„VOR ERFOLGEN VON SCHWINDEL BEFALLEN“?

Der Rechtsterrorismus und die merkwürdige „Normalisierung“ des Linksextremismus

RUDOLF VAN HÜLLEN ||||| Nicht-revolutionäre Zeiten, schrieb einst vor dem Zeitenumbruch 1989 ein DKP-Bezirkssekretär, seien für jeden echten Revolutionär eine Seelenfolter. 1 Auch heute ist die Revo- lution nicht in Sicht, aber sie ist der Etablierung des gewöhnlichen Linksextremismus, auch seiner gewaltorientierten Form, als geachteter politischer Akteur 25 Jahre danach ein gehöriges Stück näher gerückt. Die Gesellschaft scheint akzeptiert zu haben, dass bei politischem Extremismus konsequent mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen wird.

Linksextremismus gilt vielerorts als kommo- machtpolitisch tonangebenden „Zentralkirche“ der Partner auch etablierter Institutionen, die des real existierenden Sozialismus schon unter vier Mal umbenannte SED nicht länger als an- Michael Gorbatschow setzte bereits um die rüchig. Und was die gelegentliche Neigung zu Mitte der 1980er-Jahre eine länger anhaltende exzessiver Gewalt – sei es durch heimtückisch Erosion ihrer Anhängerschaft ein, von der üb- vorbereitete Anschläge („klandestine Aktionen“) rigens auch die maoistische und trotzkistische oder auf der Straße („Massenmilitanz“) – angeht, Verwandtschaft der orthodox-kommunistischen ist ein Diskurs in Gang gekommen, dass es sich Großfamilie nicht verschont blieb. Personell und erstens um berechtigten „Widerstand“ handeln finanziell trockneten Gruppen aus, etliche ver- könnte, dass zweitens die Gewalt gar keine sei schwanden aus der Szenerie, andere mutierten oder dass drittens, falls trotz allem nicht zu zu Sekten oder – wie im Falle der DKP – zu leugnen, dies jedenfalls keine „linke“ Gewalt einer „Erinnerungsgemeinschaft“ des einstigen sei.2 Parallel dazu läuft die Debatte, ob es linken kommunistischen Milieus. 3 Die Regierungspar- Extremismus überhaupt gibt. Das ist folgerich- tei der dahin gegangenen DDR überlebte die tig, denn wie kann man von Extremismus bei Transformation in höchst widersprüchlichen einem Phänomen reden, das als regierungsfähig Entwicklungsschüben: Durch Wahlerfolge in gilt und definitiv in der Mitte der Gesellschaft den neuen Bundesländern und die Übernahme angekommen ist. von Verantwortung auf Landes- und Kommu- Für diese erstaunliche Entwicklung gibt es nalebene ist die alltagspraktische Gewöhnung allerdings durchaus Ursachen, auch wenn die ihrer Mitglieder an demokratische Verfahren Wucht der Veränderung politischer Parameter vollständig. Ambivalent bleibt die Aufarbeitung auf den ersten Blick überrascht. der eigenen Vergangenheit, doch hat eine neu heranwachsende Generation von Mitgliedern DIE FRÜHERE SED ALS GRAVITATIONSFELD weniger Probleme, die DDR als Unrechtsstaat UND SPIEGELBILD DES AKTUELLEN LINKS- zu bezeichnen. Das Programm, dem eine ideolo- EXTREMISMUS giekritische Analyse durchaus verfassungsfeind- Die revolutionäre Linke in Deutschland hat liche Absichten nachweisen kann, 4 hat auch einen langen Prozess der Transformation hinter die Funktion einer innerparteilichen Standort- sich. Mit dem Wegfall der ideologisch und bestimmung und reflektiert die dabei erforder-

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lichen Kompromisse unter den Generationen. cherweise hat man aus dieser Konstellation die Viele Baustellen sind (noch?) nicht bearbeitet: Idee abgeleitet, es gelte, für die Opposition er- Die Partei pflegt Kontakte zu ausländischen weiterte Rechte zu schaffen. Das ist falsch, denn Terrorgruppen,5 sofern diese sich „antiimperia- beide Oppositionsparteien sind die „Looser“ listisch“ geben. Sie funktioniert neuerdings des letzten Wahlganges – deutlich mehr als seltsam reflexhaft als Sprachrohr eines neuen zwei Drittel der Bevölkerung haben kundgetan, russischen, aber eben nicht mehr „sowjetischen“ sie nicht zu wollen. Auch dieser Irrtum über Imperialismus. Und sie hat – eingestandener- einen zu Lasten der klaren Entscheidung des maßen – ein Antisemitismus-Problem,6 das Volkssouveräns gehenden „Minderheitenschutz“ sich mindestens aus einem undifferenziert anti- trägt unglücklicher Weise zur „Normalisierung“ westlichen und anti-israelischen Grundgefühl des Linksextremismus bei. Denn umgekehrt speist, nach außen aber als „antizionistische“ wäre wohl kaum jemand auf die Idee gekom- Solidarität mit den „unterdrückten“ Palästinen- men, aus der weitgehenden Einigkeit der in sern verkauft wird. Mecklenburg-Vorpommern etablierten Parteien Am deutlichsten treten aber die ungelösten („Schweriner Modell“) zu folgern, es gelte, der Spannungen innerhalb der „Linken“ nach wie NPD im Landtag erweiterte Oppositionsrechte vor zwischen den Gliederungen in den alten und einzuräumen. den neuen Bundesländern zu Tage. Die Fusion mit zwei Wahlinitiativen im Westen 2007 ermög- VERUNSICHERUNG UND DIFFUSION: DER lichte der damaligen PDS zwar den Ausbruch GESTALTWANDEL DES LINKSEXTREMISMUS aus dem ostdeutschen Ghetto. Aber sehr im Kaum ein ideologisches Grundkonzept, Unterschied zur verbreiteten Wahrnehmung kaum ein Handlungsfeld des Linksextremismus war damit gerade kein Demokratisierungs- ist von den Umbrüchen seit 1990 unbeein- schub verbunden: Die neu entstandenen west- trächtigt geblieben. Neben dem Wegfall der deutschen Landesverbände und die zu ihnen bipolaren Weltordnung griffen die Wirkungen gehörenden Landtagsfraktionen erwiesen sich der Globalisierung von Wirtschaft, Politik, Kul- als rechte Faulschlammbiotope für übrig ge- tur, Migration und Kommunikationstechniken. bliebene DKPler, Trotzkisten, Maoisten, Auto- Es fiel der verbliebenen radikalen Linken nicht nome und irgendwie linksradikal Fühlende. In schwer, sie als „kapitalistische Globalisierung“ ihnen sicherten sich harte Linksextremisten aus- unter dem Titel „Neoliberalismus“ theoretisch sichtsreiche Listenplätze bei den Bundestags- einzuordnen und ihr das Modell einer eigenen wahlen. Da die bevölkerungsreichen westlichen globalisierten Protestkultur entgegenzusetzen. Bundesländer hohe Stimmenzahlen generieren, Freilich hatte sie irritierende Schattenseiten. Sie sieht die Bundestagsfraktion entsprechend aus. fügte sich kaum in das Schema einer sozialre- In der Linken nimmt der Extremismusgehalt volutionären Befreiung, folgte auch mitnichten von der Parteibasis zu den höheren Leitungs- einer marxistischen Analyse. In ihr tummelten funktionen hin eher zu als ab. Ob sich daran sich allerhand Anliegen, die allenfalls egoisti- vorläufig etwas ändern wird, scheint eher zwei- sche, wenn nicht gar nationalistische oder sek- felhaft. Damit spiegelt die Partei die Vielgestal- tenhafte Interessen verfolgten. Skurril war schon tigkeit und Zerrissenheit der extremistischen 1994 die erste Aufwallung des „neuen“ Interna- Linken wider, denn sie wirkt als größte, orga- tionalismus, die mexikanische Zapatisten-Bewe- nisatorisch und finanziell potenteste Struktur gung EZLN („Ejercito Zapatista de Liberación natürlich wie ein Gravitationsfeld auf linksex- Nacional“), bildhaft geworden durch einen mit treme Potenziale. „Hassmaske“ vermummten und Pfeife rauchen- Das mag freilich im normalen parlamentari- den „Subcommandante Marcos“. Ein Versuch, schen Betrieb nebensächlich erscheinen: In der in die diffuse Revolutionslage analytische Ord- großen Koalition II ist die „Linke“ die größte nung zu bringen, schuf eher zusätzliche Verun- Oppositionsfraktion, und ihr Fraktionschef hat sicherung: Die Qualifikation des voluminösen, mit seinem Gegenüber bei den Grünen nun aber obskuranten Werkes eines amerikanischen wirklich kein Profilierungsproblem. Unglückli- Literaten und eines italienischen Ex-Terroristen

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als „Kommunistisches Manifest des 21. Jahr- eine Diskussion um revolutionäre Organisie- hunderts“ (Slavoj Zizek) ist hoch gegriffen. Mi- rung und planmäßige, qualitativ hochwertige chael Hart und Antonio Negri lösten das revo- Anschläge in Gang bringen wollte, hörte ihr lutionäre Subjekt in die „Multitude“ auf und kaum jemand zu. Und selbst ehemalige RAF- erklärten das verhasste „Empire“ zum allumfas- Kader mussten feststellen, dass ihre Erzählungen senden gesellschaftlichen, politischen, sozialen aus der „Kampfzeit“ von jüngeren Autonomen und kulturellen Manipulationszusammenhang, glatt in die Kategorie „Opa erzählt vom Krieg“ dem von außen nicht beizukommen sei.7 eingeordnet wurden. Ein weiteres Beispiel für die ideologische Offensichtlich hatte es erstens einen Genera- Diffusion im linksextremistischen „Anti-Impe- tionenwechsel gegeben und zweitens hatte wie- rialismus“: In der DKP diskutierte man über der mal der Erfahrungstransfer nicht geklappt. Jahre kontrovers, ob sich die Erscheinungsfor- In dieser Situation schienen die früheren men des Imperialismus modernisiert hätten Klassifizierungen des Linksextremismus brü- oder ob sie weiterhin ausschließlich nach den chig: Terrorismus existierte nach der Selbstauf- Vorgaben der Leninschen Imperialismustheorie lösung der Rote-Armee-Fraktion (1998) nicht zu beurteilen seien. Im Frühjahr 2013 endlich mehr. Die revolutionär-marxistischen Gruppen war der Streit im Sinne der Orthodoxie ent- waren zu sterilen Traditionsvereinen geworden, schieden und die glücklose DKP-Vorsitzende einige wie die „Marxistisch-Leninistische Partei nach nur drei Jahren Amtszeit durch einen tra- Deutschlands“ zeigten deutlich soziologische ditionalistischen Hardliner ersetzt. Nun taugt Merkmale einer sektenhaften Introversion. Die die Leninsche Imperialismustheorie von 1917 Autonomen befanden sich wie üblich auf der recht wenig zur Einschätzung der islamisti- Suche. Und zwischen ihnen und den klassi- schen Gefahr, und je weniger sich revolutionäre schen revolutionären Marxisten etablierte sich Umbrüche in eine Richtung entwickeln, die man ein „zentristisches“ Spektrum, das sich zur Be- als sozial-empanzipatorisch bewerten könnte, gründung seiner Weltsicht und seiner Hand- desto größer wird bei Linksextremisten die lungskonzepte marxistischer und auch leninisti- Neigung, sich auf das zurückzuziehen, was man scher Ideologeme bediente. Aus diesem Feld um jedenfalls konsentisch ablehnen kann. Einge- die „Interventionistische Linke“ und die nord- übte Feindbilder (Anti-Amerikanismus, Anti- deutsche Gruppe „Avanti“ hörte man bisweilen Kapitalismus, als Anti-Zionismus verbrämter als Zielbestimmung „Für den Kommunismus“ – Antisemitismus) ersetzen unmöglich gewordene gemeint war aber nicht so sehr die (sowjetische) Handlungskonzepte. Version einer angeblich selbstläufig zum Über- Der anarchistischen Großfamilie des Links- fluss entwickelten Industriegesellschaft, sondern extremismus, ursprünglich vom Zusammenbruch die Idee einer herrschaftsfreien Ordnung – eher des realen Kommunismus nicht betroffen, ging in der Tradition eines Proudhon. es keineswegs wesentlich besser. Ohnehin ist je- de Generation von Autonomen damit geschla- DIE ENTGRENZUNG LINKSEXTREMER GEWALT gen, unlösbare Probleme des anarchistischen Lässt ideologische Stringenz nach, werden Politikverständnisses wie die Organisations- oder die ordnenden Konturen gewohnter Abläufe die Gewaltdebatte immer neu diskutieren zu brüchig, finden sich auch weltanschaulich unge- müssen. So hatte der offensichtliche Aufschwung festigte Trittbrettfahrer mit unklarer Motivation des Rechtsextremismus nach 1990 zwar zur ein. Das hat Auswirkungen vor allem auf die Einsicht einer besseren überregionalen Vernet- Begründungsmuster von politisch linksextrem zung des „antifaschistischen“ Kampfes geführt, motivierter Gewalt. Im Unterschied zum Rechts- doch scheiterten die dazu verwendeten Organi- extremismus, für den Gewalt ein steter und na- sierungskonzepte „Antifaschistische Aktion / turgesetzlich normaler Begleiter des Sozialen ist, Bundesweite Organisation“ (AA/BO, 1999 bis kennt linksextreme Gewalt zumindest theore- April 2001) und „Bundesweites Antifa-Treffen“ tisch ideologisch immanente Grenzen: Bei revo- (1993 bis November 2002). Als um die Jahrtau- lutionären Marxisten bestimmen sie sich zwar sendwende eine „Militante Gruppe“ in Berlin nicht nach moralischen, wohl aber nach utilita-

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ristischen Kriterien: Gewalt ist erlaubt, wenn bei nächtens und heimtückisch durchgeführten sie der Revolution nützt, und unerwünscht, Anschlägen. Hier geraten neuerdings ebenfalls wenn sie sich in diese Zweckbestimmung nicht hergebrachte Maßstäbe in Verlust. Zwei An- einordnet. Das war mindestens teilweise auch schläge gegen die Verkehrsinfrastruktur in Ber- autonomes Gewaltverständnis. Es folgte im lin stürzten die Stadt vorübergehend ins Chaos, Allgemeinen einer Formulierung aus dem be- schädigten das zu befreiende „Volk“ (oder, nach rüchtigten „Buback-Nachruf“ von 1977. Positiv Negri und Hard, die „Multitude“), gefährdeten beurteilt wurde darin eine Gewalt, „die fröhlich auch mittelbar Menschenleben, da Notdienste ist und den Segen der beteiligten Massen hat“. beeinträchtig wurden. Die Täter haben sich Eine Schädigung des zu befreienden Volkes kam laut eigener Erklärung „selber ermächtigt“, den demnach selbst bei Sachbeschädigungen nicht Alltag der kapitalistischen Metropole zu „ent- in Betracht, während andererseits selbst physi- schleunigen“. Ihre Taterklärung enthält subjek- sche Angriffe auf Repräsentanten des Systems tivistische und lebensphilosophische Einschläge, in Ordnung gehen. Umstritten ist allenfalls, ob die man sonst eher intellektuellen Rechtsextre- die Tötung des Gegners intendiert sein darf. misten zuordnen würde.10 Diese sowohl nach der Ziel-Mittel-Relation Auch empirisch zeigen die Jahresstatistiken als auch nach der Intensität wirksame Begren- politisch links motivierter Kriminalität wie auch zung verliert ihre Wirkung, je mehr sich links- der personenbezogenen Gewaltkriminalität seit radikal verstehende, aber ideologisch ungefes- 2009 steil in die Höhe, überholen gar die Bilanz tigte Personen in die „Szene“ mischen. Dass der rechtsextremen Konkurrenz. Ziele dieser dies passiert, ist fast zwangsläufig, denn linke personenbezogenen linken Militanz sind vor Gewalt wird gesellschaftlich anders als ihr rechts- allem Polizeibeamte; der Angriff auf sie gilt extremes Pendant beurteilt. Für den Event-Kick einem rechtsstaatlich eingehegten Gewaltmo- linker Straßenmilitanz gibt es feste Terminange- nopol. bote, eine ausgefeilte Dramaturgie und bewährte Die Entgrenzung der Gewalt hat etwas mit Logistik, die das Risiko überschaubar macht.8 dem Anstieg von Wut in extremistischen oder Die Beteiligung an oder am Rand eines solchen extremismus-affinen Szenen zu tun: Nachein- Events ist mindestens je nach Anlass und Region ander und sich zum Teil überlagernd schien eine durchaus nicht anrüchig. Ein linksextremer Ge- Reihe von Desastern einer globalisierungsbe- waltevent besteht aus einem Kern extremistisch dingt weitgehend entregulierten Marktwirtschaft motivierter Gewalttäter und aus einer Kulisse, die Prophezeiungen des Marxismus bestätigen die sich von allgemein kriminell motivierten zu wollen. Die Lehmann-Brothers oder Sub- Schlägertypen bis hin zum Bundestagsabge- prime-Krise (2007) wurde gefolgt von der Euro- ordneten spreizen kann. Als solche Gewalt am Krise (2009). Für Linksextremisten sind das 1. Mai 2009 in Berlin explodiert, passen die poli- Beweise für eine naturgesetzliche Krisenhaftig- zeilichen Festnahmelisten anschließend durch- keit des Kapitalismus: Der Finanzsektor gerät aus nicht bruchlos zu einer revolutionären außer Kontrolle, eine winzige Oberschicht pro- Aufwallung. Eher schon schien es sich um eine fitiert auf Kosten einer Absenkung sozialer linke Variante von „Menschenverachtung mit Standards, der Staat tritt in seiner Rolle als Freizeitwert“9 zu handeln. Deshalb kommt bis- Agent des Finanzkapitals zu dessen Rettung an. weilen in der Szene Kritik an den eher unpoliti- Schließlich zahlt in der Euro-Krise die Bevölke- schen „Eventgängern“ auf. Die mindestens ge- rung die Zeche für eine angeblich neoliberale waltaffine Durchmischung ist seither Standard; Ausrichtung des imperialistischen EU-Projekts. von einer geduldeten Anwesenheit salafistischer Der ideologischen Bestätigung folgt allerdings Selbstmordbefürworter auf „antizionistischen“ die realpolitische Enttäuschung auf dem Fuße: linken Demonstrationen erst mal gar nicht zu Die Wähler und die „Massen“ vertrauten in der reden. Krise ganz überwiegend den etablierten politi- Vergleichbares spielt sich bei einer Ent- schen Kräften. Linksextremismus blieb weiterhin grenzung der zweiten Handlungsoption linker chic fürs Feuilleton, aber keine ernst genom- Militanz ab: bei den „klandestinen actions“, also mene politische Option.

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Ein ähnlicher Mechanismus widerfuhr der Viel stärker als die „Krisen des Kapitalis- Klage über einen angeblich entfesselten „Impe- mus“ hatte indessen ein anderer Faktor die rialismus“. Unbestreitbar war die „Friedens- „Normalisierung“ des Linksextremismus vor- dividende“ nach dem Ende der Blockkonfron- bereitet. Der scharfe Blick der Öffentlichkeit tation nur sehr kurz. Eine multipolare Welt konzentrierte sich auf einen anderen Extre- brachte schnell eine Reihe von militärischen mismus, der seit 2004 im sächsischen und seit Konflikten hervor. Seit dem 11. September 2006 im mecklenburg-vorpommerschen Land- 2001 steht in dessen Zentrum der extremisti- tag saß – auf die NPD. Deren Image war – zu sche islamistische Terrorismus. Für die Eigen- Recht – vernichtend, und seit dem „Aufstand dynamik des religiös-politischen Wahns hatten der Anständigen“ des Jahres 2001 gehörte es gelernte Linksextremisten allerdings keinen zum guten Ton, beim „Kampf gegen Rechts“ Draht. Konflikte in der Dritten Welt konnten nicht so genau hinzuschauen, wer da mit von nur Folge kapitalistischer Ausbeutung sein. der Partie war. Wer also die Beteiligung von Daraus resultierte sogleich ein doppelter Irr- Autonomen oder gar der DKP und vergleichba- tum: Erstens wurde die Analyse des Islamismus rer Traditionalisten bei den „breiten zivilgesell- glatt verfehlt, weil das Phänomen in den Dog- schaftlichen Bündnissen“ beanstandete, musste men von Marx, Engels und Lenin noch nicht erleben, dass er sich eher selber ausgrenzte, als vorgesehen war. Zweitens mussten dann die in einen Rückzug der Freunde stalinistischer Dik- der Dritten Welt oder hierzulande in der an- taturen zu bewirken. „Die“ Autonomen, das geblich marginalisierten und diskriminierten Mi- kam hinzu, waren in diesem Feld auch nicht grationsbevölkerung beheimateten Islamisten immer trennscharf als Leute zu erkennen, denen objektiv Bestandteile antikapitalistischer Befrei- es in erster Linie um die Bekämpfung der bür- ungskämpfe sein. Kleinere Abweichungen von gerlichen Demokratie ging. Hier fanden sich linken Idealen in Sachen Frauenunterdrückung, unter dem Label „Autonome Antifa“ auch junge Gewaltverherrlichung und Bildungsfeindlichkeit links denkende Menschen, die ihre ersten poli- wurden ihnen für diese Rolle erst mal nachge- tischen Schritte machten und – soweit sie der sehen. „antideutschen“ Richtung angehörten – immer- Nur ein sehr kleines Segment des Linksex- hin begriffen hatten, dass Rechtsextremismus tremismus trug feine Risse in diese hermetisch etwas mit Antisemitismus zu tun hat. abgeschlossenen Irrtümer. Lediglich die so ge- Besonders in den östlichen Bundesländern nannten „Antideutschen“ bzw. „Antinationa- musste die extremistische Linke nun auch nicht len“ aus dem undogmatischen Spektrum hatten mehr wie vor 1989 den Rechtsextremismus ei- durch ihre Parteinahme für Israel im Nahost- gens erfinden:12 Es gab ihn unerfreulicher Weise Konflikt gewagt, sich an der Barbarei einer an- tatsächlich, und bisweilen fanden sich nicht nur tiimperialistischen Solidarisierung mit genozi- Antifa-Aktivisten, sondern auch ganz einfache, dalen Massenmördern wie Milosevic, Saddam links fühlende junge Menschen gegenüber ei- Hussein oder den diversen islamistischen Men- ner breiten rechten Jugendkultur in einer deut- schenschlächtern zu stören.11 Der Mainstream lichen Unterlegenheitsposition wieder – was des Linksextremismus negiert die islamistische wiederum den Schulterschluss mit den demo- Gefahr und befleißigt sich stattdessen der Vor- kratischen Teilen der Zivilgesellschaft stärkte. stellung, dass jegliche Kritik am Islamismus als Für Linksextremisten war es daher leicht, Em- „Islamophobie“ eine Spielart mindestens laten- pörung zu organisieren, als die liberal-konserva- ten Rechtsextremismus sei. tive Koalition nach 2009 von „Bündnissen gegen Beflügeln konnten die Krisen die extremisti- Rechts“ eine Garantie („Demokratieerklärung“) sche Linke demnach zunächst allenfalls ideolo- dafür verlangte, dass die üppigen Mittel aus der gisch: Wahlerfolge blieben ihr versagt, und man Rechtsextremismusprävention nicht bei der links- versteht durchaus, dass angesichts des Gefühls, extremen Konkurrenz landeten. Was eigentlich „Recht zu haben“, aber nicht erhört zu werden, eine Selbstverständlichkeit sein solle, erwies bei messianisch denkenden Extremisten stei- sich in der Praxis bereits als nicht mehr durch- gende Wut zu verzeichnen war. setzbar: Linksextremismus ist weniger deutlich

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antidemokratisch in seinen Bekundungen als ein Gewinn. Problematisch würde er allerdings Rechtsextremismus, er kann klassische Werte da, wo er bei fundamentalen Menschenrechten der europäischen Aufklärung und der Demo- doppelte Standards einführte und – insofern kratie mindestens nach außen mittragen. Links- gar nicht unähnlich der politischen Ideenwelt extremismus ächtet man nicht, allenfalls stellt des bekämpften rechtsextremen Gegners – ihm man ihm kritische Fragen. Deshalb sind seine stückweise die Menschenwürde abspräche. Hier Verzahnungen mit dem demokratischen Spek- genau sollte die trennscharfe Barriere zwischen trum weitaus enger: Das wirkte sich bei einem demokratischem und extremistischem Engage- in Deutschland moralisch besonders sensiblen ment „gegen Rechts“ liegen. Demokraten wer- Thema wie Rechtsextremismus besonders zu den Menschenrechtsverletzungen nicht bewusst Gunsten einer zunehmenden Akzeptanz auch billigen; für Extremisten ist hingegen die voll- offen linksextremer Gruppen aus. Es war, mit ständige (in der Konsequenz auch physische) anderen Worten, gerade die Renaissance eines Vernichtung des Gegners Bestandteil ihres poli- offen antidemokratischen, ja neo-nationalsozia- tischen Wollens, das auf die Beseitigung des listischen Rechtsextremismus, der die „Normali- Pluralismus und die gewaltsame Homogenisie- sierung“ eines „smart“ auftretenden Linksextre- rung der Gesellschaft zielt. mismus förderte. Menschenrechtsverletzungen müssen nicht 2010 machten Forscher der Konrad-Ade- sogleich auf die physische Vernichtung des Kon- nauer-Stiftung bei einer qualitativen empirischen trahenten zielen; sie können mit gesellschaft- Studie im Auftrag des Bundesministeriums für lich hingenommener Entrechtung beginnen. Familie, Senioren, Frauen und Jugend interes- Auch bei solchen Methoden sind Extremisten sante Entdeckungen. Eine qualitative Untersu- Vorreiter: „Outing“ von politischen Gegnern chung hat explorativen Charakter. Sie ist im soll deren Sozialumfeld zerstören, der Gegner Allgemeinen ein Pretest für eine folgende quan- soll nicht wohnen, nicht arbeiten, nicht studie- titativ-empirische Erhebung. Demnach ist sie ren dürfen. Und natürlich stehen ihm politische nicht verlässlich repräsentativ, kann aber Hin- Freiheitsrechte wie das Demonstrations- und weise auf Trends liefern. Die Stiftung hatte drei Versammlungsrecht nicht zu. Ein Reflex auf Dutzend junge Menschen mit – nach eigener diese Grundidee sind die Parolen „Nazis raus!“ Einschätzung – „linker“ Grundorientierung oder „Blockieren ist unser Recht!“, die sich gegen diskursiv befragt. Die Ergebnisse zeigten einen Aufmärsche neonazistischer Gruppen richten. erstaunlichen Verlust zivilgesellschaftlicher Stan- Sie finden Akzeptanz bis in das demokratische dards ausgerechnet in der Frage des „Engage- Lager hinein. ments gegen Rechts“. Das Thema hat hohen Mobilisierungswert, und Hemmungen gegenüber DIE AUFDECKUNG DES RECHTSTERRORISMUS einer ansonsten eher kritisch gesehenen An- UND DIE „NORMALISIERUNG“ DES wendung politisch motivierter Gewalt werden LINKSEXTREMISMUS brüchig. Befragte äußerten u. a.: „Wenn er (ein Die „double standards“ zwischen linksex- Naziführer) von einem Auto totgefahren würde, trem und rechtsextrem motivierter Gewalt be- würde ich den Fahrer nicht kennen.“ Oder: „Ein standen also in der politischen Kultur schon, Stein gegen Nazis trifft nicht den Falschen.“ als im November 2011 aufgedeckt wurde, dass Oder: „Es wäre gut, wenn Nazi-Gebäude bren- eine kleine Zelle von Neonazis ihre Ideen über nen.“ Personen, die dem rechtsextremen Um- mehr als zehn Jahre hinweg unentdeckt hatten feld zugerechnet werden, wurden fundamentale ausleben können. Der Schock der Aufdeckung Menschenrechte abgesprochen, einzelne Befrag- der Terrorzelle „Nationalsozialistischer Wider- te billigten Rechtsextremisten weder Meinungs- stand“ (NSU) war für die Gesellschaft ein dop- freiheit noch körperliche Unversehrtheit zu, stellt pelter: Der gut funktionierende Ermittlungs- die Auswertung der Studie fest.13 und Fahndungsapparat wies erstens Defizite auf Nun wäre ein gesellschaftlicher Konsens, der und hatte zweitens die Mordtaten der Rechts- auf Ächtung gerade der neonazistischen Rich- terroristen mangels ausdrücklicher Bekennun- tung von Rechtsextremismus zielte, durchaus gen nicht mit nazistischem Fremdenhass in

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Verbindung gebracht, obgleich diese Ideologie – erster Linie zu Lasten der Exekutive.16 Pikant konsequent zu Ende gedacht – auf Terrorismus ist zudem, dass die Sicherheitsbehörden und hinauslief. vor allem die Verfassungsschutzämter ihre Ar- Dass Linksextremisten sich nach den diversen beitsmethoden bis ins Detail in die Öffentlich- Krisen der vorausgegangenen Jahre wiederum keit tragen mussten. Davon profitierte das links- bestätigt sahen, verwundert nicht. Aus ihrer extremistische Spektrum unmittelbar, denn das Sicht war die bürgerliche Demokratie ohnehin entsprechende Fachwissen kommt ihm bei eige- ein System, das sich der Nazis als heimliche nen Aktivitäten sehr zu statten. Besonders flei- Herrschaftsreserve bediente, falls der Wider- ßig bei dieser „antifaschistischen Aufklärung“ stand des „fortschrittlichen Volkes“ gegen den waren natürlich Abgeordnete bestimmter Par- Kapitalismus zu stark werden sollte. Demgemäß teien. Als Beispiel sei hier eine Jagdszene aus würden rechtsextreme Umtriebe nicht wirklich den Protokollen des Thüringer Untersuchungs- bekämpft. Die Sicherheitsbehörden und unter ausschusses dargeboten: ihnen insbesondere die verhassten Verfassungs- schutzbehörden standen vielmehr mit ihnen im Abg. Martina Renner (Die Linke): „Ich habe Bunde und begünstigten ihr Treiben. Der Fall noch eine Frage zur Arbeitsweise. Wir haben NSU mit seinen irritierenden Facetten aus schie- jetzt die Anzahl der V-Leute, die geführt wur- ren Zufällen, föderalen und rechtsstaatlichen den, der nähern wir uns so langsam. Wie viele Hemmnissen und schließlich (besonders in V-Leute wurden denn insgesamt in den Jahren Thüringen und den anderen neuen Bundeslän- vom Landesamt geführt? Das frage ich deswe- dern) noch nicht reibungslos funktionierenden gen, um einfach einzuordnen, welchen Anteil Behörden gab das willkommene Futter für Ver- V-Leute im Bereich rechts hatten.“ schwörungstheorien ab, denen sich auch nicht- Zeuge Norbert W. (ehemals Mitarbeiter extremistische Multiplikatoren in Presse und Verfassungsschutz Thüringen): „Das kann ich Politik bisweilen anschlossen. Völlig übersehen Ihnen nicht sagen.“ […] wurde dabei, dass man retrograd einen Terro- Abg. Renner: „Dann versuche ich das noch- rismus aufklärte, der im konkreten Fall vorbei mal. Wir reden über die Jahre 1994 bis 1998. war: Neben der moralischen Verantwortung Können Sie sich erinnern, welche Anzahl in den gegenüber den Opfern standen hier lediglich Bereichen Rechtsextremismus, Linksextremis- Feinjustierungen der Sicherheitsbehörden und mus, Ausländerextremismus?“ eine zielgenaue Verhinderung von Wiederho- Zeuge W.: „Ich kann nur Rechts sagen. Das lungen auf der Tagesordnung. Letztere sind seit waren vier Stück.“ Ende 2011, also seit drei Jahren, in keiner Abg. Renner: „Ich denke, Sie waren für alle Form erfolgt – auch das unterscheidet den Bereiche zuständig?“ rechten Terrorismus sehr deutlich von den stets Zeuge W.: „Ja, aber hier steht drin, ich soll nachwachsenden Generationen der Rote-Armee- nur etwas sagen zu dieser Geschichte NSU.“ Fraktion. Zudem ist das Gespenst, das so tapfer Abg. Renner: „Es geht uns ja auch um die und gesinnungsstark bekämpft wird, zum Glück Frage, ob Behörden und Politik das Thema kontinuierlich kleiner geworden. Das rechtsex- Rechtsextremismus adäquat abgebildet haben tremistische Personenpotenzial ist in Deutsch- in ihrem behördlichen Handeln. Deswegen ist land seit Jahren rückläufig.14 es für uns schon von Interesse, welchen Anteil Die diversen parlamentarischen Untersu- die V-Leute hatten im Bereich der Neonaziszene chungsausschüsse15 sind insofern eine beson- im Vergleich zu der Gesamtzahl der V-Leute. dere Form parlamentarischer Kontrolle, als die Deswegen würde ich Sie bitten, diese Frage zu unter Verdacht gestellte Exekutive mit richter- beantworten.“ lichen Mitteln untersucht und auf die Anklage- Zeuge W.: „Frau Renner, hier steht etwas bank gesetzt wird. Als Ergebnis kommt ein anderes in der Aussagegenehmigung.“ erhöhtes Maß an Kontrollbefugnissen für die Abg. Renner: „Nein, das ist genau Gegen- Legislative heraus: Die Gewichtungen innerhalb stand heute, insbesondere irgendwie der zu- der Gewaltenteilung verschieben sich also in grunde liegenden Beweisanträge, dass es darum

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geht zu überprüfen, inwieweit Behördenhandeln Verständlich, dass die linksextreme Klientel adäquat auf die Gefährdung durch den Rechts- inzwischen die Chance erspürt hat, im Wind- extremismus reagiert hat. Ob das jetzt Polizei, schatten des terroristischen Rechtsextremismus Verfassungsschutz, Staatsanwaltschaft ist, das die lästigen rechtsstaatlichen Sicherheitsbehör- ist für uns egal.“ […] den auszupunkten. Über Linksextremismus Zeuge W.: „Wenn Sie jetzt fünf V-Leute nämlich darf auch in den Sicherheitsbehörden haben im Rechts-Bereich –“ kaum noch geredet werden. Personal wird ab- Abg. Renner: „Fünf?“ gezogen, vorhandene Erkenntnisse werden Zeuge W.: „Fünf, also mit REPs und allem, stillschweigend gelöscht. Vergeblich weisen die was dazu gehört. Wenn Sie die haben und dann Interessenvertretungen der Polizei auf die eska- drei V-Mann-Führer –“ lierende linke Gewalt gegen die Beamten hin. Abg. Renner: „Gut, und jetzt Links.“ Entsprechend selbstbewusst ist die militante Zeuge W.: „Zwei.“17 Szene geworden. Es sei nichts Ungewöhnliches, bemerkte ein Staatsschützer im Gespräch mit Die aus Bremen nach Thüringen zugewan- dem Autor, dass, wenn die Katze aus dem derte Abg. Renner ist inzwischen Mitglied des Haus ist, die Mäuse auf dem Tisch tanzten. Deutschen Bundestages und dort „Sprecherin Neu sei derzeit allerdings, dass die Katze ange- für Antifaschistische Politik“ ihrer Fraktion.18 griffen werde, wenn sie nach Hause zurückzu- Ihre Erfahrungen mit Nachrichtendiensten vor kommen versuche. Das passiert z. B. im Wege 1989 dürften demnach aus einer anderen Per- des „Rechtskampfes“: Linksextremisten klagen spektive stammen als diejenigen mancher ihrer gegen ihre Erwähnung in amtlichen Berichten Parteikollegen. Die frühere Studentenfunktionä- des Verfassungsschutzes, so die langjährig von rin schreibt sich nämlich für die 1990er-Jahre einem Stasi-Spitzel geführte VVN-BdA gegen „zahlreiche Aktivitäten / Verantwortlichkeiten den Freistaat Bayern 2012 und 2014 oder eine im Bereich antirassistischer / antifaschistischer „antifaschistische“ Punkband in Mecklenburg- Kampagnen“ zu. Wie man die autonome Szene Vorpommern 2013 und 2014. Die schwer ge- bezeichnet, mag ja auch eine Frage der politi- waltaffinen jungen Leute bedienten sich un- schen Semantik sein. kompliziert der Symbolik der gewaltbereiten Zugegeben: Autonomer „Fahndungsantifa- Antifa und leisteten sich u. a. diesen Musiktext: schismus“ ist effizient. Es gibt keine rechtsstaat- „Wir stellen unseren eigenen Trupp zusammen / lichen Hindernisse, keinen Datenschutz, keine Und schicken den Mob dann auf euch rauf / Speicherungsfristen und keine Persönlichkeits- Die Bullenhelme – Sie sollen fliegen / Eure rechte der Betroffenen, die man achten müsste. Knüppel kriegt ihr in die Fresse rein / Und da- Zur Not hilft man mit etwas „outing“ nach, nach schicken wir euch nach Bayern / denn die und die öffentliche Meinung findet nichts son- Ostsee soll frei von Bullen sein“.20 Das funktio- derlich Anstößiges mehr daran. Journalisten nierte denn doch nicht; die Hassmusiker unter- bedienen sich ganz offen solcher Quellen, ohne lagen in mehreren Instanzen. Aber andernorts sich um die dort übliche Art der Informations- gaben Verwaltungsgerichte den datenschutz- beschaffung zu kümmern. Wenn der Vorsit- rechtlichen Auskunfts- und Löschungsbegehren zende eines türkischen Verbandes erklärt, die von Linksextremisten reihenweise Recht – wenn Aufklärung des Rechtsextremismus könne statt nicht ohnehin, wie in einem Falle, das Innen- durch die Verfassungsschutzbehörden besser ministerium eines Landes eine „Task Force“ durch antirassistische und antifaschistische Ini- einsetzt, um erkleckliche Teile der Erkenntnisse tiativen erfolgen, verrät dies einiges über den seiner Sicherheitsbehörden streng rechtsstaat- Zustand öffentlicher Wahrnehmungen und die lich beseitigen zu lassen.21 Gefahr einer „antifaschistischen“ Privatisierung Bestandteil der Normalisierung von Links- des staatlichen Gewaltmonopols.19 Unter ande- extremisten ist halt unter deutschen Verhältnis- rem deshalb ist die Definitionshoheit über sen auch seine rechtspositivistische Einsegnung Rechtsextremismus in Gefahr, auf die extremis- und der quasi „offizielle“ (nicht: revolutionäre) tische Linke überzugehen. Charakter. Und noch eine weitere Perspektive

58 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 95 „VOR ERFOLGEN VON SCHWINDEL BEFALLEN“?

dürfte nachgerade deutsche Linksextremisten 5 Als Beispiele mögen gelten: die Dienstleistungen entzücken: die Aussicht auf einen quasi-beamte- des außenpolitischen Sprechers der „Linken“ für ten Status als „Repräsentanten der Zivilgesell- die Fuerzas Armadas Revolucionaria de Colombia (FARC) im Jahre 2008 oder die kaum verhüllte schaft“ bei der Verfolgung politischer Oppo- 22 Lobbyarbeit der „friedenspolitischen Sprecherin“ nenten. Die Finanztöpfe sind reichlich gefüllt, der Bundestagsfraktion für die die gesellschaftliche Stimmung ist günstig. afghanischen Taliban. „Vor Erfolgen von Schwindel befallen“ – das 6 Für das Eingeständnis und entsprechende, aller- Wort eines marxistischen Klassikers enthielt dings offenbar nicht mehrheitsfähige Positionen zugleich die Mahnung, nicht überheblich zu stehen auch Spitzenfunktionäre wie beispielsweise werden, solange es noch vom Gegner geräumte oder . 7 Positionen gebe, die es zu besetzen gelte, so- Negri, Antonio / Hard, Michael: Empire. Die neue Weltordnung, Cambridge / Mass. 2000 (englisch) lange man die Ziele noch höher stecken könne und Frankfurt / Main 2002 (deutsch). Die Autoren und solange die völlige Ausschaltung der „Fein- schoben 2004 ein weiteres Werk mit dem Titel 23 de“ nicht erreicht sei. Nicht alle in der Szene „Mulitude“ nach. mögen das Klassiker-Bonmot kennen. Aber dass 8 Dazu zählen z. B. das Vorhalten von „Demo-Sanis“, „Antifaschismus“ in Deutschland das wirk- in Gestalt der „Roten Hilfe“ eine gute Rechts- samste Tool zur Bekämpfung der verhassten schutzversicherung mit Rechtsanwälten, die direkt Demokratie ist, haben sie nach den fortgesetzten zur Szene gehören, vor allem aber die von bestimm- ten politischen Parteien reflexhaft erfolgende Schuld- Niederlagen der vergangenen 25 Jahre garan- umkehr, nach der die Polizei und nicht der Mob tiert begriffen. mit der Gewalt begonnen habe. 9 Auf diesen Begriff hat die Rechtsextremismusprä- ||||| DR. RUDOLF VAN HÜLLEN vention die dortige Szenekultur mit ihren sozialkul- Politikwissenschaftler und Extremismusforscher, turellen Kennzeichen gebracht; vgl. Glaser, Stefan / Krefeld; Lehrbeauftragter an der Universität Passau Pfeiffer, Thomas: Erlebniswelt Rechtsextremismus. Menschenverachtung mit Unterhaltungswert, Schwal- bach / Ts. 2007.

10 Im Oktober und August 2010 in Berlin; Tatbeken- nungen unter: http://linksunten.indymedia.org/de/ print/45572 und 48377. ANMERKUNGEN 11 Für die komplexe Entstehung dieser Strömung im

1 Linksextremismus vgl. Bundesministerium des Sohn, Manfred: Jeden Schritt von der Revolution Innern (Hrsg.): Extremismus in Deutschland. Er- her denken, in: Marxistische Blätter 1/88, S. 68-70. scheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme, Manfred Sohn war lange Zeit der für „Theorie und Berlin 2004, darin besonders die Beiträge von Martin marxistische Bildung“ zuständige Sekretär des DKP- Kloke und des Bundesamtes für Verfassungsschutz; Bezirksvorstandes Niedersachsen. 2008 wurde er ferner zum weiterhin existenten prononciertesten Fraktionsvorsitzender der „Linken“ im niedersäch- Organ dieser Strömung: Dittrich, Sebastian: Zeit- sischen Landtag. schriftenporträt „Bahamas“, in: Jahrbuch Extremis- 2 Typisch für diese Haltung schon der Titel eines mus und Demokratie Bd. 16, hrsg. von Uwe Backes 2013 erschienenen Tagungsbandes des Deutschen und Eckhard Jesse, Baden-Baden 2004, S. 220-235. Jugendinstituts: „‚Linke‘ Militanz im Jugendalter. 12 Wie in allen pluralistischen Gesellschaften gab es Befunde zu einem umstrittenen Phänomen“. auch in der Bundesrepublik eine rechtsextreme 3 Vgl. Moreau, Patrick: The PDS / Linkspartei.PDS Unterströmung, die sich in konjunkturellen Wellen and the Extreme Left – Decline and Renaissance of und vereinzelten Eruptionen immer mal wieder Communism in Germany, in: Communist and Post- bemerkbar machte, von ihrer Größenordnung aber Communist Parties in Europe, hrsg. von Uwe Backes ein Gegenstand für spezialisierte Aktivisten, Wissen- und Patrick Moreau, Göttingen 2008, S. 39-86; zur schaftler sowie Staats- und Verfassungsschützer dar- DKP siehe Hirscher, Gerhard / Pfahl-Traughber, stellt. Das Phänomen zu einer ernsthaften Gefahr Armin (Hrsg.): Was wurde aus der DKP? Beiträge für die Demokratie aufzublähen, erforderte einige zur Geschichte und Gegenwart der extremen Linken Mühe. Die SED scheute sie nicht: Sie pumpte 1985 in Deutschland, Brühl 2008. fünf Millionen Westmark über ihre Subsysteme aus 4 Insoweit zutreffend die Einschätzung im Urteil des DKP und Vereinigung der Verfolgten des Nazi- Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 2010, Az. 6 regimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) in C 22.09. eine „antifaschistische Kampagne“. Ein schwieriges

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Unterfangen, denn zu diesem Zeitpunkt lag der auf politische Gegner losgelassen wurden. Und für Rechtsextremismus besonders deutlich darnieder. den DKP-Nachwuchs der 1970er-Jahre schien es Zu seinen Konjunkturen vergl. Pfahl-Traughber, nie etwas Selbstverständlicheres zu geben als eine Armin: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, Lebenszeitverbeamtung als Lehrer. München 1999 und Botsch, Gideon: Die extreme 23 Das Zitat ist die Titelüberschrift eines Beitrages von Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis J. W. Stalin in der Prawda vom 2. März 1930. Er heute, Bonn 2012. bezog sich auf die „erfolgreiche“ Kollektivierung 13 Neu, Viola: Linksextremismus in Deutschland: Er- der Landwirtschaft, wies aber zugleich darauf hin, scheinungsbild und Wirkung auf Jugendliche, St. Au- dass noch viele „Volksfeinde“ der Erledigung harr- gustin / Berlin 2012, sämtliche Zitate auf S. 35 f. ten; siehe Stalin, Josef W.: Werke, Bd. 12, Berlin 14 Im Jahr der NSU-Aufdeckung zählten die Sicher- (Ost) 1954, S. 168-175. heitsbehörden noch 23.400 Rechtsextremisten. 2013 war dieses Potenzial auf 22.700 zurückgegangen. Ihm standen 28.500 Linksextremisten und – stark ansteigend – 43.190 Islamisten gegenüber. 15 Es handelt sich um parlamentarische Untersu- chungsausschüsse (mit richterlichen Ermittlungsbe- fugnissen) im Bund, in Thüringen, Sachsen, Bayern, neuerdings in Nordrhein-Westfalen und Hessen sowie um eine Enquête-Kommission in Baden-Würt- temberg. 16 Die Justiz kam bisher ungeschoren davon, obwohl ihr gehörige Mitverantwortung an dem NSU-Desas- ter zukommt. Schließlich ließen Staatsanwälte und Richter die späteren NSU-Kader trotz zahlloser Straf- verfahren und (im Falle eines Täters) einer rechts- kräftigen Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe frei herumlaufen, bis sie 1998 in den Untergrund ab- tauchten. 17 Protokoll Untersuchungsausschuss 5/1 „Rechtsex- tremismus und Behördenhandeln“, Thüringer Land- tag, 12. Sitzung vom 9. Juli 2012, S. 83-86. 18 Vgl. http://www.bundestag.de/bundestag/abgeord nete18/biografien/R/renner_martina/258930 19 Kenan Kolat, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde Deutschland, auf der BKA-Jahrestagung 2012, abgedruckt in: Bundeskriminalamt (Hrsg.): Bekämpfung des Rechtsextremismus. Eine gesamt- gesellschaftliche Herausforderung, Köln 2013, S. 169. 20 Jüttner, Julia: Punkband Feine Sahne Fischfilet – Die Staatsfeinde, in: Spiegel-online, 5.11.2012. Den beharrlichen und durchaus erfolgreichen Versuchen, den Rechtsextremismus in Mecklenburg-Vorpom- mern zurückzudrängen, ist gewiss nicht gedient, wenn solcherart Politkunst die einschlägigen Nazi- Bands ergänzt oder ersetzt. 21 Auch hier geht es formal um Datenschutz, mit dem Ergebnis, dass zugleich mit der politisch erwünsch- ten Reinwaschung von Linksextremisten der ein oder andere Islamist und Rechtsextremist aus Gründen der Gleichbehandlung von diesem Verfahren mit profitiert. Da erhält die Parole „Nazis raus“ (aus den Dateien der Polizei) einen ganz neuen Beige- schmack. 22 Ein sehr deutsches Phänomen: Die Nazis wussten schon 1933, warum es ihren SA-Horden gefiel, dass sie mit entsprechenden Armbinden als Hilfspolizei

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