Plenarprotokoll 18/235

Deutscher

Stenografscher Bericht

235. Sitzung

Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017

Inhalt:

Zusatztagesordnungspunkt 12: renz und Recht im Netz – Maßnahmen gegen Hasskommentare, „Fake News“ Erste Beratung des von den Fraktionen der und Missbrauch von „Social Bots“ CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs Drucksache 18/11856. 23847 D eines … Gesetzes zur Änderung des Strafge- setzbuches – Wohnungseinbruchdiebstahl , Bundesminister BMJV . 23848 A Drucksache 18/12359. 23833 B Dr. (DIE LINKE). 23849 B Heiko Maas, Bundesminister BMJV . 23833 B Elisabeth Winkelmeier-Becker Frank Tempel (DIE LINKE). 23834 C (CDU/CSU). 23850 C Dr . Volker Ullrich (CDU/CSU). 23836 D Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 23852 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 23838 C Dr. (SPD). 23853 B Dr. Eva Högl (SPD) . 23840 B Dr. Stefan Heck (CDU/CSU). 23854 D Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU). 23841 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 23855 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 23842 C (SPD) . 23856 C Dr. Johannes Fechner (SPD). 23844 C Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 23857 B Dr. (CDU/CSU) . 23845 D Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU). 23858 B Frank Tempel (DIE LINKE). 23847 A Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . 23847 B DIE GRÜNEN). 23858 D Hansjörg Durz (CDU/CSU). 23859 B Tagesordnungspunkt 38: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Tagesordnungspunkt 39: CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung Antrag der Abgeordneten der Rechtsdurchsetzung in sozialen (Bremen), , Dr. Franziska Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungs- Brantner, weiterer Abgeordneter und der Frak- gesetz – NetzDG) tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Histori- Drucksache 18/12356. 23847 D sche Verantwortung Deutschlands für die Ukraine b) Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin Drucksache 18/10042. 23860 D von Notz, Renate Künast, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Transpa- DIE GRÜNEN). 23861 A II Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung , Freitag, den 19 Mai 2017

Dr. (CDU/CSU). 23862 A (DIE LINKE) . 23879 A (DIE LINKE) . 23863 B (CDU/CSU). 23880 B Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) . 23864 B Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 23881 B (CDU/CSU). 23865 A Sören Bartol (SPD). 23882 D Dr. (SPD). 23866 A (CDU/CSU) . 23883 C Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 23866 D Michael Groß (SPD). 23885 A (SPD). 23867 B (Kleinsaara) (CDU/CSU). 23885 D Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU). 23868 B Tagesordnungspunkt 42: Tagesordnungspunkt 40: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Antrag der Abgeordneten , CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- , Matthias W. Birkwald, wei- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Grundgesetzes (Artikel 21) LINKE: Verordnung gegen Stress in der Drucksache 18/12357. 23869 B Arbeitswelt erlassen b) Erste Beratung des von den Fraktionen Drucksachen 18/10892, 18/11221. 23887 B der CDU/CSU und SPD eingebrachten b) Beschlussempfehlung und Bericht des Entwurfs eines Gesetzes zum Ausschluss Ausschusses für Arbeit und Soziales verfassungsfeindlicher Parteien von der – zu dem Antrag der Abgeordneten Parteienfnanzierung Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Drucksache 18/12358. 23869 B Behrens, weiterer Abgeordneter und c) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- der Fraktion DIE LINKE: Wochen- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- höchstarbeitszeit begrenzen und Ar- derung des Grundgesetzes zum Zweck beitsstress reduzieren des Ausschlusses extremistischer Partei- – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate en von der Parteienfnanzierung Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Drucksache 18/12100. 23869 B , weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- GRÜNEN: Mehr Zeitsouveränität – brachten Entwurfs eines Begleitgesetzes Damit Arbeit gut ins Leben passt zum Gesetz zur Änderung des Grund- Drucksachen 18/8724, 18/8241, 18/12055. 23887 B gesetzes zum Zweck des Ausschlusses extremistischer Parteien von der Partei- (SPD) . 23887 C enfnanzierung Jutta Krellmann (DIE LINKE). 23888 C Drucksache 18/12101. 23869 C Uwe Lagosky (CDU/CSU). 23889 D (CDU/CSU). 23869 C Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ (DIE LINKE). 23870 C DIE GRÜNEN). 23891 A Dr. Eva Högl (SPD) . 23871 D Dr. (SPD). 23891 D Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU). 23893 B DIE GRÜNEN). 23872 D (CDU/CSU). 23894 C Dr . (CDU/CSU)...... 23874 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Boris Pistorius, Minister (Niedersachsen) . 23875 D DIE GRÜNEN). 23895 A Alexander Hofmann (CDU/CSU). 23877 A Nächste Sitzung . 23896 C Tagesordnungspunkt 41: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Anlage 1 Stadtentwicklungsbericht der Bundesregie- Liste der entschuldigten Abgeordneten. 23897 A rung 2016 Drucksache 18/11975. 23878 A Anlage 2 Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretä- rin BMUB. 23878 B Amtliche Mitteilungen. 23897 D Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017 23833

(A) (C)

235. Sitzung

Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : Noch schlimmer sind – das wissen wir – die psychischen Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröfnet. Folgen. Wer in die Wohnung eines Menschen eindringt, der dringt in seine absolute Intimsphäre ein. Viele Betrof- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fene bleiben dann mit dem Gefühl zurück, nicht einmal begrüße Sie herzlich zur letzten Plenarsitzung in dieser in den eigenen vier Wänden sicher zu sein. Woche. Wenn es hier der Politik nicht gelingt, den Menschen Wir fangen mit dem Zusatzpunkt 12 an: mehr Sicherheit zu geben, dann ist das Vertrauen in unse- Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ ren Staat und vor allen Dingen in den Rechtsstaat massiv CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines gefährdet. Deshalb müssen wir gegen Einbrecher noch … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbu- besser vorgehen. Dies müssen wir in dreierlei Hinsicht ches – Wohnungseinbruchdiebstahl tun. Erstens. Wir müssen die Prävention verbessern. Zweitens. Wir brauchen eine höhere Aufklärungsquote (B) Drucksache 18/12359 bei den begangenen Taten. Drittens. Wir brauchen eine (D) Überweisungsvorschlag: härtere Bestrafung der überführten Täter. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Dagegen höre Das größte Plus an Sicherheit schafen wir dann, wenn ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. es den potenziellen Tätern erst gar nicht gelingt, in eine Wohnung einzubrechen. Deshalb ist Prävention so wich- Ich eröfne die Aussprache und erteile das Wort dem tig. Wir wollen, dass Wohnungen so gesichert sind, dass Bundesminister der Justiz, Heiko Maas. man eben nicht mit ein paar einfachen Knifen Türen oder Fenster aushebeln kann. Ein solcher Einbruchschutz (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zahlt sich aus. Mehr als 40 Prozent der Einbrüche schei- tern an einer guten Sicherung von Türen und Fenstern Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver- oder durch Alarmanlagen. Aber einen guten Einbruch- braucherschutz: schutz kann sich nicht jeder leisten. Damit die Sicherheit Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abge- nicht an fehlendem Geld scheitert, stellt die Kreditanstalt ordnete! Im vergangenen Jahr hat die Polizei mehr als für Wiederaufbau Zuschüsse zur Finanzierung bereit, 150 000 Wohnungseinbrüche registriert. Vor zehn Jahren und zwar sowohl für Eigentümer als auch für Mieter. Die waren es knapp über 100 000. Diesen massiven Anstieg Mittel dafür haben wir in den vergangenen Jahren mit bis von über 50 Prozent in den letzten zehn Jahren kann man zu 1 500 Euro pro Wohnung deutlich erhöht. nicht einfach ignorieren. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Auch wenn die Zahlen zuletzt wieder rückläufg sind, Deshalb richte ich in dem Zusammenhang an alle Ver- bleibt es dabei: Wohnungseinbrüche sind ein massives mieter und alle privaten Eigentümer, vor allen Dingen Sicherheitsproblem in Deutschland. Wir wollen die Men- aber auch an die großen Wohnungsbaugesellschaften die schen besser davor schützen; denn Wohnungseinbrüche Bitte: Sparen Sie nicht an der Sicherheit auf Kosten Ihrer haben gravierende Folgen. Die fnanziellen Schäden la- Mieter. Nutzen Sie die staatliche Förderung. Investieren gen im letzten Jahr bei rund 400 Millionen Euro. Hinzu Sie, und schützen Sie Ihr Eigentum, vor allen Dingen kommt der nicht zu unterschätzende ideelle Schaden. aber Ihre Mieterinnen und Mieter noch besser vor Ein- Wenn ein altes Erbstück oder Dateien mit wichtigen per- brechern. sönlichen Daten weg sind, dann geht das weit über den Verlust hinaus, den man in Euro und Cent bezifern kann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 23834 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Bundesminister Heiko Maas (A) Meine Damen und Herren, im vergangenen Jahr lag lität zu tun, sondern dort stecken, wie die Erkenntnisse (C) das Risiko, nach einem Einbruch bestraft zu werden, der Polizei zeigen, straf organisierte kriminelle Netz- bei nur knapp 17 Prozent. Anders ausgedrückt: Mehr als werke hinter den Taten. Ich denke, gegenüber diesen Tä- 80 Prozent aller Einbrecher werden nie gefasst, laufen tern sollte der Rechtsstaat sehr deutlich machen: Wer in frei herum und können weiter ihr Unwesen treiben. eine Privatwohnung einbricht, der begeht ein Verbrechen und den erwartet in Zukunft eine Freiheitsstrafe von min- Es ist eine Binsenweisheit der Kriminologie, dass bei destens einem Jahr. der Entscheidung für eine Straftat das Entdeckungsrisi- ko eine maßgebliche Rolle spielt. Deshalb ist klar: Wer (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) in der Zukunft Wohnungseinbrüche verhindern will, der muss auch die Aufklärungsquote bei Einbrüchen massiv Meine Damen und Herren, wir brauchen also insge- erhöhen. Das ist eine Aufgabe der Sicherheitsbehörden. samt einen klugen Mix aus mehr Prävention, höherer Dafür brauchen sie eine entsprechende Anzahl von Er- Aufklärung und auch härteren Strafen. Nur so können mittlern, also genügend Personal, aber auch die richtigen wir mehr Sicherheit schafen und die Menschen in ihren Instrumente. Deshalb ist es gut, dass viele Bundesländer eigenen vier Wänden noch besser schützen. Das ist das bereits reagiert haben. Es bleibt dabei: Um aufzuklären Ziel dieses Gesetzes. Wir sind fest davon überzeugt, dass und auch um vorzubeugen, braucht die Polizei bzw. brau- wir die Ziele mit diesem Gesetz auch erreichen werden. chen die Sicherheitsbehörden eine angemessene Ausstat- tung an Personal und Organisation. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die Polizei braucht aber auch die notwendigen Ermitt- lungsinstrumente, um Taten und Täterstrukturen aufzu- Präsident Dr. Norbert Lammert: decken. Dazu gehört auch ein besserer Einblick in die Frank Tempel ist der nächste Redner für die Fraktion Telekommunikation der Täter. Die Polizei soll in Zukunft Die Linke. abfragen dürfen, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Funkzelle des Mobilfunknetzes eingeloggt war. Mit (Beifall bei der LINKEN) solchen Instrumenten kann die Polizei den Täterkreis deutlich eingrenzen. Wenn es bereits einen Tatverdäch- Frank Tempel (DIE LINKE): tigen gibt, dann soll sie zukünftig, um den Verdacht zu überprüfen, auch in Erfahrung bringen dürfen, ob er zum Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Zeitpunkt des Einbruchs am Tatort war. Auch die Abfra- und Herren! Wir stehen vor einer wichtigen Bundestags- (B) ge von Standortdaten soll künftig möglich werden. Bei- wahl. Die Linke setzt jetzt besonders auf soziale Fragen (D) des sind ganz wichtige Maßnahmen, die unserer Polizei und die Friedenspolitik, die Grünen haben das Image, für helfen werden, in Zukunft mehr Einbrüche aufzuklären. Umweltfragen zu streiten, die Union setzt im Wahlkampf traditionell auf die Sicherheitspolitik, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Nicht Meine Damen und Herren, mit dem Gesetzentwurf, nur im Wahlkampf!) den wir heute vorlegen, wollen wir auch den Strafrah- men anheben. Das Thema Strafverschärfung wird durch- und die SPD steht für ein kräftiges sozialdemokrati- aus diskutiert. Die einen meinen, dass den Verbrechern sches Sowohl-als-auch, also von allem ein bisschen, aber schon der Garaus gemacht werde, wenn nur das Straf- nichts so richtig. recht immer weiter verschärft wird. Auf der anderen Seite steht die Überzeugung, dass scharfe Strafen eines (Beifall bei der LINKEN – Dr. Johannes Rechtsstaates keine Wirkung entfalten. Ich meine, beides Fechner [SPD]: So ein Quatsch! – ist in dieser Pauschalität falsch. Nötig ist, genau hinzu- [SPD]: Wir wollen was für die Menschen tun!) schauen, um welche Taten es geht, und vor allen Dingen, Wenn wir also heute im Bundestag über härtere Stra- wer die Täter sind. fen für Einbrecher sprechen, dann ist das ein ganz klares Bei den Taten, die typischerweise im Afekt gesche- Signal, dass die Bundesregierung noch einmal mit einer hen, bei denen die Täter von starken Gefühlen und Über- Law-and-Order-Ideologie beim Wähler punkten möchte. zeugungen oder von einer Sucht getrieben werden, ver- (Ulli Nissen [SPD]: Ist bei Ihnen schon mal fehlen hohe Strafen ihre abschreckende Wirkung. Die eingebrochen worden? Das würde ich gern Täter handeln so kopfos, dass sie an die Konsequenzen mal wissen!) ihrer Tat überhaupt nicht denken. Wo Taten aber gut ge- plant werden, da geht es schon um eine rationale Rech- Doch es stellt sich die Frage, ob immer schärfere Geset- nung. In diese fießt dann auf der einen Seite der Proft ze wirklich für eine kompetente Innenpolitik stehen. Die aus einer Straftat ein, auf der anderen Seite aber auch das Linke hat erhebliche Zweifel daran. Entdeckungsrisiko und die Höhe der Strafe. Sie sind es von mir gewohnt, dass ich bei solchen De- Beim Wohnungseinbruch zeigt die Kriminalitätsstatis- batten meine langjährige Erfahrung als Kriminalbeamter tik: Nur 10 Prozent der Täter sind Konsumenten harter einbringe. Das werde ich auch heute tun, versprochen. Drogen. Bei 90 Prozent dagegen haben wir es aber eben ofenkundig nicht mit sogenannter Beschafungskrimina- ( [CDU/CSU]: Ist in Ordnung!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23835

Frank Tempel (A) Aber auch aus meinem ersten Beruf als Schlosser kann Sie wollen nicht, dass darüber diskutiert wird, Sie wol- (C) ich einige Erfahrungen einbringen. len, dass über Gafer, Gefährder und Einbrecher gespro- chen wird. (Heiterkeit) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das Ich habe gelernt, dass man eben nicht mit einem Ham- fnden Ihre Rentner nicht gut, wenn eingebro- mer auf ein kaputtes Auto einschlagen und dann erwarten chen wird!) kann, dass das Auto anschließend wieder läuft. Ich muss schon genau hinschauen, warum das Auto kaputt ist, und Warum die SPD hier im Bundestag immer wieder den dann bei dem Grund des Übels mit dem richtigen Werk- Wahlkampfhelfer der CDU gibt, weiß ich nicht. Das tut zeug ansetzen. mir auch leid. Bei uns Innenpolitikern geht es nicht um ein kaputtes Auto, sondern um die innere Sicherheit, um Gefahren und (Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist doch billig! – um Kriminalitätsphänomene. Aber die Innenpolitiker der Dr. Johannes Fechner [SPD]: Schwach!) Großen Koalition haben einen Hammer, und der nennt Helfen wird Ihnen das nicht; denn das Image der Law- sich Rechtsverschärfungen. Damit schlagen sie auf jedes and-Order-Partei ist nun einmal von der CDU/CSU be- Sicherheitsproblem ein, das sich ihnen bietet, oder sie setzt. konstruieren eins. Und jedem, der diesen Hammer nicht nutzen möchte – das haben wir gerade gehört –, werfen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sie vor, dass er das Problem nicht beheben möchte. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Innenpolitik und die Rechtspolitik der Großen Koalition haben immer das gleiche einfallslose Muster: Aber gut, wenn das Thema Sicherheit schon besetzt wer- hohe Asylbewerberzahlen – Verschärfung der Asylge- den soll, dann schauen wir uns einfach einmal an, wie es setzgebung; mehr extremistische Gefährder – schärfere beim Thema Einbruchdiebstähle aussieht. Sicherheitsgesetze; Gafer auf der Autobahn – Strafver- (Dr. Johannes Fechner [SPD]: 150 000!) schärfung; mehr Wohnungseinbrüche – Strafverschär- fung. Da greife ich jetzt tatsächlich auf meinen Erfahrungs- Aber halt, diese Logik hat ein kleines Problem. Nach schatz als Kriminalbeamter zurück. Wer sind denn ei- den jüngsten Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik gentlich diese Einbrecher? Es handelt sich überwiegend ist die Zahl der Wohnungseinbrüche eben nicht gestie- um junge Männer. In sehr vielen Fällen werden sie erst (B) gen, sondern gesunken. nach mehreren Einbrüchen ermittelt oder erwischt. Je ge- (D) ringer das Entdeckungsrisiko ist, umso weniger spielt üb- ( [SPD]: Ja, in einem Jahr!) rigens bei diesen Tätern der mögliche Strafrahmen eine Rolle . – Herr Maas, da waren Sie einige Male eigentlich Wenn das so ist, warum reden wir dann ausgerechnet dicht dran. – Gerade bei den Einbruchdiebstählen agie- jetzt, kurz vor der Bundestagswahl, von Strafverschär- ren häufg in Banden organisierte Täter gemeinsam. Sie fungen? spezialisieren sich und sind oft nur mit hohem Ermitt- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- lungsaufwand durch die Polizei zu stellen. Einbrecher neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – können lange unbekannt agieren, weshalb besonders in Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Davon diesem Deliktfeld das Strafmaß kaum eine präventive reden wir seit zwei Jahren! – Weitere Zurufe Rolle spielt. von der CDU/CSU und der SPD) Die Opfer dieser Einbrecher – auch das ist uns klar – – Weil Wahlkampf ist, richtig. erleben oft nicht nur einen materiellen Schaden: Die Tä- ter dringen in ihr intimstes Umfeld ein und hinterlassen Es gibt übrigens neben der inneren Sicherheit auch Angst und Unsicherheit. einige andere Themen. In meiner Heimat Ostthüringen droht im Jahr 2030 jedem zweiten Rentner die Altersar- Was sind nun eigentlich wirklich die Stellschrauben, mut. Sie möchten nicht, dass darüber gesprochen wird; mit denen wir – das ist unsere Aufgabe – die Zahl der Sie wollen, dass das Thema Sicherheit den Wahlkampf Einbrüche reduzieren können? Auf einen Täter kommt in bestimmt, und schüren deshalb Ängste, ähnlich wie es der Regel eine Vielzahl von Einbrüchen. Es ist für die auch die AfD tut. Gesamtzahl der Delikte ein wesentlicher Faktor, ob ein Täter 5, 10 oder 20 Einbrüche verübt, bevor er erwischt (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- oder ermittelt wird. Bei organisierten Banden ist die Zahl neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – der verübten Einbrüche im Schnitt noch einmal deutlich Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD) höher, weil sie schwerer gefasst werden können. Kein Im Osten liegen die Löhne nach wie vor im Durch- Einbrecher wird sein Gewerbe einstellen, weil ihm hö- schnitt 24 Prozent unter denen des Westens. here Strafen drohen. Er fühlt sich ganz einfach nahezu sicher. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Gera- de die Rentner müssen wir vor Wohnungsein- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Seit wann ist brüchen schützen!) Einbruch ein Gewerbe?) 23836 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Frank Tempel (A) – Lesen Sie mehr Krimis. Da steht das öfter so. Doch da sind wir leider schon wieder beim Thema (C) Stellenabbau. Ich habe in den letzten Monaten viele Po- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich glaube, Sie lizeidienststellen von Saarbrücken über Gera bis Cottbus lesen zu viele Krimis! – Dr. Jan-Marco Luczak besucht, und die einstimmige Aussage war: Aufgrund des [CDU/CSU]: Dreigroschenromane!) Personalabbaus sind diese Präventivstreifen wenig oder Um die Zahl der Einbrüche zu verringern, können wir gar nicht mehr möglich. Vielerorts fahren verbliebene die Täter also nicht mit Straferhöhungen abschrecken, Streifenwagenbesatzungen nur noch von konkretem Auf- sondern wir müssen sie erwischen bzw. mit anderen Mit- trag zu konkretem Auftrag. So verringert sich jedoch die teln abschrecken. Chance, verdächtige Personen oder Täter auf frischer Tat festzustellen. Das geringere Entdeckungsrisiko hat dann (Beifall bei der LINKEN) eine vielfache Wirkung: Man spricht übrigens – das sage ich in Richtung der Kol- Erstens. Die Bevölkerung registriert die mangelnde legen von der CSU – auch von gewerbsmäßigem Dieb- Polizeidichte in der Fläche. Das Gefühl der Unsicherheit stahl. Wenn Sie ein bisschen mehr Fachliteratur lesen, wird noch einmal erhöht, woraus die Bundesregierung dann können Sie die Krimis weglassen. mit diesem Antrag Kapital schlagen möchte. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Zweitens. Die geringere Entdeckungsgefahr senkt zu- LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE dem die Hemmschwelle der Täter. Sie schlagen dreister GRÜNEN) und öfter zu. Ich fange einmal mit den Stellschrauben an. Drittens. Ohne durch die Streifentätigkeit der Schutz- Die Ermittlungsarbeit ist langwierig und mit einem polizei festgestellte Tatverdächtige wird die Arbeit der hohen Aufwand verbunden. Ausreichend erfahrene Er- Ermittler noch einmal schwieriger und langwieriger. mittler können die Handschrift eines Täters lesen, Spuren Täter können mehr Einbrüche verüben, ehe sie gestellt auswerten, zu einem Gesamtbild zusammenfügen und so werden. Tatverdächtige überführen. Um es abzukürzen – meine Redezeit ist gleich um –: Der Personalabbau bei der Polizei hat aber genau hier Auch ein besseres technisches Know-how bei der Spu- seine negativen Spuren hinterlassen. rensicherung kann zur schnelleren Ermittlung der Täter führen. Selbstverständlich gibt es auch soziale Kompo- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nenten beim Thema Einbruch. GRÜNEN]: So ist es!) (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele Es fehlt in vielen Dienststellen an ausreichend Ermitt- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (B) lern. Zu wenige Beamte müssen zu viele Delikte bear- (D) beiten. Das ist eines der Hauptprobleme, und das muss Der Justizminister hat richtigerweise gesagt: Häufg wird korrigiert werden. vorschnell Beschafungs- oder Flüchtlingskriminalität zur Erläuterung von Einbruchszahlen herangezogen. Ver- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- gessen wird aber, dass das Armutsrisiko im eigenen Land neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ebenfalls ein Faktor bei der Zahl der Eigentumsdelikte Sehr hilfreich ist es übrigens zudem, wenn es bereits ist. Tatverdächtige gibt, und es gibt Möglichkeiten, die Vo- raussetzungen dafür zu verbessern. Die schlaueste Frage Wir sehen also: Es gibt konkrete Stellschrauben zur von den Sicherheitsexperten der Union im Innenaus- Verringerung der Eigentumsdelikte. Man darf sie eben schuss war, warum die meisten Einbrüche in der späten nur nicht in die falsche Richtung drehen. Den großen Nacht bzw. am sehr frühen Morgen stattfnden. Hammer der Rechtsverschärfung brauchen wir nicht. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Weil es dann (Beifall bei der LINKEN) nicht so hell ist!) Wir dürfen nur nicht durch Einsparungen an der falschen – Ja: Einbrecher wollen keine Zeugen. Stelle, also beim Personal, der Polizei die Handlungs- spielräume nehmen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!) Danke schön. Die Polizei setzt deswegen auf sogenannte Präven- tivstreifen. Das Ergebnis dieses taktischen Mittels ist, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- a) Täter auf frischer Tat zu ertappen – das ist übrigens die neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) beste Art, Einbruchdiebstähle zu bekämpfen –, b) ver- dächtige Personen, die sich im Umfeld potenzieller Tat- Präsident Dr. Norbert Lammert: orte aufhalten und vielleicht Einbruchswerkzeuge oder Das Wort erhält nun der Kollege Volker Ullrich für die Beutegut mit sich führen, durch Kontrollen zu identi- CDU/CSU-Fraktion. fzieren und – nicht zu vergessen – c) eine hohe Poli- zeipräsenz zur Nachtzeit in Gegenden, die für Einbrecher (Beifall bei der CDU/CSU) interessant sind, zu gewährleisten. Letzteres erhöht das Entdeckungsrisiko – der Justizminister hat auf diesen Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Faktor hingewiesen –, was den Täter tatsächlich von ei- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ner Tat abschrecken kann. Herren! Die Polizeiliche Kriminalstatistik spricht von Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23837

Dr. Volker Ullrich (A) 151 000 Fällen von Wohnungseinbrüchen allein im Privatwohnung ein Verbrechenstatbestand, und es wird (C) Jahr 2016. Auch wenn diese Zahl im Vergleich zum auch keinen minderschweren Fall mehr geben. Ich kann Jahr 2015 leicht rückläufg ist, so wird in Deutschland mir bei Wohnungseinbruchdiebstahl auch keine minder- dennoch alle dreieinhalb Minuten in eine Privatwohnung schweren Fälle vorstellen. eingebrochen. Das ist ein Zustand, den wir weder akzep- tieren noch billigen dürfen. Wir müssen und wollen die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Menschen in ihren eigenen vier Wänden schützen. neten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau! – Hans-Christian Ströbele [BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie entmündigen die Ulli Nissen [SPD]) Richter!) Wir stehen an der Seite der Menschen, Herr Kollege Tempel, die sich um ihre Sicherheit in den eigenen vier Wichtig ist ebenfalls, dass der Wohnungseinbruch- Wänden sorgen. diebstahl auch in den Katalog der Verkehrsdatenabfrage aufgenommen wird. Es war und ist niemandem so recht (Frank Tempel [DIE LINKE]: Mit einem zu erklären, weshalb die Polizei nach einem Wohnungs- großen Hammer, ja!) einbruch Fingerabdrücke nehmen, aber bislang nicht bei Dabei geht es nicht allein um materielle Schäden. den Telekommunikationsanbietern abfragen darf, wer in Wohnungseinbrüche trefen Menschen tief in ihrem eige- die Funkzelle eingeloggt war. Es darf auch keinen Un- nen Sicherheitsgefühl. Sie berühren die Menschen dort, terschied machen, ob eine Bande am Werk war – nur in wo sie am verletzlichsten sind: in ihren eigenen vier Wän- diesem Fall sind Telekommunikationsüberwachungs- den, in ihrem ganz privaten Rückzugsraum. Sie müssen maßnahmen bislang möglich – oder ob der Täter ein Ein- sich einmal mit Opfern von Wohnungseinbruchdiebstahl zelner war. unterhalten, die noch lange nach der Tat ein beklemmen- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE des Gefühl haben und sich nicht trauen, sich schlafen zu GRÜNEN]: Für Banden trift das überhaupt legen, weil sie Angst haben, jemand könnte neben ihrem nicht zu! Da gibt es schon ein Gesetz!) Bett stehen. Sie müssen sich einmal mit Menschen unter- halten, deren intimste Gegenstände durchsucht wurden, Es geht um die Wirkung auf das Opfer. Selbst wenn ein die Scham empfnden einzelner Einbrecher unterwegs ist, muss es möglich ( [DIE LINKE]: Aber man sein, auf Funkzellen zurückzugreifen, weil nämlich auch darf ihnen trotzdem keine falschen Verspre- ein einzelner Einbrecher eine nachhaltige und traumati- chungen machen!) sche Wirkung beim Opfer hervorrufen kann. Deswegen (B) gebietet der Opferschutz, dass das Instrument der Ver- (D) und am Ende sogar aus ihrer Wohnung ausziehen müssen, kehrsdatenabfrage zum Tragen kommt. weil sie es aus psychologischen Gründen nicht schafen, in dieser Wohnung zu bleiben. Wir stehen an der Seite Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang dieser Opfer und wollen die Freiheit der Menschen, die ist mir eine Bemerkung wichtig. Nicht nur in Anbetracht in ihrer eigenen Wohnung Opfer von Diebstahl und Raub der Wohnungseinbrüche, sondern auch vor dem Hinter- geworden sind, wiederherstellen. grund von vielerlei Bedrohungen unserer Freiheit und Sicherheit durch Kriminelle und Terroristen will ich fest- (Frank Tempel [DIE LINKE]: Aber mit den halten: Es war richtig und geboten, dass wir die Speiche- falschen Mitteln!) rung von Verbindungsdaten beschlossen haben und sie Wer einen Wohnungseinbruch begeht, raubt den Men- dieses Jahr in Kraft treten wird. schen die Freiheit auf ungestörte Privatsphäre. Meine Damen und Herren, wegen der erschütternden und nach- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian haltigen Wirkung auf die Opfer und das Sicherheitsge- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fühl der Bevölkerung ist aus Gründen des Opferschutzes war für Terroristen und Mörder, aber nicht für eine Reform des Strafrechts geboten. Einbrecher!) (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich brauchen wir ein Bündel von Maßnahmen. Der derzeitige Strafrahmen des Einbruchdiebstahls Die Prävention ist ebenso wichtig wie eine stärkere straf- geht von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, bei minder- rechtliche Verfolgung. Es ist deswegen richtig, dass die schweren Fällen von drei Monaten bis zu fünf Jahren. KfW Zuschüsse zur Sicherung gegen Wohnungs- und Aber dieser Strafrahmen spiegelt nicht das Unrecht wi- Hauseinbrüche ausreicht. der, welches durch den Einbruch in eine Privatwohnung (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Das haben wir begangen wird. durchgesetzt!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Strafrahmen wird doch fast Viele Wohnungseinbrüche bleiben nämlich im Versuchs- nie ausgeschöpft!) stadium stecken. Eigenvorsorge und Wachsamkeit sind ebenso notwendig wie der staatliche Schutz. Deswegen wollen und werden wir das ändern. Wir stel- len die dauerhaft genutzte Privatwohnung unter einen Allein im Jahr 2016 sind über 40 000 Förderzuschüsse besonderen strafrechtlichen Schutz. Durch den neuen ausgereicht worden. Wenn 2016 bereits 44 Prozent der § 244 Absatz 4 StGB wird der Einbruchdiebstahl in einer Einbrüche im Versuchsstadium stecken geblieben sind 23838 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Dr. Volker Ullrich (A) und es 2014 erst 40 Prozent waren, dann hängt das viel- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) leicht mit der notwendigen Eigenvorsorge zusammen. Hans-Christian Ströbele erhält nun das Wort für die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. GRÜNEN]: Genau!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt kommt es! Deswegen werden wir dieses Programm weiterführen Jetzt kommt der Beitrag eines Profs! – Gegen- und fortschreiben. ruf der Abg. [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das erwarten Sie zu Recht!) (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da- von steht nichts im Gesetzentwurf!) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Meine Damen und Herren, meine große Sorge gilt Danke. – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und auch der unterschiedlichen Betrofenheit durch Ein- Kollegen! Einbruchdiebstahl ist in der Tat eine Geißel. bruchdiebstahl in den einzelnen Ländern. Das Risiko, Es ist nicht nur in allen Fällen extrem ärgerlich, sondern Opfer eines Einbruchsdelikts zu werden, ist abhängig endet für die betrofenen Bürgerinnen und Bürger sehr davon, in welchem Bundesland man seine Wohnung hat. häufg in einer Katastrophe, auch in einer familiären Ka- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Noch!) tastrophe. Da gebe ich Ihnen recht: Viele fnden in ihrer eigenen Wohnung ihre Ruhe nicht mehr. In Bayern waren es im letzten Jahr 58 Fälle pro 100 000 Einwohner. In Nordrhein-Westfalen waren es ( [CDU/CSU]: Genau!) 294 Fälle. In Schleswig-Holstein waren es 269 Fälle. Wir müssen wieder Zustände erreichen, dass man zu (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Der Wahlkampf Recht den englischen Satz sagen kann: My home is my ist doch vorbei! – Gegenruf des Abg. Dr. Jan- castle. Da bin ich sicher. Marco Luczak [CDU/CSU]: Was wahr ist, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, muss auch wahr bleiben! – Gegenruf des Abg. bei der CDU/CSU und der SPD) [CDU/CSU]: Das hat mit Wahlkampf nichts zu tun!) So gehört sich das. Das zeigt ganz klar: Dort, wo die Union den Innenminis- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da ter stellt und Verantwortung für die innere Sicherheit hat, werden Sie noch klug auf Ihre alten Tage!) (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Zwölf Jahre Wer anzweifelt, dass die Grünen hinter einer solchen Po- (B) wurden im Bund immer Stellen gekürzt!) litik stehen, der handelt infam und leugnet die Tatsachen. (D) leben die Menschen sicherer und ist die Zahl der Woh- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt hören wir nungseinbrüche geringer. mal!) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Johannes Es ist uns natürlich ein großes Anliegen, da etwas zu än- Fechner [SPD]: So ein Quatsch! – Dr. Eva dern. Die Frage ist nur: Wie? Högl [SPD]: Das haben wir in Berlin nicht feststellen können!) Herr Maas, Sie haben damit geendet, dass Sie gesagt haben, Sie müssten den kriminellen Netzwerken das Wir wollen, dass die Zahl der Wohnungseinbrüche Handwerk legen. überall in Deutschland zurückgeht. Das darf nicht nur eine Absichtserklärung sein, sondern das muss ein verbindli- (Anja Karliczek [CDU/CSU]: Genau!) ches Ziel der Innenpolitik werden. Die Zahl der Woh- nungseinbrüche in Deutschland ist nach wie vor zu hoch. In dieser allgemeinen Form kann ich das voll unter- Die Aufklärungsquote ist zu gering. Wir wollen und wer- schreiben. Nur – das hat auch Herr Ullrich durcheinan- den mit diesem Gesamtpaket von Maßnahmen – mit der dergebracht –: notwendigen Strafrechtsverschärfung, mit der Ausweitung (Dr . Volker Ullrich [CDU/CSU]: Was? – der Ermittlungsbefugnisse und mit der Fortschreibung des Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das kann Präventionsprogramms – dem Einbruch weiterhin den ich mir gar nicht vorstellen!) Kampf ansagen. Dann, meine Damen und Herren, haben auch die Länder die Pficht, durch ausreichende Personal- Dafür brauchen wir kein neues Gesetz. bemessung bei der Polizei dafür zu sorgen, dass Fälle auf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gedeckt und zur Anklage gebracht werden. und bei der LINKEN) Wenn wir diesen Gesamtkanon von Maßnahmen Bandendiebstahl ist bereits heute mit einer Mindestfrei- durchführen, dann werden wir die Einbruchskriminalität heitsstrafe von einem Jahr als Verbrechen strafbar – nach in diesem Land weiter zurückführen und zugunsten der § 244 bzw. § 244a StGB. Menschen die Sicherheit in diesem Land stärken. Einbrü- che konsequenter zu bekämpfen, das ist unser Ziel. (Dr . Volker Ullrich [CDU/CSU]: Aber eben nur der Bandendiebstahl! Und wenn es einer Herzlichen Dank. allein macht? – Volker Kauder [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU) Und wenn die allein losziehen?) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23839

Hans-Christian Ströbele (A) – Werfen Sie einen Blick ins Gesetz! Da steht das. – Das seitigen, dass Mieter, wenn sie dafür sorgen, dass ihre (C) heißt, dafür braucht man das überhaupt nicht. Wohnungen sicher werden – zum Beispiel, indem sie ein Stangenschloss anbringen, das insgesamt gut 1 000 Euro Es geht nicht um Bandenkriminalität, sondern darum, kosten kann, weil die ganzen Vorrichtungen angebracht dass Einzelpersonen das machen oder Personen das je- werden müssen –, beim Auszug alles wieder zurück- denfalls nicht als Bande oder als Netzwerk organisiert bauen und den ursprünglichen Zustand wiederherstellen machen. Da – das kann ich Ihnen nur sagen; das ist auch müssen. Völlig unsinnige Geschichte. Sie können auch von Herrn Maas erwähnt worden – ist das Erste und das die Vermieter verpfichten – das können Sie in die Bau- Wichtigste, möglichst viele Einbrüche zu verhindern, zu ordnung hineinschreiben –, dass zu einer neuen Woh- vermeiden. nung auch gehört, dass sie ausreichend gesichert werden (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) kann. Das muss moderner Standard sein, wenn Wohnun- gen gebaut werden. Das kann man am besten dadurch, dass die Wohnungen gesichert werden, bestmöglich gesichert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das sowie bei Abgeordneten der LINKEN) machen wir auch!) Dazu machen Sie einmal ein Gesetz. Das können Sie än- Da kann nicht nur der Einzelne etwas tun, sondern der dern, und da können Sie etwas hineinschreiben. Staat kann mit Gesetzen und mit Geld helfen. Beides ist nicht genügend vorhanden. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dafür sind die Landesbauordnungen zuständig, aber doch (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! Das ist nicht wir!) falsch!) Hier sollten Sie etwas tun und nicht Symbolpolitik ma- – Ja, Landesbauordnungen. Auf Bundesebene können chen und versuchen, mit erhöhten Mindeststrafen dage- Sie da auch anfangen. gen vorzugehen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, nein!) Ich sage Ihnen: In Berlin und auch in anderen Bundes- ländern gab es Kampagnen der Kriminalpolizei, mit de- Sie kommen immer noch mit dem alten Argument, nen sie die Bürgerinnen und Bürger darüber aufklärten, das in der Bevölkerung verfangen soll, dass bei höheren was man noch alles tun kann. Ich habe aus schlimmer Strafen die Einbrecher das auch lassen; denn sie würden Erfahrung in meiner eigenen Wohnung auch zusätzlich vorher abwägen, wie viel sie beim Einbruch bekommen. etwas für Sicherheit getan. Man kann ein Stangenschloss Wenn die Strafe zu hoch ist, dann lassen sie es. – Das (B) anbringen, man kann die Fenster sichern. stimmt nicht. Das stimmt schon in der allgemeinen Form (D) nicht, das stimmt aber gerade bei Wohnungseinbrüchen (Volker Kauder [CDU/CSU]: Oder einen nicht. Vor zwei Jahrzehnten haben Sie schon einmal die Hund kaufen!) Mindeststrafe verdoppelt. Die Mindeststrafe betrug drei Man kann, wenn man parterre wohnt, dickere Scheiben Monate. Sie haben sie auf sechs Monate erhöht. Es war einsetzen. Aber das alles kostet Geld. Geringverdiener völlig ohne Wirkung, weil 95 Prozent der Täter, meistens können sich das nicht leisten. Das heißt, der Staat muss Männer, aber auch der Täterinnen diese Erwägung, was helfen. ihnen das an Gefängnis einbringen kann, vorher über- haupt nicht anstellen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Macht er ja!) Wenn Ihnen das nicht einleuchtet, dann kommen wir zu einem zweiten Punkt. Sie können am meisten etwas Er muss Geld zur Verfügung stellen. Wenn Sie sagen: gegen Wohnungseinbrüche tun, indem Sie die Aufklä- „KfW“, dann fragen Sie einmal: Wie viel Geld steht jetzt rungsquote erhöhen. Das hat Herr Maas auch gesagt. noch zur Verfügung? Aber wie kann man das erreichen? Indem man erstens (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das wird auf- die Polizei dazu in die Lage versetzt, mehr vor Ort zu gestockt!) sein, indem man zweitens den Wohnungsinhabern, Woh- nungseigentümern oder -mietern, die Möglichkeit gibt, Da sage ich Ihnen: Die Mittel sind ausgeschöpft. Hier sehr viel schneller die Polizei zu erreichen, und indem muss Geld zugelegt werden. man drittens die Polizei, die vor Ort Streife fährt, in die (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ma- Lage versetzt, am Tatort möglichst schnell Tatspuren zu chen wir!) sichern. Das ist heutzutage alles nicht gesichert, weil es viel zu wenig Kriminalbeamte gibt, die Streife fahren Die Bürgerinnen und Bürger müssen darüber informiert und schnell zum Tatort kommen. werden, wo sie Geld bekommen können. Die meisten wissen das gar nicht. (Beifall des Abg. Frank Tempel [DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – LINKE]) Dr . Volker Ullrich [CDU/CSU]: Wir haben Das heißt, hier müssen Sie investieren: bei der Polizei, doch gesagt, dass wir das fortführen!) bei der technischen Ausstattung der Polizei, bei der Stär- Aber Sie können auch gesetzgeberisch etwas machen. ke und der Präsenz vor Ort. Da können Sie etwas tun; da Sie können zum Beispiel die unsinnige Regelung be- können Sie etwas erreichen. Wenn die Aufklärungsquote 23840 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Hans-Christian Ströbele (A) steigt, dann wird die Zahl der Einbrüche zurückgehen. einer guten Nachricht: Die Zahl der Wohnungseinbrüche (C) Deshalb sagen wir: Ihr Weg ist der falsche. ist im Jahr 2016 um 10 Prozent gesunken. Das ist erst mal eine richtig gute Nachricht, und wir sagen: Wir machen (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Er genauso weiter. hat so gut angefangen! Und jetzt die falschen Schlussfolgerungen!) (Beifall bei der SPD) Wir können uns – dazu sind wir gerne bereit – mit Wir haben 150 000 Einbrüche, wir haben allerdings gutem Rat beteiligen, was man machen kann. Zu Ihrem auch 40 Millionen Haushalte in Deutschland. Das muss Argument: „Wir nehmen die Vorratsdatenspeicherung, man in Relation setzen. Ich sage aber auch ganz deutlich, weil wir dann besser aufklären können“, sage ich Ihnen, damit ich nicht missverstanden werde: Jeder einzelne Herr Maas: Ich habe noch, als Sie in dieser Frage umge- Einbruch ist einer zu viel. fallen sind, Ihre Versicherung im Ohr: Wir wollen das nur einführen für Mord, Totschlag, für schlimme Sexual- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten straftaten und Terrorismus. – Jetzt kommen Sie plötzlich der CDU/CSU und des Abg. Frank Tempel und ganz nebenher damit und führen das auch für den [DIE LINKE]) Einbruchdiebstahl ein. Das kann nicht wahr sein. Er beeinträchtigt das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist es aber!) und Bürger, und dem kann man auch nicht immer mit Verweis auf Statistiken begegnen. Genauso ist es falsch, eine Strafmilderung bei minder- schweren Fällen abzuschafen. Das ist Blödsinn; denn Wir wissen, dass Wohnungseinbruchdiebstahl ein be- es gibt tatsächlich Fälle, in denen man minder bestrafen sonders feses, unangenehmes Delikt ist. Es geht meis- muss. tens weniger um den Verlust der Wertsachen oder um den Wert der gestohlenen Dinge, sondern ganz häufg um Er- Ich sage Ihnen: Sie misstrauen den Strafverfolgungs- innerungen, um Andenken und vor allen Dingen um das behörden und den Richtern. Sie wollen sie zwingen, Stra- Wissen – und das ist richtig fes –: Jemand war in mei- fen zu verhängen, die gar nicht angemessen sind, die das ner Wohnung. – Nicht selten geschieht das ja sogar bei Schuldprinzip verletzen, und da machen wir nicht mit. Anwesenheit der Betrofenen, etwa wenn die Einbrüche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nachts erfolgen. Das verursacht nicht nur Unsicherheit und bei der LINKEN – Dr. Jan-Marco Luczak bei denjenigen, bei denen eingebrochen wurde, sondern [CDU/CSU]: Es entscheidet aber auch ein auch bei allen in der Nachbarschaft, bei Freunden und Stück weit der Gesetzgeber, was für eine Stra- Verwandten – wir kennen das. fe angemessen ist! Das nennt sich Gewalten- (B) Lieber Herr Ströbele, ich habe festgestellt: Wir haben (D) teilung, Herr Kollege!) eine große Gemeinsamkeit bei dem, was wir alles tun Wir vertrauen den Richtern, dass sie in jedem Einzelfall wollen. Wir, die Koalition, haben uns im Koalitionsver- zu einem gerechten Urteil kommen, das der Tat angemes- trag darauf verständigt, den Schutz vor Wohnungseinbrü- sen ist. chen zu verbessern, und wir tun das. Ich zähle mal sechs Maßnahmen auf; denn wir machen nicht nur etwas beim Insofern sage ich Ihnen: Hören Sie mit diesem Miss- Strafrecht, trauen auf, das sich darin ausdrückt, dass Sie den Richtern jede Einzelheit vorschreiben wollen. Geben Sie ihnen (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ge- einen weiten Entscheidungsrahmen vor. Damit können nau!) Sie die Bürgerinnen und Bürger wirksam schützen, wenn sondern wir machen noch ganz viel mehr. Sie zugleich all das berücksichtigen, was im Bereich der Prävention bitter notwendig ist, was im Hinblick auf eine Das Erste ist – das ist ganz wichtig – die Aufklärung. bessere Ausstattung der Polizei dringend notwendig ist. Denn dies ist das große Problem bei Wohnungseinbrü- Wenn Sie da etwas tun, haben Sie uns an Ihrer Seite – chen: Wir haben eine viel zu niedrige Aufklärungsquote von nur 17 Prozent. Das heißt vor allen Dingen, wir brau- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das chen mehr Polizei. eine tun, das andere nicht lassen!) gemeinsam im Kampf gegen Einbruchsdiebstähle in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschland. der CDU/CSU sowie des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Da sind die Länder gefordert – das wissen wir –; wir sind aber auch im Gespräch mit unseren Kolleginnen und Kollegen auf der Landesebene. Die Polizei muss vor Ort Präsident Dr. Norbert Lammert: sein Eva Högl hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN]: Auf dem Fahrrad und zu Fuß!) und die Straftaten schnellstmöglich aufklären. Dr. Eva Högl (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Zweitens wissen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, Kollegen! Einen schönen guten Morgen! Ich beginne mit dass es ganz häufg keine Einzeltäter sind, keine Beschaf- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23841

Dr. Eva Högl (A) fungskriminalität ist, sondern international operierende Was wir nicht geschaft haben, was wir aber angehen (C) Banden. müssen, Herr Ströbele, ist genau das, was Sie erwähnt haben: die Landesbauordnung. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber dann brauchen wir das (Beifall des Abg. Volker Kauder [CDU/ Gesetz nicht!) CSU])

Deswegen haben wir uns dafür engagiert, dass die Koor- Ja, das war auch unser Bestreben: Wir wollen die Lan- dinierungsstelle im BKA, die für die Verfolgung genau desbauordnung so überarbeiten, dass die entsprechen- dieser Straftaten zuständig ist, signifkant besser aufge- den Maßnahmen schon im Vorhinein, nämlich wenn die stellt wird und dort mehr Personal angesiedelt wird. Gebäude gebaut werden, als Vorschrift für Sicherheit in die Bauordnung eingefügt werden. Wir nehmen uns für (Beifall bei der SPD) die nächste Legislaturperiode vor, mit unseren Kollegen noch einmal darüber zu sprechen. Die dritte Maßnahme, liebe Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der SPD) gen – auch das ist eine Sache der Länder, aber da müssen wir uns auf Bundesebene engagieren und die Länder un- Der sechste und letzte Punkt, über den wir heute dis- terstützen –: Die Justiz muss deutlich besser ausgestattet kutieren, betrift das Strafrecht. Ja, liebe Kolleginnen und werden. Das gilt für die Staatsanwaltschaften und für die Kollegen, das gehört auch dazu. Es geht hier nicht um Strafgerichte. Wir wissen mittlerweile, dass die Justiz Symbolik, sondern wir sagen ganz deutlich: Wohnungs- ganz häufg ein Nadelöhr ist: Die Polizei ermittelt, und einbruchdiebstahl muss hart bestraft werden. Deswegen dann bleiben die Sachen liegen. Deswegen brauchen wir legen wir heute den Gesetzentwurf vor. Wir wollen den eine deutlich besser ausgestattete Justiz, Tatbestand, wenn in eine dauerhaft genutzte Wohnung eingebrochen wird, zum Verbrechen hochstufen und die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ermittlungsmöglichkeiten der Polizei verbessern. der CDU/CSU) Es ist ein gutes Paket, das die Koalition vorgelegt hat. damit die Straftaten sofort angeklagt und dann auch be- Ich würde mich sehr freuen, wenn wir hier im Bundestag straft werden können. eine möglichst breite Unterstützung haben und im nächs- ten Jahr sagen können: Die Zahl der Wohnungseinbrüche Jetzt komme ich zu einem ganz wichtigen Punkt – ist noch einmal um 10 Prozent gesunken. Punkt vier –: die Prävention. Das wissen wir alle: Prä- vention ist das Allerwichtigste, und da müssen wir noch Herzlichen Dank. (B) (D) viel mehr tun. Wenn wir in der Polizeilichen Kriminal- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) statistik lesen, dass 40 Prozent der Wohnungseinbrüche im Versuchsstadium stecken bleiben – in 40 Prozent der 150 000 Fälle handelt es sich um Einbruchsversuche –, Präsident Dr. Norbert Lammert: dann wissen wir, dass wir mehr für Prävention machen Das Wort erhält nun der Kollege Jan-Marco Luczak müssen. für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- (Beifall bei der CDU/CSU) Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Wenn wir bei der Polizei unterwegs sind und uns vor Ort Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und unterhalten, dann sagen uns ganz viele Polizistinnen und Kollegen! Ich habe neun Minuten Redezeit. Polizisten: Wir haben für Prävention zu wenig Zeit, wir (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh Gott! Neun können da nicht genügend in den Kiezen unterwegs sein. Minuten!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE In diesen neun Minuten wird irgendwo in unserem Land GRÜNEN]: Und Veranstaltungen machen! – dreimal eingebrochen. Wir debattieren hier 60 Minuten Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/ lang über das Thema Wohnungseinbruchdiebstahl. In CSU]: Um eure Demos zu schützen, brauchen diesen 60 Minuten, in dieser einen einzigen Stunde, wird wir die Polizei!) fast 20‑mal irgendwo in Deutschland in eine Privatwoh- nung eingebrochen. Alle dreieinhalb Minuten passiert in Der fünfte Punkt ist – Herr Ströbele, da sind wir einer Deutschland ein Einbruch. Wir haben es gehört: 2016 Meinung – das Thema Eigensicherung. Wir als Koaliti- gab es in Deutschland 150 000 Einbrüche. on haben 50 Millionen Euro für das KfW-Programm zur Verfügung gestellt, wir haben die Schwellen gesenkt, und Der Wohnungseinbruchdiebstahl ist ein Massenphä- wir haben die Bürgerinnen und Bürger dabei unterstützt, nomen. An vielen Orten geht es überhaupt nicht mehr dass sie sich besser selber sichern können, und zwar Mie- darum, ob eingebrochen wird, sondern es ist nur noch terinnen und Mieter genauso wie Eigentümerinnen und die Frage, wann eingebrochen wird. Wir als Union sagen: Eigentümer. Das ist nicht akzeptabel, da müssen wir ran. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Menschen in ihren eigenen (Beifall bei der SPD) vier Wänden, in ihrem Zuhause, in das sie sich zurück- 23842 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Dr. Jan-Marco Luczak (A) ziehen wollen, sicher fühlen. Der Staat und damit wir als Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Gesetzgeber sind in der Pficht, das zu gewährleisten. Herr Kollege Luczak, darf der Kollege Ströbele eine Zwischenfrage stellen? (Beifall bei der CDU/CSU)

Ja, es besteht großer Handlungsbedarf. Dabei geht es Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): uns gar nicht so sehr um die materiellen Schäden, obwohl Selbstverständlich. Sehr gerne. die materiellen Schäden sehr hoch sind; damit wir uns nicht missverstehen. Jahr für Jahr werden durch Einbrü- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- che Schäden in Höhe von 400 Millionen Euro verursacht. Hans-Christian Ströbele NEN): Das ist schlimm genug. Für manche Opfer ist es sogar existenzbedrohend, gerade wenn sie zum Beispiel nicht Ich will mich mit Ihnen zusammentun. Ich will gar versichert sind. nichts Böses – diesmal. (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜND- Aber viel schlimmer als die materiellen Schäden ist, NISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der dass die Opfer durch den Einbruch oftmals traumatisiert CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: werden. Es ist ein tiefer Eingrif in die Privatsphäre, ein „Diesmal“! – Michael Grosse-Brömer [CDU/ tiefer Eingrif in die Intimsphäre. Man muss sich das CSU]: Ausnahmsweise!) vorstellen: Da werden Schränke durchsucht, etwa die Unterwäsche wird durchwühlt, und persönliche Gegen- Herr Kollege, wir alle sind für Prävention. Das ers- stände werden zerstört. Manche Opfer müssen sogar ihre te Problem ist, dass viele Bürgerinnen und Bürger nicht Wohnung wechseln, weil sie sagen: Hier fühle ich mich wissen, was man damit erreichen kann. Sie haben zu einfach nicht mehr zu Hause. Ich fühle mich hier nicht Recht auf die 40 Prozent der Fälle hingewiesen, die im mehr sicher. Ich traue mich nicht mehr, abends schlafen Versuchsstadium stecken blieben. Das zweite Problem zu gehen. – Diese gravierenden psychologischen Folgen ist, dass viele häufg das Geld dafür nicht haben, weil des Eindringens in die Privat- und Intimsphäre sind nicht Prävention viel Geld kostet. etwas Abstraktes, sondern etwas ganz Konkretes. Lassen Sie mich das an einem Beispiel festmachen. Wir alle haben in den nächsten Monaten viele Wahl- veranstaltungen. Können wir uns vielleicht darauf ver- Bei meinem Nachbarn ist schon fünfmal eingebrochen ständigen, dass wir auf jeder unserer Wahlveranstal- worden. Fünfmal! Jetzt kann man sich vorstellen, wie er tungen fünf Minuten lang die Bürgerinnen und Bürger sich fühlt, vor allen Dingen, wie seine Frau sich fühlt. Er informieren? Anstatt sie in Angst und Schrecken zu ver- überlegt ernsthaft, ob er sein Haus verkauft und irgendwo setzen, indem wir ihnen sagen: „Alle Einbrecher kom- (B) anders hinzieht. Er hat schon alles aufgerüstet, was nur men jetzt mindestens ein Jahr ins Gefängnis“, was ja (D) möglich ist: eine Alarmanlage usw. Trotzdem wird im- nicht stimmt, könnten wir stattdessen sagen: Liebe Bür- mer wieder eingebrochen. Er hat Angst. Wir alle kennen gerinnen und Bürger, ihr könnt die und die Maßnahmen das aus unserem Bekannten- und Freundeskreis. trefen, und wenn ihr das nicht alleine bezahlen könnt, weil ihr vielleicht Geringverdiener seid, dann könnt ihr Wir als Union sagen: Wir müssen Einbrüche verhin- euch an die und die Stelle, die und die Telefonnummer dern. Ich fnde es zynisch, wenn hier gesagt wird: Na ja, wenden, um Geld dafür zu bekommen. – Machen wir das wir haben doch jetzt 10 Prozent weniger Einbrüche. – doch einmal gemeinsam. Jeder Einbruch ist einer zu viel. Hinter jeder Zahl steht doch ein Mensch, steht ein Schicksal. Deswegen müssen (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dafür verteilen wir die Zahlen deutlich senken. wir sogar Flugblätter!)

(Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Um das zu erreichen, brauchen wir in der Tat einen Lieber Kollege Ströbele, ich weiß nicht, wie Sie Ihre Dreiklang: Wir brauchen eine bessere personelle und Wahlkreisarbeit machen. Ich jedenfalls habe genau das materielle Ausstattung von Polizei und Justiz, um Ein- im Rahmen meiner Wahlkreisarbeit schon gemacht. Ich brecher efektiver verfolgen zu können. Natürlich brau- habe gemeinsam mit dem Landeskriminalamt, mit der chen wir auch Abschreckung durch härtere Strafen. Wir örtlichen Polizeidirektion und mit dem Grundeigentü- müssen den Strafermittlungsbehörden mehr Befugnisse merverband zusammen zu einer Veranstaltung einge- geben. Schließlich müssen wir mehr für Prävention tun, laden, in der ich auf die Möglichkeiten zum Einbruch- um Einbrüche zu verhindern. schutz hingewiesen habe. Diese Veranstaltung war sehr gut besucht und ist sehr gut angekommen. Gerade der letzte Punkt – das ist angesprochen wor- Ich will ein Weiteres sagen: Natürlich wollen die Leu- den – hat in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung te wissen, wo sie etwas machen können. Wir als Staat gewonnen. Der Anteil der vollendeten Einbruchsfälle ist machen ja eine ganze Menge. Wir haben das staatliche glücklicherweise gesunken. Fast die Hälfte aller Einbrü- Zuschussprogramm, die Förderung über die KfW, erheb- che bleibt mittlerweile im Versuchsstadium stecken. Da lich aufgestockt und die Schwelle für Zuschüsse gesenkt. greifen die mechanischen Sicherungen, da sind die Türen und die Fenster gesichert. Die Einbrecher, die natürlich (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Angst haben, entdeckt zu werden, wenn es zu lange dau- GRÜNEN]: Es ist kein Geld mehr da! – Sven- ert, kommen dann nicht rein. Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23843

Dr. Jan-Marco Luczak (A) NEN]: Das läuft jetzt aus! Die Zuschüsse sind fen in der Regel am unteren Ende des Strafmaßes ange- (C) im September alle! Das ist Teil des Problems!) siedelt sind, dann müssen wir als Gesetzgeber reagieren.

Wir haben also wirklich sehr viel gemacht. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also doch Misstrauen!) Die Leute wollen aber wissen: Was macht der Staat darüber hinaus? Die wollen doch auch wissen, dass die Das hat etwas mit Gewaltenteilung zu tun. Wir als Ge- Einbrecher hinter Schloss und Riegel gebracht werden. setzgeber sagen, was wir als besonders strafwürdig anse- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE hen. Wir in der Union und der Koalition sagen gemein- GRÜNEN]: Das stimmt ja nicht!) sam: Wohnungseinbruchdiebstahl ist ein Verbrechen; das müssen wir härter bestrafen. Deswegen müssen wir beides tun: Prävention einerseits; andererseits müssen wir uns aber auch den Strafrahmen (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele anschauen. Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass wir genau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) das tun, lieber Herr Kollege. Herr Ströbele, Sie haben gesagt, das alles würde nicht (Beifall bei der CDU/CSU) helfen, davon würde niemand abgeschreckt. In einer Strafrechtsvorlesung im ersten Semester habe ich beim Das Zuschussprogramm, das ich genannt habe, wirkt. Thema Strafzwecke gehört – das ist schon ein paar Tage Das ist vernünftig, und das müssen wir auch fortführen. her; ich kann mich aber noch ganz gut daran erinnern –, Ich will aber auch sagen: Wir dürfen uns als Staat selbst- dass es auch so etwas wie eine negative Generalpräven- verständlich nicht aus der Verantwortung stehlen. Es tion gibt. Dabei geht es um Fragen der Abschreckung. kann nicht angehen, dass wir nur sagen: Liebe Bürger, Auch wenn Sie mir an dieser Stelle nicht folgen wollen, nehmt mal Geld in die Hand, wir bezuschussen das zwar, dann müssen Sie doch wenigstens sehen – Sie sind ein aber letztlich müsst ihr eure Wohnung selbst sichern. Da- guter Jurist, Herr Kollege, Sie wissen das doch –, dass für seid ihr verantwortlich. – Das geht nicht. es ganz konkrete weitere Konsequenzen hat, wenn wir den Wohnungseinbruchdiebstahl zu einem Verbrechen Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir auch die ande- hochstufen. ren beiden Punkte aus dem Dreiklang angehen. Wir müs- sen zum einen die personelle und materielle Ausstattung Das führt nämlich zum Beispiel dazu, dass schon die von Polizei und Justiz – da ist vieles Ländersache – ver- Verabredung zu einem Wohnungseinbruchdiebstahl oder bessern. Da haben wir als Bund eine ganze Menge ge- die versuchte Anstiftung zukünftig strafbar ist. Das ist macht. Wir haben unsere Sicherheitsbehörden personell (B) vorher nicht der Fall gewesen. Eine solche Hochstufung (D) viel besser ausgestattet. Wir haben einen enormen Auf- hat auch ganz konkrete strafprozessuale Auswirkungen. wuchs an Stellen, auch um die organisierte Kriminalität Zukünftig wird es nicht mehr möglich sein, ein solches bekämpfen zu können. Strafermittlungsverfahren mit einem Strafbefehl zu be- Zum anderen müssen wir uns aber auch – jetzt kom- enden oder wegen Geringfügigkeit einzustellen, weil es men wir zu dem Gesetzentwurf – den strafrechtlichen sich um einen Verbrechenstatbestand handelt. Das sind Regelungsrahmen angucken. Wir müssen die Täter ab- ganz konkrete Auswirkungen der Höherstufung zu einem schrecken und die Ermittlungsbefugnisse ausbauen. Wir Verbrechen. Wir sagen: Ja, hier ertüchtigen wir die Straf- als Union wollen – das haben wir hier schon gehört – den justiz, mehr machen zu können. Deswegen ist es richtig, Wohnungseinbruch, der momentan ein bloßes Vergehen dass wir zukünftig Wohnungseinbruchdiebstahl als Ver- mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten ist und bei brechen bestrafen. dem es auch einen minderschweren Fall gibt, angesichts (Beifall bei der CDU/CSU) der gravierenden Folgen, die ein Wohnungseinbruch für die Opfer hat, als das bestrafen, was es wirklich ist, näm- Natürlich geht es hier auch um Ermittlungsbefugnisse. lich als Verbrechen; denn eine Bestrafung als Vergehen Der beste Fall ist immer noch, dass der Einbruch über- ist dem Unrechtsgehalt dieser Taten nicht angemessen. haupt nicht stattfndet. Deswegen müssen wir uns genau Deswegen erhöhen wir den Strafrahmen auf eine Frei- anschauen, wie die Taten begangen werden. Wir stellen heitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Es wird fest: Natürlich sind es Einzeltäter, gegen die wir hier vor- keinen minderschweren Fall mehr geben. gehen müssen, aber es sind auch vielfach Täter aus der Das machen wir auch, weil wir als Gesetzgeber ein organisierten Kriminalität. Diese werden immer etwas deutliches Signal an die Strafjustiz aussenden wollen, beschönigend als „mobile Tätergruppen“ bezeichnet, Wohnungseinbrüche zukünftig generell härter zu be- tatsächlich sind das fahrende Einbrecherbanden, die auf strafen. Lieber Kollege Ströbele, das hat überhaupt gar Diebeszüge gehen und oftmals ganze Straßenzüge aus- nichts mit Misstrauen gegenüber der Strafjustiz zu tun, rauben. Die Objekte werden vorher observiert, es wird überhaupt nichts. geschaut, wann die Bewohner nicht da sind. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!) GRÜNEN]: Das ist Bandenkriminalität!) Aber wir sehen uns natürlich die Verurteilungen und den Da müssen wir ran. Wir müssen die organisierten Struk- Strafrahmen an, und wenn wir feststellen, dass die Stra- turen aufdecken. 23844 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Dr. Jan-Marco Luczak (A) Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir an die gespei- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) cherten Telekommunikationsdaten herankommen. Nächster Redner ist der Kollege Johannes Fechner für (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ge- die SPD-Fraktion. nau!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mit diesem Gesetz wollen wir den Katalog in § 100g der CDU/CSU) StPO anpassen und den Wohnungseinbruchdiebstahl ausdrücklich in diesen Katalog aufnehmen. Das wird Dr. Johannes Fechner (SPD): zukünftig dazu beitragen, die Aufklärungsquote zu er- höhen. Die Aufklärungsquote liegt momentan bei etwas Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! über 16 Prozent. Das ist viel zu wenig. Das müssen wir Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Auch ich will ändern. Wir müssen das Risiko, entdeckt zu werden, für aus der Polizeilichen Kriminalstatistik zitieren. Wir ha- die Täter erhöhen. Dann werden sich viele überlegen, ob ben uns gefreut, dass die Zahl der Einbrüche um 10 Pro- sie zukünftig noch einbrechen. Das machen wir genau zent zurückgegangen ist. Aber es kam noch immer zu mit diesem Gesetz. 150 000 Einbrüchen im Jahr 2016. Das ist zu viel, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Bürgerinnen und Bürger (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fordern zu Recht vom Staat mehr Schutz vor Wohnungs- einbrüchen. Deshalb ist es für uns ein ganz wichtiges Zukünftig wird – das Thema ist hier schon angespro- Anliegen, die Wohnungseinbrüche zu bekämpfen, damit chen worden – Funkzellenüberwachung möglich sein. sich die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sicherer Wir werden zukünftig auch auf die Standortdaten zu- fühlen. rückgreifen können. (Beifall bei der SPD) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber nur, wenn der Täter ein Dazu gehört zunächst, dafür zu sorgen, dass gerade Handy hat!) auch im ländlichen Raum mehr Polizeipräsenz stattfn- det. In meinem Heimatland Baden-Württemberg ist das Hier bekommt die Polizei, hier bekommen die Staatsan- leider oft nicht der Fall. Da haben wir gerade in der Flä- waltschaften mehr Mittel in der Hand, um die Sicherheit che zu wenige Polizeistellen und deshalb zu wenig Poli- der Bürger zu gewährleisten. Das ist also völlig richtig. zeipräsenz, Ich glaube, dass mit diesem Gesetz insgesamt ein (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wer ist denn (B) richtiger Ansatz verfolgt wird. Wir machen etwas beim dort Innenminister?) (D) Strafrahmen, wir machen etwas für die Abschreckung, wir verbessern die strafprozessualen Möglichkeiten und und das gerade an den Wochenenden und in den Abend- geben Polizei und Justiz das Rüstzeug, Täter tatsächlich stunden, also genau zu den Zeiten, zu denen die Einbrü- zu überführen. che stattfnden. Da müssen wir für mehr Polizeipräsenz sorgen. Das ist eine wichtige Aufgabe für alle Bundes- Was wir im parlamentarischen Verfahren tun müssen, länder. Daraus sollten wir keine Wahlkampfnummer ma- ist in der Tat, Wertungswidersprüche, die es noch gibt, chen. aufzulösen. Ich denke zum Beispiel an den Bandendieb- stahl. Hier wäre bei Einbruchdiebstahl die Einstufung als (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten minderschwerer Fall möglich. Da klaft in der Tat etwas der CDU/CSU und des Abg. Frank Tempel auseinander, wenn wir sagen, bei Einzeltätern zählt das [DIE LINKE]) nicht als minderschwerer Fall, beim Bandendiebstahl aber schon. Das passt nicht zusammen. Wir müssen natürlich vor allem auf Prävention setzen. Es ist belegt, dass Einbrecher von ihrem Einbruchsver- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE such ablassen, wenn sie nicht innerhalb einer halben Mi- GRÜNEN]: Dilettantismus!) nute in die Wohnung gelangen. Deshalb ist es entschei- dend, dass wir das Förderprogramm, das wir bei der KfW Auch beim Bandendiebstahl darf es in der logischen aufgelegt haben, noch weiter ausbauen. Konsequenz keinen minderschweren Fall geben. Dahin müssen wir kommen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber da ist nichts drin!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir können uns hier nicht aus der Verantwortung steh- Das werden wir im parlamentarischen Verfahren machen. len und sagen: Die Bürger sollen alleine für die Sicher- heit sorgen. Wir sollten Einbruchschutz also fördern. Ich Wir als Union sind auf der Seite der Bürger, wenn es fnde, wir sollten den Zuschuss von 10 Prozent der In- um ihre Sicherheit geht. Dafür werden wir in den kom- vestitionssumme auf 20 Prozent erhöhen. Dann können menden Wochen sorgen. auch Mieter, dann können auch Geringverdiener, also der Vielen Dank. Personenkreis, den Sie, Kollege Tempel, angesprochen haben, für ihre Sicherheit sorgen. Alle Bürger haben ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Recht auf Sicherheit. Deswegen sollten wir durch dieses ordneten der SPD) Förderprogramm dafür sorgen, dass alle Bürger diesen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23845

Dr. Johannes Fechner (A) Zuschuss erhalten, und zwar mindestens 20 Prozent der Wir erhöhen mit diesem Gesetzentwurf den Mindest- (C) Investitionssumme. strafrahmen für Wohnungseinbruchdiebstahl auf ein Jahr. Wir schafen auch den minderschweren Fall ab. Das sind (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ohne Zweifel drastische Strafverschärfungen. Ich glaube, der CDU/CSU und des Abg. Frank Tempel wir brauchen sie, um die hohe Zahl der Wohnungsein- [DIE LINKE]) brüche zu senken. Solche Strafen werden abschrecken An dieser Stelle einen großen Dank an die Kreditan- und dazu beitragen, dass es weniger Wohnungseinbrüche stalt für Wiederaufbau, die dieses Programm hervorra- gibt. gend umsetzt. Herr Kollege Ströbele, zu der Informa- tionsveranstaltung in meinem Wahlkreis ist sogar ein Ich komme zum Schluss. Uns in der SPD-Fraktion ist Mitarbeiter der KfW gekommen. Das hing, nebenbei es wichtig, dass wir die Sorgen der Bürger hinsichtlich gesagt, vielleicht auch damit zusammen, dass bei dem Kriminalität ernst nehmen, dass wir handeln und dass wir zuständigen Abteilungsleiter der KfW im April zweimal efektiv genau die Maßnahmen ergreifen, die tatsächlich eingebrochen wurde. Also auch vor diesem Hintergrund gegen Wohnungseinbruch helfen. Wir sollten deshalb ist die KfW bei diesem Thema sehr engagiert. Daher diesem Gesetzentwurf zustimmen und auch dafür sorgen, spreche ich ihr an dieser Stelle ein Lob aus. dass wir die Mittel für das Zuschussprogramm bei der KfW erhöhen. Ich bin gespannt, ob die Union die Mittel (Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Sven- bewilligen wird. Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Vielen Dank. Dass die Prävention funktioniert, zeigt die Entwick- lung bei den Autodiebstählen. Es gab im Jahre 1993 über (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 100 000 Autodiebstähle und Einbrüche in Autos. Diese der CDU/CSU) Zahl hat sich auf 19 000 im letzten Jahr reduziert. Das zeigt, dass sich die Investitionen der Autoindustrie in Präsident Dr. Norbert Lammert: bessere Sicherungstechniken, also Wegfahrsperren, bes- sere Schlösser usw., gelohnt haben. Die entscheidende Letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt ist der Stellschraube, um Einbrüche zu verhindern, ist die Prä- Kollege Patrick Sensburg für die CDU/CSU-Fraktion. vention. Daher sollten wir die besten Mechanismen zum Einbruchschutz fördern. (Beifall bei der CDU/CSU)

(B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Ich will hier ausdrücklich festhalten, dass mir alle Polizeibeamten, mit denen ich über die Täterkreise ge- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- sprochen habe, bestätigt haben, dass Asylbewerber oder ren! Ich glaube, wir in diesem Haus sind uns einig, dass Flüchtlinge in den seltensten Fällen die Täter sind. Das die Situation bei Einbrüchen in private Wohnungen in macht es nicht besser, das macht die Einbrüche selbstver- Deutschland einen Grad erreicht hat, der nicht mehr ak- ständlich nicht ungeschehen. Aber die Tatsache, dass es zeptabel ist. überwiegend osteuropäische Banden sind und eben nicht Flüchtlinge, möchte ich hier ausdrücklich festhalten. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nie akzeptabel war!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE]) Wir als CDU/CSU wollen zusammen mit der SPD, aber Diese leider noch hohe Zahl an Wohnungseinbrüchen auch mit der Bundesregierung etwas dagegen machen, geht nicht auf das Konto von Flüchtlingen und Asylbe- und wir machen auch etwas. werbern. Während ich die Debatte heute verfolgt habe, meine Sie sehen also: Wir haben eine ganze Menge gegen Damen und Herren der Linken und der Grünen, wurde Wohnungseinbrüche getan. Das müssen wir auch; denn mir klar: Sie machen nichts. Sie machen einen Abwehr- die Einbrüche traumatisieren die Opfer. Oft ist es nicht kampf. Sie ignorieren diese Situation. Sie tun nichts. Sie der Verlust von Geld oder von Gegenständen, was die wollen sich auch nicht daran beteiligen, etwas zu tun. Sie Opfer am meisten belastet, sondern das Gefühl der Un- diskutieren nur. Es kann nicht sein, dass man Menschen sicherheit, das Gefühl, dass jemand in die eigenen vier in dieser Situation alleine lässt. Es ist ein trauriges Bild, Wände, in die Intimsphäre eingedrungen ist. dass Sie sich überhaupt nicht an der Diskussion positiv Angesichts der Tatsache, dass nicht einmal 20 Prozent beteiligen. der Einbrüche aufgeklärt werden, fnde ich es richtig, dass wir mit Regelungen auch im Strafgesetzbuch und in (Beifall bei der CDU/CSU – Sven-Christian der Strafprozessordnung Maßnahmen gegen Wohnungs- Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: einbrüche ergreifen. Sie haben überhaupt nicht zugehört, Herr Sensburg! Das sind Nebelkerzen!) (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Ich lege Ihnen das gleich dar. 23846 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Dr. Patrick Sensburg (A) Wir machen einen Dreiklang. Als Erstes stärken wir Ich freue mich übrigens, dass beim Thema Quellen-TKÜ (C) die Polizei vor Ort, und zwar mit den richtigen Instru- ein weiterer Fortschritt erreicht werden konnte. Ich fnde, menten. Das ist wichtig. dass wir zur Bekämpfung der Kriminalität in Zeiten mo- derner Kommunikationsmittel gute Schritte gehen. Das (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE machen wir, und das machen wir auch, damit sich Bür- GRÜNEN]: Ja! Das hat Herr Ströbele schon gerinnen und Bürger in ihren Wohnungen wieder sicher gesagt!) fühlen können. Der zweite Punkt ist Prävention. Wir stärken die Men- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian schen dabei, etwas zu tun, sodass sie ihre privaten Woh- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie nungen sichern können. wollen Symbolpolitik!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Drittens, das Strafrecht. Wir stellen fest, dass sich GRÜNEN]: Können sie nicht! Sie haben kein die Art und Weise der Deliktausführung massiv verän- Geld!) dert hat. Ich glaube, Sie gehen noch von dem Bild des Der dritte Punkt ist: Wir verändern auch das Strafrecht. Ede aus, der mit seinem Rucksack um die Wohnungen Es muss ein klares Zeichen geben: Angesichts der schleicht und fast ehrenvoll versucht, einzubrechen. Vielzahl dieser Delikte und der Tatsache, dass sich die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ausführung dieser Taten verändert hat, muss man im GRÜNEN]: Quatsch!) Strafrecht die richtigen Werte hinsichtlich der Höhe des Strafrahmens einziehen. Es muss auch die Konsequenzen Schauen Sie sich doch einmal die Deliktausführung an – geben, die Kollege Luczak, glaube ich, gerade sehr prä- Herr Tempel, Sie müssten es doch wissen –: Mit hoher zise ausgeführt hat. Brutalität, mit hoher Gewalt wird in Wohnungen einge- drungen. Wenn die Bewohner nachts zu Hause sind und (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE aufwachen, dann wird massiv gegen sie vorgegangen. GRÜNEN]: Fünf Jahre!) (Frank Tempel [DIE LINKE]: Es gibt sehr Kommen wir zum ersten Punkt: Stärkung der Mög- verschiedene Vorgehensweisen!) lichkeiten, die die Bürgerinnen und Bürger haben. Es ist richtig und gut, dass wir bei der KfW mehr Geld einstel- Wenn sich dann jemand in der Wohnung später nicht len, damit die Bürgerinnen und Bürger ihre Wohnungen mehr wohlfühlt, dann kann man das wohl verstehen. sichern können. Da ist noch viel möglich. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Nicht nur Kri- (B) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE mis gucken, auch einmal in die Praxis schau- (D) GRÜNEN]: Höchstens 20 Prozent!) en!) Das werden wir gemeinsam machen. Es wäre schön, Wer angesichts dessen, dass sich die Ausführung der De- wenn Sie wenigstens das unterstützen würden. likte so verändert hat, am Strafmaß nichts ändern will, der schützt nicht die Bürger, der macht die Augen zu vor Der zweite Punkt ist: Wir möchten, dass die Polizei denjenigen, die von diesen Straftaten hart betrofen sind. vor Ort präsent ist und die nötigen Mittel hat. Wenn Sie, Herr Tempel, Sie rufen gerade so vehement dazwi- Herr Ströbele, diese Aufassung teilen, dann wundert es schen. Zu Ihrem Fall mit dem Rentner: Sie können ja mich, dass Sie in der Debatte zum Schutz von Vollstre- gerne über alle Themen diskutieren, auch über die Leis- ckungsbeamten argumentiert haben, das brauche man tungen für Pensionäre und Rentner. Das ist aber nicht Ge- gar nicht. Die Kollegin Mihalic hat damals gesagt, die genstand der jetzigen Debatte. Dass Sie für den Rentner Diskussion sei überfüssig. Sie wollen Polizeibeamte vor nichts tun wollen, wenn in seine Wohnung eingebrochen Ort nicht schützen. Ihre Argumentation an dieser Stelle wird, ist schändlich. Dass Sie ihn alleine lassen und im ist verlogen und falsch! Grunde nichts tun wollen, ist traurig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso wollen wir die nicht schüt- Wir tun etwas. Wir wollen, dass die Menschen in un- zen?) serem Land geschützt werden. Deswegen dieser richtige Dreiklang: erstens Polizei stärken, mit Präsenz vor Ort Jetzt geht es um die Instrumente. Natürlich ist es rich- und den notwendigen Mitteln, zweitens Sicherung der tig, dass wir in einer vernetzten Welt mit immer mehr eigenen Wohnung, dafür Fördermittel bereitstellen, und Banden, die organisiert in Wohnungen einbrechen, die drittens im Strafrecht den Strafrahmen erhöhen. Das ist Güter verschieben, teilweise ins Ausland, schauen müs- ein Zeichen in die Gesellschaft, dass wir etwas tun, und sen, wie die Kommunikation läuft. Deswegen ist es gut, ein Zeichen für diejenigen, die Straftaten begehen, dass dass sich der Justizminister nicht nur für die Vorratsda- wir es ihnen nicht durchgehen lassen. Wohnungseinbrü- tenspeicherung eingesetzt hat, sondern sich auch für die che sind für uns ein No-Go. Deswegen tun wir etwas. Erfassung und retrograde Recherche dieser Daten ein- Unterstützen Sie uns doch wenigstens ein bisschen dabei. setzt. Danke schön. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber reden wir jetzt gar nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23847

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: nung, mit den Menschen an der Theke –, wie sie über (C) Nun möchte der Kollege Tempel eine Kurzinterventi- das Thema Einbruchsdiebstähle denken. An erster Stelle on machen. – Bitte schön. wird ein höheres Strafmaß gefordert und gesagt: Lasst es denen so nicht durchgehen. An zweiter Stelle wird ge- sagt: Helft uns dabei, unsere Wohnungen zu sichern. Frank Tempel (DIE LINKE): Dem Kollegen ist ofensichtlich ein Irrtum unterlau- Wenn Sie in den Gesetzentwurf schauen, dann sehen fen; vielleicht ist er während meiner Rede etwas einge- Sie, dass von diesem Gesetzentwurf und der Förderung nickt. Er sagte, dass wir nichts für den Rentner tun wol- über die KfW genau diejenigen proftieren, die ein gerin- len, der Angst vor Einbrüchen hat. Ich habe im zweiten ges Einkommen haben, eben nicht in den Luxusgegen- Teil meiner Rede – ungefähr bei Minute vier, fünf, wenn den leben und ihre Wohnungen sichern wollen. Sie nachlesen wollen – gesagt, dass es von der Bevölke- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE rung wahrgenommen wird, wenn die Polizeidichte deut- GRÜNEN]: 20 Prozent!) lich zurückgeht, und dass das das Unsicherheitsgefühl deutlich erhöht. Auch dass die Polizei häufg zu spät vor Unterstützen Sie also unseren Gesetzentwurf! Genau das, Ort ist, kam in meiner Rede vor. Das ist für den Rentner was Sie fordern, steht darin. in meiner Region, bei dem eh nicht viel zu holen ist, der Ich glaube, es ist ein guter Gesetzentwurf. Wenn Sie aber selbstverständlich Angst vor Wohnungseinbrüchen das, was Sie gerade gesagt haben, wirklich ernst meinen, hat, sehr problematisch. Er kann nicht in einer Luxus- dann können Sie in den Beratungen ja zustimmen. wohngegend leben, wo man sich private Sicherheits- dienste leisten kann. Er ist tatsächlich darauf angewiesen, Danke schön. dass die Polizei rechtzeitig vor Ort ist. Das habe ich in meiner Rede ausgeführt. (Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte Herrn Sensburg noch auf Folgendes hin- Präsident Dr. Norbert Lammert: weisen: Zu wenig Polizeidichte ist für den Bürger ein Für die Klärung der ofenkundig noch bestehenden Problem. Wenn in einer Region, in einem Landkreis Meinungsverschiedenheiten besteht ja jede Gelegenheit, nachts nur noch drei Streifenwagen unterwegs sind, wo- wenn nun beschlossen wird, diesen Gesetzentwurf auf von ein Auto zu einem Unfall und ein anderes bei einer dem üblichen Wege im Ausschussverfahren weiter zu Familienstreitigkeit ist, weil jemand seine Frau schlägt, beraten. Von den Fraktionen wird die Überweisung des dann sind fast alle Streifenwagen im Einsatz. Das ist ge- Gesetzentwurfs auf der Drucksache 18/12359 an die in rade für den Rentner in meiner Region ein Problem. Das der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- war Bestandteil meiner Rede. Wir haben lediglich ein (B) gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. (D) Mittel stark angegrifen, nämlich das Mittel der Strafver- Dann ist die Überweisung so beschlossen. schärfung. Ansonsten habe ich mehrere Stellschrauben benannt, an denen man tatsächlich zur Bekämpfung von Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 38 a und 38 b Einbruchskriminalität drehen kann. Da ist die CDU bei auf: weitem nicht alleine. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- NIS 90/DIE GRÜNEN) setzes zur Verbesserung der Rechtsdurchset- zung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurch- Präsident Dr. Norbert Lammert: setzungsgesetz – NetzDG) Kurze Erwiderung, Herr Kollege Sensburg. Drucksache 18/12356 Überweisungsvorschlag: Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Erster Punkt. Ganz herzlichen Dank für den Hinweis. Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Hier sind wir uns sogar einig: Die Polizeidichte vor Ort Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend muss gesteigert werden. Genau die gleiche Situation wie Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Sie erlebe auch ich in meinem Wahlkreis. Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ Ich möchte es auch noch einmal betonen: Es ist schön, abschätzung dass Sie von den Linken eine höhere Polizeidichte, also Ausschuss für Kultur und Medien mehr Polizei, fordern. Diesen Zustand hätte ich mir vor Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss vier, fünf Jahren nicht träumen lassen. Es ist wunderbar, dass die Linke eine höhere Polizeidichte vor Ort fordert. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Unterstützen Sie uns dabei; das ist auch unsere Forde- Dr. Konstantin von Notz, Renate Künast, Tabea rung. – Danke schön. Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Den Abbau haben wir immer Transparenz und Recht im Netz – Maßnah- kritisiert!) men gegen Hasskommentare, „Fake News“ und Missbrauch von „Social Bots“ Zweiter Punkt. Diskutieren Sie einmal mit den Men- schen vor Ort darüber – mit dem Rentner in seiner Woh- Drucksache 18/11856 23848 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Überweisungsvorschlag: die schon längst im Internet mundtot gemacht worden (C) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) sind. Das soll nicht so bleiben. Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss Digitale Agenda (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch für diese Aussprache sind 60 Minuten vorgese- hen. – Das ist auch ofenkundig unstreitig. Also verfah- Die größte Gefahr für die Meinungsfreiheit ist ein Zu- ren wir so. stand, in dem ohne Konsequenzen bedroht, beleidigt und eingeschüchtert werden darf. Dieser Hass und diese Het- Ich eröfne die Aussprache und erteile wiederum dem ze im Netz sind die wahren Feinde der Meinungsfreiheit. Bundesjustizminister das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD) CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich weiß, dass wir uns mit Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver- diesen Regelungen im Gesetz in einem grundrechtssen- braucherschutz: siblen Bereich bewegen. Deshalb kommt es nicht uner- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- wartet, dass viel über diesen Gesetzentwurf diskutiert ren! Sie alle kennen die furchtbaren Beispiele von Mord- wird und dass es auch Kritik gibt. Damit will ich mich aufrufen, Bedrohungen und hasserfüllten Postings, die es einmal auseinandersetzen. in den sogenannten sozialen Netzwerken gibt. Wenn sich die Nutzer dann bei ihren Plattformbetreibern beschwe- Da wird der Vorwurf erhoben, wir würden die Rechts- ren, bekommen viele zu oft die Antwort: Das verstößt durchsetzung auf Private verlagern. Hierzu kann ich nur nicht gegen unsere Gemeinschaftsstandards, und deshalb sagen: Wir verlagern gar nichts. Wir sorgen vielmehr wird es nicht gelöscht. durch Compliance-Regeln dafür, dass bereits bestehen- de Verpfichtungen der sozialen Netzwerke endlich auch Viele von Ihnen kennen auch aus eigener Erfahrung eingehalten werden. Bereits auf der Grundlage des gel- Beleidigungen und Bedrohungen im Netz. Wir alle sind tenden Rechts, der E-Commerce-Richtlinie, dürfen sozi- es gewohnt, im Kreuzfeuer von Debatten zu stehen – und ale Netzwerke nach einer konkreten Beschwerde strafba- wir werden im Übrigen auch gut beschützt. Ich mache re Inhalte nicht ignorieren, sondern sie müssen handeln. mir viel mehr Sorgen um all diejenigen Bürgerinnen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Bürger, die ansonsten im Netz unterwegs sind: um den CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: freiwilligen Flüchtlingshelfer, der beleidigt und einge- Richtig!) schüchtert wird, um die ehrenamtlichen Kommunalpo- (B) (D) litiker, die beschimpft und bedroht werden, um die Ju- Wenn sie das nicht tun, dann können sie sich auch gendlichen, die im Netz in krimineller Weise gemobbt nicht mehr auf ihr Haftungsprivileg beziehen, und das werden. hat Konsequenzen zur Folge. Deshalb wundert mich dieser Punkt der Kritik ganz besonders; er hat mit dem Hasskriminalität beschädigt unser Zusammenleben, Gesetzentwurf überhaupt nichts zu tun. Denn das sind unsere Debattenkultur und letztlich auch die Meinungs- Regelungen, die es schon längst gibt, und zwar in der freiheit. Wenn strafbare Bedrohungen und Einschüchte- E-Commerce-Richtlinie und bei uns im Telemedienge- rungen im Internet nicht entfernt werden, dann werden setz. Wer sich jetzt darüber aufregt, der hätte sich auch in sich viele Bürgerinnen und Bürger aus der Onlinediskus- den letzten Jahren schon darüber aufregen müssen. Aber sion zurückziehen. mit diesem Gesetzentwurf hat das gar nichts zu tun. Zur Klarstellung: Es geht bei unserem Gesetzentwurf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten darum, dass Äußerungen, die gegen Strafgesetze versto- der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: ßen, aus dem Netz gelöscht werden. Es geht um Mordauf- Das stimmt ja gar nicht!) rufe, es geht um Aufrufe, Flüchtlingsheime anzuzünden oder andere Gewalttaten zu begehen, es geht um Bedro- Ganz im Gegenteil: Den Maßstab dafür, was erlaubt hungen und Beleidigungen, es geht um Volksverhetzung, ist und was nicht, legt nicht Facebook oder irgendein und es geht um die Auschwitz-Lüge. Kurzum: Es geht anderes soziales Netzwerk fest. Maßstab bleiben einzig um Straftaten; es geht um Äußerungen, die nicht mehr und allein die Strafgesetze, und die Gerichte entscheiden von der Meinungsfreiheit gedeckt, sondern ganz einfach nach diesen Gesetzen, was strafbar ist und was nicht. strafbar sind. Meine Damen und Herren, in der Diskussion und den (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ge- Stellungnahmen, die es gegeben hat, wird auch die Ge- nau!) fahr beschworen, dieser Gesetzentwurf könnte das soge- nannte Overblocking befördern. Das bedeutet, dass die All solche Äußerungen sind kein Ausdruck der Mei- Plattformbetreiber einfach alles löschen, nur damit sie ei- nungsfreiheit, sondern ganz im Gegenteil Angrife auf ner einzelnen Geldbuße entgehen können. Das kann nur die Meinungsfreiheit. Damit sollen Andersdenkende ein- ein Missverständnis sein, oder es ist gewollt, dass man geschüchtert und mundtot gemacht werden. Damit sollen das nicht versteht. Die Bußgelder, die der Gesetzentwurf eine rhetorische Dominanz und ein Klima der Angst ge- vorsieht, drohen einem Unternehmen nicht, wenn es ei- schafen werden. Wir müssen und wollen uns mit diesem nen einzelnen Tweet oder Kommentar nicht gelöscht hat. Gesetz auch um die Meinungsfreiheit derer kümmern, Es geht gar nicht um Einzelfälle. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23849

Bundesminister Heiko Maas (A) Bußgelder drohen nur dann, wenn es ein systemati- Das ist – so viel sei hier vorausgeschickt – ein durchaus (C) sches Versagen der Netzwerke gibt, wenn also überhaupt berechtigtes Anliegen. kein efektives Beschwerde- und Löschungsverfahren (Volker Kauder [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) besteht. Außerdem werden nur schuldhafte Verstöße ge- ahndet. Wenn die Strafbarkeit eines Posts nicht erkenn- Facebook, Twitter und Co haben sich in der Vergan- bar ist, dann wird das auch nicht zu einem Bußgeld füh- genheit oft genug viel zu wenig kooperativ gezeigt, ins- ren können. besondere dann, wenn es um die Bekämpfung von rechts- widriger Hassrede, um Hetze und Belästigung ging. Aber Im Übrigen verstehe ich bei diesem Thema eines über- der nun eingebrachte Gesetzentwurf – das wissen wir haupt nicht: Das Geschäftsmodell der sozialen Netzwer- schon jetzt – wird neue Probleme schafen, vor allem ke beruht doch gerade darauf, möglichst viel zu kommu- deshalb, weil er die Durchsetzung am Ende doch wiede- nizieren. Schon aus wirtschaftlichen Interessen werden rum in Hände legt, in die sie nicht gehört; darin sind wir sie deshalb das alles sehr genau prüfen. Die bisherige uns mit Sicherheit einig. Praxis zeigt jedoch das Gegenteil: Es wird nicht zu viel gelöscht, sondern es wird leider viel zu wenig gelöscht. Die Herausforderung, vor der wir stehen, ist die: Eine kleine Anzahl großer kommerzieller Plattformen mono- Wenn ein Unternehmen meldet, wie es Facebook ge- polisiert eine Form der Kommunikation, die wir aus un- rade getan hat, dass der Gewinn verdoppelt wurde, dann serem Leben nicht mehr wegdenken wollen. Das führt muss ich sagen, meine Damen und Herren: Ich sehe nicht dann dazu, dass elementare Regeln über Inhalte nicht ein, dass strafbare Inhalte im Netz stehen bleiben sollen, mehr gesellschaftlich ausgehandelt, sondern in Privatun- damit Facebook und Co kein zusätzliches Geld dafür aus- ternehmen einseitig festgelegt werden. Ein Beispiel sind geben müssen, Mordaufrufe aus ihren Seiten zu tilgen. die berüchtigten Gemeinschaftsstandards von Facebook, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nach denen weibliche Brustwarzen ganz ofensichtlich ein größeres Problem als Nazipropaganda darstellen. Auf Deshalb glaube ich, dass wir heute an einem Schei- diese bzw. ähnliche Herausforderungen brauchen wir in deweg stehen: Nehmen wir weiter hin, dass die digitale der Tat eine ordnungspolitische Antwort. Revolution den Rechtsstaat und unsere demokratische Kultur massiv infrage stellen kann? Oder machen wir (Beifall bei der LINKEN) endlich ernst mit dem Anspruch, dass auch das Internet Eine ausführliche Berichtspficht für die sozialen kein rechtsfreier Raum ist und dass auch online nicht er- Netzwerke und bußgeldbewehrte Vorgaben für die Be- laubt ist, was ofine verboten ist? schwerdebearbeitung sind durchaus keine falschen Meine Damen und Herren, das Recht ist der Garant Ansätze. Aber das Problem mit den Vorgaben, die Sie (B) unserer Freiheit, auch der Meinungsfreiheit. Sorgen wir hier machen, ist, dass die Plattformen selbst die recht- (D) dafür, dass das auch im Netz endlich von allen beachtet liche Einordnung überantwortet bekommen. Das ist kei- wird. Sorgen wir endlich dafür, dass Mordaufrufe, Volks- ne Durchsetzung gegenüber den Netzwerken, sondern verhetzung und Bedrohungen so schnell wie möglich aus durch die Netzwerke. Eine Plattform wird dann innerhalb dem Internet verschwinden. Nur dann bleibt die Mei- kürzester Zeit selbst entscheiden müssen, ob ein Inhalt nungsfreiheit für alle wirklich gesichert. rechtswidrig ist. Das kann aber durchaus auch eine komplizierte Abwä- Schönen Dank. gungsfrage sein. Wenn die unterlassene Löschung sank- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tioniert wird, ein zu Unrecht gelöschter Inhalt aber nicht, dann kann man sich relativ leicht ausrechnen, wohin das führen wird. Dann werden eben auch legale Inhalte im Präsident Dr. Norbert Lammert: großen Stil gelöscht werden. Bei Plattformen, die ein Petra Sitte erhält nun das Wort für die Fraktion Die faktisches Monopol innehaben, kann uns das eben ganz Linke. und gar nicht egal sein. Wir haben andere Fälle soge- (Beifall bei der LINKEN) nannter Kollateralschäden längst erlebt. Dazu kommt eine neue Verpfichtung im Telemedien- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): gesetz, Bestandsdaten auch bei zivilrechtlichen Ansprü- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So wie ein chen herauszugeben. Das war bislang nicht der Fall. So Zitronenfalter eben keine Zitronen faltet, setzt ein Netz- eröfnet man nicht nur der Abmahnindustrie ein neues werkdurchsetzungsgesetz eben keine Netzwerke durch. Betätigungsfeld. Bei der Bekämpfung von Hate Speech So viel ist schon einmal klar. könnte der Schuss sogar nach hinten losgehen. Viel Fan- tasie gehört nämlich nicht dazu, um sich vorzustellen, (Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Ullrich dass derartige Möglichkeiten auch zur Einschüchterung, [CDU/CSU]: Nicht alles, was hinkt, ist ein wie Sie es ja selbst gesagt haben, missbraucht werden, Vergleich!) etwa bei Aktivismus gegen Rechtsextreme. Die Frage aber, was hier tatsächlich von wem und Insgesamt merkt man dem Gesetzentwurf sehr wohl wem gegenüber durchgesetzt wird, sollten wir an die- die Temperatur der beim Stricken verwendeten Nadeln ser Stelle im Hinterkopf behalten. Wie wir schon hören deutlich an. Die Aufzählung der Straftatbestände mutet konnten, soll es um die Durchsetzung von Recht und Ge- willkürlich an. Zuletzt wurde sie noch um die Verbrei- setz gegenüber den großen sozialen Netzwerken gehen. tung pornografscher Schriften erweitert, obwohl die 23850 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Dr. Petra Sitte (A) Zielsetzung angeblich die Bekämpfung von Hasskrimi- des Journalismus, Geldfüsse über Werbenetzwerke und (C) nalität ist. Infolgedessen dürfen wir nun der mit heißen grundsätzlich um den ordnungspolitischen Umgang mit Nadeln gestrickten und notdürftig gefickten Begründung der neuen Plattformwirtschaft. des Gesetzes die durchaus interessante Information ent- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. nehmen, dass der Grund für die Wahl des Anwendungs- Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE bereiches des Gesetzes der Anwendungsbereich des Ge- GRÜNEN]) setzes sei. Welche Plattformen nun konkret vom Gesetz betrofen sein werden – ausweislich des Entwurfs sollen Diese Diskussion muss in der Breite geführt werden. Da- es etwa zehn sein –, kann uns die Bundesregierung auch für sollten wir uns in der kommenden Wahlperiode Zeit auf direkte Frage nicht mitteilen. nehmen. Einige sehen auch verfassungs- und europarechtliche Den Gesetzentwurf in der vorliegenden Form zu ver- Probleme. Ob nun zur Recht oder nicht: Es ist jedenfalls abschieden, halten wir für einen Fehler. Ein noch größe- schwer, zu glauben, dass die Vereinbarkeit mit angemes- rer Fehler wäre, nur das zu tun und zu glauben, das Pro- sener Gründlichkeit geprüft wurde. Es ist der Bedeutung blem sei damit weitestgehend gelöst. Das ist mitnichten des Themas aber nicht angemessen, hier auf den letzten der Fall. Metern der Wahlperiode einen eilig heruntergeschriebe- Danke. nen Gesetzentwurf vorzulegen, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, vor allem dann nicht, wenn die Konse- (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder quenzen ofensichtlich so wenig bedacht wurden. Nicht [CDU/CSU]: Was machen wir denn jetzt?) ohne Grund hat sich ein breites Bündnis – von BITKOM bis hin zur Amadeu-Antonio-Stiftung, das ist keineswegs Präsident Dr. Norbert Lammert: eine klassische Kombination – gebildet, das eine Dekla- Elisabeth Winkelmeier-Becker ist die nächste Redne- ration der Meinungsfreiheit vertritt und sich ausdrücklich rin für die CDU/CSU-Fraktion. gegen diesen Gesetzentwurf ausgesprochen hat und die Einrichtung eines runden Tisches fordert. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Die Koalition wäre also durchaus gut beraten, die Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Kritik ernst zu nehmen und sich auf eine umfassendere Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Im digitalen Zeitalter Diskussion einzulassen. Die Debatte krankt auch daran, kann jeder ganz einfach mit seinem Smartphone die gan- dass das Netzwerkdurchsetzungsgesetz gewissermaßen ze Weltöfentlichkeit erreichen, kann seinen Hass, seine (B) als Allheilmittel gegen Hate Speech und Fake News ver- Hetze gegen Andersdenkende, Anderslebende, Anders- (D) kauft wird. Dadurch haben wir wieder das Problem, dass gläubige und politische Minderheiten in die ganze Welt die Menschen glauben, dass etwas durch die Politik ge- hinausposten, kann jedem den Tod wünschen, Vergleiche löst wird, was sich aber im Leben und in der Praxis ganz mit niederen Tieren ziehen und sich mit seinen Taten anders darstellt. Das kann nicht sein. brüsten, wie zuletzt der Kindermörder aus Herne. Er kann (Beifall bei der LINKEN) sich aber auch an seinem Arzt rächen, dem er vielleicht auf einer Plattform zur Bewertung von Ärzten etwas ein- Selbst wenn alle unsere Kritikpunkte zu diesem Gesetz- stellt, was nicht der Wahrheit entspricht. Damit müssen entwurf umgesetzt würden, hätten wir es mit einer breiten die Betrofenen dann umgehen. Was das mit ihnen ma- gesellschaftlichen Debatte darüber zu tun, wie Kommu- chen kann, hat in dieser Woche eine Studie zum Cyber- nikation bzw. die Kultur der Kommunikation in diesem mobbing dargelegt. Jugendliche leiden extrem darunter. Land gestaltet werden kann. Die damit zusammenhän- Man ist dem ausgeliefert. Man ist in seinen Grundrechten genden gesellschaftlichen Probleme lassen sich nicht mit und insbesondere in seinem Persönlichkeitsrecht zutiefst einer besseren Durchsetzbarkeit des Strafrechts lösen, verletzt und betrofen. ebenso wenig mit einer Ausweitung des Strafrechts an dieser Stelle. Ich bezweife, dass sich der Begrif „Fake Auf der anderen Seite löscht Facebook Einträge, zum News“ rechtlich sauber defnieren lässt und dass sich al- Beispiel den Text des ehemaligen Radiomoderators les, was völlig zu Recht als Hate Speech verurteilt wer- ­Domian, der sich kritisch zur katholischen Kirche ge- den kann, rechtlich sanktionieren lässt. Das ändert nichts äußert hatte; das passte Facebook nicht. Auch die ganze daran, dass wir als Gesellschaft diese Probleme benen- Seite des Islamkritikers Imad Karim war zunächst weg. nen müssen; da haben Sie völlig Recht, Herr Maas. Diese Mittlerweile ist sie wieder da. Aber zuerst hat Facebook Debatte muss geführt werden. sie gelöscht. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was Das sind zwei Beispiele, bei denen die Nutzer dieser ist denn Euer Lösungsvorschlag?) Plattform in ihren Grundrechten betrofen sind, wo aber auch die Grundrechte aufeinandertrefen: auf der einen Politisch müssen wir uns noch weit mehr mit der Seite das Grundrecht der Meinungsfreiheit, auf der ande- Rechtsdurchsetzung befassen. ren Seite das Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit. (Beifall bei der LINKEN) Dabei geht es um eine Anzahl von Fällen, die es sehr schwer bis unmöglich macht, alle mit der Gründlichkeit Dabei geht es um Medienkompetenz, politische Bildung, eines individuellen Gerichtsverfahrens zu klären. In vie- zivilgesellschaftliches Engagement, die Strukturkrise len Fällen – da wären wir uns alle hier sehr schnell ei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23851

Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) nig – sind die Dinge eindeutig. Es gibt aber eben auch ein Wir haben nun einen Vorschlag vorliegen, der eine (C) paar Fälle, deren Abgrenzung schwierig ist. Das alles ge- schnelle Prüfung verlangt. Innerhalb von 24 Stunden schieht vor dem Hintergrund, dass Eile geboten ist; denn muss reagiert werden, bei schwierigen Fällen innerhalb jeder Post wird schnell weitergeklickt und gespeichert von einer Woche. Das alles geschieht unter der Aufsicht und ist damit uneinholbar in der Welt. Das ist also eine des Bundesamtes für Justiz, welches aber nur das Verfah- ziemlich schwierige Ausgangskonstellation, bei der sich ren prüft. Man muss hier auch noch einmal klarstellen: Grundrechte auf beiden Seiten konträr gegenüberstehen. Es gibt hier keine inhaltliche Kontrolle. Wenn ein Buß- geld auf die Behauptung der Rechtswidrigkeit gestützt Für uns ist klar: Hier besteht Handlungsbedarf. Das, werden soll, dann brauchen wir ein Vorentscheidungs- was sich im Moment im Netz an Hass und Hetze abspielt, verfahren bei Gericht, das dann mit der entsprechenden ist unerträglich. Das müssen wir unbedingt bekämpfen Expertise und Legitimation entscheidet. und eindämmen. Nun gibt es von beiden Seiten ja schon heftige Kritik. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Im Bundesrat gibt es bereits eine Initiative aus dem Lan- [Havelland] [DIE LINKE]) de Bremen, mit der das Gesetz verschärft werden soll. Im Ausgangspunkt ist die große Zahl eindeutig rechtswidri- Rechtsausschuss des Bundesrates haben auch alle Länder ger Äußerungen im Netz. zugestimmt, dass vor allem der Anwendungsbereich er- weitert wird. Dabei geht es zum Beispiel um kompromit- Der vorliegende Vorschlag sieht ein Beschwerdema- tierende Bilder und um Aufrufe zu erheblichen Strafta- nagement vor, ändert im Übrigen aber an der materiellen ten. Das ist ja bisher noch gar nicht erfasst. Außer Bayern Rechtslage nichts in Bezug darauf, was zur Meinungs- und Sachsen haben alle zugestimmt, sodass sozusagen freiheit gehört, was man sagen darf und wo die Gren- alle Parteien dabei vertreten sind, wenn gefordert wird, ze überschritten ist. An der bewusst weiten Grenze bzw. dass wir das Gesetz verschärfen. dem bewusst weiten Rahmen, den wir in Deutschland dem Grundrecht der Meinungsfreiheit einräumen, ist Auf der anderen Seite gibt es die heftige Kritik wegen überhaupt nichts zu ändern. Trotzdem ist aber auch jetzt der Sorge, dass hier eine Zensur stattfnde. Es gibt auch schon klar, dass Meinungsfreiheit nicht uneingeschränkt diejenigen – das ist besonders schön –, die zuerst gesagt gilt, sondern dass es auch Grenzen gibt, nämlich dann, haben: „Es kommt viel zu spät; es ist viel zu lasch“, jetzt wenn es um eine strafbare Beleidigung, Verleumdung sich aber um 180 Grad gedreht haben und nun von an- und Volksverhetzung geht. All das wird durch das hier geblicher Zensur sprechen. Dazu ist zu sagen: Man kann vorliegende Gesetz nicht geändert. eben nicht beides haben. Noch etwas anderes wird nicht geändert. Auch jetzt Wir müssen uns aber die ehrliche Kritik von beiden (B) schon ist die Plattform für die Rechtsverletzungen, die Seiten anschauen und überlegen, wie wir das aufnehmen (D) dort passieren, mitverantwortlich. Dabei gelten die können. Was können wir noch verbessern? Ein guter Grundsätze der Störerhaftung des deutschen Zivilrechts. Ausweg könnte sein, bei dieser Kontrolle dem Unter- Zum Beispiel gilt sie für Zeitungen. Auch diese müssen nehmen selbst weniger Einfuss einzuräumen, weniger bereits jetzt prüfen, ob redaktionelle Texte oder Leser- Staat einzubringen und dafür mehr pluralistisch organi- briefe diesen Maßstäben gerecht werden. Wenn das nicht sierte Selbstkontrolle vorzusehen. Ich glaube, es würde der Fall ist, dürfen sie auch in einer Zeitung nicht veröf- sich lohnen – der Vorschlag ist schon gemacht worden –, fentlicht werden. Auch an dieser Stelle haben wir also wenn wir uns das Verfahren der Freiwilligen Selbstkon­ schon ein Prüfungsrecht und eine Prüfungspficht durch trolle der Filmwirtschaft bei der Alterseinstufung von eine private Stelle, nämlich die Zeitung. Filmen – Stichwort Jugendschutz – anschauen. Ein sol- ches Verfahren könnte mehr Akzeptanz und mehr Ver- Was in der analogen Welt gilt, muss nun in die digitale trauen der Betrofenen auf beiden Seiten ermöglichen. Welt übertragen werden. Leider ist es so, dass viele Inter- Wenn das ein Weg ist, sollten wir diese Chance nutzen. netplattformen dem nicht nachkommen. Uns liegen dazu ja Zahlen vor. Bei Facebook waren es 46 Prozent der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meldungen, die eindeutig kritikwürdig waren, worauf Ich möchte kurz einen weiteren Punkt ansprechen. aber nicht entsprechend reagiert wurde. Bei Twitter war Wir brauchen dann, wenn die weiten Grenzen der Mei- es sogar nur 1 Prozent. Es beginnt damit, dass die Be- nungsfreiheit überschritten worden sind, auch Möglich- trofenen keine zustellungsfähige Adresse fnden. Selbst keiten, die Urheber von Hass und Hetze persönlich zur dann, wenn es gemeldet werden konnte, passiert lange Verantwortung zu ziehen. Dafür brauchen wir einen Aus- Zeit gar nichts. Das können wir so nicht stehenlassen. kunftsanspruch gegenüber dem Plattformbetreiber, also die Möglichkeit, die Identität des Betrefenden aufzude- Leider haben wir hier schon sehr viel Zeit mit runden cken. Hier ist jetzt die Rechtsgrundlage vorgesehen, dass Tischen und freiwilligen Appellen, die nichts gebracht der Plattformbetreiber die Angaben herausgeben darf. haben, vertan. Leider stehen wir jetzt hier unter einem Wir müssen aber noch einen Schritt weitergehen und den erheblichen Zeitdruck, gegen Ende der Legislaturperio- Auskunftsanspruch, den die Rechtsprechung bisher nur de noch etwas Vernünftiges auf die Beine zu bekommen aufgrund von Treu und Glauben einräumt, ganz klar nor- und das auch noch mit dem Notifzierungsverfahren in mieren und regeln. Brüssel abzustimmen. Wir hätten uns sicherlich einen großen Gefallen getan, wenn wir das deutlich früher in Es geht nicht um die Abschafung von Anonymität Angrif genommen hätten. Leider ist ein entsprechender und Pseudonymität, auch wenn ich eigentlich der Mei- Vorschlag nicht früher aus dem Ministerium gekommen. nung bin, dass wir uns im freien Austausch der Mei- 23852 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) nungen mit ofenem Visier begegnen sollten. Jedenfalls nem wüsten Gesetz um die Ecke kommen. Da kann man (C) muss aber Anonymität dann ein Ende bzw. eine Gren- auch gleich wieder gehen, genau. ze haben, wenn es um krasse Rechtsverletzungen geht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dann müssen die Opfer die Möglichkeit haben, diese Da- Dr. Johannes Fechner [SPD]: Was kam denn ten zu bekommen. Sonst sind sie letztendlich schutzlos von euch?) gestellt. Das kann nicht das Ergebnis sein. Gerade der Schutzmantel der Anonymität hat oft dazu beigetragen, Sie legen hier heute etwas vor, was die Probleme nicht dass die Hemmschwelle für Hass und Hetze im Netz so löst. Sie schafen viele neue Probleme. Das ist jetzt nicht gesunken ist. Das Wissen, dass die Anonymität im Fall eine krude Oppositionsmeinung, sondern das sagen Ih- des Falles auch einmal aufgehoben werden kann, kann nen der Deutsche Richterbund, Vertreter der Wirtschaft, schon heilsam wirken. die Journalistenverbände, die NGOs. Kritik ist selten so einhellig und so breit wie in diesem Fall. Ihr Netzwerk- (Beifall bei der CDU/CSU) durchsetzungsgesetz, Herr Kauder und Herr Maas, ist selbst eine Gefahr für die Meinungsfreiheit in unserer Wie gesagt, es ist schade, dass wir erst so spät in die- freiheitlichen Demokratie. se Beratungen hineingehen. Ich denke, wir müssen mit der notwendigen Gründlichkeit herangehen, weil es die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sache wert ist. Wir müssen den Opfern helfen, ohne die Dr. Johannes Fechner [SPD]: So ein Blödsinn! Meinungsfreiheit einzuschränken. So ein Quatsch!) Danke schön. Zitat: Das ... ist ein Schnellschuss, das Justizministerium (Beifall bei der CDU/CSU) agiert hier nicht als Wahrer der Bürgerrechte, son- dern verbietet, was es nicht versteht. Präsident Dr. Norbert Lammert: Wer hat das gesagt? Die Staatssekretärin Dorothee Nächster Redner ist der Kollege Konstantin von Notz Bär. für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Das kann sein, ja!) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Konstantin von Notz – Ich komme gleich zum Kollegen Klingbeil. – Thomas NEN): Jarzombek beklagt zu Recht, dass dieser Entwurf viele (B) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zi- zweifeln lässt, wie es Herr Maas denn nun mit der Mei- (D) tiere: „Heil Kanacke! Es wird Zeit das Auschwitz, Bu- nungsfreiheit hält. Er sagt – Zitat –: chenwald u.a. den Betrieb wieder aufnehmen! Da gehört Ihr Drecks­türken nähmlich hin. Ab durch den Schorn- Das Ergebnis ... ist leider kein Belegstück für gute stein …“ Zitat Ende. Den Rest dieses Zitats erspare ich ... Handwerkskunst. Substanzielle Teile fehlen: Die diesem Hohen Haus. Kennzeichnungspficht für Social Bots ... Der geschätzte Kollege Klingbeil sagt zu diesem Ge- Solch hasserfüllte Kommentare fallen eben nicht nur setz: auf der Straße heutzutage, sondern auch im Netz. Das eben Zitierte galt unserem Kollegen Özcan Mutlu. Aber (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Guter Mann!) genauso wie er werden täglich viele Menschen in diesem Eine Privatisierung der Rechtsdurchsetzung darf es Land unerträglich beleidigt, bedroht und verleumdet. nicht geben. Solche krassen Rechtsverletzungen sind nicht nur Recht hat er, meine Damen und Herren. eine Zumutung für die Betrofenen, sie sind, hunderttau- sendfach ausgesprochen, gepostet und geteilt, auch eine (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gravierende Gefahr für unsere freiheitliche Demokratie, SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Johannes wenn sie folgenlos bleiben. Fechner [SPD]: Das gibt es auch nicht! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nehmen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie das mal zur Kenntnis: Das gibt es über- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der haupt nicht!) SPD und der LINKEN) So was, Herr Maas, kommt dabei raus, wenn man noch nicht einmal die Stellungnahmen abwartet, sondern das Es verbindet uns hier alle, dass wir das nicht hinnehmen Ganze in einem Facebook-Stream raushaut und verkün- wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen. det; das ist ja unfassbar. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Aber …!) SES 90/DIE GRÜNEN) – „Aber“, Herr Grosse-Brömer, Herr Maas: diese Ein- Ja, wir müssen die großen Anbieter hart in die Pficht tracht! Das kommt doch nicht zustande, indem Sie eine nehmen. Aber wir dürfen sie eben nicht in eine Rich­ ganze Legislaturperiode nichts tun, talken, aussitzen und terrolle drängen. Es ist eben nicht egal, ob zu viel oder dann hier in der letzten Kurve dieser Legislatur mit so ei- zu wenig gelöscht wird. Es braucht klare Regeln und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23853

Dr. Konstantin von Notz (A) Sanktionen für ein rasches, aber eben auch sorgfältiges Auch in sozialen Netzwerken muss Recht und Gesetz (C) Verfahren. gelten, und dem dient dieses Gesetz.

(Heiko Maas, Bundesminister: Welche denn?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schwierige Fälle, Herr Maas, gehören eben – wie im ana- logen Leben – am Ende vor Gericht geklärt. Es ist schon komisch, Herr von Notz, dass Sie sagen, die Bundesregierung kommt erst auf den letzten Drücker. (Dr. Johannes Fechner [SPD]: So steht es im Selber haben Sie Ihren Antrag aber erst im April 2017 Gesetz! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: eingebracht. Genau so steht es im Gesetz!) (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da sieht Nach dem Entwurf, den Sie hier vorlegen, kann jeder man mal wieder die Verlogenheit!) zu Facebook gehen, um die Identität einer missliebigen Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, stelle ich einmal Person zu erfahren, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker. mehr fest, dass Sie keinen konkreten Gesetzesvorschlag Da haben Sie noch nicht einmal einen ordentlichen machen, dass Sie keine ausformulierten Vorschläge ma- Richtervorbehalt vorgesehen. Hier droht nicht nur ein chen, wie es die SPD zu Oppositionszeiten gemacht hat, schleichender Zensurefekt, sondern auch die digitale sondern Sie bringen lose Auforderungen, schwammig Bloßstellung und Gefährdung, übrigens auch für alle Kri- formuliert. tikerinnen und Kritiker von der AfD und von Erdogan. Auch sie sind von dieser Auskunftspficht berührt, und (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE das ist ein Problem. GRÜNEN]: Ach, hören Sie doch auf, Herr Fechner! Ihre eigenen Leute kritisieren das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN massiv! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE sowie bei Abgeordneten der LINKEN) GRÜNEN]: Das hat doch nicht die Fraktion geschrieben! Das ist doch Angabe! Das hat Schließlich: Wir brauchen ein efektives und verhält- das Ministerium geschrieben!) nismäßiges Notice-and-Take-down, das die Meinungs- freiheit achtet. Unsere Justiz kann das. Wir müssen sie Wir handeln. Wir legen ganz konkrete Gesetzentwürfe dafür stark machen. vor, die den Bürgerinnen und Bürgern helfen werden, Herr von Notz. Außerdem müssen wir uns mit den sozialen Medien und gesellschaftspolitischen Ursachen für Hate und Fake (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) auseinandersetzen. Unsere Zivilgesellschaft kann das. Wir machen das, weil wir von Einrichtungen wie etwa (D) Wir müssen sie aber einbinden. Beides tun Sie nicht, und jugendschutz.net wissen, dass bei YouTube, Twitter oder das ist zu wenig. auch Facebook – YouTube muss ich ausnehmen; dort hat es sich gebessert – Vielen Dank. (Die Verblendung eines Sitzplatzes in den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reihen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das wird fällt zu Boden) doch gemacht! Was reden Sie denn da?) – bei den Grünen bricht schon Panik aus – Präsident Dr. Norbert Lammert: (Vereinzelt Heiterkeit – Renate Künast Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Johannes [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Fechner das Wort. Baumangel!) bzw. bei Twitter oder Facebook nicht freiwillig gelöscht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird und wir nicht auf die Freiwilligkeit dieser Unter- der CDU/CSU) nehmen setzen können. Ich fnde, wenn Unternehmen Milliardengewinne machen, dann können wir ihnen auch Dr. Johannes Fechner (SPD): zumuten, dass sie Rechtsanwälte beschäftigen oder eine juristische Abteilung aufbauen, um dafür zu sorgen, dass Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lügen und Straftaten im Netz nicht verbreitet werden, Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Zu den positi- liebe Kolleginnen und Kollegen. ven Errungenschaften des Internets gehört, dass Milli- onen Menschen miteinander in Kontakt treten können. Dabei ist wichtig, zu wissen: Schon heute gibt es Aber die Schattenseite ist, dass es auch unendlich viele Unterlassungsansprüche. Daran ändern wir mit diesem Möglichkeiten gibt, Hassbotschaften, Beleidigungen und Gesetz nichts, sondern wir sorgen dafür, dass diese An- Straftaten millionenfach zu verbreiten. Weil es nach der sprüche tatsächlich durchgesetzt werden können. Die heutigen Rechtslage so unendlich schwierig ist, gegen wichtigste Regelung ist dabei, dass wir für die Unterneh- diese Hassbotschaften im Netz vorzugehen, brauchen wir men die Pficht einführen, in Deutschland eine Zustell- eine Regulierung. Soziale Netzwerke dürfen kein rechts- person zu benennen, also eine Person, an die Zivilrechts- freier Raum sein, in dem gemobbt, beleidigt wird oder in klagen, Unterlassungsklagen oder auch strafrechtliche dem zu Straftaten oder gar zum Mord aufgerufen wird. Verfügungen der Ermittlungsbehörden zugestellt wer- 23854 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Dr. Johannes Fechner (A) den können. Wir müssen dafür sorgen, dass die Opfer in Sie sehen: Wir haben schon eine ganze Menge Kritik- (C) Deutschland ihre Rechte durchsetzen können. punkte aufgenommen. Für uns gilt, dass im Zweifel für die Meinungsfreiheit zu entscheiden ist. Es darf bei den (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sozialen Netzwerken nicht die Situation eintreten, dass Es ist wichtig, eines klarzustellen: Es geht nicht da- diese – quasi in vorauseilendem Gehorsam – im Zwei- rum, die Unternehmen zu verpfichten, zu bewerten, ob fel aus Angst vor einer harten Sanktion zurückschrecken sie Löschungen vornehmen müssen oder nicht. Es ist und einen Inhalt deshalb löschen. Genau das wollen wir ausdrücklich geregelt, dass eine Bußgeldbehörde, bevor nicht. Deswegen haben wir eine klare Regelung ins Ge- sie ein Bußgeld verhängt, eine Gerichtsentscheidung setz aufgenommen. einholen muss, ob ein Inhalt rechtswidrig ist oder nicht. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die SPD Deswegen kann von einer Privatisierung, die auch wir setzt sich dafür ein, dass für die Opfer von Straftaten und selbstverständlich nicht wollen, überhaupt keine Rede Verleumdungen in der digitalen Welt die gleichen Rech- sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. te wie in der analogen Welt gelten. Dazu brauchen wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ein Gesetz. Wir wollen dieses Gesetz. Wir sind bereit, in den Beratungen die eine oder andere Präzisierung vorzu- Der entscheidende Punkt ist, dass die Sanktion, das Buß- nehmen, möglicherweise auch im Gesetzestext. Darüber, geld kommt, wenn kein systematisches Beschwerdema- dass wir dieses Thema behandeln müssen, und zwar noch nagement, kein taugliches Verfahren zur Löschung von in dieser Legislaturperiode, sollten wir uns aber alle einig rechtswidrigen Inhalten vorhanden ist. sein. Es wird viel zu viel Hass und Hetze im Internet ver- breitet. Dagegen müssen wir vorgehen. Ja, auch wir achten ganz genau darauf, dass dieses Gesetz klar und präzise formuliert ist. Wir haben schon Vielen Dank. einige Änderungen in der Gesetzesbegründung vorge- nommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Begründung? Ja, was hilft Präsident Dr. Norbert Lammert: das denn?) Dr. Stefan Heck erhält das Wort für die CDU/ Wir haben den Anwendungsbereich präzisiert. Jetzt CSU-Fraktion. ist klar, dass Maildienste wie GMX oder Web.de, Be- (Beifall bei der CDU/CSU) wertungsportale oder Berufsportale wie LinkedIn oder (B) XING nicht unter dieses Gesetz fallen. (D) Dr. Stefan Heck (CDU/CSU): (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- GRÜNEN]: Schreiben Sie das ins Gesetz! In ren! Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung der Begründung hilft das niemandem, Herr im Deutschen Bundestag behandeln, hat schon, bevor er Fechner!) uns hier erreicht hat, eine ungewöhnlich breite Debatte Wir stehen dem Vorschlag, das auch im Gesetzestext zu in der Öfentlichkeit ausgelöst. Ich glaube, wir sind gut ändern, ofen gegenüber. Das können wir gerne beraten. beraten, die Einwände, die uns aus vielen Teilen der Ge- Wenn dort entsprechende Regelungen erforderlich sind, sellschaft erreichen, ernst zu nehmen und sie sorgfältig dann machen wir das zur Klarstellung gerne. abzuwägen. Ein weiter Punkt ist uns wichtig: Einen Auskunftsan- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE spruch darf es nur geben, wenn ein Gericht dies anordnet. GRÜNEN]: Hört! Hört!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wenn man die Reden hier aufmerksam verfolgt hat – NEN]: Das steht gar nicht im Gesetz!) von Frau Sitte bis zu Herrn von Notz und die Reden aus den Reihen der Koalition –, dann kann man feststellen: Bestandsdaten dürfen nur dann herausgegeben werden, In der Bestandsaufnahme sind wir uns zunächst einmal wenn eine Rechtsverletzung vorliegt, wenn also eine der einig. Die derzeitige Praxis ist jedenfalls unbefriedigend. Straftaten begangen wurde, die wir im Gesetz abschlie- Viele soziale Medien haben sich zu Räumen entwickelt, ßend und genau normiert haben. in denen das Gesetz und das Recht, das unbestritten gilt, derzeit keine Anwendung fnden. Dort wird gehetzt, dort (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wird beleidigt, und dort wird Hass verbreitet, häufg un- NEN]: Stimmt nicht!) ter dem Deckmantel der Anonymität, meist jedenfalls Auch das ist eine Änderung, auf die wir uns schon ver- ohne irgendeine Konsequenz für die Täter. ständigt haben und die wir in den Gesetzestext einfügen Dabei haben die Betreiber von sozialen Medien ein wollen. Privileg. Anders als zum Beispiel Presseverlage haften (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sie nicht in vollem Umfang für die Inhalte, die über sie NEN]: Warum bringen Sie denn dann ein fal- verbreitet werden. Das Telemediengesetz verlangt le- sches Gesetz ein?) diglich, dass rechtswidrige Inhalte unmittelbar gelöscht werden, sobald der Betreiber von ihnen Kenntnis erlangt. Das ist für uns in der SPD ein ganz wichtiger Punkt. Unsere ernüchternde Erkenntnis heute ist, dass viele Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23855

Dr. Stefan Heck (A) Plattformen dieser Forderung überhaupt nicht nachkom- Wie kann sich der Rechtsstaat im digitalen Raum be- (C) men. Auf der Strecke bleiben dann die Nutzerinnen und haupten? Vor allem: Wie können wir Nutzerinnen und die Nutzer, die sich ehrverletzenden Angrifen völlig hilf- Nutzer wirksam vor Straftaten schützen? los ausgesetzt fühlen. Herzlichen Dank. Wenn man sich damit beschäftigt, dann erfährt man: Es ist ein komplizierter Prozess, bis selbst eindeutig (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- rechtswidrige Aussagen entfernt werden. Die Melde- ordneten der SPD) portale sind zu kompliziert, das Verfahren ist undurch- sichtig, und häufg gibt es niemanden, der am Ende als Präsident Dr. Norbert Lammert: Ansprechpartner erreichbar ist. Hier entsteht der fatale Das Wort erhält die Kollegin Renate Künast für die Eindruck, dass strafbares Verhalten völlig sanktionslos Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. hingenommen wird. Ich bin der festen Überzeugung: Diesen Zustand dürfen wir als Staat und als Gesetzgeber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht länger dulden. Renate Künast Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will gar (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nicht alles wiederholen, weil ich es eigentlich auch hasse, Der Gesetzentwurf sieht verschiedene Maßnahmen die Sätze, die im Netz oft fallen, wiederholen zu müssen. vor – wir haben es eben schon erfahren –: Es soll eine Be- Es ärgert auch mich immer wieder, was da systematisch richtspficht zum Umgang mit strafbaren Inhalten geben. passiert – ich habe das selber erlebt –: Nicht nur der Hass. Es soll die Verpfichtung zu einem wirksamen Beschwer- Ich habe das selber erlebt, dass ein Generalstaatsanwalt demanagement geben. Es soll einen Auskunftsanspruch den Satz „Von Ihnen würde ich gern ein Enthauptungs- der Opfer zu den Bestandsdaten der Täter geben. Und es video sehen“ dann nicht als Beleidigung bezeichnet. soll eine Bußgeldandrohung in empfndlicher Höhe bei Ich sage: Wie kann man einen Menschen noch stärker Pfichtverstößen geben. Ich glaube, all das ist ein drin- herabwürdigen? Ich habe erlebt, wie es ist, wenn einem gend notwendiges Signal; es ist ein Schritt in die richtige Falsch­zitate, Fake News angehängt werden, und wie lan- Richtung. ge man braucht, um die wieder zu löschen. Deshalb sage ich, sagen wir: Ja, da muss etwas getan werden. Es muss Gleichwohl – auch das will ich ofen ansprechen – se- etwas getan werden, damit das, was heute schon im Tele- hen wir bei einigen zentralen Punkten noch erheblichen mediengesetz deutsches Recht ist, auch umgesetzt wird, Beratungsbedarf. meine Damen und Herren. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) GRÜNEN]: Aha!) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (D) KEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich bin nicht sicher, ob die Löschverpfichtung, die die Das ist schon mal ein guter Ansatz!) sozialen Netzwerke in völliger Eigenregie umsetzen sollen, wirklich der Weisheit letzter Schluss ist. Wir ha- Das heißt aber noch nicht, dass es genau so getan ben – Frau Kollegin Winkelmeier-Becker hat es ange- werden muss, wie es jetzt vorgesehen ist. Sie bekommen sprochen – schon in verschiedenen Bereichen des Medi- Gegenwind – ich habe Ihren Zwischenruf gar nicht ganz enrechts die Einbeziehung von neutralen und allgemein verstanden; aber ich brauche mich da auch gar nicht zu anerkannten Akteuren. Das könnten wir uns hier auch scheuen; wir als Grüne sind schon die ganze Legislatur- sehr gut vorstellen. periode in dieser Geschichte unterwegs –, Gegenwind von allen Seiten: von der Union, von der SPD, vom Für uns als Fraktion ist ein Punkt ganz wichtig: Wir Journalistenverband, vom Richterbund, von Rechtswis- müssen einen Mechanismus fnden, der rechtswidrige In- senschaftlern und, und, und. Meine Damen und Herren, halte zielgenau erkennt und ebenso zielgenau beseitigt, das sollte Ihnen eigentlich zu denken geben. Ich fnde ohne dass durch eine zu weit gehende Löschpraxis sozu- das Verfahren nicht angemessen, wie Sie es gemacht sagen in vorauseilendem Gehorsam die Meinungsfreiheit haben: Wir bringen mal ein Gesetz ein, das eigentlich eingeschränkt wird. vom Minister geschrieben ist; aber es kommt nicht als (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Regierungsentwurf, sondern als Fraktionsentwurf, weil ordneten der SPD) man den Bundesrat und seine Äußerungsfristen umgehen will. Das alleine ist vom Verfahren her schon nicht an- Wir stehen jetzt vor intensiven Beratungen. Zur Wahr- gemessen. heit gehört: Herr Minister, es wäre gut gewesen, wenn Sie dieses Gesetz schon sehr viel früher vorgelegt hätten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und wir für die Beratungen erheblich mehr Zeit gehabt sowie bei Abgeordneten der LINKEN) hätten. Obwohl, wir sehen natürlich auch, wie groß dieser (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hass ist und dass er von einigen Organisationen systema- tisch mit politischen Absichten betrieben wird, um den Für uns gilt: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Aber Diskurs nach ganz weit rechts zu schieben. wir wollen dieses Gesetzesvorhaben innerhalb der nächs- ten Sitzungswochen zu einem guten Abschluss bringen. Man muss sich ja fast schon dafür schämen, dass man- Es geht hier um sehr grundsätzliche Fragen: Wie schüt- che Journalistinnen und Journalisten auch meinen, Poli- zen wir die Wahrhaftigkeit in der öfentlichen Debatte? tical Correctness sei etwas Falsches. Wenn man also die 23856 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Renate Künast (A) Würde achtet und Menschen nicht diskriminiert, dann Ich meine, es gibt dringenden Beratungsbedarf und (C) soll man sich schon schämen. So weit ist der Diskurs Änderungsbedarf bei diesem Entwurf, was die Fristen, schon gekommen, meine Damen und Herren. den Anwendungsbereich, fälschlich gelöschte Inhalte an- geht. Wir müssen die Debatte erweitern und müssen uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um Prävention, Medienkompetenzen, Bildung kümmern, sowie bei Abgeordneten der SPD und der weil wir allein mit dem Strafgesetzbuch und dem Ord­ LINKEN) ungswidrigkeitengesetz das, was hier gesellschaftlich Das macht mir auch Angst, und nicht nur Hate Speech passiert, nicht lösen können. Dafür brauchen wir Zeit. und Fake News. Die wollen wir auch haben. Die nehmen Sie sich nicht, obwohl es um Grundrechte geht. Deshalb unsere Kritik Fakt ist: Wir reden über die Durchsetzung geltenden an Ihrem Entwurf. Rechts, über die Löschung rechtswidriger Inhalte. Ich meine, die Koalition hat die Chance verpasst, alle Inte- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ressen und Rechte der Betrofenen bzw. die Zuständigkei- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ten – auch der Länder – hier miteinander zu koordinieren. Vergessen wir nicht: Für Jugendschutz, für Presse, für Präsident Dr. Norbert Lammert: Medien sind die Bundesländer zuständig. Für die Schaf- Das Wort erhält nun der Kollege Lars Klingbeil für die fung neuer Staatsanwaltschafts- und Richterstellen sind SPD-Fraktion. übrigens auch die Justizbehörden der Länder zuständig. Man sieht ja: Der Bundesrat wundert sich schon. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will ein paar Punkte zu dem Notice-and-Take- down-Verfahren sagen, das ja auch schon Pficht ist und (SPD): von dem auch wir sagen: So geht es nicht. Ich selber Lars Klingbeil versuche, ich glaube, seit anderthalb Jahren, zu Arvato Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als durchzudringen, die ja im Auftrag von Facebook tätig Frau Künast Ministerin gewesen ist, muss es so gewesen sind. Ich bin bisher dort nicht durchgekommen. Es wird sein, dass alle Kabinettsvorlagen von der Grünenfraktion mir immer angekündigt, ich käme da hin. Man fragt sich eins zu eins im Parlament durchgewunken wurden. Ich also: Was haben die zu verbergen? Arbeiten die gar nicht glaube, die Große Koalition kann mit vollem Stolz sagen: so gut? – Also: Es ist etwas zu tun. Und: Dieses Verfah- Wir reden noch einmal über das, was aus dem Kabinett ren muss besser werden. kommt, und gucken uns genau an, ob man nachbessert. Aber warum soll es eine Parallelstruktur zum Teleme- (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) diengesetz geben, meine Damen und Herren? Warum lö- NEN]: Unterste Schublade! – Renate Künast (D) schen und sperren? Warum unbestimmte Rechtsbegrife? [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Normaler- Wie sollen sie konkret ausgelegt werden? Ich weiß – Herr weise weinen Sie sich aus bei uns über den Fechner, Sie haben es gesagt –: Es soll noch nachgebes- Koalitionsausschuss! Da nennen Sie das gar sert werden. – Aber jetzt komme ich mal zum Verfahren. nicht „reden“, sondern „weinen“! – Gegenruf Was ist das für ein Verfahren, in dem nach anderthalb des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: oder zwei Jahren mit runden Tischen, Zwischenberich- Das scheint ja getrofen zu haben!) ten und allem im allerletzten Augenblick dem Bundestag Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier über etwas vorgelegt wird? In Klammern: Es ist ja auch noch einen Bereich, der sehr sensibel ist. Ich glaube auch, dass die Notifzierung der Europäischen Union zu beachten. bei vielen von uns in den letzten Monaten Erkenntnisse Also: Wenn wir auf neue und gute Ideen kommen, dann gereift sind. Wir alle sind uns der Verantwortung ange- könnten wir das Gesetz nicht entsprechend verbessern, sichts des Themenbereichs bewusst, über den wir heute weil wir dann ein neues Notifzierungsverfahren einlei- sprechen. Es geht um Meinungsfreiheit, es geht um die ten müssten. Das ist doch eine Engführung des parlamen- Verantwortung, die der Staat, die wir als Parlamentarier tarischen Prozesses – und das angesichts der Tatsache, tragen. Es geht um die Frage, ob wir es als Politik schaf- dass da Grundrechte tangiert werden. Ich halte das für fen, diejenigen zu schützen, die von Hass und Hetze im kein gutes Verfahren. Internet betrofen sind. Facebook ist heute quasi so etwas wie ein öfentlicher Raum. Es geht heute hier auch um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Frage, ob der Staat dort Handlungsfähigkeit beweisen und bei der LINKEN) kann. Grundrechte werden tangiert, was die Meinungsfrei- Ich will Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, heit betrift, und natürlich auch, das Eigentumsrecht, dass seit Beginn der Diskussion vieles passiert ist: Wir was die Betriebe betrift. Wir wissen nicht, für wen es sehen eine gestiegene Sensibilität in der Bevölkerung. gelten soll. Welche 2 Millionen Nutzer, User sind denn Wir diskutieren viel, nicht nur über ofensichtliche Straf- gemeint? Die Löschfristen sind einseitig gemacht. Das rechtsverletzungen, sondern auch über einen anderen heißt, für den Fall, dass eine Löschung falsch war, sehen Punkt, über das, was wir als Fake News bezeichnen, und Sie kein Verfahren vor, um den betrefenden Inhalt wie- die Frage, wie wir damit umgehen. der einzustellen. Es ist in der Demokratie ja auch mög- lich, dass das einmal passieren kann. Sie reden über ei- Facebook kommt in Bewegung. Wir sehen, dass dort nen Richtervorbehalt beim Drittauskunftsanspruch, aber mehr Personen eingestellt werden, die löschen sollen. er steht gar nicht im Gesetz. Wir sehen auch, dass Facebook anfängt, mit Journalisten Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23857

Lars Klingbeil (A) zusammenzuarbeiten und genau zu gucken, was eigent- diese Herausforderung, und wir müssen diese Herausfor- (C) lich wahr ist und wo falsche Dinge verbreitet werden. derung annehmen. Für die SPD-Fraktion kann ich sagen – das ist für Für mich wäre es der falsche Weg, nur weil die Le- uns völlig klar –: Es geht, wenn wir über all diese Dinge gislatur kurz vor dem Ende steht, jetzt zu sagen: Wir reden, nicht nur um Gesetze; es geht auch um digitale ignorieren diese Probleme und diskutieren es hier im Kompetenzen. Es geht um die Frage: Wie stärken wir Parlament nicht. – eigentlich diejenigen, die im Internet dagegenhalten? Es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geht um die Frage: Wie können wir Fakten viel besser der CDU/CSU) herausstellen? Wir müssen uns mit den Fragen, die unsere Gesellschaft Heute reden wir konkret über das Netzwerkdurch- beschäftigen, auseinandersetzen, und das tut die Große setzungsgesetz. Ich kann für die SPD-Fraktion hier zu- Koalition an dieser Stelle. Ich habe gerade, als Sie sich sagen: Wir werden die vielen Bedenken, die gerade im gemeldet haben, gesagt: Es geht um Gründlichkeit, und öfentlichen Raum stehen, in den parlamentarischen Be- es geht um Schnelligkeit. Beides lässt sich nach unserer ratungen ernst nehmen. Wir werden zuhören, wir werden Meinung nicht gegeneinander ausspielen. uns die Dinge anhören, und wir werden dann sicherlich nach einer gründlichen Debatte dazu kommen, dass wir Herr Präsident, ich will in meiner Rede fortfahren. – an vielen Stellen Änderungen an diesem Gesetzentwurf Ich will vier Punkte nennen, die für die SPD bei den Ver- vornehmen. handlungen in der Koalition und hier im Parlament sehr wichtig sein werden. Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, um Schnel- Das Erste ist, dass der Gesetzentwurf eine Ausweitung ligkeit, weil die Legislatur bald zu Ende ist. Ich will hier der Auskunftsansprüche ohne Richtervorbehalt vorsieht. aber auch sagen: Es geht auch um Gründlichkeit, und Das ist für uns eine rote Linie, die in diesem Fall über- beide Dinge werden wir nicht gegeneinander ausspielen. schritten wurde. Wir sagen: Der Richtervorbehalt muss rein, und wir brauchen eine Beschränkung des Aus- Präsident Dr. Norbert Lammert: kunftsanspruchs auf einen engen Kreis von Straftaten. Herr Kollege Klingbeil, darf Frau Rößner eine Zwi- Der zweite Punkt sind die Bußgelder. Wir wollen die- schenfrage stellen? sen Punkt im Gesetzestext konkretisieren, um deutlich zu machen: Es geht nicht um den einzelnen Post und die Lars Klingbeil (SPD): Frage, ob eine soziale Plattform damit falsch umgeht, sondern um das Vorhalten eines efektiven Beschwerde- Sehr gerne. (B) managements. Wir wollen erreichen, dass das im Gesetz (D) deutlicher wird. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der dritte Punkt ist, dass wir eine Klarstellung brau- Vielen Dank, Herr Präsident. – Danke, Kollege chen, welche Plattformen von diesem Gesetz betrofen Klingbeil, dass ich eine Frage stellen darf. Nun gab es sind und welche nicht. ja am Anfang der Legislaturperiode das große Ansinnen der Großen Koalition, eine Bund-Länder-Kommission Der vierte Punkt ist – auch das kann ich hier für die zur Regelung im Medienbereich auf den Weg zu brin- SPD-Fraktion sagen –: Wir wollen die Möglichkeit der gen. Da gab es auch eine Arbeitsgemeinschaft Plattform- regulierten Selbstregulierung in den Verhandlungen hier regulierung und eine Arbeitsgemeinschaft Intermediäre. im Parlament ofen und ehrlich prüfen. Jetzt hat die Kommission aber leider ihre Arbeit schon Das waren vier Punkte, die uns sehr wichtig sind. Ich abgeschlossen, es gibt einen Bericht, aber genau diese will noch einmal sagen: Es ist für mich eine Selbstver- Thematik ist darin nicht enthalten. Insofern verstehe ich ständlichkeit, dass wir als Parlamentarier schauen, wie nicht ganz, warum jetzt auf die Schnelle dieses Gesetz wir selbst bei guten Gesetzen noch nachbessern können. durchgeboxt werden soll, ohne dass die Länder miteinbe- zogen worden sind, obwohl man dort ein Gremium hat- Dann will ich aber jetzt am Ende etwas ansprechen, te, in dem man intensiv diskutiert und sich Sachverstand was mich schon irritiert. Es gibt vonseiten der Union viel geholt hat. Das verstehe ich nicht. Vielleicht können Sie Kritik, Kritik am Minister und an dem, was das Kabinett es mir erklären. vorgelegt hat. Ich hätte mir gewünscht, dass heute hier im Parlament diejenigen aus den Reihen der Union spre- chen, deren Kritik am Gesetz man sonst nur auf Spiegel Lars Klingbeil (SPD): Online nachlesen kann. Liebe Kollegin Rößner, es ist doch in der Tat so – das (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Genau!) wissen Sie als Mitglied der damaligen Enquete-Kom- mission und als eine Kollegin, die auch viel in diesem Da fordert Herr Kauder Herrn Maas auf, das Gesetz Bereich unterwegs ist –, dass es digitale Entwicklungen schneller auf den Weg zu bringen und es härter zu ma- gibt, die uns manchmal angesichts ihrer Geschwindigkeit chen. herausfordern. Sie haben zu Recht festgestellt: Wir hät- (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja!) ten dieses Thema in der Bund-Länder-Kommission dis- kutieren sollen. – Wir haben es da leider nicht getan. Das Dann kommt seine Stellvertreterin Nadine Schön und Parlament war ja nicht direkt beteiligt. Aber es gibt jetzt sagt: Das darf alles nicht so schnell gehen, und das ist 23858 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Lars Klingbeil (A) doch alles viel zu hart. – Herr Jarzombek schlägt vor, Hansjörg Durz wird für die AG Digitale Agenda spre- (C) eine quasi-staatliche Behörde einzurichten. Dorothee chen. Wir haben ein völlig konsistentes Meinungsbild Bär, die als Staatssekretärin ihren Minister im Kabinett innerhalb der CDU/CSU-Fraktion. anscheinend schlecht beraten lässt, sagt, sie lehne die- (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Ja, klar! – ses Gesetz ab. Dieses Hin und Her in der Union wird es Christian Lange [Backnang] [SPD]: Bislang schwierig machen, in den kommenden Wochen über alle noch nicht groß aufgefallen!) diese Punkte zu beraten. Wir sind aber auch ofen für Anregungen von außen; denn (Beifall bei der SPD) wir sind uns einig, dass es ein sehr komplexes und schwie- Ich hätte mir gewünscht, dass die Digitalpolitiker heute riges Gesetz ist. Wir alle sind gut beraten, wenn wir auch zu Wort kommen. Dann hätten wir die Kritik nicht nur Experten und diejenigen, die mit dem Thema „regulierte bei Spiegel Online gelesen, sondern auch einmal hier im Selbstregulierung“ schon Erfahrungen haben, hören und Parlament gehört. ihre Meinung in unsere Beratungen einbeziehen. (Beifall bei der SPD – Renate Künast [BÜND- Ich möchte die Kritik wiederholen, dass es sehr schade NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir können ja aus ist, dass die Beratungszeit so kurz ist. Wir hätten uns für Spiegel Online vorlesen!) dieses Gesetz einfach mehr Zeit gewünscht. Aber es ist schön, zu hören, dass die SPD-Fraktion bei vielen Punk- ten unserer Meinung ist. Deshalb sollten wir nut- Vizepräsidentin : zen, das Gesetz zu einem guten Gesetz zu machen. Herr Klingbeil, bevor Ihre Redezeit zu Ende ist: Wol- (Beifall bei der CDU/CSU) len Sie noch eine Zwischenfrage zulassen?

Vizepräsidentin Claudia Roth: Lars Klingbeil (SPD): Herr Klingbeil, bitte. Ja, gerne. Lars Klingbeil (SPD): Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich freue mich darüber, dass sich beim geschätzten Gut. Deswegen hatte ich Sie jetzt unterbrochen. Koalitionspartner bei diesem Thema endlich Einigkeit andeutet. Ich will noch einmal die für uns wichtigsten vier Punkte nennen: Richtervorbehalt beim Auskunfts- Lars Klingbeil (SPD): anspruch, Bußgelder konkretisieren, deutliche Klarstel- (B) (D) Dann habe ich auch mehr Zeit zur Verfügung. Das ist lung, welche Netzwerke betrofen sind, und Prüfung der doch gut. regulierten Selbstregulierung. Wenn Herr Durz, der nach mir sprechen wird, sagt: „Wir machen an alle vier The- Vizepräsidentin Claudia Roth: men einen Haken“, dann würde das im Hinblick auf die Frau Schön, bitte. Berichterstattergespräche schon einiges erleichtern. Vielen Dank fürs – – Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Lieber Kollege Klingbeil, Sie haben mich direkt ange- Vizepräsidentin Claudia Roth: sprochen. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Herr Klingbeil, Stopp! Sie haben noch eine Sekunde die Unionsfraktion in dieser Frage immer eine einheitli- Redezeit. che Meinung hatte? (Heiterkeit) (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Das ist ja ganz – Ja, bei manchen ist eine Sekunde ziemlich lang, liebe neu!) Kolleginnen und Kollegen. – Wollen Sie noch eine Zu- Das ist in unserem Positionspapier nachzulesen, das wir satzfrage von Herrn von Notz zulassen? als Gesamtfraktion im Januar verabschiedet haben. Darin haben wir alle Punkte, die heute kritisiert werden, aufge- Lars Klingbeil (SPD): grifen, nämlich: Wer prüft eigentlich? Gibt es Verfah- Ja, klar. Gerne. ren der regulierten Selbstregulierung? Wer ist überhaupt betrofen von einem solchen Gesetz? – Das stand schon

in unserem Positionspapier. Deswegen wäre es schön Vizepräsidentin Claudia Roth: gewesen, wenn das zuständige Ministerium die Positi- Gut. onspapiere – Ihre Fraktion hat ja auch eines vorgelegt – als Grundlage für das Gesetz herangezogen hätte. Dann Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- müssten wir viele Diskussionen heute nicht führen. NEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Ich freue mich sehr, wenn Sie sagen, dass für Sie das Kollege Klingbeil. Nach den Selbstgesprächen der Gro- Thema „regulierte Selbstregulierung“ wichtig ist. Sie tei- ßen Koalition muss ich doch eine Nachfrage stellen, len unsere Kritik an vielen Stellen. Frau Winkelmeier- Becker hat in ihrer Rede auch Punkte aufgegrifen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23859

Dr. Konstantin von Notz (A) weil ich da etwas nicht verstehe. Wenn es in der Union Bereits heute müssen – wir haben das mehrfach ge- (C) eine einheitliche Linie gibt, wie verstehen Sie denn dann hört – soziale Netzwerke rechtswidrige Inhalte löschen, die Äußerungen der Kollegen Bär und Jarzombek? Also wenn sie Kenntnis davon erlangen. Die Diensteanbieter ich nehme eine große Lücke zwischen den Aussagen von kommen dieser Löschpficht zwar grundsätzlich nach, Herrn Kauder, der jetzt leider nicht mehr da ist, und de- allerdings nicht in dem erforderlichen Umfang und vor nen der beiden Kollegen wahr. Gibt es eine sozialdemo- allem oft viel zu spät. Dabei spielt der Faktor Zeit eine kratische Erklärtheorie, wie es zu diesem Delta kommen ganz entscheidende Rolle. Auch wenn rechtswidrige In- kann? halte relativ zeitnah gelöscht werden, haben bis dahin möglicherweise Hunderttausende Menschen die Inhalte (Heiterkeit – Christian Lange [Backnang] gesehen, kopiert und weiterverbreitet. Empirische Da- [SPD]: Das ist mal eine gute Frage!) ten belegen, dass trotz der rechtlichen Verpfichtung oft zu wenig passiert und rechtswidrige Inhalte zu lange im Lars Klingbeil (SPD): Netz verbleiben. Ich bin ausgebildeter Sozialwissenschaftler und kein Aus diesem Grund hat Justizminister Maas zunächst Sozialpädagoge. das Gespräch mit den Diensteanbietern gesucht. Es wur- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE den runde Tische organisiert und sogar eine Taskforce GRÜNEN]: Darauf setze ich!) eingerichtet. Die Bemühungen, über die Selbstverpfich- tung der Anbieter eine Verbesserung zu erreichen, haben Insofern kann ich nicht weiterhelfen. Ich habe aber wahr- aber nicht den dringend notwendigen Erfolg gebracht. genommen – und das ist ein wichtiges Signal –, dass die Es kam zwar Bewegung in die Diskussion. Der Druck, Union dabei ist, sich auf konkrete Punkte zu einigen, die zu handeln, wurde erhöht; aber bislang ist viel zu wenig wir in die Berichterstattergespräche einfießen lassen passiert. können. Das wäre für uns wichtig, damit wir das Gesetz in dieser Legislatur noch gründlich beraten und zum Ab- Als Unionsfraktion haben wir uns intensiv mit der schluss bringen können. Entwicklung von und auf sozialen Medien auseinander- gesetzt. Wir haben einen Fraktionskongress zum Thema (Beifall bei der SPD – Dr. Konstantin von „Hassrede und Fake News“ veranstaltet, Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielen Dank!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) Vizepräsidentin Claudia Roth: mit Wissenschaftlern und Experten diskutiert und an- (B) Vielen Dank, Lars Klingbeil. – Schönen guten Mor- schließend ein Positionspapier entwickelt. Wir sehen, (D) gen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzter Redner in dass wir der Entwicklung nicht nur, aber auch mithilfe dieser lebendigen Debatte: Hansjörg Durz für die CDU/ gesetzlicher Regelungen begegnen müssen. Das Positi- CSU-Fraktion. onspapier ist für uns Grundlage dafür. Es steht seit dem Fraktionskongress im Januar dieses Jahres. Von Volker (Beifall bei der CDU/CSU) Kauder bis und Nadine Schön waren alle anwesend. Alle tragen dieses Positionspapier mit. Hansjörg Durz (CDU/CSU): Das ist unsere Grundlage. Da besteht Einigkeit in der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Union. Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! So- (Beifall bei der CDU/CSU) ziale Medien bieten großartige Möglichkeiten und Chan- cen der Kommunikation und sind heute wesentlicher Mit der gesetzlichen Regelung verfolgen wir das Bestandteil unseres öfentlichen Diskurses. Sie haben klare Ziel, wirksame Verfahren zu implementieren, um sich in den vergangenen Jahren extrem dynamisch wei- strafrechtlich relevante Inhalte zu identifzieren und die terentwickelt und haben eine enorme Reichweite. Bei- Rechtsdurchsetzung zu stärken. Es gilt aber auch, die spielsweise wird Facebook von 1,9 Milliarden Menschen oftmals schwierige Abwägung zwischen Meinungsfrei- weltweit genutzt. In Deutschland nutzen das Netzwerk heit und Persönlichkeitsrechten sicherzustellen und sehr etwa 25 Millionen Menschen jeden Monat. genau darauf zu achten, dass die Regelung keine Eigen- dynamik zulasten der Meinungsfreiheit auslöst. Ein Lö- Mit dieser Entwicklung geht eine spürbare Verände- schen auf Vorrat darf und wird es mit uns nicht geben. rung des öfentlichen Diskurses im Netz sowie in der Ge- sellschaft insgesamt einher. Neben all den positiven As- Ich möchte drei Punkte aus dem vorliegenden Gesetz- pekten sehen wir leider zunehmend auch Beleidigungen, entwurf herausgreifen und die Frage stellen, ob die grund- Hass, Diskriminierungen, Aufrufe zur Hetze, ja, sogar sätzlich gute Absicht des Gesetzentwurfs tatsächlich zu Mord. In den letzten Wochen und Monaten sind immer einem guten Ergebnis führt. Der Kollege Klingbeil wird wieder Videos von Gewalttaten auf Internetplattformen einige Punkte erkennen, bei denen auch er Änderungsbe- veröfentlicht worden, so schlimm, dass man sie gar darf angemeldet hat. nicht beschreiben will. Nach der Veröfentlichung eines Erstens. Sehen wir uns den Anwendungsbereich an. Mordvideos auf Facebook hat Mark Zuckerberg kürzlich Wen betrift das Gesetz? In § 1 steht: Konsequenzen zugesagt und die Einstellung von Tausen- den zusätzlichen Mitarbeitern angekündigt, die löschen Dieses Gesetz gilt für Telemediendienstanbieter, die sollen. mit Gewinnerzielungsabsicht Plattformen im Inter- 23860 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Hansjörg Durz (A) net betreiben, die es Nutzern ermöglichen, beliebige Nutzer sorgen und einer unverhältnismäßigen Löschpra- (C) Inhalte mit anderen Nutzern auszutauschen, zu tei- xis vorbeugen. len oder der Öfentlichkeit zugänglich zu machen … (Beifall der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE Ausgenommen sind soziale Netzwerke im Inland mit we- LINKE] – Hans-Christian Ströbele [BÜND- niger als 2 Millionen Nutzern. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) Aus dem Bereich des Jugendmedienschutzes kennen Nach dieser Defnition wären zunächst sehr viele Platt- wir das Modell der Beschwerdestellen, die sehr erfolg- formen eingeschlossen. Zwar wurde der Anwendungs- reich mit der Justiz zusammenarbeiten. Dieses Modell bereich in der Begründung näher defniert, es stellt sich der regulierten Selbstregulierung, das von allen Rednern aber die Frage, ob dies ausreichend ist und nicht einer der Union bisher genannt wurde, kann ein Vorbild sein; Klarstellung in § 1 bedarf. Ich meine schon. In der Be- denn dies würde bedeuten, dass nicht die Plattformbe- gründung wird ausgeführt, dass mit dem Gesetz maximal treiber entscheiden, sondern eine vom Staat kontrollier- zehn soziale Netzwerke erfasst werden sollen. Es muss te und von den Unternehmen fnanzierte Instanz. Diese aber eindeutig klargestellt sein, dass wir nicht beispiels- prüft alle kritischen Sachverhalte mit geschultem Perso- weise E-Mail-Dienste oder Bewertungsportale oder auch nal nach klaren Kriterien. Über solch ein Modell müssen innovative Geschäftsmodelle von Start-ups durch unver- wir im parlamentarischen Verfahren reden. hältnismäßige Aufagen verhindern bzw. unmöglich ma- (Beifall bei der CDU/CSU) chen. In diesem Zusammenhang müssen wir auch über den Schwellenwert von 2 Millionen Nutzern sprechen. Ob ein Inhalt rechtswidrig ist oder nicht, das liegt in Es gibt Plattformen, die, je nach Defnition, möglicher- vielen Fällen klar auf der Hand. In mindestens so vielen weise keine 2 Millionen Nutzer in Deutschland haben, Fällen können sich aber hervorragende Juristen stunden- aber durchaus gesellschaftlich relevant sind. Also, ich lang streiten und am Ende zu ganz unterschiedlichen Er- denke, eine Konkretisierung des Anwendungsbereichs gebnissen kommen. Die Grenze zwischen der Meinungs- ist zwingend erforderlich. freiheit und der Verletzung von Persönlichkeitsrechten ist oft fießend und bedarf einer eingehenden fachlichen Der zweite Themenbereich, den ich herausgreifen Prüfung. möchte, sind die Qualitätsstandards. Im Gesetz werden Die Intention des Gesetzes ist absolut richtig: Wir vollkommen zu Recht Standards zum Umgang mit Be- wollen und müssen eine Verbesserung bei der Rechts- schwerden eingeführt, Standards aus dem Land und in durchsetzung erreichen. Was rechtswidrig ist, muss aus dem Land, in dem die Dienste angeboten werden. Es ist dem Netz verschwinden, so schnell wie möglich. Opfern (B) absolut richtig, den Plattformen Qualitätsstandards ab- von Hasskriminalität und anderen strafbaren Inhalten (D) zuverlangen. Das ist auch ein zentraler Ansatz des Ent- muss zu ihrem Recht verholfen werden. Ein Löschen auf wurfs. Er umfasst die verpfichtende Einführung eines Vorrat darf und wird es mit uns aber nicht geben. Beschwerdemanagements, regelmäßige Berichtspfich- ten, die Verhängung von Bußgeldern bei Verstößen gegen Vielen Dank. die Berichtspfichten und bei Fehlen eines Beschwerde- (Beifall bei der CDU/CSU) managements. Insbesondere halten wir die in § 5 gefor- derte Benennung eines inländischen Zustellungsbevoll- mächtigten für zwingend notwendig. Dies sind absolut Vizepräsidentin Claudia Roth: sinnvolle Maßnahmen, übrigens alles Punkte unseres Po- Vielen Dank, Kollege Durz. – Damit schließe ich die sitionspapiers. Diese Maßnahmen schafen Transparenz Aussprache. und führen einen Mechanismus ein, wie mit Beschwer- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den umgegangen werden muss. den Drucksachen 18/12356 und 18/11856 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Drittens. Die meistdiskutierte und zentrale Frage ist: gen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Über- Wer entscheidet, was gelöscht wird und nach welchen weisungen so beschlossen. Kriterien? Wie bereits erwähnt, sind Plattformen auch heute schon verpfichtet, rechtswidrige Inhalte zu lö- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze zu schen, wenn sie Kenntnis davon haben. Dies geschieht wechseln bzw. Platz zu nehmen. bisher nach unternehmensinternen Kriterien auf eine in- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf: transparente Art und Weise. Bereits diese bisherige Pra- xis ist zu hinterfragen. Wollen wir tatsächlich den Unter- Beratung des Antrags der Abgeordneten nehmen die alleinige Entscheidung darüber überlassen, Marieluise Beck (Bremen), Annalena Baerbock, welche Inhalte gelöscht werden und welche nicht? Ich Dr. , weiterer Abgeordneter meine, nein. Wir brauchen einen rechtsstaatlichen Me- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chanismus, der einer Entscheidung über die Löschung Historische Verantwortung Deutschlands für oder den Verbleib eines Inhalts vorgeschaltet werden die Ukraine muss, einen Mechanismus, der sicherstellt, dass die nicht eindeutig rechtswidrigen Inhalte einer sorgfältigen recht- Drucksache 18/10042 lichen Prüfung unterzogen werden. Er würde darüber Überweisungsvorschlag: hinaus für Rechtssicherheit aufseiten der Betreiber und Auswärtiger Ausschuss Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23861

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Bevor ich die Aussprache eröfne, möchte ich im Na- Der Respekt vor den Millionen Opfern in den Zwi- (C) men aller Kolleginnen und Kollegen einige Gäste auf der schenländern verlangt von uns einen neuen Blick auf die- Tribüne recht herzlich begrüßen. Ich begrüße den Bot- sen Teil der Geschichte. Dazu gehört auch die Tatsache, schafter der Ukraine sowie Vertreter und Vertreterinnen dass mit dem Hitler-Stalin-Pakt die beiden totalitären der Botschaften von Israel, Belarus, Polen, Litauen, Lett- Systeme für lange Zeit halbe-halbe machten, ganz in der land und Estland. Seien Sie uns herzlich willkommen! Tradition der monarchischen Imperien in Jahrhunderten zuvor; wir alle haben in der Schule etwas von den polni- (Beifall) schen Teilungen gehört. Diese Erfahrung ist tief im kol- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für lektiven Gedächtnis Polens und der baltischen Republi- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre und ken verankert. Deshalb reagieren sie bis heute allergisch sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. auf jede Neuaufage einer Achse Berlin–Moskau. Ich eröfne die Aussprache und gebe Marieluise Beck Historische Verantwortung ist nicht gleichzusetzen das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. mit Schuld. Aber Scham über das, was der deutsche Stie- fel auf ukrainischem Boden angerichtet hat, sollten wir Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE empfnden. GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Mich freut, dass so viele mittel- und osteuropäische Ver- ten der SPD und der LINKEN) tretungen an dieser Debatte teilnehmen; denn wir führen Wenn Geschichte etwas bedeutet, dann die Verpfich- hier eine europäische Debatte. tung, der Ukraine heute in ihrem Streben nach Freiheit In diesem März wurde die deutsch-ukrainische Schrift- und Würde zur Seite zu stehen. Ja, wir haben auch eine stellerin Natascha Wodin mit dem Preis der Leipziger historische Bürde gegenüber Russland abzutragen. Es Buchmesse ausgezeichnet. Natascha Wodins Eltern wur- kann hier nicht darum gehen, das eine gegen das andere den als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. auszuspielen. Dennoch dürfen die Zwischenländer nicht Ihre Mutter beging Selbstmord. Die Mutter kam, wie erneut zur Verhandlungsmasse mit dem Kreml gemacht Natascha Wodin heute weiß, aus Mariupol. Auch wer in werden, schon gar nicht aus Berlin. Yad Vashem in das Kindermausoleum geht, begegnet der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ukraine. Von den unzähligen jüdischen Kindern, deren und bei der CDU/CSU) Namen dort verlesen werden, stammt ein großer Teil aus der Ukraine. In Jalta wurde Europa gegen den Willen der Osteu- ropäer geteilt. Europa endet aber nicht an den Grenzen (B) Der Angrif auf Polen am 1. September 1939 und der (D) des Baltikums und Polens. Die Mittel-Osteuropäer zahl- deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion ge- ten für diesen Weltkrieg mit ihrer Freiheit. Sie zählen zu hören zum politischen Gedächtnis Deutschlands. Doch Recht auf unsere Unterstützung, wenn sie dem freiheitli- es war nicht nur das heutige Russland, das diesen Ver- chen Europa angehören wollen. nichtungskrieg erlitten hat. Die Territorien, auf denen sich dieser Vernichtungskrieg abgespielt hat, heißen heu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN te Polen, Litauen, Lettland, Estland, Belarus, Russland und bei der CDU/CSU) und eben auch Ukraine. In diesen Gebieten fanden die Noch ein Wort zur Ukraine, weil ich weiß, dass hier Ausmerzung der jüdischen Bevölkerung und der gnaden- die Frage aufgeworfen wird: Warum dieser Schwerpunkt lose Krieg gegen die slawische Zivilbevölkerung statt. auf die Ukraine? Wenn ich die Ukraine so hervorhebe, Timothy Snyder zeigt uns in seinem Bloodlands, dass dann weil es das einzige Land in diesen Bloodlands ist, es diese Territorien zwischen Berlin und Moskau waren, in dem gegenwärtig Krieg geführt wird. Auf der Tribüne die unter dem totalitären Wahn des 20. Jahrhunderts be- sitzen Frauen und Mütter von Soldaten, die im Donbass sonders zu leiden hatten. Seit 1941 wüteten Wehrmacht verschwunden sind. und SS unter der jüdischen und slawischen Bevölkerung, Nicht nur der Vernichtungskrieg tobte auf dem Boden die zuvor schon den Bürgerkrieg, den Holodomor und der Zwischenländer; es gab auch die systematische Ver- Stalins Terror erlitten hatte. In der Roten Armee kämpf- schleppung von Menschen als Zwangsarbeiter. Das traf ten unter anderem Millionen ukrainische Soldaten. Sie besonders die Ukraine. Historiker gehen davon aus, dass spielten eine maßgebliche Rolle bei der Befreiung des zwei Drittel der sogenannten Ostarbeiter aus der Ukraine Vernichtungslagers Auschwitz. stammten. Sie haben bei unseren Großeltern und Eltern Die Kreml-Propaganda erweckt heute systematisch auf Bauernhöfen, in Familienbetrieben, in Fabriken ge- den Eindruck, der deutsche Angrifskrieg sei allein ge- arbeitet, oft unter entsetzlichen Bedingungen. Es ist an gen Russland geführt worden. Mehr noch: Die Ukraine der Zeit, auch diesen Teil der Geschichte in den Blick zu wird in dieser Lesart vom Opfer des Vernichtungskrie- nehmen. Ich hofe, dass der Deutsche Bundestag diese ges pauschal zum Nazikollaborateur umgedeutet. Als vor Debatte weiter verfolgen wird, dass es nicht die erste und drei Jahren Millionen von Ukrainern für Unabhängigkeit letzte war. und Freiheit auf die Straße gingen, wurde insinuiert, die- Schönen Dank. se Proteste seien stark getrieben von Bandera-Faschisten und Antisemiten. Leider traf das auch bei uns in Deutsch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN land auf fruchtbaren Boden. und bei der CDU/CSU) 23862 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: gegenseitigen Verstehen und die gemeinsame Aufarbei- (C) Vielen Dank, Marieluise Beck. – Nächster Redner: tung der totalitären Vergangenheit. Dr. Christoph Bergner für die CDU/CSU-Fraktion. Zum gegenseitigen Verstehen. Selbst die Historiker- (Beifall bei der CDU/CSU) zunft muss eingestehen, sich in der Vergangenheit zu wenig mit der ukrainischen Geschichte als eigenständige Geschichte beschäftigt zu haben. Der renommierte deut- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): sche Historiker Karl Schlögel hat das neulich in einem Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vor- selbstkritischen Ausruf eingestanden – Zitat –: liegende Antrag appelliert an die historisch-moralische Ich musste feststellen, dass man sich ein Leben lang Verantwortung Deutschlands gegenüber der Ukraine. mit dem östlichen Europa, mit Russland und der Wir nehmen diesen Appell, verehrte Frau Kollegin Beck, Sow­jetunion beschäftigen konnte, ohne eine genau- sehr ernst. Die Gräuel während des von Deutschland ere Kenntnis von der Ukraine zu besitzen ... ausgehenden rassistisch motivierten Okkupationskrieges und der barbarische Zivilisationsbruch in Polen, im Bal- Das betrefe nicht nur ihn, sondern auch manche andere tikum, in der Ukraine, in Belarus und Russland, in der seiner Zunft, die so spät zu dieser Einsicht kamen. – Wol- Region, die Timothy Snyder, wie Sie schon sagten, als len wir den Ukrainern auf dem Weg zu einem souveränen Bloodlands bezeichnete, wo antisemitischer und antisla- und modernen Staat helfen, so müssen wir die Hinter- wischer Rassismus furchtbares Leid verursachte, werden gründe verstehen, die diese Gesellschaft geformt haben, im Antrag eindrücklich beschrieben. bevor wir vorschnelle Schlüsse ziehen. Es gibt mehrere Anlässe, die historische Erinnerung Zum zweiten Aspekt. Es gehört zu meiner Grundüber- an diese Ereignisse in unserem Parlament zu themati- zeugung, dass der Übergang zu demokratischen Gesell- sieren. Ein für mich besonders wichtiger Bezug war der schaften im postsowjetischen Raum insbesondere dort 75. Gedenktag des Massakers in der Schlucht von Babi nicht gelungen ist, wo es keine echte Aufarbeitung der Jar im September letzten Jahres. Eine wichtige Botschaft, totalitären Vergangenheit gab. Das schließt die Aufarbei- mit der ich dieses Gedenken verbinden möchte, fnde ich tung der totalitären Ära des Stalinismus ein. Kern und in der Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim Ziel unserer gemeinsamen Vergangenheitsbewältigung Gauck, die er zu diesem Anlass in Kiew gehalten hat: In ist die umfassende Aufarbeitung der totalitären Vergan- dem Maß, in dem es uns gelingen wird, dem Gedächtnis genheit. In seiner letzten Publikation Black Earth erwei- Raum zu geben, „wird auch das gemeinsame Erinnern tert Timothy Snyder sein Konzept der Bloodlands um die möglich sein, das wir brauchen, dringend brauchen, weil These, dass dem Zivilisationsbruch im Einfussbereich (B) die Geschichte, um die es geht, eine gemeinsame ist“. beider totalitären Regime – Hitlers und Stalins – eine (D) systematische Vernichtung von Staat und Recht voran- Weiter sagte er: ging. Antworten auf unsere Fragen werden wir nur ge- Damit komme ich zu den Schlussfolgerungen. Wir ha- meinsam fnden. Dies ist kein Plädoyer für die ben eine historisch-moralische Verpfichtung, die Ukrai- Verwischung von Verantwortlichkeiten, sondern ne am europäischen Friedenswerk zu beteiligen. vielmehr für eine grenzübergreifende, gemeinsame Forschung, für eine Forschung, die neuerlich modi- (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- schen Versuchungen widersteht, die Wahrheit durch NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- das Prisma der Nation zu suchen. ten der SPD) Wir müssen zur Hilfe bereit sein, wenn es darum geht, Diese Worte des Bundespräsidenten machen deut- das Land zu stabilisieren, seine Institutionen zu stärken lich: Wir Deutsche müssen uns der Verantwortung be- und dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zur Geltung zu wusst bleiben, die auf Deutschland als Rechtsnachfolger verhelfen. Der vorgegebene Rahmen ist zurzeit das eu- der Dritten Reiches lastet. Wir sind in einer besonderen ropäische Nachbarschaftskonzept sowie zahlreiche bila- Pficht, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Wir sollten terale Kooperationen, die den Assoziierungsprozess der Formen der Aufarbeitung suchen, die im Sinne nachhal- Ukraine fankieren. Ich habe nicht die Zeit, alle Aktivi- tiger Aussöhnung gemeinschaftlich vollzogen werden täten aufzuführen, die beispielsweise im Rahmen des können. Das gilt nicht nur für die Bloodlands im Allge- Haushaltes des Auswärtigen Amtes in der Auswärtigen meinen, sondern besonders für die Ukraine, gerade an- Kultur- und Bildungspolitik erfolgen. gesichts der gewaltigen Herausforderungen, die die Ge- sellschaft dieses Landes gegenwärtig zu bewältigen hat. Wir wollen ein Zeichen für die Aufarbeitung des tota- litären Zeitalters des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich europäischer Werte setzen und einige Defzite auf diesem die Einrichtung der Deutsch-Ukrainischen Historiker- Gebiet ausräumen. Die ukrainische Emanzipationsbewe- kommission begrüßen, die 2015 erfolgte. Im April 2016 gung spätestens seit dem Maidan gibt uns dafür einen haben Frank-Walter Steinmeier und sein damaliger ukra­ guten Anlass. Die Menschen, die in den Februartagen inischer Kollege Pawlo Klimkin die Schirmherrschaft 2014 ihr Leben für die europäische Idee lassen mussten, über die Kommission übernommen. Seit März 2016 wird verpfichten uns dazu. die Kommission mit Mitteln der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik fnanziert. Zwei Aspekte sehe ich als 2012 erhielt die Europäische Union den Friedens- zentrale Aufgaben dieser Kommission an: die Arbeit am nobelpreis. Ich bitte noch einmal, sich die Begründung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23863

Dr. Christoph Bergner (A) für die Verleihung dieses Friedensnobelpreises deutlich tik des Friedens und des Ausgleichs zu entwickeln. Das (C) zu machen, damit sichtbar wird, dass die Europäische wäre historische Verantwortung. Union das sichtbarste und denkbar beste Produkt ge- meinsamer Kriegsfolgenaufarbeitung ist. Deshalb ist es (Beifall bei der LINKEN – Dr. Rolf so ungeheuer wichtig, dass wir unsere nationale histo- Mützenich [SPD]: Was?) risch-moralische Verpfichtung, die wir gegenüber der Aber davon sind wir meilenweit entfernt, und das wis- Ukraine, aber auch gegenüber den anderen Bloodlands sen Sie. Schlimmer ist: Mit der NATO-Osterweiterung, haben, in unsere europäische Politik einbinden, dass wir der Durchsetzung des EU-Ukraine-Assoziierungsab- die Hand zur Nachbarschaft ausstrecken und Perspekti- kommens und der Unterstützung des verfassungswid- ven setzen und dass wir bereit sind, bei den gleichen Ver- rigen Umsturzes im Februar 2014, aber auch durch die pfichtungen, die wir gegenüber Russland haben, uns vor entsprechenden russischen Reaktionen auf der Krim und faulen Kompromissen zu bewahren. im Donbass wurde die historisch tief zerrissene Ukraine weiter polarisiert. Denn es ist zwar bedauerlich, aber wir haben uns da- mit auseinanderzusetzen – – Bis heute werden die Maidan-Proteste und der fol- gende Umsturz – das haben wir eben gehört – von der Bundesregierung und auch von den Grünen glorifziert, Vizepräsidentin Claudia Roth: obwohl es dort eine starke Hegemonie rechtsnationalis- Denken Sie an Ihre Redezeit, bitte. tischer Kräfte gab, die sich auf den Nazikollaborateur Bandera bezogen. Sein Bild war überlebensgroß auf dem Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Maidan zu sehen. Militante Gruppen, die sich auf ihn be- ziehen, spielten in dieser Entwicklung eine Schlüsselrol- – letzter Satz, Frau Präsidentin –: Die gegenwärtige le. Hier wäre es historisch verantwortungsvoll gewesen, russische Politik sieht in einem erfolgreichen ukraini- zu diferenzieren, anstatt diese Bewegung, die natürlich schen Weg eine Herausforderung oder gar eine Gefahr nicht nur aus Nazis bestand – das ist klar –, sie spielten für das eigene totalitäre Konzept. Dem dürfen wir im In- aber eine große Rolle, einseitig zu protegieren bis hin teresse der gemeinsamen europäischen Werte nicht nach- zum Besuch des damaligen Außenministers Westerwelle. geben. Die historische Rolle Banderas und seiner Organisa- Vielen Dank. tion Ukrainischer Nationalisten wird im Antrag der Grü- nen trotz einiger Auslassungen beschrieben. Gleichzei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tig wird beklagt – das haben wir eben gehört –, Bandera neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN diene der russischen Propaganda als Verkörperung eines (B) und des Abg. Dr. Fritz Felgentreu [SPD]) (D) ukrainischen Faschismus. Was denn sonst? Bandera und seine Organisation waren glühende Antisemiten sowie Vizepräsidentin Claudia Roth: Polen- und Russenhasser und an Massakern beteiligt, die Vielen Dank, Dr. Bergner. – Nächster Redner: Andrej Tausende Zivilisten das Leben gekostet haben. Hunko für die Linke. Als Bandera erstmals im Jahre 2010 vom damaligen Präsidenten Juschtschenko zum „Helden der Ukraine“ (Beifall bei der LINKEN) erklärt wurde, protestierten nicht nur Russland, sondern auch Polen, das EU-Parlament, mehrere jüdische Organi- Andrej Hunko (DIE LINKE): sationen sowie natürlich auch zahlreiche Ukrainer gegen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diese Entscheidung. Deutsche historische Verantwortung sprechen heute über den Antrag der Grünen „Historische wäre es, diese Kollaboration der OUN, der Organisation Verantwortung Deutschlands für die Ukraine“. Die Linke Ukrainischer Nationalisten, mit den Nazis aufzuarbeiten sagt ganz klar: Ja, es gibt eine historische Verantwortung und sich ganz unzweideutig von Kräften in dieser Tradi- Deutschlands gegenüber der Ukraine, aber auch gegen- tion zu distanzieren. über den anderen Ländern, (Beifall bei der LINKEN – Zuruf der Abg. (Beifall bei der LINKEN) Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) gegenüber Russland, Belarus, Polen und dem Baltikum. Wie sieht die Lage heute in der Ukraine aus? Darüber Die historische Verantwortung ergibt sich in erster wurde gar nicht gesprochen. Vor wenigen Tagen wurden Linie aus dem ungeheuerlichsten Eroberungs-, Verskla- fast alle russischen sozialen Netzwerke in der Ukraine vungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Ge- durch einen Erlass von Poroschenko gesperrt – da wäre schichte kennt und dem schätzungsweise 27 Millionen sicherlich selbst Erdogan vor Neid erblasst –, darunter damalige Sowjetbürger zum Opfer gefallen sind, darun- zum Beispiel das soziale Netzwerk VKontakte, dessen ter neben Millionen Russen auch viele Ukrainer. Verbreitungsgrad in der Ukraine mit dem von Facebook in Deutschland vergleichbar ist, und die Suchmaschine Die Erinnerung an dieses Menschheitsverbrechen ist Yandex. Diese Sperrung wurde zu allem Überfuss von meines Erachtens viel zu wenig ausgeprägt. Die wich- der NATO begrüßt. Ich habe heute Morgen noch einmal tigste Lehre sollte es sein, alles zu tun, um im Osten ge- bei der NATO nachgefragt: Die NATO unterstützt diese genüber der Ukraine und gegenüber Russland eine Poli- Sperrung. Ich fnde das unerträglich. Frau Beck, das hat 23864 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Andrej Hunko (A) doch nichts mit dem Streben nach Freiheit zu tun, wie Sie zu relativieren, entschieden entgegentreten, und zwar (C) es hier erzählen. in unserer gesamten Gesellschaft und nicht nur hier im Bundestag. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Ebenfalls vor einigen Tagen wurde der 25-jährige BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Denis Kindrat von einem Gericht in Lwiw zu zweinhalb Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]) Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in den sozialen Netz- werken Lenin-Zitate gepostet hatte. Wo leben wir denn? Die entscheidende Frage lautet, was daraus für un- sere Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäi- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) schen Staaten folgt, sowohl mit denen, die damals zum Grundlage dafür ist ein Gesetz, das sogenannte Antikom- Warschauer Pakt gehört haben, als auch mit denen, die munisierungsgesetz, das die Venedig-Kommission des einst zur Sowjetunion gehört haben. Es gibt historische Europarates sehr deutlich kritisiert hat. Hier wäre statt Erfahrungen, auf die wir aufbauen können, nämlich die Schönrederei ein deutliches Wort der Bundesregierung Erfahrungen mit der deutschen Teilung. Die Situation im oder auch dieses Parlamentes zu erwarten gewesen. Verhältnis der Ukraine zu Russland ähnelt derjenigen, die wir zwischen 1949 und 1989 in Deutschland hatten. (Beifall bei der LINKEN) Es gibt viele verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Ich will zusammenfassen: Die Ukraine und vor al- den Menschen, die in der Ukraine leben, und den Men- len Dingen die Bevölkerung in der Ukraine werden als schen, die in Russland leben. Nach den Zahlen, die ich Frontstaat in einem neuen Kalten Krieg keine Zukunft kenne, hat ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung Ver- haben. Die Bevölkerung der Ukraine ist ebenso wie die wandte in Russland. Umgekehrt ist es ähnlich. Ob die anderen sogenannten Zwischenvölker, die Sie genannt russischsprachigen sozialen Netzwerke in der Ukraine haben, mehr denn je darauf angewiesen, dass es zur Ent- noch zugänglich sind, betrift nicht nur die Pressefreiheit, spannung kommt, dass es zu einem Ausgleich zwischen sondern auch die Frage, ob Europa diese Kontakte, wie Ost und West kommt, dass es zu einem guten Verhältnis sie auf ähnliche Weise zwischen der Bundesrepublik und zu allen Nachbarn kommt. Dafür tritt die Linke ein. der DDR bestanden, erhalten und so eine Kommunikati- on zwischen diesen beiden Ländern auf der persönlichen Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Ebene ermöglichen will. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: (B) Genauso wichtig ist die Rolle, die Deutschland im (D) Vielen Dank, Kollege Hunko. – Nächste Rednerin: Geiste der Entspannungspolitik von Willy Brandt, der Dr. Ute Finckh-Krämer für die SPD-Fraktion. nicht nur einen Ausgleich mit der Sowjetunion, son- dern auch mit Polen, Ungarn und der Tschechoslowa- Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): kei gesucht hat, spielen kann. Was müssen wir tun, um Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gutnachbarschaftliche Beziehungen zwischen den ehe- Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribü- maligen Sowjetrepubliken zu schafen? Wie können wir nen! Ich erkenne genau wie alle Vorredner die histori- die anderen Länder einbeziehen, wenn es etwa um die sche Verantwortung für die Ukraine und die anderen von Demokratisierung in der Ukraine und die Weiterentwick- Deutschland besetzten Territorien der ehemaligen Sow- lung der ukrainischen Verfassung geht. jetunion uneingeschränkt an und möchte daran erinnern, Aus meiner Sicht war Folgendes ein sehr guter An- dass deutsche Nichtregierungsorganisationen wie Akti- satz: Damals, als die Gewalt auf dem Maidan eskalier- on Sühnezeichen Friedensdienste in diesen Territorien te, ist der deutsche Außenminister zusammen mit dem schon vor dem Ende der Sowjetunion aktiv waren. französischen und dem polnischen Außenminister nach Ich selber bin mehr zufällig 1983 nicht in Babi Jar, wo Kiew gefahren, um zu einer Gewaltdeeskalation bei- ASF schon damals aktiv war, sondern in Chatyn gewe- zutragen. Damit haben ein Staat, der im Zweiten Welt- sen. Ich bin mit einer anderen kirchlichen Gruppe noch krieg aufseiten der Sowjetunion gekämpft hat, ein Staat, zu Zeiten der Sowjetunion in Leningrad gewesen und der besonders gelitten hat und ein Nachbar der Ukrai- habe dort das beeindruckende Hungermuseum besucht. ne ist – ich meine Polen –, und Deutschland gemeinsam Egal an welchem Gedenkort man gewesen ist, es lässt Verantwortung für den europäischen Nachbarn Ukraine einen nicht wieder los. Ein solcher Besuch gibt einem übernommen. Das Normandieformat, das geschafen eine Vorstellung davon, was diese Länder Fürchterliches wurde, um zu versuchen, den Bürgerkrieg mit russischer durchgemacht haben. Einmischung in der Ostukraine zu deeskalieren, hat sich als tragfähig erwiesen. Polen ist zwar nicht Mitglied die- (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE ser Verhandlungsgruppe, wird aber von Deutschland und LINKE]) Frankreich eng eingebunden. Die Konsequenz darf nicht nur sein, zu überlegen, (Beifall bei der SPD) wie wir der historischen Verantwortung gerecht werden können. Vielmehr müssen wir – dieser Punkt wurde noch Insofern bedeutet Verantwortung zu übernehmen, nicht genannt – jeder Schlussstrichdebatte, jeder Debat- alles zu tun, um den Bürgerkrieg in der Ostukraine zu te, die zum Ziel hat, unsere historische Verantwortung beenden. Dabei geht es um die Beteiligung Deutsch- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23865

Dr. Ute Finckh-Krämer (A) lands an der Monitoring Mission und an immer neuen und Kollegen. Dies darf sich nun wirklich nie wieder- (C) Vorschlägen, wie man zu einer Deeskalation bzw. zu ei- holen. nem Wafenstillstand, der Voraussetzung für einen Frie- densprozess ist, kommen kann. Es geht aber auch um die (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem ständigen Bemühungen um die Östliche Partnerschaft BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit allen Staaten, die sich als ehemalige Sowjetrepu­ Heute befndet sich die Ukraine wegen der völker- bliken zu Europa zählen und bis auf Belarus Mitglieder rechtswidrigen Annexion der Krim und der kriegerischen des Europarates sind. Mit diesen Staaten unterhalten wir Auseinandersetzung mit Russland im Donbass erneut in enge Beziehungen und wollen das auch weiter tun. Dazu einer äußerst kritischen Situation. Täglich sterben Solda- gehören Städtepartnerschaften, und dazu gehört die ge- ten und Zivilisten. Wieder ist die Ukraine Opfer. Diesmal meinsame Arbeit im Europarat. Weiter gehören dazu zi- sind es die Machtinteressen Putins und sein Expansions- vilgesellschaftliche – zum Beispiel kulturelle – Kontakte. wille, die das Land in eine tiefe Krise gestürzt haben. Damit werden wir, glaube ich, unserer Verantwortung so Hier setzt unsere, aber auch die europäische Verantwor- gut gerecht, wie wir es angesichts der unvergleichlichen tung ein. Verbrechen des Zweiten Weltkrieges nur tun können. ( [DIE LINKE]: Und die Interes- Danke schön. sen Europas und der NATO!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Ja, Sie sind Putinversteher und Russlandversteher. Des- der LINKEN) halb sehen Sie das anders. (Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE Vizepräsidentin Claudia Roth: LINKE]) Vielen Dank, Ute Finckh-Krämer. – Nächste Rednerin ist Elisabeth Motschmann für die CDU/CSU-Fraktion. – Sie müssen es einfach ertragen, dass hier gesagt wird, was im Augenblick in der Ukraine wieder an Unrecht (Beifall bei der CDU/CSU) und Leid durch das russische System bzw. durch Putin produziert wird. Elisabeth Motschmann (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dr. Fritz Felgentreu [SPD] – Karin Binder Ich beginne mit einem Zitat von Roman Herzog: [DIE LINKE]: Und durch die NATO nicht?) Europäische Identität bedingt die Herausbildung ei- In dem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, (B) nes europäischen Gedächtnisses, das das Gemeinsa- sich durch Bildungsarbeit und Kulturprojekte für eine Er- (D) me an Verantwortung ins Bewusstsein hebt. innerungskultur einzusetzen. Dies geschieht – das wurde eben auch erwähnt – auf vielfältige Weise. Allerdings Genau darum muss es gehen: um ein europäisches Ge- müssen wir sagen: Der Blick zurück in die Geschichte dächtnis und um gemeinsame Verantwortung. ist nur der eine Teil unserer Verantwortung. Der andere Die ganze Tragik des NS-Vernichtungskrieges, aber Teil ist der Blick nach vorne. Das bedeutet, dass wir die auch die stalinistischen Gräueltaten in Osteuropa – ins- Ukraine bei ihren Bemühungen auf dem Weg zu einem besondere in der Ukraine – sind bisher viel zu wenig im demokratischen Rechtsstaat unterstützen. Dieser Weg ist europäischen Gedächtnis verankert bzw. in der deutschen schwer und weit. Demokratische Kräfte ringen mit den Öfentlichkeit bekannt. Deshalb ist es gut, dass der Antrag Kräften, die verharren und alte Strukturen beibehalten der Grünen mit der notwendigen Aufarbeitung beginnt wollen. Dennoch sind erste Erfolge sichtbar. Vieles steht und die historische Verantwortung Deutschlands her- noch aus: die Einrichtung von Korruptionsgerichten, vorhebt. Mein ausdrücklicher Dank geht an Marieluise weitere Privatisierungen, die Justizreform, die bessere Beck, meine Bremer Kollegin. Ich danke ihr dafür, dass Bezahlung der Mitarbeiter des öfentlichen Dienstes. Die sie das hier vorgelegt hat. Ukraine hat ein Umsetzungsproblem. Mit anderen Wor- ten: Es fehlt noch ein Mindestmaß an politischer Kultur. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Ulla Jelpke [DIE Dennoch: Die Maidan-Revolution – ich komme zum LINKE]: Das ist nicht wahr!) Schluss, Frau Präsidentin – darf nicht umsonst gewesen sein. Wir müssen der russischen Propaganda entgegen- Leider bezieht sich der Antrag – das wurde vielfach treten, die den Maidan als Werk militanter Rechtsextre- erwähnt – jedoch isoliert auf die Ukraine. Andere ost- misten difamiert. Das kann nicht richtig sein. Wer immer europäische Länder, zum Beispiel Polen, die baltischen sich in die große Zahl der friedliebenden Demonstranten Staaten und Belarus, fehlen. Wir müssen aber festhalten: eingeschleust hat – Nirgendwo wurde der NS-Vernichtungskrieg so brutal geführt wie in der Ukraine. Stellvertretend für die syste- (Karin Binder [DIE LINKE]: Man kann sich matische Ermordung osteuropäischer Juden steht – auch die Welt auch schönreden!) das wurde erwähnt – die Schlucht von Babi Jar. Hier der Maidan war keine Bewegung von Rechtsextremisten. wurden innerhalb von 36 Stunden 33 761 Juden ermor- det. Kinder wurden auf die Leichenberge geworfen und (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- lebendig begraben, um Munition zu sparen. Eine Steige- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeord- rung der Grausamkeiten gibt es nicht, liebe Kolleginnen neten der SPD – Karin Binder [DIE LINKE]: 23866 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Elisabeth Motschmann (A) Aber durchmischt mit Rechtsextremisten! Das Dass der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion (C) sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen!) auf dem Boden der Ukraine ausgekämpft wurde, ist eine Tatsache, die wir uns manchmal nicht genügend bewusst Ich komme zum Schluss. Ich wollte so gerne noch machen. auf die vielfältigen Kulturprojekte, die wir dort verwirk- lichen, eingehen. Ich schließe damit, dass ich an dieser (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Stelle ganz ausdrücklich unserer Bundeskanzlerin dafür DIE GRÜNEN]: So ist es!) danken möchte, dass sie sich in unglaublich guter Weise dafür einsetzt, dass das Abkommen von Minsk eingehal- Die Erschütterungen und inneren Konfikte, die diese ten wird, dass der Konfikt beigelegt wird, dass die Sank- Kriege ausgelöst, und die Opfer, die sie gekostet haben, tionen eingehalten werden, zeichnet der vorliegende Antrag nach. Sie haben der Ukraine ihren Stempel aufgedrückt. Ihre Nachwirkungen (Andrej Hunko [DIE LINKE]: Das läuft ja sind bis heute spürbar. super!) Das Anliegen des Antrags und die einzige Forderung, und dass sie viele Gespräche, Verhandlungen und Telefo- die er erhebt, erscheinen mir daher durchaus sinnvoll und nate mit Putin – das ist schwer – geführt hat. Herzlichen berechtigt. Die SPD-Fraktion wird aber den Antrag den- Dank, . noch so, wie wir ihn heute lesen, nicht beschließen kön- nen. Gestatten Sie mir, drei Gründe dafür auszuführen. (Beifall bei der CDU/CSU) Erstens bedarf eine Positionsbestimmung des Deut- schen Bundestages in einer so wichtigen Frage einer ge- Vizepräsidentin Claudia Roth: meinsamen Anstrengung aller Fraktionen, die dazu bereit Vielen Dank, Elisabeth Motschmann. – Nächster Red- sind. ner: Dr. Fritz Felgentreu für die SPD-Fraktion. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Elisabeth DIE GRÜNEN]: Das habe ich seit Monaten Motschmann [CDU/CSU]) versucht!) Der Antrag einer einzigen Fraktion ist dafür doch eine zu Dr. Fritz Felgentreu (SPD): schmale Grundlage. Bisher haben Grüne, SPD und Uni- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Nad on nicht zu einer gemeinsamen Haltung gefunden, Bab’im Jarom pamjatnikow net“, „über Babi Jar, da steht keinerlei Denkmal“ – dieser berühmte Stoßseufzer am ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) Anfang von Jewgenij Jewtuschenkos monolithischem NEN]: Jetzt erklären Sie uns doch einmal, wa- (D) Gedicht über das Massaker an den Kiewer Juden im rum!) Herbst 1941 wirkt auf mich ein bisschen wie eine ab- und mit der Fraktion der Linken dürfte sie gar nicht er- schließende Verdichtung vieler Beweggründe für Ihren reichbar sein. Antrag, liebe Frau Beck. Im übertragenen Sinne kann dieser Ort, der als denkmalsloser in die Weltliteratur Ob die Ausschussberatungen noch Fortschritte brin- eingegangen ist, für das Verhältnis immer noch zu vie- gen werden, müssen wir ausloten. ler Deutscher zur Ukraine stehen. Der Ukraine scheint gleichsam die Landmarke, das Erkennungsmerkmal, zu Vizepräsidentin Claudia Roth: fehlen. Es fällt zu vielen von uns immer noch schwer, neben dem gewaltigen Russland, das so großen Raum im Herr Felgentreu, erlauben Sie eine Zwischenfrage kollektiven Bewusstsein in Anspruch nimmt, die Ukrai- oder eine Bemerkung von Frau Beck? ne überhaupt als europäisches Land mit eigener Identität und eigener Geschichte angemessen wahrzunehmen. Dr. Fritz Felgentreu (SPD): (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Ja bitte, gern. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE Darauf hat sie aber einen Anspruch, sowohl aus eige- GRÜNEN): nem Recht als auch aus einer historischen Verantwortung Deutschlands heraus. Es ist ein Verdienst des Antrags der Verehrter Herr Kollege, dieser Antrag war im Septem- Grünen, diesen Anspruch zu begründen. ber des vergangenen Jahres fertig. Ich habe über Monate hinweg – das können die Kollegen von der SPD und von Die junge Generation, die bereits in einer unabhängi- der CDU/CSU bestätigen – darum geworben und gebe- gen Ukraine aufgewachsen ist, sieht sich mit unzähligen ten, dass wir gemeinsam an diesem Antrag arbeiten, um Herausforderungen und Problemen konfrontiert. Es han- ihn gemeinsam einbringen zu können. Ich habe mit der delt sich dabei nicht nur, aber auch um Spätfolgen histo- Einbringung gewartet bis November 2016, um ebendiese rischer Katastrophen, für die Deutschland einen großen Gelegenheit zu geben, daran zu arbeiten. Ich habe dann Teil der Verantwortung trägt. Zweimal hat Deutschland weiterhin bis in die Fraktionsspitzen hinein trotz des Är- auf ukrainischem Boden zerstörerisch Krieg geführt, ein gers mit den Kollegen fast bis zu dem Punkt, an dem ich weiteres Mal brachte der Vormarsch der sowjetischen Ar- dachte: „Ich nerve meine Kollegen“, immer wieder da- meen große Verwüstungen mit sich. rum gebeten: Lasst uns gemeinsam etwas machen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23867

Marieluise Beck (Bremen) (A) Vielleicht können wir das Ganze voranbringen. Wir Niels Annen (SPD): (C) werden noch eine Debatte zur Östlichen Partnerschaft Es ist in der Tat richtig: Der Antragstext von Frau haben. Ich lade beide Fraktionen dazu ein, an diesem Beck lag seit langem vor. Aber was Frau Beck hier nicht Antrag in der von Ihnen gewünschten Weise zu arbeiten. erwähnt, ist, dass vonseiten der Koalitionsfraktionen Wir könnten ihn dann zu dieser Debatte über die Östliche ebenfalls die Bereitschaft vorlag, darüber zu diskutieren. Partnerschaft gemeinsam einbringen. Es besteht bei uns Sie wissen, wir haben einen Koalitionsvertrag geschlos- jede Ofenheit für Ergänzungen und Veränderungen. sen. Normalerweise beschließen wir als Koalitionsfrakti- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- onen in diesem Parlament die Anträge, die wir gemein- SES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) sam in den Bundestag einbringen. Das heißt, es gab ein großes Entgegenkommen. Aber wir wollten gemeinsam, dass wir uns nicht – ich sage das in Anführungszeichen – Dr. Fritz Felgentreu (SPD): „nur“ über die Ukraine unterhalten, sondern dass wir ei- Das ist vielleicht ein ganz gutes Stichwort. Ich bin ja nen gemeinsamen Antrag zu unserer Politik, was die Öst- kein Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, wie Sie wis- liche Partnerschaft angeht, auf den Weg bringen – auch sen, und ich bin deswegen nur aus zweiter Hand über die aus dem Grund, den der Kollege Felgentreu hier gerade Abstimmungsprozesse informiert, die im Hintergrund im vorgetragen hat: dass geschichtspolitische Beschlüsse Laufe der letzten zwölf Monate stattgefunden haben. des Parlamentes einer großen gesellschaftlichen Debatte bedürfen. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Jetzt aus erster Hand!) Das heißt, die Bereitschaft der Koalitionsfraktionen, Impulse des grünen Antrags aufzunehmen, ist immer da Ich meine mich aber zu erinnern, dass ursprünglich ein gewesen, ist aber von der sehr geschätzten Kollegin Beck Problem im Umgang mit dem Vorschlag der Grünen da- stets abgelehnt worden, weil sie, was ihr gutes Recht und rin lag, dass er eigentlich auf eine Stellungnahme zum das Recht der Grünenfraktion ist, darauf bestanden hat, Jahrestag des Massakers von Babi Jar im vergangenen einen Antrag – in Anführungszeichen – „nur“ zur Ukrai- Jahr ausgerichtet und dass der Beratungszeitraum relativ ne zu verabschieden. kurz war. Deswegen werden Sie sich, wenn Sie sich den Entwurf Andererseits gab es zumindest bisher von grüner Seite des Antrags zur Östlichen Partnerschaft, den wir einbrin- keine große Bereitschaft, den historischen Blickwinkel, gen werden, anschauen, selber davon überzeugen kön- den sie einnehmen, um eine Perspektive auf die Gegen- nen, dass wir einen Schwerpunkt auf die Ukraine legen, wart zu ergänzen. dass wir dort auch historische Bezüge formulieren, aber (B) hier eben ganz explizit keinen geschichtspolitischen An- (D) (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- trag einbringen wollen. Insofern werden wir natürlich in NEN]: Das ist nicht wahr! – Marieluise Beck den Ausschussberatungen darüber miteinander sprechen. [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an Aber ich fnde, wir müssen hier schon bei der Wahrheit den Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD] gewandt: bleiben. Das heißt, dass die Dialogbereitschaft vonseiten Herr Mützenich, würden Sie das bitte richtig- unserer Fraktion immer gegeben gewesen ist. Deswegen stellen?) sollte man das hier in einer Debatte, die wir angemessen Es ist schwierig gewesen, eine Abstimmung vorzuneh- miteinander führen wollen, richtigstellen. men; so habe ich es zumindest verstanden. Vielen Dank. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es wäre schön, wenn der Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Kollege Mützenich Ihren Eindruck richtigstel- Vielen Dank, lieber Kollege Annen. – Frau Beck, ich len würde!) bitte um Verständnis: Ich glaube, wir sollten hier jetzt nicht die Ausschussdebatte vorwegnehmen. Für eine sol- Vizepräsidentin Claudia Roth: che Debatte ist ja der Ausschuss da. So wie es der Kol- lege Annen hier eben dargestellt hat, so ist die Kommu- Herr Felgentreu, erlauben Sie eine Zwischenfrage nikationssituation zumindest auch bei mir angekommen. oder Bemerkung von Niels Annen? Das habe ich auch zur Grundlage meiner Ausführungen hier gemacht, die noch ein bisschen weitergehen sollen. Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Auf genau diese Punkte werde ich noch eingehen. Er möchte dazu wohl eine Stellungnahme abgeben. Wie ich eben gesagt habe: Neben einer Positions- Bitte schön. bestimmung, die sich der historischen Verantwortung stellt – davon bin ich fest überzeugt –, brauchen wir auch Niels Annen (SPD): den Blick auf die Gegenwart. Ohne ihn kommen wir nicht Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich glaube, wir müssen aus. Ich fnde, das, was Ute Finckh-Krämer gesagt hat, das hier schon ein bisschen klarstellen. zeigt deutlich, warum das so ist und dass das unbedingt in eine solche Positionsbestimmung des Deutschen Bun- destages hineingehört. Anteilig wird dieser Blick jetzt in Dr. Fritz Felgentreu (SPD): einem umfassenden Antrag zur Weiterentwicklung der Eben. Östlichen Partnerschaft von den Koalitionsfraktionen 23868 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Dr. Fritz Felgentreu (A) vorbereitet. Ich würde mich freuen, wenn es gelänge, Bräuchen sowie – das ist wichtig – einer kulturell auf (C) beide Perspektiven, die historische und die aktuelle, zu- Europa ausgerichteten Bevölkerung. sammenzuführen. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Wir brauchen tatsächlich ein noch genaueres Nach- DIE GRÜNEN]: Sehr gut! So ist es!) denken darüber, wodurch sich die deutsche Haltung Was wissen wir in Deutschland über die Massenin- gegenüber der Ukraine in Abgrenzung von ihren Nach- haftierungen und Massenhinrichtungen der ukrainischen barstaaten eigentlich auszeichnet. Entweder tun wir das, Schriftsteller, Publizisten und Künstler in den 20er- und oder wir müssen mindestens Weißrussland, wahrschein- 30er-Jahren, die sogenannte erschossene Renaissance in lich aber auch die Moldau und einige andere Staaten in der Ukraine? Was wissen wir über den Holodomor, eine breiter angelegte Positionsbestimmung einbeziehen; denn fast alles, was wir zur deutschen Verantwortung (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ gegenüber der Ukraine formulieren, wäre ähnlich oder DIE GRÜNEN]: Ja, genau!) gleich auch über Weißrussland zu sagen. Damit wird die den millionenfachen Völkermord Stalins durch gewolltes Aufgabe, eine Haltung und Richtung festzulegen, noch Verhungernlassen in den Jahren 1932/1933? Was wissen komplexer, als sie sowieso schon ist; denn bei aller Ähn- wir über die massiv unterdrückte Dissidentenbewegung lichkeit der historischen Erfahrungen sehen wir in der in der Ukraine in den 60er-Jahren? Was wissen wir über Gegenwart beider Länder doch sehr große Unterschiede. die studentische „Revolution auf dem Granit“ – so wird Die SPD-Fraktion wird deshalb, wie eben deutlich ge- sie genannt – auf dem Kiewer Maidan im Oktober 1990? worden ist, die Initiative der Grünen bei der Beratung im Die historische Verantwortung Deutschlands für die Ausschuss konstruktiv würdigen. Ich traue diesem Parla- Ukraine besteht auch darin, das Wissen über die Ukraine ment zu, etwas Gutes daraus erwachsen zu lassen. Aber in Deutschland zu vertiefen. es könnte sich am Ende in einer ganz anderen Gestalt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie präsentieren, als wir heute absehen können. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Vielen Dank. GRÜNEN) Erst nach dem Euromaidan 2014 wurde die erste (Beifall bei der SPD) Deutsch-Ukrainische Historikerkommission gegründet – das wurde bereits erwähnt –, und erst im vergangenen Vizepräsidentin Claudia Roth: Jahr hat das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien seine Arbeit aufgenommen. Vielen Dank, Dr. Felgentreu. – Letzter Redner in die- (B) ser Debatte: Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Frak- Ja, es ist die Aufgabe dieses Deutschen Bundestages, (D) tion. der historischen Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Das friedliche Zusammenleben der Völker, die Versöh- (Beifall bei der CDU/CSU) nung einer Nation mit sich selbst und mit ihren Nachbarn setzt die wahrheitsgetreue Aufarbeitung der Geschichte Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): voraus. Die Interpretation der Ereignisse im Einzelnen und ihre historische Einordnung sind aber nicht Aufga- Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und be des Staates. Wir lehnen eine ukrainische Staatsge- Kollegen! Die Unionsfraktion – das vorab – versteht schichtsschreibung ebenso ab wie die bekannte sowje- Ihr Anliegen, Frau Beck, bzw. das Anliegen der Grünen tische Interpretation der Geschichte; wir lehnen beides durchaus. Wir sind auch bereit – das waren wir auch zu- gleichermaßen ab. Stattdessen ist es die Aufgabe von vor schon –, dem Anliegen Ihres Antrags in dem ihm ge- Historikern, die geschichtlichen Abläufe wissenschaft- bührenden größeren Rahmen der bereits erwähnten Öst- lich, wahrheitsgetreu darzustellen. lichen Partnerschaft nachzukommen und eine möglichst breite Übereinstimmung im Umgang mit den Themen zu Durch die Annexion der Krim und das aktive Einmi- fnden, über die ich jetzt kurz sprechen möchte. schen im Osten der Ukraine hat Russland die territoriale Integrität der Ukraine verletzt und internationale Verträ- Bei der Lektüre Ihres Antrags, Frau Beck, erfasst uns ge wie das Budapester Memorandum und die Schlussak- wieder einmal das Erschrecken und Entsetzen über den te von Helsinki gebrochen. Das ist unsere feste Über- menschenverachtenden Rassismus, die nationalsozia- zeugung; dies muss immer wieder erwähnt werden. Mit listische Ideologie und die enthemmte und mörderische einer Desinformationskampagne und der propagandisti- Durchsetzung dieses ganz abstrusen Gedankengebäu- schen Geschichtsinterpretation versucht Russland nun, des. Diese Debatte über die historische Verantwortung die Ukraine weiter zu schwächen und sie als gescheiter- Deutschlands für die Ukraine bietet eine gute Gelegen- ten Staat darzustellen. heit, wichtige Fragen zu stellen. Wir sind uns in diesem Hause bewusst, dass es im Wie wird die Ukraine in Deutschland wahrgenom- Konfikt zwischen der Ukraine und Russland nicht um men? Die so lange gewohnte Wahrnehmung der Ukrai- eine kurzfristige Krise geht. Es geht um die Deutungsho- ne als Teil der Sowjetunion hindert bisweilen daran, sich heit und künftige Bestimmung historischer Diskurse in der historischen Identität als Grundlage eines souveränen ganz Europa, in denen auch Platz sein muss für die ukrai- Staates bewusst zu sein, eines Staates mit eigener Ge- nische Sicht der Dinge. Das Bekenntnis zur territorialen schichte, mit eigener Sprache, mit eigenen Sitten und Integrität und unsere Hilfe bei den Transformations- und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23869

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Demokratisierungsprozessen in der Ukraine dürfen des- Überweisungsvorschlag: (C) halb nicht auf einem Opferdiskurs allein begründet wer- Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz den. d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Unsere Unterstützung der Ukraine bedarf auch nicht Entwurfs eines Begleitgesetzes zum Gesetz zur der Sonderbegründung einer zusätzlichen historischen Änderung des Grundgesetzes zum Zweck des Verantwortung. Nur weil wir wissen, welche Verantwor- Ausschlusses extremistischer Parteien von der tung wir haben und wie die Dinge sich in den letzten Jah- Parteienfnanzierung ren entwickelt haben, wollen wir den Antrag unterstützen und ihn im größeren Kontext der Östlichen Partnerschaft Drucksache 18/12101 behandeln. Wir sind noch einige Sitzungswochen beiei­ Überweisungsvorschlag: nander, Frau Kollegin Beck, Sie und ich und die restli- Innenausschuss (f) chen Kollegen. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (Heiterkeit) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu In dieser Zeit werden wir versuchen, diesen Gedanken keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. von Ihnen, Frau Beck, in würdiger und korrekter Form weiterzuentwickeln. Es geht um eine Weiterentwicklung, Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, ihre Gesprä- die die Ukraine nicht nur als Opfer Nazideutschlands, als che an einem anderen Ort fortzusetzen. Vorher rufe ich Opfer Russlands sieht, sondern die der kulturellen und den Kollegen Brandt nicht auf; er will ja, dass man ihm historischen Souveränität der Ukraine gerecht wird. Das zuhört. ist unser Anliegen. Ich eröfne die Aussprache. Das Wort hat Helmut (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Brandt für die CDU/CSU-Fraktion. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehr einverstanden!) Helmut Brandt (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Besten Dank, dass Sie Vizepräsidentin Claudia Roth: mir so Gehör verschaft haben. – Meine lieben Kolle- Vielen Dank, Hans-Peter Uhl. – Damit schließe ich die ginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer und Zuschaue- Aussprache. rinnen! Im Zusammenhang mit dem jüngsten Urteil des (B) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Bundesverfassungsgerichts in Sachen Parteiverbot wies (D) Drucksache 18/10042 an den Auswärtigen Ausschuss zu der Präsident des Verfassungsgerichtes in seiner münd- überweisen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die lichen Urteilsbegründung die Politik auf die Möglichkeit Überweisung so beschlossen. Vielen herzlichen Dank. gesetzlicher Reaktionen unterhalb eines Parteiverbo- tes hin. Zwar lehnten die Karlsruher Richter mit ihrem Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 d auf: Urteil vom 17. Januar den auf ein Verbot der NPD ge- richteten Antrag des Bundesrates als unbegründet ab, a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ allerdings ließ das Gericht auch keinen Zweifel daran, CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- dass es sich bei der NPD um eine verfassungsfeindliche setzes zur Änderung des Grundgesetzes (Arti- Partei handelt, aber in Anerkennung der besonders ho- kel 21) hen Hürden, die das Grundgesetz vorgibt und die durch Drucksache 18/12357 die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte noch präzisiert wurden, geht jedenfalls Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) nach Aufassung des Verfassungsgerichts von der NPD Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz derzeit keine Gefahr aus, diese Ziele auch umzusetzen. b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Dieses Ergebnis ist bei Beibehaltung der jetzigen CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- Rechtslage unbefriedigend. Niemand kann verstehen, setzes zum Ausschluss verfassungsfeindlicher dass wir mit Steuermitteln als verfassungsfeindlich iden- Parteien von der Parteienfnanzierung tifzierte Parteien auch noch unterstützen. Deswegen wollen wir den Anstoß, den uns das Bundesverfassungs- Drucksache 18/12358 gericht gegeben hat, gesetzgeberisch aufgreifen und als Überweisungsvorschlag: „Minus“ gegenüber einem Parteiverbot die Rechte und Innenausschuss (f) Privilegien verfassungsrechtlicher Parteien einschrän- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ken. c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des wie bei Abgeordneten der LINKEN) Grundgesetzes zum Zweck des Ausschlusses extremistischer Parteien von der Parteienf- Hierzu gehören die Teilhabe an der staatlichen Teil- nanzierung fnanzierung nach § 18 des Parteiengesetzes, aber auch indirekte Förderungen. So sind Parteien etwa von der Drucksache 18/12100 Pficht zur Entrichtung von Körperschaftsteuer befreit, 23870 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Helmut Brandt (A) private Personen, die einer Partei Zuwendungen zukom- mit unterschiedlichen Meinungen und die Gleichwertig- (C) men lassen, werden einkommensteuerrechtlich günstiger keit von Meinungen sind das Wesensmerkmal der De- gestellt. Das bedingt natürlich auch geringere Steuerein- mokratie. Klar ist aber ebenso, dass wir extremistisches nahmen, also auf diesem Wege eine mittelbare Förderung Gedankengut durch den Geldentzug nicht ausmerzen dieser Parteien. können. Eine Streichung von Geldern kann leider weder Dummheit noch eine menschenverachtende Ideologie Deshalb stellt sich vielen und mir die Frage: Wie verhindern. Die Politik, aber auch die Gesellschaft ste- kommt unser Staat dazu, eine verfassungsfeindliche Par- hen hier weiter in der Verantwortung, sich mit solchen tei, die unseren Staat, unsere Demokratie, die Rechts- Parteien auseinanderzusetzen. Eine wehrhafte Demokra- staatlichkeit abschafen will, dabei auch noch fnanziell tie darf es aber auch nicht einfach hinnehmen, dass die zu unterstützen? Dieser Zustand ist in meinen Augen eine Grundprinzipien der Verfassung mit ihren eigenen Mit- Pervertierung des Sinns und Zwecks der staatlichen Par- teln untergraben werden. teienfnanzierung. Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Ich bitte (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- Sie alle: Lassen Sie uns mit diesem Gesetz ein deutliches wie bei Abgeordneten der LINKEN) Zeichen gegen extremistische Parteien setzen. Die Hinweise, die uns das Gericht sowohl in der Besten Dank. mündlichen wie auch später in der schriftlichen Urteils- begründung gegeben hat, haben uns diese Möglichkeiten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) eröfnet. Wir wollen deshalb Artikel 21 des Grundgeset- zes verändern. Dabei ist uns bewusst, dass wir natürlich Vizepräsidentin Claudia Roth: zum einen die Initiative des Bundesrates verfolgen, zum Vielen Dank, Helmut Brandt. – Nächste Rednerin: anderen aber auch berücksichtigen wollen und müssen, Ulla Jelpke für die Linke. dass Parteien nach unserem Grundgesetz auch eine be- sondere Bedeutung haben und es nicht so einfach ist, in (Beifall bei der LINKEN) dieser Weise vorzugehen. Aber die Überprüfung, die in Zukunft ermöglichen wird, Parteien die staatliche Finan- Ulla Jelpke (DIE LINKE): zierung zu entziehen, muss daher auch nach unserer Auf- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vor- fassung – insofern unterscheiden wir uns etwas von der liegende Gesetzentwurf soll dafür sorgen, dass rassisti- Initiative des Bundesrates – vom Bundesverfassungsge- sche, antisemitische, demokratiefeindliche Parteien kei- richt durchgeführt werden – ich sagte es vorhin schon –, ne Steuergelder mehr erhalten. als „Minus“ gegenüber dem Parteiverbot. (B) (Dr . Tim Ostermann [CDU/CSU]: Aber auch (D) Die Voraussetzungen für einen solchen Ausschluss linksextreme! – Gegenruf der Abg. Renate sind deshalb auch ähnlich hoch wie bei einem Parteiver- Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tut bot. Auch hier muss die verfassungsfeindliche Absicht Ihnen das jetzt weh, dass das gegen rechtsex­ einer Partei festgestellt werden. Anders als beim Partei- treme ist, oder was?) verbot kommt es allerdings nicht darauf an, ob die betref- fende Partei auch über das Potenzial verfügt, ihre Ziele Ich möchte gleich zu Beginn sagen: Die Linke unterstützt durchzusetzen. voll und ganz das Ansinnen, neofaschistischen Parteien den Geldhahn abzudrehen; denn es darf nicht sein, dass Für den Ausschluss einer Partei von der staatlichen Antisemitismus und rassistische Hetze mit Steuergeldern Teilfnanzierung und der steuerlichen Begünstigung fnanziert werden. gelten damit etwas geringere Voraussetzungen als für ein Parteiverbot. Um Kritikern ihre Argumente vorweg (Beifall bei der LINKEN) schon zu nehmen, haben wir das Für und Wider dieses Meine Damen und Herren, es muss uns klar sein: Jahr Gesetzvorhabens abgewogen und die Bedenken berück- für Jahr erhält die NPD ungefähr 1 Million Euro an Par- sichtigt. Nach meiner und nach unserer Aufassung ver- teienfnanzierung. In den letzten zehn Jahren waren es bindet doch letztlich alle demokratischen Parteien ein genau 14,5 Millionen Euro. Diese Gelder fießen in den Grundkonsens, dem das Wertesystem unseres Grundge- Aufbau des Parteiapparats, in Nazikonzerte, in Struktu- setzes und das Bekenntnis zu unserem demokratischen ren für braune Kameradschaften, die gewalttätig sind. Rechtsstaat zugrunde liegt. Dies ist auch vom Grundge- Man muss hier wirklich ganz deutlich sagen, dass staat- setzgeber so gewollt. Dies unterscheidet demokratische liche Gelder eigentlich dafür hergegeben werden, neofa- Parteien aber in einem zentralen Punkt von extremisti- schistische Strukturen in Deutschland handlungsfähig zu schen Parteien, wie es die NPD ist. Genau deshalb sehe machen. Damit muss endlich Schluss sein. ich im Fall von Parteien, deren erklärtes Ziel ist, unsere Demokratie abzuschafen, die von uns vorgenommene (Beifall bei der LINKEN) und beabsichtigte Aktion unterhalb der Schwelle eines Das Bundesverfassungsgericht hat im NPD-Verfahren Parteiverbotes und den mit dem Ausschluss von der Par- zwar festgestellt, dass die NPD verfassungswidrig ist. Es teienfnanzierung verbundenen Eingrif in die Chancen- hat dennoch kein Verbot erlassen, weil der NPD nach An- gleichheit als gerechtfertigt und geboten an. sicht des Gerichtes die Möglichkeit zur Umsetzung ihrer Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Demokratie – Ziele fehlt. Ich will für meine Fraktion ganz deutlich sa- das wissen wir alle – muss falsche Lehren und grobe gen: Wir hätten uns gewünscht, dass es ein klares Verbot Dummheiten aushalten können. Die Auseinandersetzung einer Partei gibt, die sich in die Tradition der NSDAP Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23871

Ulla Jelpke (A) stellt und menschenverachtende Positionen der NSDAP ich möchte auch Ihrer Partei sagen: Mit manchen Geset- (C) weiterhin vertritt. Das ist nicht geschehen. Deswegen zen zur Flüchtlingspolitik, die Sie hier eingebracht ha- nehmen wir gerne den Hinweis des Bundesverfassungs- ben, gerichts auf, dass man unterhalb des förmlichen Verbots (Alexander Hofmann [CDU/CSU]: Oje!) gegen die NPD vorgehen kann, indem man die Parteien- fnanzierung infrage stellt. haben auch Sie die Stimmung für Rassismus in diesem Land leider sehr erhöht. (Beifall bei der LINKEN) (Widerspruch bei der CDU/CSU – Volker Zweifellos – das muss man hier sehr deutlich sa- Kauder [CDU/CSU]: Unverschämtheit! – gen – ist der Ausschluss von der Parteienfnanzierung ein Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Unverschämt- schwerwiegender Eingrif in die Chancengleichheit. Zu heit! Es wird Zeit, dass die Rede beendet Recht sagt man umgangssprachlich, es handele sich hier wird!) um ein „kleines Parteienverbot“. Ich bin sehr erleich- tert – Kollege Brandt hat es eben gesagt –, dass man von Ja, das muss man einfach so sagen. Angesichts dessen, dem ursprünglichen Vorschlag, hier im Hause darüber zu was wir gestern beschlossen haben, müssen Sie sich an entscheiden, ob eine Partei keine Staatsgelder mehr be- die eigene Nase fassen, wenn es darum geht, Rassismus kommt, abgerückt ist und jetzt ganz klar sagt, dass das in unserem Land zu bekämpfen. Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden soll. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Unverschämt- (Beifall bei der LINKEN) heit! Sie haben gerade allen Grund, über an- Denn bei allem Respekt: Ich meine, dass solche Eingrife dere zu reden!) in die Chancengleichheit einer Partei nicht von Mitglie- Ich hofe jedenfalls sehr, liebe Kollegen, dass wir die dern einer konkurrierenden Partei vorgenommen werden Gesetzentwürfe noch vor der Sommerpause über die sollten. Deswegen ist die Instanz des Bundesverfas- Bühne bringen, damit man solchen Parteien wirklich das sungsgerichts genau die richtige. Wasser abgräbt. (Beifall bei der LINKEN) Ich danke Ihnen. Im Entwurf wird außerdem geregelt, dass die betrofe- (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder nen Parteien alle vier Jahre eine Überprüfung beantragen [CDU/CSU]: Unerträglich ist das hier! Dreck können. Das halten wir für sehr richtig. Das muss jeder am Stecken und dann hier so sprechen!) Partei zugebilligt werden; obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht glaube, dass die NPD ihre Grundaufassung ändert. Vizepräsidentin Claudia Roth: (B) Nichtsdestotrotz ist die Regelung wichtig. (D) Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Nächste Rednerin: Dr. Eva Wir sehen ein weiteres Problem. In der anstehenden Högl für die SPD-Fraktion. Anhörung wird sicherlich deutlich, was in den vorlie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten genden Gesetzentwürfen noch nicht geregelt ist. Es geht der CDU/CSU) um das Problem der V-Leute vom Verfassungsschutz. Ich will noch einmal daran erinnern: Das NPD-Verbotsver- fahren 2003 ist gescheitert, weil V-Leute in der Partei als Dr. Eva Högl (SPD): Geheimdienstspitzel tätig waren, was im Grunde genom- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und men dazu geführt hat, dass man nicht mehr klar wusste: Kollegen! In unserer Demokratie haben Feinde der De- Was war eine staatliche Aktivität, was war eine NPD-Ak- mokratie keinen Platz. Das ist eine wichtige Lehre aus tivität? Das hat in den letzten Verfahren zu großer Be- unserer deutschen Geschichte. Deswegen haben wir eine sorgnis geführt und immer wieder Fragen aufgeworfen. sogenannte wehrhafte Demokratie. Das heißt: Meinungs- Deswegen denke ich, dass eine entsprechende Regelung freiheit, politische Vielfalt, Streitkultur, Chancengleich- in die vorliegenden Gesetzentwürfe einfießen müsste. heit und auch Parteienprivileg. Aber das heißt auch, dass Die Neonazis können zum Beispiel sehr leicht damit wir klare Regeln dafür brauchen, wenn die Grenzen über- argumentieren, es seien staatliche Spitzel gewesen, die schritten sind. Wenn Feinde der Demokratie die Demo- das Parteiprogramm der NPD geschrieben hätten oder kratie abschafen wollen oder sie mit Füßen treten, dann die möglicherweise gewalttätig gegenüber Flüchtlingen sehen wir nicht tatenlos zu, sondern handeln. geworden sind. (Beifall bei der SPD) Ich sage es noch einmal: V-Leute innerhalb der NPD Artikel 21 des Grundgesetzes ist ein Ausdruck unserer nutzen überhaupt nichts. Das haben wir immer wieder wehrhaften Demokratie. Ich sage es ganz deutlich: Die betont. Sie müssen endlich aus allen Ebenen abgezogen SPD hätte es sich gewünscht, wenn das Bundesverfas- werden. Dann werden wir auch Erfolg haben, der NPD sungsgericht die NPD verboten hätte. Das wäre ein ganz die Parteifnanzierung zu entziehen. wichtiger Beitrag zum Engagement gegen Rassismus, (Beifall bei der LINKEN) Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit gewe- sen. Meine Damen und Herren, in der Tat ist richtig: Ras- sismus ist kein Monopol der NPD, sondern es gibt auch (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kräfte wie die AfD, die im Moment den Rassismus in NEN]: Das kann man sich doch nicht einfach Teilen der Gesellschaft vorantreiben. Aber Herr Brandt, wünschen! – Volker Kauder [CDU/CSU]: 23872 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Dr. Eva Högl (A) Das Bundesverfassungsgericht ist doch kein lassen, ob sie immer noch verfassungsfeindlich sind, und (C) Wunschkonzert!) das gegebenenfalls feststellen lassen. Ich bin sehr dankbar, dass der Bundesrat ein exzel- Man hätte sich vorstellen können, noch weiter zu ge- lent vorbereitetes und wunderbar organisiertes Verfahren hen, zum Beispiel Parteien von der Nutzung von Sen- beim Bundesverfassungsgericht eingeleitet hat. Ich fand dezeiten oder der Nutzung öfentlicher Gebäude aus- und fnde es immer noch peinlich, dass der Deutsche zuschließen. Aber wir haben uns aus guten Gründen Bundestag und die Bundesregierung sich diesem Verfah- entschieden, die Chancengleichheit nicht vollständig zu ren nicht angeschlossen haben. reduzieren, sondern den Parteien die Möglichkeit zu las- sen, auf einen guten Weg zurückzukehren. (Beifall bei der SPD – Monika Lazar [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das war gut Der Gesetzentwurf und die Grundgesetzänderung, die so!) wir vorlegen, sind ausgewogen und zwingend, um unsere Wir wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ein Demokratie weiter stark und wehrhaft zu halten. Ich sage Parteiverbot löst nicht alle Probleme, die wir mit Ver- es ganz deutlich: Wir schafen keine „Lex NPD“; denn fassungsfeinden haben, aber ein Parteiverbot ist ein ganz dieses Gesetz gilt für alle Parteien, die nicht auf dem Bo- wichtiger Baustein. Deswegen – ich sagte es schon – ist den unseres Grundgesetzes stehen und sich gegen unsere es schade, dass das Bundesverfassungsgericht die NPD Verfassung wenden. nicht verboten hat. Das Bundesverfassungsgericht hat Natürlich wissen wir hier im Deutschen Bundestag – gesagt, die NPD sei nicht gefährlich genug, sie sei un- das sage ich an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich –: bedeutend. Dies ist ein Baustein unseres Engagements gegen Extre- Das Bundesverfassungsgericht hat aber ausdrücklich misten in unserer Gesellschaft. Wir müssen uns weiterhin festgestellt, dass die NPD verfassungsfeindlich ist. Es mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln, mit allen hat uns in der Urteilsverkündung einen ganz wichtigen Möglichkeiten, mit Prävention, politischer Bildung, Poli- Hinweis gegeben – uns hier, dem Gesetzgeber –, nämlich zei, Justiz und Verfassungsschutz – auch der gehört dazu; dass wir bei der Finanzierung von verfassungsfeindli- da sind wir hier ja nicht immer derselben Aufassung –, chen Parteien etwas tun können. Deswegen bringen wir gegen die Feinde der Demokratie engagieren, um unsere heute ein entsprechendes Gesetz und die Grundgesetzän- Demokratie zu stärken. derung auf den Weg. Ich wünsche mir ehrlich gesagt eine große Zustim- Die Hinweise des Bundesverfassungsgerichts greifen mung im Deutschen Bundestag. Ich würde mich sehr wir gerne auf. Wir wissen aus unseren Gesprächen, liebe freuen, wenn auch die beiden Oppositionsfraktionen (B) Kolleginnen und Kollegen: Das, was Bürgerinnen und diesen Vorschlägen zustimmen und wir hier gemeinsam (D) Bürger am meisten empört, ist doch – das haben alle bis- sagen: Wir stärken unsere wehrhafte Demokratie. her schon ausgeführt –, dass verfassungsfeindliche Par- Herzlichen Dank. teien auch noch Staatsgelder bekommen. Das stößt auf Unverständnis und ist nicht zu rechtfertigen. Allein die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NPD – nur ein Beispiel – hat in den Jahren 2014, 2015 der CDU/CSU) und 2016 jeweils über 1 Million Euro aus staatlichen Kassen bekommen. Das ist nicht hinnehmbar. Sie fnan- Vizepräsidentin Claudia Roth: ziert damit eine menschenverachtende Hetze. Das wollen Vielen Dank, Eva Högl. – Nächste Rednerin in der wir beenden, und das machen wir jetzt auch. Debatte: Britta Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei der SPD) Der Bundesrat hat am 10. März 2017 eine exzellente Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vorlage beschlossen. Ich danke auch dem Land Nieder- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sachsen für die tolle Initiative. Noch im Gerichtssaal des Kollegen! Gemeinsam eintreten für unsere liberale De- Bundesverfassungsgerichts wurde gesagt: Das gehen wir mokratie, für unsere Grundrechte – darum geht es auch an, das bringen wir jetzt auf den Weg. – Der Gesetzent- uns, wenn wir über die Gefahren des Rechtsextremismus wurf entspricht genau dem, was im Bundesrat schon dis- und des erstarkten Rechtspopulismus in unserem Land kutiert wurde. diskutieren. Das besorgt uns ebenso wie viele Bürgerin- nen und Bürger. Wir schafen die Möglichkeit, die öfentliche Partei- enfnanzierung zu entziehen, wenn eine Partei verfas- Aber das, was Sie heute hier vorlegen, Herr Brandt sungsfeindlich ist. Wir haben die identischen Antragstel- und Frau Högl, ist aus meiner Sicht und aus Sicht meiner ler wie beim Parteiverbot: Bundesrat, Bundesregierung Fraktion nicht durchdacht. und Bundestag. Es entscheidet das Bundesverfassungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gericht, und das ist auch richtig. Nur das Bundesver- Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach, komm fassungsgericht kann darüber entscheiden. Wir schafen jetzt! – Dr. Eva Högl [SPD]: Jetzt bin ich ge- zum einen die zusätzliche Möglichkeit, die Parteienf- spannt!) nanzierung zu entziehen, und zum anderen kann dieser Antrag auch hilfsweise zu einem Verbotsverfahren ge- Zweimal sind wir mit einem NPD-Verbotsverfahren vor stellt werden. Das ist ein gutes Regularium. Die Parteien dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. Jedes Mal bekommen die Chance, nach vier Jahren überprüfen zu konnte sich die NPD nach Abschluss des Verfahrens öf- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23873

Britta Haßelmann (A) fentlich als Partei präsentieren und sagen: Seht ihr? Die zipien des Grundgesetzes und der Demokratie müssen (C) sind gescheitert, wir als Partei sind nach wie vor eine wir doch souverän und seriös umgehen. Eine Grundge- Kraft in diesem Land. – Beim letzten Mal war die Auf- setzänderung, eine Verfassungsänderung wie diese darf fassung des Gerichts sinngemäß: Die NPD ist eine Partei nicht übereilt beraten werden. von Verfassungsfeinden, die unsere freiheitlich-demo- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie brauchen kratische Grundordnung abschafen will – das sehen wir mindestens ein Jahr! Wunderbar!) auch so –, aber sie ist zu schwach auf der Brust. – Ein Blick ins Land zeigt: Die NPD ist ein jämmerlicher Ver- Ein unsauberes Vorgehen, meine Damen und Herren, ein mit einer brandgefährlichen Ideologie. Das müssen das wieder gerichtlich scheitern wird, wir immer wieder deutlich machen, immer wieder sagen (Burkhard Lischka [SPD]: Reden Sie mal und die politische Auseinandersetzung suchen. über klare Kante!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nutzt am Ende nur den Verfassungsfeinden von der NPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und und niemand anderem. Das darf nicht passieren. der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bei den Bundestagswahlen erhält die NPD regelmä- ßig um 1 Prozent der Stimmen. Ich will in aller Klar- Wenn Zweifel bestehen – die gibt es doch –, dann muss heit sagen: Jede einzelne Stimme für diese Partei ist eine man auf die große Brisanz dieses Unterfangens, das Sie Stimme zu viel. Aufgrund der geltenden Rechtslage zur hier planen, hinweisen. Ansonsten spielt das Populisten Parteienfnanzierung hat die NPD 2015 deshalb 1,3 Mil- und Antidemokraten nur in die Hände. lionen Euro erhalten. Auch jeder einzelne Euro an diese Mit dem Vorschlag, den Sie hier machen, gibt es im Partei ist ein Euro zu viel. Der Rassismus, der Antisemi- Kern ein Problem. Damit, die Steuerbegünstigung bei tismus, die menschenverachtende Politik und Ideologie Parteispenden für verfassungsfeindliche Parteien weg- dieser Partei, der NPD, sind brandgefährlich. Daran be- fallen zu lassen, begibt man sich in ein sehr schwieriges steht überhaupt kein Zweifel. Fahrwasser; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Burkhard Lischka [SPD]: Was?) sowie bei Abgeordneten der SPD) denn mit solchen Sanktionen trift man nicht nur die Par- Meine Damen und Herren, diesem Problem versucht tei selbst, sondern auch die Grundrechte der Unterstüt- die Koalition jetzt mit einer symbolischen Grundgesetz- zerinnen und Unterstützer. Darin liegt ein großes verfas- änderung beizukommen, sungsrechtliches Problem. (Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist das Gegenteil (B) (Volker Kauder [CDU/CSU]: So groß ist es (D) von Symbolik!) auch nicht! – Burkhard Lischka [SPD]: Dann symbolisch deshalb, weil Sie meinen, man streiche das können Sie sich weiter den Kopf zerbrechen! Geld und damit habe sich ein Teil des Problems erledigt. Wir machen das!) (Dr. Eva Högl [SPD]: Das meint niemand!) – Das wissen Sie ganz genau. Darüber zerbrechen wir uns auch den Kopf, Herr Lischka, ganz im Gegensatz zu Wir alle wissen aber doch, dass das nicht der Fall ist. Das Ihnen. Problem der rechten Gewalt, des Alltagsrassismus, des Antisemitismus, der von Gruppen ausgeht, der von dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – NPD ausgeht, lässt sich doch damit nicht lösen. Burkhard Lischka [SPD]: Sie sind ein biss- chen hasenfüßig!) (Dr. Eva Högl [SPD]: Das sagt ja auch kein Mensch! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wie Die Tinte war noch nicht ganz getrocknet und das Ur- denn dann?) teil noch nicht einmal veröfentlicht, da haben Sie schon angekündigt, es über den Weg der Parteienfnanzierung Das sind aus meiner Sicht vermeintlich einfache Ant- zu versuchen. worten auf höchst komplexe gesellschaftliche Fragen. Diese Probleme müssen wir mit vielen anderen Mitteln (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja, natürlich! – Burkhard bekämpfen, als den Weg über die Parteienfnanzierung Lischka [SPD]: Das Bundesverfassungsge- zu gehen. richt hat uns aufgefordert förmlich!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine große Sorge und die unserer Fraktion ist, dass Sie ein drittes Mal scheitern. Es ist heute zwar erst die erste Lesung dieses Ge- setzentwurfs, aber Maas und de Maizière als federfüh- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Hätten wir es rende Minister, auch Oppermann als Vorsitzender der nicht gemacht, hätten Sie gesagt, wir wären SPD-Fraktion haben deutlich gemacht, dass man dieses lahm!) Vorhaben in aller Eile noch kurz durch diesen Bundes- Sie tun so, als würde aufgrund dieser Gesetzesänderung tag bringen wolle. Dabei handelt es sich aber doch um etwas passieren. eine Grundgesetzänderung und betrift damit einen sehr sensiblen Bereich, über den wir hier diskutieren. Hier (Volker Kauder [CDU/CSU]: Natürlich! – gilt Sorgfalt vor Schnellschuss. Es bleiben noch drei Sit- Burkhard Lischka [SPD]: Ja, den Geldhahn zungswochen in dieser Legislaturperiode. Mit den Prin- drehen wir ihnen zu!) 23874 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Britta Haßelmann (A) Nein, es passiert gar nichts. Sie werden möglicherweise Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): (C) wieder vor das Verfassungsgericht müssen, weil Sie eine Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verfassungsänderung vornehmen. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es (Dr. Eva Högl [SPD]: Geht doch nicht an- schon gehört: Ausgangspunkt dieses Gesetzgebungsvor- ders! – Burkhard Lischka [SPD]: Wir haben habens ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im nicht die Hosen voll!) NPD-Verbotsverfahren. In seinem Urteil stellt das Ge- richt unmissverständlich fest, dass die NPD verfassungs- Wenn man sich auf diesen Weg begibt, muss man doch widrig ist, weil sie gegen die Menschenwürde verstößt, eigentlich seine ganze Energie darauf verwenden. weil sie die Demokratie und den Rechtsstaat bekämpft (Burkhard Lischka [SPD]: Ihre Energie ist und weil sie wesensverwandt mit dem Nationalsozialis- fehlgeleitet!) mus ist. Diese Feststellung machen fast 50 Seiten des Ur- teils aus. Dennoch wurde, wie wir alle wissen, der Antrag Ich bitte Sie um mehr Sorgfalt. Keine Hektik, keinen auf Verbot der NPD zurückgewiesen mit der Begründung, Schnellschuss, sondern trefen Sie eine sorgfältige Ab- die NPD sei bedeutungslos, die NPD sei – zum Glück – wägung angesichts dieses sensiblen Rechtsbereiches. eine Partei ohne Aussicht auf politischen Erfolg. Dieser Zeitgleich muss der Kampf gegen rechts, gegen ist aber für die Durchsetzung der verfassungsfeindlichen Rechtsextremismus, gegen Verfassungsfeinde doch poli- Ziele erforderlich. tisch geführt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat erkannt, dass das (Burkhard Lischka [SPD]: Aber nicht mit Ha- Ergebnis des Verfahrens etwas unbefriedigend ist. Eine senfüßigkeit! – Dr. Tim Ostermann [CDU/ Partei wird als verfassungsfeindlich eingestuft, kann ihr CSU]: Das eine schließt das andere doch nicht Treiben aber trotzdem uneingeschränkt fortsetzen. Bis- aus!) her gilt nun einmal das Alles-oder-nichts-Prinzip. Darum Wir müssen viel mehr Geld investieren zur Unterstüt- hat der Senat dankenswerterweise auf Handlungsmög- zung der Zivilgesellschaft, lichkeiten für gestufte Sanktionen gegenüber Parteien mit verfassungsfeindlicher Zielsetzung aufmerksam ge- (Dr. Eva Högl [SPD]: 100 Millionen!) macht. der vielen engagierten Vereine und Institutionen, die im Wenn man an mögliche Sanktionen denkt, kommt Bereich des Rechtsextremismus und im Kampf dagegen man sehr schnell auf die Idee, verfassungsfeindlichen tätig sind. Parteien die fnanzielle Unterstützung des Staates zu (B) (D) entziehen. Das Gericht merkte in seinem Urteil an, dass Vizepräsidentin Claudia Roth: der Entzug der staatlichen Parteienfnanzierung nach der Denken Sie bitte an Ihre Redezeit. geltenden Verfassungslage ausgeschlossen sei. Daher bestehe für Sanktionen unterhalb der Ebene des Partei- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): enverbots kein Raum, solange der verfassungsändernde Gesetzgeber keine abweichenden Regelungen trift. Das Darum geht es. Meine Damen und Herren, deshalb ist schon ein sehr deutlicher Hinweis. Um ganz sicher zu möchten wir Sie eindringlich bitten, hier Sorgfalt vor gehen, hat Gerichtspräsident Voßkuhle dieses Thema bei Schnellschuss walten zu lassen. der Urteilsverkündung aufgegrifen.

Vizepräsidentin Claudia Roth: Bundestag und Bundesrat haben zugehört und das Ur- Jetzt aber! teil genau gelesen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): NEN]: Nein! Bei den einleitenden Worten! Sonst landen wir wieder vor dem Verfassungsgericht. Nicht beim Urteil!) (Burkhard Lischka [SPD]: Wir machen bei- Schnell war klar: Dieser Hinweis soll auch umgesetzt des: Schnelligkeit und Sorgfalt!) werden. Auch, aber nicht nur für die Öfentlichkeit ist Das wäre schrecklich; denn dann würde sich diese Partei, es schlichtweg nicht nachvollziehbar, wenn eine Partei, gegen die wir alle kämpfen wollen, wieder feiern. deren Verfassungsfeindlichkeit vom Verfassungsgericht festgestellt worden ist, durch den Staat, den sie abschaf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – fen will, alimentiert wird. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir wollen nicht die Politik der lahmen Ente!) (Burkhard Lischka [SPD]: Genau!)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Steuergelder dürfen nicht in die Hände von Verfassungs- Es ist ja was los hier im Haus. – Der nächste Redner: feinden geraten. Auch dies gehört zur wehrhaften Demo- Dr . Tim Ostermann für die CDU/CSU-Fraktion. kratie. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23875

Dr. Tim Ostermann (A) Zwar werden es glücklicherweise immer weniger Bür- Ein weiterer Unterschied zwischen diesen beiden Ini- (C) ger, die der NPD bei Wahlen ihre Stimme geben, aber es tiativen ist die Länge der Frist, nach deren Ablauf die sind immer noch zu viele. sanktionierte Partei eine Überprüfung verlangen kann. Der Bundesrat schlägt eine Frist von zwei Jahren vor, wir (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als Koalition halten eine Frist von vier Jahren für ange- NEN]: Woanders sind immer mehr! Wo war messen. Dass es überhaupt eine Überprüfungsfrist geben das noch?) soll, ist sinnvoll; denn schließlich muss es auch aus ver- Jede Stimme verschaft der NPD einen Zuschuss aus dem fassungsrechtlichen Gründen eine Chance auf Läuterung Steuersäckel: 1,1 bis 1,4 Millionen Euro pro Jahr. Wir geben. sagen: Jeder Cent für die NPD ist ein Cent zu viel. Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der kleinen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Unterschiede zwischen den beiden Gesetzesinitiativen LINKEN) möchte ich abschließend mit Blick auf die Bundesrats- Darum ist das Ziel seit längerem klar. Nur der Weg war bank betonen: Es besteht eine große Übereinstimmung fraglich. Wie setzt man dies gesetzgeberisch um? Natür- mit dem Bundesrat im Ziel: kein Cent vom Staat für die lich ist das – hier muss ich denjenigen, die das kritisiert NPD und für andere verfassungsfeindliche Parteien. haben, recht geben – juristisch ambitioniert. Wir wollen Herzlichen Dank. nun durch eine Änderung des Grundgesetzes unterhalb eines Verbots eine geeignete und vor allem rechtlich un- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) angreifbare Maßnahme schafen. Für diese Maßnahme kommt es nicht darauf an, ob die verfassungsfeindliche Vizepräsidentin Claudia Roth: Partei mit der Abschafung der freiheitlich-demokrati- Vielen Dank, Tim Ostermann. – Ich begrüße recht schen Grundordnung Erfolg haben kann. Eine gegen un- herzlich Boris Pistorius, den Minister für Inneres und sere Verfassung gerichtete Zielsetzung genügt hierfür. Es Sport des Landes Niedersachsen. Oje, dann brauchen ist übrigens egal, ob diese gegen die Verfassung gerich- Sie morgen Nachmittag starke Nerven – es geht um Fuß- tete Zielsetzung von rechts oder von links kommt, Frau ball –, ich auch als Augsburg-Fan. Boris Pistorius redet Kollegin Jelpke. jetzt für den Bundesrat. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir müssen gegen beides vorgehen. Da muss die wehr- der CDU/CSU) hafte Demokratie ihre Wehrhaftigkeit zeigen. (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Boris Pistorius, Minister (Niedersachsen): (D) ordneten der SPD – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Sehr geehrte Frau Präsidentin, starke Nerven brauchen Das ist auch ein Kritikpunkt!) morgen sicherlich viele der Anwesenden hier. – Sehr ge- ehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor Es ist auch richtig, dass das Verfassungsgericht über den Senatswahlen in Berlin im Jahre 2011 hingen in eine solche Maßnahme entscheiden soll. Denn schon der der Stadt 22 000 Wahlplakate der NPD mit dem Slogan Schein, dass ein politischer Mitbewerber einem Konkur- „Gas geben“. Darauf war ihr damaliger Vorsitzender auf renten die Grundlage für seine Existenz entziehen könn- einem Motorrad abgebildet. Diese Plakate hingen un- te, sollte vermieden werden. Darum ist es sachgerecht, ter anderem auch am Holocaust-Mahnmal und vor dem unmittelbar das Bundesverfassungsgericht entscheiden Jüdischen Museum. Für einen billigen Werbeefekt und zu lassen. dreckige Lacher aus der braunen Ecke hatte die NPD die Bundestag und Bundesrat haben zwar die gleiche Opfer des Holocaust wieder einmal verhöhnt. Diese im Zielsetzung, aber es gibt dennoch zwei Gesetzesinitia- krassen Gegensatz zu den Grundwerten unserer Demo- tiven; das ist nicht ungewöhnlich. Die von den Koaliti- kratie und unseres Grundgesetzes stehende Partei hatte onsfraktionen eingebrachten Gesetzentwürfe sind mit de- sich wie schon so oft davor und danach als Partei des nen des Bundesrates im Wesentlichen inhaltsgleich. Die Hasses und der Hetze in der Tradition der Nazis entblößt, Formulierungen der Koalitionsfraktionen – das meinen ohne jede Scham und ohne jede Moral. jedenfalls wir – sind vielleicht an der einen oder anderen Finanziert wurde diese abscheuliche Plakataktion Stelle noch etwas präziser. auch aus den Steuergeldern der Bürgerinnen und Bür- Vor allem enthält das Begleitgesetz der Koalition alle ger in Deutschland. Nach dem Parteiengesetz erhalten erforderlichen steuerrechtlichen Folgeänderungen. Denn nun einmal alle Parteien je nach Stimmenanteil bei den der Staat fördert die Tätigkeit von Parteien auch indirekt: verschiedenen Parlamentswahlen staatliche Mittel zur Parteien sind zum Beispiel von der Pficht zur Entrich- Finanzierung ihrer Wahlkampfkosten und damit eben tung der Körperschaftsteuer befreit, und Privatpersonen, auch die NPD. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: die einer Partei Geld zuwenden, haben eine Abzugsmög- Diese gesetzliche Regelung hat zweifellos ihre Berech- lichkeit bei der Einkommensteuer. Dies fördert mittelbar tigung. Auch kleineren demokratischen Parteien – dass die jeweilige Partei. Deshalb ist es wichtig und richtig, die NPD ziemlich klein ist, hat gerade erst das Bundes- dass in einem solchen Fall die steuerrechtlichen Privi- verfassungsgericht in Karlsruhe festgestellt – muss es legien wegfallen. Das sieht auch der Bundesrat so. Aber im Sinne eines fairen Wettbewerbs ermöglicht werden, gerade an dieser Stelle ist der Gesetzentwurf der Koaliti- Wahlkampf zu machen. Die Programmatik, das Auftre- onsfraktionen etwas umfassender. ten und die Rhetorik von Politikerinnen und Politikern 23876 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Minister Boris Pistorius (Niedersachsen) (A) der NPD zeigen jedoch unübersehbar eindeutige Paral- Wir haben bei der Urteilsverkündung aufmerksam zuge- (C) lelen zur NS-Ideologie eines völkischen Nationalismus, hört und nachgelesen. die nichts, aber auch gar nichts mit dem Modell unserer freiheitlichen Demokratie am Hut hat, in der wir leben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gleichzeitig beschönigen oder verherrlichen sie eines der CDU/CSU) der grausamsten Verbrechen der deutschen Geschichte, Das Bundesverfassungsgericht hat uns nämlich in sei- den Holocaust. Deshalb war es richtig, dass der Bundes- nem Urteil den Hinweis gegeben – das war geradezu rat 2013 das NPD-Verbotsverfahren erneut auf den Weg ein Wink mit dem Zaunpfahl –, dass aufgrund der fest- gebracht hat, gestellten Verfassungsfeindlichkeit der Ausschluss der (Beifall bei der SPD und der LINKEN) NPD aus der Parteienfnanzierung durch eine Grundge- setzänderung möglich sei. leider ohne die Unterstützung des Deutschen Bundesta- ges. Wir haben diesen Ball in Niedersachsen sofort auf- genommen und uns mit einer Bundesratsinitiative für Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom eine entsprechende Grundgesetzänderung auf den Weg 17. Januar wurde die NPD zwar nicht verboten, das Ge- gemacht. Es wäre ein wichtiges und starkes demokrati- richt hat aber unmissverständlich festgestellt: Die NPD sches Signal, wenn der Bundestag nur wenige Monate ist verfassungsfeindlich. Ich zitiere: nach dem Urteil aus Karlsruhe diesen historischen Schritt gehen und eine klare Grenze für alle extremistischen Par- Ihre Ziele und das Verhalten ihrer Anhänger versto- teien ziehen würde. ßen gegen die Menschenwürde und den Kern des Demokratieprinzips. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist das Herz der CDU/CSU) unseres Grundgesetzes. Plakate wie 2011 im Berliner Das Parlament gäbe damit ein starkes Signal für unsere Wahlkampf belegen: Die NPD missachtet die Menschen- wehrhafte Demokratie und gegen die abgewrackte Nazi- würde, ja sie verachtet sie. Alles, was nicht in ihrem Sin- ideologie der NPD ab. ne deutsch ist, ist ihr zuwider. Diese Grundgesetzänderung würde – anders als gele- Dankenswerterweise hat das Bundesverfassungsge- gentlich kritisiert – keinesfalls zu einer Einschüchterung richt erstmals die rote Linie unmissverständlich defniert, von politischen Konkurrenten führen. Sie betrift schließ- die von keiner Partei überschritten werden darf, wenn lich ganz klar nur solche Parteien, die eindeutig höchst- sie sich nicht der Gefahr aussetzen will, als verfassungs- (B) richterlich als verfassungsfeindlich eingestuft wurden. (D) feindlich eingestuft und verboten zu werden. Alle Parteien, die sich im Kern zu unserer demokrati- Es hat nur deshalb nicht für ein Parteiverbot gereicht, schen Verfassung bekennen, werden davon in keiner weil die NPD schlicht zu bedeutungslos geworden ist. Weise betrofen sein. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das ist eben keine Symbolik, und niemand, der sich NEN]: Das wussten wir ja vorher!) für dieses Gesetz einsetzt, glaubt ernsthaft daran, dass damit das Problem des Rechtsextremismus gelöst sei. Was für ein Pyrrhussieg für diese Partei! Was für ein Nein, das ist nur ein Baustein im gemeinsamen Kampf vernichtendes Urteil, dass es nur aufgrund der eigenen gegen Rechtsextremismus und Rassismus. gegenwärtigen Irrelevanz nicht zum Verbot gereicht hat! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Trotz dieser höchstrichterlich attestierten Verfas- der CDU/CSU) sungsfeindlichkeit bei gleichzeitiger Bedeutungslosig- keit erhält die NPD weiterhin Steuergelder, unter ande- Ich würde mich sehr freuen – und ich bin hier zuver- rem, um ihre Wahlkampfkosten erstattet zu bekommen. sichtlich –, wenn nach den nun folgenden Ausschuss- Ich fnde es unerträglich, dass eine Partei, die unsere frei- beratungen alle Parteien in diesem Hohen Haus dieser heitlich-demokratische Grundordnung und damit unser wichtigen Änderung des Grundgesetzes sowie des Be- Staatssystem ablehnt, von diesem auch noch Unterstüt- gleitgesetzes zustimmen würden. Schließlich hat auch zung erhält. der Bundesrat dieser Initiative einstimmig zugestimmt, das heißt unter Zustimmung aller 16 Bundesländer, also (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch derjenigen, in denen die Grünen mitregieren. der CDU/CSU) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wie soll ich zum Beispiel einem Jugendlichen oder ei- NEN]: Das ist aber Föderalismus, Herr Pis- nem Erstwähler klarmachen, dass ausgerechnet diejeni- torius! – Gegenruf der Abg. Ulla Jelpke [DIE gen, die unsere Demokratie abschafen wollen, aus Steu- LINKE]: Aber die Grünen waren dabei! – ergeldern mitfnanziert werden? Dr. Johannes Fechner [SPD]: Wasch mir den Aus diesem Grund und vielen anderen Gründen war Pelz, aber mach mich nicht nass! – Gegenruf es auch so wichtig, sofort nach dem Karlsruher Richter- der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE spruch zu handeln. GRÜNEN]: Das seid ihr doch! – Burkhard Lischka [SPD]: Die Grünen sind eine Selbst- (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja!) hilfegruppe!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23877

Minister Boris Pistorius (Niedersachsen) (A) Wer Volksverhetzung betreibt, tritt die Grundrechte in ist das Verbotsverfahren an sich gescheitert. Das Bun- (C) unserer Verfassung mit Füßen. Wer die Menschenwürde desverfassungsgericht hat anerkannt, dass die NPD zwar missachtet, stellt sich außerhalb unserer Gesellschaft. verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, aber die Strukturen Wer unsere freiheitlich-demokratischen Werte und die und die Größe der Partei zu gering sind, um davon auszu- Wesenselemente unseres Grundgesetzes ablehnt und be- gehen, dass sie darauf ausgerichtet ist – wie es Artikel 21 kämpft, wer damit Feind unserer Verfassung ist, der darf Absatz 2 Grundgesetz fordert; das heißt sozusagen, dass keine staatliche Unterstützung mehr bekommen, um sei- es von der Wirksamkeit her ausreicht –, die verfassungs- ne Hassbotschaften zu verbreiten. rechtliche Grundordnung zu beseitigen. Vielen Dank. Wenn man diese Entscheidung zum ersten Mal liest, schluckt man zunächst einmal. Man wundert sich auch (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der ein Stück weit; denn entweder ist eine Partei verfas- LINKEN) sungsfeindlich, oder sie ist es nicht. Wenn sie verfas- sungsfeindlich ist, dann muss als Konsequenz zwingend Vizepräsidentin Claudia Roth: das Verbot folgen. Dennoch ist dies eine Entscheidung Vielen Dank, Boris Pistorius. – Der letzte Redner im Sinne des neuen Artikels 21 Absatz 4 Grundgesetz, in dieser Debatte: Alexander Hofmann für die CDU/ was bei dieser unglaublich sensiblen Frage selbstver- CSU-Fraktion. ständlich unentbehrlich ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Der zweite Punkt, der ein bisschen Bauchschmerzen macht, ist – auch da muss man ehrlich sein –: Wie lange Alexander Hofmann (CDU/CSU): muss man denn warten? Muss man tatsächlich so lange Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin- warten, bis eine Partei Struktur und Größe hat, um dann nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und letztlich größeren Schaden anzurichten? Dabei denkt Herren! Kollegin Jelpke, ich will es einfach einmal ganz man schon ein wenig an die Vergangenheit; denn genau undiplomatisch rüberbringen: Ich fand Ihre Randbemer- diese Fehleinschätzung gab es schon einmal. kung in Richtung Union unerträglich, und ich will Ihnen Heute kann ich dieser Rechtsprechung des Bundes- sagen: Für die Partei, die als Nachfolgepartei der SED verfassungsgerichts sehr viel mehr abgewinnen. Denn hier sitzt, für die Partei der Steinewerfer, das Verfassungsgericht hat uns Zwischentöne aufgezeigt, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Na, nämlich die Möglichkeit des Ausschlusses der Parteien- Sie machen das ja selber! Dann lassen Sie es fnanzierung und des Ausschlusses von steuerlichen Pri- doch!) vilegien als Vorstufe, und damit meiner Meinung nach (B) letztlich das Parteienverbot neu als Ultima Ratio def- (D) ist das ein starkes Stück gewesen. niert. (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast Ich glaube, wir tun gut daran, wenn wir heute frakti- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie hießen onsübergreifend das ganz klare Signal setzen, dass wir die Blockparteien in der DDR?) gemeinsam unsere Demokratie schützen wollen. Es kann Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol- nicht sein, dass eine Partei mit staatlichen Mitteln fnan- leginnen und Kollegen! Die Voraussetzung für Demokra- ziert wird und gleichzeitig das Ziel verfolgt, die verfas- tie ist Freiheit. Diese Freiheit macht die Demokratie am sungsrechtliche Ordnung dieses Staates auf den Kopf zu Ende des Tages auch wieder verletzlich, weil gerade die- stellen bzw. zu beseitigen. se Freiheit unter Umständen genau das Risiko erzeugt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dass sie ausgenutzt wird, um die Demokratie oder die ordneten der SPD) verfassungsrechtliche Ordnung abzuschafen. Wir wollen – auch diese Bemerkung kann ich mir Parteien sind in einer Demokratie unentbehrlich. Sie nach Ihrer Rede, Frau Kollegin Haßelmann, die mich geben politische Orientierung. Sie geben eine politische durchaus in Erstaunen versetzt hat, nicht verkneifen – die Richtung, und sie wollen den Menschen die Möglich- Demokratie mit Gesetzen schützen statt mit Stuhlkreisen, keit geben, eine politische Heimat zu fnden und sich wie Sie es ofensichtlich wollen. politisch auszurichten. Deswegen ist es letztendlich eine Gratwanderung, einerseits die Parteienvielfalt zu ermög- (Widerspruch der Abg. Britta Haßelmann lichen, aber andererseits dann von staatlicher Seite Gren- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) zen zu setzen. Ich freue mich auf die weitere Beratung und bedanke Die Grenzen sind bei den Voraussetzungen für ein Par- mich für Ihre Aufmerksamkeit. teienverbot defniert. Nach Artikel 21 Absatz 2 Grundge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) setz kann das Bundesverfassungsgericht eine Partei auf Antrag dann verbieten, wenn die Partei „nach ihren Zie- len oder dem Verhalten ihrer Anhänger“ darauf ausgeht, Vizepräsidentin Claudia Roth: „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beein- Vielen Dank, Alexander Hofmann. – Dann schließe trächtigen oder zu beseitigen“. ich die Aussprache. Bislang ist die Streichung der Parteienfnanzierung Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwür- erst nach diesem Verbot möglich. Am 17. Januar 2017 fe auf den Drucksachen 18/12357, 18/12358, 18/12100 23878 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) und 18/12101 an die in der Tagesordnung aufgeführten Wir brauchen also, um diese Herausforderungen zu (C) Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vor- bewältigen, mehr bezahlbare Wohnungen. Wir müssen schläge? – Die gibt es nicht. Sie beschäftigen sich ja auch Verdrängung und Polarisierung verhindern, damit der so- gerade mit anderen Fragen. Dann sind die Überweisun- ziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft nicht gefährdet gen so beschlossen. wird. Unsere Städte sollen weiterhin attraktive Lebens­ orte aller sozialen Schichten bleiben. Wir müssen CO2 Ich bitte, jetzt die Plätze einzunehmen. einsparen, sowohl im Gebäude- als auch im Verkehrsbe- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Tschüss!) reich. Wir brauchen auch mehr Grünfächen, einerseits zur Erholung, andererseits auch zur Abkühlung. Schließ- – Tschüss, Herr Kauder. lich sorgen Grünfächen in den Städten für gute Luft. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Tschüss, Frau Das sind große Aufgaben. Unsere Städte und Gemein- Präsidentin! Steigen Sie morgen nicht ab!) den haben mit der Bundesregierung einen verlässlichen und starken Partner an ihrer Seite. Für uns hat die För- – Hofentlich nicht! Ich bin deswegen schon ganz fertig. derung der Städte eine große wirtschaftliche, soziale und (Heiterkeit) kulturelle Bedeutung. Deshalb investieren wir mit der nationalen Stadtentwicklungspolitik massiv in die Kom- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf: munen. Wir unterstützen sie bei ihrer nachhaltigen Ent- wicklung und lösen so vor Ort eine Impulswirkung aus. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Die Förderung für die Städte ist so hoch wie noch nie. 3,4 Milliarden Euro gibt der Bund in dieser Legislatur- Stadtentwicklungsbericht der Bundesregie- periode an Städtebaufördermitteln aus. Also, mehr geht rung 2016 fast gar nicht mehr – es geht immer noch ein bisschen Drucksache 18/11975 mehr –: Das sind 1,4 Milliarden Euro mehr als unter der letzten Bundesregierung. Allein 2017 investieren wir Überweisungsvorschlag: 790 Millionen Euro in die Städtebauförderung. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ sicherheit (f) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz der CDU/CSU) Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Tourismus Ich will einen besonderen Punkt herausgreifen. Bei Ausschuss Digitale Agenda den Mitteln für das Programm „Soziale Stadt“ haben (B) Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen wir mit 40 Millionen Euro begonnen und liegen jetzt (D) der CDU/CSU und der SPD sowie ein Entschließungsan- bei 190 Millionen Euro. Ich glaube, das spricht für sich. trag von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Dazu kommt die Verdreifachung der Förderung für den sozialen Wohnungsbau auf 1,5 Milliarden Euro. Wir un- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für terstützen also die Städte in ihrem Engagement für mehr die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Weil Sie das ja Attraktivität und mehr Lebensqualität. Wir fördern auch vereinbart haben, gibt es dazu keinen Widerspruch. den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Dann eröfne ich die Aussprache und gebe das Das sind echte Investitionen in die Zukunft unseres Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Rita Landes. Das ist gut angelegtes Geld. Wir stoßen mit je- Schwarzelühr-Sutter für die Bundesregierung. dem Euro Städtebauförderung 7 Euro an Investitionen von öfentlichen und privaten Investoren an. Hofentlich (Beifall des Abg. Michael Groß [SPD]) haben vergangenen Samstag ganz viele von ihnen am Tag der Städtebauförderung vor Ort erleben können, wie Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin bei erfolgreich diese Politik vor Ort ist, wie Bürgerbeteili- der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und gung funktioniert und wie wieder attraktive Städte und Reaktorsicherheit: Kommunen entstehen. Allein für das Jahr 2017 wurden Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und somit 12 Milliarden Euro an Investitionen ausgelöst. Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Stadt­ Von diesen Zukunftsinvestitionen proftieren die Bür- entwicklungsbericht der Bundesregierung 2016 zeigt: gerinnen und Bürger im ganzen Land; denn wir investie- Unsere Städte und Kommunen stehen vor großen Heraus- ren im ganzen Land, sowohl in die großen Städte als auch forderungen. Deutschlands Bevölkerung ist zwischen in ländliche Regionen, in große und kleine Gemeinden. 2010 und 2015 um 3 Millionen Menschen gewachsen, Wir unterstützen sowohl wachsende als auch schrump- die zu uns gezogen sind. Auch die Städte wachsen – das fende Kommunen. Wir lassen Städte und Gemeinden in ist ein Megatrend –: Mehr als 1 Million Menschen sind den ländlichen Regionen nicht zurück. zwischen 2014 und 2015 in die Städte gezogen. Gleich- zeitig kämpft die Mehrheit der Kommunen im ländlichen Ein Blick auf die Städtebauförderung seit 1971 zeigt, Raum mit der Stagnation oder sogar mit dem Rückgang wie viel Geld in den ländlichen Raum und wie viel in der Bevölkerung. Hinzu kommen auch die Herausfor- den städtischen Raum geht. Dabei stellt man fest, dass derungen des Klimawandels. Natürlich wollen wir das 47 Prozent der Mittel in den ländlichen Raum fießen. 2-Grad-Ziel erreichen. Zusätzlich muss der wirtschaftli- Bei genauerer Betrachtung wird klar, dass diese Summe che Strukturwandel bewältigt werden. überproportional hoch ist, weil in den ländlichen Räumen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23879

Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter (A) weniger Menschen wohnen. Das macht deutlich: Wir dass bezahlbar zu wohnen nicht mehr selbstverständlich (C) nehmen alle mit. Wir wollen, dass die Wertschöpfung in ist. Für viele Menschen ist das inzwischen zu einer exis- den ländlichen Regionen entsprechend vorangeht. tenziellen Frage geworden. Der Neubau, der vor allem von der Union immer wieder propagiert wird, kann es Das zeigt, wie fexibel, anpassungsfähig und erfolg- allein nicht richten. Ja, wir brauchen mehr Wohnungen. reich die verschiedenen Initiativen und Programme der Aber vor allen Dingen brauchen wir mehr bezahlbare Bundesregierung sind. Wir wollen starke, schöne, grü- Wohnungen. Ich hätte mich gefreut, wenn der Bericht, ne, nachhaltige und kulturell lebendige Städte, in denen über den wir heute diskutieren, die kritischen Analysen sich Menschen wohlfühlen und gerne und gut leben. Die der letzten Monate beinhaltet hätte, die zum Beispiel zu Bundesregierung investiert deshalb auch künftig in diese dem Ergebnis gekommen sind, dass in den 20 größten Entwicklung. deutschen Städten die Häuser, die neu gebaut wurden, Da meine Uhr schon blinkt, möchte ich mich jetzt aus- nur zu 5 Prozent überhaupt noch für den Durchschnitts- drücklich bei den Koalitionsfraktionen bedanken, auch verdiener bezahlbar sind. für den Entschließungsantrag. Ja, wir wollen auch in Zu- kunft die Städtebauförderung zumindest auf dem bishe- (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ rigen Niveau fortführen und den Kommunen – ob groß DIE GRÜNEN]: Wahnsinn!) oder klein – eine gute und sichere Zukunft bieten. Das heißt, es wird zwar gebaut, aber nur im hochpreisi- Herzlichen Dank. gen Segment. Es wird für Besserverdienende gebaut. Das (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ist wirklich nicht akzeptabel. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Vizepräsidentin Dr. h. c. : neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Als nächste Rednerin hat Caren Lay für die Fraktion Die Linke das Wort. Der Bericht kommt an einigen Stellen zu richtigen Analysen. Die entscheidende Frage lautet natürlich, wel- (Beifall bei der LINKEN) che Konsequenzen die Regierung daraus zieht. Ein rich- tiges Analyseergebnis sind zum Beispiel die hohen bzw. Caren Lay (DIE LINKE): zu hohen Grundstücks- und Bodenpreise. Ja, das ist ein Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Problem. Das ist sogar eines der zentralen Probleme. Das Herren! Mit dem vorliegenden Stadtentwicklungsbericht ist aber auch das Ergebnis von zwei Jahrzehnten Priva- und dem Entschließungsantrag der Koalition stellt sich tisierungspolitik. Bedauerlich ist, dass die Regierung aus (B) die Bundesregierung bzw. die Koalition weitgehend ein dieser Analyse nicht die richtigen Schlüsse zieht; denn (D) positives Zeugnis aus. noch immer werden die vielen Flächen und Wohnungen des Bundes zu Höchstpreisen verkauft. Das heißt: Der (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Bund spekuliert mit. Der Bund selbst treibt die Preise in GRÜNEN]: Na, so etwas! – Kai Wegner die Höhe. – Das müssen wir endlich ändern. [CDU/CSU]: Zu Recht!) Das hat mich ziemlich überrascht. Sie werden verstehen, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- dass viele Bürgerinnen und Bürger, aber auch wir als neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Linke einen anderen Eindruck von der Entwicklung un- Ich fnde es bedauerlich, dass der soziale Aspekt der serer Städte haben und uns mehr Selbstkritik gewünscht Stadtentwicklung insgesamt zu kurz kommt. Es sind ja hätten. schließlich vorwiegend Menschen mit niedrigem Ein- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- kommen überproportional von Luft- und Lärmbelastun- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – gen sowie vom Mangel an Grünfächen betrofen. Von Karsten Möring [CDU/CSU]: Das ist ein den gut 100 Seiten des Berichts wird gerade einmal eine Wahrnehmungsproblem!) Seite für den sozialen Wohnungsbau verwendet. Es ist zwar richtig erkannt, dass hier zu wenig gebaut wird. So richtig und wichtig die Stadtumbau- und die Stadt­ Aber trotz mehr Neubaumaßnahmen beläuft sich das entwicklungsprogramme sind: Welche Situation haben Minus auf 25 000 Sozialwohnungen jährlich, die aus der wir denn in den Städten? Ganze Stadtteile kippen. Der Bindung fallen. Das ist nicht akzeptabel. Den Nieder- soziale Zusammenhalt ist in vielen Städten gefährdet. gang des sozialen Wohnungsbaus müssen wir stoppen. Mieterinnen und Mieter werden verdrängt. Grünfächen müssen Büroanlagen weichen. Das ist doch die Realität (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- in vielen Städten. Darüber können wir nicht hinwegse- NIS 90/DIE GRÜNEN) hen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Ich freue mich, dass die Regierung selbstkritisch fest- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – stellt, dass die Mietpreisbremse so, wie sie gemacht wur- Sören Bartol [SPD]: Dann zeigt mal, was ihr de, nicht funktioniert. Aber auch daraus werden keine könnt, in Berlin!) Konsequenzen gezogen. Es sieht ja wirklich alles danach aus, dass es in dieser Legislaturperiode keine Nachbesse- Ich möchte mit der aus unserer Sicht entscheidenden rung bei der Mietpreisbremse mehr geben wird. Das ist Frage, der Wohnungsfrage, beginnen. Es ist leider so, nicht akzeptabel. Wir müssen die Mietpreisbremse end- 23880 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Caren Lay (A) lich nachschärfen, damit die Menschen vor Mietenexplo- gierung diskutieren, sollten wir auch einmal die Gele- (C) sion und Verdrängung geschützt werden. genheit nutzen, all den Menschen zu danken, die in den Städten und Gemeinden ehrenamtlich tätig sind, und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- zwar nicht nur speziell für ihre eigenen kurzfristigen neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Anliegen in einer Bürgerinitiative, sondern ehrenamtlich Im Bericht fnden sich leider eine paar gravierende als Gemeinderat, als Stadtrat, Ortssprecher oder Bürger- Fehleinschätzungen, zum Beispiel, dass das bestehen- meister Verantwortung übernehmen. Auch diesen Men- de Recht dazu beitrage, die Verdrängung der Bewohner schen sollten wir bei der Diskussion über den Stadtent- aus ihren Wohnungen weitgehend zu vermeiden, oder wicklungsbericht herzlich danken. auch, dass sich zeitlich begrenzte Mietpreis- und Bele- gungsbindungen bewährt hätten. Das ist eine gravierende (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Fehleinschätzung, die wir als Linke so nicht akzeptieren ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ können. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Die Frau Staatssekretärin hat es bereits erwähnt: Der Zustrom in die großen Städte hält nach wie vor an – mit Meine Damen und Herren, wir als Fraktion Die Lin- all seinen Auswirkungen und Herausforderungen. Das ke – das gilt auch für mich persönlich – unterstützen die gilt gerade hier für Berlin mit seinen bald 4 Millionen Zusammenlegung sowie auch die Aufstockung der Pro- Einwohnern, aber auch für die anderen Ballungsräume, gramme „Stadtumbau Ost“ und „Stadtumbau West“. Klar sei es das Ruhrgebiet oder auch München. Das hat na- ist natürlich auch: Diese Zusammenlegung darf fnanziell türlich zur Folge, dass in diesen Ballungszentren der nicht zulasten des Ostens gehen. In meinem Wahlkreis Flächenbedarf und die Immobilienpreise steigen. Auch liegt eine Stadt wie Hoyerswerda. Deswegen sagen wir darauf sollten wir kritisch schauen. als Linke: Es wird auch zukünftig Unterstützung bei Ab- rissvorhaben geben müssen. Allerdings kann das nicht Das führt aber auch zu Herausforderungen für die Städ- länger gewissermaßen das Leitbild der Stadtumbaupoli- te, was die Infrastruktur anbelangt. Da sind Investitionen tik sein. Davon müssen wir wegkommen. Wir brauchen notwendig. Es muss da gehandelt werden. In dem Zu- Investitionen in altersgerechten Umbau, wir brauchen sammenhang nenne ich nur das Stichwort „S-Bahn-Aus- Investitionen in Modernisierung, bau“. Nein, ich erwähne jetzt nicht den Flughafenbau (Beifall bei der LINKEN) in Berlin; das tue ich hier nicht. Wir müssen also dafür sorgen, dass der öfentliche Personennahverkehr in den und wir brauchen auch Investitionen, um die wunder- Städten weiterhin funktioniert, mehr ausgebaut wird und (B) schöne Altbausubstanz von Städten zu retten. Damit besser wird. (D) zeigen wir, dass wir sie wertschätzen. Denken wir an Görlitz, denken wir an Meißen. Das sind aber Städte, Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Städ- die häufg den kommunalen Eigenanteil nicht aufbringen tebauförderung, die wir vornehmen, ist eine sehr gute können. Hier sind einfach mehr Unterstützungsmaßnah- Förderung. Wir haben hier sehr viel Geld in die Hand ge- men erforderlich. nommen. Ja, ich weiß, dass wir vielleicht noch den einen oder anderen Euro mehr in die Hand nehmen können; (Beifall bei der LINKEN) denn diese Städtebauförderung wirkt auch in den länd- Meine Damen und Herren, zu guter Letzt begrüßen lichen Raum hinein. Sie bewirkt nicht nur etwas in den auch wir als Linke die Förderung von Stadtgrün. Einige großen Städten, sondern auch in den mittleren und klei- von uns waren ja heute bei den Kleingärtnern. Wir als nen Städten. Das ist von daher eine gute Investition. Wir Linke unterstützen die Forderung, die dort erhoben wur- können da aber – wir sind uns in dieser Hinsicht, glaube de, dass nämlich die Infrastrukturprogramme des Bundes ich, einig – noch mehr machen. auch für das Kleingartenwesen genutzt werden können. Ich hofe, wir werden sie gemeinsam unterstützen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird immer über das Grün in der Stadt diskutiert. Wir soll- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen ten Anstrengungen unternehmen und etwas auf den Weg Dank. bringen, was die Flächen angeht, die in den Städten vor- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- handen sind. Wenn ich richtig informiert bin, sind in den neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) deutschen Städten circa 100 000 Hektar unbebaut. Diese Flächen sollten wir ökologisch hochwertig ausgestalten und im Sinne von Grün in der Stadt ökologisch aufwer- Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: ten. Solche Flächen sollten im Blick auf saubere Luft Artur Auernhammer hat als nächster Redner das Wort in der Stadt ausgeweitet werden. Ich glaube, da haben für die CDU/CSU-Fraktion. wir noch sehr viel Nachholbedarf. Den haben wir auch, (Beifall bei der CDU/CSU) wenn es – darüber wird ja diskutiert – um ökologische Ausgleichsfächen geht. Eine hochwertige grüne Fläche in der Stadt ist wichtiger, als wenn eine Stadt irgendwo Artur Auernhammer (CDU/CSU): ganz weit draußen im ländlichen Raum irgendwelche Geschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Ausgleichsmaßnahmen durchführt. Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir den Stadtentwicklungsbericht der Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23881

Artur Auernhammer (A) Meine sehr verehrten Damen und Herren, gerade in Herr Auernhammer, Sie haben völlig recht: Beim The- (C) den Städten diskutieren wir oft im Zusammenhang mit ma „saubere Luft in der Stadt“ haben wir Nachholbedarf. dem Thema „Grün in der Stadt“: Was macht der Bauhof? Ich bin sehr froh, dass das jemand aus der Unionsfraktion Was macht die öfentliche Planung? – Aber Grün in der endlich erkennt. Stadt beruht auch sehr viel auf Privatinitiative. Privatini­ tiative beginnt auf dem Balkon, man fndet sie aber vor (Karsten Möring [CDU/CSU]: Das haben wir allem – das ist bereits angesprochen worden – bei unse- schon längst gesagt!) ren Kleingärtnern. Wir haben in Deutschland 1 Million Denn die Feinstaubbelastung und die Stickoxidbelastung Kleingartenanlagen. In diesen 1 Million Kleingartenanla- in unseren Städten sind untragbar. Hier gilt leider nicht gen haben 4,5 Millionen Menschen ihr Zuhause, die An- das menschliche Maß, sondern das Maß von VW und an- lagen dienen der Freizeitgestaltung, und die Menschen deren Konzernen. Ich sage Ihnen: Hier muss das mensch- leisten damit einen großartigen Beitrag zur Sauberkeit liche Maß wieder gelten – bei der Stadtentwicklung und der Luft und zur Biodiversität in den Städten. Auch das gerade bei dem Thema „saubere Luft“. sollten wir – ich glaube, da sind wir uns überfraktionell einig – in der Zukunft stärker fördern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Nehmen wir die Aufgabe des Klimaschutzes. Sie, Frau Wenn wir über die Lebensbedingungen in den Städten Schwarzelühr-Sutter, sind ja auch für den Klimaschutz sprechen – die Kollegin hat gerade Brennpunkte in den zuständig und haben es beschrieben. Ich kann es nicht so Städten aufgezeigt –, dann müssen wir auch den Themen- positiv sehen, was wir da im Augenblick hinbekommen. komplex „Innere Sicherheit in den Städten“ ansprechen. Die Sanierungsrate im Gebäudebereich liegt immer noch Da haben wir, glaube ich, vielleicht in der einen oder bei 0,7 Prozent. Damit werden wir die Klimaschutzziele anderen Region in Deutschland noch Nachholbedarf, da von Paris krachend verfehlen. Wir investieren eben nicht müssen wir vielleicht in der einen oder anderen Region in die Wärmewende. Ich glaube, hier hat die Große Ko- noch stärker hinschauen. Da müssen wir vielleicht auch alition nach wie vor eine Leerstelle. Es ist ihnen nicht unsere Sicherheitsorgane noch mehr stärken und besser gelungen, Klimaschutz, Bauen und Stadtentwicklung unterstützen, damit auch die Menschen, die in den Städ- miteinander zu verbinden. Hier muss endlich wieder ein ten leben – darunter sind viele ältere Menschen – ein si- Klimaschutzmaß, ein ökologisches Maß, ein menschli- cheres und gutes Wohngefühl in ihren Städten haben. ches Maß gelten, anstatt diejenigen zu schonen, die ei- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die bes- gentlich hier investieren sollten. te Möglichkeit, den Zustrom in die Ballungsräume zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) verringern, damit dort keine Brennpunkte entstehen, ist sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (D) immer noch ein starker, ein weit entwickelter ländlicher Raum. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass auch die Men- Schauen wir uns unsere Wohnungsmärkte an: Es ist, schen im ländlichen Raum eine Zukunftsperspektive ha- glaube ich, ofenkundig, dass wir hier ein dickes Problem ben! haben. Minus 50 000 Sozialwohnungen Jahr für Jahr, Mietenexplosion in ganz Deutschland. In Berlin sind die Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Mieten innerhalb eines Jahres um 1 Euro pro Quadrat- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) meter gestiegen; das zerreißt die Stadtgesellschaft. Des- wegen sage ich Ihnen: Wir werden dafür sorgen, dass auf den Wohnungsmärkten wieder das menschliche Maß gilt Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: und nicht das Maß der Spekulanten. Christian Kühn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen hat als nächster Redner das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE Wir Grünen wollen in dieser Phase der Stadterweite- GRÜNEN): rung und des Stadtumbaus investieren. Wir wollen die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Städtebauförderung auf dem jetzigen Niveau verstetigen. und Herren! Der Architekt Jan Gehl hat kürzlich in einem Wir werden auch in der nächsten Legislaturperiode sehr Interview mit einer deutschen Tageszeitung gesagt: „Es genau darauf achten, dass es bei der Städtebauförderung geht darum, Städte im menschlichen Maßstab zu gestal- nicht wieder Rückschritte gibt. Vielmehr müssen wir hier ten.“ Ich glaube, das beschreibt sehr gut die Zukunftsauf- mehr tun, als wir es in dieser Legislaturperiode getan ha- gabe, vor der wir heute bei der Stadtentwicklung stehen. ben, gerade bei der Frage des Klimaschutzes. Wir befnden uns in einer Phase der Stadterweiterung und Deswegen setzen wir uns seit Anfang dieser Legis- des Stadtumbaus. laturperiode für ein Quartierssanierungskonzept ein, Wenn ich nun in diesen Stadtentwicklungsbericht für ein Städtebauförderprogramm bei der energetischen schaue, dann kann ich viele positive Entwicklungen se- Quartierssanierung, damit die Kommunen in die Lage hen. Aber wenn ich in unsere Städte schaue, dann gilt versetzt werden, ihre Quartiere zu sanieren, und hier vo- nicht mehr die schöne Sprache des Berichts der Bundes- rankommen. Da haben sie eine Leerstelle. Das werden regierung, sondern da trefen wir auf Realität. Da ist es wir immer wieder betonen, und wir werden weiter ent- eben so, dass nicht das menschliche Maß gilt, sondern oft sprechende Anträge stellen. Ich glaube, ohne die Städ- ganz andere Kriterien. tebauförderung wirklich auf den Klimaschutz auszurich- 23882 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Christian Kühn (Tübingen) (A) ten, werden wir an dieser Stelle in unseren Städten nicht lin und in anderen Städten unsere Liegenschaftspolitik (C) weiterkommen. ändern; denn ganz viele dieser Kleingartensiedlungen liegen mittlerweile doch in Gebieten, wo die Liegen- Das menschliche Maß muss auch in der Verkehrspoli- schaftspolitik des Bundes greift. Deswegen müssen wir tik wieder gelten; ich habe es im Zusammenhang mit der unbedingt das Gesetz über die Bundesanstalt für Immo- sauberen Luft angesprochen. Ich fnde, wir brauchen aber bilienaufgaben ändern; denn sonst werden diese Klein- auch mehr Investitionen in den öfentlichen Nahverkehr. gartenanlagen an Spekulanten verscherbelt, anstatt dass Wenn ich mir anschaue, wie unterfnanziert im Augen- man in urbanes Grün investiert und diese Kleingartenan- blick Schieneninfrastrukturprojekte in Kommunen sind, lagen für breite Bevölkerungsschichten öfnet. Hier muss wie viele Projekte da gegeneinander konkurrieren – wir die Union nacharbeiten. wissen jetzt schon, dass wir in dieser Phase der Stadter- weiterung, in der wir die Ballungszentren mit Mittel- und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kleinstädten verbinden müssen, mit den 330 Millionen sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Euro, deren Bereitstellung vereinbart ist, überhaupt nicht hinkommen –, dann ist vollkommen klar: Hier reicht Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: das Geld nicht aus. Hier braucht es endlich Grüne in der Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Verantwortung – auch hier im Bund –, damit es bei der Schiene und damit auch bei der Stadtentwicklung vo­ rangeht. Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie uns gemeinsam in das menschliche Maß Ja, wir brauchen eine funktionierende Mietpreisbrem- investieren. Wir Grünen sind bereit dazu, bei der Stadt- se, sonst werden wir die angespannten Wohnungsmärkte entwicklung noch einen draufzulegen. Ich glaube, diese nicht in den Grif bekommen. Ich meine, da muss sich die Bundesregierung muss noch deutlich nacharbeiten. Union endlich einmal ehrlich machen. Sie von der Uni- Danke schön. on haben es versprochen, und Sie haben Ihr Versprechen einfach gebrochen; denn diese Mietpreisbremse funktio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN niert nicht. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir brauchen eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit; damit investieren wir in das menschliche Maß in unseren Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Städten. Dazu haben wir gestern sehr lange gesprochen. Sören Bartol hat als nächster Redner für die SPD-Frak- tion das Wort. (B) Ich sage Ihnen: Damit wird es uns gelingen, die Woh- (D) nungsmärkte auf Dauer ftzumachen hinsichtlich bezahl- (Beifall bei der SPD) baren Wohnraums. So können wir breiten Schichten, die sich selbst nicht mit Wohnraum versorgen können, in Zu- kunft eine Wohnung aus dem Pool des gemeinnützigen Sören Bartol (SPD): Wohnungsbaus anbieten. Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle- gen! Der Stadtentwicklungsbericht macht für mich eins Ich höre von der Union immer wieder, dass das Thema deutlich: Unsere Stadtentwicklungspolitik ist vielseitig, „urbanes Grün“ in ganz vielen Reden sehr betont wird. fexibel und auch zielgerichtet. Die Städtebauprogramme Ich bin da sehr bei Ihnen, dass das ein ganz wichtiges setzen genau dort an, wo wir immer Nachbesserungsbe- Infrastrukturthema ist. Herr Auernhammer, Herr Wegner, darf gesehen haben. ich glaube Ihnen sehr, dass Sie persönlich da hinterher sind. Aber wenn ich mir die Debatte in Baden-Württem- Diese Programme sind ebenso wie unser Land vielfäl- berg zur dortigen Landesbauordnung anschaue, dann tig. Es gibt Orte, an denen der Druck auf den Wohnungs- stelle ich fest: markt immens ist, und die Verdreifachung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau ist deshalb unser großer Er- (Sören Bartol [SPD]: Was macht denn euer folg der letzten Legislaturperiode. Noch einmal ein Dank sozialer Wohnungsbau?) an Barbara Hendricks! Es geht darum, dass Sie gegen jede Regelung kämpfen, (Beifall bei der SPD) die etwa mehr Dachbegrünung oder mehr Fassadengrün bedeutet. Da widersprechen Sie sich einfach. Da sind Sie Diese Mittel sind sozusagen die Hardware. Sie versetzen einfach maximal scheinheilig. Hier auf Bundesebene pre- Länder, Städte und Gemeinden in die Lage, den Woh- digen Sie das urbane Grün; aber in den Ländern kämpfen nungsmarkt nicht allein dem Markt zu überlassen. Sie gegen jede Bauregelung, die eine entsprechende Pla- Wir müssen und wollen aber auch dort ansetzen, wo nung vorsieht. Das passt nicht zusammen. Hier sollten Lebenschancen und Lebensqualität in Gefahr sind, weil Sie sich wirklich einmal ehrlich machen. Menschen aus der einen Stadt weggehen und es dafür (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in einer anderen Stadt oder Region eng und teurer wird. Für vergleichbare Lebensverhältnisse müssen wir hier im Zum Schluss. Wir können hier gemeinsam das Hohe- Bundestag ressortübergreifend und vernetzt denken und lied auf die Kleingärten singen. Ich glaube, wir haben auch arbeiten. Kommunalpolitiker und ‑politikerinnen dazu heute Morgen eine sehr gute Veranstaltung gehabt. tun das üblicherweise. Sie wissen, dass das Vorhanden- Aber wir müssen gerade für die Kleingärtner in Ber- sein bzw. die Qualität einer Schule häufg das entschei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23883

Sören Bartol (A) dende Kriterium dafür ist, ob eine Familie überhaupt an Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: (C) einem Ort ankommt bzw. dort bleibt, dass Arbeitsplätze Kai Wegner hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Frak- bzw. deren Erreichbarkeit darüber entscheiden, ob man tion. einen Ort verlassen muss. Kurz: Bildung und Mobilität sind die zwei Bereiche, in denen auch im Bericht die (Beifall bei der CDU/CSU) höchsten Investitionsbedarfe gesehen werden. Kai Wegner (CDU/CSU): In einem Ort ist es die Qualität der Schulen, in einem Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und anderen die Anbindung an die nächstgrößere Stadt, oder Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit mehreren es gibt Probleme mit sogenannten Schrottimmobilien. Jahren erleben wir nunmehr eine Renaissance der Städte Wir brauchen daher in den erfolgreichen Städtebaupro- in unserem Land. Städte wachsen und sind echte Anzie- grammen noch mehr Flexibilität und Kontinuität, damit hungsmagneten für viele Menschen. Frau Lay, das Bild, das, was auf den Weg gebracht wurde, seine Wirkung das Sie von unseren Städten im Allgemeinen gezeichnet voll und auf lange Sicht entfalten kann. Deshalb fordern haben, ist so nicht richtig; denn sonst müsste man sich ja wir in unserem Entschließungsantrag die Fortschreibung die Frage stellen, warum so viele Menschen in die Städte auf dem jetzigen Niveau, und wir wollen die Fortführung drängen. Sie tun das ja nicht nur, weil sie es müssen, son- des Investitionspakts „Soziale Integration im Quartier“ dern auch, weil sie es wollen, Frau Lay. Dabei will ich prüfen. die Herausforderungen, die wir in den Städten haben, gar nicht kleinreden. Aber dabei möchte ich es nicht belassen. Der Bericht drückt es so aus: (Beifall bei der CDU/CSU – Sylvia Kotting- Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür ist ... unzureichende Erfolge weist die notwendige Bün- Mexico City das beste Beispiel! – Matthias W. delung von investiven Maßnahmen mit nicht-inves- Birkwald [DIE LINKE]: Was war das jetzt für tiven sozialen Maßnahmen in Kooperation mit an- ein Argument?) deren Ressorts auf. – Dass wir die Städte nicht kaputtreden sollten, auch wenn wir in den Städten vor Herausforderungen stehen. Für mich heißt das, wir brauchen nicht nur städtebau- liche Investitionen, sondern wir müssen diese auch noch (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das stärker als bisher durch nichtinvestive ergänzen. Im rich- tun wir nicht!) tigen Leben ist damit Personal gemeint, also Menschen. – Das Bild, das Ihre Kollegin von unseren Städten ge- Durch sie müssen wir Bildung, Verkehr, Verbraucher- zeichnet hat, habe zumindest ich so wahrgenommen. (B) schutz, Gesundheitsberatung, Pfege, Berufsberatung (D) noch besser vor Ort verzahnen. Unsere Bauministerin hat (Caren Lay [DIE LINKE]: Sie reden die Pro- das erkannt und die ressortübergreifende Strategie und bleme klein!) den Investitionspakt „Soziale Integration im Quartier“ so Ja, es ist richtig: Wir stehen vor vielen Herausforde- gut ausgestattet, dass damit investitionsbegleitend Inte- rungen in unserem Land, auch und gerade in den Städten. grationsmanager fnanziert werden können, die sich um Bezahlbares Wohnen, gesellschaftlicher Zusammenhalt, die Vernetzung mit den Stadtteilen und um die vorhande- Sicherheit, Sauberkeit, klimagerechter Umbau – all das nen Angebote, eben auch an Schulen, kümmern. sind Dinge, die wir intensiv vorantreiben müssen. Des- Dass wir die Schulen stärken müssen, übrigens auch halb begrüße ich ausdrücklich, dass der aktuelle Stadt­ als Bund, haben wir verstanden – ein Unionskollege in entwicklungsbericht der Bundesregierung die Trends und herausragender Position leider immer noch nicht. Wir die Treiber der Stadtentwicklung in Deutschland identif- sollten sie auch durch die Städtebauprogramme stär- ziert. Hier möchte ich Ihnen, Frau Ministerin Hendricks, ken. Dort, wo am meisten Unterstützung notwendig ist, ganz herzlich für die gute Vorlage aus Ihrem Hause dan- sollten die besten Schulen sein. Das sind sie dann, wenn ken. Pädagoginnen und Pädagogen in den Nachbarschaften, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) unterstützt durch Vereine, Hilfsangebote, Beratung und Ganztagsbetreuung, für Kinder und Eltern da sein kön- Eine tragende Säule der Stadtentwicklungspolitik ist nen. zweifelsohne die Städtebauförderung. In dieser Wahlpe- riode haben wir die Mittel der Städtebauförderung von Der Erfolg der Städtebauprogramme, die den neuen zunächst 450 Millionen Euro auf zuletzt 790 Millionen Herausforderungen laufend angepasst wurden, würde da- Euro nahezu verdoppelt. Ich fnde, das ist ein großer Er- mit fortgeschrieben. Ich fnde, das muss auch weiterhin folg dieser Koalition, meine Damen und Herren. unser Ziel bleiben. So vielfältig, wie unsere Städte und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Gemeinden sind, so kreativ müssen auch die Städtebau- programme und unsere Bürgermeisterinnen und Bürger- Passend hierzu fand am Sonnabend letzter Woche zum meister sein können. dritten Mal der bundesweite Tag der Städtebauförderung statt. Wir wie auch alle Bürgerinnen und Bürger hatten Vielen Dank. in diesem Rahmen die Gelegenheit, die erfolgreiche Umsetzung der Städtebauförderung in den Städten und (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gemeinden zu erleben. Ich fnde es gut, dass es diesen Dr. Klaus-Peter Schulze [CDU/CSU]) bundesweiten Aktionstag gibt. Wie viele andere Kolle- 23884 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Kai Wegner (A) ginnen und Kollegen war auch ich in meinem Wahlkreis, Liebe Kolleginnen und Kollegen, Städte sind seit jeher (C) in Berlin-Spandau, unterwegs, um mich vor Ort über die Orte der Freiheit und des Wandels. Städte sind nie fertig zahlreichen guten Projekte zu informieren. So war ich gebaut, sondern entwickeln sich immer weiter. Auch das zum Beispiel im Falkenhagener Feld. Das ist eine große macht ihre Attraktivität aus. Natürlich gehört zu einer Wohnsiedlung der 60er-Jahre. Es war einmal mehr inte- guten Stadtentwicklungspolitik auch, Perspektiven für ressant, zu sehen, wie dort das Wohnumfeld qualifziert den Wohnungsbau neu aufzuzeigen. Ich bin der Bundes- wird und wie soziale und Versorgungsinfrastruktur ge- regierung und der Koalition für die Verdreifachung der stärkt werden. Mittel für den sozialen Wohnungsbau dankbar. Ich danke auch Frau Hendricks dafür. Aber, liebe Kolleginnen und Meine Damen und Herren, die Aufwertung im Falken- Kollegen, ich danke vor allem unserem Bundesfnanz- hagener Feld wird auch über das Programm „Stadtum- minister Wolfgang Schäuble dafür, dass wir in diesem bau West“ durchgeführt. Vor diesem Hintergrund – das Haushalt so viele Mittel für den sozialen Wohnraum zur möchte ich an dieser Stelle zumindest einmal sagen – ir- Verfügung stellen können. ritiert es mich immer wieder, wenn ich vom Ministerium zumindest gefühlt eine recht einseitige Konzentration auf (Beifall bei der CDU/CSU) das Programm „Soziale Stadt“ erlebe. Angesichts des- Aber wenn ich mitansehen muss, wie Rot-Rot-Grün in sen, dass wir gerade bei den Stadtumbauprogrammen das meiner Heimatstadt Berlin größte Programmvolumen bei der Städtebauförderung haben – sogar mit steigender Tendenz –, und angesichts (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ der Erfolge des Stadtumbaus sollten wir auch und gerade DIE GRÜNEN]: Die machen da eine Super- diese Programme immer wieder erwähnen, liebe Kolle- politik!) ginnen und Kollegen. – darauf komme ich gleich, Herr Kühn – 5 000 neue Woh- nungen auf der Elisabeth-Aue in Pankow mit einem Fe- (Beifall bei der CDU/CSU) derstrich vom Tisch fegt, wie Nachverdichtungen verhin- Die Programme „Stadtumbau Ost“ und „Stadtumbau dert werden, wie die Bausenatorin ein Projekt nach dem West“ legen wir jetzt zu einem bundesweiten Stadtum- anderen auf Eis legt, wie selbst der Regierende Bürger- bauprogramm zusammen. Ich begrüße das sehr. Wir meister Michael Müller diese Klientelpolitik öfentlich müssen natürlich aufpassen, dass hier am Ende niemand kritisiert, dann kann ich nur sagen: Was Rot-Rot-Grün in verliert. Aber das zeigt einmal mehr, dass die Herausfor- Berlin veranstaltet, ist das Gegenteil von guter Stadtent- derungen, die wir sowohl im Westen als auch im Osten wicklungspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen. unseres Landes haben, sich mittlerweile angeglichen ha- (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Kunert (B) ben. Das zeigt zudem, dass wir die deutsche Einheit wei- [DIE LINKE]: Wer hat denn vorher regiert?) (D) ter vollenden, auch mit dieser Zusammenlegung. Vor diesem Hintergrund, lieber Herr Kühn, entbehrt es Für uns ist klar, dass es im Rahmen der Städtebau- übrigens nicht einer gewissen Komik, wenn ausgerechnet förderung nicht nur die Programme zum Stadtumbau die grüne Bundestagsfraktion in ihrem Entschließungs- und das Programm „Soziale Stadt“ gibt; vielmehr gibt antrag zum Stadtentwicklungsbericht fordert, mal eben es vielfältige Programme. Die Gesamtstruktur der Städ- 1 Million zusätzliche günstige Wohnungen zu schafen. tebauförderung mit ihren verschiedenen Herausforderun- Hier im Bundestag hehre Forderungen aufzustellen, aber gen ist wichtig. vor Ort – für Berlin habe ich es gerade geschildert – sich vor der Verantwortung zu drücken, Ja, es treten auch immer wieder neue Herausforde- rungen auf, die wir dann auch sehen und annehmen. Ich (Zurufe des Abg. [BÜND- möchte ausdrücklich unserem Koalitionspartner danken, NIS 90/DIE GRÜNEN]) dass es uns als Union gelungen ist, das Programm „Zu- das ist eine Doppelmoral, die wir Ihnen nicht durchgehen kunft Stadtgrün“ neu aufzulegen. Wir haben lange dafür lassen werden, Herr Kühn. geworben. Ich glaube, städtisches Grün ist ein ganz zen- traler Baustein für lebenswerte Städte und Gemeinden. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Wir sagen in unserem Entschließungsantrag, dass wir das Katrin Kunert [DIE LINKE]) in einem eigenen Programm fördern und das zukünftig Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen die sogar verstetigen wollen. Ich glaube, auch das ist wichtig Städte mehr denn je als Motor für Nachhaltigkeit, In- für lebenswerte Städte und Gemeinden in unserem Land, novation und Wachstum. Die Herausforderungen, vor liebe Kolleginnen und Kollegen. denen wir stehen, gerade in den Bereichen Wirtschaft, Demografe, Soziales, Sicherheit, Klima und Umwelt Ein weiteres Förderprogramm der Städtebauförde- sind groß. Wir werden sie nur in und mit unseren Städten rung, das wir in dieser Legislaturperiode neu aufgelegt erfolgreich bewältigen können. haben, möchte ich ausdrücklich erwähnen. Das ist das Programm „Nationale Projekte des Städtebaus“. Wir trei- Kurzum: Ein starkes Deutschland gibt es nur mit star- ben hier echte Leuchtturmprojekte voran. Die Vorhaben, ken Städten. Starke Städte gibt es nur mit einer guten die wir in diesem Programm fördern, sind beispielgebend Stadtentwicklungspolitik und mit der Städtebauförde- für die Stadtentwicklung in Deutschland. Auch deshalb rung als tragende Säule. Das machen wir als Koalition in wollen wir unbedingt an diesem neuen Programm fest- unserem Entschließungsantrag deutlich. Daher bitte ich halten. Sie um Unterstützung für unseren Entschließungsantrag. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23885

Kai Wegner (A) Herzlichen Dank. Aus meiner Region kann ich Ihnen sagen: Die Mittel (C) des Stadtumbaus sind sehr gut angelegt. Wir hatten Quar- (Beifall bei der CDU/CSU) tiere, in denen 30 Prozent Leerstand war; die Ladenzen- tren waren leergezogen, die Menschen konnten sich auf Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: den freien Plätzen nicht trefen. Es gab keine oder kaum Michael Groß hat als nächster Redner das Wort für die Spielplätze, viele waren verwahrlost. Es gab keine Arbeit SPD-Fraktion. im Quartier. Aber gerade die Mittel des „Stadtumbaus West“ und der „Sozialen Stadt“ haben dafür gesorgt, dass (Beifall bei der SPD) wir auch hier Wertschöpfung betrieben haben, Arbeits- plätze generiert haben, dass wir Umweltgerechtigkeit Michael Groß (SPD): mit dem Thema Bauen, Ökonomie und Soziales versöhnt Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! haben. Es sind Nachbarschaftsparks entstanden. Es sind Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an dieser Trefpunkte entstanden. Schulen haben sich geöfnet. Stelle den Parlamentariern, insbesondere den Haushäl- Das wollen die Menschen. Das Wichtigste ist: Es sind tern, dafür danken, dass wir genügend Mittel für die Beteiligungsprozesse entstanden. Die Menschen haben Städtebauförderung bekommen haben. mitbestimmen können, wie sie leben wollen, haben De- mokratie erlebt und haben erlebt, dass sie Einfuss neh- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und men können. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – [SPD]: Das ist Demokratie!) Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Prozess, den wir als Sozialde- – Das ist Demokratie, genau. – Der nächste Dank neben mokraten weiter unterstützen müssen und wollen. So ent- dem Dank für die Ministerin sowie für die Parlamen- steht eine soziale Stadt für gutes Leben. tarische Staatssekretärin gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem BMUB, weil dort konkrete Arbeit Glück auf! geleistet wird für die Städtebauförderung, für die Pro- gramme „Soziale Stadt“, „Stadtumbau West“ und „Stad- (Beifall bei der SPD) tumbau Ost“. Herzlichen Dank an Sie, dass die letzten dreieinhalb Jahre so gut gelaufen sind. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Als letzter Redner in der Debatte spricht Volkmar der CDU/CSU) Vogel für die CDU/CSU-Fraktion.

(B) Das Spielfeld für bezahlbares Wohnen, gutes Leben (Beifall bei der CDU/CSU) (D) und Solidarität in den Städten sowie die Antwort auf die Frage: „Wie können Menschen selbstbestimmt le- Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): ben, aufwachsen und so alt werden, wie sie es sich wün- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schen?“, ist die Stadt. Wir haben als Große Koalition in Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem heute diesen dreieinhalb Jahren die Städte mit 25 Milliarden vorliegenden Stadtentwicklungsbericht beleuchten wir Euro entlastet. Das reicht bei weitem nicht. Wir wissen, die Siedlungsstrukturen in ihrer Gesamtheit. Man kann dass sie die Liegenschaftspolitik unbedingt verbessern zu Recht sagen: Wenn wir vom Stadtentwicklungsbericht müssen und dass sie die Bodenspekulation beenden sprechen, sprechen wir sowohl von den großen Städten müssen. Dafür brauchen sie natürlich Geld. Dieses Geld als auch von den kleinen Städten und Gemeinden. haben wir ihnen zur Verfügung gestellt, aber es ist bei weitem nicht ausreichend. Das Ergebnis, Frau Staatssekretärin, auch wenn es uns Nordrhein-Westfalen hat durch eine Tochtergesell- vor neue Herausforderungen stellt, kann sich durchaus schaft des Landes NRW und der Deutschen Bahn AG sehen lassen. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass ein treuhänderisches Modell auf den Weg gebracht, um wir auf dem richtigen Weg sind, aber nur, weil wir auch Grundstücke anzukaufen, zu entwickeln und den Städten gemeinsam arbeiten. Das ist keine Aufgabe, die wir als nachher zur Verfügung zu stellen. Bund allein erledigen können, sondern es ist eine Aufga- be, der wir uns als Bund gemeinsam mit den Ländern und (Klaus Mindrup [SPD]: Gute Idee!) Kommunen stellen und die wir anpacken müssen. Das hat dazu geführt, dass sich die Bodenpreise nicht so Eines der wichtigsten Instrumente ist natürlich die entwickelt haben, dass Wohnen nicht mehr bezahlbar ist. Städtebauförderung. Der Abruf der Städtebaufördermit- Ich glaube, solche Modelle müssen wir auch auf der Ebe- tel zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Der ne des Bundes entwickeln. Wir müssen an revolvierende Dank gilt allen Akteuren, die daran beteiligt waren. Das Bodenfonds, an die Gemeinwohlorientierung denken. sind sowohl unsere kommunalen Unternehmen und die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Christian Genossenschaften als auch die vielen privaten Investo- Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren und Selbstnutzer, die dazu beitragen, dass wir hier NEN]) im Großen und Ganzen – bei allen Problemen, die wir zu lösen haben – doch auf einem richtigen Weg sind. Unser Wir Sozialdemokraten sagen, dass wir diejenigen beloh- Ziel – wir dürfen es nicht aus den Augen verlieren – sind nen müssen, die dafür sorgen, dass Wohnen bezahlbar natürlich lebenswerte, bezahlbare Wohnungen, aber auch bleibt, die sich aber auch im Stadtteil engagieren. das dazugehörige Umfeld in den Städten, in den Kommu- 23886 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Volkmar Vogel (Kleinsaara) (A) nen und auf dem fachen Land. Es wurde viel zur Mittel­ immer dann am besten gelöst, wenn wir es vielen Men- (C) ausstattung gesagt; ich kann mich dem nur anschließen. schen ermöglichen, eigenen Wohnraum zu schafen, der ihnen gehört und über den sie verfügen können. Ich möchte insofern den Blick in die Zukunft richten. Wir haben das auch mit unserem Entschließungsantrag (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ gemacht. Ich bitte die Kollegen der Opposition, sich DIE GRÜNEN]: Das debattieren wir noch unserem Antrag anzuschließen und uns zu unterstützen. mal!) Die Voraussetzungen in der Zukunft werden sein: demo- Da sind es vor allen Dingen die Familien, die Schwel- grafscher Wandel – es werden die wachsenden und die lenhaushalte, die es schwer haben, zu Wohnungseigen- schrumpfenden Städte in unserem Lande sein, denen wir tum zu kommen. Denen müssen wir helfen, zum Beispiel helfen müssen –, die Binnenwanderung, aber auch der durch steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten. Zuzug von außen, nicht zuletzt der Klimawandel, der in den Städten, aber auch auf dem fachen Land ein Pro- (Klaus Mindrup [SPD]: Von welchen Steuern blem ist. denn?) Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit den Steuerlich abschreiben kann aber nicht jeder. Deswegen Stadtumbauprogrammen, die wir sehr gut ausgestattet ha- ist unser Ziel – daran sollten wir arbeiten –, die Woh- ben und jetzt zu einem gemeinsamen Programm zusam- nungsbauprämie zu verändern, damit hier neue Möglich- menlegen, reagieren wir genau darauf. Ich kann Ihnen keiten entstehen. sagen – auch Ihnen, Frau Lay, weil Sie es angesprochen (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ haben –: Wir achten sehr darauf, dass die Sonderförder- DIE GRÜNEN]: Acht Jahre den Finanzmi- bedingungen für die ostdeutschen Bundesländer beim nister gestellt, aber beim Eigentum nichts ge- Abriss erhalten bleiben. Gleichzeitig lassen wir Kommu- macht, und jetzt Wahlkampf mit dem Thema nen in anderen Bundesländern, die in schwierigen fnan- machen! Das ist armselig!) ziellen Lagen sind, diese Unterstützung angedeihen. Das ist, denke ich, mehr als gerecht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch über die Frage der Grunderwerbsteuer, die sehr ins Gewicht fällt, wenn Im Übrigen möchte ich, weil wir hier auch die Frage es darum geht, Wohneigentum zu erwerben, sollte man der Bildung im Blick hatten, sagen: Mit den Stadtumbau- nachdenken. Ich fnde es nicht richtig, dass sie zum Bei- programmen ist es möglich – das ist auch unser Ziel –, spiel in Thüringen auf 6,5 Prozent erhöht worden ist. In nicht nur für einen reinen Abriss, sondern insbesondere Sachsen liegt sie nach wie vor bei 3,5 Prozent. Auf diese auch für die Aufwertung und Umgestaltung der Quartiere Art und Weise sorgt Sachsen dafür, dass Wohneigentum zu sorgen. Dazu gehören auch Schulen. Es gab in Thürin- gebildet werden kann. (B) gen unter der CDU-Regierung ein sehr gutes Schulsanie- (D) rungsprogramm, über das – auch im Rahmen des Stadt­ (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Kühn umbaus – Schulen umgestaltet und an die Bedürfnisse [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: angepasst wurden, sodass sie heute hervorragende Lehr- In Sachsen wird keine einzige Sozialwohnung bedingungen bieten. Das ist sicherlich ein gutes Beispiel errichtet! Das ist die Realität!) für die Kollegen in anderen Bundesländern. Damit nicht nur über die Städtebauförderung gespro- Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch beim chen wird, möchte ich abschließend sagen: Es ist wichtig, Stadtgrün spielt der Stadtumbau mit hinein, aber es gibt dass wir die Veränderungen nicht nur in die Metropolen dafür auch ein eigenes Programm: „Zukunft Stadtgrün“. und die großen Städte tragen – es ist uns gelungen, die Ich muss sagen: Hier gibt es noch enormes Potenzial. Ich Baunutzungsverordnung zu ändern und das sogenannte fnde es bedauerlich, dass wir in dieser Legislatur nicht Urbane Gebiet zu schafen –, sondern auch in die klei- dazu gekommen sind, die Kompensationsverordnung zu nen Städte und Gemeinden, damit das Leben auch dort ändern. lebenswert bleibt, damit es nicht nur Schlafdörfer sind, sondern sich dort auch Gewerbe entwickeln kann und Liebe Kollegen von den Grünen, das ist auch ein Ap- Menschen vielleicht gar nicht mehr in die großen Städ- pell an Sie: Wir sollten, wenn es darum geht, Ersatz und te ziehen, weil sie ihr Daheim in einem Dorf, in einer Ausgleich für Flächeninanspruchnahme zu schafen, da- kleinen Stadt fnden. Das ist das, was Deutschland stark rüber nachdenken, entsprechende Möglichkeiten auch macht. in den Städten, in Siedlungsstrukturen zu eröfnen. Die Kleingärtner geben uns dafür das beste Beispiel: Sie Daran müssen wir weiter arbeiten. Dazu rufe ich Sie schafen in ihren Anlagen teilweise Reservate, in de- alle auf. Machen Sie mit der Zustimmung zu unserem nen sich die Tierwelt und die Pfanzenwelt entwickeln Antrag den ersten Schritt. Alles Weitere folgt in der können. Das ist durchaus auch in den Städten möglich. nächsten Legislaturperiode. Machen wir uns nichts vor: Jeder Stadtkämmerer stöhnt über die Kosten des Stadtgrüns. Mit den entsprechenden Danke schön. Mitteln würden wir auch die städtischen Kassen entlas- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ten. Das ist ein Punkt, dessen wir uns auf jeden Fall an- ordneten der SPD) nehmen sollten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: über Wohnungsbau reden, geht es immer auch um eine Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich soziale Frage. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit ist die Aussprache, und wir kommen zu den Abstimmungen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23887

Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ich eröfne die Aussprache. Als erster Redner hat (C) Drucksache 18/11975 an die in der Tagesordnung aufge- Michael Gerdes für die SPD-Fraktion das Wort. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (Beifall bei der SPD) so beschlossen. Michael Gerdes (SPD): Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschlie- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit ßungsanträge. Interfraktionell ist vereinbart, über die knapp zwei Wochen liegt die Standortbestimmung der Entschließungsanträge, abweichend von der Geschäfts- Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ordnung, sofort abzustimmen. Sind Sie damit einverstan- zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt auf dem den? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Tisch. Wir müssen festhalten, dass sich arbeitsbedingter Zuerst stimmen wir über den Entschließungsantrag Stress negativ auf die Gesundheit von Erwerbstätigen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksa- auswirkt. Die Zahlen derer, die aufgrund psychischer Er- che 18/12395 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungs- krankungen am Arbeitsplatz fehlen oder eine Erwerbs- antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da- minderungsrente beantragen, sprechen leider für sich. mit ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei GRÜNEN]: Das aber schon lange, oder?) Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- nommen. Wir sollten dringend über Gegenmaßnahmen nachden- ken, wenn wir vermeiden wollen, dass sich psychische Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- Leiden aufgrund von Arbeit ausbreiten und gegebenen- schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen falls ein Fall für die Berufskrankheiten-Liste werden. auf Drucksache 18/12396. Wer stimmt diesem Entschlie- ßungsantrag zu? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich Anknüpfend an die lange Tradition des Arbeitsschut- jemand? – Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den zes in Deutschland sind wir gut beraten, unsere Vor- Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi- schriften an die Arbeitswelt 4.0 anzupassen. Technischer tion abgelehnt. und psychosozialer Arbeitsschutz müssen stärker mitei- nander verknüpft werden. Am Beispiel betrachtet: Das Ich rufe die Tagesordnungspunkte 42 a und 42 b auf: Messen von übermäßigen Geräuschen und zu schwachen Lichtquellen in Büroräumen reicht allein nicht mehr aus. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wohlbefnden in der digitalisierten Arbeitswelt hängt richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales mehr und mehr davon ab, ob wir Zeitdruck haben oder ob (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- (B) wir beispielsweise von permanent eingehenden E-Mails (D) ten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Matthias W. gestört werden. Bisher hat sich der Arbeitsschutz auf Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frakti- den Betrieb bzw. den Arbeitsort konzentriert. Moderner on DIE LINKE Arbeitsschutz muss auch den Feierabend in den Blick Verordnung gegen Stress in der Arbeitswelt nehmen. Die Studien sagen uns nämlich, dass es darauf erlassen ankommt, wie gut wir von der Arbeit abschalten können. Drucksachen 18/10892, 18/11221 Es liegt nun an uns und an den Sozialpartnern, die 10 Empfehlungen der BAuA politisch zu bewerten und b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Konsequenzen daraus zu ziehen. Das wird wohl ange- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales sichts der zu Ende gehenden Legislaturperiode noch (11. Ausschuss) einige Zeit dauern. Trotzdem möchte ich eines vorweg- nehmen: Die SPD-Fraktion ist von der Idee einer An- – zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta ti-Stress-Verordnung überzeugt. Entscheidend dabei ist: Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, Psychische Belastungen im Erwerbsleben müssen raus weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE aus der Tabuzone. LINKE (Beifall bei der SPD) Wochenhöchstarbeitszeit begrenzen und Arbeitsstress reduzieren Vielerorts werden stressbedingte Arbeitsausfälle und Unfälle unterschätzt. Wir dürfen arbeitsbedingten Stress – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate nicht mit einem herausfordernden Arbeitsalltag verwech- Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Kerstin seln. Umgekehrt fnde ich es auch wichtig, Arbeit positiv Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak- zu besetzen. tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mehr Zeitsouveränität – Damit Arbeit gut ins Leben passt Arbeit ist kein grundsätzlicher Stressfaktor. Arbeit schaft materielle und immaterielle Werte, die uns Men- Drucksachen 18/8724, 18/8241, 18/12055 schen guttun. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Liebe Kolleginnen und Kollegen, Stress heißt, mit die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- etwas nicht fertig zu werden. Stress am Arbeitsplatz nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. entsteht durch eine psychische Überlastung. Das emp- 23888 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Michael Gerdes (A) fndet jeder Mensch anders. Die gute Nachricht ist, dass abzielen, Erwerbstätige vor Berufsunfähigkeit zu be- (C) wir Stress bewältigen können, wenn wir den Menschen wahren. Das Gesundheitsmanagement der Betriebe und die richtigen Mittel zur Verfügung stellen. Dazu gehört die Eingliederung nach langer Krankheit sind daher eine zum Beispiel auch eine Gefährdungsbeurteilung, in der große Herausforderung. Ohne Prävention wird es vor danach gefragt wird, ob jemand genügend Zeit für die dem Hintergrund der älter werdenden Gesellschaft nicht Erledigung seiner Arbeit hat und ausreichend Wissen für gehen. die jeweilige Aufgabe hat. Wir brauchen eine neue Regelung, eine Regelung, die Mir ist klar, dass wir als Gesetzgeber gesunde Ar- den Namen Anti-Stress-Verordnung trägt. beitsprozesse nicht bis ins kleineste Detail gestalten und (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE regeln können. Wir benötigen praxistaugliche Ansätze GRÜNEN]: Das hätte man doch schon auf den direkt im Betrieb. Weg bringen können!) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Das würde der Bedeutung der mentalen Gesundheit in GRÜNEN]: Deswegen machen wir eine Ver- der modernen Arbeitswelt Rechnung tragen. ordnung, oder?) Herzlichen Dank und Glück auf! Einerseits ist das Zusammenspiel zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie unter Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen gefragt. Andererseits müssen sich die gesetzlich vor- der CDU/CSU) gesehenen Akteure des Arbeitsschutzes stärker auf die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz fokussieren. Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Hier kommen auch strukturelle Fragen auf uns zu: Ha- Sie sind vorbildlich in der Zeit geblieben. Wenn alle ben wir ausreichend Betriebsärzte und Arbeitsmediziner? nachfolgenden Kollegen sich daran halten, wäre das sehr Wie bilden wir Arbeitsschutzakteure weiter? Wie bringen schön. – Jutta Krellmann hat als nächste Rednerin das wir das neue Arbeitsschutzwissen besser in die Betriebe? Wort. Gibt es ausreichend Kontrollen? (Beifall bei der LINKEN) Mir geht es nicht darum, Sanktionen auszusprechen. Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen fehlt es schließlich nicht an der Bereitschaft zur Fürsorge, son- Jutta Krellmann (DIE LINKE): dern es mangelt eher an technischen, fnanziellen und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen personellen Ressourcen. Sie brauchen externe Hilfen. und Kollegen! Noch nie waren die Zahlen so drama- tisch wie im Moment – wir haben das gerade gehört –: (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jeder dritte Arbeitnehmer leidet dauerhaft unter Stress; (D) Ziel muss sein, dass weitaus mehr Betriebe als bisher die Fehltage wegen psychischer Belastungen und Er- die notwendige Gefährdungsbeurteilung durchführen, krankungen haben sich seit 1997 verdreifacht, und die und zwar nicht für den Aktenschrank, sondern um he- Hälfte aller krankheitsbedingten Frühverrentungen geht rauszufnden, welche Maßnahmen die körperliche und auf psychische Erkrankungen zurück. Druck und Angst mentale Gesundheit des Arbeitnehmers schützen. Die gehören mittlerweile leider bei vielen Beschäftigten zum Gefahr der Überregulierung durch eine eigenständige Arbeitsalltag. Verordnung zur psychischen Gesundheit sehe ich mo- Es ist höchste Zeit für eine Anti-Stress-Verord- mentan nicht. Wir brauchen Verbindlichkeit und Konkre- nung, und die wöchentliche Höchstarbeitszeit muss auf tisierung. 40 Stunden begrenzt werden, Psychosoziale Risiken am Arbeitsplatz – das ist für (Beifall bei der LINKEN) viele ein difuses und abstraktes Thema. Was meinen wir denn eigentlich? Welche Risiken gibt es konkret? Worauf ob für Ingenieure, Bankkaufrauen, Köchinnen, den Ver- müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer achten? Im Rah- käufer oder die Verkäuferin. Aufgrund meiner langjäh- men der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie rigen Erfahrung als Gewerkschaftssekretärin kann ich wurden bereits gute Empfehlungen zur Umsetzung der sagen: Es war noch nie so schlimm wie heute. Die Be- Gefährdungsbeurteilung bei psychischer Belastung zu- schäftigten müssen endlich mitbestimmen können, wenn sammengetragen. Hiermit müssen wir in die Fläche. es um die Gestaltung ihrer Arbeit geht. Ich frage mich, wie Sie als Abgeordnete der regie- Gute Praktiken beim Sicherheits- und Gesundheits- rungstragenden Fraktionen diese Zustände mit ihrem schutzmanagement in den Unternehmen bedeuten nicht sozialen Gewissen vereinbaren können, ohne irgendet- nur Aufwand, sondern geben auch erkennbare Vorteile: was zu tun. Die Zahlen sind eine arbeitsmarkt- und ge- Eine gesunde und motivierte Belegschaft ist produktiv. sundheitspolitische Bankrotterklärung. Sie haben beim Sie ermöglicht es den Unternehmen, wettbewerbsfähig Schutz der Beschäftigten kläglich versagt. und innovativ zu bleiben. Wer gesunde Mitarbeiter hat, hält wertvolle Qualifkationen und Berufserfahrung im (Beifall bei der LINKEN – Unternehmen. [CDU/CSU]: Klar! 45 Millionen Beschäftig- te!) Geringere Fehlzeiten und Krankenstände bedeuten weniger Kosten infolge von Erwerbsunfähigkeit. Wir Schlimmer noch: Sie haben mit Ihrer Agenda der müssen also gemeinsam mit den Unternehmen darauf Deregulierung und Flexibilisierung maßgeblich dazu Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23889

Jutta Krellmann (A) beigetragen, dass die Menschen in den Betrieben krank „Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten erhalten – Psychi- (C) werden. Statt sich um die Menschen zu kümmern, knei- sche Belastungen in der Arbeitswelt reduzieren“ einge- fen Sie vor den Arbeitgebern und nehmen Krankheit und bracht. Für diesen Antrag haben Sie viel Lob bekommen. Fehlzeiten in Kauf. Die Anti-Stress-Verordnung würde Das war ein gelungener Entwurf für eine Anti-Stress-Ver- Beschäftigten und Arbeitgebern zeigen, was gegen psy- ordnung. chische Belastung konkret getan werden muss. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall des Abg. Herbert Behrens [DIE Ich bin sicher: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- LINKE]) mer werden ganz genau hinschauen, was Sie gerade in dem Zusammenhang tun werden. Beim Arbeitsschutz funktioniert das ja auch. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Wie in Wenn über 90 Prozent der deutschen Unternehmer an- Nordrhein-Westfalen! Da haben wir auch ge- geben, sich nur mit Arbeits- und Gesundheitsschutz zu nau hingeschaut!) befassen, weil sie eine gesetzliche Vorschrift und Vorga- be dafür haben, dann sage ich: Wenn das wirklich so ist Wer von sozialer Gerechtigkeit redet und dann nicht zu- und wenn die Arbeitgeber das wollen, dann müssen sie greift, wenn sie um die Ecke kommt, der hat an der Stelle das bekommen, und dann müssen wir etwas beschließen, seinen Vertretungsanspruch verwirkt. um eine Anti-Stress-Verordnung anzustoßen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. (Beifall bei der LINKEN) Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn bei der ak- tuellen Beschäftigtenbefragung der IG Metall Hun- Sollten Sie hier nicht zustimmen, dann zeigt das, dass derttausende angeben, dass die 35‑Stunden-Woche ihre die Linke die einzige Partei ist, die die Interessen der Be- Wunscharbeitszeit ist, dann kann die Politik das nicht schäftigten in den Betrieben vertritt. ignorieren. Die Gewerkschaften verhandeln die Arbeits- (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei zeit, aber den Rahmen setzen wir; das macht es zu einem der CDU/CSU und der SPD) klaren Handlungsauftrag für dieses Haus. Sie von der Bundesregierung zwingen den Beschäftigten, ohne mit der Wimper zu zucken, immer mehr Flexibilität auf und Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: durchlöchern das Arbeitszeitgesetz. Als nächster Redner hat Uwe Lagosky von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. (B) (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Können Sie das (D) einmal benennen? – Zuruf von der CDU/CSU: (Beifall bei der CDU/CSU) Das stimmt doch gar nicht!) – Ja, gucken Sie sich doch einmal an, wie viele Ausnah- Uwe Lagosky (CDU/CSU): meregelungen es im Zuge der letzten Jahre schon jetzt im Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arbeitszeitgesetz gibt. Diese sind nicht mit der Opposi- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden heu- tion auf den Weg gebracht worden, sondern in der Regel te sowohl über die Frage der Zeitsouveränität, die im mit Beteiligung der SPD. Antrag von Bündnis 90/Die Grünen entsprechend aufge- führt ist, als auch über Stress in der Arbeitswelt, worüber (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Sagen Sie doch wir gerade etwas gehört haben. mal, was wir in dieser Legislaturperiode da gemacht haben!) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gehören zusammen!) Ich sage: Wenn Flexibilität, dann aber nur in den Grenzen einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit von Ich möchte mich aber dennoch, genauso wie mein 40 Stunden. Kollege von der SPD, auf den Arbeitsschutz fokussie- ren. Das Thema Arbeitsschutz ist heute angesichts des (Zuruf von der CDU/CSU: Ach, so viel?) Wandels in der Arbeitswelt genauso interessant wie vor Alles andere ist eine gesundheitspolitische Amokfahrt. 40 Jahren bei der Einführung des Arbeitssicherheitsge- Nur so können wir garantieren, dass die einen nicht we- setzes. Dabei geht es heute längst nicht mehr um die gen zu viel Arbeit krank werden und die anderen nicht klassischen industriellen Themen des Arbeitsschutzes, krank werden wegen zu wenig oder gar keiner Arbeit. sondern vermehrt um die Bewahrung der psychischen Arbeit muss im Sinne der Beschäftigten gestaltet und Ar- Gesundheit der Beschäftigten. beitszeit umverteilt werden. Dafür steht die Linke. Psychische Erkrankungen – da ist die Betrachtung (Beifall bei der LINKEN) der Wirklichkeit tatsächlich angebracht – verursachen aktuell 15 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage und stel- Liebe Abgeordnete der SPD, ich frage mich, ob Sie len mittlerweile die häufgste Ursache für Frühverren- sich noch gut an die letzte Legislaturperiode erinnern. tung dar. Auf circa 29 Milliarden Euro belaufen sich die ( [SPD]: Natürlich!) Krankheitskosten von psychischen Erkrankungen. Es ist eben ein bisschen durchgeschienen. In der letzten (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Legislaturperiode hatten Sie einen Antrag mit dem Titel GRÜNEN]: Und was machen Sie?) 23890 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Uwe Lagosky (A) Die deutliche Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage auf- ressiert und eingeschränkt. Dies ist unter anderem im Ar- (C) grund psychischer Erkrankungen spiegelt sich zudem in beitszeitgesetz deutlich zu sehen. Darauf weist die BAuA den zunehmenden Produktivitätsausfällen wider. auch hin. Sie schreibt: Sie als Opposition weisen also nicht zu Unrecht auf Für die Arbeitszeitdauer sind ... Schwellenwerte, diese Situation hin. Was Sie allerdings nicht betrachten deren langfristige Überschreitung bzw. Nichtbeach- und völlig ignorieren, ist der aktuelle Diskurs im Bereich tung eine gesundheitliche Beeinträchtigung zur Fol- des Arbeitsschutzes. Deutschland ist mit der Gemein- ge haben können, im Arbeitszeitgesetz festgelegt. samen Deutschen Arbeitsschutzstrategie bestehend aus Bund, Ländern und der Deutschen Gesetzlichen Unfall- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE versicherung gut aufgestellt. Zusammen mit den Sozial- GRÜNEN]: Genau! Finger weg vom Arbeits- partnern wird hier der Schutz der Gesundheit bei arbeits- zeitgesetz!) bedingter psychischer Belastung vorangetrieben. Dies betrift konkret den Umfang der Wochenar- Um Gesundheitsstörungen und psychische Erkran- beitszeit, die tägliche Arbeitszeit sowie die Länge kungen im Betrieb zu vermeiden, unterstützt das Arbeits- der Ruhezeit. programm Psyche die Unternehmen bei der Gestaltung Weiter führt die BAuA aus, dass die Befundlage zu der Arbeitsbedingungen. Das Programm qualifziert zu- den Zusammenhängen von Arbeitszeit und Gesundheit dem betriebliche und überbetriebliche Akteure im Ar- dafür spricht, dass die vorhandenen gesetzlichen Vorga- beits- und Gesundheitsschutz zum Thema psychische ben aus arbeitswissenschaftlicher Sicht unabhängig von Gesundheit und gibt Empfehlungen zur Umsetzung der der Arbeitstätigkeit sinnvoll sind. Gefährdungsbeurteilungen. Bei allem, was wir vor dem Hintergrund der Arbeits- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ welt 4.0 möglicherweise am Arbeitszeitgesetz verändern DIE GRÜNEN]: Was macht die Bundesregie- wollen, sollte man sich die Schutzfunktionen dieses Ge- rung?) setzes immer wieder vor Augen halten. Das gilt für Ihre Diese Maßnahmen werden durch Handlungshilfen für Anträge und für alles, was dazu noch vorgelegt werden Betriebe, zum Beispiel durch das Projekt „psyGA“ oder mag. auch durch die Initiative Neue Qualität der Arbeit, fan- Sie sehen, wir haben heute bereits ausreichend strenge kiert. Arbeitsschutzgesetze. Allerdings werden diese nicht im- Darüber hinaus wurde in dieser Legislaturperiode – mer konsequent umgesetzt. Gefährdungsbeurteilungen jetzt beantworte ich Ihre Frage, Frau Müller-Gemmeke, müssen häufger durchgeführt werden. Hier sind in erster (B) was die Politik macht – die Frage psychischer Belastun- Linie die Bundesländer in der Pficht und angehalten, ih- (D) gen in der Arbeitsstättenverordnung konkretisiert. In das ren Kontrollpfichten nachzukommen. Dafür braucht es Gesundheitsförderungs- und Präventionsstärkungsgesetz möglicherweise hier und da mehr Personal bei den Auf- wurden psychische Belastungen ausdrücklich mit auf- sichtsdiensten der Länder. genommen. Dies führt zu verbesserten Leistungen der Eine Anti-Stress-Verordnung würde daher nur den Krankenversicherungen. Rechtsrahmen der bestehenden Gesetze ändern, aber (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nicht die Sensibilität für dieses Thema in den Unterneh- Dr. Martin Rosemann [SPD] – Beate Müller- men erhöhen. Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das verhindert nichts!) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das würde doch sensibilisieren!) Besonders verweisen möchte ich an dieser Stelle auf die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Es geht darum, mit den Akteuren des Arbeitsschutzes in Sie stellte vor exakt zwei Wochen – das ist schon ange- den Unternehmen für das Thema Arbeitsschutz zu sensi- sprochen worden – ihre Langzeitstudie zur psychischen bilisieren. Gesundheit in der Arbeitswelt vor. Ziel der Studie war (Beifall bei der CDU/CSU) es, psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu untersu- chen und daraus Handlungsempfehlungen für den Ar- Ich habe gesehen, dass die Präsidentin mir ein Zeichen beitsschutz zu geben. Wir haben nun eine umfassende gibt, und komme daher zum Schluss. wissenschaftliche Standortbestimmung über psychische Insbesondere kommt es darauf an, dass die Sozial- Belastungsfaktoren in der Arbeitswelt. Stressfaktoren partner und die Kolleginnen und Kollegen des institu- wie zu lange Arbeitszeit, schlechte Führung, mangelnde tionellen Arbeitsschutzes in den Betrieben daran arbei- Ruhezeiten oder zu hohe Arbeitsbelastungen können die ten. Ich bin daher froh, dass wir auf der Grundlage des psychische Gesundheit der Beschäftigten beeinträchti- BAuA-Berichts jetzt einen Dialogprozess erleben, der gen. In den meisten Fällen gehen diese Stressfaktoren die psychische Gesundheit in der Arbeitswelt auf eine miteinander einher und führen in der Häufung zu psychi- richtige Basis stellt. Auf dieser Basis werden wir arbei- schen Belastungen. ten. Deshalb lehnen wir Ihre Anträge heute ab. Dabei erweist sich die Arbeitszeit in den wissenschaft- Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende. lichen Studien durchgängig als Schlüsselfaktor in ihrer Wirkung auf die Gesundheit. Die erwähnten Risiken (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- werden allerdings im bestehenden Rechtsrahmen klar ad- ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23891

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: beitszeit beweglicher wird, dann sind die Beschäftigten (C) Als nächste Rednerin hat Beate Müller-Gemmeke für weniger gestresst und weniger gehetzt. Vor allem wün- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. schen sich die Menschen, insbesondere die Frauen, mehr Zeitsouveränität, damit ihre Arbeit besser ins eigene Le- ben passt. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Dr. Martin Rosemann [SPD]: Männer auch!) nen und Kollegen! Bereits unter Schwarz-Gelb haben wir Die Linke fordert das mit ihrem Antrag, aber anders als das Thema „psychische Belastungen“ heftig diskutiert wir Grüne. Sie wollen ja die Wochenhöchstarbeitszeit auf und Maßnahmen gefordert, im Übrigen auch die SPD. 40 Stunden absenken. Das lehnen wir ab. Die damals für dieses Thema zuständige Ministerin von der Leyen hat eine entsprechende Studie auf den Weg ge- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Schade bracht. Erst jetzt liegen die Ergebnisse vor. Diese zeigen: eigentlich!) Es besteht – wenig überraschend – Handlungsbedarf. – Das dauert einfach alles zu lange. Sie, die Regierungs- Mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten funktioniert fraktionen, haben sich bei diesem Thema untätig durch eben nicht in einem engen und starren Rahmen. Die Be- diese Legislaturperiode gemogelt. Das ist nicht akzepta- schäftigten brauchen die Freiheit, in einer Woche ein bel. bisschen mehr arbeiten zu können, um dann in einer an- deren Woche mehr frei zu haben. Natürlich brauchen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beschäftigten Schutz; denn wir wollen ja Zeitsouveräni- und bei der LINKEN) tät ermöglichen und grenzenlose Arbeit verhindern. Da- für reicht das Arbeitszeitgesetz aber so, wie es heute ist. Die Arbeitswelt hat sich verdichtet und beschleunigt. Das wissen wir schon lange. Wer mehr, unregelmäßig Wir Grünen haben dafür andere Forderungen. Wir oder nicht planbar arbeitet, dem fehlen Erholungszeiten. wollen, dass die Beschäftigten mehr Mitspracherecht bei Häufg ist die Personaldecke zu dünn. Über 50 Prozent der Arbeitszeit erhalten; denn auch so wird Stress redu- der Beschäftigten sind bei der Arbeit gehetzt. Steigende ziert. Weil die Beschäftigten häufg mit ihrem Arbeits- Arbeitsintensität, hohe Leistungsanforderungen – wer umfang nicht zufrieden sind, wollen wir „Vollzeit“ als diesem Stress ausgeliefert ist, wer das Gefühl hat, die fexiblen Arbeitszeitkorridor zwischen 30 und 40 Stun- Arbeit nicht zu schafen, dessen Selbstwertgefühl wird den neu defnieren und – ganz wichtig – durch ein Rück- brüchig. Das Arbeitsleben macht Tempo, und das schon kehrrecht ergänzen. Auf das Rückkehrrecht warten wir in seit vielen Jahren. Den Beschäftigten geht deswegen zu- dieser Legislaturperiode ja noch immer. (B) nehmend die Puste aus. Sie, die Regierungsfraktionen, (D) hätten darauf schon lange reagieren müssen. Einige wollen wegen der Kinder gerne etwas später anfangen, andere brauchen einen freien Nachmittag für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die alten Eltern, und wieder andere wünschen sich ei- und bei der LINKEN) nen Tag Homeofce, um sich die Fahrtzeit ins Büro zu Die Arbeitgeber müssen sensibilisiert werden. Das ersparen. Deshalb sollen die Beschäftigten auch mehr kommt nicht von alleine, Herr Lagosky. Sie müssen Mitspracherechte bekommen, wenn es darum geht, wann wissen, wann und wie Stress entsteht und – vor allem – und wo sie arbeiten. So entsteht Zeitsouveränität, und sie wie dieser Stress vermieden werden kann. Das Arbeits- ist bitter nötig; denn Arbeitszeit ist Lebenszeit. schutzgesetz muss also durch eine Verordnung konkre- Heute liegen verschiedene Vorschläge dafür auf dem tisiert werden. Deshalb werden wir heute dem Antrag Tisch, den Stress in der Arbeitswelt zu reduzieren. Die zustimmen; denn nur so bekommen die Arbeitgeber und Opposition hat Konzepte entwickelt, nimmt das Thema die Betriebsräte ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie also ernst. Sie, die Regierungsfraktionen, haben das The- Lösungen gegen Stress, ständige Erreichbarkeit und Ar- ma vier Jahre lang ganz einfach verschleppt. So werden beitsverdichtung entwickeln können. Das ist dringend Sie Ihrer Verantwortung für die Gesundheit der Beschäf- notwendig; denn es geht immerhin um die Gesundheit tigten nicht gerecht. der Beschäftigten. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ein Aspekt ist uns Grünen dabei besonders wichtig, und zwar die Arbeitszeit. Auch die Studie – es wurde schon gesagt – „Psychische Gesundheit in der Arbeits- Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: welt“ von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Ar- Als nächster Redner hat Dr. Martin Rosemann von der beitsmedizin bezeichnet Länge, Lage und Flexibilität der SPD-Fraktion das Wort. Arbeitszeit als relevant für die Gesundheit von Beschäf- (Beifall bei der SPD) tigten. Als positiv wird beurteilt, wenn die Beschäftig- ten auf die Gestaltung ihrer Arbeitszeit Einfuss nehmen können. Die Beschäftigten brauchen also Zeitsouveräni- Dr. Martin Rosemann (SPD): tät. Genau das fordern wir in unserem heute vorliegenden Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Antrag. Damit besteht ein Zusammenhang: Wenn die Ar- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zur Einord- 23892 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Dr. Martin Rosemann (A) nung dieser Debatte will ich ein paar allgemeine Bemer- gerade mit Blick auf psychische Erkrankungen haben wir (C) kungen voranstellen. Modellvorhaben gestartet und für diese Modellvorhaben mehr Mittel im Bereich der Arbeitsverwaltung, der Job- Ich fnde immer noch: Für die allermeisten Menschen center und der Rentenversicherung bereitgestellt. Das, in unserem Land ist es wirklich besser, wenn sie Arbeit was dabei an guten Praktiken herauskommt, müssen wir haben, als wenn sie keine Arbeit haben. in den kommenden Jahren auch dauerhaft umsetzen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Das hat damit zu tun, dass Arbeit die Grundlage für unse- Was wir auch im Blick haben, liebe Kolleginnen und ren Wohlstand ist, dass Arbeit materielle und soziale Si- Kollegen, ist das betriebliche Eingliederungsmanage- cherheit für jeden Einzelnen ermöglicht und dass Arbeit ment, wenn jemand nach langer Krankheit an den Ar- ein Stück weit auch Selbstverwirklichung bedeutet. Des- beitsplatz zurückkehrt und die Betriebe ihn wieder in den wegen ist Arbeit für jeden Einzelnen und jede Einzelne, Arbeitsprozess eingliedern sollen. Das ist eine wichtige aber auch für die Gesellschaft insgesamt wichtig. Aufgabe, die neben dem Arbeitgeber auch die Kollegin- Klar ist: Unsere Arbeitswelt ist im Wandel. Dieser nen und Kollegen bzw. das ganze Team angeht und bei Wandel vollzieht sich im Zuge der Digitalisierung im- der es wichtig ist, dass die Betrofenen nach der Rück- mer schneller, und das stellt uns vor Herausforderungen. kehr tatsächlich wieder ihren Arbeitsplatz erhalten. Auch in den letzten Jahren und Jahrzehnten gab es Ver- Das Hauptproblem ist, dass das betriebliche Einglie- änderungen in der Arbeitswelt, die mit einer Verdichtung derungsmanagement gerade in Klein- und Kleinstbe- der Arbeitsbelastung und tatsächlich mit mehr Stress ver- trieben wenig bekannt ist und die Unternehmen nicht bunden waren. wissen, wie sie so etwas umsetzen können. Deswegen Die Kolleginnen und Kollegen, die vor mir gespro- haben wir die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabili- chen haben, haben schon darauf hingewiesen: Die Zahl tation dazu gebracht, eine Empfehlung dazu abzugeben der psychischen Erkrankungen hat zugenommen. Be- und Mindeststandards vorzuschlagen, die dann auch in sonders alarmierend ist, dass der Grund für den Zugang Klein- und Kleinstbetrieben umgesetzt werden können. in die Erwerbsminderungsrente zunehmend psychische (Beifall bei der SPD – Beate Müller-Gemmeke Erkrankungen sind. Seit 1993 ist der Anteil sehr stark [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ändert gestiegen. noch nichts an der Ursache!) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Hinter all dem steht die Vorstellung, dass wir – der Staat, GRÜNEN]: Fast 50 Prozent!) die Gesellschaft und die Sozialversicherungen – die Be- (B) 1993 waren 15 Prozent derjenigen, die in die Erwerbs- schäftigten während des Arbeitslebens sehr viel stärker (D) minderungsrente gegangen sind, psychisch erkrankt, als bisher beraten, begleiten und unterstützen müssen. 2015 betrug der Anteil sage und schreibe 43 Prozent. Wichtig ist aber mit Sicherheit noch ein zweites The- Damit sind sie mittlerweile die größte Krankheitsgruppe ma, nämlich das Thema Arbeitszeit. Ich stimme vielem unter den Neuzugängen in die Erwerbsminderungsrente. zu, was Beate Müller-Gemmeke dazu gesagt hat. Die Natürlich kann das die Politik und uns alle nicht kaltlas- Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten weichen in hohem sen. Deswegen sind wir hier auch alle in der Verantwor- Maße von den tatsächlich gearbeiteten Arbeitszeiten ab. tung. Das gilt übrigens nicht nur für Frauen, sondern auch für Ich glaube, das Wichtigste, was wir in dieser Debatte Männer. Wenn wir da zu mehr Flexibilität kommen wol- sagen müssen, wenn wir über ein so zentrales Thema am len, dann muss sie nicht nur für die Frauen, sondern auch Freitagnachmittag um 14 Uhr diskutieren, ist – das sage für die Männer gelten. ich mit Blick auf alle, die hier im Saal sind, also auch auf (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE die Besucher auf den Tribünen –: Es ist für uns alle ent- GRÜNEN]: Das steht auch in unserem Antrag scheidend, dass wir psychische Erkrankungen in dieser so drin!) Gesellschaft endlich enttabuisieren, damit sie rechtzeitig angegangen werden können. Sonst kriegen wir nämlich nicht beides zusammen. Wir bekommen es nämlich nicht hin, dass Frauen ihre Ar- (Beifall bei der SPD) beitszeit gegenüber der Zeit im privaten Bereich erhö- Dazu gehört, dass wir Prävention und Rehabilitation viel hen, wenn wir nicht gleichzeitig den Männern mehr Zeit stärker in Verbindung mit dem Arbeitsplatz sehen. Genau für den privaten Bereich ermöglichen, indem sie weniger hier haben wir in dieser Legislaturperiode angesetzt. Es arbeiten. kann doch nicht die Rede davon sein, wir hätten nichts Genau an der Stelle setzen wir mit den Maßnahmen getan. an, die wir in dieser Wahlperiode auf den Weg gebracht Mit dem sogenannten Flexirentengesetz haben. Das Elterngeld Plus beispielsweise macht für Eltern von kleinen Kindern Teilzeitbeschäftigung at- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- traktiver und ermöglicht einen längeren Bezug des El- NEN]: Ach Gott! Das reduziert Stress am Ar- terngelds, wenn man sich das partnerschaftlich teilt. Da beitsplatz?) wollen wir nicht stehen bleiben. und dem Bundesteilhabegesetz haben wir Prävention und (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Rehabilitation an unterschiedlichen Stellen gestärkt, und GRÜNEN]: Kommt denn noch das Rückkehr- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23893

Dr. Martin Rosemann (A) recht in dieser Legislaturperiode? Kommt das ben: Der überwiegende Teil der Menschen in Deutsch- (C) noch?) land geht sogar gerne jeden Morgen zur Arbeit. – Ja, das Rückkehrrecht ist ein gutes Stichwort. Wir wol- (Beifall bei der CDU/CSU) len das Rückkehrrecht auf Vollzeit bzw. die befristete Und wer organisiert in Deutschland erfolgreiche Ar- Teilzeit. Das wird – das sage ich deutlich – von der rech- beit? Die Sozialpartner – das ist mehrfach ausgeführt ten Seite dieses Hauses blockiert. worden – in den einzelnen Branchen. Sie vereinbaren (Beifall bei der SPD) ihre gemeinsamen Ziele. Sie wollen unsere Unternehmen wettbewerbsfähig halten und Erfolge erzielen. Denn das Wir wollen noch mehr – hat es auch im ist die Voraussetzung dafür, dass wir Wachstum und Be- Weißbuch Arbeiten 4.0 deutlich gemacht –: Wir wollen schäftigung haben. die starre Trennung von Vollzeit und Teilzeit aufgeben und durch Wahlarbeitszeitmodelle zu einer fexibleren (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wo lan- Form von Vollzeit kommen. Andrea Nahles will gemein- det das Wachstum? Nicht in den Löhnen! Die sam mit den Tarifpartnern fexible Arbeitszeitmodelle Lohnquote sinkt! Seit Jahren sinkt die Lohn- umsetzen, indem sie Öfnungsklauseln in den Tarifver- quote!) trägen vorschlägt, Richtig ist: Die Anforderungen an die Arbeitswelt und in der Arbeitswelt haben sich mit der Digitalisierung, der (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Arbeitswelt 4.0, verändert und somit auch die Anforde- GRÜNEN]: Aber das kann nicht sein, dass rungen an die Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Aber auch die Tarifverträge angegrifen werden! Das ist die veränderten Familienstrukturen und damit einherge- nicht gut!) hend der Wandel der Ansprüche und Anforderungen ma- die zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern unter be- chen Anpassungen bei der Arbeitszeit notwendig. stimmten Qualitätsstandards vereinbart werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Unsere Wirtschaft und die Sozialpartner in den Unter- Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: nehmen reagieren darauf. Ihre Zusammenarbeit funktio- Herr Kollege, Sie müssen jetzt sehr zügig zum Schluss niert ohne staatliche Regelungen. kommen. (Beifall bei der CDU/CSU – Anja Karliczek [CDU/CSU]: Das ist das Beste an dem Gan- Dr. Martin Rosemann (SPD): zen!) (B) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Insge- (D) So trefen zum Beispiel viele inhabergeführte Famili- samt geht es um mehr Zeitsouveränität und vor allem um enunternehmen bei mir in der Region in Südwestfalen eine größere Flexibilität, die auch und insbesondere den schon seit längerem Vereinbarungen in Bezug auf fexi- Beschäftigten und ihren Bedürfnissen nutzt. ble Arbeitszeiten. Das gelingt ihnen hervorragend. Da- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- bei werden die Anforderungen und Bedürfnissen beider ten der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke Seiten, die der Arbeitnehmer und die der Arbeitgeber, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Dann berücksichtigt. können Sie unserem Antrag zustimmen!) Die öfentliche Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales im März dieses Jahres hat bestätigt, dass der Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Wunsch nach fexiblen Arbeitszeiten stark ausgeprägt ist. Als nächste Rednerin hat Christel Voßbeck-Kayser für Deshalb sagen wir ganz klar: Wir suchen die Lösungen die CDU/CSU-Fraktion das Wort. auf betrieblicher und auf überbetrieblicher Ebene, bevor wir Gesetze verschärfen und damit Reglementierungen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auf den Weg bringen. (Beifall bei der CDU/CSU – Beate Müller- Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss den Menschen doch Rechte geben!) Auf die Arbeit schimpft man nur so lange, bis man keine Am Montag dieser Woche fand ein Arbeitnehmer- mehr hat. kongress der CDU/CSU-Fraktion statt. Auch da wurde (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: deutlich: Es geht um bedarfsgerechte und individuelle Oh! – Beate Müller-Gemmeke [BÜND- Lösungen in den einzelnen Branchen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mein Gott!) (Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD]) Deshalb möchte ich, bevor ich auf die Anträge ein- Die Sozialpartner fordern zu Recht, ihnen hierbei Ver- gehe, Kollegen der Linken und der Grünen, erst einmal trauen zu schenken und das Ganze weniger zu reglemen- etwas Grundsätzliches zum Thema Arbeit sagen. Kollege tieren. Ich sehe es als unsere Aufgabe in der Politik an, Rosemann hat es eben in seiner Rede schon ausgeführt: dass wir einen guten Rechtsrahmen schafen. Der Kolle- Arbeit gehört seit jeher zu unserem Leben. Damit gehen ge Rosemann hat das gesagt; da sind wir einer Meinung. viele Eigenschaften einher, und man sollte es nicht glau- Es geht um begleitende Hilfen, Prävention und Rehabi- 23894 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Christel Voßbeck-Kayser (A) litation. Wir haben das Präventionsgesetz auf den Weg Stephan Stracke (CDU/CSU): (C) gebracht. Auch darin sind fankierende Hilfen vorgese- Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten hen. Es gibt das Arbeitsschutzgesetz, in dem in § 5 die Kolleginnen und Kollegen! Im Kern geht es bei dieser Anforderungen an einen sicheren, gesunden und guten Debatte um das Thema „Flexibilität, Arbeitszeit, Arbeitsplatz geregelt sind. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Lachen der Abg. Beate Müller-Gemmeke GRÜNEN]: Nein, es geht um Gesundheit!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Zeitsouveränität und Schutz vor Überlastungen“. Ich gebe Ihnen ja recht, dass wir die Belastungsfor- men, die heute durch eine beschleunigte und sich ver- Die Digitalisierung hat sicherlich erhebliche Auswir- ändernde Arbeitswelt entstehen, nicht aus dem Blick kungen auf die Arbeitswelt. Das meiste davon können verlieren dürfen. Aber Ihre Forderungen, darauf mit kür- wir in der Schärfe noch gar nicht abbilden. Aber Unter- zeren Arbeitszeiten und einer Umverteilung der Arbeit nehmen können in der digitalen Arbeitswelt von räum- zu reagieren, gehen an der Realität vorbei. Sie gehen an lich und zeitlich fexiblen Wertschöpfungsprozessen pro- der Realität der deutschen Wirtschaft und der deutschen ftieren. Für Arbeitnehmer bieten sich große Chancen auf Arbeitswelt sowie an den Bedürfnissen der Arbeitnehmer mehr selbstbestimmtes Arbeiten. und Arbeitnehmerinnen vorbei. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. GRÜNEN]: Thema ist Stress in der Arbeits- Birkwald [DIE LINKE]: Fragen Sie mal die welt!) europäischen Partner! Die sehen das anders!) Es geht letztlich um die Vereinbarkeit von Familie und Darauf weisen verschiedene Studien hin. Was ist mit Beruf. Mehr Zeit- und Ortssouveränität sowie lebenspha- der Sechsten Europäischen Erhebung über die Arbeitsbe- senorientiertes Arbeiten sind hier die Stichworte. dingungen? In den Ergebnissen für Deutschland heißt es: Drei Viertel der Beschäftigten sind mit ihrer Arbeitszeit Die entscheidende Frage lautet, wie es uns gelingen und mit ihren Arbeitsbedingungen zufrieden, und ein Teil kann, den Zugewinn an Flexibilität verantwortungsvoll ist sogar sehr zufrieden. zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufzuteilen. Dabei sehen wir die Frage als zentral an, wie wir das (Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN organisieren. Hier sind letztendlich die Betriebe und die und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sozialpartner gefragt. Es ist ihre ureigene Aufgabe, den Gewinn an Flexibilität in der digitalen Arbeitswelt zum (B) Was das Thema – noch einmal kurz am Ende – „Ar- Wohle der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie (D) beitsbelastung und Stress“ angeht: Jeder Mensch hat der Unternehmen in der Praxis zu gestalten. doch ein eigenes Empfnden und beurteilt Anforderun- gen und Belastungen unterschiedlich. Stress ist subjektiv (Beifall bei der CDU/CSU) und wird von jedem anders bewertet. Ja, ich gebe Ihnen recht, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt. Deswegen ist es immer gut, das Geschehen vor Ort im Hierauf müssen wir reagieren. Darauf ist der Kollege Blick zu behalten und die Tarifautonomie zu wahren. Wir Lagosky in seiner Rede ausführlich eingegangen. brauchen in unserer Arbeitswelt weiß Gott kein starres Korsett von staatlicher Seite. Diese Kritik richtet sich Wir sind uns einig, dass es im Interesse aller liegt, gleichermaßen gegen die Vorschläge der Bundesarbeits- dass sowohl die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz ministerin zur Anpassung des Arbeitsrechts im Rahmen als auch die allgemeine Arbeitsfähigkeit zu fördern und des Weißbuchs 4.0. Ein Trommelfeuer aus punktuellen zu erhalten sind. Wir sehen uns mit den bereits instal- gesetzlichen Maßnahmen hilft nicht weiter. Wir sprechen lierten Maßnahmen auf einem richtigen Weg und werden uns für betriebliche und tarifiche Vereinbarungen aus, diesen angestoßenen Prozess mit weiteren Maßnahmen um passgenaue Lösungen zu fnden. fortsetzen. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE NEN]: Dann wären wir noch beim 16-Stun- GRÜNEN]: Mit welchen Maßnahmen?) den-Tag!)

Vielen Dank. Ich habe zu Beginn gesagt, dass es um einen Interes- senausgleich geht. Es gibt sicherlich große Unterschiede. (Beifall bei der CDU/CSU) Deswegen möchte ich noch etwas zum Rückkehrrecht bei Teilzeitbeschäftigung sagen. Dabei müssen wir im Blick behalten, dass wir Planungssicherheit für die Un- Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: ternehmen brauchen. Wir dürfen insbesondere kleine Als letzter Redner in der Aussprache hat Stephan Unternehmen nicht überfordern. Es ist gerade für sie Stracke für die CDU/CSU das Wort. überlebenswichtig, dass ein konstanter Betriebsablauf gewährleistet wird. Flexibilität und Arbeitsvolumen sind (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nun einmal untrennbar miteinander verbunden. Deswe- NEN]: Welche Maßnahmen haben Sie in pet- gen ist es unsere Leitlinie, die Belange der Arbeitgeber to?) auf der einen Seite und die Belange der Arbeitnehmerin- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 235. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2017 23895

Stephan Stracke (A) nen und Arbeitnehmer auf der anderen Seite angemessen samt gut aufgestellt und gestaltet die Arbeitswelt sicher (C) in Einklang zu bringen. und gesund. Das Prinzip der Gefährdungsbeurteilung ist hier tragend. (Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE frage) GRÜNEN]: 50 Prozent der Betriebe machen maximal eine Gefährdungsbeurteilung!) Der Vorschlag der Bundesarbeitsministerin geht in wei- ten Teilen über das hinaus und stellt eine unverhältnis- Wir müssen achtsam sein, wenn es um Entwicklungen mäßige Belastung dar. Flexibilität ist ein Maßanzug, der auf den neuen Handlungsfeldern geht. sowohl den Unternehmen als auch den Mitarbeiterinnen Vor diesem Hintergrund haben wir uns als Koalition und Mitarbeitern passen muss. – Nun hat der Kollege auf den Weg gemacht, Frau Müller-Gemmeke, die Ent- Kurth – Ihr Einverständnis vorausgesetzt, Frau Präsiden- wicklung neuer Präventionskonzepte und betrieblicher tin – das Wort. Gestaltungslösungen bei psychischer Belastung in en- ger Zusammenarbeit mit den Trägern der Gemeinsamen Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Deutschen Arbeitsschutzstrategie voranzutreiben. Genau Aber ich bitte, es kurz zu machen. das passiert derzeit. Auch die Bundesanstalt für Arbeits- schutz und Arbeitsmedizin hat ihr Gutachten vorgestellt. Jetzt entsteht ein neuer Dialogprozess, in dessen Rahmen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Markus Kurth wir das erörtern bzw. vertieft diskutieren wollen. Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Ich kann es kurz machen. Herr Stracke, Sie haben davon gespro- All das zeigt, dass bereits viel geschieht. Wir brauchen chen, was für die kleinen Unternehmen wichtig ist, zum vor allem eine vorausschauende ganzheitliche Planung in Beispiel Kontinuität. Stimmen Sie mir dann zu, dass den Betrieben, was den Umgang mit psychischen Belas- das Allerwichtigste für die Unternehmen ist, dass ihre tungsfaktoren angeht. Dabei ist es sicherlich nicht der Arbeitskräfte gesund bleiben, dass sie nicht dauerhaft Königsweg, immer nur nach neuen gesetzlichen Rege- ausfallen und dass sie nicht innerlich kündigen, kurzum: lungen bzw. Verordnungen zu rufen, sondern wir brau- dass sie keinem Stress, der gesundheitsschädlich ist, am chen vor allem passgenaue betriebliche Lösungen. Ge- Arbeitsplatz ausgesetzt sind? nau darauf zielen wir ab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir brauchen keine gesetzgeberischen Schnellschüs- und bei der LINKEN) se, wie sie im Rahmen der jetzt vorgelegten Anträge ge- fordert werden. (B) (D) Stephan Stracke (CDU/CSU): Ich sage ein herzliches Dankeschön und wünsche Ih- Sehr geehrter Herr Kurth, natürlich liegt es im Inte- nen ein schönes Wochenende. resse der Unternehmen, dass es ihren Arbeitnehmerinnen (Beifall bei der CDU/CSU) und Arbeitnehmern gut geht; das ist doch selbstverständ- lich. Das liegt im ureigenen Interesse der Arbeitgeber.

Deshalb lehnen wir beispielsweise eine Antistressverord- Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: nung ab. So weit sind wir aber noch nicht, weil wir jetzt noch eine ganze Reihe von Abstimmungen haben. Ich bitte die (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Kollegen und Kolleginnen, so lange sitzen zu bleiben. unlogisch, Herr Kollege! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Ich fürchte, Sie haben die Fra- Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be- ge nicht verstanden! – Markus Kurth [BÜND- schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozi- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, die ist arbeit- ales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel nehmerfreundlich!) „Verordnung gegen Stress in der Arbeitswelt erlassen“. Der Ausschuss empfehlt in seiner Beschlussempfehlung Wir haben in diesem Bereich zwei Entwicklungen zu auf Drucksache 18/11221, den Antrag der Fraktion Die verzeichnen, Herr Kurth. Zum einen werden im Zuge Linke auf Drucksache 18/10892 abzulehnen. Wer stimmt der Digitalisierung einfache und ständig wiederkehrende für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- Tätigkeiten automatisiert. Das nimmt Belastungen weg. gen? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Das sehen Sie schon daran, dass Unternehmen solche Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppositi- Entwicklungen zum Wohle ihrer Mitarbeiterinnen und on angenommen worden. Mitarbeiter aufgreifen. Zum anderen müssen wir im Blick behalten: Mehr Flexibilität bedeutet auch mehr Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 42 b. Eigenverantwortung für die Arbeitnehmerinnen und Ar- Dabei geht es um die Abstimmung über die Beschluss- beitnehmer. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir hier empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf etwas hinbekommen können. – Herr Kurth, bitte schön, Drucksache 18/12055. Der Ausschuss empfehlt unter Sie können sich wieder hinsetzen. Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ableh- nung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Druck- In diesem Sinne haben wir schon vieles im Bereich sache 18/8724 mit dem Titel „Wochenhöchstarbeitszeit Stress getan. Wir brauchen Wege, die dazu dienen, die begrenzen und Arbeitsstress reduzieren“. Wer stimmt für Eigenverantwortung der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – nehmer zu stärken. Unser Arbeitsschutzsystem ist insge- Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen 23896 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (A) der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die (C) gegen die Stimmen der Linken angenommen worden. Grünen angenommen worden.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am fehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- Schluss unserer heutigen Tagesordnung. tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/8241 mit Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- dem Titel „Mehr Zeitsouveränität – Damit Arbeit gut ins tages auf Mittwoch, den 31. Mai 2017, 13.00 Uhr, ein. Leben passt“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Die Sit- lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? zung ist geschlossen. Damit ist auch diese Beschlussempfehlung mit den Stim- men der Koalition bei Enthaltung der Fraktion Die ­Linke (Schluss: 14.27 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017 23897

(A) Anlagen zum Stenografschen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Albsteiger, Katrin CDU/CSU 19.05.2017 Schuster (Weil am CDU/CSU 19.05.2017 Rhein), Armin Bluhm, Heidrun DIE LINKE 19.05.2017 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 19.05.2017 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 19.05.2017 Spiering, Rainer SPD 19.05.2017 Burkert, Martin SPD 19.05.2017 Strenz, Karin CDU/CSU 19.05.2017 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 19.05.2017 Thönnes, Franz SPD 19.05.2017 Fabritius, Dr. Bernd CDU/CSU 19.05.2017 Veith, Oswin CDU/CSU 19.05.2017 Färber, Hermann CDU/CSU 19.05.2017 Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE 19.05.2017 Fischbach, Ingrid CDU/CSU 19.05.2017 Weinberg, Harald DIE LINKE 19.05.2017 Gabriel, Sigmar SPD 19.05.2017 Weisgerber, Dr. Anja CDU/CSU 19.05.2017 Gleicke, Iris SPD 19.05.2017 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 19.05.2017 Göppel, Josef CDU/CSU 19.05.2017

(B) Haase, Christian CDU/CSU 19.05.2017 Anlage 2 (D) Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Hirte, Dr. Heribert CDU/CSU 19.05.2017 Der Bundesrat hat in seiner 957. Sitzung am 12. Mai Klare, Arno SPD 19.05.2017 2017 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- stimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Launert, Dr. Silke CDU/CSU 19.05.2017 des Grundgesetzes nicht zu stellen: Leyen, Dr. Ursula von CDU/CSU 19.05.2017 – Gesetz zur Neufassung des Gesetzes zur Regelung der von Sekundierungen im Rahmen von Einsätzen der zivilen Krisenprävention Ludwig, Daniela CDU/CSU 19.05.2017 – Gesetz zur Änderung weinrechtlicher und agrar- Meister, Dr. Michael CDU/CSU 19.05.2017 marktstrukturrechtlicher Vorschriften – Gesetz zur Förderung der Transparenz von Ent- Möhring, Cornelia DIE LINKE 19.05.2017 geltstrukturen Nahles, Andrea SPD 19.05.2017 – Gesetz zur Neuregelung des Mutterschutzrechts Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- Obermeier, Julia CDU/CSU 19.05.2017 ßung gefasst: Poschmann, Sabine SPD 19.05.2017 1. Der Bundesrat begrüßt, dass mit der Neuregelung des Mutterschutzrechts das in seinen wesentlichen Roth (Heringen), SPD 19.05.2017 Regelungsbereichen seit 1952 geltende Mutter- Michael schutzgesetz zeitgemäß neu gefasst wird. Er unter- stützt die wesentliche Zielstellung des Gesetzes und Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 19.05.2017 insbesondere die Einbeziehung von Schülerinnen, DIE GRÜNEN Studentinnen und Praktikantinnen in den Anwen- dungsbereich. Schlecht, Michael DIE LINKE 19.05.2017 2. Der Bundesrat schätzt ein, dass das im Bundestags- Schmidt (Fürth), CDU/CSU 19.05.2017 verfahren neu aufgenommene Verfahren zur Ge- Christian nehmigung von Arbeitszeiten nach 20.00 Uhr (§ 28 23898 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

(A) MuSchG) sowohl auf Arbeitgeberseite als auch bei sache 359/15 (Beschluss) und vom 10. Februar 2017 (C) den Aufsichtsbehörden einen erheblichen Mehrauf- in BR-Drucksache 815/16 (Beschluss). wand verursachen wird. Unklar ist, ob ein solcher Genehmigungsvorbehalt für eine Beschäftigung 2. Der Bundesrat erneuert seine Forderung, die Rechts- nach 20.00 Uhr tatsächlich sachlich erforderlich ist. verordnung zur Schafung von Rechtssicherheit bei der Kreditwürdigkeitsprüfung nunmehr rasch 3. Der Bundesrat verweist zudem auf erhebliche Mehr- vorzulegen und mit den Ländern im Vorfeld eng aufwände für den Vollzug der in § 4 Absatz 1 Satz 4 abzustimmen. Der Bundesrat geht nach wie vor da- MuSchG aufgenommenen Aufgabe zur Überprü- von aus, dass in der Verordnung die unbestimmten fung der vertraglich vereinbarten wöchentlichen Rechtsbegrife bei der Kreditwürdigkeitsprüfung Arbeitszeit insbesondere von Teilzeitbeschäftigten. weitest möglich eingegrenzt werden. Damit können Die Durchsetzung dieser Vorschrift begegnet er- die entstandenen Probleme bei der Kreditverga- heblichen Schwierigkeiten, da eine Aufzeichnungs- be für ältere Menschen gelöst werden, wenn diese pficht der Arbeitszeiten nach dem Arbeitszeitgesetz zu Lebzeiten ihren Verpfichtungen nachkommen für den Arbeitgeber erst nach acht Stunden besteht. können und im Todesfall die Immobilie die Höhe Im Übrigen handelt es sich hierbei um eine Über- des Darlehens und eventuelle Verwertungskosten prüfung der Einhaltung privatrechtlicher Vereinba- abdeckt. Auch für junge Familien muss Rechtssi- rungen aus dem Arbeitsvertrag, die eine Gefährdung cherheit geschafen werden. Dazu sollen nach der der werdenden oder stillenden Mutter nicht indizie- Lebenserfahrung mögliche, aber nicht überwiegend ren und deshalb keine Aufgabe der Arbeitsschutzbe- wahrscheinliche ungünstige Ereignisse nur dann zu hörden sein kann. berücksichtigen sein, wenn es konkrete Anhalts- 4. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung daher punkte gibt. auf, im Rahmen des nach § 34 MuSchG zum 1. Ja- 3. Der Bundesrat erwartet weiterhin, dass auch die nuar 2021 vorzulegenden Evaluationsberichts nicht Problematik der Anschlussfnanzierungen und Um- nur die Auswirkungen der Regelungen zum Verbot schuldungen im Zuge der Verordnung mitgelöst und der Mehr- und Nachtarbeit zu betrachten, sondern von der EU als rechtskonform bestätigt wird. einen weiteren Schwerpunkt auf die Efektivität des neu eingeführten Genehmigungsverfahrens bei Be- – Zweites Gesetz zur Novellierung von Finanzmarkt- schäftigung von schwangeren und stillenden Frauen vorschriften auf Grund europäischer Rechtsakte von 20.00 Uhr bis 22.00 Uhr zu legen, damit anhand (Zweites Finanzmarktnovellierungsgesetz – 2. Fi- des Evaluationsberichts bewertet werden kann, ob MaNoG) dieses Genehmigungsverfahren tatsächlich erfor- (B) derlich ist. – Sechstes Gesetz zur Änderung des Kraftfahrzeug- (D) steuergesetzes 5. Der Bundesrat stellt fest, dass sich aus der Erwei- terung des persönlichen Anwendungsbereiches des – Zweites Gesetz zur Änderung des BDBOS-Gesetzes Gesetzes, aus der Umsetzung des neu eingeführten Genehmigungsverfahrens sowie aus der Überprü- – Gesetz zur Neustrukturierung des Bundeskrimi- fung der vertraglich vereinbarten wöchentlichen nalamtgesetzes Arbeitszeit erhebliche Ausweitungen der Überwa- – Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an chungs- und Beratungsaufgaben für die Aufsichts- die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung behörden ergeben. Die Umsetzung wird zu einem der Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Anpas- personellen Mehrbedarf führen. sungs- und -Umsetzungsgesetz EU – DSAnpUG-EU) – Gesetz zur Ergänzung des Finanzdienstleistungs- – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/681 aufsichtsrechts im Bereich der Maßnahmen bei Ge- fahren für die Stabilität des Finanzsystems und zur – Erstes Gesetz zur Änderung des Europol-Gesetzes Änderung der Umsetzung der Wohnimmobilien- kreditrichtlinie (Finanzaufsichtsrechtergänzungs- – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1148 gesetz) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2016 über Maßnahmen zur Gewährleistung Der Bundesrat hat ferner folgende Entschließung ge- eines hohen gemeinsamen Sicherheitsniveaus von fasst: Netz- und Informationssystemen in der Union 1. Der Bundesrat begrüßt die im Gesetz vorgesehenen Änderungen an der Umsetzung der Wohnimmobi- – Gesetz zu bereichsspezifschen Regelungen der lienkreditrichtlinie, die in Teilen Verbesserungsvor- Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer schläge aus dem Gesetzesantrag in der BR-Druck- dienstrechtlicher Vorschriften sache 578/16 aufgreifen. Er geht davon aus, dass – Erstes Gesetz zur Änderung des Sicherheitsüber- sich damit die Versorgung mit Immobilienkrediten prüfungsgesetzes verbessern wird, ohne dass der Kern der Kredit- würdigkeitsprüfung aufgeweicht wird und Verbrau- – Gesetz zur Neuordnung der Aufbewahrung von cherinnen und Verbraucher Gefahr laufen, sich zu Notariatsunterlagen und zur Einrichtung des Elek- überschulden. Er verweist insoweit auf seine Stel- tronischen Urkundenarchivs bei der Bundesnotar- lungnahmen vom 25. September 2015 in BR-Druck- kammer sowie zur Änderung weiterer Gesetze Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017 23899

(A) – Gesetz zur Änderung von Vorschriften im Bereich tet er die Bundesregierung um eine zeitnahe Evalu- (C) des Internationalen Privat- und Zivilverfahrens- ierung der notwendigen Ergänzungsregelungen. Die rechts in Artikel 31a enthaltene Fünfjahresfrist zur Vorlage des Evaluierungsberichts sollte möglichst weit un- – … Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die in- terschritten werden. ternationale Rechtshilfe in Strafsachen 5. Die nach dem Strahlenschutzgesetz vorgesehene – … Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Benennung von öfentlich-rechtlichen Entsorgern Ausweitung des Maßregelrechts bei extremisti- nützt nichts, da diese regelmäßig nicht über eigene schen Straftätern Möglichkeiten oder Anlagen verfügen, um Abfälle – … Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – oberhalb des noch festzulegenden Kontaminations- Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten grenzwertes schadlos zu machen. Im radiologischen und Rettungskräften Notfall ist aus abfallrechtlicher Sicht vielmehr eine Anordnungs- und Vollstreckungsbefugnis der nach – Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) Landesrecht zuständigen Behörden, auch gegen- 2015/848 über Insolvenzverfahren über Privaten, erforderlich. Diese Rechte müssen – Gesetz zur Fortentwicklung der haushaltsnahen notwendigerweise im Gesetz verankert werden, da Getrennterfassung von wertstofhaltigen Abfällen sie in Rechte Dritter eingreifen (grundgesetzlicher Vorbehalt des Gesetzes). – Fünfzehntes Gesetz zur Änderung des Atomgeset- zes 6. Darüber hinaus ist ebenfalls zu evaluieren, ob für diejenigen Abfälle, die den noch festzulegenden – Gesetz zur Anpassung des Umwelt-Rechtsbehelfs- Kontaminationsgrenzwert unterschreiten und für gesetzes und anderer Vorschriften an europa- und die das Kreislaufwirtschaftsgesetz uneingeschränkt völkerrechtliche Vorgaben gelten soll, auch Sondereingrifsrechte geschafen – Gesetz zur Neuordnung des Rechts zum Schutz vor werden sollten. der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlung 7. Schließlich bittet der Bundesrat die Bundesregie- Der Bundesrat hat ferner folgende Entschließung ge- rung, im Rahmen der ausstehenden Evaluation ein- fasst: deutige Festlegungen, Verfahrenslösungen sowie Entsorgungsmöglichkeiten für die Abfälle zu schaf- 1. Der Bundesrat begrüßt das am 27. April 2017 vom fen, die zu hoch kontaminiert sind, um sie mit wei- Deutschen Bundestag beschlossene Gesetz zur Neu- teren Schutzmaßnahmen in konventionellen Ent- (B) ordnung des Rechts zum Schutz vor der schädlichen sorgungseinrichtungen behandeln oder entsorgen (D) Wirkung ionisierender Strahlung, mit dem Unions- zu können. Aus Sicht des Bundesrates würde somit recht umgesetzt und das deutsche Strahlenschutz- auch die wünschenswerte, klare Abgrenzung zum system neu geordnet wird. konventionellen Abfallrecht und seinen Zuständig- keiten gezogen. 2 . Er stellt fest, dass es im Rahmen der Beratungen des Deutschen Bundestages zu einer Nachbesserung der 8 . Die geforderten Ergänzungen, Klarstellungen und Verzahnung der Zuständigkeiten der Fachbehörden Verfahrenslösungen sind nach Aufassung des Bun- gekommen ist und dass bestehende Regelungslü- desrates zwingend, um die gewünschte Vollzugsfä- cken im Bereich der abfallrechtlichen Aufgaben im higkeit der Notfallpläne im Bereich des Abfallrechts Wege einer Evaluation geschlossen werden sollen. sicherzustellen. Er erwartet daher, dass die Evaluie- rung im Sinne eines Monitorings erfolgt, also be- 3. In diesem Zusammenhang verweist der Bundesrat gleitend zu den Arbeiten an den Notfallplänen. Da- auf die Begründung des federführenden Bundestag- bei sind die Experten aller betrofenen Fachbereiche sausschusses zur Einfügung des Artikels 31a – neu – der Länder einzubinden und eine zeitnahe Beseiti- (BT-Drucksache 18/12151, zu Nummer 8). Dort gung der Regelungslücken durch eine Änderung des heißt es: „Bei der Evaluierung und den Vorschlägen Strahlenschutzgesetzes bzw. der anderen Fachgeset- der Bundesregierung zur künftigen Fortentwick- ze anzustreben. lung des Notfallmanagementsystems von Bund und Ländern sind insbesondere auch die Vorschläge, – Gesetz zum Verbot des Betriebs lauter Güterwagen Anliegen und Bedenken aus den Zifern 24 bis 32, und zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahnge- 54 und 62 (der Stellungnahme) des Bundesrates, die setzes die Entsorgung kontaminierter Abfälle betrefen, in – … Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgeset- geeigneter Weise zu berücksichtigen.“ zes 4. Er bedauert jedoch, dass der Deutsche Bundes- Der Bundesrat hat ferner folgende Entschließung ge- tag nicht bereits jetzt dem Beschluss des Bun- fasst: desrates vom 10. März 2017 (BR-Drucksache 86/17 – Beschluss –) gefolgt ist und somit den Ab- Der Bundesrat unterstützt das Vorhaben, Deutschland fallrechtsbehörden noch nicht die erforderlichen zum weltweiten Leitmarkt für hoch- und vollautomati- Sondereingrifsrechte zur Verfügung stellt. Da die sierte Fahrsysteme im Straßenverkehr zu entwickeln. Ein vorliegenden Regelungen aus abfallrechtlicher Per- verbindlicher rechtlicher Rahmen ist dabei für Hersteller spektive nicht befriedigend vollzugsfähig sind, bit- und Verbraucherinnen und Verbraucher unerlässlich. 23900 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017

(A) Der Bundesrat hebt hervor, dass mit dem vorliegenden – Gesetz zu dem Abkommen vom 11. Juli 2016 zwi- (C) Gesetz nur ein erster Schritt zur rechtssicheren und wirt- schen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- schaftlichen Nutzung für das hoch- und vollautomatisier- land und der Regierung der Arabischen Republik te Fahren geschafen wird. Ägypten über die Zusammenarbeit im Sicherheits- bereich Der Bundesrat begrüßt, dass die für 2019 vorgesehene Evaluierung sich nun auf das gesamte Gesetz beziehen – Gesetz zu dem Abkommen vom 26. September soll. Die Technik in diesem Bereich wird ständig weiter- 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik entwickelt. Spätestens im Rahmen der Evaluierung soll- Deutschland und der Regierung der Tunesischen ten daher insbesondere die folgenden Fragen erneut ge- Republik über die Zusammenarbeit im Sicher- prüft und das Gesetz gegebenenfalls angepasst werden: heitsbereich – Verantwortlichkeit des Herstellers für Unfälle während – Gesetz zu dem Abkommen vom 19. Mai 2016 zwi- des automatisierten Fahrbetriebs (Haftungsfrage). schen der Bundesrepublik Deutschland und dem Obersten Hauptquartier der Alliierten Mächte Eu- – Der Einsatz hoch- und vollautomatisierter Fahrsyste- ropa zur Änderung des Abkommens vom 13. März me soll einen Beitrag zur Verkehrssicherheit leisten. 1967 zwischen der Bundesrepublik Deutschland Eine Verdopplung der Haftungshöchstgrenze ist daher und dem Obersten Hauptquartier der Alliierten zu überprüfen. Mächte Europa über die besonderen Bedingungen – Zur Schafung von Rechtssicherheit und Akzeptanz für die Einrichtung und den Betrieb internationa- sind die Vorgaben zum bestimmungsgemäßen Ge- ler militärischer Hauptquartiere in der Bundesre- brauch zu prüfen. Da damit unmittelbare Haftungsfra- publik Deutschland gen verbunden sind, ist zu überprüfen, welche weite- – Gesetz zu dem Abkommen vom 8. Dezember ren gesetzlichen Vorgaben gemacht werden sollten. 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepu- blik Deutschland und der Europäischen Agentur – Bezüglich der Erhebung, Verarbeitung, Nutzung und für Flugsicherheit über den Sitz der Europäischen Löschung der Daten sind die Datenschutzbelange hin- Agentur für Flugsicherheit reichend zu beachten. Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie – Folgen für Verbraucherinnen und Verbraucher. gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von – Die Ergebnisse der eingesetzten Ethikkommission einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen sind zu berücksichtigen. absehen: (B) – Gesetz zur Bevorrechtigung des Carsharing Ausschuss für Wirtschaft und Energie (D) (Carsharinggesetz – CsgG) – Unterrichtung durch die Bundesregierung – Gesetz über das Fahrlehrerwesen und zur Än- Maritime Agenda 2025 derung anderer straßenverkehrsrechtlicher Vor- schriften Für die Zukunft des maritimen Wirtschaftsstand- orts Deutschland – Gesetz über das Verfahren für die elektronische Drucksache 18/10911 Abgabe von Meldungen für Schife im Seeverkehr über das Zentrale Meldeportal des Bundes, zur Än- – Unterrichtung durch die Bundesregierung derung des IGV-Durchführungsgesetzes und des Fünfter Bericht der Bundesregierung über die Ent- Seeaufgabengesetzes wicklung und Zukunftsperspektiven der mariti- – Gesetz zur Neuordnung der Eisenbahnunfallunter- men Wirtschaft in Deutschland suchung Drucksache 18/11150 – Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) – Unterrichtung durch die Bundesregierung 2016/424 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über Seilbahnen und zur Nationales Reformprogramm 2017 Aufhebung der Richtlinie 2000/9/EG (Seilbahn- Drucksachen 18/11971, 18/12181 Nr. 1.14 durchführungsgesetz – SeilbDG) Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur – Zweites Gesetz zur Entlastung insbesondere der mittelständischen Wirtschaft von Bürokratie – Unterrichtung durch die Bundesregierung (Zweites Bürokratieentlastungsgesetz) Bericht zur Unterrichtung der Bundesregierung – Drittes Gesetz zur Änderung des Telekommunika- über die Erfahrungen mit § 7 des Flaggenrechts- tionsgesetzes gesetzes Drucksachen 18/10679, 18/10924 Nr. 1.4 – Gesetz zu dem Abkommen vom 29. August 2016 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Turkmenistan zur Vermeidung der Doppelbesteue- mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- rung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer und vom Vermögen Beratung abgesehen hat. Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017 Deutscher Bundestag – 18 Wahlperiode – 235 Sitzung Berlin, Freitag, den 19 Mai 2017 23901

(A) Petitionsausschuss Ratsdokument 7232/17 (C) Drucksache 18/11229 Nr. A.1 EP P8_TA-PROV(2016)0512 Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 18/11029 Nr. A.20 Auswärtiger Ausschuss Ratsdokument 15642/16 Drucksache 18/12184 Nr. A.1 Drucksache 18/11229 Nr. A.22 EP P8_TA-PROV(2017)0092 Ratsdokument 5251/17 Drucksache 18/12184 Nr. A.2 Drucksache 18/11229 Nr. A.23 Ratsdokument 7377/17 Ratsdokument 5431/17

Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung Drucksache 18/9881 Nr. A.1 Drucksache 18/11029 Nr. A.25 KOM(2016)491 endg. Drucksache 18/10449 Nr. A.4 Ratsdokument 15418/16 Ratsdokument 13395/16 Drucksache 18/11484 Nr. A.25 Drucksache 18/11484 Nr. A.3 EP P8_TA-PROV(2017)0018 Ratsdokument 5684/17 Drucksache 18/11484 Nr. A.4 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Ratsdokument 5775/17 wicklung Drucksache 18/11825 Nr. A.1 Ratsdokument 6928/17 Drucksache 18/10932 Nr. A.28 Ratsdokument 14770/16

Haushaltsausschuss Ausschuss für Tourismus Drucksache 18/11693 Nr. A.8 K(2017)1200 endg. Drucksache 18/897 Nr. A.5 Drucksache 18/11693 Nr. A.9 Ratsdokument 6872/14 K(2017)1201 endg. Drucksache 18/897 Nr. A.6 Drucksache 18/11693 Nr. A.10 Ratsdokument 6875/14 Ratsdokument 6644/17 Drucksache 18/2533 Nr. A.66 Drucksache 18/12184 Nr. A.10 Ratsdokument 12286/14

(B) (D) Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrift-gesetze.de ISSN 0722-8333