bzw. 134 Millionen DM — zeigen. Besonders interessant dürfte auf dem Gebiet der Wir müssen die gewaltigen Leistungen der Raum- Energieversorgung die Aufnahme des Projekts fahrt anerkennen. Raumfahrt tut not. Sie liefert wis- „Braunkohlevergasung" sein. Am Freiberger Institut senschaftliche Erkenntnisse über das All und die Le- in Sachsen wurde ein Verfahren zur umweltfreundli- bensbedingungen auf der Erde (Grundlagenfor- chen Vergasung von Braunkohle, dem Hauptenergie- schung in Extraterrestik und Mikrogravitation), hilft träger in der früheren DDR, entwickelt. Dies soll jetzt zur Lösung von Umwelfragen durch Erdbeobachtung in einem Pilotvorhaben erprobt werden. und Klimaforschung, gewährleistet Telekommunika- Es wird gewaltiger Kraftanstrengungen in den Insti- tion, Navigation und technologischen Fortschritt, den tuten und Forschungseinrichtungen der neuen Bun- jeder Bürger täglich nachvollziehen kann, pflegt in- desländer bedürfen, damit die kräftigen Akzente noch ternationale Zusammenarbeit in der Wissenschaft und in diesem Jahr aus der Haushaltspolitik in die Real in der Völkerverständigung und ermöglicht die Verifi- 2046* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 kation von Rüstungskontrolle und Krisenmanage- terwerfen will: AdW Berlin, BESSY II, Kernfusion, ment. SICAN, erneuerbare Energie, Kernenergie — überall Wer dies bejaht, muß auch zu den Kosten stehen. wird der Ausstieg geprobt. 1991 sind es 1,6 Milliarden DM, im kommenden Jahr Das gilt auch für die Magnetbahn. Seit 1972 wird ist das „aktualisierte Leitmodell" der DARA nach dem das Projekt mit 1,4 Milliarden DM gefördert. Die Ma- Entwurf des 5. Weltraumprogramms bereits rund gnetbahn — ein Verkehrsmittel der Zukunft zwischen 350 Millionen DM teurer. Wir wollen, daß alle An- Flugzeug und ICE — ist „bedingt technisch einsatzbe- strengungen unternommen werden, die Nutzer (Tele- reit" , Einsatzfelderstudien liegen vor. Die wirtschaftli- kom und Arianespace) zur Kasse zu bitten. Es sollte chen Voraussetzungen der Strecke Köln—Düsseldorf- aber überprüft werden, ob ein Anteil von 25 bis 30 % Essen werden geprüft. Wir haben weitere Prüfungen für bemannte Raumfahrt vernünftig ist. von Hamburg über Berlin—Leipzig—Erfurt nach Mün- Und das Programm muß unbedingt auf die Beteili- chen oder Frankfurt in Auftrag gegeben. Eine Trasse gung der neuen Länder überprüft werden. Bei Ge- Berlin—Hannover neben dem ICE wäre freilich ziem- samtkosten für Raumfahrt von 25 Milliarden DM von lich überflüssig. 1990 bis 2000 sind 700 Millionen DM — für ein biß- Jetzt werden weitere 90 Millionen DM jährlich bis chen Mars-Kamera und ein bißchen PRIROD — ein- 1995 gefordert. Wir haben die Bereitschaft signali- fach zu wenig. Wenn es an Infrastruktur fehlt, muß sie siert, auch in diesem Jahr zu helfen. Aber es muß klar geschaffen werden. sein, daß die Magnetbahn kein permanentes Entwick- Die Beträge, die wir für Raumfahrt ausgeben, belau- lungsvorhaben ist, das im Organisationschaos ver- fen sich übrigens auf 2 % der Aufwendungen für For- sinkt und wegen der langen Laufzeit nie fertig werden schung und Entwicklung. kann. Sonst wird Forschungsförderung tatsächlich zur Zum Stichwort Kernenergie: Die SPD hat Anträge in Subvention. Die wesentlichen Kosten der ständigen einem Volumen gestellt, das über 1 Milliarde DM Reparaturen, z. B. am Fahrweg, sind Kosten der Er liegt. Kürzungen von rund 150 Millionen DM bei SNR, steller der Anlage ähnlich wie die sonstigen Instand- setzungen. - HTR, Reaktorsicherheit und Entsorgung — Endlage- rung als staatliche Aufgabe nach AtomG — und eine Zusammen mit dem Bundesverkehrswegeplan muß Sperre bei Transrapid in vollem Umfang sind erwäh- die Anwendungsstrecke festgelegt und die Sanierung nenswert. abgeschlossen sein. Das Dauerversuchsprogramm Nachdem die Kernkraftförderung 1982 Rekordhöhe mag dann auf der späteren Anwendungsstrecke hatte, sind die Mittel heute auf ca. ein Drittel herun- selbst durchgeführt werden. Wir wollen Technologie tergefahren worden, nämlich auf 571,5 Millionen DM. für die Zukunft und Fortschritt in der Technologie und Bei Reaktorsicherheit und Entsorgung zu sparen oder keine Investitionsruine. Der Weg dafür ist beschrie- gar die Verfahren durch verfassungswidriges Verhal- ben. ten — wie in Niedersachsen — zu torpedieren ist un- Schließlich muß zur Mikroelektronik und Informa- verantwortlich. tionstechnologie etwas gesagt werden. In der alten Ob die Beendigung des Schnellen Brüters, eines DDR war dies ein Gebiet, das ohne Rücksicht auf an- Prototyp-Reaktors, infolge des rechtswidrigen Verhal- dere Bereiche höchste Unterstützung erfuhr, ohne da- tens der NRW-Landesregierung wirklich zu bejubeln mit die gewünschten Ergebnisse zu liefern. Für die ist, muß man bezweifeln. Beide Entscheidungen zei- Förderung der Informationstechnik in den neuen Bun- gen, daß vernünftige, umweltfreundliche, preisgün- desländern werden jetzt gut 200 Millionen DM inklu- stige und sichere Energiepolitik der Zukunft mit SPD- sive 45 Millionen DM für Ausrüstungshilfen ausgege- regierten Ländern nicht mehr zu machen ist. Dies ben. Neue Einrichtungen werden geschaffen oder mußte Herr Kaske in einem Vier-Augen-Gespräch bei vorhandene verbessert. Ein Institut in Dresden und Herrn Engholm erfahren. Klagen über Klimagefähr- Jena soll es ermöglichen, Anschluß zu gewinnen. dungen sind angesichts dieses Verhaltens kaum glaubwürdig. Die Bedeutung der Mikroelektronik als Schlüssel- technologie für eine moderne Volkswirtschaft er- Neue Kernkraftwerke wird es denn also in Stendal kennt: Chips sind der Rohstoff der Zukunft. Um einen und Greifswald nicht geben, wenn die SPD nicht zum führenden Platz zu erlangen müssen in Deutschland Energie-Konsens zurückkehrt. In einem Europa ohne die Industrie wie auch die angewandte Forschung Grenzen, auch ohne Energiegrenzen, kann dies verbessert werden. Dazu gehören ausreichende Res- schlimme Folgen für die Kalkulation unserer Industrie sourcen, wozu die Konsolidierung der angewandten und damit für Arbeitsplätze haben — neben denen für Halbleiterforschung durch ISiT wie auch die Einhal- die Umwelt. tung von Zusagen in bezug auf das JESSI-Programm Dabei sind wir durchaus keine Kernkraftfetischi- gehören. Diese Schlüsselprojekte zur Erhaltung der sten, wie die Kürzung der Ansätze bei Kernenergie, wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des Stand- die Aufstockung der Mittel für erneuerbare Energie ortes Gesamtdeutschland dürfen nicht ständig büro- auf Rekordhöhe von 318 Millionen DM und der Ein- kratisch verzögert werden. satz von Forschungsmitteln für Kohlevergasung nach Aber auch die Industrie ist gefordert: Solange indu- einem sächsischen Patent zeigen. strielle Forschung und Entwicklung in Europa im Die Haltung der SPD in der Energiefrage ist leider Schweinezyklus betrieben wird und nicht mindestens nicht der einzige Ausdruck der Technikfeindlichkeit, ein kräftiger Halbleiter-Hersteller nach vorn arbeitet, die jede Forschung „gesellschaftlichem Nutzen" un werden wir das langfristig agierende Japan in der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2047*

Schlüsseltechnologie Mikroelektronik nicht einho- wurden, hier öffentlich darzulegen. Die Visionen rei- len. chen leider nur für den Machterhalt bis zur nächsten Der Haushalt 91 ermöglicht die richtigen Weichen- Wahl und keinen Millimeter weiter. stellungen. Es ist jetzt an dem Ministerium, die richti- Ich komme zu den Details. gen Projekte zu fördern und umzusetzen. Meinen Mitberichterstattern möchte ich an dieser Die CDU/CSU stimmt dem Einzelplan 30 zu. Stelle für die spannende Zusammenarbeit danken. Ich bin überzeugt, daß sich die Spannung beim 92er Dr. Emil Schnell (SPD): Ich bin immer noch tief be- Haushalt noch deutlich steigern wird. Denn es geht eindruckt, und das hält noch eine ganze Weile an, daß um die Installation der gesamtdeutschen Forschungs- die Bundesregierung, wenn sie denn spart, dies genau landschaft mit Schwerpunkt in den neuen Ländern. Es an der falschen Stelle tut.' ist uns gelungen, über Parteigrenzen hinweg für die Sachprobleme etwas zu bewegen. Auch die Zusam- Ein Paradebeispiel ist sicherlich der Haushalt des menarbeit mit den Beamten des Ministeriums habe Bundesministeriums für Forschung und Technologie ich als angenehm und konstruktiv empfunden. mit einer Steigerungsrate von 7,2 % gegenüber dem Vorjahr bei insgesamt 8,43 Milliarden DM. Z. B. steigt Nach zwei Berichterstattergesprächsrunden gab es der Haushalt Bildung und Wissenschaft um 46 %, eine auch einige Übereinstimmungen, die in der Tendenz der Einheit Deutschlands eher angemessene Rate, die den Positionen der Sozialdemokraten folgen: einigen Grundproblemen des Einigungsprozesses ge- — Das Bundesministerium für Forschung und Tech- recht werden könnte, zumal im Aufschwung-Ost-Pa- nologie wird der Auflage des Haushaltsausschus- ket noch erhebliche Zusatzmittel — 400 Millionen ses nachkommen, F- und T-Projekte in den sechs DM — eingestellt sind. neuen Ländern dieses Jahr mit 600 Millionen DM Der allgemeine Eindruck vom Forschungsetat 1991 zu fördern. Hiermit rufe ich aber auch unsere For- — dem ersten gemeinsamen Etat eines vereinigten scher und zuständigen Leiter in den Forschungs- Deutschland — ist, daß Forschung und Technologie einrichtungen auf, schnellstmöglich qualifizierte keinen besonderen Stellenwert haben. Minister Rie- Projektanträge zu erarbeiten und weiterzurei- -senhuber hat sich leider mit seiner berechtigten 10 chen. Milliarden-DM-Plafond-Forderung nicht durchsetzen — Bei auslaufenden Projekten, die in die zukünftigen können, was auch Bände spricht, und überläßt die Institutsprofile nicht mehr hineinpassen, sollten so- Entwicklung weitgehend sich selbst. Er hat es nicht fort Personalentscheidungen vorbereitet werden verstanden, den Stellenwert von Forschung und Tech- und auf die Möglichkeiten der AB-Maßnahmen nologie — insbesondere auch der Grundlagenfor- zurückgegriffen werden, oder es muß versucht schung — für die Zukunft unseres Landes im Bundes- werden, eine neue institutionelle Zuordnung zu haushalt 1991 zum Ausdruck zu bringen. erreichen, was der schwierigere, aber beste Weg Minister Möllemann und Waigel und Bundeskanz- sein dürfte. ler Kohl sowieso begreifen offensichtlich überhaupt — Daß AB-Maßnahmen das schwerwiegende Pro- nicht, welche vordergründige Bedeutung Forschung blem der Arbeitslosigkeit von hochqualifizierten und Technologie für die Wirtschaftskraft der nahen Wissenschaftlern nicht lösen können und daß die Zukunft, besonders in den sechs neuen Ländern, für Fluchtwelle von motivierten Spezialisten von Ost die Produktinnovationen, die Beschäftigungslage im nach West damit nicht aufgehalten werden kann, Osten und eigentlich für die gesamtdeutsche Zukunft sollte inzwischen auch der Bundesregierung klar haben. sein. Es droht eine permanent unterentwickelte Die Investitionen von heute sind die Arbeitsplätze Region Ost im F- und T-Bereich zu entstehen, be- von morgen. Ich sage hier aber: Forschung und Tech- sonders auch im Industrieforschungsbereich und nologie von heute sind die Investitionen von morgen, im für uns äußerst wichtigen Bereich der kleinen und die Arbeitsplätze von übermorgen und sind für und mittleren Unternehmen, wo zur Zeit nichts die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deut- geht. Aber das wird offensichtlich in Kauf genom- schen Wirtschaft überlebensnotwendig. men. Dieser einfache Zusammenhang sollte auch der Wir können uns jedenfalls damit nicht abfinden und Bundesregierung klar sein, und eine gewisse Voraus- fordern die Bundesregierung zum wiederholten Male schau ist sicher keine übertriebene Forderung an eine auf, endlich Struktur-, Indust rie-, Wirtschafts- und Bundesregierung. Wie kann es sein, daß im Gemein- Arbeitsmarktpolitik für diese schwierige Übergangs- schaftswerk Aufschwung Ost für Forschung und phase auch als ihre Aufgabe zu verstehen. Technologie kein Platz war? Die Tagespolitiker lösen Es ist doch symptomatisch, wenn deutsche Firmen eben die Tagesprobleme und flicken hier und da ein aus den alten Bundesländern den 5-%-Investitions- paar Löcher zum Überleben. Der Paradigmenwechsel aufruf des Ministers überhören und die Kanzlerap- findet in der Bundesregierung nicht statt, kann er bei pelle von niemandem für voll genommen werden. Die veralteten Programmen und Strukturen auch gar Probleme sind mit Bettelaktionen nicht zu lösen. nicht. Der Blick nach USA und Japan wird bewußt versperrt, er ist ja auch peinlich genug, und die Insgesamt wurden etwa 100 Millionen DM im For- schlimmen, nicht mehr korrigierbaren Spätfolgen schungshaushalt umgeschichtet durch Kürzungen werden uns sehr bald einholen. Die angesprochenen bzw. Erhöhungen. Herren werden auch sicher nicht bereit sein, ihre Zu den einvernehmlichen Erhöhungen gehören Überlegungen, sofern diese überhaupt angestellt z. B.: 2048 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

— Technikfolgenabschätzung, Förderung sozialwis- zung noch zu hoch ist. Es ist aber ein Schritt in die senschaftlicher Forschung (unter dem Stichwort richtige Richtung. Die Aufstockung des Plafonds um „Frauen und Technik"); 30 Millionen DM ist gut, aber nicht ausreichend. — Forschung und Entwicklung des Gesundheitswe Kohle und andere fossile Energieträger wurden zu sens, medizinische Forschung, Medizintechnik; gering bedacht. Die nichtnukleare Energieforschung konnte zwar gegenüber 1990 leicht erhöht werden, ist — Ökologie und Klimaforschung, Elektronik (das aber insgesamt zu gering. (Im Laufe der jetzt neun heißt allerdings nicht, daß uns der Fortschritt im Haushalte von Minister Riesenhuber addieren sich die Bereich der Mikroelektronik ausreicht; hier fehlt Kürzungen in diesem Bereich auf über 2 Milliarden ein zukunftsweisendes Konzept); DM.) — Mikroperipherik, Mikrosystemtechnik; Im Bereich der Informationstechnik ist es seit lan- — erneuerbare Energien und rationelle Energiever- gem unser Eindruck, daß die Bundesregierung zuwe- wendung; nig tut, um gezielt die Zukunftsindustrie auf diesem Sektor zu fördern und zu unterstützen. — Meeresforschung und -technik, Polarforschung. Die notwendigen Weichenstellungen beim Transra- — Als Kompromiß verstehen wir die Bewirtschaftung pid-Projekt werden viel zu zögerlich vorgenommen, der 450 Millionen DM im Einzelplan 60 für die zumal der ICE an internationalem Interesse verloren ehemalige Akademie der Wissenschaften durch hat und nicht die Technologie der Zukunft sein wird. den Bundesminister für Forschung und Technolo- Wir haben aus diesem Grunde der qualifizierten gie. Die Befürchtung, daß durch die Umsetzung Sperre von 30 Millionen DM nicht noch einmal zuge- dieser Mittel in den Einzelplan 30 vollendete Tat- stimmt, um die Arbeiten nicht deutlich zu verzö- sachen eines zu hohen Einzelplans 30 für 1992 ge- gern. schaffen würden, ist völlig absurd, bei einem der- art deprimierenden Plafond '91. Es ist jetzt aber allerhöchste Zeit, nach dem finanzi- ellen Engagement der Indust rie und der Klarstellung — Bei der Weltraumforschung haben wir Sozialde- und Wahrnehmung von Verantwortlichkeiten im -Un- mokraten unsere Meinung zu Columbus und Her- ternehmensgestrüpp zu fragen. Auch der Verkehrs- mes geäußert. Wir sind der Auffassung, daß diese minister ist in die Pflicht zu nehmen; er sollte sich der beiden Projekte im Zeitalter der Ost-West-Ent- Sache annehmen und möglichst bald eine intelligente spannung als rein westeuropäische Projekte nicht Referenzstreckenführung vorschlagen und durchset- mehr zu halten sind. Wir müssen die sowjetischen zen. und US-amerikanischen Kooperationsmöglichkei- ten für unsere Zwecke in größerem Maße nut- Zu unseren Erwartungen für den '92er Haushalt fol- zen. gendes: — Die Frage der Raumfahrt im allgemeinen und der Die Evaluierungen der Institute in den neuen Län- bemannten Raumfahrt im besonderen muß erneut dern sind im wesentlichen abgeschlossen und es hat auf den Prüfstand. Andererseits haben wir aner- sich wohl gezeigt, daß die Qualität unserer Wissen- kannt, daß die internationalen Verpflichtungen schaftler, Forscher und Techniker nicht so schlecht ist, der Bundesrepublik Deutschland im europäischen wie es einige gern gehabt hätten. Der Bericht des Rahmen einzuhalten sind. Wir haben deshalb in Ministers zur Vereinigungspolitik im Bereich von For- diesen Titeln keine Kürzungs- oder Streichungs- schung und Technologie vom 8. 4. 1991 liest sich vorschläge unterbreitet und stimmen einer qualifi- durchaus flüssig, was aber leider nicht heißt, daß die zierten Sperre von 30 Millionen DM zu. Auch wir Vorschläge mit entsprechendem Nachdruck umge- werden die Ministerkonferenz der ESA im Herbst setzt werden. abwarten und unseren politischen Einfluß dahin Wenn die Fraunhofer-Gesellschaft nach dem Stand gehend geltend machen, daß, wenn diese Projekte vom 11. 3. 1991 18 Einrichtungen in den neuen Län- weitergeführt werden, sie zumindest in einer Form dern geplant hatte, bin ich darüber sehr erfreut. Man weitergeführt werden, die den Forschungshaus- hört aber auch, daß sich die Max-Planck-Gesellschaft halt, besonders auch den Grundlagenforschungs- eher etwas schwertut, was sich hoffentlich noch än- anteil, nicht — wie es jetzt der Fall ist — erdrückt. dert, indem Vorurteile abgebaut werden und die Fi- Das Volumen der Raumfahrtprojekte in diesem nanzausstattung angemessen erfolgt. Forschungshaushalt ist unverhältnismäßig groß. Die globale Minderausgabe 1992 auf Null zu fahren Dies erfüllt nicht nur uns mit großer Sorge. Die ent- scheidende Auseinandersetzung um die Weiter- ist löblich, Herr Kollege Austermann; da haben Sie führung der europäischen Raumfahrtpolitik wird unsere volle Unterstützung. Ich zweifle allerdings Ihre Durchsetzungskraft diese Sache betreffend an. somit erst in der Vorbereitung für das Haushalts- jahr 1992 im Herbst getroffen werden können. Bis Ich bin sehr gespannt, wie die reduzierte For- dahin können wir einstweilen abwarten und se- schungslandschaft Ost im Einzelplan 30 verdaut hen, wie es mit dem Herzenswunsch des Ministers wurde und welche Geldbeträge von der Bundesregie- bestellt sein wird, Deutschland zu einer führenden rung vorgeschlagen werden. Ich bin auch sehr ge- Weltraumnation werden zu lassen (Bonner Rund- spannt, ob es bei einer Großforschungseinrichtung im schau, 9. 10. 1990). Osten bleiben wird und welche Kompromisse sonst noch zustande kommen werden. Kürzungen wurden im Kernforschungsbereich vorge nommen. Keine Übereinstimmung gab es beispiels Den Plan, eine Großforschungseinrichtung, das zu- weise bei der globalen Minderausgabe, die trotz Kür künftige „Institut für Lithosphärenforschung" in Pots- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2049* dam aus dem „Zentralinstitut für Physik der Erde" Werner Zywietz (FDP): Es kann gar nicht anders auszugründen, kann ich nur begrüßen. Aber das darf sein: Auch dieser Einzelplan mit seiner Größenord- noch nicht die einzige sein. Das hat mit vernünftigen nung von 8,4 Milliarden Mark, einem Wachstum um Proportionen Ost/West nichts zu tun. An dieser Stelle 5,4 % und seinen inhaltlichen Schwerpunkten in der möchte ich allerdings auch und besonders als Neulän- naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung, der der anmerken: Wenn die Forschungseinrichtungen in Informationstechnik, der Energieforschung, der Welt- den alten Bundesländern weiterhin drastisch finanzi- raumforschung, der Meeresforschung und anderer ell eingeschränkt werden, fällt es ihnen um so schwe- technologischer Förderbereiche ist nachhaltig durch rer, sich angemessen in den neuen Ländern zu enga- die diesbezüglichen forschungspolitischen Herausfor- gieren. Hier setzt eine Fehlentwicklung ein, vor der derungen der deutschen Einheit charakterisiert. Es ist ich nur noch nachdrücklich warnen kann. festzustellen, daß dieser Haushalt nicht wie andere Bereiche zum Aufbau der neuen Bundesländer aus Nun noch etwas grundsätzliches zur Forschungspo- dem Programm „Aufschwung Ost" zusätzlich unter- litik in Deutschland und Europa für das nächste Jahr- stützt wird, sondern daß hier nur weitere Mittel wie zehnt: z. B. für die Akademie der Wissenschaften im Einzel- plan 60 bei den allgemeinen Finanzzuweisungen ent- Ich zitiere „highTech", Ap ril '91: „Wenn sich die halten sind. Strategen und Analysten im Bonner Forschungsmini- Ich möchte für die FDP feststellen, daß wir, soweit es sterium mit den technologiepolitischen Steuermän- in der Kürze der Zeit möglich ist, mit einem Mittelan- nern in der Tokioter Zentrale des Miti vergleichen, teil in der Größenordnung von 1 Milliarde DM die vor- kommen leicht Neid und Mißgunst auf. Gemessen an handenen und für die Zukunft notwendigen For- den japanischen Möglichkeiten zur Weichenstellung schungsaktivitäten in der Ex-DDR nach Kräften unter- in Richtung Fortschritt und Zukunft reduziert sich der stützen. Der Prozeß allerdings der Neubewertung des- Handlungsspielraum der BMFT-Behörde auf das For- sen, was zukunftsfähig ist, was Doppelforschung in mat eines Bahnwärterhäuschens. " Sicherlich eine ge- Ost und West vermeiden hilft, kurzum das Herausar- sunde Übertreibung, aber etwas Wahres muß ja dran beiten der erforderlichen Schwerpunkte und der effi-- sein. Und im Juni '91 wird dort über „Riesenhubers zienten Gestaltung der Forschungsaktivitäten ist noch Vakuum und die Folgen" berichtet. Schaut man sich nicht abgeschlossen, sondern in einer Umbruchphase, Japans Strategie 2000 für Forschung und Technologie die uns noch einige Zeit beschäftigen wird. Hier ist an, kann man nur den Hut ziehen. Das prägende und bleibt die Regierung und damit auch das Parla- Denkmuster für das wissenschaftliche Weltbild hat ment in der Verantwortung, schlußendlich zu ent- mit unserer Weiterso-Strategie nichts zu tun. Dort ste- scheiden, wo welche Institute und Projekte mit wel- hen Werte im Visier, wie Umwelt, Rohstoffe, Unzufrie- chen Inhalten weitergefördert werden sollen. Es ist denheit, Lebensqualität, denkende Gruppe, Investi- keine leichte Aufgabe, aber sie muß gelingen, um zu tionen in Forschung und Entwicklung, Recycling- einer fairen Aufteilung der Forschungsaktivitäten im und Beseitigungstechnologie, geistiger Reichtum vereinten größeren Deutschland zu kommen. Mensch-Maschine-Interface, die sich distanzieren vom Mythos der Technik, von Militärtechnologie, Effi- Der Forschungsetat ist ein besonders beweglicher, zienz, Funktionalität, Übergewicht der Gruppentech- aber auch bewegender Haushalt, beweglich in dem nologie und Kerntechnologie. Sinne, daß die Ausgaben nicht so sehr wie in anderen Bereichen durch Gesetze festgelegt sind, sondern sich Wo ist das BMFT-Strategiepapier 2000? Ist die in Personalausgaben und Sachausgaben bei Instituten Struktur des Bundesministeriums für Forschung und und Projekten wiederfinden und bewegend in der Technologie im Zusammenwirken mit der Industrie Sicht, daß er eigentlich der entscheidende Kraftquell den Stürmen der '90er Jahre gewachsen? Das sind sein soll für einen industriellen Spitzenstaat wie die notwendige und legitime Fragestellungen. Und die Bundesrepublik Deutschland. Dazu bedarf es insbe- Antwort lautet wohl auch: So werden wir es nicht pak- sondere der Grundlagenforschung, wie sie aus diesem ken. Wenn Europa vor der Aufgabe versagt, in den Etat finanziert wird und etwa 38 % des Gesamtvolu- Hochtechnologien aufzuholen und das Entstehen ei- mens beansprucht, und dazu bedarf es der Förderung von technologischen Schwerpunkten, die mit öffentli- ner einseitigen technologischen Abhängigkeit von chen Mitteln angeschoben, aber im günstigsten Fa ll Amerippon, eines amerikanisch-japanischen Füh- von der Wirtschaft aufgenommen, weitergeführt und rungsduopols, in Politik und Wirtschaft zu verhindern, zu marktreifen und damit wettbewerbsfähigen Lei- würden wir Europa und Deutschland lediglich für die stungen und Produkten umgesetzt werden müssen. amerikanischen und japanischen Hochtechnologie Insofern hat dieser Haushalt eine Katalysatorenfunk- unternehmen für die Kolonialisierung präparieren tion, er hat eine Antreiberfunktion für unseren Indu- und könnten uns langfristig verabschieden. Frank- striestaat. reich hat das wohl erkannt, Großbritannien eher nicht. Also kommt es entscheidend darauf an, daß die Deut- Dieser Haushalt ist aber auch ein verführerischer schen sich langsam Gedanken machen. Soviel dazu. Haushalt, weil seine Beweglichkeit zu unangemesse- nen Kürzungen verleiten könnte, die wiederum zu Wir Sozialdemokraten lehnen auf Grund der ge- einer Verkürzung der Zukunftschancen führen könn- nannten groben Unzulänglichkeiten den Einzel- ten. So wie der Umgang mit Kindern und Frauen in plan 30 ab und fordern die Bundesregierung auf, für einer Gesellschaft gern und berechtigt als Indiz für den 92er Haushalt etwas Seriöses vorzulegen, was den sozialen „Umgangsstandard" in einer Gesell- den Anforderungen an Einheit und Leistungsfähig- schaft gewertet wird, so kann auch Größe und keit der deutschen Forschungslandschaft gerecht Schwerpunktstruktur eines Forschungshaushalts als wird. Indiz für die Zukunftsfähigkeit eines Industriestaates, 2050* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 als Maßstab genommen werden. Für die FDP möchte Wir werden auch mit großer Akribie darauf achten, ich feststellen: Die Schwerpunkte sind in den wesent- daß Zusagen, wie sie bei dem JESSI-Projekt in Itzehoe lichen Bereichen, wie mir scheint, mit einer besonde- seitens der Industrie einmal gegeben worden sind, ren Ausnahme richtig gewählt. An der Effizienz und auch wirklich eingehalten werden. Wenn man sich Kontrolle der Forschung kann noch intensiver gear- geirrt haben sollte, daß ein ursprüngliches Projekt im beitet werden. Der Schwerpunkt, eine sinnvolle For- Lichte neuer Erkenntnisse nicht mehr aufrechterhal- schungslandschaft in den fünf neuen Bundesländern ten werden kann, dann halte ich es für ein Fairneß zu errichten, ist in Ordnung. Der Schwerpunkt Grund- Gebot erster Güte, wenn man guter Partner für staat- lagenforschung ist akzeptiert. Die Schwerpunkte In- liche Forschungsförderung in der Zukunft bleiben formationstechnik, Energietechnik mit weniger Nu- will, daß man auf andere Weise sein Wort einlöst. Dies klear-, aber mehr alternativer Energieforschung, erwarte ich von so guten Adressen wie den Firmen Meeresforschung, Luft- und Raumfahrtforschung sind Philips, Siemens und auch dem Daimler-Konzern, die akzeptiert. ja über den gesamten Bundeshaushalt sehr große Subventions- und Förderungsempfänger sind. Beim letzteren aber müssen auch nachdenkliche Worte gesprochen werden. Die Regierung und die sie Wir werden diesem Haushalt von der FDP unsere tragenden Fraktionen sind gehalten, kritischer als bis- Zustimmung geben, weil wir anerkennen, in welch lang zu überprüfen, ob die bemannte Raumfahrt in der kurzer Zeit mit relativ kurzer Haushaltsfinanzdecke bisherigen Perspektive und Projektierung so weiter- die Übernahme und Ausformung der Forschungs- und geführt werden kann. Ich meine angesichts dringli- Technologielandschaft in den neuen Bundesländern cher Aufgaben in der Welt, angesichts des nur schwer angefaßt werden mußte. Diese Aufgabe wird im greifbaren Kosten-Nutzen-Verhältnisses kann in die Etat 91 noch mit Zusatzmitteln aus dem Einzelplan 60 unterstützt. Wir werden uns dafür einsetzen, daß dies-sem Bereich so wie bislang nicht weitergemacht wer- den. Allein die Überweisung an die Europäische beim nächsten Etat beendet wird und alle Einnahmen Raumfahrtagentur beläuft sich auf rund 1 Milliarde und Ausgaben der Forschung und Technologie aus- DM mit stark steigender Tendenz. schließlich in diesem Einzelplan 30 ihren Nieder- - Die Zielsetzung ist, zumindestens was die be- schlag finden. Ich möchte auch noch hinzufügen, daß mannte Raumfahrt anbelangt, diskussionswürdig, die wir aus voller Überzeugung sichergestellt haben, daß Einflußnahme auf Kostenentwicklung nach meinem die leider noch einmal erforderliche globale Minder- Dafürhalten unzureichend. Für prestigeträchtige ausgabe nicht in Bereichen angesetzt wird, in denen Großprojekte in einer weiteren Runde einer globalen wir in der politischen Bewertung keine Kürzung wol- Technologie-Olympiade der Industriestaaten scheint len. mir kein Raum mehr zu sein. Dabeisein im olympi- Auch für Forschungs- und Technologieförderung schen Sinne ist eben hier nicht alles! Wenn Finanzmit- muß, so gut es irgend geht, das allgemeine ökonomi- tel knapp sind, und sie haben im Sinne solider Haus- sche Prinzip gelten: Mit gegebenen Mitteln einen haltspolitik gedanklich immer knapp zu sein, müssen größtmöglichen Nutzen herstellen oder umgekehrt, die Zielsetzungen und die Projekte sehr sorgfältig ein vorgegebenes Ziel mit dem geringstmöglichen nach Prioritäten abgefragt werden. Ich kann nicht er- Mitteleinsatz zu erreichen. Ich bin sicher, daß in dieser kennen, daß die bemannte Raumfahrt hier diesen der- Sichtweise Forschungsförderung noch verbessert zeitigen Mittelaufwand rechtfertigt. Mir scheint eine werden kann. Ich bin allerdings auch sicher, daß der konzertierte Aktion weltweit und auch der europäi- Forschungsminister, dem wir ebenso wie seinen Mit- schen Staaten vonnöten, Maßnahmen zu überprüfen arbeitern für eine konstruktive Zusammenarbeit zu und auf der Zeitachse zu strecken. Eingesparte Mittel danken haben, diese Daueraufgabe ständig und be- können für mehr „irdische" und direkte Aufgaben, ständig in seinem wachsamen Auge hat. Tenor des die das Leben der Menschen verbessern, eingesetzt Etats muß sein: Forschungs- und Technologiepolitik werden. muß wirksame Schrittmacherdienste für unsere Zu- Ich möchte auch in einem Bereich mehr Konse- kunftsgesellschaft leisten. Dies ist nicht die Teilnahme quenz anmahnen. Ich meine das hier schon zitierte an einer Technologie-Olympiade in dem Sinne „da- Projekt Transrapid. Diese Magnetschwebebahn ist beisein ist bereits alles" ! leider ein haushaltspolitischer Dauerbrenner. Irgend- Nicht zuletzt mit dieser Erwartung stimmen wir sei- wann muß der Forschungsaufwand und ich meine tens der FDP dem Einzelplan 30, dem Forschungsetat, nicht irgendwann, sondern eigentlich bald, beendet werden. Entweder er war sinnvoll angesetzt, dann als einem bedeutsamen Zukunftsetat zu. haben Projekte zu folgen, oder man muß eingestehen, daß man einen forschungspolitischen Um- oder Fehl- weg gegangen ist. Wie auch immer: Rechtzeitige Dr. Gerhard Riege (PDS/Linke Liste): Der vorlie Schlußfolgerungen helfen Mittel einsparen. gende Haushalt für den Bereich Forschung und Tech- nologie hat in der Beratungsphase einige Änderungen Noch ein anderes Thema: Der Staat kann nur erfahren. Auf mehreren Gebieten hat es eine Erhö- Schrittmacher sein mit öffentlichen Forschungsmit- hung der vorgesehenen Mittel gegeben. Dazu zählen teln. Das Entscheidende muß von der Indust rie ge- solche Bereiche wie Gesundheitswesen, medizinische schehen. Wir werden darum mit hoher Aufmerksam- Forschung und Medizintechnik, Ökologie und Klima- keit und nicht ohne rückschließende Folgerungen forschung, Meeres- und Polarforschung. Für andere darauf achten, ob die Indust rie ihre Selbstverpflich- Gebiete sind Reduktionen vorgesehen. Die Verände- tung, 5 % ihres Forschungsaufwands in den neuen rungen sollen auch zur Entwicklung der neuen Bun- Bundesländern anzusetzen, auch wirklich einhält. desländer beitragen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2051*

Der Haushalt ist darüber hinaus insgesamt dem Be- gramm erhalten bliebe. Allein dieser Fakt macht deut- streben untergeordnet, der Bundesrepublik auf wich- lich, daß die Prioritäten, die heute gesetzt werden, tigen Gebieten modernster Technik und Produktion in Auswirkungen auf die Befriedigung der gesamten der Konkurrenz der führenden Industriestaaten Spit- künftigen Forschungsbedürfnisse des Landes haben zenpositionen zu verschaffen bzw. zu erhalten, dem werden. größer gewordenen Deutschland in Europa prägen- Es unterliegt keinem Zweifel, daß die einschlägigen des wirtschaftliches und politisches Gewicht zu ge- Forschungs- und Entwicklungspotentiale auf dem Ge- währleisten. biet der neuen Bundesländer nicht die Dimension der- Die Bundesrepublik ist u. a. in ein ehrgeiziges Pro- jenigen in den Altländern haben. Sie bestehen jedoch gramm der Forschung und Entwicklung auf dem Ge- und sind vorzugsweise im Raum Jena und in Berlin biet der Raumfahrt eingebunden. Bemannte und un- angesiedelt. Sie waren verständlicherweise mit dem bemannte Raumfahrt wird durch den Bund stark ge- sowjetischen Weltraumprogramm verbunden. Jetzt ist fördert. Die wirtschaftlichen, technischen und politi- eine Neuorientierung nötig, die mehr ist als eine Be- schen Aspekte sind aufs engste miteinander ver- gründung neuer Partnerschaften. Fördermittel sind knüpft. Diese Orientierung auf die Welt der Sterne ist unerläßlich, ebenso Kooperationsbeziehungen zu In- mit astronomischen Aufwendungen verbunden. Es stitutionen und Unternehmen aus den alten Bundes- wird — nicht zuletzt durch Naturwissenschaftler — zu ländern. Recht gefragt, ob die Beteiligung Deutschlands an der bemannten europäischen Raumfahrt notwendig ist, Was sich auf die Ostpotentiale bezieht, liegt im Pro- damit Deutschland und Europa ein hohes technologi- millebereich der insgesamt zur Verfügung stehenden sches Niveau sichern können, oder ob nicht vielmehr Mittel. Erfolgt kein rascher Wandel, wird eine Lücke ein Renommierprogramm für einige der High-Tech- in der deutschen Forschungs- und Entwicklungsland- Riesen und ein von politischem Führungsdenken ge- schaft auftreten. Fähige Mitarbeiter würden abwan- tragenes Programm der Technikentwicklung im dern. neuen großen Deutschland verwirklicht werden soll. Wir erwarten, daß kurzfristig wenigstens 5 % der- Es geht nicht darum, weltraumbezogene Forschung Mittel in die neuen Bundesländer fließen. Hier muß und Entwicklung in Frage zu stellen. Wir bejahen sie staatliche Unterstützung einsetzen. Wer unter den ausdrücklich. Aber wir halten es für geboten, die ge- neuen Bedingungen auf den Erwerb der Wettbe- setzten Akzente zu überprüfen und neue Akzente zu werbsfähigkeit in einem gänzlich anders angelegten setzen. Das betrifft z. B. das Verhältnis von bemannter Weltraumprogramm wartet, muß einkalkulieren, daß und unbemannter Raumfahrt. Der Erkenntniswert die in Ostdeutschland vorhandenen Potentiale keine und der Nutzen der bemannten Raumfahrt ist für den Überlebenschance haben. Menschen — bezogen auf die Kosten — sehr viel un- günstiger als im Falle der unbemannten Raumfahrt. Ich möchte den Blick der Abgeordneten und der Aus der bemannten Raumfahrt zu ziehender Erkennt- Regierung mit großem Nachdruck auf die Situation im nisgewinn kann natürlich nicht ausschließlich, aber in Forschungsbereich der Universitäten und Hochschu- hohem Maße auch aus der unbemannten Raumfahrt len in den neuen Bundesländern lenken. Die finan- gezogen werden. Sie ist ungleich weniger aufwendig. ziellen Schwierigkeiten der Länder führen dazu, daß Wir halten es für dringlich, das mit Bundesmitteln jetzt ein neuer Schub des Abbaus von wissenschaftli- geförderte Weltraumprogramm strikt auf die Bedürf- chem Personal stattfindet. Es handelt sich dabei um nisse der Menschheit von heute und in den nächsten gravierende Einschränkungen. Sie können nicht mit Jahren auszurichten. Dazu gehört die Fernerkundung dem für die Wissenschaft ohnehin kaum tauglichen der Erde im weitesten Sinne. Wir halten es für richtig, Begriff vom „Gesundschrumpfen" umschrieben und aus dem Nord-Süd-Gefälle Folgerungen zu ziehen ummäntelt werden. Arbeitsgruppen werden in Frage und ein Programm zu definieren, daß dem Süden hilft, gestellt. Ihre Leistungsfähigkeit ist aber das Ergebnis mit seinen Problemen besser fertigzuwerden. Das langjähriger gemeinsamer Anstrengungen. würde nicht nur ein ausgeprägtes humanitäres Zei- Gerade wenn Potentiale an neuesten Problemen der chen setzen, sondern auch in weiter Sicht Deutsch- Wissenschaft arbeiten, bedürfen sie der Stabilität, land und Europa Nutzen bringen. wenn Leistungsverluste nicht eintreten sollen. Und Ich mache darauf aufmerksam, daß die für die Welt- diese Verluste haben Wirkung in die Zeit. Die For- raumforschung und -technik veranschlagten Mittel schung trägt die akademische Lehre und bestimmt nicht die gesamte Dimension der entstehenden Ko- deren Niveau. Es würde überaus negativ sein, wenn sten sichtbar machen. Es fehlen bislang nämlich die auf Grund der stark steigenden Studentenzahlen nur Aussagen darüber, wie hoch der Folgeaufwand für eine Ausbildung garantiert wird, die das Prädikat von das Betreiben und Erhalten z. B. der zu schaffenden Massenproduktion, nicht aber von Markenerzeugnis- Raumfahrtsysteme sein wird. Unstrittig ist, daß auch sen verdient. Ich habe die große Sorge, daß in den diese Kosten riesige Ausmaße erlangen werden. Das finanziellen Entscheidungen das wissenschaftliche, heißt mit anderen Worten, daß die Entscheidungen geistige Potential, daß die Arbeitskraft im Sinne von von heute auf lange Zeit Mittel binden werden. Das Erfahrung, Fertigkeit und Kommunikation im Grunde bedeutet real auch Einschränkungen für den Hand- als eine technisch manipulierbare Größe aufgefaßt lungsspielraum in bezug auf künftige Entscheidun- und behandelt wird, nicht aber als eine soziale Größe. gen zur Forschungslandschaft. Unlängst wurde auf Und ganz schlimm wird es, wenn diese Schmalhans einer Expertenbefragung gesagt, daß im Jahre 2000 Strategie noch ideologisch gerechtfertigt wird, wenn jede dritte Mark des Forschungsetats in das Welt- Sachkompetenz auf dem Altar von borniertem Aus- raumprogramm fließen müßte, wenn das heutige Pro grenzungseifer geopfert wird. 2052* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Anlage 4 neuen Ländern entgegenwirken. Arbeit und, besser noch, eine Lehrstelle sind ein solider Schutz gegen Zu Protokoll gegebene Reden Radikalismus und Randale. zum Einzelplan 31 — Geschäftsbereich des Bundesministers Auch die Treuhandanstalt fördert in Zukunft die für Bildung und Wissenschaft — Lehrstellenkampagne in den neuen Ländern durch — Drucksachen 12/523, 12/530 — die Fortführung bestehender Ausbildungsverhält- nisse in ihrem Verantwortungsbereich, Ausbildung über den Eigenbedarf hinaus, Unterstützung für die Klaus-Dieter Uelhoff (CDU/CSU): Bildung und Wis senschaft sind nach der politischen Einheit Deutsch- Bildung von Qualifizierungs- und Beschäftigungsge- lands wesentlich für die Herstellung gleicher Lebens- sellschaften und überbetriebliche Nutzungen in Zu- verhältnisse und Chancen in beiden Teilen Deutsch- sammenarbeit mit Kommunen und Kammern. lands. Im Osten sind damit grundlegende Reformen Darüber hinaus werden 1991 20 Millionen DM für und eine Modernisierung des Bildungssystems ver- die Qualifizierung von Personal der beruflichen Bil- bunden. Aber auch im Westen gilt es, das Bildungssy- dung im Beitrittsgebiet bereitgestellt. Zur Unterstüt- stem an die Herausforderungen der Zukunft anzupas- zung der Strukturveränderung sollen damit Multipli- sen. katoren im Bereich der beruflichen Bildung aus- und Diesen Aufgaben trägt der Haushaltsentwurf 1991, fortgebildet werden. Der Schwerpunkt dieser Maß- den wir heute beraten, Rechnung. Der Einzelplan des nahmen liegt dabei in Berufspädagogik und Berufs- Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft recht sowie in kaufmännischem Wissen und neuen weist gegenüber 1990 eine Steigerung von ca. 50 % Technologien. auf über 6 Milliarden DM auf. Für eine Laufzeit von fünf Jahren ist das Erneue- Allein 1,4 Milliarden DM dieser Steigerung resul- rungsprogramm für Hochschule und Forschung in den tieren aus der Ausdehnung der Leistungen nach dem neuen Bundesländern konzipiert. Dessen Ziel ist eine Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) auf die schnelle Verbesserung der Qualität von Forschung neuen Bundesländer. Aber auch die Verbesserungen, und Ausbildung. Neben der personellen Erneuerung- die wir mit dem 12. BAföG-Änderungsgesetz beschlos- müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden, sen haben, spiegeln sich darin wider. Beispielhaft die qualifizierte Wissenschaftler motivieren, in ihren möchte ich hier nur an die Anhebung der Freibeträge Heimatuniversitäten am Aufbau des neuen Bildungs- vom Elterneinkommen auf 50 % und für jedes Kind systems mitzuwirken. noch einmal um 5 % erinnern, die vor allem eine spür- Wie im Westen bedarf die Förderung des wissen- bare Verbesserung der finanziellen Situation von Fa- schaftlichen Nachwuchses einer großen Aufmerk- milien im mittleren Einkommensbereich bedeuten. samkeit, um eine Überalterung des Lehrkörpers oder Mit dem Gesetzentwurf zur 14. Änderung des gar einen gravierenden Mangel an Professoren in we- BAföG sollen die Bestimmungen für die Einkommens- nigen Jahren zu vermeiden. Zwar schwärmen west- und Vermögensrechnung an die Verhältnisse in den deutsche Gastdozenten vom Lerneifer und der Wißbe- neuen Bundesländern angepaßt werden. Auch hier gier insbesondere der jüngeren Semester; sie bekla- wird die Möglichkeit geschaffen werden, bei der An- gen aber gleichzeitig die mangelnde Kritikfähigkeit rechnung des Einkommens der Eltern und des Ehe- ihrer Zuhörer, ohne die indes eine wissenschaftliche gatten des Auszubildenden von den Einkommensver- Forschung und Lehre keine großen Fortschritte erzie- hältnissen im Bewilligungszeitraum auszugehen. Fer- len können. ner werden im Beitrittsgebiet gelegener Grundbesitz und gelegenes Betriebsvermögen von der Anrech- Eine weitere große Aufgabe wird gerade im Hin- nung des Vermögens des Auszubildenden für einen blick auf die Förderung einer pluralistischen Struktur Übergangszeitraum ausgenommen. der Hochschulen die Eingliederung von Wissen- schaftlern der bisherigen Akademien in die Universi- Im Bereich der beruflichen Bildung startet der Bund täten sein. Bedauerlich ist jedoch der Mangel an ge- eine großangelegte Ausbildungsinitiative in den samtstaatlicher Solidarität, den die alten Bundeslän- neuen Ländern. Unternehmen, die am 1. Ap ril 1991 der mit ihrer Weigerung, sich an diesem Programm zu höchstens 20 Arbeitnehmer beschäftigt haben, erhal- beteiligen, an den Tag legen. So müssen nun die ten eine einmalige Prämie in Höhe von 5 000 DM für neuen Bundesländer den Länderanteil von 25 % an jeden im Jahr 1991 abgeschlossenen Ausbildungsver- dem Programm alleine aufbringen. trag. 90 000 ausbildungsfähige Bet riebe dieser Grö- ßenordnung, davon allein 50 000 in Handwerk, exi- Den größten Beitrag leistet jedoch der Bund mit stieren bereits heute in den neuen Bundesländern. 1,32 Milliarden DM für dieses Projekt mit einem Ge- Die Höhe dieses Zuschusses zu den Ausbildungsko- samtvolumen von 1,76 Milliarden DM. Die Reduzie- sten orientiert sich an der durchschnittlichen Lehr- rung des ursprünglich angestrebten Ansatzes von lingsvergütung für ein Jahr. 1991 können mit den vor- 2,2 Milliarden DM auf diesen Betrag ist ebenfalls gesehenen 75 Millionen DM bis zu 50 000 zusätzliche durch die Weigerung der alten Bundesländer be- Ausbildungsplätze aktiviert werden. Das Programm dingt. soll auch 1992 fortgeführt und dann noch einmal um Weitergeführt wird in den alten Bundesländern das 100 Millionen DM aufgestockt werden. Auf diese Art I. Hochschulsonderprogramm mit 150 Millionen DM. und Weise läßt sich nicht nur einem möglichen Fach- Damit werden die Ausbildungskapazitäten in den be- arbeitermangel in wenigen Jahren vorbeugen, son- sonders belasteten Hochschulen im westlichen Teil dern auch den bedenklichen Abwanderungstenden- der Bundesrepublik erweitert. An den Universitäten zen von wertvollem „human capital” aus den fünf kommen diese Mittel besonders den Studenten der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2053*

Betriebswirtschaftslehre, an den Fachhochschulen reich der beruflichen Erstausbildung und Weiterbil- besonders den Studierenden der Elektrotechnik und dung, bei der individuellen Ausbildungsförderung Maschinenbau zugute. und bei den Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und b Grundgesetz. In der Übergangszeit trägt der Da auch an westdeutschen Universitäten in abseh- Bund besondere Verantwortung bei der Förderung barer Zeit ein Mangel an qualifizierten Wissenschaft- von Investitionen zur raschen Herstellung einheitli- lern droht, wird in diesem Jahr das II. Hochschulson- cher Arbeits- und Lebensverhältnisse, auch in den Bil- derprogramm aufgelegt. Damit soll die Leistungsfä- dungs- und Wissenschaftseinrichtungen. Er muß higkeit von Hochschulen und Forschung eben durch seine finanziellen Verpflichtungen voll wahrnehmen, die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ohne sich in die Zuständigkeiten der neuen Länder gesichert bleiben. Mit den erstmals vorgesehenen einzumischen und die alten Länder noch weiter finan- Geldern in Höhe von ca. 88 Millionen DM werden ziell zu belasten. Habilitations-, Postdoktoranden- und Doktoranden- förderung unterstützt. Es ist deshalb auch verfehlt, den Einzelplan 31 aus- Als letztes möchte ich auf die Studentenwohnraum- schließlich unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, wel- förderung hinweisen. 150 Millionen DM sind bereit- che Maßnahmen für die neuen Länder er enthält. Es gestellt, um 40 000 zusätzliche Wohnraumplätze zu hätte von der Bundesregierung sichergestellt sein schaffen. Ziel ist es, der Wohnungsnot für die am Woh- müssen, daß auch der weiter bestehende Bedarf der nungsmarkt doppelt, nämlich durch geringes Ein- alten Länder vom Bund gedeckt wird, soweit er hierfür kommen und schlechten Ruf bei den potentiellen Ver- zuständig ist. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß der mietern, benachteiligte Gruppe der Studenten entge- Zustand des Bildungswesens in den alten Ländern vor genzuwirken. In den neuen Bundesländern muß rasch der Einigung befriedigend oder besser gewesen sei. geholfen werden, die räumliche Enge in den dortigen Es besteht ein enormer quantitativer und qualitativer Wohnheimen zu überwinden. Aus- und Umbaubedarf: Die Bereitschaft der Jugend- lichen zu weiterführender, qualifizierter Bildung Dazu zählen insbesondere Erhalt und Modernisie- wächst ständig. In den alten Ländern sind über - rung vorhandener Wohnheime, Weiterführung be- 1,5 Millionen junge Menschen trotz Bildungsexpan- gonnener Baumaßnahmen sowie die Schaffung neuen sion und Erhöhung des Lehrstellenangebots in den Wohnraums. Im Rahmen des Sonderprogramms Auf- 70er und 80er Jahren ohne eine qualifizierte Ausbil- schwung Ost sind neben dem Ansatz im Einzelplan 31 dung geblieben. Hinzu kommt, daß der Benachteili- für 1991 und 1992 je 200 Millionen DM für Baumaß- gung von Frauen in allen Beschäftigungsbereichen nahmen im Universitätsbereich einschließlich des und auf allen betrieblichen Hierarchieebenen entge- Wohnheimbaus vorgesehen. Nach dem Haushaltsver- gengearbeitet werden muß, wozu die berufliche Erst- merk im Einzelplan 08 ist darüber hinaus zugelassen, ausbildung und Weiterbildung durch Abbau beste- daß unbebaute und bebaute Kasernengrundstücke hender Diskrepanzen beitragen muß. Steigende Um- um bis zu 15 % unter Wert veräußert werden dürfen, weltbelastungen und -gefährdungen sowie das in der wenn sie zur Schaffung von Studentenwohnungen Gesellschaft gewachsene Umweltbewußtsein sind verwendet werden. auch Herausforderungen für die Bildungspolitik. Die Deutschlands Zukunft darf nicht unter den Brücken europäische Integration und die Zusammenarbeit mit schlafen! den Ländern der Dritten Welt sowie mit Industrielän- Die finanziellen Möglichkeiten, die der Bundes- dern außerhalb der Europäischen Gemeinschaft sind haushalt für Bildung und Wissenschaft eröffnet, errei- weitere dringende Anliegen der qualitativen Wei- chen mit mehr als 6 Milliarden DM eine Höhe wie nie terentwicklung des Bildungssystems im geeinten zuvor in der Bundesrepublik Deutschland. Sie sind Deutschland. allerdings von Problemen gefordert, die es in diesem Es zeigt sich aber bei einer Gegenüberstellung der Ausmaß noch nicht gegeben hat. Haushaltspläne für 1990 und 1991, daß z. B. der Be- Daß wir diesen Herausforderungen gerecht werden reich Modellversuchsförderung in allen Bildungsbe- können, verdanken wir einer blühenden Wirtschaft in reichen unzureichend ausgestattet ist. Es besteht die dem westlichen Teil der Bundesrepublik. Bildung und große Gefahr, daß einerseits bewährte Instrumente Ausbildung, Wissenschaft und Forschung im östlichen der Bund-Länder-Zusammenarbeit durch „Austrock- Teil Deutschlands werden bald die Bürger der neuen nung" in der Substanz gefährdet werden und ande- Bundesländer in den Stand setzen, aus eigener Kraft rerseits durch zeitlich bef ristete Sonderprogramme — ihren Beitrag für diese wichtigen Zukunftsbereiche zu vor allem im Hochschulbereich — der Bund ein Mit- leisten. spracherecht an Länderaufgaben durch „Anlegen des goldenen Zügels" gewonnen hat und noch weiter ge- winnt. Hinrich Kuessner (SPD): Der Bundeshaushalt 1991 ist der erste gesamtdeutsche Haushalt nach der Ein- Ich komme aus dem Osten Deutschlands. Wir, die heit Deutschlands. Die staatliche Einheit ist erreicht. wir die gesellschaftliche Änderung in der ehemaligen Nun gilt es, die gesellschaftliche Einheit auszugestal- DDR betrieben haben, wollten nicht nur das West- ten. Der Einzelplan 31 des Bundesministeriums für Geld, sondern eine offene Gesellschaft, wo Bürgerin- Bildung und Wissenschaft hat dabei eine wichtige nen und Bürger frei von Angst sind und selbstbewußt Bedeutung. Denn Bildung und Wissenschaft sind eigene Entscheidungen für ihr Leben treffen. In der wichtige Investitionen in die Zukunft. alten DDR und vorher in der Nazi-Zeit bet rieb man Der Bund hat nach dem Grundgesetz festgelegte eine gezielte Verdummung der Menschen. Nicht die Zuständigkeiten im Bildungsbereich, vor allem im Be eigene Meinung, der eigene Standpunkt waren ge- 2054* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 fragt, sondern das Nachplappern der Parolen der In ihrem Aktionsprogramm hat die SPD vorgeschla- Herrscher. Und ein riesiger Apparat der Geheimen gen, daß alle privaten Unternehmen mit Beginn des Staatspolitzei in der Nazi-Zeit und der Stasi in der Ausbildungsjahres 1991 einen Zuschuß von 5 000 DM DDR achteten darauf, daß Abweichler keine Bedeu- je neuen Auszubildenden und Ausbildungsjahr erhal- tung errangen. Man muß sich dies vor Augen halten, ten, wenn ihre Ausbildungsquote 5 Prozent der am daß die Menschen in Schule, Universität und Berufs- 1. Mai 1991 Beschäftigten übersteigt. Aus den Diskus- ausbildung seit Jahrzehnten nicht zu selbständig den- sionen in meinem Wahlkreis entnehme ich, daß die kenden Individuen erzogen wurden. Ihr Leben war so von der Regierung vorgesehene „Lehrstellenhilfe" vom Staat geplant, daß es in der Regel keine Überra- nicht wirkungsvoll ist. Es gibt für mich keinen einseh- schungen gab. Veränderungen beim Wohnsitz oder baren Grund der Beschränkung auf kleine Bet riebe. im Beruf mußten oft Jahre vorher vorbereitet werden. An alles Neue konnte man sich langsam gewöhnen. — In ihrem Aktionsprogramm hat die SPD ein ganzes Mit der Einführung der Marktwirtschaft veränderte Bündel von Maßnahmen vorgeschlagen. Sie sind hier sich über Nacht alles. bekannt. Ich will sie darum nicht alle nennen. Die besondere Situation erfordert viele ineinandergrei- Alles was ich hier sage, ist Ihnen bekannt. Warum fende und sich ergänzende Maßnahmen. sage ich es trotzdem? Ich möchte Ihnen deutlich ma- chen, daß wir neben der Ankurbelung der Wirtschaft Für die Ausbildung junger Menschen muß alles ein- eine Bildungsoffensive brauchen. Soziale Marktwirt- gesetzt werden. Die Jugendlichen brauchen für ihren schaft kann man nur betreiben, wenn fachlich gut aus- Start ins Berufsleben eine qualifizierte Berufsausbil- gebildete und sozial denkende Menschen zur Verfü- dung. Die neuen Länder brauchen für den wirtschaft- gung stehen. In den neuen Ländern gibt es Ansätze lichen Aufschwung Fachkräftenachwuchs. Die Aus- zur freien Marktwirtschaft, wo Menschen auf Kosten bildungsbereitschaft der Privatwirtschaft in den anderer schnelles Geld verdienen. Dabei kommen neuen Ländern zu stärken ist ein notwendiges Ele- manche unter die Räder. ment, aber allein nicht ausreichend. Außer- und über- betriebliche Ausbildung muß ebenso gefördert wer- Wir brauchen eine breit angelegte Aus- und Weiter- den wie die schulische Berufsausbildung. bildung, die es Menschen ermöglicht, selbstbewußt Die vorhin angesprochene „Lehrstellenhilfe" am Aufbau der neuen Gesellschaft mitzuwirken. Nur wurde von der Koalition zu Lasten anderer notwendi- so läßt sich Demokratie in den neuen Ländern auf- ger Programme in den Haushalt aufgenommen. So bauen. Nur so wird vermieden, daß das Feld den wurden 60 Millionen DM für die Ausbildungsförde- Rechtsradikalen aus dem Westen überlassen wird. rung von Schülern und 15 Millionen DM für die För- Aus- und Weiterbildung ist eine entscheidende Vor- derung überbetrieblicher beruflicher Ausbildungs- aussetzung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- stätten gestrichen. Gerade der zuletzt genannte Titel mer, um ihre Chancen in Beruf, auf dem Arbeitsmarkt hätte nach Meinung der SPD vielmehr einer Erhö- und im gesellschaftlichen Leben aktiv wahrnehmen hung um 30 Millionen DM bedurft. Die Ausbildungs- zu können. Der Einzelplan 31 läßt diese Schwer- förderung für Schüler sichert erst die Chancengleich- punktsetzung nicht genügend erkennen. Im Plan gibt heit in der Bildung. Durch den Rückzug des Bundes es gute und notwendige Ansätze für Aus- und Weiter- aus der Schülerförderung ab 1983 sinken die Chancen bildungsprogramme. sozial Schwacher, ein Hochschulstudium aufzuneh- men. Die Probleme der beruflichen Bildung in den neuen Ländern wurden im Bundestag ausführlich diskutiert. Zunehmend wird die Finanzierung des Studiums Die SPD hat mit Drucksache 12/416 einen Antrag für Studenten in den neuen Ländern ein Problem. Die „Aktionsprogramm zur Sicherung der beruflichen Bil- Lebenshaltungskosten steigen. P rivate Studenten- dung in den neuen Ländern" eingebracht. Die Siche- zimmer bekommt man fast nur zu West-Mietpreisen. rung der beruflichen Bildung in diesem Jahr und in Das Niveau vieler Studentenheime ist nicht zumutbar. den folgenden ist ein wichtiger Prüfstein für das Ge- Die Differenzierung der Bedarfssätze nach der Lage lingen der gesellschaftlichen Einheit. Schätzungs- der besuchten Ausbildungsstätte ist nicht mehr ge- weise 140 000 Schulabgängerinnen und Schulabgän- rechtfertigt. Der Ausschuß für Bildung und Wissen- ger wollen im Herbst 1991 ihre Berufsausbildung be- schaft im sächsischen Landtag hat sich im Ap ril für ginnen. Für das Vertrauen der Jugendlichen, aber einheitliche Grundbedarfssätze und die schrittweise auch der Menschen in den neuen Ländern insgesamt, Anpassung des Mietzuschlags ausgesprochen. auf positive Zukunftsaussichten für ihre Region spielt es eine Rolle, ob eine qualifizierte Berufsausbildung in Dazu kommen im Augenblick noch ganz andere der Heimatregion oder nur im Westen aufgenommen Probleme. Die Bearbeitung der BAföG-Anträge dau- werden kann. ert viel zu lange. In Greifswald leihen Professoren ihren Studenten Geld, damit sie weiterstudieren kön- Die Regierung hat für 1991 ein Lehrstellenhilfspro- nen. Ihre Eltern können es nicht. Mitarbeiter des Fe- gramm mit 75 Millionen DM eingesetzt. Unterneh- riendienstes auf Usedom haben zum Teil ab Mitte men mit höchstens 20 Beschäftigten erhalten danach Dezember 1990 kein Geld mehr erhalten. Gestern eine einmalige Prämie von 5 000 DM für jeden abge- hörte ich, daß sich hier wohl endlich eine Lösung an- schlossenen Ausbildungsvertrag. Dies reicht einfach bahnt. Wir werden sehen. Jedenfalls können Eltern nicht aus. Für die Sicherung von Ausbildungsplätzen ihren Kindern nicht immer helfen, weil ihre finanziel- muß jetzt mehr getan werden. Es ist nicht einsichtig, len Verhältnisse es nicht erlauben. Und nebenbei zu daß die Förderung auf kleine Unternehmen be- arbeiten, klappt in der Regel auch nicht, da die Arbeit schränkt ist. zu knapp ist. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2055*

Zuletzt wurde ein Erneuerungsprogramm für Hoch- halts 1991 ist faktisch 1 Jahr seit der Herstellung der schule und Forschung in den neuen Ländern für 1991 staatlichen Einheit verlorengegangen, in dem die An- mit 47 500 000 DM in Einzelplan 31 aufgenommen. gleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Insgesamt sind für dieses Programm 1,76 Milliarden Bildung und Wissenschaft nicht nur mit den falschen DM bis 1996 vorgesehen. Auch dieses Programm ist Konzepten unzureichend und falsch finanziert ange- nach Meinung der SPD zu eng geplant. Für die Hoch- gangen wurde, sondern auch notwendige, im Herbst schulen und Forschung in den neuen Ländern ist die- 1990 teilweise begonnene Maßnahmen nicht fortge- ses Programm lebensnotwendig. Mit ihr kann die per- setzt bzw. — noch schlimmer — überhaupt nicht an- sonelle Erneuerung energisch betrieben werden, und gefangen werden konnten. Die restriktive vorläufige es wird der Abwanderung von qualifizierten Wissen- Haushaltsführung und fehlende haushaltsrechtliche schaftlern und Nachwuchskräften entgegengearbei- Grundlagen für neue Maßnahmen treffen sowohl die tet. Die demokratische Erneuerung unseres Landes neuen als auch die alten Länder. braucht die Erneuerung der Hochschulen. Sie müssen frei von alten Ideologien und leistungsstark werden. Als Beispiel für die neuen Länder sind zu erwähnen: Nur so werden sie zu einem Motor der gesellschaftli- Die zu erwartende Ausbildungssituation im Ausbil- chen Erneuerung. dungsjahr 1991/92 war bereits im Frühjahr 1991 er- kennbar. Spätestens dann hätte wirksames politisches Die SPD fordert weiterhin eine Aufstockung dieses Handeln einsetzen müssen, da zur Durchführung von Programms auf 2,4 Milliarden DM: Diese Investitio- Maßnahmen — etwa im Bereich der außerbetriebli- nen sind notwendig zur raschen Herstellung gleicher chen Ausbildung — bereite Träger Zeit für die Be- Lebens- und Arbeitsbedingungen im Hochschul- und schaffung und Herrichtung von Werkstätten, für die Wissenschaftsbereich. Es ist bedauerlich, daß der Gewinnung und Qualifizierung des Lehrpersonals Bund hierfür nur rund 1,3 Milliarden DM übernimmt. und für die Ausschreibung freier Plätze für Ausbil- Die Befürchtung besteht, daß diese Mittel zu erhebli- dungsplatzsuchende Jugendliche benötigt hätten. Die chen Teilen aus den Mitteln der Bundesministerien „Lehrstellenhilfe" der Bundesregierung ist nicht nur für Bildung und Wissenschaft und Forschung und unzureichend ausgestaltet, sie setzt auch zu spät ein, Technologie „erwirtschaftet" werden müssen. so daß zu befürchten ist, daß im Herbst 1991 eine grö- Die Ansätze der Förderprogramme für Aus- und ßere Zahl von Jugendlichen in den neuen Ländern Weiterbildung im Einzelplan 31 sind insgesamt viel zu unversorgt sein wird. eng geplant. Dazu ist der Plan außerdem durch eine Als Beispiel für die alten Länder sei angeführt: Wäh- globale Minderausgabe von 50 Millionen DM bela- rend die Zahl der Studenten, auch aus den neuen Län- stet. Man muß befürchten, daß einzelne neue Pro- dern, weiterhin stark ansteigt, hat der Bund seine Ver- gramme überhaupt nicht zur Wirkung kommen. Ist pflichtungen aus dem ersten und zweiten Hochschul- das die politische Taktik der Regierung: Programme sonderprogramm in diesem Jahr noch nicht oder nur werden geplant, ihre Einsparung wird gleich mitge- unzureichend erfüllt. Im Bereich des Hochschulbaus plant. Aus DDR-Zeiten bin ich Planspielereien ge- steht der Bund — trotz der beachtlichen Steigerung wöhnt. Für diesen Einzelplan sind diese Spielereien des Ansatzes 1991 — bei den alten Ländern mit rund gefährlich. Hier muß offensiv gearbeitet werden. Ich 700 Millionen DM „in der Kreide". Die Länder haben verstehe, daß der Bundeshaushalt nicht endlos erhöht in mindestens diesem Umfang vom Planungsausschuß werden kann. Die Nettokreditaufnahme des Staates für den Hochschulbau bereits genehmigte Vorhaben muß so gering wie möglich gehalten werden. Aber vorfinanziert. Angesichts dieser Tatsache und der Bei- hohle Ankündigungen hatten wir genug. träge der alten Länder für den Fonds Deutsche Einheit Die SPD hat darum nach den politischen Verände- ist es unverständlich, daß die Bundesregierung ver- rungen der letzten Jahre neue Ausgabenschwer- sucht, die alten Länder an der Finanzierung des drit- punkte gefordert. Die Koalition hat auch in diesem ten Hochschulsonderprogramms für die neuen Länder Jahr nicht ernsthaft über die Reduzierung des Vertei- zusätzlich zu beteiligen. digungshaushaltes auf die noch immer stattliche Höhe Ein anderes Problem sind von Vereinen angedachte von 50 Milliarden DM nachgedacht. Warum wird wei- Programme für die neuen Länder, die in die bisheri- ter die Entwicklung des Jäger 90 betrieben, in diesem gen Förderprogramme nicht passen. Ich unterstütze Haushalt mit 800 Millionen DM? Das Geld für eine z. B. einen Verein, der in Mecklenburg die berufliche offensive Bildungspolitik in Deutschland-Ost und Eingliederung von Auslandsdeutschen betreiben will. -West muß nicht fehlen. Bundesminister Kinkel hat Gleichzeitig soll diese Einrichtung zum Gespräch zwi- am Wochenende zu Recht auf die Gefahren des schen Menschen bei uns in Mecklenburg-Vorpom- Rechtsradikalismus in den neuen Ländern hingewie- mern und den Zugewanderten genutzt werden. Das sen. Gegen diese Ansätze muß jetzt angegangen wer- ist ein wichtiges politisches Thema. Grund und Boden den, und zwar mit politischen Bildungsprogrammen könnte erworben werden. Aber die Ankauf- und Inve- für alle Bevölkerungsgruppen. stitionsmittel fehlen. Wer in den neuen Ländern Die Behauptung ist nicht richtig, daß genügend Neues machen will, braucht neue oder zum Teil an- Geld für die neuen Länder zur Verfügung gestellt dere als bisher in der Bundesrepublik übliche Förder- wird. Vielleicht mag 1991 die Summe insgesamt aus- programme. reichen. Es mag auch sein, daß die recht haben, die Ich komme aus einer strukturschwachen Gegend in sagen, daß 10 bis 15 Milliarden DM in diesem Jahr Vorpommern. Die Arbeitslosigkeit und Hoffnungs- nicht abgerufen werden. losigkeit der Menschen nimmt zu. Geburten gehen Durch die von der Bundesregierung zu verantwor- dramatisch zurück. Jugendliche wandern ab in den tende verspätete Verabschiedung des Bundeshaus- Westen. Wenn es so weitergeht, fehlt uns eine Gene- 2056* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 ration, die gerade zum Aufbau von Wirtschaft und nem einheitlichen Staat zu entwickeln. Diese Chance Gesellschaft dringend benötigt wird. wird von der Bundesregierung kläglich verpaßt. Herr Bundesminister, hier hätten Sie Ihren Kollegen In einigen Dörfern wagen die landwirtschaftlichen Schäuble nachdrücklich davor warnen müssen, an Betriebe nicht mehr, Leute zu entlassen, obwohl es einer völlig verkehrten Stelle zu sparen. betriebswirtschaftlich notwendig ist. Sie befürchten, daß der Friede im Dorf gefährdet ist, wenn über 50 % Die Demokratie hat eine große Chance in den der Bewohner von der Arbeitslosigkeit betroffen sind. neuen Ländern. Ohne eine Bildungsoffensive kann Viele dieser Menschen haben jahrelang schwere kör- diese Chance verspielt werden. Nach der geistigen perliche Arbeit getan. Es gab für sie keine Bildungs- Zerstörung in den Zeiten des SED-Staates muß jetzt angebote. Ihre Mitverantwortung war nicht gefragt. der Demokratie die Chance gegeben werden. Das Aus in der Landwirtschaft stellt sie vor unlösbare Probleme. Speziell für den ländlichen Raum in struk- Wir brauchen in ganz Deutschland eine Bildungs- turschwachen Gebieten brauchen wir Initiativen, die offensive, damit die Teile Ost und West zusammen- Menschen wieder eine Zukunft eröffnen. Hier muß wachsen. Dies kann nicht nur dem Selbstlauf überlas- zusammen mit den Verantwortlichen vor Ort nachge- sen werden. Es bedarf der Zusammenführung, beson- dacht werden. Dabei geht es um die berufliche Um- ders der Jugend, und es bedarf der gezielten Diskus- schulung und um das Leben im ländlichen Raum ins- sion. Der schnellen staatlichen Einheit müssen jetzt gesamt. Impulse zur Zusammenführung der Menschen mit dem Ziel des gegenseitigen Verstehenlernens folgen. Was können Arbeitslose tun, die in einem Neubau- Das fordert mehr staatliches Geld, das über beste- viertel in Greifswald wohnen? Sie haben vielleicht mit hende Vereine und Institutionen umgesetzt werden vier Personen eine Dreiraum-Wohnung mit 50 qm. sollte. Bei so einer schnellen Entwicklung der Einheit Für aufwendige Hobbys fehlt der Platz. So bleibt es besteht die Gefahr, daß die Entfremdung schneller beim Fernsehen. Kostengünstige Freizeitangebote wächst als das gegenseitige Verstehenlernen. Es ist bestehen kaum. Sportvereine, Bürgervereine irgend- unsere Aufgabe, dagegenzusteuern. Dieser Haushalt welcher Art, Treffpunkte fehlen. ist nicht die ausreichende Antwort. Wir lehnen darum- Ohne eine Anschubfinanzierung zur Schaffung der den Einzelplan 31 ab. äußeren Voraussetzungen ist nur selten etwas zu ma- chen. Hier müssen mehr Impulse gegeben werden. Die gesellschaftlichen Strukturen, von denen Soziale Carl-Ludwig Thiele (FDP): Der Haushaltsentwurf Marktwirtschaft und Demokratie leben, müssen in des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft den neuen Ländern erst geschaffen werden. Gerade sieht für 1991 ein Volumen von 6,174 Milliarden DM in solchen Zeiten der totalen Veränderung, wo be- einschließlich des Erneuerungsprogramms, zu dem zahlte Arbeit knapper wird, sind mehr Bildungsange- ich noch gesondert Stellung beziehen werde, vor. Der bote notwendig. Dabei muß politische Bildung als in- Haushalt weist damit eine Steigerung gegenüber dem tegraler Bestandteil von Weiterbildung in allen Berei- Vorjahr von 47,1 % aus. Von diesem Aufwuchs kom- chen begriffen werden. men den neuen Ländern erhebliche Summen zu- gute. Politische Bildung kann aber auch dabei helfen, die unsichtbare Mauer zwischen den Menschen abzurei- Der Haushalt enthält für die Hochschulbauförde- ßen, die in den 40 Jahren der Trennung zwischen uns rung einen Gesamtansatz von 1,26 Milliarden DM. entstanden ist. Hier sei mir ein Schlenker in den Be- Davon stehen für die ostdeutschen Hochschulen reich des Bundesinnenministeriums erlaubt. In diesen 300 Millionen DM zur Verfügung, damit einerseits Jahren der Trennung hat die Bundesregierung Mittel ihre angemeldeten Bauvorhaben in Ang riff genom- für die deutschlandpolitische Bildung bereitgestellt, men bzw. fortgesetzt, andererseits Großgeräte für die Fahrten nach Berlin bezuschußt, um vor allem bei jun- Forschung angeschafft und Büchergrundbestände an- gen Menschen das Bewußtsein von der Einheit der gelegt werden können. beiden deutschen Staaten wachzuhalten. Jetzt plötz- Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft lich werden diese Mittel gewaltig zusammengestri- hat die Initiative ergriffen, um für die Hochschulen in chen: Um 3,5 Millionen DM auf 33 Millionen DM bei den neuen Ländern — einschließlich Berlin (Ost) — Bildungsveranstaltungen und von 20 Millionen DM ein Erneuerungsprogramm aufzulegen. Dieses hat auf 5 Millionen DM bei den Berlinfahrten. Niemand jetzt einen Gesamtumfang von 1,76 Milliarden DM für will, daß die bisherigen Veranstaltungen im alten Stil die nächsten 5 Jahre. In diesem Erneuerungspro- weiterlaufen sollen. Sie müssen konzeptionell umge- gramm sind auch Teile des Gemeinschaftswerks Auf- staltet werden. schwung Ost in einer Größenordnung von 400 Millio- Ich will hier nur ein Beispiel nennen: Durch die Kür- nen DM — 1991: 200 Millionen DM, 1992 200 Millio- zungen wird die Organisation „Arbeit und Leben" nen DM — enthalten. Ursprünglich sollten nach der über 70 geplante einwöchige Bildungsveranstaltun- Bedarfsanalyse von Wissenschaftsrat, Hochschulrek- gen in Berlin nicht durchführen können. Wir brauchen torenkonferenz, Bund-Länder-Kommission für Bil- jedoch dringend solche Begegnungsveranstaltungen dungsplanung und auch den Vorstellungen des Bun- zwischen den Menschen aus den alten und den neuen desministers für Bildung und Wissenschaft 2,2 Milliar- Bundesländern. Immer noch wissen die Deutschen zu den DM für die neuen Länder aufgebracht werden. wenig über den Lebenshintergrund des jeweils ande- Der Bund wollte sich daran mit 60 % beteiligen, wäh- ren. Jetzt müßte die Chance genutzt werden, durch rend die restlichen 40 % hälftig auf die alten und Begegnungsseminare näher zusammenzurücken, neuen Bundesländer verteilt werden sollten. Leider auch Perspektiven für das gemeinsame Leben in ei sind die alten Länder in diesem Punkt ihrer gesamt- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2057* staatlichen Verantwortung nicht gerecht geworden Erlauben Sie mir, an dieser Stelle dem neuen Bun- und haben die Mitfinanzierung abgelehnt. desminister Rainer Ortleb herzlich für seinen enga- gierten und teilweise unkonventionellen Einsatz zu Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ganz danken. Ich glaube, daß gerade die Bürger in den deutlich sagen: Wenn wir im Deutschen Bundestag neuen Bundesländern erkennen, daß gerade die Mi- unsere gesamtstaatliche Aufgabe der Verwirklichung nisterriege der nicht nur Hoffnung geben, son- der deutschen Einheit so verstehen würden wie einige FDP dern auch tatsächliche Veränderungen für die neuen Alt-Bundesländer, dann hätten wir den Bürgern in Bundesländer herbeiführen wird. den neuen Bundesländern nicht nur keine Hoffnung gegeben, es würde sich auch nicht die positive Verän- Die bisher ergriffenen Maßnahmen belegen nach- derung ergeben, die jetzt sichtbar wird. drücklich das Engagement des Bundes zur Sicherung und Verbesserung der Qualität in der Wissenschaft Der Bundesfinanzminister hat die Dringlichkeit des und der beruflichen Bildung in ganz Deutschland. Sie Vorhabens anerkannt und die 1,32 Milliarden Bun- belegen, daß sich der Bund seiner gesamtstaatlichen desanteil, verteilt auf fünf Jahre, bewilligt. Die Verantwortung bewußt ist. Sie belegen, daß sich der Summe wird vom Bundesbildungsministerium und Staat der drängenden Probleme schnell und unkon- Bundesforschungsministerium aufgebracht. Von die- ventionell annimmt. Sie belegen aber auch, daß noch sen Mitteln müssen die Forschungs- und Lehrbedin- weitere Maßnahmen in Zukunft erfolgen müssen, um gungen verbessert werden, müssen Laborgeräte er- zu einer Angleichung der Standards in den neuen und neuert, Rechner angeschafft und der Neuerwerb von alten Bundesländern zu kommen. Büchern ermöglicht werden. Weiter gilt es, zur perso- nellen Erneuerung in den Lehrbereichen Wirtschafts-, Ich glaube, daß wir mit diesem Haushaltsentwurf Rechts- und Geisteswissenschaften Gastprofessoren unserer gesamtstaatlichen Verantwortung gerecht aus den westlichen Ländern zu entsenden. Gefördert geworden sind. werden muß auch der wissenschaftliche Nachwuchs durch die Errichtung von Graduiertenkollegs. Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Die Abgeord- Das von Bund und den neuen Ländern erstellte Er- netengruppe PDS/Linke Liste kann dem vorliegenden neuerungsprogramm wird einen wesentlichen Beitrag Entwurf nicht zustimmen, da er nicht geeignet ist, zur Angleichung der Verhältnisse der neuen Länder Mängel und Disproportionen in der ostdeutschen Bil- an die alten leisten und damit Abwanderungen des dungs- und Wissenschaftslandschaft beheben zu hel- akademischen Nachwuchses aus den neuen Ländern fen, die auf das Konto des untergegangenen Staates entgegenwirken. Seine Verwirklichung ist nachhaltig DDR gehen. Noch weniger ist dieser Entwurf jedoch zu begrüßen, denn es wäre ein Zeichen politischer geeignet, die Schäden wiedergutzumachen, die die Kurzsichtigkeit gewesen, die notwendigen Förder- Bundesregierung durch die mutwillige Zerstörung maßnahmen in den neuen Ländern vor sich herzu- des über 40 Jahre gewachsenen und vor der Einheit schieben. durchaus als wettbewerbsfähig angesehenen und be- handelten Bildungs- und Wissenschaftssystems selbst Im Bereich des BAföG haben wir eine Steigerung angerichtet hat. um fast 1 Milliarde DM auf jetzt 2,69 Milliarden DM vorgenommen. Dieser Mehrbetrag ist fast ausschließ- Zu dieser Schadensbilanz gehören die Zerstörung lich für die neuen Bundesländer vorgesehen. Mit der der außeruniversitären Forschung — vor allem der 14. BAföG-Änderungsnovelle wollen wir eine Anpas- Akademie der Wissenschaften der DDR und anderer sung des BAföG an die realen Einkommensverhält- staatlicher Forschungseinrichtungen — , die Abwick- nisse der Familien in den neuen Ländern erreichen. lung oder Teilabwicklung von Hochschulen, das Ka- Wir wollen mit dieser Novelle das Verfahren be- puttmachen des ausgebauten Fachschulwesens der schleunigen und vor allem den Bezug auf die aktuel- DDR, anstatt die Entwicklung von Fachschulen zu len Einkommen herstellen, um so den sozialen Ver- Fachhochschulen zu fördern, und schließlich die der werfungen des Arbeitsmarktes und damit der Ein- Privatisierungsmanie der Treuhandanstalt geopferten kommen gerecht zu werden. Zehntausende von Ausbildungsplätzen für Lehrlinge. Es geht mir hier nicht darum, das subjektiv ehrliche Bereits für 1991 ist in den neuen Ländern die soge- Bemühen dieses oder jenes Regierungsmitglieds um nannte Ausbildungsplatzinitiative angelaufen: Für verträgliche Lösungen in Frage zu stellen, sondern um die Förderung der betrieblichen Berufsausbildung in den nicht zu leugnenden Tatbestand der Vernichtung den neuen Ländern und in Ost-Berlin werden im wesentlicher Bildungs-, Ausbildungs- und For- Haushalt des BMBW 1991 und 1992 Mittel von insge- schungskapazitäten, um die Vernichtung strategi- samt 250 Millionen DM bereitgestellt. Damit wird Un- scher Güter durch eine grundsätzlich verfehlte An- ternehmen, die am 1. Ap ril 1991 höchstens 20 Arbeit- schlußpolitik, -ideologie und -praxis. Der Haushalts- nehmer beschäftigt haben, eine einmalige Prämie von entwurf ist bestenfalls geeignet, den Schaden zu 5 000 DM je 1991 abgeschlossenen Ausbildungsver- dämpfen und die Talfahrt der Bildung und Wissen- trag als Zuschuß zur Deckung der Ausbildungskosten schaft in Ostdeutschland zu verlangsamen; er ist je- gewährt. Zuschußberechtigt sind nicht nur solche Be- doch untauglich, die von der Regierung und den Re- triebe, die in diesem Jahr Jugendliche im ersten Lehr- gierungsparteien heraufbeschworene Bildungs- und jahr einstellen, sondern auch solche, die sogenannten Wissenschaftskrise Ost zu überwinden. Konkurslehrlingen die Fortsetzung ihrer Ausbildung ermöglichen. Das Programm wird helfen, einen er- Bekanntlich hat die Bundesregierung das schmut- heblichen Anteil der noch zu vermittelnden 60 000 zige Geschäft der Abwicklung bzw. Auflösung, der Lehrstellensuchenden mit einem Ausbildungsvertrag sittenwidrigen Fragebogenaktionen und dergleichen zu versehen. mehr nur allzu bereitwillig und ohne die im Grund- 2058* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Besetz vorgesehenen Bundeskompetenzen ernsthaft Auf der anderen Seite sollen besonders leistungsfä- wahrzunehmen, den neugeborenen Ländern überlas- hige Jugendliche durch Zusatzangebote in der Erst- sen und die — sicher nicht gewollte, aber dennoch ausbildung ihr Begabungspotential besser ausschöp- eingetretene — Vernichtung von Ausbildungsplätzen fen können. Es freut mich besonders, daß es trotz an- der Treuhand zugelassen. Nennenswerte Kosten hat derer Anforderungen an den Bundeshaushalt gelun- das alles nicht verursacht. Es wäre jedoch ein folgen- gen ist, den Einstieg in die Begabtenförderung in der schwerer Irrtum, zu glauben, daß die Wiederauffor- beruflichen Bildung zu erreichen. Wir werden schon stung und Neugestaltung der ostdeutschen Bildungs- in diesem Jahr damit beginnen, anspruchsvolle Wei- und Wissenschaftslandschaft ebenso unbedacht, terbildung für besonders erfolgreiche Absolventen in ebenso schnell und ähnlich billig zu haben sei wie ihr den ersten Berufsjahren zu fördern. Dafür sind 10 Mil- Kahlschlag. Von ebendiesem Irrglauben aber scheint lionen DM vorgesehen. Mein Ziel ist es, die Begabten- mir der zur Debatte stehende Haushaltsentwurf be- förderung bis zu 1 % der Absolventen eines Jahrgangs seelt zu sein. Die Kleinlichkeit der betrieblichen Aus- auszubauen. bildungsplatzförderung, das groß angekündigte und Ein Hauptproblem sehe ich in der Versorgung der sich immer mehr auf finanzielle Anreize für altbun- Jugendlichen in den neuen Ländern mit einem ausrei- desdeutsche Hochschullehrer reduzierende Hoch- chenden Ausbildungsplatzangebot. Mit dem Ausbil- schulerneuerungsprogramm Ost, fehlende Konzepte dungsplatzförderungsprogramm Ost, das die Bundes- und Mittel zur kräftigen Förderung von Fachhoch- regierung auf meine Initiative am 24. April 1991 be- schulen unter Nutzung der ausbaufähigen Substanz schlossen hat, sind gute Voraussetzungen geschaffen, der Fachschulen, die mehr als dürftige Bereitstellung dieses Problem zu bewältigen. von Mitteln für die Forschung und für Modellversuche und schließlich die wiederholte Verweigerung glei- Das Programm sieht als eine wesentliche Maß- cher BAföG-Sätze sind nur einige Belege dafür, daß nahme die einzelbetriebliche Förderung von Ausbil- die Bundesregierung nicht bereit ist, den von ihr zu dungsplätzen vor. Kleine Unternehmen, die am verantwortenden Schaden wiedergutzumachen. 1. April 1991 nicht mehr als 20 Arbeitnehmer beschäf- tigten, erhalten einen einmaligen Zuschuß von Selbst die moderaten und auf Sparsamkeit bedach- 5 000 DM für jeden neu abgeschlossenen Ausbil- ten Verbesserungsvorschläge, die die SPD-Fraktion in dungsvertrag. Damit wird der Förderung von betrieb- den Bildungsausschuß eingebracht hat, wurden mit lichen Ausbildungsplätzen in den neuen Ländern der Stimmenmehrheit der Koalitionsfraktionen abge- Vorrang eingeräumt und insbesondere der Ausbau lehnt — von der FDP-Fraktion „unter Schmerzen" ,wie entsprechender Ausbildungskapazitäten in mittel- Frau Abgeordnete Dr. Funke-Schmitt-Rink erklärte ständischen Unternehmen und Bet rieben ermöglicht. Man muß keine Kassandra sein, um vorauszusagen, Im Einzelplan 31 sind dafür 75 Millionen DM vorgese- daß die Vorreiter der tiefgreifenden und langwirken- hen. Im Jahre 1992 sollen zusätzlich 175 Millionen den Schädigung der ostdeutschen Bildung und Wis- DM dafür zur Verfügung stehen. Darüber hinaus wer- senschaft, die sich jetzt als Bremser des Wiederauf- den im Bereich der Bundesverwaltung 10 000 zusätz- baus betätigen, früher oder später von solchen liche Ausbildungsplätze für Jugendliche aus den Schmerzen eingeholt werden. neuen Ländern angeboten und besetzt. Die Finanzierung der beruflichen Ausbildung in Dr. Rainer Ortleb, Bundesminister für Bildung und Treuhand-Betrieben für bestehende Ausbildungsver- Wissenschaft: Im Entwurf des Bundeshaushalts 1991 hältnisse und Neueinstellungen — nach Möglichkeit sind für den Haushalt des Bundesministers für Bil- über den Eigenbedarf hinaus — wird sichergestellt. dung und Wissenschaft Ausgaben in Höhe von insge- samt 6,174 Milliarden DM vorgesehen. Dies sind ge- Ferner sind im Haushalt der Bundesanstalt für Ar- genüber dem Soll des Jahres 1990, das bei insgesamt beit für alle jetzt noch notwendigen Maßnahmen zur 4,197 Milliarden DM lag, fast 2 Milliarden DM mehr. Förderung außerbetrieblicher Berufsausbildung und Auch wenn man den durch die deutsche Vereinigung Berufsvorbereitung 1991 ausreichende Mittel in Höhe bedingten Zuwachs berücksichtigt, bedeutet dies von 663 Millionen DM etatisiert. eine überproportionale Steigerung um 47 % Die Bundesregierung hat zudem mit der Investi- Die Bundesregierung unterstreicht damit die wich- tionshilfe für Kommunen im Rahmen des Gemein- tige Rolle von Bildung und Wissenschaft im Prozeß des schaftswerkes „Aufschwung Ost" einen wesentlichen Zusammenwachsens der beiden Teile Deutschlands Beitrag auch zur Erhaltung und Modernisierung von sowie ihre Bedeutung für die erfolgreiche Weiterent- Berufsschulen geleistet. wicklung unserer Gesellschaft in wirtschaftlicher, so- Die genannten Maßnahmen werden mit qualitati- zialer und ökologischer Hinsicht. ven Programmkomponenten kombiniert. Dazu gehö- ren u. a. die fachliche und pädagogische Zusatzquali- Erstens. Im Hinblick auf die steigenden Anforde- fizierung des Personals in der beruflichen Bildung, die rungen auf dem Fachkräftemarkt hat die berufliche konzeptionelle Vorbereitung und fachlich-inhaltliche Bildung im gesamten Deutschland eine hohe Priorität. Ausgestaltung außerbetrieblicher Ausbildungsmaß- Im Vordergrund steht dabei ein Qualifizierungssy- nahmen und der Innovationstransfer von in den alten stem, das sich am Prinzip der „inneren Differenzie- Ländern entwickelten, erprobten und erfolgreich ein- rung" orientiert und der unterschiedlichen Leistungs- gesetzten Modellversuchsergebnissen. fähigkeit junger Menschen besser gerecht wird. Es ist wichtig, daß auch Jugendliche, die es mit dem Lernen Gleichzeitig wird ein flächendeckendes Netz über- schwerer haben oder sozial benachteiligt sind, beruf- betrieblicher Berufsbildungsstätten zur Ergänzung liche Abschlüsse erwerben können. der Ausbildung in kleineren und mittleren Betrieben Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991 2059* zügig ausgebaut. Für die Einrichtung überbetriebli- konventionelles Handeln — unterstützen werden. cher Ausbildungskapazitäten sind im Einzelplan 31 Ihre Mitunterzeichnung der Vereinbarung bringt die- insgesamt 113 Millionen DM veranschlagt. Ein erheb- sen Willen zum Ausdruck. licher Teil davon wird zum Aufbau eines funktionsfä- Teil dieses Erneuerungsprogramms sind 400 Millio- higen Netzes überbetrieblicher Bildungsstätten in den nen DM aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung neuen Ländern genutzt. Ost für die Instandsetzung und Bestandssicherung der Mit diesem wohl beispielhaften Maßnahmenpaket Hochschulen in den neuen Ländern. Für 1991 stehen stellt die Bundesregierung insgesamt mehr als 1 Mil- aus Bundesmitteln 200 Millionen DM zur Verfügung; liarde DM zur Sicherung der Berufsausbildung in den für 1992 besteht eine Verpflichtungsermächtigung für neuen Ländern zur Verfügung. weitere 200 Millionen DM. Damit sollen u. a. kleinere Ich will aber auch an dieser Stelle deutlich sagen, Baumaßnahmen sowie Maßnahmen zur Herrichtung daß damit die Wirtschaft nicht aus ihrer Verantwor- von Wohnungen für Professoren und zur Bestands- tung zur Berufsausbildung entlassen werden kann. sicherung von Studentenwohnheimen finanziert wer- Alle Maßnahmen sind Hilfe zur Selbsthilfe. den. Die neuen Länder erbringen zusätzlich 100 Mil- lionen DM als Komplementärmittel für die Anschaf- Zweitens. Sicherung und Stärkung der Leistungsfä- fung von kleineren Geräten. higkeit der Hochschulen sind eine dauernde Heraus- forderung. Mit über 1,7 Millionen Studenten an allen Der Ansatz für Hochschulbauförderungsmittel ist bundesdeutschen Hochschulen, davon fast 1,6 Millio- von 1,1 Milliarden DM im Jahre 1990 auf 1,6 Milliar- nen Studenten in den elf alten Ländern, erreichte die den DM heraufgesetzt und in der Finanzplanung für Zahl der Studierenden im Wintersemester 1990/91 ei- die folgenden Jahre fortgeschrieben worden. Dies be- nen neuen Rekord. An den Hochschulen in den neuen deutet, daß — über die für die „alten" Länder vorge- Ländern studieren derzeit über 130 000 Studenten, sehene Aufstockung um 200 Millionen DM hinaus — bei einer steigenden Zahl der Studienanfänger. Dies zusätzlich 300 Millionen DM Bundesmittel zur Ver- verdeutlicht, daß dringende Ausbaumaßnahmen jetzt besserung der Bausubstanz der ostdeutschen Hoch- rasch in Angriff genommen werden müssen. schulen, zur Ergänzung von Büchergrundbeständen- und zur Anschaffung von Großgeräten zur Verfügung Eine wesentliche Aufgabe besteht in der zügigen stehen. Erneuerung von Hochschulen und Forschung in den neuen Ländern und im Ostteil Berlins. Durch das von Vordringlich ist ein zügiger Ausbau bzw. — in den Bund und Ländern am 24. Mai vereinbarte „Erneue- neuen Ländern — ein entsprechender Aufbau der rungsprogramm für Hochschulen und Wissenschaft in Ausbildungskapazitäten an den Fachhochschulen mit den neuen Ländern" sollen schnellgreifende Maß- ihren vergleichsweise guten beruflichen Perspektiven nahmen zur Verbesserung der Qualität von Lehre und und günstigen Studienzeiten, gerade vor dem Hinter- Forschung gefördert werden, vor allem in Fächern, in grund des im internationalen Vergleich recht hohen denen die Ausbildung internationalen Qualitätsstan- Durchschnittsalters deutscher Hochschulabsolven- dards nicht genügt. ten. Die Maßnahmen dieses Programms richten sich auf Die Aufstockung des Bundesanteils an den Mitteln die personelle Erneuerung und die Sicherung des For- der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die allge- schungspotentials der Hochschulen. Sie sollen noch in meine Forschungsförderung von 370 Millionen DM diesem Jahr beginnen, um die Studienbedingungen auf 427 Millionen DM und des Ansatzes für die Finan- bereits zum Wintersemester 1991/92 zu verbessern. zierung von Sonderforschungsbereichen von 269 Mil- Damit soll auch einer Abwanderung einer größeren lionen DM auf 290 Millionen DM ermöglicht zum ei- Zahl von Studienberechtigten an die bereits überla- nen ab sofort auch an den Hochschulen in den neuen steten westdeutschen Hochschulen vorgebeugt wer- Ländern eine nachhaltige Förderung von Forscher- den. gruppen und Hochschulinstituten und stellt zum an- deren sicher, daß die Forschungsaktivitäten an den Im Einzelplan 31 sind für das Erneuerungspro- Hochschulen der „alten" Länder kontinuierlich aus- gramm im Jahre 1991 Ausgaben des Bundes in Höhe gebaut werden können. von 47,55 Millionen DM veranschlagt, die umgehend bereitgestellt werden sollen; für die Folgejahre sind Erstmals sind im Einzelplan 31 für das Programm Verpflichtungsermächtigungen von insgesamt zur Sicherung der Leistungsfähigkeit in Hochschulen 350 Millionen DM vorgesehen. Das Finanzvolumen und Forschung, d. h. für das zweite Hochschulsonder- dieses Programms beträgt unter Berücksichtigung der programm, Mittel in Höhe von rund 88 Millionen DM von den neuen Ländern selber eingebrachten Mittel vorgesehen. Damit wird die finanzielle Grundlage da- — dies sind 25 % des Gesamtvolumens — 1,76 Milli- für geschaffen, daß die notwendigen, seit dem 2. Ok- arden DM. tober 1990 vereinbarten Maßnahmen zur Sicherung des wissenschaftlichen Nachwuchses an den west- Ich bedauere außerordentlich, daß sich die west- deutschen Hochschulen zügig anlaufen können. Eine deutschen Länder finanziell nicht am Erneuerungs- besondere Bedeutung messe ich dabei den Maßnah- programm beteiligen. Diese Haltung ist kein Aus- men zur Verbesserung der Situation von Frauen in der druck von Solidarität. Ich erwarte allerdings, daß die Wissenschaft bei. Wissenschaftsminister dieser Länder die im Pro- gramm vorgesehenen Personalmaßnahmen, vor allem Drittens. Für die Ausbildungsförderung der Schüler den notwendigen Austausch von wissenschaftlichem und Studenten nicht zuletzt auch in den neuen Län- Personal zwischen westdeutschen und ostdeutschen dern sind für dieses Jahr um gut 1 Milliarde DM auf Hochschulen, nachdrücklich — wenn nötig durch un jetzt insgesamt 2,69 Milliarden DM erhöht worden. 2060* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 5. Juni 1991

Viertens. Unsere Bemühungen richten sich zudem DM erheblich aufgestockt worden. Damit kann einer- darauf, die Weiterbildung zu einem gleichwertigen seits der Austausch von Studenten und Wissenschaft- Teil des Bildungswesens auszubauen. lern aus den Hochschulen der neuen Länder, die bis- her vom internationalen Erfahrungs- und Wissensaus- In den neuen Ländern kommt es darauf an, eine tausch ausgeschlossen waren, finanziert werden. An- plurale, marktorientierte Struktur vor allem für die dererseits können die Austauschprogramme für Stu- berufliche Weiterbildung zu schaffen. Der für die För- denten, Hochschulabsolventen und wissenschaftli- derung der Weiterbildung vorgesehene Mittelzu- ches Personal in den „alten" Ländern kontinuierlich wachs von 24,2 Millionen DM auf 28,5 Millionen DM ausgebaut werden. Dies gilt auch für Austauschpro- bietet die notwendige finanzielle Grundlage für die gramme in der beruflichen Bildung, für die die Mittel Verbesserung der Berufs- und Weiterbildungsbera- beträchtlich von 6,6 Millionen DM auf 16 Millionen tung, den Ausbau der fremdsprachlichen Ausbildung DM erhöht wurden. und die Verstärkung der berufsbezogenen wissen- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die von mir schaftlichen Weiterbildung. umrissenen Schwerpunkte und die für die Finanzie- Fünftens. Die internationale Zusammenarbeit und rung entsprechender Maßnahmen vorgesehenen der Austausch in Bildung und Wissenschaft müssen Haushaltsansätze unterstreichen den Stellenwert, den gerade auch im Hinblick auf den Ausbau der Bezie- die Bundesregierung Bildung und Wissenschaft im hungen zu den mittel- und osteuropäischen Staaten vereinten Deutschland beimißt. Gerade vor dem Hin- verstärkt werden. tergrund der Erneuerung und des Aufbaus in den neuen Ländern kommt dem Leitsatz „Investitionen in Im Haushaltsplan des BMBW sind die Ansätze für Bildung und Wissenschaft sind die wichtigsten Inve- den Austausch von Studenten und Hochschulabsol- stitionen für die Zukunft unserer Gesellschaft" beson- venten sowie von Wissenschaftlern mit dem Ausland dere Bedeutung zu. Dem wird durch die Ansätze im von knapp 46 Millionen DM auf über 58 Millionen Einzelplan 31 Rechnung getragen.